Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte: Band 1: a-k. Band 2: l-o. Band 3: p-sk. Band 4: sl-z. Band 5: Sachregister [2. Aufl., unveränd. Neuausg. Reprint 2011] 9783110879568, 9783110172522

Das fünfbändige Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte ist ein "Klassiker" der Philologie. In zweiter A

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Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte: Band 1: a-k. Band 2: l-o. Band 3: p-sk. Band 4: sl-z. Band 5: Sachregister [2. Aufl., unveränd. Neuausg. Reprint 2011]
 9783110879568, 9783110172522

Table of contents :
Vorwort
Verzeichnis der Stichwörter
Verzeichnis der Autoren
Sachregister
Berichtigungen

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Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte Band 1

Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte Begründet von Paul Merker und Wolfgang Stammler 2. Auflage Neu bearbeitet und unter redaktioneller Mitarbeit von Klaus Kan2og sowie Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter herausgegeben von

Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr Band 1 A-K Unveränderte Neuausgabe

W DE G Walter de Gruyter

Berlin

2001

New York

Die Originalausgabe dieses Bandes erschien 1958.

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte / begr. von Paul Merker u. Wolfgang Stammler. Hrsg. von Klaus Kanzog u. Achim Masser. - Berlin ; New York de Gruyter 3. Aufl.: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft ISBN 3-11-017252-6 Bd. 1. A - K / neu bearb. und unter red. Mitarb. von Klaus Kanzog. Hrsg. von Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr. - 2. Aufl., unveränd. Neuausg.. 2001

© Copyright 2001 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: +malsy, Bremen Satz: Thormann & Goetsch, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

Vorwort der ersten Auflage Es liegt im Wesen der deutschen wie jeder anderen Literaturgeschichte, daß sie zunächst individualistisch gerichtet ist. Das Dichtwerk als Leistung und Ausdruck einer schöpferischen Persönlichkeit und die einzelne Kiinstlergestalt bieten sich der forschenden und darstellenden Wissenschaft als nächstliegende Gegenstände an. In diesem Sinne kommen auch die älteren Literaturgeschichten im wesentlichen nidit viel über aneinandergereihte Einzelcharakteristiken von Kunstwerken und Dichtern hinaus. Nur in den literaturgeschichtlichen Hilfsdisziplinen der Metrik, Stilistik und Poetik standen begreiflicherweise die sachlichen Gesichtspunkte von vornherein im Vordergrunde. Die allgemeine Wissenschaftsumstellung der beiden letzten Jahrzehnte, die bei aller bleibenden und selbstverständlichen Wertschätzimg des persönlichen Moments überall emen starken Zug zum Uberpersönlichen, Typischen, Allgemeinen, Grundsätzlichen erkennen ließ und neben der literarischen Kunstgeschichte die geistesgeschichtliche Literaturwissenschaft zur vollen Entfaltung führte, hat jenes sachliche Element zu ungleich stärkerer Bedeutung gebracht. Das literarische Leben erscheint nicht mehr bloß als Wirkungsfeld schaffender und gestaltender Persönlichkeiten, sondern gleichzeitig als Offenbarung tieferliegender Strömungen, Richtungen, Stilmoden, Geschmacksveränderungen. Die früher nur mehr gelegentlich und vereinzelt verfolgte Entwicklung der literarischen Formen, Gattungen, Arten, Modeerscheinungen ist damit stark in den Vordergrund des Interesses getreten. Einzelne Sachgebiete, besonders die Theatergeschichte, haben sich zu selbständiger wissenschaftlicher Bedeutung durchgerungen. Überall wird die Macht der allgemeinen Strömungen und Stimmungen deutlich, drängt die literaturwissenschaftliche Betrachtung zur Verfolgung von Längsschnitten und durchgehenden Entwiddungslinien, gliedert sich das Persönliche und Einzelne in höhere geistes- und bildungsgeschichtliche Wellenbewegungen ein. Damit aber sind die Realien der Literaturgeschichte, d. i. die Gesamtheit der über- und unteipersönlichen Faktoren, ungleich mehr als früher Gegenstand der Forschung und des Interesses geworden. In diesem Sinne sucht das vorliegende, auf drei Bände berechnete Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte erstmalig den sach- und formgeschichtlichen Gesichtspunkt zum herrschenden Prinzip zu erheben. Die Einzelpersönlichkeiten und ihre künstlerische Eigenart werden nur insofern Beachtung finden, als sie bei der Darstellung der sachlichen Entwicklungslinien von Bedeutung sind. Nur in der übergeordneten Form gewisser geistesgeschichtlicher und literarhistorischer Gruppenbildungen wird das personale Element stärker mitzusprechen haben. Im übrigen werden die etwa 800 Artikel dieses Lexikons die literaturwissenschaftliche Materie grundsätzlich von sachlicher und formgeschiditlicher Einstellung aus behandeln. Im einzelnen lagen für diese erst neuerdings in ihrer Eigenwertigkeit stärker beachtete „realistische" Literaturgeschichte die Grundlagen sehr verschieden. Bei zahlreichen Artikeln konnten die Bearbeiter sich auf gute Vorarbeiten stützen; aber bei vielen anderen, oft recht bedeutsamen, galt es, durch das

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üppig wuchernde Feld der Einzelerscheinungen erstmalig eine Entwicklungsbahn zu schlagen und künftiger Forschung die Wege zu weisen. Schon dies bedingte, abgesehen von der Verschiedenheit der nahezu 100 Mitarbeiter, hier und da eine nicht zu vermeidende Ungleichheit in der Behandlungsweise, Anlagehöhe und Ausdehnung der Stichwortartikel. Die Vorgeschichte dieses Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte geht weit zurück und führt bis an die Schwelle der modernen geisteswissenschaftlichen Literaturwissenschaft. Bereits in demselben Jahre 1911, das in Ungers Hamannwerk und Gundolfs Shakespearebuch die ersten deutlichen Zeugen der methodischen Schwenkung brachte, entwickelte der eine der beiden Herausgeber (Prof. Merker) dem Vertreter des damaligen Trübnersdien Verlags an Hand der aufgestellten Stichworte eingehend den Plan des Unternehmens, das im ganzen betrachtet jetzt in derselben Form zur Verwirklichung gekommen ist. Obwohl der Gedanke mit einem entsprechenden Plane des Verlags zusammentraf, der seine Grundrißreihe durch eine lexikalisch eingerichtete Serie ergänzen wollte, blieb das in Aussicht genommene alphabetische Nachschlagewerk damals, durch persönliche und zeitliche Verhältnisse bedingt, im Keimstadium geplanter Entwicklung stecken. Die Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre brachten dann aus inneren und äußeren Gründen weitere Hemmung, bis erst im Jahre 1920 eine neue, diesmal vom Verlage ausgehende Anregung das Vorhaben wiederum in Fluß brachte. Mit der wenig später erfolgten Gewinnung von Prof. Stammler als Mitherausgeber, der auch die erste Stichwortliste mannigfach ergänzte, erhielt das Unternehmen eine breitere Basis. Etwa gleichzeitig konnte an die Auswahl und Werbung der Mitarbeiter gegangen werden, die im einzelnen nicht immer leicht zu gewinnen waren (einzelne, besonders undankbare Stichworte konnten erst nach 6—8maligem Ausbieten ihren willigen Bearbeiter finden). Die unklare Lage der folgenden Inflationszeit, die nicht nur dem Verlag jede Übersichtsmöglichkeit nahm, sondern auch in den Reihen der Mitarbeiter vielfach Zweifel und Aufsdiubwünsche wach werden ließ, und die Notwendigkeit mannigfacher Neuwerbungen verzögerten weiterhin den Druckbeginn. Erst Anfang dieses Jahres waren die Manuskripte so weit eingelaufen, daß an die Drucklegung gegangen und im Juni die erste Lieferung ausgegeben werden konnte Schon jetzt sei darauf hingewiesen, daß Herausgeber und Verlag den Plan verfolgen, diesem vorwiegend formgeschichtlich gerichteten Reallexikon später ein Personallexikon sowie ein Stoff- und Motivlexikon zur Seite treten zu lassen. Die drei Wurzeln und Elemente der literarischen Erscheinungen (Persönlichkeit, Stoff, Form) würden dann in drei sich ergänzenden lexikalischen Nachschlagewerken nebeneinander Berücksichtigung finden. Möge zunächst dieses „ReaT'-Lexikon, das wir besonders gern auch in den Händen der Studierenden und in den Schulbibliotheken sehen würden, seinen Weg gehen. Greifswald, 30. Dezember 1925

Paul Merker

Wolfgang Stammler

Zur zweiten Auflage Das wissenschaftliche Gemeinschaftswerk, das mit dieser Lieferung in erneuerter Gestalt zu erscheinen beginnt, wurde vor dem ersten Weltkrieg von Paul Merker geplant und nach dem Kriege von ihm und Wolfgang Stammler unter Mithilfe eines großen Teils ihrer Fachgenossen verwirklicht. Unter den Erschütterungen von Nachkrieg und Inflation entstand es, und während der kurzen Zeit, die einen heilsamen Wiederaufbau des gefährdeten geistigen Lebens erhoffen ließ, begann es, sich als nützliches Hilfsmittel der literarhistorischen Forschung und Lehre zu bewähren. Vor dem zweiten Weltkrieg war es vergriffen, und von vielen Seiten des In- und Auslandes wurde schon damals dringend eine Neuauflage gewünscht. Paul Merker, der selbst die Erneuerung des Werkes plante, fiel am 25. Februar 1945 in Dresden dem Krieg zum Opfer und hinterließ die Aufgabe einer Generation, welche noch weniger als die des ersten Weltkriegs in der gesicherten Überlieferung ihrer Wissenschaft lebt, der es aber um so mehr darum gehen muß, sich der zerrissenen Zusammenhänge zu vergewissern und die sachlichen und methodischen Grundlagen ihrer Arbeit wiederzufinden. Die „allgemeine Wissenschaftsumstellung auf das Überpersönliche, Typische, Allgemeine", von der das Vorwort zur ersten Auflage sprach, hat in der Tat auf die Dauer die Richtung der literaturwissenschaftlichen Forschung bestimmt. Wo sich zur Zeit der ersten Auflage eben die Grundrisse abzuzeichnen begannen, ist das Gelände heute vielfach bebaut; mancherorts möchte man es jetzt auch anders aufgliedern als damals. Neue Methoden der Wertung und der geschichtlichen Einordnimg sind inzwischen in den Gesichtskreis der Forschung getreten. So war es nur in den seltensten Fällen möglich, damit auszukommen, daß man den bisherigen Text durch Angabe der inzwischen erschienenen Literatur ergänzte. Viele Artikel mußten überarbeitet, viele auch völlig neu geschrieben werden, zahlreiche neue Stichwörter wurden nötig, während andere teils unter neuen Gesichtspunkten erarbeitet werden mußten, teils auch ausfallen konnten. So ist ζ. B. die Darstellung theaterwissenschaftlicher Themen, die in der 1. Auflage einen breiten Raum einnahm, eingeschränkt worden, da für dieses Gebiet jetzt eigene Nachschlagewerke vorliegen. In den klein gewordenen Kreis der früheren Mitarbeiter hatten zahlreiche neue zu treten. Heute kommen in diesem Gemeinschaftswerk mehrere Generationen nebeneinander zu Wort, und es spiegelt sich in ihm die Entwicklung unseres Faches seit den Tagen des Positivismus. Die Vorbereitung der erneuerten Auflage war vielfach so mühsam und schwierig, als ob man ganz von vorn hätte beginnen müssen. Eines freilich erleichterte die Arbeit: Die Disposition des Ganzen stand von der ersten Auflage her fest, sie hatte sich bewährt und bedurfte nur da und dort der Ergänzungen. Eine grundsätzliche Erweiterung des thematischen Umkreises wäre weder zweckmäßig gewesen noch ließe sie sich gegenwärtig leisten. Was das Vorwort der ersten Auflage als Ergänzung forderte und in Aussicht stellte, ist für den Bereich eines Personallexikons der deutschen Literatur durch

VIII W. Stammlers Verfasserlextkon der deutschen Literatur des Mittelalters und durch die neue Auflage von W. Koschs Deutschem Literatur-Lexikon weithin erfüllt; den Bereich der Stoff-, Motiv- und Symbolgeschichte lexikalisch zu erschließen, dazu ist die Zeit noch nicht reif, so dringend die Wissenschaft eines solchen Nachschlagewerks auch bedürfte. Auch innerhalb des Themenkreises des Reallexikons mußten manche Wünsche der Herausgeber und wahrscheinlich auch der Leser unerfüllt bleiben. So sehr es ζ. B. der Entwicklung der Forschung entsprochen hätte, die übernationale, allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft' noch stärker zu Wort kommen zu lassen, so setzt doch der Umfang des Unternehmens dem Grenzen. Das Reallexikon sollte handlich und zugleich auch erschwinglich bleiben. Die Anhäufung vieler kleiner Stichwörter ist in der neuen Auflage tunlichst vermieden, gewisse Gruppen kurzer Artikel wurden zusammengelegt. Register, die ausführlicher als in der ersten Auflage sein werden, sollen dem Leser helfen, die Querverbindungen zu finden. Auch in bezug auf die Herausgeber ist die neue Auflage ein Gemeinschaftswerk geworden. Das war deshalb ohne Schaden für die Sache möglich, weil das Gesicht des Werkes, das P. Merker und W. Stammler bestimmt hatten, sich auch künftig nicht stark verändern wird. Den Plan der Neuausgabe faßten Erna Μ e r k e r, Hugo K u h n und Wieland S c h m i d t . An Paul Merkers siebzigsten Geburtstage, dem 24. April 1951, traten sie im Auftrage des Verlages mit einem Rundschreiben an ihre germanistischen Kollegen heran und forderten zur Mitarbeit auf. Im ersten Jahr der Vorbereitungen mußte W. Schmidt aus der Redaktion ausscheiden, da die organisatorischen Aufgaben der Bibliotheksleitung seine Arbeitskraft völlig in Anspruch nahmen. Nachdem die Vorbereitungen für einen erfolgreichen Beginn des Druckes nahezu beendet waren, sahen sich auch E. Merker und H. Kuhn, von vielerlei wissenschaftlichen Pflichten überlastet, zu dem schweren Entschluß genötigt, von der Herausgabe zurückzutreten. Die unterzeichneten Herausgeber haben sich dazu entschlossen, die Arbeit zu Ende zu führen, damit das Werk der Wissenschaft erhalten bleibe und ihr in erneuerter Form zugute komme. In der akademischen Verwaltung hat sich bekanntlich längst eine Ablösung der Pflichten und Verantwortungen eingebürgert. Ein entsprechendes Verfahren scheint auch in der Verwaltung wissenschaftlicher Aufgaben möglich und sinnvoll zu sein, besonders wenn sie von der tätigen Mitarbeit eines großen Kreises von Fachgenossen getragen sind. Der Dank der Unterzeichneten gilt denen, die das Werk bis zum Herbst 1953 tatkräftig und erfolgreich gefördert haben, und sie hoffen, daß der notwendige „Wechsel des Dekanats" dem Gelingen nicht schaden werde. Er möge vielmehr anzeigen, daß wir gem darangehen, eine gemeinsame Sache gemeinschaftlich zu bewältigen. Die mühsame und verantwortungsvolle Aufgabe, Mitarbeiter auszuwählen und mit ihnen zu verhandeln, war zum guten Teil bewältigt, bevor die Unterzeichneten die Redaktion übernahmen. Sie hoffen, daß es ihnen gelingt, die Lücken, welche noch geblieben sind oder durch das Ausscheiden von Mitarbeitern neu entstehen, rechtzeitig zu füllen. Sie beklagen mit unserer ganzen Wissenschaft den plötzlichen und frühen Tod von Richard Newald, von dem sie für dies Werk Hilfe erhofft hatten auf Gebieten, die keiner so kannte wie er. Den Herausgebern fällt es zu, die Artikel nach Umfang und Inhalt aufeinander abzustimmen. Dabei lassen sich gelegentliche Eingriffe, besonders Kürzungen, nicht immer

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vermeiden. Im ganzen aber sind die Mitarbeiter für Form und Inhalt ihrer Artikel verantwortlich; die persönliche Sicht und Meinung und die individuelle Form der Aussage wird auch in diesem Werk, in dem es zuvörderst auf objektive Berichterstattung ankommt, nicht ausgeschaltet werden dürfen. Die Prüfung und Ergänzung der bibliographischen Angaben betreut Dr. Klaus Kanzog. Ob die Generation, die den zweiten Weltkrieg überlebt hat, schon jetzt dazu fähig ist, in diesem Werk ein eindrucksvolles und geschlossenes Bild ihrer Wissenschaft herauszustellen, darf vielleicht bezweifelt werden. Wohl keiner der Mitarbeiter hat die ungestörte Muße gehabt, sein Arbeitsgebiet nach allen Richtungen breit und tief zu durchackern, keiner ist von den Katastrophen unsresJahrhunderts unberührt geblieben, unser aller Leben hat Risse und Sprünge. Gelegenheit zur Selbstbesinnung gab es freilich gerade in den gefährdetsten Augenblicken, und der Neubeginn nach dem Kriege in der Zusammenarbeit mit den heimkehrenden Studenten hat vielen von uns Antriebe gegeben, die für unsere weitere Lebensarbeit bestimmend sein werden. Aber es ist fraglich, ob diese Selbstbesinnimg und solche Antriebe gerade in einem Unternehmen wie diesem unmittelbar zutage treten können. Dies Werk ist an eine Tradition gebunden, es will sie fortsetzen und verarbeiten, aber nicht überwinden. Die Verpflichtimg der älteren und jüngeren Uberlebenden gegenüber dieser Tradition wird man hoffentlich der Neuauflage anmerken. Sie möchten das alte Reallexikon so gediegen, wie sie es vermögen, weiterreichen, damit es sich fürderhin als nützlich erweise und der Dank an diejenigen, die es zuerst geplant und verwirklicht haben, nicht verstumme. Β inn im Wallis, im August 1954 Werner Kohlschmidt

Wolfgang Mohr

χ

Textabkürzungen a. = anno aaO. = am angeführten Orte Abhdlg(n) = Abhandlungen) ad. = altdeutsch adfin. — altdänisch ae. — altenglisch afries. = altfriesisch afranz. = altfranzösisch agerm. = altgermanisch ags. = angelsächsisch ahd. = althochdeutsch aind. = altindisch air. = altirisch aisl. = altisländisch alemann. = alemannisch Alm. = Almanach amerikan. = amerikanisch andd. = altniederdeutsch Anm. = Anmerkung anord. = altnordisch anorw. = altnorwegisch arab. = arabisch Arch. = Archiv as. = altsächsisch aschwed. -- altschwedisch Aufl. = Auflage Ausg. = Ausgabe bair. (bayr.) = bayrisch Bd. - Band Bearb. = Bearbeitung Beil. = Beilage Beitr. = Beitrag Ber. = Bericht Bibl. = Bibliothek Bull. = Bulletin ca. = circa Chr. = Chronik dirisd. = christlich dän. = dänisch dass. ~ dasselbe ders. — derselbe dial. = dialektisch Diss. = Dissertation d t = deutsch ebd. = ebenda engl. = englisch estn. —: estnisch evangl. == evangelisch f. = folgende Seite fem. = Femminum ff. = folgende Seiten franz. : - französisch fries. = friesisch

frnhd. = frühneuhochdeutsch Fsdig(n) = Forschungen) gäl. = gälisch germ. = germanisch Ges. = Gesellschaft got. = gotisch griech. = griechisch H. = Heft hd. = hochdeutsch hebr. = hebräisch hg. v. = herausgegeben von hist. = historisch holl. = : holländisch Hs(s) = Handschrift(en) idg. — indogermanisch ir. = irisch isl. = isländisch ital. = italienisch J B . = : Jahresbericht(e) Jb(b) = Jahrbuch(bücher) Jg. = Jahrgang Jh. = Jahrhundert Journ. = Journal kelt. = keltisch kath. = katholisch Korrbl. = Korrespondenzblatt krit. - kritisch kymr. = kymrisch langob. = langobardisch lat. = lateinisA lit. = litauisch Lit. = Literatur MA. = Mittelalter mal. = mittelalterlich Masch. - - Maschinenschrift masc. = Masculinum Mbl(l) = Monatsblatt(blätter) md. = mitteldeutsch me. — mittelenglisch m. E. = meines Erachtens Mh(h) = Monatshefte) mhd. = mittelhochdeutsch Mittlg(n) = Mitteilung(en) mlat. = mittellateinisdi mndd. = mittelniederdeutsch mndl. = mittelniederländisch Ms(s). = Manuskript(e) Mschr. —: Monatsschrift ndd. = niederdeutsch ndl. = niederländisch nds. = niedersächsisch

ne. = neuenglisch neutr. = Neutrum NF. - - Neue Folge nhd. = neuhochdeutsch nlat. — neulateinisch nndd. = neuniederdeutsch nndl. = neuniederländisch nord. = nordisch norw. = norwegisch NS. = Neue Serie nschwed. = neuschwedisch obd. = oberdeutsch pl. = Plural Progr. = Programm, Schulschrift prov. - provenfalisch Publ. = Publication(s) Ren. = Rev. = Rez. — rom. = röm. = russ. =

Renaissance Revue Rezension romanisch römisch russisch

SA. = Sonderabdruck sächs. = sächsisch Samml. = Sammlung SB. = Sitzungsbericht(e) schott. = schottisch Sehr. = Schrift(en) schwed. = schwedisch Schweiz. = schweizerisch s. d. = siehe dies singl. — Singular slav. —: slawisch s. o. = siehe oben sogn. = sogenannt span. — spanisch spätlat. = spätlateinisch Stud. = Studien UB. = Urkundenbuch Ubers. = Ubersetzung urgerm. - urgermanisch UntS; - - Untersuchung(en) V. — Vers Ver. : Verein Veröff. = Veröffentlichung Vjs. = Vierteljahresschrift vulglat. = vulgärlateinisch Wb. = Wörterbuch Welüit. = Weltliteratur westf. = westfälisch Wiss. = Wissenschaft Zs. = Zeitschrift

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Abkürzungen Genannt werden häufiger zitierte Werke, Zeitschriften und Reihen. Die übrigen Abkürzungen sind aus sich selbst verständlich. AbhAkBln. = Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Berlin aus den Jahren 1804-1900. Fortges. u. d. T.: Abhandlungen der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (1901-1917). Fortges. u.d.T.: Abhandlungen der Preußischen (1949 ff. der Deutschen) Akademie der Wissenschaften (1918 ff.). AbhAkHeidbg. = Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philos.-hist. Klasse (1913 ff.). AbhAkMainz Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Abhandlungen (1950 ff.). AbhSächsGes. = Abhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften. Philol>hist. Klasse 1(1850) - 34 (1921). Fortges. u. d. T.: Abhandlungen der Philologisch-Historisch. Klasse der Sächsischen Akademie der Wissenschaften (1919ff.). ADB.=Allgem. Deutsche Biographie (Leipzig 1875-1912). Adelung = Grammatis ch-kritisdies Wörterbuch der hochdeutschen Mundarten. Von Johann Christoph Adelung. 2., verm. u. verb. Ausg. T. 1-5,1 (Leipzig 1793-1818). 1. Ausg. u. d. T.: Versuch eines vollständigen grammatisch - kritischen Wörterbuch (1774-1786). AdtTextbibl. = Altdeutsche Textbibliothek. Begr. v. Hermann Paul (1882 ff.). AdtUbgtexte. = Altdeutsche Ubungstexte. Hg. von der Akademischen Gesellschaft Schweizerischer Germanisten (1944 ff.). AnzfdA. = Anzeiger für deutsches Altertum und Literatur (1876 ff.).

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A Abenteuerroman § 1. Der Name Α. (Wortursprung und Bedeutung von Abenteuer s. Aventiure) steht als literar. Oberbegriff über einer Reihe realistisch-volkstümlicher Romanerscheinungen des 17. und 18. Jh.s (Schelmenroman, Avanturierroman, Simpliziaden, Robinsonaden und Reiseroman). Doch gehen seine Anfänge weit zurück, und über mannigfache spätere Umbildungen ist der A. bis heute unmittelbar lebendig geblieben. Schon im Ruodlieb und in der sogn. S p i e l m a n n s d i c h t u n g (s. d.) finden sich viele abenteuerliche Motive, die A r t u s r o m a n e (s. d.) sind ritterliche A.e in ihrer Verherrlichung kriegerischer aventiure und feudalistischer Standeskultur. Erst die soziale Umschichtung des 14., 15. und 16. Jh.s schafft die inneren und äußeren Voraussetzungen für jene bezeichnende Gestalt des A.s, die der höfischen Zeit notwendig fehlen mußte: den A b e n t e u r e r . Aus dem Bürgerstande oder den unteren Volksschichten stammend und meist in dienender Stellung, zieht er nicht bewußt auf Abenteuer aus, sondern wird vom stets wechselnden Geschick gepackt, schlägt sich allen Mühen zum Trotz durch und erringt schließlich das Glück. § 2. Die abenteuerlichen Motive mehren sich im bürgerl.-realistischen Prosaroman (Wickrams Goldfaden 1557), in den Volksbüchern (Fortunatus, Pontus und Sidonia), in der Schwank- und Facetiendichtung des 16. Jh.s und bei Fischart, der Rabelais' „affen-theuerlichen" Gargantua und Pantagruel (1575) überträgt. Gleichzeitig aber feiert im A m a d i s (s. d.) vergröberte Ritterherrlichkeit nochmals Triumphe; auf die Quantität, nicht die Qualität der Taten kommt es den ritterlichen Krafthelden an, deren innere Hohlheit Cervantes aufs Korn nimmt. Aus Spanien kommt dann jene erste eigentlich literar. Verkörperung des Abenteurers, der picaro, der Held des spanischen S c h e l m e n r o m a n s (s. d.). Er ist nur zu begreifen aus den zerrütteten Zuständen des allmählich morsch gewordenen span. Reallexikon I.

Weltreiches: ein Gauner aus der sozialen Unterschicht, der sich durchs Leben schlägt. Sein abenteuerlicher Werdegang ist eng mit einer realistisch getreuen und spottend scharfen Satire auf alle Stände, mit denen der picaro in Berührung kommt, verbunden. Das Deutschland des 30jähr. Krieges sah ähnliche abenteuerliche Gestalten. So erklärt sich die schnelle Einbürgerung und Angleichung der novella picaresca namentlich im katholischen Süddeutschland. Aegidius Albertinus, Martin Freudenhold und Nikolaus Ulenhart sind die literar. Vermittler solcher Landstörtzerromane. § 3. Aus diesem Schelmenroman erwächst d e r dt. A. des 17. Jh.s, der Simplicissimus von Grimmelshausen (1668 f.), ein Werk, das sich ebenbürtig neben die anderen großen A.e der Weltlit., Don Quichote und Gil Blas, stellen darf. Innerhalb des volkstümlichen dt. Romans, dessen Höhepunkt der Simplicissimus ist, gibt der Verfasser zum erstenmal eine wirklich innere, psychologisch-wahrhafte Entwicklung seines Helden. Er verleiht dem A. einen tiefen ethischen Gehalt, indem die rein äußerlichen stofflichen Abenteuer, die Simplizius bestehen muß, ihn zur inneren Einkehr, zur Läuterung führen. Simplizius ist hineingestellt in eine bewegte, abenteuerreiche Zeit, die mit satten, bisweilen durch ihre Treue erschreckenden Farben geschildert wird. Der kulturhist. Gehalt des Werkes ist unschätzbar. Gesteigerte, derbrealistische Naturnähe eignet den simplizianischen Schriften, der Landstörtzerin Courasche (1670) und dem Seltsamen Springinsfeld (1670), die beide mit grimmigem Spott auch die schmutzigen Tiefen des Lebens anrühren, ohne aber den künstlerischen Rang des Simplicissimus zu erreichen. Die Nachahmungen häufen sich, die sogn. Simpliziaden sind vollgepfropft mit wunderbaren Abenteuern, aber ohne jeden ethischen Gehalt. Bedeutsam sind der Simplicianisdie Weltkukker oder abenteuerlidier Jan Rebhu (1677) von Johann Huber, der Frantzösische Kriegssimplicissimus (1682),

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Abenteuerroman

der Dazianische Simplizissimus (1683) und der Simplizissimus redivivus (1744). § 4. Die Zahl der A.e ist — ein typisches Zeichen der Zeit — seit Ende des 17. Jh.s ständig im Steigen begriffen; bis über 1750 hinaus erfreut sich die Gattung großer Beliebtheit. Der A. nimmt Anregungen des hist., heroischen Idealromans auf, der unter deutlicher Wirkung des späten griech. Romans seinen Helden die mannigfachsten Land- und Seeabenteuer bestehen läßt; er folgt dem galanten Gesellschaftsroman, in dem kühne Liebesabenteuer in endloser Reihe eine große Rolle spielen; er verbindet sich mit dem L ü g e n - und R e i s e r o m a n (s. d.) und folgt der Art E. W. H a p p e l s , der in seine europäischen Geschichtsromane lange geographische Abhandlungen einschaltet und so, dem Zug der Zeit folgend, nachdrücklich den Blick in ferne Länder richtet, den Horizont weitet. Christian W e i s e s politische Romane (1671 ff.) gehören hierher und besonders dessen meist anonyme Nachfolger, die den politischen Roman in einen Landstreicherroman mit rein picarischem Gepräge verwandeln. Christian R e u t e r s Schelmuffskys wahrhaftige, kurieuse und sehr gefährlidie Reisebeschreibung zu Wasser und zu Lande (1696) verbindet Lügen-, Reise- und Abenteuerroman mit der „studentischen Frische und Derbheit persönlicher Satire". Überhaupt teilt sich jetzt der A. in die verschiedensten literar. Unterabteilungen. Zum dt. Simplizissimus und dem span. Picaro gesellt sich seit 1714 der franz.-holl. Avanturier (s. Schelmenroman) und seit 1720 der· engl. Robinson. Nur sehr wenige legen in die Robinsonade eine so tief-ethische Tendenz hinein wie etwa J. G. Schnabel in seine Insel Felsenburg (1731 f.). Nach 1750 freilich muß das abenteuerliche Gepräge dieser Gattung der praktisch-nüchternen Moral des Rationalismus weichen (ζ. B. in Gellerts Leben der Schwedischen Gräfin 1746), der auch die Robinsonade zum didaktischen Erziehungsbuch umformt.

R ä u b e r r o m a n e (s. d.) und im Schauerroman (Grosse, Vulpius) wieder zur Geltung. Dafür beeinflussen nunmehr neben dem Don Quixote des Cervantes die engl. Romane Fieldings und Smollets mit ihren abenteuerlichen Motiven den dt., besonders den Reiseroman eines Musäus, Müller, Wezel, Thümmel u. a. Mit ihnen arbeitet auch noch der Roman der literar. Oberschicht im letzten Drittel des 18. Jh.s (vgl. R. Riemann, Goethes Romantechnik 1902). Aber hier sind Held und Umgebung auf eine höhere soziale Stufe gehoben, das bewegte, schicksalsreiche Leben wird dem Abenteurer — wie bei Grimmelshausen — zur charakterbildenden, läuternden Schulung. Heinses Ardinghello (1787) ist technisch und stofflich-motivisch dem Roman des 17. Jh.s verwandt; Goethes Wilhelm Meister (1795/96) nimmt gleichfalls Motive der alten literar. Gattung wieder auf. Doch wird der alte A. mit völlig neuem Geist erfüllt und zum Erziehungs-, zum Bildungsroman gewandelt, wie das ζ. T. noch bei Jean Paul der Fall ist. Der romantische Roman steht mit solcher Absicht dem Wilhelm Meister nahe, räumt aber dem Abenteuerlich-Stofflichen um seiner selbst willen wieder größeren Raum ein. Tiedc, Brentano und Arnim bearbeiten und erneuern die volkstümlichen Romane der Moscherosch, Grimmelshausen und Reuter. In Eichendorffs Romanen und Novellen (vor allem Taugenichts 1826 und Glücksritter 1841) lebt der Geist des alten A.s spürbar weiter, doch in romantischer Verklärung und frei von aller früheren derben Wirklichkeit. H. R a u s s e , A. d. 17. u. 18. Jh.s. Die Kultur 15 (1914) S. 218—226. Ders., Gesch. d. Simpliziaden. ZfBüchfr. NF. 4(1912) S. 195 —215, 350. F. K a r g , Die Wandlungen d. höf. Epos in Deutschland υ. 13. zum 14. Jh. GRM. 11 (1923) S. 321—336. E. T e n i s c h , Vom Abenteurerzum Bilaungsroman. GRM. 14 (1926) S. 339—351. Frank R i e d e r e r ,Tiecks Beziehungen z. dt. Lit. d. 17. Jh.s. Diss. Greifswald 1915. Lit. zu Grimmelshausen, s. Barocklit. Weitere Lit. s., Schelmenroman, Reiseroman, Robinsonade, Utopie.

§ 5. Mit dem Aufkommen des neuen psychologischen Familienromans nach engl. Vorbild verschwindet allmählich auch der volkstümliche und damit der eigentliche A. Schließlich kommt er aber in der literar. Unterschicht der R i t t e r - u n d

§ 6. Die Spätromantik zeitigt noch einige Erscheinungen von bemerkenswertem Rang. In der Nachfolge Tiedcs, Eichendorffs und Jean Pauls steht Μ ö r i k e s Jugendwerk Maler Νölten (1832), das die Züge des Abenteuerund Künsderromans im Sinne dieses Erbes

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Abenteuerroman

zusammenfaßt. Henrik S t e f f e n s Altersromane Valseth und Leith (1827) und Die vier Norweger (1828) versuchen, abenteuernd erfahrene Geschichte aus der Höhenlage der romantischen Weltanschauung reflektierend zu verarbeiten. Doch bleiben diese Erscheinungen ohne eigentliche Nachfolge. Die Nachwirkung der Romantik kreuzt sich in der Folgezeit mit neuen Einflüssen, vor allem denen Scotts, Irvings und Coopers (die alle in billigen Ubersetzungen starke Wirkung ausüben), und mit der Offenheit für moderne Wirklichkeitsbereiche, die das Heraufkommen des Realismus bezeichnet. Diese Kreuzung wird schon im Biedermeier spürbar, dessen erzieherischer Realienhunger und Interesse am Femen, Exotischen der Gattung neue Impulse gibt (s. auch Robinsonade). Die Stoffbereiche, die nun in Erscheinung treten, werden, ζ. T. unter jungdeutschem Einflüsse, bereits mit den drängenden geschichtlichen Problemen der Gegenwart und Zukunft durchdrungen. So verbinden sich bei G u t z k o w die Gattung des Zeit- und des Abenteuer-Romans auf eine neuartige Weise in Der Zauberer von Rom (1858-61). Doch bleibt die weltanschaulich reformerische Problematik, in so phantastische Handlung sie auch eingebettet wird, hier noch auf europäischem Boden. Theodor Μ ü g g e s Revolutionsromane Chevalier (1835) und Toussaint (1840) hatten sie aber schon nach Westindien verlegt. Wie bei Steffens das Abenteurermotiv sich an romantischer Philosophie zu bewähren hat, so bei Mügge und Gutzkow am Fortschrittsund Reformprogramm der Jungdeutschen. Die Verbindung von Weltanschaulichem und A. hält auch Ferdinand K ü r e n b e r g e r s Der Amerikamüde (1855) aufrecht, nur mit restaurativem Vorzeichen. Der in Nordamerika abenteuernde Held entscheidet sich wieder für das geistige Erbe und die geschichtliche Aufgabe Europas.

oder die Lebensbilder aus der westlichen Hemisphäre (1834—37) enthalten, beruht auf der Anerkennung einer erfahrenen neuen Wirklichkeit, die wohl fremdartig, mehr aber noch originell ist. Sealsfield bedeutet auch sprachlich den ganz realistischen Aufgriff des Amerikathemas im reinen Schilderungssinne. Friedrich Gerstäcker verdankt seine Wirkung weniger seiner Anlehnung an diesen Sealsfield als vielmehr der geschickten Verlegung der Problematik des bürgerlichen Familienromans in exotische Regionen: nicht nur nach Amerika wie ζ. B. in dem heute noch aufgelegten Die Flußpiraten des Mississippi (1848), sondern auch nach Indonesien und den Südseearchipelen wie in Unter dem Äquator (1860) und Tahiti (1854). Gerstäcker hat wie Postl weite Gebiete der von ihm geschilderten Welt während seiner Emigrantenjahre, in mancherlei Berufen abenteuernd, selber erfahren und daraus die realistischen Züge seiner Darstellung gewonnen. Karl May hingegen erreichte seine ungewöhnlichen Auflageziffern als Jugendschriftsteller mit einem neuen Typus des Α., in dem Einflüsse Coopers sich mit der sentimentalen Christlichkeit und dem nachromantischen Freundschaftskult des biedermeierlichen Helden kreuzen. Die Gestalten Winnetous und Old Shatterhands, die im Mittelpunkt ganzer Geschichtenserien stehen, belegen diese ins kleinbürgerliche Pathos abgesunkenen Einflüsse deutlich. Der A. erreicht hier die Grenze, wo er motivisch wie sprachlich dermaßen formelhaft wird, daß sich sein Gewicht von der literarhistorischen nach der volkskundlichen Seite hin verlagert.

§ 8. Der A. erweist sich weiterhin in seiner oberen Schicht als treuer Spiegel der Zeitströmung: in R a a b es AbuTelfan(1867) so gut als Problematik des im abenteuerlichen Schicksal unbürgerlich gewordenen Menschen wie in Gerhart H a u p t m a n n s § 7. Bei Karl Ρ ο s 11 dagegen, der, um einer Atlantis (1912) oder Die Insel der großen europäischen Vergangenheit als Mönch zu Mutter (1924) als teils ernste, teils ironische entgehen, unter dem Decknamen Charles Verarbeitung seit dem Naturalismus aktuelSealsfield vor allem mit seinem Kajüten- ler ethischer und sozialer Probleme. Von der buch (1841) sich durchsetzte, geht der naturalistischen Fragestellung her kommt Amerikaroman neue realistische Wege. Die auch der Typus des neueren Α., wie ihn Gestaltung des Einzelnen, der Gesell- Jakob S c h a f f n e r s Konrad Pilater (1910) schaft und der Weite eines noch zu er- darstellt, in welchem der Held in inneren schließenden Kontinents, wie sie auch etwa wie äußeren Abenteuern seiner Fahrten InOer Virey und die Aristokraten (1834) dividualität wird. Hier wirkt auch die soziale l·

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Abenteuerroman — Akademien

Fragestellung des Naturalismus in das Abenteurermotiv mit hinein, die dann nach dem Weltkrieg sidi in Bruno Τ r a ν e η s (Pseudonym) Romanen, vor allem Das Totenschiff (1929), mit deutlich antikapitalistischer Tendenz fortsetzt. Auch der A. des Expressionismus enthält, nur in unbedingterer Form, die Kritik am bürgerlichen Menschen, die der Naturalismus in die Gattung eingebracht hat. Audi die klassische Abenteuergeschichte des Expressionismus, Kasimir E d s c h m i d s Yousouf (1913/14) spiegelt in der Verherrlichung einer maßlosen Vitalität im Hintergrund das Gegenbild einer schwächlich gewordenen bürgerlichen Menschheit. Die gleichfalls naturalistische Problematik der Abenteurerseite der modernen Technik verbindet sich mit dem Erbe der technischen Utopie (s. Utopie), wie sie für das 19. Jahrhundert das Werk von Jules Verne repräsentiert. In dieser Linie liegt Bernhard K e l l e r m a n n s DerTunnel( 1913), auf unterer Ebene varüert das Thema unermüdlich Hans Dominik mit seinen Weltraumschiffs· und Tiefseefahrtmotiven. Der simple Fortschrittsoptimismus dieser Literatur, den schon im vorigen Jahrhundert Max Ε y t h mit seinen einst vielgelesenen Ingenieurromanen vertreten hatte, geht in den Erfahrungen der Weltkriege verloren und wird in Werken höheren Ranges wie Franz W e r f e 1 s Stern der Ungeborenen (1945) oder Ernst J ü n g e r s Heliopolis (1949), in denen sich Elemente des A. vom Typus der technischen Utopie mit der Problematik der neuzeitlichen Humanitäts- und Kulturkrise mischen, ad absurdum geführt.

suche wie Alcuins A. am Hofe Karls d. Gr., die ital. A.n des 15. Jh.s, darunter die Academia Platonica in Florenz, und die nach ital. Vorbild von Konrad Celtis gegründeten Literarischen Sodalitäten stets gegenwärtig, doch haben weder Antike noch MA. und Humanismus entscheidenden Anteil an der Begründung der modernen A.n. Die Motive zur Gründung wiss. Vereinigungen, später A.n, waren wesentlich praktischer Natur. Den stärksten Anteil hatte daran der Aufstieg der Naturwissenschaften. So entstanden 1560 die Academia secretorum naturae in Neapel, 1603 die Accademia dei Lincei in Rom, 1636 eine private Gesellschaft von Naturforschern in Frankreich (seit 1666 Academie des Sciences) und 1645 eine private Gesellschaft von Naturforschem in London (seit 1662 Royal Society). 1652 wurde auch die älteste dt. Α., das Collegium naturae curiosiorum (heute: Leopoldinisch-Karolinische A. der Naturforscher zu Halle) von Johann Laurentius Bausch in Schweinfurth gegründet. Hinzu kam die notwendig gewordene Revision der lebenden Sprache. Zu diesem Zweck wurde 1582 die Accademia della Crusca (Vocabolario degli accademici della Crusca) und 1629 die zunächst private, 1635 durch Richelieu staatlich anerkannte Academie Franiaise (Dictionnaire de VAcademie 1694 ff.) ins Leben gerufen, während in Deutschland zunächst Sprachgesellschaften (s. d.) diese Aufgaben zu übernehmen versuchten. Paul Ludw. L a n d s b e r g , Wesen u. Bed. d. Piaton. A. (1923; Sehr. z. Philos. u. Soziol. 1). — Wilh. C a p e l l e , Organisation wiss. Fschg. in d. Antike, in: Forschungsinstitute, ihre Gesch., Organis. u. Ziele. 1(1930) S. 34-49. — Ad. M e y e r , Organisationsformen d. Fschg. seit d. Renaissance, in: Forschungsinstitute. 1 (1930) S. 50-65. — Martha O r n stein, The Role of scientific societies in the 17th. century (Chicago 1928). — L. Κ e 11 e r , D 'e A.n d. Renaissance u. ihre Nachfolger. Mhh. d. Comenius-Ges. 1911, S. 97-115. — Ders., Die Societäten d. Humanismus u. d. Sprachges. (1909). —• Programmat. Sdir. zum A.gedanken: Francis B a c o n , De dignitate et augmentis scientarum (1623). — C o r a e n i u s , Didactica magna (lat. Ausg. 1636). — Karl Theod. v. Η e i g e 1, Über den Bedeutungswandel d. Worte Akademie u. Akademisch (1911).

Paul Gg. Ν e u m a i r , Der Typus d. Abenteurers in d. neuen dt. Dditg. Diss. Frankfurt 1933. H. S t e i n e r , Karl May oder d. Verhängnis d. Phantasie. Urania 12 (1949) S. 433 — 438. Hans Ρ1 i s c h k e , Von Cooper bis Karl May. Eine Cesdi. d. völkerkundl. Reiseu. Abenteuerronuins. (1951). Walter Rehm — Werner Kohlschmidt

Aesthetik s. Literatur und Aesthetik. Akademien § 1. Begriff und Entwicklung des A.gedankens. 1. Die A. als Stätte nationaler Repräsentation und als Zusammenschluß aller wissenschaftlichen Kräfte zur gemeinsamen Forschungsarbeit ist erst eine Schöpfung des 17. Jh.s. Ihre Tradition reicht bis auf Piaton zurück, auch bleiben Fortsetzungsver-

in

2. Mit L e i b n i z gewann der A.gedanke Deutschland endgültig Gestalt. Nach

Akademien einem Entwurf (1667) und zwei erfolglosen Eingaben an Kaiser Leopold I. (1668 und 1669) wurden zwei Schriften für den geplanten Zusammensdiluß der naturwiss. Vereinigungen und Sprachgesellschaften zu einer Sozietät grundlegend: der Grundriß eines Bedenckens von Aufrichtung einer Societät in Teutschland (1669/70) und die Consultatio de naturae cognitione ad vitae usus promovenda instituendaque in earn rem. Societate Germana (1676). Erst 1700 wurden diese Pläne durch die Stiftung der Brandenburgischen Sozietät der Wiss. (später Preuß. A.) durch Kurfürst Friedrich III. verwirklicht. Darüber hinaus hat aber die Idee der wiss. Sozietät in Deutschland reiche Frucht getragen, und bei allem A.griindungen läßt sich der Einfluß der Leibnizschen Idee verfolgen. War nun die franz. A. für Leibniz (Parisaufenthalt 1672-76) zum Vorbild geworden, so beherrschte auch in der Folgezeit der franz. Geist die dt. A.n. Klopstocks Dt. Gelehrtenrepublik und Herders Plan zum ersten patriotischen Institut für den Allgemeingeist Deutschlands zeugen von der Unzufriedenheit gegenüber den schnell im Traditionalismus erstarrten A.n. Dokumente zur Errichtung d. Brandenburg. Sozietät, in: Ad. H a r n a c k , Gesch. d. Kgl. Preuß. A. d. Wiss. Bd. 2 (1900) S. 3-4; 8-26; 26-34. — V o l t a i r e , Academie, in: Oevres. Tom. 6, Dictionnaire philosophique (1838) S. 20-21. — Academie, in: L'EncycIopedie ou Dictionnaire raisonne des sciences. Tom. 1 (1751) S. 49-57. — Κ1 ο ρ s t ο c k, Dt. Gelehrtenrepublik, in: Werke. Bd. 12 (1823). — Max K i i s c h s t e i n , Klopstocks Dt. Gelehrtenrepublik (1928; GermDt. 3). — Joh. Gottfr. Herder, Plan zum ersten patriotischen Inst, f. d. Allgemeingeist Deutschlands, in: Werke (Hg. v. B. Suphan) Bd. 16 (1887) S. 600-616. 3. Das 19. Jh. veränderte die Struktur der dt. A.n. Drei Gedanken traten in den Vordergrund, das n a t i o n a l e Interesse, die Konzentration der A.n auf die F o r s c h u n g , damit zugleich eine Abgrenzung gegenüber den Aufgaben der Universität und die Neugeburt der philologischen, historischen und philosophischen Disziplinen. An den A.n wurde ein neuer Wissenschaftsbegriff aus dem Geiste Schleiermachers, Fichtes, Goethes und der Brüder Humboldt lebendig. Ad. H a r n a c k , Aus Wissenschaft u. Leben. Bd. 1 (1911) S. 23-37: Leibniz u. Wilh. v. Humboldt als Begründer d. Kgl. Preuß. A. d. Wiss. — Konrad Β u r d a c h , Die dt. wiss.

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A.n u. d. Schöpfer, nationale Geist, in: Eranos. Festschr. f. Hugo v. Hofmannsthal (1924) S. 29 —60. Wiederholt in: B u r d a c h , Die Wiss. υ. d. dt. Sprache (1934) S. 546-580. — Rieh. W e t t s t e i n , Die dt. A.n d. Wiss., in: Das Akadem. Dtschld. Bd. 3 (1930) S. 597 —602. — Dt. A.reden. Hg. v. Fritz S t r i c h (1924). Jakob G r i m m , Über Schule, Universität, Α., in: G r i m m , Kleine Schriften. Bd. 1 (2. Aufl. 1879) S. 212-255. Schweizer. A. reden. Hg. v. Fr. S t r i c h (Bem 1945). 4. Zur gleichen Zeit setzten an den einzelnen A.n die ersten wiss. G r o ß u n t e r n e h m u n g e n ein, die am 20. Jan. 1893 zur Gründung des K a r t e l l s der A.n Göttingen, Leipzig, München und Wien (1906 formeller Beitritt Berlins, 1911 Heidelbergs) führten. In Frankreich bestand bereits seit 1806 im Institut de France eine ähnliche Organisation. Ihr gehörten an: die A. Fran^aise, die A. des inscriptions et belles-lettres, die A. des sciences, die A. des beaux arts und die A. des sciences morales et politiques. Das Kartell der dt. A.n ist diesem Vorbild gefolgt und besteht noch heute. Zu den gemeinsamen Unternehmungen des dt. Kartells gehören u. a. die Monumenta Germaniae Historica (gegr. 1816, seit 1875 Beteiligung der A.n Wien, München und Berlin) der Thesaurus Linguae Latinae (Bd. Iff., 1900ff.), die Encyklopädie der math. Wiss. (Bd. Iff., 1898 ff.), die Mal. Bibliothekskataloge (Bd. Iff., 1915 ff.), das Dt. Biographische Jahrbuch (Bd. Iff., 1925 ff.), die Weiterführung von J. C. Poggendorffs Biograph.-literar. Handwb. für Mathematik, Astronomie usw. (Bd. 5 ff., 1925 ff.), das Mittellat. Wh., das Corpus d. griech. Urkunden, das Corpus vasorum antiquorum, das Septuaginia-Unternehmen, die Dt. Literaturzeitung (NF. Jg. 1, Η. 1 ff., 1924 ff.) und die Zs. Forschungen und Fortschritte. 5. Auf Initiative der Royal Society schlossen sich am 9. Okt. 1899 verschiedene A.n zu einer I n t e r n a t i o n a l e n A s s o z i a t i o n zusammen, darunter die A.n in London, Paris, Rom, Petersburg, Washington und die A.n des dt. Kartells. 1913 gehörten ihr 24 A.n aus 16 Ländern an. Generalversammlungen fanden 1901 in Paris, 1904 in London, 1907 in Wien, 1910 in Rom und 1913 in Petersburg statt. Der 1. Weltkrieg hat diese Gemeinschaft zerstört. Statt dessen wurden 1919 die Union Academique Internationale (für Geisteswiss.) und das Conseil International des recherches, seit 1931 Unions scientifiques (für Naturwiss.)

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Akademien

gegründet. Beiden Organisationen gehört Deutschland nicht an. Doch stehen die A.n untereinander im Schriftenaustausch. Von den geplanten gemeinsamen Unternehmungen ist vor allem die Leibniz-Ausgabe zu nennen. Geplant zwischen der Preuß. A. d. Wiss. und der A. des sciences sowie der A. des sciences morales et politiques auf der ersten Tagung des Ass. 1907: Beschluß, die Ausgabe zu beginrien. 1914: der 1. Bd. satzfertig. Nach dem 1. Weltkrieg wurde die Ausgabe von der Preuß. A. d. Wiss. allein weitergeführt.

6. Die Idee der A. als „die hödiste und letzte Freistätte der Wiss. und die vom Staate am meisten unabhängige Korporation" (W. v. Humboldt) ist im 20. Jh. wesentlich zurückgetreten vor den ö k o n o m i s c h e n Problemen, die der moderne „Großbetrieb der Wiss." (A. v. Harnack) zu lösen hat. So erfolgte 1920 auf Initiative der Preuß. A. d. Wiss. die Gründung der Notgemeinschaft der dt. Wiss. (jetzt: Dt. Forschungsgemeinschaft), die auch noch heute zahlreiche wiss. Unternehmungen unterstützt, wo die wirtschaftlichen Kräfte der A.n nidit ausreichen. Ad. H a r n a c k , Aus Wiss. u. Leben. Bd. 1 (1911) S. 10-20; Vom Großbetrieb d. Wiss. — Werner R i c h t e r , Die Organisation d. Wiss. in Dtschld., in: Forschungsinstitute. 1 (1930) S. 1-12. — Friedr. S c h m i d t - O t t , Erlebtes u. Erstrebtes 1860-1950 (1952) S. 174-180: Die Gründung d. Notgem. d. dt. Wiss.

7. Nachschlagewerke über A.n. Georg S c h n e i d e r , Handb. d. Bibliographie (4. Aufl. 1930) S. 408-417. — Hanns B o h a t t a u. Franz H o d e s , Bibliographie d. Bibliographien (1950) S. 15-18. — Minerva. Jahrbuch d. gelehrten Welt, seit 1891. — The World of Learning (5. ed. London 1954) passim. — Academies [nebst] Index. In: Catalogue of the printed books in the library of the British Museum (1881-1900) Bd. 1, getr. Pag. S. 1-1018; Index, S. 1-99 (im Nadidr. 1946; in d. 1. Ausg. als Sonderbd.); enthält die wichtigsten A.-Veröffentlichungen. — Axel v. H a r n a c k , Die A.n d. Wiss., in: Handb. d. Bibliothekswiss. (Hg. v. Fritz Milkau) Bd. 1, 1931, S. 850-876. - W. O b e r h u m m e r , Die A.n d. Wiss., in: Universitas Litterarum (1953ff.) S. 700-708. — Eberh. P r e u ß n e r , Α. (bes. Musik-A.n), in: MGG. 1 (1949/51) Sp. 188-199.

§ 2. Kurze Übersicht über einzelne dt. A.n. und ihre Germanisten. 1. Die Preuß. (jetzt: Dt.) A. der Wiss. in B e r l i n . Gründung: 19. März (bzw. 11. Juli) 1700 auf Anregung von Leibniz. Zur Gesch.: Adolf H a r q a c k , Gesch. d. Kgl. Preuß. A.

d. Wiss. 3 Bde (1900). — Eric A m b u r g e r , Die Mitglieder d. Dt. A. d. Wiss. zu Berlin 1700-1950 (1950). — H. Grapow, Zur 250-Jahrfeier d. Dt. A. FschgnFortschr. 26 (1950) S. 137-143. Ordentl. Mitglieder: Karl Lachmann (1830), Eberh. Gottl. Graff (1833), Jacob u. Wilh. Grimm (1841), von der Hagen (1841), Moriz Haupt (1853), Karl Müllenhoff (1864), Wüh. Scherer (1884), Karl Weinhold (1889), Erich Schmidt (1895), Konrad Burdach (1902), Gustav Roethe (1903), Andreas Heusler (1907), Julius Petersen (1922), Arthur Hübner (1932), Franz Koch (1939), Julius Sdiwietering (1939), Hans Kuhn (1943), Theodor Frings (1946), Wilhelm Wissmann (1949). 2. Die Gesellschaft der Wiss. zu G ö t t i n g e η. Gründung: 10. Nov. 1751 auf Anregung von Gerlach Adolf von Münchhausen. Erster Präsident: Albrecht von Haller. Zur Gesch.: Joh. J o a c h i m : Die Anfänge d. Kgl. Sozietät d. Wiss. zu Gött. (1936; AbhGesGött. F. 3, 19). — Mitgliederverz. d. Ges. d. Wiss. zu Gött. 1751-1927 (1928). — Festschr. z. Feier d. 150jähr. Bestehens d. Kgl. Ges. d. Wiss. (1901). Ordentl. Mitglieder: Georg Friedr. Benecke (1830), Jacob u. Wilh. Grimm (1830-37)» Gustav Roethe (1893-1902), Edward Schröder (1903), Rudolf Unger (1929), Wolfgang Krause (1938), Jost Trier (1939), Friedr. Neumann (1943). 3. Die A. nützlicher (gemeinnütziger) Wiss. zu E r f u r t . Gründung: 19. Juli 1754 durch Joh. Wüh. Baumer. Zur Gesch.: Joh. B i e r e y e , Gesch. d. Α.... 1754-1929 (1930; Sondersdir. d. Α. 1). — Rieh. T h i e l e , Die Schicksale d. Erfurter A nach der ersten Besitznahme Erfurts durch Preußen (Progr. d. Kgl. Gymn. Erfurt, Nr. 258). Mitglieder: Alex. v. Humboldt (1791), Wilh. v. Humboldt (1794), Wieland, Herder, Schiller (1791), Goethe (1811), Boxberger (1859). 4. Die Bayr. A. der Wiss. zu M ü n c h e n . Gründung: 28. März 1759 durch Joh. Georg Lori und Joh. Georg Linprun. Erster Präsident: Sigmund Graf von Haimhausen. Zur Gesch.: Lorenz v. W e s t e n r i e d e r , Gesch. d. Bayr. A. d. Wiss. 2 Bde (1784-1807). — Karl Theod. ν. Η e i g e 1, Die Münchner A. von 1759-1909 (1909). — Aus d. Chronik d. Α., in: Jb. d. Bayr. A. d. Wiss. 1950, S. 9-20. — Mitgliederverzeichnis seit 1759, ebd., S. 21-94. Ordentl. Mitglieder: Jos. Bernh. Docen (1821), Joh. Andr. Schmeller (1824), Jacob Grimm (1832), Georg Friedr. Benedce (1835), Karl Lachmann (1841), von der Hagen (1851), Wilh. Grimm (1852), Franz Jos. Mone (1852), Franz Pfeiffer (1856), Georg Gottfr. Gervinus (1863), Rochus v. Liliencron (1869), Karl Weinhold (1878), Friedr. Zamdce (1879), W. Scherer (1884), Joh. Kelle (1888), Rieh. Heinzel (1899). Franz Muncker (1906), Hermann Paul (1893), Carl v. Kraus (1918), Walther Brecht (1929), Erich Gieradi (1937), Herbert Cysarz (1940).

Akademien 5. Die Sachs. Gesellschaft (später: A.) der der Preuß. A. der Wiss. Doch hatten einWiss. zu L e i p z i g : Gründung: 1846. zelne Gelehrte in den Abhandlungen und Innerhalb d. A. besteht die Fürstl. Jablonowskische Ges. d. Wiss. (gegr. 1768). Zur Sitzungsberichten ihrer A.n nur gelegentGesch.: Friedr. S c h u l z e , Adam. Friedr. lich Arbeiten veröffentlicht. Das eigentliche Oeser u. d. Gründung d. Lpz. A. (1940). — Ziel war allein durch ein G e m e i n Alex. K r a u s h a r , W sprawie fundacyi s c h a f t s w e r k zu erreichen, denn „genau naukowej Towarzystwa imienia Jözefa Alexandra Jablonowskiego wojewody nowogrod- betrachtet sind alle wiss. Aufgaben in jedem zkiego, w Lipsku 1774-1911 (Warszawa 1912). Falle Teile einer größeren Aufgabe und — Zur SOjähr. Jubelfeier d. Kgl. Sädis. Ges. sind, solange sie isoliert behandelt werden, d. Wiss. Reden u. Reg. (1896). — Verzeichnis d. Mitglieder... (1930; BerSädisGes. 81, 3). überhaupt unlösbar" (A. v. Harnack, Aus Wiss. u. Lieben, S. 11). Die Bemühungen Ordentl. Mitglieder: Friedr. Zamcke (1891), um eine solche Lösung setzten früh ein. Eduard Sievers (1892), Eugen Mogk (1900), Albert Köster (1924), Herrn. Aug. Korff (1929), 1711 wurde an der Preuß. A. der Wiss. Victor Michels (1929), Theod. Frings (1930). eine Klasse für dt. Sprache gegründet, 1730 6. Die A. der Wiss. zu W i e n . Gründung: Gottsched in die A. berufen. Doch scheiter14. Mai 1847. Zur Gesch.: Rieh. M e i s t e r , Gesch. d. A. d. Wiss. in Wien 1847-1947 ten alle Pläne. Joh. Leonh. Frisch und (Wien 1947; österr. A. d. Wiss. Denksdir. d. Joh. Georg Wächter hatten nur geringen Gesamtakad. 1). Einfluß. Friedrich II. und die Französisierung Ordentl. Mitglieder: Theod. v. Karajan der A. ließen die Tradition fast erlöschen. (1848), Josef Diemer (1848), Franz Pfeiffer Erst die Dt. Deputation leitete 1792 eine (1860), Karl Weinhold (1860), Karl Tomaschek (1874), Ridi. Heinzel (1879), Josef Haupt neue Entwicklung ein. Abermals standen (1880), Joh. v. Kelle (1893), Anton Schönbach ein Dt. Wörterbuch und eine Dt. Gram(1903), Jakob Minor (1905), Josef Seemüller matik auf dem Plan. Hervorzuheben sind (1906), Rudolf Much (1912), Walther Brecht auch Preise an Joh. Heinr. Campe und (1919), Bemh. Seuffert (1921), Konrad Zwierzina (1925), Josef Nadler (1934), Dietrich Herder sowie Bemühungen von Karl Philipp Moritz um die dt. Sprache. Noch aber v. Kralik (1935), Josef Schatz (1939). 7. Die A. der Wiss. zu H e i d e l b e r g . war die Zeit für eine wiss. begründete dt. Stiftung Heinrich Lanz. Stiftungstag: 24. April Philologie nicht gekommen, wenn auch die 1909. Zur Gesch.: Statuten, in: Jahresheft Reorganisation der A. von 1812 entschei1910, S. LXV-LXVIII. Ordentl. Mitglieder: Wilh. Braune (1909), dende Grundlagen hierfür schuf. Mit Karl Friedr. Panzer (1924), Friedrich Gundolf L a c h m a n n (1830) zog die Germanistik (1929). in die A. ein. Die Bayr. A. in München 8. Die A. zur wiss. Erforschung und zur war vorwiegend historisch, die Ges. der Pflege des Deutschtums (Dt. A.) zu M ü n - Wiss. zu Göttingen naturwiss. orientiert c h e n . Gründung: 5. Mai 1925. Die ersten — die Brüder Grimm waren nach ihrer Präsidenten: Herrn. Oncken u. Karl Haushofer. Zur Gesch.: Zehn Jahre Dt. A. 1925-35, in: Vertreibung aus Göttingen (1837) nach Mittlgn. d. Dt. A. 1935, S. 173-182. Berlin berufen worden (1841) —, so fiel der Mitglieder d. Sektion für dt. Sprache, Lit. Preuß. A. jetzt die Hauptaufgabe zu. Doch u. Volkskunde: Otto Behaghel, Konrad Burdach, Erich Gierach, Arthur Hübner, Carl beginnen die wiss. Unternehmungen der v. Kraus, Friedr. Neumann, Friedr. Panzer, Germanistik erst spät. Die A. hatte zwar Gustav Roethe, Herrn. Schneider, Edw. Graffs Ahd. Sprachschatz (1834-1842), FörSchrödei, Walther Brecht, Franz Muncker, stemanns Ad. Namenbuch (1856-1872), SteinJul. Petersen, Aug. Sauer, Herrn. Aug. Korff, Friedr. v. d. Leyen, Ernst Bertram, Theod. meyers Ahd. Glossen (1879 ff.) und Hennings Dt. Runendenkmäler (1889) unterFrings u. a. 9. Die A. der Wiss. und der Lit. in Μ ainz. stützt, doch Unternehmungen anderer DisGründung: 1949. ziplinen wie das Corpus Inscriptionum LatiOrdentl. Mitglieder: Herrn. Schneider narum (seit 1846), die Monumenta Ger(1949), Kurt Wagner (1949). manica Historica (seit 1875), der Thesaurus § 3. Die A u f g a b e n d e r G e r m a - Linguae Latinae (seit 1893), die Kant-Ausn i s t i k in den A.n. gabe (seit 1895) und das Wörterbuch der I. Die wiss. Erforschung und Pflege der älteren dt. Rechtssprache (seit 1896) liefen dt. Sprache war seit Leibniz und der Ver- bereits, bzw. waren in Vorbereitung, als pflichtung durch Kurfürst Friedrich III., wie Karl W e i η h ο 1 d und Erich S c h m i d t die Academie Fran9aise der vaterländischen im Juni 1900 mit dem ersten Programm Sprache zu dienen, nicht nur eine Aufgabe

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ihre Arbeiten u. Ziele. NJbbAGLP. Jg. 16, auftraten. Geplant waren: eine Geschichte der I. Bd. 31 (1913) S. 37-74. — WÜh. nhd. Schriftsprache, der Sprachschatz der Schulze, Bericht über d. mundartl. Wbb. dt. Mundarten mit dem Ziel eines ThesauSBAkBln. 1929, S. XLIV-LII. Wiederholt in: rus Linguae Germanicae und die HerausS c h u l z e , Kleine Schriften, S. 604-613. — gabe einzelner Textausgaben (Wieland, Th. F r i n g s , Aufgaben u. Ziele d. Inst. f. Dt. Sprache u. Lit. Das Inst. f. Dt. Sprache Justus Moser, Hamann und Winckelmann). u. Lit. Vorträge geh. auf d. Eröffnungstagung Mit dem Eintritt Gustav R ο e t h e s und (1954; Veröff. d. Inst. f. Dt. Spr. u. Lit. 1) Konrad B u r d a c h s in die A. gewann der S. 7-17. — Laufende Berichte über die ArPlan endgültige Gestalt. Im Sommer 1903 beiten der Komm, sind erschienen in den wurde die Dt. Komm, gebildet. Ihr geSBAkBln. 1904 ff. und in den JbAkBln. hörten an: Erich S c h m i d t , Gustav 1939 ff. Die von der Notgemeinschäft d. dt. Wiss. (dt. Forschungsgemeinschaft) unterR ο e t h e , Konrad Β u r d a c h , Wilhelm stützten Unternehmungen verzeichnet der D i 11 h e y , Hermann D i e 1 s und Reinhold jährl. Bericht 1922 ff. Κ ο s e r. Seitdem hat die Dt. Komm, ihren II. Die U n t e r n e h m u n g e n der A. in Aufgabenkreis ständig erweitert. Führende Germanisten und Vertreter verwandter chronolog. Reihenfolge ihrer Übernahme Fachgebiete wurden in die Komm, berufen: durch die Dt. Kommission. Andreas H e u s l e r (1907), Edward S c h r ö 1. D a s H s s . - A r c h i v . Aufgabe: Sammd e r (1908), Ernst H e y m a n n (1918), Ju- lung und Katalogisierung der dt. Hss. des lius P e t e r s e n (1922), Wilh. S c h u l z e MA.s als Grundlage zur Veröffentlichung (1930), Arthur H ü b n e r (1933), Eduard einer Quellenkunde. Seit 1903. Material S c h w y z e r (1937), Julius S c h w i e t e - verbrannt, nur die Hss.-Beschreibungen err i n g (1939), Franz K o c h (1939), Theo- halten. dor F r i n g s (1946), Wolfgang S c h a d e 2. Dt. Texte des MA.s. Aufgabe: Verw a l d t (1949), Wilh. W i s s m a n n (1949) öffentlichung ungedruckter mhd. und mnd. und Wolfgang S t e i n i t z (1951). Am Texte; in der Regel keine krit. Ausgaben, son16. April 1952 wurde die Dt. Komm, in ein dern gute Hss. in getreuem Abdruck, teilInstitut für Dt. Sprache und Lit. umgewan- weise im Vergleich mit anderen Hss. Bd. 1 ff. delt (Direktor: Theod. F r i n g s , Stellvertr.: (1904 ff.). Wilh. W i s s m a n n , Geschäftsführer Otto G. R o e t h e , DTMA., SBAkBln. 1924, Neuendorff). S. XXIV-XXIX. — A. H ü b n e r , Grundsätze, in: DTMA. 38 (1934) S. V-IX. Gottfr. Wilh. L e i b n i z , Ermahnung an 3. Wieland-Ausgabe. Aufgabe: Hist.-krit. die Teutsdie, ihren Verstand u. Sprache beßer zu üben samt beigefügten Vorschlag einer Gesamtausgabe in drei Reihen: Dichter. Teutsdigesinnten Ges., in: Werke (Hg. v. Werke, Übers.en, Briefe. Bd. I f f . (1909ff.). O. Klopp) Bd. 1, 6 (1872) S. 187-219. — Ders., Bemh. S e u f f e r t , Prolegomena zu e. Unvorgreiflidie Gedancken betreffend die Wieland-Ausg. AbhAkBln. 1904, 3; 1905, 2; Ausübung u. Verb. d. t. Sprache, in: Haupt1908, 3; 1909, 1; 1921, 3; 1936, 11; 1940, 15; schriften. Bd. 2 (1924; Philos. Bibl. 108) — Hans Werner S e i f f e r t , Erg. u. Ber. S. 519-555. — F r i e d r i c h II., De la litteAbhAkBln. 1953, 2. — H. W. S e i f f e r t , rature Allemande, in: Oeuvres de Frederic Ie Wielandbild u. Wielandfschg. in: Wieland, Grand. Bd. 7 (1847) S. 91-122. — Dass., hg. v. Ludw. G e i g e r , übers, v. Chr. W. Dohm vier Biberacher Vorträge 1953 (1954) S. 93-99. (1902; DLD. 16). — Justus M o s e r , Über 4. Niederrheinisches Wörterbuch. 1904: d. dt. Spra/he u. Lit. Hg. v. Carl S c h ü d d e Auftrag an Johannes F r a η c k. Erweitert k ο ρ f (1902; DLD. 122). Rudolf v. R a u m e r , Gesch. d. germ. Phi- zum Rhein. Wörterbuch. Seit 1906 unterlologie vorzugsw. in Dtschld. (1870; Gesch. stützt vom Rhein. Provinzialverband und d. Wiss. in Dtsdild. 9). — Ad. Η a r η a c k , der Gesellschaft für Rhein. Geschichtskunde. Gesch. d. Kgl. Preuß. A. d. Wiss. zu Berlin. Bd. 1, 1. 2 u. 2 (1900) passim. — Konrad Nach Francks Tode (1914) hg. v. Josef Β u r d a c h , Die Sprächreinigungsbestre- M ü l l e r . Liefg. 1 ff. (1923 ff.). Liefg. 96 ff. bungen d. Berliner A. u. ihr Bund mit Gott- (1949 ff.) hg. v. Karl M e i s e n . Seit 1945 sched, in: B u r d a c h : Die Wiss. υ. d. dt. kein Unternehmen der Dt. Komm. mehr. Sprache (1934) S. 21-25. — Generalbericht über Gründung, bisherige Tätigkeit u. weitere J. M ü l l e r , Das Rhein. Wb., seine Gesch. Pläne d. Dt. Komm., in: SBAkBln. 1905, 1, u. Aufgabe. ZfDtk. 39 (1925) S. 470-484. — S. 694-707. — G. R ο e t h e , Die Dt. Komm, Ders., Vorwort, in: Rhein. Wb. Bd. 1 (1928) d. Kgl. Preuß. A. d. Wiss. Ihre Vorgesch., 5. III-XV.

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5. Deutsches Wörterbuch. Begründet von Jacob und Wilh. G r i m m . 1838: Vertrag mit Hirzel und Reimer. Werk auf 7 Bde. und 7 Jahre Arbeitsdauer berechnet. 1859: Tod Wilh. Grimms (Ende Buchstabe D). 1863: Tod Jacob Grimms (Artikel Frucht). Oberleitung des Verlages mit Unterstützung der einzelnen Bundesregierungen, seit 1875 mit Mitteln des Kaiserl. Dispositionsfonds. Artikelvergebung an einzelne Gelehrte, ζ. B. Rudolf H i l d e b r a n d (Artikel Geist). 1901: Anforderung eines Gutachtens durch das Reichsamt des Inneren über die möglichst baldige und sachgemäße Fertigstellung des Wb.s. Auf Grund des Gutachtens von Erich S c h m i d t Vorschlag des Reichsamtes zur Übernahme des Wb.s durch die A. Ablehnende Haltung d. A. 1903/1905: Initiative der Dt. Philologenversammlung in Halle und Hamburg. Antrag an die Reichsregierung, erneute Bitte an die A. März 1906: Tod des Hauptmitarbeiters Moriz H e y n e . Gutachten Gustav R ο e t h e s. 1. Juli 1908: Das Wb. in den Arbeitsplan der A. eingegliedert. Zentralsammelstelle in Göttingen unter Aufsicht Edward S c h r ö d e r s . 1930: Reorganisation durch Arthur Η ü b η e r. Schaffung hauptamtlicher Mitarbeiterstellen. Mittelpunkt der Arbeit in Berlin, Leitung: Peter D i e p e r s . Nach 1945: Vorsitzender: Theodor F r i n g s , Leiter der Arbeiten: Bernhard B e c k m a n n . Arbeitsstelle Göttingen, Leiter: Hans Ν e u m a η η. J. G r i m m , Einleitung, in: Dt. Wb. Bd. 1 (1854) Sp. I-LXVII. — Ε. Μ a 11 h i a s , Zur Gesch. d. Dt. Wb.s d. Brüder Grimm. Grenzboten 62 (1903) Τ. 4, S. 621-629; Vortrag vor d. 47. Versammig. dt. Philologen in Halle. Zur Diskussion, in: Verhandlgn. d. 47. Versammlg. dt. Philologen (1903) S. 102 -105. — Bericht und Diskussion vor der 48. Versammig. dt. Philologen in Hamburg, in: ZfdPh. 38 (1906) S. 110-112. — Bericht über d. Übernahme d. Wb.s durch d. Α., in: SBAkBln. 1909, 1, S. 145-149. — R. Μ e i s s η e r , Zur Gesdi. d. Grimmschen Wb.s. PreußJbb. Bd. 142 (1910) S. 62-80 u. 526. — J. L o c h n e r , Die Tätigkeit d. Zentralsammelstelle d. Dt. Wb.s seit ihrer Gründung. NJbbAGLP. Jg. 16, 1 (1913) Bd. 31, S. 74 -81. — Arth. H ü b n e r , Die Lage d. Dt. Wb.s. AnzfdA. 49 (1930) S. 73-90. — P. D i e p e r s , Die Neuordnung d. Dt. Wb.s d. Brüder Grimm. Minerva-Zs. 6 (1930) S. 109 -113. —• Arth. Η ü b η e r , Bericht über d. Dt. Wb. SBAkBln. 1933, S. XXVII-XXXI. — Bernh. B e c k m a n n , Das Dt. Wb. in Gegen-

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wart u. Zukunft. Das Inst. f. Dt. Sprache u. Lit. Vorträge (1954) S. 125-136.

6. Hessen-Nassauisches Volkswörterbuch. 1911: Auftrag an Ferdinand W r e d e (s. SBAkBln. 1912, 1, S. 84). Unterstützt von den Bezirksverbänden Kassel und Wiesbaden. Später hg. v. Luise Β e r t h ο 1 d. Liefg. 1 ff. (1927 ff.). Seit 1945 eine mit der Univ. Marburg verbundene Anstalt, unterstützt vom Land Hessen und der A. d. Wiss. u. Lit. in Mainz. F. W r e d e u. L. B e r t h o l d , Einleitung, in: Hess.-Nass. Wb. Bd. 2 (1943) S. III-VIII.

7. Preußisches Wörterbuch. 1911: Auftrag an Walther Ζ i e s e m e r (s. SBAkBln. 1912, 1, S. 85). Aufgabe: Wb. d. Mundarten Ostund Westpreußens. Unterstützt durch die Provinz Ostpreußen, später auch durch die Dt. Forschungsgemeinschaft und die Dt. A. in München. Liefg. Iff. (1935ff.). Übernahme durch die A. d. Wiss. u. Lit. in Mainz erwogen (vgl. JbAkMainz 1953, S.81). Jetzt weitergeführt durch Erhard R i e m a n n in Kiel. W. Z i e s e m e r ,

Einleitung,

in:

Preuß.

Wb. Bd. 1 (1939). 8. Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilh. Grimm mit Karl Lachmann. Hg. v. Albert L e i t z m a n n . Einltg.: Konrad Β u r d a c h. Auf Beschluß d. A. von 1917. Erschien 1925-1927. 9. Von der A. veranlaßte S p r a c h a u f n a h m e n in Gefangenlagern. Begonnen 1917 (s. SBAkBln. 1918, 1, S. 64). Nicht ausgebaut. 10. Jean-Paul-Ausgabe. Aufgabe: Hist.krit. Gesamtausgabe unter Heranziehung des ungedruckten Nachlasses und der Briefe. 1914: Verhandlungen mit Julius Petersen und Eduard Berend. 1926: In Verbindung mit der Dt. A. in München und der Jean PaulGesellschaft der A. angegliedert. Leitung: Eduard B e r e n d (bis 1938 und seit 1948). Bd. Iff. (1927ff.). Ed. B e r e n d Prolegomena ζ. hist.-krit. Ges. ausg. von Jean Pauls Werken. AbhAkBln. 1927, 1.

11. Westfälisches Provinzial-Wörterbuch. 1927: Auftrag an Karl S c h u l t e - K e m m i n g h a u s e n (s. SBAkBln. 1928. S. LIII). Seit 1945 Unternehmen der Volkskundl. Komm, in Münster unter Leitung von William F ο e r s t e mit Unterst, des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe.

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12. Hamann-Ausgabe. 1910: Verhandlun- SBAkBln. 1938, S. LXXIII). Seit 1945 Leiter gen mit Arthur Warda und Rudolf Unger. der Berliner Arbeitsstelle Werner S i m o n . 1928: Gemeinsames Unternehmen d. Dt. Rieh. K i e n a s t u. Ulrich P r e t z e l , Das mhd. Wb. Das Inst. f. Dt. Sprache u. Lit. Komm, und der Königsberger Gelehrten GeVorträge (1954) S. 97-104 u. 105-123. sellschaft. Hauptbearbeiter: Josef Ν a d 1 e r. 18. Frankfurter Wörterbuch. Aufgabe: Arbeiten während des Krieges steckengeblieben. Nach 1945 von Nadler selbständig Sammlung Frankfurter Mundarten aus Vergangenheit und Gegenwart. Seit 1939 (s. hg. Bd. Iff. (Wien 1949ff.). JbAkBln. 1941, S. 44). Leiter: Hans Ludwig J. N a d l e r , Die Hamannausg. Vermächtnis, Bemühungen, Vollzug (1930; SchrKbg- R a u h . Ges. Geistwiss. Kl. 7, 6). 19. Jahresbericht über die wissenschaft13. Goedekes Grundriß zur Geschichte der lichen Erscheinungen auf dem Gebiete der deutschen Dichtung. 1929: Übernahme der neueren dt. Lit. NF. Ursprünglich hg. v. der Neuen Folge (1830-1880). Leitung: Georg Literaturarchiv-Gesellschaft, Jg. 1932 ff. M i n d e - P o u e t . 1934: Grundsätze der (1935 ff.) im Auftrage der A. Seit 1945 Bearbeitung. 1940: 1. Liefg. 1953: Über- Unternehmen der Dt. Komm. Leiter: Otto nahme des Gesamtwerkes. Neuendorff. Carl D i e s c h , Der Goedeke. Werdegang 20. Jahresbericht über die Erscheinungen eines wissenschaftlichen Unternehmens (1941). auf dem Gebiete der germ. Philologie. NF. 14. L i t e r a t u r - A r c h i v . Aufgabe: Ursprünglich hg. v. der (1877 gegr.) GesellSammlung von Dichter- und Gelehrten- schaft für dt. Philologie. Seit 1945 UnterNachlässen und ihre Erschließung durch Ver- nehmen der Dt. Komm. Leiter: Otto öffentlichungen. Unternehmen der Lite- N e u e n d o r f f . raturarchiv-Geseüschaft (gegr. 1891). Seit 21. Tiernamenwörterbuch. Aufgabe: Voll1932 in die Verwaltung der Dt. Komm, ständiges wissenschaftliches Wörterbuch der übernommen (s. SBAkBln. 1933, S. LIX). dt. Tiernamen, der Tierkrankheiten und der Seit 1945 eigenes Unternehmen d. Dt. tier. Organbezeichnungen auf sprachwiss. J£omm. Grundlage. Seit 1947 (s. JbAkBln. 1946/49, 15. Wörterbuch der dt. Pflanzennamen. Hg. S. 98). Leiter Wilh. W i s s m a η η. v. Heinrich Μ a r ζ e 11 und Wilh. W i s s 22. Mecklenburgisches Wörterbuch. Bem a n n . Seit 1936 (s. SBAkBln. 1937, gründet 1910 von Richard W ο s s i d 1 o. AufS. LXXVII-VIII). Liefg. Iff. (1937ff.). gabe: Erfassung des gesamten Wortschatzes Η. Μ a r ζ e 11, Die dt. Pflanzennamen u. ihre Sammlung. Mittlgn. d. Dt. Akademie der mecklenburgischen Mundart. Hg. v. 1934, S. 53-62. — Ders., Einleitung, in: Wb. Rieh. W o s s i d l o und Hermann Τ e u d. dt. Pflanzennamen Bd. 1 (1937) S. VII-X. c h e r t . Liefg. Iff. (1937ff.). In Gemein16. Vom Mittelalter zur Reformation. For- schaft mit der Mecklenburg. Landesregieschungen zur Geschichte der dt. Bildung rung seit 1947 Unternehmen der Dt. Komm, (bzw. zur nhd. Sprach- und Bildungsge- (s. JbAkBln. 1946/1949, S. 98). Leiter: Herschichte). Begründet von Konrad B u r - mann T e u c h e r t . d a c h , mit Unterstützung von Paul Ρ i u r R. W o s s i d l o u. H. T e u c h e r t , Voru. a. Seit 1903 Unternehmen der A. Nach wort ζ. 1. Liefg. u. Einl. z. Bd. 1 (1942). — A. B r e t s c h n e i d e r , in: WissAnnAkBln. dem Tode Burdachs (1936) in die Unter3 (1954) S. 94. nehmungen der Dt. Komm, aufgenommen. 23. Pommersches Wörterbuch. Begründet Nicht abgeschlossen. 1926 von Wolfgang S t a m m l e r . KriegsK. B u r d a c h , Einführung in das Gesamtwerk, in: Vom Mittelalter zur Reformation. verlust der Sammlung. Aufgabe: Erfassung Bd. 3, 2 (1926) S. I-LXVIII. des gesamten Wortschatzes der pommer17. Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Seit schen Mundart. In Gemeinschaft mit der 1923: Vertrag der drei Roethe-Schüler Erich Mecklenburg. Landesregierung seit 1947 H e n s c h e l , Richard Κ i e η as t und Ul- Unternehmen der Dt. Komm. (s. JbAkBln. rich P r e t z e l mit Hirzel für ein einbd. 1946/49, S. 99). Leiter: Hans-Friedrich Mhd. Wb. Plan erwies sich als undurchführ- R o s e n f e l d . bar. 1936: Denkschrift Arthur H ü b n e r s . A. B r e t s c h n e i d e r , in: WissAnnAkSeit 1937 Unternehmen der Dt. Komm. (s. Bln. 3 (1954) S. 95.

Akademien 24. Brandenburgisch-Berlinisches Wörterbuch. Begründet 1939 von Anneliese B r e t s c h n e i d e r . Sammlung durch den Krieg schwer beschädigt. In Gemeinschaft mit der Brandenburg. Landesregierung seit 1949 Unternehmen der Dt. Komm. Leiter: Ernst Hadermann. A. B r e t s c h n e i d e r , Überblick über Gesch. d. BBW.s. Korrespondenzbl. d. Vereins f. ndd. Sprachfsdig. 1950, H. 57/1, S. 20-23. — E. H a d e r m a n n , Vom Plan u. Sinn des BBW.s. Mitteilungsbl. d. Ministeriums f. Volksbildung 4, Nr. 14, 1. März 1950. 25. Goethe-Wörterbuch. Aufgabe: Umfassende lexikal. Erschließung des gesamten Goethe-Wortschatzes auf Grund aller bisher veröffentlichten Schriften Goethes. Ein alter Plan d. A. auf Grund der Vorarbeiten Konrad B u r d a c h s . 1905-1912 Ausbau der Sammlung durch Heinrich Α η ζ. Ebenso hinterließ Otto P n i o w e r , der seit 1898 unter stilistischen Gesichtspunkten gesammelt hatte, 1932 einen Materialtorso, den die A. ankaufte, aber nicht ausbaute. Komm, unter Julius P e t e r s e n . Sommer 1946: neue Pläne Wolfgang S c h a d e w a l d t s . 1947: Gründung der Goethe-Kommission. Leiter der Arbeiten: Hans Georg Η e u n. Außenstellen in Leipzig und Hamburg. Wolfgang S c h a d e w a l d t , Das GoetheWb. Goethe. 11 (1949) S. 293-305. — Wilh. W i s s m a q n , Über d. Goethe-Wb. Das Dt. Inst. f. Sprache u. Lit. Vorträge (1954) S. 53-63. 26. Goethe-Ausgabe. Aufgabe: Hist.-krit. Neuausgabe mit gleichzeitiger Sammlung der dazugehörigen Zeugnisse und Materialien. Seit 1949 Unternehmen der Dt. Komm. (s. JbAkBln. 1946/1949, S. 99-100). Leiter: Ernst G r u m a c h . Außenstelle in Weimar. Einst G r u m a c h , Prolegomena zu e. Goeihe-Ause. Goethe. 12 (1950) S. 60-88. — Ders., Probleme d. Goethe-Ausg. Das Dt. Inst. f. Sprache u. Lit. Vorträge (1954) S. 39-51. 27. Abteilung: D t . S p r a c h e d e r G e g e n w a r t . Leiter: Theodor Frings, Wolfgang S t e i n i t z , Werner S i m o n . In Arbeit: Grammatik der dt. Sprache der Gegenwart, Wörterbuch der dt. Sprache der Gegenwart und ein Marx-Engels-Wörterbuch. Seit 19S2 Unternehmen der Dt. Komm. W. S t e i n i t z , Über d. Aufgaben d. Abt. Dt. Sprache d. Gegenw. Das Inst. f. Dt. Sprache u. Lit. Vorträge (1954) S. 65-96.

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28. Als weitere Unternehmungen der Komm, sind geplant, bzw. im Anfangsstadium: die Fortsetzung der krit. Ausgabe der Werke Otto L u d w i g s , eine krit. Ausgabe der Werke Theodor F o n t a n e s , eine krit. Gesamtausgabe der Werke Friedrich Maximilian K l i n g e r s und Georg F o r s t e r s , eine krit. Neuausgabe der Oden K l o p s t o c k s , die bibliographische Verarbeitung der wichtigsten Zeitschriften des 19. Jh.s sowie Studienausgaben für den Universitätsunterricht, Textsammlungen größerer Entwicklungen und eine Quellensammlung zu einzelnen literar. Denkmälern. III. Die germanist. Kommissionen anderer A.n und ihre Aufgaben. 1. Komm, für die Herausgabe eines ö s t e r r . B a y r . W ö r t e r b u c h e s an der A. d. Wiss. in Wien. Eingesetzt 1911. Umbenannt 1931 in Komm, zur Schaffung des Österr.-Bayr. W b . und zur Erforschung unserer Mundart. Obmänner: Josef S e e müller (1911), Paul Kretschmer (1920). Aufgaben: Fertigstellung des Österr.Bayr. Wb.s (Sammlung noch nicht abgeschlossen). Arbeiten zur bayr.-österr. Dialektgeographie, im Auftrag der Wb.komm. der A.n in München und Wien hg. im Vereine mit F . Lüers und W . Steinhauser von A. Pfalz (bisher 2 Hefte). Herausgabe des Bayr.-österr. Sprachatlas (im Drude). Der Komm, verwaltungsmäßig angegliedert ist die W ö r t e r b u c h k a n z l e i , ein eigenes Institut der A. Gegründet 1911, seit 1924 verbunden mit dem Seminar für dt. Philologie der Universität. Vorstand: der jeweilige Obmann der Komm. Leiter: z. Zt. Viktor D ο 11 m a y r. Rieh. M e i s t e r , Gesch. d. A. d. Wiss. in Wien (1947) S. 141, 154, 199, 201, 322, 324, 328, 338. 2. Die Kommissionen der Bayr. A. d. Wiss. a) Komm, für die Herausgabe von Wörterbüchern der bayr. Mundart (später: Komm, für M u n d a r t e n f o r s c h u n g ) . Gegründet 1911. Aufgaben: Herausgabe: Das Bayr. W b . in Verbindung mit d. A. Wiss. in Wien, das Ostfränk. Wb., das Rheinpfälz. Wb. und die Anlage einer Bibliographie der Mundarten Bayerns. Leiter: Ernst K u h n (1911), Carl v o n K r a u s (1919), Erich G i e r a c h (1937), Eberhard K r a n z m e y e r (1943). Seit 1947: Otto

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B a s l e r (Bayr. Wb.), Fritz S t r o h (Osfcfränk. Wb.), Ernst C h r i s t m a n n (Rheinpfälz. Wb.). Zur Gesch. des Wb.s vgl. die JbAkMündi. 1913 ff. b) Sammlungen aus Anlaß des Krieges: Sammlungen zum S o l d a t e n l i e d und zur S o l d a t e n s p r a c h e . Ο. Μ a u ß η e r , in: Jber. d. Verbandes dt. Ver. f. Volkskde. 1917/18, S. 36-45. — Vgl. audi: JbAkMündi. 1918, S. 127. c) Komm, für S p r a c h p f l e g e in Verbindung mit den gleichgerichteten Komm, der A.n zu Göttingen und Heidelberg. Aufgabe: Pflege der Gegenwartssprache. Gegründet 1949. Leiter: Carl v o n K r a u s (bis 1952). 3. Die Unternehmungen der A. zur wiss. Erforschung und zur Pflege des Deutschtums (München). a) Das S u d e t e n d t . W ö r t e r b u c h . Seit 1930. Leiter: Erich G i e r a c h und Ernst S c h w a r z . Nicht fertig geworden. E. S c h w a r z , Die Aufgabe d. Sudetendt. Mundarten-Wb.s. Mittlgn. d. Dt. A. 1930, S. 265-269. — Zur Gesch. d. Wb.s vgl. die Mittlgn. d. Dt. A. 1931, S. 178-184; 1932, S. 368-372; 1933, S. 235-239; 1934, S. 213 -218; 1936, S. 157-162. b) Das S c h l e s i s c h e W ö r t e r b u c h . Hg. v. Theod. S i e b s und Wolfg. J u n g a n d r e a s . Liefg. I f f . (1935ff.). Neubegründung durch die A. d. Wiss. u. Lit. in Mainz erwogen (vgl. JbAkMainz 1953, S. 81). c) Das A l t h o c h d e u t s c h e Wört e r b u c h . Auf Grund d. von Elias v. Steinmeyer hinterlass. Sammlungen. Bearb. und hg. v. Elisabeth K a r g - G a s t e r s t ä d t und Theodor F r i n g s . Seit 1935. Nach dem Kriege von der Sächs. A. d. Wiss. zu Leipzig übernommen. Liefg. I f f . (1950ff.). E. K a r g - G a s t e r s t ä d t u. Theod. F r i n g s , Einl. zum Wb. Zur Gesch. d. Wb.s vgl. die Mittlgn. d. Dt. A. 1936, S. 150 -156; 1937, S. 128-130; 1938, S. 374-386; 1939, S. 146-150; 1940, S. 148-152. d) Die A. unterstützte außerdem viele andere Unternehmungen der Germanistik, so das Preuß. Wb. und die Jean Pauli-Ausgabe. Geplant war auch ein Goethe-Wb. unter Otto Pniower. Verzeichnis der oder unterstützten A. 1932, S. 560; S. 544-546; 1936,

von d. A. veröffentlichten Werke, in: Mittlgn. d. Dt. 1934, S. 411-413; 1935, S. 611-613; 1941, S. 358

-361. — H. S c h n e i d e r , Die Gesch. d. dt. Spradie, dei grüße wiss. Arbeitsplan d. A. Mittlgn. d. Dt. A. 1937 S. 601-603. 4. Komm, zur Herausgabe der Sämtl. Werke von Justus M o s e r . Hist.-krit. Ausg. in 14 Bdn. Mit Unterstützung der Stadt Osnabrück hg. v. d. A. d. Wiss. zu Göttingen. Gegründet: 1937. Mitglieder: Edw. Schröder, Rudolf Unger, S. A. Kaehler, Rudolf Smend, Friedr. Neumann, Herbert Schöffler u. Karl Brandl. Bearb. von Werner K o h l s c h m i d t u. Ludwig S c h i r m e y e r . Bd. I f f . (1944ff.). Karl B r a n d l , Ζum Geleit, in: Ausg. Bd. 1 (1944) S. V-VII. — Zur Gesch. der Ausg. vgl. Geschäftl. Mittlgn. d. A. zu Gött. 1937/38, S. 38; 1938/39, S. 102/03; 1939/40, 5. 71-72; 1940/41, S. 91-96; 1941/42, S. 116; 1942/43, S. 108. 5. Komm, für germ. Sprach- und Lit.geschichte der A. d. Wiss. u. Lit. zu Μ a i η ζ. Gegründet: 1950. Vorsitzender: Hermann S c h n e i d e r . Mitglied: Kurt W a g n e r . Mitarbeiter: Willi K r o g m a n n , Ulrich P r e t z e l , Helmut Τ h ο m a s. Aufgaben: Materielle Unterstützung und Betreuung dt. Mundarten-Wb.er, Arbeiten zur Namenforschung und ein lit. geschieht 1. Arbeitsprogramm. 1 a) Das H e l g o l ä n d i s c h e Wb. bearb. von W . Krogmann. 1 b) Das P f ä l z i s c h e Wb. bearb. von E. Christmann in Verbindung mit der Bayr. A. zu München. 2) Vorarbeiten auf dem Gebiete der O r t s n a m e n f o r s c h u n g unter K. Wagner. 3) Herausgabe der Werke des Dichters Heinr. F r a u e n l o b durch H. Thomas. Über den Stand der Arbeiten vgl. JbAkMainz. 1950, S. 61-63; 1951, S. 85-89; 1952, S. 77-79; 1953, S. 79-81. § 4. Die wiss. Aufgaben der A.n und der Zusammenschluß von D i c h t e r n zu A.n standen in Deutschland lange Zeit im Gegensatz. Schuld hieran trug vor allem das mißverstandene Vorbild der Aoademie Fran9aise, d. h. die Uberbewertung der Rolle des Dichters in dieser A. Doch hat das Versäumnis der A.n, der Forderung nach der Pflege der dt. Sprache gerecht zu werden, dem Gedanken einer eigenen Lit.-A. gewisse Berechtigung verschafft. Anderseits ist es schwierig, das Wesen einer solchen Lit.-A. zu begründen, die weder philologische Aufgaben übernehmen, noch lediglich das nationale Schrifttum repräsentieren will. Auch

Akademien haben Dichter selbst aus berechtigter Furcht vor staatlicher Bevormundung und einseitiger Gruppenbildung gegen die Lit.-A. Stellung genommen. So ist die Lit.-A. in Deutschland eist eine Schöpfung des 20. Jh.s. Bis dahin blieb die Gemeinschaft von Dichtem den literar. Gesellschaften und Dichterschulen (s. d.) überlassen. Zwar war Lessing 1760 in die Preuß. A. d. Wiss. berufen worden, doch gelangten Dichter nur gelegentlich in die A.n. Außerdem hatten sich die A.n der Gründung eigener Lit.-KIassen widersetzt, so daß allein der W e g über die Preuß. A. d. Bildenden Künste offen blieb. Hier wurden Dichter zunächst nur Ehrenmitglieder, so Goethe, Herder und Wieland (1789), Aug. Wilh. Schlegel und Ludwig Tieck (1831), abgesehen von Theodor Fontane, der 1876 kurze Zeit als Erster Sekretär der A. tätig war. Von Dichtern waren Mitglieder in wiss. A.n: Berlin: Benjamin Neukirch (1711), Aug. Friedr. Ferd. v. Kotzebue (1803 ao. M. 1812 Ehrenmitgl.), Christ. Friedr. Nicolai (1804), Ad. v. Chamisso (1835). München: Christ. Martin Wieland u. Goethe (1808), Friedr. Rückert (1832). Wien: Auersperg, Joh. Ladisl. Pyrker, Friedr. Halm, Grillparzer (1847), Uhland, Joh. Gabr. Seidl (1848), Erwin Guido Kolbenheyer (1941 Ehrenmitgl.). Hervorzuheben ist der Plan Leopold von R a n k e s zur Gründung einer Komm, für dt. Sprache und Lit., mit dem Sitz in München oder Weimar (Entwurf 1861, Statut 1867). Sprachen politische Bedenken der bayr. und preuß. Regierung gegen diesen Plan, so scheiterte der erneute Vorschlag einer eigenen Lit.-Klasse innerhalb der Preuß. A. d. Wiss. (Plan du Β ο i s - R e y m ο η d s 1874) am Widerstand der A. (Bericht Theodor Mommsens). Damit war die Initiative endgültig an die Preuß. A. d. Bildenden Künste übergegangen. Seit dem Reformplan von 1904 waren aber noch viele Widerstände zu überwinden, ehe 1926 die S e k t i o n f ü r D i c h t k u n s t gegründet werden konnte. Seit 1945 sind in Deutschland vier A.n bzw. Sektionen tätig. L. v. R a n k e , Idee e. A. f. dt. Gesch. u. Sprache. Eingabe an Bismarck u. Entwurf, in: Sämtl. Werke Bd. 53/54 (1890) S. 696-711. — Abstimmungsergebnis einer von Karl Emil Franzos veranstalteten Rundfrage, in: Dt. Dchtg. Hg. ν. Κ. E. Franzos. 34 (1903) S. 53-55. — Wilh. S c h ö l e r m a n n , Eine dt. A. in Weimar (1910). — Aus dem Briefwechsel von Emst Wiehert an Paul Heyse.

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DtRs. Bd. 207 (1926) S. 36-37; 40-41. — Emil du B o i s - R e y m o n d , Über e. A. d. dt. Sprache (1874). Wiederholt in: du B o i s - R e y m o n d , Reden. Bd. 1 (2. Ausg. 1912) S. 474-508. — Adolf Η a m a c k , Gesdi. d. Kgl. Preuß. A. d. Wiss. Bd. 1, 2 (1900) S. 991-992; 998-1000 u. Bd. 2 (1900) S. 600-614. — Rieh. M e i s t e r , Gesdi. d. A. d. Wiss. in Wien (1947) S. 103-106. — Alex. A m e r s d o r f f e r , Die A. d. Künste u. d. Dichter. Zur Vorgesdi. d. Sektion f. Diditkunst. Jb. d. Sekt. f. Diditk. (Preuß. A. d. Künste) Bd. 1 (1929) S. 8-26. — Ch. S t e i n b r u c k e r , Goethe als Ehrenmitglied d. Berliner A. d. Künste. ZfBüchfr. NF. 11, 2 (1920) S. 164-165. 1. S e k t i o n f ü r D i c h t k u n s t an der Preuß. A. d. Bildenden Künste. 1904 durch den Präsidenten der A. Joh. Otzen geplant, von Ludwig Manzel und Max Liebermann wieder aufgegriffen. Herbst 1926 Gründung der Sektion. Die ersten Mitglieder: Ludwig Fulda, Gerh. Hauptmann, Arno Holz, Thomas Mann, Hermann Stehr. Der erste Vorsitzende: Wilhelm von S c h o l z , später Walter von M o l o und Heinrich M a n n . Politische Umgestaltung der A. nach 1933 unter Hanns J o h s t . Neuer Titel: Dt. A. d. Dichtung. Mitgliederoerzeidmis, in: Jb. d. Sekt. f. Diditk. (Preuß. A. d. Künste) Bd. 1 (1929) S. 29-30 und : Der Bücherwurm 18 (1933) H. 8/9, S. 145-183. Wilh. S c h ä f e r . Der Gedanke d. Dichter-Α. u. d. Sektion f. Diditkunst. Frankf. Ztg. 28. Okt. 1929. Ders., Die angeblidie Dichter-A. u. ihr angeblicher Präsident. Literal. Welt v. 26. Okt. 1928, Nr. 43. Ders., Der mißglückte Versuch e. dt. Diditer-A. Literal. Welt v. 30. Jan. 1931, Nr. 5. Heinr. Mann, Sektion f. Diditkunst. Voss. Ztg. Unthbl. Nr. 39 v. 15. Febr. 1931. Weitere Lit.hinweise: JBfnLg. Jg. 1931, S.3-4. 2. S e k t i o n f ü r D i c h t u n g bzw. Lit. an der Dt. A. d. Künste. Wiedereröffnung der ehem. Preuß. A. 1950. Präsident: Arnold Z w e i g . Vizepräsident: Joh. R. B e c h e r . Sitz: Berlin N W 7, Robert-KochPlatz 7. Ordentl. Mitglieder: Bert Brecht, Willi Bredel, Stefan Hermlin, Peter Hüchel, Kuba, Hans Marchwitza, Ludwig Renn, Anna Seghers. Ehrenmitglied: Martin AndersenNexö, Thomas Mann. Korrespondierendes Mitglied: Lion Feuchtwanger. Unternehmungen: Heinrich Mann, Ausgew. Werke hg. v. Alfred Kantorowicz (1951 ff.). Sinn u. Form. Beiträge zur. Lit. Begr. v. Joh. R. Becher u. Paul Wiegler. Jg. 2 (1950) H. 5, S. 5.: A. Z w e i g , Zur Übernahme d. Zs. durch die A. Schriftenreihe d. Dt. A. d. Künste. H. I f f . (1950 ff.). In Arbeit:

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Akademien· - Akrostidion

Monographien u. Bibliographien über die einzelnen A.mitglieder. 3. K l a s s e d e r L i t e r a t u r an der A. d. Wiss. u. d. Lit. in Mainz. Gegründet: 1949 (s. § 2). Präsident: Alfred D ö b l i n (Vizepräsident d. Α.). Seit 1953: Walter von M o l o . Sitz: Mainz, Gaustr. 104. Ordentl. Mitglieder: Wilh. Hausenstein, Manfred Hausmann, Hans Henny Jahnn, Hermann Kasack, Annette Kolb, Ernst Kreuder, Hans Erich Nossack, Reinhold Schneider, Martin Kessel, Ernst Penzoldt, Erich Kästner, Friedrich Schnack, Frank Thiess, Emil Beizner (vgl. Jahrbuch 1953, S. 13-18). Unternehmungen: Schriftenreihe Verschollene u. Vergessene in freier Folge. Unterstützung u. Förderung einzelner Veröffentlichungen. Geplant: eine Notgemeinschaft d. dt. Schrifttums. Laufende Veröffentlichungen in den AbhAkMainz. Laufende Berichte über die Arbeit der Klasse der Lit. in den JbAkMainz. 1950 ff. 4. A b t e i l u n g S c h r i f t t u m in der Bayr. A. d. Schönen Künste. Gegründet: 1948. Direktor: Wilhelm D i e s s . Sitz: München, Prinz-Karl-Palais. Mitglieder: Gottfried Benn, Werner Bergengruen, Georg Britting, Hans Carossa, Peter Dörfler, Leonhard Frank, Wilhelm Hausenstein, Annette Kolb, Gertrud v. le Fort, Mechthilde Lichnowsky, Emst Penzoldt, Friedrich Schnadc, Reinhold Schneider, Rudolf Alexander Schröder, Ina Seidel, Otto v. Taube, Georg v. d. Vring, Thomas Mann (ehrenhalber) u. a. (vgl. Tätigkeitsbericht 1948-51, S. 11-12 u. 1951-53, S. 1-12). Aus der Arbeit d. Abt.: Vorträge, Gutachten, Preisverleihungen (vgl. Tätigkeitsbericht 1948 bis 1951, S. 17-19 u. 1951-53, S. 19-20). 5. D t . A. f ü r S p r a c h e u. D i c h t u n g . Gegründet: 14. März 1949 in Hamburg vom Verband Dt. Autoren unter Zustimmung der dt. Schriftsteller-Verbände. Verkündigung: 28. Aug. 1949 in der Paulskirdie. Ehrenpräsident: Rudolf P e c h e l u. Rudolf Alexander S c h r ö d e r . Präsident: Bruno S n e l l , jetzt: Hermann K a sack. Vizepräsidenten: Kasimir Ε d s c h m i d , Fritz U s i n g e r , Gerhard S t ο r z, Oskar J a η c k e (ausgesdiieden). Sitz: Darmstadt, Ernst-Ludwig-Haus. Mitglieder: Stefan Andres, Emil Beizner, Gottfried Benn, Werner Bergengruen, Hans Carossa, Peter Dörfler, Rudolf Hagelstange, Wilhelm Hausenstein, Manfred Hausmann, Erich Kästner, Reinhold Schneider, Rudolf Pannwitz, Leo Weismantel, Josef Windeier u. a. (Mitgliederverzeidinis, in: Dt. A. für Sprache u. Dichtung, Sonderdr. 1953).

Aufgaben: Pflege der Sprache in Kunst und Wissenschaft, im öffentlichen und privaten Gebrauch, Sorge für das sprachliche Element des Unterrichts an den Schulen aller Gattungen. Verteilung von Preisen (ζ. B. Georg-Büchner-Preis). Förderung von Werken, deren Veröffentlichung für das dt. Geistesleben von Bedeutung ist (ζ. B. Dichtemachlässe). Unterstützung hervorragend begabter Autoren. Jährlich zwei Tagungen, außerdem einzelne Komm. (ζ. B. beratende Beteiligung an den Reformpiänen für die neue Rechtschreibung). Publikationsorgan: Neue Literat. Welt (eingegangen). Finanzielle Grundlage: Förderkreis der A. Hermann K a s a c k , Sinn u. Möglichkeit einer Dt. A. Jahrbuch 1953/54 (1954) S. 5 -10. — Verkündigung u. Satzung, in: Dt. A. für Sprache u. Dichtung, Sonderdr. 1953. Klaus Kanzog Akrostidion (auch Akrostdchis, Akrostichion; von δκρον „Spitze" und στίχος „Vers"): Poetische, mehr für das Auge als für das Ohr berechnete Spielerei, bei der die Anfangsbuchstaben oder -Silben aufeinanderfolgender Verse oder Strophen alphabetisch geordnet sind oder nacheinandergelesen einen Namen, ein Wort, eine Sentenz oder einen Vers ergeben. Als Erfinder wird von Diogenes Laertius (VIII, 78) auf Grund unechter Schriften Epicharm (um 490 v. Chr.) angegeben. Im hebr. Psalter zeigen 12 Psalmen Α.; im 119. Psalm beginnen je 8 Verse mit dem gleichen Anfangsbuchstaben nach der Ordnung des Alphabets. Das A. fand wohl zuerst im Orakel und in der religiösen Geheimlit. Anwendung und hatte neben seiner mystischen Bedeutung den Zweck, eine Sammlung vor Einsdiüben und Auslassungen zu sichern. Bei den Griechen war es seit der Alexandrinerzeit, bei den Römern seit Ennius und Plautus sehr beliebt. In der lat. kirchlichen Poesie wurde es besonders in der alphabetischen Form viel verwendet, um den Namen des Verfassers oder des Angeredeten anzudeuten. Von hier kam es wohl in die dt. Dichtung, in der es sich bis in die Gegenwart erhalten hat. Akrosticha finden sich ζ. B. bei Otfrid, Gottfrid von Straßburg, Rudolf von Ems, im Marienlob des Bruders Hans vom Niederrhein, in den Liedern Heinr. Laufenbergs, bei Joh. Rothe, Ph. Nicolai, M. Opitz, P. Gerhardt, Joh. Chr. Günther, W. Müller. E. G r a f , Akrostidiis, in: P a u l y - W i s s ο w a , Realencyklopädte. Bd. 1 (1894) Sp.

Akrostichon — Akt

1200—1207. Franz D ο r η s e i f f , Das Alphabet in Mystik u. Magie (1922, Στοιχεία 7; 2. Aufl. 1925). O d e b r e c h t , Über d. Bildung von Akrostichen in dt. Spradte. GermaniaH. 7 (1846) S. 316-320. Α. Κ ο ρ ρ , S. 545. J. Η. S c h ο 11 e, Gottfrieds von Straßburgs Initialenspiel. PBB. 65 (1942) S.280 -302. Willy K r o g m a n n , Das Akrostichon im 'Ackermann'. Festschrift für W. Stammler (1953) S. 130-145. Habermann Paul Akt Das Wort A. ist aus dem lat. Drama (actus = Handlung, im Drama selbständiges Stüde der Gesamthandlung) übernommen worden; während des 16. Jh.s wurde es nur in der lat. Form actus gebraucht, 1605 ist zum erstenmal die endungslose Form „Akt" belegt (s. Hans Schulz, Dt.Fremdwörterbuch. Bd. 1,1913, S. 21). Der Begriff A. bezeichnet die Hauptabschnitte des Dramas, für die die Dichter des 17. Jh.s und noch Klopstock „Handlung" oder „Abhandlung", Maler Müller „Teil" sagen. Seit der Mitte des 17. Jh.s kommt daneben das noch heute gebräuchliche Wort „Aufzug" auf, das Gottsched vom Aufziehen der Personen oder des Vorhangs abzuleiten sucht. Als geschlossene Hauptteile des D r a m a s (s. d.) setzen die A.e sich meist aus A u f t r i t t e n (s. d.) zusammen, halten in der Regel die Einheit des Ortes und der Zeit inne und sind oft in sich mit Einleitung, Höhepunkt und wirksamem Abschluß dramatisch durchgeformt. Dem Stilprinzip der „offenen Form" (Wölfflin und Fritz Strich) folgend, verzichteten manche Dichter geistesverwandter Epochen auf die in sich abschließende A.einteilung beim Aufbau ihrer Dramen und reihten progressiv Szene um Szene aneinander (ζ. B. Lenz, Arnim, Büchner, Grabbe, Wedekind, Expressionismus). Alle klassische Kunst sucht die Schönheit im Verhältnis der Teile zum Ganzen. Sie verlangt, daß die A.e durch ihre Beziehung zueinander den wirksamen Aufbau der dramat. Handlung ermöglichen. Dieser klassische Standpunkt liegt der Theorie Gustav F r e y t a g s (Die Technik des Dramas, 1863) zugrunde. Seine Dramentheorie stellt die sogn. dramat. Momente in eine feste Beziehung zu den einzelnen A.en. Der Einführung in die Voraussetzungen (Exposition) folgt das erregende Moment (1. Akt), das der Handlung den Anstoß in

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Richtung auf das Ziel, den Höhepunkt hin gibt. Mit Verwicklung, entscheidendem Geschehen, Kampf und Rückwirkung dieses Geschehens auf den Helden ist die Haupthandlung breit ausgeführt (2. Akt). Im Höhepunkt, dem unmittelbar das tragische Moment folgt, vollzieht sich der Umschwung, die Peripetie (3. Akt). Von hier aus fällt die Handlung, die sich oft nochmals in einem Moment der letzten Spannung konzentriert (4. Akt). Der 5. Akt bringt dann die Lösung oder in der Tragödie die Katastrophe, auf die viele neue Dramen jedoch verzichten. Die innere Gliederung des Dramas also ist es, die die seit der Renaissance verteidigte Fünfzahl der A.e bedingt, ebenso wie die von Donat begründete und im ital. Drama gebräuchliche Dreiteilung vom Handlungsgefüge her (Einleitung mit Anlaß, Verwicklung, Lösung) zu verstehen ist. Auf das griech. Drama ist der Begriff des A.es im strengen Sinne nicht anzuwenden; Chorgesänge und Monologe gliedern es locker und ungleichmäßig. Dennoch ist es eine griech. Theorie von der Fünfaktigkeit des Dramas, auf die sich Horaz für die Tragödie und Varro für die Komödie berufen und die sowohl Seneca als auch Terenz verwirklichen. Diesem röm. Vorbild folgt das lat. Humanistendrama (beispielhaft Reuchlins Henno) ebenso wie die klassische franz. Tragödie. Der Einfluß des Humanistendramas wird in B. Waldis' Vam Verlorn Szon (1527) erkennbar, der das erste datierbare Beispiel für die A.einteilung im deutschsprachigen. Drama gibt. Im dt. Drama des 16. Jh.s (ζ. B. Hans Sachs, Ayrer) bleibt aber die A.einteilung noch willkürlich in bezug auf die Zahl (Ausnahme: Rebhuns Susanna, 1535, fünf Akte), nur im Umfang gleichen sich die A.e. Sie sind episch angelegt und stehen in keiner Beziehung zum dramat. Aufbau der Gesamthandlung. Gryphius teilte um der besseren Ubersicht willen in meist fünf in sich ungegliederte A.e und verband diese durch Reyen. Chrn. Weise behielt die Gliederung in fünf A.e bei und brachte die A.schlüsse durch komische oder pomphafte (vor ihm schon Lohenstein und Hallmann) Auftritte zu besonderer Wirkung, wenn er sich auch, wie später J. E. Schlegel, Wieland und Tieck, über

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das Festhalten an den Horazisdien Forderungen lustig machte. Gottsched (ähnlich Ramler-Batteux) hielt die „ursprünglich willkürliche" Fünfzahl der A.e wegen der Zeiteinteilung für „sehr bequem" und zog sie den drei A.en der Italiener vor. E r forderte (Vorbild Boileau) Geschlossenheit der A.e in sich durch enge Verknüpfung der A u f t r i t t e (s. d.) und klaren Abschluß des A.es durch Auflösung der Situation, so daß die Bühne leer wurde. Erst der Zwischenaktvorhang, der zwar schon von Chrn. Weise, aber erst seit 1770 allgemein gebraucht wurde, gab die Möglichkeit, den A. mitten in einer Situation zu schließen. Um 1800 herrschte die Fünfzahl der A.e vor. Im 19. Jh. bemühten sich viele Dramatiker mit Erfolg darum, die handwerksmäßig übernommene Gliederung in fünf A.e mit einem lebendigen poetischen Formprinzip in Einklang zu bringen. Gegen Ende des Jh.s herrschte die Fünfzahl nicht mehr; die Handlung wurde oft in vier Akten (Ibsen, Hauptmann), in Dreiaktern oder Einaktern (Neuromantik) dargeboten. Im Drama der Gegenwart wird die A.einteilung sehr verschieden behandelt. Neben Dramen, die an der klassischen Fünf- oder Dreiaktigkeit festhalten (G. Hauptmann), stehen sehr viele, die, teilweise durch das Hörspiel beeinflußt, die offene, aktlose Form bevorzugen (Bert Brecht, Wolfgang Borchert). Seit der Entstehung des Dramas verbanden der C h ο r (s. d.) oder seine Sproßformen die einzelnen Akte miteinander. So dienten audi die stoffremden oder den Stoff parodierenden Interludia (Zwischenspiele) und die Proludia (Vorspiele) des Jesuitentheaters, die Reijen des Gryphius, die Pickelheringsszenen des 17. Jh.s und das Abwediseln von A.en einer ernsten und einer lustigen Handlung (Gryphius, Chrn. Weise) der Zwischenaktfüllung. Während des 19. Jh.s war Zwischenaktmusik üblidi. Heute riditen viele Dramaturgen die Theaterpausen nicht nach der A.gliederung, sondern praktischen Erfordernissen entspechend ein. Die fortgeschrittene Technik des Dekorationswechsels hat die Gefahr gebannt, daß die Ruhepausen zwischen den einzelnen A.en oder Sinnabschnitten des Dramas sich zu lange dehnen und den Zu-

sammenhang der Handlung stören könnten. Als Augenblicke der Besinnung verknüpfen sie mehr die einzelnen Handlungsteile, als daß sie sie trennen. Gustav F r e y t a g , Die Technik des Dramas (1863; Neudr. in: Ges. W., 1. Serie, Bd. 2). Julius P e t e r s e n , Schiller u. d. Bühne (1904; Pal. 32) S 30; 139; 146. Wilh. H o c h g r e v e , Die Technik der A.scMüsse im dt. Drama (1914; ThgFschgn. 28). C. H e i n e , Der A.sMuß. LE. 8, H. 6 (15. Dez. 1905) Sp. 389—398. Oskar W a l z e l , Gehalt u. Gestalt (1923—1925; HdbLitwiss.) S. 220. H e i n e m a n m , Vorhang u. Drama. Grenzboten 49 (1890) S. 459—468; 520—527. G. W i t k o w s k i , Vorhang u. A.schluß. Bühne u. Welt 8 (1906) S. 18—22; 73—76; 104—108. W e n t z e l , Wieviel A.e soll e. Theaterstück haben? Ebd. 15 (1913) S. 65—67. E . H e r o l d , in: Der Neue Weg 33 (1903) S. 286; 39 (1909) Heft 22. K. S c h i n d l e r , Der A.schluß im dt. Drama d. 18. Jh.s. Diss. Heidelberg 1912. Hugo H o l z a p f e l , Kennt d. griech. Tragödie e. A.einteilung? Diss. Gießen 1914. Paul T i m p e , Die Entw. d. Szenenbegriffs im lat. u. dt. Drama d. 16. Jh.s. (Masdi.) Diss. Greifswald 1919. Fritz S t r i c h , Dt. Klassik u. Romantik (3. Aufl. 1923) passim. Fritz G ο 1 d b e r g , Das Prinzip d. A.einteilung im Drama, dargest. an d. Dramen Fr. Schillers. (Masch.) Diss. Köln 1924. Leo P a a l horn, Die ästhet. Bedeutung d. A.gliederung i. d. Tragödie. Diss. Halle 1929. Erwin S c h e u e r , A. u. Szene i. d. offenen Form des Dramas, dargest. an d. Dramen G. Büchners (1929; Germ.St. 77). R. P e t s c h , Die dramat. Exposition. Nationaltheater 3 (1930 /1931) S. 210 ff. Ders., Von der Szene zum Akt. DVLG. 11 (1933) S. 165—199. W. D i 1 they, Über die 13. Aufl. d. Dramentheorie Freytags. ShakespJb. 69 (1933) S. 27—60. Hellmuth V l i e s e n , Die Stationstechnik im neueren dt. Drama. Diss. Kiel 1934. Liselotte D o n a t h , A.gliederung u. A.schluß im Drama Η. υ. Kleists. Ein Beitr. z. Technik d. Dramas. Diss. Jena 1935. Joachim Κ1 a i b e r , Die A.form im Drama u. auf d. Theater (1936; Theater u. Drama 6). Vem Walde R o b i n s o n , The history of the German play in one act in the 18th century. Diss. Urbana 1936. Alfons H a r t m a n n , Der moderne engl. Einakter (1936; Aus Schrifttum u. Spr. d. Angels. 6). R. P e t s c h , Drei entscheidende Punkte im Drama. GRM. 24 (1936) S. 401—411. Vgl. audi: Dramaturgie, Drama, Chor, Nachspiel. Hans Schauer — Ursula Gauwerky Akzent § 1. Der Begriff A. (lat. accentus, Ubers, von griech. προσφδία) hat eine wechselvolle Gesch. Seine die Schwere, Dauer und Gliederung der Sprachelemente umfassende Verwendung hat sich in der dt. wissen-

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schaftl. Grammatik und V.lehre erst in letzter Zeit durchgesetzt. Der Begriff A. stammt aus der Sprachwissenschaft der Antike; er betraf zunächst, wie sein Name προσφδία sagt, die an der griech. Sprache beobachteten melodischen Verhältnisse. Die sehr spekulativ verfahrenden antiken Theoretiker unterschieden einen H o c h t o n / = οξύς τόνος (acutus), einen T i e f t o n \ = βαρύς τόνος (gravis) und einen H o c h - T i e f t o n ~ = περισπωμένη προσφδία (circumflexus), wobei die Frage auch heute noch offen bleibt, ob der sogn. Hochton nicht einen steigenden, der Tiefton nicht einen fallenden, der Circumflex nicht einen steigend-fallenden Ton bedeutete. (Über die sehr komplizierten griech. A.verhältnisse vgl. Ed. Schwyzer, Griedi. Grammatik, Bd. 1 [1939]: A. und Quantität, S. 371—95.) Aus der griech. Sprachwissenschaft wurden die Begriffe in die Grammatik und Metrik der Römer mit deren sprachlich gleichfalls sehr verwickelten A.verhältnissen übernommen. (Vgl. Fr. A l t h e i m , Gesch. d. lat. Sprache 1951.) Durch die Humanisten kommt der Begriff accentus, der auch in die mal. Musikwissenschaft übergegangen war (vgl. J. Η a n d s c h i n , in: MGG. Bd. 1, 1949/51, Sp. 260 -266), aus der lat. in die dt. Grammatik und Metrik (acutus, gravis, circumflexus bei Laurentius Albertus 1573). Außer dem g r a m m a t i s c h e n Α., der im wesentlichen als eine E r h ö h u n g d e r S t i m m e empfunden wird, beobachteten Albertus und Clajus den e m p h a t i s c h e n Α., der einen Gegensatz andeutet oder einem Worte besonderen Nachdruck verleiht. Im allgemeinen bleibt aber A. gleich Silben- oder Wortton (Opitz, Deutsche Poeterey 1624: h o h e r und n i e d r i g e r T o n ) . Eine Verschiebung in der Richtung der Q u a n t i t ä t erfährt der Begriff durch Schottel (1663), der von Länge und Kürze statt von niedrigem und hohem Ton spricht. Ihm folgen Weckherlin und Harsdörffer. Eine weitere Verschiebung erfährt der Begriff durch Gottsched, der gelegentlich Länge mit „Stärke" gleichsetzt. Immer aber steht für Gottsched die Silbendauer im Vordergrund, die er (wie vor ihm Gesner) ganz den antiken Regeln entsprechend bemißt (Länge : Kürze = 2 : 1 ; antike Positionsregeln). In der Folge wird das Wesen des A.s als Reallexikon I.

S t ä r k e v e r m e h r u n g begriffen. Der Abbe Scoppa (Les heautes poetiques de toutes les langues, Paris 1816) sieht als Charakteristikum desA.s nicht Tonerhöhung und -Vertiefung, sondern einen Energiezuschuß der Stimme an. Der Verf. des Artikels A. in Sulzers Allgemeiner Theorie scheidet grammatischen, oratorischen, pathetischen A. Er sieht im A. das o r d n e n d e P r i n z i p und erklärt ihn als die Modifikation der Stimme, die in der Rede einige Töne vor andern auszeichnet, wodurch Abwechslung und Mannigfaltigkeit in die Stimme kommt. Den größten Fortschritt bringt Klopstock. Er beobachtet mit dem Ohre Unterschiede in Längen, Kürzen und Mittelzeiten und leitet die Grade der Länge und Kürze vom B e d e u t u n g s w e r t der Silben und Wörter ab. Klopstocks Anschauungen werden erweitert von K. Ph. Moritz (Versuch einer dt. Prosodie 1786) und J. H. Voß (Zeitmessung der dt. Sprache 1820). J. Grimm (Dt. Grammatik 1822) scheidet H o c h t o n , T i e f t o n und T o n l o s i g k e i t und bezeichnet mit A. die den Laut begleitende H e b u n g und S e n k u n g d e r S t i m m e . Was J. Grimm Tonlosigkeit nannte, bezeichnet Lachmann mit Τ i e f t ο n. Hoch- und Tiefton J. Grimms ersetzt er durch H a u p t - und N e b e n t o n oder - a k ζ e n t. Mehr und mehr tritt das Dynamische in den Vordergrund, und man bezeichnet schließlich das Wesen des dt. A.s als d y n a m i s c h e x s p i r a t o r i s c h , ohne den m u s i k a lisch-chromatischen Bestandteil ganz zu leugnen. Auf die Bedeutung der Quantität macht dann Ed. S i e v e r s (Phonetik §§ 702 ff.) erst wieder nachdrücklich aufmerksam. Neben der Abstufung nach S t ä r k e , T o n h ö h e und D a u e r kommt nach Sievers auch die S t i m m q u a l i t ä t , hauptsächlich als Variationsmittel, in Frage. Auch der Begriff des Silbena.s wird von Sievers eingeführt und damit angedeutet, daß die Verhältnisse der Unterordnung wie im Wort so auch in der Silbe bestehen. Begrifflich scharf gliederte Fr. S a r a n in seiner Dt. Verslehre (1907) und in seinen weiteren Arbeiten die Merkmale und Faktoren des dt. A.s und beschrieb ihre Eigentümlichkeiten auf Grund genauer klanglicher Analysen durch das Ohr, wobei er auch die motorisch-sprachliche Seite vom 2

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Standpunkt des Sprechenden beachtete. Er befreite die dt. A.lehre von den aus der Antike übernommenen und selbst für antike Verhältnisse nicht zutreffenden Lehren und schuf ein audi für die weitere Forschung maßgebliches System der dt. A.lehre. Eine tiefgreifende Umwälzung der gesamten akustischen Sprachforschung und der früher (mit mechan. Apparaten) betriebenen Untersuchungs- und Meßtedinik setzte mit der Einführung der Elektronenröhre ein. Mittels verschiedener Methoden gelingt es auf elektr. Wege, nicht nur Sprache in ihre Bestandteile zu zerlegen und die A.verhältnisse sichtbar zu machen, sondern auch Sprache künstlich zu erzeugen. Mit dem T o n f i l m kann man einzelne Laute im Zeitlupentempo aufnehmen und sie bei der Wiedergabe bequem beobachten. Der Tonfilm und das M a g n e t o p h o n b a n d gestatten, einzelne Laute oder Lautgruppen aus der Schallmasse herauszunehmen und sie von den Nachbarlauten zu befreien. Man kann das Tonband auch rückwärts ablaufen lassen und die A.verhältnisse umkehren. Mit S i e b k e t t e n gelingt es, Obertöne nach Wunsch aus dem Gesamtklang herauszunehmen. Der O s z i l l o g r a p h analysiert die Frequenzen der menschlichen Rede durch Siebketten und macht sie unmittelbar dem Auge sichtbar oder schreibt sie auf ein wiederholbares Band. Den amerikan. Forschern H. Dudley, R. R. Riez und S. Α. A. Watkins ist es gelungen, einen Voice Demonstration Operator (kurz V ο d e x) genannten Apparat zu konstruieren, der jedes beliebige Wort eJektr. hervorbringt. Auch in Deutschland sind mit Hilfe dieser modernen und noch in ständiger Entwicklung begriffenen Apparaturen bedeutende Fortschritte in der Erforschung sprachlicher A.Verhältnisse gemacht worden. Hatte die ältere Forschung ruhende Lautstellungen angenommen und untersucht, so zeigt sich jetzt, daß es im Fluß der Rede nur dauernde Bewegung gibt. § 2. Nach Fr. Saran ist A. die G l i e d er u n g d e r R e d e . Die Bestandteile des A.s, d. h. die M e r k m a l e seines Begriffes, sind a) eine absolute und relative S c h w e r e v e r s c h i e d e n h e i t der Sprachelemente, b) eine absolute und relative D a u e r v e r s c h i e d e n h e i t der

Sprachelemente, c) ihre Z u s a m m e n fassung. a) Der Eindruck der S c h w e r e (ein von Fr. Saran sehr glücklich gewählter Begriff; über ihre Faktoren s. § 3) haftet an der Hauptsilbe einer a.uell zusammengehörenden Silbergruppe. Einige Grammatiker nehmen noch immer eine historisch-gegebene, festliegende Schwere der Wortklassen an, andere beurteilen die Schwere rein nach den syntaktisch-logischen Funktionen der Worte. Nach Saran ist jedoch die a.uelle Schwere einer Silbe immer nur für den einzelnen Fall der Ausdruck für die Wichtigkeit und Selbständigkeit ihrer Bedeutung im augenblicklichen Zusammenhang der Rede und der jeweiligen S ρ r e c h a r t. Die dt. Sprache zeichnet sich durch eine sehr fein abgestufte Art der Sdiwerebeziehungen aus. b) Die D a u e r der Silbe wirkt a.uell sehr stark. Es ist irrtümlich, immer noch zu glauben, die Silbenquantität spiele in der dt. Prosarede und im dt. V. keine Rolle. Einer solchen Annahme widerspricht schon das im Ahd. und Mhd. geltende Gesetz von der Hebungsauflösung (s. Hebung und Senkung). Der Begriff der Silbenquantität hat sich mehr und mehr geklärt, seitdem die Scheidung zwischen Quantität der Silbe und Dauer der Laute (oder gar Zahl der Buchstaben nach dem Schriftbild) immer mehr durchgeführt wird. Besonders verhängnisvoll haben in der dt. QuantitätsIehfe (übrigens selbst für die antiken Sprach- und V.verhältnisse nicht uneingeschränkt zutreffende) antike Anschauungen gewirkt, so wenn die Meinung in die dt. V.lehre eindringt und sich immer noch erhält, das Verhältnis lang : kurz sei wie 2 :1, oder wenn nach antikem Muster von positionslangen Silben gesprochen wird und solche nach antiken Regeln gebildet werden (Gottsched, vor ihm Gesner). Klopstocks Erkenntnis vom Einfluß des Sinngewichtes und des Ethos einer Silbe auf die Dauer von Länge und Kürze gerät im 19. Jh. wieder in Vergessenheit; in den Vordergrund tritt bei Grimm und Lachmann die historisch-lautliche Betrachtung, die die Quantität von der L ä n g e und k o n s o n a n t i s c h e n D e c k u n g des Silbensonanten abhängig macht. Sievers brachte in die Lehre von der dt. Silbenquantität

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Akzent den Begriff der D e h n b a r k e i t . Dehnbar, mithin lang, sind nach Sievers 1. alle Silben mit langem Sonanten, 2. alle geschlossenen Silben. Saran will Länge von Dehnbarkeit geschieden wissen und bezeichnet als lautgesetzlich lang Hauptsilben 1. mit langem Sonanten, 2. mit kurzem, vollkommen gedecktem Sonanten. Kurz sind Hauptsilben mit kurzem, unvollkommen gedecktem Sonanten. Die Dauer selbst unterliegt sehr starken Änderungen, abgesehen vom Mundartlichen, durch Schwere und Ethos. Es gibt sehr viele Stufen der Silbendauer. Im allgemeinen ist die Zahl der Kürzen im Dt. klein, sehr groß dagegen die Zahl der mittleren und halben Längen. Eine letztlich feste und scharfe Grenze für lang und kurz gibt es im Dt. nicht. Der unter Dauer (Quantität) begriffene Komplex muß nach den Forschungen Sarans zerlegt werden in: 1) Lautzeit, 2) Silbenzeit, 3) Kammzeit, 4) Abstandszeit. 1. Die L a u t ζ e i t ist die Dauer, welche die Laute im Zusammenhang der lebendigen Rede, jeder für sich betrachtet, haben (Lautlänge. Lautkürze). 2. Die Dauer, weldie die gesprochene oder gehörte Silbe vom ersten bis zum letzten Laut hat, ist die S i l b e n z e i t ; sie spielt für den A. keine Rolle. 3. Die Dauer, welche der Silbenkamm beansprucht, ist die K a m m z e i t (Kammlänge, Kammkürze). Der Silbenkamm besteht aus Silbenkern (Sonant, meist ein Vokal) mit folgender Konsonanz. Erst mit dem Schwerpunkt des Silbenkerns beginnt der Silbenkamm. Vorhergehende Konsonanz gehört nicht dazu, von nachfolgender immer nur ein Konsonant, und auch der nicht immer ganz: alt, alt-backen, al-ter, Eis, Eis-stück, Ei-ses. Die Kammzeit ist das auffälligste Stück der Silbenzeit. Die Dauer des Silbenkammes ist abhängig von der grammatischen Lautfüllung (al-ter ist lang, alle kurz) und der Schwere, die die Silbe im Satz hat. Der Gefühlston der Sprechart, der Charakter der Mundart beeinflussen die Dauer des Silbenkamms. Auf historische Besonderheit (Zweigipfligkeit) ist zu achten. Eine feste Regel, eine Skala für die Dauer von Silbenkämmen gibt es im Dt. nicht, weil die Kreuzung von grammatischer und a.ueller Kammdauer die Werte jeweils verändert.

Der Unterschied zwischen längeren und kürzeren Silben, richtiger jetzt Silbenkämmen, ist aber vorhanden u n d wird deutlich empfunden, namentlich wenn die Satzsenkungen wenig Silben enthalten. Grammatisch lang sind jedenfalls Silbenkämme 1. mit langem (Häh-ne), 2. mit kurzem, vollkommen gedecktem Sonanten (Han-del); kurz solche mit kurzem, unvollkommen gedecktem Sonanten (al'le, Himmel, Eier, Trauer; die deckende Konsonanz ist hier kurz). Aber die außerordentlich mannigfaltige Abstufung der Silben nach der Schwere, die das Deutsche hat, verwickelt diese grammatischen Verhältnisse so sehr, daß es keinen Zweck hat, eine Kasuistik der Dauerwerte für die Kammzeiten aufzustellen. 4. Die Zeitstrecken, welche durch Silbenschwerpunkte begrenzt werden, bilden die A b s t a n d s z e i t e n . Sie zerfallen in die Hebungsabstände und die Zwischenzeiten. Jene reichen vom Schwerpunkt des Kammes einer Hebungssilbe — derselbe liegt dein Einsatz des Sonanten mehr oder weniger nahe — bis zum Kammschwerpunkt der nächsten Hebungssßbe. Sie greifen also grundsätzlich über die Silben- und Wortgrenzen in der Rede: sprachst du mit mir? hinweg. Ihre Dauer hängt nicht bloß von der Dauer der Silbenkämme, sondern auch von den Zeitwerten der nicht auf dem Kamme stehenden Konsonanz ab. Die Zwischenzeiten gehen ζ. B. von dem Schwerpunkt der Hebungssilbe zu dem der nächst schweren Senkung: sprachst du mit, von dieser zur folgenden Hebung: mit mir; Dann: sprachst du mit usw. je nach dem Silbeninhalt des Hebungsabstands. Die Abstandszeiten bilden also ein System ineinander liegender Ordnungen. Dies ist ein wesentlicher Bestandteil des A.s. Die Abstandszeiten, nicht die Silben- und Kammzeiten, sind auch entscheidend für die metrischen Zeiten einer V.dichtung (s. V.bau). c) Die a. u e l l e G l i e d e r u n g schafft ein G r u p p e n s y s t e m (Glieder, Bünde, Reihen, Ketten), wobei diese Gliederung durch den A. aber nicht mit der logisch-etymologischen und -syntaktischen Zerlegbarkeit der Wörter und Sätze verwechselt werden darf. Die a.uellen Glieder können über die Wortgrenzen hinweggreifen und die 2·

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syntaktischen Fügungen zerreißen. Die kleinsten Gruppen bilden die G l i e d e r , d. h. Silbenfügungen, die mindestens eine, aber auch nicht mehr als eine a.uelle Hebung haben. Im allgemeinen zeigt sich im Dt. das Streben, absteigende Glieder oder aufsteigend-fallende Glieder zu bilden. Als weiteres Mittel der Ordnimg kommt die Ζ w e i t e i Ii g k e i t und Entsprec h u n g der Gruppen hinzu. Der A. spiegelt die psychische Struktur des individuellen Bewußtseinserlebnisses einer Bedeutungsmasse wider. E r faßt zusammen, was jedesmal im geistigen Erlebnis zusammengehört, und gibt der Klangform die dem psychischen Erleben oder der gewollten Wirkung gemäße Gestalt. Äußerungen in gleicher Wortwahl und gleicher grammatisch-logischer Fügung können daher ganz verschieden a.uiert werden. A.uelles Schallbild und logischer Inhalt eines Satzes können sich sogar widersprechen, ζ. B. „ich danke" mit beißender Ironie gesprochen. In solchen Fällen wird stets das der tieferen Bewußtseins -und Bedeutungsschicht zugehörige Schallbüd als das Kriterium des Gemeinten angesehen (s. u. Trojan). Im V. wird die a.uelle Gliederung der Sprache infolge Einwirkung des Rhythmus und der seinen Arten eigentümlichen Gliederung (s. Rhythmus) durch besondere Auswahl, Veränderung und Gruppierung der sprachlidva.uellen Schwere- und Dauerelemente in einer charakteristischen Weise stilisiert. Entsprechend der Eigenart des dt. A.s entstehen dabei a.uierende V.e (s.V.bau). Wird beim V.vortrag die orchestische Gliederung, insbesondere das Metrum (s. d.), übersteigert, so kommt es zum „Skandieren" Tritt die sprachlich-a.uelle Gliederung der gewöhnlichen Rede zu stark hervor, so nähert sich der V. der Prosa oder wird zur Prosa. § 3. Die F a k t o r e n des A.s: Der Eindruck der Schwere wird in der Hauptsache erzeugt durch eine sehr komplexe Verbindung von T o n h ö h e , Tonverlauf, K l a n g f a r b e , S t ä r k e , D a u e r . Die Frequenz der Stimmbandschwingungen liegt je nach Anspannung der Muskulatur für gesprochene Laute bei Männern zwischen ca. 120 und 160 Hz, bei Frauen und Kindern zwischen ca. 220 und 330 Hz. Beim

Ablauf der Sprache ändert sich die Tonhöhe dauernd in einer für den Sprechenden und für die Ausdrucksform charakteristischen Weise. Für das Klangbild wichtig sind außer diesen Stimmbandschwingungen die dadurch im „Ansatzrohr" erregten Resonanzoder „ Formanten "-bereiche, die zwischen 200 und 4800 Hz liegen. Nach klanganalytischen Forschungen sind für die Klangfarbe zwei Hauptformanten maßgebend, ζ. B. für den Vokal e zwei Formanten bei 500 und 2400 Hz. Mit der Tonhöhe verändert sich auch die Klangfarbe. Wichtig ist für den A. auch die Einschwingzeit der Laute, die sehr schnell erfolgt (ca. 6 millisec). Das menschliche Ohr ist für Tonhöhenunterschiede sehr empfindlich; eine Differenzierung von 3 bis 4 Hz wird bereits empfunden. Die durchschnittl. Dauer eines Vokals beträgt nur 0,2 sec; bei schnellem Sprechen kann sie sich bis 0,05 sec verkürzen. Die frühere strenge Scheidung von dynamisch-exspiratorischem und musikalisch-chromatischem A. läßt sich nicht mehr aufrecht erhalten; immerhin scheint für den Gehörseindrude des deutschen A.s das dynamische Element vorzuherrschen. Für die Mundarten und die einzelnen ethischen Sprecharten bestehen sehr große charakteristische und charakterisierende Unterschiede. Bedeutungsvoll für den A. sind femer: tonale Beziehungen des Melos, Verschiedenheiten der Artikulation, stark und schwach geschnittener Α., Spannung, Entspannung, Art des Einsatzes, Stimmqualität (Voll- und Flüsterstimme), Bindung (legato, staccato), Abstufung der Quantitäten, Änderung des Tempos (in einer sec normal 4 bis 7 Silben) u. a. Auf dem Wechsel aller dieser Möglichkeiten beruht die Unmenge der durch die Verschiedenheit des Ethos bedingten Abwandlungen des A.s. Ed. S i e ν e r s , Grundzüge der Phonetik (1881 = 2. umgearb. u. verm. Aufl. d. Grundzüge d. Lautphysiologie; 5. verb. Aufl. 1901; Bibl. idg. Gramm. 1). Otto B e h a g h e l , Gesch. d. dt. Sprache (1905; 5. Aufl. 1928; PGrundr. 3). Franz S a t a n , Dt. V.lehre (1907; Hdb. d. dt. Unterr. III, 3). E . S o m m e r , Stimmung u. Laut. GRM. 8 (1920) S. 129—141; 193—204. Alfr. S c h m i t t , Untersuchgn. z. allgem. A.lehre (1924). F. Sar a η , Die Quantitätsregeln d. Griedien u. Römer. In: Stand u. Aufgaben d. Sprachwiss. Festsdxr. f. W. Streitberg (1924) S. 299—325. E. H o f f m a n n - K r a y e r , Grundsätzliches über Ursprung u. Wirkung d. A.uation. In: Beiträge z. germ. Sprachwiss. Festschr. f.

Akzent — Alamode-Literatur Ο. Behaghel (1924) S. 35—57. Andr. H e u s l e r , Dt. V.gesdi. I (1925; PGrundr. 8, 1). F. S a r a n , Zur Schallform d. dt. Prosa. In: Donum natalicium Sciirjinen (1929) S. 501 -515. Herrn. H i r t , Der A. (1929; Hirt: Idg. Gramm. 5; Idg. Bibl. Abt. 1, R. 1, Bd. 13, 5). E. F r ö s c h e i s , L. H a j e k , D. W e i ß , Untersudiungsmethoden der Stimme und Sprache. In: Hdb. d. biolog. Arbeitsmethoden, hg. v. E. Abderhalden (1933) S. 1383—1540. A. G e m e l l i und G. Ρ a s t ο r i , Elektrische Analyse der Sprache. Psydiol. Forsdign. 18 (1933) S. 191 — 217. Paul M e n z e r a t h und Armando de L a c e r d a , Koartikulation, Steuerung u. Lautabgrenzung (1933; Phonet. Studien 1). H. Herzog, Stimme u. Persönlichkeit. ZfPsych. 130 (1933) S. 300—369. Franz S a r a n , Dt. V.kunst (1934). G. Z u r m ü h l , Abhängigkeit d. Tonhöhenempfindung υ. d. Lautstärke u. ihre Beziehung z. Helmholtzschen Resonanztheorie d. Hörens. ZfPsydi. u. Phys. Abt. II, 61 (1934) S. 40—86. Eberh. u. Kurt Ζ w i r η e r , Grundfragen d. Phonometrie (1936; Phonometr. Fschgn. A, 1). Dies., Phonometr. Beitrag zur Frage d. nhd. A. Idg. Fsdign. 54 (1936) S. 1—32. Dies. Phonometrischer Beitrag zur Frage d. nhd. Quantität. ArdifvglPhon. 1 (1937) S. 96-113. A . M a a c k , Phonometr. Untersuchgn. über Beziehungen d. A.s z. Melodieverhuf. ArdifvglPhon. 1 (1937) S. 213-221. Ders., Zum Melodieverlauf nhd. Laute, ebd. Bd. 2 (1938), S. 145—155. Karl K a r s t i e n , Hist. dt. Grammatik. 1: Geschiditl. Einl., Lautlehre (1939; GermBibl.Abt. 1,R. 1,20). A.Maack, Formen d. Melodieverlaufs nhd. Laute. ArdifvglPhon. 3 (1939) S. 27-37. — H. Grimme, Der musikal. u. d. dynam. A. im Nhd. u. ihr Verhältnis zueinander. GRM. 29 (1941) S. 117-128. W . T r e n d e l e n b u r g , Neuere Ergebnisse d. Stimmphysiologie. ArdifgesPhon. Abt. II, 6 (1942) S. 49-74. R. L u c h s i n g e r , Untersuchgn. über die Klangfarbe d. menschl. Stimme. ArdifSprStimmphys. 6 (1942) S. 1-39. Bertil M a l m b e r g , Die Quantität als phonet.phonolog. Begriff (Lund 1944, Lunds Univ. Arsskr. NF. Avd. I, 41, 2). A. B e c k e l u. K. D a e v e s , Die Häufigkeitsanalyse z. Ausdeutung v. Lautdauererscheinurigen. ZfPhon. I (1947) S. 41-47. R. K. P o t t e r , G. A. K o p p , H. C. G r e e n , Visible speach (New York 1947). G. P a n c o n c e l l i - C a l z i a , Phonetik als Naturwiss. (1948; Probleme d. Wiss. in Verg. u. Gegenw. 2). F. T r o j a n , Der Ausdruck v. Stimme u. Sprache. Eine phonet. Lautstilistik (Wien 1948; 2. erg. Aufl. 1952. Wiener Beiträge zur Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde 1). Α. Μ a a c k , Die spezifische Lautdauer dt. Sonanten. ZfPhon. 3 (1949) S. 190-232. Ders., Der Einfiuß der Betonung auf die Lautdauer deutscher Sonanten. Ebd., S. 341-356. O. v o n E s s e n , Sprechtempo als Ausdruck psych. Geschehens. Ebd., S. 317—341. M. F e r e n b a c h , Probleme d. Sprechanalyse. PsydioIRs. 1 (1949/50)

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S. 162—169. Werner M e y e r - E p p l e r , Elektr. Klangerzeugung. Elektronische Musik u. synthet. Sprache (1949). Ders., Die Spektralanalyse d. Sprache. ZfPhon. 4 (1950) S.240 -252; S.327-364. W. L o t t e r m o s e r , in: MGG. 1 (1949/51) Sp. 225-231 (Akustik); Sp. 231-243 (Akustische Grundbegriffe); Sp. 243-259 (Akustische Meßmethoden). Ferd. T r e n d e l e n b u r g , Einf. in d. Akustik (1939; 2. Aufl. 1950) S. 138-150: Die menschl. Stimme; S. 320-362: Schallanalyse. Eugen D i e t h , Vademecum der Phonetik (Bern 1950). Α. Μ a a c k , Die Variation der Lautdauer dt. Sonanten. ZfPhon. 5 (1951) S. 287—340. Fr. L o c k e m a n n , Grundhaltungen d. Stils. WirkWort 2 (1951/52) S.80 -93. Franz A11 h e i m , Gesch. d. lat. Sprache (1951). W. Β e t h g e , Phonometr. Untersuchgn. z. Sprechmelodie. ZfPhon. 6 (1952) S. 229—247. F. W i n c k e l , Elektroakust. Untersuchgn. an d. menschl. Stimme. Folia phoniatrica 4 (1952) S. 93—113. Ders., Klangwelt unter d. Lupe (1952). Alfred S c h m i t t , Musikalischer A. u. antike Metrik. 2 Vorträge (1953; Orbis antiquus 10) S. 5-24 (Der sog. musikal. A.); S. 25—42 (Α., Iktus u. Quantität in d. antiken Ddbtg.). O. R a n k e u. H. L u l l i e s , Physiologie des Gehörs, der Stimme und Sprache (1953). O. v o n E s s e n , Allgemeine u. angewandte Phonetik (1953). Paul Habermann Alamode-Literatur Alamode-Lit. wird diejenige Literatur des 17. Jh.s genannt, die sich im Stil herrschender fremdländischer Mode unterwirft: Alamode-KIeider, Alamode-Sinnen; Wie sichs wandelt außen, wandelt sichs auch innen. (Logau, Sämmtl. Sinnged. Hg. v. G. Eitner. BiblLitV. 113, S. 434.) Soweit sich diese Ausländerei sprachlich äußert, also auch als Persiflage, und ironisch bekämpft, fällt sie unter dieses Schlagwort; es auf eine Lebenshaltung überhaupt ausdehnen zu wollen, empfiehlt sich nicht. Weitere Begriffe sind B a r o c k (s. d.) und S c h w u l s t (s. d.). Umfang und Bedeutung der Alamode-Lit. lernt man am zuverlässigsten aus Übers.en von Schelmenromanen, Schäfereien, Reisebeschreibungen, Belehrungsromanen (Aegidius Albertinus, Opitz, Zesen, Harsdörffer, Birken, Anton Ulrich von Braunschweig, Happel und ungehemmter bei Schriftstellern dritten und vierten Ranges) kennen. „Neue Zeitungen", Kupferstiche und sogar die Musik, vor allem die Oper, wirkten in derselben Richtung. Die Alamode-Lit setzt unter den Heimsuchungen des 30jähr. Kriegs ein und

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Alamode-Literatur — Altenglische Literatur

nimmt mit der geschwächten inneren Widerstandskraft des Volkes fortwährend zu. Der Glanz des Sonnenkönigs kam ihr zu Hilfe, konnte aber ihre Überwindung schließlich nicht hemmen. Die Anpassung an den undeutschen Stil läßt sich aus den Schicksalen von Andreas Musculus' Hosenteufel (1555) ablesen: eine Nougewandung dieser Schrift erschien 1629 als Deß Al-modo Kleyder Teuffels Alt-Vatter, eine Fortsetzung unter dem Titel Der Altmodische KleyderTeuffel. Unter weiterem Gesichtspunkt gehört die Alamode-Lit. zur dt. Renaissancedichtung (Narrenspiegel) und ist dem Stil eines Opitz, eines Zesen, der Sprachgesellschaften verwandt. Die Gegenströmung kam denn auch aus dem Lager der autochthonen Volkspoesie. Erste Anzeichen sind B i l d e r b o g e n (s.d.) und K a l e n d e r (s.d.). Es folgten die Schriften von Lauremberg, Venator, Moscherosch, Logau und Grimmelshausen mit zunehmendem Erfolg. Logau schleuderte gegen das Alamode-Wesen die scharfgeschliffenen Pfeile seiner Epigramme: Diener tragen in gemein ihrer Herren Lieverey; Solls dann seyn, daß Franckreich Herr, Deutschland aber Diener sey? Freyes Deutschland schäm dich doch dieser schnöden Knechtereyl (Sämmtl. Sinnged. Ebd., S. 202.) Wie ein befreiender Ruf klang Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch (1669); ausgesprochen polemisch folgte vier Jahre später sein Teutscher Michel. Aber erst dem nächsten Jh. blieb es vorbehalten, das Gefühl für den Wert eigener Dichtung vollends bewußt zu machen. Erich S c h m i d t , Charakteristiken 1 (2. Aufl. 1902): Der Kampf gegen die Mode in der dt. Lit. d. 17. Jh.s, S. 60—79. Hans Schultz, Die Bestrebungen d. Spradigesellschaften des 17. Jh.s (1888). Georg S t e i n h a u s e n , Gesch. d. dt. Briefes, T. 2 (1891) S. 1—244. Max Ο s b ο r η , Die Teufellit. d. 16. Jh.s (1893. Acta Germanica III, 3) S. 211 —216. C. G e b a u e r , Quellenstudien zur Gesch. d. franz. Einflusses auf d. dt. Lit. seit d. 30jähr. Kriege. ArdifKultg. 9 (1911) S. 404 —438. Fritz S c h r a m m , Schlagworte d. Alamodezeit (1914. ZfdWf. Beih. 15). J. H. Schölte, Grimmelshausens Beziehungen zur Straßburger Tannengesellschaft. DuV. 37 (1936) S. 324—339. E. V o l k m a n n , Bcdtha, sar Venator (193Θ) S. 25 ff. G r i m m e l s -

h a u s e n , Simplicissimus Teutsch (1938; 3. Aufl. 1954; NDL. 302/09) passim. Ders., Teutcher Michel, in: Simpliciana (1943; NDL. 315/21) S. 173 ff. J. H. S c h ö l t e , Der Simplicissimus und sein Dichter (1950): Grimmelshausen u. d. Barock, S. 205—218. Jan Hendrik Schölte Alexandriner s. Romanische Versmaße und Strophenformen. Allegorie s. Symbol und Allegorie; s. a. Minneallegorie. Alliteration s. Stabreim. Almanach s. Kalender, Musenalmanach, Taschenbücher und Almanache. Altenglische Literatur § 1. Der Einfluß der ae. Lit. auf die ad. Lit. erfolgte durch die ae. Mission, die auch ihre kirchliche Terminologie nach Deutschland verpflanzte und die vom G o t i s c h e n (s. d.) abhängige obd. teilweise verdrängte sowie die „insulare" Schrift einführte, die weitgehend Geltung erlangte und einzelne Zeichen auch der karolingischen Minuskel lieferte. Während die as. Genesis ins Ae. übersetzt wurde, lassen sich jedoch ad. Dichtungen nicht auf ae. zurückführen. Was man teilweise als Übertragung aus dem Ae. in Anspruch genommen hat, ist anders zu beurteilen. Zu Unrecht hat B r a u n e , Ahd. Gramm. § 347 Anm. 7, dem J e l l i n e k , S c h a t z , B a e s e c k e und de B o o r gefolgt sind, die Wessobruiiner Schöpfung aus dem Ae. herleiten wollen. Die Mundart dieses Fragments ist vielmehr bair. Die angeblichen ae. Spuren sind trügerisch. Das zweimalige Dat (1. 2), dessen -t -zz- in firiuuizzo (1) gegenübersteht, ist satzphonetisdie Dublette neben daz. gafreginth (1) ist wie Ο t f r i d s scel-iz oder meg-ih zu beurteilen. Gegen eine Zurückführung auf ae. gefrsegen ic oder gefregen ic spricht im besonderen das i der Mittelsilbe. Es steht ebenso unter dem Einfluß von ih wie das e in gafregin-. Ganz bedeutungslos ist mit „bei" in der Wendung mit firahtm (1). Beispielsweise wird audi in den ,Monseer Fragmenten in hominibus durch mit mannum übersetzt, ufhimil (3) war nach Ausweis von as. uphimü, ae. upheofon, an. upphiminn gemeingerm. Zu manno miltisto (8) tritt thiu druhtines milti bei Otfrid. mareo „leuchtend" (5) hat scaz den mariu in der Wiener Genesis neben sich. Mit geista (9) schließlich ist du dine geista machost poten „qui facis angelos tuos spiritus" bei Notker zu vergleichen. Für die Bodenständigkeit aber spricht noch im besonderen firiuuizzo (1), dessen objektive Bedeutung „Merkwürdigkeit, Wunder" auch sonst im Ahd., nicht aber im Ae. zu belegen ist.

Altenglische Literatur Ebensowenig wie die Wessobrunner Schöpfung läßt sich das von S c h m e l l e r unter der Bezeichnung Muspilli herausgegebene Fragment als ursprünglich ae. betrachten. Diese Dichtung besteht aus zwei Teilen, von denen der eine bodenständig und der eingeschobene andere aus dem As. übersetzt ist. Das bair. Gedicht, das die Verse 1—36 und 63 ff. umfaßt, wird am besten Von der Zukunft nach dem Tode, das ursprünglich as., dem d e Verse 37-60 zuzurechnen sind, während die Verse 61 f. dem Übersetzer angehören, Elias und Antichrist genannt. W. ν ο η U n w e r t h s Versuch, in beiden Gedichten Einflüsse des ae. Crist III zu erweisen, ist mißlungen. Gewisse inhaltliche Berührungen erklären sich durch die Gleichheit des Vorwurfs. Von den von B a e s e c k e zugunsten einer ae. Vorlage angeführten „halb-ags. gebliebenen" kösa „Kampf" (40) und pimidan „verheimlichen" (90), auf die schon M ü l l e n h o f f - S c h e r e r aufmerksam gemacht hatten, entfällt der dem abaii. Gedicht angehörige zweite Ausdruck. Daß ahd. bimidan wie as. bimidan, ae. bemXdan audi „verheimlichen" bedeutete, geht schon daraus hervor, daß midan selbst in diesem Sinne gut bezeugt ist. Das Lehnwort kösa heißt im Ahd. zwar nur „Gespräch", doch ist die Bedeutung „Kampf" auch dem As. zuzuerkennen: As. " kösa „Kampf" wird durch afries. käse „Kampf, Streit" gestützt. Nicht aus dem Ae., sondern aus dem As. erklärt sich auch müspille (57). Diese Bezeichnung Christi, die den Gottessohn vor allem im Hinblick auf Apoc. XIX, 11 ff. als „Mundtöter" bezeichnet, fehlt in der reichen ae. Lit., begegnet aber noch zweimal im Heliand und ist aus dem As. durch den ersten Bekehrungsversuch auch nach Island gelangt, wo Wort und Sache den heimischen Weltuntergangsvorstellungen eingegliedert wurden. Der Übersetzer hat die nicht verstandene as. Prägung in der durch seine Vorlage gebotenen Form übernommen und nicht durch mundspille oder mundspeüe übersetzt (über frühere Deutungsversuche des vielerörterten Ausdrucks s. die Lit.angaben bei B r a u n e , Leseb.). Falsch übertragen ist muor uarsuilhit sih (53), wo as. farsuuilkid durch ahd. uarsuelchet hätte wiedergegeben werden müssen, und (der antichristo) stet pi demo satanase, der inan uarsenkan (s)cal, wo das reflexive as. ina inig als Form des geschlechtigen Pronomens aufgefaßt worden ist. Eine Rückübersetzung von Elias •und Antichrist ins As. bereitet keine Schwierigkeiten. Dagegen fehlen im Ae. nicht nur die Entsprechungen von as. müdspelli und ahd. sweldien, sondern auch von ahd. arfurpan; pägan; sten, stän und stritan in der Bedeutung „kämpfen". Einen gewissen ae. Einfluß im Sprachlichen zeigen zwar das in der Hs. Pal. 577 Fol. der Vatikanischen Bibliothek überlieferte As. Taufgelöbnis in end, and; hälogan; gäst; gelobe und allum sowie das Zweite ahd. Basier Rezept in Formen wie dez, daez, pset, pu,

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pui, odde = od pe, ot pset, und der Schreibung se, ae, ς. In beiden Fällen haben wir es aber nur mit Eingriffen eines ags. Schreibers zu tun. Übers.en aus dem Ae. liegen nicht vor. Μ. H. J e l l i n e k , Das Wessobrunner Gebet. PBB. 47 (1923) S. 127-129. — Jos. S c h a t z , Ahd. Gramm. (1927) § 443. — Georg B a e s e c k e , Der Vocabularius Sti. Galli in d. ags. Mission (1933) S. 120 u. 124 ff. H. d e Β ο ο r , Bd. 1, S. 49 f. — W. Κ r ο g mann, Die Mundart d. Wessobrunner Schöpfung. ZfMda. 13 (1937) S. 129-149. — Karl M ü l l e n h o f f u. Wilh. S c h e r e r , Denkmäler Dt. Poesie u.Prosa aus d. 8.-12. Jh. (1864; 2.Aufl. 1873; 3 . A u s g . h g . v . E . v . S t e i n m e y e r. 2 Bde. 1892). — W. v. U n w e r t h , Eine Quelle d. Muspilli. PBB. 40 (1915) S. 349 -372. — G. B a e s e c k e , Muspilli. SBAkBln. 1918, S. 414-429. — Ders., St. Emmeramer Studien. PBB. 46 (1922) S. 431-494. — W. K r o g m a n n , Ein as. Lied vom Ende d. Welt in hdt. Übers. (1937; Sachsenspiegel. Ndd. Fschgn. u. Texte 1). — Agathe L a s c h , Das as. Taufgelöbnis. NeuphilMitt. 36 (1935) S. 92-133. — W. Κ r ο g m a η η , Die Heimatfrage d. Heliand im Lichte d. Wortschatzes (1937) S. 221 f. — Die kleineren ahd. Sprachdenkmäler hg. v. E. v. S t e i n m e y e r (1916) S. 39-42. § 2. Soweit die uns überlieferten a d . Sprachdenkmäler einen Schluß zulassen, h a t die ae. Lit. n u r als Vorbild auf die a h d . u n d as. gewirkt. Ähnlich wie der ursprünglich l a n g o b a r d . Abrogans (s. Langobard. Lit.) h a b e n die ae. Hermeneumata die A n r e g u n g gegeben, biblische u n d a n d e r e Schriften zu glossieren. I n Sprache sowohl als auch in Rechtschreibung l ä ß t das dt. W ö r t e r b u c h noch N a c h w i r k u n g e n des ae. Vorbildes e r k e n n e n . D i e eigentliche F r u c h t des ae. Einflusses b i l d e n a b e r der Heliand u n d in dessen Nachfolgte d i e Genesis (s. Altsächs. Lit.). D e r Heliand steht nach Ausweis seiner ü b e r reifen Technik nicht a m A n f a n g , s o n d e r n a m E n d e einer Entwicklung, die sich nicht in Deutschland, sondern in E n g l a n d vollzogen hat. D i e reiche engl. E p i k des 8. Jh.s w a r das Vorbild d e s sächs. Dichters. J e n e a b e r ist eine N e u s c h ö p f u n g d e r ags. Geistlichkeit, der Vergil, Juvencus u n d P r u d e n tius d i e A n r e g u n g zu ihren Buchepen g a b e n . Aus d e m as. L i e d l ä ß t sich die as. Bibeldichtung nicht u n m i t t e l b a r herleiten. T r e f f e n d b e m e r k t H e u s l e r : „ I n einer R e i h e wesentlicher Z ü g e k ö n n e n wir scheiden zwischen scopas u n d boceras: n u r d a ß wir d a s E t t m ü l l e r s c h e N a m e n p a a r nicht auf

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Altenglische Literatur — Althochdeutsche Literatur

Verse- und Prosaschreiber anwenden, sondern den Stil des weltlichen Liedes gegen den des geistlichen Epos halten. Das bedeutet soviel wie: den älteren gegen den jungem Stil. Denn es liegt ja so, daß die engl. Geistlichen, die Buchdichter, um 700 ausgegangen sind vom weltlichen Liede: aus diesem lernten sie den stabreimenden Vers und vieles von den sprachlichen Mitteln. Aber dies haben die Geistlichen dann in ihrem Geschmack w e i t e r g e b i l d e t : Cynewulf und Heliand zeigen uns eine jüngere, entwickeltere Formgebung gegenüber den archaischen Liedern." Der Heliand bildet den Endpunkt dieser Entwicklung. E r nähert sich schon der Grenze, wo der Vers in Prosa übergeht. Abwegig war es, daß H o l t z m a n n und T r a u t m a η η den Heliand als Ubers, aus dem Ae. erweisen wollten. Die Zusammengehörigkeit der ae. und as. Bibeldichtung ist aber nicht zu leugnen. Die geschichtl. Abhängigkeit dieser von jener erweist vor allem der Formelschatz, der namentlich in seinem kirchlichen Teil nicht aus der gemeinwestgerm. Lieddichtung stammt. Und wenn der sächs. Dichter, wie es in der Prosapraefatio heißt, omne opus per vitteas distinxit, so sind Sache und Name für die 'Leseabschnitte' von den ae. Buchepen übernommen. Als sinnbildlich darf gelten, daß die Versus der aus einer verlorenen Heltandhs. stammenden Praefatio sich ursprünglich nicht auf den Helianddichter, sondern auf C a e d m o n bezogen. Was für die ae. Bibeldichtung galt, konnte ohne weiteres auf die as. übertragen werden. Georg B a e s e c k e , Der Vocabularius Sti. Galli in d. ags. Mission (1933). — Α. Η e u s 1 e r , Heliand. Liedstil u. Epenstil. ZfdA. 57 (1919) S. 1-48. — W . K r o g m a n n , Die Heimatfraee d. Heliand im Lichte d. Wortschatzes (1937). — Ders., Die Praefatio in librum, antiquum lingua Saxonica conscriptum. Nddjb. 69/70 (1948) S. 141-163. — Rieh. D r ö g e r e i t , Werden u. d. Heliand. Studien zur Kulturgesch. d. Abtei Werden u. zur Herkunft d. Heliand (1951). Willy Krogmann Altgermanische Dichtung s. Chorische Poesie, Götterdichtung, Heldenlied, Preislied, Skandinavische Literaturen, Zauberspruch. Althochdeutsche Literatur § 1. In der uns erhaltenen ahd. Lit. versuchten die im fränk. Reich, später im ost-

fränk. und dt. Reith lebenden und Ahd. sprechenden Germanen, sich die röm. Antike und vor allem das Christentum anzueignen. Die ahd. Lit. ist der literar. Niederschlag der letzten Stationen jenes Prozesses, der aus Germanen Deutsche werden läßt. Die „Europäisierung" der Germanen (und die „Germanisierung" des antiken Erbes) begann mit den ältesten vorchristl. Berührungen zwischen Römern und Germanen, setzte sich in der got.-griech.-röm. Begegnung fort, der vermutlich das german. Heldenlied entstammt, und setzte sich zuerst und am stärksten durch an Rhein und Donau. Hier, wo nach dem Zeugnis des Irenaus schon im 2. Jh. Christengemeinden bestanden, entwickelte sich früh eine christl.-germ. dt. Kirchensprache. Die neuen german. Reiche übernehmen aber für ihre schriftlichen Akte die Sprache des vergangenen röm. Reiches. Zwar haben wir seit dem 5./6. Jh. Deutsch in ein paar Runeninschriften, aber erst um die Mitte des 7. Jh.s wird Deutsches — wenn wir von den Malbergischen Glossen absehen — in größerem Umfang aufgezeichnet: innerhalb eines lat. geschriebenen Gesetzestextes, im langobard. Edictus Rothari von 643. Das erste dt. Buch, ein Wörterbuch, der dt. Abrogans, folgt erst rund 120 Jahre später in Fredsing. Vom Abrogans an besteht die erhaltene ahd. Lit. in der Hauptsache aus Übers, aus dem Lat., zu einem kleineren Teil nur aus freieren Bearb. christL-lat. Vorlagen und zu einem ganz verschwindend kleinen Teil aus Aufzeichnungen alten germ. Erbes, die freilich dichterisch am bedeutendsten sind. Neben dieses Bild muß man aber die verlorene und erschließbare Literatur stellen, um eine Vorstellung der damals lebendigen Dichtung zu bekommen, in der das German, in allmählichem Ubergang deutsch wurde. Während schon um 800 im ahd. Isidor eine annähernd vollkommene Ubers, einer theologischen Abhandlung vorliegt, muß 200 Jahre später Notker Teutonicus beinahe wieder von vorne anfangen — so wenig Deutsches findet er in der St. Galler Bibliothek, und in ebenso geringem Maße ist er sich, nach dem ottonischen an dt. Aufzeichnungen so armen Jh., des inzwischen durch den Unterricht von rund zehn Generationen erfolgten Verdeutschungsprozesses bewußt.

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Aber Notkers am Ende der ahd. Periode stehende Leistung ist nicht nur die des genialen Einzelnen, sondern mitgetragen und mitbestimmt von dem zähen Fleiß vieler unbekannter Schulmeister und Schüler. So hat die ahd. Lit. (und Sprache) mit und in Notker die Aufgabe einer Bewältigung des Christlichen und Lateinischen erfüllt, und dem im Jahre 1022 an der Pest Gestorbenen kommt darum auch in einem tieferen Sinn© der Beiname „der Deutsche" zu. § 2. a) Ahd. nennen wir die Sprache der mittel- und obd. Stämme sowie der Langobarden vom Beginn ihres schriftlichen Niederschlags in Runeninschriften (5.16. Jh.) und im Gesetzbuch des langobard. Königs Rotliari (643) bis zu Notker oder zu Williram, also bis etwa zur Mitte des 11. Jh.s: die Zeit von der 2. Lautverschiebung (6. Jh.) bis zum Zusammenfall der verschiedenen kurzen Endungsvokale in ein abgeschwächtes e (Ende 11. Jh.). Das ahd. Schrifttum beginnt also im 5./6. Jh., das erste geschlossene Denkmal auf Pergament, das erste Buch, ist der deutsche Abrogans um 765 in Freising, und Notker ist die abschließende Persönlichkeit, während Williram schon der kirchlichen Reform und der Wendung an die Laien verbunden ist. b) Räumlich ist die ahd. Lit. nicht auf das ahd. Gebiet beschränkt. Sie reicht, wie das Ludwigslied zeigt, noch im 9. Jh. in das Westreich hinüber, für das wir eine sprachliche Gemeinsamkeit der fränk. Oberschicht, eine „Hofsprache" anzunehmen haben. Das Hildebrandlied und wohl auch das Sächsische Taufgelöbnis sind auf fränk. Gebiet für ndd. Gebrauch zurechtgemacht; die Anregung zum Heliand dürfte, durch Ludwig den Deutschen, die Tatianhs. aus Fulda gegeben haben; die Sächsische Beichte geht auf einen Lorscher Archetypus zurück; ahd. Glossensammlungen werden auf ndd. Boden benutzt: die Abhängigkeit der ndd. Lit. beginnt nicht erst in der mittleren Periode. d) In ahd. Zeit grenzen wir nicht „Literatur" von „Nicht-Literatur" im modernen Sinn ab. Wegen der Spärlichkeit der Überlieferung und wegen der Bedeutung der werdenden Sprache für die werdende dt. I it. rechnen wir jede ahd. Aufzeichnung zur ahd. Lit. (also auch die. Runeninschriften). Wendete man moderne Kunstmaßstäbe an,

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so bliebe von der ahd. Prosa nur wenig und von den Versen nicht viel mehr. Die Lit.sprache der Zeit ist das Latein, und selbst Otfrid, der sich doch wahrhaftig um das literarische Ansehen der einheimischen Sprache bemüht hat, spricht von dem barbarischen und bäurischen Charakter des Deutschen, dessen Wörter innerhalb eines lat. Textes nur Gelächter hervorrufen könnten. (So konnte auch Notker ncch 150 Jahre später seine lat.-dt. Mischprosa eine res paene inusitata nicht nur im Tatsächlichen, sondern auch im Ästhatisdi-Prinzipiellen nennen.) Auch die G l o s s e n (s. d.), die fast die Hälfte der ahd. Lit. ausmachen, gehören zur ahd. Lit., und sie werden noch weit mehr dazu gehören, wenn erst einmal auf den Spuren Koegdls, Steinmeyers und Baeseckes ihr geschichtliches Leben so erhellt ist, wie das jetzt für den Abrogans, den Vocabularius Sti. Galli und einige andere Glossierungen schon der Fall ist. Das neue ahd. Wörterbuch, hg. v. Theodor F r i n g s und Elisabeth Karg-Gasterstädt, wird hier die Wege erleichtern. In den Glossen wird durch Jh.e hindurch die Kärrnerarbeit geleistet, die dann den großen Neubau des Deutschen ermöglicht. Aber nicht nur Kärrnerarbeit, auch mutige, oft geniale Pionierarbeit. Die mit Glossen durchsetzten fordaufenden Bibelkommentare sind Wurzeln der Notkerschen, sie können als selbständige Bücher neben den Text gelegt werden — wie denn umgekehrt Hrabans großer Bibelkommentar Glossa ordinaria hieß —, die Canonesglossierung u. a. sind den übrigen durch Karl angeregten Verdeutschungen einzureihen, und schließlich ragt diese Erklärungskunst mit Ekkehard IV. in den Bereich der Formung weit tiefer als manches Prosastück. Alles zusammen aber ist nur ein kleiner Ausschnitt aus der lat. Lit. Das zeigt sich schon äußerlich in der überwältigenden Übermacht der lat. Hss., in denen das Deutsche eingesprengt erscheint, noch mehr daran, daß diese Lit. nicht dazu dient, eigenes, neues Geistiges darzustellen, sondern nur zum Popularisieren des Vorhandenen, zum Erziehen. Sie hat ihr einigendes Band in der Anwendung des Deutschen, die den lesenden Zeitgenossen manchmal ebenso wunderlich sein mußte wie uns etwa

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die einer Mundart in wissenschaftlichen Werken; noch Ekkehard IV. hielt Deutsch zu lesen für eine besondere Kunst. Es ist falsch, weil diese Lit. nur aus der zugrunde liegenden lat. erklärbar ist, nun auch die von Deutschen geschriebene lat. der Zeit ohne weiteres in die dt. Literaturgeschichte einzubeziehen. Aber lat. Texte, denen dt. Dichtung zugrunde liegt oder die germ.-dt. Dichtung stofflich und motivisch aufnehmen und weiterführen, gehören hierher: Ratperts Galluslied, der Waltharius (vgl. W. Β e t z, F B B 73, 1951, 468—471), der Modus Ottinc (vgl. § 9) und der Ruodlieb (vgl. H. N a u m a n n , Dt. Dichten u. Denken von d. german. bis zur sthufischen Zeit (2. Aufl. 1952) S. 47—50; vgl. ferner § 9). Wenn weiter lat. Texte hierher gehören, dann sind es die übers, und bearb., die Anregung gebenden, Isidor, Boethius, Marcianus Capella, Cregor, Prudentius, Vergil, Juvencus, Sedulius, Arator u. a., die Bibelkommentare, Liturgien und Canones u. a., überhaupt alles Glossierte. Die Sequenzen des Notker Balbulus hingegen, die Dramen der Hrotswith zeigen, daß damalige Deutsche auch in anderen literar. Entwicklungsreihen Entsprechendes zustande bringen konnten, die Erkenntnis der ahd. Lit. können sie kaum fördern, und sie stützen das Vorurteil, daß man die poetische und geistige Leistung der Deutschen jener Zeit an jenen dt. Zwitterdenkmälem messen könne. Da würde, wenn es das Hildebrandlied nicht vermöchte, ebensowohl jede andere geistige oder künstlerische Betätigung der Heimat Zeugnis ablegen, daß die Kindlichkeit des kirchlichen Althochdeutsch ein besonderes Ding ist. § 3. Weil die Kleriker in Liodisfarne offenbar lieber germ. Heldenlieder als die Kirchenväter zur Tischlesung hörten, schreibt A1 c u i η dem Bischof seinen mahnend-entrüsteten Brief: „Wais hat Ingeld mit Christus zu tun?" O t f r i d sagt in seinem Widmungsschreiben an den Mainzer Erzbischof, daß sein Werk auch dazu dienen soll, laicoTum cantum obscenum zu verdrängen. Und noch vom Bamberger Bischof G u n t h e r aus dem 11. Jh. erfahren wir durch seinen Magister M e i n h a r d , daß er viel lieber Dietrich-Dichtungen als Augustin las, ja, daß er vielleicht sogar selber dt. Heldenballaden dichtete (vgl. C. E r d m a n n , ZfdA. 74, 1937, S. 116; oder

nach K. H a u c k , GRM 33, 1951/52, S. 24, führte er ein Dietrich-Waffenspiel mitagierend auf?): es gab auch schon vor 1100 eine reiche und blühende und beliebte dt. Dichtung, von der uns so gut wie nichts erhalten ist. Das hat zwei Gründe: diese Dichtung wurde ursprünglich mündlich überliefert; und später war sie bei den des Schreibens kundigen Klerikern offiziell verpönt (wenn auch teilweise recht beliebt), wie Otfrids Äußerungen und manche andere zeigen. Wenn wir uns von der Dichtung, wie sie in der ahd. Zeit wirklich gelebt hat, eine richtige Vorstellung machen wollen, dann müssen wir das Bild des Uberlieferten, Bewahrten durch die v e r l o r e n e u n d e r s c h l i e ß b a r e D i c h t u n g zu ergänzen versuchen. Wir werden dabei unter verlorener Dichtung solche Werke verstehen, deren Vorhandensein uns ausdrücklich bezeugt wird, und unter erschließbarer Dichtung und Lit., was man mit einiger Wahrscheinlichkeit als vorhanden gewesen annehmen kann. In besonderen Glücksfällen kann man in beiden Gruppen sogar zu einei näheren Rekonstruktion, zu einer Art Nachdichtung kommen. (Die nur mit einiger Wahrscheinlichkeit erschlossenen, aber nicht ausdrücklich als vorhanden bezeugten Dichtungen sind im folgenden kursiv gedruckt, die ausdrücklich bezeugten recte.) Es ergibt sich dann eine Aufzählung, die zeigt, wie einseitig die erhaltene schriftliche Überlieferung ist. Die einheimische Dichtung lebt weiter und entwickelt sich, bis sie in mhd. Zeit mit dem Standesbewußtsein des neuen Ritterstandes aufgezeichnet wird. Dazu gehören im 5. Jh. das langob. und fränk. Hunnenschlachtlied, die fränk. Lieder: Drachenlied, Hortlied, Jungfrauerweckung, Sigfrids Tod, Burgundenuntergang und das langob. Lied von Lamicho. Aus dem 6. Jh.: Dietrichs Verbannung (Rabenschlachtlied), Witege und Heime, Wolfdietrich; die langob. Lieder Herulersdilacht, Rumetrud, Thurisind, Alboins Tod (Rosimundlied, nachgedichtet von F. Genzmer, ArchfNSprLit. 142, 1921, S. 1—8), Autharis Brautfahrt; das thür. Iringlied und die Lieder von Wieland und Walther. Aus dem 7. Jh.: das fränk. Preislied auf Chlothar II. und das langob. Lied vom Göttertrug. Aus dem 8. Jh. die fränk. Lieder C M -

Althochdeutsche Literatur derich und Basina, Chlodwigs Brautfahrt, Überfall auf Lüttidi, Lieder auf Karls Vorfahren; die langob. Lieder Karl der Spielmann, Karl und Athalgis (Algisus), Die Tochter des Desiderius, Der eiserne Karl (nachgedichtet von P. v. Winterfeld, Deutsche Dichter des lat. Mittelalt. S. 183), das alem. Harlungenlied, das bair. Krimhildlied und das Lied von den Helchesöhnen: (das as. Hildelied und das as. Lied von Liobwins Thingfahrt, nachgedichtet von F. Genzmer, GRM 32, 1950/51, S. 165—168). Aus dem 9. Jh.: Ratperts Galluslied, Graf Uodalrich. Aus dem 10. Jh.: Adalbert von Bamberg, Lieder von Kurzibold (Graf Konrad von Niederlahngau), Lieder von Bischof Uodalrich von Augsburg, Sachsensieg über die Franken von 915, Lieder von Erbo, Uodalrich und Wendilgart (Heimkehrerlied), Modus Liebinc (Schwank vom Schneekind); (und die beiden as. Lieder: Thiadmars Kriegslist, Herzog Heinrich u n d die goldene Halskette). Aus dem 11. Jh.: Babo von Abensberg, Bischof Benno von Osnabrück, David und Goliath, Schwank vom Schneekind. Dies alles gab es also — mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit. Welch ein Reichtum an heimischer Dichtung gegenüber dem Wenigen, das uns erhalten ist, und wieviel Kostbares wäre uns erhalten, wenn K a r l s Sammlung der alten Lieder nicht verlorengegangen wäre! (Daß sein Sohn L u d w i g daran schuld sein soll, ist ein altes, aber anscheinend unausrottbares Mißverständnis der Τ h e g a η stelle, das B r a u n e (PBB. 21, 1896, S. 5f.) schon vor fünfzig Jahren widerlegt hat. Ludwigs dort berichtete Abneigung galt vielmehr den heidnischen antiken Autoren.) An verlorener Übers.Lit. ist noch nachzutragen: Vergils Bucolica, die Andria des Terenz, die Disticha Catonis, des Boethius De sancta trinitate und Institutio arithmetica, die Moralia in Job von Gregor und Buch III-X der Nuptiae des Marcianus Capeila — sämtlich von Notker; vermutlich auch eine Übersetzung der Lex Salica (von der uns nur ein Bruchstück erhalten ist). Vgl. R. Κ ο e g e 1, Gesch. d. dt. Lit. I, 2, 1897; Η. S c h n e i d e r , Dt. Heldensage (1930). G. B a e s e c k e , Vorgeschichte d. dt. Schrifttums (1940). W. S t a m m l e r , Die Anfänge weltlicher Dichtung in dt. Sprache, ZfdPh. 70 (1947/49) 10—32. Fr. v o n d e r

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L e y e n , Das Heldenliederbuch Karls des Großen (1954). § 4. Die Besonderheit unserer erhaltenen ahd. Lit. wird recht deutlich, wenn man sie nach ihrem Verhältnis zum Latein und nach dem Gesichtspunkt der kirchlichen u n d weltlichen Lit. ordnet: die weitaus stärkste Gruppe bildet dann die kirchliche Übers.Lit., andererseits ist aber „Weltliches" — soweit es sich um Übers, handelt — recht vielseitig vertreten, a) Übersetzungen 1) kirchliche Literatur α) biblische Texte: Monseer Matdiäus-Bruchstücke, alem. Psalmenübersetzung, Tatian, rheinfränk. Cantica, (altniederfränk. Psalmen), Notkers Psalter u. Cantica, (Willirams Hohes Lied); Glossen (SteinmeyerSievers Bd. 1 außer Abrogans). ß) theolog. Texte: Isidors De fide catholica contra Judaeos, Monseer Bruchstück De vocatione gentium; Glossen zu Gregors Moralia in lob, Bibelkommentaren des Hieronymus u. a. Schriften in unbedeutenderem Umfang, γ) pastorale Texte und andere Texte mehr praktischer und geschichtlicher Art: St. Galler Paternoster u n d Credo, Freisinger Paternoster, Weißenburger Katechismus, Murbacher Hymnen, Carmen ad Deum, Exhortatio ad plebem Christianam, Benediktinerregel, Fränk. Gebet, St. Emmeramer Gebet, Augsburger Gebet, Geistliche Ratschläge, Priestereid, Notkers Katechismus, Adelsberger Vaterunser; Glossen zur Benediktinerregel, zu Gregors Cura pastoralis, seinen Dialogen und Homilien, zu den Canones, zu Rufin, Sedulius, Prudentius (am zahlreichsten überhaupt) und in kleinerem Umfang zu verschiedenen Heiligenviten. 2) weltliche Literatur: Abrogans, Vocabularius Sti. Galli, Kasseler Glossen, Basler Rezepte, Lex Salica (Bruchstück), Trierer Capitulare, Consolatio philosophiae des Boethius, Nuptiae philologiae des Marcianus Capeila (Buch 1—2), Kategorien u n d Hermeneutik des Aristoteles (nach des Boethius kommentierender Ubers.), Bruchstück einer Logik, De syllogismis, De musica, St. Galler Schularbeit, Reisesprachführer (ahd. Gespräche); Glossen zu Alcuins Grammatik, des Boethius Consolatio, Horaz, Isidors De officiis, Sallust,

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Vergil (am zweitzahlreichsten nach Prudentius, etwa die Hälfte davon). b) Bearbeitungen (nur kirchliche Literatur): 11 (20) Beichtformulare (einschließlich der Confessio des Emmeramer Gebets [s. Beichtformeln]), fränk. Taufgelöbnis, (zwei sächsische Taufgelöbnisse), 15 Predigten in Bruchstücken aus Wessobrunn und Monsee, Paternostererklärung aus Freising und Weißenburg, Notkers Psalmenkommentar, Otlohs Gebet (Willirams Kommentar zum Hohen Lied). c) Originale 1) kirchliche: Wessobrunner Gebet, Muspilli, etwa 20 Segenssprüche bzw. Sprüche wider den Teufel, Otfrids Evangelienbuch, 2 Gebete Sigihards, Petruslied, Christus und die Samariterin, Georgslied, Psalm 138, Klostemeuburger Gebet. 2) weltliche: 28 Runeninschriften, etwa fünf Zaubersprüche, Stammesgesetze (in wichtigen innerhalb der lat. Ubers, bewahrten Gesetzeswörtern), Hildebrandlied, Hammelburger und Würzburger Markbeschreibung, Straßburger Eide, Ludwigslied, Rheinfränk. Grabinschrift, St. Galler Spottund Schreibervers, ahd. Sprichwörter, Hirsch und Hinde, Liebesantrag, De Heinrico, ahd. Beispiele aus Notkers lat. Rhetorik (Eberverse), Liebesgruß aus dem Ruodlieb. § 5. Durch ihre Bindung an die Schrift beschränkt sich für uns die ahd. Lit. auf die geistigen Kulturstätten, die über die Stammes- und Mundartengebiete zerstreut, aber doch mit wenigen Ausnahmen (Fulda I) auf römischem Kulturboden liegen. Das ist aber nur der Ausdruck ihrer besprochenen Einheitlichkeit, die sogar die Mundartengrenzen so leicht überschreitet, wie nur irgend die germ. Dichtung, und gleichermaßen stilistisch und metrisch, in Ansätzen (zur Zeit Hrabans und seines Archivars Hruodolf) selbst sprachlich zutage tritt (vgl. § 8). Sie rückt in Nachahmungen und mundartlichen Umsetzungen langsam von Westen und Süden vor, macht aber doch noch vor Thüringen halt, sendet freilich sozusagen (Kolonisten-)Missionare selbst in sädis. Gebiet. Das Netz der Beziehungen, das die Hauptorte verknüpft, St. Gellen— Reichenau—Murbach, St. Emmeram—Freising — Tegernsee — Monsee, Würzburg — Fulda, Weißenburg — Lorsch — Mainz —

Trier, würde sehr viel engmaschiger und fester, wenn man die Glossen, die alten Hss.-kabaloge und -bestände aufarbeitete und sähe, wie sich die Studien von Grund an aufbauen, die diese Lit. zeitigen (s. Glossen, Ahd.). Freilich, die Lückenhaftigkeit unserer Uberlieferung ließe sich doch nicht wegleugnen. Nach Zeit und Ort ist die Vertretung höchst ungleichmäßig, weite Strecken fallen ganz aus, ζ. B. der größte Teil Alemanniens, der größte Teil des 10. Jh.s. Wie damals der Ungamsturm Kloster um Kloster bis an den Rhein wüste legte, so sind noch bis in die Neuzeit die großen Bibliotheken von Köln, Trier, Fulda zerstreut, so daß nun der fränk. Vorrang ungebührlich zurücktritt — das M.fränk. setzt erst im 10. Jh. ein —; vieles einzelne ist natürlich in einem Jahrtausend verbraucht (besonders vom Buchbinder), vergangen, verloren selbst in dieser überkonservativen Umwelt, und bei jeder Hss.-Filiation fast erkennen wir, wieviel uns fehlt. Falsch ist es aber nach allem Gesagten, von Zufälligkeit der Überlieferung in dem Sinne zu sprechen, daß jemand gelegentlich, zum Zeitvertreib etwa oder als Federprobe, Deutsches im Zusammenhang niedergeschrieben und anderes zurückbehalten hätte: das war eine besondere Kunst, fast immer findet man besonderen Antrieb besonderer Persönlichkeiten, und die dt. Glauben, Beichten und Gebete sind nicht ab selbständige Stücke, sondern als Ausstrahlungen e i n e r Absicht und e i n e s Archetypus zu betrachten: immer wieder beobachten wir die Wiederkehr, selbst im Lautlichen, geprägter Wort®. Die bis heute zusammengebliebenen Hss.-Bestände, die Bibliothek von St. Gallen und die in München vereinigten der bairischen Klöster etwa, noch mehr die alten Kataloge, zeigen übrigens,. daß die dt. Fundstücke weniger zufällig sind, als es nach unsern Lesebüchern scheint: es gab nicht viel geschriebene ahd. Lit.'; daß wir von Otfrids Gedicht das Original und mehrere gute Reinschriften (von gewissen Bibelkommentaren sogar zahlreiche Exemplare) haben, gibt doch zu denken, denn volkstümlich war es nicht: das Kirchliche erhält sich in der kirchlichen Welt besser als irgendein Geistiges irgendwo sonst. § 6. Das ahd. Schrifttum beginnt



Althochdeutsche Literatur wenn wir damit die erhaltenen ältesten Aufzeichnungen meinen — mit den dt. R u n e n i n s c h r i f t e n . Das sind, von der ältesten auf der Gürtelschnalle von S ζ a badbattyan (zwischen Stuhlweißenburg und dem Plattensee) aus der 1. Hälfte des 5. Jh.s angefangen, 28 Inschriften bis zur jüngsten, der Scheibenfibel von O s t h o f e n aus dem Ende des 7. Jh.s. Es sind leider nur wenige Wörter und darunter sehr viele Namen. (Vgl. H. A r η t ζ und H. Zeiss, Die einheimischen Runendenkmäler des Festlandes 1939). Aber man sieht doch, wie diese früheste schriftliche Verwendung der dt. Sprache noch jener magischen Sphäre nahesteht, aus der audi die Zaubersprüche stammen: die Inschrift soll Glück bringen oder Böses abwehren, die Kräfte der Götter herbeirufen oder den Besitz als unverletzlich kennzeichnen. So werden in der alemannischen N o r d e n d o r f e r Bügelfibel aus der I. Hälfte des 7. Jh.s die Götter Wodan und Donar angerufen, und es wird daran ein Segenswunsch für die Trägerin der Fibel, Leubwinia, angeschlossen. Christlicher Segen — auch schon mit diesem aus lat. signum (crucis) entlehnten Wort — wird dagegen auf den langobardischen Fibeln von P a l l e r s d o r f (Bezenye, Ungarn, in der Nähe der österr.-tschech. Grenze) aus der 2. Hälfte des 6. Jh.s für die beschenkte Trägerin erfleht: ik arsiboda segun unja godahid — „Ich Arsiboda wünsche der Godahild Segen und Freude" Auf dem Pergament und mit lat. Buchstaben beginnt das ahd. Schrifttum mit der Aufzeichnung der alten Rechtswörter im langobard. Edictus Rothari (643), dessen älteste St. Galler Hs. von etwa 700 zugleich unsere älteste ahd. Hs. ist. Es folgen dann noch andere Stammesgesetze mit alten germ.-dt. Wörtern, die sich an entscheidenden Stellen innerhalb des jetzt lat. Textes gehalten haben (vgl. G. B a e s e c k e , Die dt. Worte der germ. Gesetze, PBB. 59, 1935, 1—101; KarlFredrikFreudenthal, Arnulfingisch-karolingische Rechtswörter, Göteborg 1949). Das älteste dt. Buch ist die Übers, eines lat. Synonymenwörterbuches, das u. a. zur Verwendung seltener lat. Ausdrücke helfen sollte: nach seinem ersten Wort heißt es der Abrogans. seine Ubers, also der deutsche Abrogans (früher unzutreffend Keronisches Glossar; vgl. G. B a e -

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secke, Der deutsche Abrogans und die Herkunft des deutschen Schrifttums, 1931; Text, hg. v. G. B a e s e c k e , 1931). Dieses älteste dt. Buch entstand zwischen 764 und 769 in Freising unter Bischof A r b e ο , der seine Vorlage vermutlich aus Pavia/Bobbio mitgebracht hatte. Arbeo ist auch als Verfasser der Heiligenleben Korbinians und Emmerams unser erster namentlich bekannter deutscher Autor. Man kann sich die Aufgabe gar nicht schwer genug vorstellen: so als wollte man heute Cicero in eine entlegene Dorfmundart übersetzen. Der deutsche Abrogans aber übersetzt mutig alles — oft gewaltsam und mit argen Fehlem, andererseits auch wahrhaft sprachschöpferisch: Pharisaei und philosophus ζ. B. übersetzt er mit kiwisfiringa und unmezwizzo, „Bewußtseinssünder" und „Unmaßwisser" Eine Bearb. des Abrogans aus Regensburg haben wir in den Samanunga, den „Wörtersammlungen" (früher unzutreffend Hrabanische Glossen). Während so im Süden die Anfänge des dt. Schrifttums vor Karl im Langob. beginnen (auch eine erste Glossierung der Canones kommt von dort, auf die später in Bayern die fränkisch-mainzische stößt), ruft ein anderes antikes Wörterbuch gleichfalls schon vor Karl im Verlauf der ags. Mission eine dt. Ubers, hervor: die Hermeneumata Pseudodositheana, deren wohl von Fulda ausgehende deutsche Fassung uns in St. Gallen mit der unzutreffenden Bezeichnung Vocabularius Sti. Galli (G 3, 1—8) erhalten ist. (Vgl. G. B a e s e c k e , Der Vocabularius Sti. Galli in der ags. Mission, 1933.) Wie das alte griech.-lat. Wörterbuch einst dem Erzbischof T h e o d o r von Canterbury (f 690) als eine erste Einführung ins Ags. gedient hatte, so diente es jetzt als ein erster Sprachführer für Angelsachsen und andere des Lateins, aber nicht des Ahd. kundige Missionare. Ein weiterer unter romanischem Einfluß an der bair.-italien. und an der fränk.-französ. Grenze umgestalteter Zweig der Uberlieferung führte zu den Kasseler Glossen (G 3, 9—13) und zu den Ahd. Gesprächen (G 5, 517—520), die nun einen wirklich zu Sätzen ausgearbeiteten Reisesprachführer darstellen mit so schönen Sätzen wie hundes ars in dine nason — Canis culum in tuo naso! Im Bereich der ags. Mission, in Fulda,

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kommt audi zum erstenmal weltliche Dichtung aufs Pergament. Das ursprünglich höchstwahrscheinlich langob. Hildebrandlied von etwa 700 wurde kurz nach 800 in Fulda aufgezeichnet, wohin es in einer bair. Form gekommen war, die nun hier schematisch und ζ. T. verkehrt ins Ndd. umgesetzt wurde. Die Hs., der der Schluß fehlt, ist seit 1945 verschwunden (eines der beiden Blätter wurde 1946 durch einen New Yorker Antiquar verkauft und soll demnächst der Kasseler Landesbibliothek zurückgegeben werden). Das H. ist das einzige in unserer Lit. erhaltene Beispiel des germ. Heldenliedes und damit eines der kostbarsten Stücke unserer früh dt. Lit. Als Zeugnis der aristokratischkriegerischen Standesdichtung der Völkerwanderungszeit hat es seine nächsten Verwandten in den Heldenliedern der Edda und im ags. Finnsburglied. Das H., dessen tragischer Ausgang uns durch Hildebrands Sterbelied (Eddica minora VIII) bestätigt wird, zeigt wie alle germ. Heldendichtung die Auseinandersetzung mit dem Schicksal, die in den höchsten Augenblicken zur Uberwindung des Schicksals wird im Sinne des Schillerschen „Nehmt die Gottheit auf in Euren Willen, Und sie steigt von ihrem Weltenthron". Vom Sohn verhöhnt, der ihn nicht erkennt, muß Hildebrand wissend diesen seinen eigenen Sohn erschlagen für seine im Angesicht der beiden Heere verletzten Ehre. Hildebrand klagt das verhängnisvolle Schicksal an, aber er wendet sich auch an den irmingot, den waltant got, der nur der Christengott sein kann. (Anders in der Vorstufe: J. de V r i e s , Das Motiv d. Vater-SohnKampfes im H„ GRM. 34,1953, S. 257-274.) Insofern ist Hildebrand schon ein Christ der Übergangszeit, wie es der langob. Dichter ist, der diesen germ. Stoff in germ. Form gestaltet hat. Das H. hat idg. Verwandte, eine irische, persische und russ. Fassung, in denen allen freilich der Vater den Sohn erst erkennt, als er ihn schon erschlagen hat. Wir werden eine idg. Erbfabel, eine archetypische Vorstellung annehmen müssen. (Vgl. H. M e y e r - F r a n c k , Die Hildebrandsage und ihre Verwandtsdiaft, PBB. 69, 1947, S. 465-472; H. R ο s e η f e 1 d , DVLG 26, 1952, S. 413-432.)

Auch künstlerisch ist das H. ein charakteristischer Vertreter seiner Gattung: eine ganze Fabel in einer Szene, Darstellung der Vorgeschichte, des Geschehens, der Charaktere, der Stimmung mit ganz erstaunlicher Kunst in Rede und Gegenrede verschlungen („doppelseitiges Ereignislied"), das Pathos des Vorwurfs in den über allem freien Wogen des Rhythmus starren Gegensätzlichkeiten des Stabreimverses und seinem episodenfeindlichen Tatsachenstil fast gewaltsam ausgetragen. Vergleicht man die Eddalieder nach ihrem Aufbau, nach dem Maße ihrer innerlichen und äußerlichen Sprödigkeit, nach der syntaktischen und Versverschlingung (des „Hakenstils") und nach dem lyrischen Einschlag, so steht das Hildebrandlied einigermaßen in der Mitte, d. h. wohl gerade auf der reinsten Höhe dieser Kunst, ein deutliches Zeugnis zugleich für die hohe Altertümlichkeit gewisser deutsch-eddischer Lieder. (Vgl. Andr. H e u s ler in: Hoops' Reall. II 525f.; Gustav N e k kel, Die Überlieferungen vom Gotte Balder 1920, S. 224 ff.) Auch die Aufzeichnung der Merseburger Zaubersprüche (St. LXII) geht wohl auf Fulda zurück. Die erhaltene Niederschrift gehört erst dem 10. Jh. an, der klare zweiteilige Aufbau ist jedoch beispielhaft erhalten: erst die Erzählung eines Falles, dann der Spruch, der damals half und der nun Erzählung zugleich und Spruch für den jetzigen Fall ist. Das Auftreten der Göttinnen, Wodans und Balder/Phols weist ins Heidentum, die wörtliche Verwandtschaft mit aind. Formeln sogar in Urzeiten zurück; ein Endehnen aus Christlichem, wie es mitunter verfochten wird,' könnte nur in rein heidn. Zeit vorgenommen sein, ihr Charakter als Zeugnis germ. Heidentums ist demnach so nicht anzutasten. (F. G e n z m e r , in: ArkfNordFil. 63, 1948, S. 55—72, Arv 5 (1949) S. 37—68 und in GRM. 32, 1950/51, 21—35; W. H. V o g t , ZfdA. 65, 1928, S. 97—130; F. R. S c h r ö d e r , Balder u. d. 2. Mers. Spruch GRM. 34, 1953, S. 161 —183.) Nur noch ein Spruch läßt die alte Stabversbindung und einen heidn. Götternamen durchblicken: der Wiener Hundesegen, der aus einem heidn. Jäger- zu einem christl. Hirtenspruche gemacht ist. Sonst sind bis auf das Vro unde Lazakere keiken molt petritto des Straßburger Blutsegens

Althochdeutsche Literatur und die hymnenihafte Einzelzeile Doner dutigo, dietewigo des Spruches gegen Fallsucht Heiligen-Namen an Stelle der alten getreten, verschiedene Stücke sind durcheinandergemischt, und es bleibt zuweilen nur ein Wust alter unheimlicher und so abermals zauberischer Unverständlichkeiten. 'Mit Fulda hängen vermutlich auch die beiden anderen ahd. stabreimenden Gedielte zusammen, das Wessobrunner Gebet und das Muspilli. Ihr ags. Einschlag verweist sie am ehesten auf den Weg über Fulda, und in Regensburg, wo Karl seit 788 residierte, haben sie wahrscheinlich ihre bair. Form erhalten. Die germ. Kosmogonie und Eschatologie in diesen beiden Gedichten, beide schon mindestens mit christl, Einschlägen, ist uns auch im Norden, in den Versen der Völuspa, bezeugt, der eschatologische· Terminus noch im Heliand (mudspelli). Ungeklärt ist immer noch die Beziehung des Muspilli zur russ. Eliaslegende, wie auch die ursprüngliche Zweiteiligkeit des Gedichtes noch umstritten ist. (Vgl. G. B a e s e c k e , Muspilli II, ZfdA 82, J950, S. 199—239.) Im Stil der Predigt und eines Memento mori werden hier die Schrecken der Einzelseele nach dem Tode vor dem Gericht geschildert, dann die Schrecken des Weltendes und des allgemeinen Jüngsten Gerichtes. Auch in der Form ist das Muspilli ein Gebilde einer Übergangszeit: es begegnen in dem alten Stabreimgedicht schon eine Reihe von Endreimen. § 7. Was es an Deutschem vor K a r l gab — altes Absterbendes und neues Werdendes —, das hat unter Karl eine bewahrende Aufzeichnung oder eine kräftig-planvolle Weiterentwicklung erfahren. Alle erhaltenen Stabreimgedidite wurden unter Karl auf- bzw. umgeschrieben (mit Ausnahme vielleicht der Merseburger Zaubersprüche, bei denen aber besondere kirchliche Gründe vorlagen). Zugleich drang Karl darauf, daß das Neue, das Römische und Christliche, nun im Deutschen wiedergeboren würde: „Aurea Roma iterum renovata renascitur orbi" (Μ ο d ο i η ; vgl. G. B a e s e c k e , Die Karlische Renaissance «. d. dt. Schrifttum, DVLG. 23, 1949, S. 143 —216.) Karl hat schon vor seiner Verbindung mit Alcuin (782) die Anwendung der dt. Sprache, die in Rechtsaufzeichnungen

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bereits einen alten Platz hatte (Edictus Rothari, Lex Alemannorum, Lex Salica usw.), in seine nationale und kirchliche Politik eingefügt, weitsichtiger als seine Gelehrten, die in antiker Tradition befangen seine Forderung einer dt. Grammatik nicht verstehen, jedenfalls aber nicht erfüllen konnten. Wohin Karls Trachten ging, darf man wohl daraus entnehmen, daß er, auf Jahrhunderte allein, das Deutsche in die Urkunden einströmen ließ (Hammelburger und Würzburger Markbeschreibungen, nur in Abschriften des 9. u. 10. Jli.s erhalten), daß er Wind- und Monatsnamen verdeutschte ( B r a u n e Ahd. Lesebuch I 7) und die altheimischen Heldenlieder sammelte post susceplum imperiale nomen (Einhard). Die Bedeutung dieser Initiative ist noch dadurch bezeichnet, daß weiterhin aus seiner Regierungszeit kein zusammenhängendes dt. Schriftwerk zu nennen ist, das nicht so oder so auf ihn zurückzuführen wäre. Sie alle gewinnen ein chronologisches Rückgrat durch die Kapitularien Karls. Ich führe davon nur auf, was hier in Betracht kommt, und nur die ältesten Belege für die einzelnen Forderungen; vieles bleibt noch zu untersuchen, namentlich bei den Glossen. Voran stehe a) das Zeugnis Adetnars, Hist. II 8 (MGH., Script. IV, 117): Rex Carolus iterum α Roma anno 787 artis grammaticae et compu'atoriae magistros secum adduxit in Franciam et ubique Studium litterarum expandere iussit. b) die Admonitio generalis von 789 ( B o r e t i u s Capit. reg. Francor. I Nr. 22): c. 55: die Priester sollen die Kanones kennen, die offizielle Sammlung der Konzilbeschlüsse, die Karl sich nach 774 in einem authentischen Exemplare vom Papst Hadrian zu beschaffen wußte; c. 61: vor allem den Glauben lesen und lehren; c. 70: die Bischöfe sollen sorgen, daß die katholische Taufe (secundum morem Romanum: Legationis ©dictum von 789, Boretius 23 c. 23, vgl. 119 c. 3) gewahrt, das Vaterunser verstanden und gepredigt, das Gloria patri mit allen Ehren gesungen wird; c. 82 (vgl. 32 und 61): wie und worüber gepredigt werden soll: über den gesamten Inhalt der Symbole, über die einzelnen Sünden und christlichen Tugenden; c) die Bestimmungen des Frankfurter Konzils von 794: 28 c. 52: daß man in jeder Sprache zu Gott beten dürfe; d) des Aachener Konzils von 802, in dem (Boretius

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S. 105) den Geistlichen die Kanones, den Mönchen die Benediktinerregel, den Weltlichen die Gesetze gelesen und interpretiert wurden (vgl.60 c. 3, 116 c. II): 34 c. 3: die Äbte sollen ihre Regel verstehen; 35 c. 30, 36 c. 13f.: alles Volk soll Glauben und Vaterunser auswendig wissen; 36 c. 4: alle Priester sollen an allen Sonn- und Festtagen das Evangelium predigen (vgl. 117 c. II; 119 c. I); c. 10: sie sollen den liber pastoralis (Gregors) kennenlernen; 38 c. 4: Prüfung, wie die Priester die Beichte abnehmen (vgl. 36 c. 21); e) die Bestimmung einer unbekannten Synode, hinter denen von Salz (S03/4) aufgezeichnet: Bor. 119 c. I: der Priester soll die Heilige Schrift kennen; c. 2: er soll den ganzen Psalter auswendig wissen (vgl. 38 c. 2); f) die Agenda für eine Besprechung mit Bischöfen und Äbten von 811: 72 c. 9 über die Versprechungen und Abschwörungen der Taufe (vgl. Nr. 125 S. 247): Hic diligentissime considerandum est et acutissime distinguendum, quae sectando vel neglegendo unusquisque nostrum ipsam suam promissionem et abrenuntiationern vel conservet vel irritam faciat; et qu is sit ille S at anas sive advers arius, cuius opera vel ρ ο τη ρ am in baptismo renunciav i m u s . . . . — Demnach wären mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit anzusetzen: 1) die alten Paternosterübers. von St. Gallen und Freising (diese schon besser und mit Erklärungen) und der Weißenburger Katechismus (mit dem Apostolischen und dem Athanasianischen Glaubensbekenntnis, Gloria, Laudamus und einem Sündenverzeichnis, das c. 82 der Admonitio entspricht), das Urbild der dt. Taufgelöbnisse, des sächsischen und des rheinfränkischen, und das fränk. Original der Monseer Predigten (Hench S. 60 ff.) frühestens 789; — 2) die kurze Gebetformel, die sich in der bairischen und der Fuldaer Beichte, als Prosa des Wessobrunner Gebets und selbständig als 'Fränkisches Gebet' zu uns gefunden hat und die gewissen lat. Meßgebeten entspricht, desgleichen die nur in der bair. Umschrift von Monsee erhaltene, durch dessen Abt, den laut Protokoll desselben Konzils (c. 55) dem Kaiser zugeteilten Hildebold, in den kaiserlichen Wirkungskreis gehörige Schrift De vocatione gentium, die das Recht aller Sprachen vor Gott verficht (Hench S. 40 ff.); damit

aber nicht nur die Verdeutschung von Isidors Traktat De fide caiholica, dessen zweites Buch ebenfalls den Titel De vocatione gentium führt und der die schon in der Admonitio generalis für die Predigt vorgeschriebenen grundlegenden Glaubenslehren bespricht, sondern auch die Matthäusübers. (Hench S. 2 ff.), frühestens 794; — 3) die Interlinearversion der Benediktinerregel, von der gleichfalls ein authentisches Exemplar, schon 787, beschafft war; die Exhortatio ad plebem christianam, die jenes Gebot des Capitulare missorum (35 c. SO) deutsch verkündet und erklärt; die Bibel-, wenigstens die Evangelienglossierungen, soweit sie auf Karl bezogen werden können (G I 271 ff., IV 250 ff. und V 1 ff.); der Archetypus unserer zahlreichen Beichtformeln (s. d.); die Glossierung des Liber pastoralis (G II 162 ff.), die Ubersetzung der Lex Salica (St. X) frühestens 802; — 4) die erklärenden Zusätze zur dritten Abschwörungsfrage der Taufgelöbnisse frühestens 811. Unsicher nach Zeit (etwa 805?), Herkunft und Wirksamkeit sind die Forderungen Boretius c. 117, unter denen aber c. II (Evangelium intellegere seu lectiones libri comitis) Grundlage der Glossen G I 803 ff., c. 13 Librum pastoralem atque librum officiorum auf G II 162 ff., 341 ff. (in der Handschrift vorausgehend) zu beziehen sein könnte. Diese Schriften, größtenteils fränk. (der Isidor, der Weißenburger Katechismus, die Markbeschreibungen, die deutsche Lex Salica) oder fränk. Ursprung erkennen lassend (die Monseer Bruchstücke, die Taufgelöbnisse, Gebete und Beichten, die Glossierungen der Kanones, des Liber pastoralis und officiorum, vielleicht auch des Liber comitis) sind ein Bild der nationalen und kirchlichen Mission Karls und ihrer Ausbreitung über das Reich, aber auch der raschen und hohen Steigerung, deren sie das Deutsche fähig machte: wenn die Matthäusübers. noch Fehler und Schwankungen zeigt, so verblüfft der dt. Isidor, als Sammlung der messianischen Weissagungen ihr alttestamentliches Gegenstück, durch die Sicherheit, mit der so schwierige und abstrakte Gedankengänge fehlerlos in dies glänz- und klangvolle Deutsch hineingetragen werden, wie durch die Regelmäßigkeit einer völlig durchdachten, beobachtungs-

Althochdeutsche Literatur sicheren Orthographie: beides in Deutschland bis auf die Jahrtausendwende nicht wieder erreicht. Hier erst erkennt man die Leistung von Karls Gelehrtenhofe auf seinem eigensten Gebiete: nach den kleinen Ubers, für den immer allgemeineren Gebrauch ist hier ein Werk der theologischen Wissenschaft popularisiert. Gewiß war das nicht möglich, bevor sie Alcuin im Frankenreiche begründete — die Vorlage des Matthäus stammte wahrscheinlich aus England (Hench XIV; Kögel AnzfdA. 19, 1893, 220) —, aber daß seine Schrift De trinitate von 802 Veranlassung gewesen sei, die seines Antipoden zum Ubersetzen heranzuziehen, scheint nach Inhalt und Altertümlichkeit der Sprache gleich ausgeschlossen. Warum wäre dann auch nicht Alcuins eignes Werk übersetzt, das den Inbegriff der Dogmatik der Folgezeit enthielt (Α. Η a u c k , Deutschland und England in ihren kirchlichen Beziehungen 1917. S. 28)? Die Sprache, auch in der bair. Umschrift von Monsee noch kenntlich, zeigt das Fränkische mit Alemannischem gemischt, wie sich das in einem Gebiete, wo, wie im Elsaß, der Franke über dem Alemannen saß, wenigstens für Schriftliches ausbilden mochte. Und da eine Handschrift in Murbach vorhanden war, manches Orthographische und Sprachliche zu seinen Urkunden und Glossen stimmt, so mag dort das Corpus entstanden sein; Identität der Verfasser aber ist abzulehnen. — Die Sprache des fränk. Hofes kann man in den Eiden vermuten, die sich die Könige Karl und Ludwig samt ihren Heeren am 14. Februar 842 zu Straßburg, ebenfalls im Elsaß, schworen. Auch die verlorenen Eide von Coblenz (860) und dem Riesfeld (876) waren deutsch. Der bair. Priestereid ist dem karolingischen Vasalleneid nachgebildet. In M u r b a c h wäre die Literatur Karls auf die Ausläufer jener älteren Wörterbucharbeiten getroffen: Reichenauer Sammlungen werden dort in der Juniushandschrift 25 umgeschrieben und erweitert, ein Exemplar des Abrogans hat sich eingefunden ( e K) und wird mit Affatimglossen kontaminiert (°Jc). In R e i c h e n a u offenbart sich der Einfluß Karls in der genannten Interlinearversion der Benediktinerregel, die uns zeigen kann, wie man dort, sehr im GegenJleallexikon I.

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satz zum Isidor, den Weg zur Verständlichung von der einheimischen Glossierungstechnik aus zu finden suchte. Alle fünf ahd. Interlinearversionen stammen von der Reichenau (s. Interlinearversionen). Mit der Benediktinerregel verwandt sind die nach Lateinkenntnis und Gewandtheit etwas jüngeren 'Murbacher', besser Reichenauer Hymnen, eine Interlinearversion zu Ambrosianischen Hymnen. Noch jünger ist die Psalmenübers., von der nur wenige Bruchstücke erhalten sind. Eine frühe Stufe dieser Reichenauer Art stellen die St. Pauler Lucasglossen dar (G 1, 728—737). Auch das Original des nur in bair. Ab- und Umschrift erhaltenen Carmen ad Deum ist zwischen 796 und 802 in Reichenau entstanden, also noch vor der Interlinearversion der Hymnen und der Benediktinerregel: es bearbeitet einen insularen Hymnentext A e t h e l w a l d s (Bischofs v. Lindisfarne f 740? Vgl. I. S c h r ö b l e r , AnzfdA. 65, 1951, S. 90). Über Alcuin und Karls Hoftafel kam vermutlich auch das Rätsel Volavit volucer sine plumis des Augiensis CCV nach Reichenau, und es lag ihm dann kein ahd. Rätsel (Floug fogal fedarlos), sondern ein ags. zugrunde. (Vgl. G. B a e s e c k e , Das ahd. Reimgebet (Carmen ad Deum) und das Rätsel vom Vogel federlos, 1948.) § 8. Im Westen ist n a c h K a r l s T o d der Schwerpunkt des dt. Schrifttums ganz nach F u l d a gerückt. Das starke geistige Leben, das dort seit der Abtsweihe Η r a b a n s (822) herrschte, kann hier nur erwähnt werden (vgl. ZfdA. 58, 1921, S.241— 279), auch was er selbst als Verwalter, Archivar, Bibliotheksleiter und lat. Dichter geleistet hat. Wir haben hier einen Kirchenfürsten, der selbst in das dt. Schrifttum eingreift: er hat, angeregt vielleicht von der Fuldaer Hs. der Kasseler Glossen, sich in seinen Vorlesungen an die Verdeutschung Isidors gemacht (G 3, 432/33), hat auch ein Traktätchen über die Runen verfaßt und vielleicht die Karlische Beichtformel umgearb. (s. Beichtformeln). Während seiner Zeit als Lehrer an der Klosterschule werden auch unsere Abschrift des Hildebrandliedes und das Fränkisdie Taufgelöbnis entstanden sein; noch als Erzbischof von Mainz läßt er (847) den Beschluß der Synode von Tours erneuern, daß Kenntnis der Canones und Predigt in der Volks3

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spräche von den Geistlichen zu verlangen sei. Die Sprache seiner Kanzlei (oder seines Archivars, des berühmten Historikers und Traditionssammlers Rudolf von Fulda), befreit von den starken ags. und bair. Einschlägen der Frühzeit und in bewußter Regelung über die rheinfränk. Landesmundart erhoben, gewann weitere Geltung und ist zum mindesten von W a l a h f r i d auf der Reichenau weitergeführt worden. (Vgl. B. S c h r e y e r , Eine ahd. Schriftsprache, PBB. 73, 1951, S. 351—386.) Von Η r a b a η , dem Lehrer der höchsten Schule Deutschlands, gingen mannigfache Anregungen aus, vielleicht auf den Helianddichter, sicher auf Otfrid, die beide versuchten, die dt. Dichtung dem neuen Geiste zu erobern. Aber dieser beider Werk hat noch eine Vorstufe. In Fulda lag die Evangelienharmonie des Syrers Tatian in lat. Übers., eine Unziale noch aus der Bibliothek des Bonifatius, die älteste aller erhaltenen lat. Tatianhss. Aber der ahd. Tatian, die Fuldaer Ubers, aus den ersten Dreißigerjahren des 9. Jh.s, geht weder auf diesen Codex noch auf das neben der ahd. Ubers, stehende Latein im Sangallensis zurück. (Vgl. G. B a e s e c k e , Die Überlieferung d. ahd. Tatian 1948.) Hier in Fulda wurde der Tatian unter leitender Mitarbeit Hrabans — wahrscheinlich ist er der sechste Schreiber — in ein dem Wortschatz nach noch recht altertümliches Deutsch übertragen (s. Evangelienharmonien). Eine Schar von Mönchen arbeitete daran mit, so ist auch die Ubers.-Leistung verschieden. Aber in diesen Verschiedenheiten ist der Text das beste Beispiel der Fuldischen Schriftsprache und ihrer Spannweite und gibt als zeitliches und örtliches Mittel die brauchbarste schematische Grundlage der ahd. Grammatik her. Das Werk wirkte fcrt, so in dem as. Stabreimgedicht Heliand und in der Ludwig dem Deutschen gewidmeten Evangelienharmonie des Hrabanschülers Otfrid von Weißenburg. O t f r i d gibt durch die eingefügten Deutungen, schon durch die allegorische Einteilung, seinem Werk nicht sowohl predigthaftes als theologisches Gepräge und kennzeichnet es durch den vorangestellten Brief an seinen Diözesanen L i u t b e r t als ein wohlüberlegtes philologisches und literarisches Experiment: diese Schrift, schwer verständlich in ihren theo-

retischen Teilen, mehrfach geändert und offenbar wachsender praktischer Erkenntnis angepaßt, ist auf lange unsere einzige dt. Poetik, unschätzbar für das Verständnis des Werkes und seiner Form. (Vgl. auch: Otto S p r i n g e r , Otfrid von Weißenburg: Barbarismus et soloecismus, Symposium 1947, S. 54—81.) Otfrid bringt den christl. Stoff, dessen Vertretung Sache des fränk. Reiches geworden war, in die äußere Form, die die Kirche mit sich gebracht hat: nicht nur die Widmungskünste der Akrosticha und Telesticha und die hymnenartigen Refrainstücke, sondern der Vers selbst ist lat. Es ist der lat. Hymnenvers (oder aber: kein Viertakter, sondern ein Sechstakter: Paul H ö r m a n n , Untersuchungen zur Verslehre O.'s. Diss. Freiburg 1939) mit den lat. Hiat- und Synalöphegesetzen, mit der gleichmäßigen Akzentuierung — beides mühsam der Sprache angepaßt und darum besonders bezeichnet — und dem auf irisch-ags. Lateindichtung zurückgehenden Endreim (oder nur „schema homoeoteleuton": Gleichklang der Endungen, vgl. H ö r m a n n S. 42ff.·), dem von nun an die Zukunft gehören sollte. Das Ganze quält sich mühevoll durch Flickreime, Prosabreiten und Gelehrsamkeit hindurch, hin und wieder einen Schimmer alter Variations- oder Stabreimkunst durchblicken lassend. Durch die Widmungen ist die Vollendung der Arbeit auf die Jahre 863—871 festgelegt. Es ist ein Werk so gut wie nur für Geistliche, vielfach auch innerhalb seines erzählenden Teils die Kenntnis des lat. Textes voraussetzend (vgl. D. A. M c K e n z i e , Otfrid v. Weissenburg: Narrator or Commentator, Stanford 1946), mit ausgesprochener Spitze gegen weltliche Poesie, und innerhalb der nun erblühenden geistlichen Dichtung führen von ihm aus Fäden nach allen Seiten. Eine Hs. des Gedichts wird um die Jahrhundertwende nach Freising getragen und ins Bairische umgesetzt, der Schreiber Sigihart, dem die Otfridischen Klänge noch im Kopfe spukten, setzte ein paar Gebetzeilen gleichen Stils darunter; eine Hs. geht nach St. Gallen, und wir finden die Reimart Otfrids wieder in dem halb burlesken Liede auf den Heiligen Georg (vgl F. T s c h i r c h , Wisolf, PBB. 73, 1951, S. 387—422) und in den Versen der Notkerschen Boethiusübersetzung (Sehrt-

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Stardc 240, 23), sie galt also wohl auch in dem lateinisch erhaltenen, ursprünglich aber dt. Lobgesange Ratperts auf den Heiligen Gallus. Audi im Augsburger Gebet und dem Gedichte von Christus und der Samariterin ist sie aus Rheinfranken nach Süden gewandert; in dem Preisliede auf den westfränkisdien König Ludwig und den Normannensieg bei Saucourt (881) nach Westen; der Lorscher Bienensegen zeigt sie in ihrer Heimat. Die stilistische Abhängigkeit freilich ist von sehr verschiedenem Grade, wie denn ja ganz verschiedene Dichtungsgattungen mit dem Otfridischen Reime geschmückt sind: der Zauberspruch, der Hymnus, das Preislied, die beiden letzten mit starkem lateinischem, aber auch spielmännischem Einschlag. In dem hübschen Gedichte von Christus und der Samariterin, das sich unmittelbar mit dem entsprechenden breiten Kapitel Otfrids (II 14) vergleichen läßt, scheint sogar das rasche dialogische Heldenlied noch einmal emporzutauchen, ganz der neuen Welt angepaßt. Selbständiger bleibt der Osten. In der schwungvollen, hymnenhaften Bearb. des 138. Psalms, die wohl auch in Regensburg, der Hauptstadt, und um 900 anzusetzen ist, zeigt sich neben den letzten Resten des Alliterationsverses der deutsche, die Stammsilben nicht beiseite setzende Endreim (wie es bei Otfrid so oft geschieht). Das wird der sein, den er vorfand und den er latinisierend zurechtbog. (Aber auch die Psalmbearbeitung ist von Spuren Otfridischen Stils nicht frei und hat einen Zusatz nach seiner Art erhalten, V. 22—24.) Eine Probe dieses dt. Verses, der dann mit dem Verfall der Endsilben im 11. Jh. wieder durchschlagen konnte, gibt das Petruslied, und es ist wohl möglich, zumal es fränkische Spuren zeigt, daß es in einer früheren Gestalt von Otfrid gekannt war: das Kyrie eleison seines Refrains war, wie auch das Ludwigslied verrät, längst der alte Gemeindegesang (vgl. Boretius Nr. 112 c. 34 von 799/800), er ist, indes deutsche Textworte die lat. verdrängen, zum Refrain herabgesunken (H. Fraenkel ZfdA. 58, 1921, S. 41—64); und nun ist das Ganze, obendrein mit Neumen versehen, unser ältestes Kirchenlied geworden, freilich schon eins von großer Ausgeglichenheit und Glätte.

§ 9. Dann ein tiefer und furchtbarer Einschnitt. König Arnulf ist für uns der letzte Karolinger. Sein Zusammenwirken mit Bischof Tuto hatte seiner Hauptstadt Regensburg einen Aufschwung gebracht, der sich als nicht nur für Bau- und Kunsttätigkeit, sondern auch für Bibliothek, Archiv und literarisches Leben segensreich erwiesen hat. Nun folgen Unruhe und Unsicherheit, es folgt die Zeit des Ungarneinfails, dessen Zerstörungen tausend Traditionen abreißen, Mut und Sinn für literarisches Tun darniederlegen. Der Schwerpunkt des Reiches rückt in ein fernes, fremdes Sprachgebiet, und so wenig ist noch immer die sprachliche Formung der christlichen Geisteswelt selbstverständlich deutsch geworden, daß das hd. Schrifttum nicht von einem nd. aufgenommen und fortgesetzt wird: d i e „ O t t o n i s c h e L i t e r a t u r " beginnt von neuem mit dem Latein (wobei vielleicht auch Gründe der Reichseinheit mitspielen, weil man weder durch Hochdeutsch noch durch Niederdeutsch einen Reichsteil ausschließen wollte). Aber unter der Decke dieses Lateins schimmert häufig Deutsches durch, nicht nur da, wo es auch im Lautlichen neben das Latein tritt: in dem Frühlingseingang eines Liebesantrages aus der Cambridger Liederhandschrift, der eine Nonne zur Heldin hat, halb deutsch und halb lateinisch und überdies großenteils in der Hs. ausgekratzt ist. Das Stückchen ist wie der Liebesgruß des Ruodlieb (Fragm. XVII) auch wichtig für die Geschichte des Minnesangs. Auf das gemeingerm. Erbe im Ruodlieb, das Entsprechungen im Norden bestätigen, hat H. N a u m a n n hingewiesen (Genzmer-Festschrift Edda, Skalden, Saga, 1952, S, 307—324). Ein germanisches tal, ein Fürstenstammbaumgedicht auf die Ottonen, haben wir im Modus Ottinc (vgl. H. N a u m a n n , DVLG. 24, 1950, S. 470 —482). Ebenfalls eine unmittelbare Beziehung zu den Ottonen hat das in der Cambridger Liederhandschrift erhaltene Gedicht De Heinrico, das eine der Begegnungen Ottos III. mit Heinrich dem Zänker von Bayern und dessen Sohn Heinrich (dem künftigen Kaiser) nach dem Tode des Zänkers in den Jahren 996—1002 behandelt, vielleicht schon als Wahlpropaganda für Heinrich II. (Vgl. E. O c h s , Ambo vos aequivoci, ZfdPh. 66,1941, S. 10—12; Math. 3·

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Althodhdentsdhe Literatur

U h 1 i r ζ , Der Modus de Heinrico u. s. geschichtlicher Inhalt, DVLG 26, 1952, S. 153—161; A. D i t t r i c h , De Heinrico, ZfdA. 84, 1952/53, S. 274—308.) In Ottonisdie Zeit werden auch der rheinfränkische Psalter und das Trierer Capitulare (inhaltlich ein von Ludwig dem Frommen 818/19 erlassener Zusatz zu den Volksrechten) gehören, beides archaisch anmutende Interlinearversionen, desgl. die Altdeutschen Gespräche (s. o. § 6). Diese Denkmäler stehen für uns außer Zusammenhang mit den Ottonen, bedeuten aber vielleicht, daß sich das Rhein- und Mittelfränkische inzwischen in die Vorzugsstellung schiebt, die es im 11. und 12 Jh. innehat. § 10. Inzwischen bereitet sich unabhängig und fern vom Ottonischen Reichsmittelpunkt der großartige Abschluß der ahd. Uberlieferung vor. Wir wissen, daß N o t k e r die in der St. Galler Bibliothek vorhandene Interlinearversion seiner Ordensregel gekannt hat (W. Β e t ζ , Deutsch und Lateinisch, 1949, S. 215), aber wir wissen von keinem Vorbild, nach dem Notker Labeo von St. Gallen auf seine kommentierenden Verdeutschungen verfallen wäre. Wir wissen nur, daß nirgends der Segen des Hl. Benedikt so reich, der antikmenschliche Geist im christlich-mönchischen Bereich so mächtig gewesen ist wie dort; wir wissen, daß dort früh die Sequenz erblühte, die die abendländische Welt erobern sollte, aus dem Tropus die Anfänge des Dramas erwuchsen, dort auch prachtvolle Hymnen, nicht nur lat., gedichtet wurden — Tuotilo konnte es in beiden Sprachen —; und wir hören durch die unvergleichlich reiche geschichtliche Hausüberlieferung hundert Kleinigkeiten des wirklichen und PhantasieLebens, wenn uns nicht schon die durch alle Jh.e beieinander gebliebene Bibliothek den wundervollen Sinn dieser Stätte predigt. In der Klosterschule ist seit den Tagen des Sangallensis 911, der Afcrogans-Abschrift b, der Grund gelegt zu jenen Leistungen, wie die mannigfachen Glossierungen, hier auch antiker Schriftsteller, erweisen (s. Glossen); enzyklopädischer Weite ist vorgearbeitet im Salomonischen Wörterbuch (G 4, 27 ff.); daß in der Schule auch sonst vor und neben Notker und gerade auch in seinem philosophischen Gebiete verdeutscht wurde, ergibt sich aus seinen eigenen Worten, aus

den Worten Ekkeharts IV. und aus der „Schularbeit" (St. XXVI), die freilich nur einzelne Sätze und Satzteilchen umfäßt; und der Entsagung eines hingegebenen Lehrerherzens verdanken wir die Übers, oder eigentlich erklärenden Ausgaben Notkers: der Bisdiof Hugo von Sitten hatte Höheres mit ihm im Sinne, er erhoffte gelehrte, wissenschaftliche Arbeiten von ihm, d. h. solche, die ihn unter die Toten gereiht hätten, während wir nun die gleitende Musik einer lebendig schönen Sprache, die fern ist vom klassisch-lat. Stil, vielmehr oftmals geschmückt mit den unverlomen Mitteln der alten Kunst, und, fast mit Erschrecken, zuweilen die Redeweise des täglichen Lebens, sogar mit gelegentlichen Sprichwörtern und Versehen, wahrnehmen, Jener Brief an Bischof Hugo von Sitten (Piper I, 859—861) läßt ihn uns so deutlich sehen wie sonst nur Otfrid der Brief an Liutbert. Der Bischof wollte Notker bestimmen, sich ganz den antiken Autoren zu widmen. Aber Notker sagt, es müßten in der Schule vor allem die kirchlichen Bücher gelesen werden, und nur zu ihrer Erklärung ziehe er jetzt noch Aristoteles (in der Boethius-Ubers.) oder Cicero oder einen anderen Philosophen heran. Früher habe er schon des Boethius Trost der Philosophie übersetzt, des Marcianus Capeila Buch von den sieben freien Künsten Hochzeit der Philologie und des Merkur, die Kategorien und Hermeneutik des Aristoteles (nach Boethius) und den Psalter, ihn zugleich nach Augustin erklärend. An lat. Werken erwähnt er noch seine Rhetorik (mit dt. Beispielen, darunter Versen) und seinen Computus, eine Anleitung zur Zeitberechnung. Verloren sind von seinen in diesem Brief erwähnten Verdeutschungen: Boethius De trinitate, die Disticha Catonis, die Bucolica Vergils, die Andria des Terenz, Buch III—IX des Marcianus Capeila, die Principia arithmeticae (vermutlich nach des Boethius Institutio arithmetica), Gregors Moralia in lob, die er an seinem Todestag beendete (und die auch anderweit in St. Gallen behandelt sind: G 2, 320/21). Nicht erwähnt in dem Brief sind: De syllogismis, De partibus logicae (mit dt. Sprichwörtern), das Bruchstück einer Logik und die nicht in lat.-dt. Mischprosa abgefaßte, sondern nur auf Deutsch hauptsächlich den Boethius wiedergebende Schrift

Althodidentsdie Literatur

De musica. Die Gelehrsamkeit und freie Interessenweite, die aus dieser Auswahl spricht und die Zeugnis gibt, wie vieles und Hohes die Theologie von den Vorwissenschaften verlangte, ist großenteils ein Erbe des Remigius von Auxerre und seiner Kommentare. Außer von Remigius ist Notker von Victorinus (zu Ciceros Rhetorik und Topik) und Augustin abhängig. Er verknüpft gern mehrere und bereichert sie, leicht vom Deutschen ins Lateinische und wieder ins Deutsche übergehend, mit starkem pädagogischem Zielbewußtsein mit eigenen Mitteilungen, besonders aus Geschichte, Etymologie und Logik, zuweilen den Lernstoff über dem gegebenen Texte eigens systematisierend, und wir bewundem das erstaunliche Verständnis dieser ζ. T. so schwierigen Texte, die Überlegungen, die sich etwa in Zerteilung langer Perioden, in Umordnung poetischer Wortfolge, in der Auswahl unter mehreren Übersetzungen, auch in der größeren oder geringeren Freiheit der Wiedergabe bekunden. Besondere Aufmerksamkeit wendet er auch dem Lautlichen und Orthographischen zu. Auch hier liegt eine wissenschaftliche Leistung Notkers: die Lautwiedergabe, die von einer Feinheit des Beobachtens zeugt, wie sie heute nur ein Fachmann aufbrächte, und uns so ein unschätzbares Bild wirklicher Sprache erhalten hat. Wir spüren in allem, wie dieser Mann sich selbst eingesetzt hat: Quae dum fuerint ad. vos perlata, me praesentem aestimate sagt er in jenem Briefe. Und alles dies, nach dem Worte seines Schülers Ekkehard IV. propter caritatem discipulorum. Wenn es Sinn und Aufgabe des ahd. Schrifttums ist, das Antike und Christliche in der Volkssprache zu vermitteln, so ist das von Notker erfüllt; bei ihm allein, wenn man von wenigen Glossaren absieht, kommt auch das Antike zur Geltung, überwindet das eng Kirchliche. Um so tragischer, daß diese breiteste, kraft- und lebensvollste Leistung mit seinem Tode zusammenbrach. Es zieht die cluniazensische Askese ein, und die Pflanzung des heiligen Gallus verdorrt, mit ihr alle Keime in Notkers Schule. Man empfindet noch einmal das ungeheure Ubergewicht des Lateinischen gegenüber dem werdenden Deutsch.

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Nur e i n Werk Notkers leitet, wenn wir von den nun unliterarisch werdenden Glossen absehen, in die neue Zeit hinüber, der Psalter, das Buch, das zugleich zu gottesdienstlichen Zwecken gebraucht werden konnte. Bis ins 14. Jh. reichen Bearbeitungen. Aber schon die Ambras-Wiener Hs. des 11. Jh.s, bair., und mit den angefügten Predigten, Glauben und Beichten (St. XXVIII—XXXIII) vielleicht in Wessobrunn entstanden, hat das Weltliche, Humanistische darin beseitigt, nur das Theologische bestehen lassen, und an Stelle der alten Schulglossierung, die vielleicht Ekkehard IV. zugehört, ist eine Übers, der lat. Worte getreten, alles ziemlich liederlich und gedankenlos. So ist der eigentliche Ausklang der Notkerschen Art vielmehr die Paraphrase und Ausdeutung des Hohenliedes, die Abt Williram zwischen 1059 und 63 in dem oberbayrischen Ebersberg schrieb (hg. v. Seemüller 1873). Aber auch da ist die Ausdeutung theologisch geworden. Texte: Helmut A r η t ζ u. Hans Z e i s s , Die einheim. Runendenkmäler d. Festlandes (1939; Ges. Ausg. d. älteren Runendenkm. 1). Gg. B a e s e c k e , Die dt. Worte d. german. Gesetze. PBB.59 (1935) S. 1—101. D . v . K r a 1 i k , Die dt. Bestandteile d. Lex BaiuOariorum. N. Arch. d. Ges. f. ältere dt. Geschkd. 38 (1913) S. 13—55; 401—449; 581—624. F . B e y e r l e , Die Gesetze d. Langobarden (1947). Elias von S t e i n m e y e r u. Ed. S i e v e r s , Die ahd. Glossen. Bd. 1—5 (1879—1922): zit. G. Ders., Die kleineren ahd. Sprachdenkmäler (1916): zit. St. Mit Kommentar: Karl M ü l l e n h ο f f u. Wilh. S c h e r e r , Denkmäler dt. Poesie u. Prosa aus d. 8.—12. Jh. 3. Ausg. hg. v. E. v. S t e i n m e y e r . Bd. 1—2 (1892). Auswahl mit Wb. u. Lit.angaben: Wilh. B r a u n e , Ahd. Lesebuch (1875; 12. Aufl. bearb. v. Karl H e l m 1950). Hans N a u m a n n u. W. Β e t ζ , Ahd. Elementarbuch (1937; 2. Aufl. 1954.) Einzelausgaben: Der ahd. Isidor hg. v. George A. H e n c h (1893; QF. 72) The Monsee Fragments hg. v. George Α. Η e η c h (1890). Die Murbacher Hymnen hg. v. Ed. S i e v e r s (1874). Tatian hg. v. Ed. S i e v e i s (1872; 2. neubearb. Aufl. 1892; Bibl. d. ältest. dt. Lit.-Denkm. 5). Otfrid hg. v. Joh. Kelle. Mit Gram. u.Wb. Bd. 1—3 (1856—81). Otfrid hg. v.Oskar E r d m a n n . M i t Kommentar (1882). 2. Aufl. hg. v. Edw. S c h r ö d e r . Nur Text u. Wb. (1934; Sammig. germanisL Hilfsm. 1). Notker hg. v. Paul P i p e r . Bd. 1—3 (1883—95; GermBüchschatz 8/10). Neue Ausg. hg. ν. Ε. H. S e h r t u. Taylor S t a r c k , bisher: Boethius (1933/34), Marcianus Capella (1935), Psalm Z—L (1952): AdtTextbibl. 32/34. 37. 40. Notkers Psalmen nach d. Wiener Hs.

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hg. v. Rieh. Η e i η ζ e 1 u. Wilh. S c h e r e r (1876). Das Adelsberger ahd. Vaterunser hg. v. O. L. J i r i c ζ e k. PBB. 43 (1918) S. 470— 489. Williram hg. v. J. S e e m ü 11 e r (1878; QF. 28). Faksimiles: M. E n n e c c e r u s , Die ältesten dt. Sprachdenkmäler in Lichtdrucken (1897). E. P e t z e t u. O. G l a u n i n g , Ahd. Schriftdenkmäler d. 9. bis 11. Jh.s (1910). E. v. E c k a r t , Die Hs. d. Wessobrunner Gebets. Faks.-Ausg. Geleitwort von Carl v. K r a u s (1922). Gg. B a e s e c k e , Lichtdrucke nach ahd. Hss. (1926). Ders., Der dt. Abrogans u. d. Herkunft d. dt. Schrifttums (1930). Ders., Der Vocabularius Sti Galli u. d. ags. Mission (1933). Ders., Das Hildebrandlied (1945). Gerh. E i s , Ad. Hss. 41 Texte u. Taf. mit e. Einl. u. Erl. (1949). Bibliothekskataloge: G. B e c k e r , Catalogi bibliothecarum antiqui (1885). Theod. G ο 111 i e b , Mittelalterl. Bibliothekskataloge Österreichs. Bd. 1—2: Niederösterreich (1915—29). P. L e h m a n n , Mittelalt. Bibliothekskataloge Deutschlands u. d. Schweiz. Bd. 2, 1: Die Bistümer Konstanz u. Chur (1918); Bd. 2, 2: Bistum Mainz, Erfurt (1928); Bd. 3 (bearb. v. P. R u f ) 1: Bist. Augsburg (1932), 2: Bist. Eichstätt (1933), 3: Bist. Bamberg (1939). Wörterbücher: Ebh. Gottl. G r a f f , Ahd. Sprachschatz oder Wb. d. ahd. Sprache. T. 1—6 [nebst] Index v. H. Maßmann (1834 -1846). Oskar S c h a d e , Altdt. Wb. Bd. 1-2 (2. Aufl. [Neudr.] 1882). Th. F r i n g s u. E. K a r g - G a s t e r s t ä d t , Ahd. Wb. 1951 ff.): das auf Grund der Vorarbeiten von E. v. S t e i n m e y e r lange erwartete neue vollständige ahd. Wb., das 120 Liefgn. in 5—6 Bdn. umfassen u. e. lat.-ahd. Index bringen wird. Spezialwörterbücher: F. K l u g e , Altdt. Sprachgut im Mittellat. (Proben e. Ducangius theodiscus>. (1915; SBAkBln. 1915, 12). D. ν. Κ r a 1 i k u. F. Β e y e r 1 e , s. o. unter Texte. Isidor, Monseer Fragmente, Murbacher Hymnen, Tatian, Otfrid, Williram: den o. unter Einzelausgaben genannten Ausgaben sind vollst. Glossare beigegeben. Friedr. Köhler, Lat.-ahd. Glossar zur Tatianübers. (1914). Nils L i n d a h l , Vollst. Glossar zu Notkers Boethius: De consolatione philosophiae. Buch 1. Diss. Uppsala 1916. Alfr. Karl Dolch, Notker-Studien. Τ. 1—3. Lat.-ahd. Glossar u. ahd.-lat. Wörterverz. zu Notkers Boethius: De consolatione philosophiae. Buch I (New York/Lpz 1951/52; OttendMemSer. 16). Lehnbildungen d. Abrogans (u. d. Samanunga): W. Β e t ζ , Der Einfluß d. Lat. auf d. ahd. Sprachschatz. 1. Der Abrogans (1936; GermBibl. II, 40, 1). Ders., Deutsch u. Lat. Die Lehnbildgn. d. ahd. Benediktinerregel (1949). Gesamtdarstellungen: Johann K e l l e , Gesch. d. dt. Lit. von d. ältesten Zeit bis zur Mitte d. 11. Jh.s. Bd. 2: bis zum 13. Jh. (1892—96). Rud. Κ ο e 3 e 1, Gesch. d. dt. Lit. bis zum Ausg. d. MA. s. Bd. 1, Τ. 1. 2.

(1894—97). Ders. u. W. B r u c k n e r , Ahd. u. andd. Lit. PGnrndr. 2. Aufl. Bd. 2, 1 (1901 -1909) S. 29—160. Gustav E h r i s m a n n , Gesch. d. dt. Lit. bis zum Ausg. d. MA. s. T. 1.: Die ahd. Lit. (1918; 2. durchges. Aufl. 1932; HdbdtUnt. 6,1). Wolf von U η w e r t h u. Theod. S i e b s , Gesch. d. dt. Lit. bis zur Mitte d. 11. Jh.s (1920; Grundr. d. dt. Litgesch.). Gg. B a e s e c k e , Vor- u. Frühgesch. d. dt. Schrifttums. 1. Vorgesch. (1940) 2. Frühgesch. 1. Liefg. (1950). 2. Liefg. hg. v. Ingeborg S c h r ö b l e r (1953). Julius S c h w i e t e r i n g , Die dt. Dchtg. d. MA.s ([1941]; HdbLitwiss.). Herrn. S c h n e i d e r , Heldendditg., Geistlidiendchtg., Ritterdditg. (1925; 2. Aufl. 1943; Gesdi. d. dt. Lit. 1). Η. Bach, Middelalderens tyske Literatur (Kobenhavn 1948). Helmut de B o o r , Die dt. Lit. von Karl d. Gr. bis zum Beginn d. höf. Dchtg. 770—1170(1949; de Boor/Newald, Gesch. d. dt. Lit. 1). Ludw. W o l f f , Das dt. Schrifttum bis zum Ausg. d. MA. s. Bd. 1: Von d. germ. Welt bis zum diristl.-dt. MA. (1951). H. de Β ο ο r, Von d. Karoling. zur Cluniazens. Epoche, in: Annalen d. dt. Lit. Hg. v. H. O. Burger (1952) S. 37—97. Albert Fuchs, Les debuts de la litterature allemande du VIIIe au XIIe siecles (Paris 1952; Publ. de la Fac. des Lettres de l'Univ. de Strasbourg). Hans N a u m a n n , Dt. Dichten u. Denken v. d. german. bis zur staufischen Zeit (2. Aufl. 1952; SammlGösch. 1121). Ein zusammenfass. Forsdiungsberidit mit dem Schwergewicht auf der Sprache: W. B e t z , Das gegenwärtige Bild des Ahd. DtschuntArbh. 1953, 6. Spezialliteratur: bis 1932 bzw. 1948 bzw. 1950 bei E h r i s m a n n , d e B o o r und B r a u n e - H e l m ; außerdem (soweit nicht oben an einschlägiger Stelle schon erwähnt):H. L ö w e , Arbeo υ.Freising.Rhein. Vjbl. 15/16 (1950/51) S. 87—120. Brigitta S c h r e y e r , Die ahd. Glossen zu Orosius (Masch.) Diss. Halle 1949. H. T h o m a s , Altdeutsches aus Londoner Hss. PBB. 73 (1951) S. 197—217. W. S t a c h , Aus neuen Glossenfunden, PBB. 73 (1951) S. 271/2; 346—351. T. S t a r c k , Unpublished OHG Glosses to Boethius a. Frudentius, in Medieval S t u d i e s in honour of I. D. Μ. Ford, S. 301—317. (Cambridge Mass. 1948). W. K r o g m a n n , era duoder, ZfdA. 83 (1951) S. 122—125. H. W. J. Κ r ο e s , Hera duoder. GRM. 34 (1953) S. 75/76. Dem., Die Baiderüberlieferung u. d. 2 Merseb. Zauberspr. Neophil. 35 (1952) S. 201—213. J. K n i g h t B o s t o c k , The second Merseburg charm ArkfNordFil. 64 (1949) S. 245. L. L. H a m m e r i c h , Die Trutzreden Hiltibrants und Hadubrants. Neophil. 34 (1951) S. 82—86. P. L e h m a n n , Zu Hrabanus Maurus u. Fulda, SBAkMchn 1950. A. T a y l o r , „Dignitas" in Otfrid, Ad Liutbertum, MLN 64 (1949) S. 144. Hugo Kuhn, Hrotsviths dichter. Programm. DVLG. 24 (1950) S. 181—196. G. Ε i s , Ζum Heldenlied υ. Überfall a,uf Lüttich. GRM. 33

Althochdeutsche Literatur— Altsächsisdie Literatur (1951/52) S. 153—156. O. S c h u m a n n , Statins u. Waltharius, Panzerfestsdirift (1950) 12—19. Ders., Waltharius-Lit. seit 1926. AnzfdA. 65 (1951) S. 13—41. Ders., ZumWaltharius. ZfdA 83 (1951) S. 12—40. K. S t a c k m a n n , Antike Elemente im Waltharius. Euph. 50 (1950) S. 231—248. W. Β Θ t ζ , Die Doppelzeichnung d. Gunther im Waltharius u. d. dt. Vorlage. PBB. 73 (1951) S. 468—471. W. v. d. S t e i n e n , D. Waltharius u. s. Diditer, ZfdA. 84 (1952) S. 1—47. Κ. Η a u c k, Das Walthariusepos d. Bruders Gerald v. Eichstätt. GRM. 35 (1954) S. 1—27. F. G e n z m e r , Wie d. Waltharius entstanden ist.GRM. 35 (1954) S. 161—78 - (wie der für W. als „Urdichtung"!). I. S c h r ö b ler, Die St. Galler Wissenschaft um d. Jahrtausendwende u. Gerbert υ. Reims. ZfdA. 81 (1944) S. 32—43. Dies., Interpretatio Christiana in Notkers Bearb. v. Boethius' Trost der Philosophie. ZfdA. 83 (1951) S.40—57. Dies., Notker... als Übers, u. Komment, v. Boethius, De Consolatione... (1953; Hermaea. NF. 2). M.-L. D i t t r i c h , Willirams υ. Ebersberg Bearbeitung der Cantica Canticorum, ZfdA. 82 (1948) S. 47—64. I. Ο 11, hat. Williramhandschrift d. 12. Jh.s, ZfdA. 83 (1951) S. 57—59. Georg Baesecke — Werner Betz Altnordische Literatur s. Skandinavische Literaturen. AIt$ächsisdie Literatur § 1. W e l t l i c h e D i c h t u n g in as. Sprache ist fast gar nicht überliefert. Aber aus der isl. Dichtung läßt sich erschließen, daß auch die Sachsen das Heldenlied als mündlich überlieferte Poesie pflegten. Die merowingische Siegfrieddichtung ist dem Norden durch as. Heldenlieder vermittelt worden. Noch die Quedlinburger Annalen (um 1100) erwähnen, daß Lieder aus der Stoffwelt der Dietrich- und Ermenrichsage in Niederdeutschland gesungen wurden (vielleicht humanist. Fälschung, s. R. Holtzmann, Die Quedlinburger Annalen. Sachsen u. Anhalt 1, 1925, S. 64—125). Wie die Erforschung der jüngeren Eddalieder gelehrt hat, ist der dän.-ndd.-ndl. Raum auch für die spätere Weiterdichtung der Heldensage von Bedeutung gewesen. In diesem Gebiet lebte im 11./12. Jh. das „novellistische Spielmannslied", das als Vorstufe dän. Balladen und der eddischen Elegien zu erschließen ist. Vielleicht lebte sogar der Stabreimvers noch bis ins 11. Jh. Daneben muß es aber auch schon Endreimdichtungen gegeben haben; denn die Form der gereimten epischen Langzeile ist wahrscheinlich im 12. Jh. von Niederdeutschland aus in Dänemark bekannt geworden.

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Überliefert sind uns von diesem Reichtum nur einige kleine magische Sprüche, von denen der Wurmsegen und der gegen Spurihalz (eine Pferdekrankheit) nodi im 9. Jh. aufgezeichnet worden sind. Dem Wurmsegen fehlt noch die beispielhafte Erzählung der entstehungsgeschichtlich späteren zweigliedrigen Segen. Er hat ein nur gering abweichendes ahd. Gegenstück und ist vermutlich in Westfalen (hers = „Roß") aus dem Hd. übersetzt; ebenso der SpurihalzSegen. Letzterer ist zweigliedrig und hat bereits eine christl. Beispielserzählung. — Außer diesen beiden westf. sind in einer Trierer Hs. zwei Segen aus dem 10. Jh. überliefert, deren erste Niederschrift wohl aus dem Ende des 9. Jh.s stammt. Die Trierer Sprüdie sind zweiteilig. Der gegen Nasenbluten (ad catarrum) hat Endreim, kann also nicht sehr alt sein. Die Prosa des zweiten gegen Pferdekrankheiten ist noch jünger. Die hd. Sprachform des letzten geht auf eine nd. Vorlage zurück, wenigstens in der ersten Hälfte der Formel. In ihrer Struktur steht sie dem 2. Merseburger Zauberspruch nahe, aber statt der german. Gottheiten werden in der Vorbilderzählung schon Christus und Stephanus angerufen. Anord. Dichtung as. Ursprungs: W. Mohr, Entstehungsgesch. u. Heimat d. jüngeren Eddalieder südgerman. Stoffes. ZfdA. 75 (1938) S. 217—280. Ders., Wortschatz u. Motive d. jüngeren Eddalieder mit südgerman. Stoff. ZfdA. 76 (1939) S. 149—217. Hans K u h n , Westgermanisches in d. anord. Verskunst. PBB. 63 (1939) S. 178—236, bes. S. 204. — Η. Η e m ρ e I, Sächs. Nibelungendichtg. u. sächs. Ursprung d. Thidreksaga, in: Edda, Skalden, Saga. Festschr. z. 70. Geb. v. Felix Genzmer (1952) S. 138—56. — Spurihalz: Elias von S t e i n m e y e r , Die kleineren ahd. Sprachdenkmäler (1916) S. 372. Wilh. B r a u n e , Ahd. Lesebuch, bearb. v. Karl H e l m (1949) Nr. XLV, A. — Wurmsegen: S t e i n m e y e r , Sprachdenkm. S.374; B r a u n e , Leseb. Nr. XXXI, 4a. — Trierer Sprüche: S t e i n m e y e r , Sprachdenkm. S. 367. 378. F. W. E. R o t h und E. S c h r ö d e r , Althochdeutsches aus Trier, ZfdA. 52 (1910) S. 169—182; B r a u n e , Leseb. Nr. XLV B. § 2. Die as. P r o s a und Buchdichtung beginnt praktisch erst mit der Christianisierung der Sachsen. Denn aus heidnischer Zeit sind nur zwei kurze Runeninschriften zu kultischen Knochenritzungen auf den sog. Weserrunen (ca. 6 Jh.) bekannt, die trotz verdächtiger Fundumstände und archäolo-

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gischer Bedenken nach A. Laschs sprachlichen und K. Schneiders runologischen und religionsgeschichtlichen Untersuchungen doch echt zu sein scheinen. — Das As. Taufgelöbnis ist zum Zwecke der Sachsenmission im Mainzer Missionsbezirk zwischen Elbe, Harz und Weser von einem Angelsachsen aus dem anglischen Teil Englands dürftig ins As. übersetzt. Der Missionar hat im allgemeinen nur die Stammsilben dem sächs. Lautstand angepaßt, Vor- und Nachsilben dagegen in seiner ags. Mundartform stehen lassen. Die wenigen hd. Spuren können von einer fränk. Vorlage stammen oder sind von einem hd. Abschreiber hineingebracht worden. Im Abschwörungsteil hat das Formular einen auf sächs. Götter bezüglichen Zusatz, die Glaubensfragen dagegen sind auf das Allernotwendigste beschränkt. Die as. Formel wird in der Hauptbekehrungszeit entstanden sein, also 776 oder kurz danach, jedenfalls vor der Admonitio Generalis Karls d. Gr. von 789, die energisch die Anpassung des Taufritus an den Ordo Romanus forderte. — Das Altwestfälische Taufgelöbnis geht mit den afränk. Formeln auf die gleiche dt. Ubers, zurück und ist in dogmatischer Hinsicht den Forderungen der karolingischen Theologie angepaßt, indem in der 3. Abschwörungsfrage die verschiedenen Bedeutungen von pompa genau umschrieben und das Glaubensgelöbnis weitgehend an den textus receptus angeglichen wurde. Der nd. Übersetzer läßt eine gewisse Selbständigkeit erkennen und bemüht sich, den Text zu glätten. Die Übers, gehört hinsichtlich der kirchlichen Terminologie in die Kölner Erzdiözese, sprachlich genauer ins westliche Westfalen. Vermutlich ist sie um 850 in Kloster Wenden entstanden. Dorthin weisen auch die Formulierung und starke Betonung des Auferstehungsglaubens, die in jenem Essener Ordo ad dandam poenitentiam wiederkehrt, in den die Altwestfälische Beichte eingebettet ist (s. Beichtformel). Diese as. Übers, eines detaillierten Sündenregisters steht der von B a e s e c k e erschlossenen ahd. Urfassung textlich noch verhältnismäßig nahe, hat aber von ihrer fränk. Vorlage schon aus der Benediktinerregel stammende Interpolationen übernommen, wodurch die Beichte an klösterliche Verhältnisse an-

gepaßt wurde. Der awestfäl. Text ist nicht nur eine gute Übers., sondern zugleich eine Bearb., die sich durch eine Reihe von Zusätzen und Auslassungen merklich von ihrer erschließbaren fränk. Vorlage abhebt. Sie ist wahrscheinlich im zweiten Viertel des 9. Jh.s in Kloster Werden entstanden und in einer Essener Abschrift des 10. Jh.s überliefert. — Ins nordwestlichste Westfalen gehört der Niederdeutsche Glaube, eine Übers, des Apostolischen Symbols mit erweiternden Zusätzen. Er beruht aber nicht auf der lat. Formel des Honorius Augustodunensis, wie vielfach angenommen wurde, sondern geht auf eine ältere mfränk. und letztlich obd. Form des 9./I2. Jh.s zurück. In den Artikeln von der Höllen- und Himmelfahrt Jesu weicht die nd. Fassung völlig von Honorius ab. Sie ist um 1200 entstanden und steht deshalb sprachlich schon an der Grenze zum Mnd. Der Text ist nur durch einen fehlerhaften Abdruck Boxhorns (17. Jh.) aus einer verlorenen Heidelberger Hs. bekannt. — Welche Gewandtheit die Ubersetzungsprosa in Westfalen erreichte, erkennt man an der Übertragung der Einleitung von Bedas AllerheiligenHomilie, die nach Ausweis der Sprachform am Ende des 10. oder Anfang des 11. Jh.s in Essen niedergeschrieben wurde. Sie ist eine in sich abgerundete kleine Erzählimg vom Ursprung des Allerheiligenfestes, die als Lektion in der Liturgie der Allerheiligenmette ihren Platz hatte. Das Denkmal gehört neben den drei Wessobrunner Predigtfragmenten zur ältesten dt. homilet. Lit. Nicht nur seelsorgliche Antriebe, sondern auch die Bedürfnisse des Lateinunterrichts in den Klosterschulen führten zur Ausbildung as. Prosa. Hier ging der Weg von der Glossierung über die Interlinearversion zur freien Übertragung. Der größte Teil der as. Glossen ist Werdener Ursprungs. Die in diesem Kloster entstandene Prudentiusglossierung ging aus von einer hd. Vorlage, die den erhaltenen mfränk. Prudentiusglossen engst verwandt war. Der Bestand wurde dann aber in Werden durch Hinzufügung eigener as. Glossen vermehrt. Auch die ursprünglich aus Werden stammenden Eltener und die Essener Evangeliarglossen haben hd. Vorlagen und können nicht ohne weiteres als Werden-Essener Denkmäler gewertet werden. Ob die Sf.

Altsächsische Literatur

Pettier Bibel- und Mischglossen ebenfalls aus Werden stammen, wie aus paläographischen Gründen vermutet worden ist, wird sich erst durch eine genaue sprachliche Untersuchung klären lassen. Die Vergilglossen einer heute in Oxford befindlichen Hs. stammen ebenfalls aus Westfalen. Sie gehören in den Kreis der Hermeneumata und stammen ζ. T. aus einer ags. Vorstufe der Corpusglossen, der Erfurt-Epinaler Glossen und der Glossen des Trierer Cod. R III 13, der übrigens auch auf eine nd. Vorlage zurückgeht (s. Glossen). War ein genaues Textverständnis erforderlich, so konnte die Glossierung einzelner Worte zur zwischenzeiligen Wort-für-WortUbers. erweitert werden. Gerade der Psalter wurde mehrfach auf diese Weise übersetzt, weil er im Gottesdienst, im Leben der Mönche und bei der Ausbildung der Geistlichen bedeutsam war. Die as. Psalmenbruchstücke, die aus den Buchdeckeln eines jetzt in Lublin befindlichen dt. Druckes losgelöst wurden, sind am Ausgang des 9. Jh.s in einem Kloster wahrscheinlich des Bistums Paderborn von mehreren Schreibern aus einer — Mitte des 9. Jh.s — in Westfalen entstandenen Verniederdeutschung einer hd. I n t e r l i n e a r v e r s i o n (s. d.) abgeschrieben worden. Der Text folgt dem Psalterium Gallicanum. Die as. Übers, ist längst nicht so gründlich wie die der Beichte oder des altwestfälischen Taufgelöbnisses. Sie lehnt sich eng an die Vorlage an, und zahlreiche hd. Wörter oder Wortformen, die im nd. Kloster verständlich waren, hat man stehen lassen. Hoch über dieser schlechten Interlinearübers. stehen die as. Bruchstücke einer Psalmenauslegung, die auf zwei stark zerstörten Blättern aus Gemrode überliefert sind. Die Arbeit muß im 10./11. Jh. im südlichen Ostfalen entstanden sein. Eine dem as. Text genau entsprechende lat. Fassung ist bisher nicht nachgewiesen worden. Der nd. Ubersetzer hat es so trefflich verstanden, seine lat. Vorlage frei in ein gutes As. zu übertragen, daß er uns als ein würdiger Zeitgenosse Notkers erscheint. G e s c h ä f t s p r o s a ist hauptsächlich aus den westfäl. Frauenklöstern Freckenhorst und Essen überliefert. Diese AbgabenVerzeichnisse sind zwar literarisch bedeutungslos, aber für die Kenntnis der as. Sprachentwicklung aufschlußreich, vor allem

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die umfänglichere Freckenhorster Heberolle, die in zwei zeitlich verschiedenen Hss. überliefert ist, die auf einer verlorenen älteren fußen. Weserrunen: H. v. B u t t e l - R e e p e n , Funde von Runen mit bildlichen Darstellungen u. Funde von älteren vorgeschichtl. Kulturen (1930). Τ. E. K a r s t e n , Die neuen Runen- u. Bilderfunde aus d. Unterweser (1930). Magnus H a m m a t s t r ö m u. Τ. E. K a r s t e n , Zu den neugefundenen Runeninsdiriften aus der Unterweser (1930). A. Lasch, Voraltsächs. Runeninschriften aus d. Unterweser. Nddjb. 56/57 (1930/31) S. 163—179. W. K r a u s e , Zur Frage d. Echtheit d. Weserrunen. Die Kunde 6 (1938) S. 28f. Georg B a e s e c k e , Vorgeschichte d. dt. Schrifttums (1940) S. 114 ff. Karl S c h n e i d e r , Die germ. Runennamen. Versuch e. Gesamtdeutung. E. Beitr. z. idglgerm. Kultur- u. Religionsgesch. (1954). — Alt westfälisches Taufgelöbnis: Veröffentl. von Goswin F r e n k e n , ZfdA. 71 (1934) S. 125; W. B r a u n e , Ahd. Lesebudi Nr. XLVI. Einen Teil aus anderer Überlieferung bei Steinmeyer, Spra/hdenkm. S. 364. G. B a e s e c k e , Die ahd. u. as. Taufgelöbnisse. GGN 1944, Nr. 3, S. 63—85. William F ο e r s t e , Untersuchungen zur westfäl. Sprache des 9. Jh.s (1950) S. 90 ff. — Altwestfälische Beichte: Elis W a d s t e i η , Kleinere as. Sprachdenkmäler mit Anmerkungen u. Glossar (1899) S. 16f.; S t e i n m e y e r , Sprachdenkm. S. 318 f. J. K. Κ ö η e , Der as. Beichtspiegel z. Zt. d. hl. Ludgerus u. s. nächsten Nachfolger, mit Übers, u. Wb. (1860). Franz H a u t k a p p e , Über die ad. Beichten u. ihre Beziehungen zu Cäsarius von Arles (1917. Fschgm. u. Funde. Bd. 4, H. 5). G. B a e s e c k e , Die ad. Beichten. PBB. 49 (1925) S. 268—355. William F o e r s t e , a. a. O., S. 9ff. — Niederdeutscher Glaube: S t e i n m e y e r , Sprachdenkm. S. 362 f. — Erik R ο ο t h , Zur Heimat des frmndd. Glaubens. Studia Neophilologica 10 (1937/38) S. 124—159. — Allerheiligen-Homilie: W a d s t e i η S. 18. Glossen: Hg. v. W a d s t e i η , S. 46 ff. — E. S t e i n m e y e r u. Ed. S i e ν e r s , Die ahd. Glossen Bd. 1—5 (1879—1922). Für philologische Zwecke unentbehrlich ist trotz vieler Fehler immer noch die Ausg. von Johan Hendrik G a 11 e e , As. Sprachdenkmäler (Leiden 1894). — Prudentiusglossen: W a d s t e i n S. 88—105. S t e i n m e y e r , Ahd. Gl. 2, S. 595ff.; S. 575ff.; 4, S. 344f.; G a l l e e , Sprachdenkm. S. 313 ff.; S. 127 ff. u. 374f.; S. 328f. u. 378. — Eltener Glossen zu Matthäus: W a d s t e i n S. 46f.; S t e i n m e y e r , Ahd. Gl. 1, S. 708 ff.; G a l l e e S. 37ff. — Essener Evangeliarglossen: Wads t e i n S. 48 ff.; S t e i n m e y e r , Ahd. Gl. 4, S. 286 ff., 294 f., 296 ff., 301 ff.; G a l l e e 5. 17 ff. — St. Pettier Bibel- u. Mischglossen: W a d s t e i n , S. 73ff.; S t e i n m e y e r , Ahd. Gl. Bd. 1 an verschiedenen Stellen, die

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Altsächsiscbe Literatur

Bd. 4, S. 409 verzeichnet sind; G a 11 e e , S. 281 ff. u. 377. — Oxforder Vergilglossen: W a d s t e i n , S. IX u. 109 ff.; S t e i n m e y e r , Ahd. Gl. 4, S. 588ff.; G a l l e e S. 153 ff. u. 375. Über ihre Verwandtschaft: Georg B a e s e c k e , Vocabularius Sti. Galli (1933) S. 43, 71 f., 73. — Ags. Einflüsse: Hubert Μ i c h i e 1 s , Über engl. Bestandteile ad. Glossenhss. (1912; Diss. Bonn 1911) S.36. — As. Glossen aus der Trierer Hs. Nr. 40: Β r a u η e , Zu d. Trierer Zaubersprüdien.'PBB. 36 (1910) S. 551—56. — Gandersheimer Glossen: S t e i n m e y e r , Ahd. Gl. 4, S. 374, Anm. — Psalmenbruchstücke: Adam K l e c z k o w s k i : Neuentdeckte es. Psalmenfragmente aus der Karolingerzeit. Prace komisji j?zykowej polskiej akademji umiej^tnoSci nr. 12, I (Krakau 1923), II (Krakau 1926). Ludovicus Z a l e w s k i , Psalterii versionis interlinearis vetusta fragmenta Germanica edidit praefatus est notisque illustravit. Ebda Nr. 12 (Krakau 1923). Neuabdruck van W. K r o g m a n n , NddKbl. 57 (1950) S. 49—58. Philologisch und sprachlich untersucht von Agathe L a s c h , Die as. Psalmenfragmente. Borchling-Festschrift, (1932) S. 229—272. — Psalmenauslegung: W a d s t e i n , S. 4 ff. —Frekkenhorster Heberolle: W a d s t e i η , S. 24 ff.

§ 3. Während die as. Prosa aus den Bedürfnissen der Kirche und des täglichen Lebens erwuchs, verdankt die p o e t i s c h e L i t e r a t u r in as. Sprache ihre Entstehung ags. Anregung. In England war früh eine volkssprachliche Buchdichtung entstanden, die in dt. Klöstern zur Nacheiferung lockte. Vor allem in Fulda fanden die ags. Impulse starke Resonanz. Hrabanus Maurus, Leiter der Klosterechule und später Abt in Fulda, bearbeitete dort die Aufzeichnung ae. Runennamen seines Lehrers AIcuin, indem er sie dem hd. Lautstand anpaßte. Dem fuldisch-mainzischen Interesse für das german. Altertum verdanken wir auch das Abecedarium Nordmannicum. Dies „Dänische Abc" ist ein stabreimender Merkvers für das jüngere nord. Runenalphabet in einer merkwürdigen nord.-as.-ahd. Sprachmischung. Orthographisch steht das Denkmal den fuldischen Aufzeichnungen vom Anfang des 9. Jh.s nahe, insbesondere den Basler Rezepten und dem Hildebrandslied. Letzteres ist langob.-bair. Ursprungs, wurde aber in Fulda von zwei nd. Mönchen in der sich herausbildenden as. Schreibform abgeschrieben. In dem für muttersprachliche Dichtung so empfänglichen Kloster Fulda ist wahrscheinlich auch der Heliand gedichtet worden, eine poetische Darstellung von Jesu

Leben und Lehre in Stabreimversen. Die Bekanntschaft des Dichters mit der ags. geistlichen Epik, die Zusammenhänge mit dem ahd. Muspilli, Hrabans Interesse für das dt. Schrifttum auch in der Epoche Ludwigs des Frommen, des Fuldaer Klosterschülers Otfrid Kenntnis des Heliand, schließlich auch die nicht-westfäl. Mundart des Helianddichters: alles deutet darauf hin, daß die as. Bibeldichtung nicht in Werden, sondern im Kreise Hrabans entstanden ist, obwohl der Codex Monacensis um 850 in Werden von seiner Vorlage abgeschrieben wurde. Die 2. Haupths., der Cottonianus, stammt aus einem engl. Scriptorium (Canterbury oder Winchester) der 2. Hälfte des 10. Jh.s. Für die Abfassungszeit ergibt sich als terminus ante quem das Jahr 840, weil Otfrids Kenntnis des Heliand sehr wahrscheinlich aus seiner fuldischen Studienzeit unter Hraban (vor 840) datiert. Die obere Zeitgrenze ist durch die Fertigstellung von Hrabans Matthäus-Kommentar 821/22 gegeben. Nach der von Flacius Illyricus 1562 veröffentlichten Praefatio in librum antiquum lingua Saxonica conscriptum, die der Meißener Rektor Fabricius aus einem in Luthers Besitz befindlichen Kodex der as. Bibeldichtung abgeschrieben hatte, soll Kaiser Ludwig (d. Fr.) einem als Dichter schon bekannten sächsischen Adeligen den Auftrag zur Abfassung des Heliand gegeben haben. Die Praefatio ist später interpoliert worden, um für eine Gesamtausgabe der alt- und neutestamentlichen as. Bibeldichtungen verwendet und mit den ursprünglich nur als Vorrede der alttestamentlichen Dichtung bestimmten Versus de poeta et interprete huius codicis verbunden werden zu können. Diese 34 ζ. T. leoninischen Hexameter enthalten als Kem die nach Bedas CaedmonLegende dargestellte göttliche Berufung eines Bauern zum Dichter alttestamentlicher Bibelstoffe. Erst in der nachträglichen Erweiterung der Praefatio wurde der Verfasser des Heliand irrtümlich mit dem der alttestamentlichen as. Dichtung gleichgesetzt. Der Helianddichter, ein gebildeter Geistlicher, benutzte als Hauptquelle nicht die Vulgata, sondern eine lat. Rezension von Tatians Diatessaron (s. Evangelienharmonie), dazu jeweils Hrabans Erläuterungen

Altsädisische Literatur zu Matthäus, Bedas Lucas- und Alcuins Johanneskommentar sowie anderes theologisches Schrifttum seiner Zeit. Der Heliand sollte den neubekehrten Sachsen das Wort Gottes verkündigen. Dadurch sind Auswahl und Gestaltung des Stoffes weitgehend bestimmt. Seinem missionarischen Anliegen gemäß schafft der Dichter in seinem Werk Schwerpunkte. So ist er vor allem bemüht, das Sündenbewußtsein bei den jungen sächs. Christen zu wecken. Immer wieder warnt er vor der Sünde, öfter und eindringlicher als Otfrid. Christi Worte an den reichen Jüngling erweitert er zu einem Verzeichnis der Hauptsünden (3269). Das Gebet ist ihm gleichbedeutend mit der Bitte um Vergebung der Sünden (100. 1574. 5165). Nachdrücklich predigt er seinen Sachsen daher auch Reue und Buße (1307), und es zeugt für die Einheit seines Künstler- und Predigertums, daß er dies nicht nur in homiletischer Paränese tut, sondern auch durch Gestaltung eindrucksvoller Vorbilder (am reuigen Petrus 5000 und am letztberufenen Arbeiter im Weinberg 3493) zeigt, was tiefe Reue und Buße ist. Hochmut erscheint als Hauptsünde (3271. 4254), Demut als die immer wieder geforderte Kardinaltugend des Christen (1302. 1556). Auch im Christusbild hat der Dichter die Demut und das duldende Leiden besonders stark herausgearbeitet (1106. 3537. 5078. 5280. 5301. 5307. 5382. 5504.). Bis zur Feindesliebe gehende Demut fordert Christus. Und auch die erspart der Dichter seinen Sachsen nicht, obgleich er die Beispiele vom Backenstreich und Rock nicht bringt. Christus ist ihm das „Friedekind Gottes"; alle nicht zu dieser Vorstellung passenden Züge (Peitsche bei der Tempelreinigung, Aufforderung, ein Schwert zu kaufen) unterdrückt er, stellt aber im Gegensatz zu Otfrid das Wort „Wer das Schwert nimmt, soll durchs Schwert umkommen" stark heraus. Der H.dichter war (trotz der Malchusszene) ein christi. Pazifist, und V i 1 m a r befand sich im Irrtum, wenn er meinte: „das ganze Gedicht . . . atmet kriegerischen Geist." Die Forderung, Christi Lehren und Gebote zu befolgen, ist das wichtigste Anliegen des H.dichters (1237. 1646. 2470. 4712). Für ihn hat Christi Kreuzestod nicht die zentrale Bedeutung wie in der heutigen Theologie. Er teilt mit Hraban eine stark ethisch betonte Auffassung des Christentums. Diese Einstellung, die den lehrenden Christus hervortreten, den gekreuzigten dagegen zurücktreten läßt, führt den H.dichter notwendig dazu, die reinste Verkündig\mg der göttlichen Gebote, die Bergpredigt, in den Mittelpunkt seines Werkes zu stellen. Sie ist mit äußerster Sorgfalt unter ständiger Hinzuziehung der Kommentare ausgestaltet. Die acht Seligpreisungen nennt der Dichter die upwegos, die aufwärts ins Himmelreich führenden Wege. Jeder muß in freier Willensentschei-

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dung wählen (3405), ob er sie gehen will, um aus der Macht höllischer Dämonen errettet zu werden. Allerdings kann der menschliche Wille aus eigener Kraft nichts Gutes vollbringen — dies lehrte auch Hraban —, sondern die Gnade Gottes muß ihm zu Hilfe kommen (1767). Das wird an Petri Verleugnung eindrucksvoll gezeigt (5039—49). Die helfende Gnade gewährt Gott jedoch nur dem Gläubigen (3507). Deshalb fordert der H.dichter immer wieder einen lauteren (902. 958. 2473), willigen (2475) und festen (1018. 4268) Glauben (1770. 1733. 2507. 4638. 5853) und warnt eindringlich vor dem Zweifel (328. 948. 1896. 4703). Der rechtfertigende Glaube ist für ihn ein durch Liebe sich betätigender (1964. 5405). Ohne die Werke wäre er nutzlos. Um den Glauben in die Mitte zu stellen, formt der Dichter seine Vorlage sogar mehrfach um. Zur Verdeutlichung und Verstärkung schafft er Gegensätze: dem belohnten Glauben Marias stellt er den bestraften Unglauben des Zacharias gegenüber, dem Glauben der Heiden den Unglauben der Juden. Um Lippenbekenntnis und Tatgesinnung wirkungsvoll zu kontrastieren, wird ein Teil der Bergpredigt in die Aussendungsrede eingebaut. So bedingt das starke Bedürfnis des Predigers, auf sein Publikum einzuwirken, die innere Form des Werkes. Der Gegensatz führt zur Steigerung, birgt Dynamik, Leben in sich und erhöht die Anteilnahme des Hörers. Der Dichter verwendet das Stilprinzip der Kontrastierung aber auch in rein künstlerischer Absicht, ζ. B. bei der Darstellung der Flucht nach Ägypten, der Hochzeit zu Kanaa, des Geburtstagsfestes des Herodes. Das Streben nach Verlebendigung zeigt sich auch in starker Äußerung seelischer Regungen (2207. 3687) und führt den Dichter zur plastischen Ausgestaltung blasser, allgemeiner Wendungen der Vorlage (1196. 3794) und zur Umsetzung des Engelsberichts von der Auferstehung in direkte Handlung (5765). Offensichtlich auch in Rücksicht auf sein Publikum ist der Dichter bestrebt, die biblischen Geschichten so umzuformen, daß sie mit einem harmonischen Schlußakkord enden (1222. 1755. 1971. 2528). Das entsprach zugleich der freudig-optimistischen Stimmung, die über der ganzen Dichtung liegt. Im Gegensatz zu Otfrid, dem das Diesseits ein Jammertal ist, preist der H.dichter in fast lyrischen Versen die Schönheit der Natur (1671). Wie sehr er sein s ä c h s . Publikum im Auge hatte, zeigt sich an Umgestaltungen der Vorlage im Dienste kirchenpolit. Interessen. Das Apostolat der Kirche wird begründet (1888), die Apostel erscheinen stark idealisiert, und vor allem Petrus als Fundament der päpstlichen Autorität wird stark herausgestrichen. Die negativen Züge des Petrusbildes werden verwischt, während die Verleihung der Schlüsselgewalt zweimal geschildert und dadurch besonders einprägsam gemacht wird. Mit Rücksicht auf die neu-

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Allsädisisdie Literatur

bekehrten Sachsen betont der Dichter die Pflicht der Gemeinden, für den Lebensunterhalt der Geistlichen zu sorgen und die kirchlichen und staatlichen Abgaben zu entrichten. Im Hinblick auf die kriegerischen Sachsen wird Christi Friedensliebe viel stärker herausgearbeitet als bei Hraban und Otfrid und die Blutrache als schwere Sünde verworfen (1492). Der Dichter wendet sich an seine a d e l i g e n Standesgenossen. Deshalb schildert er, bewußt von Hraban abweichend, den reichen Jüngling als sympathisch, schwächt Christi Warnung gegen die Reichen erheblich ab (1637. 3301) und benutzt die Seligpreisung derer, die nach Gerechtigkeit dürsten, wie auch Jesu Wort „Richtet nicht" — entgegen Hrabans Auslegung — zu Ermahnungen an die Richter, gerecht zu urteilen. In Rücksicht auf sein sächs. Publikum übergeht der Dichtcr die vielen Wortfehden Jesu mit den Schriftgelehrten über speziell jüdische Angelegenheiten und erspart ihm unverständliche jüdische Sitten, wie die Beschneidung Jesu, den Ritt auf der Eselin, die seltsame Nahrung des Täufers in der Wüste u. ä. Der Vermeidung des unverständlich Fremdartigen entspricht die Umfärbung der morgenländische Szenerie in die heimische. Diese Züge sind von V i l m a r , N a u m a n n und anderen freilich stark übertrieben worden; denn das heimische Kolorit betrifft im wesentlichen äußere Züge der Dichtung. Von einer „Germanisierung" des christl. Gehalts kann keine Rede sein. Die Vorstellung vom Christus rex ist Gemeingut der damaligen Theologie. Daß der sächs. Dichter Züge seiner Königsvorstellung auf den Himmelskönig überträgt (Gefolgschaftsverhältnis der Jünger, Treuegelöbnis des Thomas), ist natürlich. Das findet sich auch sonst in der zeitgenössischen Kunst: im Utrecht-Psalter (Reims 830) ζ. B. ist Christus als König mit seinen Jüngern als Kriegern dargestellt; ähnlich auf dem Kästdien von Bern. Man hat sich oft verführen lassen, Heidnisches zu sehen, wo Christliches gemeint ist, weil man nicht beachtete, daß noch keine christl. Terminologie in as. Sprache bestand, so daß der Dichter genötigt war, Kernwörter wie drohtin, mildi, treuwa, huldi, in vorchristl. und christl. Sinne zu verwenden. Im Heliand findet man auch eine Reihe von Ausdrücken aus dem Bereich heidnischer Schicksalsvorstellungen, wie tourdgiscapu, metod, metodo-, regano-giscapu, aber sie bezeichnen nicht etwa eine von Gott unabhängige Schicksalsmacht, wie oft angenommen wurde, sondern sind aus dem Geiste des christl. Determinismus zu verstehen. Gattungsgeschichtlich ist der Heliand ein Ableger der ags. kirchlichen Epik. Durch sie ist die ä u ß e r e F o r m bestimmt. In diesen alttestamentlichen Dichtungen fand der Dichter das aus dem german. Heldenlied stammende heroische Sprachgewand

vor, das er zwar übernahm, das aber bei ihm wesentlich maßvoller erscheint. Überhaupt stand unser Dichter, der den Stabreimvers virtuos meisterte, seinen ae. Vorbildern sehr frei gegenüber. E r treibt den in England aus dem Heldenlied entwickelten Epenstil auf die Spitze, indem er Variation, Enjambement, Schwellverse, Auftakte und die Verwendung der indirekten Rede bis zum äußersten vermehrt: ein Ausdruck seiner geistlichen Beredtsamkeit zugleich. So zeigt sich auch in der äußeren Form die Einheit des Dichters und Predigers, die dem ganzen Werk das Gepräge gibt. Abecedarium Nordmannicum: W ads t e i n S. 20. Literargeschichtlich untersucht von Georg B a e s e c k e , Das Abecedarium Nordmannicum. Runenberichte, hg. v. Helmut A m t z , Bd. 1, H. 2/3 (1941). Wolfgang K r a u s e , in: Germanien, H. 5/6 (1943). — Hildebrandslied: Bibliographie, in: Wilh. Braune, Ahd. Lesebuch. — Heliand: Grundlegende Ausg. hg. v. Ed. S i e ν e r s (1878; Germanist. Handbibl. 4; zuletzt als Titelaufl., vermehrt um das Prager Fragment u. d. Vatican. Fragmente, mit e. Nachw. v. Edw. S c h r ö d e r 1935. Hs. Μ u. C sind parallel abgedruckt). H. u. Genesis. Hg. v. Otto B e h a g h e l (1903; AdtTextbibl. 4; 6. Aufl. hg. v. Walther Μ i t ζ k a 1948; mit ausgezeichneter krit. Bibliographie). — Paul P i p e r , Die as. Bibeldichtung (1897). Alex. C ο η r a d i , Der jetzige Stand d. H.forschg. Progr.Hadamar 1909. — Entstehung in Fulda: Ferd. W r e d e , Die Heimat d. as. Bibeldichtung. ZfdA. 43 (1899) S. 333—360. Agathe L a s c h , Nddjb. 51 (1925) S. 59, Anm. 1. Theodor F r i n g s , Germania Romana (1932). William F o e i s t e , Rez. von Drögereit (s.u.), Nddjb. 75 (1952) S. 142—145. Heimat des Dichters in Südostfalen: Agathe L a s c h , Das as. Taufgelöbnis. Neuphil. Mitt. 36 (1935) S. 131, Anm. 1. Heimat an der Nordseeküste: Georg B a e s e c k e , Ndd. Mitt. 4 (1948) S. 31. Dagegen: Willy Κ r ο g m a n n , NddMitt. 6 (1950) S. 103—111. Entstehung in Werden: Richard D r ö g e r e i t , Werden u. d. H. (1951). Rez.: Bernh. Β i s c h ο f f , AnzfdA. 66 (1952) S. 7—12 u. W. F ο e r s t e a. a. O. Heimat in Südwestfalen: Willy K r o g m a n n , Die Heimatfrage d. H. im Lichte d. Wortsdiatzes (1937). Dazu weiterführend: Karl Β i s c h ο f f , Zur Gesch. v. pasdien „Ostern" im östlichen Ostfiüischen. ZfMda. 21 (1952) S. 28—33. Entstehung in Magdeburg: Anneliese B r e t s c h n e i d e r , Die H.heimat u. ihre spradigesch. Entwicklung (1934). Rez.: G. B a e s e c k e , Nddjb. 60/61 (1934/35) S. 197—200. — Zu den Hss.: Herkunft und Datierung des Monacensis: D r ö g e r e i t a. a. O. mit B. B i s c h o f f s Rez. a. a. Ο. Cottonianus: Robert Ρ r i e b s c h , The H. Manuscript Cotton

Altsächsische Literatur Caligula Α. VII in the British Museum (1925). Stemma: Georg Baesecke, Fulda u. d. as. Bibelepen. NddMitt. 4 (1948) S. 5—43. — Vorreden: über ihre Herkunft: K. H a n n e m a n n , FschgnFortschr. 15 (1939) S. 327—329. Interpolationen: B a e s e c k e , NddMitt. 4 (1948), S. 14—22. — Über den Dichter und seine Quellen: Ernst W i n d i s c h , Der ff. und seine Quellen (1868). E . S i e v e r s , Zur Quellenfrage des ff., ZfdA. 19 (1876) S. 1—39. C. A. W e b e r , Der Dichter des ff. im Verhältnis zu seinen Quellen, ZfdA. 64 (1927) S. 1—76. W. S t a p e l , Der H.dichter, in: Wirk Wort 3 (1952/53) S. 67—73. — Theologischer Gehalt: Herrn. Wicke, Das wunderbare Tun d. heiligen Krist nach der as. Evangelienharmonie. Eine Einf. in das Verständnis des ff. (1935). — Zur Frage der „Germanisierung" d. Christentums: Aug. Friedr. Chr. V i 1 m a r , Deutsche Altertümer im ff. als Einkleidung der evangelischen Geschichte (1845 ; 2. Aufl. 1862). Hans N a u m a n n , Wandlung u. Erfüllung (1933). Hulda G ö h l e r , Das Christusbild in Otfrids Evangelienbuch u. im ff., ZfdPh. 59 (1934) S. 1—52. Ludwig W o l f f , German. Frühchristentum im ff., ZfDtK. 49 (1935) S. 37—54. Hermann D ö r r i e s , H.fragen, Zs. d. Ges. f. niedersächs. Kirchengesch. 40 (1935) S. 5—22. Walter K ö h l e r , Das Christusbild im ff., ArchfKultg. 26 (1936) S. 265 —282. Herrn. W i c k e , Wollte d. Dichter d. ff. nichts anderes als ein Künder germ. Lebensgefühls sein? Zs. d. Ges. f. niedersächs. Kirchengesch. 42 (1937) S. 227—238; Ders., Der Dichter d. ff. als germ. Verkündiger d. Wortes Gottes, ebd. 43 (1938) S.32—48. Ludwig W ο 1 f f , Der H. als germ.-dt. Epos. ZfDtK. 57 (1943). Walter B a e t k e , Vom Geist u. Erbe Thüles (1944) S . 9 7 f f . Weitere Arbeiten zu diesem Problem in d. Lit.bericht von Harald S ρ e h r , Frühgermanentum, Germanentum u. Christentum. ArchfKultg. 31 (1943)S. 198—231;360—388. Fritz B e c h e r t , Über d. Entfernung vom ff. zu Otfrids Evangelienbuch (Masch.) Diss. Tübingen 1947. Gertrud E b e r h a r d , Germanische und christl. Elemente im ff., dargest. an d. dichterischen Gestaltung d. Christusbildes. (Masdi.) Diss. Freiburg i. B. (1948). Edmund B e h r i n g e r , Krist und ff. Eine Studie. Progr. Würzburg 1869/70. W. F o e r s t e , Otfrids literar. Verhältnis zum ff., Nddjb. 71/73 (1948/50) S. 40—67. Heinz R u p p , Leid u. Sünde im Heliand u. in Otfrids Evan- I gelienbudi. (Masdi.) Diss. Freiburg. i. Br. (1949). Lore O b e r f e u e r - S t e g m a i e r , Das Petrusbild der geistlichen Dichtung d. Karolingerzeit. (Masch.) Diss. Freiburg i. Br. (1949). — Äußere Form und Stil: Α. Η e u s l e r , ff. Liedstil u. Epenstil. ZfdA. 57 (1920) S. 1—48 (Kleine Schriften 2. Bd. [1943], S. 517—565). Ders., Einführung zu Simrocks Übertragung des ff. (1933) S. 5—17 (Kleine Schriften 2. Bd. [1943], S. 566—577). Gottfr. Β e r χ ο η , Studien ζ. ff. als Kunstwerk, Diss.

Tübingen 1939. G. C o r d e s , Aufr. I Sp. 375—381.

45 Stammler

§ 4. A s . G e n e s i s . Schon der H.dichter war bei der Darstellung der Versuchungsgesdiichte und Blindenheilung bestrebt, Christi Lehrtätigkeit und Erlösertod im Rahmen des göttlichen Heilsplans darzulegen. E i n Nachfolger oder Schüler von ihm schuf eine eigene alttestamentliche stabreimende as. Dichtung als Zeugnis für die heilsgeschichtliche Sendung Christi. „ E r begann mit der Erschaffung der W e l t , durcheilte die fünf W e l t a l t e r und kam bis zur Ankunft Christi, der mit seinem Blut die W e l t dem Höllenrachen e n t r i ß " (vgl. Versus 3 1 — 3 4 ) . Erhalten sind uns davon drei Bruchstüdce von insgesamt 3 3 7 Versen, deren T h e m a die Sünde und ihre Bestrafung ist: Ursprung des Bösen im Sündenfall der Stammeltern (I), seine fortzeugende W i r kung in Kains Brudermord (II) und den Verbrechen der Sodomiter (III). Das erste F r a g m e n t wird glücklich ergänzt durch die Verse 2 3 5 — 8 5 1 der ags. Genesis, die aus dem As. umgeschrieben sind. Der Sündenfall wird im Zusammenhang mit Lucifers Fall und Rache gestaltet. Wie im spätgermanischen Heldenlied geht es dem Diditer um die Darstellung des seelischen Geschehens. Er ist bemüht, die folgenschwere Verfehlung der Stammeltern psychologisdi verständlicher und zugleich tragischer zu gestalten, offensiditlich in der Absicht, Adam und Eva, die Antitypen Jesu und Maria, sympathischer ersdieinen zu lassen. Um den Sündentall deutlicher als Präfiguration zur Versudiung Jesu darzustellen, läßt der Dichter den Teufel, der hier nicht als Schlange, sondern in Engelsgestalt erscheint, das erste Menschenpaar dreimal versuchen. Adam erliegt ihm erst, nachdem er durch Evas optische Weitsicht (naiv-sinnlidie Auffassung des „Augenöffnens") vom göttlidien Auftrag des Engels überzeugt worden ist. Auf diese Weise stellt der Dichter dar, wie die Stammeltern in Sünde fallen, obwohl, ja, weil sie Gottes Gebot zu erfüllen glauben. Daß Gott dies zuläßt, erscheint dem Dichter als ein micel wundor (595), aber die Verantwortlichkeit Adams und Evas soll damit in keiner Weise verkleinert werden, wie ihre eindringlidi dargestellte Reue und Büßfertigkeit zeigen. Auch in den beiden Fitten (Leseabschnitten) von Kains Brudermord hat der Dichter die seelisdien Vorgänge verlieft (Kains Erschütterung durdi Gottes Bußpredigt, Schmerz der Eltern). In dem Bruchstück vom Untergang Sodonis bemüht er sich, unsympathische Charakterzüge Abrahams (Feilschen mit Gott) zu mildern und abstoßende Züge Loths (Bereitschaft zur

46

Altsädisische Literatur — Amadisroman

Preisgabe seiner Töchter, Blutschande mit ihnen) zu unterdrücken, um sie als musterhafte Diener Gottes hinzustellen. Jeden Hinweis auf Geschlechtliches vermeidet der Dichter: wie er als Folge des Sündenfalls nicht das Erwachen der Schamhaftigkeit, sondern nur physische Nöte der Nacktheit herausstellt, so nennt er als Sünde der Sodomiter nur allgemein Freveltaten. Der Genesisdichter wählte aus seiner biblischen Vorlage die poetisch wirkungsvollen Stoffe aus und verstand sie mit sicherem Blidc für dramatische Szenenführung zu gestalten. Er ist kraftvoller, großzügiger und selbständiger als der Helianddiditer, aber auch weitschweifiger und in Sprachund Versbehandlung weniger sorgfältig und meisterhaft als jener. Auf hd. Gebiet hat der Heliand keine direkte, wohl aber indirekte Nachfolge in Otfrids Evangelienbuch gefunden. Der Weißenburger Mönch hat den Heliand gekannt, fühlte sich aber als Rivale des sächsischen Dichters. Er ahmt die eächs. Dichtung nicht nach, sondern stellt ihr eine Christusdarstellung in Endreimversen gegenüber, die trotz aller Unzulänglichkeiten dennoch zukunftsträchtig war. Ed. S i e ν e r s , Oer H. u. d. ags. Genesis (1875). Erste Ausgabe der Vaticanischen H.u. Genesisbruchstücke von Karl Z a n g e m e i s t e r u. Wilhelm B r a u n e , Bruchstücke der as. Bibeldichtung aus der Bibliotheca Palatino. NHeidJbb. 4 (1894) S. 205 —294; audi als selbständige Veröff., aber ohne die Photographien der Hs. (1894). Rez. F. J o s t e s , in: Literar. Rundschau f. d. kath. Deutschland 21 (1895) Sp. 46 ff. F. Pauls, Zur Stilistik der as. Genesis, PBB. 30 (1905) S. 142—207. W. B r a u n e , Zur as. Genesis. PBB. 32 (1907) S. 1—29. Wilhelm B r u c k n e r , Die as. Genesis u. d. H., das Werk eines Dichters (1929; GermDt.4). Ders., PBB. 56 (1932) S. 4 3 6 - ^ 4 1 . Über die Quellen: E. H ö n n c h e r , Über die Quellen der ags. Genesis. Anglia 8 (1885), S. 41—84. F. N. R ο b i η s ο η, A Note on the Sources of the Old Saxon „Genesis". ModPhil. 4 (1906) S. 389—396. Alan D. M c K i l l o p , Illustrative Notes on Genesis B. JEGPh. 20 (1921) S. 28—38. Carl Μ a ß m a n n , Quellen und poetische Kunst der as. Bibelepen alttestamentlichen Inhalts (as. Genesis). Ein Beitrag zur Η .-Genesis-Frage. (Masch.) Diss. Bonn 1923. Luise B e r t h o l d , Die Quellen für die Grundgedanken von V. 235—851 der as.-ags. Genesis. Germanica. Festschr. für Ed. Sievers (1925) S. 3 8 0 - ^ 0 1 . Erhard H e n t s c h e 1, Die Mtjthen von Lucifers Fall und Satans Rache in der as. Genesis. Religion und Geschichte, Heft 4 (1935). William

Foerste

Amadisroman § 1. Der Grundstock des berühmt-berüchtigten ritterlichen Prosaromans stammt in der ältesten erhaltenen Fassung von dem Spanier M o n t a l v o : Los quatro libros de Amadis de Gaula (1508). Ob eine frühere Bearb. aus Portugal oder Spanien stammt, ist nicht bestimmt zu entscheiden; jedenfalls ist der Stoff schon für das 14. Jh. bezeugt. Er läßt gewisse Züge des Artuskreises durchschimmern, wie schon Gaula = Wales andeutet. So findet sich in Amadis, dem Kind der Liebe, und Galaor, seinem ehelich geborenen Bruder, etwas von der Antithese Parzival-Gawan. Der Faden, auf den die Abenteuer gereiht sind, ist der Heldenund Minnedienst des Amadis um Oriana, die Tochter des engl. Königs Lisuarte. Der böse Zauberer Arkalaus und die gute Fee Urganda greifen gefährdend und hilfreich ein. Die Handlung erstreckt sich von Irland bis nach Konstantinopel. In Rom befreit A. seine Herrin von einer verhaßten Verbindung, zu der ihr Vater sie zwingen will, und vermählt sich mit ihr. Das Werk bildet „neben der Celestina einen Grundpfeiler der neueren kastiIischen Prosa" (Hatzfeld). Literarhistorische Verwandschaft mit den Chanson-de-Geste-Prosen liegt auf der Hand; E. Cohn hat mit Recht den Herpin als einen „Amadis im Kleinen" bezeichnet, und dasselbe wäre für Pontus und Sidonia berechtigt. Aber der A. blieb in sehr viel stärkerem Maß mit dem wieder heraufkommenden höfischen Geist der folgenden Generationen verbunden. § 2. Montalvo selbst hat das Beispiel zu den Fortsetzungen des Grundwerks gegeben, indem er als 5. Band die Abenteuer des Esplandian herausgab, des Sohnes von A. und Oriana. Daran schließen sich bis 1602 (3 Jahre vor dem 1. Band des Don Quijote) immer weitere Bände. Inzwischen aber hatte 1540/43 d e s E s s a r t s die ersten 4 Bände ins Franz. übersetzt und dabei das empfindsame Element hinzugebracht (Küchler). Damit begann der europäische Siegeslauf, 1567 folgte die engl., 1569 die dt. Ubers. Die deutsche kam bis 1594 auf 24 Bände, der 6. Band ist wahrscheinlich von F i s c h a r t übersetzt. Der Sprachstil des Ganzen ist manieristisch. Der Verleger Feyerabend erklärte 1577, „daß ihme dieser Zeit der Amadis mehr in

Amadisroman — Amerikanische Literatur Seckel getragen weder des Luthers Postill". Die erhaltenen Exemplare entstammen den verschiedensten Ausgaben. Auch Zusatzbände sind bezeugt. 1583 gab Feyerabend die ersten 13 Bücher in Folio mit kleinen Holzschnitten heraus. Der späteste mir bekannte Erscheinungstermin der alten dt. Ubers, ist 1617 (bei G. Tambach in Frankfurt a. M.). Wielands ironische Verserzählung von 1771 hat mit dem alten A. nur den Namen gemein. 1782 erschien eine neue Ubers, aus der franz. Neuformung des Grafen Tressan durch W. C. S. Mylius. § 3. In Deutschland konnte der Don Quijote dem A. während des 17. Jh.s schon darum wenig Abbruch tun, weil der Ubersetzungsversuch von 1648 nach dem 22. Kapitel steckenblieb und erst 1683 eine vollständige Ubers, (aius dem Franz.) folgte. Die immer wiederkehrende Polemik der Geistlichkeit gegen den A. und seine Einwirkung auf den dt. Barockroman zeugt für die anhaltende Beliebtheit des A. während des ganzen Jh.s. Noch 1715 komponierte Händel in London über einem itaj. Textbuch seine Oper Amadigi, 1717 erschien Joach. Beccaus Oriana, 1720 sein Amadis von Gaula. Es ist bemerkenswert, daß Cervantes selbst die 4 Bände Montalvos von seinem Strafgericht über die Ritterromane ausnahm und daß Goethe am 14. Januar 1805 (Soph. Ausg. IV, 17, S. 237) an Schiller schrieb: „Es ist doch eine Schande, daß man so alt wird, ohne ein so vorzügliches Werk anders als aus dem Munde der Parodisten gekannt zu haben." Ältere Lit. in: Amadis, Erstes Buch. Nach der ältesten dt. Bearb. hg. v. A. v. Keller (1857; BiblLitV, 40) S.435f. Wilh. S c h e r e r , Die Anfänge d. dt. Prosaromans κ. Jörg Wickram v. Colmar (1877). Ausführlidie Inhaltsangabe d. Büdier 1—4 bei F. Β ο b e r t a g , Gesch. d. Romans u. d. ihm verwandten Dichtungsgattungen in Dtschld. (1876). Maximilian P f e i f f e r , Amadis-Studien. Diss. Erlangen 1904. Rez.: Ad. H a u f f e n , ZfdPh. 42 (1910) S. 470 —483. W. K ü c h l e r , Empfindsamkeit u. Erzählkunst im Amadisroman. ZfranzSpiLit. 25 (1909) S. 158—225. H. T h o m a s , The romance of Amadis (Cambridge 1912). J. M i n o r , Zum franz. u. dt. Amadis. GRM. 4 (1912) S. 173. H. T h o m a s , Spanish and Portuguese romance of chivalry (Cambridge 1920). Egon C o h n , Geseüschaftsideale u. Gesellschaftsroman d. 17. Jh.s (1921; GermSt. 13). Werner M u l e r t t , Studien zu d. letzten Büchern d. Amadisromarts (1923; Roman.Arb. 11). J. S c h w e r i n g , Luther

47

u. Amadis. Euph. 29 (1928) S. 618—619. H. H a t z f e l d , Svan. Lit. (1924; HdbLitwiss.) S. 159: Der vorcervantinisdie Roman. Clemens L u g ο w s k i , Die Form der Individualität im Roman (1932; NFschg. 14). Günther Müller

Amerikanische Literatur § 1. Uber die Einwirkung der nordamerik. Lit. auf die deutsche ist nur selten im Zusammenhang gesprochen worden. Außer einigen entweder veralteten oder im Umfang begrenzten Zeitschriftenaufsätzen (A. Sauer, H. Lüdeke) haben wir nur die knappe Ubersicht, die L. M. P r i c e im Rahmen seines Werkes über den Einfluß der engl. Lit. auf die deutsche mitteilt. Daneben verfügen wir über Vorstudien, die jedoch bei aller Beschränkung — sei es auf eine Persönlichkeit oder einen Zeitausschnitt, sei es auf Biographie oder Übersetzungsstatistik — die Grundlage für eine zusammenfassende Darstellung abgeben können. Freilich ist es erforderlich, in künftiger Forschung noch manche Lücke auszufüllen. Wer sich der einschlägigen Sekundärlit. in ihrem ganzen Umfange nähert, wird die Erfahrung machen, daß die Untersuchungen über die l i t e r a r i s c h e n Auswirkungen im eigentlichen Sinne (nämlich die strengen Bezüge von Lit. zu Lit.) immer wieder Gefahr laufen, einer wesentlich umfassenderen und weit über die Iiterar. Beziehungen hinausgreifenden Perspektive zu erliegen: Menschentum und Volkscharakter, Landschaft und Geschichte, politische und soziale Gegebenheiten rücken in den Vordergrund. So haben wir zahlreiche Darstellungen, die sich mit der Rolle befassen, die Nordamerika in der Phantasie oder im kritischen Urteil dt. Schriftsteller spielt. Dabei lassen sich jedoch im allgemeinen nur Stoff- und motiv-geschichtliche sowie ideengeschichtliche Erkenntnisse gewinnen (ζ. B. über das Fortwirken der Vorstellung von Amerika als dem Lande der Freiheit und Unabhängigkeit in politischer, religiöser, wirtschaftlicher Hinsicht; oder über die Auseinandersetzung mit dem Problem untergehender Naturvölker am Beispiel des nordamerikanischen Indianers). Ähnlich steht es um bestimmte Höhepunkte in der geschichtlichen Entwicklung der Vereinigten Staaten, die ihren Niederschlag im dt. Schrifttum gefunden haben: vor allem die Revolution und die Unabhängigkeitserklärung, während bereits der

48

Amerikanisdie Literatnr

amerikan. Bürgerkrieg eine geringere Aufmerksamkeit fand. Auf gleicher Ebene liegt das Hervortreten einzelner Gestalten, die — wie etwa George Washington, Benjamin Franklin oder Abraham Lincoln — nicht nur in ihrem Lande als hervorragende Erscheinungen gelten, sondern in der besonderen Art ihrer Wirksamkeit sich dem dt. Schrifttum als Illustration für die weitgespannten Möglichkeiten anbieten, die der junge Kontinent seinen Bewohnern offenhält. Von hier aus wird ersichtlich, daß sich der im ganzen bescheidene Stand der Forschung nicht nur aus dem Mangel an Vorarbeiten erklärt, sondern letzten Endes aus einer P r o b l e m s t e l l u n g , die für die L i t wiss. nicht gerade als ergiebig bezeichnet werden kann. Für die literarhistor. Problematik wird das allgemeine Bild Nordamerikas (seiner Landschaft, seines Menschentums, seiner geschichtlichen Entwicklung, seiner Verwaltungs- und Organisationsformen, seiner Technik und seiner Weltfriedensidee) stets nur auf Stoff- und motiv-geschichtliche Zusammenhänge mit dem dt. Schrifttum verweisen, allenfalls noch eine begrenzte ideengeschichtliche Bedeutung besitzen, während alle Fragen nach einer künstlerischen Beeinflussung im gestalteten Werk an zweite Stelle rücken. Eine solche Verlagerung der Problemstellung vom Kunstcharakter der Dichtung auf kultur- und landeskundliche sowie völkerpsychologische Voraussetzungen erklärt sich hinlänglich aus der Erscheinung, daß das nordamerikan. Schrifttum erst spät in Europa zu literar. Ansehen gelangte. Noch im Januar 1820 konnte ein Kritiker der Edinburgh Review fragen: „Wer in den vier Himmelsrichtungen liest ein amerikan. Buch?" Aufschlußreich für die Situation vor der Jh.mitte ist Ε. A. Poes Letter to Mr. B.

(The Works of Ε. Α. Poe, Tamerlane Ed. I, S. -54): „You are aware of the great barrier in the path of an American writer. He is read, if at all, in preference to the combined and established wit of the world. I say established: for it is with literature as with law or empire — an established name is an estate in tenure, or a throne in possession" In den dt. Zeitschriften, welche die literar. Meinung um die Mitte des 19. Jh.s vertreten

(wie im Magazin für die Literatur des Auslandes, in den Blättern für literarische Unter-

haltung, im Deutschen Museum oder im Grenzboten), wird mit Nachdruck betont, daß von einer eigenständigen nordamerikan. Lit. überhaupt nicht die Rede sein könne, sondern diese nur als der matte Widerhall europäischer Anregungen und Vorbilder zu gelten habe. Dabei wäre zu fragen, ob das Urteil der dt. Literaturkritik nicht weitgehend von der engl, und der franz. Auffassung bestimmt worden ist. So fand man in einem in Europa rasch verbreiteten Standardwerk aus franz. Feder, nämlich De la

Democratie

en Amerique

(2 Bde. 1835,

2 Suppl-Bde. 1840) von Alexis de Toqueville, die ausdrückliche Bestätigung der Meinung, daß die amerikan. Schriftsteller im Inhaltlichen und Formalen von ihrem engl. Erbe zehrten. Für die 1887 erfolgte Gründung einer amerikan. Zeitschrift auf dt. Boden (Das Westland, hg. in St. Louis, veröff. in Heidelberg) war so wenig Interesse vorhanden, daß es bei einem kurzlebigen Unternehmen blieb (vgl. E. H o f a c k e r , American-Genn. Rev. 19,1952, S. 19-22). Als in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s eine angemessenere Sehweise sich langsam durchzusetzen begann, befand sich die dt. Dichtung ihrerseits auf manchen Gebieten in einem Zustand des Verfalls, der von vornherein eine schöpferische Begegnung mit den Werken der amerikan. Lit. kaum erwarten läßt. T. W. Rolleston konnte am 17. 9. 1881 von Dresden aus an Walt Whitman noch immer mit gutem Recht schreiben (Corre-

spondence, ed. Frenz, S. 38): „There are very few ideas in Germany about American lite-

rature, past, present, or future". Erst seit der Jh.wende (im Zeichen von Naturalismus, Neuromantik und Expressionismus) wurde hier einiges nachgeholt. Jedoch meldete sich dabei niemals das Bedürfnis, über die zeitgenöss. amerikan. Lit. hinaus auch der älteren Produktion Rechnung zu tragen. Man hatte sich nun einmal vorschnell entschieden, die amerikan. Lit. so spät wie irgend möglich mündig zu sprechen. Da überdies, unterstützt von der Anglophilie amerikan. Universitätskreise und der entsprechenden Vernachlässigung der amerikan. Lit. auf Universitäten der USA bis zum Ende des 19. Jh.s, audi im Wissenschaftsbetrieb der dt. Hochschulen auf lange Sicht hinaus für die Amerikanistik kein Platz war, blieb diese

be Literatur

Betrachtungsweise ungerügt. So läßt sich wohl recht eindeutig die Entwicklung des Amerikabildes in Deutschland aufzeigen, während die literar. Einwirkungen in ihrem Ausmaß wie in ihrer Bedeutung für eine eingehende Darstellung wenig Anreiz zu bieten scheinen. Im folgenden mögen wenigstens die Ansatzpunkte für eine solche Wirkungsgeschichte der amerikan. Lit. in Deutschland markiert werden. Bibliographie: Lawrence Marsden P r i c e , English Literature in Germany (1953; Univ. of California Publ. in Mod. Phil. 37). Text (bes. S. 361-385) u. Bibliogr. — Ergänzend: F. B a l d e n s p e r g e r u. W. P. F r i e d e r i c h , Bibliography of Comparative Literature (Chapel Hill 1950) S. 670 f.: North American Influences upon Germany. — Laufende Bibliogr. (seit 1941) zur Erforschung amerikan.-dt. Kulturbeziehungen in: American-German Review. — A. S a u e r , Über d. Einfluß d. nordamerikan. Lit. auf d. dt. Grillpjb. 16 (1906) S. 21-51. — H. L ü d e k e , American Literar ture in Germany. A Report of Recent Research and Criticism, 1931-33. American Literature 6 (1934) S. 168-175. — H. F. P e t e r s , The Impact of America on Germany. Proceedings of the Third Pacific Northwest Conference of Foreign Lang. Teachers (1952). — J. G ο e b e i , Amerika in d. dt. Dditg. (bis 1832). In: Fschgn. z. dt. Philologie. Festg. f. Rud. Hildebrand (1894) S. 102-127. — Gerh. D e s c ζ y k , Amerika in d. Phantasie dt. Dichter, Jb. d. dt.-amerikan. Hist. Ges. v. Illinois (1924/25) S. 10-142. — Const. Β r e f f k a, Amerika in d. dt. Lit. (1917). — Paul Carl W e b e r , America in imaginative German Literature in the First Half of the 19th Century (Columbia 1926). — Samuel S c h r o e d e r , Amerika in d. dt. Dchtg. von 1850-1890. Diss. Heidelberg 1936. — L. v. K r o c k o w , American Characters in German Novels. Atlantic Monthly 68 (1891) S. 824-838. — Κ. T. L o c h e r , The Reception of American Lit. in German Literary Histories in the 19th Century (1949). — Η. W. H e w e t t - T h a y e r , German Criticism of American Lit. in the First Part of the 19th Century (Im Ersch.). — P. A. B a r b a, The American Indian in German Fiction. Germ.-Amer. Annais 11 (1913) S. 143-174. — J. T. H a t f i e l d u. Ε. H o c h b a u m , The Influence of the American Revolution upon German Lit. Americana Germanica. NS. 3 (1899/1900)· S. 333-385. — J. A. W a l z , The American Revolution and German Lit. MLN. 16 (1901) Sp. 336-351; 411-418; 449-462. — Henry Safford K i n g , Echoes of the American Revolution in German Lit. (1929; Univ. of California Publ. in Mod. Phil. 14, 2). — J. R. F r e y , George Washington in German Fiction. American-Germ. Rev. 12 (1946). — D. U. H e g e m a n n , Franklin and GerReallexikon I.

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§ 2. Die Entdeckung Amerikas und die europäische Besiedlung der neuen Welt sind in der dt. Dichtung seit 1494 (Sebastian B r a n t s Narrenschyff) nicht ohne Nachhall geblieben. Während jedoch das dt. Interesse an Amerika, soweit es in Geschichtswerken und Reiseberichten seinen Niederschlag fand, von der Forschung bereits gewürdigt wurde, stehen für das schöngeistige Schrifttum des 16.-18. Jh.s entsprechende Untersuchungen noch aus. Eine Reihe von Ansatzpunkten verzeichnet die jüngste Studie auf diesem Gebiet von Harold J a η t ζ (Art. Amerika im dt. Dichten und Denken. In: Dt. Phil, im Aufriß, Bd. 3). Das amerikan. Schrifttum selbst blieb in seinen Anfängen Gebrauchslit.: zur Chronik und zum Tagebuch traten politische Flugschrift und theologischer Traktat. Freilich dürfen nach den neueren Forschungen das Ausmaß und ζ. T. auch die Qualität der frühen Versdichtung (überwiegend religiöser Natur) nicht unterschätzt werden. Manches davon ist frühzeitig nach Deutschland gelangt. Für Benjamin F r a n k l i n gilt, daß seine Stellung in der Lit. auf einem Schrifttum beruht, das in seiner zweckbedingten, erzieherischen und moralisierenden Art heute nur noch schwer greifbar ist. Die Regeln der klugen Lebensführung, die sein Poor Richard's Almanack (1733-1758) alljährlich der Bevölkerung vermittelte, standen im Zeichen eines schlichten Rationalismus und eines anspruchslosen Pragmatismus, wie man das in Deutschland bereits aus der gewandten Feder von A d d i s o n und S t e e l e entgegenzunehmen gewohnt war. Allerdings muß aus Mangel an Vorarbeiten die Frage offenbleiben, ob und wieweit die volkstümliche Gestalt des Poor Richard auf dt. Almanache abgefärbt hat. Im übrigen haben der Spectator und seine dt. Nachahmungen dazu beigetragen, ein gewisses Interesse an der Frühzeit der amerik. Kolonisation zu wecken. 4

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Amerikanische Literatur

Philip Motley P a l m e r , German Works on America, 1492-1800. A Bibliography (1952; Univ. of California Puhl, in Mod. Phil. 36). — Paul Ben B a g i n s k y , Early German Interest in the New World, 1494-1618. American-Germ. Rev. 5 (1939). — Ders., German Works relating to America, 1493-1800 (New York 1942). — Ε. H. Z e y d e l , Sebastian Brant and, the Discovery of America. JEGPh. 42 (1943). — R. A. T o w e r , Attempts to interest Germany in Early American Literature. PhilQuart. 7 (1928) S. 89-91. — H. A. P o c h m a n n , Early German-American Journalistic Exchanges. Huntington Library Quart. 11 (1948) S. 161-180. — M. Kraus, Literary Relations between Europe and America in the 18th Century. William & Mary Quart. 1 (1944). § 3. Der Spectator lieferte dem europäischen und nicht zuletzt dem dt. Schrifttum audi einen Stoff, der auf amerikan. Boden spielte und das Zeitalter der Empfindsamkeit mit einem seltsamen Zauber berührte: die Erzählung von Inkle und Yahoo. Gestützt auf den Bericht eines Westindienfahrers namens L i g ο η , der 1657 in London seine True and Exact History of the Island of Barbados veröffentlicht hatte, brachte S t e e l e in der Ausgabe des Spectator vom 13. März 1711 die ergreifende und rührsame Geschichte von der wilden, aber anmutigen und großherzigen Indianerin Yarico, die von ihrem undankbaren engl. Geliebten Inkle, dem sie einst das Leben gerettet hatte, aus niedriger Gewinnsucht in Barbados als Sklavin verkauft wurde. Diese Fabel entsprach so vorzüglich dem Zeitgeschmack, wie er im europäischen Kult der Sentimentalität seinen geistesgeschichtlich greifbaren Ausdrude gefunden hat, daß sie mitsamt ihrer fremdländischen Atmosphäre die Gemüter lebhaft bewegte. Die Leserschaft des Spectator nahm Stellung und sprach ihre Empörung über das ruchlose Verhalten Inkles in Gedichten und Episteln aus. Zu den Lesern dieser Zeitschrift (in der Ubersetzung der G o t t s c h e d i n ) zählte auch G e l i e r t . Seine dichterische Version des Stoffes ist in die Fabeln und Erzählungen (1746) eingegangen. Aber auch im Leben der schwedischen Gräfin von G. (1746) hat Geliert das Yarico-Motiv ausgewertet — nunmehr in Sibirien lokalisiert und als Episode mit der Gestalt des Steeley verbunden. Durch Geliert angeregt, hat alsbald Β ο d m e r sich zu einer Fassung in Hexametern entschlossen (1756). Darauf bezieht sich wiederum M e n d e l s so h η in seinem Traktat Über das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften, während Salomon G e ß η e r , einer Anregung Bodmers folgend, die traurige Geschichte unter dem Titel Inkel und Yariko, zweyter Teil (1756) in rhythmischer Prosa behandelt und mit einem tröstlidien Absdiluß versieht. Β ο d m e r seinerseits war so sehr voo der

Wirkung dieses Stoffes angetan, daß er sogar in Zweifel geriet, ob das mangelnde Interesse der Öffentlichkeit an seinem Abraham und seinem Noah nicht darauf zurückzuführen sei, daß die „patriarchalischen Subjects" im Vergleich mit dieser neuen „Materie" an Anziehungskraft verloren hätten (Brief Bodmers an Zellweger vom 9. Mai 1756). Von Geßners Abrundimg der Fabel nodi immer nicht befriedigt, machte sidi Fr. C. v. M o s e r daran, in Prosa eine „dritte Fortsetzung" zu bieten (1762), wie sie ihm die „herzrührende Geschichte" nahelegte. Inzwischen hielt der junge G o e t h e Umschau nach Stoffen, die im Alexandrinerstil seiner Leipziger Dramen für Liebhaberaufführungen geeignet sind. Die Erzählung seines Lehrers Geliert war ihm mit Sicherheit bekannt — vielleicht auch deren Quelle in der moralischen Wochenschrift der Engländer. Jedenfalls schrieb Goethe am 13. Oktober 1766 an Cornelia: „J'ai commencS de former le Sujet d'Yncle et d'Jariko pour le Theatre ..." Was entstanden ist, wurde später verbrannt. Doch zur selben Zeit waren schon andere am Werke, um diese Legende dem Theater zuzuführen. C h a m f o r t machte mit seiner La jeune Indienne (1764) den Anfang. Durch die Seylersche Truppe wurde das Stüde zwischen 17ß9 und 1775 in Deutschland weit verbreitet. Dt. Nachahmungen und Bearbeitungen (von F a b e r , P e l z e l u. a.) schlossen sich in reicher Zahl an. Audi Fr. Ludw. S c h r ö d e r war beteiligt. In der Form von Singspiel, Ballett und Pantomime lebte der alte Stoff bis ins 19. Jh. weiter, wenn er auch mit dem Ende des Zeitalters der Empfindsamkeit viel von seiner Anziehungskraft verloren hatte. Aus drei Gründen ist der Yarico-Stoff im Rahmen der literar. Beziehungen Deutschlands zu Amerika von Belang: 1. stand damit Amerika zum ersten Mal auf der dt. Bühne, — anziehender und dauerhafter als mit K l i n g e r s Sturm und Drang. 2. enthielt der Stoff bereits einen großen Teil derjenigen Reize (tropische Landschaftsfülle; idyllisch-pathetisches Geschehen; paradiesische Unschuld der naiven Naturkinder im Kontrast zur gewissenlosen Ausbeutung durch zivilisierte Europäer), die noch im 19. Jh. die amerikan. Szenerie dem dt, Schriftsteller empfohlen haben. 3. findet sich hier der erste Beleg für die literar. Anteilnahme G o e t h e s an der transatlantischen Welt. Und Goethe ist es, der für beträchtliche Zeit das Verhältnis der dt. Lit. zu amerik, Stoffen und Vorbildern bestimmen sollte. Lawrence Marsden P r i c e , Inkle and Yarico Album (Berkeley 19G7). — Ε. Β e u t l e r , Inkle und Yariko; in: B e u t l e r , Essays um Goethe, Bd. 1 (4. Aufl. 1948; Sammig. Dieterich 101) S. 453-461.

Amerikanische Literatur § 4. Abgesehen von dem in Leipzig erwachten Interesse des jungen G o e t h e am Yarico-Stoff, spielten Amerika und die amerikan. Lit. im Leben Goethes und in seinen Werken vor den Lehrjahren keine gewichtige Rolle. Das Kulturerbe des Abendlandes war ihm zunächst bedeutsamer als die Anfangsstadien der kulturellen Entwicklung in der neuen Welt. Selbst dem Unabhängigkeitskrieg hat Goethe als kühler Beobachter, ohne persönliche Anteilnahme, gegenübergestanden. Als Land des Abenteuers und der Ungebundenheit entfällt in den Mitschuldigen (Fassung von 1787) ein kurzer, aber kritischer Blick auf Amerika. Die Theatralische Sendung läßt noch mit keinem Worte ahnen, was die neue Welt später gerade für diesen Roman bedeuten sollte. Erst bei der Umarbeitung der Sendung zu den Lehrjahren verschob sich das Bild. Goethe war daran gelegen, mit großen Kontrasten die Perspektive zu erweitem. Amerika wird dabei mit einer Aufgabe bedacht, die das alte Europa nicht leisten kann: als Land der Zukunft zu gelten. Lothario wird zum Ansatzpunkt für diese Betrachtungsweise (Buch 4, Kap. 16). Schon bei der Ausarbeitung des 8. Buches (1796) wird dann vollends Jarno damit beauftragt, die Mitglieder der pädagogischen Gesellschaft vom Turm mit den „großen Veränderungen" bekannt zu machen, die dem alten Weltteil bevorstehen und die nach neuen Lebensbereichen Ausschau halten lassen. Erst recht ist die Arbeit an den Wanderjahren unter diesem Zeichen gediehen. Die erste Fassung vom Jahre 1821 erhält einen programmatischen Schluß mit dem Auswandererlied, wie es dem immer tiefer sich eingrabenden Zweifel des späten Goethe an der Zukunftsfähigkeit Europas entspricht: wer die Persönlichkeit vor dem heraufdämmernden Zeitalter der Maschine und der Masse retten will, der muß der Heimat entsagen und sich der ungeheuren Weite des neuen Erdteils anvertrauen. Das erinnert ar den letzten Akt in Faust II. Dazu treten die zahlreichen Alterszeugnisse, die nicht weniger als die Rede Lenardos über das Auswandern (Wanderjahre, Buch 3, Kap. 9; im Mai 1821 entstanden) den in Goethe lebhaft sich rührenden Unwillen bekunden, „in dieser durchaus gemachten Zeit" (Gespräch mit Edcermann, 1824) zu leben. Sulpiz Boisseree und Kanz-

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ler v. Müller bezeugen immer wieder den Lieblingsgedanken des alten Goethe, sich wenigstens in der Vorstellung der Bürde einer jahrtausendealten Vergangenheit zu entziehen. Aus dem Jahre 1827 stammen die oft zitierten Verse: „Amerika, du hast es besser. " Über das ganze letzte Lebensjahrzehnt Goethes erstrecken sich diese Belege. An Hand seiner Lektüre und seiner Begegnungen kann man bis ins einzelne verfolgen, wie Goethe allmählich ein vertrautes Verhältnis zu Amerika gewonnen hat. Hier sei nur das Wichtigste vermerkt: die Bekanntschaft mit Benjamin F r a n k l i n s Kleinen Schriften (dt. Ausgabe 1794), die von Goethe als Beitrag zur Farbenlehre begrüßt worden sind; das Interesse an der zeitgenöss. amerikan. Malerei, wie es durch ein Bild von J. Τ r u m b u 11 ausgelöst wurde (1797); die Veröffentlichimg der Reiseberichte von A. v. H u m b o l d t , die Goethe sorgfältig studierte; der Aufenthalt des Obersten B u r r in Weimar (1810), der in der amerikan. Politik eine bedeutende Rolle gespielt hatte; eine Reihe amerikan. Besucher, die seit 1816 zu verzeichnen ist (darunter so hervorragende Persönlichkeiten wie E v e r e t t und T i c k n o r , B a n c r o f t und C a l v e r t ) ; Goethes Aufgeschlossenheit für naturkundliche Fragen, die ihn zur Lektüre von S t r u ν e s North American Mineralogy führte (1822); schließlich der Aufenthalt des Prinzen B e r n h a r d in Amerika (1825/26) und Goethes eingehende Vertrautheit mit dessen Reisetagebuch, das für Goethe nicht nur eine zuverlässige Einführung in die Lebensverhältnisse und Organisationsformen der Union bedeutete, sondern ihn zugleich mit Männern bekannt machte, die bereits in die Geschichte eingegangen waren. Von hieraus führt eine direkte Linie zu den Erinnerungen und Briefen Thomas J e f f e r s o n s , die 1829 erschienen waren und von Goethe bereits 1830 aus der Weimarer Bibliothek entliehen wurden. Das alles hat mitgeholfen, das AmerikaBild Goethes zu festigen. Fragt man jedoch, wieweit dabei auch die amerikan. L i t e r a t u r in Rechnung zu stellen ist, sieht man sich an einen engeren Bezirk verwiesen. Hier ist vor allem James Fenimore C o o p e r anzuführen. Sechs Romane Coopers hat Goethe in rascher Folge (1826-1828) un4·

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Amerikanische Literatur

mittelbar nach ihrem Erscheinen — noch näre Vorstellung von dem „Lande der unbedazu in engl. Sprache — gelesen. Seinem grenzten Möglichkeiten" im Umlauf geTagebuch entnehmen wir, daß die Lektüre blieben. Vor allem die dt. L y r i k wollte es von The Last of the Mohicans, der Pioneers, sich nicht nehmen lassen, den indianischen des Spy, des Pilot und des Red Rover ihn Ureinwohner als ein unverdorbenes Kind der nicht nur nachdrücklich beschäftigt, sondern Natur zu sehen, das nur der Gewissenlosigihn auch „den reichen Stoff und dessen geist- keit, Habgier und List des weißen Siedlers reiche Behandlung" bewundern läßt. Erzähl- erliegt, — so wie diese Anschauung unter technische Erwägungen (vor allem zum Auf- dem Vorzeichen R o u s s e a u s von C h a bau des Romans) haben sich angeschlossen. t e a u b r i a n d mit Atala (1801) und Ren6 Einwirkungen auf Goethes eigene Produk- (1802) zu einer europäischen Mode gemacht tion sind freilich nur in bescheidenem Um- worden war. Wahrscheinlich ist auch W. fang zu verzeichnen. Für die Novelle schei- I r v i n g an dieser Konzeption nicht unbenen die Pioneers nicht ganz ohne Bedeutung teiligt, da er im Sketch Book (1819) mit dem gewesen zu sein (Wukadinovic). Im übrigen Aufsatz Traits of Indian Character eine Bebeschränkte sich Goethe' darauf, mit dem stätigung der ohnehin geläufigen AnAufsatz Stoff und Gehalt, zur Bearbeitung schauung gab (vgl. etwa: „The colonist often ."). vorgeschlagen (1827) die neue Materie Ame- treated them like beasts of the forest rika den jüngeren Autoren zu empfehlen. Solche Glorifizierung des Eingeborenen Seiner Forderung, „der Bearbeitende müßte mischt sich oft seltsam mit der zweiten Tenden Stolz haben, mit Cooper zu wetteifern", denz des dt. Schrifttums, die amerikan. Verist das dt. Schrifttum nachgekommen (s. § 6). hältnisse als ein Idealbild der humanitären Gesinnung und der einschränkungslosen Neben Cooper ist für Goethes Kenntnis Toleranz gelten zu lassen. Die Perspektive, der amerikan. Lit. noch W. I r v i n g mit unter der die neue Welt von den dt. Dichdem Sketch Book zu erwähnen, das er 1823 tem gesehen wird, ist teils als r e v o l u las. Wenn damit auch kaum von einer wirkt i o n ä r - i d e a l i s c h , teils als p h a n lichen Vertrautheit Goethes mit dem zeitt a s t i s c h - p i t t o r e s k zu bezeichnen. genöss. amerikan. Schrifttum gesprochen Aus revolutionärer Gesinnung heraus hat werden kann, so ist doch gewiß, daß es schon Ch. F . D. S c h u b a r t den Blick auf seinem Auge, welches sich nunmehr auf die Amerika als das Land der Freiheit, UrsprüngWeltlit. richtete, nicht gänzlich verborgen lidikeit und Unverdorbenheit gerichtet. Sein blieb. Gedidit Der sterbende Indianer an seinen Ε. Β e u 11 e r , Von der Ilm zum Susquehanna, in: Β e u 11 e r , Essays um Goethe. Bd. 1 (4. Aufl. 1948; Sammig. Dieterich 101) S. 462-520. — F . C. S e i l , American Influences upon Goethe. American-Germ. Rev. 9 (1943). — W. W a d e p u h l , „Amerika, du hast es besser." GermRev. 7 (1932) S. 186— 191. — D e r s., Goethe's Interest in the New World (1934). — H. W. Ρ f u η d , „Amerika, du hast es besser." Yearbook of the Germ. Soc. of Pennsylv. 1 (1950) S. 33-43. — A. H e l l e r s b e r g - W e n d r i n e r , America in the World View of the aged Goethe. GermRev. 14 (1939) S. 270-276. — Sp. W u k a d i n o v i c , Goethes Novelle; der Schauplatz; Coopersche Einflüsse (1909). — F . G. R y d e r , George Ttcknor and Goethe. PMLA. 67 (1952) S. 960-972.

§ 5. Kein zweiter dt. Dichter der Klassik oder der Romantik hat über ein so sorgfältig entwickeltes und sachlich begründetes Amerikabild verfügt, wie es bei Goethe anzutreffen ist. Nicht nur zu Goethes Lebzeiten, sondern weit ins 19. Jh. hinein ist statt dessen in der dt. Lit. eine rein imagi-

Sohn (1774) war als Beispiel dafür gedacht, „wie bei rohen Nationen der Naturgeist so frei, leicht und energisch spricht, wie der Vogel unter dem Himmel singt, während unsere Reden studiert, modisch und gedrechselt sind". Der Unabhängigkeitskrieg stachelte Schubart zu begeisterten Freiheitshymnen an. Auch J. G. S e u m e , der dem Umstand, daß ihm hessische Werber zu einem unfreiwilligen Aufenthalt in Neu-Schottland verhalfen, eine gewisse eigene Anschauung verdankte, verstieg sich mit seinem Gedicht Der Wilde zu einer Indianerverherrlichung, die „Europens übertünchte Höflichkeit" als herzlos entlarvte. Selbst S c h i l l e r glaubte, mit der Nadowessisdien Totenklage (im Almanach von 1797) dieser Mode huldigen zu müssen. Eine Generation später ist es dann A. v. C h a m i s s o , der mit seinen Indianergedichten und der scharfen Anklage gegen Andrew Jackson (unter dessen Präsidentschaft die Rothäute aus Georgia und Alabama in das Indianerterritorium verdrängt wurden) die einmal gewählte Richtung der dt. Lit. bestätigte. L e η a u, dessen Amerikafahrt (1832/33) viel Aufmerksamkeit im literar. Deutschland fand, brachte neben zahlreichen

Amerikanisdie Literatur Enttäuschungen audi einige tiefere Eindrücke mit zurück. Außer den landschaftlichen Reizen, wie sie ihm der Urwald von Ohio, die Niagarafälle und das Hudsontal gewährten, bestand auch für ihn die Ausbeute in Rothautpoesien wie Der Indianerzug oder Die drei Indianer aus dem Jahre 1834. F r e i l i g r a t h nahm wenigstens in Gedanken am Schicksal der Landsleute teil, die eine neue Heimat suchten (Auswanderer und Florida of Boston, 1832/33), um später noch die Katastrophe des Goldrauschs mit seinem Kalifornien (1850) festzuhalten, das in G e i b e 1 s Goldgräbern ein Gegenstück fand. In einem frühen sozialen Gedicht ließ G i e s e b r e c h t mit seinem Arbeitslosen (um 1830) den Blick sehnsüchtig nach dem Lande der Verheißungen hinüberschweifen, so wie auch die Jungdeutschen — H o f f m a n n v. F a l l e r s l e b e n mit seinen Texanischen Liedern (1846) und Ρ r u t ζ mit seinen Emigrantengedichten — allmählich die romantische Kulisse abstreiften, um dafür das Loblied auf die Tatkraft der dt. Kolonisten zu singen. Mit der Ballade John Maynard (um 1857) hat F o n t a n e den ihm vertrauten Stoffkreis der altengl. und altschottischen Balladendichtung um einen amerikan. Schößling erweitert. Doch bis hin zu L i l i e n c r o n , der mit dem Gedicht Das Opfer die rituelle Todesweihe einer Indianerin gestaltet, und Dehmels Indianischem Wiegengesang (1891) hat das phantastisch-pittoreske Amerikabild der Deutschen immer emeut lyrischen Ausdrude gefunden.

Auffällig spät hat das schöngeistige Schrifttum in Deutschland sich darum bemüht, die realen Lebensverhältnisse der nordamerikan. Union in politischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht als solche anzuerkennen. Verhängnisvoll war, daß der durch sein Pamphlet Common

Sense an der

amerikan. Unabhängigkeitsbewegung beteiligte Engländer Thomas P a i n e bei seiner Rückkehr nach Europa ebenso wie der Amerikaner Joel B a r l o w allzu radikale Ansichten vertraten, um in Deutschland mit Gegenliebe rechnen zu können. Unter den wenigen, die für die neuen politisch-sozialen Ideale des Freistaates aufgeschlossen waren, kann Z s c h o k k e einen ehrenvollen Platz für sich in Anspruch nehmen. In seiner Erzählung Die Gründung von Maryland (1820)

werden die Grundsätze eines auf Selbstregierung und Bekenntnisfreiheit beruhenden Toleranzstaates mit warmer Sympathie entwickelt. Dagegen sind Sprecher des Jimgen Deutschland wie B ö r n e und H e i n e dabei geblieben, Amerika zum Gegenstand ihrer politischen Utopie zu machen. Erst am

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Ende der dreißiger Jahre stellen sich bei H e i n e Zweifel an der Zuverlässigkeit seines Amerikabildes ein, und mit einem Anflug von Zynismus muß er gestehen, das Land seiner Wünsche und Träume jetzt nur noch „aus Metierspflicht" öffentlich anzupreisen.

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§ 6. Zu eben derselben Zeit als G o e t h e mit seinem Aufsatz Stoff und Gehalt, zur Bearbeitung vorgeschlagen (1827) nach einem dt. Erzähler Umschau hielt, der es wagen konnte, „mit Cooper zu wetteifern", war in Karl Ρ ο s 11 (Charles S e a l s f i e l d ) bereits der Entschluß gereift, sich auf diesem Felde zu versuchen. Postl, der zum ersten Male 1823 nach den Vereinigten Staaten gekommen war, erfüllte auch die Forderung, die Goethe mit seinem- Aufruf verknüpfte: „die klarste Einsicht in jene überseeischen Gegenstände" zu besitzen. Mit den Werken, die aus der Feder eines zunächst Unbekannten kamen, wurde das Thema „Amerika" nicht aus der Phantasie, sondern aus Erlebnis und Erfahrung für die dt. Erzählkunst gewonnen. Zwar hielt sich Sealsfield an die beiden Typen, die Cooper in die Lit. eingeführt hatte: den Indianer und den Grenzer. Doch die Unterschiede sind bedeutend. Sealsfield zeigt sich realistischer in seiner Auffassung der Menschen und Begebenheiten. Ihm geht es mit seinen Romanfiguren nicht länger um Dekorationsstüdee für eine wilde und bunte Szenerie, sondern um den tragischen Aufeinanderprall

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Amerikanische Literatnr

von Natur und Zivilisation, von ursprünglichen Rechten und gesdiichtlichen Notwendigkeiten. Mit den Lebensbildern aus beiden Hemisphären (1835/37), den

Deutsch - Amerikanischen

Wahlverwandt-

schaften (1839/40), dem Cajütenbudi (1841) und zahlreichen anderen Werken bezeugt Sealsfield seine Fähigkeit, dem romantischphantastischen Zerrbild der dt. AmerikaSchwärmer das nüchterne, herbe, aber doch in all seiner Großartigkeit entfaltete Gemälde des von ihm wirklich erfahrenen Amerika gegenüberzustellen. Wenn Sealsfield auch die Meinung der liberalen teilte, daß „der Blick nach Amerika zu richten sei, weil es der Blick in die Zukunft der Menschheit ist", so hat diese Überzeugung doch seine realistische Perspektive in keiner Weise abgebogen. Sealsfield hat mit dieser literar. Neuerung nicht allein gestanden. Friedr. G e r s t ä c k e r , Friedr. A. S t r u b b e r g , Balduin M ö l l h a u s e n und Otto R u ρ ρ i u s konnten sich genau so wie der Österreicher auf ihre Erfahrungen stützen, die sie jenseits des Atlantiks erworben hatten. Sie alle schrieben nicht vom Blickpunkt des distanzierten europäischen Beobachters aus, sondern waren mit den harten Anforderungen des Grenzerlebens von Grund auf vertraut. Schließlich ist noch daran zu erinnern, daß auch A. S t i f t e r mit dem Hochwald und vor allem dem Witiko sich auf den Spuren Coopers bewegte. Fraglich ist allerdings, ob hier nicht schon Sealsfield stärker als der Amerikaner eingewirkt hat. Wenn Stifter in der Erzählung Die drei Schmiede ihres Schicksals einen seiner jugendlichen Helden sich mit Auswanderungsabsichten nach Texas tragen läßt, so muß dabei das Cajütenbudi Posds veranschlagt werden, das ganz allgemein die Aufmerksamkeit in diese Richtung lenkte. Preston Albert Β a r b a , Cooper in Germany (Bloomington 1914; Indiana Univ. Studies 21). — Ε. Z a e c k e l , Der Einfluß J. F. Coopers u. W. Irvings auf die dt. Lit. Diss. Wien 1944. — Eduard C a s t l e , Der große Unbekannte. Das Leben von Charles Sealsfield (1952) S. 405 ff. u. 420 ff. — Milosch D j o r d j e w i t s c h , Ch. Sealsfields Auffassung d. Amerikanertums u. s. literarhist. Stellung (1931; FschgnNLitg. 64). — William Paul D a l i m a n n , The Spirit of America as interpreted in the Works of Ch. Sealsfield. Washington Univ. Diss. 1937. — Max L.

Schmidt, Amerikanismen bei Ch. Sealsfield (1937; DtStGeistg. 5). - J. T. K r u m p e l m a n n , Ch. Sealsfield's Americanisms. American Speech 16 (1942) S. 26-31; 104-111. — Helmut Ζ i m ρ e 1, K. Postls Romane im Rahmen ihrer Zeit (1941; FrkfQuFschgn. 29). — K. J. A r η d t, The Cooper-Sealsfield Exchange of Criticism. American Literature 15 (1943) S. 16-24. — G. Η. Ο ' D o n n e i l , Gerstaecker in America, 1837-1843. PMLA. 42 (1927) S. 1036-1043. — A. J. Ρ r a h 1, America in the Works of Gerstaecker. MLQ. 4 (1932) S. 213-224. — Bjaroe E. L a η d a , The American Scene in Friedr. Gerstaecker's Works of Fiction. Univ. of Minnesota Diss. 1952. — P. Α. Β a r b a , The life and works of Friedr. A. Strubberg (Philadelphia 1913). — Ders., Balduin MöUhausen, the German Cooper Americana Gennanica. NS. 17 (1914). ·— Theod. G r a e w e r t , Otto Ruppius u. d. Amerikaroman im 19. Jh. Diss. Jena 1935. — Hans P l i s c h k e , Von Cooper bis Karl May (1951). § 7. Mit den Einflüssen, die von C o o p e r auf die dt. Erzählkunst ausgingen, vermischte sich kurz nach der Jh.mitte die im einzelnen schwer greifbare Wirkung, die Harriet B e e c h e r S t o w e mit ihrem Buche Uncle Tom's Cabin auslöste, das in der ganzen Welt als der entscheidende Aufruf zur Negerbefreiung und als eine der Ursachen des Bürgerkrieges galt. In Deutschland ist diese Erzählung, die zunächst 1851/52 in der Zeitschrift The National Era erschien, zum Volksbuch geworden. Wenn die Verfasserin selbst zur Milderung des von ihr entworfenen Zustandsbildes audi die erträglichen Seiten der Sklaverei nidit verschwieg und die Darstellung mit Humor würzte, so nahm doch die Leserwelt in Europa wie in den amerikan. Nordstaaten das Werk als eine einzige Anklage gegen die menschliche Gesellschaft auf. Noch im Jahre 1852 setzten die dt. Ausgaben ein, um bei ungewöhnlichem Absatz in mehr als 40 verschiedenen Versionen verbreitet zu werden. Auch Bühnenbearb.en blieben nicht aus, wobei diejenige der Therese v. M e g e r l e (gedruckt in Wien 1853) nur einen kurzfristigen Erfolg zu verzeichnen hatte. Im erzählenden Schrifttum bot F. W. H a c k l ä n d e r mit seinem Euro•päischen Sklavenleben (1854) ein Parallelwerk — entstanden aus der Absicht, zu zeigen, „daß kein Mensch auf dieser Welt der Sklaverei entgeht und imstande ist, beständig seinen Willen durchzusetzen,

Amerikanische Literatur nicht die Bettler, nicht die Höchsten dieser Erde" (Europ. Sklavenleben, Bd. 2, Kap. 38). Daneben ist kaum zu verkennen, daß Berthold A u e r b a c h für sein Landhaus am Rhein (1869) in der Auswahl und Gruppierung der Figuren wie in dem beherrschenden Diskussionsthema der Sklavenfrage dem amerikan. Vorbild verpflichtet bleibt. Auch Der Amerikamüde (1856) von Ferd. K ü r n b e r g e r , im bewußten Gegensatz zu W i l l k o m m s Roman Die Europamüden (1838) betitelt, schließt in das allgemeine Bild einer Desillusionierung der einst hochgepriesenen amerikan. Lebensformen das Negerproblem in einer Weise ein, die den dt. Erzählern unverkennbar von Uncle Tom's Cabin nahegelegt worden war. Freilich hatten schon S t r u b b e r g , G e r s t ä c k e r und R u ρ ρ i u s mit Nachdruck auf diese brennende Frage hingewiesen. Alle drei hatten unmittelbar in Amerika ihre Erfahrungen gesammelt und waren vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges zurückgekehrt, sodaß sie unabhängig von H. Beecher Stowe über eine nicht unbedeutende Kenntnis auf diesem Gebiet verfügten. Jedoch war es keinem von ihnen beschieden, das Schicksal der schwarzen Rasse so eindrucksvoll wie die Verfasserin von Uncle Tom's Cabin zum Symbol für das Freiheitsverlangen der Menschheit schlechthin zu machen. Grace Edith Μ a c L e a η , ,Uncle Tom's Cabin' in Germany. (Diss. Heidelberg 1910; Publ. of the Univ. of Pennsylvania. Americana Germanica. NS. 10). — George Abraham M u l f i n g e r , F. Kümbergers Roman ,Der Amerikamüde', dessen Quellen u. Verh. zu Lenaus Amerikareise. Diss. Chicago 1903. — Hildegard M e y e r , Nordamerika im Urteil d. dt. Schrifttums b. ζ. Mitte d. 19. Jh.s. Eine Unters, über Kümbergers yAmerikamüden. Mit e. Bibliogr. (1929; Ubersee-Gesch. 3). — Leroy H. W o o d s o n , American Negro Slavery in the Works of F. Strubberg, F. Gerstaecker, and O. Ruppkis (1949; Catholic Univ. of America. Studies in German 22).

§ 8. Bis hin zum letzten Drittel des 19. Jh.s wird das erzählende Schrifttum der Amerikaner in Deutschland — von Uncle Tom's Cabin abgesehen — fast ausschließlich durch C o o p e r und I r v i n g vertreten. Allerdings scheint auch Charles Brockden B r o w n , der in vielem der Erzählkunst Coopers vorgearbeitet hat und als echter Vorläufer Hawthomes gelten

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darf, sich wenigstens vorübergehend bei uns ein breites Lesepublikum erworben zu haben. Daß I r v i n g 1822/23 in Deutschland lebte, mag dazu beigetragen haben, ihn der Aufmerksamkeit der zeitgenöss. dt. Schriftsteller zu empfehlen. Jedenfalls wird sein Name schon von W. H a u f f in Gemeinschaft mit S.cott und Cooper genannt (in dem Essay Die Bücher und die Lesewelt), um die derzeit geläufigen Muster zu bezeichnen. Jedoch läßt sich schwer abschätzen, wieweit nun tatsächlich von einem Einfluß Irvings auf unser literar. Schaffen gesprochen werden kann. Seine launige und hebevolle Art der Hinwendung zu den kleinen wie großen Dingen dieser Erde war ebenso wie seine ständige Ermahnung zur Verträglichkeit und zu gegenseitigem Verständnis geeignet, die Lektüre seiner Werke Wilhelm R a a b e angenehm zu machen. Erst seit etwa 1870 läßt sich von einem breiteren Zustrom der neueren amerikan. Erzählkunst sprechen. Um diese Zeit werden Louisa May A l e o t t (dt. Übers, des Old-Fashioned Girl im Erscheinungsjahr 1870), M a r k T w a i n (Huddeberry Finn und Tom Sawyer), Bret H a r t e (Tales of California) und ein Jahrzehnt später audi schon Henry J a m e s (Daisy Miller) dem dt. Publikum bekannt. Jedoch sollte der volle Einfluß von Henry James auf das dt. epische Schaffen erst nach der Vermittlung durch Maroel Proust im 20. Jh. einsetzen. Was die Zahl der Übers.en anbelangt, so ist verständlicherweise Mark Twain mit nahezu anderthalb Hundert dabei im Vordertreffen zu finden, wenn es auch zunächst den Anschein hatte, als ob ihm Bret Harte (der 1878 als Konsul nach Krefeld kam) in der Gunst der dt. Bücherfreunde den Rang ablaufen sollte. Nicht immer hat die literar. Kritik ohne weiteres den Geschmack des Publikums teilen können. Das gilt etwa für Lew W a l l a c e mit seinem Ben Hur (1880), der sich neben Uncle Tom's Cabin als amerikan. bestseller des 19. Jh.s erwies. Sicher ist jedoch, daß nunmehr die Zeit gekommen war, ganz allgemein ein altes Vorurteil fallenzulassen und das Vorhandensein einer eigenständigen amerikan. Lit. bereitwillig anzuerkennen. Greifbare Einwirkungen auf das dt. Schrifttum sind gleichwohl nur spärlich oder gar nicht zu verzeichnen. Überhaupt

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Amerikanische Literatur

keinen Einfluß auf Dichter und Schriftsteller scheint Nath. H a w t h o r n e ausgeübt zu haben, obwohl er zur klassischen amerikan. Erzählkunst gehört und zwei seiner Meisterwerke, The Scarlet Letter und The House of the Seven Gables, erstaunlich früh (1851) übersetzt wurden. Auf die Dauer war es nur M a r k T w a i n beschieden, sich als anregend und befruchtend zu erweisen. Durch den stark autobiographischen Einschlag in seinen Erzählungen, durch die ständige Auswertung persönlicher Erfahrungen zur Erkenntnis des AllgemeinMenschlichen, durch eine gewisse skurrile Eigenart der Betrachtungsweise, durch eine entschiedene Neigung zum Idyllischen und durch einen frischen Humor, der freilich zuweilen auch bittere Züge einschließt, bewegte er sich von vornherein in innerer Nähe zu dt. Erzählern wie Wilh. R a a b e oder Theod. F o n t a n e , so wie selbst Wilh. Büschs poetisch-zeichnerische Kleinformen des Grotesk-Primitiven einen solchen Vergleich erlauben. C. V o l l m e r , The American Novel in Germany, 1871-1913. Germ. Amer. Annais. NS. 15 (1917) S. 113-124; 165-219. — G. I. C ο 1 b r ο η , The American Novel in Germany. Bookman 39 (1914) S. 45-49. — Ο. P l a t h , W. Irvings Einfluß auf W. Hauff. Euph. 20 (1913) S. 459-471. — W. B r a n d e s , W. Raabe und W. Irving. Mittig. f. d. Ges. d. Freunde W. Raabes 13 (1923) S. 75-79. — Edgar Hugo H e m m i n g h a u s , Mark Twain in Germany. (New York 1939). — S. R o b e r t s o n , Mark Twain in Germany. In: Mark Twain Quart. 2 (1937/38). — John T. K r u m p e l m a n n , Bayard Taylor as a Literary Mediator between Germany and America. Diss. Harvard Univ. 1924. — L. K i e n t z , Raabe et I'amirtcanisme. In: Rev. Germ. (1931). —• Sonja Μ a r j a s c h , Der amerikan. Bestseller. Sein Wesen, seine Verbreitung unter bes. Berücksichtigung d. Schweiz (1946; Schweiz. Angl. Arbeiten 17).

§ 9. Auch auf dem Gebiete der L y r i k ist nur in bescheidenen Grenzen an einen Einfluß der amerikan. Dichtung auf die dt. zu denken. Ε. Α. Ρ ο e und H. W. L ο η g f e l l o w sind die einzigen, die zu einer dt. Gesamtausgabe ihrer Werke gelangten —• Longfellow im Jahre 1883, Poe erst 1909. Daneben kam von der älteren Lit. W. C. B r y a n t 1855 mit einer Auswahl zur Geltung, während von den Jüngeren B. T a y l o r durch Karl B l e i b t r e u 1879 in Deutschland eingeführt wurde. Doch nur von Poe und Longfellow läßt sich behaup-

ten, daß sie im 19. Jh. allgemeine Anerkennung fanden, die bei Longfellow sogar mit einer erheblichen Überschätzung seines literar. Ranges verbunden war. Poe zeigt sich in seiner Kunsttheorie von dem Gedankengut der engl und der dt. Romantik angeregt, auch wenn er in seiner späteren Entwicklung eigene Wege ging. Nicht nur an seiner Lyrik, sondern auch an seiner Erzählkunst wird deutlich, wieviel er dem S.chellingschen Naturpantheismus und den Lehren Mesmers vom Magnetismus und hypnotischen Somnambulismus verdankt. Das psychische Fluidum, das seine Erzählungen mit ihrem irrealen Gehalt und ihrer grausam-düsteren Spannung erfüllt, ist seit dem Einbruch der Psychoanalyse in die Lit. auch in Deutschland zu hohem Ansehen gelangt. Als Lyriker hat er durch die Intensität des Ausdrucks, die sich mit ungewöhnlicher Formbeherrschung paart (feste metrische Grundstruktur, durch Variation und Repetition belebt; reiche Verwendung des Binnenreims), aufhorchen lassen. Vor allem mit dem Gedicht The Raven traf er in der Verflochtenheit des PosenhaftTheatralischen mit echtem Weltschmerz so glücklich den Ton der Nachromantik, daß er auf den Spuren H e i n e s in Deutschland allgemeine Anerkennung fand. Der beständige Wechsel zwischen tragischen Stimmungen und grell gegensätzlichen Banalitäten, wie ihn der Lyriker Poe gern verwendet, ist bis hin zur literar. Dekadenz am Ende des Jh.s als vollgültige Stilform immer wieder aufgegriffen worden. L o n g f e l l o w hat im Gefolge B y r o n s seinen Einzug in Deutschland gehalten. Schon im Kreise um Elise v. H o h e n h a u s e n , dem die Vermittlung angelsächs. romantischer Lyrik ein wesentliches Anliegen bedeutete, war sein Name wohlbekannt. Im Sommer 1842 traf er am Rhein mit F r e i l i g r a t h zusammen, womit eine dauernde Verbindung eingeleitet war, die in Briefwechsel und Übersetzung ihren Niederschlag fand. Longfellows Verskunst kam in ihrem Epigonentum, ihrem humanitären Empfinden und ihrer Gefühlsbetontheit dem zeitgenöss. Geschmack so gründlich entgegen, daß sich ihre Einbürgerung in Deutschland reibungslos vollziehen mußte (Übers, von The Golden Legend

Literatur 1857 durch Ε. ν. Hohenhausen, von Hiawatha 1858 durch Freiligrath). Umgekehrt ist Longfellow zum großen Popularisator der dt. Spätromantik in Amerika geworden — so wie seine eigene Dichtung die Berührung mit der dt. Lit. auf einer Breite verrät, die sich von H a r t m a n n (Dramatisierung des Armen Heinrich in The Golden Legend) zu H e r d e r (Gebrauch des ungereimten, vierhebigen trochäischen Versmaßes nach dem Muster des Cid) und G o e t h e (Anlehnung an Hermann und Dorothea in der Idylle Evangeline) erstreckt. Paul W ä c h t l e r , Ε. A. Poe u. d. dt. Romantik. Diss. Leipzig 1911. — Fritz H i p p e , Ε. A. Poe's Lyrik in Dtschld. (1913). — O. F . Β a b 1 e r , German Translations of Poes Raven. Notes & Queries 174 (1938) S. 9. — Thomas Moody C a m p b e l l , Longfellows Wediselbeziehungen zu d. dt. Lit. Teil 1: Dt. Elemente in Longfellows Werken. Diss. Leipzig 1907. — Maria A p p e l m a n n , H. W . Longfellows Beziehungen zu Ferd. Freiligrath (1916). — James Taft H a t f i e l d , The Longfellow-Freiligrath Correspondence. PMLA. 48 (1933) S. 1223-1294. — Ders., New Light on Longfellow, with Special Reference to his Relations to Germany (Boston u. New York 1933). — Harro Heinz K ü h n e l t , Dt. Erzähler im Gefolge von Ε. A. Poe. Riv. Letterature Mod. Ν. S. 2 (1951) S. 457-465.

§ 10. Ende des 19. Jh.s setzte sich mit Walt W h i t m a n in Deutsdiland ein amerikan. Lyriker durch, der eine viel tiefergreifende Wirkung als Poe oder Longfellow auf die dt. Dichtung ausüben sollte. Man lernte hier einen Dichter kennen, der sich mit Entschlossenheit von den Stoffen wie den Formen der herkömmlichen Lyrik abgewandt hatte. Mit den Leaves of Grass (erste Ausgabe 1855; Ausgabe letzter Hand 1892 nach mehrfachen Revisionen und Erweiterungen) war eine Dichtung entstanden, die mit hymnischer Kraft und zündender Ursprünglichkeit einem pantheistischen Materialismus huldigte, der das Ich des Dichters als Typus und Symbol der Demokratie und des Amerikanertums, aber auch als Typus und Symbol der ganzen Menschheit feierte. Unstillbare Liebessehnsucht und tiefe Einsamkeit, glühende Lebensfreude und schmerzlich-süßes Todesverlangen, strenge Wirklichkeitsbindung und visionäre Verkündung sind mit leidenschaftlicher Emphase in freirhythmischen Versen eingefangen.

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F r e i l i g r a t h war der erste Deutsche, der sich enthusiastisch zu W. bekannte. Während seines engl. Exils las er den von W . M. Rossetti hg. Auswahlband der Leaves of Grass. Wie stark sich Freiligrath davon beeindruckt sah, bezeugt sein Aufsatz über W . in der Augsburger Allg. Zeitg. vom 24. 4. 1868, dem einige flüchtige Übersetzungsproben folgten. Kurz darauf nahm Adolf S t r o d t m a n n Verse W.s in seine Amerikanische Anthologie vom Jahre 1870 auf. Noch blieb freilich das Echo im zeitgenöss. Deutschland schwach. Ein Fortschritt war erst zu verzeichnen, als der Ire T. W. R o l l e s t o n , der längere Zeit in Dresden lebte, eine vollständige Übers, der Leaves of Grass ins Dt. in die Wege leitete. Ein Vortrag vor dem Literar. Verein in Dresden gab Rolleston 1883 Gelegenheit, um Verständnis zu werben, wobei er es geschickt verstand, alle diejenigen Elemente in W.s Werk herauszustellen, die das zeitgenöss. Deutschland ansprechen konnten: die Berührungspunkte mit der dt. idealistischen Philosophie wie mit dem Musikdrama Wagners. 1884 hatte Rolleston seine Übertragung im Ms. abgeschlossen. Auf der Suche nach einem „proper German collaborates" geriet er an Karl K n o r t z , der die Revision übernahm. 1889 konnten die Grashalme in dem Züricher Verlag von Schabelitz erscheinen. Auf den ursprünglichen Plan einer vollst. Ausg. mußte jedoch verzichtet werden. Der Züricher Übersetzungsband blieb auf 29 ausgewählte Stücke beschränkt, — von Knortz mit einem Vorwort und von Rolleston mit einer Einführung ausgestattet, wobei W . als erster Dichter vorgestellt wurde, mit dem die amerikan. Demokratie ihren angemessenen Ausdruck gefunden habe.

Das Jahr 1889 bedeutet den eigentlichen Beginn der Whitman-Wirkung. Als „Bibel der Demokratie" begrüßt, haben die Grashalme unmittelbar das Herz der jungen naturalistischen Generation beiührt. Johannes S c h l a f und Arno H o l z gehören zu Whitmans eifrigsten Verkündern. 1907 erfolgte die Reclamausgabe der Grashalme durch S c h l a f , die 1922 von der vorzüglichen Übers. Hans R e i s i g e r s abgelöst wurde. Die Wirkung blieb nicht auf die Naturalisten beschränkt. Die Impressionisten — P a q u e t , D a u t h e n d e y , der späte D e h m e 1 — fühlten sich in gleich eindringlicher Weise angesprochen. Aber audi die Expressionisten leisteten Gefolgschaft: W e r f e l in seinem Frühwerk, D ä u b l e r im Nordlicht, Arnim T. W e g η e r im Antlitz der Städte. Schließlich erfährt die Lyrik der Arbeiterdichtung (s. d.) von Whitman starke Impulse. So ergeben sich am Beispiel seiner Wirkungsgeschichte

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Ameiikanisdio Literatur

in Deutschland inmitten der programmatischen Stilriditungen gewisse Entwicklungsstufen, die parallel gehen und deren Gemeinsamkeit auf dem dichterischen Verlangen nach Ausdrude im Symbolischen beruht. Harry L a w - R o b e r t s o n , Wait Whitman in Deutschland (1935; GießBtrDtPhil. 42). — G. D. C1 a r k, Walt Whitman in Germany. Texas Rev. 6 (1921) S. 125-135. — A. J a c o b s o n , Walt Whitman in Germany since 1914. Germ. Rev. 1 (1926) S. 132-141. — Ε. L e s s i n g , Whitman and his German Critics. JEGPh. 9 (1910) S. 85-98. — E. T h o r s t e n b e r g , The Walt Whitman Cult in Germany. Sewanee Rev. 19 (1911) S. 71-86. — O. S p r i n g e r , Walt Whitman and Ferd. Freiligrath. American-Germ. Rev. 11 (1944) S. 22-26. — A. v. Ε η d e , Walt Whitman and Arno Holz. Poet Lore 16 (1905). — Horst F r e n z (Hg.): Whitman and Rolleston. A Correspondence (1951; Indiana Univ. Publ. Humanities Ser. 26). — D e r s . , Karl Knortz, Interpreter of American Literature and Culture. American-Germ. Rev. 13 (1946). — H. S c h e r r i n s k y , Waif Whitman in modernen dt. Übers.en. Neuphil. Zs. 2 (1950) S. 189-191. — H. P o n g s , Walt Whitman und Stefan George. CompLit. 4 (1952) S. 289322. — G. R ö c k l i n g e r , W. Whitmans Einfluß auf die dt. Lyrik. Diss. Wien 1951. § 11. In Deutschland ist man sich kaum bewußt geworden, daß mit den Grashalmen ein Gedankengut — freilich in verjüngter, modernisierter Fassung — zurückgegeben wurde, das einst von der dt. Klassik und Romantik seinen Ausgang genommen hatte. Whitman fand bei R. W. E m e r s o n , dessen Essays er nachweislich in den Jahren vor dem Erscheinen der Leaves of Grass las, nicht nur die sprachliche Form für seine Dichtung vorgezeichnet, sondern er fand hier vor allem die grundsätzliche Ermutigung zu seinem Unterfangen, den humanitären Glauben der Aufklärung und den Naturpantheismus der Romantik in Einklang zu bringen. Damit ist bereits der Standort des sogn. New England Transcendentalism umschrieben, aus dem als beherrschende Erscheinung E m e r s o n , der „Seher von Concord", hervorgegangen ist. Emerson hatte Deutsch gelernt, um G o e t h e , auf den er von C a r 1 y 1 e hingewiesen wurde, im Original lesen zu können. Goethe wird auch für ihn zum Sinnbild der großen Forscher und Weisen des Menschengeschlechts. Mit der Abhandlung Goethe; or, the Writer hat er ihm in seinen

Representative Men (1850) ein Denkmal errichtet. Herman G r i m m , mit dem Emerson im Briefwechsel stand und den er 1873 in Florenz traf, übertrug diese Arbeit ins

Dt. (Emerson über Goethe und Shakespeare, 1857) und wies außerdem in seinen

Neuen

Essays über Kunst und Literatur (1865) mit

Nachdruck auf Emerson hin. Das hatte zur Folge, daß die Werke des Amerikaners frühzeitig in dt. Fassung herausgebracht wurden, wobei neben G r i m m auch S p i e l h a g e n , F e d e r n und A u e r b a c h als Übersetzer beteiligt waren. Mit Emerson, dem Meister des literar. Fragments, lernte die dt. Lit. einen Autor kennen, unter dessen Händen sich die Kunstform des Essays in lyrische Dichtung verwandelt: als ein feierlicher Hymnus auf das Leben, das in allen seinen Erscheinungen und Bewegungen die Ewigkeit und Reinheit der Idee widerspiegelt. Ohne dieses Vorbild einer großen lyrischen Prosadichtung wäre Whitman mitsamt seiner reichen dt. Nachfolge kaum denkbar. Aber auch N i e t z s c h e s Zarathustra dürfte auf diesen Zusammenhang verweisen. Schon der junge Nietzsche hat Emerson als den lyrisch 'beschwingten Naturbeschreiber und als Nafcurphilosophen zugleich gesehen (vgl. den Brief an C. v. Gersdorff vom 7. 4. 1866). Die zweite Unzeitgemäße Betrachtung, die sich auf Emersons Einleitung zu den Representative Men und auf einige der Essays stützt, zeigt am deutlichsten, wie tiefgreifend der Einfluß war. Das NietzscheArchiv in Weimar bewahrt überdies Nietzsches Handexemplar R. W. Emerson: Ver-

suche. Aus dem Engl, von G. Fabrizius. Es

ist allenthalben mit Zusätzen und Bemerkungen bedeckt, die für die Intensität der Auseinandersetzung sprechen. Weniger deutlich wird, ob für Emersons Schüler H. D. T h o r e a u mit seinem Meisterwerk Waiden (1854), das erst 1897 ins Dt. übersetzt wurde, eine Nachwirkung zu verzeichnen ist. Auch in seinem Heimatlande hat Thoreau erst spät die verdiente Anerkennung gefunden, so daß seine Wirkungsgeschichte weder jenseits noch diesseits des Atlantiks als abgeschlossen gelten kann. Julius S i m ο ή , R. W. Emerson in land, 1851-1932 (1937; NdtFschgn. W. S p o h r , Emersons Influence many. Ethical Record 4 (1903).

Deutsch138). — in Ger— Κ.

Amerikanische Literatur F r a η c k e , Emerson and German Personality. Internat. Quart 8 (1903) S. 92-107. — Frederic William H o l l s (Hg.): Correspondence between R. W. Emerson and H. Grimm (New York 1903). — H. H a m m e l , Emerson and Nietzsche. New England Quart. 19 (1936) S.63-84. — R . S c h o t t l a e n d e r , Two Dionysians: Emerson and Nietzsche. South Atlantic Quart. 39 (1940). — R. W e 1 1 e k , Emerson and German Philosophy. New England Quart. 16 (1943) S. 41-63. — E. B a u m g a r t e n , Emerson und Nietzsche. In: Amerikakunde (1952) S. 174 f. § 12. Über die Bedeutung der amerikan. Lit. des 20. Jh.s für das dt. Schrifttum der G e g e n w a r t ist zu diesem Zeitpunkt noch kaum mit Sicherheit zu berichten. Die Gunst des Publikums (bestseller) und die anschwellende Zahl der Übers.en dürfen nicht als Maßstab genommen werden. Mit Gewißheit kann von einem nachhaltigen Eindruck am ehesten auf dem Gebiet des R o m a n s gesprochen werden. Allerdings hat der amerikan. Naturalismus in seinen Anfängen bei H. G a r l a n d , St. C r a n e und F . Ν ο r r i s genau so wie der dt. Naturalismus sich unter dem Einfluß der Franzosen, Russen und Skandinavier entwickelt. Doch bereits der sozialistische Tendenzroman Upton Sinclairs wurde in Deutschland als eine Stimme des Gewissens begrüßt, die dazu ermutigt, auf das alte ästhetische Ideal einer in sich beruhenden Romankunst zu verzichten und die Handlung in den Dienst einer reformatorischen Idee zu stellen. Vermutlich ist Sinclair durch dt. Übers.en der Schriften des kalifornischen sozialistischen Theoretikers Henry G e o r g e vorgearbeitet worden. Der dumpfe Wahrheitsdrang, der aus den Werken von Theodore D r e i s e r und Sinclair L e w i s spricht, wirkte in der gleichen Richtung. John D o s P a s s o s fand auf Grund von Gehalt u n d Form seiner Erzählwerke ein lebhaftes Echo, besonders mit Three Soldiers (1921) und Manhattan Transfer (1925). Der sogn. „Weltstadtroman" (ζ. B. D ö b 1 i η s Berlin Alexanderplatz 1929) dürfte nicht unbeeinflußt gebheben sein. Nach dem ersten Weltkrieg zielten die amerikan. Erzähler immer entschlossener darauf ab, den primitiven Grundgehalt des heutigen Lebens und seine triebhaften Quellen einsichtig zu machen. Der amerikan. Roman ist damit in das Stadium einer konsequenten Existenzanalyse getreten. Im

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Verlauf der letzten fünfundzwanzig Jahre wurde auf diesem Felde durch Thomas W ο 1 f e , William F a u l k n e r , Ernest H e m i n g w a y u. a. eine in ihrem Rahmen meisterhafte Konzentrierung auf einzelne Phänomene erreicht. Solche Isolierung des Einzelnen und Besonderen mag wohl einen hohen Deutungsgrad erlauben, muß jedoch auf die Dauer zu einer Erstarrung der literar. Technik führen, der auch die dt. Nachahmer nicht entrinnen können. Neben den Roman tritt als eigenständige literar. Ausdrucksform die S h o r t S t o r y , die seit W. I r v i n g und Ε . A. P o e kaum aus dem Gesamtbild des amerikan. Schrifttums wegzudenken ist. Sie läßt sich ihrer Art nach als ein knapper, aufs Typische abzielender Querschnitt durch den unaufhaltsam und im letzten undeutbar dahinziehenden Lebensstrom bezeichnen. Unter Betonung des Wesentlichen und unter Verzicht auf alles, was eine liebevolle Sonderbehandlung verlangt, hält die Short Story an der Einheitlichkeit der Handlung und der Geschlossenheit der Stimmung fest, wobei sich der Erzähler vorwiegend einer psychologischen Sichtweise verschreibt. Fast ausnahmslos sind die modernen amerikan. Romanautoren gleichzeitig als Verfasser von Short Stories in Erscheinung getreten. Eine dt. Nachfolge in dieser Erzählart deutet sich bei Autoren wie Ernst J ü n g e r , Günther W e i s e n b o r n , Wolfgang Β ο r c h e r t u . a . an, wenn auch nicht übersehen werden darf, daß eine einheimische Tradition (Ε. T. A. Hoffmanns Ritter Gluck, Hebbels Barbier Zitterlein und Die Kuh) vorhanden ist. Die Vielfalt und die Ausdruckskraft der amerikan. L y r i k ist nicht im geringsten von dem trotz reger Ubersetzungstätigkeit schwachen Echo in Deutschland her zu beurteilen. Die lyrische Produktion der späten dreißiger Jahre in Amerika hat mit fast grausamer Sachlichkeit die Seelennöte und die Daseinsqual des Einzelnen in einer sinnlos gewordenen Welt zum Ausdruck gebracht. Der ζ. Z. spürbarste Anstoß für unsere Lyrik ist von dem in England seßhaft gewordenen T. S. E l i o t mit seinen Four Quartets (1943) ausgegangen. Wie schon sein Lehrer Ezra P o u n d hat Eliot in der Bildersprache und in dem Formenreichtum der engl. Barocklyrik ein ständig

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Amerikanische Literatur — Anagramm

anregendes Vorbild gefunden. Auf diesem Untergrund ist ihm ein Gedankenlyrismus formalistischer Prägung gelungen, der durch expressive Disharmonien die Merkmale der Gespanntheit und der Stoßkraft erlangt. Kaum abzusehen ist, ob das amerikan. D r a m a eine belebende Wirkung ausüben kann. Upton S i n c l a i r s soziales Drama Singing Jailbirds (1924) wurde in Deutschland als Singende Galgenvögel gespielt. Das amerikan. Drama des 1. Weltkrieges war auf unserer Bühne mit What Price Glory? (dt. Rivalen) von Maxwell A n d e r s o n und Laurence S t a l l i n g s vertreten. Eugene O'N © i l l hat mit The Emperor Jones, The Hairy Ape, Anna Christie und Strange Interlude in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren seinen dt. Ruhm begründet; nach 1945 gellangte nur Mourning Becomes Electra (1931) zur Aufführung. Ist auch in Technik und Problemstellung eine Berührung mit Frank W e d e k i n d , Georg K a i s e r und Ernst T o l l e r kaum zu übersehen, so hat doch dieser Dramatiker bei uns bisher noch nicht festen Fuß gefaßt. Neben O'Neill kamen nach 1945 im dt. Theater zu Wort: Maxwell A n d e r s o n , S. N. B e h r m a n , Rachel C r o t h e r s , Elmer R i c e , William S a r o y a n , John S t e i n b e c k , Thornton W i l d e r und Tennessee W i l l i a m s . Beachtung verdient die Bemühung T. S. Ε 1 i ο t s um die Erneuerung des Versdramas mit Murder in the Cathedral (1935), The Family Reunion (1939) und The Cocktail Party (1950). Der Versuch Eliots, dem Innenleben des heutigen Menschen zu einer adäquaten Gestaltung auf der Bühne zu verhelfen, könnte Wirkungen im dt. dramatischen Schaffen zeitigen. Eine späte Neuentdeckung ist Herman M e l v i l l e . Sein Moby Dick (1851) gilt heute als eine der bedeutendsten Prosadichtungen in engl. Sprache. Im Realismus der Einzelszenen, in der Symbolik der Bildersprache, vor allem aber in dem weit ausschwingenden Rhythmus des tragischen Geschehens erweist sich Melville als ein Dichter vom Geiste Shakespeares. Wie hier im Medium eines erdrückenden Andrangs von Gesichten der ewige Widerspruch von Sein und Schein ans Licht gehoben wird, und wie die e i n e Urkraft, die allem Leben innewohnt, als „the latent horror of life" beschwo-

ren ist — darin verrät sich ein Wissen um die Zwiespältigkeit des Daseins selbst, das zu Lebzeiten des Dichters auf kein Verständnis durch die Mitwelt rechnen durfte, aber im Urteil des 20. Jh.s einen unbestrittenen Beitrag Amerikas zur Weltlit. darstellt. Ε . Β a η t ζ , Upton Sinclair: Book Reviews and Criticisms published in German and French Periodicals and Newspapers. Bull, of Bibliogr. 18 (1943). — W. W. P u s e y , The German Vogue of Thomas Wolfe. Germ. Rev. 23 (1948) S. 131-148. — J. R. F r e y , Hemingway, a Literary Force in Post-War Germany. Progr., Mod. Lang. Ass., Chicago, Dec. 1953. — Μ. E. G a i t h e r , American Drama in Fost-War Germany (ebd.). — Η. Frenz, A List of Foreign Editions and Translations of Eugene O'Neill's Dramas. Bull, of Bibliogr. 18 (1943) S. 33 f. — Ders., O'Neill on the German Stage. Progr. Modem Lang. Ass. (Detroit), Dez. 1951. — P. S t e i n e r u. H. F r e n z , Anderson and Stallings' ,What Price Glory?' and C. Zuckmayer's ,Rivalen . GermQuart. 20 (1947) S. 239-252. — S. H. M u l l e r , G. Hauptmann s Relation to American Lit. and his Concept of America. MhDtUnt. 44 (1952) S. 332-339. — H. P o l i t z e r , America in the Later Writings of Thomas Mann. Modern Lang. Forum 37 (1952) S. 91 -100. —· Klaus D ο d e r e r , Die Kurzgesdt. in Dtschld. (1953). — Ders., Die ags. short story u. d. dt. Kurzgesch. NSpr. (1953) S. 417 -424. — Rich. M ä n n i g , Amerika u. England im dt., österr. u. Schweiz. Schrifttum d. Jahre 1945-1949. Eine Bibliogr. (1951).

Amphibolie s. Stilfiguren.

Horst Oppel

Anagramm Spielerische Buchstabenversetzung in einem Worte zur Bildung eines neuen Wortes, ζ. B. Lied-heid. Eine besondere Form ist das P a l i n d r o m (griech.), bei dem die Buchstaben eines Wortes (oder eines ganzen Satzes) rückwärts gelesen ein neues Wort (oder einen neuen oder denselben) Satz ergeben, ζ. B. Nebel — Leben; ein Neger mit Gazelle zagt im Regen nie. Als Erfinder des A. gilt Lykophron von Chalkis (3. Jh. v. Chr.). Viel benutzt wird es zur Bildung von Wortspielen, Rätseln und Pseudonymen, ζ. B. Alco fibras Nasier = Fran?ois Rabelais. Beliebt ist das A. besonders im 16. u. 17. Jh. (Fischart, Grimmelshausen). Sammlungen bestehen von Mautner (Rostock 1636) und A. Stender (Braunschweig 1673). Isaac D i s r a e l i , Curiosities of literature. From the 14th corr. London ed. (New York 1871). Paul Habermann

Anäkreontik Anäkreontik § 1. Unter A. versteht man einen in seiner Eigenart deutlich bestimmbaren Typ lyrischer Dichtung der 40er bis 60er Jahre des 18. Jh.s. Er formte sich besonders durch Anlehnung an die pseudoanakreontische Sammlung von sechzig griech. Liedern aus den verschiedensten nadianakreontischen teils alexandrinischen, teils nachchristl. Zeitabschnitten, die erstmalig von H. Stephanus (Henri Estienne) 1554 herausgegeben wurde und deren anmutig tändelnde liebesund weinselige Genußfreudigkeit allmählich das ganze dichtende Kultureuropa in ihren Bann schlug. Was diese Art „anakreontisch" zu dichten in erster Linie charakterisiert, ist ihr M o t i v k r e i s , der sich ständig um Liebe und Wein dreht. Immer aufs neue wird das Wesen und die Macht der Liebe erörtert, die Reize der Geliebten in Blick und Kuß, Augen, Wangen, Lippen und Busen geschildert, wobei Bade- und Sichlafszenen erwünschte Gelegenheit zum Besingen intimster Reize geben. Der Schauplatz der Handlung ist eine sanfte liebliche Natur, grüne Täler, schattige Haine, murmelnde Bäche und Quellen, wo Myrtenlauben und verschwiegene Grotten zur Liebeständelei einladen. Blumen duften, Nachtigallen flöten, und zärtliche Tauben flattern umher. Die Schutzgöttinnen dieser Lyrik sind die Grazien und Venus-Cythere, die Göttin der Schönheit und der Liebe und Mutter des „süßen" Gottes Amor, der listiger Streiche voll in den verschiedensten Masken durch alle diese Liederchen 'hindurchflattert. Und wie Amor, so spielt Bacchus seine Rolle als Gott des Weines, in dessen Lob man sich nicht genug tun kann. Der Wein verscheucht alle Sorgen und belebt bei Gesang und Saitenspiel Freundschaft und Geselligkeit, allerdings nur im Kreise der „weisen Trinker", im wilden Haufen der Unmäßigen herrscht Dummheit und Zänkerei. § 2. H i s t o r i s c h wird der Begriff A. in erster Linie mit den Dichtungen der Hallischen Freunde Gleim, Uz und Götz verknüpft, die 1746 auch in dem gemeinsamen Unternehmen einer Anakreonübers. ihrer poetischen Richtung programmatischen Ausdruck verliehen, ihnen gesellt sich als unmittelbarer Vorläufer Hagedorn, als Mitstrebende und Nachahmer eine stattliche

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Reihe größerer oder kleinerer Talente und Talentchen. Es dürfte kein einziger Dichter dieses Zeitraums nachzuweisen sein, bei dem sich nicht wenigstens anakreontische Motive fänden. Neben den Namen von Klang, die alle irgendwie einmal ausgesprochenermaßen anakreontisch getändelt haben (Ebert, Gieseke, Klamer-Schmidt, die Karschin, Zachariä, Ramler, Lessing, J. Moser, Gerstenberg, Kretschmann, Weiße, Jacobi) kann Goedeke noch über sechzig „Anakreontiker" verzeichnen, eine Zahl, die sich sicher durch Heranziehung einzelner Veröffentlichungen in Almanachen, Wochenschriften usw. noch beliebig vermehren ließe. (Uber die Vorläufer der A. im 16. und 17. Jh. vgl. Witkowski, Pick und Lischner a. a. O.) Mit Gleims Versuch in scherzhaften Liedern (1744/45) kommt die Manier des griech. Vorbildes am deutlichsten zum Ausdrude; Uz zeigt in dem Betonen des schönen „Maßes" das Vorwiegen Horazischen Einflusses, Götz wird besonders als der „vielformige" gerühmt, Lessings Kleinigkeiten (1751) treten burschikoser, frischer, epigrammatisch schärfer auf, Jacobis empfindsame Seele öffnet sich besonders engl. Strömungen. Mit dieser Generation der 40er Jahre setzt sich die Kultur des aufstrebenden Bürgertums deutlich von der fast ausschließlich vom Adel und von der höfischen Lebenshaltung bestimmten vorhergehenden Epoche ab. Aus der Freude freundschaftlich-geselligen Zusammenseins entstehen die Lieder dieser jungen Studenten aus bürgerlichen Häusern, dieser Kandidaten, Hofmeister und Sekretäre. Von der Gemeinschaft her, als Gesellschaftskunst, wird diese Dichtung Zeitvertreib und Gesellschaftsspiel. Auf den Geschmack des kultivierten Kunstgenießenden berechnet, ist sie Kulturdichtung, nicht Naturlaut der Leidenschaft, nicht Urerlebnis, sondern literar. Einfall, reflektierte Erinnerung. Noch ist Leben und Dichtung keine Einheit, noch bewegt man sich aktiv nur in einer Welt der Phantasie und Vorstellung. Daß aber hinter diesen sinnlich-frohen, epikuräischen Wunschbildern oft eine nur gewollte Heiterkeit, die Tragik eines inneren Bruches, die „Fluchtreaktion" aus sozialer Enge und Ängstlichkeit eines noch unterdrückten Bürgertums erkannt werden muß, darauf hingewiesen

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Anakreontilc

zu haben ist das Verdienst der Arbeit von Joswig (a. a. O.) So wird die L u s t d e s F o r m e n s zum eigentlichen dichterischen Motiv. Man strebt nach möglichster Klarheit, Logik, Regelmäßigkeit, man wählt aus, verarbeitet, feilt, bis Baumgartens Forderung: „Das Gedicht muß ein einziges Thema haben und alle Teile der Ausführung müssen strengstens auf dieses abzielen" erfüllt ist, bis ein symmetrischer Aufbau erreicht ist, der zweiteilig als Formprinzip des Gegensatzes, dreiteilig als Prinzip der Versöhnung des Entgegengesetzten auftritt Der Abschluß des Gedichtes, die Pointe ist der Ausgangspunkt, auf den alle Situationen zugeschnitten werden. Durch die artistische Tendenz aber, mit der diese Dichtungsart zu bewußtem Zusammenhang mit der literar. Tradition drängt, wird sie in irgendeinem, bald engern, bald weitem Sinne — Nachahmung, und zwar Nachahmung aller dichterischen Strömungen von der antiken Vergangenheit bis zur unmittelbaren literar. Gegenwart ihrer eigenen Epoche. § 3. An erster Stelle dieser V o r b i l d e r steht — entsprechend dem Kunstwollen der gesamten Aufklärungszeit — das k l a s s i s c h e A l t e r t u m . Neben Anakreon in der oben genannten pseudoanakreontischen Sammlung — (die Frage der Echtheit spielt dabei keine Rolle, erklärt Gleim doch ausdrücklich: „was mich anbetrifft, so ist der Verfasser der Oden, die wir haben, oder die Verfasser zusammen genommen, mein Anakreon") — ist die g r i e c h . A n t h o l o g i e zu nennen, in der jüngeren Fassung des Planudes, die von Götz ζ. B. selbst als Quelle angeführt wird und von der zahlreiche Epigramme in lat. Ubersetzungen schon lange allgemein zugänglich waren. Dazu kommt dann besonders Horaz, freilich einseitig in seinen heiteren Oden, die zu Lebensgenuß und Fröhlichkeit mahnen und die im Zusammenhang mit den Anakreontea dazu führen, den Begriff der sogenannten sokratischen Weisheit zu bilden. Vermittelt aber und stets aufs neue angeregt wurde die Bekanntschaft mit dieser antiken Lyrik und Odendichtung durch die F r a n z o s e n . Seit den Tagen der Plejade waren in Frankreich anakreon tische Töne nicht wieder verklungen. Im Gefolge Epikuis, der durch den beliebten Modephilosophen Gassendi im

17. Jh. seine Renaissance erlebte, dichteten Chaulieu, Chapelle, Bachaumont, Lainez, La Fare u. a., denen sich im 18. Jh. die zahllosen Petits poetes mit ihren Poesies fugitives anschlossen. Piron und besonders Gresset sind hier zu nennen, aber auch Voltaire als rot des petits vers, dessen: „Ahl que j'aime ces vers hadins / Ces riens naifs et pleins de grace" als bezeichnendes Motto den Gleimschen scherzhaften Liedern voransteht. Diese von anakreontischen Motiven erfüllte, durch Leichtigkeit der inneren und äußeren Form ausgezeichnete Lyrik mit ihrer spielenden Vermischung antiker Mythologie und moderner Galanterie wurde neben den klassischen Mustern das Hauptvorbild der deutschen A. Reproduziert, übersetzt, paraphrasiert, brieflich von einem zum andern gesandt, deklamiert und gesungen, beeinflußten sie Stil und Weltanschauung einer ganzen Dichtergeneration. Indirekt steht diese franz. Dichtung auch hinter dem Einfluß, den die e n g l i s c h e D i c h t u n g auf die dt. A. ausübte, indem die Prior, Waller, Gay u. a. mehr oder weniger zu den französisierenden Modedichtem gehörten und nur einen gewissen empfindsamen Zug aus eigenem beisteuerten. Dagegen tritt die d e u t s c h e D i c h t u n g als Quelle der A. stark zurück; nur mit dem Barode, besonders in seiner naiv anakreontisdi-sächsischen Auswirkung, knüpfen sich Fäden, wodurch die Kontinuität des literar. Ablaufes über die amusische Wolffzeit hinweg gewahrt wird. Dagegen steht die T h e o r i e des 18. Jh.s, die sich um eine philosophische Begründung der geltenden Kunstideale müht, in reger Wechsel· beziehung auch zur anakreontischen Dichtung. Dabei stehen freilich die hier hauptsächlich in Betracht kommenden ästhetischen Erörterungen über Schönheit, Anmut, Reiz, Grazie, wie sie von Meier, Baumgarten, Mendelssohn, Lessing, Riedel u. a. angestellt werden, stark unter engl. Einfluß. In erster Linie ist 'hier auf Shaftesburys Schönheitslehre hinzuweisen (in Advise to an author und besonders in den Moralists), deren moral-Venus und moral-Graces ebenso Grundbestand der herrschenden Anschauungen wurden wie die von Hogarth in der Analysis of beauty (1753, von Mylius als Zergliederung der Schönheit übersetzt) aufgestellten Wellen-

Anakreontik — Anekdote und Schlangenlinien als Ausdruck der Schönheit und des Reizes; ein terminus technicus, der sogar einmal in die Wielandsche Dichtung eingeht: „ . . . ein solch Ovalgesicht / So feine Züg und alles lauter Schlangen — / Und Wellenlinien . . . " Schließlich ist als Vorbild anakxeontischer Dichtung auch noch die bildende K u n s t heranzuziehen. Gerade das malerische Rokoko ist ja, wie alle genrehafte Kunst, stark literarisch und fordert förmlich zu „Gemäldegedichten" heraus. Kein Wunder, daß einem anakreontischen Situationsbildchen so oft Watteau, Boucher, Fragonand, Baudouin u. a. mit ihren schäferlichen oder galanten Szenen Modell standen. Hier würde eine planmäßige Untersuchung besonders auch der zeitgenössischen Buchillustration sicher noch manche Nachweise zu bringen vermögen. Mit Erfolg wäre dabei auch die als „Daktyliothek" bekannte Lippertsche Sammlung antiker Gemmenabdrücke heranzuziehen, von der 1755 das erste und zweite, 1762 das dritte Tausend erschien und auf die Oeser noch Goethes Interesse hinlenkte. Drei Jahrzehnte lang erstrecken sich die Wirkungen dieser Dichtung, die die Bodmer-Dusch-Wielandschen Angriffe leicht abschüttelnd, erst der Wucht des neuen Lebensgefühls kraftgenialischen Sturmes und Dranges erliegt (Lenzens Pandaemonium Germanicum 1775 vollzieht die literar. Hinrichtung). Aber noch Goethe selbst hat an die Uberlieferung der A. angeknüpft, und im Schenkenbuch des Dwan, in den Sprüchen Mirza Schaffys, in den Liedern Mörikes, Geibels und Scheffels klingen anakreontische Töne bis in das 19. Jh. hinein fort. Mag man dieser lyrischen Dichtungsart immerhin vorwerfen, daß sie nur selten Anakreons „kleines Gemälde von Liebe und Schönheit" mit seiner ganzen Grazie griech. Formgebung erreicht, daß sie gegenüber den franz. Vorbildern zuwenig aus Selbsterlebnis und bodenständiger Geselligkeitskultur schöpft, zu stark mit moralischen Ängsten und sentimentalem Spießbürgertum behaftet sei, der Erfüllung ihrer literarhistorischen Mission ist sie im vollsten Umfange gerecht geworden: „zwischen den Zeiten" der starrsten Regelhaftigkeit und der formlosesten Lockerung stehend, hat sie die Klarheit, Durchsichtigkeit

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und Leichtigkeit ihrer an gallischer StiJkunst geschulten Sprache ebensosehr der papiernen Schwerfälligkeit logischer Aufklärungslit. wie der dunklen Nurgefühlsmäßigkeit der Klopstodcschen Rhythmen entgegenzustellen gewußt. Gegenüber der statuarischen Ruhe barocker Schilderung aber hat sie Beschreibung in Handlung aufgelöst und damit nicht nur das Auge empfänglich gemacht für den Reiz der Bewegung in Gang, Haltung, Stellung, Gebärden und Lächeln, sondern einen ersten Schritt getan vom Betrachten äußerer Form zu beseelendem Individualisieren. G ο e d e k e , Grundriß, Bd. 4, 1. 3. Aufl. (1916) § 202, S. 5—7; § 212, S. 105—115. Eine Gesamtdarst. fehlt. Friedr. A u s f e 1 d , Die dt. anakreont. Dichtg. d. 18. Jh.s (1907; QF. 101) gibt nur die stoffl. Motive. Franz P o r a e z o y , Grazie u. Grazien i. d. dt. Lit. d. 18. Jh.s (1900; BeitrÄsth. 7). Gg. W i t k ο w s k i , Die Vorläufer d. anakreont. Dichtg. in Dtsdild. u. Fr. v. Hagedorn (1889). Th. F e i g e 1, Vom Wesen d. A. u. ihrem Verlauf im Halberstädter Dichterkreis. Diss. Marburg 1909. A. P i c k , Studien zu d. dt. A.ern a. 18. Jh.s, insbes. J. W. Gleims. StvglLitg. 7 (1907) S. 45—109·; 9 (1909) S. 22—64. Helm. L i s c h η e r , Die A. i. d. dt. useltl. Lyrik d. 17. Jh.s. Diss. Breslau 1932. A.er u. preuß.-patriot. Lyriker hg. v. Franz M u n c k e r (1894; DNL. 45). Joh. Peter U z , Sämtl. Poet. Werke hg. v. A. Sauer (1890; DNL. 33). E. P e t z e t , Der Einfl. d. A. u. Horazens auf J. P. Uz. ZfvglLitg. N. F. 6 (1893) S. 329—392. G. K o c h , Gleim als Anakreonübers. u. s. franz. Vorgänger. StvglLitg. 4 (1904) S. 265—288. Joh. Nikol. G ö t z , Gedichte aus d. Jahren 1745—1765 hg. v. C. Sdiüddekopf (1893; DLD. 42). Else S t r o b e l t , Die Halberstädter Α., Goecking u. Bürger. Diss. Leipzig 1929 (unergiebig). Helm. P a u s t i a n , Die Lyrik d. Aufklärung als Ausdrude d. seelischen Entwicklung von 1710 bis 1770. Diss. Kiel 1933. Horst J o s w i g , Leidenschaft u. Gelassenheit i. d. Lyrik d. 18. Jh.s (1938; NDF. 204). Alb. K ö s t e r , Die dt. Lit. d. Aufklärungszeit (1925). Emil E r m a t i n g e r , Barock u. Rokoko i. d. dt. Dichtg. (1926). Ferd. Jos. S c h n e i d e r , Die dt. Dichtg. d. Aufklärungszeit (2. Aufl. 1948) S. 147—158. DtLit. Reihe 14: A u f k l ä r u n g . Hg. v. F. Brüggemann. Bd. 115 (1928-1941). Erna Merker Analyse s. Interpretation. Anapäst s. Antike Versmaße u. Strophenformen. Anapher s. Stilfiguren. Anekdote § 1. Das griech. Wort ist eine späte Bildung: Prokopios, der Berater und Sekretär

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Anekdote

Beiisars (seit 526), bezeichnete seine Anklageschrift gegen Justinian und dessen Gattin Theodora als Anecdota oder Historia Arcana, geheimgehaltene und in seiner Geschichte des Kaisers Justinian unterdrückte Hofgeschichten (άν-έκδοτον = nicht herausgegeben). Was wir heute A. nennen, hat bei den Griechen eine annähernde Entsprechung im Apophthegma; dabei handelt es sich um eine kurze Geschichte, die Menschen in einer bestimmten Situation zeigt und auf eine geschliffene Äußerung hinausläuft. Auf histor. Verbürgtheit kommt es dabei nicht an, wohl aber auf eine Ubereinstimmung zwischen der Aussage und dem Charakter des Aussagenden A.n solcher Art finden sich in Fülle bei Plutarch (46-120 η. Chr.); beliebte Figuren der A. waren die Sieben Weisen und Diogenes, der „antike .Eulenspiegel" (Poeschel). Stilistisch davon unterschieden sind die auf epische Breite angelegten Erzählungen Herodots. Dem Gegenstand nach bietet die A. also ein merkwürdiges Vorkommnis, stilistisch bedeutet sie eine besondere Weise des Erzählens. Stoffe der verschiedensten Art können anekdotisch dargeboten werden. Im MA. nimmt den breitesten Raum das Schwankhafte ein, aber auch die Mythenerzählung (Thor im Fluß), der „Kasus" (Andre J ο 11 e s , Einfache Formen), d. h. der auf eine Vorschrift bezogene Vorfall, die ihrerseits dadurch zum Problem wird, können Gegenstand der A. sein. A.isches findet sich in den Predigtmärlein des MA.s. § 2. Die moderne A. hat ihren Ursprung in der lat. Kurzerzählung der Humanisten. Diese fand ihren Meister in Ρ ο g g i ο , dessen Liber facetiarum (s. Face tie) das formale Muster seiner Nachahmer in Deutschland wurde, Geschichtchen mit einem Zug ins Satirische oder Frivole, wie sie sich Männer erzählen, die sich ihren Spaß machen mit Menschen ihrer Zeit und ihrer Umwelt. 35 dieser Stücke tauchen in einer Fabelkompilation auf, die Sebastian Β r a η 1 1500 zusammenstellte, moralisierend veränderte und darum ihrem ursprünglichen Charakter entfremdete. Schon vor ihm hatte jedoch Augustin Τ ü η g e r (1486) auf den Spuren Poggios Anekdoten solcher Art aufgezeichnet, das Latein mit Germanismen durchsetzt und trotz ungefüger Sprache und moralischer Nutzanwendung sich erfolgreich bemüht,

die Treffsicherheit des Italieners zu erreichen. Das große Muster humanistischer Anekdotenkunst gab Heinrich B e b e l mit seinen Facetiae (1506—1509). Es finden sich bei ihm Märchenlegenden und Lügengeschichten, die lange nachgewirkt haben und an späterer Stelle wieder auftauchen (das Schneiderlein im Himmel, die Landsknechte, die weder im Himmel noch in der Hölle unterkommen, der Schmied von Kannstatt, eine Art Münchhausen). Indem sich der Schwank (der das Heitere bis zum derb Spaßhaften bietet) und die Fabel (die der Lehre dient und in erdachte, meist unreale Verhältnisse führt) sowie die Novelle aussondern, bildet sich in dieser Zeit der gattungsästhetische Charakter der A. stärker heraus. P a u l i s Schimpf und Ernst und W i c k r a m s Rollwagenbüchlein sind den Schwanksammlungen zuzurechnen. Eine Neublüte erfährt die A. in und seit den Tagen der Romantik. Ersichtlich ist das Bemühen, Erlebnisweise und Ton des Volkes in die Sprache der Kunst umzusetzen und darin zu erhalten. Eines der schönsten Beispiele großer A.kunst ist K l e i s t s Husarengeschichte. Die A. fand Eingang in die Kalender der Zeit und erfuhr dadurch weitere Pflege. Matthias C l a u d i u s bediente sich ihrer im Wandsbecker Boten (und auch außerhalb des Kalenders) als Mittel lehrhafter Unterhaltung. Am stärksten ausgebildet wurde die Gattung durch J. Ρ. Η e b e 1. Im Rheinischen Hausfreund erzählt e" von Handwerksburschen, Bauern und W.rten, treuen Müttern und braven Söhnen, Reichen und Armen, Spitzbuben und Schalksnarren, so wie das Leben sie bietet, in allem Geschehen zu einer Lehre bereit, die er selbst ganz deutlich macht, sei es, daß er sie am Ende ausspricht, sei es, daß er mit einem kurzen „Merke" zum Nachdenken über die Geschichte auffordert. Lebendig wird die Erzählung durch die Anwesenheit des Erzählers, der sich als Hausfreund oder als 'Adjunkt' einführt und dann von Menschen berichtet, in denen sich der Oberländer wiedererkannte. Jeremias G o t t h e l f schrieb a.ische Erzählungen für den Neuen Berner Kalender, den er 1839 bis 1844 herausgab. Wilhelm S c h ä f e r s kurze Erzählungen stehen infolge der Ausweitung der Form bereits im Grenzbereich von A. und Novelle; er selbst bezeichnete seine Geschichten mit

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Anekdote

„Histörchen" und hatte die Form der Novelle vor sich. Er wollte, daß „diese Gebilde in irgendein Stück Weltgeschichte a.isch, d. h. von einer zufälligen Seite aus hineinleuchten" Die Stoffe entstammen der ganzen Welt, vorzüglich aber der dt. Gesch.; der Wille zum Bilden und Erziehen spricht sich aus im Beispielhaften und bedient sich — nach dem Vorbilde Kleists — einer strengen Sprachform. Verwandtschaft zur A. zeigt auch die moderne K u r z g e s c h i c h t e (s. d.); neu an ihr ist die unpathetische, unromantische und meist ungeschminkt realistische Darstellung, wie sie der heutigen Art der Welterfahrung entspricht. § 3. Was die „innere" Form der A. anbelangt, so ist die Erzählung hingeordnet auf ein Geschehen, das sich in schnellem Fluß entwickelt. Die Situation wird meist in kurzen Andeutungen umrissen, der Rahmen von Raum und Zeit mit wenigen, aber starken Strichen gezeichnet. Die Kräfte, die die Handlung bestimmen, befinden sich meist gleich zu Anfang in Bewegung und drängen auf plötzliche Entladungen, Enthüllungen oder abschließende Äußerungen in einem besonderen „Augenblick" (Petsch). Sowohl im Bau des Ganzen wie im Gefüge der Sätze herrscht Knappheit, Rede und Dialog bedienen sich der gedrängtesten Form. Gelegentliche Längen finden ihre Rechtfertigung in der Anlage der Α.; sie verbergen oder offenbaren die Haltung der Ironie, beabsichtigen, die ungeduldige Erwartung in Richtung auf den schließlichen Ausgang zu vermehren, oder sind selbst eine Aneinanderreihung von Handlungshöhen. Der eigentliche Sinn liegt in der Pointe, in der überraschenden Wendung, in einer nicht erwarteten Tat oder Aussage, in einer der Logik des Geschehens scheinbar widersprechenden, jedoch sinnvollen Schlußfolgerung. Diese wird, obwohl sie Erstaunen und Verblüffung hervorruft, vorbereitet durch die „Pfeilrichtung" des Vorgangs; auf das Sonderbare, Aufreizende, Herausfordernde oder Törichte der Prämissen wird zum Schluß die Antwort gegeben. Das stilistische Mittel ist meist der Witz; er ist die Gabe, nicht nur Weitauseinanderliegendes miteinander zu verknüpfen, sondern an Stelle des erwarteten Endes mit einem einzigen Satz zu dem gerade entgegengesetzten Reallexikon I.

Resultat zu führen. Dadurch ist die Haltung des A.nerzählers der des Aphoristikers verwandt. In anderen Fällen strebt die A. auf eine letzte, in gerader Linie liegende kühne Steigerung. Das Ergebnis kann ein witziges Wort (in der alten Bezeichnung das „facete dictum") sein, eine witzige Gebärde oder Handlung (das „facete factum"), es gibt jedoch auch ein Verstummen oder nachdenkliches Schweigen. In der modernen A. offenbart oft die Pointe den bis dahin verborgenen Sinn der Geschichte. Damit erweist sich die Anwesenheit eines Hintergrundes, der durch die Erzählung im Augenblick des Höhepunktes beleuchtet wird; zugleich tritt er als die stärkere, weil übergeordnete und umfassende Macht auf, die das Geschehen in der Welt erst ermöglicht und mit Sinn erfüllt. Die Beziehung auf das Allgemeine verdeutlicht Hebel oft unmißverständlich durch einen einleitenden Satz, bei Schäfer bleibt sie in der Regel unausgesprochen, wird jedoch leicht erkennbar durch die Art der Erzählung selbst; ähnlich verfährt Britting. Die Sprache ist immer imperfektisch, dynamisch, bereit, die Energien zu entladen. Der Leser fühlt sich entlassen mit der heiteren Erkenntnis oder mit der verwunderten Feststellung: „So was gibt's also!" Mit der Novelle teilt die A. den außergewöhnlichen Vorfall, das einmalige Ereignis. Das psychologische Interesse tritt weit zurück; die Hauptsache ist das Geschehen selbst und die Art, wie sich der Mensch darin enthüllt, bewährt oder entlarvt. Die A. stellt also den Menschen vor eine Probe. Mit Vorliebe hält sie sich dabei an diejenigen Naturen, die das Ungewöhnliche, Auffällige, Bedeutende, aber auch das Kauzige, Törichte und Beschränkte als sichtbare Kennzeichen ihrer Art haben und darum auch für nicht alltägliche Ereignisse leicht ansprechbar sind. In ihren großen Formen gelingt es der Α., das Schicksal als den Pariner des Menschen auftreten zu lassen und diesen zu Auseinandersetzung und Entscheidung in den letzten Dingen zu zwingen. Max D a 1 i t ζ s c h , Studien zur Gesch. d. dt. A. (Masdi.) Diss. Freiburg 1923. — Andre J ο 11 e s , Einfädle Formen (1930). — Rob. Petsch, Wesen u. Formen d. Erzählkunst (1934; DVLG-, Budir. 20). — Rud. H o f f m a n η , Die Α., eine Deuterin d. Weltgesch. (1934). — Hans L o r e n z e n , Typen dt. A.n erzig. (Kleist-Hebel-Schäfer). Diss. Hamburg 1935. — C. F. W. Β e h 1, Über das A.tisdie. 5

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Anekdote — Anonymität

Lit. 38, Η. 1 (Sept. 1935) S. 8-11. — Friedr. S t ä h 1 i π, Hebel υ. Kleist als Meister d. A. (1940; Die Werkstatt d. höh. Schule). — W. M o h r , Thor im Fluß. PBB. 64 (1940) S. 209229. Hans Ρ ο e s c h e 1, Die griedi. Sprache (1950). WilhelIm Grenzmann Anonymität

§ 1. A. begegnet uns in den ältesten Denkmälern der dt. Lit. Die meisten ahd. Prosa- und Versdenkmäler und audi die andd. Dichtung (Heliand und Genesis) sind uns ohne Verfassemamen überliefert, und es erscheint als eine Ausnahme, daß wir Namen wie Otfrid und Williram kennen. Auch vieles der mhd. Heldenepik (Nibelungen, Gudrun, Dietrichsepen) ist anonym. Erst in der höfischen Epik und in der Lyrik des Minnesangs tritt die Person des Verfassers hervor. In der Folgezeit bleibt A. eine Ausnahme. Die reformatorischen und politischen Flugschriften des 16. u. 17. Jh.s sind dagegen wieder 'überwiegend anonym; nicht viele ihrer Verfasser hatten den Mut, so wie Ulrich von Hutten, für das, was sie schrieben, einzustehen. In der Dichtung dieser Jh.e kommt jedoch A. selten vor. Erst im 18. Jh. setzt der Hang zur Verschweigung des Verfassernamens ein. Die frühesten Werke unserer Klassiker sind zu einem großen Teil anonym erschienen (Götz, Räuber). Herder hat seine Autorschaft an den Fragmenten und den Kritischen Wäldern ängstlich geheimzuhalten versucht, und als sie bekannt wurde, geradezu abgeleugnet. Theodor Gottlieb von Hippel hat das Geheimnis seiner Schriftstellerei sein ganzes Leben hindurch bewahrt, und als der mit ihm befreundete Johann George Scheffner, der sich seinerseits ebenfalls zu seinen erotischen Gedichten im Geschmadc des Grecourt nicht zu bekennen wagte, den Schleier einmal unvorsichtig lüftete, hätte das beinahe zu einem Bruch der Freundschaft geführt. Auch die Romantiker haben gelegentlich ihren Namen verschwiegen. Anonym erschienen ζ. B. Wadcenroders Herzensergießungen (1797). In Goedekes Grundriß Bd. 11, 1 sind in den einzelnen Landschaftsabschnitten viele anonyme Dramen aus der Zeit von 1815—1830 zusammengestellt. Diese Anonyma wurden zum größten Teil schon bald nach dem Erscheinen des Werkes aufgelöst; die Autoren legten es (mit den oben erwähnten Ausnahmen) auch gar nicht

darauf an, unbekannt zu bleiben. Daß der Götz von Berlichingen anonym erschien, ist an sich bedeutungslos; jedermann kannte den Verfasser. Daß der in die Enge der Karlsschule eingezwängte junge Schiller seinen Namen nicht auf das Titelblatt der Räuber setzte, ist schon eher zu verstehen, aber auch hier blieb der Verfasser keinen Augenblick unbekannt. Andere Anonyma konnten allerdings erst in scharfsinniger Forscherarbeit aufgelöst werden. Ein Musterstüdc solcher Arbeit ist die Studie von Albert K ö s t e r : Der Dichter der geharnschten Venus (1897), in der diese Dichtung des 17. Jh.s ihrem wahren Autor, Caspar Stieler, dem Spaten der Fruchtbringenden Gesellschaft, zugewiesen wird. Kösters Schüler Conrad H ö f e r enthüllte Stieler auch mit schlagenden Gründen als den Verfasser der sog. Rudolstädter Festspiele aus den Jahren 1665/67, eine Untersuchung (1904), die erst neuerdings von Willi F l e m m i n g angezweifelt wurde (DtLit., R. 13 b, Barockdrama, Bd. 6, 1933, S. 134—140). Es gibt aber auch Anonyma, die jeder sicheren Auflösung Trotz geboten haben. Uber den Eccius dedolatus von 1525 sind die Meinungen geteilt. Lange Zeit galt Willibald Pirckheimer als sein Verfasser. Paul M e r k e r hat ihn (1923) mit guten Gründen dem Straßburger Humanisten Nicolaus Gerbel zugewiesen. (Dagegen Α. Β ö m e r , ZblBblw. 41, 1924, S. 1—12). Als Verfasser des Schelmuffsky hat Friedrich Z a r n c k e (AbhSächsAk. Bd. 9, Nr. 5, 1884, auch als Sonderdr.) den Leipziger Studenten Christian Reuter ermittelt. Das größte Rätsel der Romantik sind die Nachtwachen des Bonaventura, die anfänglich für ein Werk von Schelling gehalten wurden, über die aber trotz Franz S c h u l t z ' gut begründeter Zuweisung (1909) an Friedrich Gottlob Wetzel heute noch keine Einigung erzielt ist. Die Gründe der A. sind verschieden. Die Dichter des MA.s, die ihren Namen nicht nannten, legten gar keinen Wert darauf, genannt zu werden. Darauf weist auch die Tatsache, daß von ihnen oft bedenkenlos älteres Gut verarbeitet wurde und daß von manchen Dichtungen mehrere Redaktionen vorliegen. Andere Gründe zum Verschweigen des Verfassernamens sind kirchliche,

Anonymität

politische und gesellschaftliche Bedenken. Hierher gehören die schon erwähnten Flugschriften des 16. Jh.s. Aus diesen Gründen hielten sich auch die Verleger solcher Schriften gern im Verborgenen. Zahlreiche Schriften mit dem Impressum „Freyburg", „Frankfurt und Leipzig" oder mit sichtlich fingiertem Aufdruck („Germanien") sind ganz woanders gedruckt. Bekannt ist das fingierte Impressum „Cologne, Pierre Le Marteau", dessen sich die Firma Elzevier in Leiden und Amsterdam gern zur Verhüllung jansenistischer Schriften bediente. Diese Maske wurde von anderen Verlegern übernommen und auch ins Deutsche übersetzt; so sind noch im 19. Jh. Schriften bei „Peter Hammer in Köln" erschienen. Einmal übersetzt die Firma Elzevier ihren nom de guerre sogar ins Italienische und firmiert „Vicenza, Pietro del Martello". Zu tragischer Berühmtheit gelangte die bei Johann Philipp Palm in Nürnberg anonym erschienene Schrift Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung (Juni 1806), die Napoleons Haß erregte und dem Verleger, weil er den Namen seines Autors standhaft verschwieg, das Leben kostete. Ungeklärt ist auch die Verfasserschaft der Phantasien für ein künftiges Deutschland (1815; Arndt?). Politische Befürchtung führte auch vor 1848 zu zahlreichen Verschweigungen. Die vielr gelesene Weltgeschichte in Umrissen (1897) des Grafen Yordc von Wartenburg erschien anonym, weil es in der wilhelminischen Zeit unerwünscht war, daß sich aktive Offiziere auf anderem als militärwissenschaftlichem Gebiet schriftstellerisch betätigten. Bisweilen aber ist die A. nichts weiter als eine Marotte, so bei Langbehns Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen (1890), dessen Name erst lange nach dem Erscheinen des Buches gegen den Willen des Verfassers bekannt wurde. Deutsches Anonymen-Lexikon 1501—1850. Aus den Quellen bearb. von Michael H o l z m a n n und Hanns Β ο h a 11 a. Bd. 1—4 (1902—07.). Bd. 5: Forts. 1851—1908 (1909). Bd. 6: Nachträge u. Berichtigungen 1501 bis 1910 (1911)). Bd. 7: Nachträge 1501—1926 (1928). — Durch diese mit unermüdlichem Fleiß zusammengetragene Auflösung vieler tausend anonymer Erscheinungen sind alle früheren Unternehmungen ähnlicher Art überholt.

§ 2. Eine verhüllte A. ist das häufig vorkommende P s e u d o n y m . Wenn im

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17. Jh. die Dichtungen von Caspar Stieler u. a. unter dem Namen „Filidor" erschienen, so ist das so gut wie ein Anonym. Die Künstlernamen mal. Sänger (Spervogel, der Unverzagte, Helleviur, Suchenwirt usw., vielleicht auch Neithart von Reuenthal) sind nur entfernt vergleichbar. Echten Ps.en begegnen wir erst seit dem 17. Jh. Das bedeutendste Beispiel ist Grimmelshausen, dessen Ps.e erst sehr viel später aufgelöst werden konnten. Das oben über die Gründe der A. Gesagte gilt auch für das Ps. Immerhin tritt durch den ständigen Gebrauch desselben Decknamens die einheitliche Persönlichkeit des Autors stärker hervor als bei dem Anonym, bei dem es nicht immer leicht ist, mehrere Werke dem gleichen Verfasser zuzuweisen. Daß ein Autor sich verschiedener Ps.e bedient und dadurch seine Persönlichkeit ins Dunkel rückt, kommt gelegentlich, vor. Nicht selten begegnet es, daß ein Autor nur für gewisse Gattungen seiner schriftstellerischen Tätigkeit einen Decknamen gebraucht. So schrieb der Dramatiker, Romanschriftsteller und Herausgeber der lange Zeit einflußreichen Zeitschrift Europa, August Lewald, auch unter dem Namen „Kurt Waller", daneben gebrauchte er gelegentlich auch die Ps.e „Hans Kindermann" und „Tobias Sonnabend". Der Berliner Dramatiker Albin Meddlhammer schrieb außer unter seinem wirklichen Namen hauptsächlich unter dem Decknamen „Albini", daneben nannte er sich aber auch „Adamssohn", „Alexander", „Albin Flet" und „August Ellrich" Der Heidelberger Theologe Adolf Hausrath schrieb Romane unter dem Decknamen „George Taylor" und setzte damit seine dichterische Wirksamkeit scharf von seiner wissenschaftlichen ab. Aus neuester Zeit ist der einstige Herausgeber der Weltbühne, Kurt Tucholski, zu nennen, der neben seinem wirklichen Namen die Ps.e „Caspar Hauser", „Peter Panther", „Theobald Tiger" und „Ignaz Wrobel" gebrauchte, die jedoch durchaus kein Geheimnis waren. Dieses Verfahren kann man nur als journalistische Spielerei bezeichnen. Besonders gern wurde von adligen Autoren ein Ps. gewählt, um den Namen ihres Geschlechts aus dem literarischen Kampfe fernzuhalten, wobei jedoch der wirkliche Name nie ängstlich geheimgehalten wurde, 5°

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Anonymität

im Kreise der Freunde und literarischen Gesinnungsgenossen von Anfang an bekannt war und sehr bald auch allgemein bekannt wurde: Novalis = Frh. von Hardenberg, Isodorus Orientalis = Graf von Löwen, Anastasius Grün = Graf von Auersperg, Friedrich Halm Frh. von MünchBellinghausen. In der Romanliteratur des 19. Jh.s ist das Ps., vor allem im Frauenroman, besonders häufig. Das bekannteste Beispiel ist die Arnstädterin Eugenie John, die unter dem Namen E. Marlitt zu einer fragwürdigen Berühmtheit-gelangte. Anderseits haben Autoren, die später unter ihrem wirklichen Namen wohlverdienten Ruhm genossen, aus einer gewissen Bescheidenheit oder Unsicherheit heraus mit einem Ps. angefangen: Freimund Reimar = Friedrich Rüdcert, Corvinus = Wilhelm Raabe, Loris = Hugo von Hofmannsthal. Dagegen behielt Wilhelm Häring sein Ps. Willibald Alexis auch für die Folgezeit bei und drängte damit seinen wirklichen Namen in den Hintergrund. Nikolaus Niembsch Edler von Strehlenau verkürzte seinen Namen in Nikolaus Lenau und ist unter diesem in die Literaturgeschichte eingegangen. Für alle diese Fälle ließen sich die Beispiele leicht vermehren. Es gibt Ps., die als solche leicht erkennbar sind (Novalis), andere könnten ihrer Form nach· ebensogut wirkliche Namen sein (Friedrich Halm). Bisweilen ist das Ps. nur ein Anagramm des wirklichen Namens. Der Gothaer Gymnasialprofessor Joh. Heinr. Millenet (f 1859) verfaßte eine große Anzahl von Dramen unter dem Anagramm „M. Tenelli" In neuester Zeit verbarg sich hinter dem Schüttelreimdichter Benno Papentrigk anagrammmatisch der Inhaber des Inselverlages Anton Kippenberg. Auch die Auflösung dieses Ps. wurde sehr bald bekannt. Ein Gegenbeispiel ist das bis heute nicht aufgelöste Ps. B. Traven (s. Abenteuerroman). Eine besondere Erscheinungsform des Ps. ist der alleinige Gebrauch der Vornamen unter Weglassung des Familiennamens: Jean Paul Johann Paul Friedrich Richter, Otto Ernst Otto Ernst Schmidt. Wenn eine verheiratete Frau ihren Mädchennamen als Schriftstellerin weiterführt (Clara Viebig, Ricarda Huch), so ist das nicht als Ps. zu betrachten.

• Anthologien Deutsches Pseudonymen-Lexikon. Aus den Quellen bearb. von Michael Η ο 1 ζ m a η η und Hanns B o h a t t a (1906). Carl Chm. Redlich, Versuch e. Chiffernlexikons zu d. Göttinger, Vossischen, Schillerschen u. Schlegel-Tieckschen Musenalmanachen (1875). Namenschlüssel. Die Verweisungen der Berliner Titeldrucke zu Pseudonymen, Doppelnamen und Namensabwandlungen (1892—1930; 2. Ausg. 1936; 3. Ausg.: Stand vom 1. Juli 1941). Auflösung von ca. 5000 Pseudonymen in: Degeners Wet ist's 10. Ausg. (1935) S. XXVII—LXXV. Wichtige nicht gelüftete Anonyma u. Pseudonyms, in: Leopold H i r s c h b e r g , Der Taschengoedeke (1924) S. 741-800. Bibliographien zur Anonyma- und Pseudonyma-Literatur: Georg Schneider, Handbuch der Bibliographie. 4. Aufl. (1930) S. 449-467. Hanns B o h a t t a und Franz Η ο d e s , Internat. Bibliographie der Bibliographien (1950) S. 19-22. Uber Anonymität und Pseudonyme auch: Edwin Β ο r m a η η, Die Kunst d. P.s. 12 literarhist.-bibliogr. Essays (1901). Lexikon des gesamten Buchwesens 1 (1935) S. 63 und 3 (1937) S. 61 f. Archer T a y l o r u. Fredric J. Μ ο s h e r , The bibliographical History of Anonyma and Pseudonyma (Chicago 1951). Carl Diesch

Anstandsliteratur s. Grobianische Dichtung, Komplimentierbuch, Tischzuchten. Anthologien § 1. A.n sind A u s w a h 1 Sammlungen lyrischer Gedichte (seltener auch prosaischer oder dramatischer Stücke) verschiedener Dichter und Dichtungsperioden, nach unterschiedlichen Gesichtspunkten zusammengestellt. Die Bezeichnung A. (Blumenlese, lat. florilegium) stammt aus dem spätgriech. Altertum. Der Philosoph M e l e a g r o s von Gadara (60 v. Chr.) war der erste, der eine solche Sammlung von kleineren Gedichten, meist Epigrammen, veranstaltete. Diese (nicht erhaltene) Sammlung wurde in späteren Jh.en mehrfach bedeutend erweitert. Claudius S a l m a s i u s fand 1606 in der Heidelberger Bibliothek die bis dahin unbekannte vollständigste Hs. der A. des Konstantinos Κ ο ρ h a 1 e s aus dem 10. Jh. Im 18. und 19. J h . wurde die Anthologia

graeca,

um weitere Funde vermehrt, verschiedentlich herausgegeben, u. a. von H e r d e r eingedeutscht. Eine Anthologia latina ist aus den erhaltenen Resten erst von neueren Gelehrten zusammengestellt worden. Zur Bibliographie: Gesamtkatalog d. Preuß Bibliotheken Abt. 5 (1934) Sp. 309-319 (Anthologia graeca); 319-320 (Anthologia latina).

logien — L. S c h m i d t , Griedi. Α., in: PaulyWissowa, Realenzyklopädie. Bd. 1 (1894) Sp. 2380-2391. — F. M a r x , hat. Α., ebd. Sp. 91-92. — E p p e l s h e i m e r 1 (1947) S. 75. § 2. Dt. A.n begegnen seit dem 17. Jh. unter den verschiedensten Titeln. Im 19. Jh. wird die Zahl der A.n unübersehbar. Sie sind bestimmt, einen U b e r b l i c k über das Beste und Charakteristischste der poetischen Produktion zu geben. Neben A.n, die den g a n z e n Zeitraum der nationalen Dichtung umfassen, stehen solche, die nur einen abgegrenzten Zeitabschnitt (meist die neuere und neueste Dichtung) zur Darstellung bringen oder nach bestimmten g e d a n k l i c h e n Gesichtspunkten zusammengestellt sind. So gibt es humoristische und satirische, religiöse, vaterländische, politische, klassenkämpferische, revolutionäre, motivgeschichtlich, landschaftlich und berufsständisch begrenzte A.n. Sie geben stets ein Bild des jeweiligen Zeitgeschmacks und der herrschenden Denkrichtung. Zeiten der politischen und sozialen, philosophischen und religiösen, ethischen, ästhetischen und pädagogischen Veränderung rufen gemeinhin auch neue A.n hervor, in denen diese Gegenwartsprobleme sich spiegeln. Auch Auswahlsammlungen aus e i n z e l n e n Dichtern sind als A.n zu bezeichnen. Namentlich aus Goethes Lyrik gibt es eine große Anzahl von Auswahlbänden. Verwandt mit den A.n sind die Kirchengesangbücher, die Singbücher der Studenten, der Turner und der Jugendbewegung, Soldaten- und Arbeiterliederbücher und endlich die Lesebücher für den Schulgebrauch, die in besonderem Maße die herrschende Zeitrichtung erkennen lassen. Eine Gesch. der A.n fehlt noch. Zur Bibliographie: Robert F. A r η ο 1 d , Allgem. Bücherkunde zur neueren dt. Lit.gesdi. (3. Aufl. 1931) S. 132-152. — G o e d e k e , Grundriß. Bd. 3 (2. Aufl. 1887) S. 276, Bd. 4, 1 (3. Aufl. 1916) S. 959-961. § 3. Wesentlich für die A. ist der Auswahlcharakter aus bereits gedruckter Lit. Infolgedessen sind n i c h t zu den A.n zu rechnen die Sammlungen bisher ungedrudcter Dichtungen, wie die Musenalmanache älterer und neuerer Zeit, Arents Moderne Dichtercharaktere u. ä., sowie alle Sammlungen, die eine gewisse Vollständigkeit anstreben (wenn auch nicht immer erreichen), wie die großen mal. Liederhss. der Minnesänger, Müllenhoff-Scherers Denkmäler Dt.

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Poesie, von der Hagens Gesamtabenteuer, Wadcernagel Dt. Lesebuch, Bartsch's Liederdichter, Lachmann-Haupts Minnesangs Frühling, Liliencrons Historische Volkslieder, Wackemagels evangelund Bäumdcers kath. Kirchenliedersammlung und ähnliche, rein wissenschaftlichen Zwedcen dienende Sammlimgen. § 4. Im Folgenden werden nur als Beispiele einige wenige, als A.n anzusprechende Sammlungen angeführt. Weltlit.: Joh. Scherr, Bildersaal d. Weltllit. 3 Bde. (1848 ; 3. Aufl. 1884/85). — Reinh. J a s ρ e r t , Lyrik d. Welt. 2 Bde (1947/48). — Europäische Lit.: Lyrik d. Abendlandes. Gemeinsam mit Hans Hennecke, Curt Hohoff u. Karl Vossler, ausgew. v. Georg B r i t t i n g (1948). — Dt. Lit. Gesamtzeitraum: Gustav S c h w a b , Mustersammlung (1835). — Theodor E c h t e r m e y e r , Auswahl dt. Gedichte υ. d. Anfängen bis z. Gegenwart (1836; 48. Aufl. 1936; neugestaltet v. Benno von W i e s e 1954). — Will V e s p e r , Die Ernte aus acht Jh.en dt. Lyrik. 2 Bde (1906-13; Die Bücher d. Rose. 1/12; 44. Aufl. 1950). — Ferd. A v e n a r i u s , Das Hausbuch dt. Lyrik (1902; erneuert v. Hans u. Hedw. B ö h m u. d. T. Lyrikbuch. 290.-295. Tsd. 1952). — Ders., Balladen-Buch (1907; 217.-220. Tsd. 1951). — Ders., Das fröhliche Buch (1909; erneuert v. Hans B ö h m . 171.-176. Tsd. 1929). — Rud. Β o r c h a r d t , Ewiger Vorrat dt. Poesie (1926). — Dt. Gedichte aus 4 Jhen. Ausgew. v. Emil S t a i g e r u. Martin H ü r l i m a n n (Zürich 1944). — Rene S c h i c k e l e , Das Vermächtnis. Dt. Gedichte v. Walther v. d. Vogelweide bis Nietzsche (1948). — Klassiker-Sammlungen: Etui-Bibliothek d. Dt. Klassiker (1820). — Cabinets-Bibliothek d. Dt. Klassiker (1831). — Goethe-A.n: Otto Erich H a r t l e b e n , Goethebrevier (1895). — Hans Heinrich B o r c h e r d t , Humor bei Goethe (1927). — Walther V i c t o r , Goethe. Ein Lesebuch für unsere Zeit (1949).—Romantik: Friedr. v. O p p e l n - B r o n i k o w s k i u. L. J a k ο b ο w s k i , Die Blaue Blume (1900). — Biedermeier: Gustav W u s t m a n n , Als d. Großvater d. Großmutter nahm (1886). — Neuere Zeit: Karl B u s s e , Neuere dt. Lyrik (1895; Bibl. d. ges. Lit. d. In- u. Auslandes. 879/885). — Jakob L ö w e n b e r g , Vom goldenen Überfluß (1903). — Hans B e n z m a n n , Moderne dt. Lyrik (1903; Reclaims Univers. Bibl. 4511/15; 2., veränd. Aufl. 1907). — A. jüngster Lyrik. Hg. v. Willi R. F e h s e u. Klaus M a n n . Galeitw.: Stefan Z w e i g (1927; NF. Geleitw.: Rudolf G. B i n d i n g 1929). — Albert S ο e r g e 1, Kristall d. Zeit (1929). — Günter G r ο 11, De profundis. Dt. Lyrik dieser Zeit. Eine A. aus zwölf Jahren [1933-45]. (1946.) — Bruno K a i s e r , Das Wort d. Verfolgten. A. e. Jhjs (1948). — Geliebte Verse. Die schönsten dt. Gedichte aus d. 1. Jh.hälfte. [Von verschiedenen Dichtem ausgew.]. (1951.) — Ergriffenes Dasein. Dt.

Anthologien — Antike Versmaße

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Lyrik 1900-1950. Ausgew. v. Hans Egon H o l t h u s e n u. Friedr. K e m p (1953). — Prosasammlungen: Gustav S c h w a b , Dt. Prosa υ. Mosheim bis auf unsere Tage. Eine Mustersammlung. 2 Bde (1843). — Adolf S t e r n : SO Jahre dt. Prosa 1820-1870 (1873). — Hugo v. H o f m a n n s t h a l , Dt. Erzähler. 4 Bde (1912; 41.-45. Tsd. 2 Bde 1946). — Ders., Dt. Lesebuch. 2 Bde (1922/23; Neue Aufl. 1952). — Oskar L ο e r c k e , Dt. Geist. Ein Lesebuch aus zwei Jh.en. 2 Bde (1940; Neue erw. Ausg. hg. v. Peter S u h r k a m p 1953). — Schulbücher: Adalbert S t i f t e r u. J. A p r e n t , Lesebuch zur Förderung humaner Bildung (Pest 1854; Neudr. mit Briefw. über d. A. 1938; Schriften d. Corona. 18). — Jakob K n e i p , Der Gefährte, Dt. Dichtung aus zwei Jh.en (1924; Diesterwegs Deutschkd.; 11. Aufl. neubearb. v. Friedr. B r o c k 1939). — Volksliedersammlungen: Joh. Gottfr. H e r d e r , Stimmen d. Völker in Liedern (1778/79). — Achim v. A r n i m u. Clemens B r e n t a n o , Des Knaben Wunderhorn (1806/08). — Dialektdichtungen: Joh. Matthias F i r m e n i c h , Germaniens Völkerstimmen. Bd. 1-3 [nebst] Naditr. (1843-67). — Oskar D a e h n h a r d t , Heimatklänge aus dt. Gauen. 3 Bde (1901/02). — Lit.gesch.: Heinr. Kurz, Gesch. d. dt. Lit. nach ausgew. Stücken (1864). — Einzelne Gattungen und Zeiträume s. d. (ζ. B. Arbeiterdichtung, Brief, Expressionismus usw.). Carl Diesch Antike Literatur s. Antikisierende Dichtung, Humanismus, Klassik, Klassizismus, mittellateinische Dichtung, Neulateinische Dichtung. Antike Versmaße und Strophen- (Oden-) formen im DeutsAen I. A l l g e m e i n e s . Die Nachbildung antiker V.maße im Dt. ist in ihrer geschichtl. Entwicklung und in ihren Erscheinungsformen bei den einzelnen Dichtern erstens abhängig von der K e n n t n i s d e r a n t i k e n S p r a c h e n , d. h. ihrer A k z e n t v e r h ä l t n i s s e im weitesten Sinne des Wortes, und des Wesens a n t i k e n V . b a u s , zweitens von der Kenntnis der E i g e n a r t d e r d t . S p r a c h e , ihres Akzents (s. Akzent), und des dt. V.baus. Dabei begnügte man sich bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jh.s mit der Meinung, der antike V.bau sei allgemein quantitierend (messend), der dt. V.bau sei akzentuierend (wägend) (s. V.bau). Die Tatsache, daß die antike Dichtung, besonders die griech., sehr verschiedene Grundarten des V.baus hatte, war ebenso unbekannt wie die, daß im Dt. neben den reinen S c h w e r e Verhältnissen

der dt. Sprache auch die D a u e r Verhältnisse eine sehr bedeutende Rolle spielen. Allgemein galt die Meinung, die Dauer, die Quantität (wobei dieser Begriff sehr unklar blieb), habe für den dt. V. keine entscheidende Bedeutung. Auch die nur v.geschichtl. zu verstehende Bildung und Gliederung bestimmter antiker V.e war bis in die letzten Jahrzehnte nicht erkannt (s. u. § 2). Aus diesen Gründen sind die mit dem Bereich „Antike V.maße u. Str.formen im Dt." verbundenen Fragen geschichtl. sehr verwickelt, schwer überschaubar und auch heute noch nicht restlos geklärt. Ihre geschichtl. Deutung hat sehr bedeutungsvoll Andreas Η e u s 1 e r gefördert, während die Akzentverhältnisse der antiken und der dt. Sprache besonderer Gegenstand der Arbeiten Franz S a r a η s waren. Maßgeblich für alle behandelten Fragen sind folgende Werke, die hier nur e i n m a l genannt werden: Andreas H e u s l e r , Dt. u. antiker V. (1917; QF. 123). — Ders., Dt. V.gesch. Bd. 1-3 (1925-29; PGrundr. 8). — Franz S a r a n , Dt. V.lehre (1907; Handb. d. dt. Unterr. 3, 3). — Ders., Die Quantitätsregeln d. Griechen u. Römer, in: Stand u. Aufgaben d. Sprachwiss. Festsdir. f. Streitberg (1924) S. 299-325. — Ders., Dt. V.kunst (1934). § 1. G e s c h i c h t l i c h e r Überb l i c k über Nachbildungsversuche antiker V.maße u. Str.nformen im Dt. Bei der Ubertragung antiker V.e ins Dt. wurden z w e i Wege emgeschlagen: 1. Man las die lat. Vorbilder (zur Nachbildung antiker V.maße u. Str.formen gaben lat. V.e u. Str.n erheblich mehr Anlaß und Gelegenheit als griech.) anstatt mit ihrem V.akzent nach dem lat. Wortakzent der Prosa und bildete dann nach den Grundsätzen der dt. Betonung entsprechende V.e (um 1350). Man hatte damit zwar dem dt. Akzent genügende V.e gebaut, das Metrum der antiken V.e aber nicht nachgebildet. Dieser Weg, der ganz vom Ziele wegführte, wurde denn auch bald aufgegeben. 2. Man bemühte sich, das auf der Silbenquantität beruhende Metrum des antiken V.es im Dt. nachzubilden. Die Frage, wie das zu geschehen habe, beschäftigte seit der Humanistenzeit Dichter und Theoretiker in gleicher Weise. Die verschiedenen Versuche zur Lösung dieser Frage sind eng verbunden mit der sich ändernden Auffassung vom Wesen des dt. Akzents (s. Akzent), und je mehr die

Antike Versmaße Dichter sich auf zumeist falsche Theorien statt auf ihr Ohr verlassen haben, um so leidvoller ist der Weg der Übertragung antiker V.maße im Dt. gewesen. A. Hausier ist der Frage besonders nachgegangen, wie in dt. Sprache antike V.maße nachgebildet, in Sonderheit, was für dt. Silben den antiken Längen und Kürzen gegenübergesetzt worden sind. E r unterscheidet v i e r Arten von Nachbild u n g s v e i s u c h e n , die ζ. T. geschichtl. nebeneinander hergehen und sich stufenweise der Lösung der Frage nähern, wie die Übertragung dem Wesen des antiken V.es und dem der dt. Betonung, des Akzents, entsprechend zu geschehen hat. 1. D i e r o h q u a n t i t i e r e n d e L e h r e d e s 16. J h . s geht besonders vom Hexameter aus und wird theoretisch verfochten von Clajus, dichterisch vertreten von Gesner. Der antiken Länge soll die dt. Silbenlänge, der antiken Kürze die dt. Silbenkürze entsprechen. Die Länge wird nach Art und Zahl der Laute oder der Buchstaben nach den Regeln der antiken Position gemessen. Das Wesen des dt. Akzents in V. und Sprache wird damit völlig mißachtet. Das Ergebnis war eine Unzahl von Tonbeugungen. Im großen und ganzen blieb dieser Lösungsversuch ohne weitere Wirkung. 2. Die durch drei Jh.e v o n Rebhun bisMinckwitz vorherrs c h e n d e L e h r e geht von der Meinung aus, der V. sei eine Abwechslung von Länge und Kürze. Man setzt auch jetzt dt. Länge für antike Länge, dt. Kürze für antike Kürze, wirft aber begrifflich Quantität und Silbenschwere zusammen. Die betonten Silben des Dt. werden für lang angesehen, die schwachbetonten für kurz; daneben läuft aber noch eine Beurteilung der Silbenquantität nach der Zahl der Laute und Schriftzeichen. 3. Von O p i t z u n d seinen N a c h f o l g e r n Hanmann, Morhof, Breitinger, die lehren, daß „nicht eine gewisse Größe der Silben, sondern der Akzent und der Ton" im Dt. entscheiden, geht die Anschauung aus, antike V.e seien so nachzubilden, daß der antiken Länge eine betonte Silbe, der Kürze eine unbetonte Silbe zu entsprechen habe. Diese Anschauung beherrscht die Lehrbücher und die Philologie des 19. Jh.s. Sie ergab sprachrichtige V.e, solange keine Spondeen ( ) und keine Verse mit kurzen Hebungen wiederzugeben waren.

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4. A. H e u s l e r gibt deshalb als Lösung der Frage die v i e r t e Antwort: „Antike V.e bilden wir dadurch nach, daß wir für ihre Hebungssilben, gleichviel, ob lang oder kurz, gehobene, also hebungsfähige Silben einsetzen und für Senkungssilben, gleichviel ob kurz oder lang, gesenkte, also senkungsfähige Silben". Soweit die Lage der Hebungssilben und die Gliederung des antiken V.es nicht einwandfrei festzustellen sind, was besonders bei einzelnen V.- und Str.formen infolge der Wirrnis in der antiken Metrik der Fall ist, muß auch diese Lösung (wie jede andere) versagen. Bei der Beurteilung antiker V.formen im Dt. ist deshalb immer das Schema zu beachten, das der Übersetzer seiner Übertragung zugrunde gelegt hat; es weicht mitunter erheblich von dem Schema ab, wie es heute die Wissenschaft vom antiken V.e aufstellt. So gehen ζ. B. in Klopstodcs alkäischen, asklepiadeischen und glykoneischen Odenv.en die schwachtonigen Endsilben auf ein seines Schemas statt auf tatsächlich zurück. Folgende Fragen beschäftigten die Dichter und Theoretiker des 18. Jh.s besonders: a) H e b u n g s k ü r z e und Senkungslänge. Das Trochäenverb o t . Die Nadibildung antiker H e b u n g s k ü r z e in der aufgelösten Länge - = (Tribrachys «»^u für Prokeleusmatikus für wurde theoretisch zwar behandelt. In der Dichtung blieben diese theoret. Erwägungen aber ziemlich unwirksam, da die Dichter zu. deren Anwendung wegen Seltenheit der Hebungslcürze (die im griech. und lat. Hexameter überhaupt nicht vorkommt) wenig Anlaß fanden. Gefährlicher wurde die versuchte Nachbildung der S e n k u n g s l ä n g e des Spondeus im Hexameter, Pentameter und in Odenversen, da Wörter von der Form Edelsteine als trochäisdi nicht geeignet zur Nachbildung von antikem erschienen. Trochäische Silbengruppen zur Nachbildung von Spondeen wurden besonders von Moritz, Schlegel, Platen, Hamerling bekämpft und in den Dichtungen gemieden, während Klopstock gerade darin einen Vorzug des dt. Hexameters vor dem hellenischen sah, daß der dt. Hexameter neben dem Daktylus und Spondeus auch

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den Trochäus kenne. Voß bewegte sich in den späteren Auflagen der Odyssee vom Trochäus weg. Schiller setzte sich, auf sein Formgefühl gestützt, über das Trochäenverbot hinweg. Auch Goethe nahm zumeist einen ablehnenden Standpunkt ein, tilgte aber manche Trochäen auf Einspruch der Theoretiker. Bekämpft wurde die Trochäenscheu besonders von O. F. Gruppe. Abgesehen von unfreien Wortstellungen und gekünstelten Daktylen wurde das Trochäenverbot durch den Ausschluß bestimmter Wortformen zur lähmenden Fessel. b) D e r f a l s c h e (gleichgewogene und geschleifte) S p o n d e u s in V.- und Str.formen. Zu schweren Schädigungen der dt. Betonung führte die Neigung, „richtige" Spondeen zu bilden. Bei der Übertragung antiker V.maße ins Dt. machte der antike Spondeus mit seinen beiden Silbenlängen den Dichtern und Theoretikern besondere Schwierigkeiten, weil man meinte, ihn auch im Dt. nach antiken Quantitätsregeln bilden zu müssen. Dem Glauben, es könnten im Dt. richtige Spondeen selbst durch Sprachwidrigkeiten erzwungen werden, verfielen bei der Nachbildung besonders des Hexameters auch Dichter, die sich gegen das Trochäenverbot ablehnend verhalten hatten, wie Klopstodc, Goethe und Schiller, allerdings in verschiedenem Maße. Die Bewegung ging von Klopstodc aus und wurde theor. besonders von Voß begründet. Da man Spondeen wie leblos, Waldstrom zu schwächlich fand, suchte man kraftvollere durch Nebeneinanderstellen schwerer Silben oder durch besondere Auswahl und Anordnung von Silben mit deutlicher grammatischer Länge und kam auf den Irrweg der gleichgewogenen und geschleiften Spondeen. Der g l e i c h g e w o g e n e Spondeus verbindet zwei Wurzelsilben von gleichem oder annähernd gleichem Gewicht. Am meisten schätzte man ihn am Hexameterschlusse (des Zeüs Rät, der W0lt ΗέίΙ). Der gleichgewogene Spondeus hat wenigstens noch keine Umkehrung der natürlichen Schwereverhältnisse zur Folge, wenn auch die Zusammendrängung zweier Hebungen nach germ. Sprachgefühl keinem sondern einem J··1 entspricht. Tiefere Spuren hinterließ der ges c h l e i f t e Spondeus nach dem Ausdruck von Voß, von Heusler besser als der u m g e d r e h t e bezeichnet. Da ein Wort wie

leblos, Schönheit, Meerflut zwei dt. Silbenlängen enthielt — das empfanden die Theoretiker ganz richtig —, so glaubte man, nach antiker Weise mit -los, -heit, -flut auch die Hebung des Spondeus bilden zu können. Nach der Meinung der Theoretiker konnte die Silbe leb-, Schorn, Meer- ebensogut die erste wie die zweite Länge eines Spondeus bilden. Man fügte Wörter wie leblos, Schönheit, Meerflul nun so in den V., daß sie die zweite Silbe eines Spondeus und die erste Silbe des folgenden V.fußes bildeten (denn leb\los; audi Schön\heit; brausender stiigt Meerflut im Orkan [J. H. Voß]). Die Folge dieses umgedrehten Spondeus, von dem es härtere und gelindere Arten gibt, waren sprachwidrige V.e, zumal meist noch eine Iktenverschiebung auf schwache Vorsilben sich einstellte, ζ. Β ddn Sturm\wind. Man bemerkte auch nicht, daß es im dt. V. nicht auf die Silbenquantität,sondern auf die Abstandszeiten ankommt (s. Akzent, Abschn. Dauer § 2 b). Voß, dem theoret. Begründer der Tonbeugungslehre, erschien das Spiel mit den Akzenten als veredelnde Stilisierung. An tonwidrigen Spondeen wurde er noch übertroffen von Schlegel und Platen. Klopstodc hatte zuerst wenige gleichgewogene Spondeen und einige umgedrehte. In der Ode Sponda gab er dem verkehrten und vergeblichen Ringen um den „genauen" Spondeus in mytholog. Verkleidung Ausdrude. Allmählich kam er zu mehr planmäßigen Tonbeugungen, da die Senkungslänge des Hexametersdiemas durch einen Hauptton wiedergegeben werden sollte. Besonders die Kadenz erfährt im spätem Messias gewagte Rhythmisierungen. Schiller blieb trotz starker theoretischer Einwirkung durch Humboldt und Schlegel seinem Gehör treu. Bei ihm sind falsche Spondeen selten (etwa 10 in 440 Distichen). Auch Goethes angestammtes Formgefühl wehrte sich gegen tonwidrige Spondeen. Unter dem Einflüsse Humboldts und Schlegels nahmen sie aber zu, besonders in Hermann und Dorothea, das der Aufsicht Humboldts unterstellt war, und in der Achilleis, während Reineke Fuchs sehr viel weniger und außerdem leichte Fälle von tonwidrigen Spondeen zeigt. Auch in den Odenmaßen hat der Spondeenaberglaube viel Unheil angerichtet. Die Opitz-Gottschedische Zeit hat im allgemei-

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nen im Schema gar keine Senkungslänge. In der Folgezeit haben Dichter, die mehr dem Ohr als einer papiernen Theorie folgten, wie Hölderlin, Waiblinger, Leuthold, darauf verzichtet, Spondeen nachzubilden. Auch Klopstock steht der sprachgemäßen Richtung nahe. Außerdem hat sein Schema in den Odenv.en kein Längezeichen in der Senkung. Bei Spondeen ist — oder " zur Wahl freigegeben. Dichter der strengeren Richtung wie Voß, Platen, Geibel wollen •·•und unterschieden wissen. Bei Voß erscheint der falsche Spondeus planmäßig des öftern infolge des Schemas der sapphischen Strophe. Platen kommt, durch eine falsche Theorie verdorben, allmählich zu immer tonwidrigeren Formen. § 2 . D e r g e g e n w ä r t i g e S t a n d der a n t i k e n und dt. V. W i s s e n s c h a f t hinsichtlich der Frage antiker V.maße im Dt. Übertragungen antiker V.e in dt. V.e und antike V.maße in dt. Dichtungen waren naturgemäß immer abhängig von den Vorstellungen, die sich die Übersetzer und Dichter jeweils von der Eigenart des antiken V.es und der des dt. V.es machten, sowie von der Kenntnis der tatsächlichen verschiedenen Verhältnisse in den beiden V.bauprinzipien (s. Akzent, Rhythmus, V.bau). Nach den Forschungen P. H ö r m a n n s (Untersuchungen zur V.lehre Otfrids. LitwJbGörrGes. 9, 1939, S. 1—105) ist letztlich bereits der V. Otfrids ein Versuch, dem lat. Hymnenv. oder vielleicht sogar dem lat. Hexameter die entsprechende Form im Dt. zu geben. Besonders aber mit dem 16. Jh. beginnen dt. Übertragungen antiker V.e und Strophen und dt. Dichtungen in antiken V.maßen.und Strophen einen großen Raum einzunehmen. Die Erkenntnis vom Wesen des griech. V.es hat in dem Maße zugenommen, in dem sich die neuzeitliche antike V.wissenschaft von den aus der Antike überkommenen und übernommenen, meist spekulativ entwickelten Angaben griech. antiker V.theoretiker und Grammatiker über das Wesen des griech. V.es und Akzents befreite. Den gegenwärtigen Stand der griech. V.wissenschaft dokumentieren die Untersuchungen von Ulrich von W i l a m o w i t z - Μ O l l e n d o r f f , Otto S c h r o e d e r , Paul M a a s und Thrasybulos G e o r g i a d e s . Auch die Arbeiten von Franz S a r a η und Alfred

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S c h m i t t über die Quantitäts- und Akzentverhältnisse der Griechen und Römer haben der Bewertung antiker Zeugnisse und damit der antiken V.betrachtung und den Problemen des Vortrage antiker V.e neue Grundlagen gegeben. Zu einer einheitlichen Auffassung in der Beurteilung selbst wesentlicher Eigenschaften des griech. V.baus ist es aber in der griech. V.wissenschaft noch nicht gekommen. Größere Arbeiten aus neuerer Zeit fehlen. Die hauptsächlichsten Fortschritte der a n t i k e n V. W i s s e n s c h a f t in den letzten Jahrzehnten, die für die Übertragung antiker V.e in das Dt., besonders für die rhythmische Deutung und Gliederung der V.e, bedeutungsvoll geworden sind und werden müßten, sind folgende: 1. Endgültige B e f r e i u n g v o n d e r Derivationsmetrik. Diese wollte grundsätzlich alle antiken V.maße aus dem daktylischen Hexameter und dem jambischen Trimeter durch Teilung der V.e, Zusammenziehung der Senkungen, Annahme von Pausen usw. herleiten. Sie hatte keinen Sinn für die vielfachen rhythmischen V.formen des Griechischen. 2. B e f r e i u n g v o n d e r L o g a o e d e n l e h r e . Die antike Doktrin unterschied drei V.geschlechter: a) Das γένος ίσον, in dem die Länge der Hebung gleich der Länge der Senkungen sein sollte. Maßzeit war die Kürze, die Mora Länge verhielt sich zur Kürze wie 2 : 1 . Im Daktylus und Anapäst sollten demgemäß Hebung und Senkung je zwei Moren umfassen. b) Das γένος διπλάσιον, worin sich sprachliche Hebung zu Senkung wie 2 : 1 verhält: Trochäus Iambus ( " - ) ; oder 4 : 2 = 2 : 1 : Ionicus a maiore ( — u n d Ionicus a minore c) Das γένος ήμιόλιον (Verhältnis 3 : 2 ) . Ihnen gehören hauptsächlich der Päon der Kretikus ( ) und der Bakchius — ) an. d) Besondere Schwierigkeiten machten den antiken V.theoretikem und ihren Nachfolgern bis in die Neuzeit V.e, in denen Daktylen und Trochäen (oder Anapäste und Iamben) gemischt vorkamen. Sie werden „Logaoeden" genannt, weil der Daktylus dem gesungenen epischen V. (άοιδή) nahestehe, der Trochäus aber der gewöhnlichen Prosa (λόγος). Man mochte nun nicht annehmen, daß jedesmal ein Ubergang in ein anderes V.geschlecht stattfand, und flüchtete u. a. in den Ausweg, daß trotz dieser verschiedenen V.geschlechter innerhalb des logaoedischen V.es „Taktgleichheit" herrsche. (Der Begriff „Takt" (s. d.) wirkte sich hier ebenso verhängnisvoll aus wie in der dt. V.lehre.) Da die vom „Takte" stattfindenden Abweichungen nach der Meinung der antiken Metriker nicht genau feststellbar waren, bezeichnete man die Längen in den daktylischen „Füßen" als χρόνοι

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άλογοι (irrational). In Zusammenhang mit dieser Lehre schloß man aus der Tatsache, daß die Längen des Daktylus im antiken .griech. Hexameter und bei seinen lat. Nachfolgern nicht in zwei Kürzen aufgelöst werden können, diese Längen seien auch χρόνοι άλογοι. Die gesamten Fragen der Logaoeden haben durch die Forschungen von Henri Weil, Theodor Bergk, Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff und Otto Schröder ein anderes Gesicht bekommen. Wilamowitz leitet bisher Logaoeden genannte V.e im wesentlichen aus c h o r iambischen Dimetern ab; O. Schröder hat geglaubt, einen Teil dieser V.gruppe aus „H e b u n g s v e r s e n " entstanden erklären zu können, d. h. aus V.en, die a k z e n t u i e r e n d (nicht quantitierend) m i t u r s p r ü n g l i c h f r e i e n S e n k u n g e n gebildet wurden (d. h. ähnlich dem germ.-dt. V.); Zahl und Lage der Senkungen wurde dann im Laufe der Entwicklung fest. Die Gliederung dieser V.e nach Daktylen und Trochäen wurde damit hinfällig. Für ihre Übertragung in dt. V.e ist ihre r h y t h m i s c h e A n a l y s e und ihre G l i e d e r u n g entscheidend. Der viel verwendete G l y k o n e u s ζ. B. entsteht aus Formen wie - « « - ο ο ο ο o d e r oo_v/v_oo oder o o o o - u u - , also aus einem Choriambus und vier in Stellung und Quantität freien Silben. Alle Übertragungen von Logaoeden in das Dt., die den V. daktylisch gliedern (und das ist bei älteren Ubertragungen fast durchgängig der Fall), entsprechen also nicht dem V.maß des Urtextes. Bei den Nachbildungen antiker V.maße kommt es besonders auf die Bewahrung der Gliederung an; es ist ζ. B. ein bedeutender Unterschied, ob ein V. wie der Glykoneus j o i u v i u ä daktylisch, also -t^l^uis, oder also choriambisch gemessen und gegliedert wird. Ebenso ist der Schlußvers der vielgebrauchten sapphischen Strophe, das sog. A d o n e i o n keine „daktylische katalektische Dipodie", wozu die Theoretiker das lat. te duce, Caesar (Horaz, Carm. I, 2, 52) verleitet hat, sondern ein ursprünglicher Dreiheber (ώ τόν "Αδωνιν). (S. auch § 4 h.) 3. Genaue U n t e r s u c h u n g der A k zentund Q u a η t i t ä t s ν e r h ä 11nisse der antiken Sprächen, Befreiung von antiker Grammatikerspekulation und damit zusammenhängend K l ä r u n g der Fragen, wie der W o r t a k z e n t der antiken Sprachen im V. n e b e n den durch die Q u a n t i t ä t erzeugten V. g i p f e i n zum Ausdruck kam und heute beim Vortrag griech. V.e zum Ausdruck gebracht werden kann. Die Forschung zu diesen entscheidenden Fragen ist seit den Untersuchungen Sarans über die Quantitätsregeln der Griechen und Römer sehr umfangreich und tiefgreifend geworden. S a i a n hat gezeigt, daß im Griech. die

historisch gegebene Abstufung der Kammzeiten (s. Akzent § 2 b) den Eindruck der Sprache beherrschte, im Dt. die historisch gegebene Abstufung der Silbenschwere. Die Akzent- und Quantitätslehren der antiken V.theoretiker sind im wesentlichen durch die isolierende Betrachtung der aus dem Zusammenhang herausgeschälten Wörter zustande gekommen. Die antiken Theoretiker versuchten, etwas unmittelbar Wahrgenommenes mit unzureichenden Mitteln zu erfassen, und haben dadurch bis in die Gegenwart die Lehre vom griech. Sprachakzent und vom Wesen des antiken V.es in falsche Bahnen gelenkt. Auf dem von Saran zuerst betretenen Wege ist Thr. G e o r g i a d e s fortgeschritten. Nach seinen Untersuchungen hat die antike V.kunst die für den Spracheindrudc des Griech. maßgebliche Silbendauer stilisiert und genaue Verhältnisse der Quantitäten festgelegt. Diesem antiken Sprachgeschehen gegenüber hat das Dt. den äußersten Grad der durch Schwerewerte charakterisierten akzentuellen Sprachentwicklung erreicht, so daß denkbar schärfste Gegensätze zwischen antikem und dt. V. bestehen. Auch in der Art des R h y t h m u s , der auf die Verschiebung der Quantitätswerte im Griech. und der Schwerewerte im Dt. eingewirkt hat, bestehen in beiden Sprachen wesentliche U n t e r s c h i e d e . Schuld an den Mißdeutungen des antiken und dt. V.es ist, wie auch bereits Saran dargelegt hatte, das „Taktprinzip", das von Metrikern wie Th. Bergk, R. Westphal, W. Christ, H. Riemann u. a. im Einklang mit dem überragenden Hervortreten des Taktes in der Musik des 18. und 19. Jh.s ganz falsch als selbstverständliche rhythmische Grundlage alles metrischen Geschehens angesehen wurde (s. Takt). Der orchestische Rhythmus (Saran, Dt. V.lehre, S. 131-221), der im Dt. vornehmlich wirkte, führte konsequent ein Uberordnungsprinzip durch und faßte die Gruppen leicht überschaubar in immer höher aufsteigenden Einheiten multiplizierend (2X2) zusammen; seine Art war d y n a m i s c h . Die viel schwerer überschaubare griech. Rhythmik setzte nach Georgiades die Gruppen addierend nebeneinander; sie war s t a t i s c h . Ausführlich hat Georgiades auch die antiken χρόνοι δλογοι behandelt, die er in der Musik und Rhythmik neugriech. Reigentänze noch erhalten glaubt. Es herrscht in diesen mit Text gesungenen Reigentänzen abweichend von der gegenwärtigen abendländischen Rhythmik keine multiplizierend-gruppierende Zusammenfassung der Teile durch (dynamische) Schwereakzente, sondern eine addierende symmetrische Nebenordnung mit Erhaltung der χρόνοι δλογοι. Eng zusammen mit diesen Forschungen hängt die Frage der Bewahrung des Wortakzents im gesprochenen griech. V.e neben den durch die Quantität gegebenen rhythmischen V.gipfeln. U. v. W i l a m o w i t z hielt das quantitierende Lesen antiker V.e mit Bewahrung

Antike Versmaße des Wortakzentes im Verfolg der damals herrschenden Anschauungen über das Wesen des griech. Akzents für unmöglich. A. S c h m i t t zeigt mit Ausblicken auf andere idg. Sprachen dazu einen Weg, den die Finnen, Ungarn und Serben beim Vortrag antiker quanlitierender V.e gehen. Infolge des schwachen zentralisierenden Wortakzents ihrer Sprachen können sie ohne große Schwierigkeiten dem Ausdruck des Wortakzents wie der Quantitäten im V. gleichzeitig gerecht werden. „Zweifellos wird niemand glauben, nun die V.e so sprechen zu können, wie die Griechen selber sie gesprochen haben. Es ist •unmöglich, in irgendeiner Sprache die wirklich .korrekte Aussprache zu erwerben nur auf Grund von schriftlichen Schilderungen; zudem besitzen wir ja vom Griech. noch gar nicht einmal Beschreibungen, die das Prädikat phonetisch verdienen... Von dem echten Klang, den die V.e im Munde der Griechen hatten, bleiben wir hoffnungslos entfernt" (S. 37/38). Von Seiten der d t . V. W i s s e n s c h a f t sind besonders entscheidend geworden die Ergebnisse neuer Forschungen über die Eigenart des dt. A k z e n t s (s. d.). Das Grundproblem der Übertragung antiker V.e in das Dt. besteht hauptsächlich in folgendem Zwiespalt: V.e sind — das hat die allgemeine V.forschung ergeben — Mischformen aus orchestischem, selten melischem Rhythmus (s. Rhythmus) mit Sprache. Jede Sprache hat eine ihr eigentümliche akzentuelle Gliederung, bei der die Merkmale des Akzents (Schwere [hervorgerufen durch Tonhöhe, Tonverlauf, Stärke und Klangfarbe], Dauer und Gruppenbildung) für die einzelnen Sprachen bedeutungsvoll verschieden hervortreten. Dem Rhythmus und seinen verschiedenen Arten ist gleichfalls eine besondere Gliederung eigen, ebenfalls hervorgerufen durch Schwere, Dauer und Gruppenbildung der einzelnen Elemente; diese Gliederung weicht aber stark von der durch den sprachlichen Akzent gegebenen Gliederung ab. Durch den Rhythmus mit seiner ihm eigentümlichen Form der Schwere- und Dauerabstufungen und der Gliederung seiner Gruppenelemente erfährt die jeweils dem V. zugrunde liegende Sprache eine Änderung ihrer akzentuellen Verhältnisse; sie werden durch den Rhythmus eigentümlich gesteigert und stilisiert. Bei dem größten Teil der antiken V.e treten in den akzentuellen Verhältnissen der Sprache offenbar die Dauerverhältnisse besonders hervor; der antike V. ist — grob

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gesagt — q u a n t i t i e r e n d , in der Ausdrucksweise Andr. Heuslers „m e s s e n d " Bei dem dt. V. treten in seiner S c h a l l f ο r m (s. d.) oder Klanggestalt für den Sprecher und Hörer vornehmlich die Verhältnisse der Schwere stärker heraus als die der Dauer. (Daß die Dauer, die „Quantität", im dt. V. keine Rolle spiele, da er akzentuierend sei, ist lange Zeit ein folgenschwerer Irrtum der dt. Metrik gewesen.) Dabei fallen die rhythmischen V.gipfel des dt. V.es grundsätzlich mit den logisch-grammatischen Wortgipfeln der Wörter zusammen; der dt. V. ist — grob gesagt — a k z e n t u i e r e n d , in der Ausdrucksweise Heuslers „ w ä g e n d " Das Problem der Übertragung antiker V.e, soweit sie tatsächlich quantitierend waren, ist also dies: ein im wesentlichen quantitierendes Prinzip des antiken V.es (antik hier vornehmlich stets als griech. anzusehen, da das Lat. bis auf den versus Saturnius keine originalen V.e entwickelt und fast nur griech. Formen, dazu selbst wieder in seinem anders gearteten sprachlichen Substrat, nachgebildet hat) in das dt. akzentuierende Prinzip zu übertragen. Andr. Heusler hat sich zu dem Problem der Übertragung antiker V.e ins Dt. folgendermaßen geäußert (Dt. V.gesch. Bd. 1, S. 83): „Was wir vernünftigerweise nachahmen wollen, ist nur der antike V.rhythmus; es ist nicht die antike Sprachbehandlung, es sind nicht antike Silbenreihen mit ihren sprachlichen Eigenschaften. Aus anderem Sprachstoff und nach anderer Prosodie strebt das Dt. gleiche Rhythmenfiguren wie im Vorbilde zu schaffen. Es ist nicht wahr, daß dieses Streben überhaupt nach Unmöglichem griff. Auf Schranken stößt es allerdings. Nur bestehen die Schranken nicht darin, daß wir wägen und die Alten maßen. Sie bestehen darin, daß manche Rhythmen der Griechen unserm Ohr und Bewegungsgefühl fremdartig sind. An dem Gegensatz von Akzentuieren und Quantitieren hängt das nicht: die Schwierigkeit wäre die gleiche, sollten wir diese Formen außersprachlich, in reinen Musikklängen, nachahmen." Während früher die Dichter dt.-antiker V.e (Klopstock, Goethe, Voß, Hölderlin, Platen) die Ergründung des Wesens antiker V.e durch eingehendes Studium der antiken originalen V.e betrieben, scheinen sie in den

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letzten Jahrzehnten mehr dem allgemeinen Eindruck gefolgt zu sein, den antike V.e in dt. Übertragungen der klassischen Zeit auf sie gemacht haben. So kommt es teils zu nicht mehr gekonnten (ζ. B. G. Hauptmann Till Eulenspiegel), teils zu neuen freien Formen (ζ. B. Ringleb Antje: 5füßige „Hexameter" mit Auftakt), vor allem zu freien Hymnen-, Oden- und Elegienmaßen (Rilke), deren Geschichte einer genauen Untersuchung dringend bedarf (s. a. Freie Rhythmen). Anders liegen die Dinge bei den Ubersetzern antiker V.e wie Rud. Borchardt, E. Buschor, R. A. Schröder, Br. Snell, Fr. Stoeßl, Herb. Fr. Waser, Osk. Werner, Ludw. Wolde u. a., deren Übertragungen auf genauer Kenntnis des antiken V.es beruhen. Bei den Übersetzern dringt allerdings immer stärker der Gedanke durch, das „Scheinbild einer metrischen Annäherung" aufzugeben zugunsten einer ProsaUbersetzung, die zugleich interpretieren will, da „die chorische Lyrik, auch die im Drama, uns unnachahmlich ist" (Alb. Rehm, in: Antike und Abendland 3, 1948, S. 257). Paul M a s q u e r a y , Abriß d. griech. Metrik. Ubers, v. Br. Pressler (1907). — Otto Schroeder, Vorarbeiten zur griech. V.gesch. (1908). — Ulrich von W i l a m o witz-Möllendorff, Griech. V.kunst (1921). — Paul M a a s , Griedi. Metrik, in: Gercke-Norden, Einleitung in die Klass. Altertumswiss. Bd. 1 (3. Aufl. 1927), Abt. 7, S. 1-32 u. Nachtr. im Suppl. — Otto Schroeder (Hg.): Sophoctis Cantica (2. Aufl. 1923). — Ders., Griedi. Singverse (1924; Philologus, Suppl. 17, 2). — Eduard F r ä η k e 1, Iktus u. Akzent im lat. Sprechvers (1928). — Otto S c h r o e d e r (Hg.): Euripidis Cantica (2. Aufl. 1928). — Ders., Nomenciator metricus. Alphabet, geordnete Terminologie d. griedi. V.wiss. (1929; Biblioth. d. klass. Altertumswiss. 5). — Ders., Grundriß d. griech. V.gesdi. (1930; Biblioth. d. klass. Altertumswiss. 7). — Eirik V a η d ν i k , Rhythmus u. Metrum, Akzent u. Iktus (Osloae 1937; Symbolae Osloenses. Suppl. 8).—Thrasybulos G e o r g i a d e s , Der griedi. Rhythmus. Musik, Reigen, V. u. Sprache (1949). — Bruno G e η t i 1 i , La metrica dei Greet (Messina 1952). — Alfred S c h m i t t , Musikalischer Akzent u. antike Metrik. Zwei Vortrage: 1. Der sogn. musikal. Akzent. 2. Akzent, Iktus u. Quantität in d. antiken Dichtung (1953; Orbis antiquus. 10). — Ernst P u l g r a m , Accent and ictus in spoken and written latin. ZfvglSprf. 71 (1953) S. 218 -237.

II. E i n z e l n e V . f ü ß e . § 3. A l l g e m e i n e s : F u ß (πούς) u n d M e t r o n .

Für die Terminologie ist zu beachten, daß bei der Bezeichnung der V.formen die antike Unterscheidung von Fuß (πους) und Metron auch in die dt. Terminologie übergegangen ist. Von den nach antiker Messung dreizeitigen Füßen Iambus («-) und Trochäus ( - " ) sowie von dem vierzeitigen Anapäst bilden immer je zwei Füße ein Metron (also: oo-v,^-), während bei den vierzeitigen Füßen Daktylus und Spondeus (—), bei den fünfzeitigen Füßen Creticus ( - " - ) und Bakchius (^—), bei den sechszeitigen Füßen Ionicus a maiore Ionicus a minore —) und Choriambus ( - " " - ) ein Fuß als Metron gilt. Ein iambischer Trim e t e r ( ^ - " - b e s t e h t also aus drei iambischen Metren ( " - " - ) oder sechs iambischen Füßen ("-); er kann daher auch als iambische Hexapodie bezeichnet werden. Diese gebräuchliche Gleichsetzung ist allerdings nur ganz schematisch äußerlich. Rhythmisch bestehen Unterschiede. Bei dem iambischen Trimeter ist jeweils die erste Silbe eines Metrums aneeps, d. h. sie kann kurz oder lang sein; der iambische Trimeter hat also diese Form: c - ^ § 4. D i e e i n z e l n e n V. f ü ß e . a) A n a p ä s t . Aus dem Griech. stammender V.fuß — der Name bedeutet entweder einen „zurückgeschlagenen", umgedrehten V.fuß (Daktylus) oder einen, bei dem durch „Aufschlagen" der Rhythmus markiert wird —: Grundform WJ., mit Zusammenziehung --s mit Spaltung mit Zusammenziehung und S p a l t u n g I m Griech. wird der V.fuß wegen seiner andrängenden Wirkung besonders in Marschund Schlachtliedern, wegen seiner schlußbildenden Kraft in der Schlußszene und im letzten Chorlied des Dramas verwendet. Im Dt. werden eigentlich erst zur Zeit der Romantik anapästische Verse zu bilden versucht. Besonders häufig verwendet wird der anapästische Dimeter mit Cäsur in der Mitte und dipodischer Gliederung (W. Schlegel Jon; Goethe Pandora). Platen verwendet in seinen satirischen Komödien Septenare nach dem Vorbild des Aristophanes. Der rhythmische Eindruck der anapästischen Maße wird aber selten erreicht und oft schon dadurch verwischt, daß A. mit Jamben gemischt sind. Infolge der Lagerung der rhyth-

Antike Versmaße mischen Gruppen werden die anapästisch gedachten V.e meist daktylisch empfunden. J. M i n o r , Nhd. Metrik (2. Aufl. 1902) S. 280-281. b) D a k t y l u s (griech. δάκτυλος „Finger") in der Antike V.fuß, der aus einer Länge und zwei Kürzen besteht mit Zusammenziehung der Kürzen mit Spaltung der Länge mit Spaltung und Zusammenziehung Im D. des epischen V.es, des Hexameters (s. III § 5d), konnte die Länge niemals in zwei Kürzen aufgelöst werden. Die Länge dieses D. wurde deshalb von den antiken Rhythmikern als irrational (αλογον) bezeichnet und ihre Zeit auf weniger als zwei Zeitmaßeinheiten (Moren) festgesetzt. In der neueren Dichtung wird der Gebrauch des D. auf Buchner zurückgeführt, der sie im Orpheus, einer Aktion in fünf Akten, komponiert von Heinrich Schütz, wohl als Nachbildung der mit den antiken D.en nicht im Zusammenhang stehenden D.en der Minnesänger verwendet. (Über die sogen, m h d . D a k t y l e n s. Deutsche Versmaße und Strophenformen) Man erkannte bald, daß die neuen V.füße sich gut zur Nachahmung lat. und griech. Formen eigneten. Zesen tritt besonders f ü r sie ein. Hauptsächlich wird der D. dann im H e x a m e t e r (s. III § 5d) verwendet und in Verbindung mit dem P e n t a m e t e r im D i s t i c h o n . Aber auch zwei-, drei-, vier-, fünf- und sechsfüßige V.e mit einsilbigen letzten Fuß, mit und ohne Auftakt kommen vor. A. K ö s t e r hat gezeigt, daß der dt. D. zwei Formen entwickelt hat; in der einen ist die zweite Senkung ein wenig schwerer als die erste, in der andern die erste Senkung ein wenig schwerer als die zweite. Je nach der Beschwerung der Senkungen wechselt der rhythmische Charakter, i •> i erzeugt eine hüpfende (Goethes Reineke Fuchs), i i •> eine ruhige und sanfte Bewegung (Goethes Hermann und Dorothea). Bedenken gegen Kösters Anschauungen haben H. Paul und G. Baesecke geäußert. Die Frage der D.en im Dt. wird dadurch verwickelt, daß der sog. nhd. D. teils den antiken D. nachahmt, teils aus dem Ionikus J -~- oder dem einfachen - J . Lehtonen) vor allem, die philosophisch-weltanschaulichen Impulse. Auch auf lyrischem Gebiet war in den akademischen Anfängen (O k s a η e η , 1826-89) die Einwirkung S c h i l l e r s spürbar, im Gedicht K. K r a m s u s (1855-95), Ε. L e i n o s (1878-1926) und z.T. auch O. M a n n i n e η s (1872-1950) klangen neben goetheschen auch heinesche Töne, obwohl besonders bei Leino die Lyrik auf der Grundlage der altheimischen Tradition zu eigenständiger Höhe gelangte. Auch das Schaffen V. A. K o s k e n n i e m i s (1885-), der zum ersten Male die ganze abendländische Kulturbreite in seinen Gedichten ausfächerte, knüpft an G o e t h e s Namen an. Ein Expressionismus Werfelscher Prägung und wohl auch Herkunft, daneben hölderlinische freie Rhythmen waren in den herbstlich reifen Versen von Uuno Κ a i 1 a s (1901-33) hörbar, während es den Altersgenossen K. S a r k i a (1902-45) zum franz. Symbolismus zog. R i l k e wurde zuerst in den Versen Aila M e r i l u o t o s (1924-) wirksam. A. H e l l a a k o s k i (1883-1953) dagegen, trotziger Aufbegehrer gegen den exklusiven Vers, ein Experimentator großen Stils, in dem die moderne westeuropäische, von der Abstraktion getragene Ausdrucksgebärde durchbrach, dürfte ohne unmittelbaren dt. Einfluß geblieben sein. Erich K u n z e , Wirkungsgeschichte der finn. Dichtung im dt. Sprachbereich, in: Stammler Aufr. Bd. 3 (1954) Sp. 35-46. Von Kunze wird audi eine umfassende Gesamtdarstellung der literar. Beziehungen erwartet. Beste finn. Lit.Geschidite in nicht-finn. Sprache: Viljo Τ a r k i a i η e η , Finsk litteraturhistoria (Helsingfors 1950); in dt. Sprache: Hans G r e l l m a n n , Finn. Literatur (1932; Jedermanns Bücherei) [ζ. T. veraltet]. Fromm Hans

Flugschrift § 1. Druckschrift von nur wenigen Blättern oder Bogen, die in volkstümlicher Sprache aktuelle politische, kirchliche, soziale oder sonst allgemein interessierende Tagesfragen aufgreift, um die öffentliche Meinung im Sinne des Verfassers zu beeinflussen. Auf Massenwirkung eingestellt, beim Erscheinen begierig gelesen, aber meist schnell vergessen. In Prosa oder Versen, als Spruch oder Lied, in dialogischer und dramatisierender Form, als Streit- und Parteischrift, freimütig und derb, oft mit satirischem Einschlag, bald dürftig, bald geschickt verfaßt, je nach Bildung und Talent des Autors. Mit Vorliebe illustriert, um den Inhalt dem Publikum schmackhaft und verständlich zu machen: der Holzschnitt, der den Kernpunkt der Schrift einprägsam, gern auch karikierend abbildet, soll das Auge fesseln, zum Lesen und Kaufen einladen. Dem gleichen Zwedc dient der wortreiche, marktschreierische Titel; nur wenige, wie ζ. B. der Karsthans (1520), bevorzugen schlagwortartige knappe Überschrift. Für Geschichte der Politik, Literatur, Kunst und Kultur, zur Erkenntnis und Wertung der geistigen, religiösen, sozialen Strömungen zumal des 16. und 17. Jh.s birgt die F. ein bedeutsames, noch längst nicht ausgeschöpftes Quellenmaterial.

§ 2. Die Blütezeit der F. bricht bald nach Erfindung und Verbreitung des Buchdrucks an; sie hält durch Jh.e an und wird erst in der Neuzeit durch die periodisch erscheinenden Zeitungen und Zeitschriften allmählich verdrängt, hat jedoch in Politik und Wirtschaft bis heute ihre Stellung behauptet. Thematisch kennt die F. der Frühzeit keine Begrenzung: Kaum ein Bezirk des öffentlichen wie privaten Lebens, der nicht gespiegelt wird. Neben den großen politischen und religiösen Themen der Zeit wird alles aufgegriffen, was die breite Masse anspricht, wie Aberglaube, Prophezeiungen, wunderbare Erscheinungen und Begebenheiten aller Art, Untaten, Unglüdcsfälle, Krankheiten nebst Heilmitteln, Kalender, Feste und Feierlichkeiten, Gesetze, Verordnungen, Sitte, Brauchtum, Mode, Küche und Keller, Schule und Beruf. § 3. Als wirksames Kampf- und Propagandamittel der Reformationszeit erlebt die F. gleich zu Beginn ihrer Geschichte die

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Flugschrift

erste Vollblüte: sie gilt geradezu als vox populi. Voran die Schriften der führenden Reformatoren und ihrer Hauptgegner geben Anlaß und Stoff zu täglichen Kontroversen, die gedanklich wie stilistisch kaum ausgefeilt sind. Nur wenige können Anspruch auf künstlerische Form u. Wertung erheben. Um die Mitte des 16. Jh.s ist die F. als scharfe Waffe im Streit der Meinungen bereits ein soldier Machtfaktor, daß 1548 und 1577 besondere Reichspolizeiverordnungen erlassen werden, die ihre Beliebtheit und Wirkkraft zu bremsen versuchen. Auch das 17. Jh. kann mit einem reichhaltigen F.bestand aufwarten. Die kirchlichreligiösen Streitgespräche werden nun durch die mehr politischen und kriegerischen Begebenheiten, vor allem des 30jährigen Krieges überschattet. Daneben werden weiterhin die Zustände in Gesellschaft und Kultur durch Schlaglichter beleuchtet. Dabei werden grelle Farben aufgetragen, und mit groben Derbheiten wird nicht gespart. Im Laufe des 18. Jh.s wachsen die periodisch erscheinenden Schriften und Zeitungen über die bis dahin dürftige Art der Nachrichtenvermittlung hinaus, wodurch der F. alten Stils mancher Zustrom abgegraben wird. Gleichwohl lebt die alte Gattung kräftig weiter: sie verfeinert ihre literar. Form und erfreut sich so in interessierten Kreisen nachhaltiger Wertschätzung. Die neuen Ideen, die im geistigen und öffentlichen Bereich andringen und sich im Kampf mit den überlieferten Anschauungen durchsetzen wollen: das Zeitalter der religiösen und politischen Aufklärung mit den Forderungen und Ansprüchen des aufstrebenden Bürgertums wird von einer neuen F.flut begleitet. Ihr Ton ist nach wie vor polemisch und derb, ohne Scheu vor schärfsten persönlichen Invektiven, wie sie ζ. B. das Schmähgedicht Leben und Taten der weltberüchtigten Frau Friederica Karolina Neuberin (1743) gegen die Trägerin der bühnenreformatorischen Bestrebungen schleudert. Doch auch der rein literar. Fehde zwischen Gottsched und den Schweizern ist jedes Mittel recht, den Gegner zu diffamieren und niederzukämpfen. So erzielt 1754 das Neologische Wörterbuch des Gottschedianers Schönaich mit seiner Massierung von Witz, Spott und Hohn einen durchschlagenden Publikumserfolg, worauf | Reallerikon I

die erbitterten Schweizer mit gleich grobem Geschütz antworten. Auch das ausgehende 18. wie das 19. Jh. lassen im geistig-literar. wie politisch-sozialen Raum die alte Waffe nicht rosten. Geschichdiche Ereignisse wie die franz. Revolution, Napoleon, die Befreiungskriege, die polit. Bewegungen der 30er und 40er Jahre bis zur Revolution von 1848, dann der Kampf um die Einigung der deutschen Staaten und Stämme bieten reichen Stoff. Die Reaktion bleibt nicht untätig: sie bedient sich des gleichen Wirkungsmittels und versucht zugleich mit allen Mitteln des Polizeistaates den Strom der gegnerischen F.-Lit. einzudämmen und ihrer Wirksamkeit seit 1819 bis 1848 mit rigoroser Zensur zu begegnen, bis das preuß. Pressegesetz v. J. 1851 eine scharfe Dauerkontrolle einführt. Erst 1874 wird durch Reichsgesetz die Pressefreiheit der F. für das Gebiet des neuen Deutschen Reiches wiederhergestellt und geregelt, die seitdem, von Ausnahmezuständen abgesehen, bis zur Gegenwart besteht. § 4. Auf die äußere Form und Ausstattung verwenden die Herausgeber der F. anfänglich große Sorgfalt: etwa bis zur Mitte des 16. Jh.s wetteifern selbst kleinere Exemplare in Papier, Drude wie Bildschmuck, namentlich des Titelblatts und seiner Einfassung, Bestes zu bieten. Künstler von Ruf wie Albr. Dürer und Luk. Cranach sorgen durch Mitarbeit für hochwertige Leistungen. In der zweiten Hälfte des 16. Jh.s gerät dann die Ausstattung in Verfall, bis sie um die Mitte des 17. Jh.s ihren tiefsten Stand erreicht. Sie hebt sich dann wieder langsam, ohne jedoch nur annähernd die alte Höhe zurückzugewinnen. Zeitung und Zeitschrift überflügeln nun die F. auch in der Ausstattung. § 5. Die Gesetze der inneren, der literar. Form, des Stils, die für die F. durch Jh.e galten, wurden bis in die neuste Zeit hinein nicht voll gewertet. Und doch birgt auch diese Gattung gewisse literar. Werte, die Beachtung verdienen. Natürlich ist dieser Wert je nach Talent und Zielsetzung des Verfassers recht unterschiedlich. Die einen wollen nur den Inhalt propagieren ohne Formkraft und stilistische Gewandtheit. Andere schlagen wenigstens im Titel ein wirksames Motiv an, ohne es kunstgerecht durch30

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Flngsduift

zukomponieren. Nur wenn das Leitmotiv die ganze F. durciiklingt, hat der Autor eine bewußt künstlerische Gestaltung angestrebt. § 6. Mit Vorliebe entlehnt die F. bekannte Motive aus dem kirchlich-religiösen Bereich, wobei die Verfasser keinerlei Hemmung zeigen. So nutzen sie gern die Passionsgeschichte, indem sie für Christus eine historische Persönlichkeit einsetzen, für die sie des Lesers Mitgefühl erwecken wollen. Oder sie wählen die Form der ironischen Passion, worin an Stelle des Gekreuzigten, um durch den Kontrast zu wirken, irgendein Bösewidit auftritt. Mag eine solche Verzerrung des Passionsmotivs heute abstoßend wirken: damals war es ohne Zweifel so eindrucksvoll, daß seine Ausläufer bis ins 19. Jh. hineinranken, während seine Vorläufer und Parallelen, die ironischen Gebete und Psalmen, schon im MA. aufkommen. Auch an die derben Scherze der Vaganten, die u. a. ein Evangelium secundum Marcas argenti mit biblischen Worten und Wendungen nachbildeten, sei in diesem Zusammenhang erinnert. Nicht weniger beliebt sind seit dem frühen 16. Jh. das Vater-Unser-Motiv, die polit. zehn Gebote, der polit. Katechismus und die Umdichtung der Psalmen für weltliche Zwecke.

Kranke, so wird ihm ein ironisches Epitaph gesetzt, eine Gattung, die damit gleichwertig neben die im 17. Jh. so beliebte Modedichtung der ernsthaften, überschwenglichen Lobpreisung tritt. Damit verwandt sind ironischer Lebenslauf, ironisches Testament und ironischer Gerichtshof, dessen Rechtssprüche sich als Offenbarung hoher Staatsweisheit geben. Zur Bekundung solcher staatsrechtlichen Weisheit und polit. Erfahrungssätze bieten die F.-Verfasser viel Witz auf. So macht der 22jährige Leibniz als junger Diplomat in seiner F. Specimen demonstrationum politicarum pro eligendo rege Polgnorum (1669) als erster den Versuch, die Methode der logisch-mathematischen Demonstration, die bis dahin nur auf Philosophie und Naturrecht durch Spinoza und Hobbes übertragen war, auf die Lösung einer aktuellen politischen Frage (polnische Königswahl) anzuwenden. Noch 1850 propagiert eine preußenfeindliche F. einen Grundriß politischpreußischer Logik. Der häufig polemische Ton und Charakter der F.en bringt es mit sich, daß auch aus dem Kriegsleben gem Bilder und Motive auftauchen wie Beschießung und Erstürmung einer Burg, Schleifung ihrer Mauern und ähnliches. Wird aber eine Stadt wie Magdeburg im 30jährigen Krieg wirklich vom Feind erobert, dann vergleicht man ihren Fall mit der Schändung einer Jungfrau. Um begehrte Länder und Städte werden förmliche Brautwerbungen veranstaltet. Ebenso werden Jagd, Spiel und Tanz umund ausgedeutet, wobei man wieder auf altes literar. und allegorisches Gut zurückgreifen kann. Welche Fülle von Masken und Motiven haben die Formen und Szenen der Jagd mit ihren Tierverkleidungen oder die verschiedenen Spielarten wie Schach- und Kartenspiel, Glückshafen und Lotterie der F. geboten. Beim Tanzmotiv eröffnet der Kalvinische Vortanz (1621) den Reigen, in dem je nach Mode Wechselreihen, Ballette und andere Tänze einander ablösen.

Auch nach Vorbildern und Mustern aus der medizinischen Sphäre schneiden die Autoren das einkleidende Gewand ihrer F.en gern zu. Sie konnten sich dabei auf altvolkstümliche Scherze und sprichwörtliche Redensarten — ζ. B. vom Narrenschneiden, Narrenschinden, der Narren Ham besehen, Kälberarzt, Narrenarznei bei Brant, Mumer und der übrigen Narrenliteratur (s. d.) sowie auf humanistische Kunstgriffe (ζ. B. Gerbeis Eccius Dedolatus) berufen. Hierher gehören Sdiriften wie die des Niki. Manuel Von der kranken sterbenden Seelmess (1524), ein Motiv, das dann im 17. Jh. ins Politische gewendet wird, wo aller Herren Länder, das kranke Römische Reich Deutscher Nation an der Spitze, im Krankenbett vorgestellt werden. Auch der Vergleich polit. Zustände und Vorgänge mit Schwangerschaft und Geburt ist damals gang und gäbe: noch das 19. Jh. ist mit solchen F.en, wie PolitischeWochenstube oder Kreißende Germania vertreten. Daß hier für Derbheiten aller Art bis zur Prozedur eines polit. Klistiers genügend Raum war, liegt auf der Hand. Stirbt dann der I

§ 7. Häufig werden die auftretenden Personen, auch die der Vergangenheit, in direkter Rede eingeführt. Die Darstellung gewinnt so an dramatischer Bewegtheit und Zuspitzung und nähert sich, sofern die Dialogform durchgeführt wird, der dramatisehen Form. Das trifft namentlich für die

irift frühen F.en der beginnenden Reformationszeit zu. Die Dialogfonn lebt fort bis weit ins 19. Jh. hinein, ist aber in ihren Wortführern dem Wandel der Zeit unterworfen: das 16. Jh. vertreten der Pfarrer und Soldat, das 17. der Hofmann und Kaufmann oder, im Zeichen der Schäferpoesie, der Hirt, während im 18. und 19. Jh. die verschiedenen dt. Stämme ihren Herold vorschicken. Nur einer hält allen Zeiten den Spiegel vor: der Narr; freilich vertauscht auch er die Maske mit dem Hanswurst, Kasperl und Eulenspiegel. Noch manche Einkleidungsform wäre zu erwähnen wie etwa die der zahlreichen fingierten Briefe. Der Historismus im Gefolge der Romantik führt etwa von Ε. M. Arndt an zu bewußter, ernsthafter oder ironischparodistischer Wiederaufnahme der Formen des 16. Jh.s: Soldatenkatechismen der Befreiungskriege; die absichtlich archaisierenden F.-Formen zur Zeit des Krieges 1870/71 und des Kulturkampfes. Manches ist als Rest mal. Erbgutes veraltet und abgestorben, aber vieles hat sich bis ins 19. Jh. und in die Gegenwart hinein lebendig erhalten. Anderes hat sich gewandelt oder ist neu aufgekommen, auch durch ausländische Einwirkung, die im Zeitenlauf nacheinander und gleichzeitig von Italien, Frankreich und Holland ausstrahlt. So erscheinen im späten 17. und im 18.Jh. F.en deutscher Autoren in frz. Sprache, nachdem schon das ganze 16. und 17. Jh. hindurch die Neulateiner gewichtige Beiträge geliefert hatten: auch anderTagesschriftstellerei hatten die Humanisten hervorragenden Anteil. Was endlich eine bemerkenswerte Erscheinung: die vielfach geübte Verleugnung der Verfasserschaft angeht, so hat diese Anonymität (s. d.) und Pseudonymität ihren Grund nicht nur in der berechtigten und verständlichen Vorsicht des Verfassers oder in dem damals beliebten Versteck- und Maskenspiel, das sich gern berühmter Zeitgenossen oder geschichtlicher Persönlichkeiten bediente. Wer die Masse des Volkes ansprechen und überzeugen wollte, der mußte, gleichsam als öffendiches Sprachrohr, seiner selbst vergessen, in der Menge untertauchen wie der Volkslieddichter neben und mit ihm: ist doch die Grenze zwischen histor. Volkslied und F. unfest und fließend. § 8. Der vorhandene Bestand an F.en ist erstaunlich umfangreich und mannigfaltig

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und muß in vielen Büchereien und Archiven noch gesichtet und geordnet werden. Erst dann ist eine systematische Durchforschung möglich. Was bisher bearbeitet wurde, ist durchweg zeitlich und örtlich begrenzt. Am meisten ist für die F.-Lit. der Reformationszeit getan. Aber schon aus der zweiten Hälfte des 16. Jh.s sowie aus der Flut der anonymen F.en liegt noch reiches Material brach. Während der histor. Forschung die F. immer als wichtige Quelle gedient hat, war das wissensch. Interesse der literarhistor. Forschung verhältnismäßig begrenzt. Erst seit der Mitte des 19. Jh.s trat eine gewisse Wandlung ein: nachdem die großen Bibliotheken ihre F.-Bestände übersichtlich geordnet hatten, kann sich die Forschung leichter den hier harrenden Aufgaben zuwenden (vgl. Einblattdrucke). Dazu gehört auch die Frage nach dem Anteil der F. an der Herausbildung einer Topik des weltanschaulichen und polit. Schlagwortes. J. S c h e i b l e , Die Fliegenden Blätter d. 16. u. 17. Jh.s (1850). Julius Otto O p e l u. Adolf C o h n , Der Dreißigjähr. Krieg. Eine Sammig. von histor. Gedichten u. Prosadarstellgn (1862). Oskar S c h a d e , Satiren u. Pasquille aus d. Reformationszeit. 2. Ausg. 3 Bde. (1863). Emil W e 11 e r , Die ersten dt. Zeitungen, 1505-1599 (1872; BiblLitVer. 111). Hans von Z w i e d i n e c k - S ü d e n h o r s t , Zeitungen u. F.en aus d. 1. Hälfte d. 17. Jh.s. Progr. Graz 1873. Ders., Die öffentl. Meinung in Deutschland im Zeitalter Ludwig XIV., 1650-1700 (1888). Max G r ü n b a u m , Über d. Publizistik d. Dreißigjähr. Krieges von 1626 bis 1629 (1880; Hallesdie Abhdlgn. z. neueren Gesch. 10). Joh. Η a 11 e r , Die dt. Publizistik in d. Jahren 1668-1674 (1892). Wilh. R u d e c k , Gesch. d. öffentl. Sittlichkeit in Deutschland (1897; 2., verb. Aufl. 1905). F.en aus d. ersten Jahren d. Reformation. Hg. v. Otto C l e m e n . 4 Bde. (1906-11). NF. u. d. T.: F.en aus d. Reformationszeit in Faks.drucken. Bd. 1, Nr. 1-6 (1921). Frida H n r a b e l , Die F.lit. d. Schweizer. Reformationsgesch. Diss. Zürich 1912. F. Β e h r e n d , Die literar. Form d. F.en. ZblBblw. 34 (1917) S. 23-34. Ders., Die Leidensgeschichte d. Herren als Form im polit.-literar. Kampf, bes. im Reformationszeitalter. Arch. f. Reformationsgesch. 14 (1917) S. 49-64. Karl S c h o t t e n l o h e r , Flugblatt u. Zeitung (1922; Bibl. f. Kunst- u. Antiquitätensammler 21): Bibliogr., S. 499-526. Hans F e h r , Massenkunst im 16. Jh. Flugblätter aus d. Slg. Wickiana (1924). Paul H o h e n e m s e r , Flugschriftenslg. Gustav Freytag, Stadtbibl. Frankf. a. M. (1925). Alfred W u 11 k e , Die öffentl. Meinung in Deutschland während d. Jahre 1697-1706 nach F.en d. Univ.-Bibl. Jena. (Masch.) Diss. Jena 1926. Newe Zeitungen, 30·

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Flugschrift — Form

Relationen, F.en, Flugblätter, Einblattdrucke von 1470-1820 (1929; J. Halle, Antiquariat, München, Kat. 70). G. B l o c h w i t z , Die antiröm. dt. F.en d. frühen Reformationszeit. Arth. f. Reformationsgesdi. 27 (1930) S. 145254. Die Sturmtruppen d. Reformation. Ausgew. F.en d. Jahre 1520-25. Hg. v. Arnold Erich Β e r g e r (1931; DtLit., Reihe: Reformation 2). Mit Lit.angaben. Theod. L e g g e , Die F.en d. Reformationszeit in Westfalen 1523-1583 (1933; Reformationsgeschichtl. Stud, u. Texte 58/59). Oskar T y s z k o , Beiträge zu d. F.en Lazarus Spenglers (1939; GießBtrDtPhil. 71). Maurice G r a v i e r , Luther et ΐopinion publique (Paris 1942). P. Β ö c k mann, Der gemeine Mann in d. F.en d. Reformation. DVLG. 22 (1944) S. 186-230. Wolfg. S t a m m l e r , Von d. Mystik zum Barock, 1400-1600 (2. Aufl. 1950) S. 321-339. Ridi. Ν e w a 1 d, Thomas Murner als Tagesschriftsteller. Beitr. z. Sprachwiss. u. Volkskde. Festschr. f. Ernst Odis (1951) S. 190-196. Gustav Bebermeyer Form § 1. G e s c h i c h t l i c h e s . Der Begriff der F. im Sinne künstlerischer Gestalt geht auf A r i s t o t e l e s zurück. Seinsbegründend in der Natur wie in der Kunst ist für ihn der είδος. Die künstlichen Dinge unterscheidet von allen anderen nur, daß ihr είδος nicht in ihnen selber liegt. Dem Kunstwerk geht ein Bild (Entwurf) in der Seele des Hervorbringenden voran. Das gilt für jede Art des Könnens, von der Kochkunst über die Heilkunst bis zu dem, was wir heute Kunst nennen. Der Künstler besitzt ein Vermögen, ein Bild von dem zu entwerfen, was er dann ausführt. Das Hervorbringen (ποιεϊν) hat ein selbständig Seiendes zum Ziel (Eth. Nie. VI, 5, 1140), dessen Güte daher maßgeblich für die Beurteilung des Hervorbringens ist. Dazu gehört eine ausgebildete Kunstübung (τέχνη), die sich auf eine Theorie, auf eine Lehre (lat. ars) gründet. Das Kunstwerk wird also erst zu dem, was es ist, durch die Hervorbringung gemäß einem είδος. Der Grundgedanke des Aristoteles ist die Einheit des Schaffensvorganges; F. und Gehalt sind nicht getrennt, F. ist lediglich ein im Arbeitsprozeß Vorgegebenes, das im Werk Gestalt wird. Gibt es für Aristoteles somit keinen Unterschied zwischen dem im Künstler ruhenden Bilde und der F. des ausgeführten Werks, so weicht gerade hierin die Ästhetik PI ο t i n s von ihm ab. Dessen oberster Begriff ist die „innere Form" (τό έ'νδον είδος): alle äußere F. setzt eine innere in der Seele des Schaffen-

den voraus, είδος ist zweierlei: 1. gleich ιδέα, nämlich da, wo das Zurückbleiben des Hervorgebrachten gegenüber dem gedachten Urbilde betont werden soll; 2. gleich μορφή, dem Gestalteten. Alle gestaltete F. ist nur Abglanz der höchsten F. Die Gestalt ruht nicht in sich selbst. Die F. verliert etwas von ihrer Vollkommenheit, wenn sie sich im Werk verwirklicht. Das bedeutet, daß alle Schönheit nun doppelt gesehen wird: sie ist zuerst in der Seele, sodann in der Materie. Diese Verknüpfung des Aristotelischen F.Begriffes mit der platonischen Ideenlehre hat weitreichende Wirkung gehabt. Das Wort 'Form' ist ins Deutsche aus lat.rom. forma erst Mitte des 13. Jh.s gedrungen. Vorher galt bilde, gestalt. Eine F.Ästhetik kennt das MA. nicht. Das Kunstwerk wird nicht als in sich selbst ruhend angesehen, sondern hat sinnbildlichen Charakter. Erst seit der Renaissance ist wieder eine Ästhetik möglich, die zwar den F. "Begriff nur in der Rhetorik kennt, im übrigen aber durch den Anschluß an Aristoteles das formale Moment stark in den Vordergrund rückt. I. C. S c a l i g e r mit seinem Buche Poeticis libri Septem (1561) hat damals den Anstoß zu einer Kunstbetrachtung gegeben, die bis Lessing hin gewirkt hat. Danach hat der KünsÜer die Aufgabe, sein Werk besser zu machen, als die Natur es kann. „Nicht Abschilderer der Wirklichkeit ist der Dichter, sondern Schöpfer einer 'anderen Natur'" (Baeumler). Der Poet ist der 'Macher'. Das erfordert strenge Beachtung der F.-Gesetze, die im Hauptbegriff der antiken Maßästhetik, der σνμμετρία (convenientia), als Ursache der Schönheit zusammengefaßt werden, im übrigen als praktische Regeln und Vorschriften gültig werden, die einzuhalten sind, wenn das Ziel, die Dinge so wiederzugeben, wie sie sein könnten und sollten, erreicht werden soll. Boileaus Satz: Rien nest beau que le vrai verpflichtet den Dichter zur Darstellung der Natur, wie sie 'eigentlich' ist — womit er zu einem 'anderen Gott' wird. F. ist also hier das in der Natur erkannte, von dieser aber nicht voll erreichte eigentliche Maßgesetz, nach dem der Dichter zu gestalten hat. Erst S h a f t e s b u r y hat, anknüpfend an Plotin, diese Auffassung in ihr Gegenteil verkehrt: „Das Schönmachende, nicht das Schöngemachte ist das wirklich Schöne"

Form (Characteristics, hg. v. Robertson, 1900, II, 50). Damit verliert der Dichter als 'Macher' seine herrschende Stellung gegenüber der Natur und der F.-Begriff seine bisherige Bedeutung. Der Dichter setzt nicht mehr die Regeln, sondern ist nur Durchgang für die 'erste Schönheit'. Shaftesbury hat den Plotinischen Begriff des έ'νδον είδος (the inward form) der neueren Ästhetik fruchtbar gemacht. Damit tritt er der Kunstregel der Franzosen gegenüber und hat auf Sturm und Drang, Herder und die Dichter der Klassik und Romantik bestimmend eingewirkt. F. wird jetzt von der Natur her als schöpferisch wirkende Urkraft aufgefaßt, das Kunstwerk als Organismus verstanden. Jeder Stoff hat seine Eigenform, die in der Seele des Dichters als gestalterisches Prinzip wirksam werden muß. G o e t h e (Aus Goethes Brieftasche 1776): „Es ist endlich einmal Zeit, daß man aufgehöret hat, über die Form dramatischer Stücke zu reden, über ihre Länge und Kürze, ihre Einheiten, ihren Anfang, ihr Mittel und Ende, und wie das Zeug alle hieß . . . deswegen gibt es doch eine Form, die sich von jener unterscheidet, wie der innere Sinn vom äußeren, die nicht mit Händen gegriffen, die gefühlt sein will . . . " . Der F.-Begriff ruht ganz in der Seele des Künstlers, der um so größer ist, je mehr er sich erhebt „zu dem Gefühl der Verhältnisse, die allein schön und von Ewigkeit sind" (Von deutscher Baukunst). Das Kunstwerk ist ein Analogon des Naturwerkes. In der Kunsttheorie S c h i l l e r s wird der Begriff der 'inneren F.' mit den Grundbegriffen der idealistischen Philosophie insofern verbunden, als das Kunstwerk als Gestaltung des reinen Ideals, der Freiheit, der Selbstbestimmung aufgefaßt wird, der Rückgang auf die Natur also Rückgriff auf ein Absolutes, von allem Zufälligen Befreites bedeutet. F. und Inhalt sind damit im allgemein Menschlichen miteinander verbunden, im Idealen fallen sie zusammen. F. ist Kraft, Freiheit, Wahrheit. Schönheit ist überall da, wo die Masse von der F. beherrscht wird. Auch die Ästhetik S c h e 1 l i n g s und H e g e l s geht vom Gehalt aus. Für Hegel ist das Schöne das sinnliche Scheinen der Idee. Erst H e r b a r t hat die F. vom Gehalt wieder theoretisch gelöst und damit die Ästhetik des 19. Jh.s in ihrer Fragestellung

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nach dem Verhältnis von F. und Inhalt begründet. Seitdem geht bis in die zwanziger Jahre des 20. Jh.s der Streit der'Formalisten' gegen die 'Gehaltsästhetiker'. F. Th. V i s e h e r (Das Schöne und die Kunst) machte gegen Herbarts Schüler Z i m m e r m a n n geltend, daß F. und Inhalt eins seien: 'Ein Wert, eine Kraftl' W. W u n d t versuchte mit seiner psychologischen Ästhetik, W. D i 11 h e y mit der historisch-phänomenologischen Betrachtungsweise den Formalismus zu überwinden. Th. L i p p s bestimmte F. und Inhalt als korrelate Begriffe: F. ist die Daseinsweise des Inhalts. Für J. V o l k e l t ist F. die Oberflächenerscheinung der Gegenstände, im Gegensatz zum Gehalt als der erlebten Bedeutung der Gegenstände. Ε. Ε r m a t i η g e r : F. ist „sinnliche Begrenzung des durch die Ideendynamik der Weltanschauung beseelten Stoffes, Sichtbarwerdung der geistigen Funktion, die im Kunstschaffen sich auslebt" (S. 195). Der letzte große Versuch, auf dem Boden der von Herbart gegründeten Fragestellung F. und Inhalt des Dichtwerkes in ihrer gegenseitigen Bezogenheit aufzuzeigen, ist von O. W a 1 ζ e 1 gemacht worden, der die Bemühungen von hundert Jahren kritisch zusammenfaßt und zu einer Synthese zu kommen sucht. Alfr. B a e u m l e r , Ästhetik (1934; Hdb. d. Philosophie, Sonderausg.). Chr. Fr. W e i s e r , Shaftesbury u. d. dt. Geistesleben (1916). M. H a m b u r g e r , Das Formproblem in d. neueren dt. Ästhetik (1915; Beitr. z. Philos. 7). Joh. Friedr. Η e r b a r t , Allgemeine prakt. Philosophie (1885; Herbart: Sämtl. Werke, Hg. v. K. Kehrbach Bd. 2). Ders., Lehrbudi z. Einl. in d. Philosophie (1891; Sämd. Werke Bd. 4). Friedr. Theod. V i s e h e r , Das Sdiöne u. d. Kunst (3. Aufl. 1907). Ders., Ästhetik. Hg. v. Robert V i s c h e r . 6 Bde. (2. Aufl. 1922-23). Robert V i s c h e r , Drei Schriften ζ• ästhet. Formproblem (1927; Philos. u. Geisteswiss., Neudrucke 6). Robert Z i m m e r m a n n , Ästhetik. 2 Tie. (1858-65). Theod. L i p p s , Grundlegung d. Ästhetik (1903; 3. Aufl. 1923 = Lipps, Ästhetik 1). Joh. V ο 1 k e 11, System d. Ästhetik. 3 Bde. (1905 -14). Benedetto C r ο c e , Estetica (4. Aufl. Bari 1912). Emst C a s s i r e r , Freiheit u. Form. Studien z. dt. Geistesgesch. (2. Aufl. 1918). Herrn. F r i e d m a n n , Die Welt d. Formen. System e. morpholog. Idealismus (2. Aufl. 1930). Emil E r m a t i n g e r , Das dichter. Kunstwerk (1921; 3. Aufl. 1939). Oskar Walzel, Gehalt u. Gestalt im Kunstw. d. Dichters (1923; HdbLitwiss.) bes. S. 178 ff., 235 ff., 368 ff. (dort auch weitere Lit.). Emst

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Form

Georg W o l f f , Ästhetik d. Dichtkunst (Zürich 1944). § 2 . G r u n d s ä t z l i c h e s . Alle Versuche, die Korrelation von F. und Inhalt aufzuzeigen, sind heute als gescheitert anzusehen. 'Formalisten' und 'Gehaltsästhetiker' haben keine gemeinsame Basis gefunden. Das liegt einmal an der Unklarheit und Vieldeutigkeit, mit der die Wörter 'F.' und 'Inhalt' (oder Gestalt und Gehalt) verwendet werden, hat seinen eigentlichen Grund aber in dem Mangel einer Vorbesinnung über die Eigennatur von Dichtung. Es muß also zunächst die Seinsweise des Kunstwerks untersucht werden, seine spezifische Natur, bevor Einzelfragen in Angriff genommen werden können. Die „essentialen" Probleme (R. Ingarden) haben voran zu gehen. Hier hat denn auch die neuere Forschung eingesetzt. Im Anschluß an Husserls Logische Untersuchungen und Heideggers Sein undZeit hat Joh. P f e i f f e r 1931 nach den „intentionalen Funktionen und existentialen Bedingungen, die ein als Gedicht immer schon verstandenes Gedicht als ein solches allererst konstituieren" gefragt und die Lösung im Rückgang auf die Sprache gesucht: „in welcher spezifischen Funktion der Sprache gründet das Gedichtsein von Gedichten?" Er sieht das Wesen der Sprache in den beiden Komponenten des „bedeutungshaften" und des „kundgebenden" Ausdrucks beschlossen. Die Sprache meint Gegenständliches und ist zugleich Anzeichen für eine Lebenszuständigkeit. Tonfall, Modulation, Tempo, Rhythmus, Klangfarbe bezeichnen über das begrifflich Gegenständliche hinaus eine Totalität der Daseinsweise: „Die Sprache als so und so gestaltete, so und so getönte Schallmasse drückt zuständliche Gestimmtheit aus, hegt und verwahrt sie so, daß menschliches Dasein daran teilnehmen kann" (S. 58). „Lyrische Dichtung leistet gestalterische Verwandlung von Lebenszuständlichkeit in unmittelbar-bannende Sprachform". — Gleichzeitig und ebenfalls von Husserl ausgehend hat R. I n g a r d e n den schichtenmäßigen Aufbau der Seinsweise von Dichtung untersucht und später auch das F.-Inhalt-Problem im literar. Kunstwerk behandelt, wobei er die Begriffe auf das 'essentiale Problem' zurückführt und die Schwierigkeiten aufzeigt, die der Lösung

entgegenstehen. In engem Anschluß daran hat dann G. M ü l l e r i m Begriff des „Bedeutungsgefüges" als einer „sprachlichen Wirklichkeit" die Seinsweise von Dichtimg zu bestimmen versucht. Es sei „die spezifische dichterische Leistung . . . , etwas durch das Bedeutungsgefüge zur Erscheinung zu bringen" (S. 151). F. ist nicht Gestalt eines der Lebenswirklichkeit angehörenden Inhaltes, sondern ist konstitutiv für die Wirklichkeit der Dichtung, die eine der dem Menschen möglichen Objektivationen seiner selbst ist. Die alte F.-Inhalt-Problematik ist heute deswegen überwunden, weil beide Begriffe nicht mehr als Beziehungswerte zweier verschiedener Lebensbereiche (der Kunst und der Wirklichkeit) verstanden, sondern in Begriffen wie 'Gefüge' oder 'produzierte F.' zusammengefaßt werden. In einem interessanten Versuch hat Hugo K u h n von der tierischen F.-Gestaltung her (Spinnennetz, Vogelgesang) Zugang zum F.-Problem gesucht und jenen Begriff der 'produzierten F.' als Ortung' eines Inhaltes (einer gedanklichen Aussage) in einer 'Situation' verstanden, in einem Sein, „das nicht philosophisch definiert ist, sondern ganz persönlich aktualisiert, aber in seinem Wesen geschichtlich, unter Epochengesetzen ähnlich" (S. 262). Die dichterische Gestaltung ist eine geistige Weise des Daseins, die ihre Wurzeln in der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeit des Menschen hat, wobei die formalen Mittel der Sprache (Klang, Rhythmus u. a.) den Inhalt „in einem allgemeinen Seinszusammenhang von Welt und Mensch 'orten', befestigen, bleibend machen" (S. 263). Damit wird zugleich deutlich, daß die formalen Elemente im menschlichen Sein selbst ihr Fundament haben müssen. Spezielle Probleme der F., wie etwa das der Gattung, können daher auch nur gelöst werden im Rückgang auf menschliches Sein überhaupt. Die Poetik wird „literaturwissenschaftlicher Beitrag zum Problem der allgemeinen Anthropologie" (S t a i g e r Poetik, S. 260). Die dichterische F. beschwört das Dasein auf eine dem Dasein als 'Sein in der Zeit' eigene Weise. Sie gibt nicht verschiedenen Uberzeugungen, Meinungen, Vorstellungen vom Sinn des Lebens Ausdruck, sondern gestaltet 'Sinn' überhaupt als eine Ganzheit der Lebensstimmung. Darunter haben alle nur denkbaren Inhalte (Welt-

Form — Fonnel anschauungen) Raum. Sie alle werden übergriffen und 'aufgehoben' durch die F., nicht durdi Verschönerung oder Verallgemeinerung, sondern durch Erhebung in die „präsentische Daseinsform" (Staiger), die die ästhetische ist. Durdi die F. ist das dichterisch Gestaltete 'da'. „In der Dichtung ist die von der Sprache hervorgerufene Gegenständlichkeit nur innerhalb der Sprache 'existent'. Die Bedeutungen weisen auf keine Realität. Aller Gehalt, der sich ausdrückt, ist in der Gestaltung anwesend. Es gibt keine Gegenständlichkeit, zu der Stellung genommen wird, sondern die Gegenständlichkeit selber ist bereits vom Gehalt geformt" (K a y s e r , Kunstwerk, S. 220). Den Versuch, Literaturgeschichte von der F. her zu schreiben, hat P. B ö c k m a n n unternommen. F.-Analyse — und das meint im weitesten Sinne S t i l a n a l y s e — heißt also, die Formungskräfte einer Dichtung als einer einheitlich geformten Welt und ihrer Struktur zu erfassen. „Form, Stil, Fonngedanken, Stilwille, Auffassungsformen, Darstellungsweisen, menschliches Selbstverständnis diese und andere Ausdrücke sind schwankend . . . , wo es doch immer nur um Eines geht: die Seinsart des Lebens im Bereich der Kunst, die man, um jedes Vorurteil zu vermeiden, am besten als Stil bezeichnet. Alles andere ist Ballast, den über Bord zu werfen uns längst die Phänomenologie und Ontologie gelehrt hat" (Staiger). Indem so die Frage nach dem Stil eines Werkes abzielt auf die Kategorien, die eine dichterische Welt aufbauen (Kayser), vereinigt diese phänomenologische Betrachtungsweise jene früher getrennten Fragen nach der F. und dem Weltanschauungsgehalt einer Dichtung in sich. In der F., dem Stil, eines dichterischen Werkes gibt sich die Weise kund, in der die jeweils erdichtete Welt angeschaut wird. Die Formen der Anschauung der Welt sind Ausdruck der Weltanschauung eines Dichters. F. und Gehalt s i n d nur als ein Ganzes, eben als Werk, das die Lit.wiss. beschreibend auszulegen hat. Joh. P f e i f f e r , Das lyr. Gedicht als ästhet. Gebilde. Ein phänomenolog. Versuch (1931). Ders., Umgang mit Dichtung (6. Aufl. 1949). Ders., Zwischen Dichtung u. Philosophie. Ges. Aufs. (1947). Ders., Was haben wir an e. Gedicht? (1955). Roman I n g a r d e n , Das literar. Kunstwerk (1931). Ders., Das Form-

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Inhalt-Problem im literar. Kunstwerk. Helicon 1 (1939) S. 51-67. G . M ü l l e r , Über d. Seinsweise υ. Dichtung. DVLG. 17 (1939) S. 137-152. Hugo K u h n , Probleme d. produzierten Form III. Studium generale 4 (1951) S. 254-264. Emil S t a i g e r , Die Zeit als Einbildungskraft d. Dichters (2. Aufl. 1953) passim. Ders., Poetik, passim. K a y s e r , Kunstw., bes. S. 289ff. Erik L u n d i n g , Wege z. Kunstinterpretation. Acta Jutlandica 1953, S. 7-26. Josef K ö r n e r , Wortkunst ohne Namen. Η. 1 (2. Aufl. Bern 1954). Paul Β ö c k mann, Formgeschichte d. dt. Dichtung. Bd. 1 (1949). Theophil S ρ ο e r r i , Der Weg z. Form (1954). Fr. Β1 u m e , Form. MGG. Bd. 4(1956) Sp. 523-543. Walter Joh. Schröder

Fonnel

§ 1. Der latein. Ausdrude formula geht aus von der juristischen Fachsprache der röm. Prozeßpraxis. Er bezeichnet das juristische Schema, das geeignet ist, einen bestimmten Tatbestand zu decken, und das, schriftlich niedergelegt, für den besonderen Prozeßfall jeweils mit individuellem Leben erfüllt wurde. Es ist also eine an dem Einzelfall gewonnene, aber zu typischer Bedeutsamkeit gehobene Abstraktion. Sammlungen derartiger formulae wurden zur Grundlage röm. Rechtskodifizierung. (Vgl. den Artikel formula bei Pauly-Wissowa Bd. 6, 2, 1909, Sp. 2859-76 [Wenger].) Für unseren Sprachgebrauch ist aber F . vielmehr gerade das, was im röm. Prozeßverfahren durch die formula abgelöst wurde, und was ein typischer Bestandteil früher Rechtsentwicklung überhaupt ist, nämlich die mündlich überlieferten und verwendeten, in ihrem Wordaut bis ins einzelne festliegenden und nur so gültigen Wendungen, mit denen die Prozessierenden ihre Forderungen, Klagen und Verteidigungen vorbrachten. Ganz Entsprechendes bieten auch die germ. Volksrechte. Hier finden wir die Handhabe zur Definierung des Begriffes F.: Wir erkennen in der F. die von der Allgemeinheit anerkannte und übernommene und dadurch traditionell gewordene Prägung eines Gedankens oder Begriffes, die in derselben oder annähernd der gleichen Fassung in verschiedenen Zusammenhängen jederzeit wiederkehren kann. Sie erblühte in einer Zeit, in der die individuelle Lebensgestaltung noch zaghaft und unbeholfen war, und wo der Einzelne in seinem ganzen Tun und Denken noch eingebettet war in die Beziehungen zu den natürlichen oder politischsozialen Verbänden, Familie, Sippe, Stand,

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Formel

Gefolgschaft und Stammesverband. Wo das Leben sich in fest gegebenen und als unabänderlich empfundenen Formen und Forderungen vollzog, wurde auch der nötige Ausdruck aller Bezüge und Gedanken, alles Fühlens und Wissens in ein für allemal festen Formen gefunden. Die F. ist mithin zwar nicht durch die Allgemeinheit geprägt im Sinne des dichtenden Volksgeistes der Romantik, sie ist vielmehr die Prägung eines Individuums, das noch ganz im Allgemeinen umschlossen ruht. Gerade hierin liegt die letzte Eigenart der F. und ihrer ästhetischen Wirkung auf den Menschen der Gegenwart. Sie ist Ausdruck einer vergangenen und nicht wieder erweckbaren Epoche der geistigen Entwicklung unseres Volkes. Uns verbindet keine innere Notwendigkeit mehr mit diesen Gebilden, die Gedanken und Empfindungen für die umfassendste Allgemeinheit in die treffendste Form gekleidet haben, so daß ihre stete Wiederholung immer neu und geheimnisvoll anregt. Wir streben nach der individuellsten und persönlichsten Nuance alles Denkens und Fühlens und seines künstlerischen Ausdrucks. Aber zugleich erfüllt uns die romantische Sehnsucht, aus der Vereinzelung herauszutreten und, ans Allgemeine angeschlossen, an den geheimnisvollen Kräften und Schwingungen teilzuhaben, die uns etwa aus der F.sprache des Volksliedes (s. d.) entgegenwehen. Nicht umsonst ist die Romantik die eigentliche Wiederentdeckerin der F. und ihres Reizes geworden. Heute vollziehen sich im allgemeinen nur noch die rein konventionellen Verhältnisse des Lebens gewohnheitsmäßig in formelhaften Wendungen, etwa Gruß und Dank, Briefanfang und Briefschluß, und zwar je unpersönlicher, desto formelhafter. Doch im Eid, in den geprägten feierlichen Formen des Gebets und religiösen Kultes lebt ein Stück der zwingenden Macht der F. nach; im Sprichwort bleibt formelhafte Prägung altüberlieferter Lebenserfahrung bis heute erhalten. Als literarisch-stilistische Erscheinung hat sich ihr Geltungskreis stark verengt. Nur die Gattungen eigentlich volkstümlicher Poesie wie Märchen, Sage, Volkslied, Rätsel u. ä. kennen sie als Stilmittel, und von ihr lernt die Kunstdichtung, die volkstümliche oder altertümliche Wirkungen erstrebt. Sonst besitzen wir nur noch das kurzlebige, aus der Massenhypnose geborene und mit der Aktualität sterbende Schlagwort,

das etwas von der formelbildenden Kraft auch in der heutigen Welt noch am Werke zeigt. § 2. Somit grenzt sich die F. als rein s p r a c h l i c h e Prägung ab gegen die traditionellen Aufbauformen und die traditionellen Inhalte. Deshalb empfiehlt es sich, die sprachliche F. von der S t r u k t u r f o r m e l (ζ. B. Reihung, Verschachtelung usw.), dem S c h e m a (z.B. „Dreibrüderschema", „Bärensohnschema" im Märchen) und dem f.haften M o t i v (Kindsmörderin, Ruine, Mondschein) terminologisch zu scheiden. Freilich wirken in all dem ähnliche Kräfte und Tendenzen, und wenn es gilt, die „F.haftigkeit" im ganzen zu beschreiben, ist es sinnvoll, den Begriff F. auch auf solche Erscheinungen auszudehnen (s. dazu audi Einfache Formen). In der echten F. setzt sich das Uberpersönliche unwillkürlich und unbewußt in Sprache und Gestalt um. Es gibt aber auch ein Überpersönliches und als objektiv gültig Anerkanntes, das in Schulen erlernt und der Dichtung mit Vorsatz aufgeprägt wird. Es entsteht, wo immer ein poetisches Kasten- und Bildungswesen über die Gültigkeit von Dichtersprache und -stil wacht, im Abendlande besonders unter dem Einfiuß der fortwirkenden antiken Rhetorik (s. d.). Als Sprachform prägt sich dies bewußt Objektive in den traditionellen S t i l f o r m e n (s. d.), als Sprachinhalt im Τ ο ρ ο s (s. d.) aus. An die Stelle der immanenten Objektivität des echt F.haften tritt da die absichtliche, erlernbare Objektivität einer Bildungstradition. F.haftigkeit kann sich aber auch nachträglich einstellen, indem individuelle Prägungen zur K o n v e n t i o n werden und damit dem Kollektiven anheimfallen. Voraussetzung dafür ist, daß der Einzelne sich aus der Gemeinschaft gelöst hat und eine Spannung zwischen dem Eigen-sein und dem „Man", zwischen Daimon und Tyche (im Sinne von Goethes Urworten orphisch) besteht. Unter der gleichen Voraussetzung kann andererseits die echte, dem ursprünglichen Kollektivbewußtsein entsprungene F. zur individuellen Prägung aufsteigen. Das geschieht ζ. B. noch im Umkreis der zweckgebundenen Rechtsrede im anord. Urfehdebann (Genzmers Edda-Übersetzung II, 187 ff.) und erst recht im germ. Heldenlied. Hdwb. d. dt. Märchens Bd. 2 (1934-40) Artikel Formel (St.Thompson) und Formel-

Formel märdien ( T a y l o r ) . Rob. P e t s c h , F.hafte Schlüsse im Volksitiärchen (1900). — Topos: E. R. C u r t i u s , Europ. Lit. u. lat. Mittelalter (Bern 1948) bes. Kap. V. § 3. Ist die F. als Gattung Erzeugnis kollektivistischen Denkens, so ist ihre eigentliche Heimat die typisch kollektivistische Literatur. Recht, Kult und Magie werden von Formeln ganz getragen. Dem festgeprägten Wort kommt hier gesteigerte Bedeutung zu. Wie Name und Person für primitives Denken sich dedcen, so die F. und die Tat, die dahintersteht. Geprägtes Wort ist wie bedeutsame Gebärde Symbol im Sinne einer Konzentration von Macht, die Handlungen und Geschehnisse erzeugt und erzwingt. Auf der festgeprägten F. ruht die Macht des Zauberspruchs (s. d.), der wirkungslos bliebe, wenn nicht das richtige Wort getroffen wird. Darum ist in dem zweigliedrigen Spruchtyp, der im Germanischen vorherrscht, die Prägung des eigentlichen Zauberwortes viel starrer als die des ersten, epischen Teiles, der poetischer Umbildung von mancherlei Art fähig ist. Die geringe Menge heidnisch-kultischer Dichtung, die uns erhalten ist, läßt uns nur selten kultische Formeln erkennen. Auch die sichtlich formelhaften Prägungen in den seltenen Fällen, wo nord. Dichtung das Kultische streift (die kleine Ritualszene der VölsiStrophen, Genzmers Edda-Übersetzung II, 184 ff.; der Heilsgruß der erweckten Sigrdrifa ebd. I 132; die feierlichen Verfluchungen des Skirnir-Liedes ebd. II 27 und der Buslubcen ebd. II 180), sind uns eben nur einmalig zugänglich. Häufiger kehren die Weihe- und Fluchformeln in run. Inschriften, namentlich auf Grabsteinen, wieder. Ein dt. Ableger ist die größere Nordendorfer Spange mit der Weiheformel: wigi ponar. Das Eindringen des Christentums bringt eine Fülle neuer religiöser Formelprägungen mit sich, und namentlich der aufblühende Marien-Kult des 12. Jh.s wird zum fruchtbaren Boden religiöser dt. Formelprägung. § 4. Solche „symbolischen" F.n machen das Wort als Recht, Zauber, Gebet, Preis, Fluch usw. w i r k s a m . Andrerseits dient die F. der Tradierung von Wissen und macht durch ihre feste Prägung die Überlieferung objektiv g ü l t i g . Die agerm. Rechtsüberlieferung bietet das reichste Material. Mündliche Weitergabe der Rechtssatzung bedingt

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einprägsam feste Formulierung, einmalige, endgültige Fassung des gleichen Gedankens für alle einschlägigen Stellen. Nur die F. macht die mündliche Rechtsüberlieferung, die lagsaga, möglich. So wird die Rechtsformel zur Merkformel. Der Merkvers schließt sich hier an, der Wissenswertes in einfachster fester Prägung zusammenstellt. Der ags. Widsid mit den einfachen, immer wiederholten Sätzen ist hier ein sehr altes Beispiel. Audi die Weitergabe mythologischen Wissens darf man sich in ähnlichen Formen denken; die großen mytholog. Wissensgedichte der Edda zeigen ihre entfaltete Hochform. Die genealogischen und später die skaldentechnischen Interessen bringen lange Merkversdichtungen mit einfachsten f.haften Gewandungen zuwege; eine Abart bildet die Priamel (s. d.). Ebenso merkversartig ist die f.hafte Prägung realer Lebensweisheit, die ihre großen Sammlungen von den ΗάυατηάΙ der Edda und von Spervogel und Freidank an besitzt, und die im ein für allemal gültigen Bilde und im eindrucksvollen Reimklang als Sprichwort (s. d.) Allgemeingut wurde. Als solches lebt sie bis heute weiter und sog Nahrung aus allen Quellen, namentlich aus der Bibel und aus dem sentenzenhaften Erfahrungsschatz der Griechen und Römer. § 5. Aus der kultischen oder praktischen Sphäre in die poetische nahm das e p i s c h e Ε i η ζ e 11 i e d die F. als Stilmittel mit hinüber. Die oben definierte ästhetische Wirkung der F. stellt sich bei der Lektüre altgerm. epischer Dichtung ohne weiteres ein. Im Gebiet des Merkversartigen bleibt es noch, wenn im Rätsel- oder Weisheitsstreit und auch im Heldenlied die episch-dramatische Einkleidung in Personeneinführung, Anrede und Antwort formelhaft wiederkehrt. Derartige „Gerippeformeln" bleiben auch der mhd. Volksepik eigentümlich. Rein poetische F.n prägt dann massenhaft die germ. Stilform der V a r i a t i o n , die immer von neuem danach trachtet, relativ wenige, im Stoff- und Denkgefüge der Dichtung ungeheuer stark unterstrichene Begriffe poetisch zu umschreiben. Diese Variationstechnik, deren barocke Uberschnörklung die skald. Kenning-Technik ist, beherrscht auch die dt. Dichtung mit Prägungen wie: wentilseo, neorxnawang, middilgart, wetvurt u. v. ä. | Der Stabreim lockt zur Bildung von Zwil-

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Formel

lingsf. (fuir enti finstri, weges oder waldes), die bis in die Gegenwart fortleben (Mann und Maus, Kind und Kegel); ebenso schafft der Endreim solche Zwillingsbildungen (Stein und Bein, Sack und Pack). Auch sonst tritt der formelhaft geprägte Ausdruck, Satzteil oder ganzer Satz, heraus. Die altdt. Dichtung ist wegen ihrer durchaus lückenhaften und zufälligen Erhaltung selten in der Lage, Material zu liefern, doch zeigt namentlich die ags. Dichtung diese Erscheinung gut. Im Deutschen schafft erst die christliche Dichtung von ihrem Standpunkt aus eine Fülle neuer formelhafter Wendungen und Sätze. Diese entfalten sich zu überragender Bedeutung vor allem in der streng religiösen Dichtung des 11.-12. Jh.s. Sie bedürfen noch einer eingehenden Sammlung und Sichtung, um in ihrer vollen Bedeutung erkannt und bei der Beurteilung literar. Zusammenhänge richtig bewertet zu werden. Jac. G r i m m , Dt. Reditsalterthümer (4. Aufl. 1922) Einleitung. Moritz H e y n e , Formulae alliterantes ex antiquis legibus lingua frisica conscriptis. Habil.-Schr. Halle 1864. Karl von A m i r a , Grundr. d. germ. Rechts (3. Aufl. 1913; PGrundr. 5) §§ 13 u. 89. Hans F e h r , Die Dichtung im Recht (Bern 1936). — Rieh. Η e i η ζ e 1, Über den Stil der agerm. Poesie (1875). R. M. M e y e r , Die agerm. Poesie nach ihren formelhaften Elementen beschrieben (1889). Werner H ö v e l m a n n , Die Eingangs-F. in germ. Dichtung. Diss. Bonn 1936. — W. v o n U n w e r t h - T h . Siebs, Gesch. d. dt. Lit. bis zur Mitte des 11. Jh.s (1920) § 8 . A. H e u s l e r , Die agerm. Dichtung (2. Aufl. 1941; HdbLitwiss.) §§ 58 u. 135. H. d e B o o r , Dichtung, in: Germ. Altertumskunde, hg. v. H. Schneider, 1938 (s. Register unter 'Formel'). G. B a e s e c k e , Vor- und Frühgeschichte d. deutschen Schrifttums 1 (1940) passim. C. M. B o w r a , Heroic Poetry (London 1952) S. 221-253. — Walter Ρ a e t ζ e 1, Die Variation in der agerm. Alliterationspoesie (1913; Pal. 48). Rud. Meißner, Die Kenningar der Skalden, (1921; Rhein Beitr. ü. Hilfsb. z. germ. Phil. u. Volkskde 1). Otto H o f f m a n n , Reimformeln im Wgerman. Diss. Freiburg 1885. Eduard S i e v e r s , Heliand (1878): Formelverzeidinis S. 389-495. — Η. M. H e i n r i c h s , Uber germ. Dichtungsformeln. Fes ts dir, f. Emil öhmann (1954; Ann.Acad. Fenn., ser.B, tom. 84) S. 241-273. § 6. In der weltlichen mhd. Dichtung tritt die Formel beherrschend wieder in der sog. V o l k s e p i k des 12.-13. Jh.s hervor. Diese lehnt sich in Stoffwahl und Stilmitteln eng a n die Tradition der heimischen Heldendichtung an, die viele Generationen lang

ohne schriftliche Aufzeichnung eben infolge der Fülle ihrer formelhaften Prägungen weiterzuleben verstand. So gab sie dem wieder erstarkenden literar. Interesse für weltliche Stoffe ein reiches Material an Ausdrücken und Wendungen für Personenschilderungen, Kampfbeschreibungen, Brautwerbung, Rede und Antwort u. v. ä. an die Hand, die diese gern ausnützte. Dagegen ist die eigentliche K u n s t d i c h t u n g des 13. Jh.s mit ihrer modem-ritterlichen Stoffwahl der Formel gegenüber viel zurückhaltender. Zwar schafft das Reimbedürfnis geläufige Verbindungen, die als Floskeln weitergegeben und f.haft werden können. Abgesehen davon ist das objektive F.gut (Einleitung und Abschluß, Quellenberufung und Anrede an den Hörer, Polemik und Demutsformel) mehr der Schulrhetorik als der volkstümlichen Tradition verpflichtet. Das gilt weithin auch für die K u n s t l y r i k des 12.-13.Jh.s Sie scheint weit stärker formelhaft durchwachsen und durchklungen zu sein als die gleichzeitige Kunstepik, und man kann wohl sagen, daß sie den oben definierten Stimmungsgehalt formelhafter Prägung zum ersten Male mit bewußtem ästhetischem Empfinden ausnutzt. Auch sie ist darin bei der Rhetorik in die Schule gegangen, und sie hat dann selber Schule gebildet. Schnell schafft sie sich ihre Stichworte für die typischen Sphären gefühlsmäßigen Erlebens und sentimentalischer Naturbetrachtung, deren der Minnesang fähig ist: Der Falke, die Linde, die Heide, der kleinen vogeline sanc, Blumen und Klee usw. Sobald diese Kunstdichtung zu sinken und Volksgut zu werden beginnt, nimmt ihre F.haftigkeit weiter zu. .Das geschieht bei der erzählenden Dichtung besonders intensiv in den V o l k s b ü c h e r n des 15.-16. Jh.s. Der balladeske Stil vollends, der deutlicher als in der deutschen Uberlieferung in den V o l k s b a l l a d e n Skandinaviens und Schottlands zur Erscheinung kommt, hat ein für allemal gültige Fassungen nicht nur für Einzelheiten, sondern für ganze geschlossene Szenen geschaffen, so daß hier nicht mehr nur Ausdruck und Satz, sondern ganze Strophen und Strophenreihen zu F.n erstarren und von einem Liede zum anderen überwandern, von einem Sänger voll benutzt, von dem anderen verkürzt oder überhaupt fortgelassen, so daß schließlich

Formel •derartige Gedichte zu mehr als der Hälfte aus einem Mosaik von F.n bestehen. Das lyrische V o l k s l i e d des ausgehenden MA.s schöpft stark aus den Stimmungsquellen des Minnesangs und braucht dessen Stichwörter bis zur völligen Überwucherung des Individuellen weiter. Mhd. Volksepos: Das Material liegt in den Monographien, die den „spielmännischen" und „volksepischen" Stil der einzelnen Denkmäler registrieren. Besonders wichtig: Friedr. V o g t , Salman und Morolf (1880) S. CXXXIV-CLVII. Friedr. P a n z e r , Hilde-Gudrun (1901) S. 30 -89. — Kunstdichtung: C u r t i u s passim. J. S c h w i e t e r i n g , Die Demutsformel mhd. Dichter. Abh. d. Kgl. Ges. d. Wiss. zu Göttingen 1921. — Minnesang: R. Μ. Μ e y e r , Alte dt. Volksliedchen. ZfdA. 29 (1885) S. 121-236. —Volkslied: Albert D a u r, Das alte dt.Volkslied nach s. festen Ausdrucksformen betrachtet (1909). Max I t t e n b a c h , Die symbolische Sprache des dt. Volkslieds. DVLG. 16 (1938) S. 476-510. § 7. In der Lit. der neueren Zeit entsteht im protestantischen K i r c h e n l i e d noch einmal eine echte, im Kollektiven gegründete Formelhaftigkeit, die sich anfangs um die Heilswerte von Evangelium und Dogma, später um eine, nur scheinbar subjektive, fromme Gläubigkeit und pietistische Innerlichkeit sammelt. Die überpersönlichen Topoi, die anderweit in der Dichtung der Renaissance, des Barock und der Aufklärung herrschen, stehen auf einem ganz andern Blatt. Sie sind rhetorisches Bildungsgut, und geben in immer wechselnder Auswahl und Mischung Anlaß zur Ausbildung der literar. Schulen, die während dieser Zeit wie Moden einander ablösen (Schäferei, Marinismus, Anakreontik, Bardendichtung usw.). Außerdem führt während der ganzen Neuzeit der Auseinanderfall von literar. Oberschicht und verbrauchender Mittel- und Unterschicht dazu, daß dauernd Individuelles ins Kollektive absinkt. So entsteht ein F.gut des Gesellschaftsliedes, der Erbauungslit., des Pietismus und in seinem Gefolge der Empfindsamkeit, oft persönlich gemeint, jedoch alsbald von der Gemeinschaft ergriffen und aufgebraucht, dann aber wieder aus ihr zu persönlicher Sinnhaltigkeit aufsteigend. Was in der klassischen Dichtung, zumal beim reifen Goethe, formelhaft wirkt und mitunter so genannt wird, der Versuch, Urphänomene und Urbilder sprachlich zu fassen, verdient eher die Bezeichnung Symbol

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(s. d.). Die Romantik hingegen entwickelt wieder eine Formelhaftigkeit im engeren Sinn. Sie beruht einerseits auf der Sehnsucht nach einem Gegengewicht gegen eine nunmehr als Gefahr empfundene Subjektivität, nach „Sicherung in etwas Festem, Traditionellem, Ewigem" (W. Kohlschmidt); daher der romant. Sinn für Dichtung, die noch ganz aus dem Kollektiven, aus der schaffenden Phantasie des Volkes lebte. Andrerseits verrät sich in ihr auch schon die epigonenhafte Abnutzung der Sprache und Bilder, die Schicksal einer Spätzeit ist. In der Zeit des J u n g e n Deutschl a n d wird das Nachsprechen von vorgeprägtem Sprachgut zum absichtlichen Stilmittel. Man demonstriert die Konventionalität der Sprache durch ein dauerndes Zitieren mit oder ohne Anführungszeichen. Bei den Geringeren führt das zu eifrigem Gebrauch 'geflügelter Worte': Der 'Büchmann' stellt den 'schönen' Sprachschatz des besseren Bürgerhauses zusammen. Vor allem Schillers rhetorische Abstraktionen werden im zitierenden Gebrauch f.haft. Diese neueste Art der F.haftigkeit lebt bis heute nach: auf hoher Stufe als kultivierte, oft ironische Montage von sprachlichem Bildungsgut (Th. Mann), in der Mittelmäßigkeit als journalistischer Stil. Dieser öffnet auch dem S c h l a g w o r t alle Tore. Urtümliche Gemeinschaften können es noch nicht ausbilden. Es entsteht, wenn der einzelne mit Hilfe von F.n, die für ein Kollektiv wirksam sind, seine Absichten diesem Kollektiv aufprägen oder dieses geradezu durch solche F.n erst bilden will. Die Memento-mori-Rufe der geistl. Bußdichtung im 11. und 12. Jh. fingen damit an. In der Ritterzeit wird vilan und dörper zum negativen, hövischeit zum positiven Schlagwort, und auch die ritterlichen fügenden geraten mitunter bedenklich in die Nähe des Schlagworts. Walther von der Vogelweide popularisiert gelegentlich polit. Schlagworte seiner Gegenwart. Die große Zeit des Schlagworts beginnt dann in den Reformationskämpfen. Aber erst die Mittelmäßigkeit des modernen journalistischen Stils gibt ihm den Nährboden, wo es seine niederträchtige Wirkung voll entfalten kann. Herrn. P o n g s , Das Bild in d. Dichtung. 2 Bde (1927-39) passim. Eva F i e s e 1, Die Sprachphilosophie d. dt. Romantik (1927). W. K o h l s c h m i d t , Die symbolische Formel-

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Formel — Fragment

haftigkeit von Eichendorffs Prosastil, in: Form und Innerlichkeit (Bern 1955) S. 177-209. — Zum Schlagwort: R. M. M e y e r , Vierhundert Schlagworte (1900). Otto L a d e n d o r f , Historisches Schlagwörterbuch (1906). Femer A. G o m b e r t , in: ZfdtWf. 2 (1902) S.57-71, 256-276; 3 (1902) S. 144-182, 308-336; 7 (1905/ 6) S. 1-14. O. L a d e n d o r f , ebd. 5 (1903/4) S. 105-126; 6 (1904/5) S. 46-58; 9 (1907) S. 279 -284. W. F e l d m a n n , ebd. 10 (1908/9) S. 229-242; 13 (1911/12) S. 245-282. Viktor K l e m p e r e r , LTI. Notizbuch e. Philologen (1947). Helmut de Boor — Wolf gang Mohr Fragment § 1. Das Fr. ist eine im Bereich der Jenaer Frühromantik beheimatete und als Ausdruck ihrer Geistigkeit gepflegte Stilform. Es ist vor allem verbunden mit dem Namen der Brüder Schlegel und Novalis, denen Sdileiermacher, der Naturforscher Ritter, Caroline und Görres anzuschließen sind. Der Ort ihrer Veröffentlichung waren Zeitschriften der letzten Jahre des 18. Jh.s, vorab Reichardts Lyzeum der schönen Künste (1797, 1. Band, 2. Teil), sodann vor allem das Athenäum, die Zeitschrift der Brüder Schlegel, deren erster Band die große Masse von Friedrich Schlegels Fr.n brachte, während eine kleine Gruppe von August Wilhelm Schlegel sowie von Novalis (Blütenstaub) und Schleiermacher stammte. Im dritten Band findet sich eine geschlossene Gruppe von Fr.n Friedr. Schlegels unter den Namen Ideen. Die Jahrbücher der preußischen Monarchie enthalten 1798 (3. Jg., 2. Bd.) Novalis Fr.e Glauben und Liebe oder Der König und die Königin. In den Charakteristiken und Kritiken von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel (1. Band, 1801) finden sich zumAbschluß des Lessing-Aufsatzes unter dem Titel Eisenfeile Fr.e von Friedrich Schlegel, die aus den Veröffentlichungen des Lyzeums und des Athenäums ausgewählt wurden. § 2. Das zentrale Erlebnis, in dem das romantische Fr. wurzelt, ist das Ich. Fichtes Lehre vom Ich, das die Welt im schöpferischen Akt erst setzt, bewirkte das lustvolle Unternehmen eines jugendlichen Freundschaftskreises, im Experimentieren mit Gedanken und Einfallen eine Welt von neuen Ideen auf allen Gebieten hervorzurufen. Schlegel und Novalis empfingen von Fichte die theoretische Begründung für die eigene Uberzeugung, daß die Akte des Geistes

Welt schaffend und souverän seien. Gleich Fichte stellen die Frühromantiker die Urtat des Geistes aus Freiheit und schöpferischem Vermögen an den Anfang ihres Denkens. Das Ich ist ein Weltall, das zu durchdringen, eine Tiefe, die auszuloten ist. Hinter dem empirischen Ich wird das idealische Ich offenbar, das an der Unendlichkeit Anteil hat und als ein wahrhaft innerliches Du der immerwährende Partner unseres Selbst ist. Das Urerlebnis der Frühromantik ist das Erlebnis der Ich-Unendlichkeit. Sie wußten sich dabei von Hemsterhuis angeregt, nach dem der „moralische Sinn" wunderbare Einblicke in Welt und Leben vermittelt. Im Unterschied zu Fichte steht für den Frühromantiker das individuelle Ich mit seinen Kräften (statt des Welt-Ich) im Vordergrund; zugleich erweist sich ihm die Kraft des schaffenden Ich nicht in der Setzung des NichtIch, sondern im künstlerischen Schaffen. Dadurch wird verständlich das überragende Interesse für die persönlichen Erlebnisformen, für alle Tätigkeiten und Verhaltensweisen des Geistes, die Ursprünge geistigen Tuns und das kombinatorische Vermögen des Genies, vor allem aber für das poetische Hervorbringen und die Entfaltung des dichterischen Schaffens in die verschiedenen Formen hinein. In der Dichtung gelingt dem Menschen die oberste Leistung des Weltschaffens und zugleich des Weltbegreifens. Friedrich Schlegels höchster Wunsch war es, Philosophie und Poesie zusammenzuführen. § 3. Das Fr. wird eines der hauptsächlichen Gefäße der frühromantischen Erlebnisse und ihrer Probleme. Es charakterisiert sich durch eine Reihe von Eigentümlichkeiten. Es ist jeweils das Produkt einer schöpferischen Spannungsentladung und das Ereignis eines glücklichen Augenblicks. Jede Berührung des Endlichen mit dem Unendlichen, des Einzelnen mit dem Ganzen, des Zufälligen mit dem Notwendigen bildet die Voraussetzung dafür, daß der Funke entsteht und überspringt. Es ist zugleich ein konsequent durchgeführter Gedanke, der von einem Blickpunkt aus ein Ganzes überschaut und mit dem Anspruch auftritt, ein Ganzes zu repräsentieren. Es ist dazu der Ausdruck des Spannungsreiditums alles Seins und Geltens. Die Aussage eines Fr. will nicht allein genommen werden, sondern steht im dialektischen Widerspiel mit der

Fragment entgegengesetzten. Auf diese Weise k a n n der Ernst der Wahrheit in Gefahr gebracht werden. Das Fr. ist zudem das Ergebnis der „Kommunikation", des Symphilosophierens eines Kreises, der sich gegenseitig ermutigte, Fragmente in Gespräch und Korrespondenz zu bilden und selbst seltsame Formen zu diesem Zwecke erfand. Gleichwohl kann man sich die Jenenser nicht vereinzelt genug vorstellen; die einzelnen Frühromantiker sind auf das feinste untereinander differenziert. Die Fr.e Friedrich S c h l e g e l s und seines Bruders A u g u s t W i l h e l m sind vor allem mit dem Begriff und den Erscheinungsweisen des „Genies" beschäftigt, in dem sie den Wesenskem der Menschennatur, den Grund alles schöpferischen Tuns erkennen. „Geist" wird durchweg synonym damit gebraucht. „Witz" bedeutet das Geniale in der Gestalt des aufblitzenden Einfalls, des plötzlichen Kombinierens im Gegensatz zum besonnenen, erwägenden und schlußfolgernden Denken, „Begeisterung" ist das Erfülltsein von Geist, die Leidenschaft für das Unendliche. „Enthusiasmus" ist mehr das stimmungsmäßige Erfülltsein von großen Dingen und wandelt sich später zum Begriff der Liebe als einem Prinzip des Erkennens. Andere Begriffe stehen damit im engeren oder weiteren Zusammenhang: Gabe (Eingebung), Gemüt, Göttlichkeit, Heiligkeit, Bildung. In den Ideen Friedrich Schlegels zeigen sich demgegenüber Entwicklungen, die bereits auf künftige Verwandlungen hinweisen. Die Unendlichkeitstiefe des Menschen führt zur Religion. Möglicherweise stehen sie unter dem Einfluß Schleiermachers. Das Thema Religion wird in vielfacher Weise variiert. Der Kreis des Ich erweitert sich durch einen zweiten Mittelpunkt, das Universum, zur Ellipse. Auch der Gedanke eines Mittlers zum Unendlichen tritt auf (wie bei Novalis). Jedoch ist das Religiöse mehr Phantasie als Bedürfnis, die Ich-Sphäre des Künstlers wird noch nicht durchstoßen. N o v a l i s ist gegenüber dem zwischen Skepsis und Enthusiasmus unruhig schaffenden Friedrich Schlegel der nüchternere; zugleich ist er im Vergleich zu dem philosophierenden Dichter der Religiöse aus dem Bedürfnis des Herzens. Wer von beiden — zumal im Beginn ihrer Tätigkeit, in Herbst und Winter 1796 — der eigentlich Gebende

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und Empfangende war, ist schwer auszumachen. Novalis hat eine Fülle von Notizen hinterlassen, die große Mehrzahl von ihnen ohne sprachliche Durchformung; ohne Zweifel hat er sie zumeist sehr schnell niedergeschrieben. Das Vollendete wurde von ihm selbst zusammengestellt und herausgegeben. Wesentlich ist für ihn das Erahnen der göttlichen Kräfte der Natur, die er — in höherer Analogie zum künstlerischen Schaffen des Menschen — als Kunstwerk Gottes begreift. Der Weg durch das eigene Innere führt in das Unendliche. Weil Mensch und Welt zusammengehören, versteht sich der Mensch als Analogie des Weltalls. Welterkenntnis durch Analogie ist nur möglich, weil der Mensch Welt im kleinen, die Welt aber mit Zügen des Menschen versehen ist. So wird ihm alles Sichtbare Zeichen des Unsichtbaren, alles Endliche durch Teilhabe am Unendlichen ausgezeichnet. Schleiermachers Athenäum-Fr.e beschäftigen sich wesentlich mit den Problemen des Ethos und der Bildung und betonen den Wert der Religion. Sie führen hin zu seiner in denselben Jahren (1799) erschienenen Schrift Über die Religion. G ö r r e s philosophiert in den Aphorismen über die Kunst (die als Einleitung zu Aphorismen über Organologie, Physik, Psychologie und Anthropologie gedacht sind) über die Prinzipien der Welt, in denen er die Polarität als Gesetz findet. Was die Form der Fr.e anbelangt, so legten ihr die Verfasser selbst widersprechende Bedeutungen bei. Novalis hatte für sie nur ein geringes Interesse, obwohl er in vielen seine höchste Sprachkunst entfaltete, er sah jedoch die Aussage des Fr.s als entscheidende Äußerung seiner Weltbetrachtung an. Friedrich Schlegel dagegen war es ausdrücklich um die Kunstform des Fr.s zu tun; er betonte die Abgeschlossenheit des Gedankens, der eine in sich abgeschlossene Existenz besitzen sollte,, wie ein Igel" So sind viele Fr.e formal im strengen Sinne Aphorismen (s. d.), in anderen Fällen dehnt sich der Gedanke über einige Sätze aus, ja bedarf zur vollen Entfaltung manchmal eines beträchtlichen Raums, so daß sie sich — wie bei Schleiermacher — zu kleinen Essays ausweiten können. Quellen: Bibliogr.: Heinr. H. H o u b e n , Zeitschriften d. Romantik (1904; Bibliogr. Re-

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Fragment — Freie Bühne

pert. 1). — Athenaeum. 3 Bde (1924; Neudrucke romant. Seltenheiten 1). Aug. Wilh. u. Friedr. S c h l e g e l , Schriften in Ausw., hg. v. Oskar W a l z e l (1891; DNL. 143). — Friedr. S c h l e g e l , Sämtl. Werke. Ausg. letzter Hand. 10 Bde (Wien 1822-1825). Prosaische Jugendschriften. Hg. v. Jakob Minor. 2 Bde, darin die Fr.e d. Lyzeums u. d. Athenaeums (Wien 1882). Fr.e. Hg. v. Carl Ε η d e r s (1914). Von d. Seele. Hg. v. Günther M ü l l e r (1927; Sdiriften z. dt. Lit. 2). Neue philosoph. Schriften. Hg. v.Josef Körner(1935). — Novalis: Sdiriften. Hg. v. Rieh. S a m u e l und Paul Κ1 u c k h ο h n. 4 Bde (1928; Meyers Klassiker-Ausg.). F.e. Hg. v. Emst K a m n i t z e r (1929). — Schleiermacher: Fragmente im Athenaeum (s. o.). — Caroline. Briefe aus d. Frühromantik. Hg. v. Erich S c h m i d t . 2 Bde (1913). Über die Wiederauffindung der Tagebuchhefte Fr. Schlegels durch Alois Dempf berichtet Heinr. N ü s s e , Aus der Tagung der Görres-Gesellschaft in Freiburg i.Br. 1.-5. Okt. 1955, WirkWort 6 (1955/6) S. 252-254. Allgemeine Darstellungen: siehe auch Romantik. Nicolai H a r t m a n n , Die Philosophie d. dt. Idealismus. Τ. 1. Fichte, Schelling u. d. Romantik (1923; Gesch. d. Philos. 8). W. Hans, Kant u. d. Romantik. Euph. 13 (1906) S. 502-514. W. S c h m i d t , Fidites Einfluß auf d. ältere Romantik. Euph. 20 (1913) S. 435 -458; 21 (1914) S. 251-270. Hinridi K n i t t e r m e y e r , Schelling u. d. romant. Schule (1929; Gesch. d. Philos. in Einzeldarst. 30/31). J. E. P o r i t z k y , Franz Hemsterhuis. Seine Philosophie u. ihr Einfluß auf d. dt. Romantik (1926; Philosoph. Reihe 81). Paul V o g e l , Das Bildungsideal d. dt. Frühromantik (1915). Fr. K a m m r a d t , Die psychischen Wurzeln d. frühromant. Frömmigkeit. Zs. f. Theologie u. Kirche 25 (1915) S. 124-155; 181-274. Emst Busch, Die Idee d. göttl. Seins u. s. Entfaltung in d. Welt nach d. romant. Naturmystik. DVLG. 19 (1941) S. 33-69. O. W a 1 ζ e 1, Jenaer u. Heidelberger Romantik über Natur- u. Kunstpoesie. DVLG. 14 (1936) S. 325-360. Friedluise H e i n r i c h s , Die Aufgabe d. Dichters nach d. Auffassung d. Frühromantik. Tieck, F. Schlegel, Novalis. (Masch.) Diss. Bonn 1948. Carl S c h m i t t , Polit. Romantik (2. Aufl. 1925). Über einzelne Dichter: Friedr. Schlegel: Carl Ε η d e r s , Fr. Sch. Die Quellen s. Wesens u. s. Werdens (1913). Hugo H o r w i t z , Das Ich-Problem d. Romantik. Die histor. Stelig. Fr. Sch.s innerhalb d. modernen Geistesgesch. (1916). Frederik I n g e r s l e v n , Genie u. sinnverwandte Ausdrücke in d. Schriften u. Briefen Fr. Sch.s (1927). Jos. K ö r n e r , Das Problem Fr. Sch. Ein Forschungsbericht. GRM. 16 (1928) S.274-297. Karl Aug. H o r s t , Ich u. Gnade. Eine Studie zu F. Sch.s Bekehrung (1951; Kl. Herder-Büch.). — Novalis: Antonie H u g v . H u g e n s t e i n , Zur Textgesdi. v. N.s 'Fragmenten'. Euph. 13 (1906) S. 79-93; 515-531. Heinr. S i m o n , Der Magische Idealismus. Studien z. Philos. d. N.

(1906). Ed. Η a ν e η s t e i η , Fr. o. Hardenbergs ästhet. Anschauungen (1909; Pal. 84). Alb. H ö f t , N. als Künstler d. Fragments. Diss. Göttingen 1935. Anni C a r l s s o n , Die 'Fragmente' d. N. (Basel 1939). Ursula F l i k k e n s c h i l d , N.' Begegnung mit Fichte u. Hemsterhuis. (Masch.) Diss Kiel 1947. Karl K ü h n e , Das Weltgefühl bei N. Geistige Welt 2 (1947/48) S. 157-159. Wilfried B r u n s b a c h , Erlebnis u. Gestaltg. d. Natur bei Friedr. v. Hardenberg. (Masch.) Diss. Bonn 1951. W. K o h l s c h m i d t , Der Wortschatz d. Innerlichkeit bei N., in: Kohlschmidt, Form u. Innerlichkeit (Bern 1955; Samml. Dalp 81) S. 121-156. Wilhelm Grenzmann Franziskaner s. Ordensdichtung Freie Bühne Nach einzelnen, wenig erfolgreichen Versuchen in Deutschland, Aufführungsgemeinschaften zu bilden, wurde das naturalistische „Th6ätre libre" des Franzosen Andre Antoine, das von 1887 bis 1894 bestand und schon im ersten Jahre in Berlin gastierte, Vorbild für ein ähnliches Unternehmen: um der Zensur zu entgehen, gründete auf Anregung Theodor Wolffs und Maximilian Hardens eine Gruppe von Berliner Kritikern und Theaterfreunden im März 1889 den „Verein Freie Bühne". Zum Vorstand gehörten nach dem baldigen Ausscheiden der beiden Initiatoren u. a. der allein entscheidende Otto Brahm als Vorsitzender, Paul Schienther, die Gebrüder Hart, Ludwig Fulda, Fritz Mauthner, der Verleger Samuel Fischer. Vor den (sämtlich nur außerordentlichen) Mitgliedern des Vereins wurden seit dem 29. Sept. 1889, dem Datum der Premiere von Ibsens Gespenstern, in geschlossenen monatlichen Mittagsvorstellungen manche wichtigen modernen Dramen gespielt, die wegen ihrer sittlichen Problematik, ihrer sozialkritischen Haltung oder auch ihrer dichterischen Tendenz nicht leicht von den vorhandenen Bühnen gegeben worden wären. Neben den Ausländern (Ibsen, Bjömson, Kielland, Tolstoi [Macht der Finsternis], Gebr. Goncourt) stand dabei der dt. dichterische Naturalismus im Zentrum der Auseinandersetzungen. Sie knüpften sich besonders an die umkämpfte Uraufführung von Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang am 20. Okt. 1889. Daß man im ersten Theaterjahr außer den erwähnten Stücken, außer Holz' und Schlafs Familie Selicke und G. Hauptmanns Friedensfest auch Anzengrubers Viertes Gebot und Fitgers Von Got-

Freie Bühne — Freie Rhythmen tes Gnaden spielte, ist bezeichnend. Für die Darstellungen gab es übrigens kein festes Ensemble und nur ein gemietetes Theater. Sie kamen in den folgenden Jahren in größeren Abständen heraus und hörten im 3. Jahre auf. Den Titel Freie Bühne wählten Otto Brahm und Verleger S. Fischer auch für die von ihnen im Januar 1890 begonnene Zeitschrift, die die gleichen Ziele wie der Verein verfolgte. Später benannte man sie in Die neue Bühne, dann in Die neue Rundschau um. Der Theaterverein „Freie Bühne" wurde der Vorläufer einer Reihe gleichgerichteter Organisationen, so der „Freien Volksbühne" (seit 1890; s. Volksbühne), der „Neuen Freien Volksbühne" (seit 1892), der „Deutschen Bühne" (seit 1890) und entsprechender Gründungen in München (1891), Leipzig (1895), Wien (1891), Kopenhagen (1891) und London (1891), die aber meist nicht lange bestanden.

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1760/2 Ossian zu wirken begann, hörte man auch aus seinen Rhythmen das Verwandte heraus. Die fr. Rh. schienen die rhythmische Ursprache der Dichtung schlechthin wieder zum Klingen zu bringen. Die geschichtlichen Voraussetzungen der fr. Rh. liegen vor allem in den neugewonnenen antiken V.arten, deren rhythmische Elemente nun freie Verbindungen miteinander eingingen. Sie liegen zum andern in Luthers Bibelsprache, insbesondere der Sprache der Psalmen. Die metrisch-rhythmische Auslegung der Bibelprosa hatte die protestantische Kirchenmusik in Chormotetten und im Kantatenrezitativ seit Schütz geübt. Die Tradition einer polymetrischen Deklamation anfangs silbenzählender, dann alternierender Texte, die im 16. und beginnenden • 17. Jh. blühte, blieb wenigstens im reformierten Psalmengesang bis ins 18. Jh. bewahrt (Lobwasser). Diese, dem Ursprung nach humanistische, Praxis verband sich mit der Rückbesinnung auf die echten Formen der Antike. Jetzt leistete das Wort allein, Anna Irene M i l l e r , The indepedent was bisher Wort und Musik gemeinsam taTheatre in Europe 1887 to the present (New ten. Und schließlich: auch der alternierende York 1931). Paul S c h i e n t h e r , Wozu der Lärm? Genesis d. 'Freien Bühne' (1889). Wil- Reimvers seit dem 17. Jh. hatte in den madrihelm T h a l [Ps. für Lilienthal], Berlins galen Formen Verse von frei wechselnder Theater u. d. 'Freien Bühnen (1890). Adalbert Hebungszahl entwickelt, und diese Verse von Η a η s t e i η , Das jüngste Deutschland (1901) S. 141-189. Otto B r a h m , Freie suchten schon damals, auch in Verbindung Bühne, in: Theater-Kalender, 1911, S. 36-52. mit daktylischen Gruppen, „pindarische" Albredit Β ü r k 1 e , Die Zeitschrift 'Freie Freiheit zu verwirklichen. Die fr. Rh. KlopBühne' u. ihr Verhältnis zur liter. Bewegung des dt. Naturalismus. Diss. Heidelberg 1945. stocks dehnten dies madrigalische Prinzip auf den reimlosen antikisierenden FormenRichard Daunidit bestand aus. So wirkten mancherlei TendenFreie Rhythmen § 1. Die Alleingeltung des alternierenden zen zusammen, um die neue Form hervorReimverses, dem Opitz seine festen Regeln zurufen und durchzusetzen. gegeben hatte, wurde gebrochen, als es § 2. Beim jungen G o e t h e bekommen K l o p s t o c k gelang, antike Vers- und die madrigalischen Formen einen noch stärStrophenformen überzeugend nachzubilden. keren Anteil. Mit „echten" fr. Rh. verbinden Da entstanden dt. Verse, die weder den sich bei ihm alternierende reimlose Verse Reim noch alternierende Füllung forderten. von wechselnder Hebungszahl, die in V.forKlopstock tat den weiteren Schritt, neue, ge- men von Oper, Kantate, Melodram zu Hause bundene Strophenformen nach antikem Mu- waren. Andererseits neigen seine fr. Rh. daster zu bilden, und seit 1758 befreite er sich zu, den einzelnen V.zeilen wieder feste Taktin seinen 'Hymnen' auch von diesem Zwang. zahl zu geben. Die Sonderung dieser geDie neue Form der fr. Rh. verbindet antike bundenen Formen und auch der alternierenVers- und „Wort"füße (d. h. rhythmisch ge- den reimlosen Verse von den „echten" fr. gliederte Satzkola) in freien, möglichst ab- Rh., die Heusler durchzuführen versuchte, wechslungsreichen Gefügen. Sie suchte ihre ist bei Goethe weder möglich noch sinnvoll; Analoga in der Antike bei Pindar und bei die Formen durchdringen sich. Während bei der Chorstrophik der Tragödie. Außerhalb Klopstock der Rhythmus durch die antiken der Antike schien sie in der hebräischen Analoga und durch den gebundenen PsalPsalmendichtung vorgebildet, und als seit menton ziemlich eindeutig festgelegt ist, for-

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Freie Rhythmen

dem Goethes fr. Rh. zumeist eine freie Auslegung nach dem Vorbild der lyrisch-dramatischen Kantatenszene; der Sprecher wird zum „Komponisten" der Texte. Prosanäher scheinen die fr. Rh. zu werden, die gelegentlich beim späten Goethe (Divan) auftaudien. Sie haben schon an der Entwicklung teil, die von der Romantik zu Heine hinführt. § 3. Denn jetzt verzweigt sich die Geschichte der neuen V.form. Nach der einen Richtung hin geben die fr. Rh. ihren Anspruch auf feste V.form auf und werden zu lockerer Improvisation in rhythmischer Prosat Novalis, Jean Pauls „Polymeter", Tieck, Brentano, Heine. Bei Η e i η e spürt man das Analogon des Volksliedtons durch, aber dazwischen suggerieren „Spondeen" immer noch antike Anklänge, und das ganze ist doch mehr Prosa als Vers. Goethes Vorbild und das von Luthers Psalmensprache wirkt bei N i e t z s c h e und verfestigt die Form noch einmal. Im Naturalismus, bei Liliencron, Arno Holz, J. Schlaf, M. Dauthendey wirkt Heine weiter und vor allem die formsprengende, zugleich „ossianische" wie bibelsprachliche Freiheit Walt Whitmans. Aus freier Nachbildung der Antike entsteht die strengere Form wieder neu in H ö l d e r l i n s späten Hymnen. Ihre metrischen Elemente bestehen aus Anklängen an Hexameterstücke, Odenzeilen, Pentameter-Halbzeilen. Hölderlins Hymnen wollen entschieden „pindarisieren"; aber die Tradition zum (gesungenen) Bibelwort, besonders zum Psalter, die bei Klopstock die Form mitbestimmte, und die Tradition zur (gesungenen) Solokantate, die für Goethe wichtig war, ist abgebrochen. Die Form entsteht jetzt allein aus der Sprache. Hölderlin mußte sich noch vom Schulmuster der Antike lösen. Er ging dabei den Weg weiter, den Klopstock gebahnt hatte. Später wirkte die Antike nicht mehr nur unmittelbar als Bildungsmacht, sondern stärker durch die Formen, die sie in dt. Dichtung bereits erweckt hatte. Das freie Verfügen über V.formen, die sich antiken Formen nähern ohne sie schulgerecht verwirklichen zu wollen, fällt im 20. Jh. mit der Neuentdeckung Hölderlins zusammen. R i l k e (seit 1912) scheint vorauszugehen. Die „madrigale" Freiheit, welche sich in den gereimten V.formen immer stärker durch-

gesetzt hatte, öffnet sich jetzt audi wieder den rhythmischen Elementen der eingedeutschen Antike. Der Tonfall des Hexameters bleibt, seine Sechshebigkeit, Auftaktlosigkeit, Zäsurregelung ist nicht mehr verbindlich. DiePentameter-Langzeile, „falsch" ohne Mittelfuge gelesen, wird zum durchlaufenden Fünfheber. Freie Anklänge an Odenzeilen werden gewagt. Der Tonfall des antikisdien Verses ist Formsymbol; von den Schulregeln hat er sidi gelöst. § 4. In der gegenwärtigen Dichtung ringen die naturalistische, prosanahe Form der fr. Rh. und die Form, welche sich an den antikisierenden Tonfall anschließt, um einen Ausgleich. Die Variante, die der junge Goethe gefunden hatte, scheint dagegen ihre Wirkungskraft eingebüßt zu haben. Die V.grenze wird mitunter durch die rhythmische Gliederung des gehobenen Prosasatzes bestimmt; lieber aber sucht man die Spannung zur Prosa, indem man wenigstens fürs Auge die V.grenze mitten ins Satzkolon legt und radikales Enjambement anstrebt. Da wirkt, neben der allgemeinen Neigung zum V.sprung in der neuesten Dichtung, das Vorbild der Odenstrophik nach. Die Neigung zu reimlosen und unfesten V.formen in der Gegenwartsdichtung ist übernational. Geschichte und Gestalt der heutigen dt. fr. Rh. wird sich nur im Rahmen der vergleichenden Lit.gesdiichte voll erhellen lassen. Der Hauptgrund für die Auflösung der Formen liegt wohl darin, daß sich die objektiven Darbietungsweisen (als Lied, Gesang, Psalm, Monodrama, Kantate usw.) auch als Form-Analoga immer mehr verflüchtigt haben; übrig bleibt das freie lyrische Gebilde, das sich vielfach mehr an das Auge des Lesers als an das Ohr des Hörers wendet. Wo die objektiven Darbietungsformen nachwirken oder wo die fr. Rh. an antiken V.bildungen Halt suchen, da verlangen sie eine streng metrische Wiedergabe. Aber auch dann hat der Sprecher oft ein hohes Maß von Freiheit, den rhythmischen Vorgang zu gestalten. Es gibt keine objektiv richtigen, sondern nur eine gewisse Streubreite von möglichen Lösungen. „Der Vers verzichtet auf sein Vorrecht, die genaue, wiederkehrende Ausmessung und Auswiegung des Satzes von sich aus zu bestimmen.

Freie R

Er gibt aber von seiner Herrschaft nur das preis, was der Satz wirklich übernehmen kann" (Fr. G. Jünger). In diesem Umkreis herrscht auch oft eine freie Strophik, bei Hölderlin in genauer Anlehnung an Pindar, wie er ihn verstand. Wo die genannten Bindungen aufgegeben sind, nähern sich die fr. Rh. der Prosa. Jakob M i n o r , Nhd. Metrik (1902) S. 325333. Fr. Κ a u f f m a η η, Dt. Metrik (3. Aufl. 1912) § 169. Franz S a r a η , Dt. Verslehre (1907) S. 230. Η e u s 1 e r Bd. 3 § 1138-1178. Otto Ρ a u 1, Dt. Metrik (3. Aufl. 1950) § 170180. Wolfg. Κ a y s e r , Kleine dt. Versschule (3. Aufl. 1955; s.Register). Friedr. G. J ü n g e r , Rhythmus und Sprache im dt. Gedidit (1952) S. 126-146. (Bespr. v. Max W e h r 1 i , AnzfdA. 66, 1953, S. 109 f.) — R. Μ. Μ e y e r , Das Gesetz der fr. Rh. Euph. 18 (1911) S. 273-295. Leonhard B e r i g e i , Poesie und Prosa. DVLG. 21 (1943) S. 132-160. — Ad. G o l d b e c k - L ö w e , Zur Gesch. d. freien Verse in d. dt. Dichtung von Klopstock bis Goethe. Diss. Kiel 1891. Louis B e n o i s t - H a n a p p i e r , Die fr. Rh. in der dt. Lyrik (1905). Sixten Β e 1 f r a g e , Die Entstehung der fr. Rh. K. humanistiska Vetenskapssamfundet i Lund, 1940-1941, Η. 1. — Gottfr. F i t t bogen, Die sprachl. u. metr. Form d. Hymnen Goethes (1909). Konrad B u r d a c h , Schillers Chordrama. In: Goethe und sein Zeitalter. Vorspiel Bd. 2 (1926; DVLG. Buchreihe 3) S. 116-237. — Emst Elster, Das Vorbild d. fr. Rh. Heinrich Heines. Euph. 25 (1924) S. 63-86. — Rud. Krieger, Sprache u. Rhythmus d. späten Hymnen Hölderlins. ZfÄsth. 22 (1928) S. 256291. Dietrich S e c k e 1, Hölderlins Sprachrhythmus. (1937; Pal. 207). Eduard L a c h m a n n , Hölderlins Hymnen in freien Strophen. E. metr. Untersuchung (1937). (Dazu: Fr. Β e i ß η e r , DuV. 38, 1937, S. 349-356). Fr. B e i ß n e r , Erläuterungen, in: Große Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe Bd. 2, 2. (1951). Η. Μ a e d e r , Hölderlin u. d. Wort. Trivium 2(1944) S. 42-59. — Hans H e l l e n b r e c h t , Das Problem d. fr. Rh. mit Bezug auf Nietzsche (Bern 1931; SprDchtg. 48). — Hans L. S t o l t e n b e r g , Arno Holz u. d. dt. Wortkunst. ZfÄsth. 20 (1926) S. 156-180. Aug. C1 ο s s , Zur Phantasus-Zeile von Arno Holz. DuV. 37 (1936) S. 498-503. — Wladimir Μ a j a k ο w s k i , Wie macht man Verse? (Dt. Übers. 1949) S. 41-104. Bert B r e c h t , Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen. Trivium 6 (1948) S. 179-186. Wiederholt in: Β r e c h t , Versuche. H. 12 (1953) S. 143147. Hans Egon H o l t h u s e n , Vollkommen sinnliche Rede. Akzente, Zs. f. Dichtung 4 (1955) S. 346-355. Wolfgang Mohr

§ 5. Die fr. Rh. wurden alsbald als naturgegebene und bodenständige Form der dt. Dichtung empfunden und haben in ihr eine Beallexikon I

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bestimmte G a t t u n g des liedfernen, meist hymnisch-erregten lyrischen Gedichts geprägt. Anfangs, bis zu Goethe, sah es so aus, als ob auch das Drama entschiedenen Anteil an der neuen Form bekommen sollte, doch sind die fr. Rh. in ihm in Deutschland bisher nicht wirklich gattungsbildend geworden. Goethes Prometheusdrama. blieb Fragment, sein Monodrama Proserpina fand kaum Nachfolge. Ethos und Tonlage von Klopstocks Hymnen bestimmen bis heute weitgehend die Lyrica in fr. Rh., und wo sie sich weit davon entfernen, wird auch der Verscharakter fragwürdig. Immerhin hat aber die Befreiung des Verses um die Mitte des 18. Jh.s auch noch dem Naturalismus und dem Expressionismus ihre Möglichkeiten freiester Formschöpfung legitimiert. Die leidenschaftlich erhabene Sprache K l o p s t o c k s , gemischt aus Betrachtung, Stimmung und Schilderung, schuf sich in der Hymne Über die Allgegenwart Gottes (1758) eine freirhythmische Form. Im nächsten Jahre folgte der großartige Gewitterhymnus Frühlingsfeier, in dem Klopstock die dichterische Gehobenheit des jungen Goethe, Schillers und Hölderlins vorwegnimmt; zugleich ist er eine Vorahnung romantischer Erd- und Himmelseinheit. So steht die Frühlingsfeier an entscheidender Stelle in der modernen Lyrik, denn von ihr ergießt sich ein intensiver Gefühlsstrom persönlicher Stimmungslyrik in den Sturm und Drang. G o e t h e s freie Rhythmik bedeutet einen genialen Aufbruch und zugleich einen Durchbruch schöpferischer Kraft. Wie in Klopstodcs freirhythmischer Lyrik der biblische und der düstere Heldenliedton und die antike Odenform, so ist bei Goethe die Nähe des Urfaust und bei H ö l d e r l i n der pindarische Höhenschwung zu spüren. Hölderlins heilig-nüchterne Dichtervision offenbart eine Einheit von Rausch und Helle. Seine große freirhythmische Hymnendichtung setzt um 1800 ein; in ihr erreicht die gesamte Gattung ihren Höhepunkt. Neben seinen Oden und Hymnen gehören die Hymnen an die Nacht von N o v a l i s zum gewaltigsten freirhythmischen Ausdruck der europäischen Lyrik. Die innere Bewegung dieser Nachthymnen nähert sich einer formalen Gliederung, aus der das daktylische Maß deutlich herauszuhören ist. 31

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Freie Rhythmen — Freimaurer

Das Vorbild von H e i n e s freirhythmischen Nordseebildern waren hauptsächlich Tiecks Reisegedichte und besonders deren Nachahmung, die Promenaden von Ludwig Robert, dem Bruder der Rahel Vamhagen. Bei Μ ö r i k e (in Peregrina u. a.) bricht die seelische Erregung gelegentlich hemmungslos durch, während sie J. V. von S c h e f f e 1 (in den Bergpsalmen) versagt blieb. N i e t z s c h e braucht einen weitgespannten Rhythmus für seine sogen. ZarathustraLieder Dionysos-Dithyramben, deren Wesenszug in der Übersetzung von Visionen ins Gefühl, von Anschauung in Bewegung, von sinnlichem Erleben in musikalischen Ausdruck liegt. Die vermeintlich völlig neue Phantasus-Tedmik wurde von Arno H o l z durch den Fünfzeiler Nacht (1886) in die dt. Lyrik eingebürgert. Die kostbaren Phaniasws-Heftchen aus den Jahren 1898/99 wurden in ein kolossales literar. Kuriosum, den 'Elephantasus' von 1916 erweitert. Im Streben nach „barocker" Entgrenzung und visionärer Bildkraft steht der dt. E x p r e s s i o n i s m u s im Gegensatz zur gleichzeitigen Neuromantik, deren Seelenzerfaserungen und abgründige Lebensmüdigkeit eine nur schmale Brücke zum Expressionismus schlagen. Die freirhythmische Spannungsweite ist besonders geeignet für den Ausdehnungsraum der hochgestimmten Elegien R i l k e s , die sich jedoch deutlich einem maßvollen Gesetz anpassen; ein äußeres Anzeichen dafür ist schon das häufige Enjambement. Auch Τ r a k 1 hat seine eigengesetzliche Ausdrucksform; er zerreißt nicht expressionistisch mit einem Schrei die dichterische Stimmung, sondern er tönt die Erregung oder die Vision in einen oft schwermütig einlenkenden Schluß ab. Stefan George lehnte die fr. Rh. grundsätzlich ab, indem er „strengstes Maß" als „höchste Freiheit" forderte. Max K o m m e r e i l , Gedanken über Gedichte (1943) Schlußkapitel: Die Dichtung in fr. Rh. u. d. Gott d. Dichtung. Günther M ü l l e r , Die Grundformen der dt. Lyrik. VDtArtSprDditg. Bd. 5 (1941) S. 95-135. Aug. C1 ο s s , Die fr. Rh. in d. dt. Lyrik. Versuch e. übersichtlichen Zusammenfassung ihrer entwicklungsgeschichtl. Eigengesetzlichkeit (Bern 1947)· August Clost

Freie Verse s. Romanische Versmaße und Strophenformen

Freimaurer, Geheime Gesellschaften § 1. „Die Fr.ei stellt den vollkommensten Typus jener neuen Art geheimer Bünde dar, die sich im nördlichen Europa in der bürgerl. Welt entwickelt haben" (W. E. Peuckert). Ergänzt man die volkskundlich-soziologische Definition nach der geistesgeschichtlichen Seite hin, so wird man die Herkunft der Fr.ei aus dem Geiste der Aufklärung vor allem festzuhalten haben. Der engl. Ursprung, der mit dem Zusammenschluß der 4 Londoner Logen 1717 sein histor. Ausgangsdatum hat, prägt nicht nur zunächst die Formen, sondern auch den Inhalt der kontinentalen Tochtergründungen und Nebensprossen. Die Fr.-Ideale einer zur brüderlichen Humanitätsgesinnung säkularisierten christl. Nächstenliebe, der Selbsterkenntnis, der Disziplin sind die praktische Anwendung der Weltanschauung der engl.-schottischen Popularphilosophie, ihrer Toleranzidee wie ihres Utilitarismus. § 2. Für Deutschland ist Hamburg, der Umschlagplatz auch für die Moralischen Wochenschriften und des Deismus, die Stadt eines Brockes und Reimarus, nicht zufällig auch das Einfallstor der Fr.ei. Hier wird 1737 die Loge gegründet, die dann den Namen „Absalom" erhielt und der Lessing sich anschloß. Über die England verwandten niedersächs. Länder Hannover und Braunschweig (das Friedrich von Preußen 1739 in geheimer Zeremonie aufnimmt), wandert die Fr.ei nach Preußen ein, vom Königshause als eine im Sinne des Rationalismus fortschrittliche Bewegung protegiert; ein Verhältnis, das bis auf Kaiser Friedrich vorhielt. Die „Loge zu den drei Weltkugeln" wird 1746 die Große Mutterloge. Von Preußen breitete sich das Fr.tum nach den sächs. und fränk. Ländern aus. Österreich hat eine früher als in Deutschland einsetzende Sonderentwiddung durchgemacht (Prag angeblich schon 1726 begründet), deren Blüte jedoch erst in josefinischer Zeit liegt. Am Preußen nah verbundenen Weimarer Hof faßt, vor der Zeit der Frühklassik schon, dann von ihren Ideen mitgetragen, das Maurertum 1764 Fuß. Die Loge „Anna Amalia", der später fast der ganze geistige Kreis angehört, darf den Namen der geselligen Herzogin Mutter tragen. Ihre Tätigkeit ruht allerdings in entscheidender Zeit (17831808).

Freimaurer § 3. Zu dem von bürgerlich aufklärerischem Geiste getragenen Logenwesen, das übrigens alsbald beginnt, sich in Verfassungs- und Zeremonialstreitigkeiten um die „Systeme" aufzureiben, treten im Lauf des Jh.s Sonder- und Mischformen von zeitweise nicht unerheblicher Bedeutung. Die romantische Wiederbelebung geistlicher Ritterorden des MA.s wie der Tempelherren ist ein feudaler Einbruch in den bürgerl. Geist des Maurertums. Teilweise aber scheint es geradezu, als ob die Trockenheit, die gerade mit den Wirkungen der engl. Aufklärung sich verbindet, die eigene Phantasielosigkeit kompensieren möchte durch die Phantastik mystischer Spekulation und ein geheimes Gesellschafts- und Ordenswesen pseudosakraler Art. In dieser — weitgehend unberechneten — Tendenz begegnen sich bezeichnenderweise Pietismus und Geheime Gesellschaften. Gemeinsam ist ihnen die heilig-unheilige Wundersucht, das Suchen nach den Geheimnissen des Lebenselixiers und des Steins der Weisen, wie sie bereits der von Johann Valentin A n d r e a e im Barodcjahrhundert parodierend erfundene Mythus des Rosenkreuzertums bezeugt. Die Rosenkreuzsymbolik wird nun wieder modern, merkwürdigerweise in organisierter Form besonders im protestantisch-rationalist. Preußen. Eine histor. Kontinuität mit dem auf Grund von Andreaes Fama Fraternitatis und seiner Chymische Hochzeit Christians Rosenkreuz enstandenen Barockmystizismus ist nicht nachweisbar. Kulturgeschichtlich wichtiger aber ist, wie sich aus dem teils vom Pietismus genährten, teils von den Geheimen Gesellschaften betriebenen alchymistischen Wesen die soziologische Voraussetzung bildet für die Anfälligkeit der Gesellschaft gerade des Hochrationalismus gegenüber den großen Schwindlern vom Schlage Dippels, Johnsons, Schrepfers und Cagliostros. Diese zweideutige Seite von Fr.-tum und mystisch-theosophisch angehauchtem, dann von geriebenen Mystificanten mißbrauchtem Geheimwesen ist sowohl von S c h i l l e r (Der Geisterseher) wie von G o e t h e (Der Großkophta) in Anlehnung an den histor. Cagliostro als gesellschafts- und individualpsychologisches Motiv dichterisch verarbeitet worden. Übrigens hatte Goethe selber in seiner Jugend mit Susanne v. Klettenberg

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pietistisch-alchymistisch experimentiert. Das Bedürfnis derZeit nach diesen Experimenten war ein echtes Bedürfnis der unterdrückten und überzähmten Phantasie, nicht nur durch die leeren Kassen der an Goldmacherei interessierten Fürstenhöfe bedingt. Es war das gleiche Bedürfnis, das die Swedenborgsche Engellehre, die in den Faust verarbeitet werden sollte, hervortrieb, die bunten, phantastischen Riten ägyptischer Provenienz, deren Symbolik sowohl in Mozarts Zauberflöte einging wie in die Attribute der franz. Vernunftvergottung während der Revolution wie schließlich in die Sphinx- und Pyramidenornamentik des Empirestils, deren fr.ischer Herkunft man sich kaum mehr bewußt ist. Alles dies drang ζ. T. auch in jene Orden ein, die weltanschaulich der plattesten Vernunftgläubigkeit huldigten. § 4. Doch war es gerade diese zwielichtige Seite des Fr.tums, die die Energie zu einer Gegenbewegung gegen magisches Zeremoniell und rosenkreuzerische Pseudomystik der immer komplizierter werdenden Systeme wachrief. Sie zeigte sich in den Versuchen Fesslers und Schröders zu einer vereinfachenden Reform des Rituals, die Herders aktivste Unterstützung fand, vor allem aber in der Gründung des Illuminatenordens durch Adam W e i s h a u p t , Prof. des Naturrechts in Ingolstadt, im Jahre 1776. Dieser aufgeklärte Katholik organisierte in der Sorge um seine infizierte Studentenschaft diese Bewegung ausgesprochen gegenrosenkreuzerischen Charakters, die zugleich eine energische Rückführung der Fr.ei auf ihre rationalistischen Grundlagen bedeutete. Nicht nur war Thomas Abbts Schrift Vom Verdienste die Umschreibung des weltanschaulichen Programms, Weishaupt brachte es auch ausdrüddich auf die Formel: „Mon but est faire valoir la raison". Die rationalistische Tendenz war so unbedingt, daß der Orden in seinem Ursprungsland, dem kathol. Bayern, schließlich verboten wurde (1784) und Weishaupt ins thüringische „Ausland" fliehen mußte. Aber die Anziehungskraft gerade auf die Intellektuellen war zeitweise bedeutend. Geister so verschiedener Art wie Goethe, Nicolai, Dalberg, Pestalozzi, übrigens auch Carl August und, neben Weishaupt führend, der Freiherr v. Knigge, gehörten ihm an. Die Zugehörigkeit Herders ist wahrscheinlich, aber nicht gesichert. 31'

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Freimanrer

§ 5. Es wird gelegentlich unterbetont, wie weit die erste bedeutende Spiegelung des Fr.turns in der dt. Lit., L e s s i n g s Dialogreihe Ernst und Falk (1. Ms. 1777), ausschließlich Zeugnis für den Geist, nicht aber für die Form der Orden ist. Diese Gespräche, in denen ein reiferer Freund den stürmischeren Partner mit der Weisheit humanitären Fr.-Geistes bekannt macht (so wie Nathan Kalif und Tempelritter), sind in genauer Parallele zu der Offenbarungslehre der Erziehung des Menschengeschlechtes aufgebaut. Wie dort die göttliche Offenbarung von Mündigkeitsstufe zu Mündigkeitsstufe des reifenden Menschengeistes immer entbehrlicher wird, so auch die Formenwelt des Fr.tums, von dem nur die Essenz und der erzieherische Sinn bestehen bleiben. Hat vor dem scharfen Blick Lessings die irdische Form nicht standgehalten als bleibender Wert, so auch nicht vor dem umfassenden H e r d e r s . Wie Lessing von seiner Hamburger Logenzugehörigkeit späterhin in Braunschweig keinen Gebrauch mehr machte, so Herder in Weimar von seinem schon 1766 vollzogenen Eintritt in die Rigaer Loge „Zum Schwert" Hielt er sich der „Anna-Amalia" fem, so verdankt sie ihm dafür mit die spätere Reform auf dem Umwege über seinen Austausch mit Fr. Ludw. Schröder, dessen Grundsatz war: „Da die Wahrheit einfach ist, so muß auch das Symbol einfach sein." Die bleibende Einbeziehung der Idee eines geläuterten Fr.tums in Herders geschichtsphilosophische Position beweist der Niederschlag in Wielands Merkur, in den Humanitätsbriefen, in der Adrastea. Die beiden Hauptbeiträge Herders zum Fr.-Problem Über den Zweck der Fr.ei, wie sie von außen erscheint und Über eine sichtbar unsichtbare Gesellschaft verfolgen im Sinne der Schröderschen Leitformel und des Lessingschen Insistierens auf der ecclesia invisibilis der Fr.ei die Tendenz der Entmythisierung der Ordensgeschichte, die Befreiung des wesentlichen Kerns von dem, „was von Geheimnissen und Symbolen vorspiegelnd gesagt wird", zugunsten des praktisch sittlichen Ertrages. Das „heilige Dreieck", in dem die vom echten Fr.tum gewollte Humanität sich ausdrückt, wird für Herder durch die drei Lichter Poesie, Philosophie und Geschichte bezeichnet.

§ 6. Es war daher durchaus begründet, daß G o e t h e in seiner konzentriertesten dichterischen Verklärung des unsiditbaren Fr.tums, in dem Fragment Die Geheimnisse, eine Symbolisierung Herders als des Bruder Humanus, des künftigen Gralkönigs seines fr.ischen Monsalvatsch, unter dem Zeichen von Kreuz und Rose in den Mittelpunkt stellte und daß er gerade aus dieser Stanzenfolge die Zueignung entwickelte. Dies und die Tatsache, daß er die Zauberflöte um einen 2. Teil zu ergänzen trachtete, ist wichtiger als ein Teil seiner Logenlieder, mit denen sich der alte Goethe freikaufte von der wirklichen Teilnahme an der wiedererstandenen „Anna Amalia" Hat er doch durchaus im Sinne des Legitimismus der Restaurationszeit (schon bevor deren histor. Zeit gekommen war) schließlich im Logenwesen etwas Staatsgefährdendes, Aufrührerisches gewittert, wie seine Gutachten über die Jenaer Gründungsversuche zur Genüge bezeugen. Übrigens lag dies auch schon in der Konzeption des Großkophta. Doch galt auch dieses Mißtrauen vorwiegend der Unkontrollierbarkeit der Organisation in den Händen des dritten Standes. Der Wilhelm Meister in seinen beiden Teilen belegt die aristokratische wie die soziale Möglichkeit ethisch-erzieherischen Wirkens, die Goethe in der Idee des Fr.tums gegeben sah, und deren Essenz er auch in der Gedächtnisrede auf Wieland formulierte. S c h i l l e r war wie Herder nicht Glied der Weimarer Loge, wohl aber durch seine Beziehung zum Beulwitzschen Hause in Rudolstadt nach der Tradition der Familie wie nach dem Indiz brieflicher Zeugnisse vermutlich Assoziierter der dortigen Loge. Das Ludendorffsche Märchen von der angeblichen Mitschuld der Fr. an seinem Tode steht im Widerspruch schon zu dieser simplen Tatsache, auch wenn er das fr.ische Brudermotiv nicht im Lied an die Freude dramatisch-chorisch ausgewertet und den Eingang der Künstler nie geschrieben hätte. § 7. Das Fr.tum, dessen Funktion sich von einer fortschritts- und vemunftbegeisterten Weltanschauungsgemeinschaft in ernstgemeinter Ordensform zu einer unverbindlicheren Geseiligkeitspflege im 19. Jh. wandelte, hat eine anziehende Kraft audi noch auf Romantiker und bürgerl. Dichter dieser Zeit behalten. Doch sind geistes-

Freimaurer — Friesische Literatur geschichtlich bedeutende und dichterische Werke von Rang kaum noch daraus hervorgegangen. Fichtes Beteiligung an der Loge „Royal York zur Freundschaft" in Berlin zwar hat noch kulturphilosophischen Niederschlag in seinem Werk gefunden (Philosophie der Fr.ei 1802). Was aber Zacharias Werner oder Rüdcert etwa an fr.ischer Symbol- und Zweckdichtung geliefert haben, ist künstlerisch wertlos und gedanklich steril. Sache einer überlegten Lit.soziologie wäre es, die dichterischen Kreisbildungen des 19. Jh.s, ζ. B. den George-Kreis, auf ihren möglichen Charakter als ästhetische Säkularisationen der frischen und geheimen Gesellschaften hin zu überprüfen. Bibliographie d. freimaurer. Lit. Hg. v. August W o l f s t i e g . 2 Bde. nebst Reg. u. Erg.-Bd. (1923-1926). Eug. L e n n h o f f u. Oskar P o s n e r , Intern. Fr.-Lexikon (1932). Heinr. B o o s , Gesch. d. Fr.ei (Aarau 1894). L u d w . K e l l e r , Die geistigen Grundlagen d. Fr.ei (1911). Eugen L e n n h o f f , Die Fr. (1932). A u g . H o r n e f f e r , Die Fr.ei (3.Ausg. 1948). Karl B r o d b e c k , Fr.-Logen (Bern 1948). Aug. Ferd. F l e c k , Das Fr.tum. Sein Wesen, seine Geschichte. 15 Lieferungen (1950 -1952). Will-Erich P e u c k e r t , Geheimkulte (1951). Ders., Die Rosenkreuzer (1928). Gustav K r ü g e r , Die Rosenkreuzer (1932). Aug. K l u c k h o h n , Die llluminaten u. d. Aufklärung in Bayern, in: Kluckhohn, Vorträge u. Aufsätze (1894). Ferd. Jos. S c h n e i d e r , Die Fr.ei u. ihr Einfluß auf die geistige Kultur in Deutschland am Ende d. 18. Jh.s (Prag 1909). Herder: vgl. Rud. Η a y m , Herder. Bd. 1 (1880). Lessing: vgl. Erich S c h m i d t , Lessing. B d . 2 (4. Aufl. 1923). Heinr. S c h n e i d e r : Lessing (1951) S. 166-197: L. u. d. Fr. Goethe (vgl. Goedeke. Bd. 4, 2 1910, S. 199f.). H. W e r n e k k e , Goethe u. d. königliche Kunst (1905). Franz Carl Ε η d r e s , Goethe u. d. Fr.ei (Basel 1949). Schiller: Fr. L ü d t k e , Ein neues Zeugnis für Sch.s Zugehörigkeit zur Fr.ei. L E . 24, H. 15 (1. Mai 1922) Sp. 955-957. J. S c h w e r i n g , Sch. u. d. Fr.ei. Ebda. H. 19 (1. Juli 1922) Sp. 1210-1211. Ed. C a s t l e , Der große Unbekannte. Das Leben von Charles Sealsfield (1952) passim. Werner

Kohlsdimidt

Friesische Literatur § 1. Herkömmlicherweise gliedert man die fries. Sprache zeitlich in das Altfriesische und das Neufriesische, wobei man die Sprachdenkmäler bis zum 15. Jh. als altfries., die späteren als neufries. bezeichnet. Dem altfries. Zeitraum vorausliegend muß man einen urfries. Zeitraum ansetzen, der etwa mit dem 8. Jh. abschließt. Räumlich zerfällt das Fries, in das Westfriesische, das Ost-

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friesische und das Nordfriesische. Nach den frühesten Zeugnissen siedelten die Friesen zunächst östlich der Rheinmündungen. Als Ostgrenze nennt Ptolemaios um 150 n. Chr. die Ems. In der Folgezeit haben sich die Friesen sowohl nach Westen bis zum Sinkfal oder Zwin bei Brügge als auch nach Osten bis zur Weser ausgebreitet. Fries. Sprachdenkmäler aus dem Gebiet westlich des Flie, des jetzigen Ijsselmeers, das bereits am Ende des 7. Jh.s in das fränk. Reich eingegliedert wurde, sind jedoch nicht vorhanden. Im 13. Jh. reichte der west- und ostfries. Sprachraum an der Südküste der Nordsee vom Lacus Flevo bis zum rechten Ufer der Weser, wobei die in die Lauwerssee mündende Lau wers die Grenze bildete. Bis ins 13. Jh. wird auch die ostfries. Kolonie im Segelterlond, dem Saterland im oldenburgischen Amt Friesoythe an den Ufern der Leda, zurückreichen. Bereits im 9. Jh. werden Friesen ferner an der Ostküste der Nordsee genannt, die von Ostfriesland aus besiedelt worden ist. In dem angegebenen Umfang hat sich der fries. Sprachraum freilich nicht behaupten können. Im Kampf mit dem Niederländischen, dem Niederdeutschen, dem Hochdeutschen und in geringerem Maße auch dem Dänischen hat er große Einbußen erlitten. Lediglich das Westfries, hat sich seit dem 13. Jh. räumlich nicht wesentlich verändert, wenngleich sich die ndl. Einflüsse ständig verstärkt haben. Die stärksten Gebietsverluste haben das Ostfries. betroffen. Um die Mitte des 15. Jh.s gerieten die fries. Gaue zwischen Lauwers und Dollart in polit. und wirtschaftliche Abhängigkeit von der niedersächs. Stadt Groningen, was zur Aufgabe der angestammten Sprache führte. Auch im ostfries. Gebiet zwischen Ems und Weser hat das Niederdeutsche das Fries, seit dem 15. Jh. mehr und mehr verdrängt. Heute lebt das Ostfries. nur noch im Saterland. Im nordfries. Raum ist das Fries, in Eiderstedt im 18. Jh. untergegangen. Auch auf den Inseln Nordstrand und Pellworm wird nicht mehr fries, gesprochen. Ebenso hat auf den Halligen Süderoog und Nordstrandischmoor das Ndd. über die heimische Sprache gesiegt. Theod. S i e b s , Gesch. d. fries. Sprache. PGrundr. Bd. 1 (2. Aufl. 1901) S. 1152-1464. W. K r o g m a n n , Die fries. Sprache. Stammler Aufr. Bd. 1 (1952) Sp. 1523-1550. — Ein heute allerdings vielfach veraltetes Altfries. Wörterbuch verdanken wir Karl Frh. v.

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Friesische Literatur

R i c h t h o f e n (1840). Ein kurzgefaßtes Alt-

Wörterbuch veröffentlichte Ferd. Η ο 11 { ries. l a u s e n (1925; GermBibl. I, 4, 5). — Neuwestfries. Wörterbuch: Waling D i j k s t r a e n F . B u i t e n h o r s t - H e t t e m a , Friesch tvoordenboek (Lexicon Frisicum) benevens lijst van Friesch eigennamen door Johann L. W i n k l e r . 4 Tie. (Leeuwarden 18981911). — Eine umfangreiche Wortsammlung der neuostfries. Mundarten des Saterlandes enthält: Hans Μ a t u s ζ a k , Die saterfries. Mundarten von Ramsloh, Strücklingen und Scharrel inmitten d. niederdt. Sprachraumes. Diss. Bonn 1951. — Neunordfries. Wörterbücher: Nicolaus Ο u t ζ e η , Glossarium d. fries. Sprache, bes. in nordfries. Mundart (Kopenhagen 1837). Rasmus R a s k , Glossar d. Moringer Mundart (nach B. Bendsen, Moringer Grammatik) hg. v. Fritz B r a u n , in: Dankesgabe für Alb. Leitzmann (1927) S. 145-151; 161-211. Peter J e n s e n , Wörterbuch d. nordfries. Sprache d. Wiedingharde (1927). Boy Peter M ö l l e r , Söl'ring Uurterbok. Wörterbuch d. Sylter Mundart (1916; Mttlgn. aus d. Dt. Sem. zu Hambg. 2). Jürgen S c h m i d t - P e t e r s e n , Wörterbuch u. Sprachlehre d. nordfries. Sprache nach d. Mundart υοη Föhr u. Amrum (1912). Theod. S i e b s , Helgoland u. s. Sprache (1909) S. 192 ff.

§ 2. Uber die älteste fries. Dichtung ist nur wenig bekannt. Daß es bei den Friesen Harfenspieler gegeben hat, lehrt ein Zeugnis aus der 2. Hälfte des 8. Jh.s. In den Judicia Wlemari heißt es: Qui harpatorem, qui cum circulo harpare potest, in manum percusserit, componat illud quarta parte maiore compositione quam alteri eiusdem conditionis homini; aurifici similiter; foeminae fresum facienti similiter. Aus jener Zeit ist uns auch der Name eines fries. Sängers überliefert: Bernlef, qui a vicinis suis valde diligebatur eo quod esset affabilis et antiquorum actus regumque certamina bene noverat psallendo promere, set per triennium continua cecitate percussus est (Aldfrids Vita Liudgeri). Eine jüngere Hs. bietet noch den Zusatz more gev.üs suae. Dies Zeugnis sichert, daß es urfries. Heldenlieder gab, in denen die Taten der Alten und die Kämpfe der Könige besungen wurden. Erhalten ist uns jedoch nichts davon. Eine ungefähre Vorstellung kann uns das aus dem 8. Jh. stammende ae. Lied vom Kampf um Finns Burg vermitteln, das in einem Bruchstück von 48 Versen erhalten ist und sich außerdem im Beowulf spiegelt. Es ist wahrscheinlich, daß derselbe Vorwurf audi von einem fries. Dichter besungen wurde. Auch christl. Lieder wird es schon im 8. Jh. gegeben haben. In der Vita

Liudgeri heißt es von Bemlef: Ipse vero Bernlef, ubicumque postea servum dei reperisset, didicit ab eo psalmos et in ea quam acceperat inluminatione permansit, quoadusque senex et plenus dierum obiisset in pace. Auf uns gekommen sind aber auch diese Lieder nicht. § 3. Die altfries. Spradiquellen sind fast ausschließlich Rechtsdenkmäler. Solche sind uns sowohl aus Ostfriesland als auch aus Westfriesland überliefert, während die nordfries. Rechte nur in ndd. Sprache aufgezeichnet worden sind. An altostfries. Rechtsdenkmälern sind zu nennen: 1. Die Rüstringer Rechtsquellen: R t : eine Hs. aus dem Ende des 13. Jh.s im Archiv zu Oldenburg; R 2 : die Abschr. einer Hs. a. d. J. 1327 in der Landesbibl. zu Hannover. 2. Die Rechtsquellen des Brokmerlandes: B,: nach 1276 geschriebene Hs. des Brokmerbriefes im Archiv zu Oldenburg; B 2 : Hs. des Brokmerbriefes von etwa 1345 in der Landesbibl. zu Hannover. 3. Die Rechtsquellen des Emesga: E,: Hs. aus dem 14. Jh. in der Univ.-Bibl. zu Groningen; E 2 : nach 1448 geschr. Hs. in der Univ.Bibl. zu Groningen; E 3 : Hs. aus der 1. Hälfte des 15. Jh.s in der Provinciale Bibl. zu Leeuwarden. 4. Die Rechtsquellen des Hunesga: H,: die „Wichtsche" Hs. aus der 2. Hälfte des 13. Jh.s in der Provinciale Bibl. zu Leeuwarden (Abschrift von H 4 ); H 2 : die „Scaligersche" Hs. aus derselben Zeit in der gleichen Bibl. 5. Die Rechtsquellen der Groninger Ommelande: F: nach 1427 geschriebene „Fivelgaer" Hs. in der Provinciale Bibl. zu Leeuwarden. Die altwestfries. Rechtsdenkmäler sind: U: die von Franciscus Junius stammenden Apographa und Kollationen des 1475 im Asterga geschriebenen Codex Unia auf der Bodleiana zu Oxford. J: die 1464 geschriebene Hs. Jus municipale Frisionum in der Provinciale Bibl. zu Leeuwarden. Dr: eine um 1470 wahrscheinlich in Köln gedruckte Inkunabel. R: das nach 1480 geschriebene Ms. Roorda in der Provinciale Bibl. zu Leeuwarden. A: das Ms. Aysma auf der Bodleiana zu Oxford, eine zu Ende des 15. und zu Anfang des 16. Jh.s geschriebene Sammelhs., deren Teile zumeist fries, sind. P: Sammelband auf der Bibl. Nationale zu Paris mit einigen fries. Stücken aus dem Ende des 15. jh.s. — Dazu kommen noch zahlreiche Urkunden. Die aufgezeichneten Rechte galten teils nur für einzelne Gebiete, teils aber für ganz Friesland. Die wichtigsten gemeinfries. Gesetze sind die Siebzehn Küren und die Vierundzwanzig Landrechte, die in enger Beziehung zueinander stehen und in den Hss. nebeneinander überliefert sind. Beide kom-

Friesische Literatur men audi in lat. und ndd. Fassung vor. Den fries. Text bieten R „ E „ H„ H 2) F, U, J und Dr. Für die zeitliche Bestimmung der Küren ist K. 10 von Bedeutung: Thit is thiu tiande liodkest, thet wi Frisa ne thuron nene hiriferd fara thruch thes kininges bon, ni nen bodthing fror sitta tha wester to tha Fli and aster to there Wisura (R,). Aus ihr ergibt sich das Jahr 985 als terminus ante quem non, da damals das Fli durch die Schenkung der Lehen in Masaland, Kinhem und Texla an den Grafen Dirk zur Westgrenze Frieslands wurde. Wahrscheinlich sind die Küren in das erste Viertel des 11. Jh.s zu setzen, da es in K. 2 heißt: thet pund skil wesa bi siugun agripinska panningon. Colnaburch hit bi alda tidon Agripina anda alda noma (R t ) und die kölnischen Münzen die archaistische Aufschrift Agrippina nur zur Zeit Ottos III. (983-1002) trugen. Das Verhältnis zwischen den einzelnen Texten ist noch nicht sicher festgestellt, wenn auch die beiden Gruppen R, Ε, Η und Η (lat.), F, U, J, Dr deutlich hervortreten. Vor allem ist die Hauptfrage noch nicht entschieden, ob für die Siebzehn Küren und die Vierundzwanzig Landrechte von einem fries, oder einem lat. Urtext auszugehen ist. Die überkommenen fries. Texte gehen zwar sämtlich auf einen fries. Archetypus zurück, doch weist der in H t und H2 überlieferte lat. Text Kürzungen auf. Entweder ist er von jenem abgeleitet oder aber aus einem älteren lat. Text hervorgegangen, der dann die Vorlage des fries. Grundtextes wäre. Karl Frh. v. R i c h t h o f e n , Friesische Rechtsquellen (1840). Eine Neuausgabe besorgt in Verbindung mit anderen Forschem P. S i ρ m a : Oudfriesche taal- en rechtsbronnen. Bisher neun Teile, von denen S i ρ m a vier bearbeitet hat: Oudfriesche Oorkonden. Bd. 1-3 (1927-1941) und De eerste Emsinger Codex (1943). Bd. 5: Die Brokmer Reditshss. (1949; gleichzeitig Diss. Groningen) und Bd. 8: Ηet tweede Rüstringer Hs. (1954) besorgte Wybren Jan B u m a , Bd. 6: De eerste en de tweede Hunsinger Codex (1950) feile Η ο e k s t r a , Bd. 7: De tweede Emsinger Codex (1953) Klaas F ο k k e m a , Bd. 9: Codex Parisiensis (1954) P. G e r b e η 7. ο η. — Jelle H o e k s t r a , Die gemeinfries. siebzehn Küren (1940; FrieschSaksische Bibl. 6). § 4. Neben den Rechtsquellen ist nur wenig von altfries. Lit. bekannt. Fragmente einer altostfries. Psalmenübersetzung befinden sich im Provinzialarchiv der Provinz

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Drente zu Assen. Die erhaltenen Bruchstücke stammen aus dem 11. oder 12. Jh., doch sind sie aus einer älteren Interlinearversion abgeschrieben, deren hohes Alter durch die Form sitit „sitzt" neben sonst ausschließlich belegtem sit ausgewiesen wird. Neuerdings sind noch drei altwestfries. Hochzeitspredigten hinzugekommen, die in einer Hs. der ö f fentl. Bibl. der Univ. Basel enthalten sind. J. H. G a 11 e e , Bruchstücke e. altfries. Psalmenübers. ZfdA. 32 (1888) S. 417-422. H. J a e k e 1, Zur altfries. Psalmenglosse. PBB. 15 (1891) S. 536-540. W. J. B u m a , Geestelijke literatuur in Oud-Friesland, in: Trijeresom. Ynliedingen hälden yn de Fryske Seksje fan it Nederl. Philologenkongres (1950) S. 5 ff. § 5. Sehr spärlich sind altfries. Dichtungen. Das Vorkommen von alliterierenden und reimenden Formeln in der altfries. Rechtsprosa verrät nur, daß Stabreimdichtung und Endreimdichtung nacheinander in der Zeit von 800 bis 1500 von den Friesen gepflegt wurden. Belanglos sind gelegentliche Schreiberverse in den Rechtshandschriften. Auch die größeren Reimgedichte in den afries. Rechtsdenkmälern haben keinen literar. Wert. Hinzu kommen die beiden Gedichte Thet Riim van Noe and van sijn kinde und Thet Freske Riim, die zusammen überliefert sind, aber erst nachträglich verbunden wurden. Jenes besteht aus 464 Versen, von diesem sind in fries. Sprache 1207 Verse überliefert, doch bietet eine mndl. Ubers, etwa das Doppelte. In beiden Gedichten geht es um die Sage von der fries. Freiheit. Nicht erhalten sind zwei geschichtliche Lieder, von denen uns berichtet wird. In der unter dem Abt Sigehard (t 1230) von dem Bruder Sibrand im Praemonstratenserkloster Mariengaarde im westfries. Asterga verfaßten Vita Fretherici heißt es von einer frommen Frau namens Gertrud von Driezum: Huius sororem duxerat uxorem Asego, vir nobilis de Blitha. Istius Asegonis patrui fuere Asego et Kempo de Blitha, viri fortes et famosi. Asegonem interfecerunt Hezelinga-viri insidiis preoccupatum; Kempo vero cecidit in illo memorabili prelio, acto apud Burne. Horum fortitudinem et magnanimitatem vulgus adhuc solet cantibus attollere. Blitha ist das heutige Blya im Feerwerderadeel, Burne Bornwid im Dongeradeel.

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Noch der altfries. Zeit werden auch drei B a l l a d e n angehören, von denen eine aus Ostfriesland, die beiden andern aus Nordfriesland stammen. Aufgezeichnet wurden sie freilich erst im 17. und 19. Jh. — In seinem gegen Ende des 17. Jh.s entstandenen Memoriale linguae Frisicae teilt der aus Hamburg stammende Johannes CadoviusMüller, Pastor zu Stedesdorf im ostfries. Harlingerland, 8 Strophen und die Melodie eines Tanzliedes, das er auch als „Hirtenlied" bezeichnet, mit und beschreibt den Tanz selbst als Augenzeuge. Die erste Str. dieser Tanzballade von Buhske di Remitier wurdte vom Chor gesungen: Buhske hat um seine Liebste sieben Jahre gefreit und tut es noch immer. Die folgenden Strophen singt das betrogene Mädchen und beruft Hahn, Ochsen, Katze, Hund und Taube als Zeugen. Aus einer Anspielung in einem 1639 in Leeuwarden gedruckten, um 1609 entstandenen Hochzeitsgedicht wissen wir, daß die Ballade zu Anfang des 17. Jh.s auch in Westfriesland bekannt war. In zersungener Gestalt ist die erste Str. auch noch in der Mundart von Wangerooge überliefert. Außerdem erwähnt Cadovius-Müller fries. Ubersetzungen ndd. Balladen, u. a. des Störtebekerliedes. Erhalten ist davon nichts. Daß aber das Störtebekerlied auf Niederdeutsch gerade auch in Ostfriesland gesungen wurde, ersehen wir daraus, daß ein nd. Lied auf den Uberfall von Aurich 1609 dessen erste Str. entlehnt und damit wenigstens sie in der ebenfalls verschollenen Urfassung bewahrt hat. Im Nachlaß des 1662 verstorbenen Topographen und Historikers Peter Sax auf der Kopenhagener Kgl. Bibl. findet sich eine Ballade in der Mundart der Insel Nordstrand, die berichtet, wie Hans Taedtsen einen gestohlenen Hammel nach Haus bringt. Eine andere nordfries. Ballade, die zu dem von Dänemark ausgegangenen Typ der Balladen vom grausamen Bruder gehört, ist erst im 19. Jh. auf Föhr bekannt geworden. Conrad B o r c h l i n g , Poesie u. Humor im fries. Recht (1908; Abhdlgn. u. Vortr. z. Gesch. Ostfrieslands 10). Thet Freske Riim. Tractatus Alvini. Hg. v. A. C a m p b e l l (1952). Hugo J a e k e 1, Zur friesischen Volksepik. ZfdPh.37 (1905) S.433-438. Joh. C a d o v i u s M ü l l e r , Memoriale linguae Frisicae. Hg. v. Erich K ö n i g (1911; Fsdign., hg. v. Ver. f. ndd. Spradifsdig. 4). W . K r o g m a n n , Altfries. Balladen. 1. Buhske di Remmer. 2. A

Redder träd a Raiendaans (1953; Abhdlgn. u. Vortr. z. Gesch. Ostfrieslands 30).

§ 6. Neuostfries. Dichtungen von Wert sind kaum zu nennen. 1632 schrieb der emsfries. Rentmeister Imel Agena fon Upgand ein Brey dloffts Gedicht in Alexandrinern, das jedoch nur als Sprachprobe von Bedeutung ist. Einiges wenige bietet noch CadoviusMüller in seinem Memoriale linguae Frisicae, doch kann man auch hier nicht von Dichtungen sprechen. Mit der fortschreitenden Einengung des ostfries. Sprachraums sind dann auch die Voraussetzungen für solche geschwunden. Schon auf Wangerooge hat Theodor Siebs trotz aller Bemühungen keine Spur eines Liedes mehr entdecken können. Die von Enno Littmann als „letzte Klänge einer verschollenen Sprache" mitgeteilten Erzählungen aus Alt-Wangerooge erheben keinen literar. Anspruch. Nachdem auch die Wangerooger Mundart vor zwanzig Jahren untergegangen ist, ist das Saterland das letzte Rückzugsgebiet des Neuostfriesischen. Eine umfangreichere Dichtung hat es hier aber nie gegeben. Daß aber immerhin Volkslieder in heimischer Mundart gesungen wurden, bezeugt J. G. Hoche in seiner 1800 veröffentlichten Reise durch Osnabrück und Niedermünster in das Saterland, Ostfriesland und Groningen. Von einem Lied aus dem Jahre 1848 konnte Siebs noch die erste Strophe erfragen. Was sonst noch an saterländischen Liedern bekannt geworden ist, sind durchweg Übersetzungen aus dem Hd. Erst aus neuerer Zeit stammen einige eigene Gedichte von Gesina Siemer (geb. 1911) aus Ramsloh, in denen das Saterland und seine Sprache besungen werden. Joh.

Cadovius-Müller,

J. Β ο t k e , Sealterlin.

s.

Geakindige

(1934; De Fryske librije 17).

§

5.

Skets

§ 7. Wesendich umfangreicher ist die neunordfries. Dichtung. Der Zahl entspricht zwar auch hier nicht der Wert, doch stoßen wir hin und wieder auf Schöpfungen, die weit über den Durchschnitt hinausragen. 1661 schrieb der Pastor Anton Heimreich auf Nordstrandischmoor einen Mirensöng und einen Eensöng, die er in seiner Nordfriesischen Chronik (1666, 2. Aufl. 1668) veröffentlichte. Der Mirensöng ist eine Ubers, des Liedes Aus meines Herzens Grunde von Johannes Mathesius, der Eensöng eine Bearb. des Abendgebets in Luthers Kleinen»

Friesische Literatur Katechismus. Zwischen diesen beiden Liedern und den nächsten erhaltenen Gedichten liegen fast hundert Jahre. Verschollen ist ein für das Jahr 1732 bezeugtes Geburtstagsgedicht des Pastors Petreus zu Deezbüll für König Christian VI. Erst aus dem Jahre 1748 besitzen wir wieder ein in Alexandrinern geschriebenes Huldigungsgedicht eines unbekannten Verfassers auf König Friedrich V. (1748 zu Flensburg gedruckt). Spätestens aus dem folgenden Jahr stammen zwei Gedichte des Pastors Lorenz Lorenzen auf der Hallig Nordmarsch, das Kirchenlied Good is jümmer arcken näy und ein Versgespräch zwischen Davids Diener und seinem Freund, das die Buße König Davids nach II. Sam. 12, 15 ff. behandelt. Ins Jahr 1749 fällt auch ein von Andreas Bendixen aus der Wiedingharde verfaßtes Hochzeitsgedicht in Alexandrinern, das als fliegendes Blatt zu Tondem gedruckt wurde. Hinzu kommt noch das 1757 von dem Pastor Christian Carl Quedensen zu Westerland-Föhr geschriebene Lied Uhn a Hemmel efter a Duhs tu kemmen. Ist allen diesen Gedichten noch kaum eine literar. Bedeutung zuzuerkennen, so dürfen wir das zwischen 1788 und 1792 entstandene Lustspiel Der Geitzhals auf der Insel Silt oder Di Gitshals of die Söl'ring Piderdai (gedr. 1809 zu Flensburg, in 2. Aufl. 1833 zu Sonderburg) von Jap Peter Hansen (17671855) als eine Dichtung von hohem Wert bezeichnen. Angeregt durch Molieres Lustspiel L'Avare, ist das Werk doch eine ganz selbständige Schöpfung geworden, die vollkommen aus Sylter Verhältnissen erwachsen ist. Unveröffentlicht blieb bisher ein zweites Lustspiel Hansens, das er um 1843 unter dem Titel Di ual' en di nii Tid' üp Söl' schrieb. Der 2. Auflage des Geitzhals ist die 1822 in Keitum entstandene Novelle Di lekkelk Stjüürman beigegeben. Bereits die 1. Auflage enthielt ferner sechs fries. Lieder, die 1811 audi für sich in Sonderburg gedruckt wurden. In der 2. Auflage hat Hansen die Zahl der fries. Lieder auf 15 erhöht. Außerdem ist eine Reihe weiterer Gedichte handschriftlich erhalten. In der Hs. besitzen wir auch noch die Erzählung Di lekelk falsk Tiring. Hinter Jap Peter Hansen tritt Jürgen Rink Hennings (Reinert Hinrichs) zurück (17851865). Von seinen zumeist ungedruckt

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gebliebenen elf Gedichten verdient vor allem die Schilderung einer Reise nach dem Mond Beachtung, die Sylter Verhältnisse satirisch behandelt. Mehrere Gedichte hat ferner Jap Peter Hansens Sohn Christian Peter Hansen (1803-1879) geschrieben. Zu erwähnen ist die umfangreiche Dichtung De Bridfiarhogher üp Sölth of dit Mirakel fen Eidem, in der er fast sämtliche Sylter Volksreime verwendet hat. Rund zwanzig Theaterstücke hat der Keitumer Zimmermann Erich Johannsen (1862-1938) geschrieben. Sie treten aber weit hinter Hansens Geitzhals zurück. Zwei von ihnen hat Siebs 1898 herausgegeben. In der Folgezeit entstanden auch außerhalb Sylts nordfries. Dichtungen. 1868 veröffentlichte Moritz Momme Nissen (18221902) Den freske Sjemstin. Ein zweiter Teil mit dem Titel De Makker tu de freske Sjemstin ist nicht gedruckt worden. Beide Teile sind in fünf Abschnitte eingeteilt, wovon der letzte Sprüche und Sentenzen in Versen und in Prosa enthält. Der vierte Abschnitt des ersten Teils enthält das in Prosa geschriebene, durch Lieder aufgelockerte dreiaktige Spiel De trinne Söme tu Martensdei. Auch hier steht, wie in Hansens Geitzhals, ein geiziger Bauer im Mittelpunkt. Das ganze Werk ist aber von einer Kampfstimmung gegen die Nichtfriesen und das Nichtfriesische erfüllt. Das Anliegen des Dichters war, wie er im Vorwort zum Sjemstin bemerkt, die Liebe zur angestammten Sprache zu wecken. Unbedeutender sind einige Gedichte, die der Lehrer Bende Bendsen 1860 in seinem Buche Die nordfriesisdie Sprache nach der Moringer Mundart veröffentlicht hat. Auch seine Aramud an Dögganhaid bi-rköödar oder Armut und Tugend (1855) ist nur nebenbei zu erwähnen. Einige Lieder und Erzählungen des alten Besenbinders Jens Dreszen enthält noch sein Buch Die nordfries. Sprache nach der Föhringer und Amrumer Mundart (1862). Lieder und Gedichte verschiedener Verfasser aus Föhr und Amrum bieten die 1888 von Otto Bremer veröffentlichten Ferreng an ömreng Stacken üb Rimen. Ein zweiter Band enthält Düntjes, die der 1812 zu Nieblum geborene Gärtner A. J. Arfsten um 1860 niedergeschrieben hat. Auch die vier Jahrgänge des von Bremer und N. Jürgens seit 1893 herausgegebenen Ferreng an ömreng Allemnack

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bringen literar. Beiträge. Aus der Menge der Gelegenheitsdichter ragt der Föhringer Simon Reinhard Bohn hervor (1834-1879). Seine Gedichte zeichnen sich durch eine lebendige Darstellung und eine kraftvolle Sprache aus. Am wertvollsten sind seine Nachdichtungen von Schillers Gang nach dem Eisenhammer und Bürgers Ballade Der Kaiser und der Abt. In beiden Fällen hat er die Handlung nach Föhr verlegt. Dichterische Ansätze auf Helgoland finden sich erst spät. In den Jahren 1857-1860 hat der Arzt Dr. Harmsen auf der Insel einige Gedichte des Klempnermeisters Albrecht Groneweg und des Landeskassenmeisters Knutz Michels gesammelt, die Siebs veröffentlicht hat. Von Wert ist aber nur Gronewegs Ballade Di Loats siin Brid, die das Motiv von Bürgers Lenore ins Seemännische überträgt. In den letzten fünfzig Jahren ist die nordfries. Dichtung an Menge stark angewachsen. Unter der Spreu findet sich aber nur wenig Weizen. Proben bieten das von Boy P. Möller, der auch selbst eine Reihe Gedichte geschrieben hat, herausgegebene Söl'ring Leesbok (1909), das von L. C. Peters besorgte Ferreng-ömreng Lesbuck (1925), das von Katharina Ingwersen und Albrecht Johannsen betreute Frosch Leseböck (1926) sowie das Lesebuch Van Beppen en Bedeelen. Hallunner Veersnakkestekken feer Letjen en Grooten (1937). Auch das Buch von Theod. Siebs Helgoland und seine Sprache (1909) enthält mehrere Gedichte. Der bedeutendste nordfries. Dichter der Gegenwart ist der Sylter Bauer Jens E. Mungard aus Keitum (1886-1944). In seinem Schaffen hat die nordfries. Dichtung nach Hansens Geitzhals einen neuen Höhepunkt erreicht. Ja, die tiefsinnigen und wortgewaltigen Schöpfungen Mungards stoßen vielfach das Tor der thematisch engen Mundartdichtung auf. Mungard war vor allem Lyriker und Balladendichter, hat aber auch Prosa und einige Theaterstücke geschrieben. Gott und Welt, Heimat und Weite, Gegenwart und Vergangenheit sind die Pole, um die sein Dichten kreist. In großem Abstand ist Andreas Hübbe (f 1941) zu nennen. Seine Söl'ring Dechtings en Leedjis erschienen 1911 in 1., 1913 in 2. erweiterter und 1927 in 3. Auflage. Auch später hat er noch zahlreiche Gedichte geschrieben. Von den Lebenden

ist vor allem Hermann Schmidt hervorzuheben, der aus Braderup stammt und Lehrer in Wenningstedt ist. Er hat eine Reihe wertvoller Gedichte geschrieben, von denen die Sammlung Wat mi sa ön Hai käm (1940) eine Auswahl bietet. 1929 veröffentlichte er das Anekdotenbudi Nü lacht jens! Von seinen Erzählungen ist besonders Lekelk Jungensdaagen zu erwähnen. Hinzuweisen ist audi auf seine Ubersetzungen, durch die er das Schrifttum seiner Heimatinsel bereichert hat. Sein besonderes Anliegen war die Schaffung von gehaltvollen Bühnenstücken. 1926 übersetzte er das föhringisdie Lustspiel Omi Petji ütj Amerika von L. C. Peters, im folgenden Jahr das in der Moringer Mundart geschriebene Lustspiel von Katharine Ingwersen Jö schal fraie en wal ai, jö wal fraie en schal ai, 1934 das nd. Schauspiel Ose von Sylt von Hans Ehrke. Neben Sdimidt steht Max Bossen aus Morsum. Er hat außer mehreren Gedichten die beiden Bühnenstüdce Di Brirkopel und Di Seemans-Brir of dt Söl'ring Pidersdai geschrieben. In der Föhringer Mundart veröffentlichte der aus Oevenum stammende Husumer Studienrat Lorenz C. Peters (1885-1949) das erfolgreiche Lustspiel Omi Petji ütj Amarika (1923), das auch mehrere vom Dichter vertonte Lieder enthält. Weitere Bühnenwerke von ihm sind Ap tu punssin, Henje Kruse an Jan Pet, Joceb Lui an san Hohn. Außerdem hat er eine große Zahl von Gedichten und Novellen geschrieben. In den letzten Monaten vor seinem Tode arbeitete er noch an der Übersetzung einer Auswahl aus Andersens Märchen. Wie Peters schrieb auch der Lehrer Reinhard Arfsten in Südende Gedichte, Erzählungen und Theaterstücke. 1949 erschien seine Komödie Krassen, fröge dt!. Noch unveröffentlicht, aber auch schon mehrfach gespielt worden ist sein Stüde De Kuiman. Außerdem schrieb er das Märchenspiel Ekkenekkepen. Eine Reihe ansprechender Gedichte schrieb auch Ocke Julius Bohn in Oldsum. Er hat viele Jahre in Amerika gelebt. Die Sehnsucht nach der Heimat, die ihn schließlich nach Föhr zurückführte, hat ihn zum Dichter gemacht Daß der zweite Weltkrieg die Helgoländer von ihrer Heimatinsel vertrieb und auch die Nachkriegsjahre ihnen lange keine Rückkehr gestatteten, hat auch unter ihnen man-

Friesische Literator dien Dichter erstehen lassen. Unter ihnen ragen Carmen Singer, James Packross und Mary Franz hervor, die in zahlreichen Gedichten der Sehnsucht nach der verlorenen Heimat beredten Ausdruck verliehen haben. Unter den Dichtern des nordfries. Festlandes nimmt Katharine Ingwersen aus Deezbüll eine besondere Stellung ein. Sie hat sich vor allem für das fries. Laienspiel eingesetzt und zahlreiche Lustspiele geschrieben. Außerdem hat sie eine Reihe ndd. Stücke in ihre Bökingharder Mundart übertragen. Auch kleine Erzählungen, Lieder und Gedichte hat sie verfaßt. Erzählungen, Gedichte und Komödien schrieb ferner der Lehrer Ν. A. Johannsen in seiner Moringer Mundart. Auch sein Sohn Albrecht Johannsen hat eine Anzahl von Gedichten verfaßt. Bühnenstücke in der Moringer Mundart schrieben außer Gedichten und Erzählungen noch Emil Hansen in Lindholm und Herlich Jansen in Niebüll. Von jenem ist das Stück Voogetsfeen, von dieser das Märdienspiel Rumpelstfart zu nennen. Gedichte und Erzählungen sowohl in Moringer als auch in Wiedingharder Mundart stammen von Broder Clausen in Niebüll. Schließlich ist der Rektor P. Jensen in Hamburg zu nennen, der ebenfalls Gedichte und Erzählungen in der Wiedingharder Mundart geschrieben hat. Von seinen Erzählungen sind u. a. De Mtion fuon ä Hallte und Di Findling auch selbständig erschienen. Wie alle Friesen, die der Beruf in die Fremde führte, blieb er innerlich stets mit seiner Heimat verbunden. Die unstillbare Sehnsucht nach ihr wird vor allem in seinem Liede Di Freeske on ä Fraamde laut. — Die weitere Entwicklung der nordfries. Dichtung hängt vor allem von der Erhaltung und Pflege der nordfries. Mundarten ab. An vielen Stellen gehen sie unaufhaltbar unter. Theod. S i e b s , Fries. Lit. PGrundr. Bd. 2, 1 (2. Aufl. 1901-1909) S. 521-554. Ders., Das Saterland. Poesie. ZfVk. 3 (1893) S. 408-410. Otto B r e m e r , Einl. zu e. amringisch-föhringischen Sprachlehre. Nddjb. 13 (1887) S. 1-32. F. H o l t h a u s e n , Die Spradie u. Lit. d. Nordfriesen. Schlesw.-Holst. Jb. 1922, S. 7 ff. Ders., Die nordfries. Lit. Nordelbingen 4 (1925) S. 649-666. Ders., Die nordfries. Lit. Nordfriesland. Heimatbuch für d. Kreise Husum u. Südtondem (1929) S. 397 ff. Herrn. Schmidt, Zur Gesch. d. neuesten syltring. Lit. NddKbl. 55 (1942) S. 141-146. W. K r o g m a n n , Fries. Dichtung. Stammler Aufr. Bd. 2 (1953 ff.) Sp. 353-374. Ders., Altfries.

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Balladen (1953; Abhdlgn. u. Vortr. z. Gesch. Ostfriesl. 30). § 8. Die geschichtlichen Ereignisse, die Westfriesland 1648 mit den übrigen Niederlanden vom Heiligen römischen Reich deutscher Nation abtrennten, bestimmten auch die Entwicklung der neuwestfries. Lit. Im Gegensatz zur neuostfries. und neunordfries. steht sie nicht unter deutschem, sondern unter niederländischem Einfluß und hängt vielfach mit der neundl. Lit. zusammen. Nur in Westfriesland hat sich auch das Fries, zu einer Schriftsprache erheben können, was zum mindesten den Umfang des neuwestfries. Schrifttums beträchtlich anwachsen ließ. Schließlich unterscheidet sich die Lit. Westfrieslands auch noch insofern von der der beiden anderen fries. Gebiete, als keine Lücke zwischen dem Altfries, und dem Einsatz des Neufries, klafft. Im 16. Jh. bleibt das Westfries, nicht nur Urkundensprache, sondern wird auch sonst literarisch verwendet. Aus der ersten Hälfte des 16. Jh.s stammen die Reimsprüche Reyner Bogermans, der um 1470 in Dokkum geboren wurde und bis in die 50er Jahre des 16. Jh.s lebte. Etwa derselben Zeit wird eine gereimte Weissagung über das Schicksal Frieslands angehören, die angeblich ein Tjessens im Jahre 1410 verfaßt hat. Ein Nachfolger Bogermans ist Georg van Burmania, dessen Sprichwörtersammlung 1614 entstand. 1641 wurde wieder eine umfangreiche Sammlung westfries. Sprichwörter herausgegeben. Daneben fanden derbe Zwiegespräche viel Anklang. 1609 wurde in Leeuwarden das Hochzeitsgedicht Een tsamensprekinghe van twee boersche persoonen Wouter en Tialle ... gedruckt, und noch im gleichen Jahr wird das Hochzeitsgedicht Frijscke Gser-Spraeck fen ien Moer mey her Man-eele Dochter erschienen sein, wenngleich nur ein Druck aus dem Jahre 1639 erhalten ist. Der Verfasser beider Dialoge war vermutlich Johan van Hichtum (f 1628). Ähnlicher Art ist das 1618 in Leeuwarden gedruckte Stück Vermaecklijcke Sotte-Clucht van een Advocaat ende en boer von Jan Jans Starter (1594-1626), einem Engländer, der in Franeker Jura studierte und auch einige fries. Gedichte in seinem 1620/21 im Amsterdam erschienenen Friesche Lusthof veröffentlichte. Wie die beiden anderen Dialoge ist audi die Vermaecklijcke

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op it 1678 Sotte-Clucht wiederholt aufgelegt worden. dem Hijnlepre Seemansalmanak Einen Drude von 1644 enthält der Nachlaß jeer. Verfasser solcher Verse sind Johannes von Franciscus Junius auf der Bodleiana zu de Vliet (Janus Vlitius), V. Ringers, Titius Brongersma, Johannes Hilarides (1648-1725), Oxford. Der erste namhafte, allerdings oft über- Dirk Lenige. Im 18. Jh. entstand aber auch das neuschätzte, neuwestfries. Dichter ist Gijsbert Japiks. Er wurde 1603 als Sohn des Tisch- westfries. Lustspiel. 1701 erschien Waatze lers, Gemeinderats und Bürgermeisters Ja- Gribberts bruyloft, eine aus dem Niederdeutschen übersetzte Bauernkomödie. Mehcob Gijsbert in Bolsward geboren, besuchte die Lateinschule, war hier von 1637 Lehrer rere Spiele dieser Art schrieb Feike Hiddes van den Ploeg, der 1736 in Franeker geboren und Vorsänger der reformierten Gemeinde und starb 1666 an der Pest. Zu seinen Leb- wurde und 1790 als Mennonitenprediger in zeiten erschien nur 1640 sein Hochzeits- Dokkum starb. 1774 veröffentlichte er De gedicht Friessdie Tjerne, dessen Vorbild die burkerij of it boere bedrief, vier Jahre später folgten De tankbre boere zoon, die Bebeiden Dialoge van Hichtums waren. Zwei Jahre nach seinem Tode veröffentlichte der arb. eines dt. Stückes, und De Reijs fen Bolswarder Drucker Samuel van Harings- Maicke Jackeies fen Hallum ney Ljeouwert om it ynheljenfeenePrins to sjen. Wertvoller houck aber aus dem Nachlaß die Sammlung Gijsbert Japicx Friesche Rijmlerije. Eine ver- ist Het jonge lieuws boosk (1780). Neben mehrte Neuauflage besorgte Simon Abbes van den Ploeg ist Eelke Meinderts (17321810) zu nennen. Er war zunächst Lehrer Gabbema (1681). Hinzugefügt ist u. a. eine Ubers, des Excellent discours de la vie et de in seinem Heimatort Westergast und dann Bauer in Kollum. Als soldier ließ er 1779 la mort von Philippe de Mornay. Den It libben fen Aagtjen Ysbrants, of dy frieske Hauptinhalt bilden Gedichte, die, von 52 boerinne drucken, das noch zu seinen LebPsalmen abgesehen, zumeist Motive aus dem Leben der Bauern und Seeleute behan- zeiten neu aufgelegt wurde (1808). Der dichterische Wert des Stückes ist zwar nicht deln. Die Vorbilder des Dichters waren teils sehr groß, doch hat es die weitere Entwickantike Sdiriftsteller wie Anakreon, Catull, lung der westfries. Lit. mit beeinflußt. Horaz, Ovid, teils die Niederländer P. C. Hooft, van der Veen, Huygens, Cats, van Daß diese im 19. Jh. einen starken Aufden Vondel. Unter dem Einfluß der letztetrieb erhielt, war weniger ein Verdienst der ren nahm der schlichte Stil seiner ersten Dichter selbst, als vielmehr von Männern Dichtungen immer stärker manirierte Züge und Vereinigungen, die sich für die Pflege an. Im Nachlaß von Franciscus Junius, der der fries. Sprache einsetzten. Am Anfang um 1645 Japiks aufsuchte, um bei ihm Fries, steht Everwinus Wassenbergh, der 1742 als zu lernen, haben sich von mehreren GedichSohn eines Pastors in Lekkum geboren ten Abschriften gefunden, die nicht nur in wurde, in Franeker und Leiden studierte, der Schreibung, sondern auch im Wortlaut 1767 Professor in Dimter wurde, 1771 einer von den gedruckten Fassungen abweichen. Es Berufung nach Franeker folgte und hier ist noch zu klären, ob die Unterschiede auf 1826 starb. Er hat zwar besonders in seiner den Dichter selbst zurückgehen. Die PsalJugend unter dem Namen Evert Abrams menübers. von Gijsbert Japiks hat später Jan auch Gedichte geschrieben, doch liegt seine Althuysen vervollständigt, der 1715 zu Fraeigentliche Bedeutung auf wissenschaftneker geboren wurde und 1763 als Pastor zu lichem Gebiet. Nachdem er sich schon 1774 Joure und Bornwert starb. 1755 erschien in mit den fries. Namen beschäftigt hatte, Leeuwarden von ihm und seinem Vater Sihielt er in den folgenden Jahren auch mon Althuysen die Friesche Rijmlerije. GeVorlesungen über Gijsbert Japiks, über den legenheitsgedichte, wie sie hier Vater und er 1793 eine lat. Abhandlung veröffentSohn veröffentlichten, madien einen wesentlichte. Sein wichtigstes Werk sind seine Taallichen Teil der neuwestfries. Dichtung des kundige Bijdragen tot den Friesdien Tong17. und 18. Jh.s aus. Gedruckt wurden sie val (1802-06). Wassenberghs wiederholtes häufig in Almanachen wie dem Breda'sche Eintreten für Gijsbert Japiks blieb nicht Almanak voor 1664, dem Friesche Boere Al- j ohne Widerhall. Nachdem schon Albert ten manach vor't Schrickeljier uus Heeren 1676, \ Broecke Hoekstra eine Neuausgabe der Frie-

Friesische Literatur

sehe Rijmlerije geplant hatte, besorgte diese Wassenberghs Schüler E. Epkema im Jahre 1821, der drei Jahre später noch ein Wörterbuch hinzufügte. Fortgesetzt wurden die Bemühungen Wassenberghs und Epkemas durch Joost Hiddes Halbertsma (1782-1869), der in den Jahren 1824-1827 sein zweibändiges Werk Hulde aan Qysbert Japiks erscheinen ließ. 1827 wurde auch das „Provinciaal Friesch Genoobschap, terbeoefening der Friesche Geschied-, Oudheid- en Taalkunde" gegründet, das in den Jahren 1829-1831 und 1833-1835 ein Frysk Jierboekje veröffentlichte und seit 1837 De Vrije Fries herausgibt. Unmittelbar auf die Dichtung wirkte Joost Hiddes Halbertsma durch die Prosaund Versdichtungen, die er gemeinsam mit seinem Bruder Eeltje (1797-1858) veröffentlichte. 1822 erschien zuerst De Lape koer fen Gabe Skroor, der 1829 und 1834 von 36 auf 237 und 500 Seiten anwuchs. In den Jahren 1835-1858 ließen die beiden Brüder ihre Gedichte und Erzählungen getrennt drucken, doch sammelte Joost Hiddes alles in den Rimen en Teltsjes, die 1868 herauskamen. Neben den Brüdern Halbertsma standen der Pastor Rinse Posthumus (1790-1859) und der Lehrer Jan Knjilles Piter Salverda (17831836). Jener veröffentlichte 1824 sein Prieuwcke fen Friesche Rymmelerije und 1836 In Jouwerkoerke fol Frysk griemank. Außerdem übersetzte er mehrere Werke Shakespeares. Im gleichen Jahr, in dem Posthumus seine erste Sammlung von religiösen Gedichten und Balladen erscheinen ließ, legte auch Salverda Ytlycke Friesche Rymkes vor, die 1834 in dem wesentlich umfangreicheren Gedichtband Hiljuwns Uwren aufgingen. Auch er bringt manche Ubers., so Evert, yen äde Romance uwt Schotlän, Bürgers Lenore und Gedichte Höltys. Ubersetzungen begegnen uns auch in der Folgezeit bei Broer Okeles und Eile van der Wal, die niederl. Gedichte von van Effen, Bellamy, van Alphen und Bilderdyk ins Fries, umschrieben, sowie bei Piter Boeles, der einen Teil des Lukasevangeliums übertrug. Sonst wurde vor allem die volkstümliche Dichtung gepflegt. Rein Baukes Windsma (1801-1862) aus Bolsward, der zunächst Schuster und dann Lehrer war, veröffentlichte 1829: Friesch Blom-koerke, sef: Grijmanck fen ijtlijcke rijmckes, in hette oare käterye,

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1833: Friez'ne blommekränze und 1847: Bledden uwt myn Schrieuwboeck. 1840 erschien die Satire De domenys hifke, mar follen te ligt achte von Wopke de Jong (17991852), der auch die Versdichtung Metten Skroar to Earnewäld schrieb. In diesen Zusammenhang gehört auch noch das Blommekoerke, oanbean oan syn Lanzljue des Notars Jan Gelinde van Blom aus Harlingen (1796-1871). Zu erwähnen ist noch,daß 1844 das „Selskip for Fryske Tael en Skriftenkennisse" gegründet wurde, das die Zeitschrift Fryslän herausgibt und sich vor allem um eine Regelung der Rechtschreibung bemühte. Unter der Führung von Tiede Roelofs Dykstra (1820-1862) und Härmen Sytstra (1817-1862), die auch selbst schriftstellerisch tätig waren, hat es große Bedeutung erlangt Was an Dichtungen in der zweiten Hälfte des 19.Jh.s und noch zu Anfang des 20. Jh.s erschien, war zumeist nur Unterhaltungsliteratur. Besonders fruchtbar war Waling Dijkstra (1821-1914), der eine große Zahl von Gedichtbänden, Erzählungen und Theaterstücken veröffentlicht hat. In seinem Gefolge befinden sich Schriftsteller wie Japik Asman (1833-1902), Joh. D. Baarda (18361903), Auke Boonemmer (1823-1894), Wynsen Faber (1830-1918), Sake Knjilles Feitsma (1850-1918), Douwe Hansma (1812-1891), Japik Hepkema (1845-1919), Tsjibbe Gearts van der Meulen (1824-1906), Gerben Postma (1847-1925), J.S.vanderSteegh (1831-1882), Oebele Stellingwerf (1848-1897), Jentsje Sytema (1824-1885) und Hjerre Gerrits van der Veen (1816-1887). Aufhorchen ließen die lyrischen Gedichte und Erzählungen von Piter Jelles Troelstra (1860-1930). Er wandte sich aber früh der Politik zu und hat dann nur noch vereinzelte Gedichte geschrieben, wie Leste Blink (1925). Ein wirklicher Dichter war auch Teatse E. Holtrop (1865-1925), der unter dem Namen Gerben Goasses schrieb. Neben seinen Ubersetzungen von Shakespeares Dramen Hamlet und Julius Caesar ist vor allem seine Novelle De wylde Boerinne (1915) zu nennen. Das Jahr 1915 bedeutet insofern einen Wendepunkt in der Geschichte der westfries. Lit., als sich damals die Jungfriesen scharf gegen die herrschende Richtung des Schrifttums wandten. Ihre bedeutendsten Vertreter waren Douwe Kalma (1896-1953), der 1938 als Erster mit einer Dissertation über

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Friesische Literatur — Frühmittelhodideutsche Literatur

Gijsbert Japiks in friesischer Sprache promovierte, Eeltsje Boates Folkertsma (geb. 1893), Meint Hylkes Bottema (1890-1918), der unter dem Namen Marten Baersma schrieb, und Rintsje Piter Sybesma (geb. 1894). Zu nennen ist auch noch Douwe H. Kiestra (geb. 1899). Kalma hat neben eigenen Dichtungen, den Gedichtbänden Dage (1927) und Sangen (1936) sowie zahlreichen Dramen, unter denen der Zyklus Keningen fan Fryslän einen besonderen Platz einnimmt, auch viele Ubersetzungen geschaffen. Schon 1916 übertrug er Dichtungen Shelleys und der Achtziger. Weiter setzte er Molieres Komödie Le Misanthrope ins Fries, um und vollendete eine Übers, des gesamten Werkes von Shakespeare, die durch eine Fryske Shakespeare Stifting veröffentlicht werden soll. Folkertsma hat vor allem Essays geschrieben, die er zum Teil 1934 und 1950 in den Bänden Toer en Tsjerke und Eachweiding zusammengefaßt hat. Viel Beachtung hat auch seine Broschüre Selsbistjür for Fryslän von 1930 gefunden. Bottemas Dichtungen hat Kalma in dem Band De Ijochte Kimen (1925) gesammelt. Zu erwähnen sind namentlich die drei größeren Erzählungen De Jonge fen de Marsheide, Jelmers Jonge Libben und De Jongste. Von Sybesma erschienen der Gedichtband Ta de Moarn (1927) und die Novellensammlung It Anker (1932). Kiestra veröffentlichte Gedichte unter dem Titel Efter it Oargel (1935). Die jungfries. Bewegung befruchtete natürlich auch das übrige Schrifttum, das den alten Kurs gehalten hatte. Unter den volkstümlichen Erzählern ragt Reinder Brolsma (1882-1953) hervor. Neben zahlreichen Erzählungen wie It forgift (1923), De Boer en de Arbeider op Ekama (1928), De Skarliin (1929), DeReamme fen it Libben (1930), Neisimmer (1931) und dem Roman Groun en Minsken (1934-1936 in Frisia) ist seine Trilogie It Heechhöf (1926), It Aldlän (1938) und Rieht (1947) besonders hervorzuheben. Mehrere Romane hat Simke Kloosterman (1876-1938) verfaßt. 1921 erschien ihr Roman De Hoara's fen Hastings, dem 1927 1t Jubeljier folgte, worin sie die Zeit von 1795 bis 1813 behandelte. Ihre lyrischen Gedichte enthält der Band De wylde Fügel (1932). Lyriker ist Obbe Postma (geb. 1868). Seine in den Sammlungen Fryske Län en Fryske Libben (1918), De Ijochte

Ierde (1929) und Dagen (1937) enthaltenen Gedichte sind 1949 in den Sammele fersen vereinigt worden. Postma hat auch Gedichte Rilkes übersetzt. Der zweite Weltkrieg hat mit seinen Nachwirkungen manchen der älteren Dichter zurücktreten lassen. Kiestra, der wie andere wegen seiner deutschfreundlichen Haltung interniert wurde, hat allerdings seine Erlebnisse unter dem Titel Sinne op'e striesek dargestellt und schreibt unter dem Namen Harm Harsta auch weiterhin Gedichte aus dem Bauernleben. Wettgemacht wird der Ausfall sonst durch viele neue Stimmen. Welche von ihnen sich behaupten werden, muß die Zukunft ausweisen. Auf jeden Fall ist man bemüht, durch Literaturpreise, wie dem seit 1947 von der Provinz Friesland abwechselnd für Prosa und Poesie verliehenen Gijsbert-Japiks-Preis, eine Höhenlage zu halten, und dem gleichen Zweck dient die 1946 gegründete Zeitschrift De Tsjerne, in der besonders Anne Wadman zu Wort kommt. Eine Auswahlsammlung seiner Kritiken und Essays erschien 1952 unter dem Titel Kritysk Konfoai. In den letzten Jahrzehnten ist der Gebrauch der westfries. Sprache auch immer stärker über den engen Bereich der Dichtung hinausgedrungen. Wenn es auch nicht möglich ist, diese Entwicklung hier im einzelnen zu verfolgen, so sollen sie doch wenigstens zwei Beispiele beleuchten. 1934 veröffentlichten G. A. Wumkes und Folkertsma die erste vollständige Bibelübersetzung, und im folgenden Jahr wurde in Leeuwarden das Fryske Akademy errichtet. Durch diese beiden Geschehnisse ist das Tor zum religiösen und wissenschaftlichen Schrifttum weit geöffnet worden. Theod. S i e b s , Fries. Lit. PGrundr. Bd. 2, 1 (2. Aufl. 1901-1909) S. 550-554. J. P i e b e η g a , Koarte Skiednis fen de Fryske Skriftekennisse (1939). Ype P o o r t i n g a , Die westfries. „schöne" Lit. nach dem Kriege. Fries. Jahrb. 1955, S. 180-193. Willy Krogmann Frühmittelhochdeutsche Literatur § 1. Die Bezeichnung der Epoche als frühmittelhochdeutsche stammt aus der Sprachgeschichte, wo sie den Ubergangszustand zwischen dem Ahd. (bis Notker) und dem klassischen Mhd. der Blütezeit meint (etwa 1050-1150/80). Auf die Vorstellung eines kontinuierlichen Fortschritts der Sprache in diesem Zeitraum, sowie der Reime (von As-

Frühmittelhochdeutsdie Literatur sonanz zum reinen Reim) und der Metrik (von ungeregelter Füllung der VierheberReimpaare zur geregelten im Epos der Blütezeit) baute die Chronologie der ersten Lit.geschichte der Epoche hauptsächlich auf, die vor allem das Werk Wilhelm Scherers war. Auch die Zusammenhänge der geistlichen dt. Gedichte mit der lat. Theologie der Zeit und ihre innere Chronologie wurden damals gründlich untersucht. Dieses Bild blieb im wesentlichen unverändert, auch als man später, von den fast ausschließlich geistlichen Stoffen der Epoche verführt, den geistesgeschichtlichen Aspekt der „cluniazensischen" Reform in historisch nicht zutreffender Weise überbetonte. Mit einigen Modifikationen gilt dieses Bild der Epoche noch heute. Von dem Gros rein-religiöser frühmhd. Lit., die bis in die höfische hineinreicht, trennt man literarisch, nicht stilistisch, meist ab die Dichtung „weltlicher" Stoffe von ca. 1150-1170 (nach Umdatierung des Rolandslieds und Ale:canderlieds), noch durchweg von geistlichen Verfassern, aber ζ. T. schon der franz. Dichtung verpflichtet, als „vorhöfische" Periode; dann die noch stärker von Frankreich beeinflußte, sprachlich nur ζ. T. noch frühmhd. Minne-Epik vor und neben Heinrich von Veldeke samt dem frühen Minnesang als „frühhöfische" Periode. — Die Frühwerke des 11. Jh.s (Ezzos Lied, Wiener Genesis, Memento mori, Annolied) werden seit H. Schneider (1928) oft als Gruppe „vorcluniazensischer" Haltung abgehoben von der geistlichen Lit. des 12. Jh.s. Allgem. Lit. zur Epoche: Wilh. S c h e r e r , Gesch. d. dt. Dichtung im 11. u. 12. Jh. (1875; QF. 12). E h r i s m a n n , Bd.2, 1. Julius S c h w i e t e r i n g , Die dt. Dchtg. d. MA.s ([1941]; HdbLitwiss.). Herrn. S c h n e i d e r , Heldendchtg., Geistlichendchtg., Ritterdchtg. (1925; 2. Aufl. 1943; Gesch. d. dt. Lit. 1). Max I t t e n b a c h , Dt. Dichtungen der salischen Kaiserzeit und verwandte Denkmäler (1937; Bonner Beitr. zur dt. Phil. 2). Helmut de B o o r , Bd. 1 (2. Auflage 1955). Ders., Die cluniazensisch-frühmhd. Literatur, in: Annalen d. dt. Lit., Hg. v. H. O. Burger (1952), S. 69-97. Albert F u c h s , Les d0buts de la litterature allemande du VIIIe au XIIe siecles (Paris 1952; Publ. de la Fac. des Lettres de l'Univ. de Strasbourg). W. S c h r ö d e r , Der Geist von Cluny u. d. Anfänge d. frühmhd. Schrifttums, PBB. 72 (1950) S. 321-386. Hugo Kuhn, Gestalten u. Lebenskräfte d. frühmhd. Lit. DVLG. 27 (1953) S. 1-30. Κ. H. Η a 1 b a c h , Epik d. MA.S. Stammler Aufr. Bd. 2, Sp. 528-584. Rich. K i e n a s t , Die

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dt.spradiige Lyrik d. MA.s. Ebd. Sp. 805-840. Wolfg. S t a m m l e r , Mal. Prosa in dt. Sprache. Ebd. Sp. 1299-1632 (passim). Gerh. E i s , Fachprosa d. MA.s. Ebd. Sp. 1633-1688 (passim). VerfLex. unter den einzelnen Werken (nicht ganz vollständig). — Lit. zu den einzelnen Werken s. in den o. a. Handbüchern und Aufsätzen u. ζ. T. bei Körner. Text-Sammlungen: MSD. Carl von K r a u s , Dt. Gedichte d. 11. u. 12. Jh.s (1894). Alb. W a a g , Kleinere dt. Gedichte d. 11. u.l2.Jh.s (2. Aufl. 1916; Altdt. Textbibl. 10). Alb. L e i t ζ m a n n , Kleinere geistl. Gedichte d. 12. Jh.s (2. Aufl. 1929; Kl. Texte f. theolog. u. philolog. Vöries, u. Übgn. 54). Fr. W i 1 h e 1 m, Denkm. dt. Prosa d. 11. u. 12. Jh.s (Münchener Texte 8); Texte: Bd. 1, 1914; Kommentar: Bd. 2, 1916. § 2. Umfang und Geschichte, Gattungen und Stil, Bedeutung und Wert der frühmhd. Lit. lassen sich nur richtig beurteilen, wenn man von ihrer lebendigen Funktion ausgeht; diese wird zunächst in ihrer Ü b e r l i e f e r u n g gespiegelt. Hier fällt zuerst ins Auge, daß die frühmhd. Texte fast durchweg Unica sind, meist nur im 12. Jh. überliefert, etwa ein Drittel davon Fragmente. Natürlich demonstriert das eine starke sprachliche und sachliche Zeitgebundenheit sowie die fast vollständige Verdrängung dieser Lit. durch die folgende klassisch-höfische — obwohl, schon mit dem 13. Jh., das Spät-MA. sämtliche Themen der frühmhd. Lit. wieder aufnimmt. Darunter sind aber nur einige frühmhd. Werke: Hss. und Fragmente des 13. Jh.s sind eher als Nachzügler des 12. zu betrachten; die Wiener geistliche Sammelhs. 2696 rettet jedoch noch im 14. Jh. die Werke Heinrichs von Melk, das Anegenge und Albers Tnugdalus; in der Sammelhs. Graz 1501 aus dem 12. Jh. wird im 14. Arnolds Juliane nachgetragen; eine zweite Sammlung von Frau Avas Gedichten gibt die Görlitzer Hs., 14. Jh., ein zweites Fragment der Benediktbeurer Deutung der Meßgebräuche ein Wolfenbüttler Blatt des 14. Jh.s. Es wäre jedoch falsch, von der occasionellen Überlieferung generell auf Gelegenheitscharakter und geringe Wirkung der frühmhd. Lit. zu schließen. Sie ist nur soziologisch und literarisch anders gebunden. Sie „verbraucht" das einzelne Werk weit mehr, ζ. T. auch in immer neuen WerkAnsätzen, als daß sie es überliefert, und teilt diese Überlieferungsart mit der ganzen lat. „Adelsliteratur", geistlich und weltlich, vom 9.-12. Jh. (K. Hauck, Stammler Aufr., Bd. 2, Sp. 1888).

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Frühmittelhochdeutsche Literatur

Die bisher vornehmste Uberlieferungsform für lat. Einzelstücke aller Art wie auch für die kleineren ahd. Gedichte war E i n t r a g auf leere Seiten, auch Blattränder eines lat. oder auch dt. Großwerks: Zeichen nicht der Mißachtung, sondern der Bewahrung. So werden nur noch wenige frühmhd. Werke überliefert, charakteristischerweise vor allem im 11. Jh.: Das Bruchstück der Originalfassung von Ezzos Lied (S: ohne Raumnot in Str. 7 abgebrochen) und das Memento mori, beide in der Straßburger Hs. von Gregors Moralia in Job aus Ochsenhausen; vielleicht auch das Annolied in der heute verlorenen Hs., nach der Opitz es 1639 herausgab; ebenso der ältere Prosa-Physiologus; im 12. Jh. dann nur noch: Vom Himmelreich, Baumgartenberger Johannes Baptista, Rheinauer Paulus. Ezzos Lied: MSD. XXXI, Bd. 1, S. 78-92; Bd. 2, S. 168-188. W a a g , S. 1-16 u. Einl. Braune Leseb. Nr. XLIII. — Memento mori: MSD. XXX b, Bd. 1, S. 73-78; Bd. 2, S. 164168. Braune Leseb. Nr. XLII. — Annolied: Hg. v. Max B o e d i g e r (1895; MGH., Dt. Chroniken 1, 2) S. 63-132; 139-145. Neu hg. v. Walter B u l s t , (1946; Editiones Heidelbergenses 2). — Prosa-Physiologus: W i l h e l m , Denkm. Nr. II. — Vom Himmelreich: Hg. v. Joh. Andr. S c h m e l l e r , ZfdA. 8 (1851) S. 145-155. Rud. H ä v e r n e i e r , Daz himilridie. Diss. Göttingen 1891. L e i t ζ m a n n , S. 20-27. — Baumgartenberger Johannes Baptista: K r a u s , S. 12-15; 101-111. — Rheinauer Paulus: K r a u s , S. 7-12; 77-101.

Die typische Überlieferung der mehr dem Schul-, Gottesdienst-, Seelsorge- und Andachtsgebrauch verhafteten dt. Prosa- und Versstücke war seit ahd. Zeit: Sammlung in meist gemischtsprachigen „ H a u s b ü c h e r n " für diese Zwecke. Im 11. Jh. finden sich in ihnen dt. Stücke relativ selten, darunter jedoch: Otlohs Gebet, Himmel und Hölle zusammen mit Bamberger Glaube und Beichte; im 12. Jh. mehren sie sich stark: die Benediktbeurer Deutung der Meßgebräuche (in der dt. Predigths. Speculum ecclesiae) wie andere immer neue Meßgebete, Mariengebete und auch Marienlieder (s. Mariendichtung), Beichten (s. d.) und Sündenklagen (s. d.), weiter eine Reihe Psalmenübersetzungen, zahlreiche dt. Predigtsammlungen, schließlich mehrere Rezept-, Segen-, ZauberSammlungen (s. Zauberspruch, Segen). Otlohs Gebet: MSD. LXXXIII, Bd. 1, S. 267-269; Bd. 2, S. 411-416. — Himmel u. Hölle: MSD. XXX, Bd. 1, S. 67-73; I

Bd. 2, S. 158-164. W i l h e l m , Denkm. Bd.l, S. 31-33; Bd. 2, S. 59-70. — Bamberger Glaube und Beichte: MSD. XCI, Bd. 1, S. 298-306; Bd. 2, S. 440-446. — Deutung der Meßgebräuche: Hg. v. Franz P f e i f f e r , ZfdA. 1 (1841) S. 270-284. L e i t z m a n n . S . 14-20. — Speculum ecclesiae: Hg. v. Joh. K e l l e (1858). Hg. v. Gert M e l b o u r n (1944; Lunder germ. Fschgn. 12). — E h r i s m a n n , Bd. 2, 1, S. 169-172 (Gebete); Bd. 2, 2, 2, S. 411-416 (Predigten d. 12. u. 13. Jh.s). Η. Ε g g e r s , VerfLex. Bd. 4, Sp. 996-1001. Gerh. E i s , Frühmhd. Funde. MLN. 68 (1953) S. 319-328 u. PBB. 78 (Tüb. 1956) S. 61-64.

Zahlreich sind Fragmente von zerschnittenen frühmdh. Hss., aber erst aus dem späten 12. und frühen 13. Jh. Sie enthalten hauptsächlich erzählend-moralisierende Bibel-, Legenden- und Visionsdichtungen der zweiten Hälfte des 12. Jh.s: Von Christi Geburt, Christus u. Pilatus, Friedberger Christ, Linzer Antichrist, Hamburger Jüngstes Gericht; Esau und Jakob und Die 10 Gebote, Lamprechts Tobias, Makkabäer, Von der babylonischen Gefangenschaft; Albanus, Andreas, Patricius, Tundalus, Visio Sti Pauli, Trost in Verzweiflung; im 11. Jh. nur das geographische Fragment Merigarto. Fragmente von umfassenderen dt. Sammlungen dieser Art erkennen wir in den Trierer Bruchstücken (Ägidius, Silvester, dazu der Minneroman Floyris) und in solchen aus Maria Saal in Kärnten (Adelbrechts Johannes Baptista, St. Veit). Von einer jetzt Mittelfränkisches Legendär genannten Sammlung, vielleicht einer heilsgeschichtlich - pseudohistorischen Chronik, sind uns sogar Fragmente dreier Hss. erhalten. Natürlich sind die Titel, die die Wissenschaft diesen Werken gibt, besonders unsicher, und die Typen und Interessen, Orte und Zusammenhänge dieser Uberlieferung, die geradezu eine Literaturbewegung repräsentiert, sind kaum mehr zu fassen. Von Christi Geburt: Hg. v. Anton E. S c h ö n b a c h , ZfdA. 33 (1889) S. 350-373. K r a u s , S. 3-6; 71-77. — Christus und Pilatus: Hg. v. Karl B a r t s c h , GermaniaPf. 4 (1859) S. 245-246. K r a u s , S. 62-64; 246-249. — Friedberger Christ und Antichrist: Hg. v. W e i g a n d , ZfdA. 8 (1851) S. 258-274. MSD. XXXIII, Bd. 1, S. 100-113; Bd. 2, S. 197-201. — Linzer Antichrist: Hg. v. Heinr. H o f f m a n n , Fundgruben 2 (1837) S. 104134. — Hamburger Jüngstes Gericht: L e i t ζ m a n n , S. 12-13. — Esau und Jacob und Von den 10 Geboten: Hg. von F. Κ e i η ζ, GermaniaPf. 31 (1886) S. 57-66. — Des Pfaffen Lamprecht Tobias: Hg. v. H. D e -

Friihmittelhochdeutsdie Literatur g e r i n g , PBB. 41 (1916) S. 528-536 u. Anm. — Makkabäer: Hg. v. Karl B a r t s c h , GermaniaPf. 28 (1883) S. 267-271. K r a u s , S. 25-29; 147-157. — Von der babylonischen Gefangenschaft: Hg. v. Carl v. K r a u s , ZfdA. 50 (1908) S. 328-333. L e i t z m a n n , S. 10-12. — Albanus: K r a u s , S. 41-45; S. 197-217. — Andreas: Κ r a u s , S. 64-67; 250259. — Patricius: K r a u s , S. 30-35; 157182. — Tundalus: K r a u s , S. 46-62; 217246. Tundalus u. Albers Tnugdalus: Visio Tnugdali, lat. u. altdt. Hg. v. Albr. W a g n e r (1882). — Visio Sti Pauli: K r a u s , S. 35-41; 182-197. — Trost in Verzweiflung: L e i t z m a n n , S. 27-30. — Merigarto: MSD. XXXII, Bd. 1, S. 93-100; Bd. 2, S. 188 -197. Braune Leseb. Nr. XLI. — Trierer Sylvester: Hg. v. Max R o e d i g e r , ZfdA. 22 (1878) S. 145-209 u. Carl v . K r a u s (1895; MGH., Dt. Chroniken I, 2) S. 1-61; 133-138. — Trierer Aegidius: Hg. v. Karl B a r t s c h , GermaniaPf. 26 (1881) S. 1-57. — Trierer Floyris: Hg. v. E. S t e i n m e y e r , ZfdA. 21. (1877) S. 307-331. — Adelbrechts Johannes Baptista: K r a u s , S. 15-23; 111-134. — St. Veit: K r a u s , S. 24-25; 134-147. — Mittelfränk. Legendär: Hg. v. Hugo B u s c h , in: Beitr. z. dt. Phil. Jul. Zacher dargebr. (1880) S. 279-292. Carl v. K r a u s , Mittelhd. Übungsbuch (2. Aufl. 1926; GennBibl. I, 3, 2) S. 1-27 u. 273-274. § 3. Etwa die Hälfte der frühmhd. Dichtung ist in einigen ganz erhaltenen dt. S a m m e l h s s . überliefert. Ungefähr ein Drittel, und zwar fast alle gewöhnlich in die erste Hälfte des 12. Jh.s datierten Werke, gibt die zusammenhängende Gruppe der Wiener Hs. 2721 (W,vonWolfg.Lazius an unbekanntem Ort erworben und 1551 an Maximilian II. geschenkt), der Milstätter (M, heute in Klagenfurt) und der Vorauer Hs. (V), alle drei aus der 2. Hälfte des 12. Jh.s. W und Μ sind teilweise mit Bildern geschmückt. E h r i s m a n n , Bd. 2, 1, S. 15ff. Κ. H. H a l b a c h , Stammler Aufr. Bd. 2, 538 ff. — Wiener Hs. (teilweise) und Straßburger Hs.: Ferd. Μ a ß m a n n , Dt. Ged. d. 12. Jh.s (1837). — Milstätter Hs.: Th. G. v. K a r a j a n , Dt. Sprachdenkmäler d. 11. u. 12. Jh.s (Wien 1846). Herrn. Μ e η h a r d t , Die Bilder d. Milstätter 'Genesis' u. ihre Verwandten. Festschr. f. Rud. Egger. Bd. 3 (Klagenfurt 1954) S. 248-371. Rez.: F. P. P i c k e r i n g , ZfdPh. 75 (1956) S. 23ff. L. W o l f f , PBB. 78 (Tübg. 1956) S. 166-170. — Vorauer Hs. (ohne Kaiserchronik, Vorauer Joseph u. Gesta Friderici): Jos D i e m e r , Dt. Ged. d. 11. u. 12. Jh.s (Wien 1849). Ders., Die Kaiserchronik nach d. ältesten dt. Hs. d. Stiftes Vorau (Wien 1849). Alb. W a a g , Die Zusammensetzung d. Vorauer Hs. PBB. 11 (1886) S. 77-158. Th. F r i n g s , Die Vorauer Hs. u. Otto v. Freising. PBB. 55 (1931) S. 223-230. Herrn. M e n h a r d t , ÜberliefeReallexikon I

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rung, Titel u. Komposition d. 'Wahrheit'. Ebd., S. 213-223. Ders., Die Vorauer Hs. PBB. 78 (Tübg. 1956) S. 116-159. Ders., Zur Herkunft d. Vorauer Hs. Ebda., S. 394-452. Pius F a η k , Kam die Vorauer Hs. durch Probst Konrad II. aus d. Domstift Salzburg nach Vorau? Ebda., S. 374-391. Faksimile der Vorauer Hs., hg. v. d. Steiermark. Landesbibl. Τ. 1: Die Kaiserchronik, mit Einl. v. Pius F a η k (Graz 1953); T. 2 wird 1957 erscheinen. — W, die älteste, fügt zusammen die sog. d t Wiener Genesis, eine jüngere Prosaübers. des Physiologus und ein ExoSui-Gedicht (unvollständig abgebrochen). Der Plan einer Art Bible moralisee ist schon hier zu erkennen, das AT. wird bevorzugt als „heroische" Epoche der Geschichte des Gottesreidies auf Erden bis zur Gegenwart. Weitergeführt wird dann dieses Programm in M: die Genesis in einer Sprache und Reim modernisierenden, aber vermittelmäßigenden Überarbeitung von W, Physiologus (nach W schlecht gereimt) und Exodus (vollständig) schließen sich ganz an W an; dann aber folgen zwei eng verwandte größere Dichtungen, die man Vom Rechte und Die Hochzeit nennt: das erste eine Ordnungsschau irdischer Pflichten in 3-Zahlen (im Rechtsgedanken dem Memento mori des 11. Jh.s ähnlich), das andere eine Allegorie der Brautwerbung Gottes um die Seele. Den Schluß der Sammlung bildet ein Andachts-Teil: Milstätter Sündenklage, Paternoster-Auslegung in 7-Zahlen und als Ausblick Das Himmlische Jerusalem, eine 12Edelsteine-Symbolik (vgl. die ottonisdi-salische Kaiserkrone nach Dedcer-Hauff, bei K. Haudc, Stammler Aufriß Bd. 2, Sp.1872), nach 8 Versen schon abgebrochen. Die dritte Hs., die Vorauer, bearbeitet und erweitert das Programm von Μ noch einmal energisch. Genesis bis Balaam (Num. 22 ff.: abgebrochen?) werden in neuer straffer Darstellung gegeben (Vorauer Bücher Moses; nur Josef bleibt wie in W—M); daran schließt an, parallel zum Mittelteil von M, das Bußgedicht Die Wahrheit und die allegorische Erlösungsschau Summa Theologiae. Darauf setzt (mit S. Theol. aus anderer, frk. Sammlung?) eine weitere alttestamentliche Reihe ein: die knapp erzählende Gedichtfolge (nachträglich ζ. T. allegorisierend bearbeitet?) von Salomo, den drei Jünglingen im feurigen Ofen und Judith; es folgt nochmals ein Jucfii/i-Gedicht in breiterer Fassung: die (obdt.) Jüngere Judith. Hier wird chronologisch Lamprechts Übertragung des von Alberich franz. bearbeiteten lat. Alexanderromans eingefügt. Die Heilsgeschichte des NT.s führt anschließend das Erzähl-Werk der Frau Ava von Christi Geburt bis zum Jüngsten Gericht. Am Schluß aber wendet sich V wieder zurück zum andachtmäßigen Schlußteil von M: von der Vorauer Sündenklage — der aber (unterbrechend?) das zur breiten NT.-Erzählung bearbeitete Ezzo-Lied folgt — führt die Hs. über Priester Arnolds Gedicht Von der 7-Zahl 32

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Frühmittelhodideutsdie Literatur

zum Himmlischen Jerusalem von Μ (hier vollständig) zurück. Angefügt sind Frauengebete (unvollendet abgebrochen). V erweitert also das Programm der Bible moralisie, in W nur Alten Testaments, in Μ moralisch-allegorisch u. heilsgeschichtlich ausgebreitet, zur umfassenden Heilsgeschichts-Erzählung (der allegorische Ausblick auf die ganze Heilsgeschichte mit Erlösung und Gericht wie die moralische Gegenwartsanwendung waren an sich schon der Wiener Genesis eigen), und zwar offenbar in mehreren Absätzen. Es wird sogar noch weiter ausgedehnt: V reiht nicht nur das streng „historische" Alexanderlied in die AT.Chronologie ein, sondern stellt dem Ganzen die dt. Kaiserchronik voran (die lat. Gesta Friderici Ottos von Freising sind dagegen wohl erst im 15. Jh. am Schluß der dt. Hs. angebunden). Also: eine allgemeine histoire moralisee! Daß dazu ursprünglich selbständige Gedichte hereingenommen werden (Ezzos Lied — nachträglich gefunden, ad hoc bearbeitet und „literarhistorisch" eingeleitet? —, Kaiserchronik und Alexander; 2 aufeinander folgende Judith-Gedid\ie), ist klar zu sehen. Noch einige andere Stücke dieser 3 Sammelhss. finden sich auch außerhalb überliefert; eine ältere Fassung von Teilen der Milstätter Sündenklage scheint der Rheinauer Paulus zu bieten, den Anfang der Vorauer Sündenklage überliefert auch ein Fragment des 13. Jh.s, über das Milstätter Paternoster in der Innsbrucker Hs. 652 s. u.: das betrifft also gerade den Andachts-Teil; zum Vorauer Moses gibt es ein Fragment des 13. Jh.s in Linz; die vollständigere Ava-Sammlung der Görlitzer Hs. bezeugt wohl eine selbständige Parallelüberlieferung neben V noch im 14. Jh.; schließlich finden sich von der Summa Theologiae (V) kleine Stücke in zwei lat. Hss. des 12. Jh.s eingetragen. Ebenso klar zu sehen ist die Übernahme des jeweils erweiterten ^Programms und der meisten Stücke von W zu Μ zu V, aber auch die Absicht der Bearbeitung schon in Μ und die Absicht der Sammlung V, die von Μ übernommenen Programm-Stücke durch Variationen zu ersetzen. Wir müssen annehmen, daß das jeweilige Programm (vielleicht aus der Wiener Genesis herausgesponnen? Nach Scherer QF 7, S. 30 aus Folgen wie Bamberger Glaube, Beichte, Himmel und Hölle) von Anfang an als Sammlung selbständig existierender Stücke gedacht war, obwohl die Abgrenzung der einzelnen Dichtungen nicht immer klar ist und einiges auch ad hoc gedichtet sein könnte. Heilsgeschichtliches Stoff-resume, nachdrücklich verbunden mit moralisch-allegorischer Ortsbestimmung für die gegenwärtige irdische Menschheit, darum in der Volkssprache — was schon den ersten frühmhd. Dichtungen den Anstoß gab: Ezzos Lied •— führt hier zu einer zyklischen Zusammenfassung frühmhd. Werke, wie sie jetzt auch auf anderen Gebieten unternommen wird (vgl. zum Programm ζ. B. die Fresken in Gurk).

Und die eben entstandenen „historischen" Werke (Kaiserchronik, Alexanderlied), gleicher Haltung und gleichfalls aus Ansätzen des 11. Jh.s schöpfend (Annolied—Kaiserchronik), gehören in V mit dazu. Von den Gedichten des 11. Jh.s hat dem Sammler V aber, außer dem ihm bekannten Vorbild der Wiener Genesis, nur noch Ezzos Lied (nachträglich?), nicht mehr Annolied und Memento mori zur Verfügung gestanden. Vieles ist hier, über das seit Scherer schon Geleistete hinaus, neu zu untersuchen. Zunächst die merkwürdige Tatsache, daß das letzte Stück sowohl in W als auch in Μ Fragment ist, jeweils vom Nachfolger aber vollständig geboten wird; im Zusammenhang damit ist vielleicht auch das Abbrechen anderer Gedichte, vor allem der Kaiserchronik wie des Alexanderlieds, in V zu sehen (auch mehrere lat. Geschichtswerke des 11./12. Jh.s zeigen ein ähnliches Bild von abbrechenden Originalkonzepten, Bearbeitungen usw.). Weiter die verschiedenen Ersetzungen, Bearbeitungen u. Ineinanderarbeitungen: Mosesbücher W—Μ —V; älterer Physiologus — jüngerer Physiologus W—gereimterPhysiologusM; Recht — Hochzeit in Μ u. a.; Ezzo S—V; der Komplex der Sündenklagen und der 7- und 12-ZahlGedichte am Schluß von Μ und V, der in die erst halbliterar. Freiheit in Prosa und Vers gegenüber diesen im Gebrauch verwurzelten Stoffen hinunterreicht. Weiter die inneren Abhängigkeiten der einzelnen Stüdce: ihre Formelhaftigkeit in Sprache und Stil allerdings gibt, ohne Kenntnis der mündlichen Sprache einerseits, der literar. Basis andrerseits, nur sehr problematische Anhaltspunkte. Vor allem die Geographie u. Chronologie der einzelnen Gedichte und Sammlungsteile ist mit neuen sprachlichen und inhaltlichen Mitteln zu untersuchen; der heute übliche Kompromiß zwischen historisch erzwungener Umdatierung einiger Werke und alter sprachlicher Datierung der meisten anderen (so Ehrismann, de Boor u. a.) genügt nicht. Auch Ort und Zeit der Sammlungen selbst, die man seit Scherer unbedenklich in ihren Aufbewahrungsorten suchte, sind neu zu erforschen: Menhardts ausgezeichneter Nachweis, daß die Bilder in Μ und W abhängen von illustrierten byzantinischen Oktateudi-Hss. (deren Wirkung ζ. B. auch bis in die Mosaiken von S. Marco in Venedig zu verfolgen ist), ermöglicht einen neuen Ansatz. Die Vereinigung von poetischer Bibel-Erzählung mit Kommentaren verschiedener Art findet sich aber in lat. Corpora, ζ. B. des Alcimus Avitus, schon früher im Westen (nach B. Bischofs freundlichem Hinweis). Menhardts Lokalisierung der Sammlungen W und Μ am Regensburger Weifenhof (Wiener Genesis Regensburgisch im 11. Jh.; mit Physiologus ca. 1130; mit Exodus, Μ W, etwa 1174 als byzantinisch illustrierte Sammlung; Abschriften W um 1175, Μ um 1180) scheint zwar sprachlich wie für die Bilder möglich und könnte auch für V fruchtbar gemacht werden, aber ohne weitere Gründe

Frühmittelhodideutsdie Literatur ist sie nidit zu beweisen, (Menhardts Annahme von Laien-Künstlern beruht auf Mißverständnissen). Wiener Genesis u. Exodus: Hg. v. Heinr. H o f f m a n n , Fundgruben 2 (1837) S. 9 -101. Die alt dt. Genesis nach d. Wiener Hs. hg. v. Viktor D ο 11 m a y r (1932; AdtTextbibl. 31). Genesis u. Exodus nach d. Millstätter Hs. hg. v. Jos. D i e m e i . 2 Bde (Wien 1862). — Physiologus: Älterer u. Jüngerer Ph. in Paralleldruck bei W i l h e l m , Denkm. Bd. 1, S. 4-28; Bd. 2, S. 5-28. Der gereimte Ph. hg. v. Th. G. v. K a r a j a n , Dt. Sprachdenkm. d. 11. u. 12. Jh.s (Wien 1846) S. 73-106. — Vom Reihte, W a a g , S. 70-87 u. Einl. — Die Hochzeit: W a a g , S. 87-123 u. Einl. — Milstätter Sündenklage: Hg. v. Max R o e d i g e r , ZfdA. 20 (1876) S. 255 -323. — Auslegung des Vaterunsers: MSD. XLIII, Bd. 1, S. 163-170; Bd. 2, S. 256-265. W a a g , S. 43-52 u. Einl. — Beschreibung d. Himmlischen Jerusalems: W a a g , S. 55-70 u. Einl. Vorauer Bücher Moses: Jos. D i e m e r , Dt. Ged. d. 11 u. 12. Jh.s (Wien 1849) S. 3-90 u. Anm., S. 3-32. Wiener und Vorauer Joseph audi: Hg. v. P. P i p e r , ZfdPh. 20 (1888) S.257-289; 430-474. — Die Wahrheit: W a a g , S. 135-141 u. Einl. — Summa Theologiae: MSD. XXXIV, Bd. 1, S. 114-124; Bd. 2, S. 202-223. W a a g , S. 16-27 u. Einl. — Lob Salomons: MSD. XXXV, Bd. 1, S. 124-133; Bd. 2, S. 223-230. W a a g , S. 27-35 u. Einl. — Die drei Jünglinge im Feuerofen: MSD. XXXVI, Bd. 1, S. 133-136; Bd. 2, S. 230-234. W a a g , S. 36-38 u. Einl. — Die Ältere Judith: MSD. XXXVII, Bd. 1, S. 136-141; Bd. 2, S. 234-237. W a a g , S. 38-43 u. Einl. — Die Jüngere Judith: Jos. D i e me τ, Dt. Ged. d. 11. u. 12. Jh.s (Wien 1849) S. 125-180 u. Anm. 48-57. — Lamprechts Alexander: Krit. Ausg. hg. v. Karl Κ i η ζ e 1 (1884; Germ. Handbibl. 6). — Die Gedichte d. Ava: Hg. v. P. P i p e r , ZfdPh. 19 (1887) S. 129 -196; 275-321 (nach V. u. G. Görlitzer Johannes). Rieh. Κ i e η a s t , Ava-Studien. ZfdA. 74 (1937) S. 1-36; 277-308. — Vorauer Sündenklage: W a a g , S. 141-167 u. Einl. — Priester Arnolds Gedicht Von der Siebenzahl: Hg. v. Herrn. P o l z e r - v a n K o l (Bern 1913; SprDchtg. 13). Auch: D i e m e r , S. 333-357. — Kaiserchronik: Hg. v. Edward S c h r ö d e r (1892; MGH., Dt. Chroniken I, 1). Faks.Ausg. (Graz 1953). § 4. Die lokale, vielleicht dynastische Gebundenheit dieser drei Hauptcorpora der frühmhd. Lit. erweist sich auch darin, daß es zwar Parallelüberlieferungen einzelner Stücke gibt (s. o.), vom Programm der drei Sammlungen aber offenbar nichts nach außen gedrungen ist, jedenfalls nicht in die sonstigen frühmhd. Sammelhss. des 12. Jh.s, die wir kennen. Eine Lage der Innsbrucker Hs. 652 aus Stams, 12. Jh., ver-

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einigt das Milstätter Paternoster nebst einem weiteren Siebenzahl-Gedicht (Von der Siebenzahl) mit lat und dt. Rezepten — also ein „Hausbuch", wohl ohne Berührung mit dem Programm von M. Die Grazer Hs. 1501 aus Sedcau enthält zusammen mit dt. ProsaFrauengebeten (wie sie audi am Sdiluß von V und mehrfach sonst im 12. Jh. überliefert sind) Heinrichs Litanei, dazu im 14. Jh. nachgetragen Arnolds Juliane. Durch Heinrichs Litanei in (vom Verf.?) erweiterter Bearbeitung ist mit dieser Sammlung verbunden die (verbrannte) Straßburger Hs. von 1187 aus Molsheim, die weiter Hartmanns Credo und dazu die Straßburger Bearbeitung des (vollständigen) Alexanderlieds und das PilatusFragment enthielt (also auf späterer Zeitstufe als V). Fragmente einer Hs. in Colmar bezeugen eine ähnliche Sammlung: eine der Kaiserchronik-Eizahhing parallele Crescentia, den sog. Scopf von dem löne und die Cantilena de conversione Sti Pauli. Sie leiten vom Andachtsbereich zu den schon oben erwähnten Erzählungsfragmenten des späten 12. Jh.s über. Ein Unicum desselben Typs bildet die Hs. Hannover I 81 aus Köln, im 13. Jh., die die moralisch-allegorischen und legendär erzählenden Werke (pseudohistorische Christuslegende) des Pfaffen Wemher vom Niederrhein und des Wilden man zusammenfaßt. Die Hs. Wien 2743, 13. Jh., stellt noch Priester Wernhers Maria unter Gebete und schon höfisch gestaltete Marienerzählung, wie im 14. Jh. die Wiener Hs. 2696 Heinrich von Melk, Das Anegenge und Albers Tnugdalus (s. o.). Von der Siebenzahl: MSD. XLIV, Bd. 1, S. 171-174; Bd. 2, S. 265-269. W a a g , S. 52-55 u. Einl. — Heinrichs Litanei: Carl v. K r a u s , Mittelhd. Übungsbuch (2. Aufl. 1926; Genr.Bibl. I, 3, 2) S. 28-62; 274 -276. — Priester Arnolds Juliane: Hg. v. Anton E. S c h ö η b a c h , SBAkWien 101 (1882) S. 445-536. — Armer Hartmann: Hg. v. Friedr. v. d. L e y e η (1897; GermAbh. 14). — Pilatus Hg. v. Karl W e i η h ο 1 d , ZfdPh. 8 (1877). S. 253-288. — Crescentia: Kolmarer Bruchst.: Hg. v. Emst M a r t i n , ZfdA.40 (1896) S.312319. L e i t z m a n n , S.3-5. Kaiserchronik (Vers 11 352 ff.) s. oben. — Der scopf von dem lone: Hg. v. Emst M a r t i n , ZfdA. 40 (1896) S. 319-328. L e i t z m a n n , S. 5-9. — Cantilena de conversione Sti Pauli: Hg. v. Ernst M a r t i n , ZfdA. 40 (1896) S.328-331. L e i t z m a n n , S. 9-10. — Die Ged. d. Wilden Mani nes u. Wernhers υ. Ν. Hg. v. Karl Κ ö h η 12*

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Frühmittelhodidenbdie Literatur

(1891; Sehr.ζ. germ. Phil.6). — PriesterWernhers Maria: Hg. v. Carl W e s l e (1927). Text (ohne die krit. Einl.) auch: AltdtTextbibl. 26 (1927). Hans F r o m m , Unters, ζ. Marienleben d. Fr. Wernher (1953; Ann. Univ. Turkuensis Β 52). — Heinrich von Melk: Hg. v. Rieh. H e i n z e l (1867). Neu hg.v. Rieh. K i e n a s t (1946; Editiones Heidelbergenses 1). Zur Datierung: Erika K i m m i c h , Das Verhältnis d. sog. Heinr. v. Melk zur mittellat. Dchtg. (Masch.) Diss. Tübingen 1952. — Das Anegenge: Κ. A. Hahn, Ged. d. 12. u. 13. Jh.s (1840) S. 1-40. § 5. Durch b r e i t e u n d d a u e r n d e Ü b e r l i e f e r u n g literarisch verselbständigt zeigt sich im 11. Jh. nur das kunstvoll gerundete, vorwiegend lat. Hohelied-Wexk Willirams von Ebersberg. Ihm nach in kleinerem Maßstab auch das St. Trudperter Hohelied des 12. Jh.s. Die dt. Erstlings-Gedichte von 1060-80 haben trotz nachweisbarer Wirkung nicht losgelöst literar. Uberlieferungsverhältnisse für sich angetroffen oder geschaffen, wie auch das Corpus W — Μ—V, das ζ. T. einen eigenen Typ frühmhd. Lit. repräsentiert, im Grunde noch nicht. Wie dann die Fragmente der zahlreichen dt. Hss. des späten 12. und frühen 13. Jh.s zeigen, ist Hss.-Verlust, weil Ersetzung durch höfisch Genormtes, in breiterem Maß erst für diese geistliche Erzählungslit. des späteren 12. Jh.s anzunehmen. Willirams Paraphrase des Hohen Liedes: Krit. Ausg. mit Glossar hg. v. Joseph S e e m ü 11 e r (1878; QF. 28). Zur literar. Form: Marie-Luise D i 11 r i c h , ZfdA. 82 (1948/50) S. 47-64; ebd. 84 (1952/53) S. 179-197; E. F. O h l y , ZfdA. 85 (1954) S. 181-196. — St. Trudperter Hohes Lied. Hg. v. Jos. H a u p t (Wien 1864). Krit. Ausg. mit Wörterverz. u. Anmerkgn. hg. v. Herrn. M e n h a r d t . 2 Bde (1934; Rhein. Beitr. u. Hilfsb. z. germ. Phil, u. Volkskde. 21/22). Bruchstück d. Hs. B, in: L e h m a n n - G l a u n i n g , Mal.Hss.-Bruchstücke d. Univ. bibl. u. d. Gregorianum zu München (1940) Nr. 134. Zum Prolog: E. F. O h l y , ZfdA. 84 (1952/53) S. 198-232. Breitere literar. Uberlieferung, meist von Fragmenten des 12. Jh.s bis in Hss. desSpätMA.s reichend, oft auch als modernisierende Bearbeitung, findet dann erst wieder die „reichshistorische" Dichtung seit der Mitte des 12. Jh.s, für die sich unmittelbar nach der mhd. Klassik sofort wieder Interesse fand (Kaiserdironik- Bearbeitung, Rolandslied-Stricker usw.). Sie beginnt mit der Kaiserchronik, dazu des Pfaffen Lamprecht Alexanderlied aus dem Französischen, beide in V in ältester (unvollendeter?) Fassung; im

Gefolge der Kaiserchronik entsteht noch das 1172 archaisierende Rolandslied des Pfaffen Konrad, ebenfalls aus dem Französischen. (Zur Datierung: P. Wapnewski, Euph. 49, 1955, S. 261-287; F. R. Schröder, PBB. 78, Tübg. 1956, S. 57-60; L. Wolff, ebd. S. 185193.) Als dt. Karls- und Ottonen-Historie aufgemacht, stehen gegen diese „franz." Ausläufer der Kaiserchronik: der stilistisch an den chansons de geste orientierte Rother und Herzog Ernst, der schon Höfisches pariert (um 1180?). Als einzige geistliche stellt sich zu diesen „historischen" Dichtungen dem Uberlieferungstyp nach ein Manen-Epos, literar. bewußt geformtes Werk des Pfaffen Wemher von 1171. Ob auch die nur in spätmal. Bearb. vorliegenden sog. „Spielmannsepen" (s. d.) Salman und Morolf, Oswald, Orendel mit ihren Archetypen hierher gehören, ist nicht ganz sicher. Mündlicher epischer Tradition (Brautwerbung) und spätantik-byzantinischen Romanen verpflichtete Legenden-Epen, wie man die Stücke nennen kann, waren sicher im späteren 12. Jh. vorhanden, wie auch schon erste Helden-Epen (Kudrun, ältere Nibelunge not), aber vielleicht nicht schriftlich. Rolandslied. Hg. v. Carl W e s l e (1928). Neu hg. v. Friedr. M a u r e r (1940; DtLit., Reihe: Geistl. Dchtg. d. MA.s 5). — König Rother. Hg. v. Jan de V r i e s (1922; GermBibl. II, 13); audi hg. v. Th. F r i n g s u. J. K u h n t (1922; Rhein. Beitr. 3; 2. Aufl. 1954, Altdt. Texte 2). — Herzog Ernst. Hg. v. Karl B a r t s c h (1869). Nach Sprache, Stil und Überlieferung schließen sich hier ζ. T. noch an die schon einer zweiten franz. Einfluß-Welle verpflichteten Minne-Romane: vor allem der Trierer Floyris (Fragment, s. o.), weniger schon Graf Rudolf (Fragment) und Eilharts Tristrant (in Fragmenten des 12. und Bearb. des 13. Jh.s erhalten). Noch Veldeke aber stellt sich mit seiner Servatius-Legende in die frühmhd. Tradition, die er mit der (auch noch „reichshistorisch" sehenden) lat.-franz. Eneid zugleich abschließt und überwindet. (Der Versuch Menhardts, die Archetypen der BiiderHss. des Rolandlieds, der Eneid und von Wernhers Maria sowie die JenenserBilderhs. Ottos von Freising alle, wenn auch über etwa 50 Jahre hin, mit W — Μ in Regensburg in Zusammenhang zu bringen, wo er auch Rother, Herzog Ernst, Alexander, Lucidarius versammelt — also die ganze Lit. „früh-

Frühmitlelhodidentsdie Literatur ritterlicher" Richtung — bedarf noch der krit. Nachprüfung.) Außerhalb der frühmhd. Uberlieferung stehen dagegen, auch bei möglicherweise bis an die Mitte des 12. Jh.s zurückreichenden Anfängen, der frühe Minnesang, die frühe Spruchlyrik (Herger), wohl auch die nicht-geistlichen Lehrgedichte des 12. Jh.s (Wernher von Elmendorf, Der heimliche Bote, Diu Mäze), ebenso Heinrichs Reinhart Fuchs und die sonst aus mündlicher Hof-Unterhaltung aufsteigende Lit. Schon ihre Uberlieferung zeigt kaum mehr Berührung mit jener vor- und frühstaufischen religiös-politischen Adelswelt, in der die frühmhd. Lit. lebt (libellum teutonicum de herzogen Ernesten erbittet noch um 1180 Abt Ruprecht von Tegernsee von Graf Berthold von Andechs), und auch Sprache und Inhalt wie Gattungen (Aufführungspraxis der Minne· und Spruchlyrik) stehen wohl in neuen Lebensformen und -kreisen. § 6. Nun erst kann versucht werden, B e g r i f f u n d U m f a n g der Epoche zu umreißen. Nach Sprache, Form, Stil, vorwiegend geistlicher Verfasserschaft, heils- und reichsgeschichtlicher Tendenz und gemeinsamer Überlieferung gehört zusammen, was von der Mitte des 11. Jh.s bis in die 1170er Jahre an dt. geschriebener Lit. entsteht. Man kann sie, den Begriff anders fassend, weiterhin „frühmhd." nennen. Die sicher auch in diesem Zeitraum starke mündliche Tradition — z. gr. T. wohl gemeineuropäisch, über Byzanz ständig spätantikes und östliches Gut aufnehmend, „weltlich"-unterhaltende (Mimisches, Tanzlied, Schwank, Novelle, Didaktik usw.) wie religiöse und politische Stoffe umfassend (Liturgisches, Legende, Chronik, Heroisches usw.), nicht vom „Volk", sondern vor allem von weltlichen und geistlichen Höfen getragen (hier auch der soziologische Ort des „Spielmännischen") — wird, nach ihrer ottonischfrühsalisch lat. Spiegelung, stofflich erst wieder seit der Mitte des 12. Jh.s in der geschriebenen Lit. sichtbar (W. Mohr, DVLG. 26,1952, S. 433-446, und WirkWort 3,1952/ 1953, 1. Sonderheft, S. 37-48), literar. selbständig erst im „klassischen" Nibelungenlied und im 13. Jh. (in Ballade, Schwank, Novelle, „Meister"-Repertoire usw. wie in den großen Gattungen). Vom Prolog des Annoliedes bis zur Kaiserchronik kennzeichnet die erzählenden Werke unserer Epoche vielmehr

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eine religiös-historisch gelehrte „Aufklärungs"-Tendenz (genus historicum) gegen die als feindlicher mythischer Faktor empfundene mündliche Helden- und GeschichtsTradition (genus heroicum). (Vgl. zuletzt W. Stammler, ZfdPh.70,1948/49, S. 10-32 u. Hugo Kuhn, Gattungsprobleme d. mhd. Lit. SBAkMchn. 1956, 4, S. 30 f.). Zur Lit. der Epoche gehört aber die dt. pragmatische und Gebrauchslit. des Zeitraums in Prosa, trotz ihrer kontinuierlichen Tradition und Bearb. vom Ahd. her. Denn sie ist, samt ihrer Basis in der lat. Lit., jetzt einerseits der Mutterboden zahlreicher, sich erst mehr oder weniger literar. herausformender Verswerke, wie sie besonders auch die Sammelhss. W — Μ — V bieten (Seelsorge: Beichten, Sündenklagen usw.; Liturgie: Gebete, Meßdeutungen, Credo, Litanei usw.; Bibel, Legende: Pseudo-Versepik [vgl. E. R. Curtius, Europäische Lit. u. lat. MA., Bern 1948, S. 155; 459]; theologische Spekulation: Die Zahlenallegorien usw.; Naturlehre schon im 11. Jh.: Merigarto, Physiologus; Praktisches, Medizinisches: Segens- und Zaubersprüche). Nur auf diesem Hintergrund kann die literar. Bedeutung und Qualität der einzelnen Werke richtig abgewogen werden. Andrerseits erheben sich gerade manche Werke dt. (wie lat.) Prosa jetzt zu einer literar. Selbständigkeit und Qualität, die die meisten Versdichtungen überragt (Willirams Hohes Lied, Trudperter Hohes Lied). Die Grenze der Epoche nach rückwärts ergibt sich klar aus dem so isolierten wie starken Neueinsatz dt. Dichtung mit Ezzos Lied, nach über hundertjähriger Pause seit der ahd. Auch die aus dem Ahd. kontinuierlicher fortgesetzte Prosalit. spiegelt den gleichen Neueinsatz um die Mitte des 11. Jh.s in der neuen Qualität von Gebrauchswerken wie Bamberger Glaube und Beichte und Himmel und Hölle, sowie in der Tendenz zur Verifizierung dieser Lit., die sich im 12. Jh. fast vollkommen durchsetzt; ebenso in der Ablösung Notkers des Dt. durch Williram und damit auch der Klosterschule durch die Domschule. Die Grenze nach vorwärts ist weniger scharf. Geistig, religiös, politisch, sozial usw. geht vielmehr e i n kontinuierlicher Zwang der histor. Folge von Ezzos Lied, Annolied und Memento mori bis zur höfischen Epik,

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zu Minnesang und Spruchdichtung. Nach Motiven und Formen jedoch akzentuieren diesen Entwicklungszug mehrere Schübe franz. Rezeption deutlicher als innere Momente: für Ezzo und Annolied: lat. Wirkung Lüttichs?; dann die lat. Wirkung Abaelards, Bernhards von Clairvaux u. a.?; der erste Schub franz. Rezeption ist greifbar um 1150 im fränk. Alexander und Rother, dazu 1172 das Rolandslied; der zweite Schub, wieder fränk., dann schon um 1170 in Floyris, bei Eilhart, dazu in Graf Rudolf und mit neuer Qualität bei Veldeke; die dritte und stärkste, aber auch am selbständigsten verarbeitete Rezeption um 1185 im Minnesang der rhein. Hausengruppe und in der Epik Hartmanns von Aue mit ihren Nachfolgern; ein vierter, schwächerer Schub leitet wohl um 1220 die Nachklassik ein, die wie in der bildenden Kunst endgültige Rezeption schon mit beginnender „Sondergotik" verbindet. Die Wege aus Nord- und Südfrankreich — ζ. T. dt. Reichsteile —, die vermittelnde Rolle der blühenden dt. Niederrheinlande, aber auch des Oberrheins, evtl. auch Vermittlung über Italien und sogar Palästina, sind wie die interferierende Rolle aus Byzanz vermittelter Einflüsse für unsere Epoche erst noch gründlich zu untersuchen. Die durchgehende Tendenz, der innere Drang dieser Entwicklung ist aber in Deutschland so genuin da wie in Frankreich, nur wird, wie gemeineuropäisch, die franz. Ausprägung mehr und mehr vorbildlich. Ideologische Momente wie „cluniazensische Weltabkehr" oder eine entgegengesetzte „Weltfreudigkeit" spielen keine Rolle in der seit 1150 wachsenden Aufnahme realer Stoffe, die vielmehr eine geistige und literar. Sublimierung der vorher mehr brauchtumshaftenLaiendichtg. bezeugt. Sogar die wirklich historische Ideologie der Reform und des Investiturstreits reicht in der dt. Lit. (wie in der lat.) kaum in die weithin für beide Parteien gleiche Stoff- und Ideenwelt der Dichtung hinein und beeinflußt die Entwicklung nur in tieferen Schichten des neuen Massenbewußtseins. Ähnlich ist es später mit der welfisch-staufischen Auseinandersetzung (seit H. Naumann, Els.-Lothr. Jb. 8, 1929, S. 69-91, oft überbetont); auch hier spiegelt die dt. Lit. weit mehr die Unruhe um die beiden Parteien gemeinsame Reichs-Ideologie als ihre Macht-Kontroversen selbst.

Deutlich sind gleichwohl zwei Einschnitte innerhalb der frühmhd. Periode: der eine nach den Erstlingsgedichten des 11. Jh.s, zugleich ein Abstieg in der Qualität; der zweite um 1150, mit dem ersten Schub franz. Rezeption wie mit dem histor. Einschnitt durch Friedrich I. zusammenfallend, ein so starker Neuansatz, daß er einen neuen EpochenNamen rechtfertigt: etwa „frühritterliche" oder „frühstaufische" Lit. von 1150-1180, nach der „geistlichen dt. Adelslit." von 1050 -1150. Doch müssen diese Werke von 1150 bis tief in die 1170er Jahre noch mit den ebenfalls jetzt erst wirklich zahlreich werdenden Dichtungen geistlicher Stoffe zusammengesehen werden. Geistliche Stoffe, jetzt oft pseudohistorisch-biographisch die Heilsgeschichte von „welthistorischen" Figuren aus beleuchtend, wie weltliche, ebenfalls ζ. T. pseudo-historische Stoffe dienen noch einer gemeinsamen geschichtlich-polit.-moralischen Neuorientierung des neuen, nun schon ritterlichen Kollektivbewußtseins, dessen außerordentlich starke Impulse gerade auch das Greifen nach religiösen Kategorien, wie schon im 11. Jh., demonstriert. Nur die erzählenden Werke der zweiten franz. Rezeption in den 1170er Jahren müssen als Übergangsgruppen zur höf. Klassik hin abgetrennt werden, obwohl sie in Sprache und Stil dem Frühmhd. z.T. noch verbunden sind. In diesen Umkreis führen auch Rückgriffe während der höfischen Blütezeit wie Wolframs Willehalm, Gottfrieds Tristan, Ottes Eraclius, Strickers Roland, Ulrichs von Zatzikhofen Lanzelet und Konrad Flecks Floris zurück. Auf keinen Fall darf jedoch nur die g e i s t l i c h e Lit. seit 1150 weiter frühmhd. genannt werden, indes die sog. weltliche (reichshistorische) Dichtung einer eigenen Epoche unterstellt wird, die man ungeschickt als „vorhöfisch" bezeichnet — obwohl dieser Kompromiß heute noch die Regel ist. Denn beide bilden noch eine gemeinsame Lebenswelt und tragen gemeinsam die kollektiven, fast noch anonymen Stilwandlungen der Epoche. § 7. Als gemeinsames Charakteristikum der frühmhd. Lit. ist zuerst ihre S p r a c h e zu nennen. Aber wir verstehen sie nicht so sehr als kontinuierlich fortschreitenden Zwischenzustand zwischen Ahd. und Mhd., der der Epoche den Namen gegeben hat, son-

Frühmittelhodideutsdie Literatur dem vielmehr als besonderen, seit 1150 freilich auch fortschreitenden Ausgleich zwischen: 1. älteren und jüngeren Schreib traditionen der dt. Übersetzungs- wie Dichtungssprache (Notkers Anlautgesetz), in weiteren Zusammenhängen, die wir noch nicht kennen; 2. gesprochenen regionalen Adels- und Hofsprachen des „Hof-Volks" an Domen und Klöstern wie an Fürstenhöfen, mit mannigfach abgestuften Verbindungen zur LokalMundart; und 3. verschiedenartigem überregionalem Sprachausgleich, der aber noch andere Wege geht als der höfische. Unter solchen Gesichtspunkten ist vieles neu zu untersuchen, vor allem merkwürdig extreme Mundart-Mischungen, die nicht allein durch mundartliche Lokalisierung oder als Folge von Bearbeitungen erklärt werden können. Alb. L e i t z m a n n , Lexikal. Probleme in d. frühmhd. geistl. Diditg. AbhAkBln. 1941,18. E. H e n s c h e l , PBB. 75 (1953) S. 414-420; ebd. 77 (Halle 1955) S. 147-158. § 8. Typisch sind in den poet. Denkmälern der ganzen Zeit auch V e r s u n d R e i m . Fast ausnahmslos herrscht von Anfang an das Reimpaar, im gesungenen Lied (EzzoWille) wie in vorzulesender Darstellung (Wiener Genesis); gelegentlich finden sich später 3-Reime, meist als Schlußbetonung. Syntaktisch wird das Reimpaar in der Regel als in sich geschlossene Langzeile behandelt. Die Verse sind meist als Vierheber, mit freiem Auftakt und freiem Versschluß, zu rhythmisieren, die aber auch schwach gefüllt wie stärkstens überfüllt sein können (von 3 bis 17 Silben: Heusler § 521), in verschiedener Häufigkeit je nach dem einzelnen Werk. (Ein metrischer Sonderfall ist Vom Himmelreich.) Mit dem geschmeidig und reinlich über den Worten hinlaufenden Rhythmus der höfischen Epik (wohl franz. Vorbilds bei uns: 8-Silbner) hat dieser Rhythmus noch nichts zu tun, Bearbeitungsversuche setzen erst um 1170 ein (Straßburger Alexander). Schwierig ist der Anschluß nach rückwärts. Bei manchen Frühwerken (Wiener Genesis), aber auch noch später gehen Vers und Reim „unter Otfrid hinunter" Heuslers Erklärung: Anschluß an Otfrid plus Rückgriff auf den germ. Stabreimvers, vermittelt durch die (postulierte) weltliche Reimdichtung des 10./11. Jh.s, ist eine petitio der zwei Heuslerschen Otfrid-Prinzipien: gesungener Amfcrosianischer Dimeter jambicus plus be-

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schnittene Füllungsfreiheit des gesprochenen germ. Stabreimverses. Auf die Otfrid-Frage ist hier nicht einzugehen. Die frühmhd. dichtenden Geistlichen kannten vielleicht dt. „Otfridische" (aber freiere?) Traditionen (ob sie auch volkstümlich, „spielmännisch" waren?), sicher aber auch lat. und vielleicht auch franz. Lang- u. Kurzzeilen-Verse, die vielleicht die neue Metrik- und Musikforschung noch erschließt. Welche Rolle bei Vers und Reim der sprachliche Verfall der Endsilben spielt, ist noch nicht genügend klar. Deutlich ist als rhythmischer Stil die starke Bindung des Rhythmus an Wort- und Satzbetonungen, seine stärkere „Wörtlichkeit" als in der höfischen Kunst. Auch die Prosa ist vielfach rhythmisch durchgeformt (Bamberger Glaube und Beichte, Himmel und Hölle, Williram, St. Trudperter Hohes Lied). Die Texte werden in den Hss. oft durch Initialen in Abschnitte gegliedert: in kürzeren, hymnenartigen Gedichten zu mehr oder weniger gleichlangen „Strophen" zusammengefaßt, in längeren Werken in unregelmäßige Abschnitte eingeteilt. Die „Strophen" (oft zu 4 oder 6 Langzeilen) haben aber nichts mit lat. u. dt. „lyrischen" Strophen (Hymnus, Sequenz, Conductus, Minnesang) zu tun, auch nicht mit Langzeilenstrophen von der Art Kürenberger-Nibelungenlied. Die Zuordnung der nachweisbar gesungenen (Wille als Komponist von Ezzos Lied in V genannt) oder sangbaren Gedichte (Melker Marienlied) zu musikalischen Formen der Zeit steht noch offen. Genaue Kontrafaktur einer Sequenz (Ave praeclara maris Stella) ist zum erstenmal das Marienlied von Muri am Ende des 12. Jh.s. — Die Initialen der längeren Gedichte können sowohl schmükkende als auch stofflich abteilende Funktion haben. Im Reim steht bis in die 1170er Jahre Assonanz verschiedener Art und verschiedener Häufigkeit gleichberechtigt neben dem reinen Reim. Abgesehen von den sporadischen Dreireimen findet sich jedoch keine Beziehung zu den auch assonierenden, aber durch-reimenden lat. und franz. Tiraden der Zeit. Gegen Ende der Epoche (Straßburget Alexander, Eilhart) tritt die Tendenz hervor, Satzgrenzen längerer Perioden in das Reimpaar zu legen: Reimbrechung. Man kann sie

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mit dem „Manierismus" spätromanischer Kunst in Zusammenhang bringen. H e u s l e r , Bd. 2, S. 74-99. Herrn. F r a n k e l , Aus d. Frühgesch. d. dt. Endreims. ZfdA. 58 (1921) S. 41-64. Carl W e s 1 e , Frühmhd. Reimstudien (1925; JenGermFsdign. 9). H. de B o o r , Über Brechung im, Frühmhd. Germanica. Festsdir. f. Ed. Sievers (1925) S. 478 -503. Ders., Frühmhd. Sprachstil. ZfdPh. 51 (1926) S. 244-274; 52 (1927) S. 31-76. Ders., Frühmhd. Studien. Zwei Untersuchgn. (1926). Alb. B a y e r , Der Reim von Stammsilbe auf Endsilbe im Frühmhd. u. s. Bedeutung für e. sprachl. u. literar. Chronologie. Diss. Tübingen 1934. Edw. S c h r ö d e r , Aus d. Reimpraxis frühmhd. Dichter. ZfdA. 75 (1938) S. 201-215. M. I t t e n b a c h , Zur Form frühmhd. Gedichte. ZfdPh. 63 (1938) S. 382-384. Ulr. P r e t z e l , Frühgesch. d. dt. Reims (1941; Pal. 220). Friedr. M a u r e r , Über Langzeilen u. Langzeilenstrophen in d. ältesten dt. Dditg. Beitr. z. Sprachwiss. u. Volkskde. Festschr. f. Emst Ochs (1951) S. 31-52. Helm. Thomas, Der altdt. Strophenbau u. d. nichtliturg. Sequenz. Festgruß f. H. Pyritz (1955; Euph., Sonderh.) S. 14-28.

§ 9. Die im Inhalt auf den ersten Blick manchmal völlig dispositionslos wirkenden Gedichte zeigen sich öfter, vor allem in Werken hoher Qualität, durch L e i t w o r t e und Z a h l e n v e r h ä l t n i s s e der Stoffteile gegliedert, deren zahlensymbolische Deutung (Ittenbach u. a.) sich allerdings selten bewährt. Wohl aber darf hier an eine romanischer Kunst entsprechende Gruppen-Subordination als Stilprinzip gedadit werden. Im Stil sind gewisse F o r m e l n sehr häufig, deren Herkunft, Gebrauch und Zusammenhang trotz guter Sammlungen noch ungeklärt ist. § 10. Besonders schwierig ist das G a t t u n g s p r o b l e m . Wie nach Sprache und Metrik so wirkt die frühmhd. Lit. auch gattungsmäßig als einheitliche Masse, mit fließenden Übergängen vom rein „hymnischen" zum rein „epischen" oder Traktat-Werk. Schon die späteren höfischen Typen (gesungene Minne- und Spruch-Lyrik — ArtusRoman, Helden-Epos, Legenden-u. SchwankNovelle usw.) sind hier nicht anwendbar, geschweige neuere. Aus der Masse der Uberlieferung ergeben sich zwar gewisse Typen, nach denen die meisten Literaturgeschichten die Werke anordnen: kürzere und längere Bibel-Erzählung, meist mehr oder weniger moralisierend und allegorisierend ausgeweitet, auch ζ. T. „spielmännisch" formelhaft (Ältere Judith, Wilder man), steht neben

utsche Literatur dogmatischen oder moralischen Lehrgedichten (ähnlich wie in der Predigt Homilie neben Sermo?); dazu kommen aus dem Andachts-Gebrauch erst hervorwachsende Gebetsformen (Beichte, Sündenklage, auch Litanei und Credo usw.); Legenden-Erzählung liegt meist auf anderem, mehr „historischem" Felde als Bibel-Erzählung usw. Es sind also fast nur die im Hintergrund stehenden, unfesten Typen lat.-theolog. Gebrauchslit., die wir so zu fassen bekommen; zudem ist ihre Geltung — ob Sachtypen oder zeitlich und lokal begrenzte Erscheinungen — noch unklar. Ein deutlicheres Bild der Typen liefert vielleicht die literar. Entwicklung. Mit Ezzos Lied (so in V benannt; ursprünglich rede?) beginnt ganz neu ein zwar dem Hymnus nahestehender, gesungener, aber mit einem straffen, hier noch rein dogmatisch-symbolischen Gerüst arbeitender Typ heilsgeschichtlicher Erzählung: als geschichtlich-ethische Ortsbestimmung für die gegenwärtige Menschheit. Mit dem Memento morf-Gedicht (ein Gattungsname nicht genannt) beginnt der Typ der argumentierenden Lyrik: als Ausrichtung der Gegenwart an jenseitigen Heilsforderungen. Jener weist der Struktur nach auf die künftige geschichdiche Epik (Annolied— Kaiserchronik); dieser auf die künftige Spruch- und Minne-Lyrik, jedoch ohne greifbare Verbindungsglieder. In der Folge werden beide zunächst durch theologische Stoff-Auffüllung verunklärt: der Ezzo-Typ zum langen dogmatisch-allegorischen heilsgeschichtlichen Gedicht (Summa Theologiae, Ezzolied V u. a.); der Memento mori- Typ zum unsanglichen moralischen Lehrgedicht (Vom Rechte u. a.). Dazu kommen die o. a. mannigfachen Kontaminationen dieser Ansätze mit traditionellen oder aus dem Gebrauch heraufsteigenden unfesten. Formen: lat. und dt. Bibel-Epik, Homilieund Sermo-Predigt als Erläuterung biblischer und legendärer, dogmatischer u. liturgischer Stoffe; Lob-, Bitt- und Bußgebets-Andachten; religiös-politische Symbolik wie die Edelstein-Allegorien des himmlischen „Reichs"; Legenden-Historien u. a. Im späteren 12. Jh., besonders in den 70er Jahren, treten dazu überraschend individuelle Sonderformen geistlicher Dichtung, wohl mit der lat. L i t zusammenhängend: Heinrichs von Melk gro-

Frühmittelhodideutsche Literatur ße Satiren, Priester Wernhers hymnische Marienerzählung, Anegenge usw. Daneben aber führen in Deutschland aus den Ansätzen des Ezzoliedes gemeineuropäische geschichtsmythische Interessen, innere geschichtliche Anlässe und Programme (Anno-Lied [so erst modern im Sinn des historisch-heroischen Epos benannt] — Kaiserchronik) sowie das mehr und mehr wirkende franz. Vorbild historisch-heroischer Epik (Alexander-Lied, Rolands-Lied) seit 1150 zur Ausbildung einer reichsgeschichtlichen E p i k , die im Sinne des translatioGedankens geistliche Heilsgeschichte, antike und dt. Geschichte zusammen ergreift (nicht aber germanisch-heroische). Die Kaiserchronik bildet zuerst einen eigenen Gattungs-Typ aus (bezeichnet als historisch-heroisches Lied, aber Cronica geheißen), der, nicht ohne Berührung mit franz. (und dt.?), Heldenepik (chanson de geste = Lied?), aber auch mit spätantiken Romanen und Legenden, in ein Gerüst aus Kaiserchronologie Einzel-Erzählungen verschiedenen Vorbilds einbaut, in einheitlich-stofflicher Haltung, aber mit typischen szenischen Ansage-Stücken und sprachlichen Formeln. In diesem Rahmen (genus historicum?) samt neuen Wirkungen der chansons de geste (genus heroicum) bewegen sich auch die epischen Nachfolger, bis Eneasroman und Chretien de Troyes neue Maßstäbe geben. Eine Geschichte frühmhd. l y r i s c h e r Formen läßt sich mangels Abgrenzung aus dem frühmhd. Einheits-Typ und mangels Verbindung mit musikalischen Formen der Zeit nicht greifen. Für Memento mori steht nicht einmal die Sanglichkeit fest. Das nachweislich gesungene Bamberger Kreuzlied (cantilena) von Ezzo und Wille gehört wohl zum Gebrauchsbereich des lat. Hymnus. Die dt. Marien-Hymnik, mit dem Melker Marienlied auch schon früh einsetzend, mündet sogar noch kurz vor 1200 in die genaue Sequenz - Kontraf aktur von Muri. Für eine eigenständige Ausbildung lyrischer dt. Gebrauchsformen zeigen die frühmhd. Texte keine Anhaltspunkte. Auch nicht für Einwirkung unterliterar. Kleinlyrik, Tanzlied, Liebeslied usw. Es ist charakteristisch, daß die überlieferten Beispiele und Zeugnisse solcher Kleinlyrik — nicht die ahd. Reimereien (St. Galler Rethorik, Steinmeyer Denkm. LXXIX -LXXXVIII), der Liebesgruß im Ruodlieb,

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die Verse derTegemseer Briefe MF. 3,1, die kaum wirklichen Gebrauch anzeigen, aber die Typen der Cambridger Lieder, das Tanzlied des Kölbigker Mirakels von 1018(Borck, PBB. 76,1954, S. 241-320), dann wieder einige dem letzteren entsprechende dt. Strophen der Carmina Burana (149, 167 a, 180) und schließlich die Frühphase des dt. Minnesangs und Herger — gerade die Epoche von 1050 -1150 auslassen. Es fehlen hier sogar Beispiele geistlichen Volksgesangs wie das ahd. Petruslied u. die frühen Leisen. Auch die Geschichte des geistlichen S c h a u s p i e l s spielt sich noch ausschließlich in der z. gr. T. mündlichen, lat. liturgischen Repräsentation ab. § 11. Damit sind die Hauptmomente der L i t . g e s c h i c h t e der Epoche angedeutet. Ihre Bewertung muß noch stärker von der Möglichkeit Gebrauch machen, in der mal. Lit. nicht nur traditionell-kanonische Formund ausgesprochene Inhalts-Werte zu suchen, sondern auch „abstrakte" Form-Qualitäten und unausgesprochene geschichtliche Bewegungen als Wert zu verstehen. Während die Tradition und Bearbeitung der geschriebenen karolingischen dt. Geb r a u c h s t . aus der Schulwissenschaft weitergeht (Glossen, Psalmen- u. Bibel-Ubersetzungen, Medizin und Naturdeutung—nicht ihre ahd. Poetisierungen, nicht die Artes-Kommentierung Notkers und nicht die Ansätze dt. Rechts- und Verwaltungsschriftlichkeit unter Karl dem Großen), ebenso aus der Seelsorge (Predigt, Andacht, Glaube und Beichte, Gebete u. a.), mit im einzelnen noch nicht recht erfaßtem Abschwellen um 1100 und neuem Anschwellen, nun auch in poet. Formen, seit Mitte des 12. Jh.s, — während auch die Tradition der vorwiegend mündlichen Laien- und Kleriker-„Hofkunst" vorerst weitergeht, auch die, die sich im ottonisch-salischen Latein der Hofkapellen schon einmal literar. gefestigt hatte, bis diese lat. Lit. dann in der neuen Lebenswelt der Universitätsund Vagantenlit. umgebildet wird, entsteht daneben um 1060, unvermittelt und aus anderen Zusammenhängen, mit dem hymnischen, sprachlich und sachlich straff geformten Bamberger Kreuzlied Ezzos und Willes ein neuer Ansatz dt. Dichtung. Sein Anlaß wird zusammen mit dem Anschluß an östliche Liturgie (Anaphora der syrischen und „klementinischen" Liturgie:

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das theol. Wissen der Geistlichen um Ezzo betont der Vorauer Prolog) doch wohl im Aufbruch zur Jerusalem-Pilgerfahrt Bischof Gunthers von Bamberg liegen, 1065 „mit vielem Volk, Fürsten und Bischöfen" unter der Leitung Siegfrieds v. Mainz unternommen (vita Altmanni), frühes Symptom der künftigen Kreuzzugs-Massenbewegung, der auch die franz. Volkslit. entstammt. Da auch die neue Intensität der Prosa in Willirams Hohelied-Werk und vielleicht auch in Bamberger Glaube und Beichte und Himmel und Hölle von Bamberg ausgeht (Williram war vielleicht dort scholasticus, wie auch Anno von Köln, dem dann 1080 das Annolied gilt), muß hier ein Hauptanstoß zur neuen dt. Volks-(d. h. Adels-)Lit. liegen, ähnlich dem zur lat. Brief- und Geschichtsschreibung (Meinhard von Bamberg, Lampert von Hersfeld, Frutolf von Michelsberg). Das Dt. könnte durch Kenntnis ahd. Werke angeregt sein (über St. Gallen?), aber auch schon von (verlorenen) franz. Ansätzen (über Lüttich, dessen Studieneifer nach dem Willen des Gründers, Heinrich II., für Bamberg vorbildlich sein sollte?), sogar Angelsächsisches oder auch Byzantinisches könnte anregend mitgewirkt haben. Einen ähnlichen, nicht so konsequenten und stärker vom Vorbild lat. Bibel-(Pseudo-) Epik abhängigen, aber sehr kräftigen Ansatz bildet die dt. Wiener Genesis aus. Ort und Zeit bleiben vorerst noch dunkel: Kärnten (so bisher), Regensburg (Menhardt), Mittelrhein (Henschel)? Aus ihm geht vielleicht das Programm und jedenfalls der Anfangs-Bestand der Sammelhss. W — Μ — V hervor. Ein zweiter Ansatz, vielleicht erst um 1080, ist nach Ort und Zeit vorerst ebenfalls noch unsicher: das (alemannische?) Memento mori-Gedicht. Es stellt, mit schwerer Variationskunst ausdrucksvoll gestaltet, die Kürze des irdischen Lebens gegen das ewige Jenseits, damit man auf Erden Minne, d. h. Ubereinkunft wie in einer Familie, oder doch Recht gegen die Armen übe und Reiditum hingebe. Das Gedicht wird entweder, nach dem am Schluß genannten Namen Notker, dem ersten Abt des hirsauischen Zwiefalten zugeschrieben (M. Dittrich, ZfdA. 72, 1935, S. 57-80), aber auch (wegen der Formel minne oder reht, lat. consilium vel judicium) mit der Gottesfriedensbewegung kaiserlicher Bischöfe um 1180 in Zusammenhang gebracht

(Hugo Kuhn, Panzer-Festschr. 1952, S. 29 -37). Geistig ist es jedenfalls wie das Ezzolied noch mehr der Reform Heinrichs III. verpflichtet als der Gregorianischen, seine Wirkung bleibt noch unklar. Einen neuen Strang dt. Dichtung, obwohl sicher· Ezzos Lied verpflichtet, eröffnet um 1080, mitten im Investiturstreit, das (wohl Siegburger) Annolied, jedenfalls nicht mehr sanghaftes, sondern schon historisch-heroisches Lied. Erzbischof Anno von Köln wird als wunderbares Beispiel einer ungewöhnlich lebendig vorgetragenen weltgeschichtlichen Konzeption gesehen: neben der Heilsgeschichte des Gottesreichs (Ezzo) steht nun selbständig die Geschichte der 4 Weltreichsstädte, Geschichte einer ständig erweiterten translatio imperii; zuletzt, schon durch Cäsar eingeleitet (nichts von Karl dem Gr.), bezieht diese translatio von Rom aus die selbst schon alt-historisch angeknüpften Deutschen ein; auch diese Welt-Geschichte aber wird irdisch überhöht durch Petri geistige Weltherrschaft in Rom samt der rückhaltlos bejahten polit. Rolle der dt. Bischöfe — und all das dünkt dem Verfasser nicht zuviel und zu fremd für seinen rein lokalen Zweck, nämlich das aufbegehrende Kölner Patriziat neu für die Bischofsherrschaft in der Stadt zu gewinnen! Vorbilder dieser Geschichts-Konzeption sind im deutsch-franz. Grenzraum zu suchen, und sie wird dann in der Kaiserchronik, umgedeutet, wieder aufgenommen. In der ersten Hälfte des 12. Jh.s sinkt die Kühnheit dieser Neueinsätze mehr oder weniger tief zurück in die erzählende oder allegorisierende Haltung einer religiös-polit. Gebrauchs-Sphäre. Der Anstoß zu ihrer dt.literar. Formung dürfte aber von Ezzos Lied ausgegangen sein. Doch ist Datierung und Lokalisierung vor allem des im Corpus W — Μ — V Gesammelten noch ganz problematisch. Einzelnes, wie Vom Rechte, zeigt doch ausgeprägtes Profil. Um die Mitte des Jh.s wächst nicht nur die religiöse Dichtung in nun allgemeinen literar. Formen nach Masse, Typen und Umfang überraschend an, sondern es entsteht daneben, in noch unerklärter fränk.-bayr. Zusammenarbeit, auch eine neue reichshistor. Epik mit und aus der Kaiserchronik, ζ. T. schon in Auseinandersetzung mit der franz. klerikal-historisch-heroischen Epik. Auch hier ist stofflich und sprachlich-stilistisch der An-

Friihmittelhochdeutsdie Literatur — Frühneuhochdeutsdie Literatur fang zugleich der Höhepunkt: die Katserchronik. Eng mit der religiösen Lit. verbunden — auch die geistlichen Verfasser dieser Gruppe sind ζ. T. noch dieselben wie die der religiösen Lit. (Lamprecht) — bildet sie doch einen eigenen starken Darstellungstyp aus und eine große Konzeption des zeitgenöss. Geschichtsbewußtseins. Ohne Zweifel antwortet beides auf das Drängen nun der (ζ. T. schon ritterlich-kollektiven) Masse des Adels nach einer geistigen Ortsbestimmung für ihre irdischen Aufgaben. In den 1170er Jahren entwickelt sich dann eine Art Schwebezustand zwischen der alten Stoff- und Formenwelt und einer neuen Tendenz einheitlicher Gestaltung, oft in wertvollen individuellen Sonderprägungen. Daneben leitet die zweite Welle franz. Rezeption schon die dritte und' damit die höfische Lit. ein, neben der nur noch vereinzelte Nachzügler frühmhd. Dichtung bis zum Ende des 12. Jh.s auftreten. Hugo Kuhn Frühneuhochdeutsdie Literatur I. § 1. Als f. L. bezeichnet man die Epoche, die von der mhd. zur nhd. Sprache und Dichtung überleitet. Die z e i t l i c h e n Grenzen dieser Lit.-periode sind fließend: es gibt keine Kriterien, die eindeutig bestimmen könnten, wo das Frnhd. beginnen und aufhören soll. a) Die l a u t g e s c h i c h t l i c h e n Hauptmerkmale, die das Nhd. vom Mhd. scheiden, begegnen landschaftlich schon in mhd. Zeit: ihre endgültige Herrschaft wird durch Schreibstube, Kanzlei und Druckerei künstlich geschaffen. Es dauert Jh.e, bis die verschiedenen Schreibdialekte den Widerstand gegen diese sprachliche Uniformierung aufgeben. Auch der Umbruch, der mit dem nationalen Sprachstand im s y n t a k t i s c h e n Gefüge durch das Vordringen der neuen Geschäfts-, Kanzlei- und Rechtsprosa erfolgt und den dt. Satzbau durch peinliche Nachahmung des lat. Vorbildes nach den Gesetzen l o g i s c h e r Periodisierung ausrichtet, ist kein plötzlicher: er setzt im 14. Jh. ein und schreitet langsam voran. Ebensowenig vermag, wer die Dichtung jener Zeit nach s t o f f l i c h e n und f o r m a l e n Scheidelinien mustert, irgend feste Grenzsteine gegen das Mhd. zu entdecken. Denn die alten Stoffe und Formen leben noch lange fort und werden nur ganz all-

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mählich umgebildet, verbürgert: von Schritt zu Schritt tastend, vollzieht sich dieser Prozeß. Will man überhaupt einen zeitlichen Einschnitt machen, dann am besten von g e i s t e s g e s c h i c h t l i c h e m Blickfeld: das Jahrzehnt um 1350 führt mit dem Eindringen der neuen Renaissance-Strömungen in Böhmen unter Karl IV. eine Wende der dt. Kultur herauf. Danach gehören in der dt. Dichtung die ersten Ansätze zu humanistisch-renaissancemäßiger Geisteshaltung u. Formgebung, zumal die schöne Literatur in Prosa wie Der Ackermann aus Böhmen, zur fmhd. Epoche. b) Die untere Grenze hebt sich schärfer ab als die obere. Mit Beginn des 17. Jh.s gleichen sich die s p r a c h l i c h e n Verschiedenheiten mehr und mehr aus. Zwar ist die Einheit der dt. Schriftsprache damals noch keineswegs hergestellt: kann man doch allein auf hd. Gebiet um 1600 noch mehrere Schriftsprachen unterscheiden. Aber auf der anderen Seite dringt die werdende Gemeinsprache auch auf ndd. Boden, wo man sich gegen sie in den letzten Jahrzehnten des 16. Jh.s noch mit Erfolg sträubte, nunmehr ständig vor. Auch g e i s t e s g e s c h i c h t l i c h e und k ü n s t l e r i s c h - f o r m a l e Kriterien weisen auf einen Einschnitt um 1600. Das Zeitalter der Reformation ist im wesentlichen um 1600 abgeschlossen. Die bewegenden Mächte, die die Neuzeit heraufführen, sind Renaissance und Reformation: die Schwelle der Neuzeit muß man also entweder in der Mitte des 14. oder im Ausgang des 16. Jh.s verankern. Das Zwischenglied von 1350-1600 ist ausgesprochene Übergangszeit. Mitten in den Wirren des 30jährigen Krieges bringt das 17. Jh. eine neue Kunstform hervor, indem der Humanismus sich verjüngt, und der neue weltliche Gelehrtenstand sich zum Träger der Lit. macht. Vor dieser gelehrten Richtung weicht die im 16. Jh. so kraftvolle volkstümliche Dichtung zurück. Die neuen Poeten, durch die lat. Schulung der Humanisten formgewandt geworden, lernen seit Opitz, wie nun auch in dt. Sprache gedichtet werden kann und soll. c) Wem also bei der zeitlichen Abgrenzung der frnhd. Lit.epoche mit runden Zahlen gedient ist, der mag sich an 1350 und 1600 halten. Will man nun weiter zergliedern, so ergibt sich das Jh. von 1350 bis 1450

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s ρ r a c h 1 i c h als die Hauptausbildungszeit der werdenden Schriftsprache im Kreise der berufsmäßig Schreibenden, b i 1 d u η g s - und s t i l g e s c h i c h t l i c h als Ubergangszeit der Lit. von der mal. adligen Hofgesellschaft an die neue soziale Schicht des städtischen Bürgertums. Die Periode von 1450-1600 setzt dann den sprachlichen Einigungsprozeß fort und führt die Hochblüte dieser volkstümlichen stadtbürgerlichen Lit. herauf im Wettstreit mit den vorwiegend gelehrten Bestrebungen des jungen Humanismus, die sich nach 1600 siegreich durchsetzen. §2. Die l a n d s c h a f t l i c h e Begrenzung der f. L. läßt sich mit festeren Linien umreißen. Sie umfaßt, wie der Name besagt, das hd., also das gesamte obd. und md. Sprachgebiet: im Südwesten am Oberrhein auf altem Kulturboden das Alemannische, im Südosten im Alpen- und Donauraum das Bayr.-Österr., mit den Hauptorten Basel, Straßburg, Augsburg, München und Wien; und weiter das Md. vom Mittelrhein über Thüringen bis Schlesien. Die md. Deutschordensdichtung (s. d.), die im späten 13. und 14. Jh. auf dem Kolonialboden des Nordosten aufblüht, stirbt im 15. Jh. bald nach Tannenberg (1410) ab. Als später die humanistische Bewegung bis nach Preußen vordringt, stützt sie sich wie im alten Kulturgebiet auf das aufstrebende Stadtbürgertum. Was den Anteil der Landschaften an der Lit. im einzelnen betrifft, so behauptet sich die ganze frnhd. Zeit hindurch das Ubergewicht Oberdeutschlands. Audi die Reformation hat diesen Zustand nicht entscheidend geändert. Erst im 17. Jh. tritt darin eine Verschiebung ein. Das hindert aber nicht, daß auf obd. Gebiet ein gewisser literar. Gegensatz zwischen dem Südosten und Südwesten deutlich wird: während man in Bayern und Österreich noch lange der alten epischen Kunst aus der verklingenden mhd. Zeit huldigt, gibt man sich im Südwesten früher den neuen geistigen Strömungen hin, die in der 2. Hälfte des 15. Jh.s aus Italien, Frankreich und den Niederlanden andringen. Schon vorher, im Ausgang des 14. Jh.s, hatte die neue Kulturbewegung an der Peripherie, nämlich im md. Osten und bald anschließend auch am Niederrhein, Auftrieb erfahren: Orte wie Prag, Leipzig, Erfurt, Köln und niederländ. Städte treten jetzt mit ein in den Wettbewerb um die geistige Füh-

rung. Damit geht die literar. Hegemonie Oberdeutschlands freilich noch nicht verloren, aber der Boden ist bereitet für Bildung und Aufstieg neuer geistiger Kraftzentren. § 3. Bei der s a c h l i c h e n Begrenzung darf man die f. L. nur nach den ihr eigenen Voraussetzungen und Absichten werten. Wollte man moderne Kunstmaßstäbe anwenden, so müßte vieles, namentlich aus der Prosa, von vornherein beiseitegeschoben werden. Anderseits aber ist der Rahmen der Betrachtung bedeutend enger zu spannen als ζ. B. bei der ahd. Lit., wo alle erhaltenen Denkmäler dt. Sprache zu berücksichtigen sind. Die Prosalit., deren Ausbreitung für die frnhd. Epoche so charakteristisch ist, hat nur dann Anspruch auf Beachtung, wenn sie entweder für die Ausbildung der werdenden Gemeinsprache wichtig ist oder durch Vorzüge formal-stilistischer Art aus der Masse hervorragt. Schriften, die nur dem amtlichen und privaten Geschäftsverkehr oder wissenschaftlichen und politischen Zwecken dienen, ohne auf Stil und Geist der Dichtung einzuwirken, scheiden aus. Das gilt auch für die Flut der Flug- und Streitschriften (s. d.), sofern sie nicht wegen ihrer literar. Form oder Gedanken bemerkenswert sind. Umgekehrt darf man an einer zwar nicht dt. geschriebenen, aber künstlerisch bedeutsamen und reichhaltigen Lit. jener Zeit nicht vorübergehen: der neulat. Poesie der dt. Humanisten, sollen nicht Lücken das Gesamtbild der frnhd. Dichtung entstellen (s. Neulat. Lit.). Will man das so begrenzte Gebiet der f. L. nach sachlichen Gesichtspunkten einteilen, so ergibt sich die Gliederung der Darstellung nach allgemeinen Grundlagen, Formen, Stoffen und Gattungen von selbst. II. § 4. Uberblickt man die Gesamtentwicklung der frnhd. Dichtung und vergleicht man sie mit der voraufgehenden Epoche, so erhebt sich die Kardinalfrage: wie kommt es, daß im Laufe des 14. bis 16. Jh.s das Literaturbild der mhd. Blütezeit sich so von Grund auf wandelt? Die Antwort kann nur lauten: das ist eine Folge der tiefgreifenden wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Umwälzungen, die sich in jenem Zeitraum vollziehen. Die wirtschaftlich-soziale Umschichtung hätte nicht in dem Umfang sich auswirken können, wenn nicht mit ihr die

Frühneuhochdeutsdie Literatur geistigen Strömungen und Wandlungen Schritt gehalten oder gar sie vorbereitet hätten. Es ist nun üblich, die gründliche Umstellung, die an der dt. Dichtung während der Ubergangszeit vom MA. zur Reformation vor sich geht, mit dem kargen Hinweis zu erklären, daß in jener Epoche das Rittertum als Träger der Lit. aus seiner sozial und kulturell führenden Stellung durch das emporgekommene Bürgertum verdrängt worden sei. Gewiß, die Tatsache stimmt, genügt aber nicht zur Erklärung. a) Seit dem 14. Jh. verlieren die beiden großen, beherrschenden Mächte des MA.s, Kaisertum und Kirche, ihren alten universalen Charakter und geraten in fortschreitenden Verfall. An ihre Stelle drängt sich die gestaltenreiche Welt der Territorien und Städte, und auch die Kirche scheidet sich nach Nationen. Dieser staatsrechtlich-kirchenpolit. Vorgang sdiafft jedoch nur die Vorbedingungen, den Rahmen für die wirtschaftliche und soziale Umschichtung und Entwicklung der werdenden Neuzeit. Zu gleicher Zeit aber werden andere Kräfte wirksam, die das wirtschaftliche Leben von sich aus umgestalten: bis zum Beginn des 14. Jh.s mußte Deutschland den größten Teil seiner wirtschaftlichen Energie für den kolonisatorischen Ausbau des Landes aufwenden, um durch Nutzbarmachung der natürlichen Hilfsquellen ein geschichtliches Dasein zu ermöglichen. Erst nach Abschluß dieses Prozesses konnten die Länder den Austausch ihrer Erzeugnisse durch Handel organisieren. Das aber sind die ersten Anfänge zur Weltwirtschaft der Neuzeit. Also auch auf wirtschaftlichem Gebiet leitet das 14. Jh. die neuzeitliche Entwicklung ein: erst in diesem Säkulum tritt Deutschland in den Welthandel ein. Im Norden erschließt die Hanse die Verkehrswege zu Wasser und zu Lande, den Westen mit dem Osten und Norden verbindend. Sie strahlt in ihrer Blütezeit im 14. und 15. Jh. auch im geistig-kulturollen wie sprachlich-literar. Bereich ihren Einfluß weit aus in den skandinavischen Norden und slavischen Osten. Auch auf den hd. Wortschatz hat die ndd. Geschäfts- und Rechtsprosa eingewirkt und bis heute ihre Spuren hinterlassen in Wörtern wie Stapel, fett, sacht (s. Ndd. Lit.). Im Süden entwickelt sich gleichzeitig ein reger Verkehr mit den ital. Städten, die

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ihrerseits bereits den oriental. Handel an sich gezogen haben. Im Westen steigert der Rhein seine alte Bedeutung als Reiseweg nach den Niederlanden und England. Und mit dem Außenhandel hält der Binnenhandel Schritt. So wird Deutschland im 14. Jh. dank seiner Lage ein Verkehrsland großen Stils. Industrien kommen auf in Stadt und Land, und neue Städte entwachsen dem Boden. Handel und Industrie aber bilden eine neue Wirtschaftsform und soziale Schichtung aus: das kapitalistische Unternehmertum. Nun gedeiht in den Städten Reichtum und Wohlfahrt: der neue Stand des städtischen Patriziats baut sich auf, der sich nicht mit der wirtschaftlichen Machtstellung begnügt, sondern auch die polit. Führung an sich bringt. So sind um 1400 in allen aufblühenden Städten die jungen Patriziergeschlechter Inhaber und Träger der städtischen Verfassung und Macht. Das aber bedeutet einen Sturz der alten Gewalten, nicht nur im wirtschaftlich-staatlichen, auch im geistig-kulturellen Leben. Dies ist der tiefere Grund, weshalb seit dem 14. Jh. auch die Pflege der Dichtkunst an das Bürgertum, zunächst an das führende Patriziertum, dann an das Stadtbürgertum schlechthin übergeht. Daß das Rittertum gleichzeitig auch seine frühere militärische Rolle ausgespielt hat, untergräbt natürlich auch seine alte Vormachtstellung, ist aber nicht von so entscheidendem Gewicht. Das literar. Interesse der höfischritterlichen Kreise ist zwar bis ins 16. Jh. noch rege, doch ihr Lebensgefühl entspricht nicht mehr der alten Ethik von 1200, ist realistischer, skeptischer, dem Geist der werdenden Neuzeit ergeben. b) Ebenso umwälzend sind die g e i s t i g e n Wandlungen jener Ubergangszeit: Mystik, Renaissance, Humanismus, Reformation. Die M y s t i k (s. d.) ist freilich keine neue und auf dt. Boden beschränkte religiöse Bewegung. Sie hat ihre tiefsten Wurzeln in den neuplatonischen Stimmungen der spätgriech. Philosophie, die als letzte Stufe religiöser Erkenntnis das unmittelbare geistige Erschauen der Gottheit lehrt und den Umgang mit der übersinnlichen Welt durch Visionen und übernatürliche Offenbarungen begünstigt. Die wissenschaftliche Durchbildung erhält die Mystik in Nordfrankreich im Anschluß an die Lehren des

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heiligen Bernhard, der von der Meditation zur Kontemplation, von der Magie zur Vision fortschreitet, indem im 12. Jh. Hugo und Richard von St. Viktor ein förmliches System frommer Erhebung entwerfen. Die beiden großen religiösen Erwecker des 13. Jh.s, Joachim von Fiore und Franz von Assisi, erheben dann mit dem Anhang ihrer Nachahmer und Schüler, der Spiritualen, die von ihnen erneuerte und verkündete Frömmigkeit auf den Schild gegen die hierarchische Herrschsucht der Kirche. Und im 14. Jh. wird die Bewegung nach der philosophischen, kirchlichen und erbaulichen Richtung weiter vertieft. Erneuerung des Christenmenschen und der Kirche: diese alte Forderung wird neu beschwingt. In den ersten Jahrzehnten des 14. Jh.s breitet sich die Mystik vom Oberrhein über ganz Deutschland aus, nur dem östlichen Kolonisationsgebiet bleibt sie fremd. Zum Hort der neuen Strömung werden die Dominikanerklöster; doch auch die Minoriten sind nicht lässig: sie werden die Prediger und Berater des städtischen Bürgertums. Das reiche, von gleicher Gedanken- und Gefühlswelt getragene Schrifttum der Mystiker ist, im Gegensatz zur Scholastik, in dt. Sprache verfaßt und in neuen Formen wie Spruch, Brief, Prosatraktat und Lebensbeschreibung auf dem Weg zu echter Volkslit. So treibt die dt. Mystik im 14. Jh. die schönsten Blüten. Wie die Seelen der unzähligen Gottsucher, so geben sich auch die Denker und Künstler dem Zauber mystischen Erlebens hin. Indem die führenden Mystiker ihren Empfindungen in gedankentiefen Predigten, Erbauungsschriften und Briefen Ausdruck geben, wird die Lit. nachhaltig befruchtet: sie verdankt ihnen die schönsten Prosadenkmäler vor der Reformation, gleich wertvoll an Gedankentiefe, religiöser Innigkeit wie sprachbildnerischer Fülle. In ihrer Sprache wurzelt unsere moderne Kunstprosa: ihr Wortschatz mit seiner Ummünzung lat.-theologischer und philosophischer Termini in echtes Deutsch legt den Grund zur neueren Wissenschaftssprache; die Vergeistigung, Beseelung, der Bilderreichtum und die rhythmische Gestaltung ihrer Sprache wirkt bis in die neuere dichterische Prosa nach. Zum Ende des 14. Jh.s verliert die mysti- 1 sehe Bewegung ihren Schwung, bis sie um ,

die Mitte des 15. Jh.s zu spitzfindiger Reflexion erstarrt. Doch ein Werk verdient noch unsere Aufmerksamkeit: die Theologie deutsch (um 1400) des sog. Frankfurters, ein Büchlein, vom Geist Meister Edcharts durchströmt, von Luther hoch geschätzt und durch seine Drudeausgaben (1516 und 1518) weit verbreitet Die zweite neue Macht, die inmitten des Zusammenbruchs der mal. Kultur entsteht, ist die R e n a i s s a n c e . Auch sie keine absolut neue Geistesbewegung: humanistische Strömungen ziehen sich durch das ganze MA., nicht nur zur Zeit der Karolinger und Ottonen und im Frankreich des 12. Jh.s, bald mehr im Verborgenen, bald mehr sichtbar wirkend. Freilich können sie sich an Wucht nicht mit dem Hauptstrom der eigentlichen Renaissance messen. Das neue Weltbild der Wiedergeburt aus dem Geist der Antike wird zuerst in Italien lebendig im Zeitalter Dantes, Petrarcas und Rienzos. Von dort aus ergreift dann im 15. und 16. Jh. das ganze Abendland das Verlangen nach einer Neugestaltung der Kultur im öffentlichen und geistigen Leben, in Staat und Kirche, in Wissenschaft und Kunst, nach einer Neuformung auch der sozialen und sittlichen Zustände. Die neu gegründeten, aufblühenden Universitäten werden der Hort der jungen Bewegung. In Frontstellung gegen das MA. will man im besonderen dem Individuum eine neue Wertung erringen durch Steigerung und Vertiefung des Persönlichkeitsgedankens. Die Sonne der Antike soll zu neuen Zielen voranleuchten. So sind in Wahrheit die modernen Mächte Humanismus und Renaissance eine Einheit, mag auch die übliche Begriffsbestimmung sie scheiden und jenem mehr die gelehrt-literarische, dieser die künstlerisch-ideengeschichtliche Unterbauung des Kulturumschwungs zuweisen. Die Keime der jugendfrischen Bewegung verpflanzen Rienzo und Petrarca nach Böhmen, wo sie am Hofe und im Kreise Karls IV. und seiner Beamten, seines Kanzlers und Kanzleipersonals empfänglichen Boden finden. So bahnt sich in Deutschland schon im 14. Jh. die geistige Wandlung an, und die Grundlage für die Entwicklung zur modernen Welt wird geschaffen. Dies Jh. ist also nicht nur eine Epoche allgemeinen Verfalls: es leitet auf wirtschaftlich-sozialem wie gei-

Frühneuhochdeutsdie Literatur stigem Gebiet den Übergang vom MA. zur Neuzeit ein. Dem jungen böhm. Humanismus gelingt bald nach 1400 ein literar. Kunstwerk in dt. Prosa, wie es die 300 Jahre der Renaissance und Reformation nicht wieder hervorgebracht haben und in seiner Art überhaupt nicht mehr erreicht worden ist: Das Streitgespräch zwischen dem Ackermann aus Böhmen und dem Tod. Wohl wird das eigenartige Werk in seiner Bedeutung schon von den Zeitgenossen erkannt, wie seine reiche Uberlieferung bezeugt: aber der Geist jenes unverbildeten frühen dt. Humanismus trägt keine weiteren Früchte. Die humanistische Poesie des 15., 16. und frühen 17. Jh.s erschöpft sich mit wenigen Ausnahmen in strenger Nachbildung antiker Muster und entfremdet sich der deutsch-volkstümlichen Literatur. Schon die zweite Welle der dt. Renaissance, etwa 50 Jahre später zunächst wiederum von Böhmen aus mit der Wirksamkeit des in der Hofkanzlei tätigen Enea Silvio einsetzend und dann nach dem dt. Südwesten sich fortbewegend, wird getragen von dem Dogma der absolut geltenden Norm der Antike, wie es inzwischen in Italien herrschend geworden war. Die gelehrten Ubersetzungen wie die Steinhöwels, Albrechts von Eyb und des Niklas von Wyle atmen nicht mehr den gesund heimatlichen Geist des frühen böhm. Humanismus. Sie huldigen, wenn auch in verschiedenem Grade, doch vorwiegend dem fremden Ideal in Sprache und Stil. Erst die schwäb. Humanisten, an ihrer Spitze die Tübinger Heinrich Bebel, Nicod. Frischlin und als letzter Friedr. Herrn. Flayder, stellen den Anschluß an die volkhaft-nationale Uberlieferung wieder her. Führende Humanisten wie Conrad Celtes, Eobanus Hessus, Crotus Rubeanus haben dichterische, Reuchlin und Copernikus wissenschaftliche Werke von Rang geschaffen, Erasmus hat den höchsten Stand geistigwissenschaftlicher Kultur erreicht, während Jak. Wimpfeling, Ulrich von Hutten u. a., von einem heißen patriotischen Eifer beseelt, sich der nationalen Geschichts- und Geographieschreibung widmen: eine Germania illustrata im Sinn einer umfassenden Landes· und Volkskunde nach dem Vorbild des Tacitus ist das hohe Ziel, dem diese Humanisten zustreben. Ihnen ist zu danken, daß

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das dt. Nationalbewußtsein gestärkt wurde. Aber da sie in einer Sprache schreiben, d i e weite interessierte Kreise des Volkes nicht verstehen, bleibt ihre Wirkung auf die gelehrte Welt beschränkt. Denn das Gros der Humanisten wendet sich ab von der heimischen Lit. So kann sich die literar. Renaissance in der dt. Poesie und Prosa nicht auswirken und ist auf die lat. dichtenden Poeten angewiesen. Dadurch gerät die dt. Bildung in einen verhängnisvollen Zwiespalt: heimatlich-volkstümliche und gelehrt-lat. Dichtung stehen nun einander fremd gegenüber, bar der Mittel und Möglichkeiten eines versöhnenden Ausgleichs. Und an diesem Gegensatz werden beide siech. Der H u m a nismus erstarrt in seiner einseitigen Tendenz zur Wiedererweckung des klassischen Altertums, und die neulat. Poesie verliert mit ihrer immer strenger werdenden Nachprägung antiker Formen und Vorbilder den frischen, warmen Zustrom der nationalen Uberlieferung. Zugleich werden die Kunstwerke der mhd. Lit.-blüte vernachlässigt und fortschreitendem Verfall preisgegeben, seitdem ihr früherer Träger, das höfische Rittertum, dem Stadtbürgertum das Feld hat überlassen müssen. So sinkt die dt. Dichtkunst in der handwerkigen Übung der dichtenden Bürger in formlos roher Sprache, in Vers und Prosa, immer tiefer. Die Tradition der alten Kunst stirbt ab, und die Ansätze zu einer neuen dt. Dichtersprache bleiben bis tief ins 16. Jh. hinein schwach. Nichts bezeichnet den Verfall der alten Kunstform eindrucksvoller als die plumpen Umarbeitungen mhd. Gedichte in der handschriftlichen und gedruckten Uberlieferung des 15. und 16. Jh.s. Und über diesen Niedergang der Kunstform darf auch der urwüchsige Charakter der Sprache mit dem Reichtum an Sprichwörtern voll sinnlicher Kraft und an poetisch-frischen Bildern nicht hinwegtäuschen. Den Zerfall der poet. Form vermag auch die große religiöse Umwälzung des 16. Jh.s nicht aufzuhalten. Wie vorher seit dem 14. Jh. die dt. Lit. aus den das Geistesleben umgestaltenden Wirkungen des Humanismus im Sinne einer künstlerischen Aufgipfelung des Formwillens und Stilgefühls nur mageren Gewinn zieht, ebensowenig führt die R e f o r m a t i o n eine Verfeinerung des literarisch-ästhetischen Geschmacks herauf: kein

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neues Zeitalter dt. Poesie beginnt, vielmehr setzt sich im ganzen der dichterische Tiefstand des 14. und 15. Jh.s fort. Hervorragende Einzelleistungen sind vorhanden, aber sie vermögen dem Gesamtbild der Lit. des 16. Jh.s nur einige erfreuliche Züge einzuzeichnen. Die Reformation verbindet sich mit dem Urquell der national-volkstümlichen Lit. in gleicher Weise wie mit den Bestrebungen des Humanismus. Dadurch werden die humanistische und die volkstümliche Richtung nach außen vereinigt, aber innerlich nicht ausgeglichen. Einzelne Gattungen wie das Kirchenlied, die Satirik, Didaktik und das Drama blühen unter den Impulsen des kirchlichen Kampfes auf, wie überhaupt die ganze Lit. sich inhaltlich mehr als die gleichzeitige Bildkunst nach dem Stande und den Zielen der reformatorischen Bewegung in Zustimmung oder Ablehnung orientiert: sie wird Tendenz- und Streitdichtung. Aber von einer inneren Erneuerung ist im literar. Leben der Reformationszeit auf dt. Boden wenig zu spüren. Wie sich die Renaissance erst in der dt. Gelehrtendichtung des 17. Jh.s auswirkt durch Umbildung der poet. Kunstform, so fallen die letzten Schranken der durch die Reformation errungenen geistigen Freiheit erst im 18. Jh. § 5. Spannen wir den Rahmen enger und stellen die Frage nach D i c h t e r und P u b l i k u m , dann zeigt das Lit.-bild der frnhd. Zeit folgende charakteristischen Züge: das Schrifttum ist ausgesprochen männlich, von Männern und in erster Linie für Männer geschrieben. Abgesehen von der Mystik sind Frauen kaum schöpferisch beteiligt, und die meisten Dichter, voran die Humanisten, wenden sich vorwiegend an ein männliches Publikum. Nur einzelne Gattungen der Unterhaltungslit., ferner das geistliche und volkstümliche Lied sind auch für weibliche Kreise berechnet. Die Umschichtung der sozialen Standesverhältnisse mußte die bevorzugte Stellung, deren sich die Frau, die Herrin in der mal. höfischen Gesellschaft erfreute, mehr und mehr erschüttern, ohne daß die Bürgerfrau sogleich ihren Platz einnehmen konnte. Falsch wäre jedoch die Vorstellung, als ob mit dem Verfall des Rittertums das Bürgertum allein die Lit. gefördert hätte. Mit dem Niedergang der kaiserlichen Macht

steigt die Gewalt der Landesfürsten, die sie nach beiden Fronten, nach oben und unten, befestigen, bis sie mit den polit. auch die geistigen Bewegungen beherrschen. Fällt doch durch die Reformation den protestantischen Landesherrn neben ihrer weltlichen Macht auch die höchste kirchliche Autorität zu. So behaupten oder gewinnen die Fürstenhöfe, wie ζ. B. der pfälzischen Wittelsbacher, auch für das literar. Leben jener Ubergangszeit einen nicht zu unterschätzenden Einfluß: gerade im 15. Jh. wird die neue Unterhaltungslit. vom Hofadel gefördert. Und hier weiß auch die Frau ihre alte Stellung als Schirmherrin der Kunst noch zu wahren, wie das Beispiel der geistvollen Pfalzgräfin Mechthild, „der Liebhaberin aller Künste", am sichtbarsten beweist. Die Höfe bereiten nicht nur der absterbenden Dichtung ritterlichen Gepräges eine Pflegestätte, sie schließen sich auch den neuen literarischen Strömungen auf wie dem Humanismus. Kulturzentren wie in Italien werden diese Fürstenhöfe freilich nicht. Dazu fehlte das Milieu eines künstlerisch interessierten und empfänglichen Ritterstandes, mußte fehlen, weil der literar. Gesamtstil der Zeit ein anderer, eben bürgerlich-volkstümlich geworden war. Die Dichter sind nicht mehr wie im MA. Geistliche und Ritter, sie sind mehr oder weniger gebildete Laien von hoher wie niederer bürgerlicher Stellung; erst die Reformation führt wieder das geistliche Element auf den Plan. Und wie die Dichter, so das Publikum. Selbst die Berufspoeten verziehen von den Höfen in die Städte, wo sie in den Reihen des wohlhabenden Bürgertums ihre Gemeinde finden. Das ästhetische Bedürfnis aber dieser Stadtbürger ist nicht eben hoch: das alte höfische Bildungsideal hat die Umschichtung der Standesverhältnisse nicht überdauert, und eine neue gesellschaftliche und künstlerische Kultur muß erst wachsen. Schwer wiegt dabei, daß die jungen Triebe der Renaissance auf dt. Boden nur in der Bildkunst und der lat. Gelehrtenpoesie ansetzen. Die Dichtkunst büßt im poetischen Ausdrucksvermögen, in Metrik, Rhythmus und Stil alte Werte ein, ohne neue zu schaffen. Wie das ganze Zeitalter ungeschminkt natürlich und derb ist, so auch die Lit., die vom Stoffinteresse, nicht vom Formwillen beherrscht

Frühneuhochdeutsdie Literatur wird und der Tendenz dient. Wie der Bürger ist auch das Schrifttum, dem sein Interesse gilt, nüchtern und auf praktisch-reale Ziele oder anspruchslose Unterhaltung gerichtet: keine Kunst im strengen Wortsinn, nur ein literar. Handwerk. § 6. Auf den neuen ausgedehnten Leserkreis und sein Bildungsniveau stellt sich auch die Ü b e r l i e f e r u n g der f. L. ein: der billigen und schnellen Vervielfältigung, auf die es jetzt ankommt, dient die Massenherstellung gewöhnlicher Papierhss., dann auch die seit der zweiten Hälfte des 15. Jh.s neu entdeckte Technik des Buchdrucks in zunehmendem Maße. Die Hss. des 14. Jh.s überliefern noch vorwiegend Werke aus dem Kreise des mhd. höfischen Epos, das aber nach der Mitte dieses Jh.s immer mehr aus der Überlieferung verschwindet, weil es seinem ganzen Charakter nach dem Wandel der Bildung und des Lebensgefühls sich am wenigsten anpassen kann. So hebt sich also auch vom Gesichtsfeld der Überlieferung aus die Zeit um 1350 als Grenzlinie zweier literar. Epochen ab. Viel länger werden die mhd. didaktischen Gedichte gelesen und abgeschrieben, so namentlich die 2. Hälfte des 14. und weiterhin das ganze 15. Jh. hindurch. Das 15. Jh. ist überhaupt die Blütezeit der Hss.-Produktion und vor allem des Hss.-Handels: die moderne Entwicklung im Buchwesen, getrennt nach Verleger und Handel, hat damals begonnen. Neben der preiswerten Papierhs. ist auch der kostbar ausgestattete Luxuskodex von fürstlichen und reichen bürgerlichen Herren begehrt. Daran ändert auch der Buchdruck vorerst nichts: die rege Schreibertätigkeit hält an, zumal das neue, noch unvollkommene und rohe Druckverfahren den verwöhnten Geschmack nicht befriedigen kann. Die Vorstellung, als habe der Buchdruck mit einem Schlage die Hs. außer Kurs gesetzt, ist irrig. Erst gegen die Mitte des 16. Jh.s überflügelt der Druck die Hs. Der Buchdruck kommt sogleich den literar. Neigungen und Erzeugnissen der breiteren Schichten des Volkes entgegen und ermöglicht dem Schrifttum eine Massenwirkung. Die zunehmende Verbreitung der Schulbildung unter den Laien hilft den Erfolg sichern. Damit aber verdrängt die stille Einzellektüre den früher üblichen Vortrag vor größerem Hörerkreise. Wissen und BilReallexikon I

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dung, bis zu Gutenberg das Vorrecht der gesellschaftlichen Oberschicht, gewinnen durch den Buchdruck das Mittel einer bis dahin unmöglichen Breiten- und Tiefenwirkung. Religiöse, politische, soziale Ideen wie literar. Werke werden durch die neue Technik schneller, unbegrenzter Vervielfältigung zu einer geistigen Macht völkerbeherrschenden Ausmaßes. Die „schwarze Kunst" erscheint so unheimlich, daß sie als Teufelswerk verdächtigt wird. Mit einem Schlage wird die jahrtausendalte Form der Mitteilung, das gesprochene oder geschriebene Wort, durch die gedruckte „Zeitung" verdrängt. Für den abendländischen Geist, in Renaissance, Humanismus und Reformation nach Freiheit und Selbstverantwortung strebend, kommt die Erfindung zur rechten Stunde: Bücher wie Laus stultitiae des Erasmus, Epistolae obscurorum virorum oder Luthers Streitschriften erreichen Auflagen, die in kurzer Zeit hoch in die Tausende gehen. An den Hauptorten des frühen Buchdrucks (Straßburg, Basel, Augsburg, Nürnberg, Mainz, Köln, Wittenberg) entwickelten sich lokale Druckersprachen: Spracheinheiten, in Einzelheiten noch mundartlich gefärbt, aber als Ganzes über den landschaftlichen Idiomen stehend. So zeigen Druckwerke, aus verschiedenen Mundartgebieten stammend, damals bereits ein im ganzen angeglichenes Sprachbild. Daher haben die Druckersprachen -für die geschichtliche Entwicklung der nhd. Schriftsprache eine nicht zu unterschätzende Bedeutung: sie wurden bis heute zum Hauptträger unserer Schriftsprache. Auch für die des Lesens Unkundigen wird gesorgt: ihnen erleichtert die beigegebene Illustration, meist in Holzschnitt, das Verständnis. Dadurch wieder ergeben sich enge, oft aufschlußreiche Wechselbeziehungen zwischen Wort und Bild. Wo führende Verleger Wert auf künstlerisch anspruchsvolle Illustrierung durch erstklassige Holzschneider legen, wird die Buchausstattung sogleich auf einen hohen Stand gehoben. III. Die f. L. verfügt über zwei F o r m e n : Vers und Prosa. Den Reimvers hat sie aus der mhd. Epoche übernommen, während das Aufkommen der dt. Prosa, die in mhd. Zeit im ganzen selten und auf bestimmte Gattungen wie geistliche Predigt und Traktate sowie weltliche Lehrbücher und S3

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Frühneuhodidentedie Literatur

Rechtslit. beschränkt ist, ein hervorstechendes Charakteristikum gerade der fmhd. Lit.Epoche ist. § 7. Der frnhd. Reimvers kennt eine zweifache Technik: die e i n e erstrebt alternierenden Rhythmus, d. h. regelmäßigen Wechsel von Hebung und Senkung; sie beginnt mit Konrad von Würzburg und endet bei dem silbenzählenden Schablonenvers des Hans Sachs: nach des Meistersängers Adam Puschman Bezeichnung der „gemeine dt. Vers" Die Freiheiten des mhd. Verses werden aufgegeben, nur die Auftaktpause wird geduldet; die Silbenzahl ist fest: 8 Silben bei stumpfem, 9 bei klingendem Ausgang. Bei dem der dt. Sprache eigenen jambischen Tonfall ergab sich bei 4 Hebungen die feste Silbenzahl von selbst. Die epische, didaktische und dramat. Dichtung verwendet diesen Normalvers so gut wie ausschließlich. Die Harmonie zwischen Wort-und rhythmischem Akzent wird nicht immer gewahrt und ist individuell verschieden, wie überhaupt die Verskunst jedes Dichters für sich betrachtet werden muß. Auch sollte man scheiden zwischen metrischem Schema (Alternation fürs Auge) und freiem Vortrag (natürliche Wortbetonung fürs Ohr). Die sprachliche Unsicherheit leistete der metrischen Disharmonie Vorschub, die aber unbedingt nach dem damaligen Sprachstand beurteilt werden muß; denn die Akzentstärke, ζ. B. der Ableitungssilben und zweiten Kompositionsglieder, war eine andere als heute. Das gilt auch für den Meistersang (s. d.), der im übrigen auf die Rhythmik verheerend wirkte. So kommt es, daß in der Metrik damals Theorie und Praxis oft wenig übereinstimmen. Die a n d e r e Technik wahrt die alten Freiheiten der Versbehandlung; Synkope der Senkung wird freilich auch von ihr mehr und mehr gemieden. Die Silbenzahl ist nicht fest, der Rhythmus nicht alternierend, die natürliche Wortbetonung also weniger in Gefahr. Diese Technik bevorzugt die volkstümliche Dichtung im engeren Sinne, also vor allem das weltliche und geistliche Volkslied. Im übrigen werden die beiden Techniken nicht immer auseinandergehalten; vielmehr kann man bei vielen Dichtern ein Schwanken zwischen der strengen und freien Richtung beobachten.

Die Versuche, n e u e metrische Formen, ζ. B. antike Versmaße, in die dt. Dichtung einzuführen, haben bis in den Ausgang des 16. Jh.s wenig Erfolg und nur episodenhafte Bedeutung. Erst im 17. Jh. werden durch die Gelehrtenpoesie der dt. Metrik neue Wege gewiesen, nachdem in den letzten Jahrzehnten des 16. Jh.s die Grammatiker wie Albertus, ölinger und Clajus sich theoretisch mit metrischen Problemen beschäftigt hatten. Mithin bedeutet die Wende vom 16. zum 17. Jh. auch für die Metrik einen Neubeginn. Wie zu erwarten ist die fmhd. R e i m t e c h n i k nicht aus einheitlichem Guß. Ein großer Prozentsatz der Bindungen ist nur vom Lautstand der Mundart als rein zu betrachten, wodurch das Reimbild recht buntfarbig wird. Je nach Bedarf und Geeignetheit erscheinen schriftsprachliche oder mundartliche Sprachformen. Unreine Reime, Assonanzen und andere Ungenauigkeiten sind im ganzen selten, am häufigsten bei Fremdwörtern und Eigennamen. Der Uberlieferung folgend, wird einsilbiger Reim bevorzugt, schon im 14. Jh. bis über 80%, im 16. Jh. bis 95 und 100%; aber eine nicht unbedeutende Gruppe von Dichtern steht außerhalb dieser Tradition und verwendet für ein Drittel (ζ. B. Scheit und Murner) bis fast zur Hälfte (ζ. B. Burkard Waldis und Fischart) weiblichen Ausgang, damit also den alten Stand von 1200 erreichend. Die besonderen Spielarten, wie sie die mhd. Reimtechnik namentlich im Minnesang ausprägte, retten sich bis ins 16. Jh. hinüber, bald häufiger (ζ. B. im Meistersang), bald seltener: gleitender und erweiterter, gespaltener und rührender, Drei- und Vielreim, Binnen- und Schlagreim, Reimbrechung und Enjambement. Ist die R e i m t e c h n i k im allgemeinen glatt, so ist man in der Reimk u n s t weniger empfindlich: die gleichen Reimtypen, -Wörter und -bänder folgen dicht aufeinander, ohne daß man darin eine Schwäche des Reimvermögens und Armut des Reimschatzes erblickt hätte. Mitunter sind solche Wiederholungen auch ein beabsichtigtes Stilmittel (Lautmalerei). Häufig steht der zweite Vers nur des Reimes wegen da, und ganze Verspaare kehren in fester Formulierung wieder, indem ein Reimwort eine ganz bestimmte Wendung auslöst. Zu s t r o p h i s c h e n Gebilden greifen nur einige Dichtgattungen wie Meistersang,

Frühneuhodbdeutsdie Literatur das volkstümliche, historische und kirchliche Lied; dabei werden außer dt. auch gern antike und roman. Vorbilder kopiert. § 8. Die andere Form, die P r o s a , für die mhd. Epoche von untergeordnetem Rang, gewinnt im Laufe der frnhd. Zeit Schritt um Schritt an Boden, bis sie gleichberechtigt neben der älteren Schwester steht. Seit dem 14. Jh. wächst der schriftliche Verkehr in dt. Prosa zu einer beherrschenden Kulturmacht an, der alle Geistesgebiete Untertan werden: Wissenschaft, Recht, staatliches und privates Geschäftsleben und Dichtkunst. In der Lit. werden die alten Versepen in Prosaromane aufgelöst, beliebte Gattungen, wie Schwank und historische Chronik, vorwiegend in Prosa dargestellt, neben religiöse Erbauungsschriften tritt die Bibelübersetzung (s. d.), und einen breiten Raum nimmt die Ubers, antiker Schriftsteller ein. Das künstlerische Niveau der frnhd. Prosa ist im allgemeinen nicht hoch: die mhd. Kunstsprache ist mit der höfisch-ritterlichen Bildung und Poesie verwelkt, die neue Schriftsprache erst im Werden. Nur einige Denkmäler wie der Ackermann-Dialog und Luthers Bibelübersetzung, Flug- und Streitschriften überragen an bildnerischer Kraft und Fülle des sprachlichen Ausdrucks die Masse des zeitgenössischen Prosaschrifttums. § 9. Die Einigung der dt. Schriftsprache ist ein Vorgang, der fünf Jh.e umspannt: er setzt im 14. Jh. ein und wird erst im 18. zu einem gewissen Abschluß gebracht. Die Grundlage wird in dem Jh. von 1350 bis 1450 gelegt auf ostmd. Boden durch berufsmäßig Schreibende. Die neue Geschäftssprache ist ein durch Konvention geschaffenes Kunstprodukt: im Lautstand eine Mischung obd. und md. Elemente, in der Syntax und im Stil eine weitgehende Nachahmung der lat. Prosa. Im Vokalismus verbindet sich die bayr.-österr. Diphtongierung, ζ. B. mhd. min > nhd. mein, hüs > Haus, vriunt > Freund mit der md. Monophthongierung, ζ. B. mhd. liep > nhd. lieb (gesprochen ΐ), muot > Mut, gemüete > Gemüt, wozu ein hochfränk. Konsonantenstand und eine gewisse Restitutionstendenz zur Einschränkung und Regelung der e-Apo- und Synkope sich gesellen. Diese lautlichen Vorgänge bilden den Kern der sprachlichen Einigungsbewegung. Aber ebenso bedeutsam ist die Neuformung des syntaktischen und stilistischen Satzgefüges durch

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Nachahmung des lat. Vorbildes, wie sie durch die humanistische Übersetzungslit. aufkam und nachhaltig gefördert wurde. Dei Satzbau, selbst der für den Gebrauch der untersten sozialen Schicht bestimmten Formulare, wird nun dem lat. Muster genau nachgeprägt, sogar bis zur Rhythmisierung des Satzschlusses, der nach den Regeln des sog. Cursus akzentuiert wird. Von den Kanzleien findet die neue, wenigstens in ihren äußeren Umrissen feste Schriftsprache Eingang in die Lit., und durch Luther erlangt sie allgemeinste Geltung. Nicht als ob der Reformator von sich aus die schriftsprachliche Einigung angestrebt hätte: sein Ziel war die Erneuerung der Kirche, nicht der Sprache; er übernahm die Sprache der kursächs. Kanzlei und blieb zeitweilig hinter der sprachlichen Entwicklung zurück. Aber durch das große Werk seiner Bibelübersetzung, ein Geschenk für das ganze dt. Volk, an schöpferischer, lebendiger Sprachkraft unerreicht bis auf den heutigen Tag, förderte er tatsächlich den sprachlichen Einigungsprozeß wie kein zweiter. Das neue Gewand war nun fertig, es fehlten nur noch die Verzierungen, die das 17. und 18. Jh. zu liefern hatten. Seitdem hat sich der lautliche Zustand im ganzen wenig geändert, aber im syntaktischen Gefüge, in der Steigerung der künstlerischen Ausdrucksfähigkeit sowie in der Bereicherung des Wortschatzes ist unsere moderne Schriftsprache weit über die frnhd. Anfänge und das Zeitalter Luthers hinausgekommen. Die mhd. Lit.sprache war eine Sprache des gesprochenen Wortes, des für das Ohr berechneten Vortrags; die nhd. Prosa ist eine Sprache der Schrift, der für das Auge bestimmten Lektüre. IV. Der mhd. Dichter legt weniger Wert auf den S t o f f , auf die Erfindung als auf neue Auffassung und Darstellung des bekannten Vorwurfs. Anders der frnhd. Autor: er will durch den Inhalt, weniger durch die Form wirken. Man sollte deshalb erwarten, daß die frnhd. Lit.epoche mit einer ergiebigen stoffschöpferischen Leistung auftreten könne. Das aber ist nicht durchweg der Fall: die Dichtung der Ubergangszeit zehrt noch lange vom überkommenen Stoffgut, und wenn sie Neues gestaltet, dankt sie das oft fremder Erfindung oder Anregung. 33'

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§ 10. Die Abgrenzung des literar. Besitzstandes der frnhd. Zeit ist schwierig: manches, was im-14. u n d 15. Jh. noch lebendig ist, geht dem 16. Jh. verloren; und umgekehrt ist manches dem 14. und 15. Jh. noch imbekannt, was das folgende Jh. neu aufzuweisen hat. Die Linie der literar. Tradition reißt vor dem 16. Jh. an mehreren Stellen ab. Aber der Urgrund des Schrifttums des 16. Jh.s baut sich doch auf dem Vermächtnis der beiden voraufgegangenen Jh.e auf, nur daß alles ins Volkstümliche gewendet wird: so lebt fort die mhd. Heldenepik, oft freilich merkwürdig umgebildet zu Prosaromanen; altes Gut aus mhd. Spruch und Lied bewahrt das Meister- und Volkslied, und ebenso setzen das geistliche und Fastnachtspiel, Didaktik und Allegorik alte Uberlieferung fort. Vieles davon, namentlich die Reste der Heldenepik, sind alteinheimische nationale Stoffe, während anderes, wie die allegorischdidaktischen Auslegungen, als Gemeingut aller Nationen anzusprechen ist. § 11. Seit der zweiten Hälfte des 13. Jh.s wendet man sich der unmittelbaren Gegenwart zu, die Stoff zu historisch-poetischen Darstellungen liefert, wie ζ. B. in der Deutschordens-Dichtung. Auch die spätmhd. Lyrik greift zur aktuellen Tagespolitik, ein Verfahren, das dann die historischen Volkslieder der Folgezeit gern in der Form der Schlachtberichte fortsetzen. Besonders aber stellt sich die aufblühende satirische Dichtung und die kirchliche Streitlit. in den Dienst der Gegenwart: Jahrzehnte lang beherrschen die religiösen und moralischen Reformgedanken alle Gattungen der Lit. Nur die meisten Humanisten halten sich dieser Arena ferner, dafür eifrig bemüht, die Antike gegenwärtig zu machen. Sie helfen der dt. Dichtung neue Gebiete erobern. So tritt ζ. B. neben die neue lat. Fazetie (s. d.) der dt. Prosaschwank. Audi von Frankreich wirken Einflüsse, wie in mhd. Zeit, von Beginn bis Ende der frnhd. Periode herüber und regen zu neuen Versuchen an: es sei nur an die ersten reinen Prosaromane in Deutschland, das Werk der Deutsch-Französin Elisabeth von Nassau-Saarbrücken, und an Fischarts Gargantua erinnert. V. Die Abgrenzung der verschiedenen frnhd. Dichtgattungen nach Epik, Didaktik, Lyrik und Drama ist nicht immer eindeutig. Der ganzen Lit. jener Epoche ist ein gewisser

epischer Grundzug eigen, der die Scheidelinien, namentlich zwischen Epik, Drama und Didaktik, verwischt. § 12. Die ritterliche E p i k der mhd. Blütezeit, besonders das Heldenepos, lebt in den folgenden Jh.en fort: gerade im 14. und 15. Jh. ist man regsam, ihre Erzeugnisse durch Hss.-Produktion und -Handel zu verbreiten. Dabei wird aber die hochentwidcelte Kunstform der ritterlichen Dichtung skrupellos vergröbert, eine Erscheinung, die den Wandel der Zeit und des Kunstgeschmadcs grell beleuchtet. Dasselbe Niveau halten die Epen, die damals n e u entstehen: so die rohen Bearbeitungen der alten Heldenepen wie ζ. B. das Lied vom hürnen Seyfried, das bis ins 17. Jh. und, in Prosa aufgelöst, sogar bis ins 19. Jh. hinein gedruckt wird. Von den mhd. höfischen Epen werden nur der Parzival und der Jüngere Titurel zum Drude gebracht. Wolfram wirkt überhaupt am lebendigsten nach: noch im 15. Jh. sind Parzival und der Gral ein Sinnbild ritterlichen Glanzes, und der Jüngere Titurel, den man allgemein für ein Werk des Eschenbachers hält, wird mit Ehrfurcht bestaunt. In seiner Strophenform dichtet der Wolframsdiwärmer Püterich von Reicherzhausen um 1450 seinen berühmten Ehrenbrief an die Pfalzgräfin Mechthild, und versucht der am Münchner Hofe lebende Dichtermaler Ulrich Füetrer um 1490 den ganzen Kreis der Artussage im Buch der Abenteuer zu erneuern. In der Erschließung neuen Stoffgebietes ist man sehr bescheiden. Der letzte Repräsentant ritterlicher Kultur und höfischer Dichtung ist Kaiser Maximilian I. Auf die Dauer können diese kuriosen Reimwerke den Wettbewerb mit dem neuen Prosaroman nicht durchhalten; er verdankt sein Aufblühen franz. Einfluß. Nun werden auch die übrigen Stoffe der höfischen Epik verjüngt. Angesichts der Verwilderung der metrischen Form bedeutet die Prosaauflösung einen gesunden, natürlichen Abschluß der epischen Entwicklung. Der Stoffkreis der Volksbücher ist vielschichtig: Heiligenlegenden, Reisebeschreibungen, Geschichtssagen, dazu Novellensammlungen, auch orientalischer Herkunft, Renaissanceerzählungen ital. Ursprungs, Abenteuer- und Ritterromane franz. Überlieferung, durch die Gräfin Elisabeth von Nassau - Saarbrücken vermittelt, Zauber-, Schwank-, Anekdoten-, Wetter-,

Friihneohodideutsdie Literatur Arznei-und Rätselbücher: also alles, was das Begehren des Volkes nach phantastischen Unterhaltungsstoffen befriedigt, ist willkommen. Weithin ein aus höheren Schichten gesunkenes Literaturgut. Fonnwille und Stilgefühl dieser Volksbücher (s. d.) sind umstritten. Sie sind zweifellos einer bestimmten künstlerischen Absicht entsprungen, die man nicht schlechthin als Unkunst abtun kann. Ob wir die sprachliche Ausdrudesform der Volksbücher im Sinne germ.-got. Bewegtheit oder renaissancehafter wortsparender Gedrängtheit auffassen sollen, bedarf nodi klärender Forschung. Die kernige, plastische Sprache kam der naiven Aufnahmefähigkeit des gemeinen Volkes entgegen und machte die Prosaromane zur Lieblingslektüre der Erwachsenen, die sie wie Märchen andächtig und gläubig lasen. § 13. Epochen geistigen Umbruchs haben eine Vorhebe für allegorische Einkleidung der Gedanken: das Gewächs der A l l e g o r i e wuchert gleich üppig in der Übergangszeit vom Altertum zum Christentum wie in der werdenden Neuzeit. Auch die scholastisdi-mystische Theologie des 12. Jh.s legt die Bibel symbolisierend aus, und in der dt. und lat. Dichtung des 12. und 13. Jh.s füllt die legendarisdie Visionslit. einen breiten Raum. Aber diese mal. Allegorie ist mehr eine gelehrte Spielerei als eine urwüchsig-volkstümliche Betrachtungsweise. Im 14. und 15. Jh. tritt auch darin eine Änderung ein: die sinnbildliche Ausdeutung der Bibel wird behebt und nimmt typische Formen an. Die Mystik begünstigt diesen Prozeß. Den verschiedensten Motiven wird nun eine allegorische Auffassung und Auslegung unterschoben. Heinrich von Heslers Paraphrase der Apokalypse, des Jakob von Cessolis Schachbuch und die Umdichtungen der christl. Heilsgeschichte dienen dem gleichen Zweck und übertragen den Hang zum Sinnbildlichen in die rein weltliche Dichtung. In gleicher Richtung wirken Einflüsse von Frankreich nach Deutschland: der lat. Traktat De amore eines franz. Kaplans, ein förmliches Gesetzbuch der Minne, wird die Vorlage für die Minnelehre des Eberhard von Cersne. In Deutschland war die poet. Form der Minnedisputation und -allegorie inzwischen längst heimisch geworden (durch Hartmann und Gottfried), und seit dem 13. Jh. gedeihen die selbständigen Minneallegorien (s. d.) der Epi-

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gonen wie Kloster der Minne und Minneburg, als Rahmenmotiv der Dicht- und Bildkunst gleich willkommen. Nach dem Vorgang der geistlichen Dichtung und Predigt werden die Verrichtungen des gewöhnlichen Lebens wie ζ. B. die Jagd in Hadamars von Laber gleichnamigem Gedicht allegorisch umgedeutet. Die letzten Ausläufer dieser Kunstform ranken in grotesker Verzerrung bis ins 16. Jh. zu Mumer (Gäuchmatt und Mühle von Schwindelsheim). Die Allegorie macht die ursprünglich scholastischen Begriffe der breiten Laienwelt zugänglich, die sie begierig aufnimmt als vermeintliches Zeichen einer höheren gelehrten Bildung, wie das Bürgertum sie erstrebte. Damit aber das große Publikum sie recht versteht, muß die allegorische Um- und Ausdeutung zu möglichst sinnfälligen Mitteln greifen. Und als diese gefunden und geprägt sind, wird die Allegorie vornehmlich ein Werkzeug der D i d a k t i k , die weite Gebiete der f. L. beherrscht. Sie ist eine geradlinige Fortsetzung der mhd. didaktischen Poesie, die am längsten gelesen und immer wieder abgeschrieben wird: seit der Mitte des 14. Jh.s erlebt die mhd. Lehrdichtung eine förmliche Wiedergeburt. Besonders der Südosten gibt einen fruchtbaren Boden für das Gedeihen der didaktischen Pflanze ab. Heinrich der Teichner und Peter Suchenwirt sind hier ihre bekanntesten Vertreter um und nach 1350. Mit seinen Ehrenreden auf verstorbene Fürsten und Herren, worin auf eine Totenklage meist eine Schilderung der ritterlichen Taten des Verstorbenen und eine ausführliche Beschreibung seines Wappens folgt, leitet Suchenwirt zu den berufsmäßigen Reimsprechern und Wappendichtern über, die bei den Turnieren als Herolde auftraten (s. Heroldsdichtung). Die Hauptrepräsentanten dieser Gattung, Hans Schnepperer, genannt Rosenblüt, und Hans Folz, die in Reimreden aller Art sattelfest sind, wirken nacheinander im 15. Jh. in Nürnberg. Je länger desto lauter klingt in der didaktischen Lit. ein s a t i r i s c h e r Unterton durch. Noch im Ausgang des 15. Jh.s erreicht die moralisch-satirische Lehrdichtung mit Seb. Brants berühmtem Narrenschiff den Gipfel, im Druck 1494 erschienen in Basel: ein Monumentalwerk von europäischem Erfolg, das den ganzen Kulturkreis seiner Zeit

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umspannt und die Lit. bis in das nachopitzische 17. Jh. hinein beeinflußt hat, obwohl die Idee und Anlage des Ganzen nicht original, die Komposition locker und nicht frei von Wiederholungen und Widersprüchen ist. Brant ist, von trockner Gelehrsamkeit beschwert, grotesker Ubertreibung abhold. Anders die Satiriker des 16 Jh.s, an ihrer Spitze Murner und Fischart: sie schlagen eine äußerst scharfe Klinge und kennen keinerlei Rücksicht. Milder sind die predigenden Satiriker, deren bedeutendster, der gelehrte, mit Brant befreundete Joh. Geiler von Kaisersberg (1445-1510), den Buchsatirikern an Breitenwirkung mindestens gleichkommt. Wieder anderen Charakters ist das satirische Element der so beliebten S c h w a n k dichtung (s. d.), die in der dt. Lit. seit der Mitte des 15. Jh.s durch Ubers, der ital.-lat. Renaissance-Novellistik, der Fazetie, heimisch wird. Das ganze 16. Jh. hindurch sind die Frey, Montanus, Lindner, Schumann, Wickram, Kirchhoff u. a. eifrig bemüht, dem Publikum immer neue Sammlungen zu bieten, wobei sie auf Originalität keinen Wert legen. Sie gleiten vom Humor gern ins Obszöne, ohne in der Pointierung das lat. Vorbild eines Heinr. Bebel auch nur annähernd zu erreichen: aus dem facete dictum wird meist ein facete factum. Die Vorliebe der Zeit für die kleine witzige Erzählung, für Allegorik und Didaktik bringt auch für die äsopische F a b e l (s. d.) ein reges Interesse auf, die in dt. Vers- und Prosabüchern nacherzählt wird. So stellt um die Mitte des 14. Jh.s der Berner Dominikanermönch Ulrich Boner 100 Fabeln unter dem Titel Der Edelstein zusammen, und im 15. Jh. sammelt Heinrich Steinhöwel aus verschiedenen Quellen einen reichen Vorrat lat. Fabeln, dem bei der Drucklegung eine dt. Prosaübers. beigegeben wird. Auch Luther schätzt die äsopischen Fabeln wegen ihres Gehalts an Lebensweisheit und nutzt seinen Aufenthalt auf der Koburg zu einer freien, wohl gelungenen Übersetzung (1530). Die kürzeste didaktische Form endlich, das Sprichwort (s. d.), erfreut sich weit und breit, bei den Satirikern, den Humanisten wie bei Luther und im Publikum, einer großen Beliebtheit, und man versucht, den reichen Schatz volkstümlicher Weisheit durch Sammlung und Drucklegung der Nachwelt zu erhalten.

§ 14. In der L y r i k wahrt das Minnelied von allen Dichtgattungen am längsten das Erbe aus der mhd. Blütezeit. Zwar kann sich der Minnesang (s. d.) der allgemeinen Verbürgerung nicht entziehen: neben adlige treten bürgerliche Sänger, Patrizier und Fahrende, und wie einst an den Adelshöfen bilden sich nun in den Städten Sangeszentren. Der Minnesang hört auf, ausschließlich ritterliche Standesanschauungen wie einst zu spiegeln. Aber der Adel huldigt nach wie vor mit Begeisterung der edlen Singkunst. Ja, an der Peripherie, im Norden und Nordosten, erlebt das Minnelied im Kreise fürstlicher und ritterlicher Herren eine beachtliche Nachblüte. Auch in der alten Heimat, im dt. Süden, behauptet der Adel bis in die Spätzeit hinein seine führende Stellung im Minnesang: zwei größere Liedersammlungen haben ritterliche Dichter zum Verfasser, Hugo von Montfort (um 1357-1423) und Oswald von Wolkenstein (um 1377-1445). So gleitet der Minnesang nur allmählich, Stufe um Stufe von seiner alten Höhe, und zwar mehr in seiner inneren Qualität als in der äußeren Technik. Wie derb auch schließlich der Ton sein mag, in dem die materiellsten Daseinsfreuden besungen werden: die Form bleibt intakt, bis sie endlich der Verkünstlung verfällt und sich in Wort- und Reimspielereien totläuft. Besondere Gattungen, wie das Tanzlied (s. d.), das nach dem Vorbild der volkstümlichen Lyrik heranwächst, und das Streitgedicht (s. d.), das der Allegorie die Tür zum Eindringen auch in die Lyrik öffnet, und Ansätze zu epischer Ausmalung kommen auf. Bis in den Ausgang des 13. Jh.s geben die Berufssänger den Ton an; im 14. Jh. wird das anders: das Publikum selbst wird sangesfroher, gefällige Lieder werden dem Verfasser enteignet, werden Allgemeingut, ihr Wortlaut wird dem Spiel mündlicher Überlieferung preisgegeben. Das Minnelied wird zum V o l k s l i e d (s. d.), richtiger zum volkstümlichen Lied, denn das Volk als Ganzes dichtet ja nicht, ein einzelner macht sich zum Interpreten der Gesamtheit und ihrer Stimmung. Der Name „Volkslied" ist eine späte, durch Herder geprägte Bezeichnung. Vorher heißt es allgemein „ein schönes Lied", „ein neues Lied" oder nach singfreudigen Berufen „Bergreihen", „Reiterlied". Form und Gefühlston des Volksliedes sind

Frühneuhodideatsdie Literatur typisch: der Dichter entpersönlicht sich und taucht in der Allgemeinheit unter. Alle Stände sind an der volkstümlichen Liederdichtung beteiligt: Bauer und Handwerker, Scholar und Landsknecht, Priester und Gelehrter und die Frauen. Dadurch kommen mehrere Liedarten auf: zu dem eigentlichen Volkslied, dem Liebeslied und dem geselligen Lied, treten das historische und politische Volkslied, die Volksballade (s. d.), die vergangene, sagenhafte und aktuelle, gegenwärtige Ereignisse dichterisch gestalten. Und diese weltlichen Spielarten ergänzen sich durch eine neue geistliche, das Kirchenlied (s. d.), das zwar die feierliche Melodik der mal. lat. Hymnik nicht erreicht, aber durch Luthers Gefühlsstärke und Sprachkraft gleich im 16. Jh. zu durchschlagender Wirkung gebracht wird. Im Gegensatz zum Minnesang ist die Spruchdichtung der Verbürgerung sehr früh, schon in mhd. Zeit, ausgesetzt. Bald nach Walther von der Vogelweide, der den Sangspruch adelt, wird der Schritt ins Bürgerliche bewußt getan: die Sprudipoesie wird zum M e i s t e r s a n g (s. d.). Für die geistige Verengung und Verknöcherung, die diese Wandlung herbeiführt, kann alles ehrliche und gradsinnige Streben der dichtenden Meister nicht entschädigen. Im 14. und frühen 15. Jh. mischen sich bei den Hauptvertretern wie Heinrich von Mügeln und Muskatblüt scholastische und humanistische Elemente mit geistlicher und weltlicher Minne, ohne daß feste Formen gefunden werden. Im Laufe des 15. und 16. Jh.s organisiert sich der Meistersang dann zunftmäßig zu festen Schulgenossenschaften. Überall werden Meistersingerschulen gegründet, in denen die Kunst regelrecht gelernt und korrekt ausgeübt wird: so am Mittel- und Oberrhein, im ganzen Süden und sporadisch auch in den östl. Kolonisationsgebieten. An der Spitze steht Nürnberg mit Hans Sachs. Erst die dt. Barockdichtung des 17. Jh.s bringt die Lebensquelle des Meistersangs zum Versiegen. § 15. Auch das fmhd. D r a m a setzt alte Formen fort und baut neue aus. Sein Charakter ist mehr episch als dramatisch. Das g e i s t l i c h e Drama (Oster- und Weihnachtsspiel), das damals schon auf eine längere Tradition zurückblicken kann und bei der Aufführung, nicht mehr auf das Kirchen-

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innere angewiesen, in den stolzen Kirdienund Rathausbauten einen imposanten Hintergrund hat, vermag sich ebensowenig wie die anderen Dichtgattungen dem volkstümlichen Zuge der Zeit zu entziehen. Die lat. Sprache wird durch die dt. ersetzt, und der Freude des Zuschauers am sinnfällig Derben wird durch entsprechende Erweiterungen gedient: das Dreikönig- und Fronleichnamspiel und allerhand Episoden aus dem Leben Jesu treten hinzu, die Weissagungen des AT.s werden mit dargestellt, wobei Bürger aller Stände mitwirken. Die Folge ist, daß sich das Drama nach Handlung und Schauplatz in lauter Einzelszenen auflöst. Im übrigen herrscht der gleiche Mangel an künstlerischem Schwung wie in der ganzen Lit.: man verfolgt lehrhaft-erbauliche, keine ästhetische Zwecke, die dem Publikum während der Aufführung durch besondere Vermittler nahegebracht werden. Hierin berührt sich das geistliche Drama eng mit den M o r a l i t ä t e n oder L e h r s p i e l e n , die im 15. Jh. aufkommen. In ihnen sind die Träger der Handlung ursprünglich personifizierte Abstrakta. Später wird der Begriff verallgemeinert und auf alle allegorischen Dramen angewendet, selbst auf Possen. Nach Stoffkreis und Tendenz gehört die Moralität mehr zur episch-didaktischen als zur dramat. Gattung, während sie die Form und Inszenierung mit Mysterienspiel und Posse teilt. Sie ist aber weniger Bühnenstüdc als Lesedrama: ihre Blütezeit, spätes 15. und 16. Jh., wäre ohne Buchdruck nicht denkbar, der ihr aber in Deutschland nicht zu solcher Verbreitung verhelfen kann wie in England und Frankreich. Dafür wird bei uns damals das P o s s e n s p i e l intensiver als anderswo gepflegt. Am bekanntesten ist es in der Form des F a s t n a c h t s p i e l s , wozu sich das komische Drama namentlich in Nürnberg früh entwickelt. Auch dies wieder kein Drama im modernen Sinn, nur ein komischer Aufzug mit Dialogen. Das älteste Denkmal eines weltlichen komischen Schauspiels ist ein dramatisierter Neidhartschwank in einer Aufzeichnung aus dem 14. Jh. Verliebte Narren und übertölpelte Bauern sind die Lieblingsfiguren dieser Possen, die dem Obszönen breiten Spielraum geben. Die Reformation verengt und erweitert das dramatische Feld. Der strengeren protestantischen Richtung widerstrebt das geist-

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Frühneuhochd tsche Literatur

liehe Spiel mit der Schaustellung der Leiden Christi, während es in kath. Gegenden durch das Sthuldrama der Jesuiten (s. d.) zurückgedrängt wird. Wenn das geistliche Drama, wie ζ. B. das Oberammergauer Fassionsspiel, sich hält, dann ist es tiefgehenden Wandlungen unterworfen und kann schließlich nur durch das historische Interesse weiter Volksschichten lebendig bleiben. Im Kirchenkampf machen sich beide Parteien das Drama als Waffe dienstbar. Von den zur Lektüre bestimmten Gesprächen und Dialogen schreitet man fort zum Bühnenstück. Das p r o t e s t a n t i s c h e T e n d e n z d r a m a entsteht, und auch das ältere Fastnachtspiel nimmt den Kampf um die neue Lehre auf. Der protestantischen Ethik zusagende biblische Stoffe werden immer wieder dramatisiert, damit die eigene Position im Glaubensstreit gefestigt werde. Selbst die l a t e i n i s c h e S c h u l k o m ö d i e (s. d.) der Humanisten tritt auf den Plan und greift über ihren ursprünglichen Wirkungsbereich weit hinaus. Die Schulaufführungen antiker Dramen dienen zunächst pädagogischen Übungen; bald aber werden sie Selbstzweck, die antiken Vorbilder werden eifrig nachgeahmt, und wertvolle Leistungen werden hervorgebracht. Die Aufführungen bleiben auf die Schule nidit mehr beschränkt, sie werden auch auf öffentlichen Plätzen in dt. Sprache wiederholt. Dadurch wieder wird das Volksschauspiel (s. d.) beeinflußt, leider nicht nachhaltig genug, um der Entwicklung des dt. Dramas einen kräftigen Auftrieb zu geben und Umwege zu ersparen. Mit dem Ende des 16. Jh.s (1592) macht ein neuer Konkurrent, das Schauspiel der E n g l i s c h e n K o m ö d i a n t e n (s. d.), dem Schuldrama die Herrschaft auf der dt. Bühne streitig. Bis in die Mitte des 17. Jh.s behaupten die Engländer das Feld, das sie dann dem inzwischen ausgebildeten Stand der dt. Berufsschauspieler überlassen müssen. VI. § 16. Die frnhd. Epoche hat ihre Bedeutung weniger auf literar. als auf geistesgeschichtlichem Gebiet. Sie hat das dichterische Erbe des MA.s verfallen lassen und für den Neuaufbau der Lit. nur erst grobe Grundmauern aufgeführt. Die Zeit von 1350 -1600 ist eine Kulturwende: die Abkehr vom mal., die Vorbereitung der modernen Welthaltung. Schöpferische Geister von überragender Größe leiten den Umschwung ein

und treiben ihn vorwärts im Bingen mit der Masse. Ihre Waffe ist die Feder, das geschriebene und gedruckte Wort. So dient die Lit. der werdenden Neuzeit nicht sich selbst, nicht künstlerischen Aufgaben, sie dient anderen, stärkeren Mächten. Gleich diesen muß sie auf die Massen wirken: Massenwirkung aber und schöpferische Leistung wohnen im Reich der Poesie nicht in einem Haus. Die Lit.wiss. hat die frnhd. Epoche lange vernachlässigt. Die Zeit von 1350-1600 wurde in den Lit.geschichten bald als lästiges Anhängsel, bald als dürres Vorfeld betrachtet oder gar in der Mitte durchschnitten. Mit Unrecht. Erst Jahrzehnte später als die anderen Epochen wurde die f. L. in umfassender Weise, d. h. im Umkreis der gesamten Geisteskultur, im Hinblick auch auf die literar. Strömungen der westl. u. südl. Nachbarvölker erforscht und dargestellt. Joh. J a n s s e n , Gesch. d. dt. Volkes seit d. Ausgang d. MA.s. Erg. u. hg. v. Ludw. P a s t o r (17.-20.Aufl. 1913-24). Ludw. G e i g e r , Renaissance u. Humanismus in Italien u. Deutschland (1882). Alwin S c h u 11 ζ , Dt. Leben im 14.u. 15.Jh. (Prag 1892). Heinr. U l m a n n , Das Leben d. dt. Volkes bei Beginn d. Neuzeit (1893; SchrVerReformgesch. 41). Wilh. S t u b b s, Germany in the later middle ages, 1200-1500 (London u. New York 1908). W. Β r e c h t , Einführung in d. 16. Jh. GRM. 3 (1911) S. 340-348. Vom MA. zur Reformation. Begr. v. Konrad Β u r d a c h , mit Unterstützung von Paul Ρ i u r u. a. (1912 ff.). Konrad Β u r d a c h , Dt. Renaissance. Betrachtungen über unsere künftige Bildung (2. Aufl. 1918). Ders., Reformation, Renaissance, Humanismus (1918). J. H u i z i n g a , Herfsttif der middeleeuwen (Haarlem 1919). Dt. Ausg. Herbst d. MA.s 1924; 7.Aufl. 1953. Rud. S t a d e l m a n n , Vom Geist d. ausgehenden MA.S (1929; DVLG., Buchr.15). La Fin du moyen age. Par Henri P i r e n n e u.a. 2 Bde (Paris 1931; Peuples et civilisations7). Justus H a s h a g e n , Staat u. Kirche vor d. Reformation (1931). Willi Andreas, Deutschland vor d. Reformation (1932; 2. Aufl. 1934). Bernhard S c h m e i d ler, Der Übergang vom MA. zur Neuzeit (1932; Handb. f. Geschiditslehrer 4). Herrn. G u m b e 1, Dt. Kultur vom Zeitalter der Mystik z. Gegenreformation (1936-39; Handb. d. Kulturgesch. I, 4). Η. Η e i m ρ e 1, Das dt. Spätma. Charakter e. Zeit. Histor. Zs. 158 (1938) S. 229-248. Marc Μ ο η η i e r , Histoire gέηέταϊβ de la littirature moderne. Τ. 1. La renaissance de Dante ä Luther (Paris 1884). Wolfg. G ο 1 t h e r , Die dt. Dichtung im ΜΑ., 800-1500 (1922; Epochen d. dt. Lit. 1). Wolfg. S t a m m l e r , Von d. Mystik zum Barode, 1400-1600 (1927; 2. Aufl. 1950; Epochen d. dt. Lit. 2, 1). Günther M ü l l e r , Dt. Dichtung von d. Re-

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G G a l a n t e Dichtung § 1. D a s Höfel de Rambouillet erweiterte den span.-ital. Ausdruck galant, der ursprünglich nur die höfische Festkleidung {gala) meinte, zur Bezeichnung des preziösen Gesellschaftstons und Bildungsideals überhaupt. In Deutschland wurde er seit den 8 0 e r Jahren des 17. bis in das 2. Jahrzehnt des 18. Jh.s hinein als Modewort für elegant und modern schlechthin verwendet. So sprach man von galanten Pferden und Hunden, auch von galanten Predigern, ja von galanten Stiefeln und Pantoffeln wie Hammel- und Kälberbraten, vom galanten Clavichordium wie auch von galanten Studien, Gedichten, Briefstellern bis zur galanten Ethik. Vorherrschend bleibt bei allen Definitionen, die, seit Kaspar Stieler 1691 d a s Wort lexikalisch erfaßte und Christian Thomasius seinen Mißbrauch verspottete, sich beständig häufen, stets die Betonung des Formalen. Gesellschaftliche Gewandtheit in Manieren und Heden, besonders Frauen gegenüber, bildete den Kern des Begriffs, dem seine franz. Herkunft besonderen Reiz verlieh. So umgreift das Wort alle Seiten der formalen Erscheinune des Lebensideals der führenden Gesellschaft jener Zeit des Spätbarocks im Gegensatz zu „politisch" als dem Ausdruck der privaten Lebenstaktik. § 2. War in Frankreich die g. D . ein unmittelbares Produkt der Wirklichkeit, der aristokratischen Salons und ihrer Unterhaltung, so blieb sie in Deutschland äußerlich übernommene literar. Mode. Wenn auch zunächst nicht für den Druck geschaffen, berührt die Abhängigkeit von Vorbildern recht buchmäßig. Die Gesellschaft, die diese Produktion als Unterhaltung und Würze benutzte, bestand aus dem um den Fürsten sich gruppierenden Kreis der eigentlichen Hofleute (Hof) sowie der höheren Beamtenschaft. Wie das erwerbende Bürgertum überhaupt in jener Epoche den Hof als Führer und Vorbild der Kultur ansah, hat es auch diese literar. M o d e als Ausfluß des übernommenen Bildungsideals des galant komme mitgemacht. D i e Verfasser entstammen da-

her sowohl der Aristokratie als auch dem studierten Bürgertum. Selbst das volkstümliche Gesellschaftslied zeigt, wenn auch in burschikoserer Form, entsprechende Züge. § 3. I m Gegensatz z u m handwerksmäßigen Betriebe der Gelegenheitsdichterei als Gelderwerb ist die g. D . lediglich Zeitvertreib, jedoch nicht stiller Nebenstunden, sondern für eine bildungsstolze Geselligkeit bestimmt. Rein personale Einstellung verhindert die anspruchslose Fröhlichkeit des geselligen Liedes, führt zum prononcierten Sprechvortrag des Gedichtes. Alles Weitschweifige, episch Gemächliche würde langweilen; Kürze allein fesselt. Wohl vorbereitet amüsiert der witzige Schluß, schmeichelt die gewandte Huldigung: in rascher Beweg u n g eilen die stets gereimten Zeilen z u m E n d e , dessen Pointe den Geist des Verfertigers ins rechte Licht zu setzen sich müht. Die F r a u bildet den Mittelpunkt der Geselligkeit, ihre Verherrlichung den der galanten Poesie. D a durch die gesellschaftliche Öffentlichkeit das Elementargefühl der L i e b e ausgeschlossen war, blieb für den Autor nur Schmachten und Preisen als Gesellschaftsund Phantasiespiel. Die F r a u bleibt stets die Stolze, Zurückhaltende, Unerbittliche; der Mann ihr Sklave. Als Märtyrer der L i e b e zeigt und genießt er die Nuancierung seiner Gefühle oder zergliedert die Pracht der Reize seiner Verehrten. Sympathetische Naturstimmung fehlt; eine bestimmte Situation wird zwar vorausgesetzt, jedoch nie innerhalb des Gedichts episierend beschrieben, vielmehr als Prämisse in die Überschrift gewiesen. So sehr die handgreifliche Eindeutigkeit der Hochzeitscarmina verpönt war, so gern passierte die gewandt gesagte Zweideutigkeit. Denn nicht aus dem Gefühl, sondern aus dem Verstand mit der kombinatorischen Phantasie ist diese spätbarocke Kleinkunst gezeugt § 4. E s handelt sich u m eine bloß modische Übernahme von Frankreich. Wenn auch Motive des mal. Minnesangs anklingen, so dürften Beziehungen nur innerhalb der franz. Überlieferung oder nur Mentalität zu suchen

Galante Diditong sein. Frankreichs sociite polie bildete das Vorbild der Grundeinstellung der Deutschen, lieferte das Bildungsideal. Franz. Sprache wurde nunmehr recht eigentlicher Bestandteil der „galanten Wissenschaft", und der Bildungsaufenthalt in Frankreich erhielt den Vorrang vor Italien und Holland. Eifrige Beschäftigung mit den franz. Erzeugnissen führt nicht zu getreuen Ubersetzungen, sondern zu freier Benutzung. Die meisten Pointen, Situationen und Einfälle gehen auf Vorlagen zurück. Besonders Le Pays und Benserade, für den poetischen Brief Voiture, werden geplündert. Dagegen fehlt die feine Einzelbeobachtung kleiner individueller Züge; alles wird trotz aller Zergliederung nach dem konventionellen Ideal typisiert. Der Deutsche dichtet offenbar nur aus dem allgemeinen Gefühl der Verliebtheit und der Unerfülltheit. Die Effekte geraten kräftiger, die Farben bunter, die Tendenz gröber. Frankreich ist nicht das einzige Vorbild. Der allbeliebte Pastor fido liefert weitere Motive, Gefühle und Situationen, die als typisch empfunden werden und sich schon durch die bekannten Schäfernamen eindeutig bestimmen. Übernommen wird von Italien der neue, geschwollene Stil, der Marinismus. Gemäß dem Pomposo des dt. Hofzeremoniells herrscht dieser die längste Zeit vor, und Hofmannswaldau wird als Meister gepriesen. Durch diese Vermischung franz. Inhalte mit ital. Stil erhält die galante Poesie Deutschlands eine eigenartige Färbung. § 5. Wegen der Beschränktheit des für die Poesie in Betracht kommenden Lebensausschnittes ist der Umkreis der M o t i v e nicht groß. Am beliebtesten sind: der Wechsel der Küsse (Rückgabe des gestohlenen Kusses); der Tausch der Herzen; die Augen als Anstifter von Unheil, als Verursacher von Wunden und Schmerzen; die Klage über das Schweigenmüssen; der Wunsch, einer der Gegenstände in der. Umgebung der Geliebten zu sein (Blume am Busen u. a.); das Beobachten der Geliebten in halb oder ganz entblößtem Zustande; endlich die Erfüllung der Wünsche im Traum. Die im Titel festgelegten S i t u a t i o n e n scheinen ganz momentan und der Wirklichkeit entnommen gewählt. Sie dienen nicht der Beschreibung, sondern sind völl antithetischer Möglichkeit, so daß alles zur Über-

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raschung am Ende hinführt. Diese wird dadurch gewonnen, daß die Ausführung der einen Seite zunächst ablenkt von der zugehörigen anderen, auf die mit jäher Wendung der Blick am Schlüsse fällt. So stellen die Gedichte geistreiche Interpretationen gegebener plastischer Situationen dar. Sie spiegeln keinen Ablauf von Gefühlen und Stimmungen, sondern die kombinatorische Regsamkeit von Gedanken und Vergleichen über ein ruhendes Bild. § 6. Da die galante Poesie keine Vermittlung von Gegenständlichem erstrebt, sondern den bewegten Seelenzustand zu versprachlichen sucht, diesen jedoch nicht in schlichtem Gegenbild aussagt, so wird sie zur Verblümtheit und Geziertheit geführt. Die Gefühlserregung sucht sich zu verkörperlichen, sucht sich durch Umschreibung und Bild darzustellen, deren Anschaulichkeit demnach keinen Wirklichkeits- und Selbstwert besitzt. Diese metaphorische Ausdrudesweise bezeichnet die Zeit als „Lieblichkeit", als deren Herold man Hofmannswaldau pries. Das Verbum wird nicht unlebendig gehandhabt, jedoch nicht bewußt gepflegt; das Nomen steht im Vordergrund des Interesses. Die Wortwahl hält, bei aller Vermeidung des Volkstümlichen, im Gebrauch des Fremdwortes absichtlich Maß. Im Gegensatz zum gleichzeitigen Kurial-, Brief-, selbst Romanstil verwendet man nur die geläufigsten Modeworte der Gesellschaftssprache. Das Streben geht durchaus auf das Neue, Ungewöhnliche, Uberraschende. Demgemäß wird auf die Wahl „scharfsinniger" und „nachdenklicher" Epitheta alle Sorgfalt verwendet. Am galantesten wirken zusammengesetzte (elfenbeinweiß). Als charakteristisches Stilmerkmal fallen die zahlreichen Nuancen von Farben auf (weiß: Schnee, Schwan, Marmor, Milch, Lilie, Alabaster, Silber, Perle — rot: Blut, Granat, Koralle, Nelke, Purpur, Rose, Rubin, Scharlach); außerdem solche von Geschmacksempfindungen (Ambrosia, Nektar, Muskateller, Julepp, Honig, Zucker, Saft, Most, Tau, kandiert); daneben liefern Geruch (Ambra, Jasmin) und Tastgefühl ungewöhnliche Beiträge. Weitere Gelegenheit, seine Gewitztheit brillieren zu lassen, bieten Oxymoron und Wortspiel. Der Drang nach Steigerung führt vom Beiwort zum selbständigen Vergleich. Beliebt sind Bilder aus der

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Galante Dichtung

Nautik, dem Soldaten- und Kriegsleben, selbst das Kartenspiel wird herbeigezogen. Neben der Metapher steht das durchgeführte Gleichnis, das leicht zur Allegorie wird. Häufung und Steigerung führt zur Kette von Gleichungen des „Ikon" (exergesia). Bei den Umschreibungen wird die Mythologie als allzu abgegrast ganz ausgeschieden. § 7. Die m e t r i s c h e n Ansprüche sind bedeutend und werden von den Theoretikern noch verschärft. Geschicklichkeit der Mache wird erstrebt und bewundert. Dazu gehört zunächst flotte Reimtechnik; Reimlosigkeit ist verpönt Die Wahl der Versformen ist lebendig (3-6füßig). Gemäß dem Kunstwollen wird nur lyrische Kleinkunst hervorgebracht, Kürze des Inhalts verbindet sich mit kurzen Strophenformen. Daher fehlt das große Gebäude der Pindarischen Ode eines Gryphius, erst am Ende tritt die K a n t a t e , mit den beiden Abarten der Serenade und Pastorale, auf, besonders durch Neumeister und Hunold gepflegt (etwa 1709). Als relativ ungebundenste Form nimmt das ziemlich verdrängte M a d r i g a l großen Aufschwung. Es wird stets durchgereimt und auf eine Pointe zugespitzt. Im Aufbau zeigt es den Einfluß des S o n e t t s , des kunstvollsten Versgebäudes der Zeit. Streng wird nadi franz. Vorbild die Trennung der beiden Quatrains und Terzette eingehalten mit Heraushebung der letzten (letzten beiden) Zeilen als Gipfel. Der Alexandriner mit jambischem Tonfall herrscht hier vor, regelmäßiger Wechsel von weiblichen und männlichen Reimen wird sorglich eingehalten. Am nächsten der volkstümlichen Art hält sich die O d e , meist in vierfüßigen Jamben abgefaßt. Dadurch, daß auch sie sich dem Streben zur Pointe anschließt, verliert sie ihre Sanebarkeit und bekommt eigene Gestalt. Nach Neukirch soll jede Strophe mit einem pondus schließen, wozu der Refrain gern benutzt wird, der nun statt der allgemeinen losen Stimmung des Volks- und Gesellschaftsliedes enge logisch-inhaltliche Kettung erhält. Als besondere Spielerei bildet er gelegentlich auch die erste Zeile der Strophe (Ringelode). Am eifrigsten wird sie von den Gegnern des Marinismus gepflegt: Neumeister, Günther, am mannigfaltigsten von Woltereck. Ungemein beliebt ist die knappeste Zuspitzung i m E p i g r a m m . Es muß nicht

aus zwei, doch aus wenigen Alexandrinern bestehen. Alle galanten Stoffe können in ihm abgehandelt werden. Das vierzeilige Hochzeitsepigramm führt Valentin Alberti ein. Hier halten Witz, Satire und Frivolität reichliche Ernte. Der Blitz des Esprit, gern als Oxymoron gebracht, wird reichlich von Frankreich bezogen. Nach dem Vorbilde von Voiture und Pays wird endlich der p o e t i s c h e B r i e f gepflegt. Ausnahmsweise selbst in Sonettform (Celander), stellt er in gereimten Alexandrinern ein Stück Dialog dar, der mit einem Kompliment, Witz o. ä. schließt. Hofmannswaldaus „Heldenbriefe" sind stilistisch Vorbilder, regen auch zur genaueren Nachahmung an (Omeis, Menke, Hanke, Neumeister, Anselm v. Ziegler). Dialektik der Gefühle bildet auch hier wie in all den anderen Strophenformen den Inhalt. § 8. Da die galante Poesie beiläufig zur Unterhaltung der Gesellschaft entstand, lief sie zunächst in Einzelgedichten handschriftlich um. Aus privaten Sammlungen ging hervor die bahnbrechende Anthologie von Benj. Neukirch Herrn o. Hofmannswaldau und anderer Deutschen außerlesene und bisher ungedruckte Gedichte (Leipzig 1695). Die Größe des Erfolges leuchtet hervor aus dem Umstand, daß schon 1695 eine erweiterte Neuauflage und 1697 mit der 3. Aufl. zugleich ein zweiter Teil erschien. Andere setzten die Sammlung fast almanachartig fort: 3. Teil 1703, 4. Teil 1704 von C. H., 5. Teil 1705, 6. Teil 1709. Nur dem Namen nach hängt der 7. Teil 1727 mit diesen zusammen; er gehört einer neuen Zeit nach Inhalt wie Autoren an. Konkurrenzunternehmen sind Des schlesischen Helicons auserlesene Gedichte (Frankfurt und Leipzig 1699 und 1700), Des Neueröffneten Museum-Cabinets auffgedeckte poetische Wercke (hg. v. E. Uhse, Leipzig 1715), Menantes' Auserlesene und theils noch nie gedruckte Gedichte verschiedener berühmter und geschickter Männer (3 Bde., Halle 1718-1720), endlich der 1. Bd. von Chr. Fr. Weichmanns Poesie der Niedersachsen (Hamburg 1721). Der Gesellschaftspoesie steht diese Anthologieform der Literaturwerdung wohl an, ebenso wie das Verschweigen der Autoren, die nur durch Initialen dem Kenner sich verraten (noch nicht vollständig identifiziert). Bei der Auffassung dieser Kleinigkeiten als Nebensachen verzichten manche Autoren überhaupt auf

Galante Dichtung ihre Herausgabe (ζ. B. Eltester), andere fügten sie als eine Gruppe ihren Werken ein (Martin Hanke: 3. Buch seiner Deutschen Lieder 5 Bücher, Breslau 1698. — Gottlob Stolle, Benj. Neukirch, Beccau, Abschatz, Assig), zuweilen nur als Auswahl (Besser). Gering ist die Zahl der selbständigen Ausgaben: Menantes (Chr. Frdr. Hunold, 1702), Philander (Joh. Burkhard Menke, 1705), Neumeister (1707 Allerneueste Art . .), Amaranthes (Gottl. Siegm. Corvinus, 1710), Celander (Hamburg 1716), Christoph Wolteredc. Aus den Daten der Ausgaben ergeben sich als Blütezeit der g. D. ungefähr die Jahre 1695-1705. Ihr Ende fällt um 1715 durch Rationalismus und Pietismus (Menantes!); die Anfänge liegen in den 80er Jahren des 17 Jh.s. Auch in der Musik (Telemann) und der bildenden Kunst findet sich das Galante und erweist sich als sehr wichtige (aber nicht alleinige) Stilströmung des Spätbarocks. Nach ihrem Stilideal lassen sich die Autoren in drei Gruppen teilen. Die zahlreichste folgt Hofmannswaldaus „Lieblichkeit". Es sind vorwiegend Sciilesier (der sog. 2. schles. Schule zugerechnet). Die gewandtesten und fruchtbarsten sind Menantes (Hunold), Benj. Neukirch, Celander, Amaranthes (Gottlob Siegm. Corvinus), dazu Eltester, Kamper, Beccau, Assig, Abschatz und viele Unbedeutende; auch die Jugendgedichte von Brockes gehören dazu. — Der planen, franz. witzigen Art folgen Philander (J. B. Menke), G. F. Hanke, Besser, Heini, Canitz. Der Gefahr der Plattheit dieser meißnischen Richtung wie der des Schwulstes jener entgeht die mehr volkstümliche Gruppe der Leander, Erdm. Neumeister, Joh. Georg Neukirch, Woltereck, wozu auch Christian Günther und Mühlpforth manches beisteuerten. Der Ubergang zum Gesellschaftsliede ist fließend. § 9. Den Reigen t h e o r e t i s c h e r Abhandlungen eröffnet das Vorwort Benj. Neukirchs zu seiner Anthologie (1695). Menantes veröffentlicht als Erster eine Stilistik Die allerneuste Manier, höflich und galant zu sdireiben (Hamburg 1702) und gibt 1707 Neumeisters Poetik heraus: Die allerneuste Art zur reinen und galanten Poesie zu gelangen. Während Philander nur innerhalb seiner Vermischten Gedichte (1710) eine unbedeutende Unterredung von der Poesie biet e t fassen Joh. Georg Neukirchs Anfangs-

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gründe zur Reinen Teutschen Poesie Itziger Zeit (Halle 1724) noch einmal das Ergebnis der eben abgelaufenen Epoche zusammen. § 10. Paul Windders posthum erschienener Edelmann (1696; ca. 1684 verf.) stellt in losem romanhaftem Rahmen die Wissensgebiete wie die Manieren des galant homme dar, der bezeichnenderweise der holländischen Geldaristokratie entstammt, aber dem protzigen Neuadel wie dem verkommenen Junkertum als Muster entgegengestellt wird; sicherlich zur Verherrlichung des gebildeten Beamtenadels. Gegenüber der Heroisierung der Liebe im höfischen Heldenroman machen sich die schlüpfrigen Situationen im Unterhaltungsroman bemerkbar. 1685 gehen Happel und Bohse (Talander) zu dieser Richtung eines „galanten Romanes" über. Joh. Leonh. Rost (Meletaon) folgt bald. Hunold (Menantes) beginnt seinen Ruhm mit der Verliebten und galanten Welt (Hamburg 1700). Η. A. Langenmantels Selimor (1691) ist mit galanten Versbriefen ausgestattet. Noch 1720 schreibt Joach. Meier seine „curiöse und galante Staats- und Liebesgeschichte" Asterie. Abrechnung vom Standpunkt des vulgären Pietismus hält erst Joh. Gottfried Schnabel 1738 Der im Irrgarten der Liebe herum taumelnde Cavalier. Artikel Galant. DWb. Bd. 4, 1, 1, (1878) Sp. 1156-1159 (R. Hildebrand). G. S t e i η h a u sen, Galant, curiös u. politisch. ZfdU.9(1885) S. 22-37. Pauf H o f f m a n n , Artig u. galant. Progr. Frankenberg i. Sa. 1909; zuerst: Grenzboten 50 (1891) S. 571-581 (schlecht). Else Thurau, 'Galant', ein Beitr. z. franz. Wortu. Kulturgesdi. (1936; FrkfQuFsdign. 12). — Max v. W a l d b e r g , Die galante Lyrik (1885; QF. 56; grundlegend). Wilh. D o r n , Benjamin Neukirch (1897; LithistFsdign. 4). A. H ü b s c h e r , Die Dichter d. Neukirchschen Sammlung. Euph. 24 (1922) S. 1-27; 259-86. Ders., Ebda 26 (1925) S. 279-280. Hedw. G e i b e l , Der Einfiuß Marinos auf Chr. H. ν. Ηofmannswaldau (1938: GießBtrDtPhil. 63). Ulrich W e n d l a n d , Die Theoretiker u. Theorien d. sogn. g. Stilepoche u. d. dt. Sprache (1930; FuG. 17). Wolfg. van d. B r i e l e , Paul Windeier, Diss. Rostock 1918. Herrn. V o g e l , C. F. Hunold, Diss. Leipzig 1897. Heinr. Τ i e m a n n , Die her-g. Romane Bohses. Diss. Kiel 1932. Otto Η e i η 1 e i η , Aug. Bohse-Talander als Romanschriftsteller d. g. Zeit. Diss. Greifswald 1939. Rieh. Ν e w a 1 d, Die dt. Lit. vom Späthumanismus zur Empfindsamkeit (1951) S. 323-325. Bruno M a r k w a r d t , Gesch. d. dt. Poetik. Bd. 1 (1937; PGrundr. 13). Willi

Flemming

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Gassenhauer — Gedankenlyrik

Gassenhauer Im 16. Jh. bedeutet G. einen Gassenbuben, Pflastertreter und Nachtschwärmer, und erst in zweiter Linie die von solchen Elementen gesungenen Lieder, aufgeführten Tänze und Musikstücke. Stieler gibt die Begriffsbestimmung: „cantilena quaedam vulgaris, quae noctu vicatim cantatur"; Maaler: „ein gemein und schlächt ( = schlicht) Gassenlied, carmen triviale". Fischart prägt für „Sänger" und „Saitenspieler" auch das Wort „Gassenhawierer"; Fr. Müller verwendet den Ausdrude identisch mit „Bänkelsang". Ursprünglich haftete dem Wort nichts Geringschätziges an. Das zeigt die 1535 bei Egenolf in Frankfurt a. M. erschienene und dreimal aufgelegte Sammlung Gassenhawerlin, welche neben verhältnismäßig wenigen volksliedhaften Gebilden eine stattliche Anzahl von Hofweisen mit ziemlich gekünstelten und auf eine ausgesprochene Bildungsschicht hinweisenden Texten in Sätzen erster Komponisten der Zeit (Senfl, Hofhaimer, Greitter usw.) bringt. Gelegentlich wird dem G. sogar Lob gezollt: Bürger spricht (im Herzensausguß über Volkspoesie) vom „Zauberschalle der Balladen und G. unter den Linden des Dorfes"; ein Rezensent des Wunderhorns (Heidelberger Jbb. 2, 1809, Η. 1, S. 231) nennt die Marseillaise einen „tüihtigen G.", und noch 1818 verwendet Görres das Wort in gutem Sinne. Häufiger sind allerdings die abwertenden Urteile, und heutigen Tags versteht man unter G. einen Schlager übler Sorte, wie solche, von volksfremden Scribenten verfaßt, aus seichten Operetten, Tingeltangels, Kabaretten und ähnlichen Instituten ins Volk dringen („Paul, Paul, zuckersüßer Paul, glatt rasiert ums Maul " und dgl.) und in ihrer Frechheit und Instinktlosigkeit der gerade Widerpart des echten, aus bester Volksart entsprießenden Volksliedes sind. Die intellektualistische Anschauung, daß der G. das Volksliedhafte am besten vertrete, kann nicht scharf genug zurückgewiesen werden. DWb. Bd. 4, 1, Sp. 1449-1450 (Gassenhauer). — Gassenhawerlin und Reutterliedlin zu Franckenfurt am Meyn. Bei Christian

Egenolf 1535. Faks.-Neuausg. d. ältesten Frankfurter dt. Liederbuch-Druckes. Hg. u. eingel. v. Hans Joachim M o s e r (1927). A. S p a m e r , Gassenhauer, in: Sachwörterbuch d. Deutschkunde. Hg. v. Hofstaetter u. Peters. Bd. 1 (1930) S. 382. Kurt C u d e w i l l , MGG. 4 (1955) Sp. 1421-1431. Anton

P e n c k e r t , Kampf gegen musikal. Schund~ lit. 1. Das Gassenlied. Eine Kritik (1911). Erich Seemann Gattungen s. Literaturwissenschaft. Gebetbuch s. Liturgie. Geblümter Stil s. Stil, geblümter. Gedankenlyrik § 1. Der immer seltener werdende Name 'Gedankenlyrik' meint nicht so sehr eine Gattung als eine Kategorie, eine Haltung und Wesenslage der Lyrik. Das höhere Drama ist immer irgendwie Gedankendichtung — schon als Theodizee, die das Leid und das. Böse in Wege oder Fragen nach der größten Ordnung kehrt. Der Roman wieder ist stets Begegnung von Dichtung und Nichtdichtung, er kann neben dem buntesten Stoffgut auch eigenständiges Gedankengut einschließen. Und das epische Lehrgedicht ist seit Hesiod und Empedoldes, seit Lukrez und Vergil eine unproblematische Form der Didaktik geblieben. In der Gedanken-Lyrik hingegen soll Idee durch Erlebnis vermittelt werden, soll ideeller Gehalt (Weltbild, Einsicht, sittl. Forderung) beschwingenden Ausdruck gewinnen und reelles Gefühl auslösen, also den ganzen Menschen bewegen. Es gilt nicht bloße Einkleidung von Inhalten — wie in den durchschnittlichen Formen der Fabel oder des Rätsels, der Tendenz- oder Reklame- oder sonstwie schlagwortbildenden Gebrauchsdichtung. Es darf auch bei keinem Nebeneinander von theoretischen Schemen und unbestimmten Wallungen das Bewenden haben. Vielmehr müssen Gedankengrund und Sprachkörper in dichterische Verbindung, zumindest in beiderseits gebende Wechselbeziehung treten — wenn schon in keine Verschmelzung, die die Unterscheidung völlig aufhöbe. Uberall drängt die Gedankendichtung nach Zündung artikulierter Totalaspekte in lyrische FormElemente: von Petrarca bis Byron und Shelley, Lamartine und Leopardi. Eben dadurch aber gerät sie in ein Dilemma, das den Begriff G. weithin abgedankt hat: entweder glückt die Anverwandlung des Gedachten in Seele und geistlebendige Sprache, dann handelt es sich um Dichtung schlechthin (nach Dilthey, auch Walzel, R. Unger und Andern kann alle Dichtung gedankendichterisch ausgelegt werden); oder das Gedankliche geht

Gedankenlyrik nicht in die Synthese ein, es bleibt bestenfalls Muttergestein der lyrischen Kristalle, wenn anders es nicht die Kristallbildung verhindert — insofern liegt schlechte Dichtung oder bruchstückhafte Dichtimg, mehr oder weniger Undichtung vor. Darum hat selbst Schiller, ohne den von G. kaum geredet würde, diesem Typus widersagt. Die Dichtkunst, heißt es in der Abhandlung über naive und sentimentalisdie Dichtung, könne „im Reich der Begriffe oder in der Verstandeswelt schlechterdings nicht gedeihen": „Noch, ich gestehe es, kenne ich kein Gedicht in dieser Gattung, weder aus älterer noch neuerer Literatur, welches den Begriff, den es bearbeitet, rein und vollständig entweder bis zur Individualität herab oder bis zur Idee hinaufgeführt hätte. Der gewöhnliche Fall ist, wenn es noch glücklich geht, daß zwischen beiden abgewechselt wird, während daß der abstrakte Begriff herrscht, und daß der Einbildungskraft, welche auf dem poetischen Felde zu gebieten haben soll, bloß verstattet wird, den Verstand zu bedienen. Dasjenige didaktische Gedicht, worin der Gedanke selbst poetisch wäre, und es auch bliebe, ist noch zu erwarten" Ebenderselbe Schiller freilich hat die hier zugrunde liegende Platonisch-Plotinisdie Ästhetik — Geist werde Fleisch, Stoff werde geisthaltige Form! — nicht nur in klassischen Werken verwirklicht. Er hat sie zuvor auch idealiter (leitbildlich) besungen oder transzendental (inbegrifflieh) umschrieben, in Versen, die aus der äußersten Spannung von Ideal und Leben heraus das Ideal lebendig machen. Schiller ist da selbst die größte Ausnahme der von ihm aufgestellten Regel. Doch es gibt der Grenzfälle mehr: Die Lyrik muß G. werden, wenn ihre Welt identisch ist mit denkend aufgenommener, gedanklich durchgeprägter Welt — wie esoterisch im hohen MA. und später profan in der Aufklärung. Dem mal. Christen dringen viele Glaubensinhalte in rationaler Metaphysik zu Sinn: Auch seine religiös gestimmte Lyrik, eine gesamtmenschliche und unmittelbare Kunst, wird immer wieder zur Gedankendichtung — ohne daß das Heilige verweltlicht oder die Empfindung abgetötet würde. Gerade in der Konvergenz gefühlsdurchbebter Bilder und unberührbarer Gedanken kann das Göttliche so überwältigend aufleuchten wie bei Dante.

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Die reinsten Blüten der G. zeitigt dann die Aufklärung: Vernunft ist der göttliche Fug der Wesen und Dinge, in ihr beruht alle Welt- und Lebensgestaltung, aller Schöpfungsauftrag des Menschen einschließlich seines dichterischen Schaffens. Nie haben solcherart Gedanke und Dichtung sich tiefer, notwendiger und naiver verstrickt als bei Schiller. Aber auch die Barocklyrik, mittewegs zwischen MA. und Aufklärung, nimmt viele Züge von G. an. Sie behauptet das Christentum, das durch die Kämpfe zwischen Reformation und Gegenreformation ebenso problematisiert wie aktualisiert, gesteigert und verleidenschaftlicht wird, vor den umwälzendsten Entdeckungen der Physik und Mechanik, Anatomie und Physiologie, der Medizin, Biologie und überhaupt Erforschung der instrumentalen Apparaturen im Menschen und in der stofflichen Wirklichkeit. Und diese Auseinandersetzung zwischen MA. und Neuzeit wird inmitten der Bilderpracht, -klarheit und -strenge der literarischen Renaissance ausgetragen. Das echt barocke Gleichnis, besonders in der Lyrik, knüpft allemal eine universelle, metaphysische, vornehmlich religiöse Bedeutung an ein möglichst sinnfälliges, gewissermaßen Galilei'sches, evident maschinelles und technisch subtiles Bild. Auf diesem Boden, dieser gemeinsamen Ebene Descartes' und Shakespeares, birgt sowohl die geistliche als auch die weltliche Dichtung durchweg Anlagen zur Gedankendichtung. Auf wieder ganz andere Weise machen nachmals dt. Romantiker die G. ubiquitär. Schon Friedrich Schlegel, genial und den Klassikern kongenial — sozusagen ein großer Dichter — als Kritiker, Kommentator und Interpret; als Dichter hingegen von allen Musen schnöd verlassen und verleugnet. Es naht das Zeitalter, das aus vier Zeilen Hölderlins 400 Seiten philosophischen Tiefsinns zu zapfen, doch immer weniger Wissen umgekehrt in Bild und Tat zu verdichten, zu redintegrieren vermag: im Gedanken naiver als im Gefühl und Gesicht, in der Anlehnung an Gedanken weit produktiver als allein mit sich und der Wirklichkeit. Seit Nietzsche vollends erfährt das kategorielle Verhältnis von Dichtung und Philosophie abgründige Wandlungen. Immer bewußter die Dichtung — immer mehr Dich-

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Gedanlcenlyrik

ter philosophieren, immer mehr Professoren dichten (in vielen Ländern). Auch Rilkes stärkste weltliterar. Ausstrahlung entstammt dem Verein raffiniertester Bildlichkeit mit extremer Gedanklichkeit (gleichsam Manet und Cezanne plus Simmel und Ortega), der Durchdringung eines unsäglich differenzierten Eindrucks- und Ausdrudesvermögens der Sinne mit ebenso ursprünglichen, bohrenden, gläsern scharfen Philosophemen; einer Gedanklichkeit, die, bei Rilke selbst immanent und intuitiv-konkret, bei Späteren mehr Bewußtheit und halb-begriffliche Aussage als transparente Gebilde erweckt hat. Immer öfter werden jetzt Erlebnis und Anschauung erst durch Hinzutritt gedanklicher Reflexion formbar. Anderseits übt heute ζ. B. viel Existenzphilosophie (auch manches Stück Geisteswissenschaft) zumindest Wirkungen mehr von G. als von wissenschaftlichen Wahrheiten, während die dichterischen Anwendungen des Existenzialismus bislang vieldeutig, teilweise nichtssagend bleiben, häufig auch aus dem Dichten ins Reden zurückfallen (in Allerweltsrealismen mit Existential-Kommentaren). Dennoch reift dieser Zustand — die Allgegenwart, Erstgeburt und Unauflöslichkeit gedachter Gedanken — neue Töne, neue Formen der Lyrik: bei T. S. Eliot oder MacLeish wie bei Holthusen oder Hagelstange, stellenweise bei Gottfried Benn oder in den Visionen vom Sterbebett Ivan Gölls. Desgleichen setzt die erstarkende religiöse Lyrik der Gegenwart immer wieder gedankliche Vermittlungen ein, die katholische wie die protestantische, die kirchliche wie die außerkirchliche Lyrik — auch die Heilsbotschaften im Gefolge von Georges Stern des Bundes (bis zu Ludwig Derleths Tod des Thanatos, 1945). Gar die totalitäre Politik und Sektiererei jeder Art auferlegt ihrer Dichtung eine gedankliche Systematik, die zumindest einen unverrückbaren Raster bildet. In diesem Zeitalter der chemischen Geständnisse, der Hormondiätetik und der Elektronenrechenmaschinen, der durchgängigen Rationalisierung und der Uberbewußtheit der historischen selbst prähistorischen Horizonte hat der Name G. seine Geltung verloren. Er zeichnet nichts mehr und hebt nichts Wesenhaftes heraus. Hier kann es nur noch gelten, die Gebiete der Vergangenheit zu sichten, in denen die-

ser kategorielle Begriff (ein Leitbegriff wie Satire, Idyllik, Dinggedicht, Panorama, Groteske u. ä.) sich aufschließend und unterscheidend bewährt — und am Ende kurz bei der G. Schillers zu verweilen, die den Typus am elementarsten und schlüssigsten verwirklicht. § 2. Die Didaktik des MA.s wahrt kirchliches Gepräge. Gelehrte Bildungsdichtung überwiegt, lehrhafte Tierdichtung wird deren buntester Ableger. Liturgisches und Legendarisches wetteifern mit Scholastischem. Ritterliche Lebensart und Wertung werden ausdrücklich doziert. Die Gnomik der Spervogel-Zeit versiegt unter der Herrschaft des Spielmanns- und des Abenteuer-Romans; erst Walther und Reinmar von Zweter tragen die Spruchdichtung neuen Gipfeln zu. Daneben regt sich höfische Reflexionslyrik im Stil Friedrichs von Hausen. Spätere Lehrdichtung rückt aus der adeligen in die bürgerliche Sphäre, auch Vaganten-Überlieferungen fortsetzend. Nun erscheinen unter den Liedersängern der fahrende Schwabe Marner und der Süddt. Kanzler, die Norddt. Rümesland und Regenbogen, in manchem schon Wegbereiter des Meistergesangs; in der umfänglicheren Strophen- und Reimpaar-Didaktik Der Winsbeke und Die Winsbekin, Thomasins von Zirclaere Welscher Gast, Freidanks Bescheidenheit und der Renner Hugos von Trimberg, schließlich die Allegorien des 14. und 15. Jh.s. Das 16. Jh. sammelt Sprichwörter und bearbeitet Fabeln, es macht die Welt zur Schule und obliegt, seit Brant und Murner, satirischer Polemik, Belehrung und Besserung. Narren- und Teufelsschriften möchten durch Gelächter tadeln und töten. Die Dichtung tritt in alle religiösen Fronten. Kompendiöse Specula stellen sich betend und predigend über das Weltgetriebe, Jedermann-Stücke halten Gericht über menschliche Stände und Werke, Himmel und Hölle begegnen einander in eschatologischen Szenen. Das barocke Jahrhundert verleiht der didaktischen und satirischen Dichtung zunächst gelehrten Charakter. Opitz, der dem Erzieherisch-Erbaulichen inniger zuneigt als kritischem Eifern, bietet horazisch-weltkluge neben christlich-stoischer Weisheit in Zlatna, Lob des Feldlebens, Vielguet. Ähnliche Akkorde finden schon mehrere Neulateiner, auch Th. Hock und einige Dichter der Zinkgrefschen Anthologie, wie nachher viele

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Gedankenlyrik

Freunde des Opitzischen Gesellschaftslieds. Und üppig blüht die Epigrammatik und Spruchdichtung, nicht nur auf den Höhen der Friedrich von Logau, Johann Grob, Hans Aßmann von Abschatz. Edelste G. ersteht bei Fleming und Andreas Gryphius, in Versen voll dogmatischer Wucht und artistischer Meisterschaft. In eigenständigerer Gedanklichkeit verharrt oft der Protestantismus des Kirchenlieds, Johannes Rists wie Paul Gerhardts, Martin Rinckarts wie Benj. Schmolckes oder des Pietisten Gottfried Arnold. Und in grandiose Konvergenz treten mystische und poetische Ekstatik in den doppelt flammenden Sonetten der Katharina Regina von Greiffenberg oder den Geistreichen Sinnund Schlußreimen des Cherubinischen Wandersmanns Johannes Scheffler. An der Schwelle der Aufklärung steht die „physikotheologische" Dichtg. Barth. Heinr. Brodces' und die spekulativ-oder hymnischmonumentale A. v. Hallers. Pope und Thomson finden Nachfolge bis zu Geßner und Wieland und Matthisson. Uz schreibt eine optimistische Theodicee, neben einem Versuch über die Kunst stets fröhlich zu sein. Von Milton gehen Ströme, stieben Zündfunken zu Bodmer und Klopstock. Glanz und Glut des Klopstock'schen Verses strahlen dann bis zu Lavater und den Brüdern Stolberg, zu Schubart und dem jungen Schiller, zu Goethe und Hölderlin. Zum erstenmal bei Klopstock sind religiös-metaphysische Werte rückhaldos in den Enthusiasmos eines heilig-beschwingten Herzens gelöst und in voraussetzungslose Sprachkunst befaßt, das Mysterium des Glaubens erhebt menschliche Gefühle ins Unbedingte und erfüllt leibhaftige Bilder mit dem Schauer des Ubermenschlichen... Beschaulichere Gedankenspiele tauchen im frühen Rokoko der Halberstädter und der Hallenser auf, gewichtigere bei A. G. Kästner, bei Matthias Claudius oder Göckingk. Die Raisonnements der Christian Weise und Warnecke werden im Kreis der Rabener und Liscow fortgesetzt, verwandelnden Atem gibt ihnen erst Lessing: Nathan der Weise, aus Studien erwachsen, als Streitschrift begonnen, ist unsre wohl bedeutendste Gedankendichtung zwischen Klopstock u. Schiller. Auch Wieland hat in seinen jugendlichen Epen und reifen Romanen, seinen Satiren und Episteln mannigfach an dieser Entwicklung teil, desgleichen Reallexikon I

Herder mit seinen feierlichen Lehrdichtungen . Was sich in Goethes Lyrik hierher zählen läßt, gehört zumeist der Spätzeit an: Vereinzeltes in der Abteilung Kunst, Etliches unter Parabolisch und Epigrammatisch, Mehreres in der Gruppe Gott und Welt (Weltseele und Dauer im Wechsel, aus den 1820er Jahren Eins und Alles und Vermächtnis), mit kostbaren Lied-Übergängen audi Stücke des West-Östlichen Divans. Hervorstechende Beispiele aus Goethes 18. Jh. sind — neben dem Anteil an den Xenien und den Votivtafeln — die Geheimnisse (1784) oder die Metamorphose der Pflanzen (1798). Zu Eckermann äußert Goethe (am 6. 5. 1827), daß unter seinen Dichtungen größeren Umfangs allein die Wahlverwandtschaften bewußt einer durchgreifenden Idee gefolgt seien. Am vielsinnigsten durchkreuzen einander Vision und Mysterium, einleuchtende und transzendierende Symbolik im II. Teil Faust. Kompaktere G. durchzieht das Werk Grillparzers, in dessen Lyrik die betrachterischen und denkerisch-kritischen Haltungen vorwalten. Und vielerorten fügt romantische Kunst-, Natur- und Geschichtsphilosophie, vor allem Religiosität, ausdrückliche Ideen auch in die zugehörige Dichtung ein. Das Wissen-wollen jeglichen Lebens und Lebenwollen jeglichen Wissens mündet in eine postulierte 'Identität' von Bildlichkeit und Gedanklichkeit, die bald die Wissenschaft durch quasi-poetische Theorien problematisiert, bald die Dichtung durch reflektierende Halbdichtung gefährdet, dennoch das Reich der Sprachkunst ungeheuer erweitert und allen Gebieten des Geisteslebens verjüngenden Schwung leiht . Die massivere Ideenwelt Hegels spiegelt sich lyrisch in Werken wie Schefers Laienbrevier oder Sallets Laienevangelium, mittelbar etwa in Versen des Anti-Hegelianers O. Fr. Gruppe, noch in D. Fr. Strauß' Poetischem Gedenkbuch und Fr. Th. Vischers Lyrischen Gängen. Etwas später, im hohen Drama seit Richard Wagner und breithin seit Lorm und Jordan und Hamerling, beginnen die rasch zunehmenden Auswirkungen Schopenhauers . . Leidenschaft für Ideen und Doktrinen beflügelt die Freiheitsdichtung Anastasius GrünAuerspergs, Herweghs und Dingelstedts samt Gefährten, wie schon zuvor die Polen-Verse Platens und Lenaus. Der überragende G.er 34

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Gedankenlyrik

der Epigonenzeit aber ist Rüdcert: Schon seine Jugendlyrik sucht Natur und Affekt ausdrücklich mit Geist und Sittlichkeit zu durchdringen. Spekulatives Christentum rechtfertigt sich geschieh tsphilosophisch. Und östliche Kontemplation verwächst mit europäischer Mystik: Unter Auspizien besonders Schellings verbrüdem sich Ekkehart und Böhme mit Ferideddin Attar und Dschelaleddin Rumi. Dies nur einige Hauptfarben der Weisheit des Brahmanen, eines so meisterlich komponierten wie mit unübertrefflicher Handwerkskunst gewirkten Teppichs. Zahllos dann die ideologischen Einsprengsel naturalistischer Gedankenlyrik. Kühnere Brückenschläge glücken im heißblütigen Intellekt, in der geistsprühenden Natur Richard Dehmels. Metaphysische Hyperbolik gestaltet und entstaltet die schwärmerisch-robusten Gesichte Alfred Momberts. Ein Kapitel für sich wäre der All-Infragestellung und Selbst-Aufhebung der Gedanklichkeit bei Christian Morgenstern zu widmen. Gleichfalls singulärer Rang eignet der Allegorik Spittelers, gärend in den Extramundana, gereift in den Balladen, vollendet in den Glockenliedern. Und das umwälzende Schicksal Nietzsche leitet schon in die eingangs umschriebenen Wandlungen hinüber. § 3. S c h i 11 e r s G. ist eine Urfunktion seines Genius und ein Strebegerüst seines klassischen Gebäudes. Schillers ursprünglichster Drang zur Dichtung liegt nicht so in einer angeborenen Bildnerschaft als in einem sprachgewaltigen All-Umfassen, dann mehr und mehr Suchen nach menschlich-übermenschlichem Gleichgewicht im All. Fast nie ist Schiller einem schönen Gegenstand der Natur oder Kunst erlegen, kaum hat ihn Frauenschönheit je als Schönheit ergriffen. Als dem fast Dreißigjährigen die Schönheit aufgeht, ragt sie als Ideal und Sakrament über ihn, sie auferlegt ihm sechs dichterische Fastjahre. Sein Weg von der allbegeisterten Jugenddichtung, voll spirituellet Sternenflüge und jäher Stürze in die krasseste Materie, zur ausgeglichenen und gegenständlichen Klassik führt unumgänglich durch seine G. hindurch. Schon Schillers früher seraphischer Uberschwang bemächtigt sich auch aller Aufklärungsphilosopheme der Schule (die Begriffe gemahnen an Herder, Hemsterhuis, Fergu-

son, Hutdieson, Shaftesbury, letztlich Leibniz), in 'Anthologie'-Gedichten vom Schlag Die Freundschaft. Noch vor den philosophischen Studien der ersten 1790er Jahre schließen Die Künstler die Platonisch-Plotinischen Axiome Shaftesburys und Garves (in engerem Zusammenhang auch mit Winckelmann, Mengs, K. Ph. Moritz, in weiterem mit den Renaissancen von Eriugena bis Giovanni Pico und Späteren) — Schönheit birgt Wahrheit, Schönheit schafft Sittlichkeit, Schönheit als Inbegriff und Mitte aller menschlichen Dinge — in eine freudebrausende Feier der Kunst und ihres Welt-Auftrags. Noch das Kant-Studium erweckt so eigenständige Symbolik wie Das versddeierte Bild zu Sais. Die striktere G. Schillers ist erstlich geflügelter Aufschwung zum Schöpfer Geist: Begeisterung für die Begeisterung (Die Macht des Gesanges), inspirierte Hymnik auf die hymnische Inspiration (Dithyrambe), Kunst zum Preis der Kunst wie noch die beiden Punschlieder... Andere Gedichte umkreisen die göttliche „Gunst" des Schönen und Vollkommenen (Der Tanz, Der Genius, Das Glück); die stärksten setzen diese Werte als unerreichbare Leitsterne in Spannung zu einem rastlos kämpfenden Leben. Dieselbe Spannung, die diesen Dichter zum Urdramatiker macht, entfaltet sich in Gedichten wie Das Ideal und das Leben als lyrischer Optativ des Gedankens — mit so bezwingender Kraft und Glut, daß das Ideal zur Schwinge des Lebens, ja daß es selbst lebendig wird, indem es dem Leben Grund und Halt gibt. Die G. als solche wölbt hier manch ungeheuren Bogen zwischen christlicher Transzendenz und antiken Erfüllungen in Leiblichkeit und Bildlichkeit . . Ein drittes Hauptfeld gehört der nicht so ästhetischen als sakralen Schaustellung des Gesamtfugs, der der G. Schillers den ideellen Hintergrund und Wurzelboden, den Tragödien Schillers das Maß der Form und die sittliche Richte des Handelns gibt. Da ist ein panoramatischer Rundblick in Natur und Geschichte wie Der Spaziergang; ein monumentales Fresko des bürgerlichen Daseins, ein lyrisches speculum vitae humanae, wie Das Lied von der Glocke; ein Hochgesang auf die kultische Stiftung der Kultur, die auch der Dichtung ihren Ort im größten Ganzen bestimmt und über die tragischen Schlachtfelder ein Ziel- und Wunschbild des

Gedankenlyrik — Gegenreformation Friedens hängt, wie Das Eleusische Fest... In benachbarten Gedichten wird das Schöne, das Vollendete bald schön und vollkommen definiert, bald panegyrisch als Götter-Gnade und Gottes Heil umworben, bald in festlichen Botschaften als Gesetz des Menschengeschlechts, allen Schaffens und Strebens, der großen Geschichte und jeglichen Alltags verkündet. Hier wie überall bei Schiller führt noch die äußerste Vereinfachung niemals in Abstraktion, immer in großartige und volkstümliche Bilder, Leit- und Urbilder, von ebenso wertbeständiger Gültigkeit wie unabsehbarer Bewegkraft. Auch durch Schillers G. werden die Ideen der faustischen Humanität in Fahnen gewoben, in Fäuste gebrannt und in Herzen gesenkt. Ein unverbrüchlicher, gesamtmenschlicher Wille zu allem Großen wird für das in sich Vollendete, das Gute und Gerechte eingesetzt, die Kunst als Trägerin und Mittlerin ewiger Ordnung erwiesen. Die G. übergreift sich hier zu wahrer Klassizität. Moritz C a r r i e r e , Das Wesen u. d. Formen d. Poesie (1854). Rud. E c k a r t , Die Lehrdichtung, ihr Wesen u. ihre Vertreter (2. Aufl. 1910). Panait S t a n c i o v - C e r n a , Die Gedankenlyrik. Diss. Leipzig 1913. Rud. U η g e r , Weltanschauung u. Dchtg. (1917; Schweiz. Sehr. f. allgem. Wissen 2). Erwin P a n o f s k y , Idea. Ein Beitr. z. Begriff sgesch. d. älteren Kunsttheorie (1924; Stud. d. Bibl. Warburg 5). Oskar W a l z e l , Gehalt und Gestalt im Kunstwerk d. Dichters (1924; HdbLitwiss.) S. 84 ff. Benedetto C r ο c e , Poesie u. Ntchtpoesie (1925; Amalthea-Büch. 46/47). Max D e s s o i r , Die Kunstformen d. Philosophie (1928; Festrede Univ. Berlin). P. S c h a a f , Das philosoph. Gedicht. DVLG. β (1928) S. 270-292. H. C y s a r ζ , Zwischen Dichtung u. Philosophie, in: Dichtung u. Forschung. Festsdir. f. E. Ermatinger (1933) S. 1-29. Joh. P f e i f f e r , Zwischen Dichtung und Philosophie. Ges. Aufsätze (1947). Christof J u n k e r , Das Weltraumbild in der dt. Lyrik von Opitz bis Klopstock (1932; GermS1.111). Helmut Paust ia η, Die Lyrik d. Aufklärung als Ausdruck d. seel. Entw. von 1710-1770 (1933; Lit. u. Seele 3). Stefanie B e h m - C i e r p k a , Die optimistische Weltanschauung in a. dt. Gedankenlyrik d. Aufklärungszeit. Diss. Heidelberg 1933. Hans B ö h m , Gedankendchtg. d. Frühromantik. Ausgew. u. eingeh (1925; Kunstwart-Büch. 27). Ders., Gedankendchtg. d. späteren Romantik. Ausgew. u. eingel. (1925; Kunstwart-Büch. 28). Georg V o i g t , Rückerts Gedankenlyrik (1891). Marc C i t o 1 e uχ, La poesie philosophique au 19e sidcle. These 1906. H. C y s a r ζ , Schiller (1934) S.

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241 ff. Ε. Ρ h i 1 i ρ ρ i , Schillers lyrische Gedankendchtg. (1888). Friedr. Albert L a n g e , Einl. u. Kommentar zu Sdi.s philosophischen Gedichten (1897). Helene L a n g e , Sch.3 philosoph. Gedichte (3. Aufl. 1910). P. C a r u s , Sch. as philosophical poet. Open Court 19 (1905) S. 293 ff. Robert P e t s c h , 'Das Ideal u. d. Leben', in: Gedicht u. Gedanke. Hg. v. Η. Ο. Burger (1942) S. 119 ff. W. Rasch, Die Künstler. Dtschunt. Arbh. 1952, 1952, 5. Herbert Cysarz Gegenreformation § 1. Die B e z e i c h n u n g G. wird bereits vom Göttinger Juristen Joh. Stephan Pütter seit 1776 mehrfach gebraucht. Doch spricht er wie auch K. F. Eichhorn in seiner Dt. Rechtsgeschichte (1831) stets von 'Gegenreformationen' als fürstlichen Einzelaktionen. Leopold v. Ranke weist am Schluß seiner großen Darstellung (Di. Gesch. im Zeitalter der Ref., 1843) auf das nun folgende „Zeitalter der G." hin. E. Gothein (Staat u. Gesellschaft im Zeitalter der G., 1908, 2. Aufl. 1924) will damit einen Zeitraum kennzeichnen als „Rückschlag gegen die große kulturelle und religiöse Umwandlung seit der Renaissance und Reformation". Auch in England und Frankreich hat man diese Bezeichnung aufgegriffen. Es fehlt nicht an krit. Einschränkung, ja Ablehnung. Jedoch ist man darin einig, daß es sich um die letzte Etappe eines Zeitalters handelt, bei dem das Religiöse der maßgebende Impuls ist, der das Politische wie Kulturelle entscheidend beeinflußt. Wenn man nicht übersieht, wie stark auch beim Humanismus dieser relig. Antrieb zumal in Deutschland wirksam war und wie alles auf „Reformen" hindrängte, so wird man ebenfalls „Reformen" zu sehen bereit sein und nicht bloße Gegenschläge konstatieren. Es läßt sich also die Bezeichnung 'G.' für eine geistesgeschichtl. Periodisierung verwenden, und zwar jener Epoche, deren geistige Dynamik durch Humanismus als erste Etappe, dann Reformation (durch Luther, Zwingli, Bucer) als zweite Etappe gekennzeichnet wird, und die man sich als Reformationszeitalter zu bezeichnen längst gewöhnt hat. § 2. G e i s t e s g e s c h i c h t l i c h geht der entscheidende Anstoß aus vom Abschluß des Tridentiner Konzils mit der Verkündung der Professio Fidei durch Papst Pius IV. am 13. Nov. 1564. Damit ist die Grundlage von Glauben und Kultur endgültig festgelegt. Daraufhin erfolgt eine durchgreifende Rege34·

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lung des religiösen Lebens und der kirchlichen Ordnung in den katholisch gebliebenen Gebieten. Bei dem großen Verlust an Vertrauen auch des kath. Laien hatten neue Orden und Kongregationen die besten Aussichten, um eine kath. Reformation durchzuführen. Der religiösen Erneuerung innerhalb des Klerus dienten die Oratorianer und die Theatiner (gegr. 1542). Entscheidend wurde der Jesuitenorden; daneben wirken die Kapuziner, die sich besonders für die Verehrung der Mutter Gottes einsetzen, sowie als spezieller Schulorden die Piaristen. Für die bessere und moderne Vorbildung der Geistlichkeit wurden Klerikerseminare eingerichtet, die gymnasiale Vorbildung wurde nach humanistischem Muster durchgeführt. Auch seelische Schulung und geistige Vertiefung wurde gefördert. Thomas von Kempen und die spanische Mystik (Theresia von Avila, Johannes vom Kreuz) werden allmählich bekannt. Vorbildlich sind die „Geistlichen Exerzitien" von Ignatius. Auf den Universitäten wird der Neuthomismus maßgebend, der Aristoteles als antike Grundlage einbezog. So wird in Universität und Gymnasium der Anschluß an die vom Humanismus geschaffene Reform und Ausgestaltung erreicht. Der Morallehre und der Beichtpraxis wird größte Sorgfalt zugewendet. Petrus Canisius S. J. schuf 1554 bereits den volkstümlichen Katechismus. Die Dogmatik arbeitet die Unterschiede geeenüber den Protestanten scharf und polemisch heraus. Auch auf der Seite der Neugläubigen ist die dogmatische Versteifung deutlich. Es kommt zu kleinlicher Rechthaberei (Matthias Flacius Illyricus!) und Parteiung, die das Kov.kordienbuch, das 1580 am fünfzigsten Jahrestage der Confessio Augusfana veröffentlicht wurde, nicht gänzlich zu beseitigen vermochte. Mit dieser neuen Bekenntnisschrift sollte zugleich die Abgrenzung vom Calvinismus vorgenommen werden. Denn die logische Unerbittlichkeit und Klarheit von Jean Calvin (1509-64) hatte in der Institutio religionis Christianae (zuerst 1536, entscheidende Fassung 1559) eine geschlossene Dogmatik und Ethik geschaffen, die alles Zeitgenössische weit übertraf. Calvins glänzende organisatorische Begabung schuf zugleich den Stadtstaat Genf zum vorbildlichen Muster um. Die Auswirkung auf das

übrige Europa war gewaltig, in Deutschland aber geistig gering und politisch nur partiell. Der Heidelberger Katechismus erschien schon 1563. Im Ganzen herrscht in Deutschland ein Gefühl der Gedrüdctheit. Die wirtschaftliche Stagnation macht sich bemerkbar. Man fühlt sich bedroht von nicht greifbaren Gegnern, der Dämonenglauben wuchert, Hexenwahn und Hexenprozesse wüten bei allen Konfessionen. Genußgier und Prunksucht sind im Bürgertum wie im Adel weitverbreitet. Man ahmt die fremdländischen Moden und Sitten bedenkenlos nach. Die Emsthaften ziehen sich in religiöse Innerlichkeit zurück, bilden Konventikel (Sudermann, Weigel). Schwenckfelds Werke erscheinen posthum (1564-70). Den Höhepunkt bildete schließlich das Andachtsbuch von Joh. Arndt Vom Wahren Christentum (1605-09) und sein Paradiesgärtlein (1612). Bei den gebildeten Laien findet die irenisdie Richtung von Melanchthon Verständnis und stilles Weiterdenken, am einheitlichsten in Holland. § 3. Den Charakter der G. erhielt der Lauf der Ereignisse durch die enge Verknüpfung d e s R e l i g i ö s e n m i t d e m S t a a t l i c h e n . Das restaurative Zurückdrängen des Protestantismus wurde dadurch zu einer polit. Tat. Auch die beiden vorhergehenden Etappen waren in steigendem Maße bestimmt durch die Mitwirkung der Territorialfürsten. Die Landesuniversitäten, zumal die neugegründeten, wurden Sitz des Humanismus, das Schulwesen wurde durch Schulordnungen organisiert und überwacht. Ähnlich geschah es mit der kirchlichen Verwaltung. Der Gedanke des Landeskirchentums war ja seit langem geläufig und wurde gleichzeitig in England und Frankreich durchgesetzt. Bei den geistlichen Fürstentümern Deutschlands war er verhältnismäßig selbstverständlich und harmlos. Die weltlichen Fürsten nutzten ihn zur Säkularisation von Kirchengut, um ihren Territorialbesitz zu erweitern und ihren persönlichen Landbesitz zu vergrößern. Die häufigen und allgemein üblichen Erbteilungen zersplitterten den vorhandenen Bestand und verstärkten den Drang nach Erweiterung des Gebietes. Unter diesem Aspekt muß man das Vorgehen bei der Restauration sehen. Besonders die Städte waren ein begehrtes Objekt.

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Gab es auch zahlreiche reichsunmittelbare, so war die Mehrzahl doch nur halbfrei, dabei neigten sie meist zum Protestantismus. Der große Wandel in Auffassung und Struktur des Staates überhaupt wird am deutlichsten bei Macchiavelli (II principe erschien zuerst 1532). Der moderne Machtstaat ist national orientiert. In England, Frankreich, Spanien wird er gegenüber den Ständen durchgesetzt. In Deutschland konsolidierten sich die Territorialfürsten, und zwar gerade mit Hilfe der Reformation. Sie erlangten durch ihren Einsatz für das allgemein Ersehnte geistiges Ansehen, ja schließlich religiöse Weihe (Gottesgnadentum). Sie begannen im Innern die Verwaltung zu organisieren unter dem neuen Gesichtspunkt des Geldertrages gegenüber den bisher vorwiegenden Naturalleistungen. Dadurch wurden sie allmählich selbständig gegenüber den Städten und ihrer Kapitalmacht. Sie behaupteten sich auch gegen den weltumspannenden Imperialismus Habsburgs. Dieser war mit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 und der bald folgenden Abdankung Karls V. offensichtlich gescheitert. Der Landesherr bestimmte nunmehr die Konfession für sein Territorium, allerdings mit Ausschluß der geistlichen Fürstentümer (Reservatum Ecclesiasticum). Bedenklich war das Paktieren mit den anderen europäischen Großmächten. Aber den Habsburgern war das ja selbstverständlich. Freilich waren sie in Deutschland auch nur Territorialfürsten, das Land zunächst noch geteilt und die Kaiserkrone eine bloß repräsentative Würde. Die Tesuiten stellten sich bei der Organisation der kath. Territorien eifrig zur Verfügung und bekamen das gesamte Bildungswesen, damit das geistige Leben überhaupt in ihre Hand. Als Beichtväter waren sie audi die Berater der Fürsten. Die Wittelsbacher wurden führend; bis 1570 war die kath. Einheit in Bayern unter Albrecht V. wiederhergestellt. Die Universität Ingolstadt wurde geistiges Zentrum. Gleichzeitig erlangte der Wittelsbacher Ernst außer Kurköln noch fünf Bistümer. Maximilian I. (reg. 1598-1651) wurde Gründer und Führer der Liga. Bei seinem Zugriff auf die freie Reichsstadt Donauwörth (1608) schlossen sich die protestantischen Fürsten zur Union zusammen (1608). Sie waren die ganze Zeit über durch die Ri- |

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valität zwischen Sachsen und der Pfalz beeinträchtigt gewesen und in Abwehrstellung verblieben. Durch die inzwischen energisch vorgetriebene Rekatholisierung von Köln aus und auch in Österreich war der kath. Bereich audi geographisch kompakt geworden und die Lage sehr zugespitzt. Der böhmische Aufstand von 1618 wurde deshalb zum Anlaß des 30jährigen Krieges, weil er den Einmarsch der spanischen Armee unter Spinola ins Rheinland (1620) nach sich zog. Was sich nun wirklich abspielte, war ein Weltkrieg auf Deutschlands Rücken, ein Ringen um die Vorherrschaft in Europa, ausgetragen auf deutschem Gebiet, kein religiöser Bürgerkrieg unter den Deutschen als notwendige Folge der konfessionellen Streitigkeiten. So erscheint es ratsam, die Etappe der G. und mit ihr die Epoche der Reformation mit dem Kriegsbeginn enden zu lassen. § 4. Das Territorialfürstentum ist noch zu sehr mit den unmittelbaren Schwierigkeiten beschäftigt, um schon von sich aus für eine k u l t u r e l l e G e s t a l t u n g des Daseins Zeit und Sinn aufbringen zu können. Es übernimmt einiges höfischer Konvention und Zeremoniells vom Ausland, besonders von Spanien. Doch entsteht keine Hof- oder Aristokratenkultur für sich. Vielmehr klagen die zeitgenössischen Berichte über die ungeistige Völlerei, übertriebene Jagdliebhaberei, Spielwut und Rauflust. Solchen Grobianismus findet und tadelt man aber ebenfalls an den Bürgern. Eine weit verbreitete Wohlhabenheit in den Städten ist mit Stagnation verbunden, die zu einem höchstens gefühlsmäßig geahnten Abseitsgeraten gegenüber den kolonisierenden Nationalstaaten Westeuropas führte. Dorthin verschob sich immer deutlicher die Achse von Handel und Macht, damit audi der Geist des Wagens und Gestaltens. Eindringlich beweist das der Rückgang der Hanse, der Verlust ihrer Außenstellen in England und den skandinavischen Staaten. Die rheinischen und oberdeutschen Städte sind noch reich und politisch wichtig. Auf ihre Finanzkraft sind Reich wie Territorien dauernd angewiesen. So bleibt kulturell ihr Übergewicht bestehen. Die ganze Epoche war ja bürgerlich orientiert. Die gradualistisdie Schichtung der mal. Gesellschaft war aufgelöst. Das Stadtpatriziat galt als ritterbürtig und verband sich durch Heirat

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mit dem Adel, und durch Ankauf von Gütern konnte der reichgewordene Bürger seine Nobilitierung vorbereiten. Auch der Humanismus war von Anbeginn bürgerlich, ja er wirkte nodi nach dieser Richtung. Aus ihm geht keine exklusive Geistesaristokratie, keine höher geartete Kaste oder Schicht hervor, die etwa kulturell und literarisch führend wurde. Zur Kultur gehört jetzt audi das Buch, seine Kenntnis und sein Besitz. Die Bücherproduktion steigt, die Auflagen werden größer, die Preise geringer. Die Erzählliteratur hat nun immer die billige Oktavausstattung und ist wirklich „Volksbuch" im guten Sinne. Der Absatz ist beträchtlich, also audi das Bedürfnis des Publikums. Beachtenswert ist die große Zusammenfassung Buch der Liebe, eine reine Verlagsspekulation von Feyerabend (Frankfurt 1578 u. 1587), in der die 13 beliebtesten Ritter- und Liebesromane zusammen gedruckt wurden. Einer Neigung zum Sammeln entspringen audi die so beliebten Schwanksammlungen und die gedruckten Liederbücher. Daneben steht die ausgedehnte Produktion der Neulateiner. Sie ist überwiegend Kasualpoesie, also Gebrauchsschrifttum. Im Bürgertum bleibt der alte Hang, an derlei Bildungsgütem Anteil zu nehmen. Dem dienen weiterhin zahlreiche Ubersetzungen. Das literar. Geschehen verteilt sich auf zwei Generationen von untersdiiedlidier Eigenart. Die erste macht sich etwa um 1570 mit repräsentativen Veröffentlichungen bemerkbar. Ihre Exponenten sind Joh. F i s c h a r t und Nikodemus F r i s c h I i n. Beide starben 1590 und sind fast gleich alt, beide produzierten aus verwandter Impulsivität in temperamentvollem Selbstbewußtsein und sich steigernd in der hitzigen Freude am Kampf. Jedoch blieb Frischlin der neulat. Poesie treu, Fischart war und wollte deutscher Volksschriftsteller (nicht Dichter) sein. Bei ihm kommt zu profunder humanistischer Bildung die Kenntnis der holl. und franz. Lit. und Sprache hinzu. Dr. jur. und Verwaltungsjurist, ist er politisch interessiert, und zwar im Sinne der energischen pfälzischen Richtung. Er arbeitet für seinen Schwager, den Verleger Bernh. Jobin in Straßburg, publizistisch. Zunächst greift er zwei Vorkämpfer der G. an: Joh. Jak. Rabe in Nacht Rab oder Nebelkräh (anonym 1570) sowie

den Satiriker Joh. Nas in Der Barfüsser Secten- u. Kuttenstreit (1570) u. danach im Nasenspiegel. Audi Georg Nigrinus richtet ein gereimtes Spottgedicht gegen Nas: Vom Bruder Joh. Nasen Esel (1570). Zu Tagesereignissen nimmt Fischart Stellung für Hugenotten, England und Holland gegen den Papst. Als die Jesuiten im nahen Molsheim ein Kolleg eröffnet hatten, antwortete F. mit zwei großen Satiren: dem Bienenkorb (1579) in Anlehnung an den holländ. Bienenkorf (1568) des Phil. Marnix v. St. Adelgonde, des Freundes Wilhelms von Oranien, und dem Jesuiterhütlein (1580). Doch ist das nur die eine negative Seite, positives Ziel ist ihm eine volkstümliche Moralerziehung; es geht um die Bewahrung und Bewährung der errungenen evangelischen Haltung und Gewissensfreiheit. Dazu kam satirische Einkleidung und übertreibende Ausmalung des Unerwünschten (Flöhhaz 1573, Geschichtklitterung 1575) oder auch direkte Behandlung und Verdeutlichung wie das Ehzuchtbüthlein (1578), das Glückhaft Schiff (1576), die Übersetzungsparaphrase der zweiten Epode des Horaz Beatus ille (1579). Der Zeit- u. Sittenkritik dient die Teufelslit., die nun vom geschäftstüchtigen Verleger Siegmund Feyerabend als Theatrum diabolorum (1569) zusammengefaßt wird. Fischart übersetzt Jean Bodins Verteidigung des Hexenglaubens (Majorum Daemonomania). Das Faustbuch (1587) und jenes von seinem Famulus Wagner (1594) gehören hierhin als Warnung vor der intellektuellen Überheblichkeit. Der tiroler Arzt Hippolytus Guarinoni schildert die Greuel der Verwüstung menschl. Geschlechts (1610), und Olorinus ( = der evangelische Pfarrer Joh. Sommer) malt in der Ethnographie mundi (1607) die Neuerungssucht u. Fremdländerei als Ende eines Zeitalters aus. Fischart wirkt auch an der Verbreitung der europäischen Modelektüre, dem Amadisroman (s. d.), mit durch die Versvorrede zu dem wahrscheinlich auch von ihm übersetzten 6. Buche (1572). Der Verleger Feyerabend, der 1569 den 1. Band nach der franz. Bearb. (Herberay des Essarts) herausbrachte und schnell die weiteren folgen ließ, bestätigt schon 1577 den großen Absatz, macht 1583 eine Sammelausgabe von Buch 1-13, bis 1595 sind es 24 Bde. Die Lesersdiaft

Gegenreformation stellten nicht nur die Frauen des Adels, sondern mehr des wohlhabenden Bürgertums. Sie fanden in den phantastisch und empfindsam ausgestalteten Abenteuern die erwünschte Enthebung aus der kleinlichen und verzankten Wirklichkeit. Das geistliche Lied zeugt von lebendiger Frömmigkeit, die das Familienleben trägt und die gesellschaftliche Ordnung stützt. Kraft des Wächteramtes des Predigers dichtet Bartholomäus Ringwaldt eindringliche Mahnungen (Evangelia 1582) oder Nie. Selnedcer sein Gesangbuch (1587). Die kalvinistischen Psalmenbearbeitungen (franz. von Marot u. Beza) wurden verdeutscht, in der Pfalz von Paul Schede-Melissus (1572) und erfolgreicher von dem Lutheraner Ambrosius Lobwasser (1573); von kath. Seite zunächst Rutger Edinger (1574) und der Konvertit Kaspar Ulenberg (1582). In der letzten Generation wird auf Protestant. Seite die Tiergeschichte als Moralsatire benutzt. Georg R o l l e n h a g e n versetzt den griech. Stoff seiner Froschmeuseler (1595) in die Gegenwart, vom Standpunkt des Bürgertums gegenüber fürstlicher Hofhaltung und Kriegslüsternheit. Wolfhart S p a n g e n b e r g folgt mit Ganskönig (1607) und Eselkönig (1618) mit Spitzen gegen kath. Klerus und schlechte Regenten. Auf der Gegenseite steht in völliger Humorlosigkeit von Ägidius Albertinus Lucifers Königreich und Seelengejaidt, oder Narrenhatz (1616). Hier werden die Narren in acht Jagdrevieren eifernd vorgeführt im Nachklang der Narrenund Teufelslit. der Epoche. Ein sehr wirksames und beliebtes Mittel der Propaganda ist die dramatische Aufführung. Die Jesuiten knüpfen an die vorhandenen Formen an. Die Reste des Bürgerspiels verbieten sie ganz und ersetzen es durch Freilichtaufführungen mit eigenen Kräften. Daneben wird in ihren Schulen das Klassenspiel (Dialogus) und das große Aulaspiel am Ende des Schuljahrs gepflegt (s. Jesuiten). Gegenüber Jac. Pontanus und Jac. Gretser stehen auf protest. Seite der bedeutendere Nikodemus F r i s c h l i n (lat. Dramen seit 1576) und die Aufführungen des akad. Gymnasiums zu Straßburg. Neben Aufführungen lat. u. griech. Stücke in der Originalsprache und Ubersetzungen in Wiederholungen für ein breites Publikum werden in der zweiten Generation

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selbständige neue Dramen von Caspar Brülow und Wolfhart Spangenberg gegeben. Zu Terenzaufführungen verfaßte Georg Rollenhagen deutsche Vorworte in Reimversen und schrieb auch eigene Schuldramen. Sind dies alles Weiterentwicklungen von schon Vorhandenem und der Epoche im ganzen Eigentümlichem, so führen einige Impulse darüber hinaus. Vom Spanischen her wird die ernste höfische Haltung wie die strenge gegenreformatorische Gesinnung durch die Schriften des Antonio de Guevara übermittelt. Das geschieht durch die Übertragungen des Ägidius A l b e r t i n u s , Secretär am Münchener Hof. Die zahlreichen Auflagen der Hofschriften beweisen Wichtigkeit u. Wirkung. Gegen Ende seines Lebens (t 1620) gibt A. Anstoß zur Einführung des Schelmenromans. E r bearbeitet den Guzman de Alfarache des Mateo Aleman in moralistischer und zeitkritischer Weise und hängt einen zweiten Teil an, der die Reue und Beichte bei einem Einsiedler breit behandelt (1615, 8. Aufl.). Die weiteren Verdeutschungen der Schelmenromane entstammen einer anderen Haltung, sie haben vorbarodeen Charakter. Am auffälligsten zeigen das die E n g l i s c h e n K o m ö d i a n t e n (s. d.): ein neuer Beruf mit eigener Darbietungsweise, neuartigen Stoffen und Stücken. Jac. A y r e r und Herzog H e i n r . J u l i u s von Braunschweig versuchen die neue Spielweise mit der alten Dramaturgie zu vereinen. — Von der Musik her erhält das L i e d neue Formen und eine neue Einstellung. Ital. und franz. Anregungen in Canzone, Villanella und Madrigal führen zu Ubersetzungen und Nachahmungen. Bibliogr.: Karl S c h o t t e n l o h e r , Bibliogr. z. dt. Gesch. im Zeitalter d. Glaubensspaltung, 1517-1585, 6Bde (1933-1940). — Alb. E l k a n , Entstehung u. Entwicklung d. Begriffes G. Histor. Zs. 112 (1941) S. 473-493. Hubert J e d i n , Kathol. Reformation oder Gegenreformation? (Luzem 1946). Ders., Gesch. d. Konzils υ. Trient. Bd. 1 (1949; 2. Aufl. 1951). Seb. Μ e r k 1 e , Die weltgeschichtl. Bedeutung d. Trienter Konzils. 2. Vereinsschr. d. GörresGes., 1936, S. 3-24. — Eberhard G o t h e i n , Staat u. Gesellschaft des Zeitalters d. G. (1908; Kultur d. Gegenw. II, 5, 1, S. 137-230; wiederholt in: Gothein, Sdiriften z. Kulturgesdi. Bd. 2, 1924, S. 93-206). Heinr. H e r m e l i n k , Reformation u. G. (1911; 2. Aufl. 1931; Handb. f. Kirdiengesch. 3). Karl B r a n d l , Dt. Gesch. im Zeitalter d. Reformation u. G. 2 Bde (1927-30; 3. Aufl. 1941). Paul J o -

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Gegenreformation — Geißlerlieder

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Schon für die Anfänge der Geißlerbewegung in Deutschland (1260-1262, 1296) ist bezeugt, daß gewisse Lieder, die gelegentlich ausdrücklich als „neu" bezeichnet werden, bei den Aufzügen der Flagellanten eine besondere Rolle spielten. Uberliefert aber ist nur ein Verspaar: ir slacht euch sere in Christes ere, durch got so lat die sunde mere, das auch später noch im Kernstück des Hauptleises erscheint. Erst seit dem Pestjahr 1349, das ein gewaltiges Anschwellen der Geißlerbewegung brachte, haben wir wie ausführliche Beschreibungen des Rituells der Flagellanten auch Aufzeichnungen ihrer Lieder. Für beides sind die wichtigsten Quellwerke Fritsche Closeners Straßburger Chronik und Hugos von Reutlingen Chronicon auf das Jahr 1349: Closeners Chronik die breiteste Darstellung ihrer Bußübung, Hugos die reichste Quelle ihrer Lieder, die nicht nur die beste Uberlieferung der Texte, sondern (und zwar als einziger Zeuge) zu sämtlichen Texten audi die Melodien bietet. Nächstdem ist die Limburger Chronik des Tileman Ehlen von Wolfhagen von Bedeutung. Das überlieferte Liedergut sondert sich in zwei Gruppen: Lieder, die beim Einzug in einen Ort auf dem Wege zum Geißelungsakt oder beim Abzüge angestimmt wurden, und Gesänge, die den Bußakt selbst begleiteten. Als gemeinsame Bezeichnung erscheint in den dt. Quellen der Leis, vereinzelt auch der Leidi. Am besten unterrichtet sind wir über den Leis, der bei der Geißelung gesungen wurde. Er war der liturgische Text zu einer Bußübung, die ihr festes Zere-

moniell hatte und in der Aufmachung eines mit Zuschauern rechnenden religiösen Schauspiels auftrat. Die Lieder beim An- und Abmarsch wechselten; dieser Gesang stand fest, zu ihm gehört das meiste, was die Quellen hie und da an Bruchstücken aus Geißlerliedern bieten (Anfang: Nu tret her zuo der bössen welle). Dieser umfängliche Leis zerfällt in mehrere Teile, die im Vortrag durch ein sich gleich bleibendes Zwischenstück auseinander gehalten wurden, wie auch der mehrmalige Geißelumgang unterbrochen wurde durch Niederfallen und Kniebeugungen. Ob und wieweit es sich bei diesem Gesang um ein Zusammenwachsen aus ursprünglich selbständigen Teilen handelt oder um Aufschwellung eines von Haus aus kürzeren Liedes, ist nicht mehr zu erkennen; denn auch in der besten Fassung, bei Hugo von Reutlingen, scheint der Leis in der Strophenordnung, vielleicht auch im Umfang nicht mehr ganz intakt; und die anderen Fassungen zeigen ihn im Zustande fortschreitender Zersungenheit. Für einzelne seiner Elemente reicht die Tradition bis zu den Liedern von 1260 zurück. — Unter den Prozessionsliedern der Geißler waren solche, die für den besonderen Zweck ihrer Fahrten gedichtet waren (so vor allem das mehrfach überlieferte Nu ist diu betfart so here), doch eigneten sie sich auch bereits vorhandene geistliche Lieder zu. So figuriert bei Hugo von Reutlingen ein schlichtes Weihnachtsund Dreikönigslied als Geißlerleis. Von solchen Fahrtliedern sind fünf vollständig oder den Anfangsstrophen nach überliefert. Inhaltlich sind die Leise, soweit sie Neuschöpfungen darstellen, ziemlich dürftig. Neben Gebeten an Christus treten Anrufungen der Fürbitte Mariä stark hervor. Parallelen zur Predigt und zu den Statuten der Geißler sind festzustellen, ketzerische Züge hat man zu Unrecht in ihnen nachweisen wollen. Der aktuelle Anlaß der neuen Geißlerbewegung, das große Sterben, klingt nur gedämpft mitr hinein. Im ganzen zeigen die Leise den kompilatorischen Charakter von Volksliedern niederen Ranges, und zwar verwerten sie ζ. T. recht altes Gut; so knüpft ein Fahrtleis an ein Kreuzfahrerlied an. Auch Kontrafaktur weltlicher Volkslieder läßt sich beobachten. Irgendwelchen künstlerischen Wert hat das, was uns von Geißlerliedern überliefert ist, nicht. In dieser Hinsicht sind die älterer*

Geißlerlieder — Geistesgesdiidite ital. Geißlerlieder erheblich überlegen, mit denen die dt. übrigens keine unmittelbaren Berührungen zeigen. Wohl aber sind die dt. Leise von Geißlerscharen anderer Zunge (Slaven, Wallonen) übernommen oder benutzt worden. Neues Licht fällt auf Bedeutung und Ursprung der Geißlerlieder durch den Vergleich ihrer Melodien mit außerdeutschen, archaischen Brauchtumsliedern. Danach ist mit einer geschichtstieferen Verwurzelung des mal. Fahrtenliedes in vorchristl. Brauch- und Umgangsgesängen zu rechnen. G o e d e k e Bd. 1 (1884) S. 239. J. Z a c h e r , Geißler, in: Ersch-Gruber, Allgem. Encyclopädie. Abt. I, Bd. 56, S. 242 ff. Paul Runge, Die Lieder u. Melodien d. Geißler d. Jahres 1349 nach d. Aufzeichng. Hugos v. Reutlingen nebst e. Abhdlg. über d. ital. Geißlerlieder v. Heinr. v. S c h n e e g a n s u. e. Beitr. z. Gesch. d. dt. u. niederländ. Geißler v. Heino P f a n n e n s c h m i d (1900). Arthur Η ü b η e r , Die dt. Geißlerlieder. Stud. ζ. geistl. Volksliede d. MA.s (1931). W. W i ο r a , MGG. Bd. 3 (1954) Sp. 265. J. M ü l l e r - B l a t t a u , MGG. 4 (1955) Sp. 1620-1627. Arthur Hübner (ergänzt von Erich Seemann) Geistesgeschichte § 1. Unter G. versteht man nicht etwa ein Teilgebiet der historischen Wissenschaft, als wenn es neben der Geschichte des Staates, der Philosophie, der Religion, der Kunst, der Dichtung usw. auch eine Geschichte des Geistes mit eigenem Stoffgebiet gäbe, aber auch nicht die Gesamtheit dieser Gebiete oder Kultursysteme, als wenn die Geschichte der Philosophie, der Kunst, der Dichtung, der Musik, der Wissenschaften, des Staates, des Rechtes usw. in ihrer Summe eine Geschichte des Geistes ergäben oder die Summe der Geschichte der dt. Philosophie, der dt. Kunst, der dt. Dichtung, des dt. Rechtes, der dt. Sitte usw. eine Geschichte des dt. Geistes; sondern G. ist auf die in diesen Kulturgebieten wirksamen Kräfte, ihre geistige Grundhaltung, ihren gemeinsamen Antrieb oder auf die Einheit des geistigen Lebens in ihnen, soweit es eine solche in den betreffenden Zeiten gibt, und auf den so aufgefaßten „Geist" einer Gruppe, Bewegung, Nation usw. gerichtet. G. liegt, wenn auch dies Wort noch nicht fällt, in der Zielsetzung H e r d e r s , der im Journal meiner Reise eine „Geschichte der menschlichen Seele" sich vornimmt, in der

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der romantischen Theoretiker und Historiker (bei Friedr. S c h l e g e l weist das D W b . Bd. IV, 2, 1 Sp. 2761 das Wort Geistesgesdiidite zuerst nach, 1812) sowie der Historischen Schule. Dieser war es besonders u m den Volks- u n d Nationalgeist zu tun. H e g e l dagegen ging es in erster Linie um den „allgemeinen", „absoluten" oder „unendlichen Geist", den „Weltgeist", und seine sich als dialektische Entwicklung der Vernunft vollziehende Selbstentfaltung. Solche· grundsätzliche historische Betrachtung des Universums ist von Spranger mit Recht als eine Wurzel der G. angesprochen worden. Doch hat diese Hegeische Uberzeugung, „daß die Aufeinanderfolge der Systeme der Philosophie in der Geschichte dieselbe ist als die Aufeinanderfolge in der logischen Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee" (Hegel XIII 43), so daß historische Abfolge auch als logisch-ideelle Entfaltung zu denken ist, wohl in seiner Schule und später wieder ähnlich bei Unger Zustimmung gefunden, aber doch nicht allgemein. Die Folgezeit war nicht so sehr mit Hegel auf den „objektiven Geist" als den „Weltgeist" gerichtet wie auf den Geist der einzelnen· Nationen, in Deutschland auf den deutschen Geist. Die romantische Sdiule von Rudolf H a y m trug den bezeichnenden Untertitel Ein Beitrag zur Geschichte des dt. Geistes. In demselben Jahr wie dieses Werk, 1870, erschien der erste Band von Wilhelm Diltheys Leben Schleiermadiers, der das L e b e n dieses Mannes „vor dem Hintergrund der großen Bewegung des deutschen Geistes" und in der Wechselwirkung des Einzelnen mit den Strömungen der Zeit darstellt, u n d das nicht mehr vollendete große Werk, dem· das letzte Jahrzehnt seines Lebens gehörte, waren die Studien zur Geschichte des deutschen Geistes. Von D i 11 h e y datiert überhaupt eine n e u e Phase des geisteswissenschaftlichen Selbstverständnisses, dem er schon 1883 in der Einleitung in die Geisteswissenschaften (2. Aufl. 1922; Ges. Schriften 1) Ausdruck verleiht. Es entsteht aus der Notwendigkeit, unter Verzicht auf die früheren metaphysischen Sicherungen wie in der Erkenntnis der Einseitigkeit des aufklärerisch naturwissenschaftlichen Weltbildes zu einer klaren Abgrenzung der Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften zu gelangen.

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Geisteegeschicbte

Im 2. Kap. der Einleitung verankert Dilthey das geisteswissenschaftliche Selbstbewußtsein in der „Tiefe und Totalität" des menschlichen: „So sondert er [der Mensch] von dem Reich der Natur ein Reich der Geschichte, in welchem, mitten in dem Zusammenhang einer objektiven Notwendigkeit, welcher Natur ist, Freiheit an unzähligen Punkten dieses Ganzen aufblitzt". Auf Grund dieses Selbstverständnisses „entsteht ein eigenes Reich von Erfahrungen, welches im inneren Erlebnis seinen selbständigen Ursprung und sein Material hat". Dilthey nennt als solchen allein eigenständig geisteswissenschaftlich deutbaren Gegenstand „den Inbegriff von Leidenschaft, dichterischem Gestalten, denkenden Ersinnen, welchen wir als Goethes Leben bezeichnen". Der Ansatz dieser Grundlegung bei der Einheit und Ganzheit des Lebens wird schon hieran deutlich. Hierin trifft sich die kaum abgrenzbare Wirkung, die Dilthey hervorbringt und die eine ganze Generation zur Auseinandersetzung (Rickert) oder zur Systematisierung und Auswertung (Rothadcer) anregt, mit andern „lebensphilosophischen" Strömungen, wie sie etwa von Nietzsche und Bergson ausgehen und von Simmel verarbeitet werden, von wo aus sie dann auch die „geistige bewegung" des George-Kreises und seiner Wissenschaftsauffassung beeinflussen. § 2. Spielt bei Dilthey in der Auffassung der Romantik der Durchbruch eines neuen „Lebensideals" in dieser Bewegung eine große Rolle, so hat sein Freund Wilhelm S c h e r e r , Hauptvertreter einer positivistischen, auf die Naturwissenschaften gegründeten Lit.wiss., der aber zugleich doch auch noch der Tradition des Idealismus und der Romantik zugehörte, die Geschichte der dt. Lit. als eine Geschichte der dt. Lebensideale auffassen wollen. Stärker noch als Scherer zeigt der gleichfalls zu strenger philologischer Schulung sich bekennende Germanist Konrad B u r d a c h g.liche Zielsetzung in der Mehrzahl seiner Arbeiten; eine Sammlung seiner Aufsätze nennt er bescheiden Vorspiel, aber mit dem kennzeichnenden Untertitel Gesammelte Aufsätze zur Geschichte des deutschen Geistes (3 Bde 1925-1927, DVLG., Buchr. 1-3). Sdion sein Lehrer Rudolf Hildebrand, der bedeutendste Mitarbeiter des Deutschen

Wörterbuchs der Brüder Grimm, hatte Wortgeschichte als G. aufgefaßt, wie sein Altersgenosse Karl Justi seinen Winckelmann und seine Künstlerbiographien vor g.lichem Hintergrund zu schreiben wußte. Was im 19. Jh. begonnen, hat sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh.s überzeugend durchgesetzt. Dabei hat die Wirkung Diltheys viel weitere Kreise ergriffen als seine eigentliche Schule, besonders nach dem Erscheinen des Aufsatzbandes Das Erlebnis und die Dichtung (1905). Und es ist schwer auszumachen, was seine direkte Wirkung war, was Wirkung eines von ihm mitbestimmten Zeitgeistes. Das Jahr seines Todes — 1911 — war das Jahr, in dem ganz unabhängig voneinander zwei Werke erschienen, mit denen die G. sich überzeugend als Führerin einer neuen Richtung der Lit.wiss. dokumentierte. Friedrich G u n d o l f , aus dem Kreis Stefan Georges und von dessen Kunst- und Persönlichkeitsauffassung geprägt, die aber in seinen anderen Schriften stärker zum Ausdrude kommt, hat in dem Werke Shakespeare und der deutsche Geist nach seinen eigenen Worten nicht eine Aufreihung von Fakten geben wollen, wenn eine solche auch vorausgesetzt wird, sondern „eine Geschichte lebendiger Wirkungen und Gegenwirkungen" eine „Kräftegeschichte", und in der Darstellung der Aufnahme Shakespeares in Deutschland geradezu eine G. des 17. und 18. Jh.s geschaffen. Dilthey hat kurz vor seinem Tode gesagt, dies Budi lasse ihn wie in ein gelobtes Land schauen. Das andere Werk von 1911, Rudolf U n g e r s Hamann und die Aufklärung, mit dein Untertitel Vorgeschichte des romantischen Geistes im 18. Jh., der fast über dem gesamten Lebenswerk Ungers stehen könnte, gab in der Einleitung wohl die beste und tiefste Darstellung des dt. Geisteslebens der vorklassischen Zeit und erschloß im Hauptteil im Zusammenhang mit einer Charakteristik Hamanns aus einfühlendem Nacherleben seine Problem- und Gedankenwelt in ihrer ganzen Tiefe und Weite und in ihrer Bedingtheit in der Persönlichkeit und den Strömungen der Zeit. Dem Problem der G. ist Unger in verschiedenen Vorträgen, von 1907 an bis Literaturgeschichte als G. (DVLG. 4, 1925) als letztem, gesammelt in den Aufsätzen zur Prinzipienlehre der Literaturgeschichte

Geistesgeschichte

(1929), nachgegangen, wobei er eine bestimmte Fragestellung besonders herausgestellt hat, die der „Problemgeschidite". Dichtung faßt er in Fortsetzung Diltheysdier Auffassung als Organ des Lebensverständnisses, der Lebensdeutung und zugleich als Spiegelung der Entwicklung besonderer, für bestimmte Epochen repräsentativer Probleme auf. In der Schrift Literaturgeschichte als Problemgeschidite (1924, wiederabgedr. ebd.) weist Unger auf sein eigenes Buch Herder, Novalis und Kleist. Studien über die Entwicklung des Todesproblems im Dichten und Denken vom Sturm und Drang zur Romantik und auf das gleichfalls 1922 erschienene Buch von Paul Kludchohn Die Auffassung der Liebe in der Lit. des 18. Jh.s und in der deutschen Romantik als Beispiele hin. Das letztgenannte Buch, das unter anderem dem Verflochtensein des Erlebens des Einzelnen in die allgemeine geistige und seelische Struktur der Zeit und ihre Anschauungen nachgeht, ist 1911, aber noch ohne Kenntnis der in diesem Jahre erschienenen oben genannten Werke begonnen worden, was deutlich macht, daß g.liche Zielsetzung damals gleichsam in der Luft lag und nicht als Auswirkung eines einzelnen Forschers anzusprechen ist. Wenig später erschien 1923 der erste Band von Η. Α. Κ ο r f f s Geist der Goethe-Zeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte. I. Teil: Sturm und Drang, dem drei weitere Bände folgten (1930-1953; Neuaufl. 1955ff.). Hier wird wenig von G., mehr von Ideengeschichte gesprochen („Dies Buch ist also mit Bewußtsein Ideengeschichte" S. 1), worunter wesentlich Fragen der Weltanschauung verstanden werden. Wie die schöpferische Gestalt bestimmend war für die aus dem Georgekreis hervorgehende Form von G., so wurde eine g.-fundierte Stiltypologie von der Kunstgeschichte her (Wölfflin) durch F. S t r i c h auch auf die Lit.gesch. übertragen (Dt. Klassik u. Romantik oder Vollendung u. Unendlichkeit. Ein Vergleich, 1922, 4. Aufl. Bern 1949). Schon 1910 hatte Strich mit dem Werke Die Mythologie in d. dt. Lit. von Klopstock bis Wagner, 2 Bde, das Beispiel einer g.lichen Lit.forschung gegeben. § 3. Während die frühen Vertreter der G., so Haym, Kuno Fischer und Dilthey, ursprünglich Philosophen waren oder auch

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(Kunst)historiker wie Hettner (den man aber auch als Philosophen bezeichnen kann), Justi und Jacob Burddiardt — traten nun mit Burdach, Unger, Gundolf u. a. die Literaturhistoriker in den Vordergrund. Im Verlauf der großen Wandlung, die im geistigen und auch wissenschaftlichen Leben um die Jh.wende einsetzt, zeigt sich nun auf vielen Gebieten eine g.-liche Forschungsrichtung und Fragestellung, ζ. B. in der Geschichte der Philosophie bei E. Spranger, E. Cassirer, G. Misch, E. Rothacker; in der Theologie und Religionsgeschichte bei E. Troeltsch, H. von Schubert, Karl Holl; in der Geschichte in wesentlichen Antrieben auch bei Lamprecht und Spengler sowie bei Fr. Meinecke und H. Finke, bei G. Ritter, H. Grundmann, H. von Srbik; in der Sozialgeschichte bei B. Groethuysen; in der Kunstgeschichte bei C. Neumann, W. Worringer, M. Dvorak, W. Weisbach, D. Frey; in der Musikgeschichte bei H. Abert, W. Gurlitt, G. Becking (und auch W. Dilthey gehört hierher); in der Romanistik bei Karl Vossler, der sowohl für die Wandlung der Sprach- wie die der Lit.gesch. von sehr starker Wirkung war, obwohl das Schlagwort „idealistische Neuphilologie" dafür nicht sehr glücklich ist, V. Klemperer, L. Olschki, F. Neubert, H. Friedrich; in der Anglistik bei L. L. Schücking, F. Brie, H. Schöffler, G. Hübener, W. Schirmer; in der klassischen Philologie bei W. F. Otto, K. Reinhardt, W. Schadewaldt u. a. Diese Liste wäre leicht zu vermehren, ζ. B. durch weitere Mitarbeiter der DVLG., die in dem Aufsatz Erich Rothackers Rückblick und Besinnung (DVLG. 30, 1956, S. 145-156) genannt sind. § 4. Diese Zeitschrift, von Paul Kluckhohn und Erich Rothacker herausgegeben, erschien seit 1923. Der Name, zuerst nur als Arbeitsname gedacht, dann beibehalten, da er sich rasch eingeführt hatte, brachte zweierlei zum Ausdruck, was auch die programmatischen Worte am Anfang aussprachen, daß die Zeitschrift der Lit.wiss. im Ganzen, ihren verschiedenen Richtungen, nicht bloß einer dienen wollte und der G., vornehmlich der deutschen, auch in außerliterar. Gebieten. So haben denn auch neben den Germanisten, Philosophen, besonders, aber nicht allein, Historiker der Philosophie, sowie Kirchenhistoriker, Historiker, Kulturhistoriker und Soziologen, Kunst- und Musik-

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Geistesgesdiidite — Geistliche Diditung

Wissenschaftler ebenso mitgearbeitet wie Anglisten, Romanisten und Altphilologen. Das rasche Gedeihen dieser Zeitschrift zeigte, wie sehr sie ein Bedürfnis der Zeit war und ihren Bestrebungen entgegenkam, auch in der Einbeziehung der mal. Lit. in die geistesgeschichtliche Forschung, wofür besonders auf Günther Müller hingewiesen sei. Erich R o t h a c k e r , Einleitung in die Geisteswissenschaften (1920; 2. Aufl. durch e. ausführt. Vorw. erg. 1930) u. a. Arbeiten. Rud. U η g e r , Aufsätze z. Prinziptenlehre d. Litgesch. (1929; Unger: Ges. Studien 1; Neue Forschung 1). Ed. S p r a n g e r , Was heißt G.P Die Erziehung 12 (1937) S. 289-302. — Von größeren Werken der dt. Lit.wiss. mit geistesgeschiditl. Zielrichtung, die nach 1923 erschienen sind, seien genannt: Herbert C y s a r ζ , Von Schiller zu Nietzsche. Hauptfragen d. Diditungs- u. Btldungsgesch. d. jüngsten Jh.s (1928). Hugo B i e b e r , Der Kampf um die Tradition. Die dt. Dichtung im europäischen Geistesleben 1830-1880 (1928; Epochen d. dt. Lit. 5). Walter R e h m , Der Todesgedanke in d. dt. Dichtung vom MA. bis z. Romantik (1928; DVLG., Buchr. 14). Ders., Griechentum u. Goethe-Zeit. Gesch. e. Glaubens (1936; Das Erbe d. Alten 2, 26). Franz S c h u l t z , Klassik u. Romantik d. Deutschen. 2 Bde (1935-1940; Epochen d. dt. Lit. 4). Günth. M ü l l e r , Gesch. d. dt. Seele. Vom Faustbuch zu Goethes 'Faust' (1939). Jul. S c h w i e t e r i n g , Dt. Dichtung d. MA.s ([1941]; HdbLitwiss.). — S. a.: Literaturwissenschaft. Paul Kluckhohn

Geistliche Diditung Als solche wird im folgenden — zum Unterschiede von religiöser Poesie — die Dichtung verstanden, die ihre Wirkung innerhalb des kirch.-geistl. Aufgabenkreises sucht, womit von selbst gegeben ist, daß ihre Schöpfer meist Geistliche sind und ihre Stoffe aus kirchlichem Uberlieferungs- und Lehrgut schöpfen. § 1. Was die a h d. P e r i o d e an g. D. geschaffen hat, läßt sich begreifen als Auseinandersetzung des fränk.-roman. Christentums mit dem germ. Heidentum und als erste Grundlegung eines deutsch-abendländischen christl. Weltbildes. Die beiden großen christl. Epopöen der ahd. Zeit wollen die germ. Vergangenheit in ihren religiösen und politischen Äußerungen überwinden, nur daß auf nddt. Boden die Überlieferungen heidnischer Zeit in Leben und Dichtung noch frischer und achtunggebietender waren. Daher im Helfend der Versuch, Vorstellungs- und Anschauungswelt des Germanen mit dem Christentum zu verschmelzen, ohne jedoch von

den Forderungen christl. Ethik etwas preiszugeben, unternommen von einem Dichter, der sich noch in seelischem Zusammenhang mit Art und Tradition seines Volkes befand und sich, ohne absichtsvoll zu neuern, von der ererbten Kunstform der Stabreimdichtung tragen ließ. Sein besonderes Anliegen: Auch die Spätmissionierten können noch Anteil haben an dem Heil, das von dem Herrscher Christus ausgeht. Dagegen bei O t f r i d das Werk eines Dichters, der mit persönlichem künstlerischen Ehrgeiz an seiner Schöpfung hing, eines Gelehrten, der mit einem engeren und höheren Publikum rechnete, und eines Mönches, den seine lat.-theologische Bildung gelöst hat von altheimischer Tradition, die ihm gefährlich schien, der deshalb auch zu der neuen Form des Reimverses griff. Aber die Auffassung der Christusgestalt im ganzen verleugnet den Geist einer heroischeren Zeit noch nicht: sein Christus ist der mächtige Herrscher, unterschieden von der weicheren und leidenden Gestalt späterer Christologien. Ein ähnliches Mit- und Gegeneinander von Germanischem und Christlichem zeigen auch die kleineren geistl. Dichtungen. Soweit sie vor-otfridisch sind, halten sie nicht nur am Stabreim fest, sondern sind auch sonst durch lockere Fäden mit germ. Dichtung verbunden. Der Verfasser des Wessobrunner Gebets hat im ersten Stück offenbar ein heidnisches kosmogonisches Gedicht vor Augen gehabt und benutzt; und im Muspilli verdanken die Verse des Mittelstücks, die den Weltuntergang schildern, mindestens Farbe und Pathos stoffverwandten heidnischen Dichtungen. Und auch die nach-otfridischen, in Reimversen abgefaßten Dichtungen lassen ζ. T. ein Eingehen auf die noch lebendige Tradition germ. Dichtung erkennen. Das epische Gedicht Christus und die Samariterin zeigt gattungsmäßig und auch in Einzelheiten des Stils Berührungen mit dem altheimischen Heldenliede auf seinem Wege zur mal. Ballade (ζ. B. die Dialoge ohne Redeeinführung). Und auch legendarische Lieder wie das vom reckenhaften hl. Georg könnten in volksläufigen Heldenliedern, die sie ausstechen sollten, ihr Widerspiel gehabt haben. Nur die verschiedenartigen Bitt- und Gebetstücke, zu denen auch die problemreiche Bearbeitung des 138. Psalms zu rechnen ist, stellen einen ganz neuen Typus dar.

Geistlidie Diditung § 2. Obwohl diese g. D. der ahd. Zeit noch wenig inneren Zusammenhang, wie er in der ahd. Prosalit. eher vorhanden ist, erkennen läßt, und obwohl die Uberlieferung nach 900 für IV2 Jh.e abzubrechen scheint, wirkt sie wie ein Vorspiel der f r ü h m h d . D i c h t u n g : immer noch der Otfrid-Vers, wenn audi zuweilen verschlissen und verwildert, immer noch das adlig-herrscherliche Christusbild, und weiterhin eine ähnliche Thematik wie in den ahd. Stücken, die in ihrer Zeit wie Einzel- und Gelegenheitswerke anmuten. Wie anfangs und wie auch in den dazwischenliegenden „lateinischen" IV2 Jh.n fördert die Diditung ein Geistlichenstand, der zum ausschließlichen Bildungsträger geworden ist und den führenden Persönlichkeiten der weltlichen Macht durch Sippe und Umgang nahesteht. Nun entfaltet sich seit 1060 eine reiche und vielgestaltige g. D., die wie das Ezzolied, das sie fast programmatisch anführt, in Form und Thematik das in ahd. Zeit Begonnene aufnimmt und ihm die neuen religiösen Strömungen der klösterlichen Reformen zuführt. Die Sorge um das Seelenheil führt zur Vertiefung in den Erlösungsprozeß, daher eine Reihe dogmatischer Dichtungen, die den ganzen göttlichen Weltplan zu übergreifen versuchen, darunter einzelne mit stark weltverneinenden Akzenten (Hartmanns Rede vom Glauben). Sie lenkt den Blick auch auf die letzten Dinge, im Verein mit den eschatologischen Erwartungen, die bald stärker bald schwächer zumal den Volksglauben des ganzen MA.s beherrschten. Eine gewisse Vorliebe für die Apokalypse, wie sie sich später in hd. und nd. Ubersetzungen äußert, madit sie auch jetzt schon* zum vielbenutzten biblisdien Buch. Epische g. D.n bieten Ausschnitte der Weltgeschichte, wie ja auch die theologischen „Summen" vom Ezzolied über die sog. Summa Theologiae bis zum Anegenge Geschichtsdichtungen im mal.-augustinischen Sinne sind: Geschichte nicht als pragmatischer Verlauf, bei dem eins aus dem andern folgt, sondern in all ihren Teilen bezogen auf das Ganze des göttlichen Heilsplanes. In Bearbeitungen der ersten Bücher Mosis liegen bedeutsame Wiederanfänge der Bibeldichtung vor, gleichsam Einzelstücke eines größeren Planes, der eine zyklische Zusammenfassung des Weltschicksals, Sünde und Erlösung, im Auge hatte, und der zu Ende der Epoche wenigstens in der

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Anlage einiger großer Sammelhandschriften (namentlich der Vorauer) verwirklicht wurde. Die Legende spielt noch nicht die große Rolle wie in späterer Zeit; nur eine größere Gruppe von Jenseitsvisionen zeigt wieder, welche Richtung das religiöse Interesse nahm; und dieselbe Zuspitzung auf die Endzeit ist festzustellen, wo sich Dichtungen wie die der Frau A v a an neutestamentliche Stoffe machen. Die religiöse Stimmung von Sündenzerknirschung und Erlösungsbedürfnis schafft als neues literar. Genus die S ü n d e n k l a g e n , poetisierte lyrisch-epische Beichtgebete, die sich im 12. Jh. in ziemlicher Zahl entfalten. Und die Überzeugung vom Unwert alles Irdischen und der Verderbtheit derer, die ihm nachjagen, läßt eine Reihe moralisch-pädagogischer Dichtungen entstehen, unter ihnen das Eindringlichste, was die mhd. Frühzeit geschaffen hat, die Zeitsatiren des Eiferers H e i n r i c h v o n M e l k . Jedoch ist Weltabkehr keineswegs das alleinherrschende Thema der Epoche; ein rechtes Leben, das Gott und der Welt genugtut, findet auch seine Wortführer (Vom Rechte, Die Hochzeit). Eine gewisse Konkurrenzstellung gegenüber weltlicher Dichtung ist auch jetzt wieder nicht zu verkennen: das Annolied will ausgesprochenermaßen den Helden der Volksdichtung ein geistliches Paroli bieten, die Legenden wollen im Grunde das gleiche; die Kaiserchronik polemisiert zugunsten ihrer geistlich-historischen „Wahrheit" gegen die „Lügen" der Dietrichsage. Doch in manchen Erzähldichtungen spürt man in Stoffwahl und Behandlungsweise auch ein Eingehen auf Geschmack und Gelüst der weltlichen Hörer (Judith, Drei Männer im Feuerofen, Makkabäer). öfter aber ist es theologische Überlieferung oder Zeitströmung, die den inneren und äußeren Charakter der dichterischen Erzeugnisse bestimmt. Naive und karge Erzählung schlägt in typologische Betrachtung und beredte moralische Nutzanwendung um, oft mit merkbarem Stilbruch. Zwar ist von scholastischer Behandlung theologischer Fragen anfangs noch wenig zu spüren; statt dessen vielmehr ein ungefüges Streben zur Totalität in der Darstellung religiöser Zusammenhänge, ähnlich wie später in den histor. Dichtungen von Art der Kaiserchronik. Die Bauform mancher Gedichte ist ornamental, ohne Rücksicht auf Zeit- und Gedankenverlauf, mitunter wird

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Geistliche Dichtung

sie durdi „heilige" Maßzahlen bestimmt, und auch als Thema tritt Zahlensymbolik auf (besonders mit der Sieben), wie sie später zum äußeren Apparat der Mystik gehört. Eine innerliche mystische Stellung zu Gott oder ein Einfühlen in die Passion Christi ist noch nicht gewonnen oder noch nicht ausdrucksfähig; bei Frau Ava leise Vorklänge. Um die Mitte des 12. Jh.s erweitert sich der Themenkreis über das Anliegen geistlicher Belehrung, Mahnung, Seelsorge hinaus, es entstehen die ersten Werke geistlicher Dichter mit nicht mehr rein geistlichem Stoff, wohl veranlaßt durch weltl. Auftraggeber höchsten Ranges (Kaiserchronik, Alexander, Rolandlied). Als Weltgeschichtsausschnitte oder heroische Legende aber hängen sie noch eng mit der voraufgehenden Geschichtsdichtung zusammen, und dieser Geschichtsaspekt bleibt sogar noch im Rother und in Veldekes Eneide bewahrt; in Wolframs großen Epen wird er zum rein poetischen Symbol. § 3. Die Neugestaltung des literar. und geistigen Lebens, die mit dem späteren 12. Jh. durch das Eindringen der ritterlichen Kultur in Deutschland hervorgerufen wurde, wirkte sehr fühlbar auf die g. D. ein. An sich von der weltlichen Lit. stark zurückgedrängt, bevorzugt sie nunmehr das leichteste, eingängigste Genus, das ihr zur Verfügung stand, die L e g e n d e . Laiendichter und Geistliche vereinigen sich in ihrer Pflege, auch stofflich und formal sind die Beziehungen zur weltlichen Epik so eng, daß sich hier die Grenze der g. D. nicht scharf ziehen läßt. Bevorzugen die höfisch geschulten Dichter des 13. Jh.s noch männliche Legendenhelden, so treten mit dem 14. Jh. weibliche Heilige entschieden in den Vordergrund, auch wo es sich um die legendarische Erhöhung von Gestalten der jüngeren Geschichte handelt. Dieselbe Erscheinung auch auf nd. Boden, nur, mit dem üblichen Zurückbleiben der mnd. Lit., 100 Jahre später. Das läßt sich kaum lösen von der zunehmenden Bedeutung und Ausbreitung des Marienkults und seinen literar. Begleiterscheinungen: der hl. Jungfrau sind neben zahlreichen Einzellegenden vom späten 12. bis zum 14. Jh. mehrere große legendarische Biographien gewidmet worden. Die Christusgestalt tritt auch für die Epik neben ihr ganz zurück. Sie beherrscht die Szene auch im Passional, dem besten und beliebtesten Werk aus dem Kreise der gro-

ßen Legendensammlungen, deren das spätere MA., nach seiner Neigung zum zyklischen Zusammenschluß von Erzählstoffen, mehrere hervorgebracht hat. Wo einmal die Gestalt Christi episch angegriffen wird, gibt man sie mit theologischer Verbrämung (Konrad von Heimesfurt, Johannes von Frankenstein); aber eine rein dogmatisch-theologische Dichtung, wie sie sich in frühmhd. Zeit so reich entfaltet zeigte, tritt in diesem Zeitraum kaum hervor, wenigstens auf hd. Boden. Stärker sind Interessen dieser Art bei den Niederdeutschen, wo nach dem Vorgange Konemanns im 14. und 15. Jh. einige ζ. T. recht umfängliche, freilich populär gehaltene geistliche Lehrgedichte entstanden sind; neben ihnen steht eine Reihe didaktischer Allegorien geringeren Umfangs, die sich Ende des 15. Jh.s bis zur Höhe des Lübecker T o t e η t a η ζ e s (s. d.) zu erheben vermochten. Soweit es sich um hd. Lit. handelt, schafft der dt. O r d e n eine streng 'dienstliche' Lit. geistlichen Gepräges, der Orden, der überhaupt die fruchtbarste Zentralstelle geistlicher dt. Lit. im späteren MA. darstellt (s. Deutschordensdichtung). Hier entstand unter der Förderung geistig interessierter Hochmeister, ähnlich wie in frühmhd. Zeit, eine Reihe von Bearbeitungen einzelner Bücher des Alten Testaments, mehr oder minder stark theologisch durchsetzt, hinter denen sich der Plan eines zusammenhängenden Bibelwerkes in dt. Sprache abzuzeichnen scheint. Hier schuf T i l o v o n C u l m das eigenartigste und fast das einzige abgerundete Christusleben der mhd. Epoche, immer noch rein theologisch betrachtet und einer Darstellung des ganzen Heilsprozesses eingeordnet. Hier rief auch die eschatologische Spannung der Zeit wieder Dichtungen ins Leben, in erster Linie Η e s 1 e r s Apokalypse, neben der i n H e i n r i c h s von N e u s t a d t ungefähr gleichzeitiger Darstellung Von Gottes Zukunft ein Werk anderen Stoffes, aber ähnlicher Tendenz steht. Diese eschatologische Stimmung, die sich gegen den Ausgang des MA.s immer mehr verstärkte, macht es auch verständlich, wenn wertlosen Reimereien prophetischen Inhalts (SybillenWeissagung) ein Jahrhunderte überdauernder Erfolg zuteil wurde. Die Neuprägung religiösen Lebens, die in der mhd. Periode die M y s t i k (s. d.) brachte, hat gerade für die g. D. damals keine reicheren Früchte ge-

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tragen: wo sie tiefes inneres Erlebnis war, mußte sie die Fesseln des Verses sprengen. Das Hohelied und der ihm entstammende Gedanke von der Brautsdiaft der minnenden Seele mit Christus wird der Ausgangspunkt einer Reihe von Dichtungen, von denen aber keine ein mystisches Gotteserlebnis von solcher Tiefe erkennen läßt wie das poesievolle Prosawerk der M e c h t h i l d v o n M a g deburg. § 4. Am originalsten und gegen das Ende auch am fruchtbarsten ist die Periode auf dem Gebiet der geistlichen L y r i k . Dabei ist zu scheiden zwischen kunst- und volksmäßiger geistl. Liederdichtung, Gebieten, die sich, wenigstens im gröbsten, dedcen mit denen von gelesener und gesungener Lyrik. Wie bei der Legende ist auch hier eine Grenzverwischung mit weltlicher Kunstlyrik festzustellen, insofern als die weltlichen Dichter vom älteren Minnesang an sich in steigender Menge geisd. Stoffe aneignen, während anderseits auch die rein geistlich interessierten Dichter zumindest formal der weltlichen Lyrik verpflichtet sind. So kann im 15. Jh. ein ritterlicher Sänger, Peter von Arberg, in der vielgepflegten Gattung des geistlichen Tageliedes seinen Ruhm finden, während der M ö n c h v o n S a l z b u r g von meistersingerischen Künsteleien viel stärker bestimmt ist als von den lat. Hymnen, die a u c h eine Quelle seiner Liederdichtung sind. Inhaltlich freilich pflegt sich diese rein geistl. Kunstlyrik, die zu guten Teilen Marienlyrik ist, einfacher zu halten, als es die Tradition der Spruchdichter und Meistersänger zuließ; und auch äußerlich suchen manche Anlehnung ans Volkslied, zumal in Gestalt von Kontrafakturen, so daß nach dieser Seite hin die Grenze mit dem geistl. Volkslied verschwimmt. Denn die Kontrafaktur oft recht weltlicher Lieder ist ein festes Element im spätmal. geistl. Volkslied, das im übrigen bereits eine lange Geschichte hat. An ihrem Anfang steht das Kyrie eleison des Gregorianischen Chorais, das schon in ahd. Zeit von der Gemeinde mitgesungen werden konnte und den Ansatzpunkt bildete für volkstümliche einfache Verse geistl. Inhalts. Die so entstehenden L e i s e , die namentlich bei Wallfahrten im Gebrauch waren, werden für uns erst seit dem 14. Jh. recht greifbar, formal vielfach sehr rohe, oft auch episch gehaltene Gesänge. Auf dem Gebiet des geistl.

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Liedes hat auch Niederdeutschland wertvolle, eigenwüchsige Schöpfungen hervorgebracht. § 5. Die Geschichte des dt. g e i s t l i c h e n D r a m a s (s. Mittelalterl. Spiele) zeigt eine gewisse Parallelität zur Entwicklung des geistl. Volksliedes, insofern auch hier liturgische Elemente des Gottesdienstes die Keimzelle der Dichtgattung bildeten, das Herübergleiten der Produktion aus priesterlichen in Laienhände ähnlich zu denken sein wird wie dort, und wie dort die volksmäßigen Schöpfungen bis in die jüngste Zeit in ihren Elementen vielfach den Zusammenhang wahren mit den alten, rein kirchlichen Dichtungen. Was die Stoffe anlangt, so bleibt bis ins 16. Jh. und darüber hinaus ihr Ursprung aus den Oster- und Weihnachtstropen erkennbar, im übrigen ist zu beobachten, wie die dramatische Produktion in Stoff und Tendenz mit der übrigen geistlichen Lit. der Zeit parallel läuft. Stoffe aus dem Christusleben, die außerhalb der Passion stehen, begegnen selten; häufiger hat der Marienkult Ausdruck gefunden, besonders in den dramatisierten Marienklagen. An ihnen ist auch das Mndd. mit einigen ausgezeichneten Stükken beteiligt (voran steht die Bordesholmer Marienklage), wie denn überhaupt das Drama einen Ruhmestitel der mndd. g. D. bildet. Auch Legenden werden seit dem 14. Jh. öfter dramatisch behandelt (Dorothea, Katharina, der hl. Georg, auf nd. Boden Theophilus — gerade die Gestalten, die auch die epische Legende liebt). Vor allem aber spiegelt auch beim geistl. Drama die Stoffwahl das starke eschatologische Interesse namentlich des ausgehenden MA. wider. Auch die zyklische Zusammenfassung von Stoffen, die den ganzen christl. Weltplan von der Engelschöpfung bis zum Jüngsten Gericht als dramatisierte Summa Theologiae zur Anschauung bringen (vgl. etwa das Künzelsauer Fronleichnamsspiel), entspricht Tendenzen, wie sie ebenso in der epischen Poesie seit den Dichtungen der frühmhd. Zeit zu beobachten sind. § 6. Mit R e f o r m a t i o n und Humanismus verändern sich die Grundlagen der g. D. Die Reformation schafft nicht nur neue religiöse Uberzeugungen und eine neue innere Einstellung des Menschen Gott gegenüber, sondern auch äußerlich einen neuen Stil religiösen Lebens. Das neue humanistische

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Selbstbewußtsein des Menschen schafft die Voraussetzung für die Möglichkeit einer freieren Religiosität des Einzelnen. Waren für das MA. geistl. und religiöse Dichtung identische Begriffe, weil es Religiosität nur innerhalb der kirchlichen Vorstellungen gab (höchstens in der kurzen Spanne der mhd. Blütezeit schufen ritterliche Dichter doch so etwas wie eine 'religiöse' Dichtung), so legen Reformation und Humanismus den Grund für eine Scheidung dieser Linien. Schuf im MA. die Wahl eines Stoffes aus kirchlicher Uberlieferung fast mit Notwendigkeit eine g. D., so hört auch dieser Zusammenfall allmählich auf. Das gegebene Äußerungsmittel für die neue Religiosität war L y r i k ; und geistl. Lyrik ist der einzige große und kraftvolle Strom •g. D., der die nhd. Periode in ihrer ganzen Breite durchzieht. Die protestantische Liederdichtung, die zunächst in Stil und Stoff mancherlei Zusammenhänge mit der alten Kirche zeigt, ist bei L u t h e r und seiner Generation noch in ziemlichem Ausmaß zweckbestimmt: Polemik, Apologie, konfessionelle Didaxe verlangen ihr Recht; das überindividuelle Gemeindelied macht dem Bekenntnis subjektiven religiösen Erlebens noch den Boden streitig. Es bedurfte erst einer längeren Entwicklung, ehe die persönlichere, im eigentlichsten Sinne protestantische Liederdichtung des größten geistl. Liederdichters, Paul G e r h a r d t s , möglich wurde (s. Kirchenlied). Die Liedform beherrscht, nach Luthers übermächtigem Vorbild, in solchem Maße die Dichtung des Protestantismus, daß sie zum Gefäß wird auch für objektive Stoffe, für die die g. D. des MA.s epische Formen verwendete. So werden nicht nur die zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis, Luthers Katechismus, sondern auch biblische Parabeln, Evangelientexte, ganze biblische Bücher in Lieder gebracht. Audi die schon zu Luthers Lebzeiten einsetzenden und noch im 18. Jh. sich wiederholenden Bearbeitungen des ganzen Psalters gehören auf diese Linie. So tritt frühzeitig neben das Kirchenlied eine geistl. Leselyrik von großer inhaltlicher Spannweite, die je später je mehr sich ins Uferlose ausbreitete. Ihre Schöpfer sind überwiegend Geistliche, doch betrachten auch die weltlichen Dichter noch im ganzen 17. Jh. ihre Pflege als ein nobile officium, so daß der volle

Form- und Stilreichtum der weltlichen Lyrik sich auch auf diesem Gebiete auftut. Tieferlebte Dichtung (Fleming, Gryphius) steht dabei neben innerlich leerer Formkunst, die nur noch den Stoff mit g. D. teilt (Opitz, Zesen). Die k a t h o l i s c h e Liederdichtung, die von der protestantischen einen Anstoß in der Richtung auf das Gemeindelied hin empfangen hat, steht doch im 16. Jh. in fruchtloser Konkurrenz neben ihr: die kathol. Tradition war der neuartigen Gattung Kirchenlied nicht recht gefügig. Und auch als im 17. Jh. die kathol. Liederdichtung sich zu neuer Blüte erhob, geschah es nicht zuletzt, weil sie wieder den Mut zur eigenen Form gewann. S p e e s und S c h e f f l e r s geisü. Liederdichtung macht in ihrem schäferlichen Gewände zwar dem Zeitgeschmack Konzessionen, aber nicht kirchlichen Bedürfnissen; sie ist in ihrer mystischen Selbstinteressiertheit und Isolierung im ganzen unchoralhaft. Und Jakob B a l d e verschmäht in seinen Hymnen sogar das Kleid der dt. Sprache. Das ist selbstbewußte Rüdekehr zu älterem kathol. Stil. Im Raum der schlesischen Barockmystik konnte aber auch die repräsentative Form eines neuen religiösen Spruchgedichtes, fern von allem Liedhaften, sich ausbilden (Czepko, Scheffler). § 7. Nächst der Lyrik ist es das Gebiet des D r a m a s , auf dem die mal. g. D. in die neuere Zeit herübergreift. Seine lebendigste Fortsetzung fand das geistl. Volksschauspiel des MA.s in der Schweiz, wo nicht nur Passionen und Weltgerichtsspiele in großer Aufmachung das ganze 16. Jh. hindurch anhielten, sondern wo auch, bei Katholiken und Protestanten, die Vorliebe bleibt für umfängliche, mit großem Personal arbeitende, oft auf mehrere Tage berechnete Stücke. Im Stoff freilich macht sich eine große Veränderung geltend, insofern als legendarische Themata mehr und mehr abgestoßen werden und das religiöse Drama immer entschiedener zum biblischen wird. Auch das gilt gleichermaßen für Protestanten wie für Katholiken, findet aber eine rechte Erklärung nur von der neuen Kirche aus, die sich aus der Hl. Schrift nicht nur die Lehre, sondern auch die Vorbilder des Lebens holte, im Gegensatz zum Heiligenkult der alten Kirche, die sich hier gewissen Rückwirkungen nicht entziehen konnte. Von demselben Gesichtspunkt aus muß es natürlich verstanden werden, wenn auch das

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protestantische Drama sacrum strengerer Form, das aus der Sdiulkomödie herauswuchs, die Stücke von Isaaks Opferung, Joseph, Tobias, Esther, Susanna usw. in den Vordergrund seines Repertoires stellte. Eigen ist dem biblischen Drama der Protestanten, das fast ausschließlich aus den Händen von Pfarrern und Schulmeistern hervorging und seine bezeichnendste Form im mittleren Mitteldeutschland gewann, ein grobdidaktisches Element und ein agitatorischpolemischer Zug: parabolische Stoffe wie der vom verlorenen Sohn (auch nd. von Burkard Waldis meisterlich geformt) schlugen deshalb an Beliebtheit noch die historischen Gestalten der Bibel. Aber trotz aller Gegnerschaft blieben gewisse Grundstoffe des kathol. Dramas auch im protestantischen lebendig: Themata aus Christi Leben erscheinen, sogar die dramatische Zusammenfassimg des ganzen göttlichen Weltplans wird in protestantischer Beleuchtung erneuert, nur Darstellungen der Passion treten, nachdem Luther Bedenken geäußert hatte, ganz zurück. Das geistl. Drama der Protestanten lebte, in immer selteneren Vertretern, bis zu den biblischen Schauspielen des Christian W e i s e . Hier erst, Ende des 17. Jh.s, erlischt auf protestantischem Boden eine dramatische Tradition, deren Fäden aus der Neuzeit in das MA. zurückreichen. Auch die Katholiken hatten ihr Schuldrama. Zur Blüte entwickelte es sich aber erst seit dem ausgehenden 16. Jh. in den Händen der Orden, vor allem der J e s u i t e n , die nicht nur seine innere Form hoben und seinen äußeren Apparat prunkvoll und effektsicher ausgestalteten, beides besonders durch den Einsatz der Allegorie, sondern auch seinen Stoffkreis gewaltig erweiterten, zumal nach der Seite des Historischen hin (s. Jesuiten). Immerhin behaupten auch bei ihm biblische Stoffe einen festen Platz, und in der stärkeren Heranziehung legendarischer Themata macht sich sogar ein Zurücklenken in ältere Wege des kathol. Schauspiels bemerkbar. So birgt also das Jesuitendrama, das auch bei den nichtbiblischen Stoffen den geistlich-moralisierenden Zweck scharf hervorkehrt, einen anderen Ausläufer der mal. g. D. § 8. Im 18. Jh. verändern sich die Verhältnisse insofern, als der Unterschied von geistl. und religiöser Dichtung immer deutlicher und tiefer wird. Zwar bleiben religiöse GegenReallftxikon I

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stände bis in die Geniezeit bevorzugte Stoffe fast jeder Art von Dichtung, aber es verliert sich allmählich die Beziehung zu der in die Form der Kirchen gefaßten Religion, und es verlieren sich der Gedanke und die Absicht einer Wirkung der Dichtung im Dienste dieser Kirchen. Ein allgemeinerer Theismus wird seit Geliert zum Inhalt religiöser Dichtung, und ein neues Kunst- und Persönlichkeitsgefühl, das nicht schlechthin dem Stoff dienen will, wird seit Klopstock zu ihrem Gestalter. Äußerlich kennzeichnet sich der Wandel' am deutlichsten dadurch, daß alle bedeutende Dichtung religiösen Inhalts von nun ab aus der Hand nichtgeistlicher Dichter kommt; die ausgesprochen geistl. Dichtung dagegen sinkt zu einer Lit. zweiten Ranges herab, wie die Kirchenreligion selber aus ihrer Vormachtstellung innerhalb des geistigen Lebens in eine bescheidenere Position gedrängt wurde. So bringt denn das 18. Jh. nach dieser Seite nur scheinbar eine neue Blüte g. D. Zwar ersteht ein Epos religiösen Inhalts neu; aber das Leitwerk dieser Epopöen, K l o p s t o c k s Messias, ist keine g.D., die in eine Linie zu stellen wäre mit den mal. Bearbeitungen desselben Themas: Erlebnis, Stoff, Ziel sind anderer Art. Dasselbe gilt mehr oder minder für die zahlreichen Nachahmer des Messias, die bis ins 19. Jh. herüberreichen. Auch ein Drama religiösen Inhalts ist von Klopstock neu geschaffen worden; es teilt mit dem geistl. Drama des 16. Jh.s vielfach den Stoff, ohne doch seinen geistl. Charakter zu teilen. Am ehesten mag das noch für B o d m e r gelten; dafür wirken seine Dramen auch (ähnlich seinen Epen) wie Anachronismen. Dagegen besteht eine ununterbrochene Tradition auf dem Gebiet der Liederdichtung, nur daß gerade auf diesem Felde der Unterschied zwischen religiöser und g. D. steigende Bedeutung gewinnt. Der P i e t i s m u s , dessen Liederdichtung den Anschluß an die des 17. Jh.s herstellt, vereint noch beides: er empfand sich bei aller vornehmen Pflege individueller Religiosität doch als Kirche in der Kirche. Doch konnte auch gerade aus dem Bereiche Zinzendorfs und seiner Wirkung eine Liedform von neuer Subjektivität entstehen, die von der kirchlichen Glaubensmitte ab- und schließlich zu der spekulativen Empfindsamkeit der geistlichen Lieder eines Novalis hinführt. Seit dem Rationalismus scheiden sich 35

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die Wege immer mehr: auf Geliert folgt Klopstodk, folgen die Bremer Beiträger, folgt G o e t h e schließlich, und mit ihnen stuft sich eine religiöse Lyrik, die so vielgestaltig ist in ihren sich befreienden Formen wie in der Art ihres Gotteserlebnisses: denn auch die spinozistische Frömmigkeit Goethes schafft noch religiöse Poesien. Und auf der anderen Seite eine geisdiche Liederdichtung, die sich bewußt innerhalb kirchlicher Grenzen hält und für ein kirchlich gesinntes Publikum bestimmt ist, überwiegend von Geistlichen herrührend, die damit die Praxis des 16. und 17. Jh.s fortsetzen. Diese geistl. Liederdichtung, die riesenhaften Umfangs ist, ist natürlich mit der Zeit vorgeschritten: sie ist glatt nach Form und Stil, bemüht sich, überkonfessionell zu sein, und verfügt über viele Register, von mystischer Versenkung bis zu trockener Dogmatik; aber ζ. T. gerade deswegen wirkt sie trotz innerer Echtheit auch in ihren besten Vertretern noch (etwa bei Christ. Sturm oder dem Pietisten Frh. Christ, v. Pfeil) unoriginell, abgegriffen, als Dichtung zweiten Ranges. Natürlich läßt sich keine feste Grenze zwischen religiöser und geistl. Lyrik abstecken: Nicht nur Geliert und Klopstodc, auch einzelne der Bremer Beiträger haben in Gesangbücher Aufnahme gefunden, und auch bei Graf Christian Stolberg hat manches Lied Choralform. Neben der Perzeption ist eben auch die Rezeption von Belang für den geistl. Charakter einer Dichtung. § 9. Das 19. Jh. ist, obwohl die geistl. Liederdichtung an Masse kaum abnimmt, doch an eigentlichem Ertrag wenig fruchtbar. Stärker als je ist die Gefahr, daß aus bewahrter Uberlieferung Historismus wird. Das ist eine Folge der Romantik, die schon in der kontrafaktorischen Erneuerung alter Volkslied- und barocker Gedichtformen seit Tieck und Brentano sich abzeichnet. Erneuerte Formen (vom Mittelalter bis zu Schiller) und Sentimentalität sind das sichtbare Erbe der Romantik bei den geistl. Liederdichtern: so bei A. Knapp, Ph. Spitta, vor allem bei K. Gerok und J. Sturm. Eine eindrüddiche Ausnutzung der Möglichkeiten, die die nachromantische Subjektivität für die Durchdringung und Motivierung geistl. Stoffe bietet, ist die g. Lyrik der D r o s t e . Einfühlendes Erlebnis und Meditation heben hier freilich, ähnlich wie bei

B r e n t a n o s Romanzen vom Rosenkranz, den Gemeinschaftscharakter früherer g. D. auf und weisen auf die Entwicklung der Zeit in der Richtung zu einer Stimmungsdichtung von stets unverbindlicher werdender allgemeiner Religiosiät. Diese kann, wie bei Rilke ζ. B., nach der Jh.wende unter Wahrung geistl. Stoffe und auch Formen (Stundenbuch) bis zum Operieren aus dem atheistischen Raum führen, d. h. bis zur ästhetischen Parodie geistlicher Dichtung. Die nachpietistische Spannung zwischen ästhetischerSubjektivität und Gemeinschaftscharakter der g. D. wurde in der Folge von Wandlungen in Theologie und Gemeinde (Bekenntniskirche) seit den dreißiger Jahren zeitweise überwunden durch eine weitgehend entromantisierte, stärker am Reformationslied und P. Gerhardt orientierte g. D. (R. A. Schröder, vgl. Ges. Werke Bd. 1, 1953, J. Klepper, Kyrie. Geistl. Lieder, gedr. 1950), die auch im subjektiven Ausdrucksbereich teilweise wieder überpersönliche Echtheit und Wucht ohne Pathos gewann (Dietr. Bonhoeffer, Gedichte u. Briefe aus d. Haft, gedr. 1947). Der gleiche Vorgang, bei stärkerer Orientierung nach dem MA. zurück, vollzog sich auch im Katholizismus (R. Schneider, Sonette, 1939, G. von le Fort, Hymnen an d. Kirche, 1939, W. Bergengruen, Dies irae, gedr. 1945). Die Gefahr, daß mit schwindendem Druck sich auch hier wieder Routine einstellen kann, wird seither sichtbar. Aug. Heinr. Κ ο b e r , Gesch. d. religiösen Diditung in Deutschland (1919). Hugo M a x , Martin Opitz als geistlicher Dichter (1931; BtrNLitg. NF. 17). Heddy N e u m e i s t e r , Geistlichkeit u. Literatur. Zur Lit.Soziologie d. 17. Jh.s (1931; Universitas-Archiv 51). A. v. Martin, Das Wesen d. romant. Religiosität. DVLG. 2 (1924) S. 367-417. Rud. U η g e r , Heilige Wehmut. JbFDH. 1936/40, S. 337-407. W. K o h l s c h m i d t , Von Luther zu Novalis, in: In dieser österlichen Zeit (1955) S. 161168. L. Η u n k e l e r . Cl. Brentanos religiöser Entwicklungsgang. Diss. Fribourg 1915. Eberh. P f e i f f e r , Die religiöse Wandlung Cl. Brentanos im Spiegel s. geistl. Lyrik. (Masch.) Diss. Frankfurt 1951. Aug. W e i d e m a n n , Die religiöse Lyrik d. Katholizismus in d. 1. Hälfte d. 19. Jh.s unter bes. Berücks. Annettens υ. Droste-Hülshoff (1911; Probefahrten 19). Klemens M ö l l e n b r o c k , Die religiöse Lyrik d. Droste u. d. Theologie d. Zeit (1935; NDtFsdign. 33). Joachim M ü l l e r , Die religiöse Grundhaltung im 'Geistlichen Jahr'. DuV. 37 (1936) S. 459-465. Clemens H e s e l h a u s , Das 'Geistliche Jahr' d. Droste. Jb. d.

Geistliche Dichtung — Gelegenheitsdiditung Droste-Ges. 2 (1948/50) S. 88-114. Willi. G r e n z m a n n , Die Erfahrungen Gottes in d. Dichtung d. Gegenw. (1955; Religiöse Quellensdir. 6). Ders., Dichtung u. Glaube. Probleme u. Gestalten d. dt. Gegenwartslit. (3. Aufl. 1956). Anthologien neuerer geistl. u. religiöser Dichtung: Licht d. Welt. Hg. v. Otto Frh. v. T a u b e (1946). Lob aus d. Tiefe. Hg. v. Friedr. Sam. R o t h e n b e r g (1947; 2. Aufl. 1949). Der Glaube kann nicht schweigen. Hg. v. Ajina P a u l s e n (1948). Anfechtung u. Trost im dt. Gedicht. Ges. v. Joh. P f e i f f e r (1949). Auch unser Lied soll zeugen. Hg v. W. K o h l s c h m i d t u. Joh. M a a s s e n (1950). Weitere Lit. s. in den Artikeln: Althochdt. Lit., Altsächs. Lit., Biblia pauperum, Deutschordensdichtung, Erbauungslit., Evangelienharmonie, Exempel, Frühmhd. Dichtung, Gegenreformation, Geißlerlieder, Hymne, Jesuitendichtung, Kirchenlied, Kreuzzugslit., Leich, Litanei, Liturgie, Mariendichtung, Mittelalterl. Spiele, Mystik, Ordensdichtung, Pietismus, Psalmendiaitung, Reformationslit., Schuldrama, Totentanz, Volksschauspiel. Artur Hübner (von den Herausgebern ergänzt) Geistliches Lied s. Kirchenlied. Gelegenheitsdicfatnng § 1. Unter dem Begriff G. faßt man poet. Werke zusammen, welche ihre Entstehung gewissen Lebensanlässen verdanken. Wesentlich ist in dt. Lit. die Unterscheidung, ob das Werk z u einem bestimmten Anlaß oder Zweck (Hochzeit, Jubiläum usw.) geschaffen wurde, oder ob es a u s einer besonderen individuellen Gelegenheit, aus dem Nachwirken eines „Erlebnisses" in der schöpferischen Phantasie des Dichters, entstand. In dem einen Falle handelt es sich um Zwedcund Gebrauchskunst; die betreffende objektive Gelegenheit bewirkt dann unmittelbar die Wahl des dichterischen Themas und Gegenstandes. Im andern Falle, der subjektiven G. im Goetheschen Sinn, ist die Beziehung zu Thema und Gegenstand undurchsichtiger und verwickelter, da eine „Gelegenheit" als einmaliger Lebensaugenblick im Dichter innere Empfindungen ausgelöst hat, welche sein Werk verewigt. Beide Male aber handelt es sich um eine besonders enge Beziehung des Dichtwerkes zur gegebenen Lebenswirklichkeit. Von der ersteren Art, derG. als Gebrauchskunst, ist die ebenfalls zweckgebundene Dichtung politischer, satirisch - moralischer oder allgemein didaktischer Art zu trennen. Im engeren Sinn versteht man unter G. nur

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solche zur Feier bestimmter, und womöglich datierter Vorkommnisse. § 2. Für das dt. Schrifttum wesentlich wird die G. im Zeitraum des Barock bis ins Rokoko hinein; denn nur dort stellt sie eine anerkannte und allgemein geübte Aussageweise der g e h o b e n e n Lit. dar. Die literar. Anregung kam aus der humanistischen, neulat. oder in europäischen Nationalsprachen abgefaßten Dichtung. Auch die dt. Neulateiner prunkten anläßlich von Hochzeiten, Geburtstagen, Reiseabschieden gern mit ihren versifizierten Stilübungen.Durch Martin O p i t z übernimmt die Gelehrtendichtung in dt. Sprache diese Art, nachdem Georg Rudolf W e c k h e r l i n mit der Einführung der höfischen G. in Deutschland nicht durchgedrungen war. Unter Berufung auf die maßgebliche Poetik des Humanismus, Julius Caesar S c a l i g e r s Poetices libri Septem (1561), begründet Opitz die G. auch theoretisch, indem er die Gelegenheitsgedichte als eine Art lyrischer Mischgattung begreift, die in 'Wäldern' (Sylvae) gesammelt werden: „als da sind Hochzeit- und Geburtlieder, Glückwündtschungen nach außgestandener kranckheit, item auff reisen, oder auff die zuerückkunft von denselben, und dergleichen" (Buch von der dt. Poeterey 1624, D 3 b). Danach gaben alle Folger des Opitz der G. in ihrer dichterischen Produktion breiten Raum; besonders sind Fleming, Rist und der Königsberger Dichterkreis zu erwähnen. § 3. Die I n h a l t e ergeben sich für die G. aus dem Umstand, daß diese Poesie den gesamten Verlauf des Menschenlebens von der Geburt bis zum Grabe begleitet. Jedes festliche Ereignis kann dadurch zum bedichteten Gegenstand für den Gelegenheitsdichter werden (s. a. Festspiel). Jedoch schälen sich einige wiederkehrende Grundtypen besonders heraus. Die Verbundenheit der humanistischen Gelehrtenpoeten untereinander zeigt sich im Besingen von akademischen E r eignissen, ζ. B. der Erlangung der Magisterwürde durch einen Kollegen, oder des Eintreffens und der Abreise eines Dichterfreundes oder Gönners. Die Herausgabe eines Buches ruft im Freundeskreis Lobgedichte auf den Verfasser hervor, die dem Buchband beigegeben werden, ebenso wie der Autor selbst diese Gelegenheit zu Widmungsversen an einflußreiche Persönlichkeiten ergreift. Das Lob des gelehrten Dichterkollegen wie 35·

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das des höher gestellten Gönners und Fürsten verzichtet bei aller Übersdrwenglichkeit des Ausdrudcs selten auf die stehende Formel, daß der Dichter Ruhm und Tugend des Gefeierten niemals hinlänglich auszusagen vermöge. Je nachdem der Adressat dem höfischen, dem humanistischen oder dem bürgert. Lebensbereich angehört, ergeben sich für den Dichter Unterschiede in der angeschlagenen Tonart; ebenso zeigen sich gewisse Abstufungen einer gefühlsmäßigen Anteilnahme des Dichters, je nachdem ob es sich um das Lob eines gleichstrebenden und vertrauten Freundes, um den Preis einer Person von Rang oder bloß umbestellte Ware für einen nicht persönlich gekannten Bürgersmann handelt. Für das bürgerl. Leben überwiegen als Anlässe der G. Geburtstage, Hochzeiten, Kindtaufen und Begräbnisse. Die G e b u r t s t a g s - und Namenstags- G l ü c k w ü n s c h e bedienen sich mit Vorliebe des rhetorischen Schmucks der Namensanspielungen, Akrosticha und Anagramme. Sobald die Verse mit einem Geschenk zusammen überreicht werden sollen, wird ein Hinweis auf die angebundene Gabe beigefügt; es handelt sich dann um den Gedichttypus des „Angebindes" In den H o c h z e i t s g e d i c h t e n bildet sich bei einzelnen Lyrikern (Simon Dach u. a.) geradezu ein festes Schema der stofflichen Gliederung heraus. Nach einer einleitenden Naturschilderung oder mythologischen Szene werden der Bräutigam und die Braut gefeiert, daran knüpft sich als Abschluß eine Mahnung zu rechter Eheführung oder auch ein Geleit in die Hochzeitskammer. Die Einarbeitung von Anspielungen auf die antike Mythologie (Amor, Hymen) erweist sich hier als fast unerläßlich, während die L e i c h e n c a r m i n a ihre Gedanken vorwiegend aus dem christlichreligiösen Bereich der Psalmendichtung und der Predigten entlehnen. § 4. Die F o r m e n der lyrischen G. sind fast so vielfältig wie die der Barocklyrik überhaupt. Sonette, Horazische und Pindarische Oden, Alexandrinergedichte und Epigramme, ebenso wie Liedstrophen, werden am häufigsten verwendet. Künstliche Spielereien wie Echogedichte, Bilderverse usw. sind beliebt; oft finden sich Zwiegesänge und eingestreute Chöre. Von der Lyrik aus geht die G. — wenigstens im höfischen Bereich — gern zu dramat. Schaustellungen über, in kostümiert

aufführbaren Sing- und Freuden-Spielen, allegorischen Festspielen. Die sprachlichen Schmuckformen der G. mit ihrer Häufung von rhetorischen Figuren und Allegorien sind ebenfalls die aus der petrarkistischen Lyrik der Zeit geläufigen. § 5. Die außerliterar. Voraussetzung für die G. ist in der gesellschaftlichen Struktur des Barodczeitalters zu suchen. Die Feier der bürgerl. und höfischen Familienfestlichkeiten in poet. Sprache erschien als eine nicht unwichtige Aufgabe für den Dichter, der dem Gesetz einer festen Lebens- und Standesordnung unterstand. Daher auch die schablonenhafte Ausführung dieser G., welche überall nur das gegebene Muster auszufüllen sucht und für persönliche Auffassungen keinen Raum läßt. Anweisungen zur Anfertigung von G. sind entsprechend zahlreich (in den Poetiken von S. von Birken, D. G. Morhof, C. F. Hunold u. a.). Wenn auch häufig Kritik und Spott an der G. geübt wird, so bezieht sich das nicht auf den Brauch als solchen, sondern auf die Gesinnungslosigkeit mancher Lobdichter und auf diejenigen Auftraggeber, welche allzu lächerliche Vorkommnisse feiern lassen. Schon Opitz hatte sich beklagt, daß die Würde der Dichtkunst unter solchen Zumutungen leide (Poeterey Β 3 b). Auswüchse der G. werden u. a. von Johann Lauremberg (4. Scherzgedicht), Joachim Rachel (8. Satire), Gottfried Wilhelm Sacer (Reime Dich oder ich fresse Dich, 1673) aufs Korn genommen. § 6. Zu der Zeit als die G. sich schließlich sogar zu einer von Amts wegen ausgeübten Kunst bei den H o f d i c h t e r n entwickelt hat, ist ihr Höhepunkt schon überschritten. In der Lyrik Johann Christian G ü n t h e r s sehen wir, wie der oben gekennzeichnete Unterschied zwischen Zweckgedichten ζ u einer bestimmten Gelegenheit und Erlebnisgedichten a u s einer solchen verschwimmt. Den Gedichtüberschriften nach sind zwar beide Gruppen bei Günther vertreten, aber seine Lyrik erwächst in jedem Fall aus persönlichem Empfinden und Schicksal. Während die G. im alten Sinne allmählich zur Bedeutungslosigkeit herabsinkt, weist Günthers lyrische Art auf G o e t h e voraus. Goethe bezeichnet als G. nicht nur die auch bei ihm noch anzutreffende Feier- und Widmungs-Poesie, sondern versteht darunter sein gesamtes lyrisches Schaffen (Zu Edcermann,

Gelegenheitsdiditung — Gelehrtendichtung 18. Sept. 1823). Diese Art einer Beziehung auf die Lebenswirklichkeit ist für den Dichter Goethe eigentümlich. Carl L e m c k e , Von Opitz bis Klopstock (2. Aufl. 1882; neue Ausg. von Lemcke, Gesch. d. dt. Dditg. Bd. 1). Karl B o r i n s k i , Die. Poetik d. Renaissance u. d. Anfänge d. literar. Kritik in Dtsdild. (1886). G o e d e k e , B d . 3 (2. Aufl. 1887) S. 92-95: Gelegenheitsdichter d. Sprachgesellschaften. Max von W a l d b e r g , Die dt. Renaissance-Lyrik (1888). Carl E n d e r s , Dt. Gelegenheitsdchtg. bis zu Goethe. GRM. 1 (1909) S. 292-307. Rieh. N e w a l d , Die dt. Lit. vom Späthumanismus zur Empfindsamkeit 1570-1750 (1951: H. de Boor/Newald, Gesdi. d. dt. Lit. 5) passim. Rudolf Haller Celehrtendicbtung § 1. Der Ausdrude G. wird mehr in negativ wertender als objektiv beschreibender Bedeutung verwendet. Besonders die Lit. des 17. Jh.s wurde damit früher als innerlich unwahre Mache pedantischer Stubengelehrter gebrandmarkt, die mit Hilfe angelernter, volksfremder Lateinbildung beliebige, unerlebte Themata als Zeitvertreib schulmäßig abhandelt. Eingehende Sachforschung und Einfühlung enthüllten solche Verallgemeinerung als unhaltbar. Denn die Poeten des 17. Jh.s sind ihrem Beruf nach vorwiegend praktisch tätige Beamte und nicht eigentliche Gelehrte: allerdings ist ihre Bildung durch die humanistisch orientierten Institute Gymnasium und Universität bestimmt, wie das seit dem Entstehen einer selbständigen weltlichen Bildung in Deutschland stets gewesen ist. Daher finden sich bei dem Versuch, eine Bildungsliteratur nach dem Vorbild der anderen Völker zu schaffen (s. Schlesische Schulen), im Formelschatz tatsächlich starke Anleihen bei ausländischer und antiker Dichtung und Rhetorik. Trotzdem hat jene Zeit unzweifelhaft bedeutende Dichterpersönlichkeiten hervorgebracht. Man bezeichnet diese Dichtung besser nach dem Gesamtstil als Barode. Allerdings gibt es damals wie später Erscheinungen, die sich mit Fug als G. bezeichnen lassen. § 2. Für einen sinngemäßen Gebraudi dieses Terminus kann die soziale Stellung des Verfassers als Gelehrten nicht ausschlaggebend sein. Nicht notwendig bringt der dichtende Gelehrte auch G. hervor, obschon diese stets Männer zu Verfassern hat, deren überdurchschnittliche Bildung in engem Zu-

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sammenhang mit der Gelehrsamkeit ihrer Zeit steht. Ebensowenig genügen wird eine lediglich gelehrte Herkunft des Stoffes, obschon meist der Stoff der G. gerade dadurch charakterisiert sein wird. Um die G. von der nur stoffvermittelnden Volkserziehung abzuheben, ist notwendig, auf die Darstellung zu achten. Immerhin wird das Lehrhafte sich meist deutlich bemerkbar machen. Oft wird die Verlebendigung des Stoffes, die Verdeutlichung der politischen Ereignisse oder kulturhistorischen Zustände einen breiten Raum einnehmen. Doch kann auch die Vermitte- lung von Gedankengut bevorzugt sein. Gelehrtenhafte Floskeln jedoch zeugen nur von Scheinbildung, erwecken den Eindruck übler Popularwissenschaftelei, nicht aber von Dichtung. Wesenhaft bezeichnet wird G. vielmehr dadurch, daß sie ihr Erlebnis aus dem gelehrten Wissen oder direkt aus der Forschungsarbeit des Verfassers zieht. Nicht nur zeitlich während dieser gelehrten Beschäftigung, sondern a u s ihr erwächst also ein mit ihr im Zusammenhang stehender Stoff als Verleiblichung wesentlicher Gefühlsinhalte zu gemäßer Form, eben zur „Dichtung". Dabei wird durch die mit den Zeiten wechselnde Auffassung von Gelehrsamkeit die Gestalt des gelehrten Mannes sowie das Aussehen seiner dichterischen Werke in den einzelnen Epochen sich deutlich voneinander abheben. Es kann dabei sowohl Inhalt wie Form oder Gehalt im Vordergrund stehen. § 3. Das MA. verarbeitet naiv-praktisch das antike Erbe und macht es so seinen andersgearteten Bedürfnissen dienstbar. Während es für den Ausdruck seiner Frömmigkeit in Hymnus, Sequenz und Tropus nach Inhalt wie Form eigene Wege findet, schließt es sich in der exklusiven Bildungsliteratur direkt der Tradition von Vergil, Horaz, auch Ovid an. Kulturell führend ist der geistliche Fürstenstand mit den reichen Klöstern und Stiften, der besonders den Kaiserhof nach sich zieht. Naturgemäß herrscht die G. vor. Die erste Etappe bildet die sog. Karolingische Renaissance. Zeit- und Lehrgedichte, Episteln und Epigramme herrschen bei Alkuin wie Paulus Diakonus und dem Formbegabtesten des Kreises vor, bei dem Westgoten Theodulf; der Franke Angilbert wird als Homer gefeiert. Hrabanus Maurus ver-

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Gelehrtendichtung

pflanzt diese Übung nach Fulda, sein begabtester Schüler Walahfrid Strabo nach den Klöstern am Bodensee, wo sie in St. Gallen und Reichenau bis ins 11. Jh. gepflegt wird. Dem absterbenden germ. Heldenlied setzt der Waltharius eine antikisierende Umbildung entgegen, nicht nur hinsichtlich des äußeren Versgewandes, sondern selbst nach Durchführung der Handlung und Charakterisierung. Das Mitte des 11. Jh.s in Tegernsee entstandene Ruodlieb-Epos in lat. Hexametern zeigt ebenfalls den gelehrten und begabten Verfasser. Hier findet sich schon die typische Mischung von Erzählerischem und Lehrhaftem. Im Zusammenhang dieser episierenden Bestrebungen steht auch Otfrids Christ. Durch Bruno, den Bruder Kaiser Ottos I., wurde seit der Mitte des 10. Jh.s die Ausbreitung der antiken Bildung besonders an den Stiftsschulen der Bischofssitze gefördert. Als schönstes Denkmal dieser „Ottonischen Renaissance" ragen Hrotsvithas dialogisierte Legenden (zwischen 960 u. 970) hervor. An antikem Lebensgefühl und Dichtervorbild entzündet sich die in dieser Zeit blühende Dichtung der Vaganten. — Der Gelehrsamkeit entsprungen sind außerdem mhd. Denkmäler wie der Merigarto sowie alle der Theologie entnommenen Stoffe, neben den Legenden die Darstellungen der Weltheilsgeschichte von der Summa theologiae und dem Anegenge an über die Kaiserdironik bis zu Jansen Enikels Weltchronik. Auch die Ubersetzung von Ovids Metamorphosen durch Albrecht von Halberstadt gehört hierher, ja sogar der Gregorius Hartmanns von Aue. Ein Zug des Gelehrtenhaften findet sich bei Gottfried und Wolfram, betont bei ihren Epigonen; ja er bleibt dem Roman durdh die Jh.e eigen bis zu Thomas Mann oder Hesse. Die Scholastik regt die allegorische geistliche Dichtung an, die ihrerseits wieder die weltliche Minneallegorie hervorruft. Auch für den Meistersang bietet sie die gelehrten Themen. Eine eigenartige weltliche Wissenschaft entwickelt sich in der Heraldik, die zur Wappendichtung führt, als deren bestes Beispiel Konrads von Würzburg Turnier von Nantes gilt. § 4. Erst seit der Mitte des 15. Jh.s bildet sich in Deutschland ein selbständiger w e l t l i c h e r Gelehrtenstand. Wie früher die

Klöster werden nun die Universitäten die Pflegestätten der humanistischen G. Man lebt sich in ein Vorbild ein und erlebt im wesentlichen nach dessen Empfindungsart und Weltanschauung, man gewöhnt sich dessen Ausdrudesweise in Gang und Wendung seines Stiles und Rhythmus an. Man benutzt also geprägte Formstücke und setzt mosaikhaft neue Gedichte zusammen. Dazu helfen neben den handschriftlichen Exzerpten gedruckte Florilegien. Trotzdem sich oft jede Zeile auf ein Zitat zurückführen läßt, kommen dichterische Wirkungen mitunter zustande. Von Vergil und Ovid genährt, ersteht die Dichtung eines Petrus Secundus Lotichius (Poemata ,posthum 1563) als die bedeutendste Erscheinung des christl. Humanismus. Die vorwiegend weltl. Richtung beginnt gleichzeitig mit den Amores von Celtes (1502). Eobanus Hessus hatte schon 1514 Ovids Heroiden nachgeahmt: Vincentius Opsopoeus schreibt eine Ars amandi neben einer Trinkund Scherzkunst. Laurentius Rhodomannus dichtet griech. eine Argonautica, Thehaica, Troica, die zeitweilig sogar für antik gehalten wurden. Das Epigramm nach Martial und die Satire nach Lukian werden reichlich gepflegt. An Terenz entzündet sich im Gegensatz zum Fastnachtsspiel die Schulkomödie seit Wimpfelings Stylpho. Die Prosa wird als Kunst entdeckt. Durch diese G. wird eine große Bereicherung an Formmöglichkeiten erreicht in einem Zeitraum, der nur holprige Zweckrede und naive Unterhaltungsprosa für die breite Masse kannte. Auch inhaltlich wird vor allem die Bekanntschaft mit Tacitus' Germania, die Celtes zuerst wieder herausgibt, zum Anstoß patriotischen Stolzes und historischen Forschens. Die neulat. Poesie um die Wende des 16. zum 17. Jh. weist schon ins Barock. § 5. Der Bildung einer nationalen dt. Lit. kam die Gelegenheitsdichtung erst im 17. Jh. zunutze. Auch hier ist die neulat. Poesie führend. Die Erlebnisart hat sich jedoch in eine vorwiegend formale gewandelt. Daher sieht man nicht mehr das Heil im Aufgehen in einen Dichter, sondern benutzt Phrasen- und Senbenzensammlungen aus allen irgend zugänglichen Dichtern. Die lat. Gelegenheitsdichterei wuchert fort und wird in dt. Sprache unaufhörlich nachgeahmt. In der ersten

Gelehrtendichtung Hälfte des Jh.s grassiert der mythologische Aufputz. Die Epigrammatik, die durch Owen neuen Anstoß erhält, wird ebenfalls dt. nachgebildet. Unter Senecas Vorbild entsteht eine barocke Tragödie, lat. von den Jesuiten gepflegt, dt. besonders von den Schlesiern fortgebildet (s. Schlesische Schulen). Einzig das Epos vermag nicht in dt. Sprache Wurzel zu schlagen. In lat. hat es in Bidermann und Andreas Gryphius bedeutende Vertreter gefunden. Die didaktische Dichtung, in der als Lateiner der Jesuit Balde hervorragt, knüpft an die Philosophie des Seneca an. Durch Opitz faßt sie im Deutschen Fuß in der verchristliditen Form des Holländers Lipsius. Die Produktionen dieses Schlesiers sind ohne Zweifel die historisch wirksamsten G.en des Jh.s überhaupt, weil sie den Idealen des akademisch gebildeten Publikums entsprechenden Ausdrude geben. Lukrez stand bei seinem naturbeschreibenden Epos Vesuvius Pate, während die Schäferdichtung, die er einführen half, Theokrit zum Ahnen hat. Die Verherrlichung des Landlebens läßt, trotzdem sie das echteste seiner Produktion ist, doch weder Vergils Bucolica noch Epiktets Philosophie vergessen. An Persius und Juvenal schließt sich Joachim Rachel an. Das starke antiquarische Interesse gibt für den Roman Anstoß nicht allein zum Katalogisieren des nunmehr zur Bildung gehörigen gelehrten Wissens (Lohenstein, Paul Windder), sondern auch zur Ausspinnung ganzer Romanhandlungen (Lohenstein, Buchholtz, Anton Ulrich von Braunschweig u.a.) und selbst für die Satire (Moscherosch). Der gelehrtenhafte Eindruck derBarocklit. geht darauf zurück, daß zwei Richtungen von Gelehrsamkeit sich kreuzen und durch ihre Verschiedenartigkeit sich doppelt bemerkbar machen: neben einem pragmatischen Sammeln historischer und naturwissenschaftlicher Stofflichkeiten steht ein abstrakter Formalismus humanistischer Herkunft. Beides gehört als höfische Rhetorik und moderne Staats- und Lebenskunde zum Bildungsgut des Beamtentums des absolutistischen Staates, das eben das gebildete, die Literatur tragende Publikum ausmacht. § 6. Das Publikum des 18. Jh.s bildet das Bürgertum: Kulturerziehung steht im Mittelpunkt seines Interesses. Die Gelehrsamkeit richtet sich auf die philosophische Be-

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gründung einer Moral als Lebensnorm. Das Bildungserlebnis heftet sich daher vorwiegend an den Gehalt: der gelehrte Dichter hat populär-philosophische Tendenz. Die Kunst einer reinen, klaren Prosa zeichnet neben Lichtenberg und Lessing die philosophischen Essays von Abbt, Sturz, Mendelssohn, Garve aus. Georg Forster schafft die künstlerische Reisebeschreibung, während ohne die naturwissenschaftliche Forschung weder Haller noch Brockes zur Lyrik gekommen wären. Die Familiengeschichte in Romanform stellt Vorbilder aufklärerischer Lebensführung dar bei Nicolai, J. J. Engel, Knigge und am bedeutendsten bei Hippel. Campes Robinson ist eine Kulturgeschichte für Kinder, Pestalozzis Lienhard und Gertrud die Einkleidung seiner pädagogischen Lehren. Die Menschenkenntnis wird mit wissenschaftlich genauer Analyse betrieben in den psychologischen Romanen eines JungStilling und K. Ph. Moritz. Der erziehliche Staatsroman findet in Wieland und Haller Vertreter. Aus tiefstem philosophischen Erlebnis erblüht Schillers Gedankenlyrik. Neben Wieland (Horaz, Lukian) steht Joh. Hch. Voß als Übersetzer (Homer, Vergil, Horaz, Ovid). § 7. Im historisch orientierten 19. Jh. entzündet sich die Begeisterung des gelehrten Dichters am Stoff. Der Roman dient der Verlebendigung entschwundener Zeiten; man spricht vom Professorenroman. Die dt. Geschichte spielt eine große Rolle: neben Dahn stehen Freytag, Scheffel und Riehl; das romantische Mittelalter wählen Heyse und Hertz; die Renaissance vor allem Adolf Stern; Ebers führt in das ägypt. Altertum. Das Versepos trägt durchweg epigonenhafte Züge (Kinkel, Scheffel, Gregorovius, Jordan). Eigenartig ist Adolf Wilbrandts Versuch, in seinem Drama Timandra Piatons Apologie und Kriton zum großen Teil wörtlich auf die Bühne zu bringen. Hugo v. Hofmannsthal sucht durch Umdichtungen den Spielplan des Theaters als kultureller Bildungsstätte zu erweitem (Sophokles, Otway, Calderon, Jedermann); das wollte für Sophokles auch Roman Wömer. Züge des Gelehrtenhaften kennzeichnen besonders das Spätwerk von Thomas Mann und Herrn. Hesse, auch Musil. Besonders als Erneuerer alten Dichtungsgutes treten seit dem Anfang des Jh.s wich-

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Gelehrtendiditung — Gemäldegedicht

tige Leistungen hervor: Aug. Wilh. Schlegel (Shakespeare), Tieck (Minnelieder und Cervantes), Eichendorff (Calderon), Rückert (pers., arab., ind. Dichter), Freiligrath (engl., amerikan. Dichter), Heyse (ital. u. span. Lyrik), Hertz (altfranz. und mhd. Epen), Schack (Spanier und Firdusi), Simrock (alt- und mhd. Epen), Fulda (Moliere), Gildemeister (Byron, Dante, Ariost), v. Wilamowitz (griech. Dramen), Gundolf (Shakespeare), Stefan George (engl., frz. Lyrik, Dante), Kalchreuth (Verlaine), Th. ν. Scheffer (Homer), Rud. Borchardt (Dante, Trobadors), Albr. Schaeffer (Homer), R. A. Schröder (Homer, Vergil, Horaz). Es beleben Altdeutsches: Karl Wolfskehl, Friedr. Wolters, besonders Felix Genzmer (Edda, Beowulf, Heliand). Willi Flemming Gemäldegedicht (Bilddichtung) § 1. Ein durch ein Bild angeregtes oder auf ein Gemälde verfaßtes Gedicht im Umfang von wenigen Versen bis zu strophischen und epischen Gebilden: also Umsetzung eines Bildwerks in Wortkunst, seit alters geübt bis in unsere Tage. Ein künstlerisches Problem, zumal seit Lessings Abgrenzung von Dicht- und Bildkunst, das, bis heute aktuell, formreiche Prägungen und Lösungen gefunden hat: ein Kernstück aus dem weiten Bereich vielfältiger Wechselwirkungen zwischen Bild- und Wortkunst (s. Literatur und bildende Kunst), das der vergleichenden Geschichte beider Künste und der Erkenntnis ihrer gestaltenden Stilmittel wertvolle Einsichten vermittelt. § 2. Die Anfänge des Bildgedidits reichen bis in die Antike zurück. So waren bei den Griechen kurze Inschriften in poetischer Form auf Weihgeschenken und Kunstwerken verbreitet, vergleichbar germ. Runeninschriften wie auf dem Horn von Gallehus. Diese Bildepigrammatik ist als früher Versuch einer Gestaltungskunst zu werten, die dann auf röm. Boden mit dem Aufstieg des Christentums seit dem 4. Jh. eine neuartige Form, den sog. Titulus, entwickelt: hier hat die Kunst als Dienerin der Theologie heilsgeschichtliche oder dogmatische Bezüge der Predigt durch Umsetzung in Bilderschrift symbolisch zu untermalen. Viele Gemäldezyklen der Karolingerzeit sind nur aus solchen Bildergedichten oder Tituli bekannt: aus frühchristlicher Tradition war die Sitte

ererbt, Handschriftenbilder oder Wandmalereien mit begleitenden Versen zu deuten. So dürfte auch das ahd. Gedicht Christus und die Samariterin bildliche Darstellungen als Vorlage gehabt haben. Von Ekkehard IV. sind die Verse erhalten, die er zu dem Bilderzyldus über das Leben des heiligen Gallus gedichtet hat. In mhd. Zeit sind die Berührungen zwischen Bild- und Wortkunst eng und vielgestaltig. So umschreibt die Spruchdichtung der fahrenden Meister des 13. Jh.s (ζ. B. Reinmars von Zweter Bild vom idealen Manne) bekannte Allegorien, die zuvor durch die bildende Kunst dargestellt waren. Seit Mitte des 12. Jh.s wetteifern Skulptur und Malerei, überkommene Personifikationen abstrakter Begriffe in bildnerische Bewegung umzusetzen. Auch die in ihrer Art einmalige Beschreibung des Graltempels im jüngeren Titurel wäre ohne Anlehnung an Vorbilder der Ardiitektur und Malerei nicht zu erklären. Oder die vier allegorischen Bildergedichte, eingestreut in Bruns von Schonebeck Bearbeitung des Hohenlieds (von 1276), sind eine deutende Beschreibung zu einer illustrierten Hs., wie sie auch Konrads von Würzburg Goldener Schmiede zugrunde gelegen hat, die den traditionellen, durch die Bildkunst anschaulich gemachten Schatz christlicher Symbolik ausschöpft. Oder Reinmar von Zweter beschreibt (Roethe Nr. 246) eine bildliche Darstellung des Glücksrades, die ihrerseits eine Kopie nach der Herrad von Landsberg ist. Noch weitere Spruchgedichte Reinmars und anderer (Roethe Nr. 99/100, 302 a/b) waren offensichtlich auf illustrierten Einblättern verbreitet: diese Gattung dürfte bereits im 13. und 14. und nicht erst seit dem 16. Jh. beliebt gewesen sein, wenn auch ihre Massenverbreitung erst nach Erfindung des Buchdrucks möglich wurde (s. Einblattdrucke). § 3. Im Gegensatz zu den anspruchslosen Kurzreimen der illustrierten Einblätter und Bilderbogen sind die eigentlichen Bildgedichte umfangreicher, indem sie eine bildliche Vorlage eingehend interpretieren. Ihre erste Vollblüte erlebt diese Bilderdichtung im 16. Jh., zumal sie im Stil und Gehalt dem Volksgeschmack jenes Zeitalters bereitwillig nachkommt. Am stärksten erregen phantastische oder groteske Gestalten und Begebenheiten, monströse Märchen- und Wunder-

Gemäldegedidit tiere, Fabeln wie Schwänke aller Art die Einbildkraft und ermuntern zu immer neuen darstellerischen Versuchen, wobei sich Bild und Vers zu wirkungsvoller Einheit verbinden. Das gilt im besonderen für die Totentanz-Bilderbogen, die Vorläufer der späteren Holzschnitte, Blodcbücher, der plastischen wie malerischen Bildnisse bis hinauf zu Holbeins berühmten Werk: die außergewöhnliche Wirkung und Verbreitung der Totentänze, der bildhaften wie dichterischen, wäre ohne die Vorleistung der schlichten Bilderbogen kaum denkbar. Wie auch der erstaunliche Erfolg der Narrenbücher Brants und Murners der kapitelweisen Illustrierung durch plastische Holzschnitte mit zu danken ist. Das Gros der dichtenden Humanisten hingegen verhielt sich, wie zu erwarten, zu der populären Bilderbuchlyrik reserviert. Anders die Barockdichter: aus dem Geist ihres Zeitalters sind sie allem, was in Allegorik und Emblematik volkstümliche Wirkkraft ausstrahlt, aufgeschlossen (vgl. Emblemliteratur § 3). Während Grimmelshausen Titelbilder und Illustrationen seiner Werke selbst entwirft, gibt Harsdörffer den Rat, die Poesie solle ihre Motive der bildenden Kunst entnehmen und „Wortgemälde" produzieren. Ein Rat, der eifrig befolgt wird in Widmungs- und HochzeitsEmblemata wie Andachtsgemälden der Nürnberger Schule und in den Bildgedichten andrer Barockdichter (Hofmannswaldau, Lohenstein, Birken). Auch die antike Bildepigrammatik erlebt nun eine Wiedergeburt (Angelus Silesius, Christian Wernicke u. a.). Auf die besondere Kategorie von Gedichten, die durch figürliche Gestaltung ihrer äußeren Form die Gegenstände, nach denen sie benannt sind, nachbilden, sei nur beiläufig verwiesen (s. Figur gedieht). Im Zeitalter des Rokoko mit dem Hang zu natürlicher Sinnlichkeit gestalten die Bildgedichte erotisch gefärbte Gehalte (Gleim, Ewald, Götz) mit dem graziösen Ton und Schwung (I. P. Uz) jener Kultur- und Kunstepoche: sie zeugen von dem bemerkenswerten Fortschritt, den die dichterische Umsetzung bildnerischer Vorlagen oder auch das Umgekehrte (bei Geßner wohl beides) erreicht hat, wie sie im Rokokogedicht Hochzeitslied (Brautnacht der späteren Fassung) des Leipziger Studenten Goethe (1767) kulminiert. Die Bildgedichte des Rokoko ent-

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werfen lebensvolle Szenen sinnlicher Anschauung und bewegter Handlung. § 4. Lessings epochale Leistung in der Abgrenzung von Malerei und Poesie hat auch dem Bildgedicht neue Wege und Ziele erschlossen. Die Umschreibung eines Bildwerks mit den Mitteln der Wortkunst wird nun vom artistischen Spiel zum ernsten künstlerischen Problem: nur dann zu einer schöpferischen Lösung zu bringen, wenn sie Eigenart und spezifischen Kunstmitteln jeder der beiden Künste voll gerecht wird. Mit Herder, der nach antikem Vorbild die Prägnanz des Epigramms als geeignetste Form der Umsetzung eines Bildwerkes in Dichtung bevorzugt, symbolisieren Schillers und Goethes Gemäldegedichte das menschlich und allgemein Gültige, wobei der eine die Poetisierung mehr dramatisch (Der Abend, mit Untertitel „Nach einem Gemälde"), der andre (Soph.-Ausg. III 122; IV 132; 136) rein lyrisch gestaltet. So in den kleinen Gedichten, die Goethe zu Tischbeins Idyllen auf Wunsch beigesteuert oder mit denen er eine Ausgabe von Radierungen, ausgeführt nach seinen eignen Handzeichnungen, begleitet hat. Bei den Klassikern hat das Bildgedicht keinen Eigenwert: es soll das Bildwerk deuten, dem Betrachter menschlich nahe bringen. Anders die Romantiker, die aus ihrer Anschauung, wonach Kunst Evangelium, Offenbarung des Göttlichen, Unendlichen ist, die Gattung des Gemälde- und Künstlergedichts neu schaffen. Von Heinses Gemäldebeschreibungen über Wadcenroders andachtsvolle Verklärung von Madormenbildern führt der Weg zu A. W. Schlegel, der neben seinem Gespräch Die Gemälde (1798), worin er kunsttheoretische Fragen erörtert und ausgewählte Gemälde der Dresdner Galerie kritisch würdigt, einen Kranz von 15 Sonetten auf Werke alter Meister flicht: im ganzen keine überzeugende Lösung des Problems, Bildkunst in Dichtung umzusetzen. Das Gleiche gilt für die etwa 2V2 Dutzend Gemäldesonette der willigen Nachahmer Schlegels, wie sie der von F. Chr. Raßmann herausgegebene Neue Kranz deutscher Sonette (1820) vereinigt hat, oder für die Versuche der Dresdner Schillerepigonen Körner und Hohlfeldt. Das G. war nun zur Mode geworden, der jeder Dichter, der Rang und Namen hatte

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Gemäldegedidit

oder haben wollte, huldigen zu müssen glaubte: neben Friedr. (Maler) Müller, G. Chr. Braun, K. Ph. Conz, Friedr. Haug sind Friedr. Schlegel und seine Gattin Dorothea, die Gebrüder Boisser6e, Max von Schenkendorf, Karoline von Günderode, von den jüngeren Romantikern Brentano, Sophie Mereau, Achim von Arnim zu nennen: ihre Umdichtungen von Bildwerken fielen recht unterschiedlich aus, eine Folge der subjektiven Einstellung, die jeder von ihnen zu der Vorlage einnahm. Der Dresdner Kreis der Romantiker hingegen (Wetzel, Graf Loeben, Helmina von Chezy, Förster, Kind, Eberhard), dem vorübergehend auch H. v. Kleist sich verbunden fühlte, müht sich um eine objektivere Lösung des ästhetischen Problems, indem Wort- und Bildkunst gleichberechtigt nebeneinander gestellt werden. Dabei setzt, ähnlich wie Schiller, seiner dichterischen Anlage entsprechend Kleist (Der Engel am Grabe des Herrn) die Statik der klassizistischen Bildvorlage des Hartmannschen Gemäldes (Die drei Marien am Grabe) um in dramatische Bewegtheit: seinem Temperament ist die poetische Bildbeschreibung im Stil der Romantiker wesensfremd, die er mit der schöpferischen Kraft seiner Sprache wie der wuchtigen Plastik des Aufbaus überschattet. Kein Zufall, daß andre Bilder und Gemälde wie Kretschmars Homburgbild oder Debucourts Le juge ou la cruche cassee Kleist zu Dramen und nicht zu Gedichten inspirieren. Kaum möglich, die Variationsfülle romantischer Bildgedidite nach einheitlichen Kriterien zu entfalten. Dazu ist die Subjektivierung, mit der die Bildvorlage in Wortkunst umgesetzt wird, in der Rheinischen, Heidelberger und Dresdner Romantik zu eigenwillig, nachdem Schlegels Dogma des Gemäldesonetts auf die Dauer keine normative Geltung beanspruchen konnte. Und die Versuche Zach. Werners, Immermanns, Fouques und Mörikes, Bildwerke mit den Mitteln der Dichtkunst nachzuschaffen und neuzuformen, mögen nur noch als Ausklang der klassisch-romantischen Epoche Erwähnung finden. Realismus und Historismus der Biedermeierzeit, die Ideenwelt und Ausdruckswillen von Klassizismus und Romantik ins Bürgerliche umzuformen unternimmt, bestim-

men auch Gehalt und Gestalt der Kunst und Dichtung. In der nun anbrechenden Epoche, deren Antlitz durch die aufstrebenden neuen Mächte der Naturwissenschaft und Technik mit geprägt wird, gestaltet auch die Kunst Vorwürfe aus dem wirklichen Leben, dem gegenwärtigen wie dem vergangenen. Schon aus der Art der Bilder, die zur poetischen Umschreibung ausgewählt werden, spricht der Wandel der Zeit. So bevorzugt Franz von Gaudy für seine fast 40 Bildgedichte das Genrebild bürgerlichen Gepräges im Stil der Holländer des 17. Jh.s mit ihrem unromantischen, volksnahen Humor. Während der Maler und Biedermeieipoet Rob. Reinick den Totentanzzyklus des befreundeten Alfr. Rethel mit knappen Versen zu interpretieren versteht, haben die Bildgedichte der Autoren des Steffensschen Volkskalenders wenig Niveau: nur die vier balladenhaften Beiträge, die Fontane beisteuert, ragen hervor. Daß damals wie einst im 16. Jh. die Bilderbogenliteratur wieder auflebt, sei als Charakteristikum der Biedermeierzeit am Rande vermerkt; wobei — wie Die Fliegenden Blätter — schon der Titel diesen Rückgriff betont. Mitarbeiter vom Format eines Wilh. Busch erheben durch gekonnte Vereinigung von Bild und Vers, gegründet auf humorgesättigte Lebensweisheit, jene Bilderbogenund Bilderbuchliteratur in den Rang einer Dichtung von bleibendem Wert. Uber Heinr. Seidel (Zug des Todes 1876) schlägt das kleinbürgerliche Biedermeieridyll um in das historische Pathos der „Gründerzeit", das aus den Bildgedichten E. v. Wildenbruchs verhalten klingt. Auch der Münchner Dichterkreis (Heyse, Geibel, Lingg, Greif, Graf Schack, v. Schönaich-Carolath, Vierordt) mit seinem retrospectiven Idealismus wendet sich der Geschichte zu: in einfühlendem Verständnis werden die Werke der bildenden Kunst, zumal der Antike, mit Mitteln der Wortkunst gedeutet, seit eh und je ein Anliegen der deutschen Italienfahrer und -sucher (Waiblinger, Graf Platen, Hebbels Apollo von Belvedere, Vor Raphaels Galathea, Auf die Sixtinische Madonna). Die Bildgedichte der Münchner und ihrer Nachfahren kultivieren, im Gegensatz zur Biedermeierpoetik, in exclusiver Manier ihr „l'art pour l'art", ihr persönliches Erlebnis antiker Formschönheit. In der Vorliebe für Griechentum und Renaissance den Münchnern nah verwandt,

Gemäldegedicht fühlt sich auch C. F. Meyer früh von der Gattung des Bildgedichts angezogen. Seinen auf das Plastische gerichteten Schönheitssinn reizt das ästhetische Problem, Gemälde und Skulpturen wie etwa den sterbenden Fechter in dichterische Formen umzusetzen, die vom Sonett (Die Kartäuser) bis zur Ballade (Nach einem Niederländer) sich weiten oder die Motive später auf mehrere Gedichte verteilen (Die wunderbare Rede, Geisterroß): Meyers strenger Art, die Erstfassungen immer wieder zu überarbeiten und umzuformen, sind auch die Bildgedichte unterworfen. Von den Naturalisten mit ihrem Drang zur Gegenwart, Wirklichkeit, Naturnähe, in Abwehr gegen Konvention, Tradition, Geschichte ist nicht zu erwarten, daß ihrem Lebensgefühl und Gestaltungswillen das Bildgedicht so nahe läge wie den Romantikern, den Münchnern oder C. F. Meyer. Ihre Gemäldegedichte (ζ. B. Bleibtreu Tintoretto malt das Bild seiner toten Tochter, Dehme! Phantasie nach Max Klinger, Urteil des Paris, Salus Parnaß) strömen mehr subjektive Gefühle aus als geistigen Gehalt. Im ganzen hat das Bildgedicht des Naturalismus keinen einheitlichen Typ geprägt: neben gegenwärtigen begegnen auch historische, doch lebensnahe Inhalte, während der der Münchner, modernen Kunstströmungen dienenden Zeitschrift Jugend nahestehende Dichterkreis (v. Ostini, M. G. Conrad, O. J. Bierbaum u. a.) aktueller Tageskunst huldigt, die in ihrer epigrammatischen Form an die Bilderbogengedichte vergangener Zeiten erinnert. Doch neben humoristisch-naturalistischen Tönen schwingen auch lyrisch durchseelte Stimmungen mit, wie der aufkommende Impressionismus die Wirklichkeiten der Welt zu sehen und zu gestalten sucht. Die Bildgedichte der Impressionisten sollen (bei Liliencron, Hendcell, Dauthendey) Bildeindrücke farbenprächtig in Worte umsetzen oder versuchen (wie bei Schaukai), die Vergangenheit in neuromantischer Schau zu verlebendigen. Vom Impressionismus kommen auch Stefan George und seine Jünger: Eindruck, Stimmung, Formgebung sind ihrer Kunst wesenhaft, die mit den Mitteln dichterischer Sprache in strenger Zucht zu gestalten sind. So sind Georges Bildgedichte in klarer Gegenständlichkeit, in sublimer Wortkunst und Formkultur geprägt, wie sie bis dahin nur

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von den Romanen erreicht war. Man beachte, wie George das Böddin-Erlebnis mit der Beschreibung der Pieta in Tage und Taten sowie im Gedicht Böcklin im Siebenten Ring zu formen sucht, und vergleiche damit etwa Liliencrons Gedicht Böcklins Hirtenknabe oder Dehmels Jesus und Psyche oder Hofmannsthals Idylle im Böcklinschen Stil: dann erkennt man die Fülle, den Reichtum schöpferischen Gestaltwillens, mit dem die modernen Lyriker Bildeindrücke zu sprachlichen Kunstwerken umzuprägen verstehen. Mit Georges romanischer Formenstrenge, seiner Kunst klassischer Objektivierung kontrastiert Rilkes impressionistische Hingabe an den Gegenstand seiner Betrachtung. Wie früher bei den Romantikem füllen auch bei Rilke die Bildgedichte einen weiten Raum seines dichterischen Schaffens. Sie durchlaufen von den ersten Versuchen (Der letzte Sonnengruß, Volkslied) bis zur Reife (etwa der dichterischen Gestaltung von Lionardos Abendmahl) Stufe um Stufe der Entwicklung, wobei in Paris das Erlebnis Rodins und Cezannes erregend, tiefwirkend ist. Rilke, der alle Register wortkünstlerischer Ausdrucksmittel, von plastischer Prägnanz bis hinein in feinste Regungen des Irrationalen, virtuos beherrscht, erreicht in seinen reifsten Bildgedichten eine wirkliche Umsetzung von Bild- in Dichtkunst, eine Verschmelzung beider Künste zur Einheit: ein Gipfel, der von den Nachfahren (Däubler, v. Scholz, R. A. Schröder, Heymann, Ina Seidel, A. Goes, M. Hausmann u. a.) nicht wieder erreicht wurde. J. Β ο 11 e , Bilderbogen d. 16. u. 17. Jh.s. ZfVk. 17(1907)S.425-441. Wilh. W a e t z o l d , Malerromane u. G.e. Westermanns Mhh. Jg. 58, Bd. 116 (1914) S.735ff.;744ff. Ders.,Dt.Wortkunst u. dt. Bildkunst (1916; Dt. Abende 2). Fr. v. d. L e y e η , Dt. Dichtung u. bildende Kunst im MA. Abhdlgn z. dt. Lit.gesch. Franz Mundcer z. 60. Geb. (1916) S. 1-20. Jul. S c h w i e t e r i n g , Die mal. Dichtung u. bildende Kunst. ZfdA. 60 (1923) S. 113126. M. H a u t t m a n n , Der Wandel d. Bildvorstellungen in d. dt. Dichtung u. Kunst d. roman. Zeitalters. Festschr. Heinr. Wölfflin (1924) S. 63 ff. K. B u r d a c h , Nachleben d. griech.-röm. Altertums in d. mal. Dichtung u. Kunst, in: Burdach: Vorspiel. Bd. 1 (1925; DVLG., Buchr. 1), S. 49-100. Κ. Ο ρ ρ e r t , Das Dinggedicht. Eine Kunstform bei Mörike, Meyer u. Rilke. DVLG. 4 (1926) S. 747-783. G. B e b e r m e y e r , Die dt. Dicht- u. Bildkunst im Spätma. DVLG 7 (1929) S. 305-328. Helm. R o s e n f e l d , Das dt Bildgedicht. Seine antiken Vorbilder u. s.

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Gemäldegedidit — Geschmack

Entwicklung bis z. Gegenw. (1935; Pal. 199). Aug. L a n g e n , Kunstwerke in dichter. Deutung. Eine Ausw. (1940). Ders., Die Wechselbeziehungen zw. Wort- u. Bildkunst in d. Goethezeit. WirkWort 3 (1952/53) S. 73-86. Zu Rilke s.: Walter R i t z e r , Rilke-Bibliographie (Wien 1951) S. 280. S. a.: Literatur u. bildende Kunst. Gustav Bebermeyer

Generation s. Literaturwissenschaft, Periodisierung. Gesangbuch s. Kirchenlied. Geschichte und Literatur s. Literatur und Geschichte. Geschmack (literarischer) § 1. Geschmack im allgemeinen ist ein Vermögen, auf Eindrücke spontan so zu reagieren, wie es der Erregung von Lust- oder Unlustempfindungen entspricht. Die metaphorische Übertragung vom psycho-physiologischen Bereich auf das Ästhetische erfolgte in Deutschland im ersten Drittel des 18. Jh.s, also zu einer Zeit, als die Begriffe Ästhetik und ästhetisch selber noch nicht eingebürgert waren. Kunst-G. bedeutet das Reagieren auf Eindrücke, die von einem Kunstwerk ausgehen, literar. G. demgemäß die Reaktion auf Eindrücke, die von einem dichter. Kunstwerk ausgehen. Von einem „guten" G. spricht man (und man sprach von vornherein davon unter Nachwirkung der span. Vorform huen gusto u. d. franz. bon goüt), wenn die Art dieses Reagierens den idealen Forderungen entgegenkommt, die man für die rechte Wirkung und das rechte Verstehen eines Kunstwerks als jeweils verbindlich erklärt hat. Aber es erwies sich bald, daß „gut" und „schlecht" auf ästhetischem Gebiet ebenso schwer zu ermitteln und dauerhaft zu befestigen waren wie „gut" und „böse" auf ethischem Gebiet. Noch in der Definition Lessings vom Wesen der literar. Kritik (L.sNachlaß, hg. v. Rob. Boxberger, 2. T„ DNL. 71, S. 435) schwingt die metaphor. Übertragung des Begriffs G. nach: „Ich finde meine Suppe versalzen: darf ich sie nicht eher versalzen nennen, als bis ich selbst kochen kann?" D. h. der G. ist mehr rezeptiv als produktiv. Er ist dem Kunstwertaufnehmenden und Beurteilenden (Kritiker) unentbehrlicher als dem Kunstschaffenden. Er muß freilich an der künstlerischen Produktion gleichsam zusätzlich beteiligt sein, damit sie dem G. des Kunstwertaufnehmenden zusagt. Wäre Les-

sings Satz wirklich ein Gesetz, so würde es keine (oder doch nur geringfügige) G.swandlungen geben können. Es muß also modifizierende und ζ. T. auch übergeordnete Kräfte geben, die ihrerseits maßgebend die jeweilige G.s-Bestimmung und G.s-Bewertung beeinflussen, so etwa: Weltanschauung, Religion, Nationalität, gesellschaftlicher Traggrund, Generation, Lebensalter, Lebenskreis (Umwelt), Stand, Geschlecht u. a. Aus dieser Gruppe ragen besonders hervor die individuelle Anlage (kunstgemäße Rezeptionsfähigkeit) sowie die gesellschaftliche Situation und der Zeitgeist. Die individuelle Anlage betont z.B. im 19.Jh. Theodor Fontane als Theaterkritiker ähnlich wie Lessing im 18. Jh. Bereits diese Hinweise lassen die ganze Problematik der rein philos. G.-Definition in Kants Kritik der Urteilskraft (§ 5) erkennen, die lautet: „Geschmack ist das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen oder Mißfallen ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt schön." Winckelmann umschreibt geradezu in klassischer Identifizierung in seiner g.serzieherischen Schrift Abhandlung von der Empfindung des Schönen in der Kunst . den Begriff G. mit „Empfindung des Schönen" Vom Zeit-G. her erhebt sich ζ. B. der Einwand, daß man im Sturm und Drang, im Frührealismus (etwa bei Büchner u. Grabbe), im Naturalismus und ζ. T. auch im Expressionismus auch am Häßlichen „Geschmack" fand. Es dürfte vielmehr ganz abgesehen von der Fragwürdigkeit des zudem von Kant selber nur übernommenen Zusatzes „ohne alles Interesse" (vgl. die Schönheits-Definition), mit G. und Schönheit ähnlich bestellt sein auf ästhetischem Gebiet wie mit Sitte und Sittlichkeit auf ethischem Gebiet, wie denn etwa für Geliert der G. eine „Tugend" auf ästhetischem Gebiet darstellte. Das Verhältnis von G. und Produktivität ist recht verschiedenartig beurteilt worden. Sehr hoch stellt in der Frühromantik, die überhaupt, besonders verglichen mit der Geniezeit, den G. relativ hoch einschätzt, A. Wilh. Schlegel den G., indem er ihn produktiv werden läßt und sogar von dem Genie aussagt, es sei „nichts anderes . als produktiver G." oder „G. in seiner höchsten Wirksamkeit". Dahinter stand unbewußt das Gefühl einer eigenen dichterisch unzulänglichen Schein-Produkti-

Geschmack vität, die Jean Paul am Vergleichsbilde der „leidenden Grenzgenies" erläuterte, welche zu zeugen glauben, wo sie nur empfangen. In der jüngeren Romantik stellt Jos. Görres im Verfolgen seiner Unterscheidung der beiden Typen „produktiv" und „eduktiv" Genie (produktiv) und G. (eduktiv) einander gegenüber, indem er das Produktive dem Genie vorbehält: „G. (ist) Feinheit des Sinnes, der sich leidend den Eindrücken hingibt und das Empfangene dann sichtet und sondert und mit Liebe das Beste erwählt." — Bei ausgeprägter schöpferischer Begabung kommt dem G. doch wohl nur die Funktion eines bloßen Regulativs zu. § 2. Der spätaufklärerische Romanschriftsteller Th. G. v. Hippel, von dem noch Jean Paul Anregungen seiner Frühzeit erfahren hat, bringt in seinem „komischen Roman" von 1778 Lebensläufe nach aufsteigender Linie ein Kunstgespräch zwischen dem Pastor und dem Hr. v. G., in welchem nach Art der im Kunstwerk formulierten Poetik Genie und G. nicht weitgehend gleichgesetzt werden wie dann bei A. W . Schlegel, sondern schalkhaft-sinnig (bis kunstsinnig) von einander abgehoben werden: „Ein Genie trägt einen roten Rock oder so was; ein Geschmackvoller eine sanfte Farbe." Aber dem Tenor des pädagogischen Jh.s getreu, dekretiert er auch: „Geschmack ist das allgemeine Gefallen, Gefühl ist ein Privatgefallen", und vor allem: „Gefühl hat man, Geschmack lernt man." Danach wäre G. etwas Gesellschaftliches, aber auch etwas Erziehbares, etwas im Rahmen der Gesellschaft und Gemeinschaft zu Entwickelndes und zu Entfaltendes. E r ist nicht nur eine Gabe, sondern birgt auch eine Aufgabe in sich. Die Aufgabe nämlich, den bildungsmäßig Vernachlässigten durch Entwöhnung vom schlechten G. und durch Gewöhnung an den guten G. nicht nur zur Inhaltsgebundenheit, sondern auch zur Formfreude zu erziehen. Zunächst bleibt dann die Formfreude eine bloße Genugtuung über die formal wirksame Inhaltsvermittlung; aber nach und nach lernt man den Eigenwert der künstlerischen Formung verstehen und schätzen, zunächst als Begleitwert, dann als Leitwert. Denn der literar. G. setzt dort ein, wo ein Genießen der Formwerte die bloße Anteilnahme am Inhalt überwiegt. Der bloße Stoffhunger verbürgt noch keinen G. Aber der bloße G. verbürgt auch noch kein Kunstwerk im Sinne

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einer schöpferischen Produktion. Im Ubergangsstadium der G.s-Erziehung pflegen Gebilde literar. Art von spannendem Inhalt in wertvoller Form sehr erzieherisch zu wirken, weil sie den Leser an die edlere Form und Formung gewöhnen, dergestalt daß bald die gepflegtere Form nicht nur im Sinne des „Geschmackvollen" geduldet, sondern auch gefordert wird. Man ist dann gleichsam „in Geschmack" gekommen. Und die Verekelungstechnik (Entwöhnung vom Geschmacklosen, überwiegend ζ. B. in der Stilkunde Ed. Engels) findet ihre positive Ergänzung in der Veredelungstechnik (im Raum d. Stilkunde bzw. Stillehre bei Wilh. Schneider u. a.). Dieses Verstehen der Form bedeutet noch nicht ein Aufgehen in der Form. Dabei garantiert die Höhe des Standes noch keine Höhe des G.s. Denn der höchste Stand verführt leicht zur höchsten Dekadenz. Eine Entartung der „Gesellschafts"-Bildung (im Sinne der Geselligkeits-„Kultur") durch zur Schau gestellte Überkultur wird peinlich sichtbar im G.s-Dünkel des bloßen „Ästhetentums" bzw. „Literatentums" Schon der junge Herder hat gegen die verzärtelten „Schmecker des Schönen" polemisiert. Und der junge Goethe verteidigt vom Gesichtspunkt der Größe, nicht des Schönen im klassischen Sinne aus das Genie des Straßburger Münsterbaumeisters mit der charakteristischen Wendung: „Dem schwachen Geschmäckler wirds ewig schwindlen vor deinem Coloss " Der ästhetische Genießer ist ja noch längst nicht der dichterische Gestalter. Im veralteten Terminus „Kunstgenießer" schwingt noch etwas warnend nach von einem nur genießenden G., der nicht kritisch zu urteilen versteht, sondern sich ausgibt, wo er sich hingibt. Echte G.sbildung bleibt untrennbar von ehrlicher literar. Kritik. Daher war das „krit. Jahrhundert", nämlich das 18., auch vorwiegend ein Jh. der G.-Debatte. Im 19. u. 20. Jh. spricht man weit weniger von G. und weit häufiger von Kunstsinn, Kunstverständnis, Kunsterlebnis, wie denn der „Kunstgenießende" (metaphorischer Rückbezug) mehr und mehr dem Kunstwertaufnehmenden weicht. Die Unzulänglichkeit des reinen Ästheten (l'art pour l'art), der doch die ideale Forderung des literar. G.s zu vertreten scheint, erklärt sich einmal aus seiner überwiegend einseitigen Einstellung auf einen bestimmten

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Gesdimadc

— häufig den modegerechten, oder einen exzentrischen — Geschmack; dann aber auch aus der Uberschätzung des nur „Geschmackvollen und Stilvollen" an sich. DerG. ist eben doch nicht das wertvollste Element in unserem ästhetischen Verhalten Dichtungen gegenüber, schon weil er, parteilich-zeitlich modifiziert, eine reine, überzeitliche (historisch-gerechte) Würdigung oft völlig ausschließt. Auch vermag er, überwiegend am Formschönen haftend, vielfach nicht die Tiefe des seelischen und geistigen Gehalts auszuschöpfen und geht daher nicht selten gerade an den — alle G.swandlungen überdauernden — Ewigkeitswerten verständnislos vorüber. Einfühlendes Verständnis und vorurteilsloses Aufgeschlossensein für die dichterischen Wirkungskräfte stehen letzten Endes doch höher als ein bloßer literar. G. im engeren Sinne. Wenn zudem außerästhetische Werte (sittl. Erhebung, polit. Gesinnung, religiöse Erbauung u. a.) im Kunstwerk wirksam werden wollen, so wäre dafür der literar. G. vollends nicht die maßgebende Instanz. Immerhin ist der literar. G. ein wertvoller und ungestraft nicht zu vernachlässigender Bildungsfaktor. § 3. Wenn hier das 18. Jh. besondere Berücksichtigung findet, so geschieht es einmal, weil damals zuerst die metaphorische Bezeichnung „Geschmack" für den Sprachgebrauch und darüber hinaus der Begriff für die Kunsttheorie und das ästhetische Bewußtsein erobert wurden; dann aber auch, weil kaum eine andere Epoche sich in so ausgesprochener Weise mit Geschmacksproblemen befaßt hat. Die Wendung „Jahrhundert des Geschmacks" war schon den Zeitgenossen durchaus geläufig, und Geliert, der die humanistische Tradition der Rhetorik in die Aufklärung hinüberführte und ihrem Stil anverwandelte, steht nicht allein mit der Meinung: „Es scheint, das günstige Jh. des guten Geschmacks sei für die Deutschen erschienen" Die geradezu zur Modekrankheit ausartende Geschmacksdebatte, die über Wernicke, König, Gottsched, die Schweizer, Nicolai, Mendelssohn, Lessing, Winckelmann, Herder, Riedel und über die Fachästhetik (Baumgarten, G. F. Meier, Sulzer) bis an Kant heranreicht, war keine isolierte dt. Erscheinung, sondern eine europäische Interessenwelle, die ihrerseits ein Ausläufer war der übernationalen Aufklärungsbewegung. Gibt doch die

Encyclop6dte unter dem Stichwort Goüt nicht weniger als drei Abhandlungen bedeutendster Autoren Raum (Voltaire, Montesquieu, d'Alembert). Von der pädagogischen Seite her gesehen trat damit neben die „Ausbildung des Wahren und Guten" als entsprechende Ergänzung die „Ausbildung des Schönen". Dieses Grundprogramm des 18. Jh.s wurde wohl durch den Stilwandel modifiziert, aber im ganzen doch innegehalten, auch von der d e u t s c h e n Klassik von Winkkelmann bis zu Goethe und Schiller (harmonische Ausbildung aller menschlichen Kräfte), und noch der junge Frankfurter „Gelehrte" H. v. Kleist will neben dem Verstand und dem sittlichen Willen (das Wahre und Gute) „auch den schöneren Teil unseres Wesens bilden". Auf die erste Zeit des 18. Jh.s zurückgreifend, läßt sich in vergröbernder Vereinfachung etwa sagen: Wie die befreite Vernunft die Geheimnisse der Religion ausdeutend und „aufklärend" zu ergründen versuchte — so auch die Geheimnisse der Kunst, so auch die Geheimnisse der Reaktion auf künstlerische Wirkungen, also auch den literar. G. Das ging soweit, daß man zeitweise eine Art von sechstem Sinn für die ästhetische Geschmacksfunktion annahm. Das anwachsende Interesse für psychologische Vorgänge wirkte dabei stark fördernd mit. — In Frankreich wich der klassische Idealbegriff raison aus der Boileau-Schule der Forderimg der delicatesse. Eben jener Bouhours, der durch Leugnung eines dt. bei esprit unsere ersten G.sverfechter auf den Plan rufen half, hatte schon bald nach Boileau diesen neuen Gesichtspunkt aufgestellt, wobei die ästhetische Wirkung als dilicat, die ästhetische Aufnahmefähigkeit (das Organ) als delicatesse bezeichnet wurde. La Motte nahm die delicatesse du goüt auf; und Bouhours, la Motte, Batteux u. a. bürgern dann den goüt (bon sens) in der metaphorischen Bedeutung als kunsttheoretische Formel ein (vgl. auch Montesquieu: Essai sur le goüt). In ihrer Art Herder vorwegnehmend, handelte die Mme. Dacier bereits 1715 Des causes de la corruption du goüt. Ursprünglich scheint dieser Wortgebrauch indessen von Spanien (buen gusto) ausgegangen zu sein, und zwar kommt vor allem Gracian in Betracht, auf den Addison im Spectator „the fine taste" zurückführt. In diese Richtung deutet auch der erste Beleg für „Geschmack" im Sinne von Kunstgeschmack

Geschmack („Geschmack der edlen Wissenschaft" schon vorher in Leibnizens Ermahnung an die Teutscheri) bei A. Fr. Müller: Dt. Übersetzung des Oraculo manual Gracians, Leipzig 1715. Nicht ohne anfängliche Hemmungen setzte sich in Deutschland die metaphor. Anwendung durch (Frühansatz bei Harsdörffer 1651). Rückblickend auf die SchriftVon Nachahmung der Frantzosen (1687), in der Chr. Thomasius von beaute d'esprit, bon gout (so) gesprochen hatte, meint U. König (CanitzAusgabe), daß „er (Thomasius) damahls noch nicht wagen wollen, das Wort goüt teutsch zu geben; so finden sich noch diese Stunde viel Leute unter uns, denen das teutsche Wort Geschmack in figürlicher Bedeutung, ob es gleich nunmehr (1734) häufig also gebraucht wird, dannoch nicht recht anstehen will, sonder Zweifel aus dem bloßen Vorurtheile, als ob der Frantzosen goüt und der Spanier oder Italiener gusto besser klinge" Gottscheds Beobachtungen (1758) heißen den bildlichen Gebrauch gut, der dann bald zur Modeerscheinung wird. Damals gebraucht man auch noch gern „schmecken" ( = ästhetisch genießen, proben, werten), so u. a. Lessing, Winckelmann, Herder, woran auch der pietistisch-mystische Gebrauch des Wortes („Gott schmecken", später bei Schleiermacher „Geschmack für das Unendliche") in ästhetischer Anwendung Anteil haben dürfte. Solange der Rationalismus überwog, faßte man durchweg den G. als eine „Fertigkeit des Verstandes" (König), also etwa als das, was V o l t a i r e goüt intellectuel genannt hatte. Hierher gehört auch S u 1 ζ e r s klare Formulierung: „Dieselben Anlagen,wodurch der Mensch zur Vernunft kommt, bringen ihn zum Geschmack . . " Dann griff man um die Mitte des 18. Jh.s (ästhetische Theorie der Geniezeit; Einflüsse von Shaftesbury, Young, Harris, Burke, Hume u. a., ζ. Τ. empiristischsensualistische Strömungen) stärker zurück auf den instinktiv-gefühlsmäßigen Ursprung des literar. G., auf die „dunklen Seelenkräfte", die in der Diskussion über die G.sfunktion schon vorher eine Rolle spielten, mit denen man aber als mit „confusen Vorstellungen" (Baumgarten) nichts Rechtes anzufangen gevvußt hatte, bevor die Geniezeit (HamannHerder-Gerstenberg) das Irrationale, Intuitive als ästhetischen Grundwert entdeckte. Ob Leibniz mit seinen petites perceptions die franz. Nachklassiker beeinflußt hat oder

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umgekehrt, kann hier nicht erörtert werden. Jedenfalls fand die G.slehre der Geniezeit Anknüpfungsmöglichkeit bei Leibnizens Deutung: „Le goüt distingue de l'entendement consiste dans les perceptions confuses, dont on ne saurait assez rendre raison. C'est quelque chose d'approchant de l'instinct." Daneben war Shaftesburys G.slehre von grundlegender Bedeutung. § 4. Der literar. G. ist in hohem Grade zeitgebunden, weil er nicht nur einen Einzelwert, sondern auch einen gesellschaftlichen Wert darstellt. In den älteren Zeiten unserer Geistesgeschichte kann man schwerlich von ausgeprägtem literar. G. sprechen. Erst in der mhd. Blütezeit kommt es eine Zeit lang zu einem Bewußtsein ästhetischer Wertgrade und damit zuG.s-Urteilen: in der Ablehnung der Kunstübung des vorausgehenden 12. Jh.s als stumpfliche, niht wol besniten (Rud. v. Ems, Alexander V. 15783 f.); in den Kunstpolemiken des Minnesangs, die jedoch stark vom Ständischen und Ethischen mitbestimmt sind; am deutlichsten in der Literaturschau des Tristan Gottfrieds von Straßburg, in der literar. Geschichtsbild (Veldeke als Beginn der Epoche) und positive (Hartmann, Bligger) oder negative (Wolfram) Wertung vorwiegend nach G.s-Kategorien entwickelt werden. — Der Humanismus suchte zwar literar. G. in Anlehnung an die klassischen Vorbilder zu fördern, griff aber über gelehrte Kreise kaum wirkungsvoll hinaus. Es ist jedoch beachtenswert, daß Opitz aus dem Heidelberger Humanistenkreis hervorging. Der Opitzsche „Geschmack" riß im 17. Jh. die Führung an sich. Von vereinzelten Erscheinungen wie Harsdörffers Frauenzimmer Gesprechspielen abgesehen, hatte sich das ganze 17. Jh. mit seinen Poetereyen, Poetischen Trichtern usw. (s. Poetik) erst einmal die Ausbildung und Schulung, im wörtlichen Sinne, des Schaffenden („Dichters"), noch nicht aber die des Aufnehmenden (Lesers) zum Ziel gesetzt (Anweisungspoetik, nicht Wirkungspoetik), obwohl bei Moscherosch, Logau, Grimmelshausen und in der Grobianischen Lit. gelegentlich auch g.bildende Tendenzen sichtbar werden, die über die literar. Schicht und die höfische Gesellschaft hinaus auf Volkserziehung zielen. An die Aufgaben der bewußten Geschmacksbildung des Publikums ging erst — und zwar mit erstaunlichem Eifer — das

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Geschinadc

pädagogische 18. Jh. heran. Jetzt blüht die Kritik auf, die nicht nur den Dichter, sondern auch den Leser fördern will. Schon in den letzten Jahrzehnten des 17. Jh.s und um die Jh.wende setzt diese Bewegung ein, anfangs noch unsicher und tastend, aber doch unverkennbar in ihrer neuen Richtung, die die Wechselbeziehung von Autor und Publikum bewußter ins Auge faßt. Zwar der Discours, welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben undWandel nachahmen solle? (1687) des T h o m a s i u s galt noch mehr der an franz. G. geschulten stilvollen Lebenshaltung im allgemeinen; seine (erste dt.) Monatsschrift: Freymüthige, lustige und ernsthaffte, jedoch vernunfft- und gesetzmäßige Gedanken (1688-89) dagegen leitet schon an zu eigenem Urteil und mittelbar auch zur G.s-bildung. Die Nachahmung der Franzosen bedeutete für Thomasius nur den notwendigen Umweg, um die Deutschen einer eigenen Geistes- und G.skultur zuzuführen, ein Bestreben, das in seinen deutschsprachigen Bemühungen unverkennbar zum Ausdrude kommt. Daß auch ein Deutscher ein „bei esprit" sein könne, versucht dann J. G. M e i s t e r nachzuweisen in jenem Vorwort Von dem Esprit der Teutschen, das seine Abhandlung Von Teutschen Epigrammatibus (1698) einleitet. Während sich aber Meister in der Abwehr gegen franz. Überheblichkeit noch auf das Muster derSchlesier beruft, entbrennt zu Beginn des 18. Jh.s gerade um den Schlesischen Geschmack der Hamburger Literaturstreit, in dem sich etwas wie literar. Kritik regt und die Auseinandersetzung über literarische Geschmacksfragen deutlichere Formen annimmt. Wie Meister, wird auch Christian W e r n i c k e auf den Plan gerufen durch Bouhours' verächtliche Bemerkung, kein Deutscher könne ein bel-esprit sein; aber während sich Meister auf die dichterischen Leistungen der Schlesier stützen zu können glaubt, unterzieht sie Wernicke in seinen Überschriften oder Epigrammata (1697) einer vorsichtigen, aber doch scharfgeistigen Kritik, die nun Postel und Hunold in Harnisch bringt. Dabei war W. selbst der beste Beweis, daß Deutschland sehr wohl einen „bel-esprit" hervorbringen könne, und Erich Schmidts warme Anerkennung dieses frühen dt. Kritikers besteht durchaus zu Recht. Wenn nun auch Μ e n a n t e s - H u n o l d glaubt, „dem Gusto

von der Poesie ein Genügen tun" zu müssen durch Verteidigung des Lohensteinschen Schwulstes, und C. F. W e i c h m a n n tolerant meint, „der Geschmack der heutigen Welt ist gar mannigfaltig", so bleibt doch für uns wesentlich die eifrige Erörterung von G.sfragen an sich. Diesen ersten Vorläufern folgt bald die mächtige Welle des kritischästhetischen und pädagogischen Interesses der Aufklärung, die den Sinn für Geschmacksprobleme in breite Schichten des gebildeten Bürgertums hineinträgt. Hierbei war es eine nicht zu übersehende Voraussetzung für die Heranbildung eines G.s, daß die gebildeten Deutschen überhaupt erst einmal Geschmack fanden an der eigenen Muttersprache. Diese Vorbedingung, um deren Erfüllung schon Jh.e gekämpft hatten, schuf die Popularphilosophie, wenn auch die Vorherrschaft des Franz. als Gesellschaftssprache der Vornehmen und Verkehrssprache im Briefwechsel noch jahrzehntelang zähe Gegenwehr leistete. Da die Lit. damals in noch weit höherem Grade als heute „Wortkunst" bedeutete (Wörter als willkürliche Zeichen, mit denen der Dichter nach Regeln und Kunstgriffen verfahren konnte und sollte), so war es entwidklungsgeschichtlich notwendig, daß der literar. G. zunächst einmal zurückging auf den Geschmack am Wort, auf die geschmackvolle Schreibart, und daß sich der literar. G. in enger Fühlung entwickelte mit diesem Wortgeschmack. (Herder spöttelte später über diese Wortschmecker.) — Wie sich Wernicke vor allem der Stilanalyse (Polemik gegen die schwülstig - bombastische Schreibart) als kritischer Waffe bedient hatte, so schrieb schon vor Gottsched J. U. K ö n i g — im Anhang seiner Canitz-Ausgabe — eine Untersuchung von dem guten Geschmack in der Didit- und Redekunst (1727). J. U. König sprach darin dem G. die Fähigkeit zu, ästhet. Werturteile zu finden und zu fällen, die von dem bedachtsamer urteilenden Kunstverstand (bereits mit dem Terminus „Urteilskraft", vgl. noch Kant) zwar ebenso — aber wesentlich langsamer — abgeleitet würden. Diese „Schnelligkeit" der G.s-Reaktion bietet eine beachtliche Vorform für das Schnelligkeits-Merkmal des Geniebegriffs (Geniezeit). In der G.s-Vorstellung lag entwicklungsgeschichtlich eine Keimform für die Genie-Vorstellung. Für den Aufklärer J. U. König freilich lag in jener Beobachtung auch die zum

Gesdimack mindesten latente Forderung eingeschlossen, daß ein derartig schnelles und gleichsam vorwegnehmendes Geschmacksurteil möglichst und tunlichst ergänzt und bestätigt werden müsse vom nachträglichen, aber unentbehrlichen Vernunfturteil. Das Kunstverständnis bedurfte also noch der Legitimierung durch den Kunstverstand. Aber den Zwiespalt von G. als „Empfindung" und „Urteil" vermag J. U. König nicht aufzuheben. Gingen G o t t s c h e d s grundlegende und höchst verdienstliche Sprachbestrebungen audi in erster Linie auf Sprachrichtigkeit und Allgemeingültigkeit (Festigung der Sprachgesetze und des Wortgebrauchs) aus, so fand doch schon in seiner Redekunst (1728) ein Abschnitt Raum: Von der Schreibart, ihren Fehlern und Tugenden (XV. Hauptstück), und auch seine Beobachtungen über den Gebrauch und Mißbrauch vieler dt. Wörter und Redensarten (1758) suchten, etwas schulmeisterlich zwar, aber unter stetem Zurückgreifen auf die Autorität der „besten Schriftsteller", also der literar. Praxis, nicht nur die richtige, sondern auch die geschmackvolle Ausdruckswahl zu fördern. Und diese Verbindung von Pflege der Muttersprache und Pflege des G.s fand dann ihre charakteristische Ausprägung in den Organen der zahlreichen dt. Gesellschaften (s. d.), die sich in ihrer überwiegenden Mehrzahl (Hamburg war auch hier vorausgegangen) an die dt. Gesellschaft Gottscheds anschlössen. Daneben verdienen die „Moralischen Wochenschriften" (s. d.) Beachtung, die zwar vorerst hauptsächlich der moralisierenden Allgemeinbildung dienten, daneben aber auch frühzeitig G.sfragen in ihren möglichst weit gespannten Interessenkreis einbezogen. Auch hier, wie in den ersten Ansätzen zur literar. Kritik, ging Hamburg dank seiner engen lokalen Fühlung mit England voran. § 5. Gottscheds Kritische Dichtkunst enthielt immerhin ein Kapitel über den G., wobei freilich dem „Gebrauch der gesunden Vernunft" vertraut wird. Das Verdienst jedoch, mit bewußter kritischer Arbeit eingesetzt zu haben, kommt den Schweizern Β ο d m e t und B r e i t i n g e r zu, die, gleichfalls an den Spectator anknüpfend, in den Discoursen der Malern (1721 f.) ein Organ schufen, das jene älteren Hamburger Bemühungen wirkungsvoller fortsetzte und ausdrücklich „Tugend und Geschmack in unseren Bergen" Reallexikon I

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verbreiten wollte. — Hamburg und Zürich wurden die Einfallstore für die engl. G.sströmung, die im 18. Jh. die franz. mehr und mehr verdrängte. Noch aber prallte sie auf den hartnäckigen Widerstand des franz. G.s, der durch Gottsched in Leipzig seine Hochburg und in Halle eine Art von Vorwerk gefunden hatte. Noch der junge Goethe hat die Einwirkung dieses „kleinen Paris" zu spüren bekommen, und erst die späteren Vorstöße von Norden (Gerstenberg) und Nordosten (Hamann-Herder) her brachen endlich die franz. G.sdiktatur. — Die Schweizer wandten sich einerseits der Bekämpfung des schlechten G.s zu und erhoben Anklagung des verderbten Geschmackes (1728); suchten aber andererseits bereits Wege zur positiven Kritik: Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungskraft zur Ausbesserung des Geschmacks (1727). Der noch latente Gegensatz der schweiz.-engl. und Gottschedisch-franz. G.srichtungen kam notwendig zum kämpferischen Austrag, und zwar lag der erste Anlaß — kennzeichnenderweise für jene erwähnte Verbindung von stilistisch-sprachlichem und literar. G. — in der an sich berechtigten Polemik der Gottschedschen Tadlerinnen gegen die unreine Schreibart der Schweizer. Die weiteren Stadien des Kampfes, der vorübergehend wieder einschlief, zu verfolgen, ist nicht unsere Aufgabe. Hier interessiert besonders jene Teilepisode, die im Gottschedschen Stützpunkt Halle sich abspielte, wo der Gottschedianer Μ y 1 i u s mit den Bemühungen zur Beförderung der Kritik und des guten Geschmacks (1743 f.) Anlaß gab zu dem Gegenstoß P y r a s im Erweis, daß die Gottschedianische Sekte den Geschmack verderbe (1743), eine Auseinandersetzung, die noch in beiderseitigen Fortsetzungen weiterlief, während die Schweizer ihrerseits angriffen in der Sammlung kritischer, poetischer und anderer geistvoller Schriften zur Verbesserung des Urteils und des Witzes in den Werken der Wohlredenheit und der Poesie (1741-1744), deren Neuauflage W i e l a n d besorgte: Sammlung der Zürcherischen Streitschriften zur Verbesserung des dt. Geschmacks wider die Gottschedische Schule (1753). Durch Klopstocks schöpferisches Beispiel (Messias) gewannen die Miltonianer mehr als durch alle Theorie. — Wesentlich ist bei diesem Literaturstreit: er war bei allem Persön36

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Geschmack

lichen, das mitspielte, entwicklungsgeschichtlich notwendig (Rationalismus •*—*• Empirismus und Sensualismus) und höchst bedeutsam, weil er im Wettbewerb um die geistige Führung die kritischen Kräfte weckte und förderte und vor allem weitere Kreise aufmerken ließ auf schöngeistige und spezifisch literar. Probleme des G.s. — Der Entwicklungsgang, wie wir ihn an den GottschedOrganen beobachten, daß nämlich auf die allgemeiner eingestellten moralischen Wochenschriften (Tadlerinnen 1725 und Biedermann 1727) bald literar. Zeitschriften im engeren Sinne folgten (Beiträge zur kritischen Historie 1732-1744; Der Neue Büchersaal, 1745-1750; Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, 1751-1762): diese Entwicklung ist symptomatisch für die schnelle Ausgestaltung des kritischen Betriebes und für die entsprechende Sammlung des öffentlichen Interesses auf die Diskussion über literar. G. In breit ausladender Bewegung erfaßte dieses Streben auch die Journalistik (vgl. Lessings Rezensententätigkeit an der Berl. priv. Ztg.) und die großen „Bibliotheken". So unterließ N i c o l a i , der in den Briefen über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland (1755) auf höchst beachtenswerte Weise in die G.sdebatte eingegriffen hatte, in der Vorläufigen Nachricht zu seiner Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (1757 ff.) nicht den ausdrücklichen Hinweis, daß sie vor allem der „Beförderung der schönen Wissenschaften und des guten Geschmacks unter den Deutschen" dienen solle. Und wie eng und untrennbar sich literar. G. und Kritik berühren, das war schon ihm durchaus klar: „Die Kritik ist es ganz allein, die unseren Geschmack läutern und ihm die Freiheit und die Sicherheit geben kann, durch die er sogleich die Schönheiten und die Fehler eines Werkes einsieht." Jetzt besaß Deutschland, was einst schon Wernicke gewünscht hatte: eine Kritik, die der Produktion „auf dem Fuße" folgte. Vor allem aber, es besaß seinen ersten genialen Kritiker und G.srichter: Lessing. G. E. L e s s i η g verkannte nicht den Wert der voraufgegangenen G.sdebatte, und in der Vorrede zu seinen Beiträgen zur Historie und Aufnahme des Theaters würdigt er in seiner sachlichen Art das Geleistete. „Allein, man erwarte nur die Jahre, man

bemühe sich nur, den guten Geschmack allgemein zu machen . . . Dieses letztre ist eine Zeit lang die Absicht unterschiedener Monatsschriften gewesen. Weil eben nicht lauter Meisterstücke dazu nöthig sind, so hat jede ihren Nutzen gehabt"; aber im bewußten Gefühl der großen Aufgaben, die seiner harrten, konnte er auch mit ruhiger Überlegenheit das Urteil fällen: „Diese Zeiten sind größtentheils Zeiten der Kindheit unsers Geschmacks gewesen" (a. a. O.). Den Gegenwartsdünkel Gottscheds, daß schon die damalige Zeit den Gipfelpunkt des G.s erklommen habe, teilte L. nicht. Er wußte, daß erst einmal der Bauplatz geräumt werden mußte, bevor der Neubau beginnen konnte; er sah Anfang, wo Gottsched Abschluß sah. Nicht seine individuelle kämpferische Veranlagung, vielmehr die Einsicht in die Erfordernisse seiner Zeit drängte ihn in erster Linie zur negativen Kritik, machte ihn mehr zum G.srichter als zum G.slehrer. In den Briefen, die neueste Litteratur betreffend (1759-1765) gab er den Dt. das erste Muster der G.sschulung durch praktische Kritik. Der Laokoon (1766) verliert sich nicht in das Gebiet reiner Kunsttheorie, sondern verfolgt — wie die Vorrede betont — erzieherische Zwecke, dient der Bekämpfung einer einseitigen G.sverirrung, der Vermischung von Malerei und Poesie, der Epidemie zeitgenössischer Schilderungssucht. Und auch in der Hamburgischen Dramaturgie (1767-1769) will Lessing kein theoretisches System errichten, sondern ein „kritisches Register" geben, „und jeden Schritt begleiten, den die Kunst, sowohl des Dichters als des Schauspielers, hier thun wird." Aber wenn er auch weiß, daß wirkungsvolle G.sbildung nur am empirisch gegebenen Einzelfall möglich ist, und wenn er deshalb auch die scharfe krit. Sonde immer wieder, beharrlich und gründlich, in einzelne G.sentartungen bohrt: große Richtlinien der G.sentwicklung sind ihm doch ebenso wenig entgangen, und schärfer als Gottsched, der nur den Bedürfnissen seiner engsten Gegenwart mit dem Anschluß an die franz. Klassiker folgte, horchte Lessing auf die ersten Regungen des neu erwachenden Zeitgeistes. Er erkannte, daß der germ. G. der Engländer dem dt. Nationalcharakter gemäßer war als die klassische Formschönheit der Franzosen und daß das Volk in seiner Freude an engl. Komödiantenspielen im Grunde nur

Geschmack mit richtigem Kunstinstinkt seinem Nationalgeschmack gefolgt war. Nach rückwärts und vorwärts überblickt er so die Entwicklungslinien, wenn er sagt: „Er [Gottsched] hätte aus unsem alten dramatischen Stücken, welche er vertrieb, hinlänglich abmerken können, daß wir mehr in den Geschmack der Engländer als der Franzosen einschlagen . . . ; daß das Große, das Schreckliche, das Melancholische besser auf uns wirkt als das Artige, das Zärtliche, das Verliebte . . . " — Daß der literar. G. an die nationale Eigenart gebunden sei, hatte schon J. E. S c h l e g e l in seinen Gedanken zur Aufnahme des dän. Theaters hervorgehoben, wo er „von dem Charakter einer Nation" spricht, „in so weit er ihren Geschmack in den Schauspielen betrifft." Und wie Schlegel unter den mannigfaltigen Verdiensten eines guten Theaters nicht zu erwähnen vergißt: „Es verbreitet den Geschmack . . . " , so erfaßt auch Lessing sogleich diese geschmacksbildende Aufgabe, als er die Kritik am Dt. Nationaltheater in Hamburg übernimmt. Zugleich lehrt die Ankündigung zur Hamburgisdien Dramaturgie, daß Lessing neben der „Nationalität des Geschmacks" auch dessen Relativität, seiner Vielseitigkeit gerecht zu werden weiß: „Man hat keinen Geschmack, wenn man nur einen einseitigen Geschmack h a t . . . Der wahre Geschmack ist der allgemeine, der sich über Schönheiten von jeder Art verbreitet, aber von keiner mehr Vergnügen und Entzücken erwartet, als sie nach ihrer Art gewähren kann." Man fühlt hier die Abwehr des geborenen Kritikers gegen jene engstirnigen und dünkelhaften G.sdiktatoren, die gerade in diesen ersten Zeiten der Kritik allzu häufig ihr kunstrichterliches Amt mißbrauchten. So weit ihnen aber immer ein Lessing überlegen sein mochte, so weit auch sein Hinweis auf Shakespeare und die Forderung der werdenden, dynamischen Wirkungsform der Dichtkunst (Laokoon) hinausdeutete in die neue G.srichtung der Geniezeit: er blieb doch mit seinem ganzen Wesen und Wirken der Aufklärung verhaftet und unlösbar im Rationalismus verwurzelt. Wohl trat damals neben den Freigeist der Schöngeist; aber man „schmeckte" entsprechend der intellektualistischen Gesamteinstellung jenes Kulturstils vorwiegend, ja fast ausschließlich mit dem Verstände.

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Der Weg vom aufgeklärten Bürger zum leidenschaftlichen Kraftkerl schien ebenso weit wie vom vernünftelnden Schöngeist zur empfindsam schwärmenden „schönen Seele". Und doch vollzog sich der Umschwung — vorbereitet durch den tiefgreifenden Impuls Klopstockschen Geschmackes, unter der Einwirkung des Auslandes und Führung eines Gerstenberg, Hamann und Herder — in erstaunlich kurzer Zeit, dergestalt, daß sich G e r s t e n b e r g s Briefe über Merkwürdigkeiten der Literatur (1766 f.) und H e r d e r s Fragmente über die neuere dt. Literatur (1766-1767) formal und in der zeitlichen Folge unmittelbar an die Lessingschen Literaturbriefe anschließen konnten, ähnlich wie Herders Kritische Wälder (1769) an Lessings Laokoon anknüpften. Und wie stark ist doch trotz dieser äußeren Verbindung der innere Gegensatz! Was sich hier wirksam zeigte, war jene Eigenschaft des G.s, den schon die voraufgehende ästhetische Theorie frühzeitig erkannt hatte: die Variabilität. Und so ergeben sich — aus den damaligen Anschauungen abgeleitet — bereits die drei Attribute: Nationalität („Klima"), Relativität und Variabilität. Herder, der äußerlich noch auf Bahnen Lessingscher G.sanalyse anfangs „die Seuche eines falschen G.s mit Gegengift zu heilen" (Fragmente) trachtet, aber dessen historischer Sinn und Drang zur Synthese schon weite Entwicklungsspannen verständnisvoll umfaßten, vergißt, als er der „Genesis des Geschmacks nachspüren" will (Krit. Wälder), nicht, auf die „successiven Geschmacksveränderungen" hinzuweisen, die der „Proteus" G. zu durchlaufen pflegt. Und sein geniales historisches und ästhetisches Nachempfinden lehrte nun zum ersten Male mit Nachdruck den Kritiker und Literaturbetrachter, gerecht und schmiegsam sich anzupassen dem wandelbaren G. verschiedener Zeiten und Völker. § 6. Was er forderte, ging schon weit hinaus über den Beruf des Tageskritikers, bei dem Lessing trotz aller Größe doch letzten Endes stehengeblieben war; es zielte ab auf den Literaturhistoriker, ja darüber hinaus auf den Geisteswissenschaftler, der die G.sund Stilrichtungen in ihren soziologischen Bedingtheiten und zeitlichen Gebundenheiten zu deuten sich bemüht. Denn die geheimnisvollen, entwicklungsgeschichtlichen Triebkräfte, die jene großen Wandlungen im Kul3fl*

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Gesdunadc

turstil und damit audi im literar. Stil herbeiführen, treiben audi die Wellen der G.sströmungen, die den Stilveränderungen teils als kaum beachtete Unterströmung vorausgehen, teils ihnen als breiter Modestrom folgen und doch selten zeitlich völlig mit ihnen zusammenfallen. Immer aber erhalten sie ihren richtunggebenden Zustrom aus dem großen Becken des allgemeinen Kulturgutes, aus Weltanschauung und Lebensgefühl, ob sie nun entspringen mögen aus germ. Heldenverehrung oder ritterlichem Minnedienst, bürgerlichem Zunftgeist, standesstolzem Gelehrtentum oder dem revolutionären Drang der proletarischen Masse, ob sie erwachsen mögen aus heidnischem Mythos, mal. Kirchenglauben, reformatorischem Kampfgeist, pietistischer Religiosität oder romantischer Mystik, aus dem Humanismus, Barode oder Rationalismus, aus Herderschem Humanitätsglauben, Kantischem Kritizismus, Schillerschem Idealismus, romantischem Unendlichkeitsstreben, Schopenhauerschem Pessimismus, Byronschem Weltschmerz oder Nietzschesdiem „Ubermenschentum", aus Darwinismus, Materialismus und Positivismus oder neuidealistischen Strebungen mit metaphysischen Sehnsüchten, aus Expressionismus, Surrealismus, wiss. Materialismus, Existenzialphilosophie usw. Dazu kommen die großen Geschmacksimpulse im geistigen Austauschverkehr der Nationen: die provenzalischen Wellen im Minnesang, die Berührung mit dem Morgenland durch die Kreuzzüge, die franz. Prosaauflösungen ritterlicher Epen, die ital. Novellistik und die Fazetiensammlungen der Humanisten mit ihrem starken Gefolge an dt. Schwankbüchem, die engl. Komödienstücke, der ital. Marinismus, aber auch span., engl., holl. Einwirkungen auf die Barockliteratur, der franz. Klassizismus der Boileauschule, die pseudoanakreontische Sammlung von Henri Estienne und dann der breite engl. Zustrom. Byronscher Weltschmerz steigerte sich zeitweise zu einer Art von Wertherfieber des 19. Jh.s.und wenn Skandinavien und Rußland neben Frankreich den Geschmack am Naturalismus wesentlich mitbestimmten, so kam Gabriele d'Annunzios Freude an berauschenden Bildern und Wortklängen dem Schönheits- und Sprachkultus der Neuromantik anregend entgegen, wie Baudelaire, Verlaine u. a. dem übersättigten G. der Dekadenz, bis schließ-

lich der Expressionismus im teilweisen Zurückgreifen auf das primitive Kunstwollen der Naturvölker Zuflucht suchte vor dem zermürbenden Intellektualismus einer allem Naiven abgekehrten Zivilisation. § 7. Letzten Endes ist so die Geschichte des literar. G.s zugleich ein gutes Stüde Problemgeschichte. In umfassenden Werken haben Cysarz für den Kulturstil und damit auch für den literar. G. des Barock, Unger für die Hamannzeit, Korff für die Goethezeit, Strich für Klassik und Romantik geistes- und problemgeschichtliches, Nadler für weite Strecken der literar. Entwicklung völkisch-stämmisches Verständnis erobert. Einen gewiss. Beitrag möchte auch die ζ. Z. dreibändige Geschichte d. dt. Poetik d. Verf.s bieten, die Näheres zum G.-Begriff enthält. Hier konnte nur ein kleiner Ausschnitt aus Aufklärung und Geniezeit geboten werden. Doch lassen sich schon an diesem Einzelfall einer ausgeprägten G.swandlung allgemeine Züge ablesen, die symptomatisch sind für die literar. G.s Veränderung an sich. Der literar. G. schlägt gern vom Pol zum Gegenpol um. Trotz scheinbar schroffer Reaktion bricht jedoch ein literar. G. nicht jäh in einen entgegengesetzten um. (Das Moment der Gewöhnung bedingt eine Vorbereitung durch Umgewöhnung.) Es findet durchweg eine zeitliche Uberschneidung der G.skurven statt: Lessing geht auf der alten Bahn weiter, während Herder schon neue Wege sucht und findet; der junge Schiller erringt mit Sturm- und Drangwerken Erfolge, als Goethe schon die Linie der Klassik aufgenommen hat usw. Es bestehen trotz aller Gegensätze auch vielfach innere Beziehungen (Vorbereitung der G.sumgewöhnung). Die alte verebbende Hauptwelle eines literar. G.s führt schon eine Unterströmung mit sich, die sich dann in der neu aufschwellenden Woge zum Gipfel emporringt: Lessings Hindeutung auf Shakespeare (vorher schon J. E. Schlegel und Nicolai), seine Betonung des dynamischen Charakters der Dichtung, unverwertbar für die Aufklärung, werden, von Herder aufgenommen und konsequent weitergeführt, um- und ausgewertet als herrschende G.skräfte der Geniezeit. So wandelt sich die behaglich-nüchterne Freude an der Natur in ein leidenschaftliches „Zurück zur Natur!", die erkünstelte „Natürlichkeit" in ein Natur-Erleben. Der G.spol „Na-

Geschmack tur" war aber schon gegeben. Ähnlich fand der romantische G. trotz aller Abkehr Anknüpfungspunkte bei Goethe. — Eine neue G.srichtung sucht und findet häufig ihre rückwärtigen Beziehungspunkte nicht oder nicht allein bei der vorhergehenden, sondern bei weit früheren G.sperioden. Die Geniezeit geht unter Hamann-Herderscher Anregung zurück auf die Bibel und „alte" Volkslieder. Macpherson erfaßte das G.sbedürfnis ganz richtig mit seinen fingierten Ossiangesängen. Die Romantik greift teilweise über die Klassik hinweg auf den jungen Herder zurück: wie dieser in Opposition gegen die Aufklärung gestellt, so etwa im Athenäum, mit der vor allem gegen Nicolai gerichteten Polemik des Literarischen Reichsanzeigers oder Archivs der Zeit und ihres Geschmackes, wie dieser audi die berechtigte Wandelbarkeit des literar. G.s betonend (vgl. als Zwischenstufe Schillers Über naive und sentimentalische Dichtung), so etwa A. W. Schlegels Hinweis auf die „Antinomie des Geschmacks", die auch „entgegengesetzte Dinge in gleicher Dignität" erscheinen lasse. Ihr „mittelalterlicher" G.skultus war aber wiederum vorbereitet durch literarhistorische Ausgrabungen Gottscheds und Bodmers, durch G.sströmungen im Göttinger Hain usw. In neueren Zeiten bewußterer G.sbeobachtung kennzeichnet man von vornherein ganze Stilrichtungen unter diesen Gesichtspunkten mit Namen wie Neuromantik, Neuklassizismus. — Obgleich nämlich neu auftauchende G.sströmungen durchweg mit dem Anspruch auftreten, etwas noch nie Gewolltes zu wollen, etwas noch nie Geschmecktes darzubieten, pflegen sie doch bald Bedürfnis zu empfinden nach einer Art von Tradition und dementsprechend Umschau zu halten nach historisch gegebenen Vorbildern, die gleichsam als bewährte Bürgen das noch zögernde Vertrauen zur Vollwertigkeit der jungen Richtung fördern und sichern sollen. Wie oft ist nicht der Sturm und Drang als solch ein Bürge von späteren Generationen bemüht worden, zuletzt besonders vom Naturalismus, während der Expressionismus auch gern Klopstock als Kronzeugen heranzog. Im allgemeinen ergibt sich so für den literar. G. die Neigung zur Abwechslung, zur Ablösung; doch wird dabei eine Anknüpfung an frühere „ Geschmacks-Ahnen" durch modifizierte Wiederaufnahme nach kürzeren

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oder längeren Zeitintervallen eher gesucht als vermieden. Nimmt man mit P. Merker eine Entwicklungsspirale an, so lassen sich auf ihr derartige, zeitlich getrennte, wesenhaft aber verbundene Wiederholungen an korrespondierenden Punkten anordnen. Indessen geht hier die Betrachtung des literar. G. in die allgemeine Stiltheorie und Geschichte der literar. Richtungen über. Ein spezifischer literar. G. findet häufig seine erste Pflege- und Ausbildungsstätte durch Dichtergruppen in Dichterkreisen (s. d.). Ein literar. G. entartet, wenn einmal durch Gewöhnung eingebürgert, leicht zum Modegeschmack, der Epigonentum heranzüchtet. Die ideale Forderung, daß Dichter und Kritiker das Publikum zu ihrem Geschmadc bekehren sollen, ist nur selten restlos durchführbar; berühmt und berüchtigt sind die „Konzessionen an den G. des Publikums" besonders bei Bühnendichtern (vgl. Schillers Zugeständnisse an Dalberg). Derartige G.sangleichungen zu verurteilen, ist leicht, aber oft ungerecht. Der Künstler erstrebt notwendig lebendige Wirkung und bringt deshalb unter dem Drucke der Verhältnisse das schmerzliche Opfer der Anpassung; er macht Abstriche von seinem G.sideal, um es als Wirklichkeit durchsetzen zu können. Wie in jeder anderen, so liegt auch in der G.serziehung zwar vor allem das Moment des zu sich Hinüber- und Hinaufziehens, aber als dessen Voraussetzung doch auch zugleich ein Hinabsteigen und Entgegenkommen. Das gilt in noch stärkerem Maße für den Kritiker als G.serzieher als für den Dichter als G.svorbild. Anders steht es mit bloßer Erfolghascherei, die sich indessen durchweg als solche selbst kennzeichnet und richtet; sie gehört in das Kapitel vom modischen Geschmadc. § 8. Bei alledem handelt es sich um den literar. G. künstlerisch interessierter Kreise. Hier vor allem zeigt sich jener ausgeprägte G.swandel, der den Biegungen und Wendungen der allgemeinen Geistesbewegungen folgt, hin und wieder auch mit feinem Spürsinn ihnen vorauseilt. Zwar sickert eine besonders kräftige G.sströmung wohl auch einmal in tiefere Volksschichten hinab, wie sie manchmal aus ihnen aufsteigt (Gesellschaftslied d. 17. Jh.s, Romanze aus Bänkelsängerliedern, Kriegslyrik, Arbeiterdichtung). Durchweg aber bleiben diese Schichten we-

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Geschmack

nig berührt von der oberen Wellenbewegung. In der Masse des Volkes, aber audi in breiten Kreisen des Bürgertums, weist der literar. G. über Jh.e hinweg eine erstaunliche Konstanz, eine zähe Beharrlichkeit auf. Der G. am bispel, am Spruch, am Sprichwort, am Schwank, an der Fabel, an der Anekdote ist unverwüstliches Erbgut und gewiß kein schlechtes. Was aber schon darin angedeutet liegt, ist die Vorliebe für eine Mischung von angenehmer Unterhaltung mit nützlicher Belehrung. Hier ist man im Grunde stehengeblieben bei jener „Kindheit unsers Geschmacks", von der Lessing sprach. Gerade der Aufklärungsgeschmadc, wie er oben kurz charakterisiert worden ist, nistete sich naturgemäß fest ein in den bürgerlichen Kreisen, auf die er von vornherein zugeschnitten worden war. Hier fand einmal die „Kunst" Fühlung mit dem Volke. Thomas A b b t gibt in seiner prächtigen Schrift VomVerdienste eine kennzeichnende Stelle, die Herder für seine Fragmente übernommen hat: „Für ganz Deutschland ist es ohne Widerrede Geliert, dessen Fabeln wirklich dem Geschmadce der ganzen Nation eine neue Hilfe gegeben haben Sie haben sich nach und nach in Häuser, wo sonst nie gelesen wird, eingeschlichen. Fragt die erste beste Landpredigerstochter nach Gellerts Fabeln? Die kennt sie — nach den Werken anderer unserer berühmten Dichter? kein Wort." — Als Schüler - 1782! mit seinem Wirtembergischen Repertorium nicht zum wenigsten seiner Wirtschaftskasse aufhelfen wollte und sich deshalb dem landläufigen Geschmacke anbequemen mußte, da wußte er sehr wohl, was noch immer Anziehungskraft besaß, als er im Vorbericht ankündigte: „Unsere Hauptabsicht mit dieser periodischen Schrift ist Ausbildung des Geschmacks, angenehme Unterhaltung und Veredelung der moralischen Gesinnungen." Und ganz ähnlich verspricht die Ankündigung der Rheinisdien Thalia vom November 1784, daß „alles, was Herz und Geschmack" veredeln könne, Aufnahme finden solle. Derartige Wendungen hätten recht gut 50 Jahre vorher in einer aufklärerischen Monatsschrift stehen können. Aber diese rationalistische Linie reicht noch viel weiter und setzt sich fast ungebrochen bis in unsere Gegenwart fort. Noch heute ist dem Volke (besonders dem Landvolke) eine Gellertsche Fabel lie-

ber als ein Goethesches Gedicht; denn der Volksgeschmack fordert n i c h t Unmittelbarkeit des Erlebens in der Kunst, sondern gerade Mittelbarkeit, Vermittlung, Reflexion. Deshalb konnte auch Schiller in weit höherem Grade als Goethe Volksdichter werden. Wer die älteren Jahrgänge der Gartenlaube — oder Volkskalender — durchblättert, wird erkennen, daß der Abstand von dem G.sniveau einer „moralischen Wochenschrift" aus der ersten Hälfte des 18. Jh.s nicht gar so beträchtlich ist. Rüdcerts leicht tüftelnde Lehrhaftigkeit kam der alten Vorliebe für belehrende Spruchdichtung entgegen, ein Geliert des 19. Jh.s, wie dieser auch heute noch beliebt, wie einst Iffland und Kotzebue den G. ihrer Zeit beherrschten. Und wenn im Jahre 1755 bei der Uraufführung des aufklärerischen Rührstücks Miß Sara Sampson die Zuschauer „wie die Statuen saßen und weinten", so sitzen sie jetzt ebenso vor einem Rührstück wie Alt-Heidelberg. Der rührselig-süßlich-sittige Brei Courths-Mahlerscher Romane mundet den einfachen Mädchen und Frauen von heute ebenso trefflich wie einst die rührend-moralisierenden Familienromane den gebildeten „Frauenzimmern" der Aufklärungszeit. Ahnlich bedeuten Karl Mays Indianergeschichten nur ein jüngeres Glied in der langen Kette älterer Abenteuerromane. Schillers herbe G. A. Bürger-Kritik weist auf die tiefe Kluft zwischen dem Anspruch der Gebildeten und dem Anrecht bzw. dem Angesprochenwerden der Ungebildeten mahnend undverantwortungsbewußt hin. — Diese Vergleiche bezwecken nur, die Konstanz des volkstümlichen literar. G. anzudeuten. Eine Gleichsetzung in der ästhetischen Wertung wäre natürlich verfehlt, weil sie unhistorisch wäre; denn was einst notwendige und verdienstvolle literarische Entwicklungsform war, muß heute als Hemmung und Rüdestand gelten. Gerade dort, wo soziologische Lit.gesch. getrieben werden soll, darf man sich nicht damit begnügen, den Blidc nur immer wohlgefällig auf den beleuchteten Gipfeln und Höhenzügen des literar. G.s ruhen zu lassen, sondern muß forschend hinabzudringen versuchen in die Schatten der Täler, in die Niederungen auch des Trivialgeschmadcs. Es ist daher nur zu begrüßen, wenn die neuere Forschung dieses spröde und ästhetisch arme Gebiet nicht mehr verschmäht, sondern mehr und

Gesdimadc mehr seine Bedeutung für die Geistesgeschichte würdigen lernt. „Denn" — wie es Abbt an jener zitierten Stelle, allerdings mit einem zeitlich bedingten Seitenblick auf die volksfremde Gelehrtendiditung etwas schroff, aber klar ausspricht — „der Geist und Geschmack einer Nation sind nicht unter ihren Gelehrten und Leuten von vornehmer Erziehung zu suchen Aber unter dem Teil der Nation liegen sie, der von fremden Sitten und Gebräuchen und Kenntnissen noch nichts zur Nachahmung sich bekannt gemacht hat." Unsere mundartliche Dichtung ist eine wertvolle Trägerin und Pflegerin dieses volksnahen G.s. Indessen ist dieser volkstümliche „Nationalgeschmack" kein literar. G. im engeren Sinne. Durchweg pflegt man es den Dichtern zum Vorwurf zu machen, wenn so selten die Brücke geschlagen worden ist zwischen Volkskunst und Kennerkunst. So hat — etwas übertreibend — audi W. v. H u m b o l d t bedauert, „daß unsere Literatur nie auch nur im mindesten volksmäßig war. Alle unsere guten Schriftsteller und ihre Leser gleichen einer Freimaurerloge; man muß ein Eingeweihter sein" (um sie verstehn zu können). Aber andererseits muß doch — leider — zugestanden werden, daß hier der mangelnde Formsinn und fehlende formale G., das recht unsichere Stilgefühl und der recht verkümmerte Gestaltungsgenuß unseres Volkes sowie sein Hang zum Auslandskultus, der wiederum nicht zuletzt aus jenem Unzulänglichkeitsgefühl entspringen dürfte, in beträchtlichem 'bis bedenklichem Grade mitschuldig erscheinen an diesem Mangel, so daß derartige ästhet. Unzulänglichkeiten die geschmacksbildende Mission eines dt. Volksschriftstellers und vollends eines „klassischen National-Autors" (vgl. Goethes Aufsatz Lit. Sansculottismus, 1795) wesentlich erschweren. Um so freudiger ist jede Erscheinung und Bekundung einer ästhet. hochwertigen Volkskunst und jede volksnahe „Kunst"Dichtung (Gotthelf) zu begrüßen. Die billigunbillige Verachtung, mit der Ästhetenkreise, die den G. vermeintlich gepachtet haben, auf den „Volksdichter" herabsehen zu können glauben, richtet sich selber. Denn der Volksdichter schafft aus Notdurft das Neue, nicht jedoch aus Uberfluß. Er bewahrt das Überkommene, ohne das Übernommene zu überhöhen. Er greift zum Konkreten, ohne sich vom Symbolischen beirren zu lassen. Er ver-

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gegenständlicht, wo der „Kunst"-Dichter vergeistigt. Er rettet den Gegenstand in die Form hinüber, wo der „Kunst"-Dichter bestenfalls die Form vergegenständlicht. Und er beantwortet die Frage nach dem G. schlüssiger, weil unbefangener als der „Kunst"Dichter. § 9. Die Bewertung des G.s ist in den verschiedenen Literaturepochen starken Schwankungen unterworfen. Durchweg entspricht der Grad der Bewertung dem Charakter der jeweilig vorherrschenden literar. Richtung. Eine Ausnahme bildet eigentlich nur die Aufklärung, die besonders eifrig auch von den Tugenden sprach, die sie nicht besaß. Die erste Liebe blieb gleichsam platonisch und unfruchtbar. Es ging dabei zudem mehr um Liebesehrgeiz (etwas zu erwerben, was man noch nicht hatte) als um echte Liebe. Und da man doch alles „wissen" wollte, reizte besonders das „je ne sais quoi", wie denn die Definitionsfreudigen das Undefinierbare besonders anziehen mußte, um so mehr als es im Rokoko so greifbar nah zu liegen schien. Es kam hinzu, daß vorerst der G. die (noch nicht „erfundene") Ästhetik weitgehend ersetzen mußte. Und das geschmackvoll Konstruierte mußte zunächst einmal aushelfen, wo das Schöpferisch-Konstruktive fehlte. Der Sturm und Drang verschmähte im vermeintlichen Vollbesitz des Genies den G., bis Herder klagen und fragen mußte nach den Ursachen des gesunkenen Geschmacks unter den Völkern, da er geblühet (1774). Gemäß der Autonomie des Ästhetischen und dem Primat des „Bildenden" erfuhr der G. in der Klassik seit Winckelmann eine merkliche Aufwertung im organischen Zusammenhang mit der Prävalenz der schönen Form und der Forderung des Schönen. Aber nun konnte bereits die G.serziehung auf Grund der inzwischen ausgebildeten Ästhetik ersetzt werden durch eine „ästhetische Erziehung", die vielfach und überwiegend eben doch eine „klassische" Bildung meinte. Und wie einst Lessing den Agathon Wielands den ersten dt. Roman von spezifisch „klassischem Geschmack" genannt hatte, so wurde der griech. G. gleichgesetzt mit dem G. überhaupt, gleichsam zum „typischen" G. von Vorbildgeltung überzeitlicher Art erhoben. Sowohl die „Anmut", bei der ein rokokohafter G. (Schönheit in Bewegung) nachwirkt, als auch die „Würde", bei der ein antikisie-

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Geschmack

render G. über die „schöne Seele" hinweg der „großen Seele" (so schon Wieland) zustrebt, sind letzten Endes G.swerte. Das Unharmonische galt als geschmacklos. Hölderlin meldet gegen eine „griech. Vortrefflichkeit" bereits ernste Bedenken an in dem Grade, wie er das Mythische durch das Mystische zu vertiefen und zu verdeutschen trachtete und dank seines romantischen Einschlages schon das „Harmonisch-Entgegengesetzte" als ästhetisch fruchtbar gutheißen konnte. Sondergänger und Naturen von starkem Eigengepräge wie Jean Paul oder H. v. Kleist mißtrauen den Ansprüchen des G.s und opfern ihn höheren Kunstwerten unbedenklich auf; als Hemmung empfunden und beiseitegedrängt wird der G. weiterhin etwa von G. Büchner und Chr. Dietr. Grabbe, dem frühen Hebbel, dem frühen G. Hauptmann (wie in gewissem Grade wiederum vom ganz späten Hauptmann der Atriden-Tetralogie), bis hin zu Heinrich Mann, Georg Kaiser, Emst Toller und Bertolt Brecht. Auf der Gegenseite vertreten eine hohe Bewertung bis Uberbewertung des G.s: Platen, Geibel, P, Heyse, überhaupt der Münchener Dichterkreis, Robert Hamerling, C. F. Meyer, Stefan George und sein Kreis, Herrn. Hesse (in gesunder Ausgleichung mit dem ethischen Gehalt), Hugo von Hofmannsthal, R. Sorge und in gewissem, bes. sprachformendem Betracht audi Thomas Mann. Epochen, die revolutionär sind, und mehr noch solche, die sich revolutionär vorkommen, glauben den G. als eine bürgerliche Nippes-Angelegenheit entbehren zu können und ihn mehr oder minder demonstrativ verschmähen zu sollen. Diese Erscheinung dürfte unbewußt ζ. T. zurückgehen auf die Opposition der franz. Revolution gegen den verzärtelten und verzierlichten G.-Kultus des feudalen Rokoko. Doch sei das Vorbild des dt. Sturmes und Dranges in dieser Hinsicht nicht unterschätzt. Aber in dem Grade wie der erste Hunger gestillt ist, pflegt sich der G. wieder einzustellen. Es scheint mit ihm so zu gehen, wie mit einem Rettungsring; erst wenn man ihn über Bord geworfen hat, lernt man seinen Sinn und Zweck verstehen und schätzen, um nicht in den aufgewühlten Wogen der Formlosigkeit rettungslos zu versinken. Man beschwört heute den G. kaum noch mit seinem alten Namen; aber man meint

ihn, wo man nach den Ursachen fragt, warum eine vermeintliche „Wirkungs"-Form so gar nicht wirken will. Und man mag seinen Eigenwert bezweifeln, seine zusätzliche Wirksamkeit läßt sich nicht ungestraft vernachlässigen. Immer wieder wird man belehrt, daß es ohne G. nicht gut geht (und nicht gutgeht). Wenn er herrscht, leidet die Kunst; aber wenn er unterdrückt wird, leidet die Kunstwirkung. Und wo man ihm hochgemut den Abschied gegeben hat, muß man ihm über kurz oder lang durch ein Hintertürdien wieder den Zutritt gewähren. Um so erstaunlicher ist es, wenn etwa O. Walzel in seiner Sonderarbeit über Poesie und Unpoesie (bzw. Nichtpoesie, beide Titelgebungen sind nachweisbar, 1937) in seinem Sachregister das Stidiwort G. überhaupt nicht verzeichnet, obwohl das Verhältnis von Poesie und Unpoesie irgendwie und irgendwo dodi auch mit dem Verhältnis von G. und Ungeschmadc zusammenhängen dürfte. Charaktervolle Epochen sind nicht immer auch geschmackvolle. Und wenn einst der reife Goethe klagte und anklagte: „Unsere Zeit hat Geschmack aber keinen Charakter" (1808), so heißt es sich hüten vor Situationen, wo man sagen könnte: unsere Zeit hat weder Charakter noch Geschmack. Goethe hofft in jenem Zusammenhange, daß sich der G. aus dem Charakter entwickeln könne, so daß zunächst einmal die Heranbildung eines Nationalcharakters „wünschenswert" sei. Im Gesamt jedodi bevorzugt der reife Goethe Umschreibungen wie „Verstehen" und „Durchdringen", um die Aufnahmefunktion abzuheben vom inhalthungrigen „Sidi-Aneignen". Wolfg. Kaysers Aufsatz Goethes Auffassung von der Bedeutung der Kunst (Goethe 16, 1954, S. 14-35) geht erfreulicherweise auf diese Fragen fördernd ein. Aber streng genommen fragt der G. weder nach dem letzten Verstehen noch nach dem tiefsten Durchdringen, sondern nur nach dem (nicht interesselosen) Wohlgefallen an sich, gleichgültig, ob es sich im einzelnen um Individual-G., Zeit-G. oder National-G. handeln mag. Und das Gefällig-Gefallende bleibt zuletzt doch immer egozentrisch, wenn nicht gar egoistisch (Erhöhung des ästhet. Lustgefühls) eingestellt. Aber dieses vorerst passive Wohlgefallen und ästhetisch lustvolle Wohlbehagen aktiviert sich im Bevorzugen der besten der möglichen Wirkungs-

Gesdimadc — Gesellschaftslied formen dergestalt, daß ein „schöpferisches Vorziehen" ohne ein geschmadcsmäßiges Bevorzugen kaum zu denken und zu bewirken ist. Über den Wortgebraudi: DWb.Bd.4, Abt.l, T. 2 (1897) Sp. 3924-3932, bes. 3928 ff. Ergänzend: ZfdWf. 10 (1908/09) S. 8 (A. G o e b e l , Wortgeschichtliches aus Herder); S. 1720 (H. J. W e b e r , 'Geschmadc' bei Windcelmann). Karl B o r i n s k i , Baltasar Graciän u. d. Hoflit. in Deutschland (1894; darin über Entstehung u. Inhalt des Begriffes Geschmack). Rud. Ε i s 1 e r , Wb. d. philosoph. Begriffe (4. Aufl. 1927) S. 527f. F. K l u g e u. A. Götze, Etymolog. Wb. d. dt. Sprache (16. Aufl. 1953) S. 261. B. M a r k w a r d t , Gesdi. d. dt. Poetik. Bd. 2 (1956), Bd. 3 (1957), PGrundr. 13, Begriffsregister. Ästhet. Theorie: Heinr. v. S t e i n , Die Entstehung d. neueren Ästhetik (1886) passim. Karl G r ο ο s , Der ästhet. Genuß (1902). C. M. G i e s s l e r , Das Geschmackvolle als Besonderheit des Schönen u. speziell s. Beziehungen zum sinnlichen Geschmack. Zs. f. Psychol. 34 (1904) S. 81-110. Joh. V ο 1 k e 11, System d. Ästhetik. Bd. 1 (1905) S. 341 ff. Th. R e i d , Über d. G. ZfÄsth. 1 (1906) S. 323-354. W. S t e r n b e r g , G. u. Sprache. Zs. f. Psychol. 56 (1910) S. 104-116. J. F i s c h e r , Die Entstehung d. G.s u. s. Bedeutung für innere Erkenntnis d. Dinge. Arch, f. system. Philos. 18 (1912) S. 337-393. E. U t i t ζ , Außerästhet. Faktoren im Kunstgenuß. ZfÄsth. 7 (1912) S. 619-651. R. M ü l l e r - F r e i e n f e l s , Neuheit u. Wiederholung im ästhet. Genießen. Ebda, S. 68-81. Fr. Μ e d i c u s , Grundfragen d. Ästhetik (1917) S. 95f. u. 115. Siegmund v. L e m p i c k i , Gesdi. d. dt. Lit.wiss. Bd. 1 (1920) S. 224 f. u. passim. Max D e s s ο i r , Ästhetik u. allgem. Kunstwiss. (2. Aufl. 1923) passim. Alfred B a e u m l e r , Kants Kritik d. Urteilskraft, ihre Gesch. u. Systematik. Bd. 1 (1923). Walter S c h u l z e - S o e l d e , Das Gesetz d. Schönheit (1925) S. 142 f. Karl Justus O b e n a u e r , Die Problematik d. ästhet. Menschen in d. dt. Lit. (1933). Herrn. Ν ο h 1, Einführung in die Philosophie (3. Aufl. 1948) passim. Paul B ö c k m a n n , Formgesdi. d. dt. Dichtung I (1949). Fr. S c h ü m m e r , Die Entw. d. G.sbegrtffes in d. Philosophie d. 17. u. 18. Jh.s. Arch. f. Begriffsgesch. 1 (1955) S. 120141. Allgemeines über G.sfragen und G.serziehung: A. L a s s ο η , „Stilvoll". Preußjbb. Bd. 66 (1890) S. 315-344. Jakob v. F a 1 k e , Gesch. d. G.s im MA. u. andere Studien auf d. Gebiete v. Kunst u. Kultur (1892; Allg. Ver. f. Dt. Lit., Ser. 17, 6). P. S t a p f e r , Revolution du gout. Revue des Revues 32 (1900) S. 146-157. L. W i n i a r s k i , L'iquilibre esthätique. Essai sur la mecanique sociale. Revue Philos. 47 (1909) S. 570-605. Rieh. S c h a u k a i , Vom G. (1910). Stil u. G. Ein kurzer histor. Überblick v. Herrn. S c h m i t z u. e. kulturpsydiolog. Darlegung

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Markwardt

Gesellschaft und Literatur s. Literatursoziologie. Gesellschaftslied § 1. D i e von Hoffmann v. Fallersleben eingeführte Bezeichnung ist nicht primär soziologisch gemeint, sondern kennzeichnet biologisch den Lebensraum und die besondere Lebensweise des Gebildes. Es wurzelt im Singen der Gesellschaft. Damit scheidet es sich einerseits vom Kunstlied als Erzeugnis und Aussage der dichterischen Einzelpersönlichkeit. Andererseits trennt es sich auch vom Volkslied (s.d.), das wir als der Gesamtheit des Volkes entstammend oder ihm geläufig denken. Das G. repräsentiert, so oft auch der Verfasser sich namhaft machen läßt, das Vorstellen und Fühlen einer breiten Mittelschicht, nicht etwa einer „höheren" Gesellschaft (le monde), die zum betont kunsthaften Lied neigt, ja das Virtuose bevorzugt. Es wird bei Veranstaltungen dieser bürgerlichen Mittelschicht gemeinsam gesungen, ohne mit dem eigentlich „geselligen Liede"

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und dessen weit engerem Motivkreis zusammen zu fallen. Dabei werden ungewöhnliche Worte oder Vorstellungen trivialisiert. § 2. Die Verfasser pflegen Dichter minderen Grades zu sein. Daher sind sie dem jeweiligen Zeitstil verpflichtet und ausländischen Einflüssen zugeneigt. So lassen sich deutlich die Wandlungen der äußeren Form entsprechend der Mode verfolgen, während die innere Struktur konstant bleibt. Die enge Verbindung mit der Musik wirkt auch stark mit. Von hier kommt Strophigkeit und Flüssigkeit. Leichte Nachfühlbarkeit bewahrt vor allzu großer Eigenart und Tiefe und wahrt den Zusammenhang mit der Wirklichkeit und eine gewisse Anschaulichkeit. Der Motivkreis ist typisch, dabei nicht allzu eng. Die Liebe spielt eine große Rolle, besonders das werbende Schmachten und sein Umschlag in die Absage, die auch in Spott oder groteske Ubertreibung übergeht. Die Einzeleinkleidung bringt oft wiederholte, doch zahlreiche typische Situationen. Als Freuden der Muße werden neben dem Kartenspiel die Getränke gepriesen: Wein, Bier, Kaffee und Tee sowie der Tabak; außerdem Frau Musica. Neben dem Spaziergang fehlt das Lob der Geselligkeit nicht. Reine Naturlyrik fehlt, an ihrer Stelle stehen schäferliche Situationen oder rollenhaft eingekleidete Wanderlieder. § 3. Frühformen lassen sich schon beim Mönch von Salzburg finden (um 1400): höfische Nachklänge im Formalen mit Volkstümlichem in Anschauung und Fühlen gemischt. Ebenso bei Oswald von Wolkenstein (t 1445) und im Liederbuch der Klara Hätzerlin (1471). Als Motive sind neben dem Abschied vor allem Kneipfreuden behebt. Aufschlußreich sind die Liederbücher, die handschriftlich seit 1452 (Lochamers) erhalten, seit 1512 (Oeglins) im Druck verbreitet sind. Grund ihrer Aufzeichnung ist das Interesse von Zirkeln bürgerlicher Musikliebhaber am mehrstimmigen Satz. Dadurch sondern sie sich von der naiven Sangesfreudigkeit des zeitgenössischen Volksliedes. Diese Liebhaber sind geschult, vermögen wohl auch selbst einen Satz im linearen Kontrapunkt zustande zu bringen, sie besitzen „Bildung" (studierte Berufe), ohne direkt Humanisten zu sein; sie werden gelegentlich als homines litterati bezeichnet. Wenige und nur die gebräuchlichsten Namen aus der antiken My-

thologie begegnen, keine Anleihen bei Ovid, Horaz, Catull. Auffallend ist eine Vorliebe für Zweiheber, oft deutlich als Aufspaltung der Vierheber des Volksliedes, sowie Alternation in der Silbenschwere und einsilbige Kadenz. Weil Sinn und „Gefühl" der Zeile als zusammenhängender Phrase syntaktisch und musikalisch maßgebend ist, bekommt das Ganze etwas Getragenes oder Bedächtiges. Dazu stimmt eine reflektierende Haltung, die sich in Verben des Denkens und Überlegens besonders kundtut, sowie in der Verwendung von Konjunktionen, von subordinierten Nebensätzen entgegen der Parataxe des Volksliedes. Wie im Meistergesang herrscht Dreistrophigkeit. Die Achse, vielleicht historisch auch der Beginn, dürften die „Hoftöne" sein. Bezeichnenderweise mahnt Luther 1524 Spalatin, für Kirchenlieder novas et aulicas voculas omitti. Selbst der junge Hans Sachs beweist seine Begabung durch Verfassen von Texten auf Hoftöne. Hier einen Renaissancestil zu postulieren, scheint nicht ratsam, weil keine eigentlich rhetorische Haltung und Deklamation die Grundlage bildet. Vielmehr die Einzelstimmen fließen dabei miteinander, schwingen als Gefährten aus dem gemeinsamen Gefühlsgehalt. Tragend bleibt der Zirkel der mitsammen Musizierenden. Auch rein musikalisch zeigen die Sätze bei Forster (I 1539, IV und V 1556) ein Diskantieren, kein Figurieren. § 4. Die Entwicklung geht dann außerhalb Deutschlands weiter und ist rein musikalischer Natur: die madrigaleske Gesangsform entwickelt sich in Italien. Seit 1550 begegnen ital. Musiker an den Höfen (München, Dresden), die ihre Schützlinge zum Studium nach Italien schicken. Die Zentren ital. Austausches, Augsburg und Nürnberg, werden die führenden Verlagsorte. Wurde der musikalische Madrigalstil zunächst naiv auf die alten Texte übertragen, so verlangte die seit 1576 (Regnart) anhebende Vorliebe für die Villanelle enges Anschmiegen des Metrums, sei es oft nur in der Silbenzahl. Herrschen auch da noch die alten stehenden Formeln vor, so bringt die 10 Jahre später (seit Lindners Gemma musicalis 1588) einsetzende Welle der Canzonette die größte Annäherung an die ital. Lyrik in Formen wie Motiven (Lechner, Zachariae). Aber rasch setzt selbständige

Gesellschaftslied

Verarbeitung ein und damit eine eigene dt. Produktion. Hans Leo Häßler findet (seit 1596) einen glücklichen Ausgleich zwischen dt. und welscher Art als Komponist, der Österreicher Christoph v. Schallenberg gleichzeitig eine wirklich poetische Form, während Valentin Haußmanns flüssige Gewandtheit dem neuen Bürgertum das Produkt der neuen gesellschaftlichen Bildung mundgerecht und durch viele Sammlungen leicht zugänglich macht. Die neuen Motive und Stilfiguren zu verbreiten, helfen besonders die Texte zu den modischen Tänzen mit (Galliarde, Intrade, Pavane, Paduane, Balletto). Sachsen übernimmt von nun an die Führung. Christian Demantius (1567-1643) hat als Musiker größere Verdienste denn als Dichter, wie auch Johann Christen; auch helfen die typischen Formeln immer noch recht viel. Aber Joh. Herrn. Schein hat mit diesen Mitteln doch wirklich Ansprechendes geleistet: frisch, flott, auch gelegentlich volkstümlich derb. Neben diesen steht der fruchtbare Melchior Franck (ca. 1573 in Zittau, 1603-39 Hofkapellmeister in Koburg), dessen Koloraturen und Schleifen der Zeitmode besonders huldigen, steht Joh. Jeep (1582 bis ca. 1650), Erasmus Weidmann (1572-1634) und Martin Zeuner (um 1612 ff.). Uberall ist diesen Trink-, Freundschafts- und Liebesliedern ihre Eignung für das Convivium anzumerken; ihr Zusammenhang mit dem Studentenleben ist nicht zufällig. Denn Verfasser wie Publikum ist im wesentlichen eben die akademisch gebildete Beamtenschaft. Die erhaltenen Handschriften hatten denn auch zu Sammlern Studenten (Petrus Fabricius ca. 1605 in Rostock; Adrian Smerit 1600 in Leiden) oder Adelige (Frdr. v. Reiffenberg 1588; Prinz Joach. Karl von Braunschweig 1601). Sie alle zeigen wie auch die verbreitetste gedruckte Sammlung des Paul von Aelst (1602) das Weiterleben des älteren Volksliedes daneben. § 5. Die Entstehung einer selbständigen Lyrik seit 1620 tat dem G. keinen Abbruch, sorgte vielmehr für dessen poetische Veredlung, während ihr selbst von ihm frischer Lebenshauch zuwehte. Poeten wie Musiker pflegen sich in der volkstümlichen wie kunstvollen Richtung zu betätigen. Opitzens metrische Reform rettete die natürliche Betonung vor der Tonbeugung des silbenzählenden Verses. Von seinen Gedichten wie denen

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der Zeitgenossen wird alles einigermaßen Brauchbare gern vertont (1627 Joh. Nauwach, 1642 Kindermann). Die bekannten drei Lyriker-Kreise pflegen auch in Wort und Weise das G. Neben dem musikalischen und dichterischen Gehalt bei Heinrich Albert und Simon Dach fällt Kaldenbach sehr ab. Weit zahlreicher als der Königsberger ist der sächs. Kreis mit Leipzig als Zentrum. Paul Fleming ist Schüler des Thomaskantors Joh. Herrn. Schein. Nicht minder wirksam und verdienstvoll steht neben ihm sein Freund Gottfried Finckelthaus, der stets Weltmann ä la mode bleibt, ohne an Natürlichkeit und scherzfroher Sangbarkeit einzubüßen, während dem Freund beider, Christian Brehme, besonders das lustige Trinklied gelingt. In Andreas Hammerschmidt (1642 u. 49 Welti. Oden) und Crist. Dedekind (1657 Aelbische Musenlust) fand die festliche Lebhaftigkeit kongenial anmutige Musik, besonders von letzterem auch poetisch achtbare Unterstützung. In dieser Tradition leisteten die jüngeren Joh. Georg Schoch, Casp. Ziegler, David Schirmer Tüchtiges. In dem Märker Adam Krieger (1634-66) erstand der erste Klassiker des Liedes. Sein Seelenreichtum ist auch in seinen selbst verfertigten Texten spürbar, die als liebenswürdige Hagestolzen- und Trinkdichtung in Leipziger Tradition stehen. Die frische Jugendpoesie Christian Weises endlich (1668 gesammelt) reizt Joh. Petzel (1672) und Joh. Krieger, die alte Tradition glorreich beendend. Derber gibt sich der niedersächs. Kreis um Hamburg. Mit den genannten Komponisten kann sich nur Joh. Schop vergleichen. Rists Jugendlyrik ist besser als die seiner musikalischen Freunde. Besonders einflußreich wird die Sammlung Gabriel Voigtländers (1642), der als dän. Trompeter moderne Tanzweisen auswählt und mit eigenen Texten ganz annehmbar versieht. Neben Zesen zeigen deutlich Greilinger und Jacob Schwieger seinen Einfluß, während Joh. Christoph Göring (1645) seine leidlichen Texte nicht genügend den entlehnten Melodien anpaßt. Eine dichterische Leistung wurde allein Caspar Stielers Geharnschte Venus (1660). Nicht nur in den führenden Produktionszentren dringen viele dieser Lieder aus der eigentlichen „Gesellschaft" in breite Kreise. Unbedeutendere Poeten und Musiker folgen

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von Riga über Danzig, Stralsund, Rostock, Lübeck, über Frankfurt a. Μ., Berlin und Braunschweig bis Nürnberg. Der streng katholische Südosten nur hält sich fem. Daß die Bildungsromane der Epoche häufig Lieder sogar mit Noten einfügen, lehrt Verbreitung wie Bildungswert des G.s. Die Liedersammlungen bestätigen dies Bild. Der Leipziger Student Clodius (1669) notiert Melodien von Albert, Hammerschmidt, Ad. Krieger, besonders aber von Voigtländer; dazu Texte von Dach, Zesen, Schwieger, Schoch, Rist, Stieler, Greilinger, Voigtländer, Weise. Gedichte von Opitz und Dach sowie Melodien von Albert, Schein, Hammerschmidt stehen bereits 1632 im Liederbuch für die Prinzessin Luise Charlotte von Brandenburg. Das Venusgärtlein (1652?, erhalten seit 1656), die erfolgreichste gedruckte Sammlung, schöpft besonders aus Greilinger, Finkkelthaus, Göring, Rist, daneben aus Zesen, Dach, Voigtländer, älteren Komponisten (Haußmann, Melch. Franck, Lechner u. a.) auch aus Albert u. a. Als Triumph des G.s entsteht seit der Mitte des 17. Jh.s besonders an den Thüringer Höfen ein dt. Singspiel. Es muß jedoch seit dem letzten Jahrzehnt des Jh.s der Übermacht der neapolit. Oper weichen. § 6. Die kunstvolle Arie verdrängt im 18. Jh. einerseits das strophisch-schlichte G. Das Klavier entwickelt sich vom bloßen Begleiter zum selbständigen Träger der Tanzmusik. Es bleibt für den Textdichter nur das komische Couplet aus den Opern, wie sie am fruchtbarsten Hunold (Menantes) und Henrici (Picander), Corvinus (Amarantes), Gressel (Celander), Stoppe u. a. lieferten. Für die galant stilisierten und pointenhaft zugespitzten Machwerke entschädigen mitunter Melodien von Meistern wie Wolfg. Franck, Joh. Phil. Krieger, Reinh. Keiser, Joh. Siegfr. Kusser. Die Produktion war noch reichlich und gehaltvoll genug, daß daraus der Berliner Musiker Pepusch 1728 eine Liederoper für Gays engl. Text zusammenstellen konnte (The Beggar's Opera), die Weltruhm und -Verbreitung erlangte. Die dt. Hausmusik repräsentiert das Augsburger Tafelkonfekt (1733-46) und die Singende Muse an der Pleiße von Sperontes (1736-45). Es sind meist Tanzlieder, zu denen Sperontes (wohl der Leipziger Joh. Siegm. Scholze) Texte neuoder umgedichtet hat. Bei ihm spiegelt sich

deutlich die Umformung des Publikums und seines Geschmackes im Sinne der Aufklärung. Die Genügsamkeit des erwerbenden Bürgertums besingt Kaffee, Tabak, Billard, Karten und Kegel; die Verliebtheit ist stark moralisch gefärbt. Durch ihn wurden Lieder von Christ. Günther verbreitet. Die um 1700 herrschende galante Geschraubt- und Lüsternheit ist geschwunden. Wir finden sie aber noch in den handschriftlichen Sammlungen des Studenten Reyher (1743 in Kiel) und des Freiherrn v. Crailsheim (stud. 1747/ 49 in Altorf). Der Adel steht um diese Zeit durch seine Französelei fern. § 7. Die Gebildetenschicht innerhalb des Bürgertums entzückte sich an der dt. Anakreontik. Auch musikalisch zeigt sich der Rokokostil eindringlich in den Weisen Hurlebuschs in Gräfes Sammlung (1737). Seitdem auch Valentin Görner (1742 ff.) seine bedeutende Begabung in den Dienst des G. gestellt, hebt für dieses eine neue Blütezeit an. Wie groß das Interesse des Publikums ist, zeigen neben den literarischen Zeitschriften die musikalischen Wochenschriften Hillers (Leipzig seit 1759). Die gleichzeitige ästhetisch-kritische Besinnung kommt der Theorie des Liedes zugute: 1752 Krause Von der musikal. Poesie und 1760 Marpurg Krit. Briefe über die Tonkunst. Während die Berliner unter diesen beiden sich zu einer Schule zusammenschließen und mit leichter, natürlicher Melodik die anakreontische Rokokopoesie vertonen, schaffen Benda und Hiller in Leipzig, engl. Anregungen aufnehmend, ein frisches Singspiel. Zu ihrer volkstümlichen Frische passen trefflich die schlichten Texte des unermüdlichen Chr. Felix Weiße ohne alle Bildungsanakreontik. Es steht bereits das Streben dahinter, nicht gesellschaftlich-gebildet, sondern allgemeinmenschlich zu dichten. Neben dem Ideal der reinen Menschlichkeit ändert die Belebung des Volksliedes das Kunstwollen zu dem Ziele der Volkstümlichkeit hin. Von den Dichtern sind es Claudius und Voß, Hölty und Martin Miller, Fr. L. Stolberg und Bürger. Der sentimentale Einschlag trennt es vom alten Volkslied. Stil und Gehalt der Berliner Schule folgen ihnen. J. A. P. Schulz schafft nun wirklich Lieder im Volkston (1782); Joh. Andre findet zu den Balladen (Claudius, Bürger) den gemäßen Stil. Reichardt gelingt neben echter Volks-

Gesellsdiaftslied — Gespenstergeschichte tümlichkeit zuerst ein schlichtes Kunstlied. D a n e b e n pflegt er b e w u ß t das gesellige Lied u n d hat das Verdienst, der erste bedeutende Komponist Goethisdier Lyrik zu sein. I n beidem schließt sich Zelter ihm an. F. L. A. Kunzen gelingen prächtige Sondercharakteristiken: Spinn-, Schnitter-, Jagdlieder. I n Süddeutschland stehen neben Schubart der naiv volkstümliche Christoph Rheineck u n d Joh. Rud. Zumsteg, der starken Einfluß auf F r a n z Schubert u n d Loewe ausübte. Die Romantikbrachte noch Wanderlieder u n d vaterländische Gesänge hinzu. Silcher schuf. Gleichzeitig f a n d die alte gesellschaftliche Schichtung durch die Napoleonschen u n d Steinschen Reformen ihre Umgestaltung. Das G. macht dem von der Schule weiterverbreiteten volkstümlichen Lied u n d d e m rein geselligen Lied Platz. Allgemeines: Aug. R e i ß m a n n , Das dt. Lied in s. histor. Entwicklung (1861). Rob. Ε i t η e r , Das dt. Lied. 3 Bde (1880). Ders., Biograph.-bibliograph. Quellenlexikon d. Musiker. 10 Bde (1889-1904). Max F r i e d 1 ä η d e r , Das dt. Lied im 18. Jh. 2 Bde (1902). Herrn. K r e t z s c h m a r , Gesch. d. dt. Liedes. Bd. 1 (1911; Kl. Handb. d. Musikg. 4, 1). Günth. M ü l l e r , Gesch. d. dt. Liedes (1925; Gesch. d. dt. Lit. nach Gattungen 4). Waith. V e t t e r , Das frühdt. Lied. 2 Bde (1928; Universitas-Archiv 8). Hans Joachim M o s e r , „Corydon", d. ist: Geschichte d. mehrstimmigen Generalbaßliedes u. d. Quodlibet im dt. Barode. 2 Bde (1933). Texte: Aug. Heinr. H o f f m a n n v. F a l l e r s l e b e n , G.er d. 16. u. 17. Jh.s (1860). Franz Wilh. v. D i t f u r t h , 100 Volks- u. G.er d. 17. u. 18. Jh.s (1872). Ders., 110 Volksu. G.er d. 16., 17. u. 18. Jh.s (1875). Hans Leo H ä ß l e r , Werke (1903-1904; Denkm. dt. Tonkunst in Bayern 4,2. 5). Einl. v. Ad. S a n d b e r g e r , Bd. 5, S. XI-XLIII. Chr. v. S c h a l l e n b e r g , Werke. Hg. v. Hans H u r c h (1910; BiblLitV. 253). Das dt. G. in Österreich von 1480-1550. Bearb. v. Leop. Ν ο w a c k (Wien 1930; Denkm. d. Tonkunst in österr. 72). Rez.: Leo S e h r a d e , Zs. f. Musikw. 15 (1932/33) S. 184-190. Das Muckennetz. Alpenländ. Gesellschaftslyrik d. 17. Jh.s. Hg. v. Leop. S c h m i d t (1944; SBAKWien 223, 4). Einzel-Abhandlungen: Fritz Ad. H ü n i c h , Das Fortleben d. älteren Volksliedes im Kirchenlied d. 17. Jh.s (1911; Probefahrten 21). Rud. V e l t e n , Das ältere dt. G. unter d. Einfluß d. ital. Musik (1914; BtrNLitg. 5). H. J. M o s e r , Renaissancelyrik dt. Musiker. DVLG. 5 (1927) S. 381-412. Elisabeth D a h men, Die Wandlungen d. weltlichen dt. Liedstils im Zeitraum d. 16. Jh.s. Diss. Königsberg 1934. Helm. Ο s t h ο f f , Die Niederländer u. d. dt. Lied 1400-1600 (1938; NDtFsdign.

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§ 6. Das Sprachgefühl verlor das Unterscheidungsvermögen zwischen kurzen (nicht dehnbaren) und langen Tonsilben, nachdem die kurzen offenen Tonsilben gelängt wor40·

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Hebung und Senkung

den waren. Daß trotzdem audi im heutigen Dt., nicht nur in den Maa., die sich der nhd. Dehnung entzogen haben, erhebliche Quantitätsunterschiede bestehen, ist nicht zu bestreiten (s. Akzent § 2 b). Sie liegen aber unter der Bewußtseinssdiwelle, und für die Systembildung des nhd. Verses würden Quantitätsfragen keine Rolle spielen, wenn sie nicht als antikes Bildungsgut hineingetragen worden wären. Die antike Prosodie bestimmte die Silbenquantitäten so: Eine Silbe ist von Natur (φύσει, natura) lang, wenn sie einen langen Vokal oder Diphthong enthält und durch Konsonanz vom nächsten Vokal getrennt ist. Ist der Vokal kurz, so müssen mindestens zwei Konsonanten, der zweite jedoch nicht unbedingt in der gleichen Silbe oder dem gleichen Wort, folgen, wenn die Silbe lang sein soll. In diesem Fall ist die Silbe lang durch „Satzung" (θέσει, positione; gemeint war „Übereinkunft", später als „Stellung" umgedeutet, was dem Tatbestand nicht übel entspricht). Kurz ist eine Silbe mit kurzem, nicht durch Konsonanz gedecktem Vokal. Die sprachlichen Unterschiede zwischen den antiken und den germ.-altdt. Quantitäten sind demnach gering; antike und germ.-altdt. Metrik unterscheiden sich nur darin, inwiefern der Vers darauf Rücksicht nimmt: beim germ.-altdt. Verse überwiegt die Berücksichtigung der Tonstärke. Des weiteren suchten die antiken Metriker das Maßverhältnis der langen zu den kurzen Silben zu bestimmen, in der Regel durch die Gleichung lang : kurz = 2:1. Die Theorien der antiken Metrik drangen schon in die mal. Musik- und Verstheorie ein. Die musikalische Moduslehre, die auch für die mal. Liedkunst in Deutschland eine Rolle spielt, übernahm sie halb mißverstehend (s. Takt). Heinrich von Hesler (um 1300) und Nikolaus von Jeroschin (um 1340) kennen die antike Quantitätsregel lang : kurz = 2 : 1 . Der Humanismus macht den Versuch, quantitierende Verse nach dem Muster der Alten zu bilden. Die Grammatiker beurteilen die dt. Sprache nach den Regeln der antiken Prosodie: Schottel spricht von längerer, kürzerer und mittlerer Wortzeit, noch für Gottsched sind die Positionsregeln und die Formel 2 : 1 auch im Dt. unbedingt gültig. Klopstock sieht tiefer. Er trennt als Er-

ster bewußt metrische und grammatische Quantität; er erkennt, daß die sprachlichen Quantitäten nicht fest sind, daß es Dehnungen und Kürzungen gebe und der Vers den Tonfall der Prosa verändere, daß die Abstufung der Quantität dem Sinngewicht der Wörter und Silben folge. Diese Erkenntnisse gingen später wieder verloren. Moritz, Voß und Minckwitz (s. § 4) nähern sich wieder stark den antiken Anschauungen, und sie bestimmen in weitem Maße die Praxis der Nachahmung antiker Verse bei den Klassizisten des 19. Jh.s. Die Nachbildung antiker Verse im Deutschen wurde also nicht rein auf das akzentuelle Prinzip von H. und S. gestellt, sondern man bemühte sich, im antiken Sinne auch auf Lang und Kurz zu achten, und verwikkelte sich dabei, vor allem um Länge und Kürze in der Senkung zu unterscheiden, in prosodische Schwierigkeiten. Das Ergebnis war nicht nur negativ: Ausschluß sprachmöglicher Füllungen (ζ. B. anfangen für den Daktylus — ~ ^ wegen des Ne'bentons, der „Länge", auf der 2. Silbe) und vor allem falsch gewogene Spondeen (darüber s. Antike Versmaße § 1). Das genaue Hinhören auf die „Längen"abstufungen der Sprache führte dem dt. Vers Stilwerte zu, die ihn bereicherten, besonders dann, wenn der Schulzwang der antiken Regel nicht mehr unmittelbar wirkte (rings mich anglühst; sich an mein Herz drängt). Fr. S a r a η , Die Quantitätsregeln der Griechen und Römer, in: Stand und Aufgaben der Sprachwissenschaft, Festsdir. f. Wilh. Streitberg (1924) S. 299-325. Andr. H e u s l e r , Dt. und antiker Vers (1917; QF. 123). § 8. Abgesehen vom silbenzählenden Vers der Humanistenzeit strebt der germ.-dt. Vers nach einem sinnvollen Verhältnis von Sprachakzent und metrischer H. und S. Am reinsten scheint der Stabreimvers dies verwirklicht zu haben. Die Sprachkola treten zu den Versgipfeln in eine frei wechselnde, aber geregelte Proportion, eine Spannung zwischen sprachlicher Prosodie und dem Metrum tritt nicht ein, weder metrische Drükkung noch occasionelle Betonung ist möglich. Nur die Vorsenkung kann in besonderen Fällen und Stilen außerhalb des eigentlichen Versgeschehens bleiben. Der altdt. Reimvers bewahrt davon viel, solange er füllungs-

Hebung und Senkung — Heimatkunst frei bleibt. Je freier er füllt, desto klarer kann er den Tonfall der Spradie durdi die Abstufung von Haupt- und Nebenikten einfangen. Die beschwerte Hebung, vielleicht ein rhythmischer Rest aus der Stabreimkunst, wird im Vers der mhd. Blütezeit zum besonders eindrucksvollen Kunstmittel. Audi der alternierende Vers, der den Wechsel von H. und S. starr festgelegt hat, wird lebendig durch die Abstufung der Schwerewerte, die sich in ihm erheblich verfeinert. In ihm stellen sich auch die metrischen Drückungen in reicherem Maße ein, die auch als Mittel zur Verlebendigung des Grundmaßes, diesmal von der Senkung her, angesehen werden müssen. Die Einmischung des quantitierenden Prinzips bei den Antike-Nachbildnem, gerade nach einer Periode des Alternierens, bereichert den nhd. Vers mit einer neuen sprachlichen Dimension, die mit dem Hebigkeitsprinzip in Spannung und Ausgleich tritt. Paul Habermann — Wolfgang Mohr Heimatkunst § 1. Der Naturalismus hatte in den 90er Jahren des 19. Jh.s die bürgerl. Gesellschaft in Deutschland gezwungen, vor den Schattenseiten des Lebens nicht länger die Augen zu verschließen. Der offiziell zur Schau getragene Optimismus hatte auf oft naive und robuste Weise materiellen Wohlstand, wirtschaftliche Expansion und technischen Fortschritt mit Kulturhöhe gleichgesetzt und sich im poetischen Historismus von Geibel und C. F. Meyer bis zu Wildenbruch einen prunkvollen kulturhistorischen Rahmen zur Gegenwart geschaffen. Wenn auch diesem Bilde schon immer die Schatten einer schmerzlichen und stillen Resignation beigegeben waren, ζ. B. bei Wilhelm Raabe und Theodor Fontane, so hatten doch erst die Naturalisten den alarmierenden Versuch gemacht, die Gegenwart ohne Rücksicht und Beschönigung in einer radikal anderen Sicht zu zeigen: die Schäden der Zeit, das soziale Elend, Not und Armut, Krankheit und Verfall, das Morsche und Hohle des gesellschaftlichen Gefüges, Laster und Lüge. Das Bestreben, gegenüber der konventionellen Schönfärberei der Epoche, gerade das, was häßlich an ihr ist, nicht zu verschweigen und zu vertuschen, führte den Naturalismus unvermeidlich zu einer gewissen Einseitig-

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keit. In der Revolte gegen den 'guten Ton' der bürgerl. Lit. liegt das Verdienst des Naturalismus, aber auch seine Grenze. Eine der nächstliegenden, natürlichsten und simpelsten Reaktionen auf diese neue Wirklichkeitsdarstellung ist die H.-Bewegung, die in den letzten Jahren des Jh.s entsteht. Die Sache selbst, die Heimatdichtung, ist nicht neu (s. Schäferdichtung, Dorfgeschichte), und wenn man darunter verstehen will, daß das dichterische Schaffen raumund zeitgebunden und von natürlichen Faktoren abhängig ist, die im Kunstwerk wieder zutage treten, dann ist jede echte Dichtung in diesem Sinne Heimatkunst. An dieser definitorischen Schwierigkeit leidet auch die theoretische Begründung der H.-Bewegung — soll die Heimat der schöpferische Urgrund oder Stoff und Gegenstand der Dichtung sein oder beides zugleich? —, so daß sie in ihren programmatischen Forderungen zwischen banalen Verallgemeinerungen und provinzieller Enge schwankt. § 2. Die Wortführer der H.-Bewegung sind der aus dem Elsaß gebürtige Friedrich L i e n h a r d (1865-1929) und der aus Friedrich Hebbels Heimat stammende Adolf B a r t e l s (1862-1945). Im Jahre 1900 geben beide die kurzlebige Zs. Heimat. Blätter für Literatur und Volkstum heraus. 'Los von Berlin!' ist der Kampfruf Lienhards, den er auch in seiner Programmschrift Die Vorherrschaft Berlins (1900) propagiert. Angewidert von großstädtischem Lit.betrieb, snobistischem und dekadentem Cafehausliteratentum und geschäftstüchtiger Konjunkturmacherei weist er den Dichter in die Reinheit und Stille der Natur zurück. „In unserer Literatur ist nicht der Pulsschlag der Volksseele." Der romantisch-idealistische Schwärmer Lienhard, der 1895 mit seinen Wasgaufahrten und den Liedern eines Elsässers die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, trachtet jedoch nicht nach ländlicher Beschaulichkeit und Idyllik, sondern ihm ist die H. nur Vorbereitung und Durchgangsstufe zu einer idealen 'Höhenkunst', die er in seinen Wegen nadi Weimar (6 Bde. 1905/ 08) erstrebt und in seinem dichterischen Schaffen vergeblich zu erreichen sucht. So bleibt sein Aufruf zur 'Dezentralisation' der wirksamste Impuls, den er der H. mitgegeben hat. Die geistigen Nährväter Lienhards

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Heimatkunst

und der von ihm beeinflußten H. sind Paul de Lagarde (1827-91) mit seinen Deutschen Schriften, der 'Rembrandtdeutsche' Julius Langbehn (1851-1907) und der RichardWagner-Verehrer Heinrich von Stein (18571887). Adolf Bartels gibt der H., zum Unterschied von Lienhard, eine betont nationale, völkische Tendenz. Auch er bekämpft die Großstadt, aber vor allem wegen ihrer Begünstigung nationaler Überfremdung. Beispielhaft für die Gefahren der H. ist sein Satz: „Ich danke dafür, ein Europäer zu sein, deutsch will ich fühlen und denken, deutsch leben und sterben." Deutschheit wird dabei zum Inbegriff des Biologisch-Gesunden und Ethisch-Hochwertigen. Auch für Bartels ist die H. nur ein Mittel zum Zweck, ein Weg zur germ. Hochkultur, deren Verwirklichung der nordischen Rasse vorbehalten ist. Insofern diese geistige Gesundung nicht von der Stadt, sondern vom Lande, vom Bauerntum ausgehen muß, berührt er sich praktisch weitgehend mit den Bestrebungen von Heinrich S ο h η r e y (1859-1948) aus Jühnde bei Göttingen, der 1893 ff. Das Land herausgab, eine Zs. „für die sozialen und volkstümlichen Angelegenheiten auf dem Lande"; sie propagierte in thematisch weitgespanntem Rahmen neben der literar. Monatsschrift Der Türmer (1898 begründet von Jeannott Emil von Grotthuss) die Ideen der H.-Bewegung. In der Reihe der theoretischen Vorkämpfer verdient noch Ernst Wachler (18711945), der Begründer des Harzer Bergtheaters, mit seiner Schrift Die Läuterung deutscher Dichtung im Volksgeiste, 1897, Erwähnung. § 3. Literarisch ertragreich war die H. mehr in bezug auf die Quantität als die Qualität des Geleisteten. Der Weckruf 'Los von Berlin' hatte in der Tat eine schier unübersehbare Zahl von Heimaterzählern ermuntert, die nun das Thema Heimat in zahllosen lokalen und provinziellen, biographischen und kulturhistorischen Variationen wiederholten, ohne indessen das von Lienhard oder Bartels verkündete Ziel einer idealen bzw. rassischen Höhenkunst auch nur entfernt zu erreichen. Heinrich Spiero hat in seiner nachgelassenen Geschichte des deutschen Romans (1950) eine regional gegliederte Zusammenstellung der Vertreter der H. (S. 447-490) gegeben. Zu den be-

kanntesten gehören etwa Timm Kröger (1844), Isolde Kurz (1853), Ludwig Ganghofer (1855), Helene Böhlau (1859), Clara Viebig (1860), Wilhelm von Polenz (1861), Karl Sohle (1861), Jakob Bosshart (1862), Otto Ernst (1862), Gustav Frenssen (1863), Wilhelm Holzamer (1870), Lulu von Strauss und Torney (1873), Ludwig Findch (1876), Fritz Stavenhagen (1876), Helene VoigtDiederichs (1875), Gustav Schroer (1876) u. v. a. Ihr literar. Vorbild fanden die Heimatdichter in den Vertretern des poet. Realismus Gotthelf, Keller, Raabe, Reuter, Otto Ludwig, Klaus Groth usw. Nicht zufällig liegt das Schwergewicht der H. in Nordund Mitteldeutschland. Denn der Süden, zumal die Schweiz (s. Dorfgeschichte), hat eine ungebrochenere Tradition in der Schilderung natürlichen Lebens und Daseins und ist seiner geographischen und soziologischen Struktur nach der literar. Verstädterung gegenüber weniger anfällig gewesen. Das soll nicht sagen, daß die H. regional begrenzt sei, aber sie hat ideell im Süden weniger Neuland zu erobern und zeigt daher dort, zumal in der Schweiz, am eindeutigsten das Gepräge gehobener Unterhaltungslit. (J. C. Heer, 1859; Heinrich Federer, 1866; Ernst Zahn, 1867). Auch in Österreich bildet sich in der literar. Nachfolge von Anzengruber und Peter Rosegger mit einer 'Los-vonWien'-Tendenz die dort schon immer vorhandene Heimatdichtung zur gehobenen Unterhaltungsliteratur aus, die von Adam Müller-Guttenbrunn (1852), Emil Ertl (1860), K. Schönherr (1867), Rud. Hans Bartsch (1873), Otto Stoessl (1875), Friedrich von Gagern (1882) u. a. m. in die Breite getragen wird. Der überwiegende Ertrag der H. ist also der Hebung der Unterhaltungslit. zugute gekommen, und schon im ersten Jahrzehnt des 20. Jh.s war sie im Begriffe, zu verflachen und an ihrer eigenen Fülle und Mittelmäßigkeit zu ersticken. In der Zeit nach dem ersten Weltkrieg empfing die H. neue Impulse aus der Verbindung mit den Aufgaben und Zielen des Grenz- und Auslandsdeutschtums (Sudetenland, Oberschlesien, Ostpreußen, Siebenbürgen, Banat; Hans Grimm, Volk ohne Raum, 1926). Nach 1933 wurde das nicht sehr klare, aber dabei national

Heimatkunst — Heldendichtung überhebliche Gedankengut der H. eine leichte und willkommene Beute der nationalsozialistischen Propaganda und sie selbst damit zum stofflichen Fundament der berüchtigten Blut-und-Boden-Literatur; es ist nicht zu leugnen, daß ein großer Teil der Heimatdichter aus Konjunkturgründen und aus ideeller oder charakterlicher Schwäche der polit. Verführung erlag. Uber diesem späteren Mißbrauch darf jedoch heute die notwendige historische ursprüngliche Funktion der H. nicht übersehen werden, die viel mehr darin bestand, literaturfremde Volksschichten zur Kunst zu erziehen und für die Dichtung zu gewinnen, als selbst hohe Kunst zu schaffen. Die H. war das Produkt einer Epoche, die ein zu schwach entwickeltes und daher plötzlich übersteigertes Nationalbewußtsein durch emotionale Bindungen an Heimat und Volkstum zu festigen suchte. Aber kein noch so intensives Heimatgefühl kann politische Erfahrung und formales Können ersetzen. Auf dieser Einseitigkeit beruht zugleich auch die künstlerische Schwäche der H.-Bewegung. Friedr. L i e η h a r d , Ges. Werke (1924 ff.). Ders., Türmerbeiträge aus d. Jgg. 1-24, Okt. 1898-Sept. 1922, als Festsehr. z. Jg. 25. Hg. v. Paul B ü l o w (1922). Paul B ü l o w , Friedr. Lienhard (1923). Adolf B a r t e l s , Heimatkunst (1904; Grüne Blätter f. Kunst u. Volkstum 8). Ders., Die dt. Dichtung d. Gegenw. Die Alten u. d. Jungen (1897; 9. Aufl. 1918). Neue Ausg. u. d. T.: Die dt. Dichtung von Hebbel bis zur Gegenwart. 3 Teile (1922). Ders., Gesch. der dt. Lit. Bd. 3 (1928). Ders., Der Bauer in d. dt. Vergangenheit (1900; Monograph, ζ. dt. Kulturgesch. 16). Albert S ο e r g e 1, Dichtung u. Dichter d. Zeit (21. Aufl. 1928) passim. Werner M a h r h o l z , Dt. Lit. d. Gegenw. Durdiges. u. erw. v. M. Wieser (1930) passim. Erika J e n n y , Die Heimatkunstbewegung. Ein Beitr. z. neueren dt. Lit.gesdi. Diss. Basel 1934. Leonore D i e c k , Die lit.gesdi. Stellung d. Heimatkunst. Diss. München 1938 (dort auch weitere Lit.). Paul Erich S c h ü t t e r 1 e , Der Heimatroman in d. dt. Presse d. Nachkriegszeit. Diss. Würzburg 1936. Martin Greiner

Heldenbrief s. Heroide. Heldendichtung § 1. Hd. ist Dichtung eines bestimmten Stoffkreises, und da Stoffe im MA. durch das ihnen eigentümliche Geschichts- und Menschenbild gattungsprägend zu sein pfle-

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gen, blieb die Gattung trotz wechselnder Formen jahrhundertelang erstaunlich fest. Ihr Gegenstand ist die H e l d e n s a g e , die mündliche Überlieferung erzählenswerter, menschlich erregender Ereignisse aus dem Umkreis der eigenen Stammesgeschichte; Könige, Krieger, Recken, in einem Fall ein kunstvoller Schmied, sind die Helden. Das histor. Geschehen der Völkerwanderungszeit bildet das Fundament. In späteren Zeiten kommt nur noch wenig hinzu; das HerzogErnst-Epos zeigt, daß der Konflikt Ottos I. mit Liudolf von Schwaben noch echt h.sagenhaft weitererzählt und umfabuliert werden konnte, die AdeZger-Geschichte in der Kaiserchronik überliefert noch eine stammhaftbairische, aber wohl frei erfundene H.sage; die ganz abenteuerlich-novellistische Sage von Heinrich dem Löwen zeigt, daß es im 13. Jh. mit der Neubildung echter H.sage endgültig aus war. H.sage gehört also einer bestimmten Epoche in derVolksentwiddung an. Die engl. Forschung, die aus dem Vergleich von H.sage und H.dichtung verschiedener Kulturen einen gemeinsamen Typus zu ermitteln sucht, spricht von dem heroic age. Das Menschenbild der H.sage stellt den hervorragenden, kriegerischen Helden dar, der, meist als Repräsentant einer Gemeinschaft, eines Stammes oder Volkes, und für sie Taten vollbringt, Aufgaben erfüllt oder Schicksale zu bestehen hat, die über das gemeine Maß hinausgehen und Bewunderung und Erschütterung erregen. Ihn stachelt ein ungewöhnlicher Tatendrang an, er hat sein eigenes, überaus empfindliches Ehrgefühl, seine Aufgaben oder sein Schicksal drängen ihn auf seinen Weg, von dem es kein Ausweichen gibt. Ursprünglich bestand eine unmittelbare Verbindung zwischen dem Helden und der Gemeinschaft, die ihn als einen der ihren verehrte und von ihm zu erzählen und zu singen wußte. Wenn sie verlorenging, konnten sich benachbarte Gemeinschaften der Sage annehmen, solange die Menschenwertung bei ihnen die des heroic age blieb. Wenn das aufhörte, war es auch mit der H.sage vorbei. Die heroische Zeit der germ. Völker scheint wenigstens bis in die Tage Tacitus' zurückzureichen; die Arminius-Lieder, die er Ann. II, 88 erwähnt, deuten darauf. Der Kem des erhaltenen

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Heldendicfatung

germ. Sagenguts gehört in die Völkerwanderungszeit, es lebte in Deutschland nach bis über das hohe MA. hinaus, vom landfesten Adel alten Schrots, Laien und auch Geistlichen, und vom gehobenen Bauerntum getragen. Es war die eigenwüchsige Geschichtsüberlieferung dieser Kreise. Von der Gründung des christlichen deutschen Reiches an aber wird das Geschichtsbild und die Wertwelt der H.sage vom christlich-mal. Geschiditsbewußtsein angefochten. „Was hat Ingeld mit Christus zu tun?" schreibt schon Alkuin 797 nach Lindisfarne, und diese Konfrontation der „alten Dinge" mit der neuen, ewigen Wahrheit wiederholt sich durch die Jh.e hin: im Eingang des Annoliedes, in Meinhards Klagen über die H.sagen-Interessen Gunthers von Bamberg, bis hin zu Hugo von Trimberg (Grimm, Heldensage Nr. 76, 4). Daß germ. H.sage aus dem Göttermythos hervorgegangen sei, läßt sich nirgends sicher nachweisen und nur an wenigen Stellen vermuten. Auch scheint sie sich nicht so oft ins Heroisch-Mythische erhöht zu haben wie die H.sagen anderer Völker. Immerhin kommt das Thema der Beziehung des Helden zu den Göttern vor, namentlich in skandinavischen Sagen, und es ist dort wohl nicht erst jung und sekundär (s. Götterdichtung § 6). Die meisten H.sagen aber bleiben im Raum der reinen Mensdiengeschidite. Internationales Erzählgut heroischen, novellistischen und märchenhaften Stils können sie in sich aufnehmen, wenn es sich mit ihrem Heldenbild verträgt, und ihrer heimischen Wirklichkeit anverwandeln. Im Heimisch-Geschichtlichen liegt ihr Kern, erst die Beziehung zu einer für wahr gehaltenen Tradition macht eine Fabel zur H.sage. Dadurch setzt sich die H.sage noch im Hochma. ab von der christlich-antiken Geschichtswelt der Bibel, Trojas, Aeneas', Alexanders und der röm.-dt. Kaiser, von der Orientwelt der Spielmannsepen und der symbolischen, europäischritterlichen Geschichtswelt der höf. Epen. Wird die heimische Wirklichkeit verdunkelt (wie in der Chudrun) oder aufgegeben (Wolfdietrich), dann gerät das Denkmal an die Grenze der Gattung. § 2. Für die Forschung der Romantik waren H.sage und „Epos" („Volksepos") austauschbare Begriffe. Die übernationale

und volkskundliche H.sagenforschung hat daran festgehalten (der Begriff Epic bei den Engländern; John Meier) oder bemüht sich, den Begriff „Epos" wiederzugewinnen (K. Wais). Das folkloristische Material zeigt in der Tat, daß H.sage dort, wo sie lebendig ist, meist als mündliche D i c h t u n g lebt, und zwar als rhapsodische Dichtung ohne feste Gestalt, oft so, daß das epische Lied bei jedem Singen neu entsteht. Das Material der Dichter ist einerseits die Gestalt des Helden und ein gewisses, auch nicht völlig unveränderliches Fabelgerüst, andrerseits ein reicher Bestand an typischen szenischen Verläufen und ein breites sprachliches Formelgut, das dazu paßt und nach Bedürfnis ausgewechselt werden kann. Was in germ.-dt. Überlieferung erhalten ist, läßt sich mit diesem Befund nicht genau in Deckung bringen. Wir kennen das H e l d e n l i e d der Frühzeit (Typ Hildebrandlied) und das H e l d e n e p o s aus dem frühen England und aus mhd. Zeit (Typ Beowulf und Nibelungenlied). Das Epos tritt zwar als dichterisch mehr oder weniger durchgebildete, buchmäßige Hochform auf, enthält aber doch so deutliche Elemente einer typischen Szenengestaltung, unpersönlich-objektiver Darstellung und formelhafter Sprache, daß man hinter ihm eine freiere, den Wortlaut nicht festlegende rhapsodische Form des „Vortragsliedes" oder „Kurzepos" wohl vermuten könnte. Die erhaltenen H.1 i e d e r aber schlagen keine Brüdce zu den rhapsodischen Formen. Sie sind sehr eigengesichtige, jeweils einmalige Prägungen der Sage. Noch bei den Eddaliedern, erst im 13. Jh. aufgezeichnet, hebt sich jedes als Individualität heraus, ältere lassen sich von jüngeren unterscheiden, wo Varianten auftreten, zeugen sie von einer abweichenden Auffassung des Themas, die Formelhaftigkeit ist unvergleichlich geringer als etwa in der Volksballade und beruht meist nicht auf dem Bedürfnis des Rhapsoden nach der ep. Formel, sondern auf dem Formelgut der dargestellten Wirklichkeit; sogar die Epitheta individualisieren bis zu einem gewissen Grade. Uralte, nicht erst im Norden entstandene Wortlaute bleiben erhalten; auch der Versstil läßt Altersschichten und Herkunftsspuren erkennen. Es ist kein Zweifel, daß diese Lieder nicht immer wieder neu

Heldendichtung geschaffen und umgeschaffen, sondern als einmalige Schöpfungen im Wortlaut bewahrt wurden, so treu, wie es das Umsetzen von Dialekt zu Dialekt und die Kraft der Erinnerung ermöglichte. Auch die mehrfach wiederkehrende Bezeichnung antiquissima carmina u. ähnl. geht wohl nicht nur auf den Stoff, sondern auch auf den Wortlaut der Lieder. A. Heusler unterschied Lied und Epos als Gattungen: Hier die kurze, gedrungene, mündliche Dichtung, dort die breite, personen- und episodenreiche Aufschwellung fürs Buch, der Umfang der Fabel in beiden aber gewöhnlich gleich, beides einmalige und kaum variable Leistungen bestimmter Dichter. In einem aber blieb Heusler der alten Gleichsetzung von H.sage und „Epos" treu: Es gab für ihn keine H.sage außerhalb der Dichtung. Heute ist man bereit, sowohl die mündliche, in wechselnder Form als „Wahrheit" weitererzählte H.sage anzuerkennen wie auch damit zu rechnen, daß es, neben dem „klassischen" H.liede und dem buchmäßigen H.epos vorausgehend, eine freiere und wandelbarere epische Form der H.dichtung gegeben habe. Die Geschichte der H.sage kann sich stützen auf die Inhalte der bewahrten Lieder und Epen, auf Inhaltsangaben, die entweder ausdrücklich als Sagen erzählt werden oder in Geschichtswerke eingegangen sind, auf gelegentliche Erwähnungen und Zitate, auf Eigen- und Ortsnamen, die vom Leben einer Sage zeugen, auf Bildüberlieferung. Wo die dichterische Form fehlt, tut man gut, sich zu bescheiden und den Gegenstand als Sage zu betrachten. Auch als solche gibt sie durch ihre Motive, Szenen, Erzählverläufe genug her, um zu erkennen, weswegen sie erzählenswert schien, wie sie die Helden und ihre Lebenswelt sah und welches Ethos sie beseelte: ein Musterbeispiel dafür, daß Dichtung sich nicht nur vom einmaligen Dichterwort her erschließt. Andrerseits erfordern die erhaltenen H.lieder und H.epen eine für jedes Werk besondere und die Werke untereinander vergleichende Analyse ihrer dichterischen Eigenart. Erst dann wird sich ausmachen lassen, wie weit sie individuelle Schöpfungen sind, und bis zu welchem Grade sie teilhaben am rhapsodischen Stil einer kollektiven „Volksepik".

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Heldendiditung

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§ 3. Für die agerm. Zeit ist das H e l d e n l i e d die bezeichnende Hochform, in der H.sage als Dichtung lebte. Es ist als eine Schöpfung der Völkerwanderungszeit anzusehen. Von der Form einer unfesten, rhapsodisdien Helden-, Zeit- und Preisdichtung, wenn es sie gegeben haben sollte, hat es sich offenbar weit entfernt; fremde Formvorbilder lassen sich aber ebensowenig ermitteln. Es war eine höfische Poesie, die vor Herrschern und adligen Kriegern von einem sangeskundigen Mitglied der Gefolgschaft vorgetragen wurde. Ausgegangen ist es vielleicht von got. Fürstenhöfen; es hat sich dann offenbar allen andern germ. Stämmen mitgeteilt und mag ein tausendjähriges Leben geführt haben. Die Uberlieferungsverhältnisse haben es dahin gebracht, daß auf die Nachwelt fast nur der bewahrte Bestand des fernsten und langlebigsten Kreises, des nordgermanisdhen, in einiger Fülle gekommen ist. Die Edda genannte Sammlung isl. Herkunft ist unsere Hauptquelle; ein paar anderweit überlieferte Eddica kommen hinzu. Die nord. Überlieferung bewahrt neben Liedern und Sagen, die im Norden entstanden sind, und neben Liedern südgerm. Herkunft jüngeren Stils eine Reihe von Stücken, die südliche Lieder der Völkerwanderungszeit verhältnismäßig getreu widerspiegeln. Keineswegs hat die Sage in ihnen gewissermaßen von selbst Liedform angenommen. In jedem Falle mußte eine dichtende Individualität den Stoff von sich aus zum Liede gestalten und konnte dabei durch Umbildung der Tradition, eigene Hinzuerfindung, eigene Deutung des Geschehens und Ausschöpfung anderer Quellen selbständig verfahren. Die erhaltenen H.lieder bezeugen es: Sie trafen eine dichterisch sinnvolle A u s w a h l aus der Sage, und die Sage be-

gleitete weiterhin, fülliger und wandelbarer in ihrem Stoff, die Lieder. Nachdem diese existierten, bestimmten sie aber entscheidend mit, was als Sage Gültigkeit beanspruchen durfte. Vor allem trug ihr Vorhandensein dazu bei, daß die Sage am Leben blieb, auch nachdem die Volkstümer, deren heimische Geschichtsüberlieferung sie einmal darstellte, längst verschwunden waren. Die ein Jahrtausend währende Tradition der germ. H.sage und ihre kräftige Ausstrahlung über ganz Europa ist von ihren festen poetischen Prägungen wesentlich mitgetragen worden. Dem aristokratisch-individualistischen Charakter des H.liedes entspricht es, daß die großen Völkergeschicke der Zeit zurücktreten müssen hinter Persönlichkeit und Erlebnis des Einzelnen. Die politischen Vorstellungen und Ausmaße schränken sich ein auf die einfach menschlichen Bindungen von Sippe und Gefolgschaft. Die Hunnenschlacht wird zu einem Bruderkampf im engsten Sinne, während sie es in der Wirklichkeit im weitesten Sinne gewesen sein mag; der Vernichtungsfeldzug der Hunnen gegen Burgund erscheint als eine verräterische Mordtat des Königs Attila an seinem Schwager Gunther. So wird die Handlung auf eine einfache, aber tiefste menschliche Leidenschaften aufwühlende Form gebracht. Es sind jedoch keine privaten Konflikte; die Helden erleben, daß sie als einzelne, ganz auf sich gestellt, ihre geschichtliche Rolle durchzustehen haben. Das verhängnisvolle Schicksal' der besten und begabtesten Stämme der Völkerwanderungszeit drückt sich in der tragischen Grundstimmung der meisten Lieder aus. Got. Stoffe behandeln die Lieder von der Hunnenschlacht, von König Ermanrich (Hamdirlied der Edda), das dt. Hildebrandlied und die vermutbaren Lieder von Dietrich von Bern, die in der mhd. Dietrichepik nachklingen. Bei den Burgunden entstand wohl das Lied vom Burgundenuntergang (Altes Atlilied der Edda), bei ihnen oder den Franken das von Sigfrids Tod (Altes Sigurdlied der Edda), in dem sich Verhältnisse der Merowingerzeit zu spiegeln scheinen. Auf fränk. Ursprung mag die kaum mehr erschließbare Liedfabel von Wolfdietrich (d. i. dem Chlodwigsohn Theudebert?) zurück-

Heldendichtung gehen. Der Ursprung eines vermuteten Liedes von Walther und Hildegund (zuerst im Waltharius und im ae. Waldere bezeugt), von Wieland (Wölundlied der Edda), der Sage von Sigmund und der sicher von der Seeküste stammenden Geschichte von Hilde und Hetel (Grundlage des Mittelstüdcs der Chudrun) ist noch unaufgeklärt. Ursprung und früheste Gestalt der nord.-ae. Liedfabeln und Sagen sind meist ebenfalls rätselhaft geblieben. § 4. Die Lieder sind in ihrer ursprünglichen Sprachform sämtlich untergegangen, da ihre Lebensform mit dem Buch nichts zu tun hatte. Wo nur mittelbare Sagenquellen, besonders bei den lat. Geschichtsschreibern, vorhanden sind, wird man nicht sicher auf Lieder schließen können. Ebensowenig wie jede griech. Heroensage zur Tragödie wurde, stieg jede germ. H.sage in die gehobene Kunstform des H.liedes. Wichtig sind die Zeugnisse in den Volkssprachen. Die hdt., nddt., ae. und awestnord. Poesie weist vom Beginn der Sdireibzeit bis zum Ende des 13. Jh.s zahlreiche Spuren der H.lieddichtung auf, sowohl Anspielungen und inhaltliche Wiedergaben wie unmittelbare Verwertung und Verarbeitung der alten Liedreste, aus denen sich unter diesen Umständen manches wörtliche Überbleibsel durch Jh.e hat retten können. Das Hauptkontingent wird aber gestellt durch die altnord. Lieder eddischer Art, die in zäher Treue viele Züge, ja Wortlaute bis zu ihrer Aufzeichnung festgehalten haben. Die fünf altertümlichsten gehen auf südgerm. Vorstufen zurück: Hunnenschlacht, Hamdirlied, Sigurdlied, Atlilied, Wölundlied. Sie bewahren auch das ursprüngliche Lokal und sonstige Umweltzüge erstaunlich treu, die Hunnenschlacht sogar noch des südruss. Gotenreichs zu Beginn der Völkerwanderung. Erst erheblich jüngere Lieder lokalisieren südgerm. Sagen in Dänemark. Ob die ursprünglich ostgerm. Eddalieder (Hunnensdll., Hamdirl., Atlil.) auf dem alten germ. Ostweg von Südrußland zur Weichselmündung in den Norden gewandert sind oder durch Mitteleuropa, darüber sind die Meinungen geteilt. Es fehlt jedoch nicht an Spuren, daß sie auch in Deutschland gelebt haben. Uberhaupt müssen manche der alten H.lieder dichtungsgeschichtlich eng mitein-

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ander verbunden gewesen sein. Sie haben aufeinander gewirkt: durch ihr Problem (Verwandtenkampf in Hunn. und Hild.), durch das Vorbild eindrucksvoller Szenen (die Verhandlung in der Königshalle: Hunn. und Burg.; der Späher auf der Warte: Hunn. und Rabenschi.), durch gleiche Heldenrollen (Burg., Sigfr. und Walther), durch Herübernahme motivischer Einzelheiten (das Angebot, einen mit Gold zu überschütten, in Hunn. und Waltharius). Die im Norden in der Prosa der Völsungasaga überlieferte Sigmund-Fabel ist so stark nach einer Fassung des Burgundenuntergangs umstilisiert, daß die ältere Kemfabel dabei so gut wie ausgelöscht wurde. Für England ist in dem frühen Merkgedicht Widsip (7. Jh.) ein reiches Repertoire von H.sage, die wohl großenteils irgendwie liedhafte Form hatte, bezeugt. Im Beowulf ist sie schon nach dem Muster antiker Vorbilder zum bewußt geformten Buchepos geworden, dem dann das Waldere-Epos mit südgerm. Sagenstoff folgte. Ein H.lied, der Finnsburhkampf, ist teils als Bruchstüdc, teils in der Nacherzählung im Beowulf, erhalten. Es macht einen episch fülligeren Eindruck als die Eddalieder und das ahd. Hildebrandlied. Vielleicht stehen wir mit ihm der rhapsodischen H.lieddichtung näher, die ja wohl auch dem BeowulfEpos Darstellungsmittel geliefert hat. Die Grenze zwischen H.dichtung und Preislied verschwimmt in England (Widsip; Preislied auf Beowulfs Taten mit Heldensagenanspielungen, Beowulf 867 ff.), desgleichen die Grenze zum Zeitlied (Byrhtnop, anno 991); auch das kann darauf deuten, daß dort die H.dichtung rhapsodischer Art stärkere Spuren hinterlassen hat. Sehr spärlich ist, was der dt. Boden spendet. Dafür kommt ihm aber der Ruhm zu, das ältesterhaltene, kennzeichnendste und edelste Stück der völkerwanderungszeitlichen Hochform bewahrt zu haben, das Hildebrandlied, das, auf got. Sage beruhend, hochdeutscher, letztlich vielleicht langobard. Herkunft ist. Die barbara et antiquissima carmina, deren sich nach Einhards bekannter Notiz Karl der Große annahm, darf man wohl als eine Sammlung dt. H.lieder ansehen, aus historischem Interesse zusammengebracht, und damit als ein weiteres

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Heldendichtung

Zeugnis für das kräftige Leben des H.liedes in karlischer Zeit. Auch nach dem Ende seiner germ. Blütezeit erlosch die Strahlkraft des H.liedes nicht. Die Edda enthält außer den frühen Liedern noch zahlreiche jüngere aus verschiedenen Entwicklungsstufen. Die Formen wandeln sidi; neben das doppelseitige, Erzählung mit Dialog verbindende Ereignislied treten rein dialogische und rein monologische Formen, neben die fortlaufende Erzählung eines Sagenzusammenhangs im Liede der elegische Rückblick oder die Sagenepisode. Manche jüngeren Eddalieder, auch solche mit südgerm. Stoff, haben unverkennbar Motive und Formen der mal. Volksballade entlehnt; sie stehen darin und in ihrem Stoff immer noch unter mitteleuropäischem Einfluß, behalten aber die alte Stabreimform bei. In Deutschland liegt die Weiterentwicklung des H.liedes im Dunkeln, wie ja schon das nur zufällig aufs Pergament geratene Hild. dort ein Unicum ist. Indirekte Zeugnisse fehlen nicht: Erwähnungen in annalistischen und chronikalischen Werken (ζ. B. Iring bei Widukind von Corvey; der niedersächs. Sänger, der in Schleswig ein Lied Von Kriemhilds Verrat sang, bei Saxo Grammaticus), frühe Episierung in lat. Sprache (Waltharius), Spiegelung der H.sage in der Namengebung, kritische Auseinandersetzung der Geistlichkeit mit dem H.sagenthema (s. § 1; dahin stellt sich auch der Vergleich der Alexanderschlacht mit der Schlacht auf dem Wülpenwert in Lamprechts Alexander), gelegentliche Übernahme der Darstellungsweise der H.dichtung in den Buchwerken (ζ. B. Adelger und Lucretia in der Kaiserchronik), der bekannte Liederkatalog des Marner, schließlich das große Kompendium dt. H.sage in der norweg. Thidrekssaga. Wie weit die klassische Hochform des H.liedes da nodi nachwirkte, wie weit formlosere Vortragsstüdce und Kurzepen oder schon das Buchepos, das ist die Frage. Vom 12. Jh. an hat die herangeblühte H.dichtung jedenfalls eine erstaunlich anregende Kraft auf die Buchdichtung ausgeübt. Erst als aus ihr das H.epos geworden ist, gewinnt die ganze Dichtgattung für uns wieder Leben, auch jene ursprünglicheren, liedhaften Formen. Allerdings finden sie auch später nur ganz

selten zur Aufzeichnung (Jüngeres Hildebrandlied, Lied von Ermenrikes Dot). Aber das H.lied erweist sein Dasein und seine anregende Kraft eben dadurch, daß es mit zur Keimzelle und Veranlassung der neuen Erzählgattung großen Ausmaßes wird, des H.epos. § 5. Die Vorstellung, die wir von C h a r a k t e r u n d E t h o s des H.liedes gewinnen, beruht allein auf den Hochformen der Gattung, die im Norden und im ahd. Hild. erhalten sind. Die Eddalieder sind allerdings ungemein gedrungen, viele haben auch ein langes Wanderleben von Mund zu Mund über weite Räume hinter sich, und dabei mag allerlei Wortlaut mißverstanden, verändert und verlorengegangen sein. Aber sie sind doch wohl keine Schrumpfformen ehemals viel fülligerer Lieder. Allemal hat die Sage, der es nicht um eine dichterische Auswahl zu tun war, mehr zu erzählen gewußt als die Lieder. Die Auswahl bezog sich schon auf die Qualität der Stoffe: Es wurden solche gewählt, die ein menschliches Problem enthalten, den Zwiespalt zwischen der Ehre des Königs oder Kriegers und anderen Rücksichten, schwierige Rache u. ähnl. Der Stoffumkreis der H.sage war erheblich weiter, er enthielt auch heroische Abenteuer, Drachenund Riesenkämpfe, erfolgreiche Brautwerbung und -entführung u. dgl. mehr, und manches davon mag auch in H.dichtung dargestellt worden sein. Es wird auch eine Grenzschicht gegeben haben zwischen H.dichtung und Preislied, H.dichtung und Zeitlied. Aber über diese Formen wissen wir nichts. Erhalten sind nur Denkmäler der höchsten und individuellsten Form, die die germ. H.dichtung entwickelt hat. Ein hoher und mit der größten Sparsamkeit gekennzeichneter, kaum je ausdrücklich verherrlichender Idealismus beherrscht diese Poesie und drückt sich aus durch die heldische Lebensführung und das heroische Sterben. Das Renommistische spielt ebensowenig eine Rolle wie das Berserkerhafte. Das Wort ist sparsam, noch sparsamer aber ist die Schilderung der Tat, die fast nur im Spiegelbild der Reden erscheint. Die Kennzeichnung der auftretenden Personen verirrt sich kaum je zur Erhebung der Großtat. Von dem Bezirk des Preisliedes und des

Heldendichtung tatenfrohen Zeitliedes hat sich das klassische Heldenlied weit entfernt. Der Atem des H.liedes ist dramatisch, und es findet seinen Höhepunkt in der Redeszene, dem wohlabgestuften an- und abschwellenden Dialog. Er pflegt das Kernstück dieser Lieder zu sein, und was dazwischen steht, hat manchmal nur den Umfang und Charakter der szenischen Bemerkung. Ein Hauptcharakterzug des H.liedes ist seine Gipfeltechnik. Das Interesse von Dichter und Hörer blieb nicht allerwärts gleich angespannt, man sah und sieht es auf- und abschwellen. Dabei scheint es eine Art Gesetz zu sein, daß das Nebensächliche referiert, das Wesentliche gestaltet wird. Eben jene Gipfeltechnik fordert die Erreichung eines deutlich gekennzeichneten Höhepunkts, von wo aus die Handlung wieder in ruhigere Bahnen zurückkehrt. Das Lied ist bewegt, aber nicht eigentlich beweglich, sein inneres Kennzeichen ist Ruhe, Beherrschtheit, Sparsamkeit, lauter Tugenden einer jugendlich unverbrauchten und selbstbewußten Poesie. Die Kennzeichnung der Menschen versteigt sich nirgends zu einer farbigen Charakteristik; das Individuum ist noch unentdeckt, aber der Typus wird ungemein plastisch, bis in völkerunterscheidende Züge hinein (Attila). DerTypik der Konflikte und Ereignisse entspricht die der Menschen. Auch ethisch sind die Personen wenig differenziert, der Neiding, der Feigling tritt wohl auf, aber er hat nicht die Führung, wenn nicht der Neidingstat tragische Größe zukommt. Dabei herrscht kein moralischer Maßstab. Der Tyrann großen Stils interessiert wie der ideal geschaute Held, Ermanrich wie Sigfrid. Es herrscht noch ein Stil strenger Objektivität, der jedem das Seine gibt und nicht kritisiert. Die Prägung „Ermanrich, der böse Treubrecher" stammt nicht aus dem H.liede, wie ja noch im Rahmen des ältesten H.epos über Hagen kein mißbilligendes Wort zu fallen scheint. Die Welt ist, wie sie ist, daran ist nichts zu verbessern. Optimistisch ist dieses Weltbild nur dadurch, daß es seinen Glauben an die Möglichkeit und Wirklichkeit echten Heldengeistes bezeugt. Der langsam aber unvermeidlich abwärts führende Weg der Gattung, die sich nun zum d e u t s c h e n H.liede entwickelt haben muß, zeigt sich in den sehr wenigen

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Vertretern, von denen etwas zu uns gelangt ist. Dabei hat man den Eindruck, daß das H.lied seine hohen darstellerischen Tugenden lange gewahrt hat. Noch das H.epos legt Zeugnis von ihnen ab, und manche Liedprägung und sogar Liedszene mag in ihm noch widerklingen. Erst das spätere MA. verdrängt die äußere Sparsamkeit und innere Gewähltheit, die das Ethos der Gattung auszeichnete. § 6. Die ä u ß e r e F o r m des germ. H.liedes war die stabreimende Langzeile, die sich zu knappen, freien Strophenkomplexen zusammenschließen konnte (s. Stabreimvers). Gesangsvortrag zur Harfe ist auf dem Kontinent und in England, nicht aber in Skandinavien, bezeugt; Schwaben, das Rheinland und England lieferten auch Bodenfunde von Instrumenten. Noch das Hildebrandlied hat die Stabreimform bewahrt. Zwischen dem 9. und 12. Jh. muß das H.lied in Deutschland in die neue, mal. Form der endgereimten Langzeilen oder der Reimpaare umgeschmolzen worden sein, ein tiefer Eingriff auch in Sprachstil und Ethos der Gattung, von dessen Bedeutung und Ausmaß wir uns keine Vorstellung machen können. Vielleicht spiegelt die spätere Balladenstrophik etwas von der Form des endgereimten H.liedes wider. Die dem H.epos eigenen Strophenformen gehören möglicherweise erst diesem zu. Die wichtigsten stilistischen Eigenheiten des germ. H.liedes waren die durch den Stabreimvers nahegelegte Neigung zu Parallelismus, Antithese, Asyndeton und vor allem variierender Wiederholung der Begriffe. Formelhaftigkeit, wie sie schon das im Liede nachgestaltete Leben vorprägte (Rechtsformeln, Fluchformeln, Formeln der Kriegersprache), gingen in das H.lied ein und ließen in ihm eine Sprachschicht von festen Prägungen und Topoi entstehen, die sich leicht von Mundart zu Mundart weiterverbreiten konnte. Den rhapsodischen Arten der H.dichtung ist eine reichere Ausbildung der rein epischen Formeln zuzutrauen. Alte Formelhaftigkeit beider Art wirkt vermutlich noch im dt. wie im franz. H.epos, in der me. Dichtung und in der europ. Ballade nach, und es würde sich lohnen, ihre Geschichte aus dem german. Altertum ins MA. hinein genauer zu verfolgen. Texte: Hildebrandlied,

in: Braune Leseb.

Nr. 28. G. Β a e s e c k e, Das

Hildebrand-

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Heldendicfatung

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Heldeildichtung haften Vorstufen weiterentwickelt haben; es sind gutenteils Formen, die auf der Langzeile aufbauen, wie sie auch im Volkslied und der Volksballade leben. Im Nibelungenlied ist die Strophe aus vier Langzeilen durch die Sdilußbeschwerung der letzten Zeile individualisiert; eine jüngere Schicht strebt Zäsurreim als gelegentlichen Schmuck an. Anspruchsvollere Epen in seiner Nachfolge (Walther und Hildegund, Chudrun) verfeinern die Nibelungenstrophe nach dem Lyrischen zu, ohne doch die höhere Kunstform konsequent durchzuhalten; andere nähern sie dem Hildebrandston aus vier gleichen Langzeilen an (Ortnit, Wolfdietrich, Alphart, Rosengarten). Die Rabensdüacht-Strophe bewegt sich auf Formen der Sprudidichtung zu, im Bemerton (Eckenlied, Sigenot, Goldemar, Virginal) ist das Ziel der frühmeistersingerlichen Spruchstrophe erreicht (vgl. Dt. Versmaße und Strophenformen § 14). Wo der Reimpaarvers in die H.epik eindringt (Klage, Biterolf, Laurin, Buch von Bern), ist eine Annäherung an andere Gattungen, höfisches Epos oder Reimchronik, beabsichtigt. § 8. Ein äußeres und unverkennbares Merkmal h.episdier Dichtung ist ihre U η f e s t i g k e i t , die im Gegensatz steht zu der sehr bewußten und gewollten Kunstmäßigkeit des höf. Epos. Manches H.epos ist in mehrfacher Gestalt vorhanden, ist also durch verschiedene Hände gegangen und hat von manchen Seiten etwas angenommen. Auch das bereits schriftlich niedergelegte H.epos kann neuerlich wieder überarbeitet und abgewandelt werden, beliebte H.epen befehden sich in Konkurrenzfassungen {Wolfdietrich, Rosengarten). Diese Mehrheit der Redaktionen ist offenbar auf die Entstehungsgeschichte zurückzuführen, die man mindestens für einen Teil von ihnen voraussetzen darf: diese Epen sind nicht Urdichtungen im Sinne der erstmaligen Originalität, sondern aus schon vorhandenen, aber wahrscheinlich viel knapperen Dichtungen gleichen Gegenstands hervorgegangen. Einerseits muß man mit dem nachlebenden H.lied als Quelle rechnen, andererseits mit den wandelbaren Formen vor- oder halbliterar. „Vortragslieder" oder „Kurzepen", die wohl auch bei den Vorstufen der Spielmannsepen eine Rolle gespielt haben. Schließlich darf man nicht vergessen, daß auch die

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H.epik Anteil hatte an dem Prozeß des Aufbrauchens und Umschmelzens literar. Gutes, der für die mal. dt. Literatur namentlich vom 12. zum 13. Jh. hin so charakteristisch ist. Was sich schon an Buchwerken der hohen Literatur (Lamprechts Alexander, Konrads Rolandlied, beim Stricker, Wernhers Maria, Eilhards Tristrant) vollzog, dem war eine Dichtung, die als Fortsetzung einer epischen Tradition gewertet wurde und nicht durch Verfassernamen geschützt war, um so eher ausgesetzt. Beim H.epos will sich jene Festigkeit und Endgültigkeit der Form nicht einstellen, die dem höf. Epos seit Veldekes Eneit eignet. Dieses konnte wohl in Wortwahl und Wortfügung umgetönt und durch spätere Zusätze verbreitert werden, im ganzen aber ist seine Uberlieferung bis in die Einzelheiten des Wortlauts hinein festgelegt. Das war beim H.epos anders: diesen namenlosen, zunächst für den Vortrag, aber nicht fürs Vorlesen oder gar fürs stille Lesen bestimmten Werken brachte man geringere Achtung entgegen als den Gedichten, hinter denen ein bekannter Verfasser stand. Schon die Veränderungen, die sich bei der Abschrift einstellten, mußten beträchtlicher sein. Aber es blieb nicht bei willkürlichen Schreibervarianten; diese Dichtungen müssen sich immer im Flusse befunden haben. Neben der Überarbeitung im einzelnen trat die Erweiterung, Umarbeitung oder Umschmelzung, die dem Ganzen ein neues Gesicht gab. Es ist nicht gesagt, daß das Spätere immer ein Schlechteres sein müsse. Talent und Fertigkeiten jeden Grades fanden sich das ganze 13. Jh. hindurch. Aber das Verständnis für heroische Lebensformen nahm doch spürbar ab, die Gesellschaft, für die die vor- und halbliterar. Vorformen im 12. Jh. bestimmt waren, stand ihnen offenbar noch näher. Sogar das überragende Meisterwerk der Gattung, das Nibelungenlied, hat durch seine anspruchsvolle, wohlgegliederte und maßgerechte Epenform etwas die Einheitlichkeit des heroischen Stils eingebüßt; es ist innerhalb der Gattung schon ein überreifes Werk. Sozial gesehen mögen die Dichter der Frühformen und die H.epiker aus e i n e r Schicht gewachsen sein, und ihre Bildung erhob sich allmählich auch zur Schreibkunst. Produktion und Reproduktion haben wahr-

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Heldendichtung

scheinlich meistens in einer Hand gelegen. Ritterliche Standesdichtung, wie die höf. Epik von Haus aus, war die H.epik nicht, wenn sie auch oft in der Adelsgesellschaft ihr Publikum suchte. „Wir verdanken sie der zwischenständigen Gruppe der Berufssänger und Berufssprecher. Für die Glieder dieser lockeren Gruppe, die nicht einen Stand ausmacht, war die persönliche Herkunft ohne Bedeutung, wie ihr denn auch Menschen verschiedener Schulung und Leistungshöhe zugeordnet werden können" (Fr. Neumann, VerfLex. II, 982). Die passende Bezeichnung für die Angehörigen dieser Gruppe ist doch wohl „ S p i e l l e u t e " ; dieser Name hatte sogar für die Ritterlichen einen guten Klang. Uber die V o r t r a g s w e i s e der H.epen erfahren wir nichts, aber Strophendichtung, auch in umfangreichen Werken, hat man im MA. für sangbar gehalten. So stellt sich doch wieder der alte Begriff des 'Volksepos' ein: Der höfische Epiker steht seinem Gegenstand überlegen gegenüber, er spielt mit ihm und mit seinem Publikum, er hat seine eigenen Ansichten und seinen eigenen Stil und deckt sein individuelles Werk mit seinem Namen. Der Dichter des H.epos bleibt anonym. Er steht mitsamt seinen Hörern in der Märe und versucht, ihre Vorgänge objektiv gemäß ihrer inneren Wahrheit und im Sinne eines Gemeingeistes, der an ihrer Wahrheit teilhat, darzustellen. §9. S t o f f l i c h fußt das H.epos wie das H.lied auf der H.sage. Es ist überraschend, wie viel Altes noch im 13. Jh. lebendig war, und sehr vieles davon wird jetzt erst in Deutschland greifbar. Sigfrids Tod, Burgundenuntergang und Dietrichsage haben sich zusammengefunden; dabei ist Kriemhild aus der Rächerin ihrer Brüder zur Rächerin des ersten Gatten an ihren Brüdern geworden. Ermanrich erscheint jetzt als Gegenspieler Dietrichs von Bern, ist aber im Liede von Ermenrikes Dot doch noch Held seiner ursprünglichen Sage geblieben. Die Walthersage, die schon der Waltharius lat. episiert hatte, lebt noch. Das Hildebrandlied setzt sich in der Thidrekssaga und im Jüngeren Hildebrandliede fort. Iring und Sigmund sind wenigstens als Heldenrollen im Nibelungenlied erhalten geblieben, ihre eigenen Sagen scheinen jedoch vergessen zu sein. Nur die Hunnenschlacht ist ganz untergegan-

gen. Im Wolfdietrich lebt wohl nicht mehr sehr viel alte Sage nach, und ob der Kampf Dietrichs von Bern mit Sigfrid im Biterolf und Rosengarten auf die geschichtlichen Kämpfe Theoderichs mit Chlodwich und Gundobad von Burgund zurückgeht, ist unsicher. Nördliche Sagen siedeln sich im hdt. Gebiet an. Die Hildefabel ist von der Ostsee an die Scheidemündung gewandert, dort hat sich die Chudruniabel, deren Ursprung wir nicht kennen, an sie angesetzt, ehe sie weiter nach Oberdeutschland gelangte. Russische, über Niederdeutschland eingewanderte H.sage erscheint im Biterolf und Ortnit. Die Sagenschicht abenteuerlicher Art, Riesenund Drachenkämpfe, wird jetzt lebendiger als ehedem. Sigfrids Reckenjugend wird nun auch in Deutschland greifbar. Dietrichs Abenteuer haben sich mit tirolischen Ortssagen angereichert. Novellistisches Erzählgut vom Typ der Spielmannsdichtung ist reichlich eingedrungen; es hat ältere Darstellungen umgefärbt (die Werbung um Brünhild im Nibelungenlied, Hildes Entführung in der Chudrun) oder sie fast ausgelöscht (Hugdietrich-Wolfdietrich). Französische Chanson de Geste ist nicht ohne Wirkung geblieben (Dietrich-Epik, Nibelungenlied, Wolfdietrich; das Moniagemotiv im Rosengarten); das franz. Standardthema der Vatersuche, in der Heldenepik wie im abenteuerlichen Artusroman gleicherweise beliebt, gibt ein Rahmenthema des Biterolf her, des Gedichts, das am stärksten die Grenze der Gattung zur Ritteraventiure hin überschreitet. Die genealogische Verknüpfung der Sagenkreise, die schon in altgerm. Zeit beginnt, ist in mhd. Zeit weiter fortgeschritten. Folgende Stoffkreise wären zu scheiden: 1. Burgundischer Kreis: Nibelungenlied, Klage, Hürnen Seyfried, Walther. 2. Dietrichkreis, und zwar a) historische Dietrichepik: Budi von Bern, Rabenschlacht, Alpharts Tod; b) märchenhafte Dietrichepik: Eckenlied, Sigenot, Goldemar, Laurin, Virginal. Verbinbindung zwischen 1 und 2: Kampf zwischen den Helden des Burgunden- und Dietrichkreises: Biterolf, Rosengarten. 3. Wolf dietrichkreis, der den Ortnit an sich gezogen hat: Wolfdietrich-Epen, Ortnit. — Ohne Verbindung mit den großen Sagenkreisen bleibt die Chudrun.

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Heldendichtung § 10. Die G e s c h i c h t e der Gattung ist schwer zu übersehen, da viel verloren und von jüngeren Fassungen aufgebraucht ist. Nichts ist von der H.epik vor dem Nibelungenlied unmittelbar erhalten, und doch verrät gerade dies Epos, daß ihm ältere epische Dichtung von hohem Rang zugrunde lag, deren Wortlaut noch in der erhaltenen Dichtung durchklingt. Die Möglichkeit, ein genaueres Bild von dieser älteren Nibelungennot zu gewinnen, schien die norweg. Thidrekssaga zu gewähren. Dieses Kompendium dt. H.sagen, nach den Erzählungen niederdt. Kaufleute um 1250 in Bergen zusammengeschrieben, schien die Nibelungennot in älterer Form als das hdt. Nil. sie bietet, zur Quelle gehabt zu haben. Sowohl Heuslers Wiederaufbau der „Älteren Not", die er sich um 1160 in Österreich entstanden dachte, wie die Rekonstruktionen einer „rheinischen Nibelungendiditung" (Droege, Hempel u. a.) bauen auf dieser Bewertung des Quellenverhältnisses auf. Demgegenüber vertrat Panzer wiederum die Ansicht, daß die Thidr.s. das erhaltene Nil. nacherzähle. Die Frage muß erneut geprüft werden. Immerhin enthält die Thidr.s. vielerorts das sagengeschichtlich Ältere und spiegelt anscheinend auch altertümlichere epische Strukturen als die des Nll.s Die Dietrichepik, die die Thidr.s. nacherzählt, war auf alle Fälle älter als die erhaltenen mhd. Werke, und es ist immer noch das Wahrscheinlichste, daß sie dem Nil. vorauslag. — Unsicher bleibt das HildeChudrun-Epos für diese frühe Zeit, doch wird man eine (niederrhein.) epische Vorstufe vermuten dürfen. Noch fraglicher ist die frühe Existenz eines Walther-Epos. Das Nibelungenlied ist die epochemachende und gattungsbestimmende Leistung dieses ganzen Literaturzweiges. Die meisten Hss. weisen nach Tirol. Die ursprüngliche Heimat des Gedichtes ist aber an der Donau zu suchen, wo der Vf. jeden Fußbreit Boden kennt. Man darf ihn wohl mit dem Bischofssitze Passau in Verbindung bringen und die Vollendung des Werkes in die ersten Jahre des 13. Jh.s setzen. Unter den mannigfachen Bearbeitungstendenzen, die an das Lied herangebracht wurden, setzte sich vor allem die glättende, Gegensätze überbrückende und den Ton abschleifende durch, die in der Redaktion C (Hohenems-Donaueschinger Hs.) Reallexikon I

verkörpert wird. Die älteren Fassungen A (Hohenems-Münchner Hs.) und Β (St. Galler Hs.) streiten bis heute um den höheren Echtheitsrang. An die Originalfassung des großen Epos Schloß sich bald ein tränenreiches Nachspiel in Reimpaaren, die Klage, und dieses erste Epigonenwerk ist von Anfang an mit der wegweisenden Meisterschöpfung verbunden geblieben. Sie versucht, nach Art des höf. Epos der aventiure meine zu interpretieren, und gerade dadurch verfehlt sie sie. Weitere epische Bearbeitung der alten H.sagenstoffe erfolgte teils selbständig, teils im Anschluß an die schon vorliegenden Werke und erstreckte sich über die ersten Jahrzehnte des 13. Jh.s. Man vermutet ein Wolfdietrichepos, das den Helden zuerst mit dem nddt.-russ. König Ortnit in Verbindung brachte; ein Dietrichepos, das Personal und Handlungsschema des älteren mächtig erweiterte. Erhalten sind Bruchstücke eines Waltherepos, das auf den Voraussetzungen des Nll.s aufbaute, und schließlich der jüngste, einzig vollständig bewahrte Repräsentant dieser Gruppe, das Gedicht von Chudrun. Es ist das einsamste Werk der Gattung, und seine Nachwirkung ist kaum spürbar. Hier fehlte fast ganz der Zusammenhang mit der noch lebendigen H.sage, die den andern Epen von vornherein ihre Wirkung sicherte. Weltauffassung, Menschenzeichnung und vor allem reale Beziehungen lassen die Chudrun dem Nil. gegenüber als Produkt einer viel jüngeren Zeit erscheinen. Vor 1240 ist sie schwerlich zu setzen. Es folgte eine Zeit der neuen epischen Stoffbildung, die durch Sagenkombination gewonnen wurde. Um die Jh.mitte fällt das von großer Belesenheit zeugende Sagenkompendium Biterolf und Dietleib. Es kennt auch schon eine weitere, sagenkombinatorische Bearbeitung des Wolfdietrichstoffes: Der sog. Wolfdietrich Α ist mit einem neuen Epos von Ortnit zwar noch nicht zur stofflichen Einheit verschmolzen, aber doch aufs engste zusammengerückt. In Konkurrenz mit dem Biterolf tritt vielleicht 20 Jahre später das älteste Bosengartenepos (A), eine frische und knappe Episierung der Urfassung, die die Thidr.s kannte. Nach einiger Zeit wurde eine solche unabhängig nochmals vorgenommen; dieser neue Bosengarten D schöpft 41

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Heldendichtiing

ausgiebig aus dem Btterolf und geht somit in der Sagenkombination noch weiter. Die historische Dietridiepik bringt in Alpharts Tod eine Sproßfabel des Witegekampfes in der Rabenschlacht hervor. Reidi entfalten sich die reckenhaften Dietrichfabeln. Die tirolischen Lokalsagen von Ecke und Lautin liefern Stoff zu neuer Verherrlichung Dietrichs. Vorstufen des Eckenliedes werden schon fürs 12. Jh. vermutet, am Rhein wird das Lied später verritterlidit und nimmt Züge franz. Dichtung in sich auf. Nddt. Dietrichdichtung, in der der Held zum Slawenkämpfer wird, enthält das Fragment Dietrich und Wenezlan; auch der Goldemar lokalisiert ein Reckenabenteuer des Bemers im Sachsenland. Dietrichs erste Ausfahrt, fast ganz aus der sog. Virginal rekonstruierbar, enthält Sagenelemente, die bis auf den ae. Waldere zurückreichen müssen. Soweit die Epen am Leben geblieben waren, wurden sie vom Ende des 13. Jh.s an die Beute stoffsüchtiger Bearbeiter, deren Ehrgeiz war, eine Fülle von Personen in Aktion zu setzen und die Abenteuerlichkeit der Handlung zu mehren. Das führte auch zu einer Ineinanderarbeitung verschiedener epischer Fassungen desselben Gegenstandes. Die Wolfdietrichgedichte fanden erst nach 1300 ihre endgültige Form in der großen Kompilation Wolfdietrich D, welche drei vorhandene Wolfdietrichgedichte samt dem Ortnit ineinanderarbeitete. Auch der Rosengarten C stellt eine Zusammenschweißung von Α und D dar. In diese Spätzeit fällt auch die uns allein erhaltene Gestalt der historischen Dietrichepik: Das Buch von Bern, gewöhnlich Dietrichs Flucht genannt, eine Pseudochronik in Reimpaaren (um 1280), führt Dietrich aus Italien ins Hunnenland, die Rabenschlacht (etwa 10 Jahre älter) schildert den vergeblichen Wiedereroberungsversuch. Besonders verwickelt gestalten sich die Schicksale von Dietrichs erster Ausfahrt (Virginal); das ursprüngliche Gedicht wurde mehrmals überarbeitet, aufgeschwellt und kontaminiert. Laurin wurde fortgesetzt (Walberan), aufgeschwellt (Laurin D) und in andere metrische Form gegossen (Dresdener Heldenbuch). Eine letzte Etappe wird im 15. Jh. erreicht: Eine Zudichtung zum Nibelungenlied, Sigfrids Abenteuer teils nach alter Sage,

teils frei fabulierend erzählend, aus dem Kontext gelöst und selbständig herausgebracht, ist der Hürnen Seyfried; er bringt es vom geschriebenen Buchwerk zum gedruckten, wird zum Prosa-Volksbuch und regt noch Hans Sachsens Tragedia Der hörnen Sewfriedt an. Jetzt beginnt audi noch einmal eine Zeit des Sammeins und Bewahrens in den H e l d e n b ü c h e r n . Das Dresdener H.buch, 1472 von Kaspar von der Rhön und einem Unbekannten für den Herzog Balthasar von Mecklenburg geschrieben, fußt ζ. T. auf guten Quellen, die die Bearbeiter jedodi rücksichtslos gekürzt haben. Formal roh gibt sidi das Meiste und ist dennoch nicht wertlos, weil eine Anzahl von Gedichten in Rezensionen vorliegen, die wir sonst nicht kennen. (Inhalt: Ortn., Wolfd., Ecke, Roseng., Meerxounder, Sigenof, Wunderer, Herz. Emst, Laurin, Dietr. u. s. Gesellen, Hüdebrandlied).—Das gedruckte Heldenbuch ist um 1477 erschienen und dann bis 1590 öfter wiederholt. Der Text steht einer wenig älteren Straßburger Hs. sehr nahe. Es enthält Ortn., Wolfd. D, Laurin, Roseng., sowie eine sehr wichtige Vorrede, die aus unbekannten Sägenquellen schöpft (später als Anhang gedruckt und unter dem Namen Anhang zum H.buch in die Forschung eingegangen). — H.epik mit höf. Epik verbunden enthält das Ambraser H.buch (1512), das der Bozner Hans Ried im Auftrage Kaiser Maximilians zusammenschrieb. Die Vorlagen waren ζ. T. vorzüglich, namentlich die h.epische Sammelquelle aus dem Anfang des 14. Jh.s, der wohl der in den Akten Maximilians enthaltene Name Heldenbuch an der Etsch zukam. Es enthält neben höfischer Epik und Novellistik Dietr. Fl., Rabenschi., Nibelungenl., Klage, Chudrun, Biter., Ortn., Wolfd. A. Eine Reihe der wichtigsten Dichtungen des MA.s ist nur durch diese kaiserliche Sammlung auf die Nachwelt gekommen (Chudrun, Biter., Wolfd. A — Erec, Moriz von Craun, Türlins Mantel). § 11. Der g e o g r a p h i s c h e R a u m , in dem die H.epik sich vor allem entfaltete, war das bair.-österr. Sprachgebiet. Die Sagen von Dietrich von Bern, der Kerngestalt der mhd. H.epik, wurden gerade dort noch vom Volkstum in ungebrochener Kontinuität weitergetragen. Das Nibelungenlied ver-

Heldendichtung suchte offenbar, die Gattung auf den Rang der eben erblühten höfischen Epik zu heben, die in der Tat im Südosten nur zögernd Fuß faßte, während doch der höfische Liedsang zu seiner Zeit in Passau und Wien in anspruchvollster Form blühte. Die Landschaft, die das H.epos darstellt, ist meist die der Alpenlande und Norditaliens. Sogar die Chudrun schaut die Nordsee ins Mittelmeerische um. Das Nibelungenlied hält seine donauländische Landschaft konkret fest, die rheinische um Worms verschwimmt ihm. Neben diesem südöstlichen Bereich muß man mit einer reichen H.epik am unteren Rhein und im anschließenden Niederdeutschland rechnen, von der die Thidrekssaga zeugt. Der Austausch zwischen den beiden Kerngebieten war lebhaft, der südliche Dietrich von Bern fand im Norden, die niederrhein. Chudrun (der Thidr.s nicht bekannt!), der nddt.-dän. Dietleib, dernddt.russ. Hertnid-Ortnit fanden im Südosten Heimat. Die Verbindung existierte schon im 12. Jh., zur Zeit der rheinisch-bairischen Zusammenhänge, von denen Rother und Herzog Ernst zeugen, blieb aber auch später erhalten, da Gedichte wie Rosengarten und Laurin bis nach Skandinavien ausstrahlten. Den ersten Erweis des Interesses auch anderer Landschaften erbringen Wolfdietrich Α und Ortnit, die man sprachlich nach Ostfranken zu setzen hat, deren Landschaftsvorstellung aber noch an die Südalpen gebunden bleibt. Gegen Ende des Jh.s beteiligen sich dann Dichter aller Landschaften an der Pflege h.epischer Stoffe. Eine kombinierte Hs. des Rosengarten und des Laurin gelangte nach Mitteldeutschland und wurde dort umgebildet, auch der Rosengarten D könnte mdt. sein. Die große Wolfdietrich D-Kompilation nimmt ein Alemanne vor, das Kerngedicht der Virginal hatte ebenfalls einen alem. Verf., ein Rheinländer und ein Ostfranke wetteiferten in der weiteren Ausgestaltung des Stoffes. § 12. H. e ρ i s c h e r S t i l ist gekennzeichnet durch gewisse Gegensätze zur höfischen Erzählform. Dem H.epiker sind seine Gestalten nicht Muster, die eine gesellschaftliche Form der Gesittung mehr oder minder gut verwirklichen, sondern Helden, die durch Tatendrang, Dämonie und Schicksal zu übermenschlicher Leistung vorherbe-

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stimmt scheinen. Sie sind nicht beispielhaft im Sinne des Vorbilds oder des AllgemeinMenschlichen, sondern bewundernswert. W a s Bewunderung erregt, wechselt stark je nach Niveau der Dichtungen. Die Gabe, einen großen und edeln Charakter äußerlich und innerlich durchzubilden, bleibt den meisten Dichtem versagt. Das Nibelungenlied mit Sigfrid, Rüdeger und Dietrich von Bern ist eine leuchtende Ausnahme, der Hartmut der Chudrun hat schon schwächere Umrisse. Goldene Treue kennzeichnet den Meistertyp Berchtung, Hildebrand. Wolfdietrich, Wolfhart, Wate, Ilsan sind die kraftstrotzenden Kämpfer nach dem Herzen des dichtenden Durchschnitts. Ungezügelte Wildheit zeichnet namentlich den Vasallen, den skrupellos treuen Dienstmann, aus; wieder gelingt hier dem Nibelungenlied, in Hagen aus dem Typ die große dämonische Persönlichkeit werden zu lassen. Das Bild Dietrichs von Bern, in der älteren, verlorenen Dietrichepik wohl ähnlich groß gesehen wie im Nibelungenlied, wird in der späteren besonders stark angekränkelt. Die Spannung zwischen Selbstbeherrschung und Dämonie, die die Sage in seinem Wesen angelegt hatte, wird zum aufdringlichen Effekt sowohl in den Jugendszenen mit Hildebrand mit ihrem stereotypen Umschlag von Tatenunlust in Berserkertum wie in den grellen psychologischen Stimmungskontrasten der Flucht und der Rabenschlacht. Und doch enthält die Rabenschlacht in der Szene der Verfolgung Witeges „noch in ihrem verschlissenen Gewände eine der königlichsten unserer gesamten alten Epik" (Baesedce). Die Frau im H.epos gerät selten auf die heroische Seite. Man hat den Eindruck, daß die männische Brünhild ihrem Dichter unheimlich und unlieb ist. Seine Idealgestalt der Weiblichkeit ist die junge Kriemhild und ihre Entwiddung von der schüchternen Jungfrau zur blutbesudelten Mörderin die überhaupt größte charakterologische Leistung, die im Umkreis des H.epos geglüdct ist. Der Nibelungendichter bietet auch das einzige Beispiel eines H.epikers, der Nebenrollen plastisch zu bilden weiß; der Endkampf stellt nicht nur verschiedene Grade kämpferischer Tüchtigkeit nebeneinander, sondern in den Rüstungen stecken sehr verschiedenartige Menschen — nicht eigentlich 41·

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Heldendichtung

verschiedenwertige. Der idealisierende Stil herrscht vor und gebietet, keine Gestalt aus der Hand zu lassen, ohne sie mit den stärksten Farben geschmückt zu haben, und wäre es die Schwärze des heroischen Mörders Hagen. Die Schöpfer von Nibelungenlied

und

Chudrun bilden insofern eine Gruppe für sich, als sie ausgesprochene Dichter der Frau sind. Auf verschiedene Art verdienen ihre beiden Frauengestalten doch heroisch genannt zu werden, die eine im Handeln, die andere im Dulden. Die Werke dieser beiden Großen erscheinen hier wiederum als Inseln, einzig dastehende charakterkundige Leistungen, denen man später nicht mehr nachkommt und nicht einmal nacheifert. Texte: Der Nibelunge Noth u. d. Klage. Hg. v. Karl L a c h m a n n (5. Aufl. 1878; Neudr. 1948). Der Nibelunge N6t m. d. Abweichgn. v. d. Nibelunge Liet, den Lesarten sämmtl. Hss. u. e. Wörterb. Hg. v. Karl B a r t s c h (1870-80). Das Nibelungenlied. Hg. v. Karl B a r t s c h , 13. Aufl. v. H. d e B o o r (1956; Dt. Klassiker d. MA.s 3). — Thidrekssaga: Ausg. v. H. B e r t e l s e n (Kopenhagen 1905-11). Übertr. v. Fine E r i c h s e η , Die Geschichte Thidreks von Bern (1924; Thüle 22). — Kudrun. Hg. u. erklärt ν. Ε. Μ a r t i η , 2. Aufl. v. Edw. S c h r ö d e r (1911; Samml. germanist. Hilfsm. 2). Kudrun. Hg. v. B. Symons, 3. Aufl. v. Bruno B o e s c h (1954; AdtTextbibl. 5). Rez.: Fr. N e u m a n n , AnzfdA. 69 (1956) S. 24-36. — Deutsches H.buch. Hg. v. K. M ü l l e n h o f f , enthält: Bd. 1 (1866) Biterolf und Dietleib, Laurin, Walberan, hg. v. O. J ä n i c k e ; Bd. 2 (1866) Alpharts Tod, Dietrichs Flucht, Rabenschlacht, hg. v. E. M a r t i n , Bd. 3 u. 4 (1871/73) Ortnit und die Wolfdietriche, hg. v. A. A m e l u n g u. O. J ä n i c k e ; Bd. 5 (1870) Dietrichs Abenteuer (Virginal, Goldemar, Sigenot, Ecken Liet, Dietrich und Wenezlan), hg. v. J. Ζ u ρ i t ζ a. — Die Gedichte vom Rosengarten zu Worms. Hg. v. Gg. H o l z (1893). Der echte Teil des Wolfdietrich d. Ambraser Hs. Hg. v. Herrn. S c h n e i d e r (1931; AdtTextbibl. 28). — Waltharius. Hg. v. Karl S t r e c k e r , dt. Übers, v. P. Vossen (1947). Walther u. Hildegunde. Hg. v. H. F. Μ a s s m a η η. ZfdA. 2 (1842) S. 216-222. — Le Wunderer. Facs. de l'edition de 1503. Hg. v. Georges Z i n k (Paris 1949; Bibl. de philol. germanique 14). — Der jüngere Sigenot. Hg. v. Aug. Kl. S c h o e n e r (1928; GermBibl. III, 6). — Das Lied vom Hürnen Seyfrid. Hg. v. Wolfg. G ο 11 h e r (2. Aufl. 1911; NDL. 81/82). Literaturgeschichten: E h r i s m a n n , Sdilußbd. S. 122-179. Herrn. S c h n e i d e r , Heldendichtung, Geistlichendichtung, Ritterdichtung (2. Aufl. 1943; Gesch. d. dt. Lit. 1). Jul.

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Heldendkhtung — Heroide

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Hendiadyoin s. Stilfiguren. Heroide § 1. Das Wort entstammt Ovid. „Die Herolden Ovids, der diese Gattung zuerst ausbildete", sagt Eschenburg in seinem Entwurf, „sind Briefe von Heroinen (Heroides) an ihre entfernten Geliebten, daher der Name der Heroide entstanden ist". Heroiden oder Helden- bzw. Heldinnenbriefe sind also fingierte Liebesbriefe, die Heroen an die ferne Geliebte, resp. Liebende an ihren Helden schicken (s. a. Briefgedicht). § 2. Ovids Heroiden finden ihre ersten Nachahmungen in Italien, zunächst in lat. Sprache (Basini, Pontanus, Marullus), dann auch im ital. (Luca Pulci und Marco Filippi im 16. Jh., Pietro Michiele, Antonio Bruni und Lorenzo Crasso im 17. Jh.). Auch Spanien kennt diese Dichtungsgattung im 16. Jh., später auch Portugal. Besonderer Beliebtheit erfreute sie sich in Frankreich: M. d'Amboise, Andre de la Vigne, F. Habert, F. Debez. Diese franz. Blüte geht der dt. um etwa ein Jh. voraus; im 18. Jh. aber erfolgt noch eine Nachblüte mit B. de Fontenelle, Ch. P. Colardeau, J. de la Harpe, Dorat, Mercier, Pezay u. a. In England sind besonders Michael Drayton und Pope von Bedeutung. Holland darf als Vertreter neben Barlaeus und Cats seinen größten Dichter Vondel nennen. § 3. Auch in Deutschland fing es mit lat. Nachahmungen an. Für die H. in dt. Sprache steht Chr. Hofmann von Hofmannswaldau (1617-1679) an der Spitze. Zwar hatte bereits vor ihm (um 1647) J. P. Titz in Knemnons Sendschreiben an Rhodopen den Versuch eines Heldenbriefes gemacht; da er aber ohne Beachtung blieb, hat er auch keinen

Einfluß gehabt. Jedenfalls ist Hofmannswaldau der bedeutendste Vertreter dieser Gattung in Deutschland. Er ist vor allem von Ovid abhängig, wie die Übereinstimmung vieler sachlicher Einzelheiten beweist, daneben aber vielleicht auch von Pietro Michiele, Michael Drayton oder anderen (für diese Frage vergleiche man die in der Bibliographie genannten Werke von Emst, Ettlinger, v. Waldberg und Friebe). Neben Hofmannswaldau ist Η. A. von Zigler und Kliphausen (1653-1697) zu nennen, ferner D. Caspar von Lohenstein (1635-1683), M. Omeis (1646-1708), E. Neumeister (16711756), C. F. Kiene, J. G. Pritius, Licimander und J. B. Menke (Philander von der Linde). Um 1740 ist die Gattung in Deutschland tot. Es ist auch A. W. Schlegel nicht gelungen, ihr neues Ansehen zu verschaffen. § 4. Den Stoff nehmen die dt. Heroidendichter in den seltensten Fällen aus der klassischen Mythologie; da beschränken sie sich durchweg auf Ubersetzungen. Dagegen sind Stoffe aus der Weltgeschichte und aus der Heiligen Schrift beliebt. Die dt. Heroide besteht gewöhnlich aus einer prosaischen Einleitung, einem Männerbrief und einem antwortenden Frauenbrief. Der Männerbrief hat einen werbenden, allmählich kühner werdenden Charakter, der in der Aufforderung zur völligen Hingabe seinen Höhepunkt erreicht. Im Frauenbrief weist die Geliebte zuerst empört das Ansinnen ab, fügt dann aber hinzu, daß die Liebe sie zwinge, ihre Gesinnung zu ändern. Der Umschwung von ablehnender Empörung zur Hingabe ist manchmal recht plötzlich. Die Form ist die des gereimten Alexandriners mit der Reimstellung ab/ab. Die im 17. Jh. so beliebte Hundertzahl gilt auch hier: fast alle Heldenbriefe zählen genau hundert Alexandriner. Das bringt seine eigenen Schwierigkeiten mit sich. Für die Werbung sind ja hundert Zeilen nicht zuviel; für die Frau erwächst daraus die Notwendigkeit, die Sache in die Länge zu ziehen. Wiederholungen sind denn auch nicht selten. Auch das Metrum führt zu Wiederholungen, wie nein nein, bald bald, ach ach usw. Die Galanterie des Gegenstandes färbt auch auf die Sprache ab. Wie der Inhalt sich über die Moral hinwegsetzt und die beschrei-

Heroide — Heroisch-galanter Roman bende Phantasie die gewagtesten Situationen nidit scheut, so versteigt sich audi die Sprache zu den sinnlichst-schwülstigen Ausdrücken, wie Rubinen-Mund, Lilien-Brust, Keuschheits-Schnee, Ambra-, Bisem- und Ζibeth-Duft, Liebes-Zucker usw. Joh. Jac. D u s c h , Briefe zur Bildung des Geschmacks. Bd. 3 (1767) Nr. 14, 15, 18; Bd. 4 (1770) Nr.3. Joh. Gg. S u l z e r , Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2 (2. Aufl. 1792) s. Heroide. Erduin Julius K o c h , Grundriß e. Gesch. d. Sprache u. Lit. d. Detitschen (1795-98) Bd.2, S. 140ff. Aloys Schreiber, Lehrbuch d. Ästhetik (1809) S. 255 ff. Joh. Joachim E s c h e n b u r g , Entwurf e. Theorie u. Lit. d. schönen Künste. 5. Ausg. hg. v. Moritz Ρ ί η d e r (1836) §§ 220-225. Max v. W a l d b e r g , Die galante Lyrik (1885; QF. 56) S. 131 ff. Karl F r i e b e , Über Hofmann υ. Hofmannswaldau u. d. Umarbeitung s. 'Getreuen Schäfers'. Diss. Greifswald 1886. Jos. Ε 111 i η g e r , Chr. Hofmann v. Hofmannswaldau. Diss. Heidelberg 1891. M. J e l l i n e k, Hofmannswaldaus 'Heldenbriefe'. VjsLitg. 4 (1891) S. 1-40. G. Ph. Gotthold E r n s t , Die Heroide in d. dt. Lit. Diss. Heidelberg 1901. F. F r a n c k e , The historical significance of Hofmannswaldaus 'Heldenbriefe'. PhilQuart.2 (1923) S. 144-150. Rud. I b e l , H. v. Hofmannswaldau (1928; GermSt. 59). Jan Hendrik Schölte Heroisch-galanter Roman § 1. Der heroisch-galante Roman entstand in Frankreich mit Gomberville und wird vor allem in den 40er und 50er Jahren durch die vielbändigen Romane von Calprenede und Scudery zur großen Mode. Verfasser und Publikum gehören der Hofaristokratie an, deren Preziosität Darstellung und Diktion bestimmt. Nach dem Ausspruch der Scudery gelten als „uniques modelies l'immortel Heliodor et le grand Urfe" Dabei wirkt der Amadis dodi noch merklich nach. 5 2. Der Deutsche wird mit diesen literar. Sensationen nicht nur bei seiner Kavalierstour, sondern auch durch Ü b e r s e t z u n g e n bekannt. Bereits 1624 bringt der 1. Teil des Theatrum Amoris (1626) die Carithee von Gomberville (1621). Die Ariane (1632) von Armand Desmarets (Schützling von Richelieu) wurde 1644 von G. A. Richter verdeutscht (Neuauflage 1659), und gleichzeitig erschien Lysander und Caliste von d'Audiquier (1. Fassung 1616; 2. Fassung 1650) in der Übers. Zesens. Dieser vermittelte auch 1645 den berühmten Roman der Scudery, den Ibrahim Bassa (1641) und 1647 die Afri-

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kanische Sophonisbe von Gerzan (1627/28). Georg Neumark legte 1651 ebenfalls eine Verhochteutschte Sophonisbe vor, daneben auch eine Verhochteutschte Kleopatra (Calprenede; 1647 Bd. 1). Den letzten großen Roman der Scudery Clelie (1654-60) übertrug 1664 Joh. Wilh. v. Stubenrauch. Calprenede erschien erst spät in Übers.en: 1670 die Cassandre (1642-50, 10 Bände) von W. Hagdorn und 1685 von Kormart nach der holl. Übertragung; der Faramond (1661) von F. A. Pimauer (1688), der 1682 die Alamalrtde veröffentlichte. Erst 1700 erschien die Cleopatra (von J. V.) vollständig. § 3. Wegweisend war wiederum O p i t z . In der Poeterey (Kap. 5) hatte er vom „heroischen getichte" gesprochen, nachher aber „das getichte und die erzehlung selber belangend" Winke für die Gestaltung des Geschehens gegeben, die der Romanpraxis zugehören. Auch hatte sein guter Instinkt ihn zweifeln lassen, „ob aber bey uns Deutschen so bald jemand kommen möchte, der sich eines vollkommenen Heroischen werdces unterstehen werde". Bereits 1626 erschien seine Übertragung der Argenis von John Barclay (lat. 1621, franz. 1623). Damit legitimierte er den Roman als Gattung der modernen Bildungslit. und als Vehikel der anhebenden Baroddit. in Deutschland. Im Gegensatz zum Amadisroman stehen nunmehr Liebe und Abenteuer nicht mehr im Vordergrund des Interesses, sie dienen nur zur Einkleidung für den übergeordneten, Sinn und Zusammenhang gebenden Gehalt. Es geht um das Dasein in der Welt des absolutistischen Staates. In dem angeblich sizilianischen Reich spiegeln sich akute Gegenwartsprobleme. Maßgebend für Verhalten und Tun des Menschen sind aber unverbrüchliche ethische Nonnen. Damit war die dem Deutschen gemäße Einstellung gegeben. Daß Opitz auch den zweiten (unechten) Teil 1631 übertrug, zeigt, wie hoch er das Buch, aber auch seine eigene Leistung einschätzte. Eine Neuauflage 1644 beweist den Beifall des Publikums. § 4. Aus diesem Impuls und den ausländischen Anregungen entsteht die dt. Sonderform des h ö f i s c h e n Romans. Er will nicht „galant" sein. Daher die allgemeine Polemik gegen den Amadis als unsittlich. Man betont eine gezügelte Liebe, die in

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Heroisdi-galanter Roman

zahlreichen Prüfungen sich bewährt und die Treue hält. Die Hauptfiguren sind durch „Großmut" und „Beständigkeit", durch Tugend und Zucht ausgezeichnet. Ihre Selbstbeherrschung hebt sie von den Wollüstlingen als Sklaven der Affekte ab, ebenso auch von der konventionellen Galanterie im gesellschaftlichen Rahmen, die bei Nebenfiguren zulässig ist. Der christl. Stoizismus bildet die tragende Gesinnung und führt zu exemplarischem Verhalten. Das liefert die Achse für die Perspektive und ermöglicht, die verschlungenen Wege des Geschehens zu übersehen, ebenso wie bei den weiten barocken Gartenanlagen. Der Roman zeigt die Menschen verstrickt in das fortunabeherrschte Weltgetriebe, aber nur im Bereich des Höfischen und Staatlichen. Die Hauptfiguren sind stets fürstlichen Geblüts. Unerwartete Zufälle, jäher Schicksalswechsel führt in gefährliche Situationen, die ihre „Großmut" besteht und die Gottes „Fürsicht" (Providentia) schließlich als Erhöhung zum guten Ende führt. Nicht auf das Psychologische ist das Interesse gerichtet, sondern auf heroische Willensentscheidung gemäß dem ethisch-religiösen Weltsystem mit Gott an der Spitze als summum bonum. Ein solches Verhalten wird erläutert, auch darüber diskutiert. Haltung und Benehmen werden in ihrer höfischen Gehobenheit in Gespräch, Rede, Brief und Gedicht eingehend vorgeführt. Die vielen Kenntnisse, die zum höfisdien Dasein gehören, werden ausführlich dargeboten. So entsteht eine eigentümliche Durchsichtigkeit des Inhaltes, die durch die Fülle der Neben- und Episodenfiguren, nicht zuletzt durch das Vielerlei der Verkleidungen, Verwechslungen, Mißverständnisse, Verstellungen gewaltig kompliziert wird. Hinzu kommt noch die reiche Bildhaftigkeit des Ausdrucks, um uns Heutigen das Verstehen dieser Gebilde äußerst beschwerlich zu machen. Das hängt wohl auch damit zusammen, daß sich hier nicht wie in Frankreich eine bestehende Hofkultur spiegelt, sondern der Werdewille einer Epoche erhöhte Wunschbilder ertüftelt, die doch nicht ohne Gegenwartsbezug sind. Deshalb verlegt man die Handlung in ferne Zeiten und Länder, beabsichtigt jedoch keine historische Genauigkeit. Siegmund von Birken bezeichnet diese Art als „Geschichtgedicht".

§ 5. Bezeichnend ist, daß der erste Verfasser eines höfischen Romans der Braunschweigische Superintendent Andreas Heinrich B u c h h o l t z (1607-71) ist. In zwei Teilen (1659 u. 1660, Neuaufl. 1676, 1693, 1728, 1744) erscheinen Des Christlichen Teutschen Groß-Fürsten Herkules und Der böhmischen königlichen Fräulein Valiska Wundergeschichte. Die verwickelten erfundenen Geschehnisse werden in die Zeit des Kaisers Severus (3. Jh. n. Chr.) verlegt, und der Sturz des Arsacidenreiches durch die Sassaniden wird hineingezogen. An der Norm des christl. Fürstenstaates wird dieses Stüde Welttheater gemessen. Auf christl.-adelige Gesinnung wird der Hauptwert gelegt. Dem dienen erbauliche Darlegungen, Gebete, Psalmen und Lieder. Schon 1651 hatte B. einen Band Geistliche Teutsdie Poemata veröffentlicht. In einem zweiten Roman behandelte er 1655 die Schicksale der Kinder: Der Christlichen Königlichen Fürsten Herkuliskus und Herkuladisla auch ihrer hochfürstlichen Gesellschaft anmutige Wunder-Geschichte. Im selben Jahr gab der Landesherr A n ton U l r i c h von Braunschweig (1633-1714) einen Band geistlicher Oden heraus, und 1669 begann sein erster Roman Die durchleuchtige Syrerin Arameha zu erscheinen (5. Band 1673, 2. Aufl. 1678/79). „Mit Erzählung ihrer Verfolgungen und Unglücksfälle" soll nach der Vorrede dieser Roman als „Adelsschule" eine „Geduldschule" sein, also die Gesinnung des christl. Stoizismus verbreiten. Großmut und Beständigkeit triumphieren auch beim Zusammenbruch des babylonisch - assyrischen Reiches. Aramena wird durch den Patriarchen Jacob zum wahren Glauben bekehrt und folgt schließlich dem Marsias als Gemahlin in dessen Stammreich, um in Trier über die Celten zu herrschen. So führen nach Gottes Vorsehung die verschlungenen Pfade wunderbar zum Heil, d. h. zur Hochzeit, und zwar für 29 Paare. Ein noch gewaltigeres Geflecht von Schicksalen bringt Die römische Octavia (1. Bd. 1677, Bd. 2 u. 3 hsl. gleichzeitig vollendet, Druck 1685; Bd. 4-6 1703-07; überarbeitete Aufl. 1712). Diesmal erreichen von 17 Liebespaaren nur 9 das ersehnte Ziel. Die Schicksale der Octavia, der jungen Gattin Neros werden über dessen Sturz bis zum

Heroisch-galanter Roman Aufsteigen von Vespasian durdi das ganze Imperium Romanum geführt. Sie opfert ihr Lebensglück für die Erlösung der Christen in heroischem Verzicht auf ihren Befreier, den aramenischen König Tyridates. Gleichzeitig arbeitete Daniel Caspar von L o h e n s t e i n (1635-83) an einem Roman über Arminius und Thusnelda (diese Titelgebung nur in der 2. Aufl. 1731). Er wuchs sich gewaltig nach allen Seiten aus, weil infolge einer kombinatorischen Geschichtssicht vielerlei historischer, ethnologischer Stoff herbeigebracht wurde. Hinzu kam die Neigung, das Verhalten der Figuren, ihre Entscheidungen prüfend zu diskutieren. Alles wird vom Gehaltlichen aus gedeutet und darauf bezogen. Der Autor gestaltet nicht als Erzähler, sondern als Betrachter, dem es statt auf packende Bewegung von Geschehnissen auf erregende Erwägungen gelegentlich bestimmter Fälle und Situationen ankommt. Bei jedem Vorgang wird ein Geflecht von Beziehungen entfaltet, die Vielfältigkeit der Meinungen beachtet. Die Darstellungsweise ist disputatorisch. Dabei mangelt es nicht an Phantasie und an Ordnungskraft. Die Handlung beginnt mit einem Glanzpunkt, der Hermannsschlacht und der Verlobung mit Thusnelda; aber erst das neunte und letzte Buch des ersten Teils (1430 Seiten) schildert die Hochzeit, nach Thusneldas Entführung und Befreiung im 4. Buch. Die Fülle seiner Amtsgeschäfte als Syndicus des Stadtstaates Breslau hinderte Lohenstein, den 2. Band drudefertig zu machen. Die endgültige Redaktion und Herausgabe des Ganzen erfolgte durch den Prediger Christian Wagner zusammen mit Lohensteins Bruder 1689 (3067 doppelspaltige Seiten in Folio). Die Perspektive gibt der Wunsch nach dt. Nationalliteratur auf Grund des christl. Stoizismus, „dem deutschen Adel aber zu Ehren und rühmlicher Nachfolge vorgestellet" Einen großen Publikumserfolg errang Heinrich Anselm von Z i g l e r u n d K l i p h a u s e n (1663-96) mit der Asiatischen Banise (1688/89; Neuaufl. 1690, zwei 1707,1721 nur drei Bücher, 1724 eine Fassung von J. G. Hamann, 1728, 38, 53, 64). Deutlich wird die Gesamtform erstrebt und die Einheit der „Helden- und Liebesgeschichte" innegehalten, obschon kein lineares oder stetiges Fortschreiten gesucht wird, vielmehr

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kombinatorisch ein Geflecht hergestellt ist. Die „historische Wahrheit" beruht auf den Anleihen bei Erasmus Franciscis Ost- und westind. audi sinesischer Lust- und Staatsgarten und anderen Reisebeschreibungen mit ihren grellen, blutrünstigen Berichten. Die Figuren und ihre Liebeshandlung sind frei erfunden. Der Verlauf des wechselvollen Geschehens ist nach den aus Heliodor stammenden Motiven spannungsreich gestaltet. Das vorbildliche Liebespaar ist erfüllt vom christl. Stoizismus, bewährt sich in allen Prüfungen und wird durch Gottes Vorsehung zur glücklichen Vereinigung geführt. Der „gräulige" Tyrann Chaumigren wird in seiner schrankenlosen Machtbrutalität als Vertreter des „Macchiavellismus" schwarz gemalt. Neu ist der getreue Knappe Scandor, ein Nachkomme des Sancho Pansa und des Picaro. Seine Sprache steht im Gegensatz zur höfisch-bildhaften, rhetorischen und sentenziösen des Erzählers, wobei sich noch die aufgedonnerten Partien der Leidenschaft, besonders bei Chaumigren, abheben. Hieran nahmen die Aufklärer besonderen Anstoß, zumal die Wanderbühne ein beliebtes Stüde daraus gemacht hatte. Noch Goethes Wilhelm Meister führt solch Stüde auf seiner Puppenbühne vor, die Oper verwendet den Stoff, der bis in die Ζauberflöte nachwirkt. § 6. Abseits steht Ζ e s e η mit seinen beiden Al'terswerken, den biblischen Staats- und Liebesgesdiichten. Den Josephstoff verwendet Assenat (1670) mit Hineinnahme von vielerlei kuriosem Stoff. Für den Simson (1679) benutzt er Pallavicinis Roman Samsone in der Ubers, von Joh. Wilh. v. Stubenberg (1657). Episoden und Dialoge über Staats- und Moralphilosophie schwellen die magere Handlung. Auch G r i m m e l s h a u s e n versuchte sich in dieser Richtung. Im 5. Jh. wird die „Lieb- und Leidbeschreibung" der beiden Königskinder Dietwald und Amelinde angesiedelt. Meerfahrt, Trennung, Gefangenschaft bei Seeräubern liefern die Spannung. Proximus und Lympide (1672) verwertet eine Legende aus der Erbauungslit. Die Historie des keuschen Josephs in Aegypten (1670) wird als „Exempel unveränderlicher Vorsehung Gottes" erbaulich als volkstümliche Erzählung ausgemalt, wobei außer einer

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Heroisch-galanter Roman — Herolddichtung

Ubers, des Flavius Josephus die Reisebeschreibung des Adam Olearius verwendet wird. Die kriegerischen Ereignisse der 80er Jahre finden in den curiösen Geschichtsromanen eine Spiegelung zu einem „Liebes- und Heldengedichte" Hier wird die Neugier des Kleinbürgers am Treiben der Höfe befriedigt. Eine erfundene Romanhandlung führt die Person mit wunderbaren Abenteuern als Miterlebende der großen Ereignisse der letzten Jahre vor, ähnlich wie es auch die Staatsaktionen der Wanderbühne taten. Ein Hauptfabrikant ist Eduard Werner H a p p e l (1648 -1690) in Hamburg; danach Joachim M e i e r seit 1690. August Β ο h s e (Talander, 16611730) in Halle geht zum „Galanten" über (s. Galante Dichtung). Ludw. C h o l e v i u s , Die bedeutendsten dt. Romane d. 17. lh.s (1866). Günth. M ü l l e r , Barockromane u. Baroderoman. LitwjbGörrGes. 4 (1929) S. 1-29. Leo F a r w i c k , Die Auseinandersetzung mit d. Fortuna im höfischen Baroderoman. Diss. Münster 1941. Antonie Cläre J u n g k u n z , Menschendarstellung im dt. höfischen Roman d. Barock (1937; GermSt. 190). Gerh. Wilh. S t e r n , Die Liebe im dt. Roman d. 17. Jh.s (1932; GermSt. 120). Clemens L u g ο w s k i , Wirklichkeit u. Dchtg. Untersuchg. z. Wirklichkeitsauffassung Heinr. υ. Kleists (1936). Otto W ο ο d 11 y , Die Staatsraison im Roman d. dt. Barock (1943; WegezDchtg. 40). Jos. Ρ r y s , Der Staatsroman d. 16. u. 17. Jh.s u. s. Erziehungsideal. Diss. Würzburg 1913. — Paula K e t t e l h o i t , Formanalyse d. Barclay-Opizsdien 'Argents'. Diss. Münster 1934. George S c h u l z - B e h r e n d , Opitz' Übers, von Barclays 'Argenis PMLA. 70 (1955) S. 455-473. — Friedr. S t o f f l e r , Die Romane d. Α. H. Buchholtz. Diss. Marburg 1918. — Clemens H e s e l h a u s , Anton Virichs 'Aramna (1939; Bonner Btr. z. dt. Phil. 9). Anna M. Schnelle, Die Staatsauffassung in Anton Virichs 'Aramea' im Hinblick auf Calprenedes 'Cleopatre' (1939). Elisab. E r b e ling, Die Frauengestalten in der Octavia' des Anton Ulrich v. Br. (1939; GermSt. 218). — Wolfg. P f e i f f e r - B e l l i , 'Die asiat. Bantse'. Studien z. Cesch. d. höf.-histor. Romans in Deutschland (1940; GermSt. 220). Erika S c h ö n , Der Stil v. Ziglers 'Asiat. Banise'. Diss. Greifswald 1934. — Luise L a porte, Lohensteins 'Arminius', e. Dokument d. dt. Lit.barok (1927; GermSt. 48). Max W e h r 1 i , Das barocke Geschichtsbild in Lohensteins 'Arminius' (1938; WegezDchtg. 31). — Liselotte B r ö g e l m a n n , Studien z. Erzählstil im 'idealist.' Roman von 1643 -1733, mit bes. Berücks. von Aug. Bohse. (Masch.) Diss. Göttingen 1953. — Karl O r t e l , 'Proximus u. Lympida'. Studie z. idealist. Ro-

man Grimmelshausens (1936; GermSt. 177). — Clara S t u c k i , Grimmelshausens u. Zesens Josephromane (1933; WegezDchtg. 15). Marta Julie D e u s c h 1 e , Die Verarbeitung biblischer Stoffe im dt. Roman d. Barock (Amsterdam 1927). Willi B e y e r s d o r f f , Studien zu Ph. v. Zesens bibl. Romanen 'Assenat' u. 'Simson' (1928; FuG.ll). Hans O b e r m a n n , Studien über Ph. v. Zesens Romane 'Die adriat. Rosemund', 'Assenat' u.'Simson'. Diss. Göttingen 1934. Hans K ö r n c h e n , Zesens Romane (1912; Pal. 115). Margarete G u t z e i t , Darstellg. u. Auffassung d. Frau in d. Romanen Phs v. Zesen. Diss. Greifswald 1917. Paul B a u m g a r t n e r , Die Gestaltg. d. Seelischen in Z.s Romanen (1942; WegezDchtg. 39). — Wolfg. van der Β r i e 1 e , Paul Winkler. Diss. Rostock 1918. — Heinr. R e i η a c h e r , Studien z. Übers.technik im dt. Lit.barock. M. de Scudery, Ph. υ. Zesen. Diss. Fribourg 1937. Willi Flemming Herolddichtung (Wappendichtung) § 1. Im Ausgang des 13. Jh.s aufkommende, im 14. und 15. Jh. beliebte Gattung, die nach festem Schema die Wappen fürstlicher und adliger Herren beschreibt, wobei auch allegorischer Ausdeutung Raum gegeben wird. Die kunstgerechte Wappenbeschreibung(Blasonierung, Visierung) setzte genaue Sach- und Personenkenntnis voraus, über die, zumal bei größeren Turnierveranstaltungen, nur qualifizierte Berufsherolde verfügten. Die Bezeichnung „Herold" (franz. h0raut. Sp.s. Diss. Bonn 1906. Adolf B e c k e r , Die Sprache Fr. v. Sp.s (1912). Jos. S c h ö n e n b e r g , Die Metrik Fr. v. Sp.s. Diss. Marburg 1911. V. Μ ο s e r , Fr. v. Sp.s Lautlehre. ZfdPh. 46 (1915) S. 17-80. Eric J a c o b s e n , Die Metamorphosen d. Liebe u. Fr. Sp.s 'TrutznaditigaW (K*»benhavn 1954; Kgl. Danske Vidsk. Selsk. Hist.-fil. Meddelelser 34, 3). P. C h a s t ο η a ν , Sp.s 'Gülden Tugendbudi'. Pastor Bonus 28 (1916) S. 241250. Edw. S c h r ö d e r , Die 'Cautio criminalis', ihreVeröff. u. ihre Entstehungszeit. LitwJb-Görr-Ges. 3 (1928) S. 134-150. Hugo Z w e t s l o t , Fr. Sp. u. d. Hexenprozesse (1954). Jakob Balde: Ausgaben: Carminalyrica.Hg. v. Benno M ü l l e r (1844). Hg. v. Franc. H i p ρ l e r (1856). Ubers.en: H e r d e r , in: Terpsichore 3 (1796), vgl.Sämmtl.W. (hg.v.B. Suphan) 27 (1881). I. B. N e u b i g 4 Bde (1828-1843). Jos. A i g n e r (1831). Pet Bapt. Ζ i e r 1 e r, J. B. als Mariensänger (1897). — Gg. W e s t e r m a y e r , J. B. (1868). Jos. B a c h , J. B. (1904; Straßbg. Theolog. Stud. 6, 3/4). Anton H e n r i c h , Die lyr. Diditgn. J. B.s (1915; QF. 122). N. S c h e i d , B. als Liederdichter. Pastor Bonus 30 (1918) S. 518 ff. J. K n e p p e r , Ein dt. Jesuit als medizin. Satiriker. ArchfKultg. 2 (1904) S. 38-59. M. S c h u s t e r , B. u. d. horaz. Dichtung. Zs. f. dt. Geistesgesdi. 1 (1935) S. 194-206. Simon Rettenbacher (s. a. Dramatiker): Ausgaben: Lyr. Gedichte. Hg. v. Tassilo L e h n e r (Wien 1893). Dt. Gedidite. Hg. v. Rieh. N e w a l d (1930; Sehr. z. dt. Lit. 14). Willi Flemming Jiddische Literatur § 1. Jiddisch ist die Mutter-, Haus- und Gemeinsdiaftssprache der nichtassimilierten asdikenasisdien, d. h. mittel- und osteuropäischen Juden, deren Zahl für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg mit rund 12 Millionen anzusetzen ist, heute aber nur noch 6-7 Millionen beträgt. Es ist um die Wende des 13.

Jiddisdie Literatur Jh.s aus der damaligen dt. Sprache, d. h. aus den spätmhd. Mundarten des Reichsgebietes und des östlichen Kolonialbodens entstanden und späterhin noch über weitere Teile Mittel- und Osteuropas ausgebreitet worden. In Deutschland ist es seit der Aufklärung allmählich verklungen. Durch die um 1880 einsetzende, nach 1945 mächtig gesteigerte jüdische Auswanderungsbewegung hat sich sein Schwerpunkt eindeutig nach Übersee verlagert, teils nach dem selbständigen Judenstaat Israel (wo ihm in der neuhebräischen Staatssprache ein lebensgefährlicher Gegner gegenübersteht), teils nach Südafrika, Argentinien, Kanada und insbesondere den USA, wo sich heute das unbestrittene kulturelle Lebenszentrum des Jiddischen befindet. Das Jiddische unserer Zeit ist eine durchaus moderne Kultursprache. Sie wird in niederen und höheren Schulen gelehrt, in Akademien gepflegt und erforscht; sie besitzt nicht zuletzt ein reiches und vielseitiges Schrifttum, das sich auf ein umfassendes Verlags- und Pressewesen sowie auf ein hochentwickeltes Theater stützt Die j. L. ist so alt wie die Sprache selbst. Zur Frage ihrer Abgrenzung von der dt. Lit. sei betont, daß das Jiddische, soziologisch betrachtet, bereits von seinen Anfängen an ein selbständiges Idiom darstellt und hinsichtlich seines Verhältnisses zum Deutschen höchstens als eine von dessen N a h s p r a c h e n zu bezeichnen ist. Im Laufe seiner Entwicklung hat es sich überdies, nicht zuletzt infolge reichlicher Aufnahme fremden (romanischen, hebräisch-aramäischen, slawischen) Sprachguts, von seiner dt. Grundlage so weit entfernt, daß es für den Durchschnittsdeutschen im allgemeinen fast unverständlich geworden ist, dabei aber auch jene hochgradige Biegsamkeit und Nuancierungsfähigkeit erlangt, wie Wir sie etwa beim Englischen schätzen. Daß die j. L. in der nichtjüdischen Welt bisher nur wenig zu Geltung und Wirkung gelangt ist, ist der so gut wie ausschließlichen Verwendung des hebräischen Alphabets im Jiddischen zuzuschreiben. Wie das gesamte jüdische Kultur- und Geistesleben, so wird auch das jiddische Schrifttum von dem G e g e n s a t z z w i s c h e n T r a d i t i o n u n d M o d e r n e in zwei nicht so sehr zeitlich als vielmehr in-

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haltlich völlig verschiedene, miteinander nur lose verbundene Gebiete geteilt. Heinz K l o ß , Die Entwicklung neuer german. Kultursprachen von 1800 bis 1950 (1952; Schriftenr. d. Goethe-Inst. 1), bes. S. 40-50. Franz J. B e r a n e k , Jiddisch. Stammler Aufr. Bd. 1 (2. Aufl. 1957) Sp. 1955-2000. Von den dort gegebenen Lit.-Hinweisen seien hier nur wiederholt: Salomo B i r n b a u m , Jiddisdie Sprache, in: Jüdisches Lexikon, hg. von Georg H e r l i t z u. Bruno K i r s c h n e r , Bd. 3 (1929) Sp. 269-278. D e r s . , Jiddisch, in: Encyclopaedia Judaica Bd. 9 (1932) Sp. 112127. Jediiel F i s c h e r , Das Jiddische u.s. Verhältnis zu d. dt. Mundarten (1936). — Gesamtdarstellungen der jiddischen Lit.: Meyer P i n e s u. Georg H e c h t , Die Geschichte d. jüdischdeutschen Lit. (1913). Meyer W a χ m a n , A History of Jewish Literature. 4 Bde (New York 1931-1941), Abraham Aaron R ο b a c k , The Story of Yiddish Literature (New York 1940). Salomo B i r n b a u m , Literatur, jiddische, in: Jüdisches Lexikon Bd. 3 (1929) Sp. 1156-1175. N. M e i s l , Jiddische Literatur, in: Encyclopaedia Judaica Bd. 9 (1932) Sp. 127-180. — Zeitschrift: Mitteilungen aus dem Arbeitskreis für Jiddtstik (1955 ff.). $ 2. D i e T r a d i t i o n s l i t e r a t u r . Der Entstehung und Ausbreitung des Jiddischen entsprechend, hat das jiddische Schrifttumsschaffen seinen Ausgang von Südwestdeutschland genommen und sich von hier aus über das übrige Deutschland, nach Österreich, den Sudetenländeni, Ungarn, Polen, Litauen, den Niederlanden und der Lombardei ausgebreitet. Seine Anfänge lassen sich bis ins ausgehende 13. Jh. zurückverfolgen. Von den Werken der Frühzeit ist vieles verlorengegangen oder nur dem Titel nach bekannt; es handelt sich hierbei nicht nur um Handschriften, sondern auch um Erzeugnisse des Buchdrucks, dessen sich das jiddische Schrifttum seit Beginn des 16. Jh.s ausgiebig bediente. Die Drudeorte der vielfach anonym erschienenen jiddischen Bücher liegen anfangs in Süddeutschland, Polen und der Lombardei, später spielen Amsterdam und verschiedene osteuropäische Städte eine bevorzugte Rolle. Der quantitative Höhepunkt der Traditionslit. liegt im ersten Drittel des 18. Jh.s. Dann bewirkten Aufklärung und Assimilation einen jähen Umschwung, der in Deutschland und seinen Nebenländem den vollständigen Untergang von jiddischer Sprache und Lit. bedeutete; im 19. Jh. erschienen hier überhaupt keine jiddischen Bücher mehr. In Osteuropa wurde der Verfall des Tra-

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Jiddische Literatur

ditionsschrifttums durch ständigen Neudrude der alten Werke etwas aufgehalten.

biblischer Erzählungen, die schon in den ersten hundert Jahren nach ihrem erstmaliGegenstand der jiddischen Traditionslit. gen Erscheinen zu Ende des 16. Jh.s 26 sind in erster Linie die jüdische Religion und Neuausgaben erlebte. Das Buch ist zum das religiöse Leben, und auch die Werke eigentlichen Erbauungs- und Erziehungsbuch weltlichen Inhalts beschäftigen sich zumeist der jüdischen Frau geworden und wurde bis mit Dingen des engeren jüdischen Interesses. in unsere Zeit herein immer wieder neu geNur ein beschränkter Teil ihrer Erzeugnisse druckt. Um dieselbe Zeit erschien das besind Originalwerke; ihnen gegenübernehmen rühmte, auf eine stattliche Ahnenreihe zuUbersetzungen,Bearbeitungen und Kommen- rückblickende Maißebuch des Ascher A n tare einen verhältnismäßig großen Raum ein. s e h e 1, das ebenfalls weite Verbreitung fand und unzählige, oftmals veränderte AufÄhnlich wie die deutsche, beginnt die j. L. lagen erlebte. Es enthält mehrere Hundert mit G l o s s e n und handschriftlichen G1 ο s- erbaulicher Erzählungen aus talmudischen, s a r e n zu hebräischen religiösen Werken; im kabbalistischen und neueren rabbinischen Druck erscheinen solche übrigens bis zur Quellen, aber auch manche dt. Volkssage. Gegenwart. Ihnen folgen Ü b e r s e t z u n g e n Waren die Autoren der bisher genannten von Teilen der Bibel, von denen die ältesten Werke zumeist Gelehrte, Rabbiner und aus dem 13. Jh. stammen. Die ersten Uber- fromme Schreiber, so sind als Träger der tragungen des ganzen Pentateuchs erschienen eigentlichen U n t e r h a l t u n g s l i t e r a 1544, 1608 in Prag das beliebte Taitsch- t u r , zu der die letztbehandelte Gruppe Chummesch des Isaak b e n S i m s o n . In hinüberleitet, die jüdischen Spielleute des das 17. Jh. fallen die ersten vollständigen mal. Gettos („Lezim"), ein Seitenstück zu Bibelübersetzungen (des Jekutiel B l i t z und den höfischen Sängern, zu bezeichnen. Nach des Joslin W i t z e n h a u s e n ) , wie solche ihnen wird auch die ganze Gruppe die Spielauch späterhin immer wieder erschienen. Die m a n n s d i c h t u n g genannt. Ihr sind übrierzählenden Teile der Bibel eigneten sich gens bereits einige, und zwar die ältesten auch zu selbständigen gereimten N a c h - Bibelnachdichtungen zuzurechnen. Sie ist für d i c h t u n g e n , von denen etwa das uns von ganz besonderem Interesse, da ihre Sdimuelbuch und das Melochimbuch genannt Stoffe zumeist nichtjüdischen Ursprungs, seien. R e l i g i ö s e L i e d e r sind eben- nämlich der zeitgenössischen dt. und eurofalls vorhanden. Einen breiten Raum nehmen päischen Ritterdichtung entnommen sind. Es die hauptsächlich für die des Hebräischen gibt einen jiddischen Meister Hildebrand und weniger kundigen Frauen bestimmten E r · einen Titrich von Bern, einen Stgenot, einen b a u u n g s - , M o r a l - und R i t u a 1 b ü - Schmied Wieland sowie einen Herzog Ernst. e h e r ein. Die bekanntesten dieser seit dem Die Handschrift des Dukes Horant, der die 16. Jh. belegten Gruppe sind das Middes- Hilde- und Gudrun-Sage zum Gegenstand buch, Ein schein ffoenbiddain des Benjamin hat, ist um fast 150 Jahre älter als deren dt. S1 ο η i k , der Brantsptgl des Moses Henoch Überlieferung. Am bekanntesten ist der im A l t s c h u l , der gereimte Zuchtspigl des 14. Jh. entstandene Künig Artis hof, eine Seligman U l m , das Waiberbuch des Sa- Bearbeitung des Wigalois des Wimt von muel Schmelke b e n C h a j i m sowie El- Gravenberg. Eine jiddische Tristan- und Parchanan Henle K i r c h h a h n s Ssimches ha- zwal-, eine Florus- und Blanceflora-dichtung nefesch; auch die zahlreichen F r a u e n - sind leider verlorengegangen. Ebenso wurden g e b e t b ü c h e r sind hier anzuführen. Die Volksbücherstoffe wie etwa Kaiser Oktavialange Reihe der Erscheinungen dieser Art nus, Fortunatus, Genofeva, die Schöne Mareicht ebenfalls bis in unsere Zeit herein. gelone, Till Eulenspiegel und die SchildAuch die e r z ä h l e n d e L i t e r a t u r bürger nachgedichtet. Auch sind jiddische verfolgt ζ. T. religiös belehrende Absichten. Versionen dt. B a l l a d e n , wie etwa der Hier sind vor allem zwei Werke zu nennen. von den zwei Königskindem, auf uns geEinmal das Ζenne-Renne des Jakob b e n kommen. Gegen Ausgang des MA.s, als sich I s a a k A s c h k e n a s i , eine sehr freie in der nichtjüdischen Welt das bürgerliche Übertragung des Pentateuchs und anderer Zeitalter abzuzeichnen begann, wurde der

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Spielmartn vom „Naxren" oder „Marschalik", dem berufsmäßigen Lustigmacher bei Familienfesten, abgelöst. Den Höhepunkt der N a r r e n l i t e r a t u r stellt Elija L e v i t a (1472-1542) dar, u. zw. mit seinem Bowebuch, einer Bearbeitung des italienischen Romans Buovo dAntone in Stanzen; ihm wird auch das ähnliche Werk Paris un Wiene zugeschrieben. F a b e l b ü c h e r (Kuhbuch des Abraham b e n M a t t a t i a s ) , S a t i r e n und P o l e m i k e n , geschichtliche E r z ä h l u n g e n (Josippon) und L i e d e r , welch letztere von jüdischen Bänkelsängern vorgetragen vniTden(Vinz-Hans-Lid, das die Frankfurter Fettmilch-Unruhen behandelt), P u r i m s p i e l e , die zumeist die biblischen Gestalten Esthers und Josefs zum Gegenstand haben,Reisebeschreibungen, Memoiren ( G l ü c k e l von H a m e l n , 1646-1724), Werke s p r a c h l i c h e n , m a t h e m a t i s c h e n und v o l k s m e d i z i n i s c h e n Inhalts und nicht zuletzt die zahlreichen im Osten bis heute lebendigen, zumeist noch gar nicht aufgezeichneten S c h w ä n k e , M ä r c h e n , R ä t s e l und V o l k s l i e d e r , welch letztere sich ζ. T. an alte dt. Volks- und Meisterlieder anlehnen, vervollständigen das Bild der jiddischen Traditionslit.

art und 'achtunggebietendem Umfang erwuchs. Dieser Aufstieg vollzog sich — nach einer vom aufklärerischen T e n d e n z s c h r i f t t u m beherrschten Vorbereitungszeit — erstaunlich rasch. Bereits in die zweite Hälfte des 19. Jh.s fällt das Wirken der drei Klassiker der Sprache, Mendele M o c h e r S f o r i m (1836-1917), Jizchok Leib P e r e z (1851-1915) und S c h o l e m A l e c h e m (1859-1916), die mit ihren Schilderungen des ostjüdischen Kleinstadtlebens den modernen literar. Stil der jiddischen Sprache geschaffen haben und damit als die Wegbereiter des modernen jiddischen Schrifttums zu bezeichnen sind. Nach- und nebeneinander finden wir in diesem alle Richtungen der Weltlit. vertreten, von Realismus, Naturalismus und Neoromantik bis zu Futurismus, Impressionismus und Expressionismus. Sein Inhalt ist von gewaltiger Spannweite: „Stilles Menschenleid, große Leidenschaft, Abenteuer, phantastische Geschehnisse, Freude am Sein, bitterer Weltschmerz, Einsamkeit, Intrigen, Memoiren, Massenbewegungen, nationales Erleben, sozialer Kampf, Natur, Legende, Exotisches, Biblisches, Symbolisches." (Salomo B i r n b a u m , in: Jüdisches Lexikon Bd. 3, Sp. 1169.) Auch sind bereits in der ersten Generation Carlo H a b e r s a a t , Repertorium d. jid- alle Dichtungsgattungen vertreten. Auf dem dischen Hss. Rivista degli studi orient., Rom Gebiete der L y r i k seien von deren Re29 (1954) S. 53-70; 30 (1955) S. 235-249; 31 präsentanten nur Simon Samuel Frug (1860(1956) S. 41-49. Max G r ü n b a u m , Jüdisch1916), Morris Wintschewski (1856-1932), deutsche Chrestomathie (1882). Wilh. S t a e r k Morris Rosenfeld (1862-1923), David Edelu. Albert L e i t z m a n n , Die jüdisch-deut- stadt (1866-1892), Jehoasch (1871-1927), A. schen Bibelübersetzungen (1923). L. F u k s , Ljessin (geb. 1872) und Abraham Reisen The Oldest Literary Works in Yiddish in a (geb. 1876) genannt. Die E r z ä h l u n g Manuscript of the Cambridge University Library. Joum. of Jew. Stud., London, 4 (1953) wurde außer von den drei Klassikern u. v. a. S. 176-181. Alfred L a n d a u , Arthurian Le- von Jakob Dineson (1865-1919), Mordechai Spektor (1858-1925), JehudaSteinberg (1861gends (1912). David K a u f m a n n , Die Memoiren der Glückel von Hameln (1896). 1908), Sch. An-Ski (1863-1920), David FrischWalter S a 1 m e η , Das Erbe d. ostdeutschen man (1865-1922), Hirsch David Nomberg Volksgesanges (1956) S. 92-95; 117. (1876-1927) und S. J. Onochi (geb. 1876) ge§ 3 . D i e m o d e r n e L i t e r a t u r hat pflegt. Die Grundlagen des modernen jidsich keineswegs aus dem Schrifttum der Tradition entwickelt. Sie wurzelt vielmehr in der dischen T h e a t e r s haben Abraham GoldAufklärung, deren jüdische Form, die H a s - faden (1840-1908) und Jakob Gordin (1853k a l a , dem Jiddischen ursprünglich feind- 1909) geschaffen. In ihren Spuren schritten lich gegenüberstand und in Deutschland auch Leon Kobrin (geb. 1872), David Pinski (geb. tatsächlich den raschen Niedergang dieser 1873), Mark Arnstein (geb. 1879), Perez Sprache bewirkt hat. Das osteuropäische JuHirschbein (1880-1926) u. a. Auch der jiddentum hingegen gelangte auf dem Umweg über sie zur nationalen Selbstbesinnung, aus dische E s s a y sowie das w i s s e n s c h a f t der dann eine völlig neue, europäisch orien- l i c h e und p u b l i z i s t i s c h e S c h r i f t tierte Lit. von ausgeprägter volklicher Eigen- t u m erreichten bald eine beachtliche Höhe. Reallexikon I

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Jiddische Literatur — Jugendliteratur

Übrigens schreiben manche jiddische Literaten audi in neuhebräischer Sprache. Bereits einige von den vorstehend Genannten sind später nach den USA übersiedelt, wo sie die anders geartete Problematik des jüdischen Lebens vor ganz neue Aufgaben stellte. Von den hier lebenden jüngeren jiddischen Dichtem und Schriftsteilem sind etwa zu nennen: Baruch Glasman, Moses Nadir, Mani-Leib, H. Leiwik, Josef Opatoschu, A. Rabai, Sis che Landau, Moses Leib Halpem. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde durch die damit ausgelösten politischen Veränderungen die bisherige Einheit der modernen j. L. vollends zerrissen. In der Sowjetunion suchten damals u. a. David Bergelson, Moses Kulbak, Perez Markesch, Der Nister, David Hofstein, Leib Kwitko, Itzik Pfeffer, Isi Charik sowie das „Staatliche jiddische Theater" in Moskau neue Wege; doch trat hier bereits in den Dreißigerjahren ein fühlbarer Verfall des jiddischen Kulturlebens ein. Dem jiddisdien Schrifttumsschaffen im übrigen Osteuropa, vor allem in dem alten jüdischen Kemland Polen, wo neben anderen Itsche Meir Weißenberg, David Einhorn, Moses Broderson, Uri Zwi Grünberg, Sdimuel Jankew Imber, Meledi Rawitsdi, David Königsberg, Simon Horontschik, Oser Warschawski, Alter Kazisne wirkten und die jiddische Theaterkunst in der „Wilnaer Truppe" eine seltene Höhe erreichte, bereitete der Zweite Weltkrieg ein Ende. Einige jiddische Literaten, wie etwa A. Suzkower und I. Papemikow, haben ihren Wohnsitz nach Israel verlegt. Dorthin war auch aus Amerika der in Deutschland durdi seine Romane am bekanntesten gewordene jiddische Schriftsteller Schalom Asch (1880 -1957) kurz vor seinem Tode übersiedelt. Leo W i e n e r , The History of Yiddish Literature in the Nineteenth Century (New York 1899). Nathaniel Β u c h w a 1 d , History of Yiddish Literature in America (New York 1921; Cambridge History of American Lit. 4). In jiddischer Sprache: Salman R e i s e n , Leksikon fun der jidischer literatur, prese un filologie (2. Aufl. 1926-1930). Franz J. Beranek

Journalismus s. Zeitung Jugendliteratur § 1. Die Bezeichnung J. faßt die Fülle der literar. Erzeugnisse zusammen, die der heranwachsende Mensch vom Kleinkind bis zum

Jugendlichen der Entwicklungsjahre bevorzugt aufnimmt und liest. J. kann vom Autor eigens für Jugendliche bestimmt sein, sie kann audi ursprünglich Erwachsenenlit. sein. Einzelne Werke, Werke bestimmter Autoren, aber audi ganze Gattungen sind im Laufe eines mehr oder weniger langen Gebrauchsprozesses zur J. geworden, so daß sich von „abgesunkener Erwachsenenliteratur" sprechen läßt. Die J. umfaßt entsprechend ihren unterschiedlichen literarhistorischen Wurzeln und den durch Alter und Geschlecht der Jugendlichen verschiedenen Anforderungen, die an sie gestellt werden, sehr verschiedenartige literar. Gattungen, deren Wesen zunächst im einzelnen geklärt werden muß, ehe sich gemeinsame Charakteristika ergeben können. Die G e s c h i c h t e der J. hat innerhalb der allgemeinen Literaturgeschichtsschreibung kaum eine Rolle gespielt. Sie hat erst im Gefolge literaturpsydiologisdier, -pädagogischer und -soziologischer Forschungen Beachtung und Darstellung gefunden. Herrn. L. K ö s t e r , Geschichte d. dt. J. in Monographien (4. Aufl. 1927). Josef Ρ r e s t e 1, Geschichte d. dt. Jugendschrifttums (1933; Hdb. d. Jugendlit. 3). Irene G r a e b s c h , Geschichte d. dt. Jugendbuches (1942; Beitr. z. Volksbüdiereikde3; 2. Aufl. unter d. Namen D y h r e n f u r t h - G r a e b s c h 1951).

§ 2. Am nächsten kommt man der Entwicklung der J., wenn man sie von der Entwicklung ihrer vergleichsweise selbständig nebeneinander herlaufenden Gattungen betrachtet. In der Frühzeit der dt. Lit. gab es — abgesehen von den in sehr alte Schichten zurückweisenden Wiegenliedern und Kinderreimen — keine eigentliche J. Der Heranwachsende nahm an der Dichtung der Erwachsenen teil. Die lat. Sdiullelotüre des MA.s nahm kaum Rüdcsidit auf Geschmack und Fassungsvermögen des Jugendlichen. Frühestes Zeugnis für unterhaltende Jugendlektüre — für die weibliche und die männliche Jugend schon verschiedene Themen — ist Thomasin von Circlaeres Betrachtung der höfischen Epen als Lesestoff für die Jugend {Der wälsche Gast V. 1026-1162):

der Ju-

gendliche kann wie der Ungebildete die Wahrheit nur als bilde und im Gewand der lüge verstehen; Thomas ins Abstempelung der „äventiure" als J. dürfte allerdings mehr ein aus geistlidi-gelehrter Sicht getaner

Jugendliteratur Schachzug gewesen sein. Immerhin ist aber noch Schillers ästhetischer Ansatz {Die Künstler) dem des Thomasin verwandt, wenn audi erheblich vertieft und ins Mensdiheitsgeschichtliche umgedacht. Audi das erste wirklich für Kinder bestimmte Werk, das die Rittergeschichten durch fromme Stoffe ersetzen wollte, ging von der Voraussetzung aus, daß der Jugendliche Lehre am besten in der beispielhaften Erzählung erfaßt: Der Seele Trost (Anfang 15. Jh., Druck 1478) madit die Zehn Gebote und die sieben Sakramente in rund 200 Geschichten nach Art der Predigtmärlein deutlich. Ähnlich versuchte Conrad von Dragolsheim mit seinem Reimkalender (1435) den Kindern das Lernen der Kalenderheiligen zu erleichtern. § 3. Eine wirkliche Grundlegung erfuhr die J. in dem pädagogisch interessierten 1 6. J a h r h u n d e r t . Abgesehen von der Teilnahme der Jugendlichen an den erzieherischen Schriften des Protestantismus — Bibel, Katechismus, Gesangbuch — wurden eigens für das Kind geistliche Gesänge zusammengestellt (Nicolaus Hermann, 1561), Bilderbibeln für die Jugend erschienen, die in das MA. zurückweisenden Tischzuchten wurden besonders für den jungen Menschen zugeschnitten. Ein Christlich Ratbüchlein für Kinder. Aus den Rüchern Salomonis und Jesu Sirach fleißig zusammengebracht erschien in Straßburg 1535, und ein Rudi von den sieben Hauptsünden wurde 1558 der Jugend zur Warnung vorgehalten. Aus diesem Bereich des S i t t e n s p i e g e l s konnten über den Weg des veranschaulichenden Beispiels Erzählungen und Dramen erwachsen. Hierher gehören die Geschichten in Marquart von Steins Der Ritter vom Turn oder der Spiegel der Tugend und Ehrsamkeit (1519) nach dem Französischen des Chevalier La Tour. Hierher gehört vor allem Jörg Wickrams Der jungen Knaben Spiegel (1554), der nach des Autors Willen auf dt. Schulen als Lesebuch benutzt werden sollte und der im 17. Jh. in den Jugendspiegel des Hamburger Schulmeisters Christoph Hager einging. Das bei Wickram angeschlagene Thema vom verlorenen Sohn klingt noch in Der stolze Melcher fort, jener Geschichte vom zum Soldaten gewordenen Bauernsohn, die Grimmelshausen 1673 „der gern kriegenden teutschen Jugend zum Messkram" verehrte.

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§ 4. Ein besonderes Instrument schufen sich die Gymnasien des 16. Jh.s im Schultheater, der ersten und bedeutendsten Form des J u g e n d t h e a t e r s . Wenn auch die Wahl der Stoffe den Rahmen des für Jugendliche Faßlidien und Nutzbaren überschritt, so ist doch kein Zweifel, daß der darstellende Schüler nicht nur formal, sondern auch sittlich-moralisch erzogen werden sollte. Die häufige Wahl des Stoffes vom verlorenen Sohn ist nicht einzig der Tatsache zuzuschreiben, daß sich daran Lehren des Protestantismus veranschaulichen ließen, sondern auch der, daß der Entwicklungsgang junger Menschen daran aufzuzeigen war. Bei Wickrams Dramatisierung seines Knabenspiegels (1554) und etwa an Rassers Kinderzucht (1574) ist die Berührung mit Sittenspiegel und Zuchtbüchlein ganz deutlich. Diese Aufgabe gesellschaftlicher Vervollkommnung und moralischer Belehrung blieb dem Jugendtheaterin den Schuldramen und Schauspieltheorien Christian Weises ebenso wie in den Kinderstücken des 18. Jh.s (Pfeffel, Bodmer, Weisse, SchummeJ, Salzmann, Christian Sartorius, K. Jauffret). Den Vorrang des Belehrenden wahrten noch im 19. Jh. Karl Kannegiesser (Schauspiele für die Jugend und gesellschaftlichen Kreise, 18441849) und Agnes Franz (Kindertheater, 1841), während in den Spielen und Kasperlstücken des Grafen Pocci die zweckentbundene romantische Märchenwelt zum Durchbruch kam. Auch sind Poccis Spiele ζ. T. schon als nicht von Kindern, sondern für Kinder gespielt zu denken, eine Form des Jugendtheaters, der die Bühnen noch heute durch Aufführung von Märchen und Kinderstücken (Gerdt v. Bassewitz, Peterchens Mondfahrt, 1912) einen gewissen Platz einräumen. Auch die Oper hat daran teil (Engelbert Humperdinck, Hänsel und Gretel, 1893; Die Königskinder, 1910; Norbert Schultze, Schwarzer Peter, 1936). Das von Jugendlichen gespielte Theater mit eigens dafür geschriebenen Stücken ging in die Laienspielbewegung ein. Herrn. S c h u l t z e , Das dt. Jugendtheater (1941). Gertraude D i e k e , Die Blütezeit d. Kindertheaters (1934; Die Schaubühne 8). Marg. Κ ο b e r , Das dt. Märdiendrama (1925;

Dt. Fsdign. 11).

§ 5. Eine weitere literar. Gattung veranschaulichter Morallehre, die das 16. Jh. der 49'

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J. zuwies und die das 18. Jh. fortsetzte, ist die F a b e 1 (s. d.). Schon Luthers Unternehmen, einige Fabeln aus dem Aesop „um der Jugend willen zu fegen und ihnen ein wenig besser Gestalt zu geben, denn sie bisher gehabt", zeigt diese pädagogische Absicht. Burkard Waldis' Esopus (1557) entstand zu „Dienste und Förderung" der Jugend, Rollenhagens Tierepos Frosdimeuseler (1595) war ausdrücklich für die Jugend „zur anmutigen, aber sehr nützlichen Lehr" bestimmt. Die Bedeutung der Fabel als erzieherische Jugendlektüre reicht bis zu Heys Fünfzig Fabeln für Kinder (1833).

führte. In dieser weitverbreiteten Zeitschrift fingierte Weisse Unterhaltungen einer Familie, zu der vier Haus- und Kinderfreunde geschichtliches, naturkundliches, mythologisches und literar. Wissen und zahlreiche Erzählungen beisteuerten. Fortgesetzt wurden diese Gespräche im Briefwechsel der Familie des Kinderfreundes (1784-1792). Rochows Bauemfreund (I 1773, II 1776, beide Teile zusammen als Kinderfreund 1776) wandte sich an ländliche und weniger gebildete Kreise. L. G ö h r i n g , Die Anfänge d. dt. J. im 18. Jh. (1904).

§ 6. Während diej.desl6. Jh.s den Hauptwert auf die sittliche Erziehung legte, übernahm das 18. Jh. vom 17. den enzyklopädischen Zug, neben die moralische Aufgabe trat die der Wissensbereicherung. So entstammt denn auch das bedeutendste und das ganze 18. Jh. hindurch wirksam gebliebene Werk der Jugendbildung noch dem Jahre 1658: Comenius' Orbis sensualium pictus gab vom ABC bis zur Sittenlehre alle „Weltdinge und Lebensverrichtungen" im Bild und in dt. und lat. Benennung und Erklärung wieder. Auf dieser E n z y k l o p ä d i e , die noch die Ganzheit der Welt von dem Menschen als Mittelpunkt her zu fassen suchte, fußten Basedows Elementarwerk (1770-1774) mit Kupfern von Chodowiecki, Salzmanns Elementarbuch (1785-1795), Bertuchs Bilderbuch für Kinder (1790 ff.). Im 19. Jh. spalteten sich von dieser Gesamtschau Realienbücher für einzelne Wissensgebiete ab, während die jüngste Zeit nach anglo-amerikanischem Vorbild wieder dazu übergegangen ist, dem Heranwachsenden eigene Jugendlexika an die Hand zu geben.

§ 8. Die wichtigste unterhaltende Gattung in diesen Zeitschriften war die m o r a l i s c h e E r z ä h l u n g , die in Predigtmärlein und Sittenspiegel vorgeprägt war. Hatten noch zu Beginn des Jh.s die Erzählstoffe der Bibel in dieser Form dargeboten werden können (Johann H. Hübner, Zweimal 52 biblische Historien und Fragen, 1714), so löste man sich im Laufe des Jh.s immer mehr vom religiösen Lehrgut, an dessen Stelle die Morallehre trat. Vorbild wurde Marie Leprince de Beaumonts Magazin des enfants ou dialogue entre une sage gouvemante et plusieurs de ses 0leves de la premiere distinction (1757): von einer biblischen Erzählung ausgehend wurden hier Märchen und Erzählungen angeknüpft, die in einer Moral gipfelten. In Deutschland wurde die moralische Erzählung vertreten durch J. P. Millers Moralische Erzählungen (1753), Basedows Kleines Buch für Kinder aller Stände (1771), Bodmers Sittliche und gefühlreiche Erzählungen (1773), Salzmanns Unterhaltungen für Kinder und Kinderfreunde (1778 ff.) und zahlreiche weitere Erzählungen, Musäus' Moralische Kinderklapper für Kinder und Nichtkinder (1788) und vor allem durch August Jacob Liebeskinds von Herder eingeleitete Palmblätter (1786). Auch ein Teil der Erzählungen in Hebels Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes (1811) und seine Biblischen Erzählungen für die Jugend (1824) waren für Kinder gedacht. Die moralische Erzählung ist noch bis in die Mitte des 19. Jh.s — nun allerdings eingefärbt vom neuerlich pietistischen Zeitgeist — die beherrschende Gattung in der J. geblieben. Hier sind zu nennen die von katholischer Frömmigkeit geprägten Erzählungen des Pfarrers Christoph

§ 7. Das 18. Jh. brachte mit Rousseau und den Philanthropisten neue Grundlagen der Erziehung. Man bemühte sich um Kenntnis des kindlichen und jugendlichen Geistes. Die geeignete Verbreitungsform fanden die neuen Gedanken durch die Moralischen Wochenschriften (s. d.). Die Wochenschrift zum Besten der Erziehung und der Jugend (1771) war die erste Elternzeitschrift mit Kinderbeilage, die Verselbständigung der letzteren vollzog dann Adelung mit dem Leipziger Wochenblatt für Kinder (1772-1774), die Christian Felix Weisse unter dem Titel Kinderfreund (1775-1782) erfolgreicher weiter-

Jugendliteratur von Schmid (Ostereier 1816, Rosa von Tannenburg 1820, Erzählungen für Kinder und Kinderfreunde 1823-1829), die seit 1830 erscheinenden über 200 Schriften des Dresdener Schullehrers Gustav Nieritz (17951876), ferner Franz Hoffmann, Friedrich Jacobs, Andreas Christian Lohr, Friedrich Ph. Wilmsen, Ernst von Houwald, der auch Kinderstüdce schrieb, Amalie Schoppe, die etwas realistischeren und frischeren Erzählungen von Isabella Braun, Elise Aberdiedc und Ottilie Wildermuth (Bilder und Geschichten aus dem schwäbischen Leben 1852-1854, Aus Schloß und Hütte 1861) und schließlich die bis heute lebendig gebliebene Heidi (1881) der Johanna Spyri. Auch A.Cosmars hübsche Spielzeuggeschichte Die Puppe Wunderhold (1839) ist wegen ihrer moralischen Tendenz hier einzubeziehen. Hugo B e y e r , Die moralische Erzählung in Deutschland bis zu Heinr. v. Kleist (1941; FrkfQuFschgn. 30). § 9. Auch Johann Heinrich Campes Kleine Kinderbibliothek (1779-1784) enthielt neben Fabeln, Gedichten und Spielszenen im wesentlichen moralische Erzählungen. Campe verwirklichte mit diesem Werk seine Ansicht, daß den Kindern auf den verschiedenen Altersstufen unterschiedliche Lektüre geboten werden müsse. Die erste der auf die Kinderbibliothek aufbauenden, für die reifere Jugend bestimmten Reisebeschreibungen wurde Robinson der Jüngere (1779). Die einer Anregung in Rousseaus Emile folgende Bearbeitung verknüpft die Reize des Abenteuerromans mit den moralisierenden und enzyklopädischen Bestrebungen der Zeit, die den Faden der Handlung unterbrechenden belehrenden Gespräche nehmen die im Kinderfreund, dem philanthropischen Schrifttum und den moralischen Wochenschriften bewährte Dialogfonn auf, und der die Robinson-Bearbeitung von J. C. Wezel (1778-1779) verdrängende Erfolg Campes ist bei Berücksichtigung des Zeitgeistes gar nicht so verwunderlich. Campe begründete mit diesem Werk und den sich daran anschließenden Reisebeschreibungen (Die Entdeckung von Amerika, 1781) die A b e n t e u e r g e s c h i c h t e für Jugendliche (s. a. Abenteuerroman). Außer den zahlreichen Robinsonaden und Lossius' durch St. Pierre beeinflußter Erzählung Gumal und Lina (1795) wurde

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die Gattung durch dt. Autoren zunächst kaum vermehrt. Man las die Übersetzungen von Cooks Reisebeschreibungen(1773-1784), Coopers Lederstrumpf (1823-1841) und Marryats Sigismund Rüstig (1841), später auch von Beecher-Stowes Onkel Toms Hütte (1852). Die erste dt. Indianergeschichte stand in Friedrich Ph. Wilmsens Geschichtensammlung Miranda (1825); mit der starken dt. Auswanderung der 40er Jahre nahm dann die Produktion ethnographischer Erzählungen zu, wenn auch Sealsfieldis und Gerstäckers Werke nicht für Jugendliche gedacht waren. Friedrich Pajeken (1855-1922) und Karl May (1842-1912) waren in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s die wichtigsten Vertreter der Indianergeschichte. W. O. v. Horn (d. i. Wilhelm Oertel, 1798-1876) schrieb Seegeschichten, deren Bestand später durch Gorch Fodcs Seefahrt ist not (1913) und durch die Seekriegebücher nach dem ersten Weltkrieg erweitert wurde. C. Falkenhorst (d. i. Stanislaus v. Jezewski, 1853-1913) pflegte die im Kaiserreich beliebte Kolonialgeschichte, der r wohl Zusammenhänge sehen müssen mit tien seit dem 13. Jh. immer zahlreicher auftretenden Marienklagen und den Dichtungen und Schriften, die das Leiden Christi behandeln und die der religiösen Literatur vom 13. Jh. an einen ganz neuen Zug anfügen. Auch die zahlreichen dt. Sündenklagen des 11. und 12. Jh.s, selbständigp und in größere Dichtungen eingebaute (ζ. B. in des Armen Hartmann Rede vom Glauben), wird man mit einer eigenartigen Sonderentwiddung der mittelalterlichen L. in Verbindung bringen müssen. In der gallikanischen L. erscheinen zuerst persönliche Schuldbekenntnisse (Apologien). „Schon seit dem 9. Jh. brechen sie auch in die röm.-fränk. L. ein, erreichen im 11. Jh. eine unheimliche Stärke und Ausdehnung, um dann fast wie mit einem Schlag zu verschwinden. . . . Es ist nicht leicht, die Gedankenwelt zu erfassen, aus der diese merkwürdige Saat aufgegangen ist, die in fast erschreckender Weise von Sündenbewußtsein und Sündennot zu uns spricht. Neben einem nicht näher zu bestimmenden volksmäßigen Faktor wird man jedenfalls in Anschlag bringen müssen, daß einerseits die gallische Ineinssetzung von Gott und Christus den Gedanken an die erlösende Gnade verdunkelt hat, und daß anderseits bis ins 11. Jh. die sakramentale Buße selbst in Klöstern nur einmal im Jahr gebräuchlich war, während dem Bekenntnis als solchem wegen der damit verbundenen erubescentia damals eine außerordentliche Höhe sündentilgender Kraft zugeschrieben wurde. Die Ausschaltung der Apologien wird mit den klarer werdenden Begriffen von der Sündentilgung und auch mit dem einsetzenden freieren Gebrauch des Bußsakraments zusammenhängen" (Jungmann, I, 104 ff.). Genaue Untersuchungen der hier genannten und anderer noch auftretender Probleme könnten unser Verständnis für die religiöse

Liturgie — Lobgedicht Dichtung und Literatur des MA.s wesentlich fördern.

Anton L i n s e n m a y e r , Geschichte d. Predigt in Deutschland von Karl d. Gr. bis z. Ausgange d. 14. Jh.s (1886). Wilh. W a 11 e r, Die dt. Bibelübersetzung d. MA.s (1889-92). Paul L e h m a n n , Die Parodie im. MA. (1922), Anh. (1923). Franz Jos. D ö 1 g e r, Sol salutis (2. Aufl. 1925; L.geschichtl. Fschgn. 4/5). Hans Bork, Chronolog. Studien zu Otfrids Evangelienbuch (1927; Pal. 157). Paul P i e t s c h , Ewangely u. Epistel Teutsdi. Die gedruckten hdt. Perikopenbücher, 1473-1523 (1927). Rob. S t r o p p e l , L. u. geistliche Dichtung zwischen 1050 u. 1300 (1927; Dt. Fsdign. 17). Friedr. M a u r e r , Studien zur mdt. Bibelübersetzung vor Luther (1929; GermBibl. 2, 26). Hans R o s t , Die Bibel im MA. (1939). Jos. Andr. J u n g m a n n , Missarum Sollemnia (s. § 3). Winfried K ä m p f e r , Studien zu den gedruckten mndt. Plenarien (1954; Niederdt. Studien 2). Inge Μ ο e h 1, Die Einflüsse d. Logos-Lux-Vita-Theologie auf d. frühmhd. Dichtung (Masch.) Diss. Tübingen 1954. M. D. M o o s b r u g g e r , Liturg. Gut in d. ahd. Sprachdenkmälern. (Masch.) Diss. Innsbruck 1954. Wolfg. S t a m m l e r , Mitteldterl. Prosa in dt. Sprache (s. §8). Annelies Julia H o f mann, Der Eucharistie-Traktat Marquards von Lindau. (Masdi.) Diss. München 1956. Friedr. Ο h 1 y, Hohelied-Studien (1958; Sehr. d. Wiss. Ges. an d. J. W. v. Goethe-Univ. Frankf. Geisteswiss. R. 1). Heinz R u p p , Dt. religiöse Dichtungen d. 11. u. 12. Jh.s (1958). (Der Artikel verwertet in weitem Umfang folgende von Josef G ö t z e n verfaßte Artikel der 1. Auflage: Brevier, Gebetbuch, Psalterium, Liturgie.) Josef Götzen — Heinz Rupp

Lobgedicht § 1. Der B e g r i f f s b e s t i m m u n g nach ist L. ein lyrisches oder episches Versgebilde, in welchem der Dichter Personen oder Gegenstände irgendwelcher Art mit Lob bedenkt, und dieses Lob nicht nur nebenher erteilt wird, sondern als Hauptthema dem Gedicht zugehört. Genauere Unterscheidung ermöglicht der G e g e n s t a n d , dem das Lob gilt. Manche Dinge erfreuen sich durch die Jh.e stetiger Beliebtheit bei den Dichtern, so etwa das Lob des Weines und der Liebe von den dt. Neulateinem über die Anakreontik bis zur Gegenwart oder die Motivik des religiösen Gottes- und Schöpfungslobs von Jacopone da Todis Laudi an. Art und Weise dieses Lobens unterliegt dabei den Bedingungen des Zeitstils. Das epische Lobgetichte auf Bacchus bei Opitz (nach dem Niederländer Daniel Heinsius) enthält Lob des Weins, bedient sich aber dazu allegorisch-mythologischer Umschreibungen. Der

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Lobpreis von Flüssen (Rhein, Donau) und Städten (Heidelberg) ist humanistischen Ursprungs, findet sich in deutscher Sprache bei Hans Sachs (Nürnberg), Weckherlin, Michael Denis (Wien), Goethe (Römische Elegien), • Hölderlin, Platen (Florenz, Venedig-Sonette) durchgehend bis zu dem Naturalisten Julius Hart, der die Großstadt Berlin besingt, oder Georges Stadt-Sprüchen und Rilkes Stadtgedichten. Nachdem Pierre Ronsard die Sterne, die Jahreszeiten oder auch Abstrakta wie die Philosophie zu Gegenständen des hymnischen Lobpreisens erhoben hatte, fanden auch sie mit Martin Opitz und seinen Nachfolgern in das deutsche L. Eingang. Noch bei Johann Peter Uz (Der Frühling) findet sich davon ein Niederschlag, ebenso in Höltys Hymnen An die Morgensonne, An den Mond. Hier ließe sich fragen, wie weit bei dem Dichter auch ein religiöses Fühlen mitschwingt. Die r e l i g i ö s e Lyrik kennt seit dem frühen MA. den Lobpreis der Heiligen (Georgslied) und der Gottesmutter (Melker Marienlied, mhd. Leich- und Spruchdichtung), der auch im Meistergesang ein obligatorisches Thema für den Zunftangehörigen bildete. Diese christliche Thematik im religiösen L. setzt sich fort über Klopstodc (Dem Erlöser) und die Romantik bis in unsre Zeit. Davon zweigt sich im 18. Jh. ein Lobpreis ab, der sich außerhalb des kirchlichen Zusammenhanges stellt, jedoch religiös bedingt bleibt. Albrecht v. Hallers Oden-Fragment Über die Ewigkeit, Ewald v. Kleists Lob der Gottheit, philosophische Gedichte Schillers (Die Ideale u. a.), Hölderlins frühe Hymnen an die Menschheit und Novalis' Hymnen an die Nacht gehören in diesen Bereich. Daneben zeigt sich eine mehr pantheistische Richtung bei dem späteren Hölderlin (An den Aether u. a.) und in Hymnen des jungen Goethe (Meine Göttin, Das Göttliche). § 2. Im e n g e r e n S i n n lassen sich mit dem Begriff L. jedoch nur Gedichte bezeichnen, in denen das Lob einer namentlich erwähnten P e r s o n der Gegenwart oder der noch aktuellen unmittelbaren Vergangenheit angestimmt wird. Ausgeschlossen ist damit neben den oben genannten Themen auch die Feier einer vom Dichter entfernteren historischen Persönlichkeit und die in der Liebeslyrik häufige Feier des Du, einer realen oder auch imaginären Geliebten. In die-

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Lobgedicfat

ser Hinsicht ist etwa Liliencrons verspätetes Lob auf Goethe kein L. Terminologisch wurde zwischen dem religiösen „Lobgesang" und dem L. zunächst kein Unterschied gemacht. Weddierlin nannte gerade seine Preisgedichte auf Fürsten (also L.e in unserm Sinne) Lobgesänge; Opitz nimmt letzteres Wort gleichbedeutend mit Hymne (Buch von der Dt. Poeterey, D 3 b) und verwendet es für Gedichte religiösen wie weltlichen Inhalts. Paul Gerhardt bezeichnet mit Lobgesang seine geistliche Hymnik; seither hat sich eine Unterscheidung zwischen Lobgesang und L. genanntem weltlichen Preislied herausgebildet. Nach dieser Definition tritt das L. zeitweise in nahe Beziehung zur Gelegenheitsdichtung, auch wenn es sich der gehobeneren Ausdrucksform der Ode bedient. Es erwächst aus dem Glauben, daß der Dichter durch seinen Vers den Nachruhm der gefeierten Person verbürgt und zum Austeilen von Lob und Tadel befugt ist. Diese Vorstellung von der Aufgabe des Dichters stammt aus der Antike und wird in der europäischen Renaissance- und Barockliteratur zu einem vielzitierten und schließlich abgenutzten Topos, der zeitweilig zum Vorwand für einträgliche Lobhudeleien gegenüber den Gönnern der Dichter dient. Ein krasses Beispiel für die Verbindung dieses Topos vom Nachruhm spendenden Poeten mit einem schmeichlerischen L. findet sich bei dem neulat. Dichtervaganten Peter L u d e r (um 1440) in einem Schreiben an den Kurfürsten Friedrich den Siegreichen von der Pfalz (K. Hartfelder in: Ζs. f . Gesch. d. Oberrheins, N. F. 6,1891, S. 143). § 3. Geschichtliche V o r b i l d e r für das dt.sprachige L., soweit es im engeren Sinn Preislied auf hochstehende Personen der Gegenwart oder Freundeslob darstellt, finden sich schon in der antiken Literatur. Pindars Epinikien zur Feier von Athleten, was bei den Siegern im Wagenrennen (Theron, Hieron) das Lob sizilianischer Tyrannen nicht ausschließt, wurden freilich zu spät genauer bekannt. Eher wirkte das Beispiel einiger Oden des Horaz (Verhältnis zu Augustus, zu Maecenas). Das Preislied (s. d.) der Skalden des skandinavischen Nordens findet in unsrer Lit. einen vereinzelten Nachhall höchstens im christl. Ludwigslied, das den west-

fränkischen König Ludwig III. als Sieger in der Schlacht bei Saucourt (881) feiert. Entscheidend für das Aufkommen des L.s in seinen beiden Haupttypen als Fürstenlob und Preis mitstrebender Freunde wirkt sich erst der Einfluß der neulat. Dichtung des Humanismus aus. Hier ist auf deutschem Boden das L. als Panegyrikon schon voll ausgeprägt. Hieronymus G e b w y l e r , elsässischer Humanist aus dem Kreis um Wimpfeling und Brant, singt in seiner Panegyris Carolina (1521) das Lob Karls V. anläßlich seiner Thronbesteigung; der schwäbische Humanist Heinrich B e b e l feiert in mehreren L.en (1496) seinen Herzog Eberhard. Zu epischen Dichtungen ausgeweitet findet sich solches Fürstenlob in H u t t e n s Panegyricus auf Erzbischof Albrecht v. Mainz (1514) und bei Hermann v. dem B u s c h e in dessen Hypanticon (1520). Das Lob mitstrebender Humanistenfreunde erklingt vielleicht am reinsten in Elegien des Petrus L o t i c h i u s S e c u n d u s und bei Jacob B a l d e . Vohier aus und von der gleichgerichteten natio nalsprachigen Dichtung des europäischen Auslandes dringt das L. in die dt. Dichtung des 17. Jh.s ein. § 4. Einen ersten Höhepunkt erreicht das auf fremdsprachigen Vorbildern beruhende Fürstenlob in den Oden und Gesängen (1618 -1619) von Georg Rudolf W e c k h e r l i n . Neben diesem höfisch-gesellschaftlichen Typus zeigt sich bei Weckherlin auch schon das epische L. als heroisches Feiergedicht ausgebildet (Totenklage Des großen Gustav Adolfen Ebenbild). Doch erst der Neuansatz mit der Dichtungsreform durch Martin O p i t z bringt den endgültigen Durchbruch. Das L. findet sich ebenso bei Fleming, den Königsbergern, wie bei Gryphius bis hin zu Benjamin Neukirch und.Joh. Christian Günther. Selbst ein Quirinus K u h l m a n n versucht sich in der Form epigrammatischer GrabeSdiriften, einer beliebten Gattung, die Lobpreis in einer Art Dichterkatalog liefert. Die Bedingungen für das L. waren in unsrer Barockdichtung die gleichen wie bei den humanistischen Neulateinem. Der dt.sprachige Dichter fühlte sich als Angehöriger einer humanistischen Gelehrtenzunft (Mitglied der Sprachgesellschaften) und sah sich so unter Freunden und Mitstreitern; er war aber auch abhängig von der Gunst der Fürsten und

Lobgedicht Mäzene, ja der bürgerlichen Auftraggeber. So verbindet sich vielfach das L. mit der Gelegenheitsdichtung, dem in Auftrag gegebenen Begräbnis- oder Hochzeitsgedicht: etwa bei R o m p i e r v o n L ö w e n h a l t das Lob- und Leichgedicht zu Ehren und Gedächtnis Herrn Eberharten von Rappoltstein. Eine häufige Sonderart des L.s ist dabei das Widmungsgedicht, das in beliebiger Anzahl einem Buch beigegeben wird und gleichfalls an höherstehende Gönner oder an gelehrte Freunde gerichtet ist. Bei den besoldeten Hofdichtern (s. d.) gegen Ende des Zeitalters gehört das L. und Freislied dann zum verpflichtenden Bestandteil ihres Amtes und nimmt überhand. In der dt. Dichtung des Barode zeigte sich wertmäßig noch kein Unterschied zwischen einer Preisode auf einen fürstlichen Gönner und einem ebensolchen L. auf einen Helden der Zeit aus freier Wahl des Dichters. Daß die Vergleidiung des Gefeierten mit Herkules, Alexander oder Augustus und seine überschwenglich gelobte und über den Geburtsadel erhobene Heldentugend so übertrieben erscheint, liegt oft an dem Bezug auf eine bedeutungslose oder gar unwürdige Person. In Mißkredit kommt dieses L. erst durch die Hofdichter. Seitdem sucht man in einer kritischer gewordenen Zeit das Fürstenlob wenigstens auf geeignete und hervorragende Persönlichkeiten einzuschränken. So wird Friedrich der Große für Karl Wilhelm Ram l e r und Anna Luise Κ a r s c h zum Mittelpunkt einer nationalen preußischen Odendiditung, bis K l o p s t o c k mit seiner hohen Auffassimg von der Würde des Dichters unter diese Entwicklung einen Schlußstrich zieht. Klopstock verwirft in seiner Ode Fürstenlob jede bloß unterwürfige Herrscherverherrlichung. Er will Maria Theresia erst nach ihrem Tode feiern. Andererseits fühlt sich Klopstock als der Erneuerer der alten Preisdichtung bei der Feier des dänischen Königshauses (Friedensburg u. a.), nachdem sich das richtige Verhältnis zwischen Mäzen und Dichter wiederhergestellt hat. Ebenso sind Klopstocks L.e auf Freunde (An Giseke, An Ebert) auch als Erneuerimg des antiken und humanistischen Brauchs zu verstehen. Die menschlich-seelische Beziehung überwiegt hier wieder vor bloß beruflicher Standeszugehörigkeit, die im Barock ausschlaggeReallexikon II

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bend gewesen war. Seit Klopstock kommt es darauf an, ob der Dichter im L. einen menschlich innigen Bezug auszudrücken vermag, oder ob er nur im Anschluß an die Tradition frostig seine Aufgabe zu meistern sucht. Letzteres i s t i n P l a t e n s Festgesängen der Fall, welche Η e i η e zu satirisch gemeinten Parodien (Lobgesänge auf König Ludwig) herausforderten. Das nun allein noch rechtmäßige L. muß einen immer neuen individuellen Zugang zu dem Gefeierten suchen, da das Bestehen der Sonderart L. als solche keine Berechtigung mehr gewährleistet. In diesem neuen Sinn ist etwa bei G o e t h e die Elegie Klein ist unter den Fürsten Germaniens freilich der meine... ein echtes L.,das mit der Elegienform sich übrigens in die humanistisch neulat. Tradition stellt und dabei Fürsten- und Freundeslob gegenüber der Person Karl Augusts verschmilzt. Der ältere Goethe hat in seinen Karlsbader Gedichten (Ihro der Kaiserin von Oesterreich Majestät u. a.). ζ. T. auch in seinen Maskenzügen, die Sitte der Fürstenhuldigung durch das höfische L. in verfeinerter und veredelter Weise wiederaufgenommen. Das sind L.e nach Art des Barock, aber im Grad des Lobes aus persönlicher Verantwortlichkeit entsprechen sie Klopstocks Forderung. Auch das Freundeslob ist nach den von Klopstock abhängigen Oden an meinen Freund Behrisch bei Goethe in dieser geläuterten Art vertreten (Schillers Reliquien). Entsprechendfindetsich das Lob auf Freunde (An Eduard) und auf fürstliche Persönlichkeiten (Der Prinzessin Auguste von Homburg) bei H ö l d e r l i n . Seit dem 19. Jh. findet sich das L. in der dt. Lit. nur mehr sporadisch. Soweit es noch Fürstenlob darstellt, tritt es gern in Zusammenhang mit patriotischen Wünschen und Anliegen (Felix D a h η , An Kaiser Friederich; Martin G r e i f , Hymne an den Bayernkönig Ludwig den II.) und verfällt dabei vielfach in Byzantinismus. Die Gemeinsamkeit der Partei bestimmt die gegenseitigen L.e der Naturalisten. Die hervorragenderen Dichter aber fühlen sich im 20. Jh. als Vereinzelte und finden daher auch nicht häufig Gelegenheit, das Lob von Freunden anzustimmen. Die Hymne an Nietzsche von Theodor D ä u b 1 e r ist der Gruß eines Einsamen an einen andern. Wo dagegen die humanist. Tradition noch nachwirkt, findet 15

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Lobgedicht — Lustspiel

sich das L. auf Freunde auch im 20. Jh.: bei Stefan G e o r g e seit den Preisgedichten (1894) vielfach in seinen weiteren Gedichtzyklen; bei Hugo v. H o f m a n n s t h a l , der mit seinen L.en auf Schauspieler (Zum Gedächtnis des Schauspielers Mitterwurzer) einen schon bei Goethe ausgebildeten Zweig aufnimmt. § 5. Für die F ο r m des L.s bot die neulat. Dichtung der Humanisten das Versmaß der Elegie an (distichische Kombination von Hexameter und Pentameter), das aber erst im Klassizismus (Goethes Euphrosyne) Verwendung findet. Als Entsprechimg für den Hexameter benutzt das Barockzeitalter vielmehr den Alexandrinervers, der für L.e in längeren epischen Werken und in Epigrammen Verwendimg findet. Noch wichtiger ist für die Form des L.s im dt. Barode die Übernahme der Odenformen von Ronsard, so daß ein Hauptteil der Lob-Dichtung von Wekkherlin bis zu Klopstock und Hölderlin in der gehobenen pathetischen Aussageweise und der komplizierten lyrischen Strophik derOde erscheint. Dabei hat die sog. Pindarische Ode vor der Horazischen den Vorrang. Bei den Hofdichtern zeigt sich auch stilistisch eine Ubersteigerung ins Pompöse (Heroische Ode). Die von Klopstock in antikisierenden Metren erneuerte Odenf orm bleibt das gegebene Gefäß für L. und Preislied im engeren und weiteren Sinne. Platens Festgesänge kann man als Nachzügler dieses Klassizismus der Ode betrachten. Daneben steht die Hymne in freien Rhythmen, von ihrem „Erfinder" Klopstock über den jungen Goethe und weiterhin, für das L. zur Verfügung. Hier überall gibt die Wahl der Gattung (Ode oder Elegie) dem L. bis in den Sprachstil der Aussage hinein einen bestimmten Charakter. Durch die von Goethes Lyrik geschaffene Formenvielfalt löst sich dann aber der Zusammenhang des L.s mit einer festgeprägten Form, wenn auch Georges L.e auf die Form des epigrammatischen Spruchgedichtes zurücklenken. Nun kann sich der Dichter für das L. jeder beliebigen l y r i s c h e n Form bedienen, da es als episches Großgedicht seit den Hofdichtem ausstarb. Karl B o r i n s k i , Die Antike in Poetik u. Kunsttheorie vom Ausgang d. klassischen Altertums bis auf Goethe u. W. υ. Humboldt.

2 Bde (1914-1924; Das Erbe d. Alten 9 u. 10). Karl V i e t ο r, Gesdi. d. dt. Ode (1923; Gesch. d. dt. Lit. nach Gattungen 1). Georg E l l i n g e r , Gesch. d. neulat. Lit. Deutschlands im 16. Jh. 3 Bde (1928-1933). Max K o m m e r e i 1, Gedanken über Gedichte (1943; 2. Aufl. 1956). Paul H a n k a m e r , Dt. Gegenreformation u. dt. Barock (2. Aufl. 1947; Epochen d. dt. Lit. 2, 2). Richard Ν e w a 1 d, Vom Späthumanismus zur Empfindsamkeit 1570-1750 (1951; H. de Boor/Newald, Gesdi. d. dt. Lit. 5). Emst Robert C u r t i u s , Europäische Lit. u. lat. MA. (2. Aufl. Bern 1954). Rudolf HaUer Lokalstück s. Volksstück. Lustspiel § 1. Das Wort L. taucht schon im 16. Jh. (1536) auf, als sich die volks- und brauchtümliche Gattung des Fastnachtspiels durch den Humanismus konfrontiert sieht mit dem im Latein und den roman. Sprachen kontinuierlich weiterlebenden Begriff der K o m ö d i e . Begleitet von anderen Ersatzbezeichnungen (ein hübsch spil, Scherz-, Schimpfspiel) wird es von den Puristen des 17. Jh.s empfohlen und von Gottsched bereits als Gattungs-Bezeichnung vorausgesetzt. Durch die Partnerschaft mit 'Komödie 1 unterliegt die dt. Bezeichnung auch der Präjudizierung des antiken Komödienbegriffes seit A r i s t o t e l e s . Dieser hatte in cap. III ff. der Ars poetica eine Etymologie gegeben, die zugleich seine Definition vorbestimmt. Indem er den Begriff nicht von κωμάζειν 'umherziehen', sondern direkt von den κώμαι (den 'Dörfern', in denen gespielt wurde) ableitet, schiebt er den Mangel an Respekt, den man in der Stadt diesen Spielen bezeugte, dem Begriff unter. So gelangt er folgerichtig zu jener auch das Soziologische einschließenden Unterscheidung von Tragödie und Komödie, die als „Ständeklausel" stehender Begriff der Poetik bis in die Aufklärung bleiben sollte: „Die Komödie ist die nachahmende Darstellung von n i e d r i g e r e n Charakteren (φαυλότερων), jedoch keineswegs im vollen Umfang des Schlechten, sondern des Unschönen, von dem das Lächerliche ein Teil ist." Spätere antike Kommentatoren ziehen bereits die Folgerung, daß der Bereich der Komödie zugleich auch der realistischere sei gegenüber dem der Tragödie. Und in Horaz' bis ins 18. Jh. maßgebender De arte poetica

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Lustspiel finden wir auch die formale Konsequenz, daß der Komödie das Pathos des Tragödienv e r s e s versagt sei. Daher kann in der Romania und in England das Wort commedia, comedie, comedy sich ausweiten zur Bezeichnung von 'Dichtung in Volkssprache' schlechthin. Die letzte formale Folge ist bei Shakespeare die Affinität der zugleich komischen wie in sozial tieferen Schichten spielenden Szenen zur Prosa, und dann überhaupt die Neigung der Komödie zur prosaischen Sprachform. In der Meistersingerzeit ist die Bezeichnung Comedi geläufiges humanistisches Bildungserbe, aber ohne exakten Unterscheidungscharakter gegenüber der Tragödie. Auch O p i t z kennt noch keine präzisere Unterscheidung als die der Ständeklausel und differenziert die Motivik der Komödie nach den seit Plautus in ihr gültigen Intrigen und Charaktertypen (von betrug und schalckheit der knechte, ruhmrätigen landsknechten, buhlersachen, leichtfertigkeit der jugend, geitze des alters, kupplerey ...). Es bedarf der Aufklärung, um eine echte Reflexion über das Wesen des L.s herbeizuführen, die auch der im Rationalismus entfalteten Psychologie Rechnung trägt. Man kann das an dem berühmten Streit über die Vertreibimg des Harlekins von der Bühne durch Gottsched und die Neuberin und seine Wiedereinsetzung durch Mosers Harlekin oder Vertheidigung des Groteske-Komischen (1761) erkennen. Erst jetzt kann, und entschiedener noch mit Herder, Kant und Schiller, das Problem des Komischen, und mit ihm auch das des L.s als seiner Ausdrucksform, im Zusammenhang mit der von Engländern und Franzosen inaugurierten Sinnen- und Sinnlichkeitsästhetik begriffen werden, erst jetzt stellt man für den alten, engeren Gegensatz von Tragödie und Komödie die Diskussion in den weiteren der epischen und dramatischen Dichtung und — unter der Erfahrung Shakespeares — auch in den Zusammenhang der Reflexion über antike und moderne Dichtung überhaupt. Die Erscheinung des L.s wird damit Bestandteil einer systematisch-philosophischen Ästhetik und Anthropologie. Die Entwicklung hat gezeigt, daß die Festlegung des Begriffs der Tragödie weit leichter war als des der Komödie, da die

Auffassungen vom Komischen zeitgebundener und deswegen schwankender sind. Gleichwohl ist das Bedürfnis, Welt und Mitwelt komisch zu sehen und zu deuten, eins der Grundphänomene des menschlichen Daseins, das sich auch im dramatischen Spiel immer wieder auslebt. Wenn eine ganze Reihe von Grundsituationen seit der Antike bis heute Anstoß zum Lachen gibt, so liegt das an der in manchen Dingen gleichgebliebenen allgemeinmenschlichen Seelenhaltung. Andrerseits werden viele Anspielungen, Verspottungen und der Mode angehörige Beigaben in alten Stüdcen als Zeiterscheinungen oft gar nicht mehr als lächerlich gespürt und viele ernstgemeinte Vorgänge belächelt oder belacht. Man wird also auf das Lachen der Menge, auf das Komische selbst, als auf das Wesentliche am L. zurückgehen müssen (s. Humor, Komische Dichtung). § 2. Demnach suchte man der Problematik, die in der Freude an der heiteren Form der dramat. Dichtung lag, schon im Altertum dadurch aus dem Wege zu gehen, daß man bei der Definition der Komödie das eigentlich Komische aussparte und sich auf die sozialen Merkmale der auftretenden Figuren beschränkte. Diese sogenannte „Ständeklausel", die seit der Renaissance mit ihrer Auslegung der antiken Theorien als allgemein verbindlich für die Poetik angesehen wurde und bis ins 18. Jh. hinein galt, wurde in der nachgottschedischen Zeit von einer freieren Anschauung über die Gattungen verdrängt. Man erkannte die eigene Gesetzlichkeit neuer Formen. Der Prozeß, der Hand in Hand mit der Schaffung neuer Gattungen selbst ging, führte alsbald zu einer Reihe von neuen Einteilungen. Man unterschied dann: höheres und niederes L., Komödie, Schwank, Posse, Farce, Burleske; oder anders: Charakter-, Intrigen-, Situations-L.; weiter: realistisches und Zauber-L., satirisches, ironisches, rührendes L. und verschiedene Querkombinationen. Heute überdeckt der Begriff L. die ausgelassensten extemporierten Stücke ebenso wie die von Tragik umschatteten ernsten Schauspiele, an denen oft nur der Ausgang heiter ist. Die Unterteilungen des L.s sind für die Kennzeichnung der hierhin oder dorthin tendierenden Sondergattungen nützlich. Als Ober15·

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begriff wird zweckmäßigerweise das Wort L. in gleicher Bedeutung mit dem Fremdwort Komödie verwendet. In jüngerer Zeit hat man versucht, die Bezeichnung L. auf eine besondere Art der dramatischen Dichtung einzuengen. Danach ist das L. ein oft in bürgerlichem Milieu spielendes Stück von gedämpfter Komik, bei der Humor das tragende Element ist. Die K o m ö d i e im speziellen Sinn ist meistens lebhafter, munterer und auch satirischer als das humoristische L. Sie verspottet in ihren Charakteren und Situationen gem gewisse Eigenarten der Menschen. Der Anteil guter dt. Komödien innerhalb der Weltliteratur ist nicht groß. Um gerade diese weltliterarisch ausgebildeten Spieltypen unterscheidend zu benennen, bietet sich der Gebrauch des Terminus 'Komödie' an. Ein L., das sich stark der Situationskomik bedient, bezeichnet man als (dramatischen) S c h w a n k . Einen weiteren Schritt zur Ausgelassenheit hin tut die P o s s e (s. d.). Als Lokal-, Standes- und Sittenposse bezieht sie ihre Wirkung aus vielfach derben Ubertreibungen und satirischem oder gutmütigem Witz. Im Bereich des Volkstheaters und der Hanswurstiade in allen Spielarten ist die Posse zu Hause. In der Form von Einaktern, Volksstüdcen, aber auch literar. anspruchsvolleren Produkten ist ihre Gattung dem Theater unentbehrlich geworden. Eine verschärft satirische Haltung offenbart die F a r c e (s.d.), die, ursprünglich als komisches Zwischenspiel gedacht, in Deutschland oft zur Turlupinierung literar. Gegner (vgl. die Literatursatire des Sturms und Drangs und der Romantik) verwendet wurde. Als Burlesken und Grotesken bezeichnet man ebenfalls derb komische, kleine Stücke realistischer oder unheimlich-lustig karikierender Färbung. Wilh. C r e i z e n a c h , Gesch. d. neueren Dramas. 5 Bde, Bd. 1-3 in 2. Aufl. (1909-1923), passim. Klaus Ζ i e g 1 e r, Das dt. Drama d. Neuzeit. Stammler Aufr. Bd. 2 (1954) Sp. 9491298, passim. — Jakob Μ a e h 1 y , Wesen u. Gesch. d. L.s (1862). F. B e t t i n g e n , Wesen u. Entwicklung d. komischen Dramas (1891). Karl H o l l , Gesch. d. dt. L.s (1923), mit Bibliographie, S. 345-352. Heinz K i n d e r m a n n , Meister d. Komödie v. Aristophanes bis G. B. Shaw (Wien 1952). — Bruno M a r k w a r d t , Gesch. d. dt. Poetik. Bd. 1-3 (1937-1958; PGrundr. 13). — Alma R ο g g e , Das Problem d. dramat. Gestaltung im dt. L. Diss. Hamburg 1926. Walter P e h n t , Die

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Lastspiel satorisch-Unmittelbaren gerade auf diese Rollen. In jüngerer Zeit, ζ. B. bei Shakespeare und in der Romantik, können sie audi Träger eines reflektierenden Gegenspiels zur tragischen Handlung werden, was sie zugleich wieder an den dichterischen Text bindet. Mimische Präsentation von närrischen Charaktertypen kennt auch der mal. erzählende Schwank und bietet sich daher zusammen mit der schwankhaften Novellistik des anschließenden Humanismus bis zum span, picaro als naheliegendes Stoffreservoir an bei der Entstehung komödienhafter Spieltypen sowohl in Deutschland wie in England und Spanien. Zu dieser offenbar weitgehend autodithonen Entstehung eines neuzeitlichen komischen Bühnenspiels in verschiedenen Räumen stößt die durch den Humanismus neu entfachte Wirkung der antiken Komödie, die jetzt über den als mal. Schullektüre gepflegten Terenz hinaus vor allem durch den neuentdeckten Plautus in erweitertem Maße Modelle liefert. Diese Uberlieferung wird in Verbindung mit der Tradition des Mimus sowohl in der ital. Commedia dell'arte wie später in der klassischen franz. Komödie immer wieder sichtbar, in Deutschland — hier stärker als Bildungselement — bei Heinrich Julius von Braunschweig, in der aufklärerischen Typenkomödie, dann bei Lenz, und später — erweitert um Artistophanes — bei Goethe und Platen, bis hin zu Hofmannsthal. Dies gilt nicht nur für die stehenden Figuren, sondern auch für eine gewisse Topik der Motive und Situationen (vergl. das Opitz-Zitat § 1). Johan H u i z i n g a , Homo Indens. Versuch e. Bestimmung des Spielelementes der Kultur (1939). — Hermann R e i c h , Der Mimus. Ein literar-entwicklungsgeschichtl. Versuch (1903). A. G1 ο c k , Über den Zusammenhang des röm. Mimus u. e. dramat. Tätigkeit mal. Spielleute mit dem neueren komischen Drama. ZfvglLitg. NF. 16 (1906) S. 2561; 172-193. Philip Sdiuyler A l l e n , The mediaeval Mimus. ModPhil. 1909/1910, S. 329 -244; 1910/1911, S. 1-44. Allardyce N i e ο 11, Masks, Mimes and Miracles (New York 1931). — Gino Τ a η i , Commedia dell'arte. Enciclopedia dello spettacolo Bd. 3 (1956) Sp. 11851226 u. Taf. CXLIX-CLX. — Otto D r i e s e n , Der Ursprung des Harlekin (1904; FsdignNLitg. 25). Hadumoth Η a η c k e 1, Narrendarstellungen im Spätma. (Masch.) Diss. Freiburg 1952. Barbara S w a i n , Fools and Folly during the Middle Ages and the Renais-

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sance (New York 1932). Heinz W y s s , Der Narr im Schweizer. Drama des 16. Jh.s. (Bern 1959; SprDchtg. NF. 4). — Alfons H u g l e , Einflüsse der Palliata (Plautus u. Terenz) a. d. lat. u. dt. Drama im 16. Jh. (Masch.) Diss. Heidelberg 1920 (Ausz.: Jahrb. d. Philos. Fak. 1921/1922 1. Tl. S. 3-5).

§ 4. Die Entwiddung des L.s in D e u t s c h l a n d wird seit dem MA. für lange Zeit von der Wirkung der komischen Figur getragen. Bäuerliche, möglicherweise auf heidnische Riten zurückgehende Brauchtumsspiele spiegeln diese Frühstufe einer dt. Komödie sowohl in den geistlichen wie den Fastnachtsspielen des MA.s. Besonders die Interludien der geistl. Spiele (Salbenkrämer, Wächter am Grabe) beruhen schon auf der Wirkung der komischen Situation und Figur. Das volkstümliche Fastnachtsspiel des ausgehenden MA.s wird unter der Einwirkung des Humanismus und gespeist durch spätmal. und frühhumanistische Novellenund Schwankliteratur bei Hans S a c h s zu einer Art früher Kunstform, wie sie schon Reudilins Henno (1497) lateinsprachig verkörpert. Die Bezeichnung dafür ist überwiegend Faßnachtspiel. Eine Trennung der Gattungen Tragedi(a) oder Comedi(a) findet statt, jedoch beruht sie nur auf massiver stofflicher und formaler Grundlage. 'Komödien' oder 'Tragödien' setzen einen gehobenen Stoff, einen gewissen Umfang, zum großen Teil auch Aktgliederung voraus. Wie unscharf in ästhetischem Sinne das noch ist, zeigt ζ. B. die Bezeichnung des Hekastus als 'Comedi', des Esopus als 'kurczweilig spil*, und zeigen Doppelbenennungen wie 'Comedia oder kampfgesprech*. (Zum geistl. und Fastnachtsspiel s. Spiele, mal.) Das Spiel der R e f o r m a t i o n s z e i t beruht formal weitgehend auf dieser Entwicklung, fördert sie jedoch nicht, da die ganze Stoßkraft im Inhaltlichen liegt. Der Ernst des didaktischen Zweckes verbirgt sich hinter der Maske kirchenpolitischer Satire, die schwankhafte Elemente der mal. Pfaffenkritik in sich aufnimmt. Von L. kann hier nicht gesprochen werden. Der „Ablaß-Krämer"- und „Totenfresser"-Motivkreis (Niklas Manuel, Pamphilus Gengenbach) gewinnt seinen grotesken Charakter durch die Übertreibung des Satirischen, aber nicht durch eine Fortentwicklung des Komischen überhaupt.

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Einflüsse, inhaltlich durch die theologische Tendenz bereits die Möglichkeit zu tragikomischen Mischungen, wie i n B i d e r m a n n s Philemon, wo komische Person und Bekehrungsmotiv miteinander verschmelzen. Im 16. Jh. hat sich der Narr im eigentlichen Sinne als L.figur legitimiert. Anteil daran hatten sowohl die Schwank- und Narrenspiegel-Literatur, die Rollentypen der franz. Farce und ital. Commedia dell'arte, gegen Ende des Jh.s die Spiele der engl. Wanderbühne, wie soziologisch die kulturgeschichtliche Rolle des Hofnarren (s. a. Hansumrstspiel). Die gleichen Vorbilder haben allerdings auch die rein mimisch-improvisatorische Funktion des Charaktertyps bewahrt und gesteigert. Auch Heinrich Julius von Braunschweig benutzt Typen der Commedia dell' arte, um Charakterkomödien zu schreiben. So begleitet die komische Figur in ihren beiden Ausprägungen, als aktiver und passiver Spaßmacher (engl, clown und fool), als derisor und stultus, die Wege des dt. Theaters. Ihren wechselnden Gestalten verdankte besonders die Wanderbühne den Erfolg (s. Engl. Komödianten). Charlotte M o r s b a c h , J. Bidermanns 'Philemon Martyr' nach Bau u. Gehalt. Diss. Münster 1936. — Carlot Gottfried R e u 1 i η g, Die komische Figur in den wichtigsten dt. Dramen bis z. Ende des 17. Jh.s. Diss. Zürich 1890. Herbert H o h e n e m s e r , Pulcinella, Harlekin, Hanswurst. Ein Versuch über den zeitbeständigen Typus des Narren auf der Bühne. (1940; Die Schaubühne 33). Enid W e l s f o r d , The Fool. His Social and Literary History. (London 1935). § 6. Das Theater der B a r o c k z e i t ist soziologisch gekennzeichnet durch seine Bindung an höfische und reichsstädtische Gesellschaft und deren Fest- und Unterhaltungsfreude. Der neue Zug zur Pracht teilt sich auch den l.haften Elementen oder ans L. angrenzenden Gattungen mit. Hier wirken sowohl das antike Schema mit der stehenden Funktion des Satyrspiels wie die Vorliebe des Barock für die Antithese überhaupt zusammen, um eine neue Kombinationsfreude zu erzeugen. Die bei Opitz für die Zeit maßgebend festgehaltene Ständeklausel bleibt theoretisch unangetastet, erschließt aber zugleich dem literar. L. unund gegenhöfische Motivbereiche. Daher auch der Einbau von L.en in übergreifendere Festspielgefüge. Dieser Zeitrichtung

Lustspiel entspricht sogar das Schul- und Ordensdrama, das die Zeitmode sowohl nach der Richtung entfalteter höfischer Pracht wie nach der der Einbeziehung der ganzen Standesordnung mitmacht, wobei gleichfalls das Volk an seinem Orte, gelegentlich bis zur Mundart, interludisch die Ganzheit mitrepräsentieren muß. Die Funktion des dt.sprechenden Spaßmachers bei den Wandertruppen wirkte sich in derselben Richtung aus. Mit dem Augenblick, von dem an die 1.haften Elemente sidi aus diesen Zusammenhängen lösen und wieder verselbständigen, ergeben sich Formen mit höherem literar. Anspruch und anderer Gesellschaftsfunktion, als selbst der alte Humanismus sie verleihen konnte. Für längere Zeit prägt, was im Barock als Oper, Schäferspiel und Singspiel in Erscheinung tritt — Gattungen, in denen sich Tradition und Barocksensation miteinander verbinden —, die Traditionslinie, die über das Rokoko und die Romantik hinaus bis zu Hofmannsthals Ariadne führt. Einflüsse des span. L.s werden vor allem über Österreich mit den ital. Anregungen verschmolzen. Die Einbürgerung Shakespeares auf dem Kontinent ist ein weiteres treibendes Element, um den Bedürfnissen nach dem Reiz einer tiefer fundierten L.form zu entsprechen. Als eine Art Modellfall darf man das L. von Andreas G r y p h i u s ansprechen. Die Spannweite seiner Komik reicht von äußerlich possenhaften Formen, wie sie etwa Herr Peter Squentz (1663) und Horribilicribrifax (1663) — in Anlehnung an Sujets von Shakespeare und Plautus — darstellen, bis zu dem schäferlichen Singspiel Die gelibte Dornrose (1660), die man als eine frühe Gestaltung des humorvollen L.s betrachten kann. Der Squentz sowohl wie die Dornrose sind zugleich inhaltlich wie formal hinter der komischen Außenseite Ausdrude des barocken Ordnungsgedankens, also verbindlicher und kultivierter als das L. des Meistersangs. Neben den engl. Komödianten, den ital., span, und holländ. Komödieneinflüssen, die in der 2. H. des 17. Jh.s auftreten, wirkte besonders die franz. Bühne, deren Ruhm auf diesem Gebiete Moliöre am stärksten verkörperte, auf das dt. Theater ein. Neben vielen anonymen Farcen und Possen der

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Wandertruppen, neben den Übersetzungen und Bearbeitungen, die von Schauspielerdichtern stammten und höchstens handschriftlich auf uns gekommen sind, gab es audi nach dramaturgischen Prinzipien konzipierte und dann gedruckte Literatenstücke. Die sog. „sächsische Komödie" der Christan W e i s e und Christian R e u t e r knüpft teils, im Falle Weises, an die dem Bildungsgedanken zugeordnete Schulkomödie an, mit stärker bürgerlichem als höfischem Akzent; teils, im Falle Reuters, ist sie Bürgerkritik, aber nicht mehr vom höfischen Standpunkt aus, sondern von dem des bürgerlich gescheiterten Literaten. Reuters ohne Nachfolge gebliebenen Typen- und Standessatiren L'honnete Femme oder die ehrliche Frau zu Plißine (1695) und Der ehrlichen Frau Schlampampe Krankheit und Tod (1696) stehen mit unter Molieres Einfluß, haben jedoch auch eine eigene Treffsicherheit, die sich bereits dem satirischen Aufklärungslustspiel annähert. Um die Wende vom 17. zum 18. Jh. bestimmte und kennzeichnete man fast überall schon gewisse neue komische Figuren nach den Schauspielern, die sie kreiert hatten. Fast alle, audi die ernsten Stücke enthielten nun einzelne komische Szenen, in denen irgendein Pidcelhäring, Harlekin oder Strohsack das Szepter führte. Hier kam die freie Erfindungsgabe, die Improvisation innerhalb einer lose festgelegten Handlungsführung zu ihrem Recht. Die für die damaligen Bühnen geschriebenen L.e konnten kaum etwas anderes sein als Rohvorlagen für die Akteure. Man merkt die Hegemonie des Mimus ganz deutlich in den Komödien des Wiener Hans Wursts Stranitzky, aber ebenso in den ungefähr gleichzeitigen Elaboraten norddt. Verf. (Ludovici, Picander, Koch, Neuberin), soweit wir von ihrem Inhalt Kenntnis haben. Die komische Figur war nahe daran, literar. Bedeutung zu erringen. Fritz H a m m e s , Das Zwischenspiel im dt. Drama von s. Anfängen bis auf Gottsched (1911; LithistFschgn. 45). — Ingeb. S c h e n k , Komik im dt. Barocktheater. (Masch.) Diss. Wien 1946. — Rich. A1 e w y η , Der Geist d. Barocktheaters. Weltliteratur. Festg. f. Fritz Strich (Bern 1952) S. 15-38. Ders., Feste d. Barock. Aus der Welt d. Barock (1957) S. 101111. Ders. u. Karl S ä 1 ζ 1 e , Das große Welttheater. Die Epoche d. höfischen Feste in Dokument u. Deutung (1959; Rowohlts dt. Enzyklopädie 92). — Ernst Κ e ρ ρ 1 e r , A. Gry-

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Lustspiel

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§ 7. Gottscheds Rückgriff auf die klassizistische Dramentheorie der Franzosen, wie sie seit dem 16. Jh. entwickelt worden war, hatte auch auf dem Gebiete des L.s wichtige Folgen. Er forderte strenge Einhaltung der Regeln, eine Abkehr von den „unnatürlichen" Harlekinaden und eine Betonung des Satirisch-Moralisch-Lehrhaften in aufklärerischem Sinne. Unter seiner Aegide verbannten die dt. Schauspieler e i n e n Spaßmachertyp, obwohl sie nie ohne d i e Spaßmacher existieren konnten. Deren Funktion nahmen nun, als eine Art „passiver Narren", die sich aus Unvernunft kompromittierenden Typen wahr, die man zum Teil aus der neuen Quelle aufgeklärter Zeit- und Kulturkritik der moral. Wochenschriften bezog. Auf diesem Boden entsteht unter dem Zeichen des Menschenbildes der bürgerlichen Aufklärung von den L.en Gottscheds und der Gottschedin bis zu denen des jungen Lessing eine in sich geschlossene, manchmal nüchterne, manchmal überaus witzige Spielform. Das Intrigenschema ist vor allem französisch bestimmt, und man merkt den franz. Einfluß auch an der neuen Schlagkraft und Schärfe des Dialogs. Das gilt sowohl für Die Pietisterey im Fischbeinrocke (1737) und Das Testament (1745) der Gottschedin, wie für Quistorps Der Hypochondrist (1745), wie im intellektuellsten Sinne für den Jungen Ge-

lehrten Lessings (1748). Chr. Fei. Weiße, Lessings Jugendfreund, repräsentiert und bewahrt das so errungene Aufklärungsniveau in seinem Durchschnitt. Schon hier (Lessing: Die Juden, Der Freigeist) mischen sich sentimentale Züge ein. Sie sind Ausdrude einer neuen engl. Einflußwelle und der durch die wachsende Macht des Pietismus in Deutschland auch autochthon entstandenen Empfindsamkeit. Auf dem Wege über Frankreich gelangt die neue Gattung der Comedie larmoyante zum Zuge. Beides, Einfluß und autochthoner Pietismus, bestimmt die L.theorie und -praxis G e l l e r t s , der seine programmatische Rede De comoedia commovente (1751) schreibt, nachdem er schon in Die Betschwester (1745) und in Die zärtlichen Schwestern (1747) Mittel und Gattung des rührenden L.s praktiziert hat. Auch der andere Bremer Beiträger, Joh. El. S c h l e g e l , stellt in Die stumme Schönheit (1747) und Der Triumph der guten Frauen (1748) einige für die Situation repräsentative L.e hin und führt die theoretische Diskussion in seinen ästhetischen und dramaturgischen Schriften (hg. von Joh. v. Antoniewicz DLD. Bd. 26) weiter. In der „rührenden Komödie" und im bürgerlichen Trauerspiel, das parallel dazu entstand, verwirklichte die damalige Zeit ihren Realismus. Das Bürgertum wurde sich seiner zentralen Stellung bewußt. Dieses Selbstbewußtsein findet seinen alles Zeitgenössische überragenden Ausdruck in L e s s i n g s Minna von Barnhelm (1763). Dieses zu Unrecht gewöhnlich auf das in ihm enthaltene Nationalbewußtsein interpretierte Lustspiel ist zunächst bemerkenswert wegen der mit rationalistischer Stoßkraft bewußt durchgeführten Brechung der Ständeklausel; finden hier doch Figuren aus dem Volke das Menschliche eher als der baltische Baron, und spielt sich doch die entscheidende menschliche Handlung ohne Rücksicht auf den Stand der Hauptpersonen ab. Neu ist ferner das Wagnis, ein „Lustspiel" hintergründig mit einer Problematik der Humanität und der Theodizee aufzuladen, wie sie bisher der Tragödie vorbehalten war. Die formale Konsequenz ist eine Dialektik von einer Feinheit und auch innerer Logik, wie man sie bisher im L. noch nicht finden konnte. Sie eignet auch dem Nathan,

Lustspiel bei dem nur, anders als in der Minna, das Schwergewicht mehr auf der Herausstellung des Problems und minder in den komödienhaften Zügen liegt. Paul S c h i e n t h e r , Frau Gottsched, u. d. bürgerliche Komödie (1886). Hans F r i e d e r i c i , Das dt. bürgerliche L. d. Frühaufklärung (1736-1750), unter bes. Berüdes, seiner Anschauungen von d. Gesellschaft (1957). Hans W e t z e l , Das empfindsame L. d. Frühaufklärung (1745-1750). (Masch.) Diss. München 1956. — Geliert: Joh. C o y m , Gelleps L.e (1898; Pal.2). Th. D o b b m a n n , Die Technik von G.s L.en (1901). Stefanie G r e i η e r, Der Stil der G.schen L.e (Masch.) Diss. Wien 1935. Louis C a ρ t , Gellerts L.e. Diss. Zürich 1949. — Wilh. W i t t e k i n d t , Joh. Christ. Krüger als L.diditer. Diss. Marburg 1899. — Johann Elias Schlegel: Margarete Η ο f i u s , Untersuchungen z. Komödie d. Aufklärung. Mit bes. Berüdes. J. E. Schlegels. (Masch.) Diss. Münster 1954. Herb. R ο d e η f e 1 s , J. E. Schlegels L.e. Diss. Breslau 1938. —Lessing: Hans R e m p e l , Tragödie u. Komödie im dramat. Schaffen Lessings (1935; Neue Fschgn. 26). Emil S t a i g e r , Lessings 'Minna v. Barnhelm'. Uberlieferung u. Gestaltung. Festg. f. Th. Spoerri (Zürich 1950) S. 89-111. — Willy W e d e k i η d , Joh. Friedr. Jünger, ein dt. L.diditer (1757-1797). (Masch.) Diss. Leipzig 1921. — Victor G ο 1 u b e w , Marivaux' L.e in dt. Übersetzungen d. 18. Jh.s. Diss. Heidelberg 1904. § 8. Bürgerlich und höfisch zugleich sind die gesellschaftlichen Bedingungen des S i n g s p i e l s (s.d.). Die dem Barock gegenüber intimer gewordene Geselligkeit und der verfeinerte Formensinn des Rokoko lassen neben der großen Oper minder anspruchsvolle Untergattungen zur Wirkung kommen, die ζ. B. schon im Schäferspiel angelegt waren; musikalische Intermezzi, eingelegte Arien usw. hatte es übrigens auch schon im Schuldrama gegeben. Sowohl die ital. opera buff α wie die franz. ορέτα comique wie die engl, ballad-opera wirken als Vorbild hinüber. Das Ergebnis ist zunächst eine leichtere, persönlich unterhaltsamere Singspielform, die mit ihren liedhaften Einlagen und Höhepunkten bereits Vorformen des Schlagers zeitigt. Das überlieferte Motiv von Stadt (oder Hof) und Land wird jetzt unter dem Aspekt eines neuen, persönlichen Glücksanspruchs gesehen. Den bürgerlichen Typus schafft Christian Felix Weiße von Leipzig aus, die intim-gesellige Funktion zeigt sich an Wielands und Goethes Singspielen für den Weimarer Hof. Eine merkwürdige Mischung landschaftlich-städtischer

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und durch den Kaiserhof zugleich internationaler Elemente konnte sich in Wien ausbilden. Für die L.-Tradition bedeutet das Singspiel eine Zurüdcdrängung sowohl des scharf Witzigen wie des Grotesken zugunsten des Idyllischen, das schon dem alten Schäferspiel eigen war. Lit. s. Oper, Singspiel. § 9. So hat das 18. Jh. ein Publikum herausgebildet, dessen L.-Bedürfnisse mehr auf eine mittlere Milieu- und Charakterdarstellung gingen als auf tiefere menschliche und sachliche Probleme, mehr auf bescheidenen als auf welthaltigen Humor. Dem diente die technische Konvention eines geschickt gemachten Intrigen- und Typenlustspiels mit vorwiegender Sonderlings- und Kleinstadmotivik, wie sie auch Holbergs Einfluß von Norden her befördert hatte, dessen Den politiske Kandesteber (1722) schon im. 18. Jh. mehrere (auch niederdt.) Ubersetzungen provozierte. Dieser d u r c h s c h n i t t l i c h e K o m ö d i e n t y p zusammen mit der aus dem Singspiel hervorgegangenen komischen Oper beliefert bis ins 20. Jh. hinein das Repertoire der zahlreichen mittleren Theater Deutschlands. Den Vorteil davon hatten die weniger bedeutenden Theaterschriftsteller, die diesen Typ des unterhaltsamen Familien- und Gesellschaftsstükkes auch weiterhin durch die Aufnahme von ausländischen Modeformen zu aktualisieren wußten. — Aus zwei Gruppen setzt sich die große Menge der L.e aus dem letzten Viertel des 18. Jh.s zusammen. Einmal waren es Nachahmungen des von Diderot zuerst propagierten Genres, das in Frankreich selbst nicht einmal allzuviele Liebhaber gefunden hatte. Sie behandelten vor allen Dingen Familienprobleme und entfernten sich selten aus der bürgerlichen Welt mit ihren spezifischen seelischen und soziologischen Spannungen. Diese unterhaltenden „Theaterstücke" sind meistens fleißig und sauber gearbeitete Schauspiele mit bühnenwirksam berechneten Konflikten. Das Durchschnittspublikum war mit diesen Brandes, Stephanie, Großmann, Schröder und Iffland wohl zufrieden, weil jedermann sich in den Stükken selbst wiederfinden konnte. Die zweite Gruppe bestand aus den mindestens ebenso gekonnt abgefaßten Komödien, deren Autoren sich gleichfalls stark an der franz. Dra-

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matik orientierten. Später erwuchsen dann aus dieser Grundlage gute selbständige Werke, obwohl Situationskomik und Pointierungsgabe den dt. Schriftstellern meistens fremder waren als ihren Mustern. Nach Wall-Heynes geschickt ausstaffierten L.en lieferte besonders August von Kotzebue dem dt. Theater viele ausgezeichnete Komödien (Die deutschen Kleinstädter, 1801). Sie trafen genau den erfolgreichen Ton und überragten sogar die meisten Produkte des Auslandes. Auch um die Mitte des 19. Jh.s war immer noch oder schon wieder das franz. L. Trumpf. In Deutschland huldigte besonders Roderich Benedix dieser Geschmacksrichtung, indem er sich der nie versagenden Wirkungen der Situationskomik und des Witzes bediente. Stärker an die dt. Aufklärungskomödie knüpft die zu dieser Zeit kaum minder wirksame Charlotte Birch-Pfeiffer an. Allen derartigen Stücken waren die Bühnen, voran das Burgtheater unter Laube, geöffnet, lieber jedoch spielte man die franz. Sittenkomödie selbst (Scribe, später Augier, Sardou) in dt. Ubersetzungen. Einen Hauptvertreter des einheimischen, gefälligen Konversationsstücks, das den „Salonton" traf und die gehobene Gesellschaft schilderte und satirisierte, besaß Deutschland in Eduard von Bauernfeld. Die wachsende Bedeutung der Politik und der aktuell werdenden sozialen Probleme zeigte sich in L.en wie etwa Gustav Freytags Die Journalisten (1852). Bei R. Benedix wandelt sich die Durchsdinittskomödie in die noch leichterwiegende Gattung des Schwanks, in der ihm eine ganze Reihe von geschickten Schwankfabrikanten von meist vorübergehender, gelegentlich auch dauerhafterer Wirkung nachfolgen (Blumenthal und Kadelburg u. a.). Bis heute hält sich das Genre bühnenfähig und kassenzügig, wie Stücke wie der Brüder F. u. P. von Schönthan Der Raub der Sabinerinnen (1878) oder Brandons Charleys Tante (1892) es immer wieder belegen. „Dem Witze und der komischen Situation opfern sie gern Wahrheit. Nicht das Allgemeine, sondern das Besondere,... nicht das Schicksal, sondern der Zufall beherrschen den Schwank. Das Besondere können allerdings ganze Gesellschaftskreise und Berufsstände sein. Typisches wird nicht in seiner

inneren Wesenheit, sondern in äußeren Zügen verzerrt, übertrieben, karikiert. Gerade die marionettenhafte Erstarrung, der Mangel an innerem Leben bedingen den Schwank, weshalb auch der Militärschwank besonders beliebt war" (K. Holl, Reallex. 1. Aufl. Bd. 2, S. 303). Bemerkenswerterweise hat R. Benedix eine Sammlung von zwei Dutzend Ein- bis Zweiaktern unter dem Titel Haustheater (1862) herausgebracht mit ausdrücklicher Bestimmung für die Hausgeselligkeit. Auf andere Weise zeigt sich der biedermeierliche Hang zum Intimen in Graf Poccis Wahl der Puppenspielform. — Als Konversationsstück von ζ. T. anspruchsvollerem Niveau, das nun den vom Naturalismus des In- und vor allem des Auslandes ausgebildeten psychologischen Dialog zu nutzen versteht, setzt sich die Linie der wirksamen, aber problemlosen Publikumskomödie bis zu Curt Goetz hin fort. Eine parallele gesellschaftliche Funktion übt das Singspiel in seiner späteren Entwicklung als komische Oper und Operette aus. Dabei repräsentiert die komische Oper bei Lortzing ζ. B. eine biedermeierliche Komödie fast reiner als die entsprechende Produktion des Sprechtheaters. Die Operette, von Jacques Offenbach unter zeitsatirischen und parodistischen Vorzeichen begründet, entwickelt sich einerseits zum musikalisch-literarischen Schwank, andrerseits zum humoristisch-sentimentalen Singspiel von breitester und billigster Publikumswirkimg (Alt-Heidelberg, Dreimäderlhaus, später Lehär) und erreicht auf etwas gehobenerer Basis auch noch den Jugendstil (Otto Julius Bierbaum). Bei den Strauß in Wien, P. Lincke in Berlin u. a. nähert sich die Operette dem lokalen Volksstüdc, wie denn diese Gattung überhaupt von Anfang an Singspielelemente in sich weiterführte. Jacob Ρ r i η s e η , Het drama in de 18e eeuw in West-Europa (Zutphen 1931). — Carl R ο ο s , Det 18. Aarhundredes tyske Oversaettelser af Holbergs komedier (Kjobenhavn 1922). Ders., Holberg u. d. dt. Komödie. Dt.-nord. Jb. 9 (1928) S. 27-40. J. W. Ε a t ο n, Holberg and Germany. JEGPh.36 (1937) S. 505-514. — Joh. K l o p f l e i s c h , J. Chr. Brandes, e. Angehöriger d. dt. Bühne z. Zeit Lessings. Diss. Heidelberg 1906. Berthold L i t z m a n n , Friedrich Lvdw. Schröder. 2 Tie (1890-1894). Arth. S t i e h l e r , Das I f f landische Rührstück, e. Beitr. z. Gesch. d. dramat. Technik (1898; ThgFschgn. 16). Bertha

Lustspiel K i p f m ü l l e r , Das Ifflandische L. Diss. Heidelberg 1899. — Charles R a b a η y , Kotzebue, sa vie et son temps, ses oeuvres dramatiques (Paris u. Nancy 1893; Rez.: Jakob M i n o r , GGA. 1894, S. 34-62). Emst J ä c k h , Studien zu Kotzebues L.technik. Diss. Heidelberg 1900. — Heinz B ä r , Dt. L.dichter unter d. Einfluß von Eugine Scribe. (Masdi.) Diss. Leipzig 1923. Ferdinand Κ r a w i e c , Die L.dichter d. vormärzlichen Burgtheaters. (Masdi.) Diss. Wien 1930. — Else Η e s , Charl. BirdiPfeiffer als Dramatikerin (1914; BreslBtrLitg. 38). — Otto R e ρ ρ , Adolf Müllners L.e u. ihre Quellen. (Masdi.) Diss. Wien 1908. — Wilh. S c h e n k e l , R. Benedix als L.dichter. Diss. Frankfurt 1916 (Teildr.). — Georg Schott, Die Puppenspiele des Grafen Pocci. Diss. München 1911. — Wilh. Z e n t n e r , Studien z. Dramaturgie Ed. v. Bauernfelds. E. Beitr. z. Erforschung d. neueren L.s (1922; ThgFsdign.33). Olga F i s c h e r , L.typen Bauernfelds. (Masch.) Diss. Wien 1936. — Hellm. L a u e , Die Operndichtung Lortzings (1932; Mnemosyne 8). § 10. Das V ο 1 k s s t ü c k (s. d.) mit oder ohne Dialekt wird seit dem Biedermeier zu einer epochalen Erscheinungsform des L.s, — eine indirekte Folge der Romantik. Die besonderen Verhältnisse Wiens hatten dort schon seit Stranitzky und dann seit MozartSchikaneders Zauberflöte (1791) eine eigene Tradition begründet, aus der ganz natürlich eine barodc-aufklärerisch-romantische Synthese entstand, die anderswo nicht möglich war. Ihre Repräsentanten sind R a i m u n d und N e s t r o y , die einen naiven Wirklichkeitssinn mit der Phantastik der durch die Romantik erneuerten Märchen- und Zauberwelt mischen und über hintergründiger Schwermut eine heitere Lebensüberlegenheit wahren, die bei Raimund weniger zur Ironie als zum Humor führt. Mundartgetönte Liedeinlagen wie das Hobellied im Verschwender (1834) und das Aschenlied in Der Bauer als Millionär (1826) erobern sich den ganzen dt.sprachigen Raum. Die Mundartposse in andern dt. Landschaften erreicht i. a. nicht das gleiche Niveau. Seit der Goethezeit heben sich einige höhere Leistungen heraus, wie im Alemannischen Georg Daniel Arnolds Pfingstmontag (1816), im Hessischen Niebergalls Datterich (1841) und Des Burschen Heimkehr (1837). Die Berliner Lokalpossen Adolf Glaßbrenners sind in dieser Zeit witzige Konzentrate eines ganzen Stadtgeistes. Auch Anzengrubers Bühnenwerke gehören in diesen Zusammenhang als Mittelglieder zwischen dem lokalen Biedermei-

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errealismus und der den Naturalismus schon voraussetzenden Heimatkunst eines Thoma, Schönherr und Zuckmayer. Moriz E n z i n g e r , Die Entwicklung d. Wiener Theaters vom 16. zum 19. Jh. (19181919; Sdir. d. Ges. f. Theatergesch. 28 u. 29). Otto R o m m e l , Die Alt-Wiener VolksKomödie. Ihre Geschichte vom barocken WeltTheater bis z. Tode Nestroys (Wien 1952). Heinz K i n d e r m a n n , Die Commedia deIT arte u. d. dt. Volkstheater (1938; Bibl. Hertzeana, Verölt, d. Abt. Kulturwiss. 1, 12). Gertrude Ο b ζ y η a , Die Nachkommen d. lustigen Person im österr. Drama d. 19. Jh.s. (Masch.) Diss. Wien 1941. — Heinz K i n d e r m a n n , Ferdinand Raimund (Wien 1940). Rob. Μ ü h 1 h e r , Raimund u. d. Humor. ZfdPh. 64 (1939) S. 257-268. — L. L a ng e r , Nestroy als Satiriker. Progr. Wien 1908. — Alfred K l e i n b e r g , Ludwig Anzeneruber. (1921). Fritz W e b e r , Anzengrubers Naturalismus. Diss. Tübingen 1928. § 11. Folgt man demgegenüber dem Gang der „höheren" Literaturgeschichte, so ergibt sich nicht die gleiche Kontinuität, wie sie sich auf der mittleren Ebene der Gebrauchsdramatik abzeichnet. Der S t u r m u n d D r a n g hatte zu viel revolutionäre Aggressivität in sich, um reine L.formen auf seiner neuen Grundlage zu schaffen. Die Sozialkritik ist zu scharf, wie in Lenz' Der Hofmeister (1774) und Die Soldaten (1776), Formwille und Formziel zu ungebändigt, wie in Klingers Wirrwarr (später Sturm und Drang genannt, 1776). Die überlegene Klarheit und Distanz, die das L. fordert, fehlt; es werden weltanschauliche Programmstücke mit höchstens komödienhaften, teilweise grotesken Chargen daraus. Oder es bleiben, wie Lenz' Versuche im Sinne des Plautus (Die Buhlschwester, 1774), Nachklänge der bürgerlichen Aufklärungskomödie. Maler Müllers Experimente im Randgebiet zwischen Epik und Dramatik wie Die Schafschur (1775) oder Das Nußkernen (1811) sind im realistischen Sinne fortgebildete und das Singspiel literarisierende ländliche Idyllen mit l.haften Elementen und Pointen. Als Literatursatire bedient sich der Sturm und Drang der Farce (s. d.) in Stücken, die ebensowenig für das Theater gemeint sind. Das gilt für Goethes Götter, Helden und Wieland (1773) und seinen Satyros (1773) wie für Lenz' Pandämonium germanicum (1775) und Heinr. Leop. Wagners Voltaire am Abend seiner Apotheose (1778).

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Kaum günstiger liegen die Voraussetzungen für ein L. im Bereich der K l a s s i k . Weder der spätere Goethe (Der Groß-Cophta, 1791, Der Bürgergeneral, 1793) noch Schiller mit Bearbeitungen ausländischer Stücke schufen große komische Dramen; sie verfaßten auch keine realistisch-satirischen Komödien wie Kotzebue. Wohl aber integriert Goethe in seinem Lebenswerk, dem Faust, L.elemente aus der gesamten Weltliteratur (Aristophanes, Fastnachtsspiel, Shakespeare, ital. und span. Theater, Festspiel, Singspiel). In der Gestalt des Mephistopheles schafft er eine zugleich symbolische wie realistische Komische Figur, die Dichtung und Oper zur Nachfolge reizen konnte. Die R o m a n t i k e r in ihrem nahen und sachkundigen Verhältnis zu Shakespeare und Calderon sahen sich auf das L. als Ausdruck ihrer Weltanschauung geradezu verwiesen. Die fundamentale Rolle, die Gefühl und Phantasie bei ihnen spielten, bot eine gute Voraussetzung für die Gestaltungen der Laune und des Humors (s. a. ihre Ästhetik des Witzes und der Ironie). Bei Shakespeare und den Spaniern lockte sie der Traum und der Schein, und die Seelenlage ihrer Zeit trieb sie auf das Gebiet des zugleich heiter-parodistischen wie schwermütigen Märchenspiels. Entrückt von der Wirklichkeit der Gegenwart, suchten ihre Figuren dennoch oft die Zustände der Umwelt zu verspotten und zu karikieren. Mit dem Gestiefelten Kater (1797, Tieck), dem Ponce de Leon (1801, Brentano), den Freiern (1833, Eichendorff) und in ihrer Nachfolge Leonce und Lena (1836, Büchner) glückten eine Anzahl phantastisch-komischer Dichtungen, denen man den Einbau ganzer Philosophien, wie der Spinozas oder Hegels, kaum anmerkt. Am reinsten gelang dies freilich in K l e i s t s großartiger Einzelleistung Der zerbrochene Krug (1808 in Weimar aufgef.). Diese in Dialog und Dialektik faszinierende Rechtskomödie verbindet Lessingsche Konsequenz mit einer nach dem Durchgang durch die ratio erreichten Simplizität, die auch zu einer in sich vollkommenen analytischen Struktur geführt haben. Kantisch gefärbte Rechtsethik und Theodizee sind hier fast bis zum Unmerkbaren sublimiert. Eine ähnliche Dialektik unter dem unbewußten Leitbild der Theodizee rückt die Bearbei-

tung der Moliereschen Komödie Amphitryon (1808) schon weit von ihren Ursprüngen weg zu einer Spielform, die nur noch in einem neuen, universaleren Sinne 'Lustspiel' genannt werden könnte, und führt im Prinzen von Homburg zu einem Lösungsspiel von ζ. T. lustspielhafter Struktur, aber tragischer Problematik. Gleichfalls ohne Nachfolge blieb P l a t e n s Experiment, in der Form der Aristophanesparodie mit dem Mittel der romantischen Ironie späte literar. Wirkungen der Romantik selbst ad absurdum zu führen. Sowohl Die verhängnisvolle Gabel (1826) wie Der romantische Oedipus (1829) bieten der Form wie dem satirischen Gegenstand nach nur dem kundigen Literaten etwas, trotz alles Feuerwerks des Witzes und parodierender Spielfreude, die hier entfaltet werden. Was Platen an übereindeutiger Ironie zu viel hat, hat G r a b b es Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung (1827) dagegen an eindeutigem Sinn zu wenig. Zeit- und Literatursatire, gelegentlich wesentlich angesetzt, gehen in der Durchführung stellenweise in studentischen Ulk über. Das kann zwar auch schon bei Arnim und Brentano der Fall sein, aber der tiefsinnige Hintergrund hat sich seit der Romantik im Zeitalter des Jungen Deutschland zersetzt. Es bedarf des konsequenten Materialismus eines Büchner, um ein jungdt. Thema wie Dantons Tod gleichsam wider den Strich mit echten l.haften Zügen auszustatten. Die eigentliche Komödie der Jungdeutschen, polit. Aktualität in historischer Verkleidung, verkörpert Gutzkows Zopf und Schwert (1844). Eugen W o l f f , Die Sturm- und DrangKomödie u. ihre fremden Vorbilder. ZfvglLitg. NF. 1 (1887/1888) S. 192-220; 329-347. Gustav Κ e c k e i s , Dramaturgische Probleme im Sturm u. Drang (Bern 1907; UntsNSprLitg. 11). Siegfr. M e l c h i n g e r , Dramaturgie d. Sturms u. Drangs (1929). Heide H ü c h t i n g , Die Lit.satire d. Sturm- u. Drangbewegung (1942; NDtFschgn. 36). — Erich Η a r d u η g , Fr. M. Klingers 'Falsche Spielet* u. d. äußere u. innere Entwicklung d. L.s seit Gottsched. (Masch.) Diss. Marburg 1949. — Artur V o g e l , Die Weimarer Klassik u. d. L. Diss. Zürich 1952. Georg K ü f f e r , Goethe u. d. Humor. Diss. Bern 1933. Friedr. S e η g 1 e , Goethes Verhältnis z. Drama (1937), darin: Goethes Verhältnis zum Komischen. Kuno F i s c h e r , Schiller als Komiker (1868). — Fritz G ü t t i n g e r , Die romantische Komödie u. d. dt. L. (1939; Wege-

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§ 12. In Wien dagegen, wo die Kontinuität mit Renaissance und Barode bis in diese Zeit erhalten bleibt, kann jene moralistischnachzüglerische L.form entstehen, wie sie G r i l l p a r z e r erreicht. Ihre weltanschauliche Grundlage ist im Gegensatz zu der andern dt. Tradition eine systematisch festgehaltene konservativ-christliche Ethik, die, wie bei Kleist die Philosophie, auf eine eigene Weise sublimiert werden muß, um die Höhe des Humors von Weh dem, der lügt (aufgef. 1837) zu erreichen.

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Die Brücke, die vom Barode zu Grillparzer reicht, führt in einem weiteren Bogen zum Wiener L. des 20. Jh.s. Der Symbolismus gewinnt gerade in Österreich so eigene Form, weil er nur hier an diese Kontinuität anknüpfen konnte. Ein Programmatiker des Symbolismus wie Hermann B a h r kann Wiener Volksstücke in der Nachfolge von Raimund und Nestroy schreiben und in Das Prinzip (1912) die alte Typen- und Thesenkomödie als Bildungsgut modernisiert und verfeinert wieder aufnehmen, wobei sich die Schulung an Ibsen in der Dialogführung und im Verzicht auf alles Intrigenspiel verrät. Für Arthur S c h n i t z l e r ist ebenso bezeichnend die Spannweite, die von fin-desiöcle-Stimmung bis zu ihrer Überwindung durdi die Ironie reicht. Die in Hofmannsthals Prolog zu Schnitzlers Anatol hervorgehobene Grazie des Sich-selber-Spielens in vorgerückter, belasteter Zeit ist die Voraussetzung für jene Mischimg von Büchnerscher Ironie und Komik, wie sie die Groteske Der grüne Kakadu (1899) trägt, und für den (zeitweise von der Zensur verbotenen) Reigen (1900), dessen Grundstruktur ('Dialoge' heißt der Untertitel) letztlich auf die Dances macabres zurückgeht, wenn es sich hier auch um Typen des sinnlichen Eros handelt. Die Grazie einer durch Form gebändigten Schwermut bestimmt auch Tradition und Weg H o f m a n n s t h a l s . Im Grunde ist bei ihm der Humor nicht minder teuer erkauft als bei Grillparzer, dem er auch in seiner Sprachkultur verwandt ist. Das L. ist denn auch nicht seine frühe, sondern seine reife Möglichkeit. Die Bildungsvoraussetzungen holt er sich aus dem alten England, Frankreich, Italien, dem barocken Spanien und der Antike gleichermaßen. Bei ihm allein begegnet man dem Versudi, ohne Kompromisse mit Expressionismus und Aktivismus, die gesellschaftlichen Erschütterungen des ersten Weltkrieges zu verarbeiten, wie es z.B. in Der Schwierige (1921) geschieht. Freilich bedingt dies auch eine Grenzform des L.s, das die Trauer eines traditions-, aber auch vergänglichkeitsbewußten Dichters in hoher Heiterkeit überlegen durchschimmern läßt. Das Ergebnis ist eine Ausgewogenheit von Schicksal und Intrige; noch der Abenteurer steht unter dem Schicksal (Christinas Heimkehr, 1910). Hofmannsthals Beziehung

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Lustspiel

zur Musik ist von diesem Erbe bedingt. Daß L. und Musik sich hier wieder zusammenfinden, ruft die Wiener Tradition seit Stranitzky und Mozarts Figaro, Don Giovanni und Zauberflöte in Erinnerung und nimmt audi die Möglichkeit einer hohen Musikkomödie, wie sie Richard W a g n e r in den Meistersingern von Nürnberg (1862) geschaffen hatte, in sich auf. Nur war für Wagner die unmittelbare Vorbedingung die dt. Romantik in einer „demokratisch" getönten Vaterlands- und Reichsstadtmotivik, für Hofmannsthal dagegen die Welt Goldonis und Raimunds, verbunden mit dem kaiserstädtisch-höfischen Fluidum. So konnte bei ihm nicht nur eine so differenziert atmosphärische Mischung von Antike, Barode und Altösterreich statthaben wie in Ariadne auf Naxos (1912), sondern auch im Rosenkavalier (1911) einer der geschlossensten dt. L.texte auf Musik hin entstehen. Nach dem Tode Hofmannsthals schrieb Stefan Z w e i g für R. Strauß das Libretto zur Schweigsamen Frau (1932), das sich auf der Mitte zwischen psychologischer Charakterkomödie und Buffooper hält, aber trotz der Vorlage Ben Jonsons ohne die Wiener Tradition nicht denkbar ist. Joh. W. N a g l u. Jac. Z e i d l e r , Dt. österr. Lit.geschiaite. Bd. 3 u. 4 hg. v. Eduard C a s t l e (1935-1937). Jos. Ν a d l e r , Lit.geschichte Österreichs (2. erw. Aufl. 1951). — Grillparzer: Arturo F a r i n e l l i , G. u. Lope de Vega (1894). Ders., G. u. Raimund. 2 Vorträge (1897). Ridi. S m e k a l . G . u . Raimund (1920). Jacob M i n o r , Wahrheit u. Lüge auf d. Theater u. in d. Lit. Euph. 3 (1896) S. 265335. Nie. Ρ e r q u i η, Die Lüge in G.s 'Weh dem, der lügt'. Verzamelde Opstellen gesdir. door oudleerlingen van J. H. Sdiolte (Amsterdam 1948) S.304-319. Gerh. B a u m a n n , Franz G. (1954) S. 202 ff. — Hermann Bahr: M. M a c k e n , Η. B. His Personality and his works. Studies. An Irish quarterly review 15 (Dublin 1926) S. 34-46; 573-586. Albert F u c h s , Η. Β. in: Fudis, Moderne österr. Dichter. Essays (Wien 1946; Tagblatt-Bibl. 1263). Heinz K i n d e r m a n n , Η. B. Ein Leben für d. europ. Theater (1954) S. 308-330.— Arthur Schnitzler: Jos. K ö r n e r , A. Sch.s Gestalten u. Probleme (1921; Amalthea-Büdierei 23). Th. K a p s t e i n , A. Sdi. u. seine besten Bühnenwerke (1922; Schneiders Bühnenführer). Otto P. S c h i n n e r e r , The History of Sch.s 'Reigen'. PMLA. 46 (1931) S. 839-859. Bernh. B l u m e , Das nihilistische Weltbild Sch.s. Diss. TeH. Stuttgart 1936. — Rieh. Wagner: Gust. R ο e t h e , Zum dramat. Aufbau der 'Meistersinger\ SBAkBerlin 1919, S. 673-708. E. C. R o e d d e r , W.s 'Meistersinger' and

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§ 13. Es kann überraschen, daß der R e a l i s m u s , dem die Grundhaltung des Humors so wohl vertraut war, so unergiebig auf dem Gebiet des L.s geblieben ist. Ein so tiefer Humorist wie Gottfried Keller ist an dem lange gehegten Plan, Gotthelfs Brautschaunovellen zu L.en umzuformen, gescheitert. Große epische Humoristen wie Gotthelf, Reuter und Raabe haben sich nicht einmal im L. versucht. Hebbels Versuch, sich in Der Diamant (1847) und Der Rubin (1851) audi diese Gattung zu erobern, kann nicht als gelungen gelten. Man muß sich hier mit Freytags Die Journalisten (1852) als dem besten Ergebnis bescheiden. Sich selber im Genre der durchschnittlichen Bürger- und Sittenkomödie zu versuchen, konnte den ausgebildeten Wirklichkeitssinn der großen Realisten kaum reizen; als L.dichter wären sie unter ihren Rang als Epiker gegangen. Dies ist beim N a t u r a l i s m u s anders. Seine ausgesprochen gesellschaftskrit. und pölit. Programmatik relativiert von vornherein die ästhetische Seite. Er kann daher anpolit. und zeitkrit. L.ansätze aus dem Sturm und Drang und dem Jungen Deutschland anknüpfen. Auch das, was man jetzt Milieu nennt, war ζ. B. bei Lenz und Büchner sdion vorgebildet. Das gilt desgleichen für die Eindeutigkeit der Stoßrichtung. Antibürgerlichkeit ist auch das für das naturalistische L. maßgebende Thema. Die positive Entsprechung ist die durch die moderne Weltanschauung gegebene Befreiung der Individualität, die, zumeist auch in satirischer Verkleidung, einen neuen Vitalismus zur Folge hat. Bei-

Lustspiel des schlägt einen Bogen von Gerhart Hauptmann und W e d e k i n d bis zu Bertolt Brecht. Während der Programmnaturalismus für reine l.hafte Formen noch nicht distanziert genug ist (z.B. Sudermanns Ehre, 1890), kann er, gelöst von soziologischer und sozialistischer Bewußtheit, bei Gerhart Hauptmann schon 1893 in Der Biberpelz „Milieu" und „Volk" in einer Handlung von durchschlagender Komik fassen. Politische Satire wird hier zum Humor, der Typus aus dem Volk wieder mit der Freude am Eulenspiegelhaften dargestellt. Das „Scherzspiel" Schluck und Jau (1900) schlägt sogar deutlich eine Brücke zurück zu der von Shakespeare und Holberg herkommenden Schelmentradition. Ungleich schärfer und negativer kritisch, dafür aber traditionsbildend bis in die Gegenwart hinein, ist die den Bürger an sich annihilierende Komödie mit possenhaften Zügen, die von Wedekind über Sternheim und Georg Kaiser letztlich bis zu Bertolt Brecht, Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt reicht. Mehr oder weniger kann dabei die Fähigkeit zutage treten, die Veriming des Menschlichen im Rahmen einer übergreifenden Com6die humaine zu sehen. In der Beimischimg grotesk-makabrer Züge ist die im einzelnen nicht leicht faßbare, aber doch unverkennbare Einwirkung des Symbolismus Strindbergs zu spüren. Josef Victor Widmanns Maikäferkotnödie (1897), ausgesprochenes Lesestüdc, ist ein Modellfall des mit Pessimismus geladenen, noch symbolistischen Weltanschauungs-L.s deutscher Zunge. Während aber bei Wedekind das im Grunde naturalistische Emanzipationsthema der Zeit um die Jh.wende noch stark betont ist (was ihn auch in Konflikt mit der Zensur brachte) und der vitale Individualismus in grotesken Formen eher angemaßt als leibhaft überzeugend wirkt, stellen K a i s e r und S t e r n h e i m vielmehr das radikale Zerrbild des Bürgers auf die Bühne, wobei die komische Wirkung sowohl eindeutiger wie enger wird. Die Vereindeutigung liegt im Politischen, das für Expressionismus wie Aktivismus vorwiegend linksrevolutionär ist. Daß in solcher Zeitkritik auch Prophetie in Komödienform entstehen kann, zeigt ein Stück wie Ernst T o l l er s Der entfesselte Wotan (1923) mit makabrer Deutlichkeit,

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gerade auch im Vergleich mit der leichteren Mischung von Sozialkritik und Eulenspiegelei, wie sie Zuckmayer im Hauptmann von Köpenick (1931) bietet. Bei F r i s c h und D ü r r e n m a t t ist die Bürgerkritik zwar nicht minder radikal, aber einer übergreifenden Gerichts- und Verantwortungsmotivik eingeordnet. Bei B r e c h t ist ein, kaum vom Geist des 18. Jh.s ganz zu trennendes, moralistisches Moment aufrechterhalten, dessen humanitärer Untergrund selbst das Klassenkämpferische überwiegen kann. Bei ihm am ehesten kommt dabei, freilich fast wider Willen, so etwas wie ein reines L. zustande (Herr Puntila und sein Knecht Matti, geschrieben 1940, gedr. 1948, Neue Fass. 1950). — Nicht zufällig drückt sich das Bewußtsein der Mischimg von Komischem, Tragischem und Groteskem auch in den Untertiteln aus: von Wedekinds 'tragikomischer Posse' Der Schnellmaler (1889) bis zu Dürrenmatts Spiel Der Besuch der alten Dame (1956), das nicht 'Tragikomödie5 in überliefertem Sinne, sondern 'tragische Komödie' sein soll. In dieser Lage bekommen auftretende historische Modelle eine andere, weniger historisierende als existenzielle Funktion, so die Beggar's opera in ihrer Adaption bei Brecht, so vor allem auch aristophanische Züge in ihrer parodierenden Aufnahme (Chor, Götterapparat), wie sie auch das gleichzeitige existenzialistische Drama in Frankreich aufweist. Christa B a r t h , Gustav Freytags 'Journalisten'. Versuch einer Monographie. (Masch.) Diss. München 1950. Horst O p p e l , Komik u. Humor im Schaffensgefüge Friedr. Hebbels. Diss. Bonn 1935. — Lotte L a n g e r , Komik u. Humor bei Gerhart Hauptmann. Diss. Kiel 1933. Felix A. V o i g t u. Walter A. R e i c h a r t , Hauptmann u. Shakespeare (2. Aufl. 1947) S. 26-34 (zu Sdilutk und Jau). — Arthur K u t s c h e r , Frank Wedekind. Sein Leben u. s. Werke. 3 Bde (1922-1931). Franz B l e i , Über Wedekind, Sternheim u. d. Theater (1916). Bernhard D i e b o l d , Anarchie im Drama (4. Aufl. 1928). — Paul R i l l a , Literatur. Kritik u. Polemik (1953) S. 7-12 (über Zudonayers Hauptmann υ. Köpenick), S. 202209 (über Stemheims Bürgerkomödien). Rudolf B i l l e t t a , Carl Sternheim (Masch.) Diss. Wien 1950.—Walter N u b e l , Bertolt-BreditBibliographie, in: Sinn u. Form, 2. Sonderh. B. Brecht (1957) S. 596-598 (Lit. zu Herr Puntila u. s. Knecht Matti). Zu Brechts Bearb. von G. Hauptmanns Biberpelz und Roter Hahn: T h e a t e r a r b e i t . 6 Aufführungen d. Berliner Ensembles (1952) S. 171-224. — Erich

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Lustspiel — Lyrik

Brock, Die neueren Werke Friedr. Dürrenmatts. Neue Schweizer Rs. NF. 21 (1953/1954) S. 681-685. Richard Daunitht — W. Kohlschmidt, W. Mohr Lyrik (Theorie) § 1. Frühzeitig wurde das Wesen der L. erfaßt als ein unmittelbar sich im Wort Erlösung setzendes Erleben, als reiner Gefühlsausdruck einer ichbezogenen Stimmung, so zum mindesten andeutungsweise schon von Paul Fleming in der Barockzeit, so von Joh. Adolf Schlegel in der frühen Aufklärungszeit, der glaubt, „daß es sogar darauf ankömmt, ob das Auge, das den Gegenstand betrachtet, fröhlich oder schwermütig, mutwillig oder sanft sei", so von Friedr. v. Hagedorn im rokokohaften Bezirk, so von Moses M e n d e l s s o h n im Aufsatz Von der lyrischen Poesie (1778), der die „Gemütsbewegung" hervorhebt und den keineswegs schon geläufigen Terminus lyrisches Gedicht einbürgern hilft; denn selbst der junge Herder hatte noch von einer Oden-Abhandlung (1764) gesprochen, wo er zugleich und vorzüglich das Lyrisch-Liedhafte meinte. Doch sei (auch gegenüber J. Behrens) darauf hingewiesen, daß Georg Neumark Poetische Tafeln ... (1667) seine 9. Tafel ausdrücklich überschreibt Lyrische Gedichte oder Lieder, also etwa ein Jh. vor M. Mendelssohn. So überschneiden sich auch in der Theorie der Lyrik Aufklärung und Sturm und Drang, indem die Geniezeit wohl das Werden und Wesen der Lyrik tiefer erfaßte, die Aufklärung jedoch (ähnlich wie beim Geniebegriff) in der Definition und theoret. Wesensbestimmung klarer und rein kunstverstandesmäßig schon erstaunlich weit war, ja in Einzelfällen des Definierens weiter als die Geniezeit, die vor lauter Leidenschaft nicht zur Vernunft und also auch nicht zum Kunstverstand kam. Selbst Gottsched überrascht (im 1. Kap. d. Crit. Dichtkunst) mit theoretischen lyr. Blüten, die zwar wie das meiste bei ihm nicht auf eigenem Grund und Boden gewachsen, sondern als Sdinittblumen aus fremden (durchweg ausländischen) Gärten bezogen worden waren. Davon profitierte wahrscheinlich Friedr. Jos. Wilh. S c h r ö d e r Lyrische, elegische u. epische Poesien nebst einer krit. Abhandlung (1759). 1759, das war also immerhin schon das Jahr der Conjectures on Original-Composition von Ed. Young und

der Somatischen Denckwürdigkeiten von J. G. Hamann. Einige Jahre später konzipiert der junge Herder seine sogenannte Odensbhandlung, die in der L. letztlich die Urform des Dichterischen überhaupt sieht. Die L., lange von der Theorie relativ vernachlässigt, ging jetzt in Führung. Nicht nur das Genie entschied „mit der starken Stimme des Beispiels", auch die L. entschied mit der leisen Stimme der Innerlichkeit, aber auch mit der lauten Stimme des Enthemmtseins (hymnischer Prometheus-Typus). Natürlich berührte auch der Spätaufklärer Joh. Jac. E n g e l die L. mit seinen Anfangsgründen einer Theorie d. Dichtungsarten (1783). Hier konnte schon der Neuerwerb der Geniezeit registrierend und referierend genutzt werden. Aber die Bezogenheit auf das „Volksmäßige" konnte nur von einem Stürmer und Dränger wie G. A. Bürger hergestellt werden, obwohl auch der junge Goethe bekennt: „Ich habe sogleich an dem Herzen des Volkes angefragt". Und vor allem: der junge Goethe erwies schon das als Verwirklichung des Kunstkönnens, was der junge Η e r d e r als das Wünschenswerte des Kunstwollens hingestellt hatte. Trotzdem kommt dem jungen Herder der Vorsprung der Kunsterkenntnis vor dem verwirklichten Kunstwollen zu. Zweimal griff der geniale. Anreger in die Entwicklung des von ihm angeregten Genies (Goethe) ein, einmal in Straßburg (Volkslied), einmal in Weimar (Griechische Anthologie). Damit aber war es die L., die von vornherein das Natur- und Nationalerleben vom Bildungserleben (Antike) abhob und dennoch mit ihm verwob. Leitwort wird — einst schon von Geliert erprobt — das „Herz", auf das die L. hinwill und hinweist, und zwar für den jungen Herder selbst dort, wo er über die Dramatik (Shakespeare) zu handeln glaubt und vorgibt. Eben deshalb wird der junge Herder zum theoret. Wegbereiter der echten Gefühlsausdruckslyrik. Denn erst ihm wurde zum vollgültigen Kunsterleben, was bis dahin immer nur zum Kunstverstehen vorgedrungen war. Kritischer gesehen und gesagt: er faßte an sich frühere Ansätze zusammen zu einem Kunsterlebnis, das mehr war als Kunsterkenntnis. Für ihn war die L. nicht eine Ausnahme und Grenzform (P. Fleming, Chr. Günther, Joh. Ad. Schlegel, Fr. v. Hagedorn, G. Klopstock

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Lyrik u. a.), sondern eine uranfängliche Ausgangssituation dichterischer Aussage und eineZentralform dichterischer Bewährung. Was Georg Neumark, Erdmann Neumeister u. a., also Ende des 17. Jh.s und nicht erst — wie die Sonderforschung meint — Ende des 18. Jh.s rein registrierend der L. eingeräumt hatten, eine wenigstens annähernd ebenbürtige Dichtungsgattung zu sein unter anderen (Irene Behrens [siehe Lit.-Verz.] sieht zu wenig diese deutlichen Ansätze), das wurde bei ihm zum Ruhm der Urmutter aller dichterischen Geschlechter. Die zunächst vernachlässigte, dann geduldete Gattung wurde durch ihn zum Ursprünglichen und zur Urform. Volkslied und Kirchenlied stützen diese Position. Schon Gleim hatte die „komische Romanze" nicht nur „komisch" gefunden. Und so konnte Herder die Marianne Gleims ernster nehmen, als sie zu nehmen war, und in sein mehr schwärmerisches als verläßliches Vorstellungsbild von der Volksballade aufnehmen. Als Verteidiger der L. vor allem stößt Herder mit dem ersten der Kritischen Wälder gegen Lessings Laokoon, wenngleich achtungsvoll, vor. Und so konnte, schon rückblickend, der Spätaufklärer Joh. Joach. E s c h e n b u r g in seinem Entwurf einer Theorie und Litteratur der schönen Wiss. (1783) vermerken, daß der Lyriker „sein volles Gefühl ausdrücken" solle. Die Ausdrudcslehre Joh. Adolf Schlegels, inzwischen weiterentwickelt, wirkt nach, wenn erklärt wird, daß „sinnlich vollkommener (Alex. Gottl. Baumgarten) Ausdruck (Ausdrudcslehre) leidenschaftlichen Gefühls (geniezeitgemäßer Zuwachs) die ganze Seele des Dichters einnimmt". Aber noch ordnet Eschenburg das lyr. Gedicht der epischen Gattung zu. Die Grenzen der Gattung sind immer noch ungesichert. Kein Wunder, daß in demselben Jahre ein anderer Spätaufklärer, Joh. Jac. Engel, Verfasser der Ideen zu einer Mimik, noch Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungsarten für erforderlich halten konnte. Er bemüht sich u. a. besonders um eine Theorie des „Lehrgedichts", ähnlich wie sichEschenburg schon ein Jahrzehnt vorher (1774) in der Einleitung zu den Romanzen der Deutschen um eine Definition der Romanze bemüht hatte, wobei immer noch von „Laune und Drolligkeit" und einer nur „affektierten Ernsthaftigkeit" die Rede ist, also die VorReallexikon II

stellung der „komischen Romanze" überwiegt. Deshalb dürfte die Deutung A. Kösters doch nicht so leicht zu überwinden sein, wie Fr. Brüggemann annimmt. § 2. Innerhalb der Kunstanschauung der Klassik berührt S c h i l l e r das Prinzip der Gegenwärtigkeit der L., indem die „gegenwärtige . . . Gemütsbeschaffenheit des Dichters" hervorgehoben, aber in Abwehr geniezeitgemäßer Leidenschafts- und Volksnähe im Sinne klassischer Distanz gewarnt wird: „ein Dichter nehme sich ja in acht, mitten im Schmerz den Schmerz zu besingen". Denn dadurch verenge und verflache die Allgemeingültigkeit des „Idealischen" zum bloßen Individualismus. Wilh. v. H u m b o l d t behalf sich in dieser Situation mit dem Begriff der subjektiven Totalität, wodurch immerhin auch für die L. die „Totalität" gerettet war und andererseits das Subjektive nicht verlorenging. Im übrigen ist er sich klar darüber, daß die L. „auf eine bestimmte Empfindung" hinarbeite; aber das gelte auch vom Dramatiker (Drama als Mischform von Epik und Lyrik). Am weitesten führt wohl H ö l d e r l i n die Theorie der L. vorwärts, obwohl das Kunstgesetz der Klassik an sich das Liedhaft-Lyrische entsprechend umschränkte. Seine Definition lautet: „Das lyrische, dem Schein nach idealische Gedicht ist in seiner Bedeutung naiv. Es ist die fortgehende Metapher e i n e s Gefühls." Klingt schon dabei das Wissen um die Konstanz des Gefühls, das Verharren des Lyrikers in derselben Stimmungslage an, so fordert er auch sonst ausdrücklich das Wiedereinmünden des Schluß-„Tons" in den Eingangs-„Ton". Dabei wird im Raum der Klassik die Innigkeit und Innerlichkeit der L. keineswegs aufgegeben, verbindet sich vielmehr harmonisch mit dem Verharren und Verweilen der lyr. Gegenwärtigkeit. Denn „im lyrischen Gedicht fällt der Nachdruck auf die unmittelbare Empfindungssprache, auf das Innigste, das Verweilen . . . " . Fr. Hölderlin hat bereits mit diesen wenigen Umschreibungen für die Theorie der L. und das lyr. Kunstwollen dieselbe hohe Bedeutung wie für die Entwicklung des lyr. Kunstschaffens. Und im Grunde ist er in der Geschichte der Theorie der L. erst wieder von Th. Storm ergänzt worden, der nun nach der Seite der liedhaften L. manches nachtragen konnte. 16

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Lyrik

§ 3. Manches allerdings an Erträgen liegt dazwischen. A. F. B e r n h a r d i , der das Klassische als „analytisch", das Romantische als „synthetisch" bestimmen zu können meinte, läßt den romantischen Begriff der „Universalpoesie" in die Bestimmung der L. einmünden, wobei die Universum-Vorstellung mit hineinspielt, indem „der Strom vom Universo in die Seele stürzender Empfindungen sich für die lyrische Darstellungsart vorzüglich eignet". Im Rahmen der romantischidealistischen Identitätsphilosophie und des Subjekt-Objekt-Bezuges läßt S c h e l l i n g den Widerstreit von Notwendigkeit und Freiheit, Unendlichem und Endlichem, den das Drama zur höchsten „Indifferenz" führt, in der L. vom Subjektiven umgrenzt und eingeengt sein. Trotzdem bleibt die L. der Epik in dem Grad der Entfaltung jenes Widerstreites überlegen. Daran erinnert später noch Otto Ludwigs Betonung der Intensität der L. gegenüber dem Extensiven der Epik. Schelling hatte zugleich die Bewegtheit des Subjekts „im lyrischen Gedicht" (diese Bezeichnung Mendelssohns hat sich nun also durchgesetzt) hervorgehoben. S ο 1 g e r ähnelt in der Identitätsfrage Schelling. Die L. stuft er recht tief ein, weil ihre Subjektivität wenig geeignet ist, den Widerstreit von Idee und Wirklichkeit zur Identität aufzuheben. Aber jenseits des Systems, isoliert gesehen, erkennt und anerkennt Solger in der L. die Wesens- und Wirkungsform, die „des Künstlers innerste Seele an den Tag entfaltet". Die Berührung der L. mit der Musik deutet J. G ö r r e s an, für den die L. „die Gefühle im Laut uns malt und ganz zu Unterst im Gemüte in Musik sich verliert". Die Bedeutung des Musikalischen in der Romantik wird spürbar. Der Poetiker C1 ο d i u s (Poetik 1804), der über eine gute Kenntnis der früheren Poetik verfügt, plant eine Unterscheidung in göttliche und menschliche Poesie (die Dreigattungsgliederung wird oft durchbrochen), benutzt dann aber als Zuordnungskriterium vorwiegend das nähere oder fernere Verhältnis zur „Materie". Dabei nun ist bemerkenswert, daß Clodius die L. der nichtmateriellen Gruppe zuordnet, weil die Materie dort nur Anlaß bleibt zum Erwecken der Stimmung, also höchstens Mittel und Ausgang, aber nicht Zweck oder Ziel darstellt. Rangmäßig stellt er — wie einst Klop-

stock — die „göttliche" Poesie als eine „höhere lyrische Poesie" voran. Manches erinnert an den Göttinger Hain, manches aber auch an W. v. Humboldt. Will sich schon der Philosophieprofessor Clodius möglichst von den philosöph. Sekten freihaften, so polemisiert F. B o u t e r w e k in seiner lange nachwirkenden Ästhetik (1806) nachdrücklich gegen die spekulative „Mode-Metaphysik". Er führt die Dichtungsgattungen auf vermeintliche Grundtypen des geistigen Verhaltens und Bedürfnisses zurück. Danach stellt die L. die „poetische Natur des Dichters selbst dar", gilt also in gewissem Grade als Grundform. Die Unterscheidung von Naturpoesie und Kunstpoesie wirkt nach, wenn ζ. B. das Lied als der „natürlichste Ausdruck des Gefühls" erläutert wird, während die Ode an entsprechender Stelle in die Kunstpoesie eingeordnet wird. Romanze und Ballade dagegen werden der epischen Gattung angegliedert (vgl. auch Ernst Hirt). Beibehalten wird die „Subjektivität" des lyrischen Ausdrucks. In der ersten Auflage der Vorschule der Ästhetik (1804) hatte Jean P a u l die L. fast ganz ausgeklammert. Später gilt die L. als die früheste, grundlegendste Gattung: „Die Lyra geht, da Empfindung überhaupt die Mutter und der Zunderfunke aller Dichtung ist, eigentlich allen Dichtformen voraus: als das gestaltlose Prometheus-Feuer". Gleichzeitig wird der Gegenwärtigkeits-Charakter der L. deutlich berührt (§ 75) und der lyrische Typus der erlebten Meditation (stimmungsgesättigte Betrachtung) als berechtigt begründet: „In der Dichtkunst ist jeder Gedanke der Nachbar eines Gefühls, und jede Hirnkammer stößt an eine Herzkammer." In der Meditations-Lyrik bleibt das Gedankliche dem Gefühl verbunden, so daß keine bloße Reflexions-L. entsteht. Der rückhaltlosen Spontaneität und dem immittelbaren Gefühls-„Ausbruch" steht Jean Paul kritisch gegenüber und will diese lyr. Grundhaltung vor allem nicht zu einem absoluten Wertmesser für echte Dichtung erhoben sehen. Die geistig freie Distanzhaltimg des Humors dürfte bei dieser Abwehr des Expressiven mitspielen. § 4. In den bekannten Versen J. v. E i c h e n d o r f f s : „WemGott will rechteGunst erweisen / Den schickt er in die weite Welt" begegnet sich in schlichter Fassung noch ein-

Lyrik mal die Weite des Wunders mit dem Wunder der Weite, die „Wirklichkeit" des Wunders und das „Wunder" der Wirklichkeit, und zwar in aller Einfalt und Wahrhaftigkeit. Wahrhaftigkeit, Einfältigkeit sind zugleich Grundforderungen, die Eichendorff gerade auch für den Lyriker als verbindlich erklärt: „Was wahr in dir, wird sich gestalten, / Das andre ist erbärmlich Ding" und: „Anders sein und anders singen, ist ein dummes Spiel" oder — fast auf A. Stifter vorausweisend — die Uberzeugung: „denn es ist nichts groß, als was aus einem e i n f ä l t i g e n H e r z e n kommt". Der Ästhetizismus wird abgewehrt und einer Diesseits-JenseitsUberbrückung zugestrebt. Die Tendenz zur Naturdichtung ist stärker als die zur Kunstpoesie, wobei neben der Naturfrische das Wechselspiel zwischen Naturwehmut und Naturdemut nicht unterschätzt werden sollte. Traggrund des Lyrischen ist neben dem Religiösen und Traumhaften vor allem das Erinnerungs- und Heimaterleben, welche Faktoren auf Th. Storm hinüberdeuten, so schroff sich Storm im religiösen Betracht abhebt. Das Gottbegnadetsein des Dichters gilt für Eichendorff besonders auch vom Lyriker. Die biedermeierliche Abflachungsform der Romantik spiegelt sich in der forcierten „Einfältigkeit" Gustav Schwabs, der im Sinne der Rechtfertigungspoetik klarstellen zu müssen glaubt: „Mit eigenem Schnabel jeder singt, / Was halt ihm aus dem Herzen springt" § 5. Es ist nicht immer so, daß die Dichter sich vorzugsweise über die Gattung theoretisch besonders verbindlich geäußert haben, die sie in ihrem Kunstschaffen vor allem vertraten. Nicht selten dient die Theorie dem Bedürfnis nach Ergänzung, wie man denn gern von Tugenden spricht, die man nicht besitzt. Aug. ν. Ρ1 a t e η hat mehr über das Drama ausgesagt als über die Lyrik. Und wenn man auch den Wert seiner literatursatir. Komödien nicht unterschätzen sollte, so bleibt doch sein Beitrag zur Theorie der L. gering, wenn etwa auch die Zielsetzung „geniale Klarheit und Bündigkeit" aufhorchen läßt. Das Interesse an kunsttechnischen (bes. metrischen) Formungsfragen überwiegt, und es ist keineswegs echte'Selbstironie, wenn die Sphinx im gegen Immermann gerichteten Romantischen ödipus als Wegzoll „ein feh-

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lerloses Distichon" fordert. So ganz unrecht hatte also Immermann nicht mit seiner Satire Oer im Irrgarten der Metrik umhertaumelnde Kavalier (Anspielung auf den Grafen). Der Trimeter ist Platen lieber als der Jambus. Das Goethe-Sonett des Ghaselendiditers hebt die Sprachmeisterschaft hervor, nicht ohne am Reim zu kritteln: „Bewegt sich leicht, wenn auch in schweren Reimen." Ein eigener Stichwortartikel ist dem „Reim" gewidmet und fordert bei kargen Einräumungen im einzelnen im ganzen doch die „strengste Reinheit des Reims". Theoretisch lehnt zwar Platen den absoluten Vorbildzwang der Antike ab, was immerhin oft übersehen wird, aber sein eigenes Kunstwollen bewegt sich vorzüglich in einer antikisierenden Richtung, die dann im Münchener Dichterkreis nachwirkt, für den sich zeitweise eine merkliche Platen-Autorität herausbildet. Der Dichter ist Hüter der (Form-) Schönheit: „Und des Himmels Lampen löschen mit dem letzten Dichter aus." Das Talent ist angeboren, die schöne Form aber muß durch kunsttechnische Gewissenhaftigkeit erworben werden. Auf der Wegsuche zwischen Nachklassik und Nachromantik schwenkt Platen mehr auf die Nachklassik ein. Hebbel hat ihn einmal mit einem Reiter verglichen, der wohl den Zügel (Technik), aber nicht das Pferd besitzt und beherrscht. Zu den großen Lyrikern, die sich verhältnismäßig wenig zu ihrer L. theoretisch geäußert haben, gehören auch Annette v. Droste-Hülshoff, Eduard Mörike und in gewissem Grade auch H. Heine. § 6. Dagegen hat sich der Dramatiker Friedr. H e b b e l eingehender mit dem Wesen der L. befaßt. So wehrt er ζ. B. das Zeitgedicht, dessen Einschätzung bei Heine Schwankungen unterworfen war, als im Kern unlyrisch ab. Während bei Heine ein leises Bedauern nachschwingt, wenn er gelegentlich der 3. Aufl. des Buches der Lieder (1839) zugestehen muß, daß jetzt eine „weit ernstere" Aufgabe der L. zufalle und man ihn schwerlich auf die private Äußerung von der Poesie als einer „nur schönen Nebensache" festlegen sollte, so stößt der Dithmarsche Hebbel reichlich robust gegen das Zeitgedicht vor: „Lilienduft ist kein Schießpulver", das zarte lyr. Gebilde dürfe durch die Tendenz nicht wie „ein Klavier mit der

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Axt" zerstört werden. Ähnlich urteilen, wenngleich gedämpfter, die Münchener. Ihr Vorbild aber, Platen, will, wie schon kurz angedeutet, Hebbel auch nicht gefallen („Götze" der Versanbeter) ebensowenig wie die „Rückertsche Lehrdichterei". An Heines L. vermißt er zunächst die Konstanz und Konsistenz der einheitlichen Stimmungslage, da man jederzeit auf den „Fackelbrand des Witzes" gefaßt sein müsse. Er unterschätzt andererseits Heines Sinn für Formpflege und dessen feinstufiges Hinhorchen auf rhythmische Werte wie etwa Heines schöne Umschreibung der Cäsur im Vers als das „geheime Atemholen der Muse". Heine verstand schon etwas von L., wenn er auch nicht allzuviel darüber gesagt hat. Platens „Pathos für den Formalismus" jedenfalls erscheint Hebbel undiskutabel. Doch ist seine Einstellung zur Formfrage Wandlungen (Italienreise, Schönheitskult) ausgesetzt. Als Beiträge seien erwähnt Moderne Lyrik (1853), Lyrische Poesie (1858), Sdiöne Verse (1859). Hebbel, selber stark meditativ und reflektiv, beschäftigt vor allem das rechte Wert- und Wirkungsverhältnis von GefühlsL. und Ideen-L. Gestützt auf Schillers Typenbildung (naiv-sentimentalisdi) versucht er, theoret. beiden Richtungen gerecht zu werden und sie zu verschmelzen. Er ist sich klar darüber, daß die Lyrik jene Gattung ist, „worin das Herz seine Schätze niederlegt", möchte aber neben der „süßesten Unmittelbarkeit" Goethes nicht den Ideenschwung Schillers vermissen und sucht nun vermittelnde Lösungen. Zugleich ist er sich klar darüber, daß es besonders schwierig ist, über L. zu theoretisieren: „Der Grund ist einfach: man hat in der Lyrik das reine Element vor sich, »im das alle (Gattungs-)Formen sich streiten." Die L. gilt also als Urelement des Poetischen. § 7. Etwa gleichzeitig berücksichtigt Moriz C a r r ί έ r e Das Wesen und die Formen der Poesie (1854) neben dem Typus der Gefühlslyrik, die „uns die Tiefe des Gemüts" enthüllt und als „Selbstgenuß" auch eine Selbstbefreiung und Selbstdarstellung mit sich bringt in „individueller Unmittelbarkeit", durchaus die mehr schildernde als „objektive L. der Anschauung" und — was auf Hebbel hinüberblicken läßt —die Ideenlyrik, die aber von Stimmung durchsättigt

bleiben muß (meditativer Typus). M. Carriere wirkte auf den Münchener Dichterkreis ebenso wie Fr. Th. Vischers Ästhetik. Fr. Th. Vi s c h e r , dessen Ästhetik (1857 f.) sich zwischen Nachklassik und poetischem Realismus (mit Bevorzugung der Klassik) bewegt und eingehend die Dichtungs-Gattungen behandelt, sieht in der „dichtend-empfindenden Phantasie" die schöpferische Grundkraft der L. Aus ihr entwickeln sich unter Ausbildung der Hauptmerkmale: Gegenwärtigkeit, Vereinzelung, Andeutung statt Ausmalung und Ausprägimg des Rhythmischen die folgenden Haupttypen und Verbesonderungen: Aufschwung zum Gegenstande (Hymne, Dithyrambe, Ode), Aufgehen des Gegenstandes in dem Subjekt (liedartige L.), Ablösung vom Gegenstand, Betrachtung (resümierende, reflektierende, meditierende L.) bis hin zur Grenze der Prosa (Epigramm). Bei alledem behält die liedartige L. die grundlegende Bedeutung: „Alle Grundzüge des Lyrischen gelten vorzüglich von dieser Form." Die Typenbüdung, obwohl stark an den Gehalt gebunden (Gehaltsästhetik), verdient noch heute Beachtung und ist fruchtbarer als manche modernen Konstruktionen und zersplitternden Klassifikationen allzu zahlreicher Unterarten und Sonderformen. Auch seine Prägung vom „punktuellen Zünden der Welt im lyrischen Subjekt", wenigstens von E. Staiger nicht übersehen, verdient Beachtimg. Dagegen dürfte Vischers Unterstufung nach Volkspoesie und Kunstpoesie als Ganzes und im Einzelnen überholt sein. Otto L u d w i g ist vorab auf Dramatik und Epik eingestellt, weiß also mit der L. nichts Rechtes anzufangen, besonders weil ihm in erster Linie die subjektive Stimmungslyrik vorschwebt und das „Sentimentale" sowie der „individualistische Idealismus" in der L. den von ihm angestrebten „poetischen Realismus" eher zu stören als zu fördern scheinen. Immerhin ist die Unterscheidung bemerkenswert: „Der Lyriker schaut Zustände, der Epiker Gestalten, der Dramatiker die Zustände von Gestalten" (Vorahnung des naturalist. Zustandsdramas). Der Begriff „Zustände" tendiert bei der L. natürlich zur Gegenwärtigkeit und zur Konstanz der Stimmungslage (Gefühlszustände, Stimmungsbestände).

Lyrik § 8. Es ist in diesem Raum und Rahmen nicht gut möglich, Zug um Zug den Wandlungen der lyr. Theorie zu folgen. Einige Hinweise auf die spätere Entwicklung müssen genügen, wobei das Augenmerk bewußt auf die Aussagen bedeutender Lyriker gerichtet wird. Denn wollte man angesichts der aufkommenden und aufholenden Lit.Wissenschaft die Aussagen lit.-wiss. Art einbeziehen, so käme ein Bericht über die Sekundärlit. heraus. Im allgemeinen ist man angesichts der Lyrik (vgl. die Begründung Hebbels) zudem recht hilflos. Entweder vermischt man L. mit dem „Lyrischen", oder man zerkleinert sie auf dem Hackbrett der Klassifikation, um nur die Extreme anzudeuten. Unter den großen Lyrikern bringt am ehesten Th. S t o r m einen merklichen Fortschritt. Und manches in seinen theoret. Aussagen mutet schon recht modern an, und zwar nicht zuletzt in der Terminologie, die keineswegs gleichgültig oder gar minderwertig ist. Dabei wird nicht nur gedacht an das Vorwort zum Hausbuch aus dt. Dichtern seit Claudius (1870). Storm versucht, Schöpfungspoetik mit Wirkungspoetik fruchtbar zu verbinden, indem das, was aus Gemüt und Phantasie aufsteigt, vor allem auch Gemüt und Phantasie anspricht. Denn die L. erhebt sich aus dem Gemüt, um wiederum das Gemüt zu erheben. Der Schaffende erfüllt in ihr und durch sie, was der Aufnehmende nur ersehnt und erahnt. Denn das, „was halb bewußt in Duft und Dämmer in uns lag", läßt der Lyriker „in überraschender Klarheit erscheinen". Er erweitert und vertieft so wesentlich und wesenhaft unsere Erlebnisfähigkeit und überprüft unsere Erlebnisechtheit. Eben deshalb ist die L. außerordentlich sensibel und subtil, so daß ein einziger „falscher oder pulsloser Ausdruck die Wirkung des Ganzen zerstören kann". Diese letzte Warnimg haben viele Lyriker nach Storm allzu selbstsicher und selbstbewußt nicht ohne Schaden überhört. Für Storm ist kennzeichnend, inwieweit er „politische Lyrik" gelten läßt. Wo sie nur eine versiflzierte „poetisch gefärbte Kammerrede", also eine polit. Demonstration rettungslos rhetorischer Art vertritt, verwirft er sie; nur wo sie aus dem Gemüt entspringt (Heimatliebe, Vaterlandsliebe), vermag sie

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wieder das Gemüt anzusprechen. Heines Leitsatz: „Ein Lied ist das Kriterium der Ursprünglichkeit" als eine Leitthese des größten Lyrikers vor Storm steht auch über dem lyr. Kunstwollen und Kunstschaffen Storms. Das Echte stand für ihn noch höher im Rang als das „Aparte". Die Angst vor dem kunstreich Formulierten war negativ bestimmender als die neuerdings wieder aufgekommene Sorge vor dem „Klischee" des „Kitsches" (G. Benn, W. Lehmann, Karlheinz Deschner u. a.). DochR. Dehmel suchte das Hingewühlte zu retten und zu rechtfertigen vor dem „Hingelegten" eines wohlgewobenen Kunstteppichs (St. George, ζ. T. auch Rilke). Es fragt sich nur, ob von C. F. M e y e r und dessen Gewebe-Technik nicht ebenso eine lyr. fruchtbare Tradition ausgehen konnte wie von Ed. Mörike, H. Heine oder Theodor Storm. Die Flucht vor der Einfalt suchte Zuflucht in der Vielfalt der Gewebefäden. Aber man fing sich zuletzt im eigenen Gespinst. Indem man das Sinnende zu versinnbildlichen suchte, verlor man die Fühlung mit dem expressiven Typus, um die Fühlung mit dem meditativen (oft sogar reflexiven) Typus zu „gewinnen". Derldeenund Gedanken-L. steht Storm skeptisch gegenüber. Die gedankliche Betrachtung muß stimmungsgesättigt und gefühlsbezogen bleiben und Gegenständlichkeit gewinnen. Denn auch der „bedeutendste Gedankengehalt... in den wohlgebautesten Versen" verbürgt keine L., „wenn er nicht zuvor durch das Gemüt und die Phantasie des Dichters seinen Weg genommen und dort Wärme und Farbe und womöglich körperliche Gestalt gewonnen hat" Storm transponiert also die IdeenL. in den Typus erlebter Meditation, stimmungsgesättigter Betrachtung unter Ausscheidung und Vermeidung des reflektierenden Typus, und zwar auch in der Theorie. Form ist kein goldenes „Gefäß", in das der Lyriker einen ebenfalls „goldenen Inhalt gießt", sondern der „Kontur", der einen lebendigen Leib umschließt (vgl. schon ähnlich den jungen Herder über das GestaltGehalt-Verhältnis). An Herder erinnert auch die Betonung der „rhythmischen Bewegung" und der „Klangfarbe" sowie der Bezug auf die Musik („gleichsam in Musik gesetzt und solcherweise wieder in die Empfindung aufgelöst"). Doch warnt Storm vor der blo-

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ßen „anmutigen Gewohnheit musikalischer Rhythmenbildung" (Abwehr Geibels), wobei zudem der „rhythmische Tonfall" allzu leicht der Nachahmung ausgesetzt zu sein pflegt. Nun wird verständlich, warum Storm den Terminus „Naturlaut" als Wert- und Kennwort bevorzugt und häufig anwendet. Ablenkende Vergleichsbilder im lyr. Gedicht werden abgewehrt und abgewertet, ebenso Gedicht-Produktion um eines lockenden Refrains willen. Diese letzte Warnung erfolgt in der noch zu wenig beachteten frühen Niendorf-Rezension (1854), die auch für die Frage der Einlagerung von Gedichten in Novellen usw. aufschlußreich ist. Ein laufendes Gefecht führt Storm gegen die fertige Formel, „konventionellen poetischen Apparat" und vor allem gegen die Phrase. Er nimmt also jenen Kampfgang vorweg, den weit später Wilh. Lehmann, G. Benn u. a. so eifrig durchgefochten haben. § 9. Im Frühnaturalismus um die Mitte der 80er Jahre vertrat Karl B l e i b t r e u in Die Revolution der Literatur (1886) in Wirklichkeit zwar einen „dichterischen Realismus" mit romantischen Einschlägen, stand aber schon auf dem Boden erhöhter Inhaltsbewertung und daher der L. recht kritisch gegenüber, die ihm als schöne Formkunst galt. Die Polemik gegen die Plateniden (bes. Geibel), die Butzenscheibenpoesie und „Bonbonpoesie" verstärkte dieses Vorurteil, das überall nur ein „aufs Moderne gepfropftes Minnesängertum" entdeckte. Zugleich mißtraut er nicht zuletzt deshalb den „sogenannten Naturalisten", weil sie vorerst besonders die L. pflegten und fortfuhren, „auf der einen Saite herumzuharfen", statt die echte Lebensvielfalt zu erfassen. Karl Henciells aktivistischer Einschlag scheint ihm entgangen zu sein, und der frühe Arno Holz war in der Tat noch sehr zu Kompromissen geneigt. Jedes l'art pour l'art sei schon deshalb unsinnig, „weil es die Form über den Inhalt stellt". Die soziale Frage vor allem ist nicht mit der und in der L. zu lösen, weil „schon die Enge der lyr. Form sie untauglich macht, den ungeheuren Zeitfragen zu dienen" und weil sich manche durch die L. „ins Kleine verlocken lassen" (Flucht in die Idylle usw.). Auch das Buch der Zeit von Arno Holz findet trotz des äußeren sozialen Anstrichs keine Gnade.

K. Bleibtreu, der J. H. Mackays Ubergehen von der Lyrik zur Epik begrüßt, geht so weit, daß er selbst einer „schlechten Novelle" noch mehr „Schöpferkraft" zuspricht als dem „formvollendetsten Stimmungslied". Wer wirklich etwas zu sagen hat, schreibt Prosa. Das erinnert an das Junge Deutschland und daran, daß sich die Frühnaturalisten die „Jüngstdeutschen" nannten. Konstruktive Vorschläge, wie die L. zu aktivieren sei — Ansätze dafür lagen immerhin bei Karl Henckell Die neue Lyrik vor —, macht Bleibtreu kaum. Arno H o l z bekannte etwa ein Jahrzehnt, nachdem er (1891) das bekannte Grundgesetz naturalist. Kunst aufgestellt hatte, selber im Zurückblicken auf seine lyr. Anfänge, daß er damals immer und überall „nur Verse" gesehen und geliebt habe. Nun sucht er auch neben und nach dem allgemeinen Kunstgesetz das Gattungsgesetz der L. im Rahmen seiner Revolution der Lyrik (1899) aufzufinden. Was er entdeckt, das hatte ihm eigentlich schon beim Aufspüren des allgemeinen Kunstgesetzes den bekannten Satz von den Johannisbrotbäumen und den Paradiesvögeln so lieb gemacht: es war der Prosarhythmus, der nun zum Phantasus-Rhythmus aufgehöht wurde. Gerade wenn man von Bleibtreu kommt, erkennt man, wie zeitgemäß dieses „Gesetz" war, das keineswegs nur eine metrische Reform anstrebte oder gar eine persönliche Liebhaberei darstellte, sondern die verachtete L. an den Vorzügen der geachteten Prosa teilhaben lassen möchte, ohne ihr völlig ihr Eigengepräge zu nehmen. Insofern war Holz berechtigt, nicht nur im engeren Sinne des rhythmischen Zwangs von einem „notwendigen Rhythmus" zu sprechen. Das experimentelle Registrieren des rhythmischen Reagierens entsprach überdies dem naturwissenschaftlichen Verfahren. Im Gesamt liegt eine Verfeinerung des Naturalismus zum Impressionismus vor. Zugleich wurde der Inhaltsbewertung insoweit nachgegeben, als die „Notwendigkeit" letztlich im Ding-Bezug bestand, der Rhythmus also nicht einfach „freier", sondern sachlichdinglich und gegenstandsmäßig „notwendiger Rhythmus" war. Während Holz von einer „komplizierten Notwendigkeit" sprach, suchte Otto z u r L i n d e mit dem CharonKreis zu einer simplifizierten Echtheit zu

Lyrik gelangen. Während Holz noch stark an das Zeilenbild und dessen Aufgliederung bzw. Auflockerung gebunden blieb, versteifte sich O. zur Linde ganz auf den „phonetischen Rhythmus", der von seinem Anhänger Rudolf Paulsen sogar zu einem „physiologischen Rhythmus" umgedeutet wurde. Ein bloßes Epigonentum suchte O. zur Linde abzuwehren in der Streitschrift Arno Holz u. d. Charon (1910/1911). § 10. Die L. des C h a r o n k r e i s e s , die man als Vorform des Expressionismus gedeutet hat, greift etwa mit Rudolf Paulsen und besonders Rudolf Pannwitz schon auf den Neusymbolismus hinüber, wobei das religiöse Element stark mitwirkt. Ursprünglich hatte Otto zur Linde und sein Kreis trotz eifrigen Ableugnens unverkennbar von Arno Holz einerseits und Stefan George andererseits manche theoretische These übernommen und nur nach dem Prinzip der Einfachheit, Echtheit und Einmaligkeit entsprechend modifiziert. Der Charonkreis steht an einer bedeutsamen Grenzscheide (Naturalismus—Expressionismus u. Neusymbolismus), ohne sich indessen klar zu entscheiden. Er teilt mit dem Kreis um Stefan George den Willen zur Kunstbewahrung und Kunsterziehimg. Die L. wurde gleichsam zur rettenden Insel im mächtigen Strom des Realismus. Die Abschirmung gegen die Interessen des Tages war im G e o r g e K r e i s bis zur Absperrung versteift worden. Nicht ohne Eigensinn und Eigendünkel verteidigte man das Eigenrecht und die Eigenwelt der Kunst um der Kunst willen (Γ art pour Γ art). Auch der Titel der Programmschrift Blätter für die Kunst nahm — was oft übersehen wird — den Anteil l'art pour l'art bereits in sich auf. Bedrängt vom konsequenten Realismus, übertrieb man veräußerlichend-dekorativ den Autonomiegedanken der Klassik. Auch der Primat der Form, der Maßhaltung, der Ausgeglichenheit, der Weihe und Würde, der schönen Gegenständlichkeit usw. nahm klassische Prinzipien unverkennbar wieder auf. Dazu gehört nicht zuletzt die Prävalenz des Geschmacks. Demgemäß ist der George-Kreis gerade seiner Theorie nach weit mehr auf eine Neuklassik als auf eine Neuromantik, der man ihn gewohnheitsmäßig zuordnet, eingestellt. Wenn auch neuromantische Leit-

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sätze in den Einleitungen und Merksprüchen durchaus vertreten sind, wie etwa die Betonung der „Stimmung", so weist doch die Abwehr des Volkstümlichen, des histor. Verstehens, des vertieft Religiösen eher von der Romantik fort als zu ihr hin. Höchstens kann von einem Wegsuchen zwischen Neuldassik und Neuromantik die Rede sein, wenn man alle Gewichte der Forderungen und Wertungen behutsam abwägt, nicht aber von einer „Zugehörigkeit" zur Neuromantik. Nur „menschen von Geschmack" will Stefan George in seinem Kreise dulden. Audi die Nationalerziehung („gerade bei uns") ist auf den Geschmack ausgerichtet. Eigenartig genug begegnen sich George und Geliert, indem für beide der Geschmack als die Tugend auf ästhet. Gebiet gilt. Indem man die L. dem Primat des Geschmacks unterwarf, wurde ihr spontaner Gefühlsausdruck gewaltsam niedergehalten, um die „zügellosigkeit" zu verhindern und die „stilverquickung" zu vermeiden. Das Platonische endete leicht beim Platenschen. Die „Plateniden" lebten neu auf, und sie traten mit großen Ansprüchen auf als Tempelhüter des Schönen schlechthin, ermutigt zudem von der einseitigen Vorrangstellung, die George unter den Dichtungsgattungen der L. eingeräumt hatte (Selbstrechtfertigungspoetik). § 11. Hugo v. H o f m a n n s t h a l konnte auf die Dauer kein rechtes Genüge an derartigen Zielen finden. George bot ihm keine gemäße Vorbild-Poetik. Das nur „Bildende" befriedigte seinen musikalischen Sinn nicht. Auch sein religiöses Lebensgefühl blieb von diesen Lehren unerfüllt. Er konnte dem Tagesgeschehen nicht so gleichgültig gegenüberstehen, wie George es verlangte. Das „Traumhafte" der Romantik bot ihm hinreichendes Gegengewicht und schien ihm gerade für die L. unentbehrlich zu sein. Die an sich und in ihm vorhandene Gefahr der Uberfülle und Überfeinerung suchte er zu umgehen, indem er aus der Not eine Tugend machte und Gedichte als „seismographische Gebilde" erklärte, die jede Schwingung subtil nachzeichnen müßten, wenn sie wertvoll sein wollen. Er vergleicht in diesem Sinne die Lyriker mit jenen Irrlichtern in Goethes vieldeutigem Märchen, die „überall das Gold herauslecken" (Das Gespräch über Gedidite, 1903, in: Prosa. Bd. 2, 1951).

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Zugleich wird das Genießerische der Dekadenz spürbar, wenn dabei von der „durstigen Gier" gesprochen wird, mit der der Iyr. Dichter „aus jedem Gebilde der Welt und des Traumes" gleichsam „sein Eigenstes, sein Wesenhaftestes herausschlürft". Das ist eben doch anders gemeint, als wenn der poet. Realist G. Keller seinen Augen zurief: „Trinkt, ο Augen, was die Wimper hält / Von dem goldnen Überfluß der Welt!" Hofmannsthals frühe Prägung aus dem Prolog zu A. Schnitzlers Anatol durchwaltet mit den Worten „zart und traurig" zugleich manche seiner durchweg schwärmerischen Bekundungen zum Wesen und Wirken der L. Zu den „Halbgefühlen", die er dem Lyriker als feinere Stufungswerte empfiehlt, gehört auch das Gefühl, ständig zwischen Leben und Tod in einem (echt romantischen) Schwebezustand sich zu befinden. Denn zum Enthüllen der „geheimsten und tiefsten Zustände unseres Innern" gehören nicht zuletzt die religiösen Ahnungen und Gefühlsschwingungen, dergestalt daß aus dem lyr. Gedicht „zugleich ein Hauch von Tod und Leben zu uns herschwebt, eine Ahnung des Blühens, ein Schauder des Verwesens [Annäherung an die Dekadenz], ein Jetzt, ein Hier und zugleich ein Jenseits" [religiöser Auftrieb der Neuromantik]. Und so kann Hofmannsthal zusammenfassen: „Jedes vollkommene Gedicht ist Ahnung und Gegenwart, Sehnsucht und Erfüllung zugleich". Von hier aus wird der religiöse Tenor unüberhörbar, der dort auch mitsdiwingt, wo Hofmannsthal nicht speziell von den Lyrikern, sondern den Dichtern im allgemeinen aussagt: „So glauben die Dichter das, was sie gestalten, und gestalten das, was sie glauben." § 12. Weit williger folgte, obgleich nicht mit dem geweihten Kreis in Fühlung stehend wie Hofmannsthal, R. M. R i 1 k e den Lehren Stefan Georges, wie ζ. B. sein Florenzer Tagebuch (1898; gedr. in: Tagebücher aus d. Frühzeit, 1942) eindeutig ausweist, in dem die bildende Kunst eigentlich stärker die Vorrangstellung behauptet als im Worpsweder Tagebuch, 1898 (und im Sdimargendorfer Tagebuch, 1900, beide gedr. ebd.). Ebenso deuten das Rodin- und CezanneErlebnis in dieselbe Richtung arbeitsamer Erringung des kunsttechnisch „bildenden" Handwerkszeuges. „Wo ist das Handwerk

meiner Kunst?" fragt Rilke gewissenhaft. Und noch der späte Rilke möchte aus Distanz bilden wie der „Steinmetz" in „des Steines Gleichmut" Berücksichtigt man den Primat der bildenden Kunst, die Betonung der gediegenen Form, die Forderung des Erlebnisabstandes, die Herausstellung der Autonomie usw., so deuten alle diese Thesen wieder mehr auf eine Neuklassik als auf die Neuromantik, der jedoch Rilke durchweg zugeordnet wird. Mit diesem Bildenden verbindet sich zugleich das Bedeutende, indem das Bild sogleich ins Sinnbild umzusetzen ist. Früh quält ihn der Zwang zu Vergleichsbild-Assoziationen angesichts von Wirklichkeitseindrücken. Und noch 1920 gesteht er seinem Verleger: „Wie sehn ich mich in die Welt hinaus, unter die Gleichnisse, die ich von ihr zu empfangen gewohnt war." Diese Gabe erscheint ihm nun allzuleicht auch als die Aufgabe. Und obwohl ihm als Ziel eine Synthese von Bildwert und Klangwert vorschwebt, scheint doch der Bildwert und vor allem die Sinnbildwirkung das Ubergewicht zu behalten. Er umwirbt die klassische Dinghaftigkeit und Gegenständlichkeit, er erwirbt nur die Dämpfung des Abstrakten zum klassischen Symbolbegriff. Selbst die Dinggedichte vertreten nur selten reine Gegenständlichkeit. R. ringt um das Rhythmisch-Klangliche als Gegengewicht und Aussageverfahren, „in dem ich mich rhythmisch ereigne". In den Sonetten an Orpheus aber steht neben der Erkenntnis, daß das lyrische Sagen zugleich und vorzüglich ein „Singen" sei, die Einsicht, daß menschlichem Vermögen auch gesteigerter Art und hoher Kunst die Erfüllung versagt bleibt. Denn nur „ein Gott vermags." Das Dasein ist nun nicht mehr vor allem ein Gleichnis: „Gesang ist Dasein. Für den Gott ein Leichtes. / Wann aber s i n d wir?" Die im Stunden-Buch scheinbar schon gefundene Lösung, daß ein echter Dichter der sei, „wer seines Lebens viele Widersinne / versöhnt und dankbar in ein Sinnbild faßt", wird einer neuen Prüfung unterworfen und befriedigt nicht mehr. Audi das Lied der Bildsäule hatte sdion angedeutet (wieder durch ein Sinnbild), daß ihm das Bildkünstlerische, auch übertragen auf die Wortkunst, keine gültige und vollends keine endgültige künstlerische Genugtuung zu bieten ver-

Lyrik mochte. Dieses unrastvolle Schwanken im schöpferischen Vollziehen entspricht letzten Endes nur dem unentschiedenen Wegsuchen zwischen Neuklassik und Neuromantik. Auch lockte die in der modernen L. zunehmende Anziehungskraft des Auserlesenen, Aparten immer wieder fort vom theoretisch geforderten Einfachen und Klaren. § 13. Die lyr. Theorie des Expressionismus sei zunächst ausgeklammert, weil Josef W e i n h e b e r als weiterhin zu nennender bedeutender Lyriker unmittelbar an Rilke anknüpft. So eng, daß er es für erforderlich hielt, in einem Essay Über mein Verhältnis zu Rilke (1939) darüber Rechenschaft zu geben, was nicht hinderte, daß Helmut Wocke in einem Aufsatz J. Weinheber (GRM. 28, 1940, S. 211-219) den Einzelnachweis von Abhängigkeiten anzutreten versuchte, übrigens kaum das Wesentliche des lyr. Werts treffend. Wichtiger für die Kunsttheorie und Weinhebers eigene Ansichten über die lyr. Wesens- und Wirkungsform ist sein früher liegender Essay Gedanken zu meiner Disziplin (1936). Vor allem die Odensammlung Zwischen Göttern und Dämonen (vgl. Aufsatz von Herrn. Pongs, DuV. 40, 1939, S. 77-84) stellt unverkennbare Bezüge her zu den Duineser Elegien und den Sonetten an Orpheus. Weltanschaulich ist Weinheber stark zeitgebunden, so etwa auch in der Weimarer Rede Die dt. Dichtung und die Wirklichkeit des Volkes, die aber zugleich das Traumhafte betont und das Mittlersein eines Metaphysischen: „So sind wir wohl das Sprachrohr unsres Volks, aber durch unsem Mund hindurch reden die Götter." Weinheber gehört zu den theoretischen Hütern der Sprachreinheit, so im Hymnus auf die deutsche Sprache, so mit dem Satz: „Ein Volk verliert seine Würde nicht durch verlorene Kriege, sondern durch den Verfall seiner Sprache; und der eigentliche Hochverräter ist der Sprachverderber" (aus: Gedanken aus meiner Disziplin). Allerdings beansprucht Weinheber für sich selber eine herrische Sprachwillkür, teilweise unter Nachwirkung des Expressionismus. Auf der anderen Seite geht er in der Formpflege bis zum rein Kunsttechnischen, ζ. B. in der Zyklenbildung und deren sprachlicher Verklammerung. Hymne, Ode, Sonett, Terzine, Ottaverime werden gemeistert, doch auch

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liedhafte L. begegnet. Gegenüber George und Rilke verfügt Weinheber über eine eruptive Leidenschaftlichkeit, die als hohe Spannung auch in den strengsten Formkonturen spürbar bleibt. Gemeinsam mit ihnen hat er die Auffassung der L. vorab als Wortkunst, die hohe Bewertimg des Kunsthandwerklichen, den Hang zur Vergeistigung; er bleibt aber kraftvoller. Das Kunsthandwerkliche wird in entsprechendem Motivrahmen (O Mensch gib acht. Erbauliches Kalenderbuch) ins rein Handwerkliche hinübergespielt: „Die Kunst mueß durch das Handwerk gehnl / Dem Geist, er sei so kühn wie zier, / gestrenger Griff die Zügel führ, / auf daß der Stein, sonst nit gewillt, / sich füg in ein erleucht Gebild" (Sämtl. Werke, Bd. 2, 264 f.). § 14. Die Programmatik des E x p r e s s i o n i s m u s war geeignet, die L. auf die höchste Rangstufe zu stellen als (neben der Musik) reinste der Ausdruckskünste. In der Tat ist die gesamte Stoßrichtung express. Theorie an der L. orientiert. Und insofern entsprach die Kunstleistung, die in der L. am stärksten war, den propagierten Thesen der Theorie, während ζ. B. im Naturalismus die Theorie auf Epik hinsteuerte, die Praxis aber im Drama kulminierte. Vision, Ekstase, Ruf und Rausch waren am ehesten in den Kurzformen der Lyrik durchzuhalten. Die knappste Fassung war der „Schrei" als letzter Extrakt der Gefühlsballung und Entladung. In der Sturm-Lehre, vertreten durch H. Waiden, L. Schreyer, R. Blümner u. a., reduzierte man daher die Sprache, indem man die Weglassung von Konjunktionen, Artikeln, Präpositionen, überhaupt der Kopula forderte. Trotzdem sprach man im Weiterverfolgen der Rhythmus-Diskussion nach dem „notwendigen Rhythmus" (A. Holz) und dem „phonetischen Rhythmus" (O. zur Linde) nun von einem logischen Rhythmus, einer „Logik des Rhythmus" (Lothar Schreyer, abstrakte Richtung). Herwarth Waiden kritisiert Goethes Gedichte, die angeblich immer „über" Gefühle sprachen, nicht aber unmittelbarer Gefühlsausdrudc der Enthemmung, Entformung, Entgrenzung waren. Er versucht das allen Ernstes nachzuweisen. Schon R. Pannwitz hatte im Charon-Kreis Goethes L. „umgedichtet". Das Umschlagen der Extreme wird deutlich, wenn die dynamisch-eruptive Richtung dagegen das Ab-

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strakte verwirft und den „Aufschrei donnernden Gefühls" (Paul Kornfeld) fordert oder das ruckhafte Erreichen und Erzwingen der „Spitze des Gefühls" (K. Edschmid), und zwar „intuitiv", nicht „reflektierend" Von den Neopathetikern erklärt Edschmid: ..Ihnen entfaltete das Gefühl sich maßlos . . . Sie reflektieren nicht sie erleben direkt." Immer wiederkehrende Suggestivwörter in Kasimir Edschmids Programm-Manifesten Über den dichterischen Expressionismus (1917) und Über die dichterische deutsche Jugend (1918), jetzt in: Frühe Manifeste (1957; die mainzer reihe 9), sind das „Eigentliche" (auch als Attribut und adverbial), das „Direkte", das „Wesen", wobei die Frage auftaucht, ob schon Ed. Husserls Wesensschau mittelbar eingewirkt haben kann, wie andererseits der elan vital Henri Bergsons auch sonst jenseits dieser Manifeste spürbar wird, nicht zuletzt in der Theorie d. L. Ein weiteres Leit- und Lieblingswort wie „Intensität" deutet auf den kontraktiv-suggestiven Typus der L., der neben dem visionärintuitiven Typus besonders ausgeprägt ist. Die Form wird als Zwang empfunden, der das Dynamisch-Eruptive einengt: „Form will mich verschnüren und verengen Form ist klare Härte ohn' Erbarmen" (Ernst Stadler). Kurt Pin thus arbeitet in der Einleitung („Zuvor") zur Anthologie Menschheitsdämmerung (1920) ebenfalls gern mit dem pathetischen „donnern", betont das „Chaotische" als berechtigten Zeitausdruck und behilft sich im übrigen mit „Menschheits"-Utopien. Über L. wird dort wenig Prinzipielles gesagt. Das gilt audi von der frühen Schrift H. Bahrs über Expressionismus (1916; 25. Tsd. 1922), die überwiegend auf bildende Kunst eingestellt ist. § 15. 1942 schreibt Gottfried B e n n einen Essay Provoziertes Leben (zuerst in Ausdruckswelt, 1949), ein Titel, der recht gut die Gefahrenzone des Expressionismus treffenkönnte, aber etwas anderes meint (künstlerischen Rausch und künstlichen Rausch). Benn versucht nun die Ausdruckskunst umzubilden zur „Ausdruckswelt" Wertvoll ist seine Rede Probleme der L. (1951), die zur Anerkennung des Formgesetzes zurückkehrt (gestützt auf E. Staiger), für das „lyrische Ich" eine isolierte monologische Haltung ohne Hinblick auf die Gemeinschaft, jeden-

falls auf den Kunstwertaufnehmenden, beansprucht und als allein tragbar und zuträglich erklärt: „Wir stehen außerhalb des Kultus der Erde und außerhalb des Kultus der Taten." Das Geistige und Abstrakte wird einseitig bewertet unter merklicher Nachwirkung der abstrakten express. Richtimg, wenngleich etwas modifiziert. Der Unterscheidungsversuch von Dichter und Denker geht nicht sehr tief und unterschätzt den konstruktiven Denker. Vom Sprechen lyr. Gedichte hält Benn nichts, da Umfang und Gliederung leicht dabei verlorengehen, die das Verstehen erleichtem. Im Doppelleben (1950) bekennt er seine Unwilligkeit und Unfähigkeit, das „Gemüt" produktiv zu machen. Im öffentlichen Briefwechsel mit A. Lernet-Holenia unter dem Titel Monologische Kunst? (1952/53) bejaht er erneut diese Frage. Merklich bleibt der Nietzsche-Einfluß bestehen. Weltanschauliche Tendenzen in der L. werden abgelehnt. Mehr vom Impressionismus her kommt Wilh. L e h m a n n , der in der Essaysammlung Dichtung als Dasein (19^6) die Produktivität des Stimmungs-Eindrucks betont, der für Benn nicht ausreicht. W. Lehmann, der laufend gegen das Formelwesen abgebrauchter „Klischees" polemisiert, fordert saubere kunsttedinische Arbeit: „Die Mühe, die man einem alten Gedicht widmet, kommt einem neuen zugute." Neben dem tagdienenden Traktat will er das reine lyr. Gedicht erhalten wissen, „das nichts als Gedicht ist". Präzision und „Genauigkeit im Poetischen" sind unerläßliche Voraussetzungen. Lehmanns Essay-Sammlung ist sehr reich an Zitaten zur Theorie der L. von dritter Seite, auch vom Ausland. Offenbar liegt eine glückliche Personalunion von Dichter und Kritiker vor. Gesdiichtl. Uberblicke: Ridi. F i n d e i s , Gesch. d. dt. L. 2 Bde (1914; SammlGösdi. 737/38). Philipp W i t k o p , Die dt. Lyriker von Luther bis Nietzsche. Bd. 1 (3. Aufl. 1925), Bd. 2 (2. Aufl. 1921). Emil E r m a t i n g e r , Die dt. L. seit Herder, 3 Bde (2. Aufl. 1925). Aug. C 1 ο s s , The Genius of the German Lyric (London 1938). Ders., Die neuere dt. L. vom Barock bis z. Gegenw. StammlerAufr. Bd. 2 (2. Aufl. 1958) Sp. 133-348. Joh. K l e i n , Gesch. d. dt. L. von Luther bis z. Ausgang d. zweiten Weltkrieges (1957). — Gattungsgesdiidite: Wolfg. Κ a y s e r , Gesch. d. dt. Ballade (1936). Friedr. B e i ß n e r , Gesdi. d. dt. Elegie (1941; PGrundr. 14). Aug. C1 ο s s , Die freien Rhythmen in d. dt. Lyrik (Bern 1947). Günth. M ü l l e r , Gesch. d. dt. Liedes

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252

Lyrik — Lyrisches Drama

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Lyrisches Drama wickelt sich, aus der Oper (ital. dramma lirico = opera seria, franz. drame lyrique, theätre lyrique), in der die lyr. Verdichtung der Stimmungen und Affekte in den Arien geschieht, wobei seit Metastasio und Gluck der Dichtung eine entscheidende Rolle zufällt, aus dem S i n g s p i e l und den lyr. K a n t a t e n , auf die ebenfalls die Bezeichnung dramma lirico (oder dramma per musica, wie in Joh. Sebastian Bachs Der zufriedengestellte Aeolus) übertragen wird (vor allem durch Wieland) und aus dem O r a t o r i u m , das Schulz 1775 in Sulzers Theorie der schönen Künste ein „mit Musik aufgeführtes lyrisches und kurzes Drama" nennt, für das er folgende Begriffsbestimmung gibt: „Die Benennung des l y r i s c h e n D r a m a zeiget an, daß hier keine sich allmählig entwickelnde Handlung, mit Anschlägen, Intrigen und durch einanderlaufenden Unternehmungen statt habe, wie in dem für das Schauspiel verfertigten Drama. Das Oratorium nimmt verschiedene Personen an, die von einem erhabenen Gegenstand der Religion, dessen Feyer begangen wird, stark gerühret werden, und ihre Empfindungen darüber bald einzeln, bald vereiniget auf eine sehr nachdrückliche Weise äußern. Die Absicht dieses Dramas ist, die Herzen der Zuhörer mit ähnlichen Empfindungen zu durchdringen." (Bd. 2, S. 360.) Er forderte lyrische statt epischer Erzählung, Monologe statt Dialoge und Verschiedenheit der Charaktere, um gegensätzliche Affekte ausdrücken zu können. Die ersten lyr. Dr.en im 18. Jh. sind die empfindsamen religiösen Trauerspiele K l o p s t o c k s , vor allem Der Tod Adams (1757), die Darstellung einer rein innerseelischen Gefühlsentwicklung und -Steigerung angesichts der ersten Todeserfahrung, in der virtuoser Wechsel von Stimmungen und Seelenkonflikte an die Stelle äußerer dramat. Handlungen treten; ebenso auch Meta Klopstocks Der Tod Abels (1757) und Klopstocks Bibeldramen David und Salomo sowie die sentimentalen Bibeldramen von Α. H. Niemeyer und J. S. Patzke. L a v a t e r übersteigerte später in seinem Bibeldrama Abraham und Isaak (1776) das Lyrische durch Gefühlsausbrüche und Stimmungsgegensätze ins Ekstatische. Das Uberwiegen des Lyrischen über das Dramatische in seinen Her-

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manns-Dramen bezeichnete Klopstock durch den Begriff „Bardiet". J. J. R o u s s e a u s „scene lyrique" Pygmalion (1762), die durch ihre Trennung von Sprache und Musik großes Aufsehen erregte, leitete eine Hochblüte des lyr. Dr.s ein, die ihren Höhepunkt in den Melodramen (s. d.), Monodramen (s. d.) und Duodramen (s. d.) der Zeit zwischen 1775-1780 fand. 1771 verfaßte Siegfried von G o u e , Goethes Wetzlarer Freund, seine lyr. Duodramen Einsiedler und Dido, Johann Christian B r a n d e s arbeitete Gerstenbergs lyr. Kantate Ariadne auf Naxos (1765) zu einem lyr. Dr. für die Bühne um (1772), das Georg Benda komponierte, und H e r d e r schrieb 1772 sein lyr. Dr. Brutus (2. Fassg. 1774), dem er seine lyr. Dr.en Philoktet (1774), Aeon und Aeonis (allegorische Kantate, 1801) und Ariadne Libera (Melodrama, 1802) folgen ließ. W i e land nannte seine Kantate Die Wahl des Herkules (3. Sept. 1773) ausdrücklich „kleines lyr. Drama", ebenso das Singspiel, dessen Regeln er in seinem Versuch über das Deutsche Singspiel (1775) entwickelte; er forderte auch J a c o b i auf, in Anlehnung an Euripides und Metastasio „lyrische Dramata" zu schreiben. G o e t h e lernte 1772Rousseaus Pygmalion kennen, von dem bereits sein dramat. Entwurf Prometheus (1773) beeinflußt ist, noch stärker sein Monodrama Proserpina (1776 geschrieben, 1778 gedruckt), das Leo von Sedcendorff komponierte; er plante auch ein Monodrama Nero. In der Folge erschien eine Fülle von lyr. Monodramen, Duodramen und Melodramen im Gefolge des Gefühlskults des Sturmes und Dranges, so F. W. GottersMedea(Melodrama, 1775,komponiert von Georg Benda), A.G. M e i ß n e r s Sophonisbe (musikal. Drama, 1776, komponiert von Chr. G. Neefe), J. Fr. S c h i η k s Duodramen Ynkle und Yarik, Orpheus und Euridice, Werther und Lotte (1777), Maler M ü l l e r s Niobe (1778) und S c h i l l e r s Semele (lyr. Operette, 1782; seine Kantate Huldigung der Künste von 1804 bezeichnete er als „lyr. Spiel"). 1785 veröffentlidite G e r s t e n b e r g , dessen Ugolino (1768) bereits stark lyrisch-monologische Teile enthielt, sein „tragisches Melodrama" Minona oder die Angelsachsen (vertont von J. P. A. Schulz). Mozarts Musik zu dem Duodrama

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Lyrisches Drama

Semiramis von O. F. von G e m m i n g e n ist verloren. Zur theoret. Diskussion um die Gattungsunterschiede der Formen des lyr. Dr.s im 18. Jh.: J. Fr. S c h i n k , Über das musikal. Duodrama mit und ohne Gesang. Gothaisdier Theaterkalender 1778, S.60ff. Joh. Carl W e t z e l , Vorrede zu Ζelmor und Ermide (Duodrama), in: W e t z e l Lustspiele. Bd. 2 (Leipzig 1779). J. N. F o r k e l , Melodram. Musikalisch-kritische Bibliothek, Gotha 1779, III, S. 250ff. Carl Gottlob R ö s s i g , Versuche im musikal. Drama nebst einigen Anmerkungen über Geschichte und Regeln desselben (Lübeck 1779). Joh. Aug. E b e r h a r d , Über das Melodrama (Halle 1788). Chr. Fr. v. B l a n k e n b u r g ' s litterarische Zusätze zu Sulzer's 'Theorie der schönen Künste' (Bd. 1-3, Leipzig 1796-1798). J. G. E. Μ a a ß , Nachträge zu Sulzers 'Theorie der schönen Künste' (1794). H e r d e r , Vorrede zur 'Ariadne Libera' (1802) und 'Adrastea*, 4. Stüde (1802). Albert K ö s t e r , Das lyr. Dr. im 18. Jh. Preußjbb. 68 (1891) S. 188-201. Edgar I s t e l , Die Entstehung des Deutschen Melodramas (1906; aus: Die Musik 18). Joh. S c h m i d t , Studien zum Bibeldrama d. Empfindsamkeit. Diss. Breslau 1933. Adolf B e c k , Goethes 'Iphigenie' u. Maler Müllers 'Niobe'. DuV 40 (1939) S. 157-174.

§ 3. Nach dem Verfall der Melodramen, Mono- und Duodramen zu Beginn des 19. Jh.s, die vielfach parodiert wurden — so Herders Ariadne Libera durch Kotzebues Ariadne auf Naxos. Ein tragikomisches Triodrama (1803) — konnte sich in der d t . R o m a n t i k das lyr. Dr. nicht auf der alten Grundlage weiterentwickeln. Dagegen tragen fast alle Dramen der Romantiker von T i e c k s Genoveva (1799), B r e n t a n o s Singspiel Die lustigen Musikanten (1802) und seiner Komödie Ponce de Leon (1801), F o u q u e s frühen Schauspielen an über E i c h e n d o r f f s Freier (1833) bis hin zu Georg B ü c h n e r s Leonce und Lena (1835) Wesenszüge des lyr. Dr.s in der neuen Bedeutung von Traum, Ahnimg und Sehnsucht. Im allgemeinen herrscht jedoch die von Tieck begründete Mischung des Lyrischen und Epischen in den Buchdramen der Romantiker vor. Kleist umrahmte die dramat. Handlung seines Prinz von Homburg mit lyrisch-traumhaften Szenen und ließ den Prinzen „den Weg vom lyr. zum dramat. Sein" (E. Staiger) gehen. Noch stärker tritt das Lyrische in L e n a u s dramat. Dichtungen Faust (1836) und Don Juan (1843) hervor.

In der f r a n z . und e n g l . R o m a n t i k entwickelte sich dagegen das lyr. Dr. zu hoher Blüte und beeinflußte später auch Deutschland. In F r a n k r e i c h blieb auch in den ersten dreißig Jahren des 19. Jh.s das lyr. Dr. lebendig durch die Melodramen von Guilbert de Pixerecourt (Th0ätre choisi, 4 Bde, 1841-1843) und durch die aus dem 17. Jh. stammende Gattung des „Proverbe dramatique", die seit dem Ende des 18. Jh.s von Louis Carmontelle und zu Beginn des 19. Jh.s von Th. M. Leclerq (Proverbes Dramatiques 1823-1826, Nouveaux Proverbes Dramatiques 1830) weitergeführt wurde, auf Deutschland aber erst seit 1875 wirkte (Carmontelle und Th. Leclerq, Dramatische Sprichwörter, 2 Bde., 1875), vor allem auf Geibel (Echtes Gold wird klar im Feuer, ein Sprichwort, 1877) und Hofmannsthal. Von großer Bedeutung für die Entwicklung des lyr. Dr.s in Frankreich wurden Victor H u g o und Alfred de Μ u s s e t mit seinen kleinen, von Leclerq angeregten lyr. Dr.en (A quoi revent les jeunes filles 1831, On ne badine pas avec l'amour 1834 u. a., gesammelt als Comedies et Proverbes 1853). Sie regten Vaquerie, Theodor de Banville, Francois Coppee, Catulle Mendes, Jean Richepin, Edmond Rostand, Henri de Regnier u. a. zu ihren lyr. Dr.en an. In E n g l a n d entwickelten besonders Byr o n (Manfred, a dramatic poem 1817, Cain, a mystery 1821, Heaven and earth, a mystery 1824), P. B. S h e l l e y (Prometheus Unbound 1820, Hellas 1822) und Robert B r o w n i n g (Pippa passes 1841, Dramatic Lyrics 1842, Dramatic Romances and Lyrics 1845, Dramatic Idyls 1879-1880) das romantische lyr. Dr., das sogleich nach Deutschland herüberwirkte; so schrieb H e i n e unter dem Eindruck von Byrons lyr. Dr.en seine Tragödien Almansor (1820) und Ratcliff (1822), G r a b b e die Tragödie Don Juan und Faust (1829). J. E r n e s t - C h a r l e s , Le th0ätre des poetes, 1850-1910 (Paris 1910). — Paul F r i t s c h , L'influence du thiätre francais sur le thiitre allemand, de 1870 jusquaux approdies de 1900. These Paris 1912. Adelaide Hannah K i n g , The Influence of French Lit. on German Prose and the Drama between 1880 and 1890. (Masch.) Diss. London 1933. Eise Carel van B e l l e n , Les origines du πιέlodrame (Utrecht 1927; Proefschrift Amsterdam). Franz H e e l , Guilbert de Pixerecourt. Diss. Erlangen 1912. Willie G. Η a r t ο g , Guil-

Lyrisdies Drama

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bert de Pixerecourt, sa vie, son τηέΐοάτατηβ (Pa-den ich mit 15, 16 leidenschaftlich gelesen ris 1913). Alexander L a c e y , Pixiricourt and hatte." (An Walther Brecht.) Umbildungen the French Romantic drama (Toronto 1928). Leon L a f o s c a d e , Le theatre d'Alfred der mal. Totentanzform bzw. der barocken de Musset (Paris 1901). Philippe van T i e g - Form des Welttheater-Mysteriums sind Der h e m , Müsset (3. ed. Paris 1955; Connaissan- Tor und der Tod und Das Kleine Weltce des Lettres 17). Jean Ρ ο m m i e r, VariHis sur A. de Musset et son thi&tre (Paris 1947). theater. Den Einfluß der lyr. Dr.en Gabriele Zum engl. lyr. Dr.: Englische Literatur § 21. d ' A n n u n z i o s (Un sogno d'un mattino di Femer: Maurice Willson D i s h e r, Blood primavera 1888, Un sogno d'un tramonto and thunder; Mid-Victorian Melodrama and d'autunno 1889 u. a.) zeigt Die Frau im its origins (London 1949). Fenster; Hofmannsthal übersetzte den 4. § 4. Das lyr. Dr. der M o d e r n e entstand Akt von La Gioconda als lyr. Einakter La im Symbolismus vom Ende des 19. Jh.s aus Sirenetta (1899). Auch seine Umarbeitung dem Gegensatz zu den naturalist. Milieu- der Alkestis des Euripides (1893) wurde zum dramen im Rückgriff auf die lyr. Dr.en der lyr. Drama. Seine späteren lyr. Einakter dt., engl, und franz. Romantik. Den eigent- deuten auf seine Opernlibretti voraus, die lichen Höhepunkt des dt. lyr. Dr.s bilden die Hofmannsthal stets als selbständige lyr. kleinen Dramen von Hugo von H o f m a n n s - Dr.en auffaßte und als organische Fortsett h a l (Gestern 1891, Der Tod des Tizian zung seiner Jugenddramen ansah. 1892, Der Tor und der Tod 1893, Der weiße Gleichzeitig übte Maurice M a e t e r l i n c k Fächer 1897, Der Kaiser und die Hexe 1897, durch seine symbolistischen lyr. Dr.en (PrinDas Kleine Welttheater 1897, Die Frau im cesse Maleine 1889, Les Aveugles 1890, Fenster 1897, Der Abenteurer und die SänL'Intruse 1890, Les Sept Princesses 1890 gerin 1898, Die Hochzeit der Sobeide 1899, u. a.), die auch Hofmannsthal beeindruckDas Bergwerk zu Falun 1899), in denen die Schwermut und Tragik des ästhetischen ten, mit ihrer lastenden Atmosphäre von Menschen im fin de Steele, die Zweifel an Existenzangst, Melancholie und Todesgrauder Tragfähigkeit der eigenen Existenz und en, der konsequenten Verinnerlichung der das Bewußtsein der Verfallenheit an Ver- Tragik und der Symbolik von Sprache, gänglichkeit und Tod die wesentlichsten Schweigen, Gebärden, Bühnenbild und Themen dieser zarten, musikalisch-lyrischen Kostümen einen nachhaltigen Eindruck auf Gebilde wurden. Für Gestern war das Pro- die dt. Dichtung des Impressionismus, Symverbe A. de Mussets das Vorbild; doch be- bolismus und Expressionismus aus. Rainer gnügte sich Hofmannsthal nicht mit der Maria R i l k e würdigte die Eigenart der lyr. Darstellung einer einfachen Moral, sondern Dr.en Maeterlincks in seinen Essays Demlegte sein kleines Drama sogleich auf eine nächst und gestern (1897) und Das Theater dialektische Umkehrung des Ausgangssatzes des Maeterlinck (1901), feierte ihn als an (vgl. seinen Brief vom 5. August 1892 „Stammvater" des künftigen Theaters und an Marie Herzfeld: „Meine Lieblingsform, schrieb nach naturalist. Anfängen (Jetzt und von Zeit zu Zeit, zwischen größeren Arbei- in der Stunde unseres Absterbens 1896; ten, wäre eigentlich das Proverb in Versen Gleich und frei 1896; Im Frühfrost 1897) mit einer Moral, so ungefähr wie 'Gestern', eine Reihe von kleinen lyr. Spielen (Mütternur pedantesker, menuetthafter: im Anfang chen 1898, Ohne Gegenwart 1898, Das tägstellt der Held eine These auf (so wie: 'das liche Leben 1900, Drei Spiele: Vorfrühling, Gestern geht mich nichts an'), dann ge- In herbstlichen Alleen, Winterseele 1901). schieht eine Kleinigkeit und zwingt ihn, die Am bekanntesten wurde sein lyr. Dr. Die These umzukehren ('mit dem Gestern wird weiße Fürstin (1. Fassung 1899, 2. Fassung man nie fertig'); das ist eigentlich das ideale 1904), das in seiner Todesproblematik und Lustspiel, aber mit einem Stil für Tanagra- Symbolik besonders den Einfluß von MaeFiguren oder poupies de Saxe..."). Am terlincks La mort de Tintagiles verrät. Rilke vollendetsten verwirklichte er diese Pro- verhalf Maeterlincks Saeur Biatrice zur dt. verbe-Form im Weißen Fächer. Uber sein Uraufführung (Bremen 1902), zu der er Fragment Der Tod des Tizian schrieb er: einen Prolog dichtete. „Die F o r m . . . hat etwas mit den lyrischStefan G e o r g e mit seinem Kreis, in dem dramatischen Dichtungen von Lenau zu tun, ein überragender Dramatiker fehlte, lehnte

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Lyrisdies Drama

das traditionelle Bühnendrama schroff ab und erkannte „kunstwert" allein noch lyr. Dialogen, „in gesprächsform gegossenen lyrismen", und Mysterienspielen, „in altertümlichen geschmadc gearbeiteten spielen", zu, als „ausdruck einer eben erst sich bildenden weit". G e o r g e gab selbst die Vorbilder mit seinem lyr. Jugenddrama Manuel (1888), das er unter dem Eindruck Maeterlindcs, den Karl August Klein in den Blättern für die Kunst (I, 4) feierte, 1894/1895 umarbeitete, mit der lyr. Szene Die Herrin betet (Musik von Karl Hallwachs) und dem liturgischen Weihespiel Die Aufnahme in den Orden. Friedrich G u n d o l f folgte mit lyr. Dialogen (Ariel und Dryade, Iskenders letzte Fahrt, Cäsar und Cleopatra; gesammelt als Zwiegespräche 1905) und lyr. Dr.en (Antinous; König Kofetua und die Bettlerin, ein Vorspiel, Der Beschwörer 1904), ferner Karl Gustav V o l l m o e l l e r , bei dem sich Einflüsse Hofmannsthals und Maeterlincks mit Georges Vorbild verbanden (Catherina Gräfin von Armagnac 1903; Assüs, Fitne und Sumurud 1904; Giulia 1905 u. a.), Karl W o l f s k e h l (Maskenzug 1904, Saul 1905, Sanctus, ein Mysterium. 1909, Orpheus, ein Mysterium 1909) und Berthold V a l e n t i n (Heroische Masken, 1927). Die Dramen der N e u r o m a n t i k e r folgten dem Vorbild Gerhart H a u p t m a n n s , der in seinen symbolist. Märchendramen das anfängliche Nebeneinander von Naturalismus und Symbolismus überwand und sich zu seinem mythischen „Glashüttenmärchen" Und Pippa tanzt (1905) von Robert Brownings lyr. Drama Pippa passes inspirieren ließ, vor allem Carl H a u p t m a n n (Die Bergschmiede 1902, Des Königs Harfe 1903, Panspiele 1906). Auch Wilhelm von S c h o l z begann mit romantisch-lyr. Dr.en (Mein Fürst 1898, Der Besiegte 1899, Der Gast 1900), bevor er sidi der Erneuerung des Klassizismus zuwandte. Leo G r e i n e r , Eduard S t u c k e n und Emst H a r d t standen im Banne der lyr. Dr.en Maeterlincks, Hofmannsthals und des Iren William Butler Y e a t s , der mit seinen irischen Märchenund Legendenspielen und symbolist. Seelendramen (The Countess Cathleen 1892; The Land of Heart's Desire 1894, Cathleen in Houlihan 1902; Deirdre 1907 u. a.) das romantische „poetic drama" erneuert hatte.

1901 scheiterten sowohl O. J. Bierbaum und Franz Blei in Berlin wie Willy Rath in München mit ihren Versuchen, ein „lyrisches Theater" zu begründen, am Unverständnis des Publikums. Margarethe Β a ζ i η , Der Einfluß d. lyr. Dr.s d. Franzosen auf d. moderne dt. Musikdrama. (Masdi.) Diss. Wien 1939. Klaus H i l z h e i m e r , Das Drama der dt. Neuromantik. Diss. Jena 1938. — Wolfgang Β a s c h a t a , Die Entwicklung d. dramat. Technik u. Form in Hugo von Hofmannsthals lyr. Dr.en. (Masch.) Diss. Innsbruck 1948. Friedr. Wilh. W ο d t k e , Hugo von Hofmannsthal. MGG. 6 (1957) Sp.565-574. Richard A l e w y η , Über Hugo von Hofmannsthal (1958; Kl. Vandenhoedc-Reihe 57). — Midiele V i η c i e r i , Ii teatro dannunziano (Udine 1940). Luigi Β e g ο ζ ζ i , Gabriele d'Annunzio nei Saggi critici di Hugo von Hofmannsthal. Convivium 13 (1941) S. 75-86. Käthe S c h e r pe, Gabriele d'Annunzios Romane und Dramen in der zeitgenössischen dt. Kritik. (Masch.) Diss. Breslau 1944. Annemarie A n d e r h u b , Gabriele d'Annunzio in der dt. Lit. Diss. Bern 1948. — Gertrude V i e r ö c k l , Maurice Maeterlinck in der dt. Lit. (Masch.) Diss. Wien 1937. S. Ο. Ρ a 11 e s k e , Maurice Maeterlinck en Allemagne (Paris 1938). Adolf Wally, Maurice Maeterlinck im Drama u. in d. Kritik Deutschlands. (Masch.) Diss. Wien 1938. Clementine K i e n b e r g e r , Die sprachstilist. Vermittlung der Seelenzustände im symbolist. Jugenddrama Maeterlincks. (Masch.) Diss. München 1949. Jacques R o b i c h e z , Le Symbolisme au Theatre (Paris 1957). — Elsbeth S c h w e i s g u t h , Yeats Feendichtung. Diss. Gießen 1927. Alexander Norman J e f f a r e s , William Butler Yeats (New Haven 1949). — Hartmann G o e r t z , R. M. Rilke und Frankreich. Diss. Greifswald 1932. Howard E. R o m a n , Rilke's dramas. An annotated list. GermRev. 18 (1943) S. 202-208. Ders., Rilke's psychodramas. JEGPh. 43 (1944) S. 402-410. — Claude D a v i d , Stefan George, son ceuvre poitique (Lyon 1952; Bibl. de la Soc. des EtudGerm.9). — Emst K ö n i g , Das Überbrettl Ernst v. Wolzogens u. d. Berliner Überbrettl-Bewegung. (Masch.) Diss. Kiel 1956. § 5. Fast alle Dichter des E x p r e s s i o n i s m u s , die nach unmittelbarem Ausdrude seelischer Ekstasen und Visionen strebten, nahmen zunächst das lyr. Dr. des Symbolismus (Maeterlinck, Hofmannsthal) auf; ferner wurden die Traumspiele August S t r i η db e r g s (Schwanenweiß 1901, Ein Traumspiel 1901-1902 u. a.), die seiner Beschäftigimg mit Maeterlinck entsprangen und die Musik Haydns, Beethovens und Sibelius' einbezogen, von großer Bedeutung für die Entwicklung des lyr.-ekstatischen Dramas

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Lyrisches Drama der Expressionisten, die das von ihm geschaffene Stationendrama nicht nur nach der Seite des epischen Dramas (Bert Brecht), sondern auch nach der des lyrischen weiterführten, wobei die lyr. Situation die dramat. Handlung zu ersetzen hatte. So stehen am Anfang der expressionist. Dramatik zahllose lyr. Einakter, Monodramen, Dialoge und Melodramen, die ein ins Absolute und Typische gesteigertes Seelenleben in ekstatischabrupter Sprache und Schrei, in abstrahierendem Bühnenbild mit neuer Färb- und Tonsymbolik darstellen. Das Streben nach umfassender dramatisch-lyrischer Spiegelung des Werdens der Seele und ihrer rauschhaften Erhebung ins Menschheitliche, Kosmische oder Religiös-Metaphysische läßt das lyr. Seelendrama des Expressionismus vielfach in visionäre Mysterien und Kultspiele einmünden. Die schon bei Maeterlinck typische Reduzierung der Sprache zugunsten des unmittelbaren Seelenausdrucks in Geste und Pantomime wird zum Prinzip der kleinen, symbolistisch-visionären Dramen Oskar K o k o s c h k a s (Mörder Hoffnung der Frauen 1907, vertont von Paul Hindemith 1920; Der brennende Dornbusch, 1911; Orpheus und Eurydike 1915-1918, vertont von Ernst Krenek 1923; Hiob 1918), mit denen sich der dramat. Expressionismus revolutionär ankündigte. Sie wurden zur Grundlage der Dramentheorie des Sturm-Kreises (Lothar Schreyer) und fanden unmittelbare Nachfolge in den ekstatisch-lyr. Dr.n von Herwarth W a i d e n (Weib 1917; Kind 1918; Trieb 1918; Menschen 1918; Glaube 1920; Sünde 1920; Die Beiden 1920; Erste Liebe 1920; Letzte Liebe 1920), den „Bühnenkunstwerken" von Lothar S c h r e y e r (Jungfrau 1917; Meer, Sehnte, Mann 1918; Nacht 1919) mit ihrer Synthese von Wort, Tanz, Pantomime und „Farbformspiel", und bei August S t r a m m , der, ursprünglich von Maeterlinck herkommend (Sancta Susanna 1913; Die Heidebraut 1916), die von Kokoschka geschaffene Zwischenform zwischen lyr. Dr. und mystisch-visionärer Pantomime weiterbildete (Erwachen; Kräfte; Geschehen 1919). Von den „Kosmikern" schrieb Alfred M o m b e r t die „sinfonische Dramen"-Trilogie Aeon (1907-1911), reine lyrisch-musiReallexikon II

kalische Wortsinfonien, in denen ein kosmisches Raum- und Zeitgefühl breit ausschwingt. In einem von Nietzsches Dithyramben bestimmten lyr. Stil verfaßte Reinhard Johannes S o r g e einaktige „dramatische Phantasien" und „Impressionen" (Der Jüngling 1910; Odysseus 1911; Prometheus, Guntwar, Zarathustra 1911; Der Antichrist 1911), um dann in seinem bedeutendsten Drama Der Bettler (1912) ein rein lyr. Traumspiel von stark monologischem Charakter zu geben, dem kathol. Mysterienspiele (Metanoeite 1915; König David u. a.) und kleine religiöse lyr. Szenen (Mystische Zwiesprache 1922) folgten. Auch Franz W e r f e l begann mit lyr. Einaktern und Dialogen (Das Opfer 1913; Die Versuchung 1913 u. a.), um dann in seiner „magischen Trilogie" Spiegelmensch (1920) das lyr. Dr. ins metaphysische Mysterium zu erweitern. Bei Walter H a s e n c l e v e r zeigte sich ein starker Einfluß der kleinen lyr. Dr.en Hofmannsthals auf seine dramat. Anfänge, besonders auf sein Drama Der Sohn (1914), das auf die lyr. nächtl. Szene Das unendliche Gespräch (1913) folgte, in dem Monologe und Chöre wechseln. Stark lyr. Charakter tragen auch seine dramat. Dichtung Der Retter (1915) und das fünfaktige Drama Jenseits (1920), ein okkultistisches Duodrama. „Erregung neuer Empfindungswelten" erstrebte Alfred W o l f e n s t e i n mit seinen lyr. „szenischen Dichtungen", denen Shelleys lyr. Dr.en Vorbild waren (Die Nackten 1917; Wasser, Sturm und Stern, ein Drama; Der Mann 1920; Umkehr 1920; Mörder und Träumer 1923, 2. Fassung Das neue Leben 1925; Sturm auf den Tod 1921 u. 1925; Der Flügelmann 1924; Der Narr 1925); er sammelte eine Reihe von expressionist, lyr. Einaktern, Monologen und Dialogen in seinem Jahrbuch Die Erhebung (1920). Besonders kennzeichnend für die expressionist. Auflösung des Dramatischen ins Lyrische ist schließlich Paul K o r n f e l d mit seiner Proklamation des reinen Seelendramas in seinem Aufsatz Der beseelte und der psychologische Mensch (1918), in dem das bisherige psychologische Charakterdrama zugunsten des neuen, rein lyrischen Seelendramas abgelehnt wurde. 17

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Lyrisches Drama

In der Gegenwart lebt das lyr. Dr. weiter durch die „lyrischen Tragödien" und dramat. Romanzen Federico Garcia L o r c a s und die Erneuerung des „poetic drama" in England durch T. S. E l i o t , Christopher F r y , W. H. A u d e n u.a. In Deutschland dagegen hat es sich bezeichnenderweise nach

dem 2. Weltkrieg noch nicht wieder zu entfalten vermocht. Lit. s. Drama (Neuzeit) § 8-9; Expressionismus § 8. Femer: Peter S ζ ο η d i, Theorie d. modernen Dramas (1956). Siegfried Μ e 1 c h i η g e r , Drama zwischen Shaw u. Brecht (1957). Friedrich Wilhelm Wodtke

Μ Maccaronische Dichtung in Deutschland

§ 1. Als Erfinder der maccaronischen Dichtung gilt der Italiener Tifi degli Odasi (lat. Typhis Odaxius). Er starb zu Padua im Jahre 1488. Nach seinem Tode erschien, wahrscheinlich 1493 zu Rimini, ein Gedicht in 684 Hexametern mit dem Titel: Carmen macaronicum de Patavinis quibusdam arte magica delusis, für das er als Sprachform das Lat. wählte und dieses mit ital., lat. flektierten Wörtern vermischte, wobei er sich bemühte, die ital. Bestandteile dieses Sprachgemischs auch den Gesetzen der lat. Syntax zu beugen. Ein Zeitgenosse Odasis rühmt die Treffsicherheit des Ausdrucks, die in dem Carmen macaronicum den Lesern Dummheit und Einfalt der Menschen mit Hilfe von Spott und scharfem Witz vor Augen führte. Man wäre bei der Lektüre des Gedichtes vor Lachen beinahe geplatzt, besonders wegen der dem Inhalt so angemessenen Sprachform. Odasi habe in seinem Gedicht die röm. Satiriker mit Erfolg nachgeahmt. Es ist nicht mehr sicher zu entscheiden, ob er die etwas derb und ungeschliffen wirkende Sprachmischung nur als Gegensatz zu dem gelehrteleganten Lat. der Humanisten wählte oder darum, weil er die in ihr liegenden besonderen satirisch-komischen Möglichkeiten erkannte, die er für seinen Stoff brauchte. Der Held seiner Dichtung ist ein Fabrikant von Maccaroni und wird in den Anfangsversen vorgestellt: Est unus in Padua notus speciale cusinus In macharonea princeps bonus atque magister. Gegenüber anderen Deutungsversuchen, die ζ. T. als gesucht erscheinen, muß an der Erklärung festgehalten werden, nach der die Bezeichnung der Dichtart davon abzuleiten ist, daß der Held des ersten Werkes dieser Gattung Maccaroni herstellte. Den Dichter bestimmte bei der Wahl dieses Berufes für die Hauptgestalt sicher der Umstand, daß das ital. Wort maccherone, die Bezeichnung für die Lieblingsspeise der Italiener (pl.maccheroni, latinisiert Macaroni), vom 14. bis

17. Jh., also auch zur Zeit des Odasi, außer der Bedeutung 'breite Nudel' den Nebensinn Tolpatsch, Klotz, Tölpel' hatte. Für die ital. Landsleute des Dichters war die darin zum Ausdrude gebrachte Anspielung auf den burlesk-satirischen Inhalt des Gedichtes unüberhörbar. Teofilo Folengo (1492-1541), dem Hauptvertreter der macc. Poesie in Italien, der den Ruhm des Odaxius und anderer Vorgänger, deren es eine ganze Reihe in Italien gab, bald verdunkeln sollte, war die Herkunft des Namens klar. In seiner Selbstverteidigung (Merlini Cocaii Apologetica in sui excusationem, Venedig 1613) schreibt er: Ars poetica macaronica a macaronibus derivata und fährt fort: qui macarones sunt quoddam pulmentum farina caseo botiro compaginatum, grossum rude et rusticanum: ideo macaronices nil nisi grassedinem ruditatem et vocabulazzos debet in se continere. Für ihn liegt also das Hauptgewicht nicht auf dem Mischcharakter der Sprache, sondern auf der Derbheit des Inhalts, die ihm durch Odasis Gedicht nahegelegt war und die er in seinen eigenen Werken zum Ausdruck brachte. Das ist bei einem gebildeten Italiener in der Zeit des Humanismus, der Lat. wie seine Muttersprache handhabte, verständlich. Folengo schrieb unter dem Dichternamen Merlinus Coccaius, wahrscheinlich in bewußtem Gegensatz zu der gelehrtkunstmäßigen Dichtung seiner Zeit, ein großes komisches Heldengedicht (Maccaroneae 1517, erweitert 1521), das er mit der Anrufung der maccaronischen Musen beginnt, die auf einem Käseberg gerade Käse und Maccaroni herstellen wollen. Mit z.T. beißender Satire schildert er hier in Episoden, die er in die Erzählung der Schicksale seines Helden einflicht, Persönlichkeiten und Bräuche seiner Zeit. In Deutschland wurde ein anderes Werk von ihm bekannter, die Moscheis, die in maccaronisch-elegischen Distichen den Krieg der Mücken und Ameisen behandelt. Sie wurde von H. C. Fuchs frei ins Dt. übersetzt (erste Ausg. 1580?, erhaltene Ausg. 1600); Balthasar Schnurr von Landsiedel un17·

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Maccaronische Dichtung in Deutschland

terzog diese Übersetzung einer nochmaligen Bearbeitung und gab sie 1612 heraus. § 2. Um macc. D. als literar. Gattung richtig zu definieren, muß man davon ausgehen, daß sie unter Verwendung einer lat.-ital. Mischsprache in der Zeit des Humanismus entstand, in der Lat. als Gelehrten- und Dich terspradie neben oder über dem nationalen Idiom in den einzelnen Ländern gesprochen und geschrieben wurde. Ihrer besonderen Beschaffenheit nach war sie Gelehrten- und Gebildetendichtung. Von Italien kam sie in andere Länder wie Frankreich, Spanien, England und Deutschland. Uberall war die vorzüglich geeignete klass. Sprache mit ihren ausgeprägten Flexionsformen das Grundelement und wurde mit der jeweiligen Nationalsprache vermischt. Als mit dem Vordringen der Landessprachen die Verwendung des Lat. zurückging, war es mit dieser Art von Poesie im allgemeinen vorbei. Wenn man deshalb grundsätzlich unter Mischdichtung die Verflechtung zweier beliebiger Einzelsprachen verstehen darf, so kann man von einer lebendigen macc. D. doch nur sprechen, solange sie vom Lat. bestimmt wird. Nach Deutschland gelangte sie im 16. Jh. Hier gab es schon vor dem ital. Einfluß ganz vereinzelt dt.-lateinische Mischverse, in denen einige, aber nicht alle dt. Wörter lat. flektiert sind, einen Vers in Seb. Brants Nar-> renschiff (1494) und einige aus einem Tegernseer Bücherverzeichnis um 1500 stammende Zeilen, in denen ein Insasse des Klosters die schmackhaftesten Teile der Fische des Sees aufzählt. Ob die Zeilen aus Thomas Murners Großem Lutherischen Narren (1522) und Ketzerkalender (1527) unabhängig von der ital. Einwirkung entstanden sind, vermag ich nicht zu sagen. Bei dem lebendigen geistigen Austausch zwischen Italien und Deutschland in der Zeit des Humanismus ist es wahrscheinlich, daß Murner die Werke des Odasi und Folengo kannte. Die wenigen ohne ital. Einfluß entstandenen Beispiele stammen aus Universitäts- und geistlichen Kreisen, in denen Vertrautheit mit der lat. Sprache selbstverständlich war. Die Verwendung von lat.-dt. Mischversen lag dort fast in der Luft, aber man kann deshalb nicht von macc. D. sprechen. Diese tritt am reinsten dort auf, wo möglichst alle dt. Wörter den Regeln der lat. Grammatik unterworfen

sind. Während des 16. Jh.s finden sich in Schwankbüchern (so ζ. B. in Lindeners Katzipori und in Kirchhoffs Wendunmut) und in Fastnachtsspielen von Hans Sachs maccaronische Verse; Fischart verrät im ersten Kapitel der Geschichtklitterung(1590) Bekanntschaft mit den versus maccaronici, die er mit Nuttelverse = Nudelverse verdeutscht, und hat hier und da maccaronisierende Stellen, ohne jedoch das Prinzip konsequent durchzuführen. § 3. Aus der Mitte des Jh.s sind zwei etwas längere satirische Gedichte überliefert, die zum erstenmal die Mischdichtung in selbständiger Weise verwenden, aber ihre Regeln doch nicht gänzlich befolgen. Das ist der in sieben Distichen verfaßte und in drei Fassungen überlieferte Pasquillus auf den protestierenden Krieg seit 1546, ein angeblich von Heinrich Glareanus verfaßter Mahnruf an die Führer des Schmalkaldischen Bundes, und das während des Reichstages zu Augsburg 1548 geschriebene Pancketum Caesareum (23 Distichen), das in Form und Inhalt dem ersten Gedicht verwandt ist und die verbissene Wut der unterlegenen Protestanten zum Ausdrude bringt. Die aus der gleichen Stimmung erwachsene, 1548 entstandene kleine Benedictio mensae in Pancketum schließt sich unmittelbar an. Im 17. Jh. lebte das Pancketum Caesareum unter dem Titel Pancketum Leopoldinum noch einmal auf. Es entstand während des Jülich-Cleveschen Erbfolgestreites und richtete sich gegen Erzherzog Leopold, den Bruder Ferdinands II., der seit dem Sommer 1609 im Auftrage des Kaisers in den Herzogtümern gegen die Truppen der protestantischen Union, Frankreichs und Hollands Krieg führte, aber keine besonderen Fortschritte machte. Das Pasquill entstand wahrscheinlich 1614, als der in dem Gedicht erwähnte Spinola mit span. Truppen den Kaiserlichen zu Hilfe kam. § 4. Das berühmteste dt. maccaron. Gedicht ist die Floia, die 1593 in ndd.-lat. Mischsprache erschien und deren Verfasser bisher nicht mit Sicherheit ermittelt ist. Sie wurde vielleicht durch Fischarts Flöhhaz (1575) inspiriert und beginnt, Vergil nachahmend, mit den Worten: Angla floosque canam In witzig-derber Form, die das macc. Prinzip zum erstenmal völlig durchführt, schildert das Gedicht die Martern und Plagen, die alle

Maccaronische Dichtung in Deutschland Menschen, jung und alt, arm und reich, hoch und niedrig, sogar Kaiser und Papst, vor allem aber die Frauen, durch die Flöhe erdulden müssen, und beschreibt die Feldzüge des von Energie geladenen weiblichen Geschlechts gegen das lästige Ungeziefer. Das Werkchen erfreute sich in Deutschland größter Beliebtheit und erschien in vielen Ausgaben. Noch 1689 erhielt es eine hd. Bearbeitung. Das Cortum Carmen de Rohtrockis atque Blaurockis (1600), welches das wilde Treiben der vom Herzog von Braunschweig in Sold genommenen Truppen, die auch den Dichter schlecht behandeln, beschreibt, steht im Gefolge der ndd.-macc. Floia. Das kleine Epos entstand gleichzeitig mit den Ereignissen, wurde aber erst 1853 aus der Hs. veröffentlicht. Das literar. Fortwirken des Flohgedidits zeigen auch die als Mischdichtung verfaßten Hexameter, die das Spottlied auf die Bernauer Wolfsjagd einleiten, auf der die Bürger von Bernau im Jahre 1609 statt eines Wolfes einen Hund erschossen haben. Sogar im 19. Jh. ist der Einfluß der Floia noch in einer schon außerhalb der macc. Tradition stehenden Kölner Fastnachtsdichtung (Frauias) über die männerfangenden Künste der Frauen zu spüren. Wegen der in der Mischform liegenden und durch die Verschiedenheit des Dt. und Lat. noch verstärkten derbkomischen Möglichkeiten war die Dichtungsart in Studentenkreisen besonders beliebt. Es gibt eine Reihe von Gedichten, die das turbulente Treiben der Studenten in Wirtshäusern und auf der Straße und ihre Kämpfe mit den Nachtwächtern als Hütern der Ordnung schildern. Die Delineatio Lustitudinis Studenticae von 1627, fast ganz lat., nur hier und da maccaronisierend, beobachtet die Studenten im Wirtshaus. Das Gaudium Studenticum ex authographo (1693) schildert einen studentischen Gasthausschmaus und einen daran anschließenden Strauß mit den Nachtwächtern, die das laute Benehmen auf der Straße nidit dulden wollen und als Sieger das Feld behaupten. Seine besondere komische Wirkung erhält das Gedicht durch die eingestreuten küdienlat. Wendungen wie inhere υ eile venire willkommen heißen oder ursipellis — Bärenhäuter. Das Certamen Studiosorum cum Vigilibus Nocturnis (1689) variiert nur wenig das gleiche Thema, wobei diesmal die

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Studenten die Überlegenen sind. Die Sprache ist ungeschickter, das hier und da zu bemerkende Fehlen lat. Flexionsendungen in dt. Wörtern zeigt die unvollkommenere Beherrschung der macc. Form. Mit den Versen Hem Professorenbursi, nunc rufite juch hei! I Lustigeosque simul multos anstimmite Liedros! beginnt das Triumphierende Prosit (aus einer Curiösen Inaugural-Disputation, um 1700?) und besingt mit vollkommener Handhabung der komisch-macc. Form die Freuden des Biertrinkens und des nächtlichen Schweifens durch Straßen und Gassen. Es sei hier noch auf den im MA. in verschiedenen Fassungen verbreiteten Schwank von dem Bauern und seinem Sohn hingewiesen, der von Johann Flitner in seiner Nebula Nebulonum (1620) in macc. Verse gebracht worden ist. Der Junge hat die Zeit auf der Schule schlecht genützt, so daß es mangelhaft um seine Lateinkenntnisse bestellt ist. Er versucht, sich mit dem Gebrauch dt. Wörter, an die er lat. Endungen hängt, aus der Affäre zu ziehen. Der Vater durchschaut den Betrug bald und droht, dem Sohn das Fell durchzubläuen. § 5. Neben der satirischen und der komischen macc. Dichtung gibt es in Deutschland auch eine von Gelehrten verfaßte Mischdichtung, die höhere Ansprüche an den Leser stellt. Die Rhapsodia versu heroico macaronico ad Brautsuppam und die Rhapsodia andra... stammen von demselben Verfasser und sind wahrscheinlich zu Anfang des 18. Jh.s entstanden. Der Dichter bezeichnet sich als Schüler des Petrus Dresdensis (um 1400), dem die Kirchenlieder In dulci jubilo und Puer natus in Bethlehem zugeschrieben werden, und ist sich doch des Vorzuges der macc. vor jener anderen Mischpoesie bewußt: Ipse etenim tantum Spracharum Wörtra duarum I In binos studuit Zeilorum einschließere Reimos: I Nos binas Sprachas in Wortum einbringimus unum. Der Verfasser versteht es, Lat. und Dt. in kunstvoller Weise zu verschmelzen und die neue Spracheinheit in wohlgelungenen Hexametern zum Ausdrude zu bringen. Beide Gedichte preisen die Vorzüge des Ehestandes gegenüber dem Junggesellendasein. Besonders das zweite Gedicht ist durch die ein-

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Maccaronische Dichtung in Deutschland — Märchen

gehende Beschreibung der Hochzeitsbräuche jener Zeit kulturhistorisch bedeutsam. Unter Brautsuppe ist das Frühstück zu verstehen, zu dem sich am Tage nach der Hochzeit die Gäste und das junge Ehepaar noch einmal im Brauthause einfanden. Ein kürzeres, um die gleiche Zeit entstandenes Hochzeitsgedicht sieht die Ehe unter dem Bilde der besten und glücklichsten Lebensschiffahrt. § 6. Die oben behandelten Gedichte sind die hauptsächlichsten Zeugnisse der znacc. Dichtung in Deutschland. Sie wurde bei uns etwa 200 Jahre lang gepflegt; dann war es, wohl hauptsächlich durch den allmählichen Rückgang des Gebrauchs der lat. Sprache bedingt, mit ihrer lebendigen Wirkung vorbei. Noch im 19. Jh. gibt es einzelne Nachfahren dieser poetischen Mischform, aber sie stehen nicht mehr innerhalb der macc. Tradition und verdanken ihre Entstehung jeweils besonderen Umständen wie Fastnachtsscherzen u. ä. Die macc. Dichtung eignete sich kraft ihrer besonderen Artung, indem sie aus dem Gegensatz zweier verschiedener Sprachen lebte und nur von denen gepflegt werden konnte, die Lat. verstanden, nur für wenige Gebiete: Satire, Komik, Studenten- und Gelehrtendichtung. Hier hat sie ihren Zweck erfüllt und eine gewisse Verbreitung gehabt. Am vollkommensten erscheint sie dort, wo sie ein Thema behandelt, das ihren Darstellungsmöglichkeiten entspricht. Friedr. Wilh. Gen t h e , Geschichte d.Macc. Poesie u. Sammlung ihrer vorzüglichsten Denkmale (1829). O. S c h a d e , Zur Makaronischen Poesie. Weimarisches Jb. f. Dt. Spr., Litt. u. Kunst 2 (1855) S. 409-464; 4 (1856) S. 355-382. Die 'Floia' u. andere dt. macc. Gedichte. Hg. v. Carl B l ü m l e i n (1900; Drucke u. Holzschnitte d. 15. u. 16. Jh.s in getreuer Nachbildg. 4). Rez.: Alemannia 29 (1901) S. VIII-X oh. B o l t e). Carl B l ü m l e i n , Zur Gesch. . macc. Poesie. BerFDH. N.F. 13 (1897) S. 215-244. Die Schauspiele d. Herzogs Heinr. Jul. v. Braunschweig. Hg. v. Wilh. Ludw. H o l l a n d (1855; BiblLitV. 36) S. 166. F. W. E. Roth, Deutsch-Lat. Gedichte aus d. Zeit d. 30jähr. Krieges. GermaniaPf. 36 (1891) S. 179-181. Wilh. W a c k e r n a g e l , Abhandlung. z. dt. Litteraturgesch., in: Watkemagel, Kleinere Schriften. Bd. 2 (1873) S. 43 f. Zimmerische Chronik. Nach der v. K. Baradc besorgten 2. Ausg. neu hg. v. Paul H e r r m a n n . Bd. 3 (1932) S. 277; 554. G. E. L e s s i n g , Collectanea, in: Lessing, Sämtliche Sdiriften, hg. v. K. Ladimann u. F. Muncker. Bd. 15 (1900) S. 297f. Ernst Ludw. R o c h h o l z , Alemannisches Kinderlied u. Kinderspiel aus

ä

d. Schweiz (1857) S. 51 f. Joh. Β ο 11 e, Ein Lied auf die Bernauer Wolfsjagd (1609). Ardif Litg. 15 (1887) S. 225-234. Alex v. W e i 1 e ή , Der Ägyptische Joseph im Drama d. 16. Jh.s (Wien 1887) S. 161. Brigitte Ristow Märchen § 1. Der Begriff „Märchen" oder „Volksmärchen" unterliegt starken Schwankungen. Die weitere Fassung geht etwa von den Kinder- und Hausmärchen (KHM) der B r ü d e r G r i m m aus, der auch zum Beispiel die Märchen der Weltliteratur (MWL) folgen; die engere scheidet Sage, Fabel, Rätsel, manchmal auch noch weitere Formen aus und begrenzt das M. vor allem auf das Zaubermärchen, dem noch das Novellenmärchen angeschlossen wird. Es soll im Folgenden zunächst von der engeren Definition ausgegangen werden; zu den Teilgruppen und Sonderformen s. § 6. Darstellungen: Friedr. v. d. L e y e η u. Kurt S c h i e r , Das M. Ein Versuch (4. Aufl. 1958). Friedr. v. d. L e y e n, Die Welt der M. 2 Bde (1953/1954; MWL.). Albert W e s s e l s k i , Versuch e. Theorie d. M. (1931; PrgDtSt.45). Will-Erich P e u c k e r t , Dt. Volkstum in M. u. Sage, Schwank u. Rätsel (1938; D t Volkstum 2). Ders., Märchen. Stammler Aufr. Bd. 3 (1957) Sp. 1771-1814. Stith T h o m p s o n , The Folktale (2.Aufl. New York 1951). — Zu Einzelproblemen: Handwörterbuch d.dt.M.s Hg. v. Lutz M a k k e n s e n . 2 Bde: A-G (1930-1940). Berichte über M.forschung: Helm. deBoor, M.forschung. ZfDtk. 42 (1928) S. 561-581. Lutz M a c k e n s e n , Zur M.forschung. ZfdB. 6 (1930) S. 339-359. Friedr. R a n k e , M.forschung. Ein Lit.bericht 1920-1934. DVLG. 14 (1936) S.246-304. Will-Erich P e u c k e r t u. Otto L a u f f e r , Volkskunde. Quellen u. Forschungen seit 1930 (1951; Wiss. Forschungsberichte, Geisteswiss. Reihe 14) S. 130 -176. Lutz R ö h r i c h , Die M.forschung seit dem Jahre 1945. Dt. Jb. f. Volkskde 1 (1955) S. 279-296; 2 (1956) S. 274-319; 3 (1957) S.213 -224 u. 494-514 (zitiert: Röhrich I, II, III). Kritische Übersicht über ältere Sammlungen bei Konrad Τ ö η g e s , Lebenserscheinungen u. Verbreitung d. dt. M.s (1937; GießBtrDtPhil. 56). Uber neuere Sammlungen siehe R ö h r i c h I-III. § 2. A r b e i t s b e g r i f f e u n d M e t h o d e n d e r S t o f f g e s c h i c h t e . Im Gegensatz zum „Kunstmärchen" (s.d.) besitzt jedes einzelne „Volksmärchen" — wie alle Dichtung, die mündlich überliefert wird oder an der diese Art der Uberlieferung wesentlichen Anteil hat — keine konstante, einmalige Gestalt. Vielmehr wird es in

Märchen wechselnden Gestalten weitergegeben. Diese „ V a r i a n t e n " , die für ein einzelnes M. oft mehrere Hundert betragen, weichen im allgemeinen um so mehr voneinander ab, je weiter ein M. verbreitet und je länger die Geschichte seiner Überlieferung ist. Als „ Varianten"eines M.s sind sie jedoch nur dann zu bezeichnen, wenn Thema und Ablauf des Geschehens in den Grundzügen identisch sind, d. h. wenn die Varianten nur Abwandlungen eines „ T y p u s " sind. Beispiele für M.-Typen sind etwa: Jorinde und Joringel KHM69 (ATh 405), Dornrösdien KHM50 (ATh410 Sleeping Beauty), Aschenputtel KHM 21 (ATh 510A Cinderella). Obwohl jüngere Aufzeichnungen den Bestand noch erweitern und die Grenzen zwischen den Arten nicht absolut scharf sind, hat sich doch die scheinbar unendliche und unübersichtliche Fülle der M.-Uberlieferungen auf eine begrenzte Anzahl von „Typen" zurückführen lassen. Soweit nicht schon neuere Untersuchungen über einzelne Typen vorliegen, die die Überlieferungen der gesamten Welt berücksichtigen, ist es möglich, auf Grund des B o l t e - P o l i v k a und seiner unten genannten Ergänzungen sich eine erste Übersicht über die Fülle der Varianten zu verschaffen und sich der Irreführung durch einzelne Varianten und den Bestand einzelner Publikationen zu entziehen. Die „Varianten" eines M.-Typus stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern sie schließen sich zu Gruppen zusammen, die zeitlich, in viel höherem Maße aber durch Völker und Länder, Stämme und Landschaften bedingt sind; es sind das die „Fassungen" oder besser „ R e d a k t i o n e n " eines Typus; die geographisch begrenzten werden von C. W. v. S y d ο w „ökotypen" genannt. So unterscheidet zum Beispiel W. A n d e r s ο η in seiner Untersuchung Kaiser und Abt. Die Geschichte e. Schwankes (1923; FFC. 42) älteste, alte vereinfachte, alte franz. Redaktion, Balladenredaktion usw. Für die Theorie des M.s und die vergleichende Lit.geschichte bedeutungsvoll ist die Unterscheidung zwischen den m ü n d l i c h e n und den l i t e r a r i s c h e n V a r i a n t e n . Die Beurteilung ihres Verhältnisses bewegt sich in den größten Gegensätzen. Während die Volkskunde den größeren Wert auf die mündliche Überlieferung legt, er-

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scheinen Th. Benfey, A. Wesselski u. a. die literar. Fassungen vorwiegend oder ausschließlich von Bedeutung. Das Verhältnis beider Gruppen läßt sich nicht auf eine einfache Formel bringen. Beide stehen im Austausch miteinander, der nach Typen, Zeiten und Ländern wechselt. Während die mündliche Überlieferung oft bis in die Gegenwart Urtümliches festhält und Einblick in die „Biologie" des Erzählens gibt, läßt sich mit Hilfe der literar. Varianten die Geschichte von Typen und Motiven in Frühzeiten zurüdcverfolgen, die uns Entstehungszeit und -land näherbringen und so die geistigen und kulturellen Verhältnisse beleuchten, aus denen ein M. erwachsen sein kann. Außer mit der wechselseitigen Beeinflussung beider Gruppen ist aber auch mit rein mündlicher Tradition und ebenso mit rein literar. Weitergabe zu rechnen. Mit der Hilfe der letzteren lassen sich oft (wie ζ. B. bei den Sieben weisen Meistern) ganze Traditionslinien durch die Jahrhunderte und Völker ermitteln. Trotzdem sich die M.-Typen als geschlossene Geschehensabläufe deutlich voneinander absetzen, sind sie doch vielfältig dadurch miteinander verbunden, daß ihre Bestandteile, die „M ο t i ν e", weit stärker, als es bei den literar. Formen der Fall ist, in mehreren Typen auftreten. Das ist die Ursache für die häufige Kontamination an sich getrennter Typen, wie sie vor allem in Einzelvarianten auftritt. Wieweit infolge von Motivgleichheit Erzählungen als Varianten eines Typus aufgefaßt werden müssen, hängt von Art, Zahl und Verknüpfung der gleichen Motive ab. Ihrem Inhalt nach gliedern sie sich in S o z i a l m o t i v e , die die Verhältnisse zwischen Menschen betreffen, und G l a u b e n s m o t i v e , die sich an lebendige oder versunkene Glaubensvorstellungen der Erzähler anschließen. Nach ihrer Bedeutung für den Aufbau des M.s sind sie k o n s t i t u t i v e oder d e k o r a t i v e Mot i v e . Für den Zusammenhang von Varianten ausschlaggebend sind die „konstitutiven Motive"; dabei nimmt die Sicherheit der Feststellung zu mit der Anzahl der zu einem Ablauf verknüpften Motive. Eine besondere Art der „konstitutiven Motive" sind die „ S c h e m a t a " , ζ.B. eine gute Tat findet ihren Lohn, der Jüngste tut das Beste, die

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untergeschobene Braut. Als „prägnante" Motive legen sie einen Handlungsablauf fest; trotzdem sind sie nicht „Typen", sondern werden zu solchen erst durch die Kombination mit weiteren „konstitutiven Motiven" Die Fülle des Stoffes ist am leiditesten zu übersehen bei Joh. Β ο 11 e und Gg. Ρ ο 1 ί ν k a , Anmerkungen zu den 'Kinder- u. Haiismärchen' der Brüder Grimm. 5 Bde (1913-1932; zitiert: Bolte-Polivka); Bd. 4 u. 5 enthalten die Materialien zur Geschichte der M. und der M.-sammlung u. -forschung. Ergänzungen bei T h o m p s o n , The Folktale (1951), besonders für die nichteuropäischen M., in den Typenverzeichnissen und den Forschungsberichten. Die klassische Sammlung sind die Kinder- und Hausmärchen der B r ü d e r G r i m m . 3 Bde (1812-1822), zitiert: KHM. Die handschriftliche Urfassung wurde herausgegeben von Jos. L e f i t z (1927). Literatur bei K ö r n e r , S. 338-339. Siehe besonders Kurt S c h m i d t , Die Entwicklung d. Grimmschen 'Kinder- u. Hausmärchen' (1932; Hermaea 30) und Wilh. S c h o o f , Zur Entstehungsgeschichte d. Grimmschen Märchen (1959). Von neueren, mit Anmerkungen versehenen Sammlungen seien genannt: Waldemar L i u η g m a η , Sveriges samtliga folksagor i ord och bild. 3 Bde (19491952) und Kurt R a n k e , Schlesw.-Holsteinische Volksmärchen. 2 Bde (1955-1958; Veröff. d. Schlesw.-Holst. Univ.ges. NF. 14 u. 22). Das noch nicht publizierte Material ist vielfach in Spezialarchiven aufbewahrt, die in Skandinavien und Finnland zuerst aufgebaut wurden. Für Deutschland besteht ein „Zentralarchiv der dt. Volkserzählung" in Marburg. Ein lockerer „Folkloristischer Forscherbund" (Folklore Fellows) wurde 1907 gegründet; seine Publikationen erscheinen als Folklore Fellows Communications (FFC). Ein internationales Institut für Märchenforschung wurde nach dem letzten Kriege in Kopenhagen begründet. Daneben besteht die Gesellschaft zur Pflege des Märchengutes der europ. Völker (Schloß Bentlage bei Rheine in Westf.). Zu nennen ist noch die internationale Zeitschrift Fabula, Ζs. für Erzählforschung. Hg. v. Kurt R a n k e . Nebst Suppl. A. Texte, B. Untersuchungen (1957 ff.). Zur Stoffgesch.: Stith T h o m p s o n , Fassung (Variante), in: Handwb. d. dt. M.s. Bd. 2, S. 56-63. Antti A a r η e , Verzeichnis d. Mtypen (Helsinki 1910; FFC. 3); erweitert: A. Ä a r n e u. Stith T h o m p s o n , The Types of the Folk-Tale (Helsinki 1928; FFC. 74), zitiert: ATh. Nach dem gleichen System gibt es für eine Reihe von Ländern Typenverzeichnisse; siehe: T h o m p s o n , The Folktale (1951) S. 419-422 und R ö h r i c h I. Carl Wilh. v. S y d ο w , Geography and Folktale Oicotypes, in: Sydow, Selected Papers on Folklore (Copenhagen 1948) S. 44-59. Für die Erschließung literar. Traditionslinien vgl. be-

sonders Reinhold K ö h l e r , Aufsätze über M. u. Volkslieder (1894). Ders., Kleinere Schriften. Hg. v. Joh. Β ο 11 e. 3 Bde (18981900). B o l t e - P o l i . v k a , Anmerkungen. Joh. P a u l i , Schimpf u. Ernst. Hg. v. Joh. B o l t e . 2 Bde (1924; Alte Erzähler 1. 2.). Albert W e s s e 1 s k i , Märchen d. MA.s (1925). Stith T h o m p s o n , Motif-Index of Folk-Literature. Α Classification of Narrative Elements in Folktales, Ballads, Myths, Fables, Mediaeval Romances, Exempla, Fabliaux, JestBooks and Local Legends. 2. Aufl. 5 Bde nebst Index (Copenhagen 1951-1958). Eine Ubersicht über den Gesamtplan auch bei T h o m p s o n , The Folktale (1951) S. 488500. Zu den Arten der Motive: Albert W e s s e l s k i , Versuch e. Theorie d. M.s (s. § 1) und Carl Wilh. v. S y d o w , Selected Papers (s. oben). § 3. Herkunft, Alter und Schichten der M. Wichtig ist die Unterscheidung von Motiv und Typus bei der Beurteilung der Theorien über die H e r k u n f t der M. Die a n t h r o p o l o g i s c h e oder e t h n o l o g i s c h e T h e o r i e ist vorzugsweise der Erforschung der Motive zugewandt u n d betont ihre Polygenese aus gleichen geistigseelischen Anlagen der gesamten Menschheit. Die volkskundliche Untersuchung hat es darüber hinaus mit der Entstehung und Wandlung der Gattung „Märchen" u n d der einzelnen M.erzählung zu tun. Sie kommt dabei zur Begrenzung des Entstehungsbereiches der Gattung oder sogar zur Monogenese von einzelnen Erzähltypen oder Typengruppen aus bestimmten landschaftlich und zeitlich begrenzten Voraussetzungen. Die Verwandtschaft der Varianten wird dann erklärt entweder durch gemeinsames Erbgut aus einer Zeit vor der Trennung der Völker ( „ I n d o g e r m a n i s c h e T h e o r i e " ) oder durch Wanderang, d . h . durch kulturelle — mündliche oder schriftliche — Übertragung („Indische Theorie"; „Finnische Schule"). Während die romantische Theorie die Entstehung der M. auf den „schöpferischen Volksgeist" zurückführte, hat die Untersuchung der „Biologie" des Erzählens ganz allgemein zu dem Ergebnis geführt, daß Schöpfung und schöpferische Umwandlung nicht durch eine Gemeinschaft beliebiger Erzähler vollzogen wird, sondern durch schöpferische Einzelpersönlichkeiten. Auch f ü r die Übertragung von Volk zu Volk ist der Anteil Einzelner jetzt höher eingeschätzt, obwohl Volkswanderung und Umsiedlungen größeren Stils auch zu Mischungs-und Uber-

Märchen tragungsprozessen mit breiterer Basis geführt haben müssen. Das A l t e r d e r G a t t u n g „Märchen" wird — und hier zeigt sich der Einfluß der wechselnden Begriffsbestimmungen — außerordentlich verschieden geschätzt. Die Theorien bewegen sich zwischen jüngerer Steinzeit (v. Sydow) und dem späten MA. (Wesselski). Nimmt man die M. der Naturvölker hinzu und geht von einem Begriff aus, der nicht ausschließlich das neuere europäische Märchen zugrunde legt, so kommt man wohl am ehesten zu der Auffassung einer getrennten Entstehung in den einzelnen Kulturkreisen jeweils in einem Zeitpunkt, an dem die Fähigkeit dichterischer, verknüpfender und ausgestaltender Darsteltung sich über den einfachen Tatsachenbericht isolierter Begebenheiten erhob. Von der E n t s t e h u n g abzulösen ist der W a n d e l der Gattung nach Inhalt und Stil. Der geistige Wandel der Kulturkreise, das Entstehen von Schriftkulturen, das Einströmen fremden Erzählgutes mit seiner auflockernden, die Phantasie beflügelnden Wirkung wird keinen geringen Einfluß gehabt haben. Noch heute spricht der Bestand und Stil der M. der einzelnen Völker eine beredte Sprache. Ein anderes Problem ist das A l t e r d e s e i n z e l n e n M ä r c h e n t y p u s . Nur einen Terminus ante quem ergeben die ersten literar. Bezeugungen. Unbrauchbar ist im allgemeinen die Bestimmung durch einzelne Motive oder kulturelle Einzelzüge, sofem sie nicht konstitutiver Art sind. Vor allem ist festzuhalten, daß die Stufen des Volksglaubens, die im M. nachwirken, nicht in eine historische Entwicklung einzuordnen sind, sondern n e b e n einander weiterbestehen, ältestes Gut, wie ζ. B. der „Wiederkehrende Tote", bis in die Gegenwart. Es bleibt vorläufig nur die Möglichkeit, in Kombination mit den literar. Zeugnissen Thematik und geistige Haltung eines M.s zu befragen, wobei die hypothetische Urgestalt, Redaktionen und Varianten geschieden werden müssen; manchmal gibt die Einfuhr von fremdem Gut Aufschlüsse für die zeitliche Einordnung. Es ist ein sehr deutlicher Unterschied etwa zwischen der Gänsemagd (KHM 89), dem Bürle (KHM 61) und dem Gevatter Tod (KHM 44). Aber die Auffassungen

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gehen im Einzelnen doch weit auseinander. F. v o n d e r L e y e n setzt den König Drosselbart (KHM 52) in die Völkerwanderung, andre reihen ihn in die franz. Erzählkunst des späten MA.s ein. Berücksichtigt man die G e s a m t Verbreitung eines Typus, so verschieben sich die Verhältnisse zudem oft beträchtlich. Obwohl die „geographisch-historische Methode" der Finnischen Schule sich bemüht, auf Grund der Verbreitung und Häufung der Varianten zu Resultaten über das Ursprungsland von Typen zu gelangen, weichen die Auffassungen doch noch zu stark voneinander ab, als daß man ganz allgemein von einer Sicherheit dieser Methode sprechen könnte. Ein ausgezeichnetes Beispiel einer Alters- und Herkunftsbestimmung eines Typus und der Geschichte seiner inhaltlichen und geistigen Wandlung findet sich in W. A n d e r s o n s Untersuchung über den Schwank Kaiser und Abt (s. § 2), zu dem auch das deutsche „Hirtenbüblein" (KHM 152) gehört. Carl Wilh. v. S y d o w , Anthropologische M.theorie, in: Handwb. d. dt. M.s. Bd. 1, S. 79 f. Ders., Ethnologische M.deutung. Ebda, S. 630-632. — Indogermanische Theorie: Ihre Begründer waren die Brüder Grimm; siehe Β ο 11 e - Ρ ol i vk a , Bd. 5, S. 244ff. Für das „Wundermärchen" wurde sie erneuert von Carl Wilh. v. S y d o w , Folksagan säsom indoeuropeisk tradition. ArkfNordFil. 42 (1926) S. 1-19. — Indische Theorie: Theod. B e n f e y , Pantschatantra (1859): Indien als Ursprungsland der meisten M; schriftliche Ubertragung; siehe B o l t e - P o l i v k a , Bd. 5, S. 249-253 und Will-Erich P e u c k e r t in: Stammler Aufr. Bd. 3 (1957) Sp. 1787-1791. —• Finnische Schule: Antti A a r η e , Leitfaden der vergleichenden M.forschung (Hamina 1913; FFC. 13). Kaarle Κ r ο h η , Die folkloristische Arbeitsmethode (Oslo 1926; Inst. f. Sammenlignende Kulturforskning B,5). Will-Erich P e u c k e r t , in: Stammler Aufr. Bd. 3 (1957) Sp. 1794-1798. Walter A n d e r s o n , Ceographisch-historische Methode, in: Handwb. d. dt. M.s. Bd. 2, S. 508-522. Obwohl die Finnische Sdiule an Indien als Ursprungsland vieler M.festhält, betont sie im Gegensatz zu Β e η f e y und seinen Anhängern die mündlidie Übertragung. — Lutz M a c k e n s e n , Alter des M.s, in Handwb. d. dt. M.s. Bd. 1, S. 50-53. Bei Völkern mit spät einsetzender Schriftkultur sind die frühsten literar. Belege von geringer Bedeutung für die Ermittlung des wirklichen Alters der M. Eine zeitliche Schichtung der dt. M. versudit Friedr. v. d. L e y eη in seiner Ausgabe der KHM (1912); sie ist abgedruckt bei B o l t e - P o l i v k a Bd. 4, S. 463-466.

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§4. A u f b a u und D a r s t e l l u n g s s t i l . Es ist ein verbreiteter Irrtum, daß Stilanalyse lediglidi auf Grund beliebiger gedruckter M.sammlungen möglich sei. Audi hier ist das Wissen um die „Biologie des Märchens" von Bedeutung, der Einblick in die Arten der Erzählerpersönlichkeiten, ihr Verhältnis zum Inhalt und ihre Erzählhaltung, Umkreis und Gelegenheiten des Erzählens, die Vorstellungswelt von Erzähler und Hörer. Stilformen sind nicht deutbar ohne Kenntnis der zugrunde liegenden Denkform. Noch mehr als bei der stofflichen ist bei der Stiluntersuchung zu unterscheiden zwischen originalen und vom Herausgeber bearbeiteten Märchen. Grad und Art der Bearbeitung können verschieden sein: moralisierend, ironisierend, ergänzend und glättend. Der Erzählstil W. Grimms ist nicht ohne Einfluß gewesen auf spätere, auch nichtdeutsche Publikationen. Bei neueren Sammlungen (Hertha Grudde, Plattdt. Volksmärchen aus Ostpreußen, 1931; Angelika Merkelbach-Pinck, Lothringer Volksmärchen, 1940) ist der Einfluß auch anderen Lesestoffs nachzuweisen. Neben den originalen Erzählungen können bearbeitete nur mit Vorbehalt zur Ergänzung herangezogen werden. Das M. in seiner ganzen räumlichen Verbreitung und historischen Entwicklung weist stärkere Stilunterschiede auf, sogar innerhalb Europas (man vergleiche etwa die franz. mit den irischen M.), als es neuere literarhistorische Arbeiten wahr haben wollen. Trotzdem lassen sich gewisse Grundzüge allgemeinerer Geltung aufstellen. Sie sind nicht sämtlich spezifisch für das M.; vielmehr zeigen sich gleiche Erscheinungen, ζ. B. Einsträngigkeit, Darstellung ausschließlich durch Handlung, Formelhaftigkeit, auch im frühen dt. Epos; andere, wie flächige Darstellung mit geringer Binnenzeichnung, Mangel an Perspektive, Zeichenhaftigkeit, auch in der frühen Buchillustration und im frühen Holzschnitt. Die Verwandtschaft deutet auf eine Gleichartigkeit der Denkformen hin, die auch für das Problem der wechselseitigen Beeinflussung von Volks- und literar. Dichtungsformen von Bedeutung ist. 1. Grundzug des Aufbaus ist die Begrenzung und Konzentration. Ihr wesentlichstes Mittel ist die „Einsträngigkeit" der Hand-

lung (Olrik), in der alle Elemente — abgesehen von seltenen Nachholberichten—zeitlich gereiht werden. Das Verbindende dieses Stranges ist das Erleben der Mittelpunktsfigur (Olrik: Konzentration um eine Hauptperson), auf die hin alle handlungsnotwendigen Nebenfiguren als Helfer oder Gegner, ergänzend oder kontrastierend, zugeordnet werden; eingeführt werden sie nur für die Strecken, in denen sie die Handlung weitertreiben. Nur nach Abschluß der Haupthandlung wird gelegentlich die Bestrafung des Gegners, die Belohnung oder Erlösung des Helfers abrundend berichtet. Nur von einer „ideellen Einsträngigkeit" kann man in den seltenen, vielleicht durch sekundäre Erweiterung entstandenen Fällen sprechen, in denen die zweiteilige Handlung vom Erlöser auf den Erlösten übergeht, der nun zum Erlöser wird (ζ. Β. KHM 192). An der Konzentration auf die Hauptperson nehmen alle Handlungselemente teil (Olrik: Gesetz der Logik). Auch in ihrer Häufung in umfangreicheren M. fügen sie sich dem Spannungsbogen ein, der vom Einsetzen der Handlung in einer für das M. spezifischen (nicht rationalen oder psychologischen) Folgerichtigkeit zu ihrem Ziel führt. Erreicht wird die Spannung dadurch, daß dem „Helden" ein Ziel gesetzt wird, das er durch Lösung von Aufgaben und Uberwindung von Schwierigkeiten erreichen kann. Trotz des Einbaus in den Spannungsbogen werden die Episoden in einer gewissen Isolierung verwendet, jeweils in dem Augenblick, indem sie für die Handlung gebraucht werden. Dieser Verkapselung der Episoden (Lüthi, S. 49) wirkt aber eine gewisse Verklammerung entgegen, z.B. wenn der Lösung einer Aufgabe Nichtlösungen vorausgehen oder eine Handlung erst nach Abschluß einer Zwischenhandlung zu Ende geführt wird. 2. Märchen ist „Gemeinschaftsdichtung" (vgl. unten § 5). So sehr auch am Anfang und in den wesentlichen Neugestaltungen späterer Stufen der dichterisch begabte Erzähler schöpferisch tätig ist, so sehr ist er in seinen Denk- und DarsteUungsformen gebunden an Denken und Darstellung seiner Gemeinschaft. Diese Bindung, die im MA. auch im Bereich des Literarischen stärker oder schwächer wirksam ist — der „Formel"

Märchen inhaltlicher oder formaler Art entziehen sich selbst die größten Dichter nicht —, gilt für die gesamte Entwicklungsgeschichte des M.s bis in die Gegenwart. Gemeinschaftsgut inhaltlicher Art, also formelhaft, sind die „Motive"; aber sie werden in die Handlung eingeschmolzen, d. h. sie werden nur insoweit und in der Form gebraucht, als sie für die jeweilige Handlung nötig sind. Das hindert spätere Erzähler nicht, Überkommenes durch Eigenes zu ersetzen, besonders im dekorativen Bereidi. Gemeinschaftsgut sind ebenso die „Typen"; sonst wäre ihre Weitergabe über Länder und Zeiten nidit möglich. Zu den Inhaltsformeln treten die „formalen Formeln", solche des Eingangs, des Abschlusses, der Uberleitung, die im einzelnen freilich von den Erzählern ausgewechselt werden. Der Begriff des Formelhaften ist — in einem erweiterten Sinne — auch anwendbar auf die Gestalten. Sie sind — ebensowenig wie im älteren Epos — Individualgestalten, sondern „Typen": der König, die Prinzessin, das Mädchen, der Jüngste, die Fleißige, der Faule; sie braudien nur „genannt" zu werden, um schon fertige Gestalt zu sein. Auch bei den Gegenständen genügt die bloße Benennimg (Lüthi, S. 33); nur wenig anschaulicher werden sie durch die formelhaften Beiwörter. 3. Mit der Formelhaftigkeit verwandt ist die Z e i c h e n h a f t i g k e i t . Wie in der romanischen Buchillustration und im frühen Holzschnitt gibt die Darstellung vorwiegend feste Konturen; eine Binnenzeichnung findet sich nur dort, wo sie handlungsmäßig notwendig ist. Allerdings gilt diese Erscheinung nidit ohne Ausnahme. Zeichenhafte Darstellung und Darstellung durch Handlung bewirken, daß die Figuren, auch die „Helden", nicht als runde Gestalten erscheinen, daß das Geistig-Seelische, Wünsche, Entschlüsse, Sorgen, nur angedeutet wird, wo es ein Geschehen auslösen oder abschließen soll. Zur Biologie der mündlichen Überlieferung: Gottfried Η e η ß e η , Überlieferung u. Persönlichkeit (1951; Sehr. d. Volkskde-Ardi.s Marburg 1). Will-Erich P e u c k e r t , in: Stammler Aufr. Bd. 3 (1957) Sp. 1806-1808. R ö h r i c h II, S. 313-315. — Im Wordaut der Erzähler wiedergegebene M. finden sidi — und audi

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dort nur zum Teil — in Sammlungen des 20. Jh.s. Aufschlußreich sind audi die urspriinglidi unpublizierten oder in Archiven aufbewahrten Aufzeichnungen der Brüder Grimm, von J. R. Bünker, R. Pramberger, W. Wisser, G. F. Meyer. Angaben dazu in den Forsdiungsberichten. — Zu Formproblemen: Max H a u t t m a n n . Der Wandel d. Bildvorstellungen in d. dt. Dichtung u. Kunst d. roman. MA.s. Festschr. H. Wölfflin (1924) S. 63-81. Kurt W a g n e r , Wirklichkeit u. Schicksal im Epos d. Eilhart o. Oberg. ArdifNSprLit Bd. 170 (1936) S. 161-184. Axel O l r i k , Εpische Gesetze d. Volksdichtung. ZfdA. 51 (1909) S. 1-12. Ders., Νogle Grundsaetninger for Sagnforskning, hg. v. H. Ellekilde (Copenhagen 1921). Walter A. B e r e n d s o h n , Epische Gesetze d. Volksdichtung, in: Handwb. d. dt. M.s. Bd. 1, S. 566-572. Diedridi D r e w e s , Epische Gesetze im dt. Volksmärchen. (Masch.) Diss. Marburg 1944. Friedr. v. d. L e y e n , Zum Problem der Form beim M. Festschr. H. Wölfflin (1924) S. 41-46. Rob. P e t s c h , Wesen u. Formen d. Erzählkunst (2. Aufl. 1942; DVLG., Budir. 20). Max L ü t h i , Das europäischeVolksmärchen (Bern 1947). — Zur Eingangsformel siehe B o l t e - P o l i v k a B d . 4, S. 13 ff.; zu den Übergangsformeln ebda, 5. 21 ff. Zu den Sdilußformeln: R o b . P e t s c h , Formelhafte Schlüsse im Volksmärchen (1900) und B o l t e - P o l i v k a Bd. 4, S. 24ff. Formelhaft sind audi die Zahlen von drei an. § 5. W e s e n u n d E n t w i c k l u n g d e s M ä r c h e n s . Im Gegensatz zur „Sage", die ein tatsächliches Einzelerlebnis in möglichst engem Anschluß an die reale Wirklichkeit wiederzugeben trachtet, gibt das M. in seinen Hauptformen eine Geschehenskette, in deren Mittelpunkt der Erlebende, der „Held", steht und die daher zum Biographischen tendiert, d. h. zu einer Darstellung seiner Taten und Erlebnisse in der entscheidenden Epoche seines Lebens. Diese Ausgestaltung enthält schon von ihren ersten Anfängen an die Tendenz zur Loslösung vom wirklich Geschehenen und zur dichterischen Abrundung. Wie aus erhaltenen Resten hervorgeht, wird diese Reihung im Anfang locker gewesen und erst durch die zurechtschleifende Tradition zu der geschlossenen und in einem Spannungsbogen verlaufenden Form entwickelt worden sein, wie sie Westasien und Europa aufweisen. In der Entwicklung von den „Urmärchen" zu den „Vollmärchen" wird der Austausch zwischen den Völkern, wie er in der weiten Verbreitung der „Typen" deutlich wird, ebenso eine Rolle gespielt haben wie die Abwandlung überkommener Typen durch Geist und kul-

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turelle Entwicklung der Einzelvölker und die Bereicherung der Volksmärchen durch Stoffe und Themen aus dem Kreis der Buchkultur. Mit dieser dichterischen Ausgestaltung war eine Umgestaltung der Motive, eine Stilisierung für den epischen Zweck verbunden. Trotzdem zeigt die Motiwerwandtschaft und das Uberwechseln zwischen den Erzählgattungen, das noch bis in die Gegenwart stattfindet, wie eng in den Anfängen die Erzählgattungen beieinanderstanden, und daß die Divergenz erst einem späteren Entwicklungsstadium angehört. Deutlich wird das noch an Zwei anderen Problemen. Allzu häufig wird beim M. der glückhafte Ausgang als w e s e n h a f t angesehen. Aber auch hier zeigen bei Naturvölkern, im orientalischen und europäischen M. erhaltene Reste, daß auch das Gegenteil nicht fehlte. Die Bevorzugung des glücklichen Schlusses scheint erst einer sekundären Entwicklung anzugehören, die in den einzelnen Kulturkreisen durch ganz verschiedene Impulse ausgelöst wurde. Die eine der allgemeinen Ursachen ist die divergierende Entwicklung von M. einerseits, Mythus und Heldensage andererseits. Auch hier zeigen die M. der Naturvölker, daß es eine grundsätzliche, von Anfang an bestehende Scheidung nicht gibt. Gegen die primäre Scheidung von Mythus und M. spricht schon der urtümliche Anthropomorphismus in der Auffassung der übermenschlichen Gestalten, ihr Verkehr und ihre Verbindung mit den Menschen, was noch bis in die späteren, religiös und poetisch gesteigerten Mythen nachwirkt. Eng verwandt ist dem M. ursprünglich auch die Heldensage. Erst die Ausbildung einer kriegerischen „Gesellschaft" rückte die Heldensage durch ihre geistige und poetische Stilisierung und Vertiefimg, vor allem auch im tragischen Sinne, vom M. ab. Weder im dichterisch geformten Mythus noch in der Heldendichtung ist immer mit Sicherheit zu entscheiden, ob Motive, die wir sonst im M. antreffen, Reste alten Zusammenhangs oder spätere Einlagerungen sind. Umgekehrt hat auch das M. Motive aus Mythus und Heldensage übernommen. Die andere allgemeine Ursache ist die Lockerung des Verhältnisses von „objekti-

ver" Wirklichkeit und Märchengeschehen. Sie verläuft in den Kulturkreisen, Völkern, Landschaften verschieden. Noch bis in die Gegenwart setzen sich die Gegensätze bis in die Erzählerpersönlichkeiten fort. Auch heute noch gilt dem Erzählenden vielfach das M. als Wirklichkeit nicht mehr des Heute und Hier, sondern des Früher und Irgendwo, aber eben als ein Mögliches. Freilich ist diese „Möglichkeit" — und das ist das Entscheidende — nicht von der Art, daß sie jedem Menschen erreichbar wäre. Erreichbar ist sie nur dem „Helden", dem vom Schicksal zu einem Handeln und Erleben „Erwählten", das sich über die Norm erhebt. In diesem Sinne kann (mit Lüthi) von einer „Isolierung des Helden" gesprochen werden. Aber das M. stellt ihn zugleich hinein in das All mit seinen vielfältigen Kräften und Möglichkeiten, in dem die Gegensätzlichkeit der Ebenen — Jenseitiges, Menschliches, Natur — als eine auf den Helden bezogene Harmonie episch stilisiert wird. In dieser „ g e s t e i g e r t e n W i r k l i c h k e i t " liegt der primäre Reiz des M.s. Von je her lockte es zu erzählen, was ein „Held" vollbringt und was ihm zufällt. Daß sein Erfolg bis ans Ende durchhält, ist die in der Wirklichkeit ja nicht seltene, aber zugleich auch die den Hörer am meisten befriedigende und darum bevorzugte dichterische Ausgestaltung. Daß sie nicht die einzige Lösung war, die man für erzählenswert hielt, ist oben angedeutet. Und nicht nur den Tüchtigen und Guten begnadet das Schicksal; das Glück neigt sich auch dem Verkannten zu, ja selbst dem im objektiven Sinne Nicht-Guten und dem Faulen. Die Handlung entwickelt sich also nicht im Sinne einer „naiven Moral" Viel eher kann man von einer „doppelten Moral" sprechen; das Urteil über den „Helden" und seine Gegner ist nicht das gleiche. Die Handlung und ihr Ziel ist der Moral übergeordnet. Das schließt nicht aus, daß die „Helden" einer großen Anzahl von M. ethischen Veranlagungen oder Impulsen folgen. Daß ein außerordentliches Schicksal auch „unterhält", ist nur selbstverständlich. Aber es verschiebt die Gewichte, wenn man darin den eigentlichen Zweck und primären Wesenszug des M.s sehen will. Davor sollte der Wirklichkeitsgehalt der M. ebenso warnen

Märchen wie die „Magie des Erzählens" Erst einer Kultur, die sich von beiden gelöst hat, ist das M. n u r Unterhaltung. Ebensowenig ist das „Vollmärchen" eine „einfache Form" im Sinne von A.Jolles, in der noch „die Sprache selber dichtet" Volksmärchen ist „Gemeinschaftsdichtung" Der soziologische Begriff der „Gemeinschaft" muß freilich, sollen wir zu einer auch für die historischen Stufen des M.s anwendbaren Begriffsbestimmung kommen, losgelöst werden von der soziologisch-geistigen Stufung des 19. Jh.s, die mit dem Gegensatz einer schöpferischen, rationalen Oberschicht und einer primitiven, nur rezeptiven Unterschicht arbeitet. Die Entwicklung dieser Stufung verläuft nicht geradlinig divergent, der Abstand wechselt ebenso wie die Grenzstellen. Ebenso wie beim „Volkslied" ist auch beim „Volksmärchen" der Kreis der an Schöpfung, Weitergabe und Umgestaltung Beteiligten bald größer, bald kleiner, um erst in der Gegenwart, verschieden nach Ländern und Landschaften, zu schrumpfen und sich aufzulösen. Das Märchen ist weder „Wunschdichtung gedrüdcter Schichten" noch „Buchdichtung", so bedeutungsvoll auch der Einfluß literar. Gestaltungen im einzelnen Falle gewesen ist, und so sehr auch das soziale Absinken der Erzählerschicht in der Gegenwart manches verschiebt. Paul H a m b r u c h , Südseemärchen (1916; MWL.) S. XVIII. Käte M ü l l e r - L i s o w s k i , Irische Volksmärchen (1923; MWL.), Vorw. v. Jul. P o k o r n y , S.V. — Der Begriff „Urmärchen" wird — nicht immer in gleicher Weise — verwendet von Η. Η ο η t i, Andr. Η e u s 1 e r , Friedr. v. d. L e y e η, Rob. Ρ e t s c h. — Zu Typen bei Einzelvölkem: August L ö w i s of M e n a r , Der Held im dt. u. im russ. M. (1912). Ernst T e g e t h o f f , Die Dämonen im dt. u. franz. M. Schweiz. Ardi. f. Volkskde 24 (1923) S. 137-166. Ders., Franz. Volksmärch. Bd. 2 (1923; MWL.), Einl. Elisab. Koechlin, Wesenszüge d. dt. u. franz. Volksmärchen (1945; Basler Stud. ζ. dt. Spr. u. Lit. 4).—Zum „glücklichen Sdiluß": er ist vielfach sekundär; vgl. zu KHM 47 (Machandelboom) die Urfassung bei Wilh. S c h ο ο f , Neue Urfassungen Grimmscher Märchen, Hess. Bll. f. Volkskde 44 (1953) Nr. 1 (Stiefmutter), und die beiden Varianten bei Hertha G r u d d e, Plattdt. Volksmärchen aus Ostpreußen (1931) Nr. 27 (De Steefmuttä) und 44 (Vogelke): in allen drei Varianten wird das ermordete Kind nidit wieder lebendig. Eine besondere Gruppe bilden die „Kinderwammärchen",

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die in der ursprünglichsten Form in den KHM durch Nr. 43 (Frau Trude) vertreten ist: das Kind findet im Haus der Hexe den Tod. In anderen „Kindennärdien" scheint der glückliche Sdiluß erst nachträglich angefügt zu sein; vgl. dazu R ö h r i c h II, S. 311 f. und R ö h r i c h , M. mit schlechtem Ausgang. Hess. Bll. f. Volkskde 49/50 (1958) S. 236-248. — Erich Β e t h e , Mythus, Sage, Märchen (1905). Hans Η ο η t i, Volksmärchen u. Heldensage (Helsinki 1931; FFC. 95). Jan de V r i e s , Betrachtungen zum M., besonders in seinem Verhältnis zu Heldensage u. Mythos (Helsinki 1954; FFC. 150). — Kurt W a g η e r , Zu d. Grundlagen u. Formen d. Stils d. Volksdichtung u. ihrer Nachbargebiete. Hess. Bll. f. Volkskde 30/31 (1931/32) S. 187-202. Ders., Formen d. Volkserzählung (1938; GießBtrDt. Phil. 60) S. 250-260. Wül-Erich Ρ e u c k e r t , in: Stammler Aufr. Bd. 3 (1957) Sp. 1773-1775. Lutz R ö h r i c h , M. u. Wirklichkeit (1956). Max L ü t h i, Das europäische Volksmärchen (Bern 1947) S. 62 (Isolierung u. Allverbundenheit). Andre J o l l e s , Einfache Formen (1929) S. 240ff. — Zur Ethik des M.s: Paul G r o t h , Die ethische Haltung d. dt. Volksmärchens (1930; Form u. Geist 16). Lutz M a c k e n s e n , Dieb, in: Handwb. d. dt. M.s. Bd. 1, S. 386-389. Lutz R ö h r i c h, Die Grausamkeit im dt. M. Rhein. Jb. f. Volkskde 6 (1956) S. 176-224. Paul S a r t ο r i, Erzählen als Zauber. ZfVk. 40 (1931) S. 40-45. — Zur M.kenntnis und Einstellung zum M. vgl. die Zeugnisse zur Geschichte der M. bei B o l t e - P o l i v k a Bd. 4, S. 41-94. Aufsdilußreidi ist auch die Verwendung von M. und M.motiven in literar. Denkmälern (s. Kunstmärchen). §6. T e i l g r u p p e n u n d S o n d e r f o r m e n . Die mehrepisodigen, durchkomponierten Erzählungen, in deren Mittelpunkt ein menschlicher „Held" mit seinen wunderbaren Erlebnissen steht, stehen so sehr im Vordergrund der Forschung, daß man „Zaubermärchen" und „Märchen" zuweilen fast identifiziert. Trotzdem behauptet sich daneben eine selbständige Gruppe, die „ N o v e l l e n m ä r c h e n " oder „Romantic Tales", deren Handlung ohne Motive des Zaubers aufgebaut ist, wie ζ. B. König Drosselbart (KHM 52, ATh 900), Die kluge Bauerntochter (KHM 94, ATh 875), Der Räuberbräutigam (KHM 40, ATh 955). Zweifellos sind manche Erzählungen dieser Gruppe jüngerer Herkunft, wie die Prinzessin in der Erdhöhle (KHM 198 Jungfrau Maleen, ATh 870), ein Märchen, für das die Entstehung im 13.Jh. nachgewiesen werden konnte. Andere Erzählungen sind wesentlich älter. Und auch bei den Naturvölkern fehlt die ausschließlich im menschlichen Bereich

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Märchen

spielende Erzählung nicht. Das „Novellenmärchen" wird also gleichfalls zum ältesten Bestand gehören und die Bezeichnung „romantisch" nur für gewisse spätmal. Stoffe zutreffen. Die Grenze zwischen den beiden Teilgattungen ist nicht scharf; Glaubensmotive sind mit wechselnder Bedeutung auch im Novellenmärchen zu finden (KHM 179 Die Gänsehirtin am Brunnen, ATh 923; KHM 199 Die Stiefel von Büffelleder, ATh 952). Gattungsmäßig ganz uneinheitlich ist die große Gruppe von Erzählungen, für die die Bezeichnung „ T i e r m ä r c h e n " üblich ist. Während sie bei den Naturvölkern (die zwischen Mensch und Tier keine Grenze ziehen) in der Hauptsache zu den „Zaubermärchen" gehören, haben sich bei den Völkern Westasiens und Europas die Tiererzählungen nach verschiedenen Richtungen entwickelt. Ein Teil von ihnen sind Natursagen, die die Existenz oder die Erscheinungsformen eines Tieres, einer Pflanze zu erklären suchen (KHM 172 Die Scholle; KHM 173 Rohrdommel und Wiedehopf; mit legendärem Einschlag KHM 210 Die Haselrute). Als lehrhafte Erzählung wurden sie zur „Fabel", die durch literar. Tradition weitergegeben wurde, aber nur selten in mündlicher Überlieferung begegnet (KHM 176 Die Lebenszeit; KHM 171 Der Zaunkönig). Besonders reich entwidcelt ist die Gruppe der „Tierschwänke", in denen trotz aller Scherzhaftigkeit das lehrhafte Element erkennbar ist, ebenso auch der Einfluß von Fabel und Tierepik, besonders in den Erzählungen von der Feindschaft zwischen Wolf und Fuchs. Im Aufbau unterscheiden sich die meisten Tiererzählungen schon dadurch von den eigentlichen Märchen, daß sie kürzer und einfacher gebaut sind. Meist umfassen sie eine oder zwei Episoden, und nur selten ist eine Erzählung breiter aufgebaut (ζ. B. KHM 27: Die Bremer Stadtmusikanten). Nicht umfangreich und dennoch uneinheitlich ist der Kreis der sogenannten „ L e g e n d e n m ä r c h e n " A. Aame nennt sie (S. 33) „Legendenartige Märchen", Thompson setzt dafür (S. 117) „Religious Stories". Nur wenige Erzählungen sind Heiligenlegenden im christlichen Sinne: KHM 204 (Armut und Demut führen zum Himmel) ist der Alexiuslegende nachgebildet; KHM 31

(Das Mädchen ohne Hände) zeigt Berührungen mit der Genovefa-Legende. Bei anderen Märchen (ζ. B. KHM 201: Der Heilige Josef im Walde; KHM 3: Marienkind) sind die christl. Motive spätere Zutat. Wieder in anderen Fällen sind vorchristl. Motive in christliche umgewandelt, Sagen- und Legendenmotive und solche aus spätmal. Dichtungen verwendet, unter denen auch Schwankmotive keinen geringen Anteil haben. Der „Schwank" ist keine einheitliche Erzählgattung. In den M.Sammlungen begegnet er vor allem in zweierlei Gestalt. Die eine umfaßt die Charakterschwänke, die die Folgen einer Eigenschaft, meist Faulheit oder Dummheit, in hyperbolischer Stilisierung erzählen (ζ. B. KHM 59: Der Frieder und das Catherlieschen). Als „ S c h w a n k m ä r c h e n " kann man dagegen nur die Erzählungen bezeichnen, die Aufbauformen und Motive des Märchens verwenden, allerdings in einem Sinne, der von der Auffassung des M.s abweicht (KHM 64: Die goldene Gans; KHM 61: Das Bürle). Eine Sonderform ist das „ L ü g e n m ä r c h e n " (KHM 158, 159). Die konsequente Umkehrung der Wirklichkeit in ihr Gegenteil weist auf bewußte Erfindung, die bis in die attische Komödie zurückführt. Uberhaupt ist bei den verschiedenen Formen des Schwanks stark mit literar. Einflüssen zu redinen. Erwähnt seien schließlich noch die „ F o r m e l m ä r c h e n " Es sind das pseudoepische Formen, die nur gelegentlich eine epische Einleitung geben. Die wichtigste Gruppe sind die Kettenmärchen (ζ. B. KHM 80: Von dem Tode des Hähnchens). Dem Aufbau nach ursprünglich wohl rituelle Gedächtnisstütze, sind sie, in neuerer Zeit meist mit scherzhaftem Inhalt, vor allem im Kinderlied und Kinderspiel heimisch.

Albert W e s s e l s k i , Versuch e. Theorie d. M.s (s. § 1). Kurt W a g n e r , Formen d. Volkserzählung (s. § 5). Carl Wilh. v. S y d ο w ,

Kategorien

d. Prosa-Volksdichtung.

Volks-

kunde Gaben J. Meier z. 70. Geb. dargebr. (1943) S. 253-268. T h o m p s o n , The Folktale (1951) S. 21-271. — Zum Novellenmärdien: Waldemar L i u n g m a n , En Tradi-

tionsstudie over Sagan om Princessan t Jordkulan. 2 Tie (Göteborg 1925). Leo F r o b e -

ni us,

Spielmannsgeschichten

der

Sahel

(1921; Atlantis 6) S. 142 ff., 145 ff. Carl

Μ e i η h ο f, Afrikanische

Märchen (1927;

MWL.) S. 261 ff., 275 ff. — ZumTiermärdien:

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Märchen — Mariendichtung reiches Material bei Oskar D ä h n h a r d t , Natursagen. 4 Bde (1907-1912). Vgl. audi W e s s e l s k i , Versuch, S. 37ff. — Zum Legendenmärchen: Heinr. G ü n t e r , Psychologie d. Legende (1949) S. 6-9.—Zum Schwankmärchen: Ludw. Felix W e b e r , M. u. Schwank. Diss. Kiel 1904. T h o m p s o n , The Folktale (1951) S. 188-217. — Zum Formelmärchen: Martti H a a v i o , Kettenmärchenstudien. 2 Tie (Helsinki 1929-1932; FFC.88.99). A. T a y l o r , Formelmärchen, in: Handwb. d. dt. M.s. Bd. 2, S. 164-191. Albert W e s s e 1 s k i , Das Märlein von dem Tode d. Hühnchens u. andere Kettenmärlein. Hess. Bll. f. Volkskde 32 (1933) S. 1-51. Kurt Wagner Maere Das Wort M., mhd. daz m., häufig im PI. diu m. gebraucht und daher nhd. fem., bedeutet ursprünglich 'Kunde', 'Bericht', dann deren poetische Ausgestaltung, also etwa soviel wie unser 'Erzählung'. Es ist die allgemeine Gattungsbezeichnung für die mhd. erzählende Dichtung; gleichmäßig bedienen sich ihrer das Nibelungenlied (vgl. dessen letzte Strophe), der Parzival (dem diz maere wart erkorn 112, 12), Strickersche btspel und Heiligenlegenden. Der Gegensatz dazu wäre in der klassischen Zeit liet, die lyrische Strophe; doch war nach vielen Belegen der frühmhd. Zeit (ζ. B. dem Prolog zur Kaiserchronik und nach der Schlußstrophe einer großen Gruppe von Nibelungenhss.) der ältere Ausdruck für umfassende epische Dichtungen ebenfalls liet. Maere ist jedenfalls immer erzählend, berührt sich also mit der (nur höfischen) aventiure (s. d.), erfährt aber, wie J. Grimm hervorhebt, keine förmliche Personifikation, wenn auch Wendungen wie daz maere brach üf, flouc, wuohs u. ä. nicht selten sind. Maere kann auch wie aventiure und (der dafür häufigste mhd. Terminus) daz buoch die 'Quelle' bedeuten; Als uns daz maere seit ist eine verbreitete Bekräftigungsformel für die quellenmäßige Wahrheit eines Berichtes. Daneben steht wie aventiure so auch maere in der Bedeutung 'Erfindung' im Gegensatz zu der absoluten historischen Wahrheit, so schon in Alberts Ulrichsleben (um 1200) V. 53: Diu warheit, niht ein maere saget. Dann ist das Wort von 1500 ab verschwunden und fast nur noch in Luthers Weihnachtsliede Vom Himmel hoch da komm ich her bekannt, bis es im letzten Drittel des 18. Jh.s im Kreise der Göttinger Hainbund-

dichter wieder auflebt, ohne aber — im Gegensatz zu Märchen — ein rechtes Eigenleben zu entfalten. In neuerer Zeit hat man gelegentlich auf die alte Wortwurzel zurückgegriffen aus zwei Gründen: Einmal wollte man der Sprache damit einen altertümlichen Anstrich verleihen, und zweitens suchte man bewußt oder unbewußt die aus romanischem Sprachgebrauch eingedrungene Bezeichnung 'Novelle' zu vermeiden oder den Begriff 'Novelle' (s. d.) schärfer zu fassen dadurch, daß man bestimmte Kurzerzählungen (wie ζ. B. Schwänke) eben nicht als 'Novellen' bezeichnete. Dabei erscheint dann je nachdem das Wort M. als gleichbedeutend mit 'Novelle', oder es bezeichnet etwas Wesensverschiedenes. Man vergleiche Buchtitel wie Erzählungen und Schwänke (von Hans Lambel, 1872, Dt. Klassiker d. MA.s 12), Das gut alt Schwankbuch. Das ist: Artige Mären und lose Schwänklein (von E. v. Wolzogen, 1919), Deutsche Liebesmären (von Fritz Gerathewohl, 1922). Gust. Rosenhagen gab 1934 in der AdtTextbibl. (Bd. 35) Mären von dem Stricker heraus, die man wohl einheitlich als Schwänke bezeichnen möchte; und das Neue Gesamtabenteuer (Bd. 1, 1937) nennt die Stüdce, die es enthält, Mären und Schwänke. So schwankt der Sprachgebrauch noch, und das Wort M. spielt für die Bestimmung des Wesens der Novelle als rein literarisches Wort nur eine Hilfsrolle. Heinrich

Niewöhner

Mariendichtung § 1. Grundlagen. — Die dt.sprachige M. ist Ausdruck der Marienfrömmigkeit und -Verehrung, die sich im Abendland um Jh.e später entfaltete als das Mariendogma, die Mariologie. Mariendichtung setzt das seit der Väterzeit ausgebildete mariologische Wissen und Verständnis voraus, baut aber nicht an ihm fort. Die sparsamen Nachrichten der hl. Schrift über die Mutter Jesu ergeben keine Vita. Die Dogmenbildung knüpfte in der Ostkirche seit Ignatius, Justinus, Irenäus und Origines und in der Westkirche seit Hippolyt und Leo d. Gr. an das Luc. I, 26-38 berichtete Verkündigungsgeschehen an. Alle Würde als Mutter, Jungfrau, Erbsündenfreie, Mittlerin und Himmelskönigin leitet sich aus diesem Geschehen her. Der Name der θεοτό-

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Mariendichtung

κος kommt Maria seit der Synode von Ephesos 431 zu, die den Nestorianerstreit abschloß und audi die leibliche Himmelfahrt zur Lehrmeinung erhob. Die volkssprachliche M. ist stofflich in der Hauptsache der frühesten relig. Dichtung um Maria, den neutestamentiichen Apokryphen, verpflichtet, die für die Folge dort am stärksten fruchtbar werden, wo der Kanon schweigsam ist. Das griech. sog. ProteOangelium Jacobi (2. H. d. 2. Jh.s), das besonders in den lat. Bearbeitungen des Ps.-Matthäus-Evangeliums und des Evangelium denatwitateMariae (5. Jh.) dem Abendland bekannt wurde, ist die früheste Marienvita. Sein erbaulicher Bericht ist für die Wort- und Bildkunst des ganzen MA.s die Grundlage: die Erzählung von den Eltern Marias, der Geburt, Kindheit, den wundersamen Tugenden, der Arbeit im Tempel, der Verbindung mit Joseph durch das Staborakel, der Verkündigung und der Reinigung vom Verdacht der Unkeuschheit durch ein Gottesurteil, der Geburt Jesu in einer Höhle mit dem Hebammenzeugnis von Marias unverletzter Jungfräulichkeit. Dieser Nachweis war die eigentliche dogmatische Tendenz der apokryphen Schriften. Die in dem Protevangelium vorgebildete dogmatische Mitte, die aus der Reinheit des Wesens aufsteigende und durch Gelübde bekräftigte Virginität, welche dem MA. Gegenstand unerschöpflichen Lobpreises war, ist nach den großen Verteidigungsschriften des Hieronymus (De perpetua virginitate BM) und Ambrosius (De institutione virginis) durch die theologische Autorität A u g u s t i η s befestigt und für die ganze mal. Mariologie entschieden worden. Eine eigentliche Marienheortologie, die ebenfalls Voraussetzung der M. ist, entwikkelte sich im Ausbau des Verkündigungsfestes (25. März) langsam in den Gebieten der Westkirche seit dem 7. Jh. Die Formularien des gelasianischen und gregorianischen Sakramentars zu diesem Tage lassen die zu Anfang noch stärkere christologische Bezogenheit (ζ. B. Annunciatio Dominicae Incarnationis) erkennen. Vom 8.-13. Jh. gab es vier Marienfeste: Reinigung (2. II.), Verkündigung (25. III.), Himmelfahrt (15. VIII.) und Geburt (8. IX.). Das Kleine Offizium an Samstagen wurde von Odo von Cluny und seinen Nachfolgern propagiert, wie über-

haupt erst der im Zuge eines allgemeineren liturg. Interesses sich verstärkende Marienkult der kluniazensischen und verwandter Reformbewegungen die Voraussetzungen für eine M. in der Volkssprache schuf. Eine stärkere Berücksichtigung Marias in den Teilen der Messe, so die Nennung vor allen Heiligen im Confiteor, ist erst das Anliegen der benediktinischen Neuorden, vor allem der Zisterzienser (Generalkapitel 1184). Der Geist bernhardischer Marienverehrung wird hier liturgisch wirksam. Franziskanischer Initiative entsprang das Fest der Heimsuchung (2. VII.), das erst allgemein seit 1389 begangen wurde. Franziskanische Inbrunst wird am deutlichsten in der Marienverehrung des späteren MA.s sichtbar. Folge der Vermehrung der Marienfeste im Kirchenjahr ist die Ausbreitung der Μ a r i e η ρ r e d i g t. Es ist vor allem das Bild-, Symbol- und Gedankengut der Predigt, das in der Dichtung verarbeitet wird. Den noch vereinzelten Marienpredigten aus der Väterzeit, des Hrabanus Maurus und Walahfrid Strabo und anderer Prediger der Karolingerzeit steht die reife Fülle im 12. Jh. gegenüber (Honorius von Augustodunum, Rupert von Deutz, Gotfrid von Admont, Bernhard von Clairvaux, Hugo von St. Victor u. a.; vorbereitend: Anselm v. Canterbury). Mit dem 12. Jh. setzte auch zögernd die dt.sprachige Marienpredigt ein. Seit der Bettelordenpredigt des 13. Jh.s, häufig dt. gehalten und lat. aufgeschrieben, drang in der Form des Märleins oder Exempels (s. d.) der Legenden- und Mirakelreichtum auch hier ein. Zu den bedeutenden Marienpredigern des 13. Jh.s gehörte Bonaventura. Die Verkrustung, Verkünstelung oder auch hypertrophische Bilderfülle, welcher die dt. M. des späteren MA.s leicht verfiel, ist die volkstümlichere Entsprechung zur Mariologie der Scholastik. Albertus Magnus formte, auch wenn wir ihm das Mariale jetzt absprechen müssen, als erster die Marienlehre des Thomismus. Mit und nach ihm wurde in unzähligen Traktaten das Verkündigungsmysterium 'erkenntniskritisch', d. h. in bezeichenlidier Auslegung analysiert und in seinen Form- und Motivteilen durchfunktionalisiert. Hier ist die typologische Ausdeutung (s. Typologie), zu der in der Frühpatristik Justinus mit der Gegenüberstellung Eva —

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Mariendichtung Maria den Anstoß gegeben hatte, am umfassendsten durchgeführt. Sie spendet bereits durch das ganze MA. der M. die Symbolik (z.B. Gedeons Vließ, der lodernde, aber nicht verbrennende Dornbusch Mosis usw.). Die Marienmystik sah seit Bernhard von Clairvaux in der nahen Innigkeit, die von Maria zu Jesu waltet, die höchste Leistung einer geistigen Gottesnähe symbolisiert. Maria wurde Vorbild der deificatio, das Verhältnis zu Gott wurde in der Sprache des cant. cant, umschrieben, und die sponsa des Hohenliedes bot sich als der alttestamentliche Typus Marias an (nach Ambrosius wieder Rupert von Deutz). Die mariologische Deutung des cant. cant, besaß ihre Wurzeln sowohl in der Exegese wie in der Liturgie. Der mystische Traktat und die mystische Predigt des 14. Jh.s verbanden dann, das Symbolverhältnis durch die Identifikation überholend, Maria mit der gottliebenden Seele (z.B. Meister Edchart). DieM. hat aus dieser in Traktat und Predigt erarbeiteten Nähe zur Hohenlied- und unio-Mystik sprachlich und in der Bildkraft die reifsten Früchte gewonnen. Mariologie: Michael S c h m a u s , Mariologie (1955; Schmaus: Kath. Dogmatil· 5); Lit., S. 385-399. Maria Elisabeth G ö ß m a n a , Die Verkündigung an Maria im dogmatischen Verständnis d. MA.s (1957); Lit., S. 294-303. — Texte z. Geschichte d. Marienverehrung u. Marienverkündigung in d. Alten Kirche. Ausgew. durdi Walter D e 1 i u s (195Θ; Kl. Texte f. Vorlesgn u. Ubungn 178). — Marienverehrung: Stephan Β e i ß e 1, Gesch. d. Verehrung Marias in Deutschland während d. MA.s (1909), als Materialzusammenstellung immer noch brauchbar. Apokryphen: Evangelia apocrypha, ed. C. v. T i s c h e n d o r f (2. Aufl. 1876). Apocalypses aprocryphae, hg. v. dems. (1866) [Ps.Melito,'s. u. § 3, dort S. 124-136], Los Evangelios Apocrifos. Colecciön de textos griegos y latinos, version critica, estudios introductorios, comentarios ... por Aurelio de S a n t o s O t e r o (Madrid 1956; Biblioteca de autores cristianos 148). Die apokryphen Schriften zum Neuen Testament. Übers, u. erl. v. Wilh. M i c h a e l i s (1956; Samml. Dieterich 129) S. 62-95 (mit neuerer Lit.). Augustin: Phil. F r i e d r i c h , Die Mariologie des hl. Augustinus (1907). Meßliturgie: Odo C a s e l , Offizium u. Messe d. hl. Jungfrau.· Jb. f. Liturgiewiss. 2 (1922) S. 74. Josef Andreas J u n g m a n n , Missarum sollemnia. Bd. 1 (3. Aufl. 1952) S. 391. Predigt: Otto B a r d e n h e w e r , Marienpredigten aus d. Väterzeit (1934). Fragment eines frühmhd. Predigtwerks [Marienpredigten], veröff. v. Reallexikon II

Gerhard Eis. JEGPh.49 (1950) S. 549-556. Scholastik: Anton S c h u l t e r , Die Marienlehre d. ausgehenden 13. u. beginnenden 14. Jh.s. Diss. Münster 1938 (Teildr. aus: Theol. Quartalschrift 118, H . 3 u . 4 ) . B . K u i o s a k , Mariologia S. Alberti Magni eiusque coaequalium (Romae 1954). F. Ρ e i s t e r , Zwei Untersuchungen über d. literar. Grundlagen für d. Darstellung e. Mariologie d. hl. Albert d. Gr. Scholastik 50 (1955) S. 161-173. Albert Fries, Die unter d. Namen d. Albertus Magnus überlieferten mariolog. Schriften (1954; Beitr. z. Gesch. d. Philos. u. Theol. d. MA.s 37, 4), zum Mariale. Symbolik: Hippolytus M a r r a c c i u s , Polyanthea mariana (Cöln 1683; Ed. nov. 1710), ein Wb. d. Mariensymbole, das auch die Patrologie berüdcsichtigt. Heribert S c h a u f , Der brennende Dornbusch. Vom Mariensymbol d. hl. Schrift bei d. Vätern (1940). Anselm S a 1 ζ e r , Die Sinnbilder u. Beiworte Mariens in d. dt. Lit. u. lat. Hymnenpoesie d. MA.s. Progr. Seitenstetten 1886-1894. Mystik: Dominique Ν ο g u e s , Mariologie de S. Bernard (Paris 1935). J. L e c l e r c q , St Bernard et la devotion medievale envers Marie. Revue d'ascetique et de mystique 30 (1954) S.361-375. Alois D e m p f , Die Mystik Bernhards von Clairvaux u. s. Marienbild. Wissensdi. u. Weltbüd 7 (1954) S. 163-168. — Friedr. O h l y , Hohelied-Studien (1958), umfassende Aufarbeitung der Hohenlied-Tradition; S. 125-128 die mariolog. Auslegung des Rupert von Deutz. Johannes Β e u m e r , Die marianische Deutung d. Hohenliedes in d. Frühscholastik. Zs. f. kath. Theol. 76 (1954) S. 411-439. — Honorius, Sigillum s. Mariae. Migne PL. 172, 495-518 (erläutert für die Folgezeit die Maria als sponsa). § 2. Volkssprachliche Zeugnisse vor Einsetzen einer eig. Mariendichtung. — Im as. Η eliand war die Mariengestalt im biblischen Rahmen geblieben; Reinheit, leibliche Schönheit und edle Abkunft sind ihre hervorragenden Attribute. Die augustinische Auslegung von Luc. I, 34, dem Helianddiditer durch Beda bekannt, blieb in ihrer dogmatischen Tragweite unverstanden. Auch vom gelehrten Ο t f r i d wurde der Rahmen nicht gesprengt, obwohl sich mit der spinnenden Maria (Apokrypheneinfluß) und der leidenden Mutter unter'dem Kreuz (IV. 32) zukunftsträchtige Ansätze erkennen lassen. Entfaltet ist die Gestalt der Gottesmutter in der compassio einer neuen, subjektiveren Frömmigkeit der Frau A v a um 1120. Verkündigung und Klage unter dem Kreuz sind die Höhepunkte für das menschlich-innige Mitleben. Vielleicht gehört Frau Ava auch, in das Epos eingebettet, unser erstes deutschsprachiges Marienlied. H e i n r i c h s Lita18

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Mariendicbtung

nei (G 219,1-223,21 S 197-402) und die Vorauer Sündenklage (8-290) enthalten ausgedehnte Mariengebete, in denen in dringlicher Unmittelbarkeit die mediatrix angerufen wird. Hier zuerst klingen in dt. Spradie um die Jh.mitte die Mariensymbole in der Reihung auf. Das den Vorauer Mosesbüchern in der Hs. angehängte Marienlob wirkt neben den beiden Gebeten schwächer. Der sich nun auch im selbständigen Mariengebet bezeugende Andaditskult kann hier bis in die ganze spätere Breite hinein nicht verfolgt werden. Es interessieren nur die frühesten erhaltenen Stücke; von Anfang an stehen Vers (Clm 19463) und Prosa (Engelberger cod. I 5/21, Upsalaer cod., cod. Vat. lat. 4763; sämtl. 12. Jh.) nebeneinander. Daß es meist Nonnengebete sind, hat sicher praktische Gründe (Lateinunkenntnis), deutet aber auch auf die Träger früher Marienverehrung.

Denn in adligen Nonnenzirkeln muß man sich wohl auch die mystische Auslegung zuerst gepflegt denken: Das St. Trudperter Hohelied (um 1150) preist in der sponsa (entgegen Williram und Bernhard von Clairvaux) auch die Jungfrau als das Vorbild mystischer Einung, das zur Nachfolge aufruft (43, lf.). Maria ist das Morgen- und Abendrot (87, 19 ff.; 100, 14 ff.), das vor und nadi der hohen Sonne Christus strahlt. Audi der Verfasser der Allegorie Die Hochzeit erfolgt (ab v. 794) der interpretatio mystica. F. P. P i c k e r i n g , Christi. Erzählstoff bei Otfrid u. im 'Heliand'. ZfdA. 85 (1955) S. 262-291. Rieh. K i e n as t, Ava-Studien. ZfdA. 74 (1937) S. 12-35 (zum Marienlied). Vorauer Marienloh in MSD Nr. 40. Helmut R i e d -

l i n g e r , Die Makellosigkeit d. Kirche in d. lot. HL.-Kommentaren a. MA.S (1958; Beitr. z. Gesch. d. Philos. u. Theol. d. MA.s 38, 3) S. 202 ff.

§ 3. Ε ρ i k (Viten und Himmelfahrtsdichtungen). Wie schwer Vita von Legende im heutigen Verstände zu scheiden ist, zeigt bereits die früheste diditerische Marienvita, ca. 935 von der Gandersheimer Nonne H r o t s v i t i n lat. Hexametern verfaßt. Die Quelle ihrer Historia nativitatis . Dei genitricis ist Ps.-Matthäus (s. § 1) und ihr gedanklicher Kern die bewahrte Jungfräulichkeit, also ein typisches Legendenthema. Die Szene, in der Maria der Heiratsforderung des Priesters den festen Willen zur Keuschheit entgegensetzt, wird damit zur inneren Mitte des Stückes. Der gleichen Quelle wie Hrotsvit erzählt 1172 der Pfaffe W e r η h e r

in Augsburg sein Marienleben nach. Es ist trotz novellistischer Kleinmalerei (reizvolle Verbindung von pseudo-altjüdisdiem Apokryphenkolorit mit der neuen, aufs Plastische drängenden weltbildlidien Haltung der zweiten Jh.hälfte) noch liturgisch-theozentrisch, steht stilistisch predigerhafter Rhetorik und der Lyrik des Hymnus nahe. Von allen späteren Viten hebt es sich durch beherrschte Zurückhaltung gegenüber den struktursprengenden Mirakelreihungen ab. Es gehört zu den reifsten Schöpfungen dt. M. überhaupt. Eine Überarbeitung um 1200 (D) zeigt höfische Züge und Einfluß bernhardischer Mystik. Die gleiche Quelle wie Wernher wird noch ein verlorenes Marienleben eines Meisters Heinrich (12. Jh.) gehabt haben. Ihr folgt von den späteren noch K o n r a d von F u ß e s b r u n n e n mit seiner Kindheit Jesu (um oder nach 1200), der audi Wernher kannte und sich auf Heinrich als Vorgänger beruft. Die gepflegte, an Hartmann geschulte Glätte gibt der M. hier zuerst etwas vom Ton legendenhafter Novellistik. Der Erzähltyp bleibt aber trotz dem neuen Klassizismus gegenüber dem höfischen Epos abgesetzt. Eine innere, die Erzählstücke aufeinander beziehende Struktur bleibt im Ansatz stecken; und gegenüber der Artusmärchenwelt steht das geistl. Epos auf der Seite einer wirklidikeitsnäheren Kunst. Bis auf das Grazer Marienleben (um 1250), das teilweise (v. 1-432) nach dem Ps.-Matthäus erzählt, ist sonst die Quelle aller späteren Darstellungen die glanzvolle, von einem Deutschen in lat. iambischen Septenaren zu Anfang des 13. Jh.s abgefaßte Vita BMV et salvatoris rhythmica, ein im einzelnen noch nicht analysiertes Sammelbecken von apokryphem Material. Neben demProtevangelium sind u. a. das Kindheitsevangelium des Thomas, die 3 lat. Zweige des Ps.Melito und der Abgarbriefwechsel enthalten. Hier wird zum ersten Male, für die Folgezeit wichtig, das epische Zeitband entwertet zugunsten einer Fülle von austauschbaren oder audi fortlaßbaren, gereihten Erzählstüdcen und deskriptiven Gliedern. Deren ganz innerweltliche und 'gotische' Freude am minutiös gesehenen Gestalt- oder Ausstattungsdetailmuß in ihrer Auswirkung auf die Marienikonographie des späten MA.s noch untersucht werden. Die Vita stellt Stoff-

Mariendichtung

und Formtypen bereit, die sich verselbständigenkönnen: als legendäre Kleinerzählung, als lyrischer Lobpreis der königlichen Herrlichkeit, als dramatisierte Klage (der zweite Schwerpunkt der Marienvita, die Klage unterm Kreuz, ist hier voll entfaltet [v. 5004 ff.]). Ein langes Gesprächsstück zwischen Mutter und Sohn (v. 3450-3621) ist nicht eigentlich dramatisch, sondern stellt sich zum Typus der Weisheits- und Ursprungserfragung in der Wissensdichtung. Der Steiermärker Mönch Andreas Kurzmann hat es um 1400 in Reimpaaren übersetzt (Soliloquium Marie cum Jhesu). Die lat. InterrogatioStiAnselmi (Ende 12. Jh.), welche typologisch die Anregung gegeben haben kann, und der sog. Bernhardstraktat (s. u. § 6) sind noch stärker episch gerichtet. Der Frager will dort Bericht, nicht Wissen.

Unter den von der Vita abhängenden Marienleben ist das (fragm.) Grazer um die Mitte des 13. Jh.s das früheste. Das bair. Werk steht in der gleichen Hs. wie Konrads von Heimesfurt Marien Himmelfahrt (s. u.). Etwas jünger ist das umfangreiche Marienleben des aus Bremgarten in der Nordschweiz stammenden W a l t h e r v o n R h e i n a u (nachweisbar 1278). Er hält sich außergewöhnlich eng an die Quelle. Wo er abweicht, geht es meist um theologische Vertiefung, ebensowenig wie sonst in der Marienepik aber um allegorische oder typologische Deutung. Mit der Quelle und den anderen Ableitungen teilt Walther die volkstümliche Auffassung, daß Gabriel dem Chor der Seraphim zugehört (wie auch Dante [Par. XXXII, 94 ff.] Gabriel der Himmelskönigin unmittelbar zuordnet): der heilsgeschichtliche Aspekt ist stärker als das dogmatische Wissen um überweltliche Hierarchien — ein für die Einschätzung der Marienepik wichtiger Zug. Überhaupt wirft die Verbreitungsweise des künstlerisch freiesten Werkes, des Marienlebens von der Hand des für den Deutschen Orden schreibenden Kartäusers Philipp (zwischen 1300 und 1316), Licht auf die Funktion dieser Kunst. Bei sonst sparsamer Uberlieferung kennen wir hier bisher über 88 Hss., ein Zeichen, wie ein korporatives Publikum die dt. Fassung einer (beim Orden übrigens auch selbst beliebten) lat. Vita gleichsam 'kanonisieren' und durchsetzen konnte. 9 Hss. überliefern nur Auszüge (Himmelfahrt, Passion oder das Soliloquium), an-

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dere binden mit dem Evang. Nicodemi des Heinrich von Hesler, mit Konrad von Fußesbrunnen, mit einer Ubersetzung der Interrogatio Anselmi oder mit Passionsevangelientexten zusammen oder arbeiten Teile der Vita in Heinrichs von Neustadt Von Gottes Zukunft oder in die Weltchronik des Heinrich von München ein; daneben Kürzungen, Ausweitungen, Kombinationen der verschiedensten Art. Das heißt: eine solche Dichtung hat stark ausgeprägten Materialiencharakter, Gebrauchswert. Sie empfiehlt sich nicht so sehr durch dichterischen Eigenwuchs, sondern durch vielseitige Verwendbarkeit. Das muß in Verbindung mit den gemeinschaftlich organisierten Abnehmerkreisen gesehen werden. Die späteste Vita ist die des Schweizers Wernher („nicht lange vor 1382"), getreue und innerlich beteiligte Übersetzerarbeit eines Außenseiters, nur in einer schwäb. Hs. überliefert. Die Kreuzholzlegende hat Wernher dem Bestand der Quelle zugefügt. Die dt. Bearbeitungen der Himmelfahrt gliedern sich in zwei Gruppen, durch Quelle und Auffassung des Stoffes unterschieden. Bis an die Grenze der Biographik führen die Fassungen nach der Vita rhythmica, da ihr Thema — die auf die Annunciatio hingeordnete und -stilisierte Ankündigung des baldigen Todes durch den Engel, das Hinzutreten des Johannes und der Apostel, die Auffahrt in den Himmel durch die Stufen der Engelchöre mit jeweiligen Begrüßungen und gemüthaftem Wiedersehen mit Anna, Josef usw. bis zum Gipfelpunkt eigenen himmlischen Königtums — mehr auf Lobpreis als auf Bericht zielt. Bei zwei bruchstückhaften Marienleben, dem mittelrheinischen und dem Königsberger (dieses s. u.), ist nur bzw. im wesentlichen die Himmelfahrt erhalten. Beim mrhein. war kaum jemals das Ganze geplant (vgl. v. 19-23). Was es gibt, will es, ebenso wie das ostmdt. Büchlein von der Himmelfahrt Mariae (Ende 13. Jh.), als genaue Ubersetzimg derVifa geben. Die Ausstrahlungskraft von Philipps mdt. Marienleben nach Niederdeutschland wird in dem schwer zu datierenden mnd. Gedicht Van unser frowen hemmeluart (im sog. Hartebok überliefert) deutlich, wo das epische Element fast ganz von Preis und Gebet aufgesogen ist. Die andere Gruppe folgt der 18·

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Mariendichtung

lat. Tradition (De transitu MV) eines griech. Apokryphs, des sog. Pseudo-Melito (4.-5. Jh.). Hier herrscht ein künftig das Darstellungsniveau mitbestimmender handfester Mirakelmechanismus. Die Quelle ist (in einem sachlich abweichenden Strang: Β 2) am frühesten benutzt in der summarisch erzählenden Mittelfränkischen Reimbibel (v. 239-294; vor 1150 entst.), die freilich gerade die szenenbildenden Teile (Angriff des „Judenbischofs" auf die Bahre Marias; der zu spät kommende Thomas, der aber als Beweisstück, d a ß er die assumptio mitansehen durfte, Schleier oder Gürtel der Gottesmutter vorweisen kann) ausspart. Gefühl f ü r Szene, Raum und Bewegung bei sonst nicht großem Talent hat K o n r a d v o n H e i m e s f u r t (zwischen 1225-50) im Epos Von unser vrowen hinvart, das neben d e m Transitus Β 2 noch der Legendentradition des Ps.-Cosmas Vestitor folgt. Des Vorbilds Konrads nicht unwürdig ist die rheinfrk. Himmelfahrt (13. Jh.), die einen weiteren heilsgeschichdichen Rahmen spannt (Weltalterlehre), die Klage unterm Kreuz kontrapunktisch zur ewigen F r e u d e ausbaut u n d im Schlußpreis u m den Minnebegriff kreisend 'blümt'. D e n darstellerischen H ö h e p u n k t dieser Branche b e d e u t e t der Bericht in der Erlösung, wo mystischer Einschuß die krasse Stofflichkeit mildert. Auch noch ins 13. Jh. gehört das aus d e m kölnischen R a u m stammende Königsberger Marienleben. Die Prosaberichte des lat. u n d dt. Passionais (s. u. § 4) verbinden ebenso wie Konrad die Quelle mit der Ps.-CosmasTradition. Mariendichtung: Franz Alfred H o f s t e t t e n , Maria in d. dt. Dichtung d.MA.s (1895; Frankf. zeitgemäße Broschüren NF. 16, 6). Paul K ü c h e n t h a l , Die Muttergottes in d. adt. schönen Litt, bis zum Ende a. 13. Jh.s. Diss. Göttingen 1898. A. K o b e r , Zur Geschichte d. dt. M. ZfdU. 28 (1914) S. 595-619; 691-700. Herrn. S c h η e i d e r , Dt. M. RGG 3 (2. Aufl. 1929) Sp. 2011-2013. Adolf B a c h , in: Das Rhein. Marienlob (1933; BiblLitV. 281) S. XXII-LXIV. Hilde G a u 1, Der Wandel d. Marienbildes in d. dt. Dichtung u. bildenden Kunst vom frühen zum hohen MA. Text- u. Bildbd. (Masch.) Diss. Marburg 1949. Ausgaben u. Monographien: H r o t s v i t , Opera, ed. Karolus S t r e c k e r (2. Aufl. 1930) S. 3-30. Hugo K u h n , Hrotsvits von Gandersheim dichterisches Programm. DVLG. 24 (1950) S. 186 f. — Priester Wernhers 'Maria', hg. v. Carl W e s 1 e (1927). Ulrich P r e t z e l , Studien zum 'Marienleben' des Pr. W. ZfdA. 75 (1938) S. 65-82. Ders., in: VerfLex. 4 (1953)

Sp. 901-910. Hans F r o m m , Untersuchungen zum 'Marienleben' des Pr. W. (Turku 1955; Ann. Univ. Turkuensis B, 52). Ders., Quellenkritische Bemerkungen zum 'Marienleben' des Pr. W. (Helsinki 1954; Ann. Acad. Scient. Fenn. B, 84, 18). — K o n r a d v. Fußesbrun nen, Die Kindheit Jesu, hg. v. Karl K o c h e n d ö r f f e r (1881; QF. 43). Emil Ö h m a n n , 'Die Kindheit Jesu' Ks. v. F. u. Priester Wernhers 'Maria'. ZfdA. 65 (1928) S. 195-200. — Vita beate virginis Marie et Salvatoris rhythmica, hg. v. A. V ö g t l i n (1888; BiblLitV. 180). Andreas K u r z m a n n , in: Anton S c h ö n b a c h , Über d. Marienklagen (Graz 1874). S. 71-83. — Grazer 'Marienleben', hg. ν. Α. E. S c h ö n b a c h . ZfdA. 17 (1874) S. 519-560. — Das 'Marienleben' Walthers von Rheinau, hg. v. Edit P e r j us (2., verm. Aufl. Abo 1949; Acta Acad. Aboensis. Hum. 17, 1). Gabriel: Gößmann (oben § 1) S. 254. — Bruder Philipp, des Cartäusers 'Marienleben', hg. v. Heinrich R ü c k e r t (1853; Bibl. d. ges. dt. Nat.-Lit. 1, 34). Zu den Hss.: Lydia G a i 1 i t , Ph.s 'Marienleben'. Diss. München 1935. Ludwig D e n e c k e , in: VerfLex. 3 (1943) Sp. 880-891. — Das 'Marienleben' d. Schweizers Wernher, hg. v. Max Ρ ä ρ k e u. Arthur H ü b n e r (1920; DTMA. 27). — Friedr. G ü η d e 1, Bruchstücke e. mittelrhein. 'Marienlebens'. ZfdA. 68 (1931) S. 233-243. — Das 'Marienleben' d. Königsberger Hs. 90S hg. v. Diemut H i n d e r e r . ZfdA. 77 (1940) S. 108-142. — Zu Prosaviten vgl. Wolfgang S t a m m l e r , in: Stammler Aufr. Bd. 2 (2. Aufl. 1958 ff.) Sp. 766-768. — Van vnser frowen hemmeluart, in: W a c k e r n a g e l KL. II, Nr. 399-406. — 'Mariae Himmelfahrf von Konrad von Heimesfurt hg. v. Franz P f e i f f e r. ZfdA. 8 (1850) S. 156-200. (Bruchstüdce genannt bei H. d e Β ο ο r II, 388.) Albert L e i t zmann, Bemerkungen zu Konrad von Heimesfurt. ZfdA. 67 (1930) S. 273-284. — Mfrk. Reimbibel, in: Mhd. Übungsbuch, hg. v. Carl von Κ r a u s (2. Aufl. 1926; GermBibl. 3, 2) S. 1-27. — [Rheinfrk.] Marien Himmelfahrt, hg.v. W e i g a n d . ZfdA. 5 (1845) S. 515-564. — Franz E b b e c k e , Untersuchungen zur 'Innsbrucker Himmelfahrt Mariae'. Diss. Marburg 1929 (überblickt die Entwicklung der Himmelfahrtsdichtungen im MA.). — Ps. - Μ e 1 i t o v o n S a r d e s , Liber de transitu Mariae [ = Β 1], in: Apocalypses apocryphae, ed. C. v. T i s c h e n d o r f (1866) S. 124-136. Heinrich L a u s b e r g , Zur Uterar. Gestaltung des Transitus BM. Histor. Jb. 72 (1953) S. 25-49. Monika R e i n i s c h , Ein neuer Transitus Mariae des Ps.-Melito. (Masch.) Diss. München 1955 (krit. Text von Β 2, Gegenüberstellung von Β1 und 2, quellengesthithtlidi orientierte Ubersicht über die mhd. u. mlat. Himmelfahrtsbearbeitungen). — C. P i a n a , Assumptio BVM apud scriptores saec. XIII (Sibenici 1942). § 4. Die L e g e n d e (genauer: das Marienmirakel) spricht von der mater misericordiae u n d Himmelskönigin, von der die

Mariendichtung Legende — im Gegensatz zum geistl. Spiel — weiß, daß der Sohn ihr keine Bitte abzuschlagen vermag. So sind legendäre Vita (§ 3) und Legende in der Auffassung geschieden: virgo-mater und regina coeli. Auch der in Sünden Verstrickte kann durch Verehrung Marias Fürsprache gewinnen. So ziehen viele Legenden aus dem Spannungsmoment von unfrommem weltlichen Treiben und vertrauensvoller Hingabe an die mater amabilis den poetischen Reiz (was später Theobul Kosegarten und Gottfried Keller für ihre „Legenden" nutzten). Die dt. Marienlegenden gehen fast durchweg auf lat. Vorbilder zurück, die seit dem 11. Jh. nahezu ausschließlich in der Form von Sammlungen weitergereidit wurden. Damals bereits waren viele ursprünglich einem anderen Heiligen zugehörende Motive auf die Gottesmutter übertragen. Die Herausbildung der dt. Legende gehört dem 13. Jh. an, da sie eine ausgebreitete Laienfrömmigkeit, die Tätigkeit der Bettelorden, überhaupt eine zunehmende Spiritualisierung der Andachtsfrömmigkeit sowie die 'spätgotische' Neigung voraussetzt, ein Ereignis aus einem vorgegebenen und mitgedachten allgemeinen Zusammenhang zu isolieren und es pointierend in kleiner Form zu runden. Die Legende ist noch weniger als die gewöhnlich als Reimpaarepos auftretende Vita form- oder gattungsgebunden. Der Anteil der Prosa ist bedeutender als dort; der Umfang, dem episodischen Inhalt entsprechend, gewöhnlich geringer. Die Großform ist hier die Summe, das Legendär; damit erhält die singulär geschaffene (und auch überlieferte) Versiegende den besonderen Akzent des künstlerischen Anspruchs. Zu den beliebtesten Mirakeln gehörte die alte oriental. Erzählung von dem durch die Fürsprache Marias geretteten Teufelsbündler Theophilus. Bei Hrotsvit von Gandersheim (s. § 3) steht sie als Reimlegende ebenso wie die Marienvita in der 1. Sammlung. Quelle ist die von dem Diakon Paulus von Neapel im 9. Jh. hergestellte Ubersetzung des Berichts bei Metaphrastes. Aus der gleichen Quelle schöpft die Historia Theophili in gereimten Hexametern aus dem 11. oder Anfang des 12. Jh.s, ein dürres opus, das man lange dem Marbod von Rennes zusprach. In Deutschland wird die Geschichte fast zu

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gleicher Zeit (Mitte des 12. Jh.) in lat. und dt. Verse gebradit: in den Versus de vita Theophili des Rahewin von Freising, die in der komplizierteren Verskunst französischen Einfluß aufweisen, und als exemplum in des A r m e n H a r t m a n n Rede vom Glauben. Im 13. Jh. zeigt Niederdeutschland mit B r u n v o n S c h o n e b e c k sein Interesse für den Stoff, und dort wird er auch im 14. und 15. Jh. in verschiedenen Fassungen dramatisiert (liegt hier ebenso franz. Einwirkung vor: Rutebeuf, Mitte 13. Jh.?), die dann ihrerseits noch Dietrich Schernbergs Spiel von Frau Jutten (1480) vorbereitet haben. Es ist weniger die Mächtigkeit der Peripetie, die das MA. das dramat. Element in der Legende finden läßt, als die Potenz, mit der die Wunderkraft der regina sich am Sichtbaren und Greifbaren äußert. Die umfänglichste Sammlung von Legenden bietet das 1. Buch des Passionais (ca. 1280—1300). Ihm liegt in der Hauptsache die Legenda aurea des Jacobus a Voragine zugrunde, aber der dt. Dichter, in dem man einen Franziskaner vermutet hat, fügt die wahllose Folge seiner Vorlage zu einem ordo naturalis, bei welchem den Mirakeln die Geburt Mariens, Verkündigung, Heilandsgeburt, Epiphanie und Marientod voraufgehen. Die unbewußte Leistung des Verfassers besteht darin, daß er in der Nachfolge Konrads von Fußesbrunnen (oben § 3) gegenüber dem manieristischen Preis-Typus, dem die Mode gehörte (unten § 5), die Darstellungsform novellistisch-schmuddoser Vergegenwärtigung behauptet. So wirken das Marienlob und die Klage, in Reimpaaren geschrieben und nicht in der Quelle vorgegeben, in der Geschichte ihrer Dichtungsart wie Außenseiter. Ließe sidi das Passional als Deutschordensdiditung (s. d.) sidiem, was bisher nicht gelungen ist, würde der Orden für die M. damit eine zentrale Stellung behaupten. Maria genoß besondere Verehrung beim Orden, dem die 1128 gegründete Bruderschaft des St.-Marien-Hospitals zu Jerusalem voraufging und der von seinem eigentlichen Stifter, dem Barbarossa-Sohne Friedrich von Sdiwaben, der Gottesmutter geweiht wurde. Der Prolog der

Ordensstatuten nennt ihn Heiliger ritterlicher orden des spitals sente Marten von dem tut-

schen huse. öfter werden die Ritter nur kurz

Marienritter genannt (Altes Pass. v. 143, 66;

Väterbuch v. 40 794). Beim Jüngsten Gericht stehen sie zusammen als Rotte, der die Gna-

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Mariendichtung

denentscheidung gewiß ist. Das Symbol der Kulturleistung und Machtenfaltung des Ordens wurde das Castrum Mariae, die Marien-

burg. Angesichts so reichen Kultes sind die dichterischen Zeugnisse schmal, wenn man vom Passional absieht. Lobe und Gebete finden sich zwar öfter verstreut (ζ. B. Hiob v. 108 ff.), und Anregungen mögen mancherlei ausgegangen sein; doch in die nüchtern-ernste, kraftvolle Streiter-Vorbilder zeichnende Ordensepik paßt sich M. nicht leicht ein, und das einzige Lied, das wir vom Orden besitzen, stammt vom Beilsteiner Leutpriester Conradus Burer aus d. J. 1493! Bruder Philipps Marienleben ist nicht eigentlich Ordensdichtung, sondern Gabe eines nicht zur Gemeinschaft Gehörenden an den Orden. In lockerem Verhältnis stand wohl auch der Dichter des ursprünglich ndrhein. Königsberger Marienlebens (§ 3) zum Orden, wie sich aus dem Weg der Hs. ergibt. Das erste gereimte dt. Marienmirakel scheint (Ende 12. Jh.) die Legende vom Bischof Bonus zu sein, bei deren lat. Versionen der Typus beständiger als der Name ist. Zum Typus gehört auch die weit unbeachteter gebliebene Legende Thomas von Kandelberg. Nur wenig jünger dürfte die Legende vom Jüdel (Judenknaben) sein, zu deren weiter abendländischer Verbreitung Gregor von Tours verhalf, der zu den ersten Berichtern von Marienwundern gehört (Gloria martyrum I, 10). In Prosa steht das Jüdel (fragm.) in einer alem. Hs. d. 12. Jh.s, als Predigtexempel auch im Speculum ecclesiae (Mitte 12. Jh.). In die zeitliche und räumliche Nähe des Passionaldiditers ist die Legende Heinrichs des Klausners zu setzen, in der ein Schüler von Maria vor die Wahl zwischen irdischem und himmlischem Glanz gestellt wird. Zu den interessantesten Stükken rechnet der Frauentrost von Siegfried dem Dörfer (Ende 13. Jh.?), weil der Selbstmord in ihm eine Rolle spielt und das Wunder ins Psychologisch-Ethische gewandelt erscheint. Uber die zutage liegenden Motiv-, Struktur- und Stilparallelen zwischen der Legende und der Novelle bzw. dem Schwank fehlt dringend eine Untersuchung. Uberliefert finden sich der weltliche und der geistliche Typus nicht selten nebeneinander. Auch 'Kontrafakturen' lassen sich finden. Dem humoristischen plötzlichen Umschlag im Schwank entspricht der unvermutete Einbruch der Überwelt in Form des sinnfälligen Mirakels. Wie weit das MA. selbst unterschied, ist unsicher. In Heinridis Legende, die sich mit der Heidin, dem brechen leit und Alten Weibes List zusammen in der Pommeisfelder Hs. 2798 findet, heißt

es: Heinrich Clüzenere Der toil uns aber ein mere Durch kurzewile machen (v. 45-47). Ein Beispiel für eine Unterscheidung zwischen fablel und miracle bietet andererseits der afranz. Clerc de Rome. Jedenfalls ist anzunehmen, daß die Marienlegende wie die Heiligenlegende überhaupt an der Entwicklung des Typus der Kleinerzählung Anteil hat. Erst wenn sich deren Metamorphosen übersehen lassen, wird man auch für die Legende Näheres sagen können. Besondere Wichtigkeit wird dann Mischtypen von der Art des Armen Ritters zukommen, die novellistischen Erzählstoff mit legendärer Motivik durchsetzen. Zur Volkskunde gehört die Frage, wie weit es ein aus Volksfrömmigkeit gespeistes unterliterar. Leben der Marienlegende im Spätma. gegeben hat. Was wir an Texten besitzen, läßt sich jedenfalls durchweg auf lat. kodifizierte Vorbilder oder wenigstens Typen zurückführen. Lat. Marienmirakel: G r e g o r von Tours, Gloria martyrum (in: Opera, ed Arndt u. Krusch II, 1885, S. 451-561). P s . - B o t o von Prüfening, Liber de miraculis dei genitricts Mariae (um 1150; hg. in P e z , Agnetis Blannbekin vita [1731] S. 303 ff.; neuer Abdr.: Thomas Frederick C r a n e [Ithaca 1925]; 43 Mirakel). P e t r u s V e n e r a b i i i s von C l u n y , Miracula (um 1150; hg. Migne PL. 189, 851-954). C a e s a r i u s von H e i s t e r b a c h , Dialogus miraculorum (kurz nadi 1223; hg. v. J. Strange [1851], eine zisterziensisdie Sammlung aus dem Kölner Raum). J o h a n n e s de G a r l a n d i a , De miraculis BMV (192 Strophen; 1. H. 13. Jh., hg. v. Evelyn Faye W i l s o n , The Stella Maris [Cambridge/Mass. 1946; Medieval Acad, of America 45]). Epithalamium BMV (weitverbreitete engl. Sammlung, um 1229-1232; versch. Hss., u. a. London BM Ms. Cotton. Claudius A. x. f. 1-66). J a c o b u s a V o r a g i n e , Legenda aurea (1263-1273; hg. v. Th. Graesse [3. Aufl. 1890]). V i n z e n z von B e a u v a i s , Bibliotheca mundi Vincentii Burgundi, Speculum historiale, VII. lib.: Liber laudum virginis gloriosae (vor 1264; hg. Duaci [Douai] 1624 [Opus Benedictinorum Collegii]; neue Edition von B. L. Uli man vorbereitet vgl. Speculum 8 [1933] S. 312-326; 43 Mirakel; vgl. W i l s o n , S. 36-44), enthält neben einer Marienvita audi Theophiluslegende und Jüdel. Liber miraculorum qui et lacteus liquor dicitur (Anf. 14. Jh. in Deutsdiland kompiliert, bes. in Bayern u. Österreidi gekannt, bisher ca. 12 Hss. bekannt, u. a. Clm 8967). V u l p e r t u s von Ahusen (1327; 1200 gereimte Distichen, 46 Mirakel, versch. Hss., u. a. Clm 4146 f. 22 a ff.; vgl. H. N i e w ö h n e r , VerfLex. 4 [1953] Sp. 718f.). J o h a n n e s H e r o l t (Discipulus), Promptuarium miraculorum BMV (um 1440; 188 Mirakel; 1. Ausg. Ulm 1480, zuletzt Augsburg 1728 u. d. T. Discipulus redivivus, hg. v. Bonaventura Elers. Hauptquellen sind: Vinzenz von

Mariendichtung Beauvais [s. o.], Caesarius [s. o.], Thomas v. Cantimpre, Liber apum). Speculum exemplorum (um 1480; 1. Ausg. Deventer 1481, 1. dt. Drude Köln 1485, dann oft gedr. u. erw. zum Magnum Speculum exemplorum, ed. Johannes M a j o r , Douai 1605, zuletzt Köln 1747; 90 Mirakel). Weitere Sammlungen von exempla, in denen sich häufig Marienmirakel finden, s. Εxempel. Die bis zu ihrer Zeit bekannten lat. Legenden überblicken: Adolf M u s s a f i a , Studien zu den mal. Marienlegenden. SBAkWien 113 (1886) S. 917-994; 115 (1888) S. 5-92; 119, 9 (1889); 123, 8 (1891); 139, 8 (1898). Albert Ρ ο η c e 1 e t , Index miraculorum BMV, quae saec. VI-XV latine conscripta sunt, Anal. Bolland. 21 (1902); 42 (1920); 1783 Fassungen mit über 100 Motivtypen. — G r ö b e r , Grundr. d. roman. Philol. II, 1 (1902) S. 399 f., 279f. (Lokalmirakel). — Vincentine G r i p k e y , The Blessed Virgin Mary as Mediatrix in the Latin and Old French Legend prior to the 14th Century. Diss. Washington 1938. W i l s o n , (s. o.) S. 3-76. — Als Stoff- und Motivsamml. ergiebig: Heinrich G ü n t e r , Die christliche Legende d. Abendlandes (1910; Religionswiss. Bibl. 2). Ders., Psychologie d. Legende (1949). Karl P l e n z a t , Die Theophiluslegende in d. Dichtungen d. MA.s (1926; GermSt. 43). Hrotsvith s. o. § 3. Historia Theophili metrica, in: Migne PL. 171, 1593-1604. R a h e w i n , in: SBAkMündien 3 (1873) S. 93-116, mit Übersicht über d. lat. Th.-Dichtungen. — A r m e r H a r t m a n n , in: Dt. Ged. d. 12. Jh.s hg. v. Hans Ferdinand Μ a ß m a η η (1837; Bibl. d. ges. dt. Nat.-Lit. 3, 1) S. 24 f. [= v. 19262001], Robert P e t s c h , Theophilus, mnd. Drama in 3 Fassungen (1908; GermBibl. 2, 2). Conrad Β ο r c h 1 i η g , Die Entstehungszeit des mnd. Th.spiels, in: Vom Geist der Dichtung. Gedächtnissdir. f. Rob. Petsch (1949) S. 286-295. — Schernberg, Spiel von Frau Jutten, hg. v. Edward S c h r ö d e r (1911; Kl. Texte f. theol. u. phil. Vorlesgn. u. Ubgn. 67). — Marienlegenden [aus d. Alten Passional], hg. v. Franz Ρ f e i f f e r (2. Aufl. 1863). Pasquale L ο r e η ζ i η , Mariologia Jacobi a Varagine (Romae 1951; Bibliotheca mariana medii aevi 6). Joseph D ο b η e r , Die mhd. Versnooelle Marien Rosenkranz. Diss. München 1927 (behandelt eine weitere Fassung von Der Mönch und d. Rosenkränze). Gerhard Thiele, Der Ursprungsraum d. 'Passionals'. (Masdi.) Diss. Berlin 1936. Weitere Sammlungen: GA. III, 427-623. Briidistiidke von Marienlegenden, hg. v. F. K e i n z . GermaniaPf. 25 (1880) S. 82-88. Joh. B o l t e , Marienlegenden d. 13. Jh.s [in Prosa]. Alemannia 17 (1888) S. 1-25. Franz B ä r , Die Marienlegende d. Straßburger Hs. 863 it. ihr lit.hist. Zusammenhang. Diss. Straßburg 1914. C. G. N. d e V o o y s , Mkldelnederlaiulse Marialegenden (Leiden 1903). — Deutsdiordensdichtung: Karl H e l m und Walther Ζ i e s e m e r , Die Lit. d. Dt. Ritterordens (1951; GießBtrdtPhil. 94). Gerhard

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E i s , in: Reallex. Bd. 1, S. 244-251. T h i e l e , S. 386-400. Edward S c h r ö d e r , ZfdA. 67 (1930) S. 230. — Edward S c h r ö d e r , Die dt. Marienlegende v. Bischof Bonus, Nachr. d. Gött. Ges. d. Wiss. 1924, S. 1-12. — Thomas von Kandelberg, hg. GA. III, 573-593. Hans-Friedrich R ο s e η f e 1 d , in: VerfLex. 4 (1953) Sp. 453455. — Jüdel, in: Heinrich M e y e r - B e n f e y , Mhd. Übungsstücke (2. Aufl. 1920) S. 84-96. Edward S c h r ö d e r , Zur Überlieferung des J. ZfdA. 75 (1938) S. 24. G. E i s , Fragment e. frühmhd. Predigtwerkes. JEGPh. 49 (1950) S. 549-556. — Heinrich, in: Mdt. Gedichte, hg. v. Karl B a r t s c h (1860; BiblLitV. 53) S. 1-39. — Siegfried der Dörfer, in: GA. III, 429-450. — fablel-miracle: Gröber, Grundr. d. roman. Philol. II, 1 (1902) S. 649. — Von dem armen ritter, in: Erzählungen aus adt. Hss., ges. durch Adelbert v. K e l l e r (1855; BiblLitV. 35) S. 41-56, u. hg. v. Herbert R ö h n e r t , PBB. 48 (1924) S. 472-485. § 5. L y r i s c h e F o r m e n . Man muß es sich versagen, hier eine nach Art- oder Gattungstypen gegliederte Darstellung zu geben; nicht nur deswegen, weil es Mischformen gibt (oder auch Sammelbecken der verschiedensten Formen — Leich, 4- und 6zeiliges Strophenlied, Reimpaar — wie das Rhein. Marienlob), weil die Terminologie des MA.s selbst bekanntermaßen unscharf ist oder weil man durch fehlende Musiküberlieferung auf die falsche Fährte gelockt werden kann (ζ. B. ist Konrad Härders Marienlob [guldin schilling] in der Kolmarer Hs. als leich bezeichnet, aber in der gleichstrophigen Hymnenform abgefaßt; die Musik scheint aber verschiedentlich gewechselt zu haben!), sondern auch vor allem, weil man lebendige Zusammenhänge verdecken würde, auf die es hier, bei einem auf den Stoff zielenden Thema, besonders ankommen muß: Auf Konrads von Würzburg Goldene Schmiede, ein nicht sangbares Werk von 1000 vierhebigen Reimpaaren, also einer Verskleinerzählung entsprechend, berufen sich die Spruchdiditer als ihr Vorbild (ζ. B. Heinridi von Mügeln VI, 9 [Stackmann I, 157]). Dasselbe ists mit Frauenlobs Marienleich, der weniger Vorbild für neue Leiche als für zu Reihen oder Zyklen zusammengeschlossene Sangsprüdie ist. Audi zwisdien diesen und dem nidit gesungenen Spruch besteht kein Unterschied, der hier getrennte Anführung reditfertigte. Daneben bleibt für den Sprudi wie für das liet durch das ganze MA. dit> Nähe der lat. kirchlichen Hymnenstrophen widitig, etwa in der Einformung der Bildaussage in die Zeile oderimdoxologisdien Sdiluß. Eine Zuordnung von Formtypen an Inhaltstypen läßt sidi nur so weit erkennen, als gewöhnlich der Spruch die Mariendidaxe verlangt. Das dt.sprachige Marienlied ist Übertragung oder mittelbare Nachbildung des lat. kirchlichen Liedes, des Hymnus oder der Sequenz. Die Geschichte des lat. Marienliedes

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Mariendichtiing

ist bis zum 10./11. Jh. quantitativ schmal, aber durch große, unübertroffene Schöpfungen ausgezeichnet. — Um 450 dichtete Sedulius im Carmen paschale die später ins Römische Brevier aufgenommenen poetisch wenig bedeutenden, aber im MA. geschätzten Verse A solis ortus cardine. Aus dem Carmen stammen auch die Worte des berühmten Hymnus Salve sancta parens. Das erste selbständige Marienlob des lat. MA.s stammt von Ennodius (gest. 521): Ut virginem fetam loquar. Sehr umstritten ist die Verfasserschaft des Venantius Fortunatus (nach 600 gest.), dessen Miszellangedichte den frühen Marienkult in spätantiker Nachbarschaft zeigen, für den Hymnus Quem terra, pontus, aethera. Wahrscheinlich erst der karolingisdien Zeit entstammt der Vesperhymnus Ave maris Stella, der formal zu den wenigen Abweichungen vom Aditsilbler des ambrosianischen Hymnus gehört. Der Typ der Grußhymne, der für das volksspradiliche SpätMA. bes. fruchtbar (Mariengrüße, Ave-Leiche, Abecedarien usw. [s. u.]) und in dem die knappe Strenge des ambrosianischen Hymnus gesprengt wurde und die elogisdie oder auch deprekatorische Reihung der Namen und Attribute das kennzeichnende Merkmal darstellt, geht über die ps.anselmische Salutatio s. Mariae (11. Jh.) auf den byzantinischen Akathistos-Hymnus (um 800 in lat. Version) zurück. In Deutschland blüht die Marienlyrik mit der S e q u e n z e n k u n s t Notkers des Dichters aus S. Gallen (gest. 912) auf: die Assumptio-Sequenz Congaudent angelorum chori gehört in Architektonik und Verbindung von gestimmtem Lobpreis und liturg. Beherrschtheit zu den reifsten Schöpfungen. Ein langes Marienlob von der Reichenau (10. Jh.; Virgo Maria, digna parens dei)neigt daneben schon zu epischer Behandlung und spielt auf die Theophiluslegende (oben § 3) an. Größter Beliebtheit im 12. Jh., dem Geburtsjh. des dt. Liedes, erfreuten sich die Dichtungen Hermanns des Lahmen von der benachbarten Reichenau (gest. 1054). Ihm werden (nach Schönbachs Zuweisung) die Sequenz Ave praeclara maris Stella und mit einiger Wahrscheinlichkeit die Antiphonen Alma redemptoris mater und Salve regina zugeschrieben, deren Schlußverse (O Clemens, ο pia, ο dulcis Maria!) die mal. Le-

gende dem Bernhard von Clairvaux beilegte. Es ist vor allem die Gebetshaltung gegenüber der mater misericordiae, die den Liedern im Jh. bernhardischer Christusfrömmigkeit Verbreitung sichert. Für die frühe dt. Marienlyrik ist gerade eine verstärkte Anrufung auf Kosten freudig-gehobenen Lobpreises charakteristisch. Einsam in der gedankenmächtigen Mystik eucharistischer Schau mußte die nur als Prosaentwurf vorhandene Sequenz der Hildegard von Bingen Ο virga ac diadema purpurae regis bleiben. Die Möglichkeit einer größeren Nähe des dt. zum lat. Hymnus ergab sich mit dem voll durchgeführten rhythmischen Prinzip in der lat. Sequenzenkunst (ζ. B. Ave candens lilium, österr. Anf. 12. Jh.). Die 8 den Glanz der alten Symbole entfaltenden Mariensequenzen Adams v. S. Victor, darunter das später durch den Mönch von Salzburg und Heinrich von Laufenberg übertragene Salve, mater salvatoris, zeigen den Aufbruch der Marienverehrung um die Mitte des 12. Jh.s und besonders in den liturg. Zentren Frankreichs. Erst der franziskanischen Leidensfrömmigkeit des HochMA.s entstammt dann die Sequenz Stabat mater dolorosa, die ebenfalls im 14. Jh. verschiedentlich übersetzt wurde (u. a vom Mönch von Salzburg; spätere Verdeutschung durch Fouque und Cl. Brentano). — Diese und andere lat. Hymnen und Sequenzen blieben durch das ganze MA., z.T. bis heute, als liturg. Gesänge (meist des Breviers) lebendig. Bonaventura hat ζ. B. das Salve regina in Versen kommentiert, mit akrostichischem Schmuck umgeben; zu Ave praeclara schrieb Caesarius von Heisterbach einen Kommentar. Die Gesänge werden erst seit dem 14. Jh. verdeutscht. Die dann rasch einander folgenden Übertragungen sollen zum Mitbeten anleiten oder überhaupt der privaten Andacht dienen (daher oft Prosaübertragungen), oder sie sollen (dann mit der Möglichkeit, die Melodie unterzulegen) — wohl meist zu den Hören — gesungen werden. Der Liedbestand an Übersetzungen bleibt freilich noch bis zum 16. Jh. klein. Dem Geiste des knappen, eindrudcsvollen lat. Hymnus äußerlich und innerlich am nächsten steht das österr. Melker Marienlied (um 1160?), beherrschtes Nennen der alten — und neuen (cant.cant.) — Symbole, die

Mariendichtung sich aber im Gegensatz zum lat. Hymnenstil im Raum der Strophe entfalten. Die Erlösung ist in handlungsmäßigen Ansätzen hineinverschlungen. Das jede der 14 sechszeiligen Strophen beschließende Sancta Maria kennzeichnet die Sakralnatur des Liedes. Subjektiver, in den Gebetston überleitend ist das Lied aus St. Lambrecht (nach 1160?), das bis zur 5. Strophe Aoe praeclara maris Stella nachbildet und in unmittelbarem Anruf an Innigkeit gewinnt. Die Sequenz aus Muri (nicht vor 1180) ist der Musik der gleichen lat. Sequenz unterlegt. Sie war wohl, als einziges der frühen erhaltenen Lieder, auch im Vortrag an den Ton gebunden. Der bedeutende Dichter wechselt, in Preis und Gebet gleich gewandt, die beiden Haltungen in schöner Abgewogenheit. Ebenso spannt er den Bogen von persönlichem Anruf bis zu Christi universalem Herrschaftsanspruch, ein Hinweis des rhein. Dichters in den Tagen des staufischen Maditanspruchs. Das Arnsteiner Marienlied, das v. 312-314 die Schlußverse des Salve regina aufnimmt, ist noch stärker als das Lambrechter unsangliches Reimgebet. Liturgische Nähe verrät in seinem fast archaischen Parallelbau der vierzeilige Anruf aus einer Grazer Hs. Sonst dürfte wohl das wenigste, was Wackemagel dem 12. Jh. zuschlägt, diesem angehören. Die Blütezeit des Minnesangs hält zum Marienlied betonten Abstand. Die Ursachen werden ζ. T. soziologischer Natur sein: der Ministeriale sah die Verehrung besonders von den neuen Orden (Zisterziensern, Franziskanern) und Kreisen einer bisher mehr kunstabgewandten Laienbewegung getragen. Der einzige Bruch des Schweigens ist der Leich W a l t h e r s von der Vogelweide (3,1-8,3), noch ohne das spätere Prunkkleid, und die himmlische Fürbitterin auf die Not der Christenheit hinweisend—einer der wenigen Zeittöne in der zeitlosen Marienlyrik. Nur selten hat später ein Spruchdichter die Wirklichkeit der Zeit in den Marienspruch hineingenommen. Bei dieser Lage fehlen der Annahme, die Mariendichtung stelle eine der Wurzeln des dt. Minnesangs dar, die histor. Voraussetzungen. Anregungen gibt es (ζ. B. Heinrich von Morungen MF. 127, 7-9), aber schon, ob sie aus einem dt. Lied, einem lat. Hymnus oder überhaupt aus dem exegetischen Prosa-

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gut kommen, muß unsicher bleiben. Eine Einwirkung der Marien V e r e h r u n g läßt sich, besonders im Hinblick auf Übereinstimmungen in der Devotionshaltung und -gesinnung gegenüber der Herrin, weniger von der Hand weisen. Umgekehrt aber hat die M. durch die weltliche Lieddichtung und durch Gotfrid von Straßburg den eigenen Stempel erhalten. Sie hat an der Entwicklung zur subtilen Spätkunst teilgenommen. Zwei Richtungen schälen sich heraus: 1. Die didaktisch-spekulative Tendenz, zum richtigen Verstehen zu führen und die Relevanz der rationalen Einsicht für das rechte Lebens- und Glaubensverhalten herauszustellen, verbunden mit intellektuellem Gefallen am Paradox der jungfräulichen Empfängnis und der Hervorbringung des Schöpfers durch das Geschöpf. Dies ist Theologie von Laien auch in dem Sinne, daß das dogmatische Fundament öfter recht schwach ist, und theologische Halbbildung, wie man sie bei Frauenlob (kaum zu Recht) angemerkt hat, kann daher wohl eine Feststellung, aber kein Vorwurf sein. Bei alldem sind Lobpreis und Lehre oft merkwürdig ineinander verschlungen. 2. Die Tendenz, die Mariengestalt in eine rauschhafte Bilderfülle und allegorische Pracht einzuhüllen. Dabei wird ein ständiges Uberholen eines präfigurativen Bildes durch ! ein anderes u. die Verschiebung des Aspekts ι durch den schnellen Wechsel von Realtypus | und dem von ihm Gemeinten mit der daj durch entstehenden Unruhe als künstleriJ scher Reiz empfunden. Beide im Ansatz rhetorische Richtungen nehmen sehr bald meistersingerische Formen an; die Ubergänge sind undeutlich. Man wird dem manieristisdien Grundelement dieser auf eine allseitig erweiterungsfähige Bezugssystematik zielenden und zugleich mit feinen Reizeffekten arbeitenden Formkunst mit dem aus der Generation Morungens gewonnenen Maßstab nicht gerecht, und die Suche der Interpreten : der M. vom späten 13. bis 15./16. Jh. nach geschautem Detail, Aufrichtigkeit und Gemütstiefe läßt die Intentionen des Dichters außer acht. Auch „leeres Wortgeklingel" erlaubt nicht, an dem Ernst der Devotion zu zweifeln. Vom volkstümlichen Marienlied bietet erst wieder das 14. Jh. mit seinen religiösen Massenbewegungen (Geißler) und korporativen Zusammenschlüssen (Marien-

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Mariendichtung

hruderschaften dgl.) eine Vorstellung. Für das Fehlen der M. bei den Minnesingern der Stauferzeit entschädigt die Großdichtung des Rheinische η Μ arienl o h s (um 1230), ein Werk für aristokratische rheinische Nonnenklöster und in seiner Geschmackssicherheit bei der Auswahl der Bilder und Realtypen an das St. Trudperter Hohelied erinnernd, das gleichen Kreisen bestimmt war. Als Nährboden für die dt. M. besitzen diese Zirkel die größte Bedeutung. Das Marienlob ist etwa gleichzeitig mit der Vita Rhißhmica (§ 3): Dort herrschte additive Reihung, hier Einformung in einen überlegten Gesamtaufbau, der eine Vielfalt metrischer und rhythmischer Formen in sich schließt. Ebenso ist der Unterschied in der Wirkung sprechend: Das Marienloh ist in einer einzigen Pergamenths. (Hannover, 13. Jh.) überkommen; kein Späterer zeigt, daß er es kennt. Den Ruhm erntet dafür das Virtuosenstück K o n r a d s v o n W ü r z b u r g (gest. 1287), schon seit dem MA. fälschlich Die goldene Schmiede genannt und entstanden wohl (nach Schröders Annahme) als Propagandaschrift für den Straßburger Münsterbau zwischen der Beendigung des Langhauses (1275) und dem Beginn der Westfassade Erwins von Steinbach (1277). Etwa 1330 wird die Dichtung von einem scolasticus Franko von Meschede lat. nachgeahmt (Fabrica aurea). Die Reimpaare, als Ganzes ungegliedert, überschütten atemlos, da Reimpaarschluß und Sinneinschnitt nie zusammengehen, den Hörer in berauschendem Wirbel mit den preisenden Sinnbildern: preziösestes Kunsthandwerk in gleicher Zeit, da die Epik (Walther von Rheinau) das Handlungsgefüge ornamental umrankt. Das Vorbild Konrads haben die beiden größeren, z. gr. T. in der Manessischen Hs. überlieferten Marienlobe, die strophisch gegliedert sind, das des Eberhard von Sax (um 1300) und der sog. Ps.-Gotfridische Lobgesang (etwas vor 1300?) ebensowenig erreichen können wie das mdt. Marienlob (511 v., Ende 13. Jh.), das mit Konrad konkurrieren möchte, oder das Bliimel (800 v., vor 1420) aus der Feder eines Zisterziensers. Noch die verkünstelte Architekturallegorie des Goldenen Tempels, den Hermann von Sachsenheim (1455) zu Ehren Marias errichtet, lobt Konrad als das unerreichbare Vorbild. Das

ein- oder mehrstrophige Lied lebt aus der ständigen Bezogenheit auf das epische Geschehen der annunciatio und incarnatio. Epische Lieder tauchen dabei nur selten auf (ζ. B. Barthel Regenbogen, der Marienteil in Peters von Reichenbach Leich, eine Verkündigung unter dem Namen des Mönchs von Salzburg, eine Himmelfahrt des 14. Jh.s mit einem Gegenstück aus dem 15. „in gesangs weyse" [hier auch eine Höllenfahrt Marias — aus Analogiezwang!], Muskatblüt, Hans Sachs mit exempla [1518]). Geistliche Kontrafakturen erkennen wir für das 14.-16. Jh., also seit dem Aufschwung des volkstümlichen geistlichen Liedes. Die Kontrafaktur (s. Reallex. 1,882 f.) entsteht aus dem Wettstreit um die Gunst der Hörer und aus der Einsicht, daß die weltliche Schwester formbestimmend ist. Interessant ist hier ein Verkündigungslied (Anf. 16. Jh.) in der Nibelungenstrophe, dem deutlich eine Volksballade zugrunde liegt (Es flog ain klains waltfögelein ...). Seifrid Helblings Vokalspiel (Wakkernagel KL. II Nr. 346) ist, auch inhaltlich, Kontrafakt zu Walther 75, 25. Seit dem 2. Drittel d. 13. Jh.s bilden die S p r u c h d i c h t e r die Vermittler mariologischer Weisheit. Ihr Publikum ist nicht mehr ständisch begrenzt. Es gibt kaum einen Spruchdichter, der nicht wenigstens einen Marienspruch gedichtet hätte, Reimar von Zweter, Marner, Boppe, Friedrich von Sunnenburg, Rumzlant, Frauenlob u. v. a. Die früheste auf ein Thema bezogene Spruchreihe scheint von Sigeher (2. H. 13. Jh.) zu stammen. Umfängliche marianische Spruchreihen mit kunstvoller inhaltlicher und formaler Verzahnung der Strophen bietet Heinrich von Mügeln. Den anspruchsvolleren Leich oder die dem Leich angenäherte Großform pflegen Hermann von Damen, Rudolf von Rotenburg, Peter von Reichenbach, Heinrich von Laufenberg u. a. Ein Ave-Leich des 14. Jh.s arbeitet die Begrüßungsworte des Engels als Versikelanfang und als Akrostichon ein. Frauenlobs (1260-1318) Leich sammelt brennglasartig die Elemente: aus bernhardischer Mystik und Minnesang kommende Minneterminologie und -vorstellungswelt, sophistisches Interesse an mariologischen Streitfragen, Anregungen von Seiten antikmittelalterlicher Naturphilosophie (Alanus von Lille) und einer als Ganzes noch nicht

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Gestalt gewordenen spekulativen Mystik, ein sprachlicher Manierismus, der in seiner ornamentalen Funktion nicht nur das Strukturgerüst, sondern auch den Inhalt überzieht. Sehr bald stehen dann Hoheliedmetaphorik und Bildersprache mystischer Herkunft als unverbindliche Münze auch dem nüchternen Didaktiker zur Verfügung (ζ. B. Härders Leich, 14. Jh.). Im inhaltlichen Aufbau läßt sich im 13. Jh. eine Abnahme systematischsymmetrischer Motivordnung zugunsten assoziativer Reihung beobachten. Die beiden fruchtbarsten Lieddichter und Übersetzer alter Hymnen und Sequenzen sind im 14. Jh. der sog. M ö n c h v o n S a l z b u r g und im 15. Jh. H e i n r i c h v o n L a u f e n b e r g . Der Mönch ist minnesingerischer, höfischer und damit auch meistersingerischer, Heinrich einfacher, volkstümlicher, Sprecher religiöser städtischer Gemeinschaften (Straßburg). Von diesen wird das nun erwachende, im Text und wohl auch in der Melodie unverkünstelte volkstümliche Marienlied als Teil des geistlichen Volksliedes getragen. Der Anteil, den das Franziskanertum daran gehabt hat, ist im einzelnen noch abzustecken. Eine Sonderform des Marienliedes stellt das Aue Maria dar, das im 12. Jh. durch die Zisterzienser zu erhöhter liturg. Bedeutung gelangt war und später besonders von den Dominikanern gepflegt wird. Es ist im volkstümlichen Preisgebet wie im abstrusen Reimkunstwerk gleich beliebt (Ps.-Konrad von Würzburg, Boppe, Reimar von Zweter, sog. Mönch, Muskatblüt, Seifrid Helbling u. v. a.). Das umfangreiche Ave Maria des Brun von Schönebeck (2. H. 13. Jh.), dem eine Theophiluslegende einverleibt ist, ist wie Härders Leich typisches Beispiel einer Marienverehrung, die mit mystischem Sprach- und Bildmaterial arbeitet, ohne mystisch zu sein. In B r u d e r H a n s ' Marienliedern, dem außergewöhnlich gelehrten und künstlichen, ζ. T. in Titurelstrophen abgefaßten Großwerk von 5280 Versen eines Niederfranken (Ende 14. Jh.), das in Sprache und Gehalt durch viele soziologische Schichten reicht, beginnt nach einem episch-heilsgeschichtlichen Vorbericht in den Abschn. I—VI jede der 100 Titurelstrophen mit einem Buchstaben des Ave, das zu selbständiger Realität erhoben ist. Lieder, die zum Englischen Gruß einen Kommentar Wort für Wort geben, nennt man

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„Glossenlieder" Sie übertragen das Prinzip der scholastischen Predigt auf die Lyrik. Zu den akrostischen Formen stellen sich die Lieder, die jede Strophe mit einem Buchstaben des ABC beginnen (ζ. B. vom Mönch). Die magische Kraft der ganzen Buchstabenreihe, aus der Antike und den Psalmen überkommen, christlich gedeutet und durch Isidor von Sevilla dem MA. bekannt, spielt hier eine Rolle. Reimar von Zweter sieht sie in den Buchstaben des Namens Maria wirksam. Aus der Sitte, 50 und später 150 Aves zu beten (wir kennen sie aus der Legende), gehen schon im 13. Jh. die sog. Rosenkränze (rosariae) hervor (bei 150 in Anlehnung an die Zahl der Psalmen auch Marienpsalter genannt), deren lat. Vorbilder aus dem 12. Jh. meist den großen Mariologen, ζ. B. Anselm von Canterbury oder Bernhard von Clairvaux, beigelegt wurden. Die frühesten dt. Texte finden sich im Kaloszaer Codex (Wis gegrüezet, Jesse künne). An der Ausbreitung der Rosarien sind später besondere Gemeinschaften beteiligt, die Mariengilden des 14. Jh. und die Marienbruderschaften und Rosenkranzbruderschaften des späten 15. Jh. (ζ. T. unter dem Eindruck der Rosenkranzpredigten des Alanus de Rupe), oder auch Nonnengemeinschaften; für eine von diesen setzt der ndt. Beichtiger Hermann Kremmling das weitbekannte Rosarium des Kartäusers Konrad von Haimburg (gest. 1360) in ndt. Prosa um (um 1400), um den originalen Sinn nicht zu verfälschen. Ihre größte Verbreitung hat die M. im M e i s t e r s a n g , war doch die Gottesmutter Schutzpatronin der Meister und selbst in Liedern als Meisterin (und noch bis in den Frühbarock hinein als Meistersingerin — wegen des Magnificat, das auch von den protestantischen Gilden besonders besungen wurde) verherrlicht. Meistersang ist nur der literar. Ausdruck eines über poetischen Preis und Gebet hinausgehenden Kults. Der Lobpreis durch die Singgemeinschaften ist überwiegend kultisch gebunden (Lieder zu den Marienfesten) und muß auch unter ritualbrauchtümlichem Aspekt gesehen werden. Lienhard Nunnenbeck, Hans Folz und Hans Sachs besingen besonders auch die mater dolorosa, deren Fest die Provinzialsynode in Köln 1413 eingeführt hatte. Das ernsthafte theologische Anliegen, das die Laienkreise

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beseelt, spiegelt sich in der Vorliebe für das Thema der incarnatio und der immaculata conceptio, an die sich der Typ des dogmatischen Streitliedes schließt (Nunnenbeck, Folz; es tobt gerade zur Zeit Sixtus' IV. [14711484] der Streit um die Erbsündenfreiheit heftig, für die sich später auch Wimpheling und Sebastian Brant einsetzen), wie in der Freude an zitierter Autorität (ζ. B. Scholastiker). H. Sachs bietet in der Auslegung des conceptio-Begriffes den Typ des rein exegetisdien Liedes. Ohne daß man von einem entscheidenden Nachlassen des bezeichenlichen Sprechens reden kann, neigt die reformationszeitliche Generation (Sachs, Buxbaum, Lesdi u. a.) stärker zu realistischer Versinnlichung, mit der gleichen Devotionsform zusammenhängend, die neben dem in den Gilden abgeschlossenen Meistersang auch die Entwiddung des unmittelbar-volkstümlichen Liedes in den Laienkorporationen (sodalitates) fördert. Der Reichtum der meisterlichen Marienlieder läßt um 1520 nach. Sadis ändert in einer späteren Auflage seiner Lieder 'Maria' in 'Christus' um. Der ganze Umfang der spätminnesingerischen und meistersingerisdien Produktion an Marienlyrik ist noch nicht zu übersehen, da eine Reihe wichtiger Hss. noch nicht ediert oder nur ungenügend beschrieben ist. Für die M. kommen hauptsächlich in Frage die Kolmarer Hs. (jetzt Cgm 4997; ca. 200 Marienlieder, z. T. hg. v. Karl B a r t s c h [1862; BiblLitV. 69]), Donaueschinger Hs. 120 (früher LaßbergisAe Hs. 263) Bl. 205-321 (25 Lieder), WÜtener Hs. (jetzt Cgm 5198; 30-40 Lieder), der Cgm 351 (ca. 30 Lieder), der Cgm 6353 (H. Folz; ca. 30 Lieder; ζ. T. hg. v. A. L. M a y e r , Die Meisterlieder d. Hans Folz [1908; DTMA. 12]), die Jenaer Liederhs. (hg. v. G. H o l z , F. S a r a n , E. Bernoulli, 2 Bde [1901]), das Ms. philos. 21 UB Göttingen (Heinrich von Mügeln; mehrere große Marienspruchreihen [6.8. Buch]; hg. v. Karl S t a c k m a n n [1959; DTMA. 50]), die Dresdner Hs. Μ 13 (ca. 25 Lieder, hg. v. F. Fraudiinger [s. u.]), das Ms. Breslau IV F 88 Β (53 sich charakteristisch auf Maria beziehende Lieder; Rotograph [Nr. 438] im Besitz der Libr. of Congress, Washington), das Berliner Ms.germ. 414 4° (H. Sachsens 'Meistergesangbuch'; 124 Marienlieder, weitere 88 mit Bezugnahme; Mikrofilm [Nr. 379 F ] im Besitz der Libr. of Congress, Washington; ζ. Τ. hg. v.M. J. S c h r o e d e r [s. u.], S. 255-265), das Ms. Weimar Q566 (H. Folz; 16 Lieder; hg. v. A. L. M a y e r [s. o.]). M. J. Schroeder kennt 470 Marien-Meisterlieder und schätzt die Gesamtzahl in den von ihr aufgezählten Hss. auf 600-800. Es dürfte kaum einen der namentlich bekannten Mei-

ster geben, der kein Marienlied geschrieben hat. Lat. Hymnus: Gerard G. M e e r s s e m a n , Der Hymnos akathistos im Abendland. Bd. 1: Akathistos-Akoluthie u. Grußhymnen (1958; Spicilegium Friburgense 2), veröff. S. 99-228 74 Texte bes. aus d. frühen marianischen Lyrik und verschiedene Ave-Typen des SpätMA.s, überschaut S. 67-77 die Entwiddung d. abendl. Marienhymnus. — Sedulius Caelius, in: Corpus script, ecclesiasticorum 10, 48 f. u. 163 ff. (Auszug bei F. J. E. R a b y , A History of Christian-Latin Poetry, 2. ed. Oxford 1953, 5. 110). — Ennodius, in: Corpus script, eccl. 6, 552. — Ps.-Venantius Fortunatas: MGH. Auct. ant. IV, 1, 385. —- Ave maris Stella: Analecta hymnica 51 (1908) S. 140. Horst K u s c h , Einführung in d. lat. MA. (1957) S. 152f. Nd. Übers, bei Friedr. G e n n r i c h , ZfdA. 82 (1948/1950) S. 139. — Ps.-Anselm, in: Migne PL. 158, 1048. Akathistos-Hymnus abgedr. bei M e e r s s e m a n , S. 100-127. — Wolfram v. d. S t e i n e n , Notker d. Dichter u. seine geistige Welt. Bd. 1. 2 (Bern 1948), Textbd. S. 66 f. Karl L a n g o s c h , Hymnen u. Vagantenlieder (1954) S. 78 f. Reichenauer Marienlob: Anal. hymn. 51, 211. — Herrn annus Contractus: Anal. hymn. 50 (1907) S. 308319. K u s c h , S.264f. F. B r u n h ö l z l , in: VerfLex. 5 (1955) Sp. 374-377. Johannes Μ a i e r , Studien zur Geschichte d. Marienantiphon 'Salve regina'. Diss. Freiburg 1939, auch zur Verf.-Frage u. Verbreitung. Die Verf.schaft bestreitet R a b y , S. 226 f., der in The Oxford Book of Medieval Latin Verse, newly elect, and ed. (1959) die Antiphon Aimer von Le Puy zuschreibt (so auch M e e r s s e m a n , S. 89 f.) und Alma redemptorts mater anonym beläßt. — Hildegard: Anal. hymn. 50, 326. G ö ß m a n n [oben § 1], S. 111-115. — Adam von S. Victor, Sämtl. Sequenzen, lat. u. dt. hg. v. Franz W e 11 η e r (2. Aufl. 1955). — Hymnen des 12. Jh.s bei Μ a η i t i u s Bd. 3 (1931) S. 987-990. Möglichkeit der Einwirkung: F r o m m [oben §3], S. 30-36, 111-123. — Ave candens lilium: Anal. hymn. 54 (1915) S. 362-363. K u s c h , S. 266f. Stabat mater: Anal. hymn. 54 (1915) S. 312-318. K u s c h , S. 630-633. L a n g o s c h , S. 44-47. Übers. Wadcemagel KL. II, Nr. 581, 602. Dt. Lieder des 12. Jh.s: Albert W a a g , Kleinere dt. Gedichte d. 11. u. 12. Jh.s (1916). Anruf der Grazer Hs.: hg. ν. Α. E. S c h ö n b a c h ZfdA. 18 (1875) S. 160. Lisbeth J ö r ß , Das Amsteiner Mariengebet u. d. Sequenzen d. MA.s. Diss. Marburg 1919. Richard K i e n a s t , in: Stammler Aufr. Bd. 2 (2. Aufl. 1958 ff.) Sp. 36 f. Maria B i n d s c h e d l e r , Mal. Marienlyrik. DtschuntArbh. 9 (1957) H. 2, S. 3037. — Marienlyrik des 13.-16. Jh.s: K i e n a s t , Stammler Aufr. Bd. 2 (2. Aufl. 1958 ff.) Sp. 120-132. passim. Minnesangwurzel?: Philipp August B e c k e r , Vom christl. Hymnus zum [romanischen] Minnesang. Histor. Jb. 52 (1932) S. 1-39; 145-177. Ed. W e c h ß l e r , Das Kulturproblem d. Minnesangs (1909) S. 434 ff.

Mariendichtang Rhein.Marienloh, hg. v.AdolfBach(1933; BiblLitV. 281), mit umfangreicher, wenn auch geistesgesdi. ζ. T. überholter Einl. für die ganze M. — K o n r a d v o n W ü r z b u r g , Die goldene Schmiede, hg. v. Edw. S c h r ö d e r (1926). Edw. S c h r ö d e r , Aus der Buchgeschichte der sog. G.S., GGN. Fachgr. 4, N.F. 2, Nr. 9 (1939) S. 163-172. — Franko von Meschede: Anal. hymn. 29 (1898) S. 185-204. Gustav M i l c h s a c k , Ht/mni et sequentiae (1886) I, S. 143-161. — Eberhard von Sax, in: Wackernagel KL. II, Nr. 316. Karl B a r t s c h , Schweizer Minnesänger (1886; Bibl. älterer Schriftw. d. Schweiz 6) Nr. 28. — Ludwig W o l f f , Der Gottfried von Straßburg zugeschriebene Marienpreis u. Lobgesang auf Christus. Untersudign. u. Text (1923; JenGermForsch. 4). — [Mdt.J Lobgesang auf Maria, hg. v. A. J e i 11 e 1 e s. GermaniaPf. 31 (1886) S. 291-310. Hans-Friedr. R ο s e η f e 1 d , Zum Lobgesang auf Maria. PBB. 53 (1929) S. 419431. — Blümel, hg. v. Joseph H a u p t , SBAkWien 68 (1871), S.204f„ 208-214. Epische Lieder: Wackemagel KL. II Nr. 421 ff. (Regenbogen), 575 (Mönch), 438 u. 1057 (Himmelfahrt), Ms. Berlin 414, Bl. 466 ν (Sachs). Lieder Muscatblüts, hg. v. Eberh. v. G r o o t e (1852) Nr. 23. — Verkündigungslied Wackemagel KL. II, Nr. 881. Kontrafakturen: Clothilde P f l e g e r , Untersuchungen am dt.geistl.Lied d. 13.-16. Jh.s. Diss. Berlin 1937. Friedr. G e n n r i c h , Liedkontrafaktur in mhd. u. ahd. Zeit. ZfdA. 82 (1948)/50) S. 105-141. — Rudolf S t e p h a n , Lied, Tropus u. Tanz im MA. ZfdA. 87 (1956/ 57) S. 147-162. Spruchdichter: Hans D i e s e n b e r g , Studien zur religiösen Gedankenwelt in d. Spruchdichtung d. 13. Jh.s. Diss. Bonn 1937. Reinmar von Zweter, Gedichte, hg. v. Gustav R ο e t h e (1887). Der Marner, hg. v. Philipp S t r a u c h (1876; QF. 14) XII, 1; XIII, 1. 2; XIV, 1; XV, 1. 8. Heinrich von Mügeln, Die kleineren Dichtungen hg. v. Karl S t a c k m a η η (1958-59; DTMA. 50-52), bes. β. u. 8. Buch. Karl S t a c k m a n n , Der Spruchdichter Heinrich von Mügeln (1958; Probleme d. Dichtung 3). Die anderen Texte bei Wadcernagel KL. und bei Karl B a r t s c h , Die Meisterlieder der Kolmarer Hs. (1862; BiblLitV. 69). — Leich: KLD. 49, [VI] = S. 380-383 (Rudolf von Rotenburg), 351 (Hermann von Damen), Bartsch Nr. 6 (Der tougen hört; unter Frauenlobs Namen überl., aber ihm nicht zugehörend). 7 (Peter von Reichenbach). — Ludwig P f a n n m ü l l e r , Frauenlobs Marienleich [hg.] (1913; QF. 120). Kurt P l e n i o , Strophik von Frauenlobs Marienieich. PBB. 39 (1914) S. 290-319. Karl Heinr. Β e r t a u , Untersuchungen z. geistl. Dichtung Frauenlobs. Diss. Göttingen 1954. Ders., Über Themenanordnung u. Bildung inhaltl. Zusammenhänge in d. relig. Leichdichtungen d. 13. Jh.s. ZfdPh. 56 (1957) S. 129-149. Rudolf K r a y er, Motivgeschichtl. Untersuchungen zur Naturallegorese bei Frauenlob, mit bes. Berücks. d. Marienieichs. (Masch.) Diss. Heidelberg 1958.

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— Paul R u n g e , Der Marienieich Heinrich Laufenbergs 'Wilkom lobes werde', in: Festschr. z. 90. Geb. v. R. v. Liliencron (1910) S. 228-240. Heinrich von Laufenberg, in Wakkemagel KL. II, Nr. 701-798, doch vgl. Ludw. D e n e c k e , in: VerfLex. 3 (1943) Sp. 31 f. — Zum Mönch von Salzburg Ludw. D e n e c k e , in: VerfLex. 2 (1936) Sp. 418-421; 5 (1955) Sp. 372-374. 669. 670. — ABC bei Wackemagel KL. II, Nr. 580. Herbert L ö w e n s t e i n , Das dt. 'Mittit ad virginem' des Mönches von Salzburg. PBB. 56 (1932) S. 449458, über die Danziger Fassung mit Text. Herta Ν ο a c k , Der Mönch von Salzburg. Diss. Breslau 1941. Bernhard R ζ y 11 k a , Die geistlichen Lieder d. Klosterneuburger Hs. 1228. (Masch.) Diss. Wien 1952. Ave Maria: Mary Juliana S c h r o e d e r , Mary-Verse in Meistergesang (Diss. Washington 1942; CathUnivAmerSt. 16), gründliche Materialausbreitung mit Bibliographie, bes. S. 184-192. Wackemagel KL. II, Nr. 236 (Ps.Konrad v. Würzburg), 547 (Mönch). Ludw. S i g , Das K. v. W. zugeschriebene Ave Maria. Progr. Straßburg 1903. — Lat. Abecedarien: Anal. hymn. 6 (1889) Nr. 26-47. — Rosarien: S c h r o e d e r , S. 233-246. B e i ß e l [oben § 3] im Reg. — Texte des K a l o c z a e r C ο d e χ bei Wadcemagel KL. II, Nr. 199-201 u. ZfdA. 8 (1851) S. 274-298. — Wadcemagel KL. II, Nr. 1062 (Buchsbaum; „in herczog ernsts melodey"), 1065 (Tietz). — Kremmling, in: Ein mittelostfälisches Gebetbuch. Im Ausz. hg. v. Emst L ö f s t e d t (Lund 1935; Lunds Univ. Arsskr. NF. 1, 30, 5). — Lat. Psalter des 12. Jh.s bei G r ö b e r , Grundr. d. roman. Philol. II, 1 (1902) S. 337 f. Meistergesang: S c h r o e d e r (Hss.-Ubersicht S. 1-47; Maria die Meisterin S. 179). — Fritz F r a u c h i n g e r , Dresden Μ 13, a ISth Century Collection of Religious Meisterlieder (Chicago 1938). Hans Folz, Meisterlieder, hg. v. Aug. L. M a y e r (1908; DTMA. 12). Paul R u n g e , Die Sangesweisen d. Colmarer Hs. u. d. Liederhs. Donaueschingen (1896). — Umfangreichere Abdrudce bei Wackemagel KL. und W. B a u m k e r , Das kath. dt. Kirchenlied Bd. 3. — Geistl. Volkslieder [z.T. auch Meistergesänge]: E r k - B ö h m e , Dt. Liederhort (2. Aufl. 1925) III, Nm.2030, 2039, 2042-2073, 2076-2083. — Ludwig K e l l e r , Die Kultgesellschaften d. dt. Meistersinger v. d. verwandten Sozietäten. Monatsh. d. Comeniusges. 40 (1902) S. 274—292. Bert Ν a gel, Das Stoff-Form-Problem des frühen Meistersangs. DVLG. 17 (1939) S. 343—370. Jac. Wimpheling, De triplici candore Mariae (1493), über 2000 Verse. — Seb. Brant, Carmina in laudem b. Mariae (1494), darunter ein Rosenkranz in 50 sapphisehen Strophen.

§ 6 . M a r i e n k l a g e n . Deutlich steht diese Form zwischen den Gattungen. Die Gottesmutter beklagt unter dem Kreuz in immer erneuerten Ausbrüchen des Schmerzes die Leiden und den Tod des Sohnes.

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Mariendichtung

Tröstend steht ihr, sie auf die Notwendigkeit des Leides zur Erlösung hinweisend, Johannes zur Seite. Maria klagt stellvertretend für die Menschheit (Ecclesia - Maria, s. o. § 2). Die Marienklage ist von Haus aus lyrisch und bildet auch da, wo sie dem geistlichen Spiel eingelagert ist, in textlicher und musikalischer Hinsicht einen lyr. Gipfelpunkt. Andererseits liegt in dem Gegensatz zwischen dem entfesselten Schmerz Marias und der einsichtigen Beherrschtheit des Johannes ein dramat. Element, das bei Einlagerung ins Spiel durch den Kontrast zu den pöbelhaften Reden der Kriegsknechte noch gesteigert wird. Die verschiedenen Vers- und Strophenformen müssen noch eingehend untersucht werden. Neben leichförmigen und der Leichform angenäherten Klagen finden sich ganz freie Verbindungen der unterschiedlichsten lyrischen Strophenformen ohne Grundlage des Vierhebers (Klage im Rhein. Marienloh) und neben längeren unstrophischen Reimpaarpartien drei- (aaa), vier- (aabb, abab) und auch sechszeilige (kanzonenartige, ababcc) Strophen (Klage im Alsfelder Spiel), wobei der Vierheber die Grundlage ist und sich das Überströmen des Schmerzes in einem Sprengen des Vierheberrahmens versinnbildet; daneben dann auch die Klage im gleichmäßigen vierhebigen Reimpaarvers, formal unabgehoben von der Umgebung (Donaueschinger Spiel), Das Ausmaß an Kontrafakturen und due Herkunft der Töne übersehen wir noch nicht (vgl. unten). Die früheste dt. Klage datieren wir auf den Anf. d. 13. Jh.s. Ihre geistesgeschichtliche Vorbedingung ist die leidensmystische Vertiefung der Christusauffassung und der leidenschaftliche Wille zur compassio, wie sie bernhardische Christusfrömmigkeit audi in der Laienwelt entzündet hatte und wie die Neuorden, voran die Franziskaner, sie besonders in den katastrophenreichen Epochen des späteren MA.s wachhielten. Die Theologie des 12. Jh.s und die Generation der Blütezeit hatten die Gefühlswelt bereichert und verfeinert, ihr die vielen Zwischentöne des Subjektivismus geschenkt, die dem Individuum erlaubten, sidi in die seelische Situation eines andern miterlebend zu versetzen. Zudem hatte eine in der 2. H. des 12. Jh.s aufbrechende neue weltbildliche Haltung das Sidi-Bewegen des Menschen im Räume und seine Gebärde, wenigstens bis zu späterer entsinnlichender Stilisierung, in bisher unerhörter Weise entbunden. Diese

Grundlage ist bestimmender als die möglichen stofflichen Anregungen durch die Gesta Pilati der Apokryphen und byzantinische Einflüsse, vollends als das nicht überzeugend nachgewiesene Fortwirken altgerm. Totenklage, das sich auch im zeitgenössischen Brauchtum äußern soll. Die Frühentwicklung der Klagen ist nicht leicht zu überschauen. Eine kultische Wurzel liegt in den lat. Planctus, lyrischen Sequenzen, die im Karfreitagsgottesdienst gesungen wurden und in monologischer Form den Schmerz ausströmen lassen. Besonders häufig benutzt und übersetzt wurde die Sequenz Planctus ante nescia des Viktoriners Geoffroy von Breteuil (gest. 1198), ζ. B. in der Älteren niederrhein. Kl. (um 1200) und in der Münchener Kl., welche, mit Noten überliefert, auch die Kontrafaktur erkennen läßt. Die Münchener bildet mit der Böhmischen, Breslauer und Aggsbacher Kl. zusammen eine ostmd. Gruppe, die aus monologischem Frühstadium erst allmählich dialogische Typen entwickelt. Die entwickeltste Form dieses Typus zeigt die Prager Kl. des 16. Jh.s. Sie hat, was für Geschichte und Lebensbedingungen der Klagen überhaupt wichtig ist, Einwirkungen durch das geistliche Spiel (hier das Egerer Passionsspiel) erfahren, ist dramatisch gestaltet, aber nicht zur Aufführung bestimmt gewesen. Die Klagen müssen in ständiger Symbiose und innerer Verwandtschaft zum Spiel gedacht werden. Nicht nur wurden viele Klagen im Chor des Kirchenraums zur Karfreitagsvesper bei der depositio crucis gesungen, sie wurden auch in die großen Passionsspiele eingebaut (ζ. B. im 13. Jh. ins Benediktbeurer Passionsspiel und später eine der Trierer nahverwandte Kl. ins Alsfelder Spiel); sie konnten vielleicht auch einmal aus diesen herausgelöst werden, wenn auch der Annahme, die Klagen hätten sich in Analogie zu den Magdalenenklagen des Osterspiels entwickelt, die Bestätigung fehlt. Neben dem monologischen Frühtypus gibt es den dialogischen (Hoffmanns Kl., ndt. Königsberger Kl.), der auf den ps.-bemhardischen Traktat De planctu BV (1180-1200) zurückgeht, worin in einem Dialog Maria die passio Christi berichtet. Dieser Traktat, der mit der sog. Interrogatio Sti Anselmi (oben § 3) typologisch, aber nicht geschichtlich ver-

chtung wandt ist, wurde Anf. 13. Jh. ins Dt. übersetzt (sog. Bernhardstraktat) und Mitte des Jh.s zu einem bis ins 16. Jh. hinein beliebten Werk Unser vrouwen klage episiert. Dies hat seinerseits auf verschiedene Klagen (Böhmische, Berner u.BordesholmerKl.) gewirkt. Man wird sich Beziehungen zwischen den Klagen nicht allzu literarisch, sondern im Zusammenhang mit musikalischer Entlehnung und auf dem Hintergrunde lebendiger Spieltraditionen mit vielfachen Querverbindungen vorstellen. Hier werden Kontrafakturstudien klären. Einem Liede in der Bordesholmer Kl. gehört der Ton von Walthers Palästinalied (14, 38) zu; die Musik und Strophenform, die zu einer Strophe der Trierer Kl. überliefert ist, erweist sich als Hildebrandston, also als epische Strophenform. Die Lebensbedingungen auch dieser M.-Gattung verdeutlicht wieder die Tatsache, daß viele Hss. als Dirigierbücher, Probenbücher u.dgl., recht sorglos geschrieben, erhalten sind. Den liturg. Ursprung beleuchten etliche Klagen im Miteinander von lat. und dt. Versen. Die Lichtenthaler Kl. (bair., 13. Jh.) steht am Beginn der Gruppe von Kl., die auf die geschlossene dramatische Struktur zustreben. Sie bahnt sich im sog. Docenschen Bruchstück an, zeigt sich in der Erlauer und Wolfenbütteler, vollendet sich in der Trierer Kl. und wird wieder in der Ausweitung zur Großform gesprengt in der Bordesholmer Klage ostfälischen Ursprungs (15. Jh.), der künstlerisch wertvollsten Kl. überhaupt. In ihren vielfältigen Vers-und Strophenformen bewahrt sie eine durchschwingende rhythmische Bewegung, in der sich die reiche Gefühlsskala des Werkes versinnbildet. Wie das Rhein. Marienlob (§ 5), dem auch eine der schönsten Marienklagen eingelagert ist (v. 897-1313), strebt sie durch die Symbolkraft des Wortes und der Gebärde zu einer geistigen Mariengestalt. Keine andere Szene aus Marias Leben hat in dramatischer Gestaltung gleiche Höhe erlangt wie die Kreuzklage. Der Sündenfall des Arnold Immessen (2. H. 15. Jh.), der die Ereignisse von der Schöpfung bis zu Marias Geburt führt und ein aus präfigurativem Bezugssystem gewobenes Weltbild gestalten und dabei den Menschen kraftvoll in seiner Wirklichkeit han-

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delnd zeigen kann, ist freilich kein unebenbürtiges ndt. Gegenbild. Ins trodcen Belehrende gleitet dagegen das bekannteste der Himmelfahrtsspiele, der nach dem Bericht der Legenda aurea gearbeitete Ludus de assumptione BMV (14. Jh., Schmalkalden) ab, der ebenso wie Immessen die Marienvita in den größeren heilsgeschichtlichen Rahmen zu stellen sucht. Anton S c h ö n b a c h , Über d. Marienklagen (Graz 1874). Walther L i p p h a r d t , Studien zu denMkl. PBB. 58 (1934) S. 390-444. Ders., Mkl. u. Liturgie. Jb. f. Liturgiewiss. 12 (1932) S. 198-205. — Byzant. Einfluß: Eduard W β c h ß 1 e r , Die romanischen Mkl. (1893). —Brauchtum: L i p p h a r d t , PBB.58, 419ff.; Wolfgang S t a m m l e r , Kl. Sehr. z. Lit.gesch. d. MA.s (1953) S. 260. — Planctus ante nescia bei S c h ö n b a c h , S. 6-9 und mit Notation bei Friedr. G e n n r i c h , Grundriß einer Formenlehre d. mal. Liedes (1932) S. 143-148. Ders., Liedkontrafaktur in mhd. u. ahd. Zeit. ZfdA. 82 (1948/50) S. 118. — G. Weiß, Die dt. Mkln, Quellen u. Entwicklung. (Masch.) Diss. Prag 1932. Gerd S e e w a 1 d , Die Mkl. im mlat. Schrifttum u. in d. germ. Literaturen des MA.s. (Masch.) Diss. Hamburg 1953 (mit dem bisher vollständigsten Katalog der vorhandenen Mkln, lat. S. 3*-13*, dt. S. 13*-29", unveröff. S. 40*—42*). Hans E g g e r s , in: VerfLex. 5 (1955) Sp. 655-665 (dort leidit zugänglich Angaben über Hss. u. Ausgaben, auf Seewald aufbauend). Rich. K i e n a s t , in: Stammler Aufr. Bd. 2 (2. Aufl. 1958 ff.) Sp. 121 ff. — Analogie zu Magdalenenkl.: Eduard H a r t l , in: Stammler Aufr. Bd. 1 (1952) Sp. 910. Ps.-bemhard. Traktat: De passione Christi, Migne PL. 182, S. 1133-1142. — Interrogate S. Anshelmi de passione domini, hg. v. Ose. S c h a d e (Halle 1870; Progr. Königsberg); vgl. dazu Karl S c h r ö d e r GermaniaPf. 17 (1872) S. 231-235. — Zur ndt. Bearb. St. Anselme Frage an Maria: Hans Ε g g e r s , in: VerfLex. 5 (1955) Sp.46f. — Dt. Bernhardstraktat: Fragment einer frühen Bearbeitung d. 'Interrogatio Anselmi', hg. v. Edw. S c h r ö der. ZfdA. 68 (1931) S. 249-254 (Titel unzutreffend). — Unser vrouwen klage, hg. v. Gustav M i l c h s a c k . PBB. 5 (1878) S. 193-357. — Anna Amalie A b e r t , Das Nachleben des Minnesangs im liturg. Spiel. Die Musikforsdiung 1 (1948) S. 95-105. Die Musik zur Trierer Strophe veröff. durch P. B o h n , Monatsh. f. Musikgesch. 9 (1877) S. 1 f. u. Noten: S. 1724 (vgl. audi Karl Η. Β e r t a u u. Rudolf S t e p h a n ZfdA. 87, 254 ff.). — Karl D r e i m ü l l e r , Die Alsfelder Marienklage. Zs. f. Kirchenmusik (Cäcilienvereinsorgan) 69 (1949) S. 3538 (musikalische Interpretation). — Die Bordesholmer Mkl., hg. u. eingel. v. Gustav K ü h l NddJb. 24 (1898) S. 1-75. W. I r t e η k a u f u. Hans Ε g g e r s , Die 'Donaueschinger Mkl.'. Carinthia 148 (1958) S. 359-382

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Mariendidrtung

(neu aufgefundenes Fragm., südbair., nächst verwandt der Erlauer Mkl., dem monodramat. Münchner Typus zugehörig). — Arnold Immessen, Der Sündenfall. Neu hg. v. Friedr. K r a g e (1913; GermBibl. 2, 8), Titel unzutreffend, eig. ein Mariengeburtsspiel. — Gustav R o s e n h a g e n , Die Wolfenbütteler Spiele [einschl. d. Mldn.J und d. Spiel des Arnold von Immessen, in: Ndt. Studien. Festschr. f. C. Borchling (1932) S. 78-90. — Innsbrucker Himmelfahrtsspiel, in: Altteütsche Schauspiele, hg. v. Franz Joseph Μ ο η e (1841; Bibl. d. ges. dt. Nat.-Lit. 21) S. 19-106. Dazu: E b b e c k e [oben §3]. — Johannes Vriend, The blessed Virgin Man in the medieval drama of England. Proefsoirift Amsterdam 1928 (die wichtigen Einzeluntersudiungen zur Thematik auch für d. dt. Spiel nützlich). § 7. Unübersehbar und hier im einzelnen nicht darzustellen fließt neben oder vielmehr unter der eig. M. der Strom der verehrenden, auslegenden oder erbauenden P r e d i g t - und Τ r a k t a t literatur, zu der die Zeugnisse der Frauenmystik treten. — M. hält seit Bernhard von Clairvaux eine ständige Nähe zur affektiven Μ y s t i k (s. oben § 1). In der spekulativen Mystik spielt Maria naturgemäß eine geringe Rolle: dem unioStreben konnte eine mediatrix nur im Wege sein. Die Gottesmutter tritt dagegen häufig in Seuses Passionsmystik hervor. Während die Vita in erbaulicher Weise die Maria der Legende zeigt, ist die mater dolorosa Gegenstand des Büchleins der ewigen Weisheit (1328?). Zur Nachfolge in ihrem Leiden ruft die Schrift auf. In einer Marienklage wird der Inhalt des ps.-bemhardischen Traktats De passione Christi, de doloribus et planctihus matris eins (§ 6) meditativ ausgeschöpft. Seuse leitet schon zur Empfindsamkeit später Frauenmystik hinüber, in der compassio und congaudium im Gemeinwesen vorbereitete Erlebnismöglichkeiten werden. Das Marienbild neigt zur Verschmelzung mit der visionären Nonne selbst, die sich als Mutter mit dem Kinde sieht (Schwestern in Engeltal, Töß, Katharinental usw., auch Gertrud von Helfta). Dies ist der Gegenpol zu den hoheitsvoll-strengcn, klaren Konturen, mit denen Hildegard vou Bingen (§ 5) in Symphonie de Sta Maria (in Scivias) Maria gezeichnet hatte. Sogar das Marienbild der Mechthild von Magdeburg war bei aller Sinnlichkeit der Spradie im Kern vergeistigt und unerweicht geblieben. Von den marianischen Preistraktaten des 14. und 15. Jh.s, die ζ. T. in den Rahmen des Streits um die immacu-

lata conceptio ( § 5 ) gehören, ist kaum etwas ediert {Marienspiegel des Thomas von Baden; Rosenkranz des Ulrich Pinder; Marienlob des Heinrich Eckenwinder in der Berliner Hs. mgq. 1581; Unserer Frauen Mantel, ein um 1500 von Zainer gedruckter Traktat u. a.). Heinrich Seuse, Dt. Schriften, hg. v. Karl B i h l m e y e r (1907). Ps.-bemhard.Traktat s. oben § 6. Peter D e m ρ e , Die Darstellung d. Mater dolorosa bei Heinrich Seuse, Stoff u. Stil. (Masch.) Diss. Berlin (FU) 1953. Grete L ü e r s , Marienverehrung mal. Nonnen (1923; Aus d. Welt diristl. Frömmigkeit 6). Walter M u s c h g , Die Mystik in d. Schweiz 1200-1500 (1935). — Hildegard von Bingen, Scivias, hg. bei Migne PL. 197, S. 729-731; Ubers, in: Hildegard v. B., Wisse die Wege, Scivias. Ubertr. u. bearb. v. Maura B o c k e l e r (Salzburg 1954) S.340f. — Traktate: Wolfgang S t a m m l e r , in: Stammler Aufr. Bd. 2 (2. Aufl. 1958 ff.) Sp. 766 f. § 8. Die M. des B a r o c k s setzt in vielem die in den Meistersang ausmündenden mal. Traditionen fort. Die freieren gemeinschaftlichen Zusammenschlüsse des MA.s werden im 16. Jh. in der marianischen Tätigkeit von den Orden abgelöst. Die Tagzeitenliturgie wird in deren Wettstreit marianisch ungemein aufgeschwellt, bis sich allmählich erst das einheitliche Römische Brevier durchsetzt. Die Rosenkranzandachten werden erweitert, die Salve-Andachten gesteigert, die allegorische Bildsprache bleibt in den Litaneien lebendig; und als auch hier die Lauretanische der Vielfalt ein Ende setzt, tritt das barocke Kunstlied und auch Kirchenlied mit litaneihafter Reihung der Mariensymbole das Erbe an. Hier wird auch der preisend-didaktische Typus des Liedspruches fortgesetzt, jetzt freilich nicht mehr im Sinne einer konkurrierenden Laientheologie, sondern einer propaganda fides der gegenreformatorischen Kirche, die Lehrgut im Lied befestigt. Das daneben bestehende protestantische Kirchenlied wirkt inniger, stärker der Tugendschönheit Marias zugewandt. Hier werden Fäden zur mal. Mystik (Tauler, Seuse) wie zu Zinzendorfs Pietismus sichtbar. Im Dienst von Predigt und Lehre stehen auch die Perikopenlieder Prokops von Templin {Mariale Concionatorium, 1667; Der... Mutter Gottes Mariae-Hülff-Lob-Gesang, 1659), von denen Brentano noch ins Wunderhorn aufnimmt. Und noch einmal, wie sdion im 13. Jh., unterwirft sich die Marienlyrik der

Mariendichtung Verbindlichkeit der Ausdrucksgeste weltlicher Lyrik: Johannes Kuen (Marianum Epithalamium, 1636), Laurentius von Schnüffis (Mirantische Maien-Pfeiff oder Marianische LobVerfassung, 1692), Friedr. von Spee (Klagvnd travvrgesang, s. u.) u. a. zeigen Marienpreis mit höfischer Stilisierung oder schäferlicher Verkleidung. Für sich stehen die marianischen Sinngedichte des Angelus Silesius; für das Paradox des Inkarnationsgeheimnisses ist das antithetische Distichon das gegebene Maß. Schefflers Aussage ist in ihrem Synkretismus, in dem Gedanken- und Bildgut mlat. Hymnik wie Jacob Böhmes (Maria = Sophia) verschmolzen sind, einer der Höhepunkte barocker M. Im protestantischen Gedicht, das christologisch ist und in dem Maria ihren Platz nur in der Passions- und Weihnaditsthematik hat, werden daneben an die mal. Mystik erinnernde Töne ergriffenen Sich-Versenkens hörbar; Bilder- und Symbolprunk wird, wie im beginnenden volkstümlichen Lied des 14. u. 15. Jh.s, bewußt zurückgedämmt (Fleming, Scultetus, Klaj, Dach, Basse, Opitz, Gryphius [in den Sonn- und Feiertags-Sonetten]). Die Träger der Marienverehrung in der Gegenreformation sind die J e s u i t e n . In ihrem neulat. Marienlied, das häufig eine Vorliebe für lyrisches Ausspinnen epischer Thematik (Marienvita bei Pontanus, Legendenstoffe bei Bidermann) zeigt, geht der Weg von dem fast noch vorbarocken spielerischrationalen Humanismus des Pontanus über die hymnische, persönlich getönte Bildverehrung in den Oden Jacob Baldes (zw. 1630 und 1640) bis zum habsburgischen Spätbarock in den Oden Avancinis, in denen die Lust an repräsentierender Versinnlichung vielleicht am stärksten durchbricht. Das jesuitische Mariengedicht dient auch während des ganzen Zeitraums der Kontroverse mit den Dominikanern um das Immaculata-Problem, das schon die Reformationsgeneration beschäftigt hatte. In dt. Sprache gehören einige empfindsame Lieder dem Jesuiten Friedrich von Spee, auch wenn man ihm einen Großteil der ihm zugeschriebenen Marienlieder, die anonym in den Gesangbüchern der Zeit stehen, nun wieder absprechen muß. Er gehört zu den wenigen, die im Klag- vnd travvrgesang der Mutter Jesu in der TrutzReallexikon II

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nachtigall die unmittelbare Gefühlsspradie der Marienklagen, die in den Passionsspielen überlebten, wieder aufzunehmen wagt. Auch vom Jesuitenorden und marianischen Kongregationen getragen, von Mitgliedern der Sodalitäten verfaßt und vor ihnen gespielt sind die zahlreichen Heiligen- und Bekehrungsdramen, welche die Hilfe Marias für den Sünder in dramatisch gespannter Situation vorführen und also die mal. Tradition der Dramatisierung von Legendenstoffen fortsetzen. Mit am beliebtesten ist die Theophilus-Legende (oben § 4), zuerst 1582 in München aufgeführt und mystisch spiritualisiert durch Joh. Paullinus (Theophilus seu Caritas hominis in Deum, 1643), daneben verschiedentlich Maria auxiliatrix (seit Dillingen 1637) und Bidermanns Jacobus usurarius (schon 1617 entst., seit München 1661 aufgef.). Aus der gegenreformatorischen Situation entsteht im 16. Jh. der Typus des unterweisenden Dialogs (Rosarium BMV, 1596, über den Marienkult) und, Analogon zur bilderreihenden Lyrik, die vielteilige Szenenfolge ohne einheitliche Handlung (Georg Stengeis DeiparaeVirginis triumphus, 1617). Erst im 2. Jahrzehnt des 18. Jh.s erlischt das marianische Spiel. Drama und Lyrik des Barocks attrahieren auch die epischen Themen der M. Bei sonstiger Kontinuität setzt die Zeit — für die Gespanntheit ihrer religiösen Gefühlswelt kennzeichnend — die Epik des MA.s (Vita und Legende als Versepos oder Prosa) praktisch nicht fort. Stephan Β e i ß e 1, Geschichte der Verehrung Marias im 16. u. 17. Jh. (1910). Kunigunde Β ü s e , Das Marienbild in d. dt. Barockdichtung (1956), mit Textauswahl S. 159-208 und Bibliographie. Gottlieb Μ e r k 1 e , Die geistesgesdiichtl. Voraussetzungen d. gegenreformatorischen Marienideals. (Masdi.) Diss. Münster 1945. Max Vine. S a t t l e r , Geschichte der marianischen Kongregationen in Bayern (1864). Reintraud S c h i m m e l p f e n n i g , Gesdiidite d. Marienverehrung im dl. Protestantismus (1952). — Liedsammlungen: Catholisdi Gesangbüechlein (München 1613). Geistliches Psälterlein der Societet Jesu (Collen 1637 u. ö.). Keusche Meerfräwlein Oder Geistliche Gesang Mariae (Wüizburg 1649). Ph. M. K ö r n e r , Marianisdier Liederkranz (1841). Albert Fr. Wilh. F i s c h e r , Das dt. evang. Kirchenlied d. 17. Jh.s. Hg. v. W. T ü m p e l , 6 Bde (1904-16). Wilhelm B ä u m k e i , Das kath. Kirchenlied in seinen Singweisen. 4 Bde. Bd. 4 hg. v. Josef G ö t z e n (1888-1911). — Günther M ü l l e r , Gesdiidite des dt. Liedes (1925; Gesch. d. dt. Lit. nach 19

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Mariendichtung

Gattungen 3). Kurt B e r g e r , Barock u. Aufklärung im geistl. Lied (1951). — P r o k o p i u s , Marienlieder, hg. u. in Zshang mit d. dt. M. d. 17. Jh.s unters, v. Veit G a d i e n t (1912). August Heinrich Κ ο b e r, Die Mariengedichte des Frocopius von Templin (1916; Diss. Münster 1925). Angelus S i 1 e s i u s , Sämtl. poetische Werke, hg. v. Hans Ludw. Η e 1 d. 3 Bde (1949-52). Karl L a n g o s c h , Die 'Heilige Seelenlust' des A. S. u. d. mlat. Hymnik. ZfdA. 67 (1930) S. 155-168. Übers.en von J. Baldes Oden durch H e r d e r , Der kleine Marientempel, in: SW (Suphan) 27 (1881) S. 265-273, und durch Peter Baptist Ζ i e r 1 e r , J. Balde als Mariensänger (1897). — Friedrich S ρ e e , Trutznachtigall, hg. v. Gustav Otto A r 11 (1936; NDL. 292-301) S. 275 ff. Joseph G ö t z e n , Die Marienlieder Friedrichs v. Spee. Zs. f. Kirchenmusik (Cäcilienvereinsorgan) 70 (1950) S. 133-136. Kritisch eingeschränkt durch Emmy R o s e n f e 1 d , Friedrich Spee von Langenfeld (1958; QF 126) S. 156-196. — Zum Jesuitendrama Bibliographie von Willi F 1 e m m i η g, Reallex. Bd. 1, S. 765 f. Verzeichnis der Mariendramen bei Β ü s e , S. 155-158. — Theophilus in Clm 503 (wohl noch Aufführung des 16. Jh.s), Clm 19757, Bl. 367-409 (Auff. 1596), Clm 26017, B1.108 a-163b (Auff. 1621). Jacob B i d e r m a n n , Ludi theatrales sacri (München 1666) II, 90 ff. Maria auxiliatrix als Programmzettel (Bavar. 2193, III, 83) in der StaBi München. Johannes P a u l l i n u s , Theophilus, in: Clm 3124, Bl. 75-87. Rosarium. BMV, in: Clm 19757, Bl. 330-358. Georg Stengel: Programmz. StaBi München Bavar. 2193, III, 86. — Die Theophilus- und Wucherer-JacobLegende audi in der bedeutendsten Marienlegendensammlung der Zeit: Alexander S p e r e l l u s , Schutzmantel Mariae ... In 52 Wunder-Geschichten (Sultzbadi 1679).

§ 9. Mit dem Ausgang des Barocks stirbt M. als aus persönlicher Andacht geborene, aber zu Kult und Verehrung einer Gemeinschaft bestimmte oder wenigstens in sie eingelassene Ausdrudesform (mit einer Ausnahme: den Mariengedichten im Perikopenzyklus Das geistliche Jahr der Drostel). Spätestens seit dem 3. Jahrzehnt des 18. Jh.s steht M. nur noch für den Dichter selbst. So ist ein neuer Weg frei: neben romantischer Wiedererweckung alten Bild- und Vorstellungsbesitzes kann die Gestalt der Gottesmutter zum Symbol außerhalb mariologischer Verbindlichkeit werden. Damit gibt es eine uneigentlidie Mariendichtung. Die Anschauungsweise der Aufklärung beleuchtet Herder (70. Humanitätsbrief), wenn er schreibt, das Abendland habe sich in der Mariengestalt das Ideal einer neuen, von der Antike unabhängigen Humanität gebildet,

wogegen Goethe sich in der Schlußszene von Faust II (Mater gloriosa) „scharf umrissener christlich-kirchlicher Figuren und Vorstellungen" bedienen wollte, um sich dem „Vagen" zu entziehen (zu Eckermann 6. 6.1831). Das Marienbild des Novalis, in den Gedichten konventioneller, entspringt in den Hymnen an die Nacht und im Klingsor-Märchen einem mystischen Enthusiasmus, der den Pietismus überspringt und auf ältere naturmystische Quellen zurückgreift (J. Böhme: Maria-Sophia). Verschmelzung des Bildes Mariae mit dem der Geliebten gehört zur Eigenart romantischer Mariendichtung: Novalis, Loeben (Roman Guido) und der frühe Eichendorff (Maria Sehnsucht; Jugendandacht; Antwort [an Loeben]), während die Gedichte des späten mehr in die Aussageform des Kirchenlieds einbiegen (Kirchenlied; Der Umkehrende V; Die Flucht d. hl. Familie; Marienlied). Künstlerisch bedeutendstes Zeugnis der zwischen Naturmystik, ästhetischem Sensualismus und frommer Verehrung schwankenden M. der Romantik sind Brentanos 'apokryphe' Romanzen vom Rosenkranz, die Heimweh nach gotischem Mittelalter (Bologna, 13. Jh.) über den eigenen zwiespältigen Tiefsinn breiten. Als poetische Fingerübungen in der geistl. Tonart wird man die Mariengedichte der Schlegels ansehen, Friedrichs Klagelied der Mutter Gottes (SW [1823] IX, 201-217), einen langen epischen Rückblick mit ζ. T. moderner Motivik, und August Wilhelms pittoreske Geistliche Gemälde in Sonettform (I, 305 f. 311-313 Bödcing), die sich getreuer in den Traditionston einpassen. Für sich steht das Marienbild in Hölderlins später Hymne An die Madonna (II, 211-214 Beißner): in der Madonna, die über den eigenen Weg der jungen Generation wachen soll, gehen christliche Vorstellungen in die einer mythologischen mater-Gottheit über. Romantischer Nachklang sind die Marienlieder (1843) des Guido Görres. Im 20. Jh. wird ein neuromantischer Ansatz von einer katholischen Bewegung abgelöst, die zu objektiven Werten und einem Heilsordo über dem Raum geschichtlicher Erschütterungen hinleiten will (G. v. Le Fort, Hymnen an die Kirche; R. Schneider, Mariensonette). Neuromantisch sind die Gedichte Stefan Georges (Das Bild; Sporenwache; Sänge eines fahrenden Spielmanns in: Sa-

Mariendichtung — Martinslied gen und Sänge) und Ludwig Derleths, Albrecht Schaeffers und Ruth Schaumanns; auch Rilkes im Marienleben, worin die alten Bilder und Szenen in die dem Dichter eigene gegendogmatische Form der Aussage transponiert werden ;bewußtes Anknüpfen an die Haltung der Frühzeit ( G e b e t e der Mädchen an Maria, 1898), wo im Marienbild die blumig-unwirklichen Mädchengestalten des frühen Rilke hinaufgesteigert wurden. Dichterischer Höhepunkt des deutschen Renouveau catholique und damit der modernen M. sind die im Ton ungemein sicheren, unromantischen und unmanieristischen Mariengedichte von Konrad Weiß. Der einzige epische Beitrag von Rang ist Franz Werfeis dokumentarischer Roman Das Lied von Bernadette (1945), der auf Grund eines Gelübdes geschrieben wurde.

Marianne H e n d r i c k s , Die Madonnendichtung d. 19. u. 20. Jh.s (Masch.) Diss. Marburg 1948. Gertrud L a y e r , Madonnenkult u. Madonnenideal in d. Romantik. Diss. Tübingen 1925. Georg H e r m a n o w s k i , Das Marienlob in der jüngsten dt. Dichtung. Begegnung 4 (1949) S. 129-131. Erich B o c k e m ü h I, Die moderne M., eine Anthologie (1928). — Richard S a m u e l , Die poetische Staats- u. Geschichtsauffassung Friedrich v. Hardenbergs (1925; Dt. Fschgn. 12), S. 185 ff.: Die Marienauffassung des Novalis. — Amalie Weihe, Der junge Eichendorff u. Novalis' Naturpantheismus (1939; GermSt. 210). — Günther M ü l l e r , Brentanos 'Romanzen vom Rosenkranz' (1922). — Romano G u a r d i n i , Hölderlin (2. Aufl. 1955) S. 555-563. — Marianne S i e ν e r s , Die biblischen Motive in d. Dichtung R. M. Rilkes (1938; GermSt. 202). — Zu Werfeis Roman: Joachim Μ a a ß , Das begnadete Herz. NRs. 56/57 (1945/1946). Nr. 2, S. 134-145. Hans Fromm

Martinslied Der Tag der Beisetzung des um 400 als Bischof von Tours gestorbenen hl. Martin (11. Nov.) gilt als Abschluß des bäuerlichen Jahrs und Winterbeginn. Mit ilrni verbindet sich unterschiedliches Brauchtum, wie das Abbrennen von Feuern, Laternenumzüge, Gabenheischen und Gelage. § 1. Das Einfordern von Brennmaterial und Eßwaren gibt Anlaß zum Absingen von Heischeliedern durch die umherziehende Jugend, ζ. T. unter Begleitung des Rummelpotts. Diese brauchtümlichen M.er, denen man ein hohes Alter zusprechen kann, liegen in Hunderten von Aufzeichnungen vor, vor allem dank den Erhebungen zum Atlas der

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deutschen Volkskunde. Ihr Verbreitungsgebiet ist das Rheinland (südliche Grenze: Mosel—Lahn), Ostfriesland, Hannover, Braunschweig, Westfalen, Altmark, Thüringen und Schleswig, ferner Holland, Flandern und Luxemburg; auch wallonische Belege finden sich. Ein großer Teil der Lieder ist auf einen bestimmten landschaftlichen Umkreis beschränkt. Oft bestehen die meist stichisch verfaßten Gebilde aus einzelnen Teilstücken, die unter sich verschiedenartige Verbindungen eingehen. Textlich zeigen sich Beziehungen zu anderweitigen Heischeliedern; verschiedentlich haben sich in den Liedern noch Hinweise auf brauchtümliche Handlungen erhalten, die längst nicht mehr ausgeübt werden (Verbrennen lebender Tiere, Schlag mit der Lebensrute, Kuhopfer). Anspielungen auf die Martinslegende sind kärglich (Mantelteilung, Verbrennen des Bettstrohs). Umstritten ist die Deutung des „Sinte Mätes Vögelche" (rotbehaubter Schwarzspecht?). In einigen protestantischen Gegenden ist Martin Luther an die Stelle des Heiligen getreten. Durch Einflußnahme der Lehrerschaft sind an manchen Orten die überlieferten M.er durch Neudichtungen ersetzt worden. Ludw. Ε r k u. Franz M. B ö h m e , Dt. Liederhort. Bd. 3 (1894) S. 158 ff., Nr. 12671270. Fl. van D u y s e , Het oude nederlandsche lied. Bd. 2 (s'Gravenh. 1905) S. 13361352, Nr.374. A-E. Wilh. J ü r g e n s e n , M.er. Untersuchungen u.Texte (1910; Wort u. Braudiö). Heino P f a n n e n s c h m i d , German. Erntefeste im heidn. u. christl. Cultus (1878) S.468ff. Gustav Friedrich M e y e r , Brauchtum d. Jungmannschaften in Schleswig-Holstein (1941; Sehr, zur Volksfsehg. Schlesw.-Holst. 6) S.99ff. Rieh. W o s s i d l o , Mecklenburgische Volksüberlieferungen. Bd. 4 (1931) S.276f. Jos. S c h r i j n e n , Nederlandsche Volkskunde. Bd. 1 (Zutphen 1930) S. 103ff. Remi G h e s q u i e r e , Kinderspelen uit vlaamsch Belgie. Bd. 1 (Gent 1905) S. 187-192. J. H. K r u i z i n g a , Levende Folklore in Nederland en Viaanderen (Assen [1953]) S. 190-213. Johanna C. D a a η, Wieringer land en leven in de taal (Alphen 1950) S. 86 f. Hans W a g n e r , Die rhein. M.er in liedgeographischer u. motivgeschichtl. Darstellung. Rhein. Vierteljahrsblätter 3 (1933) S. 161-191; 320-355. Siehe auch die Belege bei: Paul S a r t ο r i , Sitte u. Brauch. Bd. 3 (1914) S. 268 f. u. Ders., Westfälische Volkskunde (2. Aufl. 1924) S. 202, Anm. 478.

§ 2. Der hl. Martin war Patron der Winzer; an seinem Gedenktage stach man den neuen Wein an, trank seine Minne und verspeiste gemeinsam die zu seinen Ehren ge19·

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Martinslied — Meistergesang

sammelten Opfergaben. Martinsgelage müssen schon Ende des 6. Jh.s im Schwange gewesen sein. Lieder, die man dabei sang, werden erstmalig 1263 durch Thomas von Cantimpre erwähnt. Texte finden sich vom Ende des 14. Jh.s bis um die Mitte des 17ten in Hss. und Drucken. In dieser Art von M.ern werden die Zechbrüder zu hemmungslosem Saufen und Schlemmen aufgefordert, wird das Lob des spendefreudigen Heiligen und seines edlen Vögeleins, der guten, feisten Gans, gesungen. Wir stoßen bei ihnen auf viele volkstümlichen Züge, aus der Weinlaune entsprungenes Wortgesprudel und Gänsegegacker. Daß wir die Schöpfer solcher Lieder zu einem guten Teile unter dem lustigen Völklein der Scholaren zu suchen haben, zeigen die häufigen Einsprengungen lateinischer Zeilen, was sich bis zur lateinisch-deutschen Mischpoesie oder rein lateinischer Dichtung (PBB. 37,161) steigern kann. M.er nahmen sich Komponisten gerne zum Vorwurf für ihre Kompositionen, so u. a. Orlando di Lasso und Melchior Franck; s. auch die betr. Stücke bei Georg Forster Frische teutsche Liedlein. Bd. 2 (Neuausg. durch Kurt Gudewill u. Hinrich Siuts, 1960). Da solche Lieder aber auch von der Kurrende bei ihren Bettelgängen vorgetragen wurden, sind textliche Berührungen zwischen ihnen und dem in § 1 geschilderten Liedgut leicht erklärlich. E r k - B ö h m e (s. o.), Nr. 1148-1154. J ü r gensen a. a. O., S. 131 ff. Erich Seemann Meistergesang § 1. Unter M. verstehen wir die schuloder handwerksmäßig geübte Kunst, ein Lied zu einer bestimmten Melodie zu dichten oder ein Lied in einer festgefügten Strophenform zu verfertigen und dazu eine Weise zu erfinden. Die erste Art kennzeichnet die ältere, die zweite die jüngere Periode des M.s. Es ist also kein soziologischer, sondern ein literar. Begriff, der sich ohne Schwierigkeit von andern dichterischen Typen des MA.s sondern läßt. Meister nannten sich die bürgerlichen und meist fahrenden Spruchdichter seit dem 13. Jh. im Gegensatz zu den ungelehrten leien, die keine singschule besucht, d. h. nicht den Unterricht eines berühmten Meisters genossen hatten und nicht über Kenntnis in den sieben freien Künsten verfügten. Die Form der Strophen übernahmen sie von dem Minnesang; aber größerer

Wert wurde auf den Inhalt, den sin, gelegt. Daher knüpften die Meister mehr an die höfische Spruchpoesie als an die Liederdichtung an, wenn sie auch letztere nicht verschmäht haben. Anderseits wurde der schroffe Gegensatz, welchen die mhd. Zeit zwischen Lied und Spruch empfand, vom M. überbrückt durch Vereinigung von Form des Liedes und Inhalt des Spruches. Die histor. Bedeutung des M.s beruht nicht zum wenigsten darin, daß er konsequent den Stoff der Spruchdichtung in lyrischer Technik bearbeitete und dadurch ζ. B. die didaktischen Gedichte eines Walther von der Vogelweide fortsetzte. Gerade in der strengen Forderung der Mehrstrophigkeit auch bei lehrhafter Poesie liegt das Neue und Bahnbrechende des M.s, obgleich neuerdings schon für die höfischen Dichter die Mehrstrophigkeit der Sprüche postuliert wurde. Ebenso übernahm der M. in der stofflichen und motivlichen Einkleidung viel von der Spruchdichtung (Aufzählung von Tugenden und Lastern; Spaziergang oder -ritt des Dichters; Traumallegorie; Personifikation abstrakter Begriffe). Die wachsende Lust am Allegorisieren und Andeuten wuchs, als der scholastische Einfluß audi im M. mächtiger wurde. Wie einstmals ein Teil dieser Bilder aus der geistlichen Lit. in die ritterliche gedrungen war, so wird diese poetische Manier nunmehr neu gestärkt von dem geistl. Schrifttum. Und wenn der M. gern, besonders in späteren Jh.n, aktuelle Themata besingt, Ereignisse aus der zeitgenössischen Geschichte, lokale Greueltaten u. dgl. mehr, so finden wir diese Vorliebe bereits bei den höfischen Spruchdichtem. Ihre m u s i k a l i s c h e n Gedanken holen sich die Meister ebenfalls vom Klerus. Die geistlichen Theoretiker sind die Paten dieser Gesänge. Unterricht in der Musik, Kenntnis der alten Melodien und ihrer Namen (die sie ebenfalls nach geistlichem Vorbild bekommen hatten), Technik und Regel des meisterlichen Gesangs, alles stammt aus der gelehrten, der künstlerischen Musik, der ars (im Gegensatz zum usus). Auch der Gesang war bei den Meistern zu einer Wissenschaft geworden, wie die Poesie. Diese einzelnen Meister haben wir als Vorläufer der späteren Meistersinger zu betrachten, ihre Gedanken, ihre formalen, inhaltlichen und technischen Vorschriften haben nachgewirkt, bis der M. starb.

Meistergesang § 2. E r s t e E n t w i c k l u n g . Im 14. Jh. taten sich Laien zu Singbruderschaften zusammen, zur Ehre Gottes und zur Verschönerung des Gottesdienstes, später zur eigenen Erbauung und Unterhaltung. Schulmäßig wurden die Mitglieder von Geistlichen in den Anfangsgründen der freien Künste, in Dichtung und Gesang unterrichtet. Die Kunst der Meistersänger hing anfangs noch am höfischen Betonen der Form fest. Doch bald trat der Inhalt maßgebend hervor, sie suchten erst einmal mit dem inneren Erlebnis fertig zu werden und bekümmerten sich wenig um seine künstlerische Sichtbarmachung in einer feineren Form. Sie gehörten eben ganz dem ausgehenden MA. an, wo die Idee vielmals die Form zurückdrängte. Da sie aus geistlichen Bruderschaften (in die auch Frauen aufgenommen werden konnten) herkamen, wurde der theolog. Inhalt allein bestimmend, und hier strebten sie, das religiöse Sehnen der Laien zu dichterischen Gebilden umzugestalten. Sie versenkten sich in Gott und seine Geheimnisse, versuchten von dieser Basis aus Welt und Menschen zu deuten. Mitten in dem Ringen ihrer Zeit stehen diese Laiendichter, in dem Ringen um Gott und Welt, um Seele und Sinne, um Geist und Materie. Daß auch die Form an sich ein künstlerisches Problem sein kann, lag ihnen noch fern. Vielmehr war ihr Ziel, mannnigfachen alten und neuen Inhalt in traditionell feste Gestalt zu gießen, die nicht geändert werden durfte. Zwölf alte Meister, deren Namen, z. T. in wunderlicher Entstellung, aus den höfischen Epikern und Lyrikern ausgewählt waren, wurden als Stifter verehrt und dadurch der Zusammenhang mit der höfischen Lyrik in richtiger Ahnung festgehalten. Nur dieser zwölf Meister „Töne" ( = Melodien) durften benutzt werden, in ihnen lag für sie alle Kunst, aber auch alles Ethos beschlossen. Wer „neue" Töne aufbrachte, versündigte sich moralisch. Doch sind keineswegs alle „Meister" des 13. und 14. Jh.s „organisiert". Vielmehr streifen sie als fahrende Sänger von Stadt zu Stadt, auch von Fürstenhof zu Fürstenhof oder von Burg zu Burg, befehden sich als künstlerische Rivalen und gehen schließlich im Konkurrenzkampf gegen die formal und stofflich besser geschulten seßhaften Sänger der neuen Generation unter. Diese frühen

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Meister sind noch keineswegs von der Forschung genügend untersucht. Ihr Werk müßte in eingehender Interpretation gesondert charakterisiert werden; vereinzelt ist damit schon begonnen worden. Der geistliche Einfluß auf den ältesten M. zeigt sich neben der Bruderschaftsorganisation, die nach dem Erstarken der Zünfte in die handwerkliche überging, auch in der Anordnung der „singschule", die ganz in der Form der Disputation einer mal. Universität vor sich ging: der Singer sitzt auf dem Stuhl ( = dem Katheder) und trägt sitzend sein Lied vor, ihm gegenüber sitzen die „Merker", entsprechend den Opponenten der Disputation, rings herum das Auditorium, die Zuhörer. In vielen Orten bestand die Verordnung, daß einer der Merker ein Geistlicher sein mußte, der die theologische Korrektheit des Inhalts nachprüfte; und als nach der Reformation manche Schulen evangelisiert wurden, verfolgte man wenigstens genau nach der Lutherischen Bibel den Wortlaut des Liedes. Das Wettsingen, ursprünglich nur eine Übung und Nebenunterhaltung, wurde schließlich zur Hauptsache, als die Begleitung des Gottesdienstes mit Gesang nicht mehr statthatte. Volkstümliche Bräuche wurden nun von den Handwerkern in ihre Schulordnungen aufgenommen: der Sieger in dem „weltlichen", dem sog. „Zechsingen", nach dem feierlichen Akt in der Kirche, erhielt einen Kranz als Belohnung. § 3. Von Mainz scheint die Entwicklung der S i n g s c h u l e n ausgegangen zu sein. Auch in Straßburg bestand schon früh eine Bruderschaft, und ebenso in Worms. Von da geht im 15. Jh. eine rasche Ausbreitung nach dem Osten: Schwaben und Franken folgen mit Nördlingen, Rothenburg o. d. Tauber, Donauwörth, Ulm, Augsburg, Nürnberg; München schlägt die Brücke hin nach Tirol und Oberösterreich. Im 16. Jh. folgen Pforzheim(?), Freiburg i. Br., Frankfurt a. Μ.,ΚοΙmar, Eßlingen. Auch der Osten mit Breslau, Görlitz, Iglau und anderen mährischen Städten will nicht zurückbleiben. Norddeutschland hat sich auffallenderweise vom M. ganz ferngehalten. In Magdeburg scheint keine Schule bestanden zu haben, sondern nur vereinzelte Meistersänger, die auf der Gesellenwanderung in Süddeutschland dortige Singschulen besucht hatten, pflegten für sich

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weiter die edle Kunst. Und in Danzig, dem immer eine Meistersängerzunft untergeschoben wird, schweigen alle Urkunden. § 4. Vermutlich seit Ende des 14. Jh.s bestanden feste Vorschriften für Dichtart und Gesang, die „ T a b u l a t u r " Mit der Zeit wurden diese Gesetze immer enger und starrer, bestimmten bis ins einzelne erlaubte und verbotene Reime und Verse, regelten die Vortragsart und statuierten bestimmte Grade unter den Mitgliedern je nach Sing- und Dichtleistung. Ihre Musik stammte her von dem geistlichen, dem gregorianischen Gesang. Ohne Begleitung, einstimmig wurde vorgetragen. Für den Vers war die Silbenzahl maßgebend, denn er war kein Sprechvers, sondern für den Gesang bestimmt. Das Schloß schon alternierenden Vortrag aus und gestattete nur Vortrag nach dem Wortakzent; die Reihenfolge von betonten und unbetonten Silben erfolgte systemlos. Eine Mensurierung zu Gruppen mit bestimmten Taktarten, wie sie unserm heutigen Gefühl entspricht, kommt also nicht in Betracht, da sie nur zum Widerspruch mit der Art des Vortrage geführt haben würde. Die Verse müssen auftaktig (iambisch) gebaut sein und dürfen nicht mehr als 12-13 Silben enthalten. Für den I n h a l t muß man zwei Arten von „Singen" unterscheiden: das große offizielle „Schulsingen" in der Kirche erlaubte nur theologische Stoffe; das Lob Gottes, der Jungfrau Maria und der Heiligen und andere religiöse Themen wurden in scholastischer Methode, teils spitzfindig, teils pedantisch, teils unverstanden, abgehandelt. Dafür gab es als Ehrenpreis den „David", ein Kleinod mit dem Bilde des alttestamentlichen Sängerkönigs. Beim „Zechsingen" hernach im Wirtshaus durften auch weltliche Stoffe angeschnitten werden, und dabei ging es oft recht derb und lustig zu. § 5. Der n e u e A u f s c h w u n g und die rasche Verbreitung, die um das Jahr 1500 einsetzen, hängen zusammen mit einer grundstürzenden Änderung, die eine einzelne Persönlichkeit durchsetzte. Die orthodoxe Bestimmung, daß nur die „alten" Töne der zwölf Meister gesungen, keine „neuen" erfunden werden durften, führte entweder zum Betrug: man erfand doch einen eigenen Ton, schob ihn aber einem der alten Meister unter — oder zur Verknöcherung und Erstar-

rung: wo Inhalt u n d Form ein für allemal festgelegt sind, ist jede künstlerische Entwicklung ausgeschlossen. Als der Humanismus nach Deutschland drang, brachte er vor allem ein neues stilistisches Kunstwollen mit, das sich rasch in der Lit. auswirkte. Auch in meistersängerische Kreise kamen solche Gedanken, und bezeichnenderweise war es ein Bader und Wundarzt, also ein zwischen Gelehrten und Laien stehender Heilkundiger, der neues Kunstwollen in den erstarrten M. brachte. Hans F o l ζ (gest. vor 1515) heißt er, der zuerst in seiner Heimat Worms dafür eintrat, daß auch „neue" Töne komponiert und neben den alten in der Singschule vorgetragen werden durften. Der reaktionäre Geist der oberdeutschen Singschulen widersetzte sich dem energisch. Unwillig verließ Folz die Vaterstadt und wandte sich Nürnberg zu, wo der aufblühende Humanismus mehr Gewähr für die Erreichung seines Zieles bot. Auch hier bedurfte es erst einiger Kämpfe, bis sich die Meistersänger an den neuen Vorschlag gewöhnten. Aber sobald er durchgedrangen war, trat er seinen Siegeszug durch alle Singschulen an und wurde zum selbstverständlichen Prinzip erhoben. Ja, bald wurde als Norm festgelegt, daß nur der ein „Meister" werden konnte, wer einen eigenen Ton erfunden und vor der Singschule „bewährt" hatte. Die alte, schon im Kloster St. Gallen in Brauch gewesene und auch in der geistlichen Musik übliche Gewohnheit, den Weisen bestimmte Namen zu geben, wurde damit zur Notwendigkeit. Und wo es früher nur die Töne der zwölf Meister zu lernen galt (den Hofton, Frau-Ehren-Ton usw.), wimmelte es bald von neuen Melodien mit den auffallendsten, weil um so besser behaltbaren Namen, die häufig bestimmten Gelegenheiten ihre Entstehung verdankten: Schrankweise, spitzige Trinkschuhweise, reichliche Jahrweise, krumme Spruchweise, heftige Granatkugelweise, hohe Szepterweise, Feldschlangenweise, schreckliche Donnerweise, geblümte Adlerweise, Weberschiffleinweise, gebleichte Zwillichweise, kurze Barchentweise, fröhliche Hochzeitsweise, saure Winterweise, kurze Affenweise u. dgl. mehr. Bis zu Folzens Auftreten trägt die Menge der Meisterlieder ein künstlerisch stereotypes Gepräge, wie es überalterten Methoden

Meistergesang stets zu gehen pflegt: Aufzählung von Tugenden und Lastern, Personifikation von Abstrakten, Gegenüberstellung von Altem und Neuem Testament, Dreieinigkeit und Jungfrauengeburt waren die Themen, die, häufig in versteifter Allegorisierung und mit schematischer Einkleidung, nach den damals schon archaisch anmutenden Weisen mit viel Reim- und Versnot traktiert wurden. Hans Folz riß die Fenster auf und ließ frische Luft in die verstaubten, stickigen Singsciiulen. Die erste greifbare Persönlichkeit unter den jüngeren, dem Handwerk angehörigen Meistersängern, besaß er Energie und Spannkraft, auch künstlerische Elastizität in hinreichendem Maße, so daß er seinen Angriff zum siegreichen Ende durchführen konnte. Da Folz auch eine Reihe der damals üblichen Schwänke und Spruchgedichte in der unverblümten Ausdrucksweise des 15. Jh.s verfaßt hat und als Dichter derber Fastnachtspiele manchen Erfolg errang, brandmarkte ihn die zimperliche Literaturgeschichte des prüden 19. Jh.s mit dem Stempel der Roheit und Unsittlichkeit, ohne Zeit und Umgebung in Rechnung zu stellen. Schon daß Geiler von Kaisersberg 1497 über ein 1473 entstandenes Folzisches Beichtgedicht predigte, sollte solchen Vorwurf entkräften. Der „geschworene Meister der Wundarzneikunst" konnte natürlich nicht dichten wie ein Frühlingslyriker Geibelscher Observanz, und wenn er Vorsichtsmaßregeln gegen die Pest, die Heilsamkeit der Bäder, den Nutzen des gebrannten Weines in Verse bringt, so repräsentiert er den rechten Dichtertypus seiner Generation mit ihrem realen, praktischen, utilitaristischen Sinn. Aber auch die Kunst lag ihm am Herzen, und gerade seine Meisterlieder offenbaren dichterisches Gefühl und Talent. Allerdings sind ihre Stoffe zumeist geistlich, ja, Folz hat eine Vorliebe für theologische Gegenstände und ihre Behandlung im Stil der doctrina scholastica, nach Quästionen und Distinktionen. Offenbar hat er viel gelesen und zitiert klassische Schriftsteller als Autoritäten, mischt lat. Worte ein und verspottet die scheingelehrten Meistersinger, die ohne tiefere Kenntnis Wissenschaftlichkeit vortäuschen wollen; noch ganz im alten Sinn verlangt er Gelehrsamkeit als notwendige Vorbedingung für den Dichter. Zart und innig oder ekstatisch und begeistert preist er die

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Jungfrau Maria, grübelnd versenkt er sich in die Mysterien der Dogmen und sucht das Geheimnis derTrinität begreifend zu erläutern. Die Lehre von der unbefledcten Empfängnis und Gottes Menschwerdung in Christus umrankt er mit allerlei klassisch-mythologischen Beispielen und Wunderszenen, die er einem älteren Blodcbuch von Mariä Geschichte entnimmt. Daß diesem Reformator der Meistergesang selbst zum Problem geworden ist, sehen wir an den vielen Liedern, die er diesem Thema nach dem Muster der hergebrachten „Schulkünste" gewidmet hat. Immer wieder kommt er darauf zurück, warnt, in traditionell meistersingerischer Art, vor den metrischen Fehlern, bekämpft die alleinige Sanktion der „alten" Töne und betont unzweideutig, wieviel schwieriger durch seine Forderung die Kunst nun geworden sei. Auch für das „Zechsingen" wählt er interessante weltliche Stoffe, alte Schwankmotive wie den Teufel als Fürsprech, die verstellten Narren, den scheintoten Gatten oder Historien wie das Urteil des Herzogs von Burgund, durch das Hans Sachs zu einem Gedicht und zu einer „Tragedy" angeregt wurde, oder er preist das Schmiedehandwerk als das beste. In seine Poetenwerkstatt können wir an Hand der erhaltenen Konzepte einen Blick tun und sehen, wie er zuerst in Prosa den Stoff sich notiert und dann unter beständigem Feilen das Gedicht erschafft. Ein lebendiges warmblütiges Dichtertemperament steht in Folz vor uns, und nur eine solche starke Persönlichkeit konnte auch den Zeitgenossen derart imponieren, daß sie jahrhundertealte Überlieferungen über Bord warfen und auf neuen Wegen ihm folgten. 27 Töne hat er selbst gefunden, einige Melodien sind durch Herbheit und Ausdrucksfülle ausgezeichnet. Folz war wirklich, was man nicht von jedem seiner Kollegen sagen kann, ein „Singer" und ein „Meister" zugleich. § 6. In der F o r m blieb der solchermaßen „reformierte" M. im übrigen beim alten und hielt an dem höfischen Strophenbau mit ängstlicher Schablone fest; auch die lutherische Reformation änderte hieran nichts. Das Gedicht, bar genannnt, bestand aus mindestens drei Strophen; jedenfalls mußte eine größere Strophenzahl im allgemeinen stets aus solchen Triaden bestehen, d. h. durch drei teilbar sein. Die Strophe, gesätz, baute sich

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auf in dem aufgesang, der aus Versgebilden, Stollen, bestand, die zwei- und dreimal wiederholt werden konnten, und dem abgesang, der in anderer beliebiger Form das gesätz beschloß. Diese Architektur der Strophe wurde den ganzen M. hindurch festgehalten; sie bildete, mit dem System der Silbenzählung, mit dem Grundsatz des einstimmigen unbegleiteten Gesanges und mit den genauen Reimvorschriften, die zäh bewahrte meistersängerische Technik, in der überhaupt das Charakteristikum dieses Sängerdichterkreises liegt. Der S t o f f k r e i s erweiterte sich im 16. Jh. Neben den geistlichen waren jetzt auch weltliche ernste Stoffe beim „Hauptsingen" gestattet. Gerne nahm man dazu die sagenhafte oder wirkliche Geschichte: Wilhelm Teil, Karl der Große oder Karl der Kühne fanden Behandlung. Oder man griff in die eigene Gegenwart hinein und besang die Religions- und Türkenkriege, Luthers und Melanchthons Leben. Oder man schritt zu den modernen Roman- und Novellenstoffen und dichtete sie in vielstrophige Meisterlieder um. Da solche Versifizierung in 15 und mehr Strophen auch einem meistersängerischen Ohr eintönig erschien, führte Hans S a c h s eine musikalisch-metrische Neuerung ein: er teilte den ganzen Zyklus in Triaden mit verschiedenen Tönen, ζ. B. Tristan und Isolde in 15 Strophen zu5mal 3 Tönen oder eine Novelle aus dem Ritter von Thum in 9 Strophen zu je 3mal 3 Tönen. Er ging dann noch weiter und lieferte überhaupt nur Strophen in wechselnden Melodien, wie den Oktavian in sechs Strophen und Tönen. Andere folgten ihm darin nach, besonders die zweite, variablere Art wurde gern nachgeahmt; und in barockaler Übertreibung verstieg sich schließlich Ambrosius M e t z g e r 1625 dazu, Ovids Metamorphosen (nach Wickrams Bearbeitung des Albrecht von Halberstadt) in 155 „Liedern" zu verdichten und zu vertonen. Auch Legenden wurden bearbeitet, und gravitätische Fabeln mit langatmiger Moral nicht verschmäht. Dazu kommen unermüdlich Lieder zum Lobe der edlen Kunst des M.s, die der immer mehr hervortretenden Instrumentalmusik, wie schon im MA., geflissentlich als göttliche Eingebung entgegengestellt wird — von derselben Erfindungsarmut wie ihre Vorgänger vor hundert und

mehr Jahren. Oft laufen sie hinaus auf eine trockene Aufzählung aller Fehler, laster, die der Singer bei Strafe zu meiden hatte, und führten daher die Bezeichnung sdiulkunst. So verweltlichten sich zwar in gewissem Grade die Stoffe, aber die lehrhafte Absicht und die würdige Grundhaltung blieben immer gewahrt; dafür sorgte schon die örtlichkeit der Singschule, die Kirche oder auch wohl der Rathaussaal. Beim „Zechsingen" indes überwogen die schwankhaften und schlüpfrigen Stoffe mehr und mehr. Solch trunkfeste Gesellschaft von Handwerksmeistern erholte sich bei Späßen und Gelächter von der Fron des Werktags und dem Ernst des vorhergegangenen Hauptsingens. Der Eulenspiegel wurde weidlich ausgeschlachtet, und kaum eines der zahlreichen Schwankbücher des 16. Jh.s blieb unbenutzt. Auch Boccaccios Oecamerone und andere lockere Novellen italienischer Verfasser, die seit der zweiten Hälfte des 15. Jh.s in gedruckten Verdeutschungen jedermann lesen konnte, dienten als Quellen. Die katholische Geistlichkeit bildete in protestantischen Schulen ein dankbares Stichblatt, die Bauern und Landsknechte mußten ebenfalls herhalten, und unerschöpflich ist das Thema der zänkischen oder buhlerischen Ehefrau, des Pantoffelhelden und Hahnreis. § 7. So feinsinnig Richard Wagner in seinem Musikdrama die Stimmung der Meistersingerkreise erfaßt hat, so verkehrt ist anderseits das Bild, das er von ihrem allgemeinen Ansehen entwirft. In den vornehmen Reichsstädten, wie Ulm, Nürnberg, Straßburg, standen die Meistersänger stets in der unteren literar. Sphäre. Die humanistischen und patrizischen Kreise bildeten mit Verachtung auf sie herab oder übersahen sie ganz. Das Volk nahm kaum Notiz von ihren Singschulen, da sie ihre Kunst streng esoterisch trieben und Meisterlieder durch den Drude zu veröffentlichen verboten: es sollte eben nur eine Kunst für die Eingeweihten, l'art pour l'art, sein. Darum beraubte sich der M. durch seine strenge Abgeschlossenheit des Hauptmittels, ins Weite zu wirken, und unterließ die Fühlung mit der zeitgenössisdien Dicht- und Tonkunst. Während beides weiterschritt, blieb der M. eigensinnig auf seinem konservativen Standpunkt stehen. Als in Nürnberg infolge des Komödienspiels der

Meislergesang Meister in der 2. H. des 16. Jh.s die eigentliche Singkunst zurückgegangen war, suchte man das Interesse dadurch wieder zu heben, daß man Geldpreise aussetzte oder mit nützlichen Haushaltsgegenständen den Sieger belohnte. Auch eine innere Reorganisation ward 1583 versucht, als Hans Glödder die alte Schulordnung neu bearbeitete. Aber nicht im Sinne einer neuen Generation. Vielmehr wurde die genaue Beobachtung der alten Vorbilder wieder eingeschärft, mehr nicht. Es begann ein eifriges Verseschmieden, ein vielfaches Sammeln und Abschreiben der Lieder, aber mit den dichterischen Talenten war es dürftig bestellt; fast alles Nachtreter und Reimer, Erfinder verschraubter erkünstelter Töne, kaum ein wirklicher Poet unter ihnen. § 8. Es ist selbstverständlich, daß bei solcher strengen Einhaltung der Konvention die eigene künstlerische Persönlichkeit wenig zur Geltung kommen konnte. Wo nur pedantische Befolgung äußerer Formalien das Kriterium für Anerkennimg bildet, triumphiert die Mittelmäßigkeit, und so ist es schwer, aus der schier unübersehbaren Zahl von Meistersängern von Rhein bis Oder und Moldau durch Eigenart hervorragende Köpfe herauszufinden. Neben Folz ist in der Frühzeit der neuen Periode kein Name besonders zu erwähnen, da weder Hans Rosenplüt in Nürnberg noch der Mystiker Jörg Preining in Augsburg den Meistersingern angehörten, wie man gemeint hatte. Am ehesten zeigt noch der Webermeister Lienhard N u n n e n p e c k (gest. nach 1515) in Nürnberg Verwandtschaft mit Folz. Es ist die gleiche Generation, die uns da entgegentritt. Folzens Reform ist er sofort eifrig gefolgt und hat eine Reihe eigener Melodien komponiert. Auch in den Themen und ihrer Behandlung zeigt er eine große Ähnlichkeit. Fast nur geistliche Stoffe bearbeitet er. Besonders innig preist er Maria, ganz in Stil und Auffassung des MA.s mit zahlreichen Beinamen, Antitypen und Präfigurationen; realistisch werden in umfangreichen Passionsliedern Christi Leiden geschildert. Auch die Dogmen fehlen nicht, und in diese Gedichte werden, wie bei Folz, gem lat. Wörter und Sätze eingestreut. Nunnenpeck bezeugt uns, mit welcher Inbrunst, aber auch mit welchem fast wissenschaftlichen Ernst

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sich die ungelehrten Handwerker in die theologischen Fragen versenkten und ihre populären Lehrbücher studierten. Nunnenpecks begabtester Singschüler war Hans S a c h s (1494-1576), und dessen erste Meisterlieder gehen noch in den gleichen Bahnen; da überwiegen die Gedichte des gekennzeichneten religiösen Inhalts. Allerdings weht schon durch diese Jugendlieder ein frischer Rhythmus, der die musikalische Überlegenheit des Schülers offenbart. Aber daneben beginnt Sachs gleich mit weltlichen Stoffen, und er dichtet aus eigenem schmerzlichen Liebeserleben heraus — darin ist er wohl der erste und der einzige Meistersinger — „Buhllieder" (Liebeslieder). Auf der Wanderschaft in Wels erscheinen ihm die neun Musen und verleihen ihm ihre zur Kunst befähigenden Gaben, öfter bekennt er, wie hoch er seine Kunst schätzt, und als er bei der Heimkehr die vaterstädtische Singschule durch Neid und Eifersucht zerrüttet findet, beschwört er in einer „Schulkunst" die namentlich angeredeten Meister, sich zu vertragen zum Besten der Kunst. Als Luthers Schriften die Lande durchfliegen, liest er sie aufmerksam und beobachtet drei Jahre lang, sinnt und schweigt. Erst 1523 tritt er in der Wittenbergischen Nachtigall entschlossen für die neue Lehre ein. Auch den weltlichen Meistergesang pflegt Sachs, ja mit einer gewissen Vorliebe. Seine Belesenheit liefert ihm unerschöpflich neuen Vorrat. Mitunter verfährt er dabei recht handwerklich; daß zwischen Stoff und Form eine bestimmte Harmonie bestehen muß, konnte ihm noch nicht aufgehen. Daher rührt es, daß er den gleichen Stoff nicht selten als Schwank oder Spruchgedicht oder Historie behandelte, ihn auch noch beim Zechsingen seinen Sangesgenossen vorsetzte und schließlich dem Publikum der unteren Stände als Komödie oder Tragödie vorspielen ließ. Vielen seiner Gedichte, ganz gleich welcher Materie, hat er eine Moral angehängt; es drängte ihn dazu, nicht bloß das tatsächliche Geschehen wirken zu lassen, sondern audi die Nutzanwendung für menschliches Benehmen daraus zu ziehen und seine eigenen Gedanken anzuknüpfen. Sein Ruhm innerhalb seines Kreises war unbestritten, lange über seinen Tod hinaus; und wer einst sein Sangesschüler gewesen war, bekannte sich

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noch als Greis stolz zu seinem Lehrer. Seine Meisterlieder wurden viel gesungen, seine Melodien (besonders die ungemein zarte und liebliche „Silberweise") fremden Texten untergelegt, sein Geist beherrschte die evangelischen Singschulen bis zum Barock. Von Sachsens Schülern darf sich Hans V o g e l (gest. vor 1554) hinter ihn stellen, der neben den üblichen geistlichen Themen vor allem Schwankmotive bedichtete. Bauern, Landsknechte, fahrende Schüler, das böse Weib erscheinen mit Vorliebe in seinen Genreversen, die er gern durch eine Moral abschließt. Ihm eignete ein großes musikalisches Talent, und von seinen beliebten Tönen hat Sachs selbst in 282 Gedichten Gebrauch gemacht. Ein rührendes, wenn auch unbeholfenes Lied auf seines Lehrers Sachs Tod verfaßte der Schuhmacher Adam P u s c h m a n n (1532-1600), der nach Osten, nach Görlitz und Breslau verschlagen wurde. Seine Lieder sind unter Mittelgut. Aber er schrieb eine Tabulatur, die die traditionellen scharfen metrischen Regeln in sich faßte; er selbst, wie er gesteht, habe sie allerdings nie eingehalten. Im Jahre 1596 überarbeitete er dies Vorschriftenbuch im modernen Sinne: er ordnete nämlich jetzt akzentuierende Verse an. Aber wiederum fügte er selbst sich nicht der neuen Mode, sondern blieb bei der Tradition. — Der in Nürnberg eingewanderte Schweizer Benedikt v o n W a t t (1568-1616) hat Sachs nicht mehr gekannt, steht aber noch vollständig in dessen Uberlieferung, sowohl im Vers wie in der Musik. Die Silben werden sorgfältig gezählt, die Melodien bereits mit neumodischen Koloraturen verziert. Stofflich neigt er zum Gruseligen und Sensationellen; Hexenverbrennungen, Mordgeschichten, Mißgeburten werden in Meisterliedem bedichtet, und auch dabei fehlt nicht der übliche moralische Hinweis. In A u g s b u r g hatte die Singschule wohl noch am meisten Beziehungen zu den oberen Schichten der Stadt; denn das rege literar. Treiben der Humanisten war dort mit einer stark popularisierenden Tendenz verquickt. Daher befinden sich unter den dortigen Zunftmitgliedern Schulmeister und Juristen; auch daß Protestanten wie Katholiken friedlich sich in ihr vereinigen, ist ein besonderes Kennzeichen der Augsburger Singschule.

Großer Beliebtheit erfreuten sich die Melodien des Webers Onophrius S c h w a r z e n b a c h (gest. 1574), der mit ihnen achtzehnmal die Krone errang und auch außerhalb der Reichsstadt Ruhm gewann. Der Notar Johannes S p r e n g (1524-1601) verschmähte es nicht, nach den strengen Regeln der Tabulatur kunstvolle Reimgefüge zu schaffen; aber musikalische Begabung ging ihm ab, und er blieb nur „Tichter", ein seltener Fall. Seine Gedichte tragen eine besondere Note dadurch, daß der Humanist sie mit zahlreichen Anspielungen und ganzen Historien aus der Antike erfüllte. Mit einer gewissen Ubertreibung hat man den Schuhmacher Wolf (gang) H e r o l d (2. Hälfte des 16. Jh.s) in Breslau den „Schlesischen Hans Sachs" genannt. Jedenfalls überragen seine Strophen und Melodien das Mittelmaß, seine geistlichen Gedichte sind von starkem Glaubensgefühl durchdrungen, und ein behaglicher Humor umspielt die schwankhaften Meisterlieder. Sein Schüler in Handwerk und Meistergesang war Georg H a g e r (1552-1634) aus Nürnberg, der nach der Breslauer Lehrzeit wieder in die Vaterstadt zurückkehrte. Sein auf der Wanderschaft gesammeltes Liederbuch ist noch vorhanden, „denn ich keine feinere Kunst für die Jugend weiß, fürwahr auch für die Alten". Seine eigenen Lieder sind genau gereimt, seine Melodien einfach und kunstlos. Neben dem Ernst der religiösen Stoffe fehlt ihm auch nicht lustige Stimmimg für weltliche Themen, er schilt auf Modetorheiten und spielt sich gern einmal als Lobredner der guten alten Zeit auf. Die gute Uberlieferung des 16. Jh.s verkörpert sich noch einmal in Hager. § 9. Es gibt in E i n z e l d r u c k e n des 15. u. 16. Jh.s eine sehr große Anzahl von Liedern, welche nach Meistertönen gedichtet sind und daher vielfach zum M. gerechnet werden. Allerdings sind das keine Lieder, die in der Singschule vorgetragen wurden und notwendigerweise von einem Mitglied der Meistersängerzunft gedichtet sein mußten. Den Meistersängem war ja die Drucklegung oder sonstige Veröffentlichung ihrer Meistergesänge streng verboten. Es handelt sich hier also um lyrische oder lyrisch-epische Erzeugnisse, die zwar Melodie und Metrik vom M. gelernt haben, aber für weitere

Meislergesang Kreise bestimmt sind. Das ist der einzige Punkt, wo der M., und noch dazu wider seinen Willen, in die breite Öffentlichkeit dringt. Die Verfasser dieser Lieder waren zu einem großen Teil mehr oder weniger begabte Poeten, die dem Singen der Schulen gelauscht, wohl auch Meisterlieder handschriftlich in Händen gehabt hatten und darnach ihre „neuen, hübschen Lieder" und „Historien" zusammenreimten. Erzählende Lieder sind es, Balladenstoffe aus der mal. und antiken Welt, dann „Buhllieder", d. h. Liebeslieder, und schließlich geistliche Gesänge und Psalmenbearbeitungen. Gerade auf dem letzten Gebiete hat die Reformation einmal neue Stimmung geschaffen. Während vor ihr eine stark handwerkliche und mechanische Abhaspelung des Stoffes zur Regel geworden war, sprach sich seit Luthers Auftreten ein wärmeres Gefühl aus, trotz der pedantischen und katechetischen Art. § 10. Seit dem Aufkommen des Renaissancegeschmacks und seiner Fortentwicklung im B a r o c k werden an verschiedenen Punkten Versuche gemacht, die alte Tradition über Bord zu werfen oder dem erstarrten M. mindestens neues Blut zuzuführen. Zuerst entsteht 1600 in Augsburg ein heftiger Streit innerhalb der Schule; die Neuerer fechten sogar die Wahrheit des Ursprungs von den zwölf alten Meistern an. Es scheint allerdings, als ob die Jugend nicht durchdrang; ihre Führer S c h ä d l i n und R i d l i n g e r trennen sich jedenfalls endgültig von der Singschule. Ernsthafter war die Krise in Nürnberg. Schon 1622 hören wir von persönlichen Streitigkeiten, die Disziplin ist gelockert, und 1624 bricht die Revolution los. Führer der Jungen ist Hans W i n t e r , dem Ambrosius M e t z g e r zur Seite tritt. Im Geiste der neuen Dichtkunst richtete Winter eine neue Tabulatur auf und wollte ihre Annahme durchsetzen. Die Alten, unter Leitung Georg H a g e r s , lehnten dies ab. Darauf gründeten Winter und sein Anhang eine eigene, neue Singschule und hielten öffentliche Singen in der Statt uff den gassen umb kräncz ab. Auf beiden Seiten geht man an den Rat; dieser aber entscheidet zugunsten der Alten. Also auch in Nürnberg blieb es bei der alten Tabulatur. Indes läßt sich der neue Zeitgeist doch auch ver-

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spüren. Modische Fremdwörter dringen ein und werden mit Vorliebe in den Reimen verwendet, wie in der Spätgotik die scholastischen Kunstausdrücke. Metzger bringt Stoffe aus der Schäferpoesie in meistersängerisdie Formen, und durch die immer noch maßgebende silbenzählende Verstechnik spürt man doch jetzt bisweilen das Gefühl der neuen Rhythmik durch. Barockaler Geschmack zeigt sich in der immer stärker werdenden Ausschmückung und Ausweitung der Melodien mit Blumen, Koloraturen u. ähnl. Und wenn der Ulmer Meistersinger Michael Β ay ß er in der 2. Hälfte des 17. Jh.s den Trojanischen Krieg in 69 „Dichtungen", d.h. Abschnitten mit besonderer Melodie, besingt und sechs Schüler zum Vortrag dieser Lieder benötigt, so ist weiträumiger Barockgeschmack deutlich zu spüren. Erst 1660 bricht die neue Memminger Tabulatur mit der alten Silbenzählung, die keine Rücksicht auf Übereinstimmung von Wort- und Versakzent nahm, und sucht den Anschluß an ein reines, dialektfreies Hochdeutsch. Opitz' Reform spricht sich in den neuen Vorschriften von „springenden" und „gehenden" Reimen aus, die Fruchtbringende Gesellschaft wird als Autorität angerufen. Ulm nahm ebenfalls diese Neuerungen an, und in Memminger wie Ulmer Meisterliedem dieser Zeit finden wir tatsächlich diese Regeln befolgt. Aber bezeichnenderweise sperrte sich wiederum Nürnberg gegen jede Modernisierung. Wenn barocke und aufklärerische Kunstdichter über den M. des 17. und 18. Jh.s spotten, so geschieht damit diesem kein Unrecht. Er war zum Urväterhausrat geworden, und auch vereinzelte Versuche, den Stil der pietistischen Kirchenlieder einzuarbeiten, blieben ohne Erfolg. Langsam ging eine Meisterschule nach der andern ein, im Westen half die Französische Revolution kräftig mit. 1875 wurde die letzte Schule in Memmingen durch eine Leichenordnung aufgehoben, denn ihre letzten Mitglieder, ein Schuhmacher und zwei Schneider, sangen bei Leichenbegängnissen um Geld. Niemand mehr in Deutschland wußte etwas von ihnen. Eine Zusammenstellung der zahlreichen Meisterliederhss. hat erstmalig Karl Goedeke versucht, Grundriß Bd. 1 (1884) S. 248 ff. u. Bd. 2 (1886) S. 308 ff. Eine genaue Be-

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Meistergesang

Schreibung ist als Grundlage für eine wissenschaftliche Geschichte des M.s unbedingt notwendig. Bibliographie: Archer T a y l o r u. Frances Η. Ε 11 i s , A Bibliography of Μ. (Bloomington 1936; Indiana Univ. Studies 23). Bert N a g e l , Der dt. Meistersang, e. forschungsmethodische Studie. GRM. 22 (1934) S. 263-276. — Ausgaben: Altdt. Volks- u. Meisterlieder. Hg. v. Joseph G ö r r e s (1817). Das Liederbuch der Klara Hätzlerin. Hg. v. Carl H a l t a u s (1840; Bibl. d. ges. dt. National-Lit. I, 8). Ignaz ν. Ζ i η g e r 1 e , Bericht über d. Wilte· η er Meistersängerhs. [Nebst] Text. SBAkWien 37 (1861) S. 331-407. Meisterlieder d. Kolmarer Hs. Hg. v. Karl B a r t s c h (1862; BiblLitV. 68). Ein Baseler Meistergesangbuch, in: Karl B a r t s c h , Beiträge z. Quellenkunde (1886) S. 275-301. Aug. Η a r t m a n n , Dt: Meisterlieder-Hss. in Ungarn (1894). Geschichte: Cyriacus S p a n g e n b e r g , Von der Musica u. von den Meistersängern (1598), Neudrude hg. v. Adelbert v. K e l l e r (1861; BiblLitV.62); dazu Bert N a g e l , C. Spangenbergs Meistersangbild. ArchfKultg. 31 (1942) S. 71-92. Joh. Christoph W a g e n s e i 1, De civitate Noribergensi Commentatio ... Von der Meistersinger holdseliger Kunst (1697), Quelle für Ε. T. A. Hoffmann u. Rieh. Wagner. Jacob G r i m m , Über d. altdt. M. (1811). Ludwig U h 1 a η d , Schriften zur Geschichte d. Sage u. Dichtung. Bd. 4 (1869) S. 214ff. Franz S c h n o r r v. C a r o l s f e l d , Zur Geschichte d. dt. M.s (1872). Theod. Η a m ρ e , Studien z. Gesch. d. M.s. VjsLitg. 6 (1893) S. 321-336. Ders., Spruchsprecher, Meistersinger u. Hochzeitlader. Mittlgn. aus d. German. Nationalmuseum 1894, S. 25-44 u. 60-69. Ders., Die Kultur d.M.s, in: Nürnberg, hg. vom Stadtrat (1927; Monographien dt. Städte 23) S. 41-46. Willibald N a g e l , Studien z. Gesch. d. Meistersänger (1909; Musikal. Magazin 27). Hans Ε 11 e η b e c k , Die Sage vorn Ursprung d. dt. M.s. Diss. Bonn 1911. Rolf W e b e r , Zur Entwicklung u. Bedeutung d. dt. M.s im 15. u. 16. Jh. Diss. Berlin 1921. Wolfg. S t a m m l e r , Die Wurzeln d. M.s. DVLG. 1 (1923) S. 529-556, wiederholt in: Stammler, Kl. Schriften z. Lit.gesch. d. MA.s (1953) S. 96-119. Kurt Unold, Zur Soziologie d. (zünftigen) dt. M.s. Diss. Heidelberg 1932. Bert N a g e l , Der frühe Meistersang u. d. Christentum. GRM. 23 (1935) S. 348-360. Ders., Das Bild d. Meistersangs in meisterlichen Zeugnissen. ZfdPh. 66 (1941) S. 191-218. Ders., Der dt. Meistersang. Poetische Technik, musikal. Form u. Sprachgestaltung d. Meistersinger (1952). Archer T a y l o r , The Literary History of Μ. (New York u. London 1937). Carl Κ1 i t ζ k e, Hans Winters Bericht von der Kunst d. M.s. MLN. 54 (1939) S. 567-572. Wolfg. S t a m m l e r , Von d. Mystik ζ. Barode (2. Aufl. 1950; Epochen d. dt. Lit. 2, 1) S. 227 ff., 594 ff. Marie Luise R o s e n t h a l , Zeugnisse z. Begriffs-

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Meistergesang — Merker

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Narrenliteratur Weihnachtszeit d. J. 911 in St. Gallen unversehens in einen solchen närrischen Mummenschanz gerät, wobei ihn das ausgelassene Treiben der maskierten Gestalten erfreut, zumal keinerlei Ausschreitungen das Bild des fröhlichen Aufzuges trüben: eine bemerkenswerte Selbstzucht, wie sie bei den Festen der südwestdt. Narrenzünfte, etwa beim Rottweiler Narrensprung, noch heute geübt wird. Dieses festum stultorum, fatuorum, follorum mag mit den römischen Feiern der Satumalien (17. Dez.) oder an den Kaienden des Januar gewisse Ähnlichkeit haben, die aber eine Herleitung des dt. Narrenwesens aus antiker Tradition keineswegs rechtfertigt. Eine merkwürdige Sonderform war das festum subdiaconorum, wo unter der Regie eines aus den Reihen der niederen Geistlichkeit gewählten episcopus fatuorum oder Narrenpapstes der untere Klerus die Gesetze kirchlicher Hierarchie umstößt, unter Mißachtung der Autorität der höheren Geistlichkeit. Allen Verboten zum Trotz hält sich dieses närrische Treiben, bei dem die Freiheit oft genug in Zügellosigkeit entartet: selbst in der Kirche hält man Eß- und Trinkgelage mit Tanzereien und derben Gesängen, und in närrischen Predigten, mit lärmenden Schellen und Glocken wird die kirchliche Ordnung verspottet. Alle Versuche der weltlichen und kirchlichen Obrigkeit, die Auswüchse dieses Narrentreibens zu unterbinden, schlagen fehl. Es dauerte lange, bis es gelang, das närrische Treiben aus der Kirche auf die Straße zu verlegen. § 4. Gegenfigur bei der weltlichen Obrigkeit ist der schon im alten Orient bekannte H o f n a r r , der als Spaßmacher und lustiger Rat, ausstaffiert mit Kappe und Zepter, großem Halskragen, mit Schellen an der Kleidung, an den Fürstenhöfen, vom MA. bis ins 18. Jh. Narrenfreiheit genießt. Ursprünglich schwachsinnige, verkrüppelte Gestalten oder Zwerge (wie etwa Perkeo am Hofe Karl Philipps von der Pfalz), entwikkelt sich der höf. Narr im Laufe der Zeit zum listig-durchtriebenen Schalk: in schillernd-hintergründiger Haltung, bald töricht, linkisch, mißgünstig-hinterhältig wie frech, bald flink, gewandt, harmlos-gutmütig, in kluger Vorausschau, versteht er unter gekonnter Nutzung der ihm gewährten Freiheit, mit scherzhaften Einfällen, moralisierenden Sprüchen, mit Tänzen und Liedern, Reallexikon II

Rätseln und Possen gegen klingenden Lohn die Hofgesellschaft zu unterhalten. Unterhin hat er die Aufgabe zu meistern, seinem Herrn und Gönner unter der Maske der Narrheit zum Ergötzen der Hörerschaft unverblümt die Wahrheit zu sagen. Nicht selten .gewinnt er auch als geheimer Berater seines Herrschers großen Einfluß. Seine Glanzrolle spielt er im ausgehenden MA. Seit dem 14. Jh. gehört er zum Hofstaat; im 16. Jh. ist sein Stern im Sinken, bis er nach Übernahme der franz. Hofetikette das Feld räumen muß. Soweit die lustigen Späße der Hofnarren aufgezeichnet und überliefert wurden, wie die Geschichten des Pfaffen vom Kaienberge, des Klaus Narr von Rammstädt und die anderen, z.T. in den Narrenbüchem v. d. Hagens und Bobertags abgedruckten Schwänke, gehören sie zur Gattung der Schwankliteratur (s. d.). § 5. Der Hofnarr tritt in ähnlicher Gestalt, Tracht und Haltung als B ü h n e n n a r r auch im alten Volksschauspiel auf, wo er die gleichen Späße und Possen inszeniert. Selbst in heilsgeschichtlichen Spielen treibt er sein Wesen, indem er an Stelle des Teufels das sittlich Böse wie logisch Dumme verkörpert (ζ. B. im Erlauer Dreikönigspiel), also bald als boshaft-höllischer Geselle, bald als törichter Harlekin auftritt. Nah dem Narren verwandt ist in den geistl. Spielen die profane Schwankperson R u b i n , ein Betrüger und Gaukler, ein Narrentyp, der gleichfalls aus heidnischer Vorzeit in das heilige Spiel eingegangen ist. Und gegen Ende des MA. wird der Narr in den F a s t n a c h t s p i e l e n zur dramatisch belebenden Person; bis er durch den H a n s W u r s t verdrängt wird, der zuerst in einer nd. Ubersetzung von Brants Narrenschiff (1519) erscheint (als 'Hans Worst', so noch 1541 in Luthers Streitschrift Wider Hans Worst). § 6. Auch der mal. didaktischen wie epischen Lit. ist der Narr ein willkommener Helfer, wenn es gilt, die Zeichen brüchiger Moral und schlechter Sitte zu markieren. So etwa im spielmännischen Tierepos Reinart Fuchs, das der elsäss. Fahrende Heinrich der Glichezaere um 1170/80 nach franz. Quellen komponiert hat. Dafür wird in der älteren Zeit die Bezeichnung töre, später daneben narre gewählt. Auch Tiemamen wie äffe, esel, gouch, seltener stiAn, ohse, kalp werden in gleicher Bedeutung ver38

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Narrenliteratur

wendet. So begegnet goiich im Sinn des Plautinischen cuculus = Gimpel schon im Althochdeutschen (z.B. Notker), und Wörter wie affenspil und ηarrenwerc besagen das gleiche. Oder bestimmte Personen übernehmen die Aufgabe des Narren wie etwa Morolf im Spielmannsepos Salman und Morolf (ursprüngliches Gedicht Ende des 12. Jh.s), wo Morolf eine Doppelrolle spielt, bald als vornehmer Ritter, bald als Possenreißer auftretend, während er im Spruchgedicht Salomon und Markolf im Wechselgespräch mit Salomo sich nur als gumpelman betätigt. Auch Tristan schleicht sich nach seiner Verbannung, als närrischer Spielmann verkleidet, an den Hof des Königs Marke zurück. Erst seit Seb. Brant setzt sich die Bezeichnung Narr endgültig durch. $ 7. Namentlich in der fmhd. Epoche gedeiht die N. üppiger denn je. Neben die Satire tritt der so beliebte Schwank in Prosa wie in Versen (s. Facette, Schwank). Das mit dem Verfall der mhd. Kunstsprache geförderte Wiederaufkommen der Dialekte, die dadurch ausgelöste sprachliche Willkür mußten von sich aus das Gedeihen eines so ausgesprochen volkstümlichen Gewächses begünstigen. Im Wirbel der geistigen und wirtschaftlich-sozialen Wandlungen von damals, die von großen, scharf umrissenen Persönlichkeiten getragen werden, bricht der ungestüme Drang nach massiver Komik und spottfroher Satire in allen Äußerungen des täglichen Lebens wie des literar. und künstlerischen Schaffens ungehemmt durch. Sogar in die kirchliche Kunst, in das Innere der Gotteshäuser, dringen, von der Geistlichkeit geduldet, groteske Zerrbilder ein, die geweihte Dinge und Personen zum Gegenstand profaner Witzelei machen. Die Zeiten weltentrückter, gottseliger Mystik sind vorüber. Ein ungezügelter Lebens- und Freiheitsdrang erzeugt beim Stadtbürgertum ein Selbstbewußtsein, das kühn an die schwersten Aufgaben sich wagt. Nüchterner Verstand, Erkenntniswille und Moral sollen die Menschen leiten: die plan- und ziellos Dahinlebenden sind Narren. Durch derbfrische, der Sprache lind Anschauung des Volkes entnommene Bilder wird der Narrenbegriff verlebendigt, trockner Lehrton gemieden nnd so die erstrebte Massenwirkung erreicht. Der Fludi der Lächerlichkeit wiegt schwerer als der Wortschwall langatmiger Moralpredigten. Erst die durch den Teufelsglauben ·

geförderte Teufelliteratur (s. d.) dämmt die N. ein. Erfindung neuer Motive und Gestaltungsarten ist nicht die starke Seite der frühnhd. Dichter: sie begnügen sich, die überkommenen Stoffe und Formen umzugießen und dem neuen, vergröberten Zeitgeschmack in Typen mundgerecht zu machen. So erfährt auch die alte Übung, die menschlichen Laster anzuprangern, nun einen neuen, energischen Antrieb: der Narr wird jetzt die herrschende Gestalt der beliebten satirischen Dichtung. So wird die ständische Satire des 16. Jh.s vielfach durch die Zugkraft dramatischer Bewegtheit angetrieben. Auch ein anderes Hauptmotiv der Narrensatire, die Selbstironie, wird aus alten Quellen volkstümlicher Bräuche gespeist. Und indem die N. audi die übrigen Gattungen in ihren Bann zwingt, wird sie gleichsam zum Sinnbild jener Zeit. § 8. Eine förmliche Narrensprache mit ganzen Katalogen von Narrentypen wird erfunden. Besonders beliebt sind die zahlreichen Komposita mit Narr wie Narrenkönig, -fest, -freundschaft, -freude, -fieber, -glück, -spiel, -possen, -scherz, -streich, -witz, -ton, -weise, -tat, -rat, -lob, -antwort, -rede, -gebet, -beichte, -büße, -Steuer, -zins, -zoll, -zunft, -rotte, -orden, -samen, -haus, -land. -Straße,-weg, -berg, -bäum, -brei, -brot, -seil, -buch, -bad, -wage; Wein-, Würfel-, Mode-, Kriegs-, Glücks-, Weibernarr u. v. a. Hunderte von Sprichwörtern und Redensarten spiegeln das Narrentum (bei Wander, Sprichwörterlexikon III, 878 ff. allein über 1300 Belege). Viele davon haben einen bildhaften Ursprung voll dramatischer Lebhaftheit, verblassen dann aber. Man erkennt den Narren an seiner Kleidung und Haltung: Ausdrücke wie Narrenkleid, -gewand, -kappe, -jacke, -kittel, -schelle, -kolben, -holz, -haut, -ader, -köpf, -mund, -bart, -gesicht, -zunge, -hand, -fuß, -schuh, -tanz, -zier u. a. dienen zur Charakteristik. Die streckenweis dramatische Unterbauung und Zuspitzung der Narrensatire prägt darüber hinaus typische Einkleidungsformen aus; darunter ist das Bild eines Narrenfahrzeugs (Narrenschiff, -wagen, -karren, -schütten, -pflüg) das volkstümlichste. Auch andre, alten Volkssitten nachgebildete Rahmenmotive wie das Spannen der Narren vor einen Pflug oder eine Egge dringen zunächst ins Fastnachtsspiel und dann in die Narrensatire. Weit verbreitet ist auch die Einrichtung des Narrenordens mit Sat-

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zungen, beamteten Schreibern und einem Zunftmeister und Kanzler. So macht sich ζ. B. Mumer in seiner Gaudimatt selbst zum Kanzler. Oder Frau Venus leitet einen solchen Orden: nehmen doch die Venusdiener in der Narrenzunft den ersten Rang ein. Dazu gesellen sich Grobianer-, Zedier-, Spieler- und Vagantenorden. Eine in der N. wie im heutigen Fastnachtsbrauchtum im südwestdt. Raum beliebte Umrahmung ist auch die Gerichtsverhandlung, in der die Narren vor dem Richter sich verantworten müssen und bestraft werden, wobei sich dann für drastisch-komische Prozeduren reichlich Gelegenheit bietet. Damit verwandt sind Wettbewerb und Preiskrönung der Narren und Narrenmärkte mit Feilhaltung von allerhand Narrenartikeln. Endlich gehören die Narrenmühlen, Narrenbäder, Narrenbeschwörer, Narrengießer, Narrenschneider (so u. a. bei Hans Sachs), Narrenfresser zum ständigen Rüstzeug der N. § 9. Die satirisch-didaktische wie dramatische Lit., das Fastnachtsspiel, auch die neulat. Dichtung (ζ. B. des Erasmus Moriae encomium seu Laus stultitiae und zuletzt noch Flayders Moria rediowa 1627) haben das literar. Narrentum gepflegt und ihren besonderen Zwecken dienstbar gemacht: das Narrenmotiv wird zum pädagogischen Erziehungsmittel. Weltweite Berühmtheit gewinnt der bäuerliche Schalksnarr Eulenspiegel (nd. Ulenspegel) im Ausgang des 15. Jh.s als Held eines Volksbuches, das im verlornen Original nd., seit der Straßburger hd. Ausgabe von 1515 in die meisten europäischen Sprachen übersetzt, in seinen närrischen Schwänken gerade die Überlegenheit bäuerlichen Mutterwitzes über stadtbürgerliche Überheblichkeit symbolisiert. Auch im Trink- und geselligen Lied treibt der Narr sein Wesen, wie er anderseits in den spätmal. Totentänzen nur selten fehlt. Das reine Volkslied hingegen lehnt, seinem Charakter entsprechend, ihn ab. Eine reiche Fundgrube von Narrenthemen boten ferner die akademischen Scherzreden, die orationes quodlibeticae oder disputationes de quodlibet. Diese humordurchtränkten, in die Magisterdisputationen zur Belebung eingeschobenen Reden sind ein Sammelbecken des volkstümlichen, doch scharf pointierten Witzes, wie er in den akademischen Kreisen damals heimisch war. So wurden u. a. in Heidelberg in den 80er Jahren des 15. Jh.s unter dem

Vorsitz des Jac. Wimpfeling folgende zwei Reden gehalten: Monopolium philosophorum oulgo schelme zunfft und des Jodocus Gallus Monopolium et societas vulgo des Lichtschiffs, gedruckt in Straßburg 1489. § 10. Von diesem 'Leichtschiff (naüis pereuntium)führt ein direkterWeg zu B r a n t s Narrenschiff (Basel 1494); denn die von seinem Freunde Wimpfeling besorgte Ausgabe des Leichtschiffs konnte dem Dichter des Narrenschiffs nicht unbekannt bleiben. Vielleicht hat Brant die Idee des Narrenschiffs auch älteren didaktisch-allegorischen Denkmälern zu danken. So führt Heinrich der Teichner in dem Gedicht Chif der fhist ein Schiff vor, das, in Linz erbaut, sich eine Zeitlang in jener Gegend zwischen Bayern und Österreich aufhält, bis es, mit lockeren Gesellen voll beladen, stromabwärts nach Ungarn fährt. Und im Nordwesten gewährt ein mundartliches Gedicht die blauwe schute (1413) des Jakob van Oetvoren Einblick in das Treiben der niederländ. Fastnachtsbelustigungen, wobei zu Lande umhergezogene, mit verloren hinderen und ghesellen υαη wilde monieren besetzte Schiffe ein Kernstück des Volksscherzes waren. Aber die Zeitgenossen sahen diese Vorläufer nicht, sie machten Brant schlechthin zum Begründer einer neuen literar. Gattung undEpodie. Führende Humanisten wie Wimpfeling, Locher, Tritheim (Trithemius) feiern ihn mit überschwenglicher Lobpreisung als größten dt. Dichter und sprechen, mit Dante ihn vergleichend, von einer divina satira: ein Urteil, das den geistigen Wandel der Zeit und das neue Ethos der dt. Lit. hell beleuchtet. Im Narrensdxiff hat eben der junge stadtbürgerliche Geschmack sich in Lit. umgesetzt. In diesem Sinn hat der Satiriker in der Tat ein klassisches Werk von epochaler Bedeutung geschaffen. In 112 selbständigen, verschieden langen Kapiteln werden die menschlichen Torheiten gegeißelt mit Wort und Bild; denn bei der erstrebten Massenwirkung ist die N. durchaus auf die Beihilfe der Illustration angewiesen. Das Ganze ist eine umfassende Typologie von Torheit und Laster, eine „Heerschau der Welttorheit", ein reiches Kompendium aus alten biblischen wie klassischen Quellen, aus Kirchenvätern und Rechtsbüchem wie mlat. Schrifttum; audi alles, was Sprichwörter und volkstümliche Redensarten zu bieten haben, wird voll ausgeschöpft. 3S·

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So beherrscht Brant weithin die Literatur seiner Zeit: alle späteren Satiriker können sich seinem Einfluß nicht entziehen, auch die bedeutendsten nicht, wie Murner, Sachs und Fischart. Durch Brant und Erasmus wird das Narrenmotiv auch bei den gebildeten Schichten heimisch, ja zum Grundprinzip des Daseins. Aus dem Schatz volkstümlicher Redensarten, woran das Narrenschiff so überreich ist, trägt die N. fortan ihr sprachliches Rüstzeug zusammen; Gelegenheitsgedichte und Fastnachtsspiele schöpfen die große Narrenrevue ergiebig aus, die auch ins Niederdeutsche und durch Jac. L o c h e r ins Lateinische (Navis stultifera oder Narragonia 1497) übersetzt wird, während der sprachmächtige G e i l e r von Kaisersberg in seinen Predigten die Narren bös zerzaust (gesammelt durch Jac. Other, als Navicula sive speculum fatuorum, Straßburg 1510 gedruckt). Nur vorübergehend finden Murners Satiren, voran Narrenbesdiwörung und Schelmenzunft, doch auch Gouchmatt, Mühle von Sdnoindelsheim, Geistliche Badenfahrt, Von dem grossen Lutherischen Narren, mit ihrer witzigeren und leidenschaftlicheren Art in den erregten Jahrzehnten vor und nach dem Auftreten Luthers lauteren Beifall. Er geißelt das Närrische, wo immer es ihm begegnet in jedem Stand, Alter und Geschlecht; der Reformator selbst ist ihm der größte NarT seiner Zeit: scharfsinnig, doch in volkstümlicher Sprache, in Versen, die ihm mühelos aus der Feder fließen. Aber im weiteren Verlauf des 16. Jh.s gewinnt, wie die zahlreichen Nachdrucke und Bearbeitungen bezeugen, das Narrenschiff seine alte Zugkraft zurück bis ins 17. Jh. hinein. Die letzte vollständige Ausgabe erscheint zu Frankfurt 1625, ein Auszug in einem Scherzgedicht 1629. Dann versinkt die Dichtung, wie überhaupt die volkstümliche Lit. des 16. Jh.s, in Vergessenheit. Erst seit der Mitte des 18. Jh.s erwekken die gelehrten Bestrebungen Gottscheds und der Schweizer auch das Narrenschiff zu neuem Leben, und das 19. Jh. setzt sich kritisch mit der Dichtung auseinander: aber das Interesse bleibt nun vornehmlich auf wissenschaftliche Kreise beschränkt. §11. Die durch Brant populär gewordene Narrensatire treibt an der Wende vom 17. zum 18. Jh. eine Nachblüte in den Predigten und Schriften (ζ. Β .Judas der Erzschelm und Narrennest) des Ulrich Megerle, gen. Abraham a S. C l a r a (1644-1709). An geistiger

Bedeutung und umfassender Bildung den älteren Satirikern wie B r a n t und Μ urn er kaum gewachsen, ist er in der Beherrschung der rhetorischen Mittel moderner und bietet eine so mächtige sprachliche und gedankliche Schwungkraft auf, daß er noch heute zu fesseln vermag. Sein Ausdrude ist anschaulich, urwüchsig, witzig-pointiert, reich an Gleichnissen, Wortspielen und Bildern. Auch dieser Augustinermönch bekämpft unermüdlich und scharf, freilich nicht ohne Wiederholungen, die Schwächen und Laster aller Gesellschaftsschichten, wobei er sich an die seit alters geläufigen Lieblingsthemata der volkstümlichen Satire hält. Und ebensowenig wie diese stellt der leidenschaftliche Warner, Mahner und Tadler ein positives Lebensideal auf. Er ist der Ausläufer einer langen Tradition, der letzte bedeutsame Vertreter der im 15. Jh. aufgekommenen humoristisch-satirischen Kanzelberedsamkeit, die auf dt. Boden in enger Fühlung mit der Volkssatire so ausgezeichnete Verfechter wie Geiler von Kaisersberg hervorgebracht hat. Wenn der Pater in Wien, im Angesicht des kaiserlichen Hofes vor einem gebildeten Publikum einen auf populäre Drastik eingestellten Stil pflegte zu einer Zeit, wo dieser sonst nur noch anspruchslose Kreise zu befriedigen vermochte, so konnte er das nur deshalb, weil er mit solcher Kost die Geschmacksrichtung der Wiener und Österreicher traf. Aber um die Lebensschidcsale Abrahams kümmerte man sich wenig; und es dauerte lange, bis seine Person und sein Werk gerechte Würdigung und Beurteilung fanden (durch Karl Bertsche, Abraham a S. Clara, 2. Aufl. 1922). § 12. An die Eulenspiegel-Tradition läßt sich am ehesten anschließen, was mit der Aneignung Shakespeares deutlich einsetzt: das Motiv des „weisen", des überlegenen, hintergründigen Narren. Schon bei Grimmelshausen spielt es in der Konzeption des Simplicissimus oder der des „teutschen Jupiter" eine zentrale Rolle; nicht nur der Name des Helden, zumal seine Hofnarrenzeit in Hanau symbolisieren das: fast das ganze Werk des Dichters setzt sich, wie erst neuerdings die Forschung erkannt hat (vgl. P. Gutzwiller), mit dem Narrentum der Menschen jener Epoche als Grundmotiv seiner gesamten Dichtung drastisch und wirkungsvoll auseinander. So gesehen, stünde Grimmelshausen in direkter Tradition der

Narrenliteratur mal. Gauklerdichtung. Selbst Gryphius, in seiner Lyrik wie Dramatik sonst der höfischen Kunst ergeben, beschreibt im Anhang zum Horribilicribrifax einen Poppius Narrenfresser, in dessen aufgesperrten Schlund ein Schiff voll Narren fährt. Und Christian Weise zeichnet in seinem Roman Die drei ärgsten Erznarren in der ganzen Welt ein treffendes Kulturbild seiner Zeit. Von nun an kann die Narrengestalt, ohne massive und konkrete Typensatire zu sein (wie sie es noch in Moscheroschs Die Geschichte des Philander von Sittewald oder bei Logau ist), zum Ausdrude einer ironischen, seit der Romantik schwermütig ironischen Weltanschauung werden. So vermag der Pidcelhäring, Hanswurst, Harlekin seine Rolle als Hauptfigur in der volkstümlichen Komödie bis ins 19. Jh. zu behaupten. Die Wiedererweckung der alten Narrenliteratur bei Tieck, Brentano, Eichendorff, Ε . T. A. Hoffmann, Büchner, Nestroy ist kein Zufall und hat ihre Wirkung auch noch bis in die Neuromantik hinein und, teilweise mit sozial-oder allgemein zeitkritischem Akzent, auch noch im Naturalismus (Gerhart Hauptmann) und Aktivismus (Brecht). Zum Wort: Theod. F r i n g s , Germania Romano (1932). — Allgemeine Darstellungen u. Anthologien: Karl Friedr. F l ö g e l , Gesch. d. komischen Lit. 4 Bde. (1784-1787). Friedr. Nick, Die Hof- u. Volksnarren samt den närrischen Lustbarkeiten d. verschiedenen Stände aller Völker u. Zeiten. Alts Flögeis Schriften u. a. Quellen. 2 Bde. (1861). Leo L a n g e r , Zur Narrenlit. 33. Jb. d. k. k. Staatsgymn. Villach (1902). Otto M ö n k e m ö l l e r , Narren u. Toren in Satire, Sprichwort u. Humor (2. Aufl. 1912). — Zur Volkskunde: Th. v. L i e b e n a u , Narrenkult [Miszelle] Schweiz. Arch. f. Volkskde. 4 (1900) S. 343. C. C l e m e n , Der Ursprung d. Karnevals. Arch. f. Religionswiss. 17 (1914) S. 139-158. Maximilian Josef R u d w i n , T/ie Origin of the German Carnival Comedy (New York 1920). R. S t u m p f 1, Der Ursprung d. Fastnachtspiels u. d. kultischen Männerhünde d. Germanen. ZfDtk. 48 (1934) S. 286-297. Adolf S p a m e r , Dt. Fastnaditsbräudxe (1936). Eugen F e h r l e , Feste u. Volksbräuche im Jahresablauf europäischer Völker (1955). — Zur Theatergeschichte: Hans Heinr. B o r c h e r d t , Das europäisdie Theater im MA. u. in d. Ren. (1935). Hans S e d l m a y r , Die Entstehung d. Kathedrale (1950), Kap. Narrenspiele in d. Kathedrale. Herrn. R e i c h , Der Mimus (1903). Anton G l o c k , Über d. Zusammenhang d. röm. Mimus u. einer dramat. Tätigkeit mal. Spielleute mit d. neueren komischen Drama. ZfvglLitg. NF. 16 (1906) S. 25-61; 172-193. Philip Schuyler A l l e n , The mediae-

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Narrenliteratur — Nationaltheater Zeit nach Zürich zurückgekehrt, widmet Sulzer seine ganze Muße der Ausarbeitung seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste, die 1771-1774 in Leipzig erstmals veröffentlicht wird. Das N. nimmt darin einen nicht unwesentlichen Platz ein. Im Artikel „Ballett" bedauert er, daß die heutigen Schauspiele „nicht die geringste Beziehung auf öffentliche Nationalsitten" haben. Im Artikel „Oper" meint er: „Der festeste Grund um die Oper als ein prächtiges und herrliches Gebäude herauszusetzen, wäre ihre genaue Verbindung mit dem Nationalinteresse eines ganzen Volks." Im Artikel „Schauspiel" unterscheidet er drei Gattungen: die bloß belustigenden und unterhaltenden Schauspiele, die unterrichtenden und bildenden Schauspiele, sowie solche, „die ein besonderes Nationalinteresse zum Grunde hätten, und nur bey besondern Feyerlichkeiten, auf einen wichtigen ihnen gemässen Zwek abziehlten". Diese Nationalschauspiele sollen im Gegensatz zu den täglichen Schauspielen für eine geringere Zahl von Menschen und die etwas selteneren für die Menge in den Großstädten nur in kleinen Städten und Dörfern im Zusammenhang mit Nationalfesten vom Staate selber veranstaltet werden (siehe Festspiel). Johann Elias S c h l e g e l , Gedanken zur

speare. Diss. Berlin 1928. — Paul G u t z w i l I e r , Der Narr bei Grimmelshausen (Bern 1959; Basler Stud. ζ. dt. Spr. u. Lit. 20). Murray B. P e p p a r d , 'Narr' und 'Narrheit' (1795 -1855), α study of the concept of folly in the German romantic movement and, its echoes up to 1855. Diss. Yale Univ. 1948. Gustav Bebermeyer

Nationaltheater § 1. Den Boden eines deutschen N.s bereitet mittelbar Gottsched vor, der die Haupt- und Staatsaktion (s. d.) sowie die Oper bekämpft, für das literar. Schauspiel eintritt und eine allgemeine Bühnenreform anstrebt. Zum Vorbild nimmt er allerdings weder das engl, noch das antike Theater, sondern das wesensfremdere der franz. Klassik. Als erster Deutscher entwickelt sein Schüler Johann Elias Schlegel, der 1743 mit seinem Herrmann das erste deutsche Nationaldrama schafft, den Begriff des N.s. Ausgehend von den Theaterverhältnissen in Dänemark, wo er 1743 bis zu seinem 1749 erfolgten Tode wirkt, verfaßt er 1746 unter den Auspizien des aufgeschlossenen Königs Frederik V (1746-1766) sein Schreiben von Errichtung eines Theaters in Kopenhagen, in dem er ein stehendes, vom Staat finanziertes und verwaltetes und von einem literarisch gebildeten „Aufseher" geleitetes Theater skizziert, 1747 seine Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters, worin er ein Theater fordert, das „nach den besonderen Sitten und nach der Gemütsbeschaffenheit einer Nation eingerichtet" und „in der Wahl der Charaktere" nach den Sitten einer Nation ausgerichtet sein müsse. Seine N.idee trägt nicht nur zur Gründung des ersten dänischen N.s bei, das 1748 unter der Direktion des Dramatikers Ludwig Holberg eröffnet wird, sondern wirkt sich auch in Deutschland aus, wo Geliert schon 1751 ein von einem „geschickten und edelgesinnten Aufseher" geleitetes und auf „öffentliche Kosten" erhaltenes Theater verlangt. 1760 schreibt der Schweizer Johann Georg Sulzer in seinem Jahresbeiträge für die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften in Berlin Philosophische Betrachtungen über die Nützlichkeit derdramatischen Dichtung: Man habe Grund zu hoffen, daß einige günstige Umstände dem Theater die Würde wiedergeben, welche es zu den schönsten Zeiten der Republik Athen besaß. Im Winter 1762-1763 für längere

i

Aufnahme

des

Dänismen

Theaters,

in:

Schlegel, Werke. Bd. 3 (1764) S. 260-298.

Ders., Ästhetisdxe u. dramaturgische

Schrif-

ten (1887; DLD. 26). Johann Georg Sulzer,

I !

j

I

Allgemeine Theorie der Schönen Künste, in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln

abgehandelt. 2 Bde (1771-1774).

§ 2. Die Idee eines dt. N.s verwirklicht in Zusammenarbeit mit Lessing und dem : Schauspieler Konrad Ekhof zuerst Johann • Friedrich Löwen in Hamburg. 1766 schreibt er in der Einleitung seiner Geschichte des deutschen Theaters, daß alles auf die große . Frage ankomme: „Was das heisse, ein eige| nes Theater haben? So bald wir erst, statt j der ewigen Übersetzungen aus fremden Sprachen, eine Menge Originalschauspiele I aufstellen können, die keiner andern als der deutschen Nation anpassend sind; so bald unsere Lustspiele das unterscheidende Gepräge des deutschen Charakters führen, und nicht mehr französisierend-deutsche Lustspiele sind, so bald eine Bühne auf öffentliche Kosten erhalten, und unterstützt wird; so bald, aber gewiß ehe nicht, werden wir

National theater ein eigenes Theater haben." In der Folge veröffentlicht er seine Vorläufige Nachricht von der auf Ostern 1767 vorzunehmenden Veränderung des Hamburgischen Theaters, worin er die Gründung eines N.s in Hamburg ankündigt, das von bürgerlichen Mäzenen finanziert und von einer literar. Persönlichkeit geleitet, in Verbindung mit einer Theatralischen Akademie zur Bildung in jeder Beziehung hochstehender Schauspieler „sein wichtigstes Augenmerk seyn lassen" wird, „das deutsche Theater mit der Zeit so national zu madien, als sich andere Nationen des ihrigen zu rühmen Ursache haben", eine Nationalbühne zu schaffen, welche „dem ganzen Volke dienen" wird, wenn sie nicht nur Zeitvertreib, sondern „moralische Anstalt" ist. Jährlich auszusetzende Preise sollen die nationale Dramatik fördern helfen. Am 22. April 1767 wird im „Theater am Gänsemarkt", wo zwei Jahre früher der Schauspieler-Prinzipal Konrad Ernst Ackermann die erste stehende Schauspielbühne in Hamburg geschaffen hat, das erste dt. N. unter der Direktion Löwens mit Lessing als Dramaturg eröffnet. Aber infolge des Mangels an nationalen Schauspielen, des Widerstandes der Schauspieler gegen die nicht aus ihrem Stande hervorgegangene Leitung und nicht zuletzt infolge der Teilnahmslosigkeit des Publikums muß das N. schon nach 8 Monaten nach Hannover auf Wanderschaft ziehen. In der zweiten Hamburger Spielzeit, die im Mai 1768 beginnt, kommen Angriffe der Geistlichkeit und interne Zwistigkeiten der Unternehmer hinzu, sodaß das erste dt. N. bereits im November 1768 in Hamburg und im März 1769 in Hannover endgültig seine Pforten schließt. Der einzige bleibende Gewinn ist die Hamhurgische Dramaturgie von Lessing, der schon im April 1768 entrüstet ob des Versagens des Publikums seine Stelle aufgegeben und sich „über den gutherzigen Einfall, den Deutschen ein Nationaltheater zu verschaffen, da wir Deutschen noch keine Nation" und „noch immer die geschworenen Nachahmer alles Ausländischen sind", ausgelassen hat. Was Löwen und Lessing nicht möglich war, gelingt dem SchauspielerPrinzipal Friedrich Ludwig Schröder jedenfalls in der ersten Periode seiner Hamburger Direktion, 1771-1780, auch wenn der Name „N." nicht mehr erscheint. Nicht nur kann er mit einem hervorragenden Ensemble

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ganzjährig spielen, er findet auch in den Dichtem des deutschen Sturm- und Drang neben Shakespeare die Hauptstütze seines Repertoires. Aber als er, nach vierjähriger Abwesenheit in Wien, 1785-1798 zum 2. Mal die Direktion in Hamburg übernimmt, häufen sich auch für ihn die Schwierigkeiten, sodaß er in seinem Abschiedsbriefe an sein Ensemble feststellen muß, daß das Publikum immer noch das ausländische Theater vorziehe und „der deutsche Künstler durch Deutsche heruntergesetzt" werde. Klopstodc, der sein Nationaldrama Die Hermannsschlacht Kaiser Josef II. widmet, wünscht die Errichtung eines N.s unter Lessing in Wien als Mittelpunkt des von hier aus zu leitenden deutschsprachigen Theaterwesens. Am 17. Februar 1776 erhebt Josef II. das Theater nächst der Burg zum deutschen „Hof- und National theater", das am 8. April eröffnet wird. Der Kaiser als oberster Theaterleiter ruft die „Versammlung" ins Leben, eine Art von Schauspielerrepublik, die aber bald durch den „Ausschuß" eines fünfgliedrigen Regiekollegiums ersetzt wird, an deren Stelle 1789 der Schauspieler-Regisseur Brodcmann als erster Direktor des Burgtheaters tritt. Neben dem Schauspiel wird im Unterschied zum Hamburger N. auch die deutsche Oper gepflegt: drei Werke Mozarts kommen zur Uraufführung. Der Kaiser selber tritt für die Erziehung der Schauspieler und ihre Unterordnung in ein wirkliches Ensemble ein, das sich an den Wortlaut der Dichtung hält; aber die Zensur, die schon Lessing von der Übernahme der Leitung abgeschreckt hat, verhindert die Entfaltung dieses N.s, das nach dem Tode Josef II. verfällt und 1794 verpachtet wird. Nachdem schon Minister Graf von Hompesch Pläne eines „guten N.s" in Mannheim ins Auge gefaßt hat, dessen Leitung er Lessing und Ekhof übertragen möchte, verwirklicht sein Nachfolger Freiherr Heribert von Dalberg die Idee. Am 7. Oktober 1779 wird das Mannheimer „Hof- und Nationaltheater" eröffnet, dessen gesamte künstlerische und administrative Leitung bald Dalberg übernimmt. Die beiden Pole des Spielplans in den ersten Jahren sind der junge Schiller, der 1783 in seiner Mannheimer Rede Wie kann eine gute stehende Bühne eigentlich wirken? — 1784 in verkürzter Form unter dem Titel Die Schaubühne als moralische Anstalt veröffentlicht

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National theater

— meint: „Wenn wir es erleben, eine Nationalbühne zu haben, so würden wir audi zur Nation!", und der Schauspieler-Dramatiker Wilhelm Iffland, dem später, nachdem er 1792 zum Regisseur ernannt worden ist, mehr und mehr die Leitung des Mannheimer Nationaltheaters anvertraut wird. Neben dem Schauspiel stehen auf dem Spielplan audi dt. Singspiel und dt. Oper, namentlich vertreten durch Mozart. Das durch kriegerische Ereignisse im Gefolge der franz. Revolution verursachte Ausscheiden Ifflands 1796 setzt dem Unternehmen ein vorzeitiges Ende. Am 5. Dezember 1786 wird das „Kgl. Nationaltheater" in Berlin eröffnet, dem der Mitgründer, König Friedrich Wilhelm II. von Preußen, das bisher von franz. Truppen benutzte Komödienhaus am Gendarmenmarkt zur Verfügung stellt. Dem ursprünglich amtierenden Prinzipal Doebbelin wird 1788 Professor Johann Jakob Engel als „bevollmächtigter Ober-Director" vorgesetzt. Neben Schauspiel und Singspiel wird auf besondern Wunsch des Königs ebenfalls die dt. Oper gepflegt. Ende 1796 übernimmt Iffland die Leitung und hält den dt. N.gedanken auch während der franz. Besetzung aufrecht. Als 1808 in einem Königsberger Memorandum nahegelegt wird, ein preußisches Staatstheater zu schaffen und als nationale Bildungsanstalt gleidi Schule und Universität dem Kultusministerium zu unterstellen, verweigert er allerdings die Gefolgschaft, da er unliebsame Eingriffe der Bürokratie befürchtet. 1778 wird im alten Opernhaus in München eine „National-Schaubühne" eingerichtet, 1789-1792 besteht in Frankfurt a. M. ein mit Mainz verbundenes „Churfürstliches Nationaltheater", 1797 wird in Breslau ein „Nationaltheater" eröffnet, die aber alle für das deutsche N. keine große Bedeutung haben, ganz im Gegensatz zum Hoftheater in Weimar unter Goethe (1791-1817) und Schiller (t 1805), auch wenn sidi dieses nicht als „N." bezeichnet. Johann Friedr. L ö w e n , Geschichte d. dt. Theaters, 1766 und Flugschriften d. Hamburger N.s, 1766/67. Neudr. hg. v. Heinr. S t ü m c k e (1905; Neudrucke literarhistor. Seltenheiten 8). Ossip D. P o t k o f f , Joh. Friedr. Löwen, der erste Direktor eines dt. Ns (1904). — Rud. S c h l ö s s e r , Vom Hamburger N. zur Gothaer Hofbühne 1767-1779. Diss. Jena 1895. Herb. K i t t e n b e r g , Die Entwicklung d. Idee des dt. N.s im 18. Jh. u. ihre Vericirklidiung (Masch.) Diss. München

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Poetik henden und vollendeten Einheit und Ausgeglichenheit unter Abwehr eines bewußten Zweckes und einer beabsichtigten Wirkung. In Auseinandersetzung mit M. Mendelssohn verwarf K. Ph. Moritz audi den Zweck des „Vergnügens", der bereits als die Reinheit der „edlen Einfalt und stillen Größe" (Winckelmann) eintrübend empfunden wurde. Nach Moritz ist das Kunstwerk „wegen seiner eignen innern Vollkommenheit da"; es ist etwas, „das bloß um sein selbst willen hervorgebracht ist, damit es etwas in sich Vollendetes sei", kurz ein (mit sich selber) „übereinstimmendes harmonisches Ganze". Diese „Ganzheits"-Idee verdrängt jetzt das ältere Ideal der Einheit in der Mannigfaltigkeit. Sie ist geschlossener, strenger, reiner, absoluter, kompromißloser. Die Linie verläuft weiter zu W. v. Humboldts Totalitätsbegriff und zu Fr. Hölderlins „Einheit des Einigen". Ähnlich wie das Schöne erhebt Moritz das „Edle" zum absichtslosen Selbstwert. Haltung und Gestaltung sind untrennbar im Sinne integrierender Wechselfunktionen. Zugleich wird das Wesenhaft-Typische herausgearbeitet. Herder drückt jenes NachInnen-Verlegen des Vergnügens so aus: der „Vorzug der griechischen Kunst und (I) Dichtkunst" liege darin, „daß beide gleichsam nur für sich dastehen und . sich in ihrem Innern gemessen". Dergestalt wirke jedes dieser mustersetzenden Kunstwerke „in sich vollendet und glücklich". Stärker aber als Moritz greift Herder zugleich auf den „Darstellungs"-Begriff (s. o.) zurück. Auch bleibt kennzeichnend, daß es wiederum wie schon bei der Einwirkung auf den Goethe der Straßburger Zeit (Sturm und Drang) ein lyrisches Teilgebiet ist, von dem aus nun auch die Anregungsimpulse in Weimar erfolgen. Aber von der Ästhetik aus hat K. Ph. Moritz das Fundament der klassischen P. gesichert, wie das kritische Anknüpfen an Mendelssohn andeutet. Rückwirkungen Goethes auf Moritz gingen mehr von dem Künstler und Menschen als dem Kunsttheoretiker Goethe aus. Goethes Italienische Reise und sein Referat über Moritz' Bildende Nadir ahmung im Teutsdien Merkur (1789) folgen deutlich den von Moritz entwickelten kunsttheoretischen Konzeptionen, und zwar mit wörtlichen Anklängen („ein für sich bestehendes Ganzes . . . " , das „seine Beziehung (nur) in sich haben" müsse.

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Das Eigene bei G o e t h e dürfte mehr in einer biologisch-morphologischen Sicht zu suchen sein, wie sich denn das Naturwissenschaftliche in der Kunstanschauung des späten Goethe erneut kräftigt. Schon die „Erfahrung" der Urpflanze läßt ihn von einem „Gewahrwerden der wesentlichen Form" sprechen. Der Stilbegriff, der Typusbegriff, der Symbolbegriff sind kaum denkbar ohne naturkundliche Bezüge, ohne Bezug auf das „Leben". Der „Vollkommenheit der Lebensäußeirung" im Naturgebilde entspricht das InSich-Selbst-Vollendete im Kunstgebilde. Aber auf der anderen Seite sind die Zuströme aus der Vorbildtheorie der bildenden Kunst (Winckelmann, später Heinrich Meyer) zu stark, um sich widerstandslos und widerspruchslos dem Biologisch-Morphologischen anzuverwandeln. Insgesamt kommt es mehr zu einer Art von Symbiose als wirklich zu einer Synthese jener beiden Grundkräfte des biologischen Erfahrens und des bildenden Erschauens. Das Gegenständliche strebt, an sich vollendet, dennoch geistig „bedeutend" über sich hinaus (Symbolbegriff); an sich eigenständig, eigengültig, wird es dennoch unbewußt allgemeingültig (Ansatz für den Typusbegriff). Der Art, die allegorisch zu einem Allgemeinen ein Besonderes bewußt „sucht", steht jene andere, spezifisch poetische Art gegenüber, die „im Besonderen das Allgemeine schaut". Diese „letztere (Art) aber ist eigentlich die N a t u r d e r P o e s i e : sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig (!) fasst, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden oder erst spät" (gewahr zu werden im Sinne eines Gewahrwerdens der wesentlichen Form). Drängt das Gewahrwerden-Wollen der wesentlichen Form zum Typusbegriff, so führt das Gewinnenwollen der idealistischen Form, der „bedeutenden" Gestalt, zum Symbolbegriff. Das Symbolische ist den Gegenständlichkeiten immanent, so daß sie „im Tiefsten bedeutend" sind. Das Kunstwerk hat die I m m a n e n z z u r E v i d e n z zu b e f r e i e n und zu erhöhen. Im engeren Rahmen der spezifisch „klassischen" P. aber überwiegt der Primat der Plastik, doch so, daß sich neben dem „Bildenden" das „Bedeutende" hinreichend Lebensraum zu schaffen vermag. Datenhaft seien verzeichnet Einfädle Nachahmung der Natur,

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Manier, Stil (1789); Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke (1798); Einleitung in die Propyläen (1798); Über Laokoon (1798) u. a. Auf S c h i l i e r s Weg zur klassischenP. liegen Die Götter Griechenlands (1788), Die Künstler (1789) mit entsprechenden Briefen an Kömer (Dez. 1788, Febr. 1789). Doch ist audi der Brief an Kömer vom 25. Dez. 1788 bemerkenswert mit seinen Anklängen an K. Ph. Moritz, so etwa mit dem Satz: „Ich bin überzeugt, daß jedes Kunstwerk nur sich selbst und keiner anderen Forderung unterworfen ist." Einzelzüge der Künstler.greifen auf die Philosophischen Briefe zwischen Julius und Raphael (1786) zurück. Wohl noch schärfer zeichnet sich die Schwenkung zum klassischen Kunstwollen ab in der Rezension Über Bürgers Gedidite (1791). Soweit Schiller seine Problemstellung nicht besonders im Kraftfeld Kants ins Philosophisch-Ästhetische ausweitet, bleibt sie, seiner speziellen Berufung entsprechend, deutlich auf Dramentheorie eingestellt. Der Dramatiker in Schiller lenkt und bestimmt den Kunsttheoretiker aber auch dort, wo nicht von Dramaturgie die Rede ist, weit entscheidender, als vielfach noch angenommen wird. Gegenüber der Statik des Plastischen bewahrt er den ihm unentbehrlichen Anteil des dramatisch Dynamischen, bald als „energische Schönheit" (Über Anmut und Würde), bald als „lebendige Kraft" (Kalliasbriefe) oder als das „Pathetische", als „Freiheit in der Erscheinung", als „Freiheit des Gemüts in dem lebendigen Spiel aller seiner Kräfte". Für Schiller lag die Schwierigkeit nicht im Plastisch-Bildenden einerseits und Biologisch-Naturgesetzlichen andererseits (Goethe), sondern in den Kraftpolen Freiheit/Bindung, Ethik/Ästhetik, geistiger Abstand/ethische Anteilnahme, Ideal/Leben. Und in gewissem Sinne kommt es auch bei ihm eher zu einer Symbiose als zu einer echten Synthese, jedenfalls innerhalb seiner Kunstanschauung. Das Nebeneinander transponiert er nicht zufällig in ein Nacheinander; denn: „Es gibt keinen anderen Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als daß man denselben zuvor ästhetisch macht." Der Durchgang zur Philosophie (und Ethik) erfolgt über die Poesie (soziologische Funktion der Kunst, Rechtfertigung und Rangerhöhung). Zugleich klingt der Ganzheitsbegriff deutlich auf, wenn mü-

der ästhetische Zustand als „ein Ganzes in sich selbst" gilt, „der alle Bedingungen . . . in sich vereiniget". Folgerichtig wird die Wirkung der wertvollen Kunst so umschrieben: „Diese hohe Gleichmütigkeit und Freiheit des Geistes, mit Kraft und Rüstigkeit verbunden (Bewahren des Dynamischen), ist die Stimmung, in der uns ein echtes Kunstwerk entlassen soll (Abhebung von Goethes ,vagem' Zustand), und es gibt keinen sicherem Probierstein der wahren ästhetischen Güte." Bei alledem steckt im Attribut „ästhetisch" vieles von dem Attribut „bildend" im Sinne, wie Moritz (und Goethe) von „bildender Nachahmung" gesprochen hatten. Der Dramatiker (und Ethiker) Schiller sieht merklich auf den „Menschen" mehr als auf das „Leben" (Goethe). Und so lautet eine seiner bündigsten Definitionen des Dichterischen und dessen Wesensbestimmung nicht von ungefähr „der Menschheit ihren möglichst vollständigen Ausdruck zu geben". Der späte H e r d e r der Kalligone (1800) und Adrastea (1801/02) sieht in Schillers Spielbegriff, den er zu empirisch auffaßt, eine Entwertung der Poesie. Daher pocht er auf „leib- und geisthafte Wahrheit" im dichterischen Kunstwerk, die beim bloßen „Spiel" verloren ginge. Und er hält daran fest: „Der Poet ist Erschaffer, Schöpfer; wer dies nicht kann, ist kein Dichter." Fast wie er einst den jungen Goethe gemahnt hatte, daß Shakespeare ihn ganz verdorben habe, so meint er jetzt, auch das Vorbild der Antike sei schließlich schädlich geworden; denn: „Nicht also von der zeichnenden oder bildenden Kirnst empfängt die Dichtkunst Gesetze." Etwa gleichzeitig sucht H ö l d e r l i n den „ Gesichtspunkt,aus dem wir das Altertum anzusehen haben" (1799). Und ihm will scheinen, „wir müssen die Mythe überall beweisbarer darstellen". Er ringt um eine „Junonische Nüchternheit", warnt jedoch vor einer absoluten Vorbildgeltung der Alten, vor einer „blinden Unterwerfung unter alte Formen". Noch aber besteht der Primat eines „Ganzen des Kunstwerkes", also der klassischen Ganzheitsidee, die indessen durch Identitätsvorstellungen leicht romantisch ausgeweitet erscheint („Einheit der Entgegensetzung"). Selbsthingabe und Selbstbewahrung bestimmen zu gleichen Teilen die Haltung des echten Dichters, der die Besonnenheit, ja „Nüchternheit" in das leidenschaftliche Ge-

Poetik fühl hineinnimmt und es so zügelt und ausgleicht, um durch höchste Anspannung die übermächtige Spannimg in einem „ Ursprünglich-einigen" aufzuheben. Dennoch entscheidet wie in der klassischen P. der Wille zum Werk unter Ausschaltung der romantischen Ironie; und ebenso begegnet das klassische Ausgleichsstreben in immer neuen Formen und Fassungen. Allgemeines: Otto H a r n a c k , Die klass. Ästhetik d. Deutschen (1892). Helene S t ö k k e r , Zur Kunstanschauung d. 18.Jh.s. Von Winckelmann bis zu Wackenroder (1904; Pal. 26), im Thema unklar. Maria D e e t z , Anschauungen von italienischer Kunst in d. dt. Lit. von Winckelmann bis zur Romantik (1930; GermSt. 94). H. A. Korf f , Geist d. Goethezeit. Bd. 2 (2. Aufl. 1930; Nadidr. 1955) S. 401-497. Einzelne Dichter und Theoretiker: Konrad K r a u s , Winckelmann u. Homer (1935). Wolfgang S c h a d e w a l d t , Winckelmann u. Homer (1941; Lpz. Univ.reden6). Curt M ü l l e r , Die geschichtl. Voraussetzungen d. Symbolbegriffs in Goethes Kunstanschauung (1937; Pal. 211), über Winckelmann, S. 20-85. Ingrid K r e u z e r , Studien zu Winckelmanns Ästhetik. Normativität u. histor. Bewußtsein (1959; Jahresgabe der W.-Ges.). Walter B o s s h a r d , Winckelmann. Ästhetik der Mitte (1960). — Karl Philipp M o r i t z , Schriften z. Ästhetik v. Poetik. Krit. Ausg. Hg. v. Hans Joachim S c h r i m p f (1962; NDL. N. F. 7). Max D e s s ο i r, Karl Philipp Moritz als Ästhetiker (1889). Karl K i n d t , Die Poetik von K. Ph. Moritz. (Masch.) Diss. Rostode 1924. Eduard N a e f , K. Ph. Moritz, seine Ästhetik. Diss. Zürich 1930. Bruno M a r k w a r d t , Gesch. d. dt. Poetik. Bd. 3 (1958) S.46-60. Erich T h a t , Goethe u. Moritz. (Masch.) Diss. Kiel 1921. — Goethe: Wilh. B o d e , Goethes Ästhetik (1901). Franz Z i n k e r n a g e l , Goethes 'Ur-Meister' u. d. Typusgedanke. Akademierede Zürich 1922. Ferdinand W e i n h a n d l , Die Metaphysik Goethes (1932). Heinr. S p i n n e r , Goethes Typusbegriff (1933; WegezDditg. 16). Hans K e i p e r t , Die Wandlung Goethescher Gedichte zum klass. Stil (1933; JenGennFsdign. 21). Wilh. P i n d e r , Goethe u. d. bildende Kunst. Festrede Bayr. Akad. d. Wiss. 1932 (1933). Curt M ü l l e r (s. o.), S.213-235: Auftauchen d. Symbolbegriffs bei Goethe. Karl S c h l e c h t a , Goethe in seinem Verhältnis zu Aristoteles (1938; Frankf. Stud. ζ. Rel. u. Kultur d. Antike 16). Günther M ü l l e r , Die Gestaltfrage in der Lit.wiss. u. Goethes Morphologie (1944; Die Gestalt 13). Ders., Gestaltung - Umgestaltung in 'Wilh. Meisters Lehrjahren' (1948). Wilhelm Ε m r i c h, Die Symbolik von Faust II (1943; 2. Aufl. 1957). Georg L u k d c s , Goethe u. s. Zeit (1950). Wolfgang Κ ays e r , Goethes Auffassung von d. Bedeutung d. Kunst. Goethe-Jb. 16 (1954) S. 14-35. Naoji K i m u r a , Goethes Wortgebrauch zur Dichtungstheorie im Briefw. mit Schiller u. in d. Gesprächen

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Poetik

§ 7. Die P. und das Kunstwollen der Rom a n t i k zielen auf das Wunder der Weite und die Weite des Wunders, das kein Genüge finden konnte in der Diesseitigkeit des „In-Sich-Selbst-Vollendeten", wie das Wunder der Weite kein Genüge fand an einer „ins Reale verliebten Beschränktheit" (Goethe). Die P. weitet sich aus zur Lit.philosophic, entsprechend dem kaum entwirrbaren Wechselspiel von P. und Philosophie im Raum der Romantik (bes. der Frühromantik); denn „die transzendentale Poesie ist aus Philosophie und Poesie gemischt" (Novalis). Der Einbruch der spekulativen Philosophie in die literaturphilosophische Spekulation bleibt allenthalben spürbar. Wie die philosophische Reflexion den Denker beflügelt, so beflügelt die poetische Reflexion den Dichter, wobei das Reflektieren mit Potenzieren verbunden ist („Poesie der Poesie" — „poetische Poetik" usw.). Teilweise liegt auch nur Lit.programmatik vor. Sie klingt ζ. B. an, wo es heißt: „Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja, das ist ihr eigentliches W e s e n , daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann." Also auch von hier aus wird eine Position erstrebt aus Opposition gegen das „In-Sich-Selbst-Vollendete". Systemfeindschaft, Willkürfreiheit und Stimmungsfreiheit sind Programmthesen und gelten als Tugenden. Dementsprechend besteht keine günstige Voraussetzung für eine spezifisch romantische P. Selbst ein wesentlicher Beitrag wie Friedrich Schlegels Gespräch, über die Poesie (1800), das nicht nur im Titel sich Schleiermachers Reden über die Religion nähert, ist vergleichsweise weitgehend literaturhistorisch orientiert; und selbst der dritte Essay als Brief über den Roman zeigt eine Mischform aus Kunsttheorie und Lit.kritik. Am ehesten noch die Rede über die Mythologie bringt etwas Spezielles zur P., genauer zur Lit.progrämmatik (neue Mythologie als Voraussetzimg für eine neue Poesie). Trotzdem ist das Ganze unverkennbar mit Lit.philosophie angereichert. Eine derartige Mythologie glaubte man künstlich und kunstreich konstruieren zu können, wie denn überhaupt in der Frühromantik viel kunstverstandesmäßig Bewußtes mit übergreift oder doch durchschimmert. Gegenüber der strengen Umschränkung der Poesie und ihrer P. (Klassik), die zugleich den Vorteil

der Konzentration bot, erfolgte in der romantischeil P. eine grenzenlose Ausweitung, die notwendig mit der Gefahr der Zersplitterung verbunden war und die Grenzen verschwimmen ließ. Denn „die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen . ." (Athenäum-Fragment 116). Neben dem kühneren Fr. Schlegel stellt auch der besonnenere A. W. Schlegel in seinen Berliner Vorlesungen (1801-04), deren 1. Teil Die Kunstlehre (1801/2) von ihm selbst als „Poetik" bezeichnet wurde, nachdrücklich heraus, daß Poesie eigentlich in allen Künsten zu finden, ja, daß sie das allen Künsten Gemeinsame sei (also Urtypus wie bei W. v. Humboldt die bildende Kunst). Damit ist schon der Gegenstand, der Stoffkreis der P., eben die Dichtung selbst, in ihren Grenzen fließend geworden. Das Kernstück der Athenäum-Fragmente (Nr. 116) übersah diese Problematik keineswegs, half sich jedoch vorerst kurzerhand mit der rebellierenden Abwehr aller P., denn die romantische Dichtkunst „kann durch keine Theorie erschöpft werden. Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide". Im Gegensatz zum ruhenden Sein der Klassik erhebt man wieder das lebendige Werden der Geniezeit (Herder) zur bewußten Forderung: „Grenzenlose Progressivität" (A. W. Schlegel), „ewiges Werden" (Fr. Schlegel). Eine P. in Aphorismenform fand nach alledem günstige Entfaltungsmöglichkeiten in den Lyceums-Fragmenten (1797 f.), in den Athenäums-Fragmenten (1798-1800), in Novalis' Blütenstaub (1798) usw. Die „romantische Ironie" (Formulierung: Novalis; Entwicklung des Begriffes: bes. Fr. Schlegel) gilt als die „freieste aller Lizenzen, denn durch sie setzt man sich über sich selbst weg" (Fr. Schlegel, LyceumsFragment 108). Aber man setzt sich durch sie auch über den Eigenwert des Kunstwerkes hinweg. Geschieht dies anfangs unter

Poetik Einwirkung der Philosophie (bes. Fichtes), so weiterhin unter der — bisher unterschätzten — Einwirkung der Religion. Denn wenn Fr. Schlegel betont: „Poesie allein kann sich nur durch Ironie bis zur Höhe der Philosophie erheben", so macht ζ. B. Adam Müller mit merklich persönlidiem Einsatz geltend: „Nennen Sie diesen nun den Geist der Liebe oder den Geist der Freiheit, nennen Sie ihn Herz oder Gott — mir schien am geratensten, ihn mit dem bewegtesten, zartesten, geflügeltsten Geist der alten Welt. . ., mit Piaton Ironie zu nennen" (1812). Die Annäherung an die Gottesvorstellung ist dabei unverkennbar. Die romantische Ironie als Funktionsform der poetischen Reflexion kann in größerem Zusammenhange als eine höchste Manifestation der Zweckfreiheit der Kunst, als letzte Stufe der Steigerung und Ubersteigerung der Zweckbefreitheit der Poesie und des schlechthin Poetischen aufgefaßt werden. Der begrifflichen Ableitung nach zunächst philosophisch konzipiert, wird sie dem Lebensgefühl nach zum Ausdruck eines religiösen Bewußtseins, daß unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit auch das dichterische Kunstwerk, dem die P. der Klassik höchste Wichtigkeit beigemessen hatte, immer noch der irdischen Nichtigkeit zugekehrt bleibt. Der Wille zu Gott überwältigte dergestalt den Willen zum Werk. Hierher gehört auch Brentanos briefliches Geständnis: „Seit längerer Zeit habe ich ein gewisses Grauen vor aller Poesie, die sich selbst spiegelt und nicht Gott" (Jan. 1816). Man braucht nicht einmal bis zur Auffassung des Dichters als Priester (Hankamer: „Priesterkünstler") durch Zacharias Werner und dessen Konzeption einer „tragoedia sacra" zu gehen. Schon Fr. Schlegel ersetzt in den Ideen den Passus „eigne Weltanschauung" durch das Wertwort „Religion", indem er die Endfassung bevorzugt: „Wer Religion hat, wird Poesie reden"; denn „nur derjenige kann ein Künstler sein, welcher eine eigne Religion und eine originelle Ansicht des Unendlichen hat" Für Wackenroder verstand sich das religiöse Wertkriterium von selbst. Für ihn glimmt im Künstler der „himmlische Funke", der nun Gott aus dem Kunstwerke wieder „entgegenglimmt" (s. Birken, Quirinus Kuhlmann, Hamann, Lavater, Kaufmann u. a. Traditionsträger). Während N o v a l i s noch die Genievorstellung des Schöpferischen vertritt: „Dichten

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heißt Zeugen. Alles Gedichtete muß ein lebendiges Individuum sein", betont A. W. Schlegel in Abweichung von der bei K. Ph. Moritz zu beobachtenden scharfen Trennung von Genialität und Geschmack, daß Genie nichts weiter sei als „produktiver Geschmack", als „Geschmack in seiner höchsten Wirksamkeit". Auch der Novalis des Operdingen forderte neben dem „Sinnberaubten" des „magischen" Dichtertums das Walten eines geschmackvollen Kunstsinnes: „Nichts ist dem Dichter unentbehrlicher als E i n s i c h t . . B e geisterung ohne Verstand ist unnütz und gefährlich" (Annäherung an Hölderlin). Aber derselbe Novalis scheut nicht den latenten Anteil des Chaotischen: „Das Chaos muß in jeder Dichtung durch den regelmäßigen Flor der Ordnung schimmern." Ludwig T i e c k versucht es mit einer Identität von Begeisterung und „schaffender Klarheit", räumt jedoch zugleich dem genialen Dichter die Fähigkeit ein, das Wunderbare und Mystische suggestiv zu machen. Für A. W. Schlegel ist die „Symbolik der Wortsprache . . . das Medium der Poesie"; und er hofft, von hier aus in das Wesenszentrum der Poesie vorzudringen und „über das Geheimnis der Dichtung überraschende Aufschlüsse zu gewinnen". So unterbaut er auch die in der romantischen P. ganz geläufige Vorstellung einer „Poesie der Poesie" von der sprachtheoretischen Seite her, indem schon die Sprache an sich „selbst ein immer werdendes, sich wandelndes, nie vollendetes Gedicht des gesamten Menschengeschlechts" darstelle. Der Dichter ist kein Nachbildner der Natur, sondern ein „Spiegel des Universums". Auch von dieser Seite will die progressive Universalpoesie verstanden sein. Die Mimesislehre wird nicht nur verworfen, sondern sie erfährt eine Umkehrung. Indem S c h e l l i n g die intellektuelle Anschauung zur „produktiven Anschauung" erhebt, gewinnt er eine hohe „Meinung von dem bewußtlosen Anteil an der Poesie"; und jene produktive, intellektuelle Anschauung ist für ihn eben das, „was wir Dichtungsvermögen nennen". Dichtung erhält so ihre transzendental-idealistische Weihe, die sich nicht mit dem Naturnachahmungsprinzip vereinbaren läßt. Vielmehr, so betont Schelling, für den die Natur nur ein von der Anschauung Objektiviertes bedeutet: weit entfernt davon, daß die nur zufällig schöne Natur der Kunst ihr Gesetz aufzwinge, bie-

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Poetik

tet umgekehrt das, „was die Kunst in ihrer Vollkommenheit hervorbringt, Prinzip und Norm für die Beurteilung der Natursdhtönheit". Das dürfte der schärfste Gegenstoß sein, den die Lehre von der Nachahmung der Natur als Wesen und Aufgabe der Poesie in ihrer jahrhundertelangen Entwicklung überhaupt erfahren hat. Und A. W. Schlegel vollzieht ebenfalls diese radikale Schwenkung. Er selber betont, daß man den alten Lehrsatz „geradezu umkehren" müsse und zwar zu der These: „der Mensch ist in der Kunst Norm der Natur". Der Anklang an Sdielling ist unverkennbar. Innerhalb der Gehaltsästhetik sind Einwirkungen Schellings in dem System der Kunstlehre (1805) von Friedrich Ast zu verzeichnen. Fr. Ast (Förderer des frühen Eichendorff) sieht in der Poesie „eine rein geistige, aber bewußte Absolutheit", in welcher sich Realität und Idealität zu einer „idealen Einheit" durchzuringen haben. „Die Poesie stellt demnach die Absolutheit in ihrer höchsten Vollendung auf der geistigen Stufe des geistigen Bildens dar..., darum ist die Poesie der Gipfel der Kunst." Sie gilt zugleich als eine Art Synthese von bildender Kunst und Musik. Etwa gleichzeitig legte Christian Aug. Heinr. C l o d i u s (1772-1836) den sehr umfangreichen Entwurf einer systematischen Poetik (Bd. 1, 1804) vor, wobei er die Aufgabe und Begrenzung der P. kritisch zu bestimmen versucht, aber streckenweise in die reine Ästhetik gerät. Das „poetisch Schöne" gilt als der Widerschein des Idealen im Realen, und die Poesie bringt ein Reales nur hervor, „um die innere, formelle, idealisierende Geistesnatur, darinnen anzuschauen". Demnach stellt die Poesie (wie bei Fr. Ast) „ausgemacht die höchste und reinste Kunst" dar. Der Philosophieprofessor Clodius, der einen Grundriß der allgemeinen Religionslehre (1808) verfaßt hat, bevorzugt Klopstodc als Meister- und Musterdichter. Seine P. ist keine spezifisch romantische, ruht aber merklich auf christlichem Traggrund. Clodius beherrscht die ältere Ρ., die er weitgehender und gründlicher in sein System einer P. hineinverarbeitet, als es damals sonst zu geschehen pflegte. Einflußreidier als Clodius'P.-System erweist sich mit seine/r Ästhetik (1806), die im 2. Teil eine eigene P. enthält, der Literaturhistoriker (Geschichte der neueren Poesie, 1801 f.) und Ästhetiker Friedr. B o u t e r -

wek, auf den sich später nodi Platen und Grillparzer, aber audi L. Wienbarg dankbar zurückbeziehen. Bouterwek wendet sich mit aller Schärfe gegen die frühromantische, „allemeueste Modemetaphysik" und den „toll gewordenen ästhetischen Idealismus" und „absoluten Mystizismus". Er will sich an den Weg Herder-Jean Paul halten, wobei merklich Herder die Hauptrichtung bestimmen hilft. Teilweise sucht er mit der Klassik ein heilsames Gegengewicht zu schaffen. Er will die blaue Blume der Romantik nicht ersticken, aber „diese Blume erziehen". In der Tat setzt sich der Einfluß der romant. P. doch stärker durch, als Bouterwek wahrhaben möchte. So dürfte die hohe Bewertung der Poesie innerhalb der Frühromantik beteiligt gewesen sein an seiner Erhebung der Dichtkunst zur Urkunst. Bouterwek bevorzugt den Terminus „Dichtkunst", da „Poesie" durch die Romantiker für alle ästhetisch eingestellte Geistestätigkeit gebraucht und mißbraucht werde („Poesie der Poesie" usw.). Aus der Dichtkunst spricht Seele und „Weltseele". Soweit Vernunft hinzutritt, hat sie „unmittelbar darstellend, nicht räsonnierend" zu wirken (Abwehr der romant. „Reflexion"). Romantisches aber klingt an, wenn die dichterische Schönheit als „intellektuelle Universalität" umschrieben wird. Ebenso arbeitet er mit der Unterscheidung von Naturpoesie und Idealpoesie (Kunstpoesie). Besondere Aufmerksamkeit widmet er der dichterischen Sprachformung. Kritische Abwehrstellung gegen die „Metaphysik" des absoluten Idealismus und die spekulative Transzendentalphilosophie bezieht unter den Dichtern vor allem J e a n Pa.ul mit seiner Vorsdiule der Ästhetik (1804), der weit später eine Kleine Nachschule (1825) folgt, die mehr satirische Zeitkritik als Poetik treibt. Es handelt sich recht eigentlich (wie die zeitgenöss. Kritik sogleich erkannte) um eine Vorschule der Poetik, die vor allem den „komischen" Wirkungsformen Geltung und Ansehen gewinnen möchte. Den Humor bestimmt er dabei als das „umgekehrt Erhabene". Wie seine hohe Stoffbewertung von der P. der Klassik abrückt, so entfernt ihn seine Auffassung des Genial-Schöpferischen vom Geistig-Reflektierenden der romant. P. (Frühromantik). Schon in den Ästhetischen Untersuchungen (1794 f.) hatte das Ziel vorgeschwebt: „Die beste Poetik wäre,

Poetik alle Dichter zu charakterisieren." So will er auch in der Vorschule

empirisch-induktiv

und als Dichter verfahren (trotz des feierlichen Paragraphen-Gewandes!) und gerät nicht selten von der Lit.theorie in die Lit.kritik (ζ. B. an Joh. Th. Hermes' Romanschaffen). In seiner Art verfaßt er auch eine „poetische Poetik" (nur etwas anders, als es das Athenäum-Fragment

28 meinte). Ein romant.

Virtuosentum erfährt Mißbilligung. Trotz Herausstellung einer geistig regulierenden „Besonnenheit" ist Jean Paul überzeugt „Das Mächtigste im Dichter ist gerade das Unbewußte". Von dem Prinzip der Naturnachahmimg rückt er ab, so etwa mit dem kunsttechnischen Hinweis: „weder der Stoff der Natur, noch weniger deren Form ist dem Dichter roh brauchbar". Er unternimmt eine Art Typenbildung: „poetischer Materialist/ poetischer Nihilist", die beide als verfehlte Extreme der Kritik verfallen. Dichtung ist kein bloßes „Kopierbuch des Naturbuchs". Aber der Lebensbezug muß ständig hindurchscheinen; denn „dem reinen durchsichtigen Glase des Dichters ist die Unterlage des dunklen Lebens notwendig". Trotz mancher Teilberührung auf Grund derselben Anregung (Schiller) hebt sich dieses Paar doch deutlich ab von dem „produktiven" und „eduktiven" Typus, den Josef G ö r r e s in seinen Aphorismen

über

die

Kunst (1802) zu entwickeln suchte, wobei er den „produktiven" Typus das Naturbild zum Phantasiebilde verklären läßt, der „eduktive" Typus dagegen sitzt „mit wachem, offnem S i n n . . . zu Füßen seiner Mutter, der Natur". Über beiden „schwebt" als etwas billige Synthese der „ideale" Typus. Die Poesie umschreibt Görres damals so: „Ein Segment aus seiner inneren Sphäre oder aus der Sphäre außer ihm stellt der Dichter dar im Wort." Die im Hintergründe erkennbare Unterscheidung von Naturdichterund Kunstdichter geht dann schon im Räume der Jüngeren Romantik über in die Gruppe Volksdichtung/Kunstdichtung. Erwähnt sei beim Herausgeber der Deutschen Volksbücher (1807) die Umschrei-

bung des Volksbuches als Verkörperung, oder wie es Görres ausdriidct, als „Körper des Volksgeistes". Bei Jakob Grimm, der ein Sich-Selber-Dichten der Volksepen annimmt, bildet sich die Vorstellung eines dichtenden Volksgeistes oder richtiger vielleicht eines dichtenden Volksgemüts heraus. In diesem

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Sinne ist die Umschreibung als Vorbereitung zu verstehen: „Die Poesie ist das, was rein aus dem Gemüt ins Wort kommt." Mit dem Begriff des „Lebendigen" versucht J. Grimm eine Brücke zu schlagen vom „Poetischen" zur Volkspoesie, die aus den Sagen fließt. Auch Sage sei in ihrer Art Poesie, weil „Poesie nichts anders ist und sagen kann als lebendige Erfassung des Lebens". Frühzeitig machte sich J. Grimm „Gedanken, wie sich die Sagen zur Poesie und Geschichte verhalten" (1808), und bezweifelte, daß in einer Epoche der Kunstdichtung überhaupt noch „Naturdichtung" und Volksdichtung, die für ihn kollektiv entstand, möglich seien.

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Poetik sieht" bezeichnete. Es handelt sich denn audi nidit um eine radikale prinzipielle Schwenkung, sondern mehr um eine kunsttedinisdie Erwägung, wenn er erklärt: „In der Kunst bin ich Supernaturalist. Ich glaube, daß der Künstler nicht alle seine Typen in der Natur auffinden kann, sondern daß ihm die bedeutendsten Typen als eingeborene Ideen gleichsam in der Seele geoffenbart werden." Der letzte Passus klingt gar ein wenig nach — Friedrich Schiller, während im ganzen weniger das qualitative Nachbilden als das quantitative der „Natur" in Frage steht. Angedeutet werden soll offensichtlich die ergänzende und vertiefende Funktion der dichterischen Phantasie. Terminologisch klingt Philosophisches leicht an. Zugleich wird die Distanz zur Tendenzdichtung theoretisch betont. Denn Ludolf W i e n b a r g fordert abweichend: „Charaktere mit scharf begrenzter Individualität", die tätig ins Leben wirken, „ihren Geist auf bestimmte Zwecke richten, deren Verwirklichung fordern und anstreben". Der Dichter hat nicht eine Gestaltenwelt aus sich herauszuheben, sondern die umgebende wirkliche Welt umgestaltend zu beeinflussen: „Und nur in dieser Eintracht des Willens (Absichtsdichtung) mit der Tat (aktivistische Dichtung) sehen wir poetische Lebendigkeit und poetische Wirkung". Nicht nur der Zweck, sondern auch das Wesen der Poesie wird also vom Politischen gesehen und bestimmt (s. Junges Deutschland). Die Ästhetik, so meint Wienbarg, sei für Deutschland zu früh gekommen, die Politik hätte vorausgehen sollen. Immerhin bezieht er ergänzend die Gefühlswelt mit ein gemäß seiner gefühlsmäßig getönten Pathetik: „Die Poesie ist die Dolmetscherin aller Gefühle und Bestrebungen." Das Binde- und Schmelzmittel, das die widerstrebenden Elemente bewältigen soll, ist letzten Endes die Begeisterung, aber vorzüglich eine politische Begeisterung (vgl. B. Brecht). Das Poetische wird merklich dem Publizistischen anverwandelt. Kennzeichnend dafür ist das Auftauchen von Bezeichnungen wie „Schriftstellerei" oder „ästhetische Prosaisten". Das Verskriterium als Merkmal echter Poesie scheint endgültig überwunden zu sein: „Die Prosa ist eine Waffe jetzt und man muß sie schärfen." Die (politische) Poesie gibt das Gesetz, nicht die P., die dem Werk nur gesetzempfangend nachfolgt. Die politische Reallexikon I I I

Theorie darf führen, nicht die poetische Theorie. Es geht Wienbarg mehr um die „Einleitung zur künftigen Ästhetik" mit Hilfe einer „beginnenden Weltanschauung" (Hauptabsicht der Ästhetischen Feldzüge, 1834). H. L a u b e , der das Theater zum „Telegraphen der Zeit" deklariert hatte, flüchtet sich bald in die recht extreme Gegenposition: „Die Poesie ist sich Selbstzweck, sie will erfreuen und erheben." Gewiß ist das nicht der ganze Laube; aber auch Heine bekennt sich theoretisch zum Autonomiegedanken (Abweichung: Theorie/Praxis). Georg B ü c h n e r erneuert hinsichtlich der Natur- und Wirklichkeitsnähe manche Sturm- und Drangansichten (nahegelegt durch die Lenz-Novelle). Die Suggestivkraft des Lebensvollen, Lebendigen (der junge Goethe) bewährt sich aufs neue, wenn G. Büchner als das „einzige Kriterium in Kunstsachen" gelten lassen will, daß, „was geschaffen sei, Leben habe". Verklärungstendenz wird abgewehrt. Die werkimmanente Poetik wirkt weit wertvoller als die formulierte (von H. Mayer zunächst überschätzt, mit späterer Berichtigung). Georg H e r w e g h spricht den Dichtem, die nicht nur für eine Klasse von „bevorzugten Geistern" schaffen, den Philosophen gegenüber den Vorteil zu, unmittelbar auf das Volk einwirken zu können (in Literatur und Volk). Seine Programmthese vom Poeten als einem „Richter im höchsten umfassendsten Sinne des Wortes" könnte fast schon einen kritischen Realismus antizipieren. In gewissem Sinne spielt er, ähnlich und doch anders als Schopenhauer, den Poeten gegen den Historiker aus. Denn für ihn ist die Poesie keine bloße Vermittlerin der Historie, sondern sie repräsentiert selber die „innere Geschichte der Menschheit"; zum mindesten ist sie „als Supplement der Weltgeschichte" anzuerkennen. Freilich stellt sich Herwegh die bewegenden Kräfte wesentlich anders vor als Hegel, der erklärt, daß uns das Kunstwerk „die in der Geschichte waltenden ewigen Mächte ohne dies Beiwesen ( = .gewöhnliche Wirklichkeit') der unmittelbaren sinnlichen Gegenwart und ihres haltlosen Scheins entgegenbringt". Von Hegel aus liegt der Blick auf Friedrich H e b b e l nahe, der das Wesen und die Aufgabe der Poesie frühzeitig (1836) darin sieht, daß sie „an der singularen Erscheinung das Unendliche veranschaulichen" solle. Seine 10

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komplizierte, zum Metaphysischen tendierende Kunstphilosophie kann nicht beiläufig erörtert werden. Den alten Gedanken der Naturnacheiferung (statt Natumachahmung) greift Otto L u d w i g wieder auf, jedoch in besonders klarer Formulierung: „ Dem Dichter liegt es ob, nicht was die Natur, sondern wie die Natur schafft, ihr nachzuschaffen." Das Dichterische wird sehr stark auf das Typische zurückgeführt: „Dadurch hauptsächlich entsteht Poesie, daß im Typus stets der einzelne Fall und im einzelnen Fall der Typus zugleich erscheint, zu dem er gehört." (Im gewissen Grade ist O. Ludwig Traditionsträger für die Typus-Diskussion in der marxistischen P.). Unter dem Eindruck neumaterialistischer Lehren gesteht G. K e l l e r , die romantische Vorstellung von dem Poetischen aufgegeben zu haben zugunsten der sich bescheidenden Einsicht, daß „Schlichtheit und Ehrlichkeit mitten in Glanz und Gestalten herrschen müssen, um etwas Poetisches oder, was gleichbedeutend ist, etwas Lebendiges und Vernünftiges hervorzubringen", eine liebende Hingabe an das Leben und eine verehrende Achtung vor dem Daseinsrecht des Dinghaft-Daseienden haben dem echten Dichter eigen zu sein. Von einem wesentlich anderen Lebensgefühl gelangt A. S t i f t e r ebenfalls zum Leitwort des äußerlich Schlichten und innerlich Ehrlichen und Wahrhaftigen, nämlich vom christlich-humanistischen Wertungswinkel aus, wobei sich die Einfalt christlicher Demut in der ästhetischen Schicht mit der edlen Einfalt der Klassik verbindet. Der stillen Größe entspricht die verinnerlichte Größe des Stillen und äußerlich Kleinen (Rezension der Mohnkörner, 1846; Vorrede, 1852, zu den Bunten Steinen). Der parallel gerichtete Brief an Hedcenast (Juli 1847) betont: „Jede Größe ist einfach und s a n f t . . . " Und dieses „sanfte Gesetz" durchwaltet auch seine Poetik. Es geht letztlich zurück auf die ihm aus christlicher Erziehung früh zugeflossene Lehre vom „Schönen" als dem „Göttlichen im Gewände (oder .Kleide') des Reizes". Dieses Moment des Reizes kehrt wieder in der Wesensbestimmung und Aufgabenstellung: „Das Sittengesetz, durch den Reiz der Kunst zur Anschauung gebracht, ist der Kern der Kunst." Der Zweck der Dichtkunst liegt darin, daß sie „sittlich Schönes fördern hilft". Dabei wird der Schiller-Einfluß durch

den Jean-Paul-Einfluß (Vorschule der Ästhetik) modifiziert. Das Sittliche ist ein spezifisch Göttliches; wie denn die „Darstellung der objektiven Menschheit" im Dichtungswerk stets „als Widerschein des göttlichen Waltens" erfolgen und auch eindrucksmäßig wirksam werden muß. Eine Verengung auf das Konfessionelle jedoch lehnt er (Eichendorff gegenüber) als Einseitigkeit, die nicht die Ganzheit der Kunst umgreife, ab: „Ich glaube, die Kunst soll das Leben der gesamten Menschheit fassen." Es ist die Sendung des Dichters, „ein Kömlein Gutes zu dem Baue des Ewigen beizutragen". Voraussetzimg ist das persönliche Würdigsein des Poeten (Über Stand und Würde des Schriftstellers 1848). Der ethisch-christliche Primat bestimmt weiterhin die Grundrichtung des Aufsatzes Die Poesie u. ihre Wirkungen. Als Einzelkriterium und Terminus sei der Begriff des „Zusagenden" in Stifters P. hervorgehoben, der etwa das dem Menschen Zukommende umschreibt, das ihm zugleich das Bekömmliche bedeutet. Insgesamt geht Stifters Theorie weitgehend mit seiner Praxis konform. Angesichts der volkstümlichen Bemühungen B. Auerbachs ist dessen Zugeständnis oder Warnung bemerkenswert: „Es gibt keine besondere Ästhetik des Volkstümlichen. Die Zustände und Motive sind hier nur noch einfacher, ursprünglicher" (in Schrift u. Volk 1846). Wenn man bedenkt, daß viele Dichter bis in die Gegenwart hinein für jedes einzelne Gedicht auch eine „eigene Ästhetik" oder „eigene Poetik" in Anspruch nehmen (Deckung vor Kritik?), so wirkt dieser Verzicht eines ganzen Sonderbereiches der Dichtkunst auf eine Spezialästhetik wohltuend. Allgemeines: Friedr. B r i e , Ästhet. Weltanschauung in d. Lit. d. 19.Jh.s (1921). Hugo B i e b e r , Der Kampf um die Tradition (1928; Epochen d. dt. Lit. 5, 1). Heinrich Reinh a r d t , Die Dichtungstheorie d. sogen. Poeti-

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Poetik Jedoch sei in diesem Zusammenhang auf eine Zielgebung der Kunst hingewiesen, die sidi mehr auf den Lessing des Laokoon zurückzieht und m. E. glücklicher wirkt als jene beiden Fassungen. Danach erklärt A. Holz als das „Ziel der Kunst. . . die möglichst intensive Erfassung desjenigen Komplexes, der ihr durch die ihr eigentümlichen Mittel überhaupt offensteht". Hier scheint es fast, als habe Holz dem Rat seines Freundes R. Dehmel doch noch Folge geleistet, der ihm (bereits im Sept. 1892) anriet, „das Schuldogma von der Naturnachahmung an den Nagel" zu hängen. Daß seiner im Kern hartnäckig verteidigten Definition durch den Definitionsteil „Handhabung" auch wieder ein unbestimmt subjektiver Faktor (vgl. „temperament") anhaftete, entging seinem durch subtile Ableitungen etwas strapazierten Scharfsinn. A. Holz lehnte die Genievorstellung ab, weil sie eine Ausnahme vom Naturgesetz darstelle. Ganz anders hatte im Ubergang zum Naturalismus noch Karl Bleibtreu über die Genialität gedacht. Ihm war das Dichten kein realistisches Abbilden, sondern ein „Erinnern, Festhalten von Phantasien, — denn die Einbildungskraft bildet das eigentliche Element jeder schöpferischen Tätigkeit". Und er macht noch im Rahmen seiner Genievorstellung dem Irrationalen gewisse Zugeständnisse, wonach Dichter „Gefäße der göttlichen Gnade, des heiligen Geists, der über den Dingen schwebenden Zentralkraft" bedeuten. Auch Wilhelm Bölsche, obwohl er „die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie" als Prolegomena einer realistischen Ästhetik (1887) festzulegen unternimmt, vertritt noch bewußt einen „besonnenen Realismus" bei der Suche nach den „Prämissen der realistischen Poesie und Ästhetik". Deutlich aber wird sowohl bei ihm wie vollends bei Arno Holz, daß man sich nicht mit einer bloßen Literaturprogrammatik zufriedengeben, sondern eine eigene Poetik und Ästhetik begründen wollte, um dem Naturalismus ein festes Fundament und würdiges Postament zu errichten. Dieser Vorgang wiederholt sich später beim „sozialistischen Realismus", der eine eigene marxistische Literaturtheorie und Ästhetik anstrebt und an bloßer Programmatik kein Genüge findet. Trotz gewisser Anläufe bei Herwarth Waiden findet sich ein solcher Ehrgeiz nicht im Expressionis-

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mus und vollends nicht im Impressionismus. Etwas anders steht es mit der gesetzesfreudigen Neuklassik; aber auch dort beschränkt man sich auf Poesie, ja recht eigentlich nur auf Gattungs- und Genretheorie (Drama, Novelle: Paul Emst, Wilh. v. Scholz). Wilhelm Bölsche nickt die Poesie nahe an die Naturwissenschaft heran, deren Methode sie zu übernehmen hat. Dichtung „im echten und edeln Sinne" soll „eine Anpassung an die neuen Resultate der Forschung" praktizieren und ein „in der Phantasie durchgeführtes Experiment" (Zola), eine „Art von Mathematik" repräsentieren. Aufgenommen wird die an sich schon von Julian Schmidt und Gustav Freytag erhobene Forderung: „Die Dichtung soll das Volk bei der Arbeit aufsuchen." Aber auch der Dichter selber kann Wertvolles nur ehrlich erarbeiten; denn „echte realistische Dichtung... ist eine harte Arbeit". Man nähert sich so — nur von einer anderen fachlichen Seite her — dem gelehrten, emsig studierenden Dichter der Frühaufklärung. Das bekannte Ergebnis, das sich schon merklich der Formel von A. Holz zukehrt, lautet: „Der realistische Dichter soll das Leben schildern, wie es ist." Bemerkenswert bleibt immerhin, daß W. Bölsche insofern noch die Linie des „besonnenen Realismus" innehält, als er die Vererbungslehre noch nicht für poetisch spruchreif erklärt. Auch gewisse andere Reservate hat er eingebaut. Daher wird erst A. Holz der theoretische Begründer des (damals so genannten) „konsequenten Realismus", während W. Bölsche der Dichtung noch die „alte Rolle als Erzieherin des Menschengeschlechts" mit einem neuaufklärerischen Erziehungsoptimismus zuweist. Doch gilt schon die „Tatsache (!) der Willensunfreiheit", weil sie ein exaktes Ableiten der Charaktere aus Milieu usw. ermöglicht, als „der höchste Gewinn" für den Dichter. Was also für Schopenhauer zum Pessimismus drängte, das wird von Bölsche auf Optimismus umgeschaltet. § 10. Fr. N i e t z s c h e allerdings brach vermeintlich den Pessimismus in eine „fröhliche Wissenschaft" um. Aber der ausgestaltende „apollinische" Trieb, der dem „dionysischen" die Waage hält, determiniert nicht, sondern er „differenziert". Der Dichter, in Nietzsches Wertung starken Schwankungen unterworfen, hat sich nicht durch den Determinis-

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mus begabt und beglückt zu fühlen wie bei W. Bölsche, sondern durch die Differenzierungsgabe, die im sprachlichen Bereich zugleich als seine entwiddungsgeschichtliche Aufgabe einzuschätzen ist: „Der Dichter geht voran, er erfindet die Sprache, differenziert." An und für sich freilich ist „das Dichten selbst nur eine Reizung und Leitung der Phantasie" Aber in dem Maße, wie das Phänomen der Welt nur ästhetisch zu ertragen (und zu erhöhen) ist, gewinnt die Dichtung ihre Daseinsberechtigung im Überwinden des Daseinskampfes, zum wenigsten auf ideeller Ebene durch Idealisierung: „Der Dichter überwindet den Kampf ums Dasein (Darwin), indem er ihn zu einem freien Wettkampf idealisiert" (Ansatzstelle für das „Heroische"). Nietzsche wird nicht willkürlich an dieser Stelle eingelagert. Es sei daran erinnert, daß zeitparallel mit den Kritischen Waffengängen der Julius und Heinrich Hart (Frühnaturalismus) der Ζarathustra (1872) erschienen ist. Und ihm waren bereits die grundlegenden Schriften Nietzsches vorausgegangen. Das besagt: bevor noch der konsequente Realismus seine Fronten gegenüber dem poetischen und ideellen (ζ. T. schon „kritischen") Realismus geklärt und theoretisch gefestigt hatte, wurden wesentliche Grundstrukturen für das Kunstwollen der Neuromantik und Neuklassik (auf beide wirkt Nietzsche) ausgebildet oder doch weitgehend varbereitet. Dies zur Abwehr der schiefen Vorstellung eines beruhigenden Nacheinander im Ablauf der Kunstrichtungen. Der Dichter hat nach Nietzsche wohl den Daseinskampf zu idealisieren, nicht aber die Welt so zu verändern, daß kein Kampf ums Dasein mehr statthaben kann und stattzufinden braucht. Nietzsche will nicht dahin mißverstanden werden, „als ob der Dichter gleich einem phantastischen Nationalökonomen günstigere Volks- und GesellschaftsZustände und deren Ermöglichung im Bilde vorwegnehmen sollte" Vielmehr hat der Künstler der Zukunft auch unter ungünstigen Lebensverhältnissen die Stellen auszuspähen und „auszuwittern" und die Sonderfälle aufzusuchen und tröstlich aufzugreifen, „wo die schöne große Seele noch möglich ist" (Ansatzstelle für die Neuklassik). Stärker von Nietzsdie abhängig, als er wahrhaben möchte, wendet sich Richard D e h m e 1 entschieden ab von Naturbild und

Nachahmimg überhaupt. Die Kunst nämlich bescheide sich mit dem schönen Schein einer Naturbeherrschung, die von Biologie und Soziologie beansprucht werde. Im übrigen sei der Naturbezug überhaupt nicht entscheidend für die Leistung der Kunst; denn „sie schafft nicht Abbilder des natürlichen, sondern Vorbilder des menschlichen Daseins und Wesens" Dementsprechend will der echte Künstler „überhaupt nicht nachahmen; er will schaffen, immer wieder zum ersten Mal" Damit nähert er sich der Idealforderung eines unermüdlichen Neubeginnens, das zu preisen und anzuregen Gerhart Hauptmann nicht müde wurde. Ungewollt an Nietzsche jedoch (Phantasiereizung) klingt Dehmels zusammenfassender Ertrag an, nicht ohne zugleich zum Impressionismus hinüberzuweisen: „Das also ist das Grundwesen jeglicher Kunst: maßvolle Anordnimg teils natureller, teils kultureller Einbildungsreize (I) zur Befriedigung von Freiheitsgelüsten." Ein Spezialsteckenpferd reitet er auf den „rhythmodynamischen Instinkt" zu, nicht ohne es merklidi zu überanstrengen. Theorie und Praxis klaffen bei ihm zum Teil beträchtlich auseinander (Vorbild-Theorie). Seit Dehmel werden zahlreiche Bestimmungen vom Wesen, Zweck und Wollen der Poesie in ihrer Position deutlich mitbestimmt durch eine Opposition gegen die Kunstlehre des konsequenten Realismus. Dasselbe gilt von der Lit.-Programmatik ganzer Kunstrichtungen (Neuromantik, Neuklassik, GeorgeKreis, Charon-Kreis, Expressionismus usw.). Bei Otto zur Linde, der Zentralgestalt im Charonkreis, wird neben dem Philosophischen das spezifisch Christlich-Religiöse ein wesentliches Wertmerkmal des echten Dichters. Seine Forderung lautet: „Der Dichter werde wieder fromm wie alle großen Menschen / Wie alle echten Menschen." Zum Teil aber geraten die Charontiker in eine neue Religionsstifterrolle hinein und damit in eine Art von Gegenmythus zu Nietzsche. Im Wirkungsraum A. Momberts wird ein kosmisches Idealbild entwickelt, wobei die Dichtung von mythenbildender Kraft zu der hohen Geltung einer „Gipfel"-Kunst emporgepreßt wird (Ansatz für den Expressionismus). Auch der Zarathustra-Mythus bleibt virulent. Das priesterliche Dichterbild im Bereich der l'art pour l'art stellt ein säkularisiertes Abbild des Seher-Dichters und

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mäßig Intensivierte oder vernunftsmäßig Abstrahierte der Innenwelt (Expressionismus). Der Extensivierung des Daseins-Details auf der einen Seite entspricht die Intensivierung des Wesenhaft-Seinshaltigen auf der anderen Seite. Und man sollte neben Merk- und Kennwörtern wie: Ekstase und Vision für das spezifisch Expressionistische auch den Terminus der „Intensität" und des „Eigentlichen" nicht außer acht lassen, die nicht von ungefähr in der Poetik des Expressionismus mehrfach begegnen. Für die impressionistische Wesensdeutung des Dichtertums ist das Vergleichsbild vom „Seismographen" kennzeichnend, das damals das weit ältere Spiegel-Symbol vorübergehend verdrängt. Die mehr passive, aber sehr subtile, leicht erregbare und aufs feinste registrierende passive Aufnahmefunktion überwiegt in dieser Vorstellung, die sowohl H. v. Hofmannsthal wie Thomas Mann u. a. vertraut ist. Dort gilt es als unerläßliches Gebot für den echten Dichter, „keinem Ding den Eintritt in seine Seele zu wehren" und „die Unendlichkeit der Erscheinungen leidend zu genießen" (Hofmannsthal). Es geht hier um „Vibrationen" so gut wie bei Thomas Mann, der einmal betont: „Der Dichter . als Meldeinstrument, Seismograph, Medium der Empfindlichkeit ohne klares Wissen von dieser seiner organischen Funktion..., es scheint mir die einzig richtige Perspektive." Für Hermann Bahr ist der Impressionist „nichts als Echo", er will den sinnenhaften „Reiz bei seinem Eintritt in uns erhäschen". Dabei kam es auf das Eigentümliche an, bei Expressionisten auf das Eigentliche (wie K. Edschmid es immer wieder einhämmert), auf das „Direkte" Nicht das Landschaftsgefühl fächert sich aus in Reizreflexen; vielmehr: „Größer entfachtes Weltgefühl schafft die Kunst zur Vision!" Der „Wille zur Steige-rung" dominiert, und die Welt wird zur „Melodie der Schöpfung aus dichterischem Ruf" Wenn der Expressionist „großen Gefühlen Untertan, auf ihnen schweifend" erscheint, (vgl. das „Schweben" in der P. der § 1 1 . Verfolgt man das Wegsuchen zwi- Romantik), so dient er doch zugleich einer schen Impressionismus und Expressionismus, „Kunst, die aus dem Geist kommt" (vgl. so erscheint die Kunst einmal als Reduktion Frühromantik). Der Anteil des Barocken ist auf die nervöse Reizsamkeit und das jeweils auch in der expressionistischen P. nachweissensationsmäßig Reflektierte der Außenwelt bar. Die präzise Abhebimg der dichterischen (Impressionismus), zum anderen als Kon- Wesensart geht aber insgesamt verloren im zentration auf die forcierte und exaltierte Verweben aller Künste zu einer Art von Wesenserfassung und das jeweils gefühls-

Propheten-Dichters. Nicht alle grenzten den Dichter so behutsam wie Otto zur Linde vom Priester ab und seine „Schöpfung" von Gottes Schöpfung. Der Dichter ist für ihn nur bedingte Identität (Raum / Zeit; Ich I Du). Im Dichter lebt die „Vielheit", aber nicht das „All". Er repräsentiert einmal das Ich, einmal das Du; aber „nicht Ich und Du" zugleich — „denn das ist Gott" R. M. Rilke war da weniger bedenklich in der Vergottungstendenz, und das Zwielichtige seiner Einstellung spiegelt sich nicht zufällig gerade in zahlreichen neuen Rilke-Interpretationen. Hinsichtlich der Wirkung der Poesie bezieht schon er merklich die exklusive Position einer letzten Endes monologischen Kunst. Im Grunde kam er nie ganz frei von der frühen Weisheit des Einsamen: „Wisset denn, daß die Kunst ist: das Mittel Einzelner, sich selbst zu erfüllen" und auf den Träger der Kunst transponiert: „Wisset denn, daß der Künstler für sich schafft — einzig für sich" (längst vor G. Benn). Aber das Sich-Erfüllen durch Kunst und in der Kunst erweist sich später denn doch nicht vor Zweifeln an der Verwirklichungsmöglichkeit gefeit (Sonette an Orpheus I, 3). Das Labile dieser Haltung, die viele Masken braucht, um doch nur den Abglanz des Gottes im „Göttlichen", des Unaussprechlichen im „Unsäglichen" reflektieren zu lassen, wird trotz aller Deutungsvarianten sogleich evident, wenn man etwa Carl Hauptmanns, das Numinose keineswegs unterschätzende gottsucherhafte Prägung danebenstellt: „Auch die Dichtung ist nie verständige Rede, sondern aus aufgescheuchten Ahnungen und Gefühlen sucht der Dichter nach Erlösung." (Dagegen ist m. E. das von A. Soergel unternommene Herauslesen vorexpressionistischer Elemente nicht gerechtfertigt oder doch stark zeitbedingt). Nim hat auch Gerhart Hauptmann mit Vorliebe das „Mysterium" des Dichterischen herausgestellt; aber durchweg bleibt es dem „Elementaren" näher.

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Kunst-Kosmos. Nur dort, wo man die Aufmerksamkeit mehr dem sprachlichen Problem zuwendet (Ausdrudcsgrenze der Sprache), wie besonders im „Sturm"-Kreis, bleibt man der Sonderkunst näher und verfällt, fast wie die Anweisungspoetik der Barockzeit, in Schulungsmethoden (H. Waldens Dichterhochschule). Das erinnert daran, daß man zeitweise die Poesie ganz auf Wortkunst festlegte. In der Zeitnähe des Expressionismus, obwohl diesem nicht zugeneigt, legt Hermann Hefele sein Buch über Das Wesen der Dichtung (1923) ganz auf Wortkunsttheorie an unter Abwehr der Konzeption einer bloßen Erlebnisdichtung. Denn, so betont er, „nur wo sich die ganze Dynamik des Erlebens im Wort vollzogen hat, geschieht volle und reine Dichtung". Hervorhebenswert ist seine Herausarbeitung von Inhalt/FormEinheit bzw. Idee / Form-Einheit im Sinne der Integration: „Im Licht des Substantiellen gesehen, sind Idee und Form eins." Die Dichtkunst speziell als Sprachkunst hat recht eigentlich Thomas Mann einmal bündiger umschrieben: „Eine andere Bestimmung des Dichterischen als: sprachverbundene Leidenschaft, der Affekt der Sprache — ich finde sie nicht." Diese Ausschließlichkeit im Sichfestlegen auf ein von Fall zu Fall austauschbares Moment darf man freilich nicht so genau nehmen (vgl. Seismograph als einzig richtige Perspektive). Vielfach bestimmt der Kontext den jeweiligen Akzent, so etwa, wenn es um die Ironie geht: „Denn was wäre Dichtimg — wenn nicht Ironie, Selbstzucht und Befreiung." Außerdem steht im Hintergrunde immer ein unterdrücktes „höchstens", das sich aus dem, von Th. Mann laufend und erbittert geführten Gefecht von Dichtkunst und Schriftstellertum erklärt. Eigentlich darf es auf Grund dieser prinzipiellen Einstellung nämlich überhaupt nichts „Dichterisches" geben. In Wirklichkeit ist sich Th. Mann einer Spezifik des Dichterischen auch in eigener Angelegenheit durchaus bewußt gewesen, wie ζ. B. die Bemerkung in der Entstehung des Doktor Faustus (1949) mit Bezug auf den Tod des Knaben Echo (als die „wohl dichterischste" Episode des ganzen Werkes) eindrucksvoll kundgibt. Hinsichtlich des soziologischen Wirkungswertes der Poesie bescheidet er sich in der Rede Der Künstler und die Gesellschaft (1952) mit der

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den, die vergleichsweise weniger auf Wesen und Sein zielt als vielmehr auf die Theorie der Gattungen und Genres: so G. Benn (Lyrik und Roman), O. Loerke (bes. Lyrik). R. Musil (bes. Roman), B. Brecht (Drama und Lyrik), Joh. Rob. Becher (bes. Sonett und volkstümlich sangbares Gedicht), K. Krolow (bes. Lyrik), C. Zuckmayer (bes. Drama), Fr. Dürrenmatt (Drama), Fr. Wolf (Drama), Wilh. Lehmann (bes. Lyrik). Entsprechend den politisch bewegten und weltanschaulich erregten Zeitverhältnissen und dem Umgebensein von heißen und kalten Kriegen ist diese P. weniger interessiert an den Problemen von Poesie / Nichtpoesie (fachwissenschaftl. P.) als etwa an der Entscheidung zwischen „poesie pure" und „poesie engagee", an dem Verhältnis Persönlichkeitswert/Gemeinschaftswert, an dem Verhältnis der Poesie zu anderen ζ. T. als übergeordnet empfundenen Wertwelten, wie vor allem Religion einerseits und Politik andererseits. Doch ist gleichsam als kleinerer Ableger von der Problemstellung Poesie / Nichtpoesie das vielerörterte Verhältnis Kunst/ Kitsch zu verzeichnen, das trotz G. Benns schier klassischer Formulierung, Kitsch sei nicht der Gegensatz von Kunst, sondern „gut gemeint", zahlreiche Federn fesselt. Während in der fachwissenschaftl. P. (zum mindesten in Deutschland) die Beschäftigung mit dem Schaffensvorgang vergleichsweise zurücktritt, wird Art und Methode beim Schaffensprozeß von der P. der Kunstschaffenden eingehend erörtert, wie es ihrem Aufgabengebiet gemäß ist. Insgesamt hat man den Anspruch auf Inspiration und ζ. T. auch auf Intuition merklich eingeschränkt; streckenweise im Zusammenhang mit dem Primat des „Unpersönlichen" in der Dichtung überhaupt. Eine Ablehnung der Inspirationshaltung vertritt längst vor G. Benn bereits J. Weinheber (Gedanken zu meiner Disziplin, 1935), ebenso die Vorstellung, daß ein Gedicht „gemacht" wird. Man spricht in Übertragung technischer Verfahren auch im Bereich des Kunsttechnischen gem von einer „Montage", und zwar nicht nur hinsichtlich des Strukturgedichts. Diese besonders von G. Benn in aller Schroffheit herausgestellte These, die nachgerade zur Programmthese geworden ist, spiegelt sich ζ. B. deutlich wider in einer Sammlung von Bekundungen moderner Lyriker über ihre Erfahrungen

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und Bräuche beim Schaffensvorgang (Mein Gedicht ist mein Messer; Lyriker über ihre Lyrik, 1955), wobei freilich auch extravagante Praktiken enthüllt werden. Erinnert sei in diesem Zusammenhange an die verwandte Erklärung Herwarth Waldens, der den Schaffensvorgang und dessen Darstellungs- bzw. Erfassungsmittel einmal so umschrieben hatte: „Der Dichter begreift das Sinnliche unsinnlich, und zwar mit Hilfe des Begrifflichen." Man könnte angesichts der bekannten Unpersönlichkeitsthese variieren: der Dichter ergreift das Persönliche unpersönlich, und zwar mit Hilfe des Typischen oder Symbolischen. Emst Jünger ζ. B. weist im Rahmen der Rechtfertigungspoetik nachträglich erfahrene kritische Vorhaltungen hinsichtlich eines Mangels an persönlicher Unmittelbarkeit und echter Gefühlsbeteiligung in seinem Sprachstil (schon in seinen früheren Arbeiten) auf Grund der Entindividualisierung zurück mit dem Hinweis auf die allgemeine Tendenz zum Unpersönlichen im modernen Dichtungsstil (nicht nur Sprachstil). Gottfried Benns Probleme der Lyrik (1951) spitzen die These von der unpersönlichen, nicht inspirierten und also „monologischen Kunst", ohne Rücksicht auf den Kunstwertaufnehmenden bewußt „gemachten" und montierten Dichtung im Sinne einer absoluten Lyrik im Bereich des Strukturgedichts merklich programmatisch zu. Ähnlich wie seine Forderung eines Romans des „Phänotyps" das Gemeinte zwar an einem organischen Vergleichsbild erläutert (Wuchsform und Struktur einer Orange), in der letzten Konsequenz aber ebenfalls auf ein mehr gemacht „Organisiertes" als ein spontan gewachsen Organisches zielt, und zwar ebenfalls mit dem Anspruch auf eine Konzentrationsform im Sinne absoluter Prosaepik. Sein Terminus „Ausdruckswelt" darf keineswegs einfach mit Expressionismus gleichgesetzt werden. Gattungstypologisch beschäftigen ihn besonders Lyrik und Roman. Das „lyrische Ich" ist nicht identisch mit dem empirischen Ich und bleibt zudem auf ein sehr bedingtes und ungesichertes Reservat angewiesen. Karl Krolow lockert in seiner Kunsttheorie (Vorlesungen über Poetik in Frankfurt) merklich die Bindung an G. Benn und bemüht sich um eine originale Weiterbildung unter relativer Zurüdcdrängung des Extrems (mit dem Benn un-

verkennbar auf ein „epater le bourgeois" hinarbeitete), aber unter Beibehaltung des Unpersönlichen, nicht spezifisch Subjektiven und Individuellen. Einige Schwierigkeiten in der Programmatik einer „Entindividualisierung" und Entpersönlichung macht Krolow (und nicht nur ihm) das immer noch vegetierende Liebesgedicht. Obgleich manches nachexpressionistisch wirkt in der „Moderne", erinnert der unverkennbare „Reduktionsprozeß" an gewisse Verfahrensweisen im Impressionismus; nur eben, daß im Modemismus selbst noch das reduziert werden soll, „was am Gedicht Stoff, Gegenstand, Ensemble ist". Der Mensch wird elidiert, d a s Ding (und nicht nur v o m Ding) abstrahiert. Aber der Kunstwertaufnehmende wird geduldet. Denn schwerlich würde K. Krolow die „Monologische Kunst" so hartnäckig verteidigen wie G. Benn in dessen „Offenem Brief" an Lemet-Holenia (zugleich Abwehr einer religiösen Verpflichtung und Verflechtung). Von einer politischen Verflechtung und Verpflichtung möchte sich K. Krolow merklich freihalten, wie seine Andeutungen über das „öffentliche Gedicht", die außerordentlich behutsam bleiben, erkennen lassen. Der Gedichtverfasser ist nämlich in seiner Haltung nicht nur von einem kritischen Mißtrauen gegenüber der eigenen Individualität bestimmt, sondern auch gegenüber der fremden Individualität. Hinsichtlich der hiermit ins Blickfeld der Kunstbesinnung und Kunstgesinnung tretenden Macht / KunstProblematik sei an die frühere, ihrerseits problematische Kompromißneigung G. Benns erinnert. Eine derartige Ästhetisierung der Macht als „Nötigung" hat Bertolt Brecht nie anerkannt, der im Gegenteil aus der Opposition heraus seine ständig verstärkte ideologische Position (sozialistischer Realismus) sich erst voll bewußt gewann. Das Moment des Unpersönlichen ist zwar auch ihm geläufig. Aber er aktiviert und installiert es im Sinne und als Funktion der „Verfremdung" zwischen Bühne und Publikum, um den Zuschauer dem Suggeriertwerden vom Bühnengeschehen zu entziehen und ihn jederzeit kritisch diskutierfähig in der befreienden Distanz besonnener Betrachtimg zu erhalten. In vollem Gegensatz zu G. Benn fordert er nicht nur die fortgesetzte Beziehung zum Du, sondern auch die prinzipielle Einwirkung und Hinwirkung auf das Wir. Seine

Poetik Konzeption des „epischen Theaters", die vorzüglich einer Sicherling der betrachtenden, Einsicht fördernden Distanz dient, verbindet sich mit der Vorstellung eines „wissenschaftlichen Theaters" im „wissenschaftlichen Zeitalter", um sich schließlich auf das „dialektische Theater" einzurichten und auszurichten. An dem Modell des „epischen Theaters" war merklich und nicht zuletzt der Regisseur beteiligt, der jeden Zuschauer gleichsam in die Haltung und das Verhalten eines Regisseurs versetzen und ihn zum Durchhalten in dieser „Regie"-Haltung befähigen und jedenfalls vorerst ermutigen möchte. Eine Grundvoraussetzung der Verfremdung, durch welche Kritik provoziert werden soll, ist die Illusionsbrechung, ebenso wie die damit verbundene Erfahrung einer Veränderbarkeit des für die Gewöhnung und durch sie vermeintlich Festliegenden am konkreten Anschauungsfall einer zur Parabel durchgestalteten Fabel. Demgemäß besteht betonte Inhaltsbewertung, doch so, daß ein „ästhetisches Vergnügen" nicht vernachlässigt werden soll und darf. Als bedingte Traditionsträger in der deutschen P. können etwa Joh. E. Schlegel und M. Mendelssohn gelten. Konzentrationsstelle für die Theatertheorie: Kleines Organon für das Theater (1949), für die Theorie der Prosalyrik: Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen (1939). Für beide Bereiche will die Lehre vom „gestischen Rhythmus" (Anreger K. Weill) beachtet sein. Es darf bei alledem nicht vergessen werden, daß es sich nicht sowohl um Dramentheorie, als vielmehr um Theatertheorie handelt, die allerdings mittelbar auf die Methode des Stüdceschreibens zurückwirkt und auch zurückwirken soll. Dem optimistischen Vertrauen Brechts auf die Bestimmbarkeit und Lenkbarkeit der menschlichen Denkart durch eine wirksame künstlerische Methode (Erziehungsoptimismus) steht mit aller Schroffheit Benns tiefe Skepsis gegenüber: „Das Gehim ist ein Irrweg, ein Bluff für den Mittelstand. Wir wollen den Traum. Wir wollen den Rausch." Mit Nachwirkungen Nietzsches dürfte es zusammenhängen, wenn der Kunst allein die Möglichkeit bleibt, aber auch innewohnt, den Nihilismus gestalterisch produktiv zu machen. In gewissem Sinne würde die Welt ästhetisch bewältigt, nicht nur erträglich (Nietzsche), sondern auch (künstlerisch) er-

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tragreich werden (Annäherung an den sog. „produktiven Nihilismus"). Mit dem Gedanken eines „heroischen Nihilismus" liebäugelt Ernst Jünger, der sich zugleich dem metaphysischen Neusymbolismus anzunähern und anzupassen trachtet. Während für G. Benn erst aus der „Wirklichkeitszertrümmerung" gleichsam künstlerisch brauchbare Splitter und Fragmente hervorgehen, wobei das Dinghafte insgesamt nur Chiffre bleibt, erhält H. Henny Jahnn den Glauben an die Möglichkeit und die daraus abgeleitete Forderung an die Notwendigkeit von Originalprägungen dichterischer Urworte und Urwerte aufrecht. Das geht ζ. B. hervor aus seinem Klopstock-Aufsatz, der für die P. ertragreicher ist als der zunächst einmal mehr versprechende Essay Ardaß (mehr musiktheoret. bezogen). Danach ist der gültige Ausweis für den echten Dichter letzten Endes immer und immer nur das „Wort aus erster Hand" (Annäherung an eine gewisse Aufwertung der Inspiration); nicht zuletzt deshalb bietet Klopstock eine Art von Vorbild-Poetik (wortschöpferische Begnadung). Abweichend von G. Benn ist Hermann Broch nicht bereit, eine „formfordernde Gewalt des Nichts" (vgl. die BennDeutung E. Lohners) dem Künstler gleichsam als Sprungbrett unterzulegen. Aus den breiten Kunstgesprächen seines Künstlerromans Der Tod des Vergil läßt sich vielmehr, besonders wenn man auf den mit dem Kunstgespräch verflochtenen inneren Monolog Vergils horcht, ablesen, daß der Wert der Dichtkunst fast im Sinne der romantischen Ironie ernstlich in Frage gestellt wird. Durch die Konfrontation mit dem glaubenden Menschen einerseits und dem handelnden Menschen andererseits verliert der Dichter wesentlich an Bedeutung. Vollends der Ewigkeitswert eines dichterischen Werkes erscheint in zwiespältiger Beleuchtung, sobald man andere übergeordnete Wertwelten mit ins Spiel bringt, vor allem die Religion. Aber auch schon vor der Ethik: „da wird die Kunst beinahe nebensächlich". Poesie erträgt nicht das volle Licht der inneren Wahrheit und echten Wirklichkeit, denn „Dichtung entstammt der Dämmerung". Im Wechselspiel Poesie/Philosophie dagegen gewinnt die Poesie, da hier Ubergänge leichter sich anbieten, an Geltung und anregendem Funktionswert, indem sie durch „ahnende Liebe"

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ins Philosophische hinüberragt. Klingt E. Husserl oder H. Bergson an, wenn gefordert wird, daß die Philosophie gelegentlich gut beraten sei, „ihren Erkenntnisgrund aus der Kunst zu holen"? Die These von der monologischen Kunst wird vernehmbar, wo Vergil sein inneres Besitzrecht an seinem Werke betont, das „nicht nur für den Leser, sondern zuerst für midi gesdirieben" worden sei als Ausdruck „innerster Notwendigkeit". Von einer Ausschließlichkeit eines Aussdiließens des Kunstwertaufnehmenden (wie bei C. Benn) kann indessen keine Rede sein. Im Zuge eines metaphysischen Neu-Symbolismus, dem nach formulierter und werkimmanenter Poetik H. Broch ebenso zuzuordnen wäre wie letzten Endes audi Franz Kafka und der späte Franz Werfel, gewinnt der Symbolbegriff beherrschende Bedeutung. So verweist der Endertrag jener Kunstgespräche auf das Verhältnis des Symbolischen und Religiösen (Religion / Poesie), etwa mit der fordernden Umschreibung: „Das Überirdische im Irdischen erkennen und kraft solchen Erkennens es zu irdischer Gestalt bringen als geformtes Werk, als geformtes Wort und eben auch als geformte Tat, dies ist das Wesen des echten Sinnbildes." Gelockerter wirkt zum mindesten theoretisch und also auch kumttheoretisch der Primat der metaphysischen Bindimg im Raum des sogenannten „Naturgedichts" und seiner Vertreter, wie besonders W. Lehmann und O. Loerke. Einerseits scheint man sich hier in die Natur als in ein noch Halt Bietendes zu flüchten. Aber die innere Haltbarkeit dieses äußeren Halts wird wiederum ihrerseits skeptisch, doch zugleich verinnerlichend, in Frage gestellt. Die rein kunsttheoretische Interessiertheit und auch Fähigkeit scheint bei Wilhelm Lehmann, der eine ganze Reihe einschlägiger Schriften vorgelegt hat, ausgeprägter zu sein als bei Oskar Loerke. Selber mit einer ausgesprochenen kritischen Begabung ausgestattet, rückt W. Lehmann auch im Bereich der Wesensbestimmimg und des Schaffensprozesses der Dichtkunst die dichterische Anlage sehr nahe an die kritische Begabung heran. So etwa in der Schrift Dichtung und Dasein, die vielfach durch Interpretationen erläutert, beachtenswerte Beiträge zur P. der Gegenwart enthält und dabei zugleich umsichtig und kenntnisreich die Kunsttheorie des (westlichen) Auslandes aus-

zuwerten versteht (T. S. Eliot u. a.). Aber Andeutungen müssen hier genügen. Insgesamt folgt auch die derzeitige P. dem übermächtigen Druck und Zug der Interpretationsmethode, streckenweise unter bedauerlichem Verzicht auf philosophische Leitideen und konstruktive Ansprüche. Das Sichhingeben an die Details droht in ein Sichverlieren an die „faszinierenden, erregenden" Einzelzüge umzuschlagen. Man bleibt nicht selten nur bei „Bausteinen zu einer Poetik" stehen wie einst, freilich aus anderen Gründen, Wilhelm Dilthey. Die Rüdewirkung einer solchen Theorie auf die Praxis zeichnet sich bereits ab im Kultus von absichtlich zusammenhanglos kombinierten und montierten Einzelassoziationen dergestalt, daß der „Wirkhchkeitszertrümmerung" (Benn) die Gefahr einer Kunstzertrümmerung nicht gerade fern liegt, selbst wenn man von „avantgardistischen" Extravaganzen absieht. Unterstellt und betont man jedoch (wie etwa Helmut Motekat Experiment u. Tradition. Vom Wesen d. Dichtung im 20. Jh. 1963), daß eben das Experiment nicht nur ein Begleitmotiv, sondern geradezu das Leitmotiv (und die Leitidee) der modernen Dichtung und P. ausmache, so würde die Poesie und P. zum Abklatsch der Naturwissenschaft, zum mindesten der vorherrschenden Methode nach. Der „Vorstoß ins Sprachlose" (T. S. Eliot „new beginning, a raid on the inarticulate"), der um jeden Preis „Neues", bisher gar nicht Mögliches einbringen möchte, kann nur von letzten Meistern des Wortes mit Gewinn gewagt werden, während er bei den forcierten Talenten leicht mit einem Verstoß gegen die Sprache endet. Außerdem handelt es sich bei dem Aufstellen derartiger Thesen stets nur um zeitgebundene Lit.-Programmatik oder um Selbstrechtfertigungspoetik. Denn eine ausgebaute, anwendbare P. darf nicht vorwiegend auf die früheste Konzeptionsstufe eingeschränkt werden. Ein erwünschtes Gegengewicht sucht Joh. Pfeiffer (Die dichterische Wirklichkeit. Versuche über Wesen und Wahrheit der Dichtung, 1962) zu schaffen, bleibt jedoch mit der Formel „Geschautes durch Gestaltung beschwören" (als Aufgabe des Dichters) zu nahe der Konzeption von Ludwig Klages, den er an sich kritisch umzuwerten unternimmt. — Im Rahmen und Raum des Sozialistischen Realismus wirkt die Definition von Fr. Engels

Poetik — Politische Dichtung von den „typischen Charakteren in typischen Verhältnissen" (bzw. Umständen) stark nach, hat aber jüngst eine Transponierung erfahren zu „exceptionellen Charakteren in exceptionellen Umständen" (bzw. Verhältnissen) gemäß der Ausrichtung auf den „positiven Helden". Einige wesentliche Beiträge zur marxistischen P. stellten u. a. Frz. Mehring, B. Brecht, Joh. Rob. Becher (mehrere umfangreiche Schriften, darunter das Prinzip der Poesie mit der Kleinen Sonettlehre, gesammelt u. d. T. Über Lit. u. Kunst, hg. v. Marianne Lange, 1962), P. Hacks, Fr. Erpenbeck und lange Zeit hindurch auch vom Fachwissenschaftlichen her Georg Lukäcs. Im Vordergrund steht das Bemühen um die Methode, innerhalb derer jedoch individuelle Stilentfaltungen theoretisch angestrebt werden. Dabei gewinnen Fabel und Parabel eine hohe Bedeutung (Brecht „Parabelstück"). Benn: Dieter W e l l e r s h o f f , Gottfried Benn. Phänotyp dieser Stunde (1958). Else B u d d e b e r g , Gottfried Benn (1961). Gerhard L o o s e , Die Ästhetik Gottfried Benns (1961). Peter M i c h e l s e n , Das Doppelleben ii. d. ästhetischen Anschauungen G. Benns. DVLG. 35 (1961) S. 247-261. — Max B e n s e , Literaturmetaphysik (1950). Deis., Aesthetica. Metaphysische Beobachtungen am Schönen. T. 1-4 (1954-1960). Ders., Theorie der Texte. Ε. Ε inf. in neue Auffassungen u. Methoden (1962). Karl Aug. H o r s t , Ein Prokurist der Sprache. Zu d. ästhet. Schriften v. Max Bense. Merkur. 16 (1964) S. 1069-1075. — Brecht: Materialsammlungen: Bert B r e c h t , Schriften zum Theater. Red. Werner Hecht. Bd. 1-7 (1963/64). Ders., Über Lyrik. Red. Elisabeth H a u p t m a n n u. Rosemarie H i l l (1964; Edition S uhrkamp 70). Martin E s s l i n , Das Paradox des polit. Dichters (1962; engl. Frühfassung u. Α Τ.: Brecht, a choice of evils, London 1959). Werner M i t t e n z w e i , Bertolt Brecht. Von der 'Maßnahme' zu 'Leben des GalileV (1962). Paul B ö c k m a n n , Provokation u. Dialektik in d. Dramatik B. Brechts (1961; Kölner Universitätsreden 26): „Verfremdung" als Mittel zur „Provokation". Sammy Mc L e a n , Aspects of the Bänkelsang in the works of B. Breait. Diss. Univ. of Michigan 1963. Heinz K u h n e r t , Zur Bolle der Songs im Werk von B. Brecht. Neue D t Lit 11, Η. 3 (1963) S. 77-100. Bert Brecht. Leben u. Werk. Mit Beitr. v. Werner H e c h t , Hans-Joachim B u n g e u. Käte R ü l i c k e - W e i l e r (1963; Schriftsteller d. Gegenw. 10), darin: Zur Theorie d. epischen Theaters. — Georg Lukäcs zum 70. Geb. (1955). Cleto C a r b o n a r a , L'estetica del particolare di G. Lukäcs (Napoli 1960). Georg Lukäcs und d. Revisionismus. E. Sammig. v. Aufsätzen (1960). Horst A l t h a u s , G. Lukäcs oder Bürgerlichkeit als Vorschule der marxistischen Ästhetik

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(1962). — Wilhelm L e h m a n n , Dichtung als Dasein. Poetolog. u. krit. Schriften (1956; Neuausg. 1960; mainzer reihe 5). — Poetik. Hg. v. d. Bayr. Akad. d. Schönen Künste. Red.: Clemens Graf Podewils (1962; Gestalt u. Gedanke 7). — Wilhelm E m r i c h , Zur Ästhetik d. modernen Dichtung, in: Emrich, Protest u. Verheißung (1964) S. 123-134. Bruno Markwardt Politische Dichtung § 1. Das Wesen der P. D. ist keineswegs leicht zu definieren. In der 1. Auflage des Reallexikons wurden die Erscheinungen der P. D. (Heckel), der vaterländischen (nationalen) D. (Heckel) und der Tendenzdichtung (Wiegand) noch getrennt behandelt. Durch die in Literaturkritik und Ästhetik der 20er Jahre aufgekommene Unterscheidung von LittSrature (Poisie) pure und engagie sowie durch die Bestimmtheit, die die Erscheinimg und damit der Begriff der P. D. selber in der Neuzeit gewonnen hat, ergibt sich heute stärker als früher die Einsicht in ein gemeinsames Fundament der verschiedenen Erscheinungsformen. Der Gesichtspunkt der „Geschichtlichkeit" des menschlichen Daseins (Heidegger, Jaspers, Sartre), der auch das „Politische" in die gesamte Existenz einbezieht, dürfte nicht nur eine Umwertung des „Politischen" als Existentialität zur Folge haben, sondern auch dem historischen Betrachter eine methodische Handhabe geben, Motivik und Gattungen „politischer" Dichtung vergangener Zeiten als besondere Erscheinung der Existentialität zu verstehen. § 2. „Politisches" Verhalten, Handeln, Entscheiden und entsprechende Dichtung, die es spiegelt oder darüber reflektiert, gibt es natürlich schon im german. Altertum und das ganze MA. hindurch, wenn auch noch kein Wort zur einheitlichen Bezeichnung dieses Komplexes zur Verfügung steht. Das Fremdwort politisch, dem franz. politique und gr.-lat. politicus nachgebildet, wird seit der 2. H. des 16. Jh.s belegt, bei Fischart schon fast im heutigen Sinne (Belege im DWb.). Wohl durch den Quereinfluß des Fremdworts polit (aus lat. politus, ital. polito, franz. polt) rückt in der Barockzeit die Bedeutung mehr ins Gesellschaftliche; politisch nennt man die Bildung des Cavaliers für die Welt, seine Geschicklichkeit in der Menschenbehandlung und seine Redegewandtheit (Chr. Weise). Schon früh mischt sich Abwertung ein: „Was heißt politisch sein?

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verdeckt im Strauche liegen / fein zierlich führen um und höflich dann betriegen" (Logau). Noch am Ausgang des 18. Jh.s (Campe, Adelung) ist die Bedeutungssphäre „fein", „listig", „schlau", „der gesellschaftlichen Klugheit gemäß" in der Bestimmung des Wortes gewahrt. Dieser Gesichtspunkt ist weitgehend ein bildungsformaler, kein inhaltlicher. Das schwingt in satirischem Sinne noch in Holbergs Politischem Kannegießer nach, obwohl hier schon, wo die Erziehungsarbeit der moral. Wochenschriften zu wirken beginnt, das Wort politisch auch Stellungnahme in innenpolit. Dingen beinhaltet, nur daß sie moralistisch noch zum aufklärerischen Narrenkatalog gezählt wird. Im Sinne weltpolitischer Entscheidung füllt sich die Bedeutung des Wortes erst im Laufe des späteren 18. Jh.s und seiner geschichtlichen Ereignisse (siebenjähr. Krieg, franz. Revolution). Der Historiker sieht zudem in der gleichen Epoche den modernen Nationalismus sich herausbilden. Jetzt wird das Für und Wider der Parteinahme im ausschließlich weltlichen Bereich zu einer Charakterund Existenzfrage. Dem ist es zuzuschreiben, daß die Wortverbindung von politisch mit literar. Erzeugnissen (polit. Buch, Blätter, Zeitungen: Belege im DWb. aus Jean Paul und Klinger) nach und nach eine positive Entscheidungsnote bekommt, die der kannegießernden Spießerperspektive von Auerbachs Keller („Ein garstig Liedl Pfui! Ein politisch Liedl") noch abgeht. Eine Weile konkurrieren noch die Wörter patriotisch (Mosers Patriotische Phantasien) und vaterländisch (Hölderlin). Völlig in den Sprachgebrauch eingedrungen ist die Verbindung wohl erst im Jungen Deutschland (s. d.), wo sie schon auf Historisches angewendet (Politische Gedichte aus der dt. Vorzeit von Hoffmann von Fallersleben, 1843) oder verhüllend parodiert werden kann (Unpolitische Lieder von Hoffmann von Fallersleben, 1840—1842: Modell für Th. Manns Titel Betrachtungen eines Unpolitischen). Seitdem die polit. Geschichte Europas nicht mehr bloße Geschichte der Dynastien ist, sondern nationale und weltanschauliche Auseinandersetzungen zwischen den Völkern beinhaltet, in denen Tradition und Fortschritt in eine permanente prinzipielle Auseinandersetzung treten, wird das polit. Verhalten des Menschen zu einer Form des

Engagements innerhalb seiner ganzen Geschichtlichkeit. Von dieser Bedeutung des „Politischen" muß heute ausgegangen werden. Sie enthält von dem Bedeutungserbe nicht mehr die Beziehung zur „gesellschaftlichen Klugheit" (diesen Sinn fangen heute Wörter wie diplomatisch oder taktisch auf), auch nicht mehr das Kannegießernde von Holberg oder Goethes Bürgergeneral·, verflüchtigt hat sich für das Allgemeinverständnis auch die Beschränkung auf das Innenpolitische, an der die 1. Aufl. des RLex. noch festhielt. Heute wird die polit. Entscheidung und ihr Uterar. Ausdruck weitgehend verstanden als Erscheinungsform der Selbstverwirklichung des geschichtlichen Menschen innerhalb der Bedingtheit seines gegenwärtigen Lebensmoments durch überpersönliche Mächte: Stand, Gesellschaft, Staat, Nation, Kirche, Wirtschaft, religiöse oder säkulare Weltanschauungen. Die Bedingtheit durch sie kann subjektiv erfahren werden als Erhebung oder Bedrohung, Eingefügtsein oder Unterworfensein, Zustimmung oder Ärgernis. Keineswegs ist jedoch unmittelbare Aktualität in allen Fällen ein Kriterium des Politischen. Vielmehr zieht sich durch alle Epochen eine Strömung des polit. Selbstverständnisses, die den idealen Standort nicht in der Gegenwart, sondern in einem fast mythischen überzeitlichen Modell sucht; sei es in einem überzeitlich gültigen Menschenund Gesellschaftsbilde (Antike), oder in der Idee einer von Gott eingerichteten Geschichts- und Gesellschaftsordnung (christl. MA.), oder in der translatio einer Herrschafts-, Standes- oder Reichsidee (MA.), oder in einer Identifizierung von Natur und Ur-Menschenbild (Rousseau), oder auch in der säkularisierten Gottesreichsidee der heutigen totalitären Ideologien. Dabei kommt es immer wieder zu Rückgriffen. Der Mythos des MA.s in der Gegenreformation und im Barockmoralismus, später in der Romantik, der Mythos der Antike im Humanismus und in der Klassik deuten solche überzeitliche „polit. Romantik" an —: Utopie, aus der Kategorie des Raumes in die der Zeit versetzt. Von den genannten, sehr verschiedenen Aspekten des „Politischen" hängen die Formen, in denen sich p. D. äußert, weitgehend ab. Eine dem heutigen Sprachgebrauch gemäße weitgefaßte Definition des

Politische Dichtung „Politischen" ermöglicht auch, die entsprechenden Erscheinungen der P. D. altgermanischer Zeit und des MA.s fester in den Gesamtverlauf einzubinden. § 3. Von diesen Voraussetzungen her zeigt es sich, daß man P. D. nicht ohne weiteres nach dem polit. Inhalt oder Thema als solche fixieren kann. Dichtung—im weiteren Sinne: Literatur — wird immer auch als Spiegel der Wirklichkeit deren geschichtlich-politische Ansicht mitspiegeln, wenn vielleicht oft sehr indirekt. Das gehört einfach zu ihrer realistischen Seite. Im strengen Sinn p. D. ist sie damit nicht. Das gleiche gilt für Dichtung, die sich an einem mythischen oder pseudomythischen Geschichts- oder Gesellschaftsbilde orientiert und dieses rein spiegelt. Auch Dichtung, die im gegenwärtig Geschichtlichen den eigenen Standort zu finden sucht, wird nicht im engeren Sinn als p. D. zu bezeichnen sein. Zu dieser gehört ein a k t i v e s Element, das über die Ichsphäre hinausgeht, mit dem Willen zu Eingriff und Wirkung in der Geschichte. Die literar. Aussageform wird dabei zwischen Direktheit und Indirektheit schwanken. Was dichterisches Bild oder Maske ist und was nicht, kann jeweils nur die Interpretation im Einzelfalle klären. P. D. ist, so definiert, keine poet. Gattung, auch kein dichterischer Stoff-und Motivkreis, sondern eine Dichtungs-Art oder -Kategorie. Jedoch scheinen sich gewisse Gattungen seit alters für die poet, oder literar. Aussage des „Politischen" anzubieten, teilweise schon in vorliterarisch-germanischer oder antiker Tradition. Es sind dies sämtliche didaktischmoralistischen Formtypen positiv lehrhafter wie satirisch-parodistischer Art (in Prosa: Rede, Traktat, Essay, Brief, Dialog, Streitschrift; in poet. Form: Fürsten-, Stadt- und Landespreis, Zeitlied, mal. Liedspruch und rede, historisches Lied, Epigramm sowie alle Formen späterer „Gedankenlyrik"); ferner Formen des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses entweder urtümlicher oder national wie sozial sentimentalischer Art. Als besondere Eigenart der p. D. aber erscheint die Neigimg, sich hinter traditionellen Formtypen zu verstecken und damit auch das Motiv zu verhüllen. Der Grund dafür ist nicht nur, besonders seit dem 18. Jh., die Vermeidimg der geistlichen oder staatlichen Zensur, obwohl auch diese zu Zeiten

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eine erhebliche Wirkung ausübt (Absolutismus, Sturm und Drang, Junges Deutschland). Was später Zensur ist, war schon zur Zeit der Antike als persönliche Exponiertheit aus religiösen, philosophischen oder sozialen Gründen eine Realität. Aber auch das Bedürfnis, der polit. Anschauung und Wirkung eine quasi sakrale Weihe und damit Würde zu verleihen, führt zu verhüllenden Effekten. Bei alledem übt eine besondere ästhetische Spielfreude ihren Reiz aus und treibt immer neue Formmöglichkeiten hervor. Vor allem der Kontrafaktur ist kaum eine Grenze gesetzt, bis hin zur Parodie liturgischer oder andrer religiöser fester Formen (Kirchenlied, Katechismus). Aber auch Formen einer objektiven Welt- und Gesellschaftsbetrachtung werden als Verkleidung aktiver politischer Tendenz gewählt (Traktat, Brief, Dialog, Reisebericht). Die scheinbar objektiv die Welt spiegelnde Vers- und Prosaepik kann polit. Schlüsselcharakter erhalten. Die eigene Handlungsgesetzlichkeit des Dramas neigt schon durch die unmittelbare Wirkungsmöglichkeit der Bühne zu politischer Funktion, nicht nur bei der Komödie, sondern gerade auch beim Ideen- und Problemstück. „Die Szene wird zum Tribunal", und von der polit. Stoßkraft bleibt auch dann noch etwas bewahrt, wenn das Problem seine direkte Aktualität verloren hat. Der Verschleierungscharakter der p. D. verursacht, daß Dichtungen der Vergangenheit in viel späterer Zeit eine neue, aktuelle Wirkung ausüben können. Nach dem 1. Weltkrieg hat man das an Wilhelm Teil, zur Zeit des Nationalsozialismus an Don Carlos, König Ottokars Glück und Ende und sogar an der Antigone erlebt. Das kann zum Anlaß moderner Adaptionen älterer Dichtungen oder der Parodie von mythischen und historischen Titeln und Themen werden, wie sie besonders gegenwärtig im Schwange sind. Uberhaupt ist die Wahl historischer Stoffe in Roman und Drama nicht selten durch die Absicht, Aktuelles zu verschlüsseln, mitbestimmt. Darüber hinaus spielen sogar bei der Wiedererwekkung verschütteter Kulturdokumente der Vergangenheit fast immer auch politische Triebkräfte mit. Das gilt sowohl für die verschiedenen Renaissancen der Antike wie für die Wiederentdeckung und -belebung altgerman. und mal. Dichtung Eine Affinität der p.D. zum Historischen im weitesten

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Sinne ist nicht zu verkennen. Unter gewissen Bedingungen kann p. D. selbst gattungsprägend werden: die Fabel, die Utopie mitsamt der Robinsonade, die polit. Allegorie haben in ihr geradezu ihren Ursprung. Umgekehrt kann das Ärgernis an politischer Wirklichkeit zur Entpolitisierung dieser Gattungen führen (wie bei der Fabel allgemein; oder bei einer ästhetisch-apolitischen Utopie wie Hesses Glasperlenspiel) oder eine ausgesprochen gegenpolitische Gattung wie das Idyll hervorbringen. § 4, Die p. D. stellt ein nur schwer lösbares Wertungsproblem. Eine Ästhetik, die dem prodesse neben dem delectare gleiches Recht verleiht, wurde damit unbefangener fertig als die klassische Ästhetik, die der Dichtung ihre Autonomie jenseits aller Wirkungszwecke zu wahren trachtet. Trotz ihres Einflusses hat das 19. Jh. jedoch nicht auf p. D. verzichtet, wenn es sie auch mit schlechtem Gewissen übte. Die Konfrontation von Foisie pure und Poisie engag6e, anfangs aus der Verteidigung der „reinen" Dichtung von Seiten des Symbolismus her gewonnen, ermöglicht es, auch einer Dichtung, die von dem Willen zum Wirken und Eingreifen in die geschichtliche und gesellschaftliche Welt getragen ist, ihren Platz in der ästhetischen Wertskala zu geben. Politik als Stoff sagt noch nichts über den Rang aus. Die Argumentation mit der „Wahrheit" des Gegenstandes, die überall auftritt, wo polit. Leitbilder absolute Geltung beanspruchen, besagt auch nichts, einerlei ob man die „Wahrheit" religiös oder (als „Realismus") säkular faßt. Wo der Tendenz das Element persönlicher Betroffenheit fehlt (und das geschieht meist, wenn von einem fraglos gesicherten polit. Standpunkt aus argumentiert wird), kommt der dichterische Wert in der Regel zu kurz. Sogar werthaltige p. D. kann nachträglich entwertet werden, wenn sie zum problemlosen Besitz der Erben geworden ist. Wenn umgekehrt die Zeitdiagnose überzeugt, jedoch ohne zu provozieren oder sich in Aktion umzusetzen, entsteht Dichtung von hohem Rang, in der jedoch das Politische stumpf bleibt. Gerade die dt. Lit. nimmt immer wieder diese Wendung. Ganz außerhalb ihres Gegenstandes kann der Rang von p. D. in der Entfaltung eines Spieltriebes liegen, der die vom Zweck bedingte Ver-

schleierung doch als Kunstmittel sichtbar werden und als ästhetischen Reiz genießen läßt (ζ. B. bei Heine). Ihr Rang kann auch im Dialogcharakter liegen, indem der Autor in der Auseinandersetzung mit dem Partner Pathos und Stoßkraft entfaltet. Die ästhetische Wirkung liegt dann in der Kraft der Leidenschaft und in dem Zwang zu unbedingter, oft sogar ungerechter Kontrastierung (Walthers Papstsprüdie; Schillers Gestalten Franz Moor, Wurm, Geßler). Er kann darin gegründet sein, daß der Zwang zur Zuspitzimg auch zu einem Ernstnehmen des Gegners führt, bis in echte Tragik menschlicher Gegensätze hinein. Der höchste Rang, den p. D. erreichen kann, liegt doch wohl da, wo ursprünglich zeitbedingt aktuelle Auseinandersetzungen b e i d e Seiten zu Repräsentationen angefochtener oder siegreicher Menschlichkeit sublimieren. Gemeint ist hier die Linie, die von der Antigone des Sophokles zu Goethes Iphigenie, von Wolframs Willehalm zu Lessings Nathan dem Weisen, vielleicht auch von Grimmelshausens Simplicissimus zu Stifters Witiko gezogen werden kann. Jedoch gerät man mit diesen Werken schon aus dem engeren Umkreis der p. D. heraus. — § 5. Von p. D. der Germanen vor der Völkerwanderungszeit ist im Wortlaut nichts bewahrt. Aus den spärlichen Zeugnissen der antiken Berichte, der Bodenfunde, Orts-, Götter- und Personennamen und Rückschlüssen aus späteren Überlieferungen kann man ein Mosaik zusammensetzen, das freilich nur ein sehr fragwürdiges und ungenaues Bild ergibt. Nach der Völkerwanderung bis ins hohe MA. hinein treten, teils lateinisch, teils volkssprachig, an verschiedenen Stellen der Germania, besonders reich im Norden, direkte Zeugnisse der Geschichtsüberlieferung, Heldensage und (politischer) Mythologie auf. Wie weit ihr Zeugnis zurückreicht und für andere Gebiete der Germania mitgilt, ist unsicher. Gerade die kontinentale Mitte Germaniens, in der sich allmählich die dt. Nation bildet, ist besonders arm an Denkmälern und Zeugnissen. Was für das früheste Germanentum an polit. Vorstellungen und damit indirekt an p. D. bezeugt ist, steht in Zusammenhang mit Religion und Mythos. Stünde nicht die Vieldeutigkeit des Mythos entgegen, so ließe sich aus der german. Mythologie eine

Politische Dichtung prähistorische p. D. rekonstruieren. Die vergleichende Religionswissenschaft hat sich in dieser Richtung weit vorgewagt, indem sie aus dem spät, unscharf und nur im Norden überlieferten Mythos vom Krieg der Asen- und Wanengötter auf Vorgänge der Indogermanisierung Nordeuropas zurückschloß und damit einen „polit. Mythos" postulierte, dessen geschichtliche Erinnerungen bis in die Steinzeit zurückreichen sollten. Als halbwegs gesicherte Tatsache kann man das nicht nehmen. Dennoch ist nicht zu bestreiten, daß im frühen Germanentum Politisches und Religiöses eine untrennbare Einheit bildet. Die germ. Stämme haben ihre eigenen Götter, Kulte, Kultstätten und Stammesmythen. Kult- und Dingstätte gehören zusammen. Ortsnamen zeugen von räumlichen und zeitlichen Schichtungen verschiedener Götterkulte. Stämme, Herrschergeschlechter oder einzelne Personen stellen ihr Staatsleben oder ihre momentanen polit. Entscheidungen unter den Schutz oder die Macht bestimmter Götter —: ein Motiv, das noch bei der Christianisierung wirksam ist, freilich nicht nur bei den Germanen. Manche Götternamen bezeichnen den Gott als „Herrscher über eine Gruppe" (Wodan-Odin, Heriann, Ollinn; noch der christl. dryhtentruhtin entspricht diesem Wortbildungstyp). Aus diesen Grundlagen können gewisse Typen von „polit. Mythen" entstehen, deren an verschiedenen Stellen bezeugter Bestand und Variationsbreite nicht gering ist: 1. Genealogische Mythen: a) Der S t a m m gründet seinen geschichtlichen Ursprung auf einen urtümlichen Schöpfungsmythos. Das eindrucksvollste Beispiel ist die Genealogie der germ. Haupt-Stämme auf Tuisto und Mannus bei Tacitus (Germania cap. 2), wichtig vor allem, weil mit dem Hinweis auf carmina antiqua zugleich mythisdi-polit Dichtung bezeugt wird —: Dichtung in Form eines Stammbaums, der von den personalen Stammesgöttem über das menschliche Urwesen Mannus auf ein zwitterhaftes, erdgeborenes Naturwesen Tuisto zurückreicht. b) Der H e r r s c h e r führt sein Geschlecht auf einen bestimmten Gott zurück. Theogone Königsgenealogien sind bei Goten, Langobarden, Angelsachsen und Nordgermanen bezeugt. Im anord. Ynglingatal ist eine Dichtung erhalten, die in denkmalhaften Einzelstrophen Erinnerungen an ein sakrales Königtum in Schweden bewahrt, welche vom 9. bis ins 5. Jh. zurückreichen. Daß derartige Genealogien nicht nur der Geschichtserinnerung dienten sondern auch polit Stoßkraft besaßen, geht daraus hervor, daß noch zur Zeit der späten heidnischen ReReallexikon III

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stauration in Norwegen dem Jarl Hakon ein solches Gedicht gewidmet wurde (Häloygjatal). 2. Theophore Volksgründungsmythen: Stämme und Kriegergruppen der Wanderzeit stellen ihre Eroberungs- und Gründungsgeschichte unter die Führung göttlicher Heroen, die oft paarweise, als „Dioskuren", auftreten: Die Alcis bei den Nahamavalen (Tacitus, Germania cap. 43); die Wandalenführer Raos und Raptos (Dio Cassius); Kampf der Langobarden unter Ibor und Aio gegen die Wandalen unter Ambri und Assi (Paulus Diaconus); Hengest und Horsa als Führer der angelsächsischen Expedition. 3. An „Translationsmythen" ist zu denken bei dem Ubersiedeln eines Gottes von dem einen Stamm zum andern. Das ae. Runenlied bewahrt in seiner Strophe von Ing — er ist einer der drei Stammesgottheiten in der MannusStammtafel und die mythische Spitze der Genealogie des norweg.-sdiwed. Ynglingatal — etwas vom Wortlaut eines solchen Mythos: „Ing wurde z u f r ü h e s t bei den Ostdänen gesehen, s p ä t e r wanderte er nach Osten übers Meer, der Wagen hinterdrein. So nannten die Heardinge ihn." Auf ähnliche Weise stellt die rätselhafte Dietrich-Strophe des Röksteins ein Einst und Jetzt einander gegenüber (Thiodrek ritt . . . am Ufer des Hreidmeers; jetzt sitzt er zu Rosse ...). Wenn es angeht, in Thiodrek den zum Gott erhobenen Theoderich zu sehen (Höfler), dann wäre auch hier an mythische Translation zu denken. 4. Ein Stamm oder sein Führer weiht sich für eine besondere (kriegerische) Aufgabe bestimmten Göttern und erfährt ihre Hilfe: Sieg der Hermunduren über die Chatten (Tacitus, Hist. XIII, 57); die „Namenssage" der Langobarden und ciie mit ihr verwandte (gotische?) Rahmenfabel des eddischen Grimnirliedes. In der Heldensage des Nordens kommt es zu dem Typus des „Odinshelden", vorwiegend bei einheimischen Helden (Starkad, Hadding, Hrolf Kraki, Harald Kampfzahn), aber auch auf südgermanische übergreifend (Sigmund, Sigurd). Das polit. Motiv dieser mythischen Sagenbildung kann in der Konkurrenz verschiedener göttlicher Helfer liegen; es kommt darauf an, den richtigen und wirksamen zu finden. In den Sagen vom „Odinshelden" ist es jedoch tiefer gefaßt: hier ist der Gott die Macht, die den Helden zu Glück und Ruhm führt und ihn doch am Ende verdirbt. Nodi in einigen Preisliedem des ausgehenden nordischen Heidentums (Eiriksmäl, Hdkonarmäl) liegt das aktuelle religiös-politische Motiv an dieser Stelle. 5. Mythologische Weltgeschichte, die von den Weltanfängen bis zum Weltende reicht und in deren gegenwärtiger Mitte ein von innen und außen gefährdetes und vielfach abgesichertes Friedensreich der Götter steht — eine Kosmogonie und Eschatologie, die dem christlichen Mythos verwandt ist —, begegnet erst im nordischen Spätheidentum. Ob der Pseudomythos des 2. Merseburger Zauberspruchs etwas davon auch für Binnengermanien bezeugt, ist nicht ganz sicher. Die großartige Dichtung im Umu

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kreis der anord. Völuspd (Vafthrüdnismdl, Grimnismdl, die Balder-Dichtungen), im Umkreis der Zeitdiditung die „eddischen Preislieder") entspringt doch wohl erst der letzten Selbstbesinnung des ausgehenden Heidentums in Norwegen zur Zeit des Religionswechsels. Die Völuspd selbst ist freilich, auch wenn man ihren Zeugniswert nicht auf andere Teile Germaniens übertragen kann, eines der bedeutendsten Dokumente vorchristlicher religiös-politischer Dichtung und ein Werk von weltliterarischem Rang.

Außerhalb des Nordens spiegelt sich die Bekehrung zum Christentum nicht in polit. D. — will man nicht die von G. Eis aus Legenden erschlossenen „Lieder" des 8. Jh.s als vollgültige Zeugnisse anerkennen. Überhaupt ist es merkwürdig, wie wenig über die Motive des heidnischen Widerstands oder Nachgebens in der Bekehrungsgeschichte der Germanen überliefert ist. Im Norden stehen den eddischen und skaldischen Zeugnissen eines bewußten Spätheidentums ein paar persönliche Einzelstrophen der widerstrebenden Abkehr von der alten Religion gegenüber (HallfreSr vandraeSaskald) und ein christlicher Propaganda-Zweizeiler (Hjalti Skeggjason), der trotz seiner Niveaulosigkeit um seiner Form willen genannt werden muß: Der südliche, endgereimte „Otfridvers" macht die üble Provokation der „hündischen" Freyja erst recht wirksam. Zu §§5-8 s. Literatur u. Geschichte, Bibliographie zu § 3. — Jan de V r i e s, Altgerm. Religionsgeschichte, 2 Bde. (2. Aufl. 1956/57 PGrundr. 12). Werner B e t z , Die altgerm. Religion, Stammler Aufr. Bd. 3 (2. Aufl. 1962) Sp. 1547-1646. — Rud. M u c h , Die 'Germania' des Tacitus, 2. Aufl. v. Ridi. Kienast (1959; GermBibl. I. Reihe). — Magnus O l s e n , Aettegird og Helligdom (Oslo 1926; Instituttet for sammenlignende Kulturforskning A, 9a). Soren Kristian A m t o f t , Nordiske Gudesktkkelser i bebyggelseshistorisk Belysning. Studier over Forholdet mellem Oldtidsreligion og Stednavnetyper (Kopenhagen 1948). — Felix G e n z m e i , Ein german. Gedicht aus d. Hallstattzeit. GRM. 24 (1936) S. 14-21. Georg B a e s e c k e , Über german.dt. Stammtafeln u. Königslisten. GRM. 24 (1936) S. 161-181. Karl H a u c k , Carmina Antiqua. Abstammungsglaube u. Stammesbewußtsein. Zs. f. bayer. Landesgesdi. 27 (1964) S. 1-33. Ders., Lebensnormen u. Kultmythen in german. Stammes- u. Herrschergenealogien. Saeculum 6 (1955) S. 186-222. — Otto H ö f ler, Zur Bestimmung myth. Elemente in d. gesth. Überlieferung. In: Beitr. z. dt. u. nord. Gesch. Festschr. f. Otto Scheel (1952) S. 9-27. Ders., Der Sakralcharakter des german. Königtums. In: Das Königtum. Seine geistigen u. rechtl. Grundlagen. Mainauvorträge 1954 (1956; Nachdr. 1963; Vorträge u. Fschgn.,

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§ 6. Außerhalb des kultisch-mythischen Umkreises besaß das Frühgermanentum Gattungen geschichtsbezogener Dichtimg, die in gewissem Grade als p. D. gewirkt haben kann. Wo Tacitus in der Germania von „alten Liedern", quod unum apud illos memoriae et annalium genus est, spricht, so meint er an dieser Stelle (cap. 2) allerdings jene ethnischen Theogonien, von denen schon die Rede war. In den Annalen (II, 88) sagt er jedoch auch von Arminius: canitur adhuc barbaras apud gentes. Ahnliche Hinweise auf „historische" Lieder begegnen noch Jh.e später, wo german. Volks- und Herrschergeschichte überliefert wird (Cassiodor-Tordanes. Paulus Diaconus usw.). Ob sie sich auf Heldenlied, Preislied oder andere Gattungen der Memorialpoesie beziehen, ist im einzelnen schwer zu entscheiden. In den bewahrten Denkmälern agerm. Dichtung haben sich die Gattungen auch hinsichtlich ihrer Funktionen getrennt. Das P r e i s l i e d ist gehobene, zweckgebundene Gelegenheitsdichtung, bleibt aber, wenigstens im Norden, als Geschichtsdokument und persönliche Leistung namentlich bekannter Dichter über Jh.e in der Erinnerung haften, während das Z e i t l i e d , falls es dane-

Politische Dichtung ben als besondere Gattung bestanden hat, eher zugleich mit den Anlässen vergessen wird, falls es nicht in Chroniken Aufnahme findet (in volkssprachigem Wortlaut nur in England). Ferner gab es eine abstraktere M e m o r i a l p o e s i e von Stammbäumen, Herrscherlisten (ζ. B. ae. Widsith) und Kriegerlisten (ζ. B. im Zusammenhang der Bravallaschlacht). In der politischen Wirklichkeit wird zudem die R e d e vor dem Ding und im Königsrat als zweckgebundene prosaische Kunstform eine bedeutende Rolle gespielt haben. In ihr fielen, ähnlich wie in der Rechtsrede, auf Grund eines Pragmatismus der geschichtlichen Voraussetzungen und im Abwägen des Möglichen gegen das Ziemliche politische Entscheidungen. Das H e l d e n l i e d hingegen war in seinen gültigsten und daher bewahrenswerten Ausprägungen seit der Völkerwanderungszeit zweckfreie Dichtung hohen Ranges geworden, in der die Elemente eines parteilichen geschichtlichen Engagements im Sinne einer allgemeinen Erfahrung geschichtlichen Schicksals objektiviert erscheinen. Es steht zur Heldensage in einem ähnlichen Verhältnis wie das klass. griechische Drama zum heroischen Mythos. Andreas H e u s l e r , Die agerm. Dichtung. (2. Aufl. 1943; Neudr. 1957). Georg B a e s e c k e , Vorgeschichte des dt. Schrifttums (1940). Helm, de B o o r , Dichtung. In: German. Altertumskunde, hg. v. Herrn. Schneider (1938; Nachdr. 1951) S. 306-430. Jan de V r i e s , Altnord. Literaturgeschichte Bd. 1 (2. Aufl. 1964). § 7. Trotzdem ist es sinnvoll, zu fragen, in welchem Grade die H e l d e n s a g e und die sie bis ins späte MA. begleitende H e l d e n d i c h t u n g als p. D. aufgefaßt werden kann. Für die Zeit vor der Völkerwanderung verlieren sich ihre Spuren. Zwar versucht die Forschung immer wieder, jene bei Tacitus erwähnten Arminiuslieder durch scharfsinnige und ζ. T. bestechende Indizienbeweise an spätere Heldensage und -dichtung (Siegfried) anzuschließen, aber es ist unmöglich, von so hypothetischen Grundlagen aus Schlüsse auf ein polit. Selbstverständnis der Germanen während der ersten nachchristl. Jh.e zu ziehen. Fragt man nach der polit. Aktualität der erhaltenen Heldensage und -dichtung, so sind dabei verschiedene Gesichtspunkte zu unterscheiden: 1. In ihr spiegelt sich mehr oder minder deut-

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lidi etwas von dem polit. Engagement ihrer Entstehungszeit. Einerseits in dem, was ihr erzählenswert ist: Existenz- und Abwehrkampf des Stammes (Hunnenschlacht, Offa, Finnsburgkampf, Ingeld); Rechtfertigung einer ethisch bedenklichen polit. Tat durch die Sage (Theoderich und Odoakar); Verherrlichung der Niederlage des Stammes als moralischer Sieg des Königs und seiner Sippe (Burgundenuntergang); Konflikt der Erbherrschaft mit dem überlegenen Außenseiter (Siegfried). Andrerseits in Einzelmotiven, wie den heiligen Herrschafts- und Stammessymbolen im Hunnensdzlachtlied, den Besitzsymbolen des alten Atliliedes, den Spuren haßerfüllter Gegnerschaft gegen die Hunnen (Atlilied) oder den tyrannischen Stammesfeind Ermanrich (Hamdirlied). Solche Politica der Entstehungszeit können immer wieder in Analogie zu Gegenwartserfahrungen polit. Aktualität gewinnen. Noch das Bild der Ungarn in Ottokars Reimchronik trägt Züge des Hunnenbildes der Etzelsage. 2. Das Geschichtsbild der Helden d i c h t u n g (Lied und Epos) ist „entmythologisiert"; an die Stelle des mythischen Herrscherglücks tritt die ethische Bewährung des Helden in der Pragmatik eines schicksalhaften Geschichtsverlaufs, dessen Weg meist in den Untergang oder in tragischen Frevel führt. Die Lösung von mythischen Bindungen mag dadurch mitbedingt sein, daß der klassische Typus des Heldenliedes sich bei den südl. Germanen ausbüdete, die schon Christen, aber noch nicht von der christl.-mal. Geschichtstheologie erfaßt waren. Das Geschichtsbild der Heldendichtung bleibt wirksam, so lange sie selbst lebt. Es tritt im MA. in Konkurrenz zu dem neuen christlichen Geschichtsmythos und wird von dessen Vertretern als „politische Gefahr" empfunden und bekämpft (ζ. B. Annolied Str. 1). 3. Andrerseits bewahrt die Heldens a g e noch etwas von der Vorstellung der mythischen Heiligkeit des Herrschers und Heroen. Im mal· Deutschland lebt die Vorstellung von der Entrückung und Wiederkehr Dietrichs von Bern als „Volksaberglaube" in der Unterschicht, und die kirchliche Legende wehrt sie durch den Antimythos der Teufelsentführung ab. In Dänemark konzentriert sich die Idee der Königsheiligkeit auf die Gestalt des Friedenskönigs Frodi, dessen Name audi in Deutschland bekannt war (Fruote). Die Idee setzt sich im MA. ins Christliche um und büdet zum mindesten e i n e Komponente im Bilde des christlich-sakralen mal.. Königs. Ohne den Weg über die Heldensage, in unmittelbarem Anschluß an die vorausgehenden heidnischen Herrscher, wird in Norwegen Olaf der Heüige zum christlichen Sakralkönig. Das Herrscherbild der franz. Karlssage integriert antik-christliches Sakralkaisertum in das der heimischen Heldensage, wie es schon dem Selbstverständnis Karls des Großen entsprochen haben mag. Auffällig ist es, wie sich noch im hohen MA. vom 11. bis zum 13. Jh. an verschiedenen Stellen umfassende Geschichtsmythen aus den nationalen Heldensagen ausbüden, meist mit der ausgesprochenen Tendenz, dem christ11*

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lich-universalen und imperialen Mythos von „Kaiser" und „Reich" Widerpart zu bieten: in Frankreich entsteht die feudal getönte Karlssage, im angevinisdien England wird die keltische Artussage zum national-mythischen Symbol (Gottfried von Monmouth), in Dänemark erdichtet Saxo Grammaticus aus heimischer und entliehener Heldensage eine nationale Vorgeschichte mit Abwehrtendenz gegen den südlichen Nachbarn. In Deutschland dagegen wird das von der Heldensage getragene Geschiditsbewußtsein durch den Reichsmythos auf die Stämme abgedrängt: Dietrich von Bern ist der Held des bairisch-österreichischen Südostens, Siegfried der des fränkischen Westens. In den Rosengarten-Epen symbolisiert sich dieser Gegensatz. Die Wirksamkeit derartiger nationaler Gesdiichtsmythen bei der Ausbildung des modernen Nationalbewußtseins muß hoch veranschlagt werden. Bibliographie s. Heldendiditung. — Femer: Jan de V r i e s , Heldenlied u. Heldensage 1961; Samml. Dalp 78). Werner B e t z , Die dt. Heldensage. Stammler Aufr. Bd. 3 (2. Aufl. 1962, Sp. 1871-1970). Zur germanisch-deutschen Heldensage, hg. v. Karl Haudc (1961; Wege der Forsdiung 14). Daxin: W. M o h r , Geschichtserlebnis im agerm. Heldenliede, S. 82-101. Franz Rolf S c h r ö d e r , Mythos u. Heldensage, S. 285-315 ( = GRM. 36, 1955, S. 1-22). Otto H ö f l e r , Die Anonymität des Nibelungenlieds, S. 330-392 (=DVLG. 29, 1955, S. 167-213). Hans K u h n , Heldensage u. Christentum, S. 416-426 ( = Studium Berolinense, 1960, S. 515-524). — Emst B i c k e l , Arminiusbiographie und Sagensigfrid (1949). Otto H ö f l e r , Siegfried, Arminias u. die Symbolik. Mit e. histor. Anh. über d. Varussdilatht (1961; erw. Abdr. aus: Festschr. f. Franz Rolf Schröder 1959). Karl H a u c k , Heldendichtg. u. Heldensage als Geschichtsbewußtsein. In: Alteuropa u. d. moderne Gesellschaft. Festschr. f. Otto BrunAer (1963) S. 118-169. — Jan de V r i e s , Theoderidi der Große. GRM. 42 (1961) S. 319-330). — F. Ρ. Ρ i c k e r i η g. Notes on Fate änd Fortune. In: Mediaeval German Studies, presented to Fr. Norman (University of London Institute of Germanic Studies, 1965) S. 1-15.

§ 8. Die an Zweck und Gelegenheit gebundene Hochform p.er D. Altgermaniens, das Z e i t - u n d P r e i s l i e d , kennen wir nur aus außerdeutschen Quellen. Was an der nord. S k a l d e n d i c h t u n g orts- und zeitgebunden ist, die besondere, weder von der germ. Stabreimdichtung noch aus fremden Einflüssen sicher ableitbare Metrik und Strophik, die artifizielle Syntax, die verrätselnde Metaphorik der Kenningar, macht zugleich den gehobenen, ritualen Stil dieser Dichtung aus, der wiederum den besonderen Bedingungen eines Sippenkönigtums entstammt,

das in Schweden als Großkönigtum schon eine Jh.e alte Tradition hatte, in Norwegen aber erst mit Harald Schönhaar als Einheits.königtum über die adelsbäuerlichen Geschlechter in der Schlacht im Hafrsfjord (872?) den Sieg gewann. Zieht man der Skaldendichtung ihr stilistisches Schmudcgewand ab, so bleibt etwas übrig, das der persönlichen und polit. Dichtung des dt. MA.s in Spruch und rede von Herger bis zur Heroldsdichtung merkwürdig ähnlich sieht: Gelegenheitsdichtung in Einzelstrophen, mehrstrophige Zeit-, Preis- und Totenlieder, die Taten und Tugenden von Königen und herrschenden Großen verherrlichen. Eine der Quellen dieser nord. Hofpoesie ist sicher das T o t e n p r e i s l i e d , das als erfidräpa auch in der Skaldendichtung eine besondere Gattung bildet. Schon des Tacitus Zeugnis über Arminius-Lieder könnte sich auf diese Gattung beziehen. Sicherer bezeugt ist sie durch den Bericht des Priscus von Attilas Bestattung und in poetischer Spiegelung durch die Bestattungsszene des ae. Beowulf. Neben dem Totenpreislied steht in der Skaldendichtung, thematisch von diesem nicht unterschieden, das Preislied auf den lebenden Fürsten. Es beginnt mit einer Eingangsformel, in der der Sänger Gehör verlangt. Dann folgt eine Aufzählung der Kriegstaten des Gepriesenen oder die Darstellung seines letzten Kampfes. Die Fakten werden zwar unentfaltet und wenig individualisiert dargeboten, sind aber in konkretem Sinne wahr; deshalb waren den kritischen Historikern Islands im 13. Jh. diese Lieder als Quellen willkommen. Die Kampfschilderungen erstarren in festen Topoi: Die Tiere des Schlachtfelds, Adler, Rabe und Wolf, werden satt; Kriegersarkasmus sieht den Kampf als Spiel (Tanz?), auch als Brautwerbung; das soldatische Leben stellt sich in Gegensatz zum Wohlleben „daheim bei den Weibern" oder „beim Becher". Vor der Schlacht pflegt der König eine Mahnrede an seine Leute zu halten, aus der das Lied ein kraftvolles „Kemwort" überliefert. Alle diese Züge treten in franz. und dt. Heldendichtung, in der Heroldsdichtung und im „historischen Lied" der späteren Zeit ebenso topisch auf. Das Preislied klingt meist aus in einem formelhaften Tugendkatalog des Gepriesenen, in dem die Freigebigkeit wie in der mal. dt. Spruchdichtung und der spätmal. Herolds-

Politische Dichtung dichtung besonders nachdrücklich gerühmt wird. Wie beim dt. „histor. Lied" kommen auch aufeinander abgestimmte Parallelberichte über das gleiche Ereignis vor (HallfreSr und Halldorr ökristni zur letzten Sdilacht von Olaf Tryggvason). Dem Typus des Zeitliedes scheint das älteste der „eddischen Preislieder", das Harald Schönhaar feiert, nahe zu stehen (Haraldskvaedi). Der Rahmen (ein Rabe gibt einer Walküre Bericht) erinnert an die allegorischen Einkleidungen der Heroldsdichtung oder an den FrageAntwort-Rahmen des „kleinen Lucidarius" Seifrid Helbling. Die Schlachtenschilderung spart nicht mit kriegerischem Sarkasmus in der Verunglimpfung der Gegner. Hinterdrein folgen Strophen über Haralds erfolgreiche politische Heirat, und am Schluß erbost sich der Dichter über den Unfug der Gaukler und Spielleute in ähnlicher Weise, wie es seit Walther in Deutschland üblich ist. Am deutlichsten zeigt die Person, Biographie und das Werk des Skalden Sigvat Thordaxson (1. H. 11. Jh.), daß im Norden zwei Jh.e vor Waither von der Vogelweide aus ähnlichen gesellschaftlichen Voraussetzungen etwas Ähnliches wie die mhd. polit. Spruchdichtung entstehen konnte. Sigvat, der als Isländer aus wenig bekannter Familie an den norweg. Königshof kommt, steigt auf zum Hofskalden, vertrauten Ratgeber, Marschalk, politischen Gesandten bei König Olaf Haraldsson und seinem Sohn Magnus. Er drängt in seiner Dichtung den rituellornamentalen Stil der älteren Skaldik zurück, beschränkt die traditionellen Schemata der Hofdichtung auf ihre rationale Typik und reichert sie mit persönlichen Tönen an. Das Ergebnis ist ein Bestand, der stark an den der mhd. Spruchdiditung und rede erinnert: Das annalistische Preislied (vom Typus der Ehrenreden der Heroldsdichtung), das Zeitlied über eine bestimmte Schlacht (ähnlich dem „historischen Lied"), das rückblickende Memorialgedicht, das die Heiligkeit des gefallenen Königs Olaf propagiert (zugleich entritualisierte nordische erfidrdpa wie nordisches Gegenstück des Annoliedes), anekdotenreiche Reiseberichte über eine Gesandtschaft nach Schweden und eine Englandfahrt (mit dem Typus der Reiselieder Oswalds von Wolkenstein vergleichbar), vor allem die eindrucksvolle aktuelle polit. Mahnrede der „Freimutsstrophen" (nach Gattung und Rang Seitenstück zu Walthers p. D.), schließlich persönliche und polit. Gelegenheits- und Bittstrophen. In den „Freimutsstrophen" (Bersöglisotsur) ist außerdem durch die poet. Form ein Stüde echter polit. R e d e im Wortlaut enthalten, wie sie sonst im Rahmen der isl. Geschichtsschreibung (Snorri Sturluson und die übrige Königssaga) häufig begegnet und in ihr Träger eines polltischen Pragmatismus ist, der sich in der Königssaga mit dem tragischen Pragmatismus der Heldendidi-

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tung zu einem für das europäische MA. ungewöhnlichen Geschichtsbilde verbindet. Doch fehlen auch dazu nicht die späteren Gegenstücke in Deutschland: Politische Pragmatik in den öffentlichen Reden ist das eindrucksvollste Formelement in Ottokars österreichischer Reimchronik. Ob die Ähnlichkeit der p. D. und polit. Rede im Norden und in Deutschland auf einem Traditionszusammenhang beruht, der vom Frühgennanentum bis ins Hoch- und Spätma. reicht, oder ob aus ähnlichen Bedingungen verwandte Gattungen und Formen jeweils neu entstanden sind, wird sich kaum entscheiden lassen. Zusätzlich muß man in Rechnung stellen, daß von der lat. Enkomienpoesie der Kaiserzeit aus eine Linie entsprechender Formen und Themen in der mlat. Dichtung des MA.s weiterläuft. Die Geschichte der p. D. im dt. MA. ist zudem dadurch belastet, daß sie in der Volkssprache erst seit Walther von der Vogelweide auftritt und erst die nach-Waltherischen Ausprägungen ihre Gattungs typen deutlicher hervortreten lassen. Vorher erahnen wir vom Zeitlied u. ähnl. nur etwas durdi gelegentliche Erwähnungen oder durch Spiegelungen in andersartiger Literatur. Das mag zum Teil an ihren besonderen Uberlieferungsbedingungen liegen. P. D. übt ihre Wirkung in dem Augenblick, wo sie vorgetragen wird. Sie verfällt der Vergessenheit, wenn sie nicht aus besonderen Gründen bewahrenswert erscheint, sei es als histor. Dokument oder um der Person des Dichters willen. Das gilt für die volkssprachige Dichtung Deutschlands stärker als für die lateinische, die früher und leichter die Grenze vom mündlichen Vortragsstück zum literar. Buchwerk überschreiten konnte. Ähnlich sind wohl die Bezeugungen einer aktuellen polit. Redekunst, die einerseits das Modell für p. D. abgab, andrerseits als Formbestandteil in die volkssprachige Geschichtsschreibung des Norden.·· und später auch Deutschlands einging, zu beurteilen. Daß dort für die nord. Königssaga, hier für die großen rechtlich-polit. Redeszenen der Reimchroniken und spätmal. historischen „Sprüche" die antike Geschichtsschreibung allein das Vorbild gab, ist nicht wahrscheinlich. In Frankreich und Deutschland spiegelt sich diese Redekunst früher in den „politischen" Szenen der Romane (Ruodlieb, Tristanroman, Iwein, Parzwal) als in der Geschichtsdarstellung der Chroniken. Auch

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hier muß man damit rechnen, daß Darbietungsformen eines mal. polit. Brauchtums von früh an durchlaufen und an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten in die Lit. aufsteigen. Die lat. P a n e g y r i k des MA.s selbst setzt einerseits ihre aus der Antike stammende Tradition fort, andrerseits integriert sie sich volkssprachige Formen und wird dadurch zum Spiegel für diese. Zieht man ihr das Festgewand des Lateins aus, so erscheinen ähnliche Typen wie in der nordischen Skaldik, wenn man dieser ihren stilistischen Prunk abgezogen hat. Ihre ersten mal. Züge zeigt sie schon in der Merowingerzeit (Venantius Fortunatus). Einen Höhepunkt erreicht sie in der Zeit Karls des Großen und seiner Nachfolger (s. Mittellat. Dichtung § 6 und 7). In Zeitliedern wie dem des Angilbert auf die Schlacht von Fontenay steht sie dem mündlichen Vortragsstück nahe und tritt damit in die Nachbarschaft des ahd. Ludwigsliedes. Intensiver tritt die Gattung dann wieder hervor unter Otto III. und Heinrich II. mit dem halb-deutschen De Heinrico, dem Modus Ottinc, Krönungsgruß und Totenklagen (s. Mlat. D. § 13). Damals beginnen auch die „wandernden Journalisten" (Wilh. Scherer) in ihren anekdotischen „Modi" zeitgemäße Belanglosigkeiten zu bedichten. Einen neuen Höhepunkt bildet die p. D. Wipos unter Konrad II. und Heinrich III. (s. Mlat. D. § 18). Seine Rolle als Hofbeamter und Hofdichter ist der der nordischen Skalden nicht unähnlich, wenn man die verschiedenen Proportionen in Rechnung stellt, durch die sich ein nordischer Königshof von dem des Reiches unterscheidet. Aus der breiten epischen Panegyrik der Zeit Friedrichs I. hebt sich allein der Kaiserhymnus des Archipoeta als polit. Vortragsstück heraus, nach Form und Gattung ein Einzelgänger in seiner Zeit aber gerade dadurch näher den volkssprachigen Liedformen zugeordnet als der antiklateinischen Tradition. Man wird dieses bedeutende Lied vielleicht eher als Spiegelung denn als Vorläufer der volkssprachigen polit. Lyrik ansehen dürfen. A . H e u s l e r , Altgerm.Dichtung, S. 97-120. J. de Vries, Anord. Literaturgeschichte, Bd. 1 (2. Aufl. 1964) §§ 46-89, 96-116. J6n Helg a s ο η, Νarges og Islands digtning. In: Litteraturhistoria. Norge og Island, udg. af SigurSur Nordal (Stockholm, Oslo, Kebenhavn 1953; Nordisk Kultur 8. B). (Zur Skaldendidhtung S.

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§ 9. Die dt. Literatur beginnt erst in einer Epoche, in der sich gegen das mythischgeschichtliche Weltbild des german. Heidentums, das pragmatisch-geschichtliche Weltbild der Heldendichtung und den Kanon kriegerischer und fürstlicher Tugenden, die das Zeit- und Preislied feiert, das christlichantike Welt- und Geschichtsbild durchsetzt. Das polit. Schauspiel der Auseinandersetzung dieser Geschichtsbilder bleibt uns weithin unzugänglich, da die erhaltene Lit. nur den Standpunkt der neuen, siegreichen Idee zu Wort kommen läßt. K a r l s des G r o ß e n beharrliche innenpolitische Bildungsarbeit für das Verständnis des Christentums spiegelt sich nur in der Glossen- und Ubersetzungslit. der Klöster (s. Ahd. Lit.). Die polit. Seite der „Karlischen Renaissance" kommt naturgemäß in lat. Sprache aufs Pergament, nicht nur im gelegenheitsgebundenen Preis der kriegerischen Taten des Kaisers, sondern auch in der Formulierung der Idee der Restauration des (römischen) Weltreichs. Aus welchen politischen Motiven Karl „barbara et antiquissima carmina, quibus veterum regum actus et bella canebantur", aufzeichnen ließ, läßt sich nicht mehr sicher ausmachen, da wir nicht wissen, ob Heldenlieder oder Zeit- und Preislieder damit gemeint sind.

Politische Dichtung Die christliche Dichtung der beiden nachfolgenden Generationen ist zwar nicht p. D. in eigentlichem Sinn, aber sie hat ihre politischen Seiten, die in diesem Zusammenhang zu fassen und herauszuheben sind. Der unmittelbare politische Impuls, der von der nddt. Evangelienharmonie Heliand ausgeht (s. Altsädis. Lit. § 3), ist die Verkündigung des neuen Glaubens bei den Sachsen eine Generation nach ihrer Bekehrung. Christus erscheint als königlicher Heilsbringer, Friedensfürst im erduldeten Leiden, der, von seinem eigenen Volke verschmäht, gerade den andern Völkern in der dafür vorbestimmten geschichtlichen Stunde ein überzeitliches Heil schenkt Von seiner Gefolgschaft fordert er festes Vertrauen und jene neue Ethik der Bergpredigt, deren Verkündigung die geistige und kompositioneile Mitte der Dichtung ausmacht Den Dichter bewegt die Sorge, ob ein Volk wie das seine, das erst zu so später Stunde zum Heil gelangt, noch daran Anteil haben wird; darin verrät sich sein persönliches Engagement Von daher bekommt der Gedanke, daß das Heil, das doch „von den Juden kommt", von ihnen verworfen und von den Heiden gläubig angenommen wird, das durch den Apostolischen Auftrag in die Welt gesandt und jetzt von den Nachfolgern Petri verwaltet wird, seine besondere Aktualität Die Person Christi und sein Werk in der Geschichte, die Forderung der Nachfolge an seine Anhänger im Sinne des Vertrauens und eines richtigen Handelns stehen in diesem großen Verkündigungsepos in so harmonischem Verhältnis zueinander wie selten sonst in der Geschichtsmetaphysik des Mittelalters. O t f r i d s Evangeliendichtung ist demgegenüber in ihrer Verkündigung ganz und gar unpolitisch. Die politische Seite seines Werks liegt in dem bescheidenen und stolzen Anspruch, mit dem Otfrid es wagt, sein Fränkisch auf die Höhe der „Adelssprachen" zu heben, um den höchsten Gegenstand in einem durch und durch literarischen Kunstwerk darzustellen. Die Form des Werkes repräsentiert bis in die kleinsten Züge diese humanistischnationale Tendenz. Am Anfang der hochdt Lit steht das vollkommenste „Buch", das das MA. in d t Sprache hervorgebracht hat Eine wohlbedachte, konsequente Orthographie, eine gepflegte, auf leise Gefühlsund Zwischentöne gestimmte Sprache, der nicht klassizistische, aber christlich-humanistische Vers, dem im volkssprachigen Abendland einmal die Zukunft gehören wird, die gebildete Synthese von teilnehmender Erzählung, sachlicher und theologischer Didaktik, hymnischer Lyrik, die Möglichkeit, Stücke daraus nach Art des kirchlichen Hymnus zu singen (Neumen), die planvolle Gliederung in Büchern und Kapiteln, jeweils mit Inhaltsverzeichnissen versehen, das Ganze eingefaßt in lateinische und deutsche, mit Akrostichen geschmückte Vor- und Nachreden—: dieses Buchwerk ist in der Tat das repräsentative volkssprachige Denkmal einer „karolingischen Re-

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naissance" und stellt insofern eine polit. Tendenz der Epoche zur Schau. In direkterer Weise politisch gibt sich die Muspilli genannte Mahnpredigt von den letzten Dingen in ihrer Tendenz, dem weldichen Rechtsdenken, in dem ein Sippengenosse dem andern Rechtshilfe leistet, das ganz andere Recht des letzten götdidien Gerichts, wo der Einzelne für sich selbst gegen die Anklage des Teufels einstehen muß, gegenüberzustellen. Das Motiv der Sippenhilfe entspricht dabei der aktuellen, heimischen Gegenwart, das Motiv der Bestechlichkeit des Rechtsprechenden (V. 67) stammt als Sündentopos schon aus der patristischen Sozialkritik und wird beharrlich bis ins späte MA. weitergetragen. Das einzige Denkmal eines polit. Zeitliedes in ahd. Sprache, das Ludwigslied auf die Schlacht bei Saucourt gegen die Normannen (881) bekommt gerade durch seine Vereinzelung eine Schlüsselstellung nach vorwärts und rückwärts. Hinsichtlich der Gattung kann es an das german. Preislied angeschlossen werden als einziges bewahrtes Denkmal außerhalb des Nordens, aber auch an die Zeitlieder in lat. Sprache. Wie im skaldischen Preislied steht die eine, rühmenswerte Schlacht in einem weiter gespannten biographischen Rahmen. Auch die gattungstypische Mahnrede des Königs vor der Schlacht fehlt nicht. Der sakrale Bezug des Königs auf Gott, der Leitgedanke des Gedichtes, wandelt jedoch nicht schlechthin die heidnische Königsheiligkeit in eine christliche. Das Motiv der Fürsorge Gottes als magezoge für den verwaisten jungen Herrscher und der Anspruch Gottes auf seine Hilfe für „seine Leute" im Kampf gegen die Heiden ist mit so viel rhetorischer Bewußtheit vorgetragen, daß ihm die naive Sicherheit fehlt. Was A. Heusler grimmig „die geistliche Drahtpuppen-Gesinnung" des Ludwigsliedes nennt (Agerm. Dichtung § 109), mutet an wie ein Vorklang der Kreuzzugspredigt. Wenn man bedenkt, daß später der Grenzkampf gegen die Sarazenen, die Abwehr der heidnischen Normannen, die Fahrt „über Meer", die Preußenfahrt, der Hussitenzug, die Kämpfe gegen die Türken als eine einheitliche polit. Aufgabe im Sinne der Kreuzfahrt angesehen wurden und daß ζ. B. Wolfram die Nordvölker zusammen mit den Sarazenen zur gleichen ethnischen familia rechnete, so wird man das Ludwigslied an den Anfang der mal. Kreuzzugsdichtungen stellen dürfen. Literaturgeschichten: s. Ahd. Lit. u. Altsädis. Lit. — Mal. Geschichtsauffassungen: s.

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Lit. u. Geschichte zu § 4. — Heinz L ö w e , Von Theoderich d. Gr. zu Karl d. Gr. Das Werden d. Abendlandes im Geschichtsbild d. frühen MA.s (1956; Lizenzausg. 1958; Libelli Bd. 29). Ders., Regino von Prüm u. d. histor. Weltbild d. Karolingerzeit, in: Geschiditsdenken u. Geschichtsbild im MA. (1961; Wege der Fsdig. 21) S. 118-124. Percy Ernst S c h r a m m , Kaiser, Rom u. Renovatio (3. Aufl. 1962). — John K. B o s t o c k , A handbook on Old High German literature (Oxford 1955). Heinz R u p p , Forschung zur did. Lit. DVLG. 38 (1964), Sonderh. S. 1-67. Wemer S c h r ö d e r , Grenzen u. Möglichkeiten einer ahd. LitGesch. (1959; BerSächsGes. 105, 2). Peter v. P o l e n z , Karlische Renaissance, karlische Bildungsreformen u. d. Anfänge der dt. Lit. Mittlgn. Universitätsbund Marburg 1959, S. 27-39. — Friedrich von der L e y e n , Das Heldenliederbuch Karls des Großen (1954). Gerhard M e i ß b u r g e r , Zum sogenannten Heldenliederbuch Karls d. Großen. GRM. 44 (1963) S. 105-119. — Herbert K o l b , Vota demo muspüle. Versuch e. Interpretation. ZfdPh. 89 (1964) S. 2-33. — Walter B u l s t , Susceptacula regum. In: Corona quemea, Festgabe K. Strecker (1941) S. 97-135. — Theodor S i e g r i s t , Herrscherbild u. Weltsicht bei Notker Balbulus. Untersuchgn. zu den 'Gesta Caroli' (Zürich 1963; Geist u. Werk der Zeiten 8). Karl d. Gr. Lebenswerk u. Nachleben. Bd 2: Das geistige Leben. Hg. v. Bernhard B i s c h o f f (1965).

§ 10. Die f r ü h m h d . D i c h t u n g (s. d.), die nadi der „ottonisdien Lücke" in Erscheinung tritt, ist ausschließlich geistlich. Die Ausrichtung ist die gleiche, die schon in der ahd. Muspilli-Predigt sichtbar wird. Ihr autoritativer Charakter zeigt sich in der monotonen Ausschließlichkeit, mit der sie das christliche Welt- und Heilsbild vorstellt, ohne Abstufungen und ohne daß die Möglichkeit einer individuellen Auslegung, ja auch nur der Zustimmung des gläubigen Fühlens freigestellt wird. Jedes Einzelleben ist in der kurzen Spanne seiner Zeitlichkeit eingefügt in den sozusagen statischen Verlauf der Heilsgeschichte, ausdrücklich wird seine Entscheidungsfreiheit (selbwala) betont, doch wer den Lebensmoment nicht zur richtigen Wahl nutzt, ist auf ewig verloren. Vorgetragen wird dies als predigthaft-mahnende Lehrdichtung, die einzig von dem einen, sicheren Standpunkt aus argumentiert (vom Memento mori bis zu Vom Rechte, dem Armen Hartmann und Heinrich von Melk), als „Wissenschaft", die die verstreuten Phänomene der Natur und der Menschenwelt in einen symbolischen Kosmos

einordnet, und als „mit einem dogmatischsymbolischem Gerüst arbeitende heilsgeschichtliche Erzählung" (Hugo Kuhn zu Ezzolied, Summa Theologiae usw.). Der Rigorismus der Propaganda des christlichen Welt- und Geschichtsbildes in dieser Dichtung ist nur zu begreifen, wenn man die Gegenpositionen einer andersartigen „natürlichen" Ordnung der Gesellschaft und des polit. Handelns, die damals wirksam waren, in Rechnung stellt. Die Geistlichendichtung steht in Abwehr und bezeugt dadurch indirekt, daß es Mächte gab, gegen die sie sich wehren mußte. Worin diese Gegenposition vor allem gesehen wurde, spricht die Eingangsstrophe des Annoliedes aus: Die Lieder „von den alten Dingen, wie tapfere Helden fochten und Burgen brachen, feste Freundschaften sich trennten, Königreiche zugrundegingen" sollen fürderhin nichts mehr gelten. Hauptwidersacher ist damals immer noch der tragische Geschichtspragmatismus der Heldendichtung, dessen Wirkung offenbar bis tief in die polit. Ethik reichte. Im Zeit- und Preislied, das wir aus dieser Zeit nur in seinen lat. Ausprägungen kennen, setzt sich dagegen mehr und mehr das Idealbild des Rechts- und Friedensherrschers und die Pragmatik des Ausgleichs politischer Konflikte durch. Das halb-deutsche Zeitlied De Heinrico hat die Versöhnung zweier Herrscher zum Gegenstand, und das Preislied Modus Ottinc stellt zwar eine Schlacht in den Mittelpunkt, aber es ist eine Abwehrschlacht gegen die heidnischen Ungarn, und das Lied gipfelt im Preise Ottos III. als Friedenskaiser. In der Geschichtsschreibung werden diese Tendenzen noch nicht ausdrücklich wirksam, wohl aber in dem Fragment des ersten mal. Romans, dem Ruodlieb, in dem ein menschlich einsichtiges, Rechte und Kräfte richtig abschätzendes, Tugenden und Schwächen mit wohlwollendem Verständnis berücksichtigendes Verhalten im privaten und öffentlich-politischen Zusammenleben der Menschen geradezu zum Programm erhoben wird, eine vornehme, christliche Humanität, die das Selbstverständnis der späteren ritterlichen Dichtung vorwegnimmt. In dt. Sprache wäre damals ein Werk wie der Ruodlieb wohl noch nicht möglich gewesen, aber auch im mal. Latein ist dies frei in den ästhetischen Raum einer

Politische Dichtung anmutigen Erzählung gestellte symbolische Spiegelbild exemplarischer menschlicher Gesellschaftsformen ein einmaliges Wunder. Das Lateinische hatte seine eigentliche literar. Domäne stärker in der irgendwelchen Zwecken dienenden und damit auch in gewissem Grade „politischen" G e s c h i c h t s l i t e r a t u r , der Welt-, Hof-, Bistums- und Klosterchronik und der kirchlichen Vitenliteratur. Von der letzteren ausgehend findet ein Denkmal den Weg ins Deutsche und macht dabei einen Wandel durch, es wird zum Heiligen-Preislied und zugleich zum mahnenden Exempel für die riditige Einordnung des Menschen in die Heilsgeschichte: das Annolied. Es feiert einen geisdichen „Helden" und bedeutenden geschichtlichen Täter so, daß von seinen Taten nichts, von seinen frommen Tugenden und seiner Heiligkeit nur zum Schluß einiges Anekdotische in Erscheinung tritt, ja, daß die menschliche Figur selbst verschwindet, weil sie nur als Beziehungspunkt in einem „doppelten Cursus" der Weltgeschichte gesehen wird. Der Gedanke der Translatio imperii ist von der Person des Kaisers auf den Stammesraum der Franken abgeleitet, der Gedanke der Translatio des Apostolats von dem römischen Nachfolger Petri auf den heiligen Kirchenfürsten in Köln. Darin liegt nicht etwa eine zwiefache polemische Spitze, sondern es ist analogisch gemeint: die weltgeschichtlichen Linien sind für das typologische „Programm" dieses besonderen Heiligenpreisliedes zurechtgebogen. Was sonst als tätiges Heldentum des Besingens wert gewesen wäre, gilt nichts, die Person ist ausgeschaltet, wenn es um die Entscheidung geht, „wie wir einmal enden werden" Der Investiturstreit, der im Lat. eine leidenschaftliche Streitschriftenliteratur beider Parteien hervorgebracht hat, bleibt tief unter dem Gesichtskreis, obwohl der Dichter wie sein Held der Reformpartei nahesteht. Nur an einer Stelle (Str. 40) ist der welthistorische Aspekt aufgegeben, und der Dichter spricht unmittelbar betroffen und erschüttert von der unheilbaren Disordinatio des Bürgerkrieges, der das Reich verwirrt. Da spiegelt sich im Annoliede, das als Ganzes das extremste Beispiel einer p. D. im Sinne der frühmhd. Geistlichendichtung ist, jene zeitdiagnostische polit. Spruchdichtung, die unmittelbar erst mit Walther von der Vogelweide in die Uberlieferung tritt.

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Mit der Kaiserchronik, die Teile des Annoliedes in sich aufgenommen hat, tritt die Gattimg der Weltdironik, die bisher dem Lat. vorbehalten war, in die Volkssprache. Durch die Beschränkung auf den Geschichtsausschnitt der „Kaisergesdiichte" von Caesar bis zur Gegenwart, durch den denkmalhaften Rahmen der frühen Kaiserviten mit Regierungszeit und Art des Todes (man denkt zurück an das Dispositionsschema des Ynglingatal und voraus an das der Braunschweiger Reimchronik), in dem Ersatz verbürgter Geschichte durch eine vom Sinn des Ganzen bestimmte Auswahl von exemplarischen Erzählungen und Legenden, mit der Aufnahme von Sagen, in denen sich ein stammesbewußtes Nationalgefühl regt (Adelger) und in der leitmotivischen Orientierung des ganzen episch-historischen Sammelwerks auf die Idee der Ehre des Reiches und seiner Herrscher rastet die Kaiserchronik in verschiedenartige Traditionen der lat. und dt. historischen und politischen Dichtung ein und fügt sie zu einem Gesamtbild zusammen. Im Lat. ist die Weltchronik (Historia de duabus civitatibus, 1147) des Otto von Freising ihr genau zeitgenössisches Gegenstück. Beide Werke identifizieren „Reich" und Christenheit, sehen das Imperium christianum durch Kaiser und Papst repräsentiert und verstehen Geschichte als Widerspiel zwischen dem Guten und dem Verwerflichen. I n dem dt. Werk ergibt das eine bunte Folge exemplarischer Geschichten von richtigem und verkehrtem Handeln, keineswegs nur das polit. Handeln und die Erfüllung herrscherlicher Aufgaben betreffend — diese Dimension ist noch kaum entdeckt —, jedoch in ihrer historischen Reihung den Lauf der Geschichte „sinnvoll" symbolisierend. Das lat. Werk ist eine geschichtstheologische und zugleich tief pessimistische Deutung der Gegenwart als Vorzeit der letzten Dinge. Da die Geschichte des Reiches die der Christenheit ist, bekommen für das dt. Geschichtsbewußtsein alle aktuellen Katastrophen eschatologischen Sinn. Das bleibt auch in Zukunft so, wenn auch zur Zeit Friedrichs Barbarossa der Weg der Geschichte ins Helle zu führen scheint. S. Bibliographie zu Frühmhd. Dichtung; Literatur una Geschichte §§ 6-8. Femer: Cornelius S o e t e m a n , Dt. geistl. Dichtg. des 11. u. 12. Jh.s (1963; Sammlung Metzler). Heinz R u p p , Dt. religiöse Dichtungen d. 11.

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§ 11. In der Stauferzeit erreicht Deutschlands mal. Geschichte ihren Höhepunkt. Die Spannungen zwischen dem universalen Imperialismus des Reichs und dem Universalitätsanspruch der Kirche, den konkurrierenden Herrschaftsansprüchen Frankreichs, Englands und des Nordens, den beginnenden regionalen Nationalismen und der Auflehnung der Fürsten gegen die Reichskonzeption des Kaisers scheinen eine Weile im Gleichgewicht gehalten, Christenheit und Reich wenden sich trotz der Katastrophe von 1149 mit neuer Zuversicht der Kreuzzugsaufgabe zu. Die erste Generation glaubte an die tatsächlich gelungene Synthese aller geschichtlichen und politischen Impulse, die in ihrem Gesichtskreis lagen, und Ottos von Freising Geschichtspessimismus schlug in die Hochstimmung der Gesta Friderici I. um. Im Antichristspiel freilich wird gerade die gelungene Vollendung der Geschichte zum eschatologischen Vorzeichen. Die folgende Generation bekam zu spüren, daß die ver-

meintliche Synthese nur ein labiles Gleichgewicht der Kräfte war, und erlebte nach Heinrichs VI. Tode dessen Schwanken und Zusammenbrechen. Ihr dennoch bewahrter Glaube ringt sich aus Erschütterung und Sorge empor und kämpft sich in leidenschaftlicher Abwehr und im polit. Tageskampf müde (Walther von der Vogelweide). Der dritten Generation blieb es vorbehalten, ihre Enttäuschung mit rechthaberischem Realismus und grimmigem Sarkasmus auszusprechen (Neidhart, Tanhuser, Freidanks AkkcmSprüche). In ihr meldet sich das Lebensgefühl des Spätma.s schon zu der Zeit, als Friedrich II. auf der Höhe seiner Macht stand. Erst in der um 1150 beginnenden Epoche wird im mittleren Europa die volkssprachige Dichtung in vollem Umfang literarisch. Vorher ragt sie nur in einzelnen, inselhaften Erscheinungen über die literar. Oberfläche, so daß ihre Geschichte gerade auch in Hinsicht ihrer gesellschaftlichen und politischen Wirkung nur indirekt und hypothetisch erfaßt werden kann. Die nunmehr fürs Buch geschaffene oder ins Buch gelangende volkssprachige Dichtung löst sich jedoch nicht mit einem Schlage von ihren bisherigen Lebensbedingungen. Sie bedarf zum großen Teil auch weiterhin des mündlichen Vortrage vor der Gesellschaft, für die sie gedichtet ist. Gerade ihre polit. Wirkung übt sie eher auf den Hörer denn auf den Leser. Erstaunlich ist, in wie hohem Maße die volkssprachige Lit. sowohl in Frankreich wie in Deutschland den Bereich einer eigenen ästhetischen Wirklichkeit entdeckt und ausbaut. Literatur, die unmittelbaren Zwecken dient, die Wissenswertes bewahren und Lehre verbreiten will, tritt in den Hintergrund zurück. Das hängt mehr mit der Volkssprachigkeit als mit dem Literarischwerden zusammen. In der von Anfang an literarischen lat. Lit. war der Bereich schmal, in dem sich Dichtung als freies Spiel entfalten konnte, die Wahl zwischen Poesie und Prosa betraf die Darbietungsweise, nicht die Gegenstände. Ein Werk wie der Ruodlieb ist innerhalb des Lat. ein Sonderfall und nimmt etwas vorweg, was sich erst volkssprachig voll entfaltete. Dennoch entsteht mit der ästhetisch autonomen Dichtung des hohen MA.s kein Bereich des ganz und gar Unpolitischen.

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Die Diditung bleibt po6sie engagee, wenn auch in neuem Sinne. Sie gewinnt gerade aus der Spannung des eigenen Wirklichkeitsanspruchs der Innerlichkeit mit der Forderung der Gesellschaft ihre besondere, zeitgemäße Aktualität. Das gilt ζ. B. für die erste, aus Sagen-, Novellen- und Schwankmotiven „freikomponierte" große Romanschöpfimg Frankreichs, den Tristanroman, in dem der Held, gesellschaftlicher „Künstler", kluger polit. Ratgeber und waghalsiger Täter bei ausweglosen Staatskrisen (Irenzins) und heiklen Gesandtschaften (Brautwerbung im feindlichen Ausland), in das Schidcsal einer Liebesbindung gerät, die ihn völlig in Disproportion zu der Gesellschaft, der er dient und derer er bedarf, bringt. Es gilt in anderer Weise auch für den M i n n e s a n g , in dem sich ein personales Innenreich vor der Gesellschaft zugleich abschirmt und zur Schau stellt. Bezeichnenderweise wird das Minnelied als Kreuzlied zu dem Ort, wo der seelische Kampf zwischen persönlicher Bindung undritterlich-politischerAufgabe ausgefochten wird (s. Kreuzzugsdichtung). Nachdem in Deutschland die erotische Lieddichtung geradezu zur gesellschaftlichen Institution geworden ist, ehrt der Frauenpreis zugleich den Hof und spiegelt symbolisch soziale Wertungen und Umwertungen. Walthers Preislied (56,14) zeigt, wie sehr die Grenzen zwischen Minnelied und politischem Lied verschwinden können, und in den Auseinandersetzungen zwischen Reinmar und Walther, Walther und Neidhart verhüllen sich vermutlich gesellschaftliche Probleme allgemeinerer Art. Desgleichen führt die Entdeckung der religiösen Innerlichkeit in der Mystik anfangs noch nicht in eine Flucht aus der polit. Existenz. Von Bernhard von Clairvaux über Hildegard von Bingen bis zu Mechthild von Magdeburg fühlten sich gerade die Mystiker berufen, Rat und Weisungen von ζ. T. weltpolitischem Ausmaß zu geben. S. Bibliographie zu: Mhd. Diditung; Höfisches Epos; Minnesang; Kreuzzugsdkhtung. — Femer: Hans N a u m a n n u. Günther Μ üller, Höfisdte Kultur (1929; DVLG., Buchr. 17). Hans N a u m a n n , Dt. Kultur im Zeitalter des Rittertums (1938-39; Hdb. d. Kulturgesch. I, 5) Joachim B u m k e , Studien z. Ritterbegriff im 12. u. 13. Jh. (1964; Euph., Beih. 1). Erich K ö h l e r , Ideal u. Wirklichkeit in d. höf. Epik. Studien z. Form d. frühen Artusu. Graldichtung (1956; ZfromPh. Beih. 97).

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— Der deutsche Minnesang. Aufsätze zu s. Erforsdiung, hg. v. Hans F r o m m (1961; Wege der Forschung 15). Darin: Paul K l u c k hohn, Der Minnesang als Standesdichtung, S. 58-84. Hugo Kuhn, Zur inneren Form des Minnesangs,S. 167-179.—Erich A u e r b a c h , Lit.spradie u. Publikum in der lat. Spätantike u. im MA. (Bern 1958). Reto R. B e z z o l a , Les origines et la formation de la littirature courtoise en Occident (500-1200). II. La socUt0 feodale et la transformation de la litt, de cour (Paris 1960). — Wolfgang S t a m m l e r , Die Anfänge weltl. Diditung in dt. Spradie, in: Stammler, Kleine Schriften z. Litgesch. des MA.s (1953) S. 3-25.—Friedr. Wilh. W e n t z l a f f - E g g e b e r t , Kreuzzugdichtung d. MA.s (1960). Anne-Marie K r a y , Der Glaubenskrieg u. s. Darstellung in den Kreuzzugsepen d. MA.s. (Masch.) Diss. Freiburg i. Br. 1950. Fr. W. W e n t z l a f f - E g g e b e r t , Der Hoftag Jesu Christi 1188 in Mainz (1962; Inst f. Europ. Geschichte, Mainz. Vorträge 32).

§ 12. Um die Zielrichtung der hochmal. poesie engagee zu fassen, tut man gut, sie in Hinsicht auf die in ihr herrschenden geschichtlichen und gesellschaftlichen Weltbilder zu gruppieren. In Deutschland steht das christlich-imperiale Reichsbild im Vordergrund. Im großen von monumentaler Einheitlichkeit, im einzelnen mit feinen Abschattungen, beherrscht dieser Geschichtsmythos die dt. Dichtung vom Annolied über die Kaiserchronik, den Grafen Rudolf hin zu den lat. Hofdichtungen aus dem Kreise Friedrichs I. (Ludus de Antichristo, Archipoeta, Gunther von Pairis) und zu Waither von der Vogelweide. Im Sinn der translatio imperii werden auch Stoffe der antiken Geschichte in dies Geschichtsschema hineingezogen. Der Alexaiiderroman (Lamprechts und der Straßburger Alexander) ist Weltherrscher-Spiegel aus der Zeit des vorletzten Weltreichs. In Veldekes Eneit ist die Hochzeit des Aeneas so selbstverständlich das Hoffest, bei dem die Herrlichkeit des immer noch bestehenden, letzten Weltreichs begründet wird, daß sich ihm ohne künstliche Analogie das Gegenwartsbild des Mainzer Hoffestes von 1184 assoznert. Spielerischer und artifizieller lassen Dichtungen aus dem näheren oder ferneren Umkreis der Spielmannsepik ihre Handlung zum Schluß in die Reichsgeschichte einmünden (Rother; später: Floire, Die gute Frau) und legen damit den Grund für die typologisch-genealogische Symbolik der Epik des späteren 13. Jh.s. Der mit dem Reichsmythos konkurrierende

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nationale Geschichtsmythos Frankreichs mit Karl dem Großen als herrscherlicher Spitze findet in Deutschland wegen des aktuellen Kreuzzugthemas Aufnahme und wird vom Französisch-Nationalen auf die Weltidee des Reiches umstilisiert (Rolandslied des Pfaffen Konrad, Wolframs Willehalm). Hingegen kommt ein aus nationaler Heldensage hervorgehender oder ihr ähnlicher, nationaler oder stammeshafter Geschichtsmythos in Deutschland nicht zum Zuge. Ansätze wie die Adelgergeschichte in der Kaiserchronik und der Herzog Ernst bleiben unentwickelt und geraten in den Sog des imperialen Geschichtsbildes. Ganz und gar fehlt die aus der Heldensage komponierte heroisch-ideale völkische Vorgeschichte, wie sie Saxo Grammaticus für das Dänemark der Waldemarzeit schuf. Das Geschichtsbild der dt. Heldenepik (Nibelungenlied, verlorene Dietrichepik des 12. Jh.s) ist allen diesen Geschichtsideologien genau entgegengesetzt. Sie bewahrt streng die folgerechte Pragmatik eines jeweils einmaligen heroisch-tragischen Geschiditsablaufs, wie sie das klassische Heldenlied der späten Völkerwanderungszeit ausgebildet hatte. Mit ihr ragen immer noch die „alten Dinge", die das Annolied bekämpfte, als provozierende Wirklichkeit in das in metaphysischem Sinne durchsichtige und erklärbare Geschichtsbild des Hochma.s hinein. Angesichts so viel umgebender „histoire moralisee" mögen diese Dichtungen damals von Einigen als „Warnlieder" verstanden worden sein, konzipiert sind sie sicher nicht als solche. Erst die Kudrun in der Mitte des 13. Jh.s stellt programmatisch das alte, heroische Geschichtsethos einem Ethos des Ausgleichs und der Versöhnung gegenüber, verteilt auf zwei Generationen von verschiedener Gesittung. Widerhall fand die heroische Epik wohl vor allem bei den Angehörigen des alten Adels, wie noch der polit. Excurs Dietrichs Flucht V. 7999-8028 bezeugt. Besonders folgenreich für die mal. Dichtung war die zwiefache Verwandlung, die der aus keltischer Sage erwachsene nationale Geschichtsmythos des angevinischen England, die Artussage, durchmachte (s. Artusroman). Chrestiens von Troyes machte ihn zum Bezugspunkt einer nur noch von fem an „Geschichte" angelehnten gesellschaftlichen Romanwelt, in der der Ritterstand sein ideales Spiegelbild fand. Als dieser

Typus durch Hartmann von Aue nach Deutschland überführt wurde, löste er sich noch mehr aus seinem historischen Mutterboden und wurde zur symbolischen Vorgeschichte der höfischen Gesellschaft in der europäischen mal. Gegenwart. Hartmann verlegt, noch konsequenter als Chrestiens, die gesellschaftliche Problematik in die persönliche Gewissensentscheidung der Figuren des Romans. Wolfram von Eschenbach, der mit dem Parzival Hartmann das Monopol des dt. Artusromans entwand, öffnet die Gattung wieder der Weltgeschichte. Der aktuelle Reichsmythos verwandelt sich in das reine Geschichts-Symbol einer ritterlich-christlichen Weltherrschaft um die beiden Pole Artushof und Gralsburg, im Hintergrund taucht das heidnische Morgenland auf, und mit dem Priester-Johannes-Schluß läßt Wolfram — ähnlich wie es der König Rother tat — die symbolische Prähistorie in die (für seine Zeit) wirkliche Geschichte einmünden. Wie weit der ritterliche Roman von Chrestiens bis Wolfram und über ihn hinaus reale gesellschaftliche Wirklichkeit ideal abspiegelt, wie weit er selbst zur Ausbildung des Standesethos und der ständischen Lebensformen des Rittertums mit beigetragen hat, läßt sich nicht sicher ausmachen. In einer Zeit, die in Bildern und Symbolen dachte, ist es sehr wohl möglich, daß poetische Konzeptionen unmittelbar geschichtswirksam werden. Angesichts der Bereitschaft, im vordergründig Dargestellten einen Hintersinn zu erkennen, muß auch damit gerechnet werden, daß die höfische Dichtung insgesamt nicht nur in allgemeinstem Verstände Gesellschaftlich-Politisches im Symbol spiegelt, sondern auch Politisch-Aktuelles verschlüsselt wiedergibt. Daß es bisher trotz mancher Versuche in keinem Fall gelungen ist, den einen, passenden Schlüssel zu finden, spricht nicht dagegen; es zeigt nur, welche Grenzen unserm heutigen Verstehen gezogen sind. Schon durch seine Form und Gattung — parodistischer Antitypus der „modernen" höfischen Romanform von Art des Tristrant, gefüllt mit dem Personal und Traditionsstoff der Tierfabel — fordert Reinhard Fuchs von Heinrich dem Glichezasre dazu heraus, als Schlüsselroman verstanden zu werden. Pseudohistorie (Herzog Ernst) und Pseudoheldensage, die sich novellistisch aufputzt und ihre Handlung in den durch die Kreuzzüge

Politische Dichtung politisch aufgeladenen Mittelmeerraum verlegt (König Rother, Wolfdietrich, Ortnid), unterliegen dem gleichen Verdacht. Auch in Wolframs Parzival nimmt der Artusroman eine Wendung ins „Politische", nicht nur in allgemeinem sondern auch in speziellem Sinne. An Parallelen, die sich aufdrängen, fehlt es nicht: Templeisen und Templerorden, Gahmuret und Richard Löwenherz, der lantgrave Kingrimursel und Landgraf Hermann von Thüringen; auch die Lösung des Rätsels der „angevinischen Motive", die man bisher meist im Quellengeschichtlichen gesucht hat (Kyot), könnte im PolitischAktuellen liegen. S. Literatur u. Geschichte, Bibliographie zu §§ 8 u. 9. — Karl B o s l , Das. Hochma. in der at. u. ewrop. Geschichte. Histor. Zs. (1962) S. 529-567. Friedr. H e e r , Mittelalter (Zürich 1961; Kindlers Kulturgeschichte. Geschichtsdenken u. Geschichtsbild im Μ Α., hg. ν. Walther L a m m e r s (1961;Wege d.Fschg. 21).— Hans R a i l , Zeitgeschichtliche Züge im Vergangenheitsbild med.er, namentl. rrüat. Schriftsteller (1937; Histor. Studien. 322). Rud. Kös t e r , Karl d. Gr. als polit. Gestalt in d. Dichtg. d. dt. MA.s (1939; Hansische Fschgn. 2). — Helm, de B o o r , Der Wandel des mal. Geschichtsdenkens im Spiegel der dt. Dichtung. ZfdPh. 83 (1964), Sonderh. S. 6-22. — Hugo M o s e r , Dichtung u. Wirklichkeit im Hochma. WirkWort 5 (1954/1955) S. 79-91. Hugo Kuhn, Soziale Realität u. dichter. Fiktion am Beispiel d. höf. Ritterdichtung Deutschlands. In: Kuhn, Dichtg. u. Welt im MA. (1959) S. 22-40. — Hans Robert J a u s s , Epos und Roman — eine vgl. Betrachtung an Texten des XII. Jh.s (Fierabras—Bei Inconnu). Nachrichten d. Gießener Hochschulges. 31 (1962) S. 7692. — Arthurian literature in the middle ages. A collaborative history. Ed. by Roger Sherman Loomis (Oxford 1959). Jean Marx, La legende arthurienne et le Graal (Paris 1952; Bibl. de l'ecole des hautes etudes. Sciences religieuses. 64). Helen A d o l f , Visio pacts. Hou/ City and Grail. An attempt at an inner history of the Grail legend (Pennsylvania State University Pr. 1960). — Joachim Bumke, Wolframs 'WiUehalm' (1959), (S. 126-142 zur Reichsidee). — Karl H a u c k , Die geschiditl. Bedeutung d. german. Auffassung v. Königtum u. Adel. XI" Congres International des Sciences Historiques. Rapports III, 1960, S. 96-120. — Henrik B e c k e r , Warnlieder. 2 Bde. (1953). Adolf B e c k , Die Radie als Motiv u. Problem in d. Kudrun. GRM. 37 (1956) S. 305-338. Hans F r o m m , Das Heldenzeitlied des dt. Hochma.s. Neuphilol. Mittlgn, 62 (1961) S. 94-118. — Georg Β a es e c k e , Heinrich der Glidvezaere. ZfdPh. 52 (1927) S. 1-22. Max W e h r l i , Vom Sinn des mal. Tierepos. GLL.N.S. 10 (1956/57) S. 219-228. Hans Robert J a u s s , Untersuchungen z. mal.

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Tierdiditung (1959; ZfromPh. Beih. 100). — Willem S n e l l e m a n , Das Haus Anjou und der Orient in Wolframs Parzival. Diss. Amsterdam 1941. Herbert K o l b , Munsalvaesdie. Studien zum Kyotproblem (1963). W. M o h r , Landgraf Kingrimursel. Philologia Deutsch, Festschr. z. 70. Geburtstag von Walter Henzen (Bern 1965) S. 21-38. Ders., Wolframs Kyot und Guiot de Provins. Festschr. f. H. de Boor, 1966, S. 48—70. § 13. Neben diese ihre Zeit auf verschiedenartige Weise deutende und auch beeinflussende poesie engagee tritt jetzt audi p. D. in engerem Sinn in Erscheinung. Ihrem Auftreten in dt. Sprache geht lat. Dichtung voraus, die um ihres Ranges willen hier nicht unerwähnt bleiben darf. Schon der Ludus de Antichristo ist ein absoluter Höhepunkt der p. D. in Deutschland. Zugrunde liegt der seit Adso in seinen Motiven festliegende Mythos von den Ereignissen, die die diristl. Weltgeschichte einmal beenden und die Voraussetzung der Wiederkehr Christi zum letzten Gericht bilden werden, kein poetischsymbolischer Weltgeschichtsmythos wie der vom Gral, sondern ein Mythos, der als zukünftige Realität geglaubt wurde. Die Kühnheit des Antichristspiels liegt einerseits darin, daß in ihm etwas, was für die Menschheit als dunkle Erwartung in der Zukunft lag, in konkreter Vergegenwärtigung auf der Bühne abläuft, andrerseits darin, daß gerade das im Sinne der staufischen Weltkaiseridee „politisierte" Vorspiel die Voraussetzung für die .Katastrophe schafft. Die Stunde des Antichrist ist dadurch gekommen, daß der deutsche Imperator, nachdem er die Weltherrschaft erlangt hat, Krone und Herrschaft an die Kirche zurückgibt. Der Mythos verlangt es freilich so, aber da die metaphysische Notwendigkeit als dramatische Pragmatüc dargestellt wird, schlägt das Spiel hier in die Tragödie um: Romani culminis dum esset advocatus, Sub honore viguit ecclesia status: Nunc tue patens est malum discessionis. Nach ihren „Nationalcharakteren" differenziert, verfallen die Nationen der Verführung. Der Grieche wird terroribus aut bello subiugatus, der Franke fällt seiner subtilitas zum Opfer, der Deutsche läßt sich nicht durch Geschenke, nicht einmal durch die Anerkennung seiner Weltherrschaft täuschen, aber das Scheinwunder des Widersachers —• Antitypus des Wunders Silvesters, durch welches die christliche Kaiserherrschaft begründet wurde — überzeugt ihn. Während er als Gläubiger des Antichrist die Heiden dem vermeintlich christlidien Monotheismus unterwirft, wird die Synagoge sehend und fällt als Märtyrin des Glaubens ihrer Propheten. Siegreich bleibt der Antichrist, bekleidet mit den sakralen Herrscherattributen, die vorher der christliche Imperator trug. — Im Antichristspiel steht der Weltgeschichtspessimismus der Weltchronik Ottos von Freising und das sakrale und imperiale Selbstbewußtsein seiner Gesta Friderici in einer dia-

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taktischen Spannung, die sich nicht löst Es ist keine Dichtung, die ein weltpolitisches Ziel propagiert, sondern Geschichtsdiagnose, die Unruhe und Erschütterung hinterläßt, radikaler noch als die spätheidnische Völuspä, aber an dichterischem Rang ihr hochmal.-chrisdiches und, trotz des Lateins, deutsches Gegenstück. Außerdem ist es ein einsames Werk, das weder einem Gattungstyp angehört noch ihn begründet. Der Kaiserhymnus des A r c h i p o e t a ordnet sich in die vielfach unterbrochene Linie, die vom german. Preislied über das Ludwigslied und den Modus Ottinc zur mhd. polit. Spruchdichtung und dann zur Heroldsdichtung und zum histor. Lied des Spätma.s führt. In die Mitte des weiter gespannten historischen Rahmens tritt das Bild der Schlacht um Mailand, in dem Züge parteilicher Drastik und Metaphorik nicht fehlen (ludum tandem Caesaris terminavit rocus); am Ende geht der siegreiche Kaiser als Repräsentant des Rechts und Wahrer des Friedens daraus hervor. Schon die Strophenform, die „moderne", nicht antike Reimstrophe des christL Hymnus, aber auch der Vagantendichtung und der neuerwachten Lieddichtung der Volkssprachen, ist zugleich rituelles wie historisches Symbol. An die Stelle des antik-mythologischen Bilderschmucks tritt eine biblisch-weltgeschichtliche Typologie, die jedem Gegenwartsereignis vorherbestimmte Notwendigkeit und Würde gibt. Ein wenig wirkt dies freilich als poetische Verkleidung, zumal da der Archipoeta auch in diesem Gedicht nicht darauf verzichten kann, sich selbst in seiner Vagantenrolle zu Füßen seines Gönners, Reinalds von Dassel, abzubilden, den er eben im Bilde des Vorläufers Johannes groß neben den Kaiser-Christus gestellt hatte. — Im Umkreis der Vagantendichtung ist auch dies Lied ein einmaliges Gebilde. Wenn es einen Typus repräsentiert oder vorwegnimmt, so wird man ihn eher in der volkssprachigen Dichtung zu suchen haben. Dort begegnet er eine Generation später in der polit. Lyrik Walters von der Vogelweide. Lit. s. Mittellat. Dichtung § 24. — Wilh. K a m i a h , Der Ludus de AntUhristo. Hist Vjs. 28 (1933) S. 53-87. Ders., Apokalypse u. Geschichtstheologie (1935; Histor. Studien 285). Karl Y o u n g , The Drama of the Medieval Churdi Vol. 2 (Oxford 1962; Neudr. nach verb. Bogen d. 1. Ausg. v. 1933) S. 369-396. Karl H a u c k , Zur Genealogie u. Gestalt des Stauf. 'Ludus de Antichr.' GRM. 33 (1951) S. 11-25.

werden die gattungstypischen Züge deutlicher. Die Beziehung auf einen festen Kanon sittlicher Werte und Unwerte, die Typologie im Sinne der christlichen und imperialen Motive geben Walthers Strophen und Liedern den Anspruch absoluter Gültigkeit, zugleich aber operiert er von dieser Grundlage aus auf konkrete politische Ziele hin, große und kleine, gerechte und ungerechte, und nie verfehlt die geschliffene Spitze ihr Ziel. Objektive Zeitdiagnose und Ausrichtung auf metaphysisch begründete Hochziele verbinden sich mit politischer Aktion, die alle Mittel dem Zweck unterwirft. Mit dem gleichen Absolutheitsanspruch verkündet er Ideen und verficht er Ideologien. Sogar die sittliche Selbstbesinnimg beim Wechsel der Partei dient als Prolog eines vernichtenden Angriffs auf den polit. Gegner (26,3 ff.). Das meiste von Walthers p. D. wird im Dienst und Auftrag gedichtet sein. Er ist Wortführer von einzelnen Fürsten, Fürstengruppen und jenen Gruppen, die wechselnd die Reichspolitik bestimmten. Daß er dabei in eigenem Namen auftritt, gehört wohl zum Stil der Gattung und ist selbst politisches Mittel. Er kleidet sein Ich in Rollen, die vom unbehausten Vaganten (31, 23), kleinen Ministerialen (10, 17), Angehörigen einer höfischen Familia (35, 7) bis zum Weltweisen, Seher und Propheten (Reichston) und zum Gesandten Gottes an die irdische Majestät (12, 6) reichen. Davon spaltet sich als symbolischer Partner die Gestalt des Klausners ab (9, 35), der sich jedoch ebensowenig enthalten kann, sehr realpolitische Ratschläge zu erteilen (10, 33). Auch Walthers Rolle als höfischer Minnesinger kann ins Politische umschlagen (Preislied, 56, 14). Einmalig in der mal. Dichtungsgeschichte ist es, daß Walther, obwohl er für andere spricht, für Wirkung und Folgen seiner p. D. persönlich haftbar gemacht wird, anscheinend sogar aus gemäßigten Kreisen seiner eigenen Partei (Thomasin, Welscher Gast 11163 ff.).

§ 14. Daß W a l t h e r von der Vogelweide sich die schärfste Waffe, die er als Dichter führt, den gesellschaftlichen und politischen Lied-Spruch, selbst erst geschaffen hat, ist unwahrscheinlich. Doch gehörte Walther einer Dichtergeneration an, der jeder Gattungstypus zur plastischen Gestalt, von der persönlichen Hand ihres Schöpfers geprägt, wurde; erst bei seinen Nachfolgern

Waithers polit Themen sind weitgehend von dem Auftrag, den er zu erfüllen hat bestimmt Vertritt er den Standpunkt der großen Reidisfürsten, die ihre eigne und nicht ganz uneigennützige Reichsidee gegen die Herrschaft der Reichsministerialen verteidigen, so wird er aggressiv, wenn der König es an milte fehlen läßt (19,17,16,36 f., 26,33 usw.), wenn die „Freundschaft" nicht gegenseitig ist (79,17) oder wenn die hohen Herren im Rate nichts mehr gelten (83,14, 103,29?). Er traut sich auch zu, vor dem

Politische Dichtung Reich selbst Stimmung für die Fürsten zu machen und Argwohn zu zerstreuen (19,5, 11,30, 105,13). Umgekehrt kann er auch vom Standpunkt des Reiches aus den Egoismus der Großen mit scharfem Sarkasmus angreifen (29,15). Alle realpolitischen Aufgaben, die er dem Reiche gestellt sieht, sind bestimmt durch den sakralen und imperialen Reichsmythos: Schaffung von Flieden und Sicherheit im Innern (Reichston, Ottenton), Abwehr der Ansprüche der armen künige (8,28) oder fremden zungen (12,18), Kreuzzug unter Führung des dt Kaisers. Da diese geschiehtsnotwendigen Pflichten des imperialen Herrschers immer wieder durch den Papst durchkreuzt werden, ist Rom und die romhörige Geistlichkeit für Walther der Feind, den er lebenslang prinzipiell, mit Sarkasmen, Invektiven und Verdächtigungen, je nach der Lage vorsichtig oder aggressiv, versteckt oder offen, mit historischen, moralischen, nationalen oder realpolitischen Argumenten bekämpft Hier entfaltet sich die Skala seiner p. D. am weitesten und am unbedenklichsten, und hier bestimmt er auch die öffentliche Meinung seiner Gegenwart und weit in die Zukunft hinein am nachhaltigsten. Die übrigen Höfe trifft weniger politischer als gesellschaftlicher Preis oder Tadel, und hier spricht Walther wohl öfter und ausdrücklicher für sich selbst Auch in diesem Bereich ist seine Wirkung so stark, daß er von Zeitgenossen zitiert wird (Wolfram, Parzwal 297, 24). Im Preislied (56,14) wird der Höfepreis zum Nationalen gewendet. Vom universalen Reichsgedanken ließ sich kaum ein Ansatz für ein dt Nationalbewußtsein gewinnen, wohl aber von der höfischen Gesellschaft aus. Dabei spielt mit daß die neue höf. Kultur von der Dichtung her gesehen eine Kultur der Volkssprache geworden ist Neben der polit und gesellschaftlichen Dichtung Waithers, deren unmittelbare Anlässe und Ziele zu erkennen sind, bleibt eine breite Schicht persönlicher und allgemein gesellschaftskritischer Didaktik übrig, von deren Beziehungen wir nichts wissen. Aber auch wenn Waither sich allgemein faßte, wird er meist Spezielles gemeint haben. Schon der Stil der höfischen Dichtersprache bot eine Skala von weiten und übergeordneten Begriffen, die sich von Fall zu Fall mit konkreter Bedeutung füllten, und das Reden in solchen Begriffen gehörte mit zur Distanz und Verschleierung, derer die p. D. bedarf. Der Rang von Walthers p. D. beruht darin, daß er sich selbst leidenschaftlich mit seiner Aufgabe identifiziert. Er ist ein Mensch, der durch die geschichtlichen Vorgänge seiner Epoche zutiefst betroffen wird, und man kann an seinem Werk wie an einem Barometer die Zeitstimmung ablesen. Heinrichs VI. frühen Tod erlebt er als weltgeschichtliche Katastrophe, die Krönung Philipps von Schwaben, später die Rüdekehr des gekrönten und dann gebannten Kaisers Otto nach Deutschland sind ihm

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erhoffte Wendepunkte der Geschichte; der Kreuzzug ist und bleibt das letzte Hochziel der Reichspolitik, und wenn der Papst dem Kaiser diese Aufgabe entwinden will, so identifiziert Waither ihn mit Judas, Simon Magus, dem Zauberer Gerbrecht und dem Antichrist. Auch auf Dinge des Werts und Unwerts höfischer Sitte und höfischen Singens reagiert Waither anläßlich bestimmter Gelegenheiten mit persönlicher Leidenschaft. Dazwischen liegen Strecken, wo sein polit. Sang aufhört oder in gleichgültigeren Bahnen läuft. Bei Philipps von Schwaben gewaltsamem Tode bleibt er stumm, während die Ermordung Engelberts von Köln ihn zu einer glühenden Haßstrophe veranlaßt. Als polit. Diagnostiker zugleich scharfsichtig und blind, bald politischer Realist, dann wieder bedenkenloser Ideologe, immer aber ein Dichter, dem seine Dichtung zur Aktion wird, verkörpert Waither von der Vogelweide den Typus des polit. Dichters sowohl in den bewundernswerten wie in den bedenklichen Zügen reiner als jeder andere in der Geschichte der dt. Literatur. Walther v. d. V., hg. u. erkl. v. Wilh. W i l m a n n s , 4. Aufl. hg. v. Victor M i c h e l s . 2 Bde (1916-1924). Friedrich M a u r e r , Die polit. Lieder Walthers t>. d. V. (1954; 2. Aufl. 1964). Hugo M o s e r , „Lied" u. „Spruch" in d. hochmal. dt. Diditg. WirkWort 3. Sonderh., 1961, S. 82-97. Kurt Herbert H a l b a c h , Waither v. d. V. (1965; Sammlung Metzler). — J. G. S p r e n g e l , W. v. d. V. u. der staufische Staatsgedanke. ZfdB. 8 (1932) S. 8-21. Friedr. N e u m a n n , Waither v. d. V. und d. Reich. DVLG. 1 (1923) S. 503-528. — Wilhelm N i c k e l , Sirventes u. Sprudididitung (1907; Pal. 63). — Konrad B u r d a c h , W. v. d. V., philolog. u. histor. Fschgn. (1900). Ders., Der mythische u. der gesdiiditl. Walther. DtRs. 22 (1902) S. 37 ff., wiederholt in: Burdach, Vorspiel. Bd. 1 (1925) S. 334-400. Ders., W. v. d. V. u. d. 4. Kreuzzug. Histor. Zs. 145 (1932) S. 19-45. Ders., Walthers Aufruf z. Kreuzzug Kaiser Friedrichs II. DuV. 36 (1935) S. 50—68, 382-384. Ders., Der gute Klausner W.s υ. d. V. als Typus urrpolit. christl. Frömmigkeit. ZfdPh. 60 (1935) S. 313 bis 320. Ders., Der mal. Streit um das Imperium in d. Gedichten W.s υ. d. V. DVLG. 13 (1935) S. 509-562. Ders., Der Kampf Walthers v. d. V. gegen Innozenz III. u. gegen das zweite Lateranische Konzil. Zs. f. Kirchgesch. 55 (1936) S. 445-522. Ders., Die Wahl Friedrichs II. zum röm. Kaiser. Histor. Zs. 154 (1936) S. 513-527. Hans S p e r b e r , Kaiser Ottos Ehre (Waither 26,33) In: Corona. Studies in Celebration of the Eightieth Birthday of Sam. Singer (Durham/North Carolina 1941)

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S. 180-185. Arthur Thomas H a t t o , W. υ. d. V.s Ottoman Poems. Speculum 24 (1949) S. 542-553. — Karl Kurt K l e i n , Zur Sprudtdichtung u. Heimatfrage W.s v. d. V. (Innsbruck 1952; Schiernschriften 90). Ders., Walthers Scheiden aus Österreich. ZfdA. 86 (1955/56) S.215—230. Dazu: Siegfried B e y s c h l a g , W. υ. d. V. und die Pfalz der Babenberger (Walthers Scheiden v. Wien). In: Jb. f. fränk. Landesfschg. 19 (1959) S. 377-388. — Judy M e n d e l s u. Linus S p u l e r , Landgraf Hermann von Thüringen u. s. Dichterschule. DVLG. 33 (1959) S. 361-388. § 15. Vergleicht man die Akkon-Sprüche Freidanks (154,18 ff.), die Kreuzlteder Neidharts (11,8 ff.) und das Pilgerlied des Tanhuser (Nr. XIII) mit Waithers Altersdichtung, die auf dem dunklen Hintergrund der Resignation und Zeitklage die alten gesellschaftlichen Ideale und politisch-religiösen Hochziele um so leuchtender hervorscheinen läßt, so erkennt man, wie genau die nächste Generation den geschichtlichen Wetterwechsel des Interregnums vorausspürte. Im Gesellschaftlichen wird der Umschlag am deutlichsten bei N e i d h a r t spürbar. Walther selbst hatte in seinen „Mädchenliedern" den höfischen Minnesang in die „a-soziale", d. h. rein menschliche Umwelt des schäferlichen Idylls hinübergeführt, die Generation nach ihm rückt das Idyll wieder näher an das Höfische, entleert aber dabei das Menschliche zum marionettenhaft preziösen Spiel (Gottfried von Neifen und seine Nachfolger); Neidhart hingegen verwandelt es zum dörperlichen Anti-Idyll, in dem die menschlichen Werte parodistisch zersetzt werden. Anscheinend kämpft er an verschiedenen Fronten zugleich. Eine Seite seiner Tendenz ist die Satire auf ein aufsteigendes, üppiges Bauernrittertum, das damals zur polit. Wirklichkeit gehörte. Aber auch die Hofgesellschaft selbst sollte sich wohl im Zerrspiegel der Dörpereien wiedererkennen; wie weit Neidhart dabei Konkretes verschlüsselte, läßt sich nicht mehr ausmachen. Entscheidend für Wirkung und Nachwirkimg ist, daß ein allgemeines Zerrbild einer Gesellschaft entsteht, in der sich Hochfahrt, Triebhaftigkeit, falsches Standesbewußtsein und falsches Kollektivbewußtsein mit dem zerschlissenen Gewand schöner Gefühle und moralischen Ordo-Denkens behängt. Die Sprengkraft dieser a-sozialen Symbolik erkannte schon Walther und bekämpfte sie bei ihrem ersten Auftreten (64,31), sie wirkt in Neidharts

anonymer „Schule" zwei Jh.e lang nach, und das von ihm geschaffene Anti-Idyll liefert den szenischen Raum für diejenigen epischen Dichtungen, die am gültigsten der spätmal. Erfahrung der Disordinatio Wort und Gestalt geben: Wemhers Meier Helmbreht (Mitte 13. Jh.) und Heinrich Wittenwilers Ring (um 1410). Die dörperliche Anti-Idylle grenzt an die S c h w a n k - und Bispel-Dichtung, jenes Teilgebiet der mal. Versnovellistik, das, insofern das unterhaltsam Erzählte um einer „Moral" willen dargeboten wird, noch eben zur politisch engagierten Dichtung gerechnet werden kann. Diese spielt in verschiedenen sozialen, meist unterständischen Umwelten, die sich gegenseitig aufheben, weil im Speziellen allgemeinmenschliche Gebrechen bloßgestellt werden. Der Kaiser von Rom taugt ebensogut als Bispelfigur für menschliche Überheblichkeit wie ein Parabel-Kater hinterm Ofen (Herrand von Wildonie: Der nackte Kaiser; Die Katze). Der Stricker kleidet den Bauernaufstand der Gäuhühner in eine Allegorie, die für jede andere Unsicherheit in dieser Welt eintreten könnte. Aber gerade das Punktuelle hebt die Allgemeingültigkeit wieder auf; man sieht jeweils den andern im Zerrspiegel und freut sich, daß man selbst nicht gemeint ist. Die Gestalt des „Toren", des a-sozialen Typs, der aus dem gottgewollten Ordo heraustritt und sich seinen eigenen, närrischen Ordo schafft, wird jetzt zur Leitfigur. Strickers Mären stellen ihn mit sachlichem Humor in vielerlei Spielarten dar, er präsentiert sich auch selbst als rechthaberischer Verkünder seines neuen Standes (Der Weinschwelg; der Schlemmer in Steinmars Herbstlied), er erscheint als statisches Bild im Ornat seiner Widersinnigkeit (der junge Helmbreht in der Haube), später agiert er im Fastnachtspiel und geht dann ein in die Kataloge der Narrenliteratur (s. d.) des 15. und 16. Jh.s. Sein Gegenspieler, wenn er überhaupt einen hat, ist der gerissene Betrüger, aber auch er gehört mit zu den Narren. Dem Stricker gelingt es im Pfaffen Amis noch einmal, mit der Technik der „Reihenepik" eine fast plastische Großform um diesen Typus zu schaffen. Was dabei erreicht wird, ist humorvoll-skeptische Weltlaufdiagnose; anders als beim Reinhart Fuchs erwartet man hier keine aggressive politische Tendenz im Besonderen mehr. Im

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spätmal. Eulenspiegel verteidigt nur noch die gerissene Primitivität ihr närrisches Recht in einer Welt von Narren. Die Bispeldichtung kann aber auch in aktuelle Zeitkritik umschlagen. Der sogenannte Seifrid HelbHng spiegelt als „kleiner Lucidarius" in der Form von Auskunft-Gesprächen die politische und gesellschaftliche Gegenwart Österreichs zur Zeit Rudolfs von Habsburg, ist zugleich aber auch Satire auf den Lauf der Welt, an der man mancherlei auszusetzen hat. Die „Torenliteratur" in epischen und dramatischen Kleinformen ist aber im Grunde wiederum nur ein Bereich der die spätmal. Lit. beherrschenden Didaktik. Diese versucht die Welt immer noch als geordnetes und begrenztes Ganzes zu fassen, wo jedes Einzelne seinen festen und sinnvollen Platz hat. Tugend- und Lasterschemata, die immer mehr an individueller Plastizität verlieren, werden durch die Jh.e weitergereicht, Standespflichten und Standestorheiten werden kategorisiert, jede Standespervertierung (Bauer als Ritter, verbauerte Ritter, Abweichungen in der Kleidertracht usw.) erscheint als ein Symptom der Endzeit. Die Neigung, das Lehrhafte in großen Summen zusammenzufassen, herrscht im Lat. und Dt. (Thomasins Welsdier Gast [1216], das Speculum maius des Vincent von Beauvais [Mitte 13. Jh.], das Schachbuch des Jacobus de Cessolis [Ende 13.Jh.] und seine dt. Nachdichtungen, Hugo von Trimberg, Der Renner [Ende 13. Jh.], Des Teufels Netz [Anf. 14. Jh.], Hans Vintlers Blumen der Tugend [1411, nach ital. Vorbild] usw.). Auch die Gelegenheitsdidaktik erscheint seit Freidank und Reinmar von Zweter vielfach in Gesamtausgaben, die die lehrhaften Gegenstände in einer Rang- und Sachordnung als Summa darbieten. In ähnlicher Weise wird die moralisch-halballegorische Epik zum Speculum mundi, sei es im Rahmen einer Legende (Rudolf von Ems, Barlaam) oder einer dörperlichen Satire (Wittenwilers Ring). Bis in die Sprache hinein wirkt die Neigung zur vollständigen Aufzählung. Stände und Pflichten, Werte und Unwerte, Tugenden und Laster sind in ein gewissermaßen verzunftetes System eingefangen, das nichts ausläßt und allem seinen Platz anweist. Aber gerade dadurch wird alles Besondere nivelliert, alles Individuelle ausgelöscht. Schon in der Weltklage des Stricker Reallexikon III

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ergeben die, gewiß als aktuelle erfahrenen, Gravamina einen Katalog, der sich mit ähnlich monotoner Vollständigkeit in der zeitkritischen Didaktik von zwei Jh.en wiederholt. Dabei gewinnt das beharrliche Thema von M e m e n t o m o r i und letztem Gericht wieder unmittelbare Aktualität. Dagegen schützt auch nicht die metaphysische Nestwärme einer intimen Marien- und Heiligenverehrung, die literarisch in einer breiten, seit der Legenda aurea auch zur Summa systematisierten Legendendichtung wirksam wird und im Kapellenkranz der Stadtkirchen den Raum für ein bürgerliches, religiösgesellschaftliches Jahresbrauchtum schafft. Den Umschwung der Zeitstimmung vom Thüringen des Landgrafen Hermann zu dem der hl. Elisabeth und der Bettelorden erkennt man beispielhaft an der Parabel vom schlafenden Kind hinterm Deich im Rätselstreit des Wartburgkrieges (Simrock Str. 2936). Die Erschütterung, die 1322 im gleichen Thüringen Landgraf Friedrich bei der Aufführung des Spiels von den zehn Jungfrauen erfuhr, zeigt etwas von der unmittelbaren „politischen" Wirkung, die vom Weltgerichtsthema ausgehen konnte. In der Geißlerbewegung (Mitte 14. Jh.) artet diese Wirkung zur Massenpsychose aus. Die Totentänze schließlich stellen eine auf Bild und Spruch zusammengedrängte Stände-Summa unter das Zeichen der alles gleichmachenden Vergänglichkeit. Zu §§ 15-18 s. Literatur und Geschichte § 10. — Helmut de B o o r , Die dt. Lit. im späten MA. Zerfall u. Neubeginn (1250-1350) (1962). — Zu den einzelnen Namen s. Verf. Lex. — Zu Neidhart u. der Kleinepik s.: Dörperlidie Dichtung; Novellistik, mhd. — Günther C u r r l e , Die Kreuzzugslyrik Neidharts, Tannhäusers u. Freidanks u. ihre Stellung in d. mhd. Kreuzzugslyrik. (Masch.) Diss. Tübingen 1957. W. M o h r , Tanhusers Kreuzlied. DVLG. 34 (1960) S. 338-355. Walther R e h m , Kulturverfall u. spätmhd. Didaktik. ZfdPh. 52 (1927) S. 289-330. — Alfred K r a c h e r , Herrand von Wildonie, Politiker, Novellist u. Minnesinger. Blätter f. Heimatkde. 33 (Graz 1959) S. 40-53. Friedr. N e u m a n n , Meier Hclmbrecht. WirkWort 2 (1951/1952) S. 196206. Hanns F i s c h e r , Gestaltungsschichten im Meier Helmbrecht. PBB. 79 (Tüb. 1957) S. 85-109. Rieh. B r i n k m a n n , Zur Deutung υ. Wittenwilers 'Ring'. DVLG. 30 (1956) S. 87231. Jos. S e e m ü 11 e r , Seifried Helbling, hg. u. erkl. (1886). Ders., Studien zum Kleinen Lucidarius. SBAKWien 102, 1882, S. 56712

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674. Anton W a l l n e r , Seifr.H. ZfdA. 72 (1935) S. 267-278. — Hans T e s k e , Thomasin von Ζerklaere. Der Mann u. s. Werk (1933; Genn. Bibl. Abt 2 Bd. 34). Sr. Catherine Teresa R a p p , Burgher and Peasant in the Works of Thomasin von Zirclaria, Freidank and Hugo von Trimberg (Washington 1936; The Cathol. Univ. of America. Studies in German 7). — Friedr. N e u m a n n , Meister Freidank. Wirk.Wortl (1950/1951) S. 321-331. Hermann G u m b e l , Brants 'Narrenschiff u. Freidanks 'Bescheidenheit'. In: Beitr. z. Geistes· u. Kulturgesdi. der Oberrheinlande, Franz Schultz z. 60. Geb. (1938) S. 24-39. — Gustav E h r i s m a n n , Hugos v. Trimberg 'Renner' u. d. mal. Wissenschaftssustem. In: Aufsätze z. Sprach- u. Lit.gesch., Wilh. Braune dargebracht (1920) S. 211-236. Fritz V o m hof, Der 'Renner" Hugos v. Tr. Beiträge z. Verständnis d. nadihöf. dt. Didaktik. Diss. Köln 1959. Franz G o t t i n g , Der 'Renner' Hugos v. Tr. Studien z. mal. Ethik in nadihöf. Zeit (1932; Fschgn. z. dt Spr. u. Dichtung 1). — Hellmut R o s e n f e l d , Die Entwicklung der Ständesatire im MA. ZfdPh. 71 (1951/1952) S. 196-207. — Julius P e t e r s e n , Das Rittertum in d. Darstellung des Johannes Rothe (1909; QF. 106). — Eberhard D ü n n i n g e r , Polit. u. eesdiiditl. Elemente in mal. Jenseitsmsionen bis z. Ende des 13. Jh.s. Diss. Würzburg 1962.

§ 16. Bewahrung der höfischen und herrscherlichen Leitbilder und eines gesellschaftlichen Rituals —: darin liegt die polit. Funktion der nachlebenden h ö f i s c h - r i t t e r l i c h e n D i c h t u n g s g a t t u n g e n . Die Wirkung geht in die Breite, umfaßt weitere soziale und landschaftliche Räume, und die Erfüllung der Formen wird wörtlicher genommen. Der Minnesang an den nord- und ostdt. Höfen, die kultivierte höf. Epik in Braunschweig (Berthold von Holle) und in Böhmen (Ulrich von Etzenbach, Heinrich von Freiberg) dient der Repräsentation einer nachgeholten höf. Kultur. In anderer Weise gilt das auch für die spätere Deutschordensdichtung (s. d.); ihr Thema ist streng dienstlich, geistlich, aber in ihrer bewußt gepflegten Form vom Vers und Sprache bis zur Gestaltung der Handschriften erfüllt sie höfische Ansprüche. Restauratives Selbstbewußtsein der Stadt kommt unmittelbar schon in Rudolfs von Ems Patrizierdichtung Der gute Gerhard zum Wort, mittelbar darin, daß Konrad von Würzburg seine breite Produktion ebenso unpolitischer wie bis zum Manierierten höfischer Erzähldichtungen auf städtische Auftraggeber gründen kann. Die geschichtssymbolische Erzähldichtung

wird immer mehr zum Modell eines vorbildlichen herrsdierlichen und höfischen Daseins. Auch sie nimmt Summa-Charakter an und übergreift die ganze Welt; auch der Kampf gegen die Heiden gehört seit Wolframs Willehalm zu ihrem unvermeidlichen Repertoire. Wolfram ist für die Epiker wie die Spruchdichter das große Vorbild einer weltumfassenden Laienbildung und -gelehrsamkeit. Albrechts Jüngerer Titurel (um 1275) galt schon um die Jh.wende 1300 als Wolframs Werk, und in diesem haubt ob teutschen buchen fand Rittertum und Adel bis ins 15. Jh. alle Vorbilder und goldenen Lebensregeln, derer man zu einem vornehmen Leben bedurfte. Das poetische Spiel geht ohne Grenze in die Wirklichkeit über an den Fürstenhöfen, beim Adel und in den Städten: die Venusfahrt Ulrichs von Lichtenstein; die von Heinrich von Freiberg bedichtete Turnierfahrt des Johann von Michelsberg; der Magdeburger Gral; Gral-, Artus- und Titurel-Gilden in den Städten; der nachgebaute Graltempel in Ettal (Ludwig der Bayer) und Prag (Karl IV.). — Auch die hochmal. Dichter waren auf Auftraggeber für das Zustandekommen ihrer Werke angewiesen; jetzt aber werden gerade die repräsentativen Werke zum Mittel politischer Huldigung, und, vom Empfänger her gesehen, der politischen Repräsentation. Schon Rudolf von Ems steigt mit dem Wilhelm von Orlens, dem Alexander und der Weltchronik zum Hofdichter der Söhne Friedrichs II. auf (die Widmung der Weltchronik an König Konrad IV. steht bezeichnenderweise an der Stelle, wo zu Beginn des 5. Weltalters mit David das Königtum in die Weltgeschichte eintritt, V. 21518 ff.). Albrechts Titurel sollte Ludwig den Strengen von Bayern in sein königliches Amt geleiten, die Widmung unterblieb, als statt seiner Rudolf von Habsburg gewählt wurde. Der Alexander Ulrichs von Etzenbach war als königliches Buch für Ottokar von Böhmen bestimmt und wurde nach dessen Tode seinem Sohn Wenzel gewidmet. Von da ist der Weg nicht weit zum polit. Schlüsselroman, in dem ein ideales Herrscherleben zum huldigenden Symbol und schließlich ausdrüddich zur symbolischen Vorgeschichte eines gegenwärtigen Herrschers wird. Die Reihe der „Wilhelmsromane", vom Wilhelm von Orlens Rudolfs von Ems zum Wilhelm von Wenden Ulrichs

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Politische Dichtung von Etzenbach und Wilhelm von Österreich Johanns von Würzburg gehört in diesen Zusammenhang.—Der „geschichtliche Raum", in dem die Handlung der geschichtssymbolischen Epen spielt, ist zumeist der einer vagen prähistorischen Vergangenheit des gegenwärtigen Weltstatus, wie schon in Wolframs Parzival. In Albrechts Titurel sucht er Anschluß an einen weitgespannten Zeitraum der Weltgeschichte. Etwas Einmaliges ist es, wenn im Lohengrin (um 1280) die Gralssippe in die aus der Sächsischen Weltchronik entlehnte „Wirklichkeit" der Zeit Heinrichs I. gestellt wird und damit eine näherliegende, geschichtlich verbürgte Vergangenheit das Idealbild einer gerechten und kraftvollen Königsherrschaft liefert, das der Gegenwart des Interregnums als mahnendes Vorbild gegenübertritt. Die freie Epik nähert sich der Chronik — das gilt audi für die Heldenepik (Dietrichs Flucht) —, umgekehrt übernimmt die Chronik die Darstellungsmittel der höf. Epik und wird zum historischen Roman. Friedrich S e n g l e , Die Patrizierdichtung 'Der gute Gerhard:. DVLG. 24 (1950) S. 53-82. Ludwig W o l f f , Welfisch-Braunschweig. Dichtung d. Ritterzeit. Jb. d. Ver. f. nddt. Sprfsdig. 71-73 (1948/1950) S. 68-89. Gerh. E i s , Die sudetendeutsche Lit. d. MA.s. Ostdt. Wissenschaft Bd. 6 (1959) S. 71-116. — George Cary, The medieval Alexander. Ed. by D. J. A. Ross (Cambridge 1956). — HannsFriedr. R o s e n f e l d , Zum 'Wilh. v. Wenden' Viridis v. Eschenb. Neophil 12 (1927) S. 173186. — Otto H ö f l e r , Ulrichs v. Lichtenstein Venusfahrt u. Artusfahrt. In: Studien z. dt. Philologie d. MAs. F. Panzer z. 80. Geb. (1950) S. 131-152. Ludw. W o l f f , Das Magdeburger Gralfest Bruns von Schönbeck. Nddt. Zs. f. Volkskde. 5 (1927) S. 202-216. Theod. H i r s c h , Über den Ursprung der Preuß. Artushöfe. Zs. f. Preuß. Gesdi. u. Landeskde. 1 (1864) S. 3-32. Weitere Lit.: s. 'Artushof, Reallex. z. dt. Kunstgesch. hg. v. O. Schmitt 1 (1937) Sp. 1134. § 17. In der dt. R e i m c h r o n i k (s. Chronik) begegnet Geschichte nicht wie im höf. Roman in einer symbolischen oder allegorischen Vorzeithandlung, sondern als Wirklichkeit eines episch gestalteten Geschichtsablaufs, der mit dem Ubergang von der Weltchronik zur Regionalchronik ein überschaubares Stück selbsterlebter oder doch unmittelbar in der Erinnerung haftender Geschichte umfaßt. Das ergibt entweder dynastische Geschichte (Braunschweiger Reimchronik, bis 1292; Ernst von Kirchberg,

Mecklenburgische Reimdironik, bis 1329; Gelres Chroniken der Grafen von Brabant und Holland, um 1370, u. a. m.), oder Landesgeschichte im Verband der Reichsgeschichte (Ottokars österreichische Reimdironik, bis 1309), oder reichsgeschichtlich tropierte Ordensgeschichte im Geist der alten Kreuzzugsepik von Art des Rolandliedes (Nicolaus von Jeroschin, um 1340), in einem Sonderfall Welt- und Landesgeschichte als unterhaltsames Lesebuch erbaulicher, novellistischer und anekdotischer Geschichten am Rande der Geschichte — chronikalisches Gegenstück der unpolitisdien, bürgerlich-höfischen Erzählkunst Konrads von Würzburg (Jansen Enikel, Weltchronik und Fürstenbuch, letztes Viertel des 13. Jh.s). Ottokars österreichische Reimchronik verdient in diesem Zusammenhang besonderes Interesse. Sie versucht, Geschichte der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit aus ihren politischen Motiven zu verstehen, ohne daß ein beharrlicher Parteistandpunkt das Blickfeld einengt. Wo die genaue Einsicht fehlt, tritt episches Kombinationsvermögen ein und schafft einen lückenlos motivierten historischen Roman. Die Mittel lebendiger, epischer Vergegenwärtigung nimmt Ottokar aus dem höfischen Roman, die Genauigkeit, mit der die epische Bildfläche bis zum Rande ausgefüllt ist, entspricht dem Zeitstil, jedoch das Darstellungsmittel, das ihm vor allem ermöglicht, einen pragmatischen Nexus des historischen Ablaufs über fast 100 000 Verse durchzuhalten, findet sich ün höf. Roman nur gelegentlich, und zwar gerade da, wo dieser „Politisches" darstellt: die große politische Rede und die Aussprache im Rat. Ottokar läßt vor allem in solchen Redeszenen das politische Handeln aus seinen vielfältigen Bedingungen hervorgehen, seien es alte Rechte, weit in die Vergangenheit zurückreichende Ereignisketten, persönlicher Ehrgeiz oder persönliches Versagen, sei es das Abwägen des Kräftespiels politischer und sozialer Machtordnungen. Dabei kommt eine Geschichtsdarstellung zustande, die der nordischen Königssaga ähnlich ist, im Faktischen nicht selten ungenau, aber ein fast überdeudiches Abbild der Personen, Kräfte und Tendenzen, die Geschichte machen: Fürstliche und bischöfliche Landesherrschaft in Österreich und Salzburg im Zusammenspiel mit dem Reich und mit Rom, Einwirken der Nachbarn Bayern, Böhmen und Ungarn, Konflikte der Landesherrschaft mit den „Landherren" in der Steiermark und Kärnten, der mächtigen Abtei Admont und der Stadt Wien, das ganze durchsetzt von Reichsgeschichte und einer Reihe von weltgeschichtlichen Ereignissen wie dem Untergang der Staufer, dem Fall Akkons, dem Aufstand der flandrischen Städte gegen Philipp von Frankreich. Die absoluten geschichtstheologischen Werte und der Rang des Ordo der Herrschenden werden noch anerkannt, 12*

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sogar das Bild des „edlen Heiden" gilt noch — die Geschichte bestätigt angeblich Wolframs dichterische Konzeption —, aber alle idealen Motive wirken sich im pragmatischen Kräftespiel aus, das um seiner selbst willen sinnhaltig ist, selbst wenn es wie beim Verlust Akkons, beim Fall Ottokars von Böhmen oder bei der Ermordung König Albredits tragisch ausgeht. Es entsteht der Eindruck, daß die Katastrophen vermeidbar wären, wenn die Mächtigen die Einsicht walten ließen, die der Darsteller der Ereignisse besitzt. Im einzelnen vermittelt die Chronik einen sehr genauen Einblick in die Institutionen, in denen Politisches ausgehandelt wird, Rat und Schiedsgerichtsbarkeit Auf diese legt Ottokar besonderen Nachdruck, denn wenn er eine Tendenz verfolgt, so ist es die, zu zeigen, daß ein gerechter, schiedlicher Ausgleich im Sinne von frtde, suone, friuntsdiaß und minne Konflikte ausschalten und überwinden kann. Dies Motiv hatte seit dem Ruodlieb im höf. Roman eine nicht unbedeutende Rolle gespielt; jetzt ist es zum Leitthema einer Geschichtsdarstellung geworden. Ottokars österreichische Reimchronik, hg. v. Joseph Seemüller (1890-1893; MGH. D t Chron. 5) (wichtige Einleitung). Walter H e i n e m e y e r , Ottokar v. Steter u. d. höf. Kultur. ZfdA. 73 (1936) S. 201-227. Maja L o e h r , Der Steierische Reimchronist: her Otacher ouz der Geul. Mitdgn. d. Inst. f. österr. Geschichtsforschg. 51 (1937) S. 89-130. — Otto B r u n n e r , Das Wiener Bürgertum in Jans Enikels Fürstenbuch. In: Brunner: Neue Wege der SozUdgeschichte (1956) S. 116-135. § 18. Die p. D. des späteren MA.s, die in direkter Weise politische Funktionen ausübt, zu Zeitereignissen Stellung nimmt oder sie als Aktualitäten berichtet, findet sich vor allem in der liedhaften Spruchdichtung (s. d.) der „wandernden Literaten" (de Boor) und in der didaktischen rede (s. d.), später in der Heroldsdichtung (5. d.) und im historischen Lied (s. d.). Die Gattungen, die jetzt auftreten, verkörpern den Typus der polit. Z w e c k d i c h t u n g als Preis und Schelte von Höfen und Fürsten, Totenklage und Zeitlied reiner als je zuvor. Das gleiche gilt für den Typus der Dichter, die einen Berufsstand außerhalb der „natürlichen" Stände bilden und in erbittertem Konkurrenzkampf bestimmte Funktionen in einem politischen und gesellschaftlichen Ritual ausüben. Sie reflektieren selbst über die Aufgaben, die sie in ihrem orden zu erfüllen haben (Heinrich von Meißen [Frauenlob], Str. 186-188: Apologie des Fürstenlobs; Der Unverzagte III, 8: Politische Wirkung von Preis und Rüge; Friedrich von Sonnenburg I, 7-10: Sittliche Rechtfertigung des Gehrens). Noch Peter

Suchenwirt faßt sie zu Ende des 14. Jh.s folgendermaßen zusammen: Durch notdurft meinez leibs nar Nam ich der piderben Herren war. Als gerndem orden wol antzimpt, Der gut durich got, durich ere nympt Und chunst bescheidenlichen phligt, Der piderben Herren ere wigt Für die pösen wirdichlich (XXIX, 3 ff.). Was bei Walther aus Ethos, Leidenschaft und Begabung zum persönlichen Schicksal zu werden scheint, begegnet bei den Späteren als Amt und kollektives Standesschicksal. Macht die spätmal. Zeitdichtung das, was das Hochma. als einmalige persönliche Leistung (Walther) oder als dichterisches Idealbild (Schwertleiten, Tumierbeschreibungen und Totenklagen in der höf. Epik) ausgebildet hatte, zum gesellschaftlichen Ritual der Höfe und Ritterorden, oder setzt sich in ihr eine uralte, vorliterarische Tradition der politischen Zweckdichtung in zunftmäßigen Formen des literar. Betriebs fort? Wahrscheinlich wirkt das eine in das andere hinein. Die Typen des persönlichen Preis- und Rügeliedes und der allgemeinen Hoflehre und -kritik innerhalb der liedhaften S p r u c h d i c h t u n g geben unmittelbar als p. D. nicht viel her. Die Kategorien des Lobens- und Tadelnswerten wiederholen sich monoton: tugent, ere, höfischeit, milte, bescheidenheit auf der einen Seite, schände und gitekeit auf der andern, hier die Forderung nach würdigen und ehrenwerten Männern im Rat, dort die Abwehr der Schmeichler und Zuträger. Die polit Wirkung hegt wahrscheinlich weniger im Besonderen der Lehre als in dem Faktum selbst Es bedeutete etwas für das Ansehen eines Hofes, wenn ihm eine Spruchreihe wie die Frau-Ehre-Strophen Reinmars gewidmet wurde, es kompromittierte ihn, wenn ihn eine Rüge traf, auch wenn, wie bei den Rügestrophen üblich, kein Name genannt wurde. Audi hier sind es jetzt vor allem die Höfe des Ostens und des Nordens bis nach Dänemark, an denen die Spruchdichter ihr Amt ausübten. Die Propaganda der Hofesehre durch die Fahrenden war selbst ein Politicum. Noch Jörg Kienast empfiehlt sich 1518 in seinem Straßburger Wappenspruch als Verbreiter des Ansehens der Stadt an den Höfen, die er als Fahrender besucht Gezielte p. D. hält sich weiterhin an Gegenstände der großen Politik und verliert ihren Blick für das Wesentliche keineswegs: Friedrichs II. Konflikt mit seinem Sohn Heinrich (Reinmar, Hardegger), der Mainzer Landfriede von 1237 (Reinmar), Abkehr von Friedrich II. nach seiner Absetzung durch den Papst (Reinmar, Der von Wangen, Friedrich von Sonnenburg), Klage über die zerstörte Ordnung während des Interregnums, Hoffnung auf den starken Kaiser, der sie wiederherstellt, Wahlpropaganda für verschiedene Anwärter, Gegenpropaganda gegen

Politische Dichtung die „Pfaffenkönige" (Meißner, Manier, Sigeher, Helleviur, Kelin), Hoffnung auf Konradin und Ersdiütterung durch sein Ende (Manier, Meißner; rückblickend Der Schulmeister von Eßlingen), politische Hoffnungen auf Ottokar von Böhmen (Sigeher, Friedrich von Sonnenburg, Meißner), Enttäuschung über Rudolfs von Habsburg neuen Herrschaftsstil (Schulmeister von Eßlingen, Stolle, Der Unverzagte) und spätere Anerkennung Rudolfs (Konrad von Würzburg, Rumelant, Boppe, Friedrich von Sonnenburg). Von den Themen und Gesichtspunkten her läßt sich der Unterschied zwischen Walthers p. D. und der der späteren Zeit kaum fassen. Eher bemerkt man in Walthers Dichtungen die Vorzeichen des „Spätmittelalterlichen", wenn man von seinen Nachfolgern aus auf ihn zurückblickt. Erschütterung und Ratlosigkeit angesichts einer in Unordnung geratenen Welt sind bei Walther ebenso stark wie zur Zeit des Interregnums. Rücksicht auf die Ansprüche der Fürsten, Abkehr von dem einen Repräsentanten des Reiches zu einem andern findet sich bei ihm wie bei Reinmar von Zweter oder Friedrich von Sonnenburg. Neue Herrschaftsfoimen erscheinen ihm als mangelnde milte ebenso wie den Dichtem, die sich anfangs nicht mit Rudolf von Habsburg abfinden konnten. Die gewisse Erstarrung der späteren Zeit ist allenfalls darin spürbar, daß die p. D. weiterhin an den Leitbildern des sakralen Herrschertums wie des ritterlichen Standesanspruchs festhält, anstatt sich an neuenpolit. Wirklichkeiten zu orientieren. Die kündigten sich aber schon zu Walthers Zeit an und stießen auch bei ihm auf erbitterte Abwehr. Der Unterschied zwischen der „klassischen" und der späteren Spruchdichtung liegt mehr im Stilistischen. Was Waither, auch wenn er nach objektiven Ideen und dem Tugendkanon einer festen Standesmoral mißt, in plastischer Deutlichkeit herausgearbeitet, gerät bei den Späteren in die omamentale Fläche eines Katalogs von Leitbegriffen oder in eine lückenlose Allegorie. Walther genügte eine Zeile, um den Verfall des Wiener Hofs ins Bild eines verfallenden Hauses zu fassen (24, 5), schon Bruder Wernher füllt damit zwei lange Strophen. Im 14. Jh. geht die polit. Lieddichtung der Fahrenden an die gesprochene rede der Heroldsdichter über. Bei dem bedeutendsten, P e t e r S u c h e n w i r t , tritt neben den „rituellen" Formen der Ehrenrede und Totenklage audi noch p. D. von Rang auf. Den Raum des Reiches, den er in Nr. XXXV nach dem Topos des Annoliedes (Str. 40) und Walthers (56, 38 f.) definiert als Von Leyfflant in Tusdikane, Von dem Rein in Ungerlant, füllt er in Nr. XXIX durch eine gegliederte Aufzählung fürstlicher, geistlicher und städtischer Herrschaften als lückenlose Fläche einer polit. Geographie aus: eindrucksvolles Zeugnis für ein neues, in Zentren und Gebieten denkendes polit. Raumbewußtsein. Auch oberitalienische Fehden spielen für ihn noch nicht im „Ausland". Im Politischen sieht er die schlimmste Gefahr in

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der inneren Fehde, und das Schicksal des Braunschweiger Herzogtums ist ihm das warnende historische Beispiel (XXXIII). Die Spruchrede Nr. XXXVII aus dem Jahr 1387 Von der fürsten dirieg und von des reiches steten enthält eine differenzierte politische Diagnose von hoher Warte aus: Fürsten und Städte werden ohne Parteinahme als rechtmäßige polit Gewalten anerkannt Sie müssen untereinander Frieden halten, weil sie beide vom Bauern, der sie ernährt, abhängig sind. Denn Hungersnot verschärft die soziale Spannung zwischen Arm und Reich, und ein Aufstand des Proletariats bedroht jede legitime Gewalt. Bis hierher wägt der Spruch sachlich das Spiel der polit. Kräfte ab. Dann aber glaubt auch Suchenwirt noch das Heil in der Erneuerung des sakralen Kaisertums zu finden, indem er König Wenzel mahnt, sich in Rom krönen zu lassen und als rückkehrender Friedenskaiser im Reich Recht und Ordnung zu schaffen. Das päpstliche Schisma bezieht Suchenwirt auf die europäische Gruppenbildung mit dem Reich, England, Polen und Skandinavien auf der einen, der Provence, Frankreich und den iberischen Königreichen auf der andern Seite; seine Lösung ist wieder mehr geschichtstheologisch als realpolitisch begründet: anstelle der Disordinatio von zwei Päpsten und keinem Kaiser muß das Gleichgewicht von einem Kaiser und einem Papst wiederhergestellt werden (XXXV). Desgleichen ist sein Herrscherspiegel Aristoteles r&t (XXXVIII) eine auf Politisches und Gesellschaftliches gerichtete, klug abgewogene Summa, nicht in den leeren Raum des abstrakten Moralisierens gestellt, sondern aktuell auf die Zustände nach König Wenzels Gefangensetzung (1394) bezogen. Auch die Gesellschaftskritik, die ihm kraft seines Amtes zukam, enthält scharfe Diagnosen. Er erkennt, daß die Ideale eines schönen und kriegerisch-tätigen ritterlichen Lebens durch das moderne wirtschaftliche Denken und die daraus hervorgehenden Ansprüche auf Besitzvermehrung und Wohlleben gefährdet sind (XXX, XXXI), stimmt aber nicht ein in die zeittypische Verdammung des „Pfennigs", sondern wägt ab, wo mit der neuzeitlichen Finanzkraft richtig und wo falsch umgegangen wird (XXIX). Im ganzen hat Suchenwirt, wenn auch dem gernden orden zugehörig, kraft seines höfischen Amtes noch viel politischen Weitblick. Auch er kann freilich die Maßstäbe verlieren, wenn er ζ. B. in Nr. XXVII alle Tugenden und Laster aufbietet um seine jungen Herzöge von der Getränkesteuer abzubringen. Im Gegensatz zu ihm zeigt die große Summa der Reimreden von Heinrich dem Teichner, dem Suchenwirt um 1377 einen poetischen Nachruf widmete, den völlig apolitischen Horizont des abhängigen „Bürgers" oder „Landeskindes" Bei ihm herrscht die schlichte Moral des einfachen Mannes so ausschließlich, daß trotz aller Standeskritik, trotz Parabeln und „aus dem Leben gegrif-

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fener" Beispiele aus seinem umfangreichen Werk weder das Abbild einer spezifischen Gesellschaft in ihrem Zusammenleben noch eine feste Orientierung an Tagesereignissen zu gewinnen ist. E r ist Fürsprecher der abhängigen „armen Leute", das ist seine einzige erkennbare Position. Aktuelle Polemik richtet er gegen neue Moden der Haar-, Bart- und Kleidertracht, gegen Tänze oder Musik: das sind ihm die erkennbaren Symptome der neuen Zeit, und sie fallen ihm noch ein halbes Jh. nach Rudolf von Habsburg als „Rheinischkeit" auf Als letzter der fahrenden Liedspruchsänger ist M u s k a t b l ü t zu nennen. Vom bürgerlichen Meistersinger unterscheidet ihn, daß er noch ganz und gar im Herrendienst seine Kunst ausübt; sein Zeitgenosse Michael Beheim beneidet ihn um dies GlücJc. Sein dichterisches Programm umfaßt immer noch, wie 200 Jahre vor ihm das Reinmars von Zweter, geistlidie Lieder, Minnesprüche und geseUschaftskritisch-politische Lieder. Die stereotypen Anreden — Standessummen in nuce — zeigen, wo er Gehör beansprucht und gefunden hat: ir fürsten, graven, herren, ritter, knechte, oder: werdet fürst, ritter, knechte, priester, amtlude, burger, human·. Auch bei ihm herrschen noch die allgemeinen Topoi des Lobens- und vor allem Tadelnswerten, aber er verteilt sie systematisch auf die Stände (62,63). Gelegentlich gewinnt die Zeitkritik an Konkretheit: Stede, merkt, burch, vesten und slos wirt allzomal versetzet — das ist die Folge der Verschuldung der Fürsten bei den „Wucherern" (55). Der Fürst soll sein Gesinde nicht mästen wie die Schweine sondern beschäftigen (61). Er soll sich an die Eingesessenen halten, wohlangesehenc ritter und knechte zum Rat heranziehen und den holwangen und gitzigen gesellen keine Reditsgewalt über die armen lüde geben (64). Das Konstanzer Konzil ist um der werelt nutz und nicht durch pris eingesetzt (70). Für das Reich sind die Kurfürsten verantwortlich (71). Seine Kreuzzugaufgabe konzentriert sich jetzt auf die Fahrt gegen Preußen, Polen und Böhmen. Die böhmische Ketzerei wird historisch auf Wicliff zurückbezogen, Hus' Name emblematisdi als „Gans" verdeutscht, und der Hussitenkrieg ist ein „Gänsleinrupfen" (71, 72; ähnlich Oswald von Wolkenstein, Klein Nr. 27). Noch die Reformation knüpfte an diese Schlagwortsymbolik an. Dadurch, daß die allgemeinen moralischen Kategorien auf Stände und Gruppen bezogen und in konkretem Sinn wörtlich genommen werden, entstehen Kollektiworurteile, die das spätmal. Denken nicht leicht durchbridit. Das fängt zwar schon bei Walther an, aber wirkt sich erst in der Spätzeit in vollem Maße verhängnisvoll aus. Herta G e n t , Die nihd. polit. Lyrik (1938; Dtschkdl. Arbeiten A 13). Α. S c h m i d t , Die

polit. Spruchdichtg. E. soziale Erscheinung d. 13. Jh.s. Wolfram-Jb. 1954, S. 43-109. Hugo M o s e r , Die hochmal. dt. „Spruchdichtung" als übernationale u. nationale Erscheinung. ZfdPh. 76 (1957) S. 241-268. Walther G e i s l e r , Fürsten u. Reich in d. polit. Spruchdiditung des dt. MA.s nach Walther υ. d. V. (1921; Dt. Sammlung 1). Alfons W e b e r , Studien zur Abwandlung der höf. Ethik in d. Spruchdichtung d. 13. Jh.s. Diss. Bonn 1936. Manfred S c h o l z , Der Wandel der Reichsidee in der nachwaltherschen Spruchdichtung. (Masch.) Diss. FU Berlin 1952. — Gustav R o e t h e , Die Gedichte Reinmars von Zweter (1887) (wichtige Einleitung). Edgar B o n j o u r , Reinmar v. Zweter als polit. Dichter (1922; SprDchtg. 24).—Hans-Georg F e r n i s , Die Klage um den toten Herrn. E. german. Motiv in höf. Dichtg. GRM. 25 (1937) S. 161-178. Hellmut R o s e n f e l d , Nord. Schilddichtung u. mal. Wappendiditung. ZfdPh. 61 (1936) S. 232-269. — Otfried W e b e r , Peter Suchenwirt. Studien über s. Werk (1937; Deutsches Werden 11). Anton V e i t m a n n , Die polit. Gedichte Muskatblüts. Diss. Bonn 1902.

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§ 19. Die Spruchreden der Heroldsdichter und die mit Muskatblüt auslaufende Sangspruchdichtung gehören einem dichterischen Brauchtum an, das an Amt und höfische Gesellschaft gebunden ist. Diesen genauer bestimmbaren Kreis von Amts- und Standesdichtung aber begleitet eine Lit., deren gesellschaftlicher Ort nicht so festliegt, wenn sie sich auch ζ. T. ähnlicher Formen bedient. Es gibt das ganze MA. hindurch eine lat. polit. T r a k t a t l i t . in Prosa oder Vers, die seit dem Hochma. auch als deutscher Verstraktat auftritt und die sich durch ihre Inhalte als p. D. von der breiten Masse allgemeiner Didaktik absetzt. Und es gibt seit dem 13.Jh. einedt.Gegenwartschronistik, auch zumeist in Versen, die aktuelle Einzelereignisse von einem Parteistandpunkt aus darstellt. Im 15. und 16. Jh. verfestigen sich die Formen einerseits zum gesprochenen Z e i t s p r u c h (Spruch, rede, reim, (gewicht, hofmäre, büchlin), andrerseits zum gesungenen Z e i t l i e d oder „historischen Lied" (s. d.). Aus der lat Traktatlit. heben sich einige Werke aus der Zeit Rudolfs von Habsburg heraus, in denen die Zeitstimmung des Interregnums noch nachklingt und die in der Zukunft weitergewirkt haben: Nicolaus' von Bibera Occultus (1282), dessen Pfaffenkritik die Hussiten und dann die Reformation aufgreifen, und Alexanders von Roes Memoriale de prerogativa Imperii Romane (1281), das in der Konzilszeit wieder aktuell wird und 1470 noch zum Drude

Politische Dichtung kommt Reidispolitik im Sinne Ludwigs des Bayern verficht das Ritmaticum des Lupoid von Bamberg (1341), das sofort von Otto Baldeman ins Dt. übersetzt (Von dem Römischen riche etjn clage) und dann von Lupoid Homburg für eine etwas spätere Gelegenheit bearbeitet wird. Die Fragmente eines anonymen dt. Gedichts über Ludwig den Bayern (SBAkWien 41, 1863, S. 328ff.; ZfdA. 30, 1886, S. 71 ff. und 58, 1921, S. 87 ff.) enthalten dagegen mehr allegorisch eingekleidete Ehrenreden zum Zweck höfischer Repräsentation. Die lat. polit Schriften von Konrad Megenberg reichen in die Zeit Karls IV. Zum Konstanzer Konzil sind die lat. Traktate des Dietrich von Niem zu nennen, die noch auf die 1513 in Straßburg gedrudete Geriditsallegorie in Versen, die Welsdtgattung, gewirkt haben. Mit dieser kommen wir in den Umkreis der meist zugleich lat. und dt. veröffentlichten polit. SdiriftsteÜerei des Sebastian Brant. In den meisten dieser Schriften steht immer noch die Reichsidee im Mittelpunkt; die Auseinandersetzung mit besonderen Gegenwartsproblemen gibt ihnen Zeitkolorit, aber das Denkschema ist so ähnlich, daß die früheren Werke bis ins 16. Jh. nachwirken können. Gottfried Hagen schildert 1270 als Parteigänger der Patrizier den Kampf des Kölner Patriziats gegen Erzbischof und Zünfte. Dies frühe Beispiel einer parteilichen Z e i t c h r o n i k hat schon die Nahsicht auf die Ereignisse, die dem späteren Zeitspruch und Zeitlied eigen ist, aber nodi nicht die knappe Form, die den Gegenstand auch dem nicht unmittelbar Beteiligten zugänglich macht Innere und äußere Kämpfe der Städte kommen dann in den (Prosa-) Städtechroniken zu Wort. Diese erheben noch weniger den Anspruch, Aktuelles in weiterem Umkreis bekannt zu machen, dienen vielmehr als städtische „Hausbücher" dazu, polit Traditionen, wahllos mit Anekdoten und Kuriositäten durchmischt auf Annalenweise im Gedächtnis der Stadtgemeinde festzuhalten. Mehr auf der Linie von G. Hagens Kölner Chronik liegen Michael Beheims Buch von den Wienern (1461-63), Christian Wierstraits Verschronik von der Belagerung von Neuß durch Karl den Kühnen (1475), Rainer Groningens Darstellung des miterlebten Braunsdiweiger Aufruhrs von 1488 bis 1491 und die Chronik des Schwabenkriegs 1499 von Hans Lenz aus RottweiL Manche Ereignisse werden durdi Parteidarstellungen von verschiedenen Seiten her gespiegelt so die Soester Fehde von 1477-79 (Bartholomäus van der Lake: Soest; Johan Kerkhörde: Dortmund; Gert von Schüren: Cleve). Der Straßburger Drucker Knoblochtzer publiziert um 1477 eine ganze Folge von Kriegslit. zum Burgundischen Krieg (von Hans Erhart Tüsch, Konrad Pfettisheim und die anonyme Burgundische Legende), der die Breisadier Reimchronik von 1477 gegenübersteht. Historische Grundlegung der „Türkenlit.", die in Zeitlied und Zeitsprudi von Michael Beheim bis zum Lied vom Prinzen Eugen lebendig ist bietet die Türkenchronik H« Georgius von Ungarn, die dt. als Chronica

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und Beschreibung der Türkey von Sebastian Frank 1530 mit einer Vorrede Luthers erschien. Wie Zeitspruch und Zeitlied des ausgehenden MA.s mit den bisher genannten Gattungen genetisch zusammenhängen, ist nicht sicher auszumachen. Der Spruch ist gegenüber dem Lied die stärker Iiterar. Form; bald wirkt er wie eine komprimierte Zeitchronik, bald ordnet er sich dem didaktischen Traktat, den Ehrenreden der Herolde oder den Spruchreden der Meistersinger zu. Steht der Zeitspruch der Heroldsdichtung nahe, so nutzt er noch die Darstellungsmittel der höf. Epik mit Beschreibung von Einzelkämpfen und Wappen (ζ. B. Schlacht von Göllheim 1298 bei Hirzelin und Zilies von Sayn (?); Böhmerschlacht) oder er bedient sich allegorischer Einkleidungen. Als kurzer polit. Traktat übt er Gegenwartspropaganda unter übergeordneten weltgeschichtlichen oder gesellschaftskritischen Gesichtspunkten (Thomas Prischuch und Johannes Engelmar zum Konstanzer Konzil, Jacob Stößelin zu den Mainzer Unruhen von 1428, Nyssing zum Osnabrücker Aufstand 1488-90 usw.). Die offizielle Hof- und Reichsdichtung wird noch von einem Dichterstand, der nach Amt und Brot strebt, geübt: Michael Beheim („ich aß sin brat und sang sin lied"), Jacob Vetter (nennt sich in dem Lied von König Ladislaus' Tod „aller weit spieglet"), Hanns Schneider (anfangs Sprecher des fürsten von pairn, später seiner küniglichen oder kayserlichen majestet Sprecher und poet) und andere; auch städtische Meistersinger wie Hans Rosenplüt und Hans Sachs und freie Literaten wie Sebastian Brant und Pamphilius Gengenbach beteiligen sich. Bei den Meistersingern gewinnt der polit. Spruch das Städtelob als neues, eine Untergattung bildendes Thema hinzu (Johannes Steinwert 1501 auf Frankfurt, Hans Rosenplüt 1447 und Kunz Has 1490 auf Nürnberg). Das Lied ist vor allem für den mündlichen Vortrag bestimmt. Die Töne erfolgreicher Lieder werden jahrzehntelang nachgesungen (der Winsbecken Ton reicht vom Tod des Königs Ladislaus 1457 bis zu den Türkenliedern des 16. Jh.s, der Schweizerton vom Murtenlied 1476 über den Alten gris des Schwabenkriegs 1499 bis zur Schlacht von Kappel 1531 und dem Zug der Berner zur Unterstützung der Genfer Reformierten 1534; der Toller Ton (1479) hat, als Genowerlied

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1507 und als Bemunderlied 1544 erneuert, seine innersdiweizer Geschichte, wird aber auch im Reich zum Bauernkrieg und Schmalkaldischen Krieg gesungen, sogar 1543 in Lüneburg). Muß man einerseits damit rechnen, daß Traditionen einer bisher unter der Schwelle der Überlieferung liegenden Zeitdichtung erst jetzt literar. faßbar werden, so entsteht das Zeitlied des 15. und 16. Jh.s doch aus neuen soziologischen Bedingungen: weithin ist es das Lied des Soldatenstandes der Landsknechte und Söldner, der den älteren ritterlichen Soldatenstand ablöst. Dabei wirkt die ritterliche Heroldsdichtung mit ihren Kämpferregistern, Schlachtberichten und emblematischen Motiven auf den neuen Typus ein. In den Schweizerliedem ist die ritterliche Emblematik zur Wappenallegorie der eidgenössischen Landstände und Städte umgebildet. Das schafft für die Schweiz politische Tradition und fordert bald eine Gegenallegorik der dt. Landsknechtslieder heraus. Die Kampfschilderungen sind mit soldatischen allegorischen Sarkasmen durchsetzt: der Kampf ist Spiel, Tanz, Kirchweih, die Belagerung Brautwerbung, Raubrittern wird auf der Vogelweide nachgestellt, die Feinde werden purgiert, zum Tode Verurteilte halbiert. Ein neuer Dichterstand von Amts wegen entsteht mit der Gattung nicht, die Lieder sind von Gelegenheitsdichtern geschaffen, die oft treulich bezeugen, ob sie als Teilnehmer oder vom Hörensagen berichten. An Dichternamen fehlt es nicht, doch bedeuten sie literarhistorisch nicht viel; stärker noch als die Spruchlieddidaktik nach Walther von der Vogelweide erfüllen diese Zeitlieder das überpersönliche Gesetz ihrer Gattung. Wenn bekannte Literaten (H. Rosenplüt, P. Gengenbach, N. Manuel) gelegentlich mitmachen, so ist das ein Anzeichen dafür, daß man der Gattung erhebliche polit. Stoßkraft zutraut. Zeitlied und Zeitspruch rücken im 15. und 16. Jh. nahe aufeinander zu. Nachdem Überschriften üblich werden — in den Flugblattdrucken sind sie die Vorläufer der Zeitungsschlagzeilen —, unterscheiden diese mehr die inhaltlichen als die äußeren Gattungsformen. Ein schön lied (spruch) von ... läßt einen Bericht über ein Ereignis erwarten, ein neu lied von ... bezeichnet oft Fortsetzung, Wiederaufnahme oder Gegensang zu vorausgehenden Liedern; auch zeitung, hi-

storia, geschieht meint den Bericht. Ermanung bezeichnet den polit. Aufruf in Lied oder Spruch, Warnung das Pamphlet, klage kann „Anklage" bedeuten, aber auch „Totenklage" oder satirische „Sündenklage". Alle Bericht- und Zeitungsdichtungen sind parteilich; wenn sie sich objektiv geben, so liegt auch darin Tendenz. Manche Lieder und Sprüche sind geradezu verreimte amtliche Verlautbarungen. Pamphlet, Satire und Apologie kommen häufig vor. In Spruch und Lied kommt es zu Sang und Gegensang; dabei hat der Gegensang oft apologetischen Charakter. Die Form selbst wird zum polit. Symbol. Die Bischofspartei in der Hildesheimer Stiftsfehde (1519-23) rahmt ihre Lieder mit einem Marienlob, das Gegenlied der herzoglichen Partei parodiert dies. Die Wahl des Tons Von erst so wölln wir loben Maria wendet sich mitunter gegen die Evangelischen. Im 16. Jh. bedienen sich Anhänger und Gegner der Reformation der Parodie lutherischer Choräle, und Luthers Parodie des Liedes vom Armen Judas auf Heinrich von Braunschweig findet Nachfolge. Im Verf. Lex, sind folgende Stichwörter (Namen und Titel) zu beachten: P o l i t . T r a k t a t e : Herman Bote. Günther von Mosbach. Felix Hemmerlin. Lupoid Homburg. Jörg Katzmair. Welschgattung. Heinrich v. Würzburg. Lupoid von Bebenburg. Nicolaus v. Bibera. — G e s e l l s c h a f t s k r i t i k : Buch der Rügen. Der Bauern Lob. Von dem Hurübel. Meister Ingold. Johann von Morsheim. Josep Die 7 Todsünden. Hans Ober Von dem geytzigen Mammon. Des Teufels Netz. — Z e i t c h r o n i k : Andreas v. Regensburg.Eikhart Artzt. Wolfgang Baumgartner. Herman Bote. Heinrich Deichsler. Nicolaus Grill. Rainer Groningen. Gottfried Hagen. Henning Hagen. Hermann von Wartberg. Heinrich Hug. Johann von Guben. Konrad Justinger. Johann Kerkhörde. Klesse. Chris tan Kuchimeister. Bartholomäus v. d. Lake. Hinridc Lange. Hans Lenz. Martin von Bolkenhain. Mathias Widman. Hektor Mülich. Diebold Schilling. Diebold Shilling dL J. Ulrich v. Richental. Johann Wassenberg. Christian Wierstrait. Eberhard Windeck. Andreas Zainer. Burkhard Zink. - (Bd. V:) Ernst von Kirdiberg. Konrad Pfettisheim. Lübecker Ratschronik. Breisacher Reimchronik. Johannes Rothe. Hans Erhart Tüsch. — Z e i t s p r u c h u n d Z e i t l i e d : Erasmus Amman. Michael Beheim. Der Bauern Lob. Der Bauernfeind. Hans Birker. Herman Bote. Chiphenberger. Johannes Engelmar. Peter Frey. Gabriel von Liechtenstein. Gilgenschein. Hans Glaser. Heinz Gluf. Jörg Graff. Hermann Grevenstein. Hans Gutkom. Hans Halbsuter. Hans von Anwil.

Politische Dichtung Hans von Hof. Hans von Schore. Hans von Westernach. Kunz Has. Peter HasenstandL Haspel der Fischer. Hirzelin. Ulrich Höpp. Isenhofer. Matthäus Jelin. Johannes von Soest Hans Judensint. Kempensen. Jörg Kienast. Königsberg. Hans Kugler. Johannes Kurtz. Lurlebat Martin Maier. Baltasai Mandelweiß. Konrad Mayer. Hans Möttinger. Peter Müller. Nyssing. Der Pfaffenfeind. Georg Pleidier. Pochsfleisch. Thomas Prischudi. Hans Probst. Hans Rosenplüt. Georg Sdian. Mathes Schantz. Der Schenkenbadi. Scherer von Illnau. Hans Schneider. Veit Schreiber. Konrad Silberdrat Störtebekerlied. Jacob Stoßelin. Wilhelm Sunneberg. Caspar Suter. H. Erh. Tüsdi. Heinz Überzwerdi. Ulridi υ. Württemberg (IV 614621, Zusammenstellung von Krogmann). Hans Umperlin. Nikolaus Uppsladit. Jakob Vetter. Vrischeman. Veit Weber. Peter Weiglein. Christoph Weiler. Martin Weiße. Hans Wide. Jörg Widmann. Ulrich Wiest. Hans Wispeck. Zilies von Sayn. Matthias Zoller. - (Bd. V:) Heinz Dompnig. Köne Finke. Oswald Fragenstainer. Gelre. Herzog Friedrichs Jerusalemfahrt. Jakob von Ratingen. Burgundische Legende. Günther M ü l l e r , Dt. Dichtung von d. Renaissance bis z. Ausgang d. Barock (1927; Nachdr. 1957). Hermann G u m b e l , Dt.Kultur v. Zeitalter d. Mystik bis z. Gegenreformation (1936-39; Hdb. d. Kulturgesch.) Wolfgang P f e i f f e r - B e l l i , Mönche u. Ritter, Bürger u. Bauern im dt. Epos des Spätma.s (1934). Friedr. H e e r , Zur Kontinuität des Reichsgedankens. Mittlgn. d. Inst. f. österr. Geschichtsfschg. 58 (1950) S. 336-350. — Hans Walther, Das Stegreifgedicht in der lot. Lit. des MA.s (1920; Quellen u. Unters, z. lat. Philol. d. MA.s Bd. 5,2). — Clair Hayden B e l l , Erwin G. G u d d e , The Poems of Lupoid Hornburg (Berkeley and Los Angeles 1945; Univ. of California Publ. in Mod. Philol. 27,4). Sabine K r ü g e r , Untersuchungen zum sog. Liber privilegiorum des Lupoid von Bebenberg. Dt. Ardi.10 (1953) S. 96-131. Helmut I b a c h , Leben u. Schriften des Konrad von Megenberg (1938; NDt Fschgn. 210).—Adolf B a c h , Die Werke des Vf.s der Schlacht bei Göllheim (1930; Rhein. Archiv 11). — Gerhard C o r d e s , Hermann Bote u. sein 'Köker'. In: Festschr. für Ludw. Wolff (1962) S. 287-319. — Hans G i l l e , Die histor. u. polit. Gedichte Michel Beheims (1910; Pal. 96). Theodor Georg v. K a r a j a n , Michael Beheims Buch von den Wienern (Wien 1843). Ders., Zehn Gedichte Μ. Bj zur Geschichte Österreichs u. Ungarns. Quellen u. Fschgn. z. vaterld. Gesch., Lit. u. Kunst (Wien 1849) S. 1-65. Fr. Μ o r r e , Die polit. u. soziale Gedankenwelt des Reimdichters Michael Beheim ArdifKultg. 30 (1940) S. 4-26. Hans G i l l e , Michel Beheims Gedicht 'Von der Statt Triest'. ZfdPh.77 (1958) S. 259281 u. 78 (1959) S. 50-71, 291-309. — Gustav R ο e th e, Hans Rosenplüt. ADB. 29, S. 222-232.

§ 20. Rochus von Liliencrons Sammlung Die historischen Volkslieder der Deutschen

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vom 13. bis 16. Jh., 1865-69, veranschaulicht die bedeutende Rolle der p. D. im ausgehenden MA. An Konkretheit und soziologischer Breite ist sie der p. D. der Stauferzeit überlegen, in ihrem poet. Rang erreicht sie diese nicht. Eine knappe Skizze der Themen und Motive möge sich hier anschließen; dabei wird entweder auf die Jahreszahl oder die Nr. in Liliencrons Sammlung verwiesen. Die Tradition der S c h w e i z e r l i e d e r scheint bis ins 14. Jh. zurückzureichen. Das Schweizer Selbstbewußtsein (Kantonsemblematik) prägt sich in der Schlacht von Sempach 1386, deren Lied (Nr. 34) um 1450 von Hans Halbsuter in Luzem erneuert wird. Im 15. Jh. stößt im Aargau (1415) und Thurgau (1461) die Expansion der Eidgenossen auf Widerstand. Zürich verteidigt 1443 sein österr. Bündnis mit dem Argument der rechten Obrigkeit. Vor dem Burgunderkrieg wird bei Rudolf Montigel (Nr. 129) das Legitimitätsprinzip zu einer Weltherrschafts- und Weltfriedens-Utopie von Schweizer Gnaden gesteigert. Dann folgen die Kampflieder (Granson, Murten, Nancy) von Veit Weber, Hans Viol und Mathis Zoller: Sieg des eignen Völkleins (Israel-Typus) über „gekrönte Ritter"; Karl der Kühne ein durch seine superbia gestürzter „Alexander". Der Schwabenkrieg 1499 läßt Lieder wider die Schweizer „Kühe", die „Bauemjunker", die „selber Ritter machen wollen" und sich für „beider Schwerter gnoß" erachten, entstehen. Das im Kampf gegen „Reich, Fürsten und Bund" gestärkte Selbstbewußtsein der Schweizer äußert sich in den Liedern, die die Aufnahme neuer Eidgenossen feiern (Nr. 203 Thurgauer Ritterschaft und St. Gallen 1499, Nr. 222 Basel 1501, Nr. 290 Mühlhausen 1515: die Neuen werden in das emblematische Kantonsregister einbegriffen). Im 16. Jh. ist die Spannung zwischen schweizer Söldnern und dt. Landsknechten ein Hauptthema von Schelte und Apologie. Unter der Reformation fühlen sich die kathol. Kantone in der Schlacht von Kappel 1531 als siegreiches „Häuflein klein", umgekehrt verbindet sich bei der Hilfe der Bemer für die Genfer Reformierten der Typus „Israel wider Pharao" mit der Wiederaufnahme von Motiven des Murten-Liedes. Zur Zeit des Schmalkaldischen Krieges und des Interims setzen die dt Protestanten ihre Hoffnung auf die Eidgenossen und warnen sie vor der Begehrlichkeit des Kaisers (Nr. 583, 549). Der Aufstand der Eidgenossen wird alsbald als polit. Symptom verstanden und die Bezeichnung „Schweizer" auf „Ordnungswidrige" im allgem. übertragen. Das Hofmär vom punt (Nr. 173) fürchtet, daß im schwäb. Bund eine „neue Eidgenossenschaft" entstehe, größere und kleinere Adelsherrschaft sieht in den Städten „Schweizer" hochkommen (Nr. 190 Nürnberg, 194 die „Heidingsfelder Schweizer"). Die Bauemschelte der Dörperdichtung politisiert sich an den Erfahrungen mit der Eidgenossenschaft: Nürnberger ratzgepawm (Nr. 123 b), pauren und feigensedi (190), Ritter gegen buren in der Braunschweiger Fehde (Nr. 185-187), der Graf

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von Ostfriesland ist pauren knedit (Nr. 288). Umgekehrt wird in den Schweizerliedern „Bauer" zum Ehrennamen; doch audi in den Dithmarsdier Liedern steht der Adel gegen die helde, der Goldgerüstete gegen den landman (Nr. 213220), und noch 1531 heißt es von den Dithmarschem: dat schulen buren sinΡ it mögen wol wesen herren (Nr. 434). Als „Bauern" fühlen sich audi 1516 die Anhänger des geächteten Herzogs Ulrich im Widerstand gegen Reich, Fürsten und fränkische „Raubritter". Audi ein prot. Trutzlied zum Reichstag von Speyer 1526 madit bur und ungelarder lei zum Ehrentitel. Das ist damals eine gefährlidie Terminologie, denn der B a u e r n k r i e g hat das Wort auch für die Protestanten suspekt gemacht In ihm kommt fast nur die Gegenposition zu Wort. Voraus geht der „Bundschuh" (1513), mit polemischer Lit. vor allem von Pamphilius Gengenbach, und der württemb. Aufstand des „Armen Conrad" (1514), den halbapologetische Verreimungen amtlicher Verlautbarungen von Herzog Ulrichs Seite begleiten (Nr. 285, 286). Der große Bauernkrieg von 1525 wurde ausdrücklich als Wiederholung der Schweizer Revolte verstanden (Nr. 376), und ein Scheltlied der Landsknechte auf die Schweizer in der Schlacht von Marignano wurde auf den Bauernkrieg umgedichtet (Nr. 375). Prinzipiell verdammen die. Lieder den Aufruhr gegen die gesetzte Herrschaft und propagieren Ordnung und Frieden (wichtig das Lied von „Jedermann" und „Niemand", Nr. 381). Auch die Evangelischen stimmen, gemäß Luthers Stellungnahme, darin ein (Nr. 393). Die grundsätzliche Sozialkritik der Bauern am Adel mit dem Schlagvers „Da Adam reutet und Ευα spann..." in dem Zeitspruch Der Bauern Lob liegt dem Bauernkrieg um einige Jahrzehnte voraus (Drucke in den 1490er Jahren). Audi die Lieder und Sprüche, die die Konflikte zwischen S t a d t und L a n d e s h e r r s c h a f t begleiten, argumentieren von Stand und Ordnung aus. In der jh.elangen Gegnerschaft zwischen Nürnberg und den Markgrafen hält sich beharrlich die Polemik gegen den Hochmut der Bürger, die sich herausnehmen, gegen Fürsten und Adel zu fechten. Auch Herzog Ulrich von Württemberg läßt in seiner Apologie (Nr. 318) den Städten des schwäb. Bundes ihre proletarische Handwerkerregierung vorhalten. Auf Seiten der Stadt spricht ein reichsstädtisdireichsbewußter Stolz, der gelegentlich in „schweizerische" Adelsverachtung umschlägt und den Gegner als „Raubritter" verunglimpft (Kirdivv.eih von Affalterbadi, 1502). Höheres polit. Niveau hat das Reimpamphlet von 1498 zur Auseinandersetzung Regensburgs mit dem Münchner Landesherm (Nr. 163), das die Sorge ausspridit, die Stadt könne dem Reich verloren gehen. — I n n e r s t ä d t i s c h e K o n f l i k t e zwischen Patriziat und Zünften bringen parteiliche Beridite, Pamphlete und Apologien der Gegenseite hervor, meist in der Form der Reimrede oder des Knittelversspruchs. Uber die eigne Stadt hinaus wirkt der Lüneburger Prälatenkrieg, in den sidi 1456 ein Hamburger Pasquill

zugunsten der Emigranten einmischt (Nr. 105). Reichspolitisch argumentiert nur das Pamphlet zum Kölner Zunftaufstand von 1513 (Nr. 279), das den alten Rat verdächtigt, mit Frankreich zu konspirieren: Köln, einer der „vier Bauern des Reichs", darf nicht an Frankreich geraten. — Gegen das R a u b r i t t e r t u m richten sich einige Lieder und Sprüche. Die Berennung des Hohenkrähen 1512 wird dabei zu einem Politicum, bei dem Reich und schwäb. Bund als Garanten der Ordnung auftreten. Das Ausmaß des militärischen Aufgebots macht das lokale Ereignis zum lohnenden Thema von Landskneditsliedem, die Beteiligung des Reiches fordert sogar den kaiserlichen Sprecher Hanns Schneider auf den Plan. — Die Publizistik in Lied und Spruch, die H e r z o g U l r i c h s wechselnde Schicksale begleitet, spiegelt eindringlich das Schwanken der öffentlichen Meinung. Bei Ulrichs Ächtung 1516 steht das polit Lied zu ihm und ruft Bauern und Adel zu seiner Unterstützung gegen das Reich, Bayern und den fränkischen Adel auf (Nr. 299-302). Im Jahr 1519 schlägt die Stimmung um. Eine satirische Vaterunser-Parodie stellt des Herzogs „Übermut" bloß, ein „frummer mindi" nimmt sie ernst und polemisiert gegen sie. Man wirft dem Herzog vor, er wolle König werden und warnt die „verführten Bauern". Auf den apologetischen Spruch der herzoglichen Partei (Herzog Ulrich = David/ in der Verfolgung) antwortet der Adel, indem er nicht viel moralisiert, sondern auf die Machtverhältnisse hinweist (Nr. 313-322). Im Jahre 1531 ist das Wetter wieder umgeschlagen. Jetzt ist der Bund in der Defensive. Die Dichtungen der Herzogspartei zeigen Ulrich vor Bund, Fürsten und Reich als den Sachwalter der Legitimität und machen zudem die evangelische Sache zu der seinen (Nr. 446-453). Fürsten, Adel und Städte sprechen als Wahrer des Rechts und der Ordnung zugleich für das R e i c h . In den Liedern und Sprüchen, die vom dt. König ausgehen oder sich an ihn wenden, steht die Reichsidee noch ganz unter dem sakralen Denkschema. In Th. Prischudis wirrem Traktat vom Konstanzer Konzil (Nr. 50) erscheint König Sigmund anfangs realpolitisdi gesehen als König und Fürst seiner östlichen Länder, am Ende jedoch in dem welthistorisch-sakralen Bilde des wiedererstandenen Moises. Ulrich Höpp feiert in seinem Programmspruch zum Türkenreichstag zu Regensburg 1471 Kaiser Friedrich III. als den, der mit Karls Insignien und der vom Himmel gesandten Krone in Rom gekrönt wurde, der durch seine Reformatio Freiheiten und Rechte im Innern herstellte und in seiner Jugend zum hl. Grab gezogen ist: jetzt steht ihm der Kreuzzug wider die Türken bevor. Seine Mißerfolge sind als Prüfungen stilisiert, die ihn David und Alexander gleichmachen (Nr. 126). Die gleiche Tendenz setzt sich 1492 fort in den Sprüchen Hanns Schneiders und Seb. Brants, die Maximilian als „neuen Alexander" zum Sieg über Frankreich und dann zum Türken- und Jerusalemzug auffordern (Nr. 181-183). 1507, vor Maximilians Romzug, nimmt H. Schneider den Spruch Höpps wörtlich wieder auf (Nr. 250), und

Politische Dichtung noch einmal dichtet ihn 1518 Jörg Graff nach fast einem halben Jh. auf den prophetisch vorherbestimmten Türken- und Heidenbezwinger Maximilian um (Nr. 306). Es sind immer noch die Leitmotive der Kaiserdichtung der Stauferzeit, jetzt eingeebnet in die trockne Beredsamkeit der Knittelreime. Sogar vor dem Schmalkaldischen Kriege, 1546, richten die Protestanten noch eine Warnung an Karl V., in der „Papst" und „Kaiser" einander strophenweise gegenübertreten wie in Walthers Ottenton (Nr. 525). — Zumal wenn die Herrschaft wechselt, schlägt die Reichsideologie in U t o p i e um. Wie nach König Sigmunds Tode die Reformatio Sigismund* ihr radikales Reformprogramm formuliert, so erhofft man 1519 nadi der Wahl Karls V. die Dämpfung der Pfaffen und Mönche, Befreiung von Zins und Fron, Reichslande statt der Fürstenbünde und geistl. Herrschaften und Befreiung des Reichs vom welschen Erbfeind, dem Papst (Nr. 343). Zweifel an Sinn und Macht des Reiches kommt nur selten zu Wort; eine prinzipielle Satire wie die auf König Wenzels Landfrieden von 1378 (Nr. 41) wird später nicht mehr laut. Jede Sicherung der Ordnung im Inneren, jeder erwartete oder eingetretene außenpolitische Erfolg (gegen Burgund, Frankreich, Venedig) löst den Gedanken aus, daß das Reich nun frei ist zum Kreuzzug wider die T ü r k e n . Er gehört im 15. und 16. Jh. zum imperialen Programm des Kaisers und wird sakral motiviert, audi wenn die Türken vor Wien stehen. Haben sie es doch, ähnlich wie weiland Wolframs Terramer auf den stuol ze Ache, auf die hl. drei Könige von Köln abgesehen (Nr. 348). Die Aufrufe richten sich an die Stände des Reichs; noch ein Lied von 1532 entfaltet die Stände-Summa zu einem realistischen Bilde der damaligen politischen und militärischen Kräfte: Kaiser, Reich, Bund, Fürsten, Landherren, Ritterschaft, Adel, geistliche Herren, Reichsstädte, christl. Regenten, Reitersknaben, Hauptleute, Büchsenmeister, Landsknechte, Bauern (Nr. 439). Man sieht: an den inneren Kreis der Reichsstände fügen sich immer noch die christlichen regtdi (jetzt vor allem die von Böhmen, Ungarn, Polen); neu hinzugekommen sind die nicht ritterlichen Berufssoldaten, schon nach Waffengattungen unterschieden. Bezeichnend für das 16. Jh. ist der Ubergang des Reichsbewußtseins in ein dt. N a t i o n a l b e w u ß t s e i n . Die Türkengefahr ist daran mitbeteiligt; das erste d t Nationallied Frisch auf in Gottes Namen (1540, Nr. 469) ist in der Tat ein Türkenaufruf; doch ebenso stark wirkt der Gegensatz zu Frankreich, Burgund, Venedig und Rom, und das lokale Vaterlandsgefühl in der Schweiz ruft bei den dt. Landsknechten ein reichsbewußtes Nationalgefühl hervor. Der eigentliche Wortführer im Innern wird aber der Protestantismus. In dem Bestreben, nicht als „schweizerische Aufrührer" zu erscheinen, machen die Reformierten die Sache der inneren Ordnung zu der ihren und prägen dabei ein neues Bild des Reichs als Teutscher Nation, die in Abwehr des welschen Erbfeinds und Anti-

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christs in Rom christliche Freiheiten und Rechte gewährleistet. Die evangelische Pamphletlit in Spruch und Lied gibt sich vielfach als Ermanung und Warnung an den Kaiser und die Reichsstände mit der Tendenz einer nationalen Friedensordnung: gelegentlich extrem „demokratisch", wie in dem Warnlied des Paulus Speratus zum Augsburger Reichstag 1530 (Nr. 422), das sich auf die große Masse des evangel. Volkes beruft: nicht nur die herrschenden Stände sind das „Reich"; häufiger jedoch in dem Bewußtsein, als kleines Häuflein der Macht der Tyrannen ausgesetzt zu sein wie Israel den Ägyptern und allein aus dem Evangelium die Kraft wider die „weltlichen Potentaten" zu schöpfen (Nr. 470). Vor dem Ausbruch des Schmalkaldischen Krieges werden die nationalen Töne lauter: Teutsch nation, Vaterland, deudsche christen, liebhaber des evangeliums und der freiheit der deutschen nation sind die Schlagwörter. An die Stelle des Reichssymbols tritt die Allegorie der Germania, die Herrscherreihe der Translatio-Idee wird humanistisch ersetzt durch Ariovist, Arminius, Friedrich Barbarossa und Georg Frundsberg, die jetzt über das heutige Deutschland im Totengespräch Gericht halten. Die Stände des Reiches stellen sich unter ihr eigenes Recht; ist der Kaiser „Pfaffenknedit" und „Papstes Amtmann", so haben die Deutschen nichts mit ihm zu schaffen (Joh. Schradin, Nr. 521, 522). Bei Hans Sachs ist der „treue Eckhart" allegorischer Redepartner Deutschlands (Nr. 520). Ein neues historisches Bewußtsein verfolgt die Vorgeschichte der Gegenwartskonflikte bis zum Investiturstreit zurück. Immer wieder taucht das Tyrannenregister (Cain, Pharao, Saul, Nero, Domitian u. ähnl.) auf (Nr. 526-530). Dem „kleinen Häuflein" wird es glücken wie einst dem David gegen Goliath; „secht, wies den Hussiten geglückt", wagt Peter Watzdorf zu sagen in seiner Vermanung an alle christlichen stende; dabei sind aus den Reichsständen die christlichen Stände geworden, und sie treten in „demokratischer" Ordnungslosigkeit auf: heuptleut, adel, bürger, bawern, fürsten, prediget (Nr. 544). Die Gegenpropaganda von kaiserlicher Seite muß sich auf die neuen Argumente einstellen. Sie beruft sich auf die Erfolge des Kaisers in der Abwehr der Türken; auf seiner Macht beruht das Bestehen des „Vaterlandes"; in die Glaubensfragen will er sich nicht einmischen, er will nur Ausgleich schaffen und den inneren Frieden sichern (Nr. 531-533). Zeitlied und Zeitspruch machen sich seit dem Ende des 15. Jh.s das neue Mittel der Publizistik, den Drude, zunutze; nach der Erfindung des Buchdrucks erscheint das meiste von ihnen als Flugschrift (s. d.). Aber als Gattungen, die von Haus aus für den mündlichen Vortrag bestimmt waren, ist ihre Zeit abgelaufen, nachdem sich der literar. Verkehr auf den Schriftsteller und seine Leser umgestellt hat. Literarsoziologisch liegt an dieser Stelle die deutlichste Grenze zwischen MA. und Neuzeit. Die Flugschriften und

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Drucke der Reformationszeit in Form von Prosa-Pamphleten, -Traktaten und -Dialogen haben diese Grenze überschritten. Das Lied hat mehr Zukunft als der Reimspruch. Soweit es vom Vortragslied zum gemeinsam gesungenen Lied geworden ist, bewahrt es einige seiner polit. Funktionen und gewinnt sogar neue hinzu. Die Geschichte des Soldatenliedes (s. d.) hört mit den Landsknechtsliedern des 16. Jh.s nicht auf, und im Kirchenlied (s. d.) entsteht ein neues Gemeinschaftslied, dessen polit. und gesellschaftliche Wirkung nicht übersehen werden darf. An die „Reichsdichtung" in Lied und Spruch grenzen die beiden letzten Ausläufer des höf. Schlüsselromans und allegorisch-utopischen Herrscherspiegels, der Teuerdank (1503) und Weiskunig (1513) Kaiser Maximilians, ebenso mittelalterlich wie diese in ihrem Festhalten an ritterlicher und ReichsIdeologie. Überhaupt bleibt die p. D. des Spätma.s an diese Ideologie so fest gebunden, daß das geschichtlich Neue der Übergangszeit, das Entstehen eines bürgerlichen Gemeinbewußtseins in den Städten, eines regionalen Zugehörigkeitsgefühls in den Landesherrschaften und eines neuen Standesbewußtseins von unten her, nur mittelbar, gewissermaßen in einem veralteten Dialekt, zu Wort kommt. Die p. D. registriert entweder den Verfall der Ordnungen oder sucht sie zu bewahren oder verteidigt das Neue mit alten Denkformen. Das geistliche Spiel und das Fastnachtspiel, hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Funktion Ausdruck neuen Gemeinschaftsbewußtseins, halten sich vor der Reformationszeit fast frei von Politischem (Ausnahmen sind: Des Entkrist Vasnacht [Keller Nr. 68], das Spiel von dem herzogen von Burgund [Nr. 20], Hans Rosenplüts Des Türken Fastnachtspiel [Nr. 39] und das anläßlich der Hildesheimer Stiftsfehde erwähnte Spiel mit dem Scheven Kloth; das Endinger Judenspiel ist nicht viel mehr als dramatisierte Ortsmoritat). Erst um die Mitte des 16. Jh.s, mit Zachar. Bletz, Niklas Manuel, Naogeorg und Burkhart Waldis, wird das anders.—Gültiger als die Dichtung bezeugt die profane und kirchliche Baukunst das neue Selbstbewußtsein der Städte und ihres Bürgertums, und sogar die rüdegewandte Ritter- und Reichsideologie hat in Maximilians Innsbrudcer Grabmal höheren

Rang als im Teuerdank Schneiders Hofsprüchen.

und in Hanns

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§ 21. Das MA. hinterläßt dem aufkommenden Humanismus als sein Erbe einen beträchtlichen Bestand vorgeprägter Formen politischer D.: die didaktisch-satirische Versrede und den Schwank mit zeit- und ständekritischer Moral, die ζ. T. zum Volksbuch sich erweiternde Tierfabel und Narrenkritik, das historische Lied, soweit es Parteilied ist, und das Ständelied, schließlich das Fastnachtspiel. Nicht zu übersehen ist der soziologische Wandel vom Rittertum zum Bürgertum, der innerhalb der neuen Stadtkultur ein Phänomen wie den Meistersang ermöglicht, dessen Träger im Gefüge ihrer Stadtdemokratie zu polit. Interesse und Urteil, wenn auch selten zu polit. Aktivität gelangen Hier klaffen kaum polemische Fronten auf. Doch kann die alte Standes- und Typensatire jetzt neue Gesichtspunkte der Tüchtigkeit oder Untüchtigkeit als Bürger, über die mal. Laster- und Narrenkataloge hinaus, enthalten. Der Bauernspott derNeidhartiade bleibt übrigens durch das Fastnachtspiel konserviert, büßt jedoch etwas von seiner Standespolemik ein, zumal mit dem Humanismus Dummheit und Tölpelhaftigkeit zum Ungenügen im bürgerlich-intellektuellen Bereich werden können. Audi der Typus des Taugenichts erhält vom Gesichtspunkt des Moralismus der Stadtdemokratien eine schärfere Note. Sie mag sich in der allmählichen Ablösung des Schalks mit Eulenspiegel-Charakter im Barock durch Schellmuffsky oder „Die drei größten Erznarren" (Weise) widerspiegeln. In der humanistisch-meistersinger-

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lichen Gattung des Städtelobs (neulat. ζ. B. Hermann von dem Busches Flora [1508; DtLit. Humanismus und Renaissance Bd. 2,5. S. 140-149], dt. Hans Sachsens Ein lobspruch der statt Nürnberg [1530; Keller Bd. IV, S. 189-199]) drückt sich ein neues Selbstbewußtsein bürgerlicher Ordnung und Tugend aus, das in dem Stolz auf vorbildliche polit. und soziale Einrichtungen der Heimatstädte (Köln oder Nürnberg) gründet. Es ist audi die Welt Jörg Wickrams, in der sich nicht zufällig der dt. Prosaroman ausbildet. Der Bereich der eigentlichen polit. Polemik hingegen trennt Kirchen- und Reichspolitik noch kaum voneinander. Er hat zuerst seine humanistische Linie vom Reformkatholizismus des 15. Jh.s (Gregor Heimburg) bis zu den Dunkelmännerbriefen. Das Thema ist vorreformatorisch: Unrecht und Unbildung auf der Seite der Kirdie, wovon sich der Reformationsgedanke des Reiches kaum sdieiden läßt. Beides geht ja auch in der Lit. zum Bauernkriege miteinander und durcheinander. Die eigentliche Reformation verschärft hier die Fronten und führt zu jener Formenfülle von kirchen- und reichspolitischer Streitlit., in der nun der Eingriff des Handelnden in die Geschichte klarer heraustritt als im ruhigeren Bereich des Meistersangs, wenn dieser auch ζ. T. die Ausdrucksformen zu liefern hat. Hier ist nicht nur die Ausdehnung des theolog. Reformgedankens auf das menschliche Dasein audi als polit. Dasein bei Luther (Von den gutenWerken) undZwingli mit ihrem neuen Begriff der weltlichen Arbeit zu nennen. Stellvertretend für den primär humanistisch, sekundär reformatorisch bestimmten Handelnden der Zeit ist sicher die Gestalt Ulrichs von Hutten. In ihr spiegelt sich der Ubergang von einem gesdiliffenen literar. Wirkungswillen in lat. Sprache zur Ausdrucksebene der Volkssprache als dem eigentlichen Medium, polit. Bewußtsein zu wecken und dabei zugleich einen Gegner, der nicht ohne apokalyptische Züge ist, geschichtlich auszuschalten. So schlüpft dieser Reichsritter und Humanist in die Verkleidung der ihm ursprünglich fremden Volkssprache, die in den Selbstübersetzungen seiner Dialoge nicht zu jener unmittelbaren Kraft wird, die Luther auf umgekehrtem Weg, nämlich dem der Heiligung des unmittelbar Vulgärspradilidien schon durch die Bibelübersetzung er-

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reicht. Für Luther ist die Volkssprache kein alios genos sondern ein sowohl angeborenes wie in der theolog. Praxis rhetorisch längst geläufiges Element. Zugleich ist aber die Sprachanschauung des Sendbriefs vom Dolmetschen — samt ihrer Praxis, nadi der Luther verfährt — für ihn ein sprachlichästhetisches Kunstmittel, auf das hin er seinen politischen Wirkungswillen abstellt. Der Wort- und Bildschatz seiner großen reformator. Streitschriften (ζ. B. in An den christl. Adel deutscher Nation), seiner Predigten und Tischreden ist daher nicht nur elementare, sondern auch bewußt politische Rhetorik. Der Grobianismus, der im Verlaufe des Aufeinanderpralls der kirchenpolit. Gegensätze im Streitsdiriftentum der Reformationsapologeten zweiten Ranges zutagetritt, ist eine Folge davon, daß man dem Reformator die Sinnlichkeit abguckt, ohne seine souveräne Sprachkraft zu besitzen, dem Humanismus die Direktheit der Polemik, ohne deren rhetorischen Spielcharakter zu bewahren. Daher können im Verlauf des Prozesses Reformationsstreitschrift wie Reformationsspiel häufig zu Schimpfkatalogen ausarten, wie ζ. B. Niklas Manuels Traum vom Papst und seiner Priestersdiaft (1523), so daß die p. D. hier, als Polemik um ihrer selbst willen, simplifizierend und typisierend, weitgehend sprachlich unfruchtbar bleibt, ja depravierend wirken kann. Das Ergebnis ist dann jene, in der 2. H. des Jh.s etwa durch Rollenhagen repräsentierte sprachliche Lage, aus der der Barock als rehumanisierende Reformbewegung des Deutschten (Opitz), d. h. als zugespitzt sprachpolitische Epoche, hervorgeht. Das histor. Parteilied des ausgehenden MA.s (Typus Schlacht von Dörnach [1499; Liliencron, Histor. Volkslieder Nr. 196-211], Türkenlieder) mit seinen Schlachtberichten und Siegesmeldungen und seiner Anvisierung eines im engsten Sinne polit. Gegners, wird im Verlaufe des gleichen Prozesses audi dem Bekenntnislied der Reformationszeit gewisse seiner Züge vererben (Luthers Lied Von den zween Μerterern, ja sogar „Ein feste Burg"). Das gilt selbst für das polit. uninteressierte Gesellschaftslied, so daß der neue theologisch-politische Geist sich kontrafaktorisch mit dem Liebeslied älterer Prägung verbinden kann (Luther „Sie ist mir lieb die werde magd"). Zugleich setzt sich hier ein soziologischer Prozeß in Gang: Aus

dem Lied der höfischen, bürgerlichen oder auch soldatischen Gesellschaft sondert sich das Bekenntnislied der Gemeinde ab, gleich welcher Konfession oder audi Sekte, das seine Stoßkraft und die Sicht des „altbösen Feindes" aus einem unbedingten, sozusagen geheiligten Standortbewußtsein empfängt. Heinrich B o r n k a m m , Das Jahrhundert der Reformation: Gestalten u. Kräfte (1961). — Texte: Die Sturmtruppen der Reformation. Ausgew. Flugschriften d. Jahre 1520-1525. Hg. v. Arnold Ε. Β erg er (1931; DtLit., Reformation 2). Lied-, Spruch- u. Fabeldichtung im Dienste der Reformation. Bearb. v. Arnold Ε. Β erg er (1938; DtLit., Reformation 4). Die Schaubühne im Dienste der Reformation. Hg. v. Arnold E. B e r g e r ; 2 Bde (1935; DtLit., Reformation 5.6). Zu Luther: Gustav T ö r n v a l l , Geistliches u. weltliches Regiment bei Luther. Studien zu Luthers Weltbild u. Gesellschaftsverständnis (1947; Fsdign. z. Gesch. u. Lehre d. Protestantismus. 10, 2). Hans Robert G e r s t e n k o r n , Weltlich Regiment zwischen Gottesreich u. Teufelsmacht. Die staatstheoret. Auffassungen Martin Luthers u. ihre polit. Bedeutung (1956; Schriften z. Rechtslehre u. Politik 7). Paul A l t h a u s , Luthers Haltung im Bauernkrieg (Basel 1953). Helmut L a m p a r t e r , Luthers Stellung zum Türkenkrieg (1940; Fsdign. z. Gesch. u. Lehre d. Protestantismus 9, 4). Harvey B u c h a n a n , Luther and the Turks 1519-1529. Arch. f. Reformationsgesch. 47 (1956) S. 145-160. Heinrich B o r n k a m m , Luthers geistige Welt (1947; 4. Aufl. 1960). Ders., Luther als Schriftsteller. SBAkHeidelberg 1965,1. Heinz-Otto Β u r g e r , Luther als Ereignis der Literaturgeschichte. LutherJahrbuch 24 (1957) S. 86-101 Maurice G r a v i e r , Luther et Γ opinion publique. Essai sur la littirature satirique et polemique en langue cdlemande pendant les anndes dicisives de la reforme, 1520-1530 (Paris 1942; Cahiers de l'Inst. d etudes germaniques 2). leva Asmyte, Luthers sermons as a mirror of his time. Diss. Univ. of North Carolina 1960/61. Friedrich S p i t t a , Ein feste Burg ist unser Gott. Die Lieder Luthers in ihrer Bedeutung für das evangel. Kirchenlied (1905). Julius S m e n d , Das evangelische Lied von 1524 (1924; Sehr, d. Ver. f. Reformationsgesch. 137). Erich Z i m m e r m a n n , Huttens literar. Fehde gegen Herzog Ulrich v. Württemberg. (Masch.)Diss. Greltswald 1922. Fritz Walser, Die polit. Entwicklung Ulrichs v. Hutten während der Entscheidungsjahre d. Reformation (1928; Histor. Zs., Beih. 14). Helmut R ö h r , Ulrich v. Hutten u. d. Werden d. dt. Nationalbewußtseins. Diss. Hamburg 1936. Richard K ü h n e m u n d , Arminius or the rise of a national symbol in literature (Chapel Hill 1953; Univ. of North Carolina Stud, in Germanic lang, and lit. 8). Conrad Andre B e e r l i , Le peintre-poete Nicolas Manuel et l'evolution sociale de son temps (Genfeve 1953;

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§ 22. Das 17. Jh., bestimmt durch die im 30jähr. Kriege gipfelnden Konfessions- und polit. Machtkämpfe, reagiert nicht allein darauf mit p. D., sondern aucii auf die sidi damals entfaltende höfische Gesellschaftsform des A b s o l u t i s m u s . Höfisch-politisch —: das war die Übertragung der humanistischen laudatio-Formen auf die Person des mit neuen Augen gesehenen Landesfürsten. In diesem Sinne „politisch" werden damals vor allem die Gattungen des Gelegenheitsgedichts und des Festspiels (s. d), doch kann auch die Gelegenheitsoper polit. Bedeutung oder Nebenbedeutung gewinnen (Avancinis Pietas vtctrix [1659]). Denn „politisch" sind auch festliche Gelegenheiten wie Brautzüge, Thronfolgergeburten, Geburtstage, Siege oder Fürstentod. Hier entwickelt der B a r o c k seine eigenen Formen dichterischer laudatio oder promemoria, wie sie prunkvoll Weckherlins Ode am Heidelberger Hofe des Winterkönigs, in der Form gemäßigter, im Inhalt nicht minder voll Reverenz Opitz selber übt. Politisch sind auch Ereignisse wie die persianische Reise des Holsteiner Herzogs, die Flemming in Epigramm und Sonett besingt. In einer Demokratie wie der Schweiz kann es auch zu einer vollendeten staatlich-gesellschaftlichen Satire kommen

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(Graviseths Heutelia 1658). Daß die Zeit auch auf die Κ r i e g s ereignisse empfindlich mit p. D. reagiert, ist im Rahmen der gesellschaftlichen Ordnung wie der noch immer konfessionspolitisch gespannten Situation verständlich. Die Zerstörung Magdeburgs hat eine eigene Literatur vom Prosabericht bis zum polit. Lied zur Folge, Zeichen der Erschütterung, die angesichts eines so elementaren Ereignisses die ganze Zeit ergreifen konnte. Das Kriegserlebnis treibt—über der Ebene der polit. Parteinahme—die eine Seite des Barockstils, den Barockrealismus, geradezu heraus und bringt damit auch seine menschlichste und überzeitliche wie übergesellschaftliche Seite zum Klingen. Hier ist der Ort von Grimmelshausens Prosaepik, der Zeitgedichte eines Gryphius oder Logau, als Spiegel der Leiden und des Todes. In den Kirchenliedern Paul Gerhardts und seiner Zeitgenossen versucht man dieser Erfahrungen religiös Herr zu werden, indem man sie als Gottes Strafe oder Gnade verarbeitet. Die andere Seite im Motivischen ist für die, die ihn erleben, der F r i e d e von Münster und Osnabrück, dessen Abschluß eine eigene polit.-religiöse Lit. hervortreibt, hier nun auch im Festspiel (Rist u. a.). Weitgehend unabhängig von der polit. Zeitgeschichte, direkt abhängig aber vom Gradualismus der Gesellschaftsordnung, entfaltet sich der B a r o c k m o r a l i s m u s als auch-politische Erscheinung in anderm Sinne. Hier setzt sich der besonders vom elsässischen Humanismus begründete Nationalgedanke unmittelbar fort. Auf Wimphelings Germania (1501), ergänzt durch spanische Anregungen, beruht Moscheroschs großes zeitkritisches Werk Gesichte Philanders von Sittewald (1642). Da entsteht ein regelrechter früher Nationalmythos unter Einbeziehung der Heldensage und der Erinnerung an die Größe des Germanentums karolingischer Zeit. Aber das Kemmotiv ist dessen moralistische Deutung. Philander, vor das Gericht der alten Recken auf der Burg Geroldseck gestellt, sieht sich von ihnen als dt. Zeitgenosse im Vergleich zur Treue und Biederkeit der Vorzeit kompromittiert. Hier wird Nationalmythos schon zur Nationalromantik auf Vorzeitgrundlage. Die ganze Narrenspiegeltypologie von Seb. Brant her wird politisiert, nunmehr als nationale Dekadenz. Die Wurzel ist soziologisch: es ist

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die antihöfische Strömung, die, im Bereich übrigens der Höfe selber, audi zu einer moralistisdien Kulturpolitik führt. Grimmelshausens zeitkritische Ironie zielt in der gleichen Richtung. Bei Logau trifft sich diese Tendenz besonders deutlich mit der alten idyllischen Traditionslinie, die in Stadt oder Hof den Ort der moralischen Verderbtheit konzentriert sieht. Es ergibt sich also eine Position dieser Zeitströmimg zu einem Idealbilde der Deutschheit, das sich nur fern vom Sündenbabel der Residenzen und Metropolen verwirklichen kann (nachwirkend bis zu Jean Paul). Sie beruht auf dem formelhaften Gegenbilde, das man sich von Frankreich und seiner Hauptstadt als dem Inbegriff des Höfisch-Verlogenen und der menschlichen Eitelkeit machte. Die wunderlichen Blüten, die das Wesen der Sprachgesellschaften allenthalben treibt, mit ihrem Ideal der „alten Haubt- und Heldensprache" und seiner Konsequenz, dem Purismus, sind Ausdruck derselben Tendenz. Diese Art zeitkritischer Einstellung spielt freilich keine bedeutende Rolle für die moralistische Seite der g e g e n r e f o r m a t o r i s c h e n Bewegung. Auch diese gewinnt ja in den Predigten des Abraham a S. Clara einen ähnlichen Unbedingtheitscharakter im Anthropologischen und ähnliche antihöfische Tendenz. Doch ist hier die Unbedingtheit eine Folge vor allem der spanischen Mystik (Medien: Guevara, Aegidius Albertinus). Die antihöfische Tendenz hat ihre Wurzel dementsprechend weniger im Moralistischen als im theologisch begründeten Gedanken von der Eitelkeit der Welt an sich. Die Direktheit im Ansprechen und Zugreifen, wie sie Abraham a S. Claras Prosa und Reimprosa als eine gezielte Paränese für das Volk — die potentielle Gemeinde — auszeichnet, beruht wie bei Luther auf der Mischung von rhetorischer Kunstform und Unmittelbarkeit. Hier schafft die theologisch-politische Literaturform der Volkspredigt zugleich ein landschaftlich-nationales Selbstbewußtsein, ohne es massiv zu propagieren. Göran R y s t a d , Kriegsnachrichten u. Propaganda während des 30jähr. Krieges. Die Schlacht bei Nördlingen in den gleichzeitig gedruckten Kriegsberichten (Lund 1960; Skrifter utg. av Vetenskaps-Soc. i Lund 54). Geschichte d. dt. Lit. 1600-1700. Bearb. v. Joachim G. Boeckh, Günter Albredit, Kurt Böttcher, Klaus Gysi, Paul Günter Krohn u.

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listisch angesprochen werden kann, wie der Dichter selber und viele seiner Zeitgenossen meinten. Das Politische als Teil dieser bäuerlichen Lebensordnung bekommt hier im Idyll ähnlich ideale Prägimg wie in jener andern für die Zeit typischen Gattung: der eigentlichen U t o p i e und ihrem Kinde, der R o b i n s o n a d e . Selbstverständliche Konsequenz aus dem Natur- und Völkerrechtsgedanken der Aufklärung und ihres Menschenbildes ist ja das Wunschbild einer perfekten polit. Ordnung in einem abgeschlossenen Inseldasein Einzelner oder quasi-staatlicher Gemeinschaften, denen nichts von den Unvollkommenheiten der polit. Realität befleckend anhaftet. Auch diese Gattung p. D. entstammt dem Humanismus (Thomas Morus). Als moralistische Vorrobinsonade taucht sie in der Continuatio des Simplicissimus (auf Grund einer engl. Vorlage) auf. Inzwischen ist, ebenfalls in England, Defoes Robinson Crusoe (1719) erschienen und setzt die Mode der Robinsonaden in der dt. Frühaufklärung mit Schnabels (von Tieck so genannter) Insel Felsenburg (1731-43) ein. Alles, was zur Sozial- und Staatskritik an europäischen Verhältnissen in absolutistischer Zeit aufzuführeil war, wird hier indirekt im Bilde der um Albertus Julius, den Ältervater, sich scharenden Gemeinschaft namhaft gemacht. Erstaunlich und zugleich bezeichnend für die Kapazität der Aufklärungszeit, daß der Verfasser dieser sorgfältig nach allen Seiten hin abgesicherten polit. Utopie keineswegs Staatsmann und großer Literat, wie Defoe, sondern ein kleiner Hofbalbier und Winkelschreiber in einer dt. Duodezresidenz war. Die großen Ideen der Zeit konnten jetzt auch beim kleinen Mann ohne Cavalierserfahrung zünden. Freilich war polit. Bildimgsarbeit schon getan, angeregt wiederum von England. Die m o r a l i s c h e n W o c h e n s c h r i f t e n bezogen hier schon nahezu jedes Motiv polit. Irrtums oder polit. Klugheit in ihren Stoffkreis ein. Und sie zielten bereits auf das Bürgertum als Grundlage des aufgeklärten Staates. In dieser populären Didaktik erreicht wohl Justus Moser, selber politischer Lenker eines dt. Kleinstaates, mit seinen Patriotischen Phantasien (1774-78) die größte Kraft und das höchste Niveau. Bei ihm verbündet sich auch die politische mit einer ganz konkreten sozialen Konzeption; SozialII

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bewußtsein, Geschichtsbewußtsein und polit. Aktualität sind bei ihm kaum noch voneinander zu trennen. Sein Gedanke des Aufbaus polit. Verantwortlichkeit auf der Grundlage eines altgerman. Ehr- und Rechtsbegriffes ist mehr als eine Fortsetzung von Moscheroschs Nationalromantik; der darin integrierte geschichtliche Realismus gerade machte die Patriotischen Phantasien dem alten Goethe so wichtig. Die Verbindung von aufklärerischer Philosophie und Geschichtsbewußtsein, wie sie Mosers politischer Erziehungsarbeit zugrundeliegt, ist überhaupt bezeichnend für die beste Schicht polit. Lit., die der Rationalismus erzeugt. Neu ist nämlich die Intensität des Nachdenkens, die Leidenschaft, das Geschehen an der geschichtlichen Oberfläche zu verarbeiten und einem Weltbild zu integrieren. Hierher gehören des Schweizers Joh. Georg Zimmermann Schrift Vom Nationalstolze (1758) und Thomas Abbts Vom Tode fürsVaterland (1761), die Schrift des Schweizers auf dem Grunde einer Idealdemokratie fußend, die Abbts auf dem einer aufgeklärten Monarchie, mit dem Geschichtserlebnis Friedrichs des Großen im Hintergrund. Diese Lit. liegt im Niveau auf Mosers Linie, in der Tendenz diesem wenigstens nicht fern. Der Gedanke des Opfers des Einzelnen (Abbt kann in einem Kapitel vom Verdienste des Eroberers, des Heiligen und des Heldenhandeln) zugunsten einer Allgemeinheit, die Anspruch auf das Opfer hat, bewegt sich durchaus innerhalb des Komplexes rationalistisch aufgefaßter Menschenwürde. Der Nationalgedanke ist noch kaum mehr als menschliche Selbstverwirklichung im höchsten Sinn. In der Dichtung repräsentiert dies Niveau etwa Lessings Philotas (1759) oder Ewald von Kleists Cissides und Ρaches (1759). Alles dies ist weit entfernt von dem auch vorhandenen Hurrapatriotismus der friderizianischen Zeit, wie ihn Ramlers preuß. Odendiditung oder — in politischer Rollenmaskierung — Gleims Preußische Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757 von einem Grenadier (1758) vertreten. Von der Friedrich-Begeisterung der Karschin schon gar nicht zu reden, die historisch gesehen nur eine Fortsetzung des barocken Gelegenheitsgedichts mit patriotischem Stoff ist. Dagegen führt auch eine Linie von den

moral. Wochenschriften über die S a t i r e in die Nähe Mosers und Abbts. Wie gefährlich für den Autor die Verschlüsselung seiner Kritik an polit. Zuständen sein konnte, erweist dabei das Schicksal Liskows, der im absolutistischen Sachsen des Grafen Brühl durch Festungshaft gebrochen wird. Im aufgeklärten Preußen, im friderizianischen Berlin dagegen konnte man mit der Theorie Rabeners von der Verallgemeinerung des Konkreten, das die Satire kritisiere, durchschlüpfen. Die Voraussetzung bot Friedrichs des Großen eigene politisch-historische Produktion und sein vor allem aus England, aber auch aus Frankreich übernommener Toleranzgedanke. Der Schüler Voltaires, Verfasser des Anti-Machiavell und verwandter Fürsten- und Regentenspiegel, konnte auch den polit. Konsequenzen nicht ausweichen, die ein Kleist, Abbt, Moser oder Lessing aus den vom König vertretenen Grundgedanken des Dienstes, des Rechts und der Toleranz in ihren Schriften zogen. Ausdrücklich blieb auch noch im Alter des Königs seinen Berlinern das Recht zur „Sottise" vorbehalten. In dieser Hinsicht bot das von Friedrich zur Großmacht erhobene Preußen von der Person des Königs aus denn auch kaum Anlaß zu einer irgendwie revolutionär gesinnten polit. Literatur. Disziplin und Fortschritt waren hier noch eine Einheit. Natürlich gibt es das histor. und Soldatenlied des 7jähr. Krieges als Parteilied von beiden Seiten. Indessen tritt zur gleichen Zeit auch Habsburg in seine josephinische Epoche ein, so daß sich auch dort die Kräfte vor allem auf die Position der Verarbeitung aufgeklärter Ideen und ihre Nutzbarmachung für eine entsprechende Staatsordnung konzentrierten. Es ist ein besonderes Kennzeichen des rationalistischen Jh.s, daß mit gleicher Logik in ihm sowohl ein neues Staats- und N a t i o n a l b e w u ß t s e i n wie ein umfassender T o l e r a n z g e d a n k e sich herausbilden. Was Gottsched und seine dt. Gesellschaften in nationalerzieherischer Hinsicht wollen, beruht ζ. T. noch auf dem Barocknationalismus der Sprachgesellschaften und Moscheroschs Moralismus. Aber in Verbindung mit dem Geschichtsbewußtsein der Moser, Abbt und Lessing wird allmählich ein Selbstbewußtsein entfaltet, das auf dem aufklärerischen Gedanken eines freien geistigen Wettbe-

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werbs der Nationen beruht. Hier wird das Ästhetische zur nationalen Aufgabe und die nationale Aufgabe zur ästhetischen. Nationale Existenz nicht ohne Geschichte als Nationalstoff; Nationaltheater und Nationaldichtung nicht ohne diese Voraussetzung — : das Ergebnis muß, wie in Lessings Hamburgischer Dramaturgie, Shakespeare contra Voltaire heißen, oder, wie dann allgemein im Sturm und Drang: echte Antike als vorbildliche Nationalkultur, und nicht französisch-wielandische. Das bedeutet: das ästhetische Selbstbewußtsein bekommt eine polit. Drehung, die, im Gegensatz zum Barock, nicht mehr überwiegend moralistisch bedingt ist. Am Ende steht Herders selbstbewußter Gedanke der Nationalkultur und des Dichters als Geschichtsschreibers der Nation, der erst in späteren Epochen seine im engeren Sinn polit. Dynamik zur Auswirkung bringen wird.

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In denselben Lessing und Herder aber ist, auf Grund der allgemein anthropologischen Basis des Nationalbewußtseins, in gleicher Dynamik und ohne innere Widersprüchlichkeit auch die Toleranzidee angelegt. Der Deutsche oder Franzose oder Grieche sind Menschheit in ihren verschiedenen Möglichkeiten der Selbstverwirklichung; so wie in der Ringparabel des Nathan Religion in verschiedener geschichtlicher Ausprägung, aber auch unter dem Gesichtspunkt der Gleichberechtigung, sich symbolisiert. Humanität ist nicht nur Selbstachtung (in ihr wirkt sie sich nationalpolitisch aus), sondern zugleich Verpflichtung zur Achtung des Andern und Andersartigen. Diese Verpflichtung gilt auch für das Zusammenleben in staatlicher Ordnung. Die Rolle, die historisch ein Moses Mendelssohn im friderizianischen Berlin spielen konnte, spielt in Lessings Dichtung das Motiv des Freigeistes und der Judenemanzipation von den Jugenddramen bis zum Nathan. Der Jude kann nun als Mensch zum Bruder werden, wie selbst ein zweitrangiges, jedoch sehr zeittypisches Werk schon der 40er Jahre, Gellerts Roman Leben der schwedischen Gräfin von G. (1747/48) es zeigt.

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§ 24. Anders als im friderizianisdien Preußen und josephmischen Österreich, nämlich in Sachsen, Württemberg oder Hessen, wo die Monarchie mehr despotische als fortschrittliche Züge aufwies, häufte sich ganz anderer Zündstoff, so daß sich hier auch eine eigene Stellung zur franz. Revolution ergab. Aber längst vorher schon hatte der Sturm und Drang die Devise „In tyrannos"mit vorrevolutionärer Pointe in seine Dichtung aufgenommen, selbst wo er in

gemäßigter Form auftrat wie im Göttinger Hain. Da der Sturm und Drang den Toleranzgedanken fallen läßt zugunsten einer radikalen Parteinahme für Menschenwürde und Menschenrecht, pointiert sich in ihm das Gefühl des Abscheus vor Gewaltherrschaft programmatisch imbedingter als in der Aufklärung. Im übrigen hat ja selbst Lessing in der Emilia Galotti (1772) eine nicht minder radikale polit. Zustandskritik getrieben, wenn man auf die schwache Triebfigur des Fürsten und ihres Systemvertreters Marinelli abstellt. Für einen solchen deformierten Staat wäre natürlich das Selbstopfer des Philotas ein barer Unsinn. Die alte, stehende Rolle des Intriganten füllt sich jetzt im Drama mit dem Motiv politischer Gewissenlosigkeit. Die ebenso typische Tyrannenfigur des Barockromans und -dramas wird zugleich mit der polit. Verantwortlichkeit belastet, die sich aus dem Zuwiderhandeln gegen Vernunft und Naturrecht ergibt. Während der alte konservative Haller in seinen Staatsromanen, vor allem im vielzitierten Vsong (1771), das Idealbild des aufgeklärten und zeitoffenen Herrschers zeichnet, entrüstet sich der Sturm und Drang revolutionär über die Gegenhumanität seines Tyrannentyps. Dies ist eminent polit. Tendenz, jedoch noch immer eingebettet in ein imaginäres Idealbild menschlicher Ordnung, wie sie sein müßte. Doch ist dieses Idealbild des Menschen nicht mehr das der Aufklärung. Das zeigen Gestalten wie Götz und Karl Moor deutlich genug. Das Denken ist hinter dem Fühlen zurückgetreten, die Abstraktion hinter der Sinnlichkeit. Götz und Moor sind Antirationalisten, die das Ideal einer autonomen Subjektivität inmitten einer verfallenden Gesellschaft verkörpern. Dagegen werden Repräsentanten des Absolutismus wie der Großinquisitor in Don Carlos oder Alba im Egmont im antithetischen Gefüge der Sturm-und-Drang-Dramatik weitgehend mit Zügen eiskalten rationalen Denkens und Rechnens ausgestattet und so ästhetisch in den Rang einer fast dämonischen Partnerschaft zum dramatischen Helden erhoben. Von hier ergibt sich eine Linie, die von Lenz zu Büchner weiterführt: Offene Sozialkritik, wie die aufklärerische Satire sie niemals gewagt hat, an einer ganzen, das Ich vergewaltigenden Gesellschaftsordnung (Lenz' Hofmeister [1774], Die Soldaten

Politische Dichtung [1776]; das Kindsmorddrama von W a g n e r bis zum Urfaust). Politisch in diesem Sinne ist a u d i die dramatisierte Satire in der F o r m der F a r c e bei Goethe, Lenz, W a g n e r u. a. Was Emilia Galotti oder Kabale und Liebe als Tragödien in sich schließen, das wird zur teilweise dramatisierten polit. Flug- u n d Programmschrift etwa in Leisewitz' Der Besuch um Mitternacht (1775) oder, in gerader W e n d u n g gegen die Aufklärung selber, zur Gesellschaftskritik im Antivoltaire- u n d Antiwieland-Motiv des jungen Goethe, Lenzens u n d Wagners. Auch hier können die Folgen f ü r d e n Autor persönlich gefährlich werden, wie der Fall Schubarts oder des jungen Schiller es in W ü r t t e m b e r g beweisen. Auf der Idee des Nationalstoffs u n d der Nationalkultur weiterbauend, wozu auch die Wiederentdedcung mal. Dichtung durch Gottsched u n d Bodmer schon gehört, begeistert sich der Sturm u n d Drang von Klopstock u n d Gerstenberg bis zu Herder u n d d e m jungen Goethe auch an jener altgermanischen Vorzeit, die m a n noch nicht von der altkeltischen scheidet, welche durch das Thema Bardendichtung u n d Ossian gekennzeichnet ist. Das Neue gegenüber Bodmers Minnesängern ist die Identifizierung dieser Welt mit einer starken, sinnlichen, vorbewußten Urstufe der Menschheit, die, auf die Gegenwart umbezogen, zum „Volk" hinführt. Hier liegt gleichfalls eine der Wurzeln des künftigen romantischen National- u n d Volksbewußtseins wie auch seines späteren Mißbrauchs. Alles dies steht in jener Zeitsituation nicht in Widerspruch zu der bekannten Tatsache, d a ß derselbe Bardensänger Klopstock u n d auch Schiller im Ausklang der Sturm-und-Drang-Periode sich zeitweise politisch enthusiastisch zur franz. Revolution einstellen. Sie sehen in ihr die Dynamik des Menschheitsfortschritts in ihrer Zukünftigkeit. Aber das Menschenbild ist das voller, sinnlicher Kraft, das ihnen in der Geschichte das ungebrochene Urzeitalter der Menschheit verkörperte. Roy P a s c a l , The German Sturm and Drang (Manchester 1953), dt. Ausg. 1963. Heinz S t o l p e , Versuch e. Analyse d. gesellschaftsgeschichtl. Grundlagen u. Hauptmerkmale d. Sturm-u.-Drang-Bewegung d. dt. Lit. im 18. Jh. Wiss. Zs. d. Humboldt-Univ., Ges.- u. sprachwiss. R. 3 (1953/54) S. 347-389. Edith B r a e m e x , Goethes 'Prometheus' u. 1. Grundpositionen d. Sturm u. Drang (1959; Beitr. z. dt. Klassik. Abhandlgn. 8). Hans

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§25. Maßgebend für die K l a s s i k ist dagegen auch im Politischen nicht mehr das Motiv entfalteter oder an der Entfaltung gehinderter Subjektivität, sondern der Ordnungsgedanke. Goethe hat ihn schon nach seinem Übergang nach Weimar gefunden und in seiner klassischen Frühphase von der Abhandlung Über den Granit bis zum Torquato Tasso ausgebaut, der klassische Herder und Schiller schwenken in ihn ein. Die weltgeschichtliche Wende der franz. Revolution und ihrer Folgen wird ihn auf die Probe stellen. Das entscheidende letzte Jahrzehnt des 18. Jh.s wird in der dt. Dichtung eröffnet durch Schillers Zeilen: „Wie schön, ο Mensch, mit deinem Palmenzweige / Stehst du an des Jahrhunderts Neige ., / Frei durch Vernunft, stark durch Gesetze (Die Künstler, 1789). An seinem Ausgang heißt es: „Das Jahrhundert ist im Sturm geschieden, / Und das neue öffnet sich mit Mord"; und auf dem „unermeßlichen Rükken" der Welt „Ist für zehn Glückliche nicht Raum" (Der Antritt des neuen Jahrhunderts, 1801). Dazwischen liegen die Schriften von 1793-95 Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen und Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen, in denen sich Schiller in wenigen Sätzen zu dem „politi-

schen Jammer" äußert. Als Dramatiker von Natur faßt er seine Einsicht in eine apokalyptische Zukunftsvision (zu Ende des 7. Briefes), die man neben diejenige Grillparzers im Bruderzwist halten möge. Schiller reagiert damals auf die Zeitereignisse, indem er sich darauf besinnt, was in solcher Lage eine Erziehung zum Schönen leisten könne, und indem er, wieder als Dramatiker, in dialektischem Umschlage die Frage stellt, wo gerade sie versagen muß. Das ist die klassische Fortsetzung des weltgeschichtlich-utopischen Erziehungsprogramms der Aufklärung (etwa in Lessings Erziehung des Menschengeschlechts), aber schon Klassik auf des Messers Schneide. Die jüngere Generation reagiert auf die gleiche Zeitstimmung durch geschichtliche Epochendiagnose (in Friedrich Schlegels frühen Schriften), die dann zur Geschichtsutopie hin tendieren kann (Novalis, Die Christenheit oder Europa, 1799, Glauben und Liebe, 1798). Bei Friedrich Hölderlin schlägt der Ansatz Schillers ins Subjektive um, in die Erfahrung des Daseins als „Dichter in dürftiger Zeit" Eben dadurch aber entsteht in seinem Werk das gültige und erst viel später wirkende Bild des in seiner Existenz durch die Geschichte betroffenen, sozusagen wehrlosen, und doch unter dem Auftrag seines Amtes stehenden Dichters. Trotz des bedenklichen Alibis, das darin mitenthalten ist, wird man festhalten dürfen, daß darin wohl der gültigste Beitrag zur Erscheinung der p. D. liegt, den gerade die dt. Lit. hat leisten können. Goethe selbst reagiert anfangs sehr viel unmittelbarer und gegenständlicher (Der Großkophta, 1791; Der Bürgergeneral, 1793), aber bleibt eben dadurch unter dem Niveau. Auch in Reineke Fuchs (1793), den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) und Hermann und Dorothea (1796) weicht er der prinzipiellen Auseinandersetzung eher teilweise noch aus. Er stellt sich ihr erst ganz in der Tragödie Die natürliche Tochter (1799-1803), in der die parabolische Form des polit. Dramas zwar geahnt, jedoch nicht erfüllt wird. Die Tatsache, daß er den Zeitereignissen als „Fachmann" und Sachwalter der konservativ-legitimistischen Partei gegenüberstand, sowie seine aristokratische Geringschätzung der Masse, der „Menge", stand der distanzierten Diagnose im Wege und verhinderte auch,

Politische Diditung daß sich existentielle Betroffenheit unmittelbar aussprechen konnte. Seine Haltung hat ihm später im großen polit. Zeitstreit ja dann noch den Haß der Börne und Gutzkow eingetragen, die in ihm mit Recht den genauen Gegensatz zu den revolutionären Tendenzen des Jungen Deutschland sahen. Auch seine Entscheidung für Napoleon mit dem Endergebnis der ziemlich unglücklichen Selbstapologie in Des Epimenides Erwachen beruht noch auf dem Gegensatz des klassischen Begriffs der „Größe" zur „Menge", hat also seinen Ansatz schon in der Winckelmann-Komponente der Klassik. Dafür aber durchzieht die Auseinandersetzung mit den polit. Umwälzungen dieser Jahre das Spätwerk in vielfach verschlüsselter Weise. Auf der einen Seite findet Goethe sich mit dem „vulkanischen" Prinzip der Geschichtlichkeit bis in seine furchtbarsten Konsequenzen widerstrebend und resignierend ab und integriert es in seine Dichtung. Bezeichnenderweise verbirgt sich diese Anerkennung bis zur Unkenntlichkeit hinter höfischen (Mummenschanz im Faust), geschichtsmythischen (Klassische Walpurgisnacht), militärischen (IV. Akt' von Faust zweitem Teil) und ästhetisch-erotischen (West-Östlicher Divan) Spielformen. Der andere, gleichfalls resignierende Aspekt ist der einer traditionsfreien, tätigen Zukunft, wie er in den Wanderjahren und in dem zwielichtigen Spruch „Amerika, du hast es besser" zu Wort kommt. Freilich ist dies kaum mehr der klassische Goethe. Diese Offenheit für eine sich erst andeutende gesellschaftliche Umwälzung, die einem Kontinuitätsbruch gleichkommt, bedeutet eine tiefere Resignation gegenüber der europäischen Überlieferung, als die Klassik sie für erlaubt halten konnte, und ein Abrücken vom klassischen Ordnungsgedanken zugunsten eines Experiments, dessen dämonische Züge nicht zu übersehen sind. Noch im Schluß des Faust treffen beide Seiten in widersprüchlicher und tragischer Spannung aufeinander: in der Zukunftsvision eines „freien Volkes auf freiem Grunde", von Mephistopheles durch politische Verbrechen ermöglicht und gleichzeitig sarkastisch in Frage gestellt — und doch auch sie für Fausts Irdisches kennzeichnend und damit zu den Vorbedingungen seiner „Erlösung" gehörend. Maurice B o u c h e r , Le sentiment natio-

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Dramen, deren Blickrichtung anthropologisdi-ethisch, aber nicht national war, selbst nicht in der Jungfrau von Orleans und im Wilhelm, Teil. Schillers, Klopstodcs, Jean Pauls, Friedrich Schlegels zeitweiser Enthusiasmus für die franz. Revolution lag auf derselben Ebene der Menschlichkeit. Selbst ein Phänomen wie die Kanonade von Valmy war von Goethe nicht als nationale Niederlage gedeutet worden, sondern als Anbrach eines neuen Zeitalters, das Überlebtes zu bereinigen hatte, ebensowenig wie Hölderlin den Frieden von Luneville als nationale Schmach empfand, sondern ihn als Vorzeichen hellerer Zeiten deutete. Aber die Frühromantik hatte mit Novalis, Wackenroder und dem jungen Tieck den Stolz auf dt. MA. und dt. Dürerzeit, den der Sturm und Drang aufgebracht hatte, vertieft, und der Sdilag Napoleons gegen das alte Reich und Preußen hatte vorher noch nicht so vorhandene Gefühle empfindlich getroffen. Es war jetzt ein Kulturbewußtsein vorhanden, das sich mit den Niederlagen gegen Napoleon vergewaltigter vorkam als in der Lessingzeit, in der das Bewußtsein der Gleichwertigkeit des Deutschen und Französischen sidi ausgebildet hatte. Über Riccaut de la Marliniere konnte man belustigt zur Tagesordnung übergehen, über das Frankreich Napoleons nicht. Anfängliche Revolutionsanhänger wie Friedrich Schlegel oder Ernst Moritz Arndt konnten in dieser Situation zu Nationalisten werden, Fichte und Schleiermacher, Arnim, Eichendorff, Görres und Chamisso audi zu aktiven Teilnehmern der Befreiungskämpfe, Kleist, der sie nicht mehr erlebte, zum polit. Journalisten. Es war eine geschiditliche Ironie, daß der Gedanke einer levee en masse, auch im geistigen Sinne, wie Kleist und Arndt ihn ζ. B. vertraten, seinen Ursprung in der franz. Revolution selber hatte. Da für die Romantik nationale Vergewaltigung und geistige Tyrannis letztlich eins sind, so ergibt sich eine neue Mythisierung des Gegners, die der Haß färbt und die von der Person des Kaisers auf das Volk als den nunmehrigen „Erbfeind" übertragen wird. Es ist die unselige Situation, in der der Nationalfeind in religiöser Kontrafaktur zur „babylonischen Hure" werden kann (Ε. M. Arndt). In der eigentlichen Dichtung führt das zu Kleists Hermannsschlacht. D. h., der

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Volksfeind wird verteufelt, der Haß gegen ihn wird nicht nur gerechtfertigt, sondern geradezu geheiligt. Am deutlichsten tritt das bei Erscheinungen wie Arndt und Kleist zutage. Bei ihnen geht, in der Übernahme der Form der Soldatenkatechismen, das Bewußtsein der Sittlichkeit des Nationalhasses bis in die Kinderlehre. In den extremsten Formen kann die antinapoleonische Dichtung der Befreiungskriege geradezu zu einer polit. Anwendung jesuitischer Ethik werden, bei der der gute Zweck das Mittel heiligt; auch darin ein Erbe der franz. Revolution und Vorfahr zugleich audi heutiger polit. D. und Meinungsbildung innerhalb des Bereichs totalitärer und klassenkämpferischer Ideologien sowie der beiderseitigen „Kreuzzugsideologien" der Kriege des 20. Jh.s. Das Gefährliche, das mit dieser Wendung einsetzt, ist vielleicht nicht so sehr die Dynamik eines gefühlsbestimmten Nationalismus als vielmehr der offene und bewußte Wille zur Ungerechtigkeit. Gefährlich ist ferner die propagandistische Form, in der er sich niederschlägt. Gleims Preußische Kriegslieder waren auch schon polit. Propagandadichtung, aber ihr Formethos war Herablassung des Aufklärers auf das Niveau der Allgemeinverständlichkeit in Wortschatz und Strophe, natürlich auch in der Vorstellungswelt. Damit aber war die Wirkung von vornherein begrenzt, denn sie konnte nidit bei denen ankommen, auf die sie mehr oder weniger spielerisch zielte. Es war die Parallele zu der ebenfalls im Anfang spielerischen Begründung der dt. Ballade (Romanze) bei Gleim auf dem Bänkelton. Um 1800 aber war die literarsoziologische Situation völlig gewandelt. Die Träger der Resistance gegen Napoleon waren vorwiegend Intellektuelle und das geistig von ihnen beeinflußte Kleinbürgertum (nicht die Bauern). In diesen Schichten aber hatte das historische Bewußtsein des Sturm und Drangs und der Romantik zusammen mit dem Formbewußtsein der Klassik ein Stilgefühl ausgebildet, von dem in der Aufklärung noch nicht die Rede sein konnte. Dieses Stilgefühl umfaßte die Bekanntschaft mit originalen Formen und Motiven nationaler Traditionen, die von Herders Volksliedern bis zum Wunderhorn, von der altdt. Fabel bis zur Wiedererweckung der Volksbücher durch Görres und der Chroniküberlieferung in der Prosaepik reichte.

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Dieser Wiedererweckungsprozeß war in die Breite gegangen und hatte eine Virtuosität der nachahmenden Selbstidentifizierung und Wiedereinfügung in die Tradition bis zur Selbstverständlichkeit erreicht. Man konnte daher nicht nur die akademische Jugend, sondern auch den einfachen Wehrmann der Befreiungskriege vermittels dieser wiedererweckten Formen ansprechen. Der Gebrauch, den man von Luther und dem Luther-Ton machte — besonders bewußt tat das Arndt —, bildete "in dieser Lage die Nationalgemeinschaft fast zur pseudokirchlichen Gemeinde um (Schleiermachers Predigten, Fichtes Reden an die deutsche Nation). Zugleich verband sich der wiedererweckte Sinn für volkstümliche Formen mit dem rhetorischen Pathos, das Aufklärung und Klassik gemeinsam war und in Schiller seine größte und wirksamste Gegenwärtigkeit gewonnen hatte. Man brauchte es nur von der Menschenwürde auf die Würde der Nation umzubeziehen. Der Wirkungsbereich der pathetischen Rede lag vor allem in Hörsaal und Kirche, der ihrer schriftlichen Fixierung in der Proklamation, einer politisch-literar. Gattung, an der sich die führenden Romantiker kräftig beteiligten, so wie sie das auch, unter Rückgriff auf alte wieder geläufig gewordene Formen, in ihren polit. Zeitschriften taten (Kleist, Adam Müller, Arndt, Görres). Die größte Wirkung auf die Allgemeinheit aber entfaltete hier das p o l i t . L i e d , das wohl am wenigsten als historische Maske empfunden wurde, selbst da nicht, wo es ausgesprochen historisierte: weder vom Dichter her noch von denen, die es aufnahmen. Gerade auf dieser subjektiven Ehrlichkeit beruhte seine starke gemeinschaftsbildende Stoßkraft. Denn diese war ja mit dem Sturz Napoleons nicht gebrochen, sondern bewegte letztlich auch die um die Früchte ihres Idealismus gebrachten Freiheitskämpfer zu ihrem Ringen um ein nationales und demokratisches Deutschland durch die ganze Restaurationszeit bis zu den tiefen Auseinandersetzungen von 1848. Es ist merkwürdig zu sehen, wie lange sich diese subjektive Ehrlichkeit des polit. Pathos hält; bis 1848 ist sie noch vorhanden, wenn auch ihr Gegenstand nur noch in der schleswig-holsteiner und vielleicht der Habsburger Frage mit dem nationalen Freund-Feind-Verhältnis von 1814 vergleichbar bleibt. Das Professo-

renparlament von 1848 ist sogar nahezu Wiedergeburt des Idealismus der Befreiungskriege. Mit der kleindt. Lösung von 1871 wird dies alles weitgehend epigonal oder unecht, entartet ζ. T. zu einem nationalstaatlichen Hurrapatriotismus, der sich bis in die Zeit der Weltkriege als falscher, sentimentalischer Ton weiter vererbt (nicht mehr Ε. M. Arndt oder Uhland oder „Die Wacht am Rhein" selbst—sondern all dieses erstarrt und konserviert in Kommersbuch, Schullesebüchem und Unterricht). Das hat aber seine geschichtlichen Gründe. Das Selbstbewußtsein der P. D. der Befreiungskriege ging durch alle Schichten. Es waren dann im großen ganzen dieselben Schichten, die im Verlauf der Burschenschaftskämpfe und der anschließenden Demagogenverfolgungen durch die restaurativen dynastischen Mächte die Blickrichtung von außen nach innen ändern mußten, wobei sie aber den nationalen Idealismus von 1814 festhielten. Die subjektive Ehrlichkeit blieb, so lange der Druck des polit. Gegners als sozusagen schicksalshaft empfunden wurde. Sie konnte sich sogar vorübergehend wieder spontan einstellen bei Ausbruch des 1. Weltkrieges. Da die in Juli-und Märzrevolution schließlich ausmündende R e s t a u r a t i o n s z e i t den Freiheitskämpfern von 1814 die Verwirklichung ihrer großdt. gedachten Nationalidee versagte, wurden die vorher gegen Napoleon gerichteten Energien jetzt verschoben, da sie sich auch mit Gewalt nicht verdrängen ließen. Da Deutschland selber nicht angegriffen wurde, so zieht sich durch diese Jahrzehnte gleichsam stellvertretend die leidenschaftliche Anteilnahme am Schicksal der Herzogtümer Schleswig-Holstein unter der dän. Krone, wobei bedeutende Vertreter der jüngeren Romantik und überhaupt die tragende Schicht des Frankfurter Parlaments sich engagierten, so wie es später Th. Storm tat. Das war schon eine Restriktion gegenüber 1814, ein Ausweichen auf ein bloßes Teilgebiet. Andere Provinzen des Ausweichens fand die P. D. im P h i l h e l l e n i s mus (s. d.) und P h i l p o l o n i s m u s ; beide relativ gefahrlos und beide gelegentlich bis in die literar. Topik ähnlich. Hier wurden ja edle Kulturvölker von „barbarischen Unterdrückern" ihrer Freiheit beraubt. Dabei war das Griechenthema aktualisierte Klassik, das Polenthema aktualisierte Romantik. Phil-

Politische Dichtung hellenentum war aber schon Sadie der früheren Goethezeit gewesen mit dem großartigen Versuch eines Brückenschlages zwischen griech. und dt. Schidcsal, wie Hölderlins Hyperion (1797-99), nach dieser Seite auch ein polit. Roman, ihn darstellt. Die Deutschen und Griechen werden hier nicht umsonst in ihrer Friedlosigkeit und Angefochtenheit wie in ihrer Größe auf gemeinsamer Ebene betrachtet, ihre Partnerschaft wird aus der klassischen F e m e der Vergangenheit in die Gegenwart projiziert. Am Ende dieser Entwicklung steht dann die biedermeierliche Sentimentalität der Lieder der Griechen (1821-24) Wilhelm Müllers. In beidem, dem Mitgefühl mit dem vergewaltigten edelsten der Völker und der Anteilnahme am Schicksal des aufgeteilten Polens, das von jedem mittleren Dichter eingefühlte ritterliche Lieder zu fordern sdiien, schwang übrigens eine erhebliche Portion Selbstmitleid der verhinderten deutschen Generation mit. Daher ballte sich gerade in diesen beiden polit. Themen so viel Sentimentalität zusammen, daß es bei Heine schon zu ihrer Parodierung kam. Albert P o e t z s c h , Studien zur frühromant. Politik u. Geschichtsauffassung (1907; Beitr. z. Kultur- u. Universaigesch. 3). Carl S c h m i t t , Polit. Romantik (1919; 2. Aufl. 1925). Jakob Baxa, Einführung in die romant. Staatswissenschaft (1923; 2., erw. Aufl. 1931; Herdflamme, Erg.-Bd. 4). Paul K l u c k h o h n , Persönlichkeit u. Gemeinschaft. Studien zur Staatsauffassung d. dt. Romantik (1925; DVLG., Buchr. 5). Ferdinand L i o n , Romantik als dt. Schicksal (1927). Henri B r u n s c h w i g , La crise de VEtat prussien älafin du 18" Steele et la genese de la mentalite romantique (Paris 1947). H. G. S c h e n k , Leviathan and the European Romantics. Journal 1 (1947/48) S. 240-254. Jacques D r o z , Le romantisme allemand et Vit at. Resistance et collab. dans YAllemagne napolionienne (Paris 1966; Bibl. historique 380). Ders., Le Romantisme politique en Allemagne. Textes choisis et presentes (Paris 1963). Dt. Vergangenheit u. dt. Staat. Bearb. v. Paul K l u c k h o h n (1935; DtLit., Romantik 10). Robert F. A r n o l d , Fremdherrschaft u. Befreiung 1795-1815 (1932; DtLit., Polit. Dichtung 2). Wilh. W o h l r a b e , Die Freiheitskriege in Lied u. Geschichte. 2 Bde (1933). Robert F. A r n o l d u. Karl W a g n e r , Achtzehnhundertneun. Die polit. Lyrik d. Kriegsjahres (1909; Schriften d. Literar. Ver. in Wien 11). Wilhelm K o s c h , Dt. Dichter vor und nach 1813. Befreiungskampf u. Burschenschaft im Spiegel d. zeitgenöss. dt. Dichtung (1925). Hans H i r s c h s t e i n , Die franz. Revolution

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§ 27. Es war ganz natürlich und beruhte nicht auf polit. Taktik, daß die p. D. der Befreiungskriege dem J u n g e n D e u t s c h land sowohl ihre meisten Formen wie auch ihr Gesinnungspathos vererbte. Nur in der Prosa, sowohl im Roman (Immermann, Gutzkow, Laube) wie im polemisch-ironischen Essay oder fingierten Brief, war das J. Deutschland im Formalen originell oder entwickelte es literar. Techniken der Aufklärung in schöpferischer Weise weiter. Für sie darf L. Wienbargs Satz in vollem Umfang gelten: „Die Prosa ist eine Waffe jetzt und man muß sie schärfen." Im Drama blieb das Schiller-Körnersche Vorbild des nationalen und weltanschaulichen Geschichtsstücks maßgebend (Hohenstaufen-, Sickingen-, Hutten-, Luther-Motiv; das Emanzipationsmotiv von Gutzkows Uriel Acosta greift sogar auf Lessing zurück). Es deutete nur die Freiheitsidee nationaler und demokratischer, als Schiller es tat. In der Revolutionslyrik

der Prutz, Herwegh, Freiligrath, Fallersleben zielt man auf die gleiche Wirkungsmöglichkeit wie das polit. Lied der Befreiungskriege und auch mit den gleichen historischsentimentalischen Formen. Das Zeitalter der Juli- und der Märzrevolution ist zugleich auch das Zeitalter, in dem das Nationallied {Die Wacht am Rhein [1840], „Deutschland über alles" [1841]) sich durchsetzt. Hier gibt es stofflich eigentlich nur die eine neue Stoßrichtung von Herweghs „Reißt die Kreuze aus der Erden" und der polit. wie kulturkämpferischen Gedichte des jungen Gottfried Keller (1840), die im Gefolge des neu aufkommenden Materialismus und der in ihm sich vollziehenden klassenkämpferischen Umdeutung der Freiheitsidee liegt. Der Unterschied der polit. Lyrik des J. Deutschland zu der der Romantik hegt kaum im Formalen, aber er wird deutlich an der Vielzahl der neu aufkommenden „Anti" (Anti-Tyrannen, -Zensur, -Polizei, -Orthodoxie, -Muckertum, -Papsttum, -Jesuitismus usw.). Der Ton wird dabei vielfach auf das Tagesjoumalistische herabgestimmt, die p. D. wird mehr und mehr zur zweckgebundenen Gebrauchsliteratur. Die Idee einer freien Nation und der Gewinnimg des „Volkes" für sie bleibt bestehen, doch verschwindet sie häufig hinter dem bloß Tages- und demokratisch Parteipolitischen. Sie zündete noch, wo das Pathos vorhanden ist, wie in Herweghs Gedichten eines Lebendigen (1841-44), bei Dingelstedt oder Freiligrath. Hier ergab sich eine eigene Topik des Gegners, der man ζ. B. fast kataloghaft auch in der Lyrik des jungen G. Keller begegnet. Naturgemäß ist dabei die apokalyptische Mythisierung des Gegners, der dazu immerhin ein Napoleon sein mußte und kein Kotzebue sein durfte, verlorengegangen. Eher wird umgekehrt der Gegner seiner königlichen oder priesterlichen Scheinwürde entkleidet. Es entsteht p. D. von teilweise hochgespannter Taktik mit einem Einsatz von manchmal grimmiger Ironie, den die Dichtung der Befreiungskriege, trotz ihrer Unbedenklichkeit in der Wahl ihrer Mittel, so noch nicht gekannt hatte (man vergegenwärtige sich die totale Humor- und Ironielosigkeit eines Jahn). Die polit. oder politisierende Schriftstellerei eines Hoffmann von Fallersleben (Hoffmannsche Tropfen [1844]) oder Heine (Atta Troll [1843]; Deutschland,

Politische Dichtung ein Wintermärchen [1844]) aber lebt vom ironischen Gebrauch des romantischen Erbes. Der makropolitische, nationale Gesichtspunkt der polit. Romantik mit seiner Möglichkeit der Mythisierung der Konflikte wird sozusagen mikropolitisch: zum dt. Hausstreit um die Freiheit, die nun wieder aufklärerisch begriffen wird. Das gestattet Heine das Zurückweichen in das Quasi-Märchen. Im übrigen kann sogar bei diesem dezidierten Ironiker und Satiriker der romantische Kaisermythos noch immer sein Reduit finden (in dem Napoleonmythos der Beiden Grenadiere), wie sich ja auch der Ton von Rükkerts Geharnischten Sonetten aus dem Jahr 1813 in den vaterländischen Sonetten Geibels der 40er Jahre fortsetzt mit dem Ingrediens auch des alten deutschen Reichsmythos. War schon das Formspiel der Romantik Lust an der Kontrafaktur, so erreicht in Heine das J. Deutschland Souveränität in Parodie und Persiflage der Romantik. Seine Haßliebe zu ihr — grundsätzliche Zwiespältigkeit der inneren Beziehimg des J. Deutschland zu diesen unmittelbaren Vorgängern überhaupt — verleiht seiner wie auch Börnes oder Gutzkows Essayistik den florettierenden Spielcharakter, der ihr über den unmittelbaren Zweck der Verschleierung hinaus ästhetischen Wert gibt und der Beweglichkeit der dt. Prosa so viel einbringt. Dabei wird die polit. Pointe eleganter und geschliffener denn je, der parteipolitische Ernst manchmal aber dialektisch zweideutiger, da empfindliche persönliche Erfahrungen und ästhetische Spielfreude mitunter den Parteistandpunkt relativieren und sublimieren. Demokrat, aber zugleich Anhänger einer sentimentalen Napoleon-Verherrlichimg, Freiheitskämpfer, der die Polenbegeisterung lächerlich findet, polit. Dichter und Schriftsteller, der das reine dichterische Spiel gegen das Pathos der P.D. seiner Gesinnungsgenossen verteidigt —: mit all diesem legt Heine den Grund zu einem provokativen und aktiven (nicht biedermeierlich resignierenden) Nonkonformismus, der bis in die Gegenwart nachwirkt. Um der Erscheinung Heine historisch gerecht zu werden, wird man immer wieder bis auf die Aufklärung zurückblicken müssen, aus der Heine sowohl seinen zugleich aggressiven wie maskierten Essaystil wie die Einmischung des ironischen Bänkelklangs in seine „Volkslied"töne holt. Durch seine (nachro-

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mantische) empfindliche Subjektivität ist ihm jedoch die Standfestigkeit im Gesellschaftsgefüge, die der Aufklärung selbstverständlich war, verlorengegangen: verkannter (und dabei doch ungemein wirkungsmächtiger) Poet und Literat, heimatloser Deutscher, emanzipierter Jude, der doch seine Ghettoherkunft nicht vergessen kann. Die gesellschaftliche Einordnung, die Moses Mendelssohn und vielen nach ihm — ζ. B. in der Sphäre der Berliner Salons — gelungen war und die auch noch seinem Zeitgenossen Felix Mendelssohn-Bartholdy gelang, ist ihm versagt. Die Provokation, die von seinem gesamten literar. Schaffen, nicht nur dem politischen, ausging und die zwar subjektiv bedingt war und doch mit ähnlicher geistesgeschichtlicher Notwendigkeit wie die durch Neidhart im MA. erfolgte, hat in verhängnisvoller Weise zum Antisemitismus des dt. Durchschnittsbürgertums beigetragen, das von ihm zugleich fasziniert und abgestoßen wurde. Die Ereignisse von 1830 und 1848 wirkten aber keineswegs ausschließlich in dieser fortschrittlichen Richtimg. Weit entfernt von der jungdeutschen polit. Gebrauchslyrik und Prosa ist die Reaktion auf die Märztage ζ. B. in Ö s t e r r e i c h . Stifter wird bekanntlich durch die Vorgänge in Wien an seinem bislang liberalen Menschenbilde irre. Er wird zuerst im Pessimismus seiner Novellen, dann im utopischen Optimismus seines Wittiko (1865-67) darauf antworten. Kaum anders geht es Grillparzer, auch er ursprünglich liberal, der in dem Heraufkommen der neuen Zeit eine echte Existenzkrise erfährt, ähnlich wie die klassisch-frühromantischen Zeitgenossen vor und um die Jh.wende. Sein geschichtliches Kontinuitätsbewußtsein und sein individuelles dramatisches Genie machen ihn unfähig, etwa wie Hebbel Trost in der Hegelschen Geschichtsphilosophie zu finden. Seine Vision des aufsteigenden Dämons der Masse in Ein Bruderzwist im. Hause Habsburg (nach 1855) mythisiert das, was für die Jungdeutschen Zukunft in Freiheit hieß, wieder apokalyptisch zum Anfang der letzten Tage der Menschheit, so wie er in Libussa (1844) einen der nationalen Gründungsmythen mittelalterlichen Geistes schwermütig wiedererklingen ließ. Dagegen steuert Österreich zur polit. Lyrik der Zeit eines der auf die Revolution hin wirksamsten

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Politische Di&tnng

Bücher bei: die damals nicht nur im Habsburgerreich epochemachende Gedichtsammlung von Anastasius Grün (Graf Auersperg) Spaziergänge eines Wiener Poeten (1831). Allgemeine Darstellungen zur Epoche: Robert Eduard P r u t z , Die polit. Poesie der Deutschen (in: Literarhistor. Taschenbuch 1, 1843), wiederholt in: Prutz: Kleine Schriften. Bd. 2 (1847) S. 91-135: Die polit. Poesie, ihre Berechtigung u. Zukunft. Ders., Die dt. Lit. d. Gegenwart 1848-1858 (1859; 2. Aufl. 1860). Paul T r ä g e r , Die polit. Dichtung in Deutschland. E. Beitr. zu ihrer Gesch. während d. ersten Hälfte unseres Jh.s. Diss. München 1895. Alexander B r o e c k e r , Die Wirkung d. dt. Revolution auf d. Dichtung d. Zeit mit bes. Berücks. d. polit. Lyrik. Diss. Bonn 1912. James Granville L e g g e , Rhyme and revolution in Germany. Α study in German history, life, literature and character, 1813-1850 (London 1918). Eilhard Erich P a u l s , Der polit. Biedermeier (1925; Pauls: Dt. Leben. Bd. 7). Alfred Κ1 e i η b e r g, Die dt. Dichtung in ihren sozialen, zeit- u. geistesgeschichtlichen Bedingungen (1927), Kap. 12 ff. Hugo B i e b e r , Der Kampf um d. Tradition. Die dt. Dichtung im europ. Qeistesleben, 1830-1880 (1928; Epochen d. dt. Lit. 5). Fritz M a r t i n i , Dt. Lit. im bürgerlichen Realismus, 1848-1898 (1962; Epochen d. dt. Lit. 5/2). Martin G r e i n e r , Zwischen Biedermeier u. Bourgeoisie (1954). Friedr. S e n g l e , Voraussetzungen u. Entwicklungsformen d. dt. Restaurationslit. DVLG. 30 (1956) S. 268-294, wiederholt in: Sengle, Arbeiten zur dt. Lit. 1750-1850 (1965) S. 118-154. Karl Marx u. Friedr. E n g e l s , Über Kunst u. Lit. Hg. v. Michail Lifschitz (30.-34. Tsd. 1950; erschien zuerst russ. 1933). Peter D e m e t z , Marx, Engels u. d. Dichter (1959). Die Hegeische Linke. Texte ausgew. u. eingel. v. Karl L ö w i t h (1962). Zu einzelnen Gattungen: Arnold R ü g e , Die polit. Lyriker unserer Zeit. E. Denkmal mit Porträts u. kurzen histor. Charakteristiken (1847). — Karl F r e n z e l , Der histor. Roman - der polit. Roman, in: Frenzel, Neue Studien (1868) S. 70-86; 122-140. Robert R i e m a n n , Die Entwicklung d. polit. u. exotischen Romans in Deutsdiland. Progr. Leipzig 1911. Georg L u k ä c s , Der histor. Roman (1955). — Eugen K a l k s c h m i d t , Dt. Freiheit u. dt. Witz. E. Kapitel Revolutions-Satire aus d. Zeit v. 1830-1850 (1928). Anthologien polit. Lyrik: Hermann Margg r a f f , Polit. Gedichte aus Deutschlands Neuzeit (1843). Ders., Das ganze Deutschland soll es sein (1861; 2. Aufl. 1870). Viktor K l e m perer, Dt. Zeitdichtung von d. Freiheitskriegen bis zur Reichsgründung. 2 Tie (1910; Bücher d. Wissens 142/143). Benno v. W i e s e, Polit. Lyrik 1756-1871 (1933; Literarhistor. Bibl. 6). Emst V o l k m a n n , Um Einheit u. Freiheit 1815-1848 (1936; DtLit., Polit Dichtg. 3). Bruno K a i s e r , Das Wort d. Verfolgten. Anthologie eines Jh.s (1948). Ders., Dt. Vermächtnis. Anthologie eines Jh.s (1952). Alfred

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Politische Diditung

scharen-Unruhen (G. Keller) im Gefolge der Machtergreifung durch Freisinn und Radikalismus geschüttelt wurde, ein konservativer Gegenstoß gegen die europäischen Bewegungen von 1830 und 1848. Ihn führte vor allem, jedoch ohne die Resignation Grillparzers und Stifters, Jeremias Gotthelf (Albert Bitzius). Dieser Pfarrherr im Emmental begriff sich selbst als Volkserzieher auch im dezidiert polit. Sinne. Seine Konfrontation von Zeitgeist und Bernergeist (1852), seine erbarmungslose Satire auf die gesellschaftlichen Zustände im seit bald nach der Julirevolution radikal geleiteten neuen Staat (Der Herr Esau [1844], unvollendet posthum erschienen), sein Hohn auf den Typus der nichtsnutzigen polit. Wanderprediger aus der dt. Linken (Dr. Dörbach der Wühler, 1849), sind ebensowenig resignativ wie Bitzius' zornige Auseinandersetzung mit dem Frühsozialismus in Jakobs des Handwerksgesellen Wanderungen durch die Schweiz (1846/47). Im .Grunde ist die polit. Verantwortung des selbstbewußten Schweizer Bürgers in fast jedes seiner Werke eingegangen, auch wo sie nicht offene Satire oder gar Pamphlet sind. Hier ist der polit. Standort christlich konservativ und mit Bewußtsein nicht humanistisch wie der Stifters und Grillparzers. Nicht viel anders beim späteren K e l l e r , der die vor-48er Hurra-Lyrik bald hinter sich gelassen hat. Aber worauf anders als aufs Politische zielt der Weg des Grünen Heinrich (1854/55 und 1881) mit der ihn heimwärts in die Verantwortung des Bürgers entlassenden beschwörenden Rede des Grafen? Was anderes meint das Seidwyler Motiv in seiner Parodierung untüchtigen Bürgertums oder der Sinn der Lehren des Paten für den jungen Herrn Jacques in den Züricher Novellen einschließlich der positiven politisch-gesellschaftlichen Didaktik im Fähnlein der sieben Aufrechten (1861)? D a ß polit. Parteinahme im dt.-franz. Krieg zugunsten der Bismarckschen Reichsgründung sogar bis in die Sieben Legenden (1872) hineinschlägt, ist ebenso bezeichnend für den nicht mehr revolutionären späten Keller wie die außergewöhnlich mutige, dem „Zeitgeist" ins Gesicht schlagende Kritik der fortschrittlichen Gesellschaft (merkwürdig dem früheren Gegner Gotthelf angenähert) in dem großartigen Altersroman Martin Salander (1886) und in der ihm verwandten letzten

Seidwyler Novelle Das verlorene Lachen (1874). D a ß Keller in Am Mythenstein (1860) und in den Bettags-Mandaten, die in sein Amt als Zürcher Stadtschreiber fielen, auch polit. Schriftsteller im engsten Sinne sein konnte, fällt darin an Gewicht weit zurück. Vom Leiden des älteren Keller an politisch-gesellschaftlichen Zuständen seiner Heimat, die ihm als Zerstörung der Ethik erschienen, kann man nicht allein die polit. Briefäußerungen Jacob B u r c k h a r d t s verstehen, sondern auch manche Züge seiner gesamten Geschichtskonzeption — : nämlich als Konzeption einer noch großzügigen Herrenmenschlichkeit ohne Kleine-Leute-Mediocrität. Auch das, was an C. F . M e y e r s epischer Kunst als „politisch" ansprechbar ist: der Nachklang des 48er-Mythos wie der dt. Reichsgründung in Huttens letzte Tage (1871), dazu die immer wieder auftauchenden Kulturkampf-Motive (Das Amulett [1863], Jürg Jenatsch [1874], Gustav Adolfs Page [1882]) sowie die diesem verwandte Hugenotten-Lyrik: Auch sie sind politisch, wenn gleich in einem sublimierten Sinne. Überdies gehen sie mit einer Distanzierung von Frankreich Hand in Hand, in dessen Sprache der junge Meyer einst debütiert hatte, und mit dem Engagement außer für die deutsche auch für die italienische Einigung, in deren Probleme ihn einer der Begründer des neuen Italiens (der Baron Bettino Ricasoli) selber eingeweiht hatte. Werner Ν ä f , Das liter. Comptoir. Zürich u. Winterthur (1929; Neujahrsbl. d. Literar. Ges. Bern. N. F. 7). Werner S u t e r m e i s t e r , Zur polit. Dichtung d. dt. Schweiz 1830-1848. (1907; Neujahrbl. d. Literar. Ges. Bern 1908). Henry Emest T i e c h e , Die polit. Lyrik d. dt. Schweiz von 1830-1850. Diss. Bern 1917. Thomas V e l i n , Polit. Poesie zur Sonderbundszeit. Schweizer Rundschau 47 (1947/48) S. 344-353. Alfred Z ä c h , Liberalismus u. Bundesreform 1848 im Urteil zeitgenöss. Dichter. Die Schweiz. Ein nationales Jb. 19 (1948) S. 63-75. Hans B i o e s c h , Jeremias Gotthelf, ein staatsbürgerlicher Mahner. E. Vortrag (Zürich 1940). Paul B a u m g a r t n e r , Jeremias Gotthelfs 'Zeitgeist und Bernergeist' (Bern 1945). Renate R i t t e r , Jeremias Gotthelf als Volksprediger. Studien über s. religiöse u. polit. Haltung. Diss. Freiburg 1945. JeanDaniel D e m a g n y , Les idees politiques de Jeremias Gotthelf et de Gottfried Keller et lew evolution (Paris 1954). Josef M a y b a u m , Gottesordnung u. Zeitgeist. E. Darstellung d. Gedanken Jeremias Gotthelfs über Recht u. Staat (1960; Schriften z. Rechtslehre

Politische Dichtung u. Politik 29). Walter Heinridi S t r a s s e r , Jeremias Gotthelf als Satiriker. Diss. Basel 1960. Jonas F r a n k e l , Gottfried Kellers polit. Sendung (1939). Emil E r m a t i n g e r , Gottfried Keller u. d. Demokratie. Schweizer Monatshefte 20 (1940/41) S. 172-184. Harold H. von H o f e , Gottfried Kellers conception of democracy as reflected in his characters. (Masch.) Diss. Northwestern Univ. 1940. Georg L u k ä c s , Gottfried Keller (1946, wiederholt in: Lukäcs, Dt. Realisten d. 19. Jh.s (1952) S. 147-230 (gesdir. 1939). Hans R i c h t e r , Gottfried Kellers frühe Novellen (1960; Germanist. Studien). Ludmila N o w a k , Der Werdegang zum bewußten Bürger bei Gottfried Keller. Diss. Poznan 1961. Willy R ö 11 i, Das Bild des Volkes bei Gottfried Keller (Winterthur 1960). Luzius G e s s l e r , Lebendig begraben. Studien zur Lyrik d. jungen Gottfried Keller (Bern 1964; Basier Studien z. dt. Spr. u. Lit. 27). Michael K a i s e r , Literatursoziologische Studien zu Gottfried Kellers Dichtung (1965; Abhdlngn. z. Kunst-, Musik- u. Lit.wiss. 24). Wemer K o h l s c h m i d t , Louis Wohlwend u. Niggi Ju. Eine vergl. Studie zum Zeitgeistmotiv bei Keller u. Gotthelf, in: Kohlschmidt, Dichter, Tradition u. Zeitgeist (1965) S. 337-348. Ders., Der Zeitgeist in Kellers 'Salander', in: Festschr. f. F. J. Billeskov-Jansen (1967). Paul H. S c h a f f r o t h , Heinrich Zsdiokke als Politiker u. Publizist während der Restauration u. Regeneration (Aarau 1950). § 29. Nicht einer dieser großen Schweizer war weltpolitisch wie innenpolitisch unengagiert, so wie dies auch für jene deutschen Realisten gilt, die alle weit unmittelbarer von der Romantik herkommen: Storm,Raabe,Fontane. Es war, was vor allem für R a a b e und F o n t a n e entscheidend wird, dafür gesorgt, daß sie einen neuen provozierenden geschichtlichen Gegenstand vorfanden, an dem sie politisch litten: das Reich der Gründerzeit und dann der Wilhelminischen Ära, für dessen erbarmungsloseste Analyse bald die Kulturkritik Nietzsches sorgen sollte: legitime deutsche Selbstkritik am Deutschen, wie sie selbst der alte Goethe so radikal nicht getrieben hatte. Nietzsche — auf Schopenhauers Spuren — leitet mit seiner Annihilierung des Bildungsphilisters und der Dekadenz der Kultur die Reichskritik des Naturalismus und seiner politischen Nachfolgebewegungen Expressionismus und Aktivismus ein, die freilich gezwungen sein werden, Nietzsches aristokratischen Individualismus auszuklammern und durch soziale Ideologien zu ersetzen. Geht man von diesem Vorgriff auf das ZeitReallexikon I I I

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alter Raabes und Fontanes zurück, das im übrigen die geschärfte Waffe der Prosa vom Journalismus des Jungen Deutschland übernommen hat, so darf man ihre auch politische Distanz vom hektischen Materialismus des Gründertums und der Wilhelminischen Bildungsmisere sowohl auf reale Erfahrung zurückführen wie auf den noch immer idealistisch-romantischen Maßstab, den sie an die moderne Jagd nach Geld und Macht und Standesfassade legen. Raabe hat das geradezu bitterböse in der Vorrede zur 2. Aufl. des Pechlin (1890) festgehalten: „Wie während oder nach einer großen Feuersbrunst in der Gasse ein Sirupfaß platzt, und der Pöbel und die Buben anfangen zu lecken; so war im deutschen Volke der Geldsack aufgegangen, und die Taler rollten auch in den Gossen, und nur zu viele Hände griffen auch dort danach. Es hatte fast den Anschein, als sollte dieses der größte Gewinn sein, den das geeinigte Vaterland aus seinem großen Erfolge in der Weltgeschichte hervorholen könnte! Was blieb da dem einsamen Poeten in seiner Angst und in seinem Ekel, in seinem unbeachteten Winkel übrig, als in den trockenen Scherz, in den ganz unpathetischen Spaß auszuweichen, die Schelmenkappe über die Ohren zu ziehen und die Pritsche zu nehmen?" So entspringt dem Unbehagen des nachdenklichen Bürgers nicht eigentlich aktive Polemik (außer in Storms Parteinahme in der dänischen Frage), sondern das Gefühl einer Ohnmacht und Leere angesichts der Ungeistigkeit des neuen Reiches bei Streben nach äußerlicher Repräsentation und Weltmacht. Ein fröhliches Mitplätschem mit dem „Fortschritt", wie ζ. B. Gustav Freytag es in den Journalisten (1883) praktiziert, ein sich liberal gebendes Stützen des nationalen Anspruches, wie es die polit. Seite des einstigen Bestsellers Soll und Haben (1855) mit kräftigen frühantisemitischen Zügen zu verbinden wußte, gehört weithin auch zur damaligen Bürgerlichkeit. Jedoch ist dies weder Raabes noch Fontanes Sache, obwohl Raabe Figuren wie den nationalen Rhetor mit Schillers Pathos, Rektor Fischart (Der Dräumling, 1871), schaffen, Fontane in Balladen wie Prosaepik ganz tüchtig in die preußische und bismarcksche Kerbe hauen kann. Man sollte jedoch in Fontane nidit in erster Linie den geschiditsbewußten Märker 14

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sehen, der er auch war, sondern man muß audi seine ständig sich vertiefende gesellschaftlich-politisdie Kritik am alten Preußen wie am neuen Reich in seiner Prosaepik wie in seinen Briefen in Rechnung stellen. Man wird dort sdion in seinem Roman-Erstling Vor dem Sturm (1878) Preußen durch die Stimme des Polen in Frage gestellt sehen („.. . nicht ein Land mit einer Armee, sondern eine Armee mit einem Land"). Und eine solche Linie der Diskussion, die vor keinem Tabu zurückschreckt (weil es immer den Partner gibt, der es ausspricht), zieht sich hin bis zu den profunden Auseinandersetzungen über die Aspekte der Zukunft, die unwiderruflich nicht mehr patriarchalisch und junkerlich, sondern von neuen Gesellscliaftsschichten bestimmt sein wird, in Fontanes Alterswerk Der Stechlin (1898). Der Rang dieses Romans als polit. Dichtung ist hodi, weil es in ihm nidit einfach um die Liquidation eines Systems durdi ein anderes geht, sondern Menschliches sich mit Menschlichem auseinandersetzt unter Anerkennung geschichtlidier Ordnungen und Gesetze der Ablösung. Das gleidie darf aber audi für Höhepunkte des Raabeschen Schaffens gelten. Raabe kennt (nicht nur im Hungerpastor, 1863/64) die soziale Frage und versucht sie geistig zu bewältigen, sondern ist in der Mehrzahl seiner Werke ein ironischer Kritiker des bürgerlidien Materialismus wie wenige. Freilich bleibt seine ursprünglich romantische Position zu den Gemütswerten des Volkes ebenso kennzeidmend für ihn. Ja, daß er sie oft allzu sentimental verklärt, konnte später, in der polit. Krisensituation nach dem ersten Weltkrieg, dazu führen, daß er in gewissen Schichten zu einer Art nationalem Trostdiditer der Innerlichkeit wurde. Theodor Fontane: Rolf Norbert L i n n , Prussia and the Prussians in the works of Th. Fontane. (Masch.) Diss. Univ. of California 1949. Georg L u k ä c s , Der alte Fontane, in: Lukäcs, Dt. Realisten d. 19. Jh.s C1952) S. 262-307 (geschr. 1950). P. G r a p p i n , Th. Fontane et la rioolulion de 1848. EtudGerm. 13 (1958) S. 18-31. Wilh. J ü r gen sen, Th. Fontane im Wandel s. polit. Anschauungen. DtRs. 84 (1958) S. 561-569. Joachim R e m a k , The gentle critic. Th. Fontane and German politics, 1848-1898 (Syracuse 1964). Walter Müller-S e i d e 1, Fontane u. Bismarck. In: Nationalismus in Germanistik u. Dichtung. Hg. v. Benno v. Wiese u. Rud. Henß (1967) S. 170201. — Peter W r u c k , Schach υ. Wuthenow

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Politische Dichtung des Bauern und seiner Welt und unberührten Landschaft, verband sich in der Geschichte dieser Gattung immer mehr mit einer politisch-nationalen Note, die mit dem Zeitalter des ersten Weltkriegs und seiner Folgejahre sich noch stärker akzentuierte. Hier wurden dann der Bauer und die heimatlichen Stämme und Landschaften, für die er stellvertretend angesprochen wurde, zum Hort nicht nur der Tradition (was er tatsächlich sein kann), sondern des tüchtigen Kems der Nation überhaupt. Die Trostwirkung, die in der Nachkriegszeit von der Raabe- und Stifter-Renaissance ausging, wurde hier, weitgehend mit falschem Zungenschlag, zu etwas Unheilvollem. Dies war nicht nur in Deutschland und Österreich so, sondern auch in der Schweiz, die ähnlich eine auch politisch gemeinte Heimatdichtung erzeugte. Nieder- wie oberdeutscher Sprachbereich hatten hier einander nicht viel vorzuwerfen (s. a. Mundartdichtung). Das Dritte Reich hatte, was die dt. und später auch die österreichische Dichtung anging, damit seine Ahnenreihe für die erwünschte, nicht „entartete", immer ausgesprochener politisch im Sinne der Rassenlehre gezielte „Blut und Boden-Dichtung". Georg M a u r e r , Zum. Problem d. Heimatdichtung, in: Maurer, Der Dichter u. s. Zeit (1956) S. 108-124. Emst W a l d i n g e r , Über Heimatkunst und Blut- u. Bodenideologie. CLL. NS. 10 (1956/57) S. 106-119. Fortschrittliche Tendenzen: Hans Joachim G e r η e η t ζ, Der demokratisch-oppositionelle Gehalt in Fritz Reuters literar. Schaffen, unter bes. Berücks. d. Einflusses d. Ideen d. bürgerl. Revolution von 1848/49, in: Fritz Reuter E. Festschr. zum ISO. Geb. (1960) S. 23-40. — Rud. B ü l c k , Klaus Groths polit. Dichtung. Nddjb. 69/70 (1943/47) S. 71-83.

§ 31. Es wurde hier antizipierend eine Entwicklungslinie gleich ausgezogen, die zum Teil auch als Reaktion gegen erst noch darzustellende Vorgänge verstanden werden muß. Diese Vorgänge setzen schon mit dem N a t u r a l i s m u s der 80er Jahre ein, der, neben seinen literar. Voraussetzungen in Frankreich, Rußland und Skandinavien, auch die polit. Wurzel in der internationalen Arbeiterbewegung hat. Der junge Arno Holz und der frühe Gerhart Hauptmann stehen ihr nahe mit anderen der Friedrichshagener Naturalisten, vor allem Wilhelm Bölsche und Bruno Wille, die die Weltanschauung Ernst

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Haeckels, den Monismus der Welträtsel (1899), mit dem literar. Programm der „Moderne" verbinden und die auch die neue Wissenschaft der Soziologie zu ihrer Sache machen möchten. Nicht umsonst heißt die Programmzeitschrift Die Gesellschaft. In diesem geistigen Räume entfaltet sich die nächste Phase klassenbewußter Dichtung seit dem Jungen Deutschland, formal denn auch besonders in der Lyrik auf dessen Spuren, vor allem in der Nachfolge Heines, Herweghs, Hoffmanns von Fallersleben. Emst Alker hat diese Strömung treffend „sozialsentimental" genannt. Denn im Gegensatz zu England (seit Dickens) und Frankreich (von V. Hugo bis Zola) sind in Deutschland die sozialen Folgen der Industrialisierung den Dichtem und Schriftsteilem erst nachträglich und über fremde Anregungen zum Bewußtsein gekommen. Auch Karl Marx übte ja seine publizistische Wirkung aus dem Exil von England aus. Zwar hatte schon G. Büchner im Woyczek die Gestalt des Proletariers in seinem erniedrigten und dumpfen Menschentum geschaffen; aber das war so gründlich vergessen, daß es erst im Gefolge des Naturalismus wiederentdeckt werden konnte. So übernahm der dt. Naturalismus diesen Typus und das mit ihm verbundene soziale Problem zunächst sentimentalisch aus zweiter Hand, und erst nachträglich gelang ihm in gewissem Grade, es zum eigenen Existenzproblem zu verwandeln. Zolas „Lohnsklave" geistert nicht nur durch des jungen Arno Holz' Das Buch der Zeit, Lieder eines Modernen (1885) und die folgenden Sozialromane Ernst Kretzers, sondern auch durch die (vorsichtshalber meist in Zürich herausgekommene) polit. Lyrik des Karl Henkell und John Henry Mackay; wie er denn auch das Zentralmotiv des das Zeitalter erregenden sozialen Märtyrerdramas G. Hauptmanns, Die Weber (1892), ist. Unter dem Naturalismus der jüngeren Generation überwiegt schon ein vitalistisches Element, das klassenkämpferische. In dessen Zeichen steht Richard Dehmels Lied des Arbeitsmannes und Predigt an das Großstadtvolk, Gedichte, die die Lösung der Arbeiterfrage in der Bildung und Wiederbeheimatung des „Lohnsklaven" sehen. Sie setzen bereits den Rückschlag auf den Naturalismus der Hinterhöfe und Proletarierfamilien der modernen Großstadt voraus. 14'

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Der ursprünglich dezidiert apolitische S y m b o l i s m u s hat dennoch in seinen großen Vertretern George, Hofmannsthal, Rilke, Rudolf Borchardt auf den ersten Weltkrieg auch politisch reagiert, freilich in sublimster, vergeistigter Form und im Grunde mehr zugunsten der durch die Zeitereignisse gefährdeten oder erhobenen eigenen Existenz. George freilich hatte schon seit den „Zeitgedichten" des Siebenten Rings (1907) den Zirkel des Ästhetischen für sich bewußt gesprengt, hauptsächlich im Sinne einer Nachfolge von Nietzsches Zeitkritik. Antibürgerlich waren Kunst und Standort der Symbolisten nicht minder als die der Naturalisten, wenn auch aus einem ganz andern Gesichtspunkte, dem der Verachtung des Gewöhnlichen. Für die naturalistisch-aktivistische literar. Front bedeutete das natürlich politisch reaktionäre Gesinnung und extremen Aristokratismus. Das war es aber im wesentlichen auch. Man braucht nur an Hofmannsthals österreichischen Almanack (1916) zu denken, Zeugnis einer bewußt staatserhaltenden Kulturpolitik im Sinne der Tradition des Habsburger Reiches, an das unmittelbar anschließende Absinken des Dichters in eine neue Phase der Schwermut (Der Schwierige [1921], Der Turm [1927]) oder an die Gedichte Georges aus dieser Zeit (später in Das neue Reich [1928] eingegangen), oder an die auf den ersten Weltkrieg folgenden Gedichtzyklen Ernst Bertrams einschließlich seines unmittelbaren polit. Engagements gegen Barres in Rheingenius und Genie du Rhin (1922), dann sieht man die naheliegende Vermutung widerlegt, daß Symbolismus apolitisch sein müsse. Im übrigen war bei allen symbolistischen Dichtern von Rang ein Gerichtsgedanke in das Motiv des Krieges integriert, besonders deutlich bei George (Der Krieg, Der Dichter in Zeiten der Wirren, 1917) und bei Rilke (Der Krieg. Vier Gesänge, 1914), bei dem die Pointe schließlich zum In-Sich-Gehen des menschlichen Herzens wird, vom Rühmen zum Leiden führt. Das alles liegt weit ab von der gleichzeitigen Haß- und Begeisterungsdichtung zu Anfang des ersten Weltkrieges, vor deren fürchterlichen Vereinfachungen George ausdrücklich warnte („er [der Dichter] kann nicht schwärmen / Von heimischer tugend und von welscher tüdce"), bleibt aber auch

hinsichtlich der momentanen Stoßkraft weit hinter ihr zurück. Wieder zeigt sich, daß die dt. polit. Dichtung eher in der existentiellen Zeitdiagnose als im aktuellen Engagement ihren Rang zu wahren weiß. In die gleiche Zeit fällt die Wiederentdeckung und späte Nachwirkung Hölderlins, der jetzt auch als polit. Dichter verstanden wird. Der Rückgriff auf seine Form bei George und Rilke ist deutlich. Wo dieser Rückgriff ins Kunstgewerbliche umschlägt, wie in Rud. Alexander Schröders Deutschen Oden (1914), wird der Stil schon zur rituellen Maske. Noch bedenklicher sind die Folgen, wenn die Rolle des Dichters als die des vaterländischen Sehers (wofür sowohl George wie Hölderlin das Modell abgaben) allzu aktualisierend nachgespielt wird, wie in Ernst Bertrams Gedichtbänden nach 1920 und später bei Weinheber. Georg L u k ä c s , Dt. Lit. im Zeitalter d. Imperialismus (1945). Wolfgang R o t h e , Der Schriftsteller u. d. Gesellschaft, in: Dt. Lit. im 20. Jh. Hg. v. Heim. Friedmann u. Otto Mann. Bd. 1 (4. Aufl. 1961) S. 179-211. Harry Ρ ross, Lit. u. Politik. Gesch. u. Programme d. polit.-literar. Zeitschriften im dt. Sprachgebiet seit 1870 (1963). Peter Paul S c h w a r z , Dichtung u. Politik. Versuch e. soziolog. Darstellung d. Beziehungen zwischen Dichtung u. Politik im Deutschland d. Nachkriegszeit. Diss. Heidelberg 1934. Helene Adolf, Dem neuen Reich entgegen 1850-1871 (1930; DtLit., Polit. Dichtung 7). — Harry Walter P a u l i n , Criticism of the 'Zeitgeist' in pre-naturalistic German literature, 1860-1880. (Masch.) Diss. Univ. of Illinois 1958/59. — Georg L u k ä c s , Nietzsche als Vorläufer d. faschistischen Ästhetik, in: Franz M e h r i n g u. Georg L u k ä c s , Friedr. Nietzsdie (1957; Philosoph. Bücherei 14) S. 41-84. — Maurice B o u c h e r , Les idees politiques de Richard Wagner, exemple de nationalisme mythique (Paris 1947). Alexander B a i l l o t , Les id0es politiques de Richard Wagner. Schopenhauer-Jb. 33 (1949/ 50) S. 82-94. Leon S t e i n , The racial thinking of Richard Wagner (New York 1950). — Helene Adolf, Im Neuen Reidi 1871-1914 (1932; DtLit., Polit. Diditg. 7). Kriegsdichtung: Paul B ä h r , Vergleichung d. Lyrik d. Befreiungskriege mit d. Lyrik d. dt.-franz. Krieges υοη 1870-1871 (1888). Emst Georg Oswald F r i t z s c h e , Die franz. Kriegslyrik des Jahres 1870 in ihrem Verhältnis zur gleichzeitigen deutschen. Progr. Zwikkau 1889. — Julius Β ab, 1914. Der Dt. Krieg im Dt. Gedicht. H. 1-12 (1914-1918), umgearb. Gesamtausg. d. H. 1-6 in einem Bd. (1916). Emst V o l k m a n n , Dt. Dichtung im Weltkrieg 1914-1918 (1934; DtLit., Polit. Diditg. 8). William Karl P f e i l e r , War and

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im

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§ 32. Der historischen Betrachtung stellt sidi der Sachverhalt freilich nicht so einfach dar, als sei die vorwiegend „linksorientierte" Dichtung des aufkommenden E x p r e s s i o n i s m u s und A k t i v i s m u s gerade hinsichtlich des Weltkriegsmotivs, an dem die Geister sich scheiden, die simple Antithese zum aristokratisch-konservativen Symbolismus. Nicht nur der „Großkapitalist" und Gründer der „Insel" Alfred Walther von Heymel, selbst ein Vertreter einer Art symbolistischen Jugendstils, sondern auch der Expressionist Georg Heym lassen im Gedicht und Tagebuch schon vor 1914 den „Schrei nach dem Kriege" laut werden. Das ist aber ganz logisch, vor allem wenn man es bei Heym nachliest. Für beide Seiten, für rechts und für links, hat sich ein Zeitalter der Sicherung verbraucht. Man will wieder aus dem „Stockigen" (Heym) ins Freie, Offene, ins Wagnis, in die Selbstbewährung. Man will aus der Konvention in die „Existenz" In dieser Situation ist auch polit. Entscheidung notwendig. Jedoch ist sie nicht, wie einst im Jungen Deutschland, das Primäre. Vor dem Kriege entdeckten Rilke und Kassner die Existentialtheologie Kierkegaards für sich, und damals beginnt dessen Renaissance. Wie es denn in Rilkes und Georges Kriegsgedichten eigentlich nicht um Vordergrundspolitik, sondern sozusagen um Existenzpolitik ging. Der symbolistische Titel über Ernst Stadlers unmittelbar vor dem Kriege entstandenem Gedichtband Der Aufbruch (1914) ist mitsamt dem gleichnamigen Gedicht repräsentativ für diese vitalistische Wurzel, die Symbolismus und Expressionismus in Deutschland gemeinsam haben. Aus ihr entwächst bis zu Kasimir Edschmids Stockholmer Programmrede von 1916 vorerst durchaus keine pazifistische Tendenz. Das gilt selbst von dem „Weltfreund"-Expressionismus des jungen Werfel, der gleichfalls ein Ausbruch ins Offene sein will; indirekt ist auch er politisch, insoweit er weder den Haß unter Mitmenschen noch unter Völkern vorsehen kann. Die unmittelbarer politisch anwendbare Seite expressionistischer Anthropologie wird dann erst Leonhard Franks Der Mensch, ist gut (1918) bringen. Politische Agressivität ist natürlicherweise in dem Kreise um die „Aktion" zu Hause und lebt sich schon während des Krieges im Dada-Kabarett „Voltaire" in Zürich aus.

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Politisdie Dichtang

Das Kabarett als audi polit. Waffe vor allem mit zügigen Chansons gab es freilich schon vor dem Expressionismus seit der Jh.wende, weniger im eigentlichen „Brettl" als bei den „Elf Scharfrichtern" in Simplizissimus-Nähe, wo schon das Klassenkampfthema „Proleta sum" aufklang (s. Kabarett). In dem politisch revolutionären Expressionismus und Aktivismus wird diese Waffe mit Bewußtsein übernommen. Doch gab es daneben die dazugehörige Vorgeschichte des radikal antibürgerlichen Dramas, die eng damit verwandt war. Die Brücke zu den „Scharfrichtern" bildet hier Wedekind. Neben seiner entmythologisierenden Dramatik steht Karl Sternheims politisch noch schärfer geschliffener Zyklus Aus dem bürgerlichen Heldenleben (1911-13) und Georg Kaisers mitten ins Herz des Bürgertums zielende Produktion für die Bühne (s. Drama u. Lustspiel). Die Parallele im Roman bietet hier Heinrich Manns ätzende Abrechnung mit dem Wilhelminischen Deutschland in Der Untertan (1913) mit seiner schwächeren Fortsetzung Die Armen (1917). Besonders in dem letztgenannten Werk, für das Käthe Kollwitz das eindrückliche Titelbild schuf, ist nicht nur das Bündnis der herrschenden Gewalten, des Feudalismus mit dem Kapitalismus, gegen das Proletariat dargestellt und damit der ganze Jammer der sozialen Frage (nicht mehr sentimental) zum Aufruf an das Gewissen geworden, sondern auch aktivistisch die Frage der Pflicht zur Revolution aufgeworfen.

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§ 33. Aktivistisch-revolutionär, zum Teil mit deutlicher Wendimg zum polit. Kommunismus, sind dann aber auch die Manifeste der Hülsenbedc, Ehrenstein und Rubiner („Der Dadaismus fordert: 1. die internationale revolutionäre Vereinigung aller schöpferischen und geistigen Menschen der ganzen Welt auf dem Boden des radikalen Kommunismus", 1920), wie denn auch diese Strömung sich mit Erich Mühsam und Emst Toller an dem kurzen Zwischenspiel der Münchener Räterepublik engagiert. Für die Verbindung zwischen Kommunismus und Literatur sorgt neben anderen in der Zeit der Weimarer Republik die Kunst Bertolt Brechts und wird sie bis nahe an die Gegenwart noch repräsentieren, in der Lyrik wie im Drama. Mit dem Zwang zur Emigration während der Hitlerzeit wächst ζ. T. die Ra-

Politische Diditang dikalität des polit. Engagements ganz natürlich (s, Emigrantenliteratur). Gegen diesen Radikalismus kann die unter Gewissensdruck erkämpfte Wendung eines Thomas M a n n vom konservativen Autor der Betrachtungen eines Unpolitischen (1917) zum bürgerlichen Repräsentanten des Geistes der Weimarer Republik nicht aufkommen, trotz der bewußt kulturpolitisch gemeinten essayistischen Tätigkeit dieser Zeit und trotz des im Ζauberberg (1924) in der Form des Erziehungsromans meisterhaft herausgearbeiteten Standortes der liberalen Mitte. Auch in und nach der Emigration (Vom kommenden Sieg der Demokratie [1938], Deutschland und die Deutschen [1945], Doktor Faustus [1948]) hat Thomas Mann seinen polit. Standpunkt zwar, besonders als Radioautor während des Krieges, verschärft und manchmal auch verbittert, aber höchstens kaum merklich nach links hin radikalisiert. Es mag sein Festhalten an der Tradition bezeichnen, daß er mit die schärfsten Worte über das deutsche Wesen, die er auch im polit. Sinne münzte, Goethe untergeschoben hat (Lotte in Weimar, 1939). Während des Krieges gingen sie in Deutschland in Abschriften von Hand zu Hand, und noch im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß sollten sie als Beweismaterial aus klassischem Munde dienen. Die viel zu wenig grobe, vermittelnde Form, wie sie Dichter und Literaten der Weimarer Republik vertraten (ζ. B. etwa Bruno Franks Politische Novelle, 1928), mußte zwischen links und rechts zerrieben werden. Erst recht blieb der polit. Schlüsselroman des Elsässers Rene Schickele mit seiner zwischen den Nationen vermittelnden Tendenz, die Trilogie Das Erbe am Rhein (1925-31), ohne aktuelle Wirkung. Wie die linksradikale Linie ζ. T. noch in denselben Vertretern von 1918 das heute kommunistisch beherrschte Gebiet führt, so führte auch ein Rückschlag nach rechts von dem verlorenen ersten Weltkrieg zum Dritten Reich hinüber, übrigens keineswegs überall durch Sympathisieren mit dessen Partei. Denn es gibt schon in der Folge des ersten Weltkriegs weite Kreise enttäuschter Nationaler, die sich, ähnlich der Generation um 1815, mit dem Vertrag von Versailles um ihren polit. Lebensinhalt betrogen fühlten. Ihren liter. Ausdruck findet diese Stimmimg zunächst im Rückblick auf das Kampferleb-

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nis des Krieges, dessen Sinn, wie er zu Kriegsanfang etwa in dem auf die Jugendbewegung so stark wirkenden Wanderer zwischen beiden Welten (1916) von Walter Flex zum Ausdruck gekommen war, durch die Niederlage und die polit. Umwälzungen verloren zu gehen schien. Es war dies im wesentlichen Prosaepik, die das Kampferlebnis des Kriegsteilnehmers entweder als Reportage oder als Mythos wiedergab. Der Kampf als inneres Erlebnis (1922) ist die Formel, unter der der damalige Ernst Jünger dies gefaßt hat. Er entwickelt dabei (In Stahlgewittern [1920], Das Wäldchen 125 [1925]) einen Stil einerseits gewollter Sachlichkeit der desinvoltura, andrerseits integriert er Elemente des Expressionismus. Nur die erste dieser beiden Stilkomponenten wird er bis in Auf den Marmorklippen (1939), die weithin als Widerstandsdichtung in verschlüsselter Form interpretierte Erzählung, und in die Strahlungen (1949), seine Aufzeichnungen im 2. Weltkrieg, bewahren. Doch ging der Roman nach dem 1. Weltkrieg sonst andere Wege: bis zum Zynischen in Ernst von Salomons Darstellung der Rathenau-Mörder, Die Geächteten (1929), oder auch zur mehr oder weniger simplen nationalen Demonstration wie etwa bei Dwinger, oder auch zu einem sentimentalen Ausdruck eines verstörten germanischen Lebensgefühls, wie einer der Bestseller aus der Zeit der Republik, Hans Grimms Volk ohne Raum (1926) es war. Es gab auch einen Bestseller nach der anderen Seite: Otto Erich Remarques Entmythisierungsversuch des Kampfgeschehens Im Westen nichts Neues (1929). Doch blieb die weitreichende Wirkung vor allem auf diesen Fall beschränkt. Auch Ludwig Renns Der Krieg (1929) konnte sie nicht erreichen. Viel stärker war der Trend nach rechts, zur Mythisierung der damals jüngsten Vergangenheit. Er drückt sich sowohl in gewissen Entwicklungen keineswegs unbedeutender älterer Dichter aus wie Rudolf G. Bindings oder Ernst Bertrams, dessen Versbände (Straßburg [1920], Der Rhein [1922], Das Nornenbuch [1925], Wartburg [1933]) in erster Linie um jeden Preis das geistige Erbe bewahren wollen, weniger das Aktuelle als die Tradition mythisierend. In diesen Zusammenhang sind audi noch Gestalten wie Weinheber und Kolbenheyer einzuordnen.

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Politische Diditung

Das polit. Bild der durch die Reichsschrifttumskammer des Dritten Reiches organisierten Lit. ist dadurch gekennzeichnet, daß in ihr alle kritischen Gegenstimmen vom radikalen Aktivismus linkssozialistischer Prägung bis zur bürgerlichen Selbstkritik, die außer von Th. Mann vor allem auch durch das gebildete Judentum getragen worden war, ausgeschaltet wurden. Außerdem ermöglichte der Begriff der „entarteten Kunst", Unerwünschtes wegen seiner Stilform zu unterdrücken. So blieb als geduldet bestenfalls ein Rest-Humanismus und -Idealismus in unauffällig gepflegter Form, der sich mit der neuen Gegenwart so wenig wie möglich einließ. Die Lit. des nationalen, teilweise auch rassischen Mythos hatte ihre Resonanz auch in den Kreisen der bündischen Jugendbewegung gefunden, die einst (Hoher Meißner, 1913) nicht unter diesem Zeichen angetreten war, sich jedoch nach dem Kriege zunehmend nach rechtg engagiert hatte, so daß es dem Nationalsozialismus verhältnismäßig leicht fiel, auch aus der Jugendbewegung stammende Formen für seine polit. Zwecke zu usurpieren. Audi auf diesem Wege geht, zum Teil unvermittelt und in den gleichen Persönlichkeiten, die Lit. der Zwischenkriegszeit dann in die autorisierte Lit. der zwölf Jahre des Dritten Reiches über, über der die berüchtigte Reichsschrifttumskammer waltete, in der das Genre Hans Friedrich Bluncks und des aus der Jugendbewegung herkommenden Hanns Johst tonangebend war. In dieser Zeit blüht denn audi die ζ. T. aus der bündischen Jugendbewegung herausgewachsene polit. Lieddiclitung, die sidi in zahllosen Liederbüchern niedersdilägt: die Fahrten- und Fest-Lyrik der Anacker, Baumann, Schumann, Baldur von Schirach von meist massiver Tendenz; weithin auch die fragwürdige Erneuerung der Töne des alten Landsknechts- und Soldatenliedes, politisch verkitschtes, ζ. T. aber gläubig aufgenommenes Erbe der Volksliedüberlieferung. In dieser Epoche liegt das literarisch Entscheidende im polit. Raum bei den Emigranten (s. EmigTantenlit.). Daran ändern auch die gewichtigen Namen wie Benn, Emst Jünger, Carossa nichts. Denn mit dem damals geprägten Terminus der „Emigration nach innen" kann man nur äußerst vorsichtig operieren angesichts der Tatsache,

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Politisdie Dichtung

im Sinne politischer Schlagwörter wie „sozialistischer Realismus" oder „Antiformalismus" Das polit. Engagement der „Gruppe 4 7 " kann sich dagegen im Westen Deutschlands ungehindert auswirken, so wie auch die Dramatik Brechts auf der Seite, für die er nicht optiert hat, die größere Resonanz findet. Die derzeit im Westen geltende Freiheit für jede Form von „litterature engagee" läßt vielmehr ein vielleicht nie so divergentes Nebeneinander von Stilen gelten, von Zuckmayers psychologisch-politischem Drama Des Teufels General (1945) und dem jüngeren Bewältigungsversuch von Deutschlands Vergangenheit in Hochhuths Der Stellvertreter (1963) und Peter Weiss' MaratExperiment (1964) bis zu der chaotische Züge aufweisenden Prosaepik von G. Grass' Blechtrommel (1960) und Uwe Johnsons § 34. Die Katastrophe des Endes des to- Grenz- und Mauerromanen in ihrem komplexbehafteten Deutsch ( M u t m a ß u n g e n über talen Krieges traf die dt. Lit. teils durch EnAchim gagement für das Regime paralysiert, teils, Jakob [1959], Das dritte Buch über [1961]). Übrigens liegt es heute selbst in der vor allem durch die Wiederkehr der Emigranten, vor der Aufgabe (um es mit Rilke konservativen Schweiz mit den Erscheinunauszudrücken), an unzähligen „Bruchstellen gen Fr. Dürrenmatts und M. Frischs kaum anders, deren „Unbehagen am Kleinstaat" wiederanzuknüpfen", was zunächst eine emi(K. Schmid) sich ebenfalls in radikaler polit. nent politische Aufgabe war. Das zeigte sich Kritik ausdrückt, die keinesfalls nur für den alsbald, als zwei gewaltsam voneinander gehelvetischen Raum gilt, trennte dt. Territorien entstanden, mit einem ι Für den mitbeteiligten Historiker liegen ebenfalls schließlich geteilten Berlin als trij die Dinge der jüngsten Vergangenheit zu ster Zugabe. Damit war es für die zurücknahe, als daß er die geschichtliche Relevanz kehrenden Emigranten keineswegs gleichder Erscheinungen schon deutlich erkennen gültig, für welchen Teil Deutschlands sie op- 1 könnte. Das Lebensgefühl der Epoche hat tierten. Das Problem Benn und das Problem B. Brecht schon 1938 gleichsam für beide Brecht können hier fast als symbolische Fälle Seiten vorweg formuliert in An die Nachgelten. Schon der Unterschied, daß es im geborenen: „Was sind das für Zeiten, wo / Ein Bereich jenseits der heutigen Mauer eine Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen rigoros gehandhabte Zensur gibt, im Westen ist / Weil es ein Schweigen über so viele nicht, bedeutet Erhebliches. Während die Untaten einschließt!" Die Verpflichtung zum Lit. im Westen in den Nachkriegsjahren exi- Politischen (und der Verzicht auf ein „Gestentielle Auseinandersetzungen mit der un- spräch über Bäume") bestimmt daher weitmittelbaren Vergangenheit wie der fernsten gehend die dt. Lit. des Exils wie der NachZukunft sich leisten kann, ζ. T. in utopischen kriegszeit. Auch die Stilverwirrung ist daFormen bei Kasack, Ernst Jünger und Elisadurch mitbedingt, daß durch die Kulturbeth Langgässer, ohne dem polit. Tagesbepolitik des Nationalsozialismus gewisse Stildürfnis unmittelbar zu dienen — Thomas arten als „entartet" abgekappt wurden, an Manns Abrechnung mit der romantischen die die Lit. nach 1945 wieder anknüpfte. und absoluten Kunst im Doktor Faustus geDas gilt vor allem für die Formen des aktihört auch hierher so wie H. Hesses im Apovistischen Expressionismus, aber auch für litischen politisches Glasperlenspiel (1947)—, Kafka, dessen Wirkung erst jetzt begann. wird nach wie vor im abgetrennten Gebiet Merkwürdigerweise ist dieser Anschluß an vom Schriftsteller wieder eine Leistung für eine weit zurückliegende „Moderne" jedoch ein polit. System erwartet. Der Staat übernicht nur eine deutsche, sondern eine überwacht sie genau und versucht sie zu lenken mecum. Willi Bredel's 'Verwandte u. Bekannte3. GLL. 10 (1956/57) S. 131-138. Klaus K a n d i e r , Arbeiter, Politiker, Schriftsteller. Sinn und Form, Sonderheit Willi Bredel (1965) S. 24-35. — Georg L u k ä c s , Arnold Zweigs Romanzyklus über den imperialist. Krieg, in: Lukäcs, Schicksalswende (1948) S. 273-313. Eva K a u f m a n n , Arnold Zweigs Auseinandersetzung mit d. Wesen des Krieges u. d. Perspektive des Friedens im Zyklus 'Der große Krieg der weißen Männer', in: Frieden-KriegMilitarismus im krit. u. Sozialist. Realismus, hg. v. Hans Kaufmann u. Hans-Günther Thalheim (1961) S. 111-138. — Inge D i e r s e n , Kritik d. Militarismus u. Gestaltung d. nationalen Perspektive in Anna Seghers Roman 'Die Toten bleiben jung'. Weimarer Beitr. 7 (1961) S. 80-98. Dies., Seghers-Studien (1965), S. 85182: Vorstoß zur sozialist. Parteilichkeit. — Klaus W a s h a u s e n , Die künstlerische u. polit. Entwicklung Goyas in Lion Feuchtwangers Roman (1957; Wir diskutieren 2).

Politisdie Dichtang nationale Erscheinung und wirkt in Deutschland eher provinzieller als anderswo. In der P r o s a suchte die Zeitdiagnose anfangs Distanz durch die Wahl utopischer oder allegorischer Gattungen (manchmal ist es zum Allegorischen vergröberter Kafka) bei Kasadc, Ernst Jünger und Elisabeth Langgässer. Erst später knüpft die Prosa beim alten Expressionismus, dessen Modell nun eher durch James Joyce als etwa durch Döblins Berlin Alexanderplatz gestellt wird, an (G.Grass, Uwe Johnson). Im D r a m a läßt sich der von Bertolt Brecht geschaffene Typus am ehesten als folgerechte Fortsetzung der Dramenform der Wedekind, Sternheim, G. Kaiser verstehen. Nicht so sehr die gegen-aristotelischen Techniken (Anrede der Zuschauer, Einlage von Chansons, Film, Spruchbänder), durch die Brecht dialektischpolitische Wirkungen auszuüben beabsichtigte, bestimmen den Formtypus als vielmehr die parodistisch-historische Allegorik (Heilige Johanna der Schlachthöfe) und die Wendung zur Parabel (Mutter Courage und ihre Kinder, Der gute Mensch von Sezuan, Der kaukasische Kreidekreis), wobei dann auch aktuelle (Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Vi) oder historische Stoffe (Das Leben des Galilei) parabolisch werden. Für die L y r i k darf hinsichtlich seines Formenreichtums das Werk B. Brechts ebenfalls als bezeichnend genommen werden. Wohl nie bisher war polit. Lyrik unter so vielen Masken aufgetreten (als Chanson, Kantate, Elegie, lyrisch-parabolischer Aphorismus ζ. T. nach ostasiatischem Vorbild; als Parodie des Sonetts, Kinderlieds, Psalms, Chorais, des Hexameter-Lehrgedichts; dazu mit parodierendem Einschuß von Zitaten von Horaz über das altdt. Volkslied bis zu Schiller und Rückerts Geharnischten Sonetten). Darin lebt eine Spielfreude, die freilich des gebildeten spätbürgerlichen Partners als Mitspielers bedarf. Aber vieles ist in der Tat als Provokation an dessen Adresse gerichtet. Auch in ihrer Dialektik erreicht seine polit. Lyrik oft hohen Rang im Sinne des geistigen Spiels, das zum Nachdenken (er selbst sagt: „Lernen") zwingt. Wo er direkt rühmt oder verurteilt, droht die Parodie jedoch auf den Urheber zurückzuschlagen. Das Tragische der heutigen Situation scheint zu sein, daß der Unterschied der polit. Systeme auf der einen Seite die Lit.

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wiederum zur Magd der Politik macht, auf der andern Seite ζ. T. eine polit. Dichtung stiftet, die Freiheit weitgehend als Freiheit „wovon" und nkht „wozu" auslegt. Dagegen kann auch eine ebenfalls vorhandene handfeste polit. Reeducation-Lit., auch die aus dem Geiste der Konfessionen, keine echte Alternative darstellen. Für die histor. Betrachtung liegt alles dieses übrigens noch zu nahe. Formal mag es ihr aufschlußreich sein, wenn sie wahrnimmt, wie in der jüngsten Anthologie polit. Lyrik des 20. Jh.s von Albrecht Schöne ein Gedicht an den „Führer" von 1938, zwischen Gedichte Kubas und Joh. R. Bechers auf Stalin gestellt, den Blidc schärft für die Relativität des Parteisymbols und das an seiner Stelle gewachsene Gewicht des polit. Systems, dessen Faszination auf die Dichtung heute eher weltanschaulich als parteipolitisch im ererbten Sinne sein mag. Brecht: Martin E s s l i n , Brecht. A choice of evils; a critical study of the man, his work and his opinions (London 1959), dt. u. d. T.: Das Paradox d. polit. Dichters (1962). Walter J e n s , Poesie u. Doktrin: Bertolt Brecht, in: Jens, Statt einer Literaturgeschichte (1957) S. 159192. Peter S c h n e i d e r , Polit. Dichtung. Ihre Grenzen u. Möglichkeiten. Der Monat Jg. 17, H. 207 (1965) S. 68-77. Norbert K o h l h a s e , Dichtung u. polit. Moral. E. Gegenüberstellung υ. Brecht u. Camus. (1965; Sammlung dialog 2). — Ernst S c h u m a c h e r , Die dramatischen Versuche Bertolt Brechts 1918-1933 (1955; Neue Beitr. z. Lit.wiss. 3). Paul B ö c k m a n n , Provokation u. Dialektik in d. Dramatik Bert Brechts (1961; Kölner Universitätsreden 26). Rolf G e i s s l e r , Brechts dramatische Intention - polit. Dogma oder polit. Forum? Wirk Wort 11 (1961) S. 209-218. Hans K a u f m a n n , Bertolt Brecht. Geschichtsdrama u. Parabelstück (1962; Germanist. Studien). Alfred B e r g s t e d t , Das dialektische Darstellungsprinzip des „Nicht-sondern" in neueren Stächen Bertolt Brechts. Literaturästhetische Untersuchungen z. polit. Theorie d. Verfremdungseffektes. Diss. Potsdam 1963. Reinhold G r i m m , Ideologische Tragödie u. Tragödie d. Ideologie. Versuch über e. Lehrstück von Brecht ['Die Maßnahme']. ZfdPh. 78 (1959) S. 394-424. Klaus L a z a r o w i c z , Herstellung einer praktikablen Wahrheit. Zu Brechts 'Die Ausnahme u. d. Regel'. Litwiss. Jb. d. GörresGes. N. F. 1 (1960) S. 237-258. Johannes G ο 1 d h a h η, Das Parabelstück Bertolt Brechts als Beitr. z. Kampf gegen d. dt. Faschismus. Dargest, an d. Stücken 'Die Rundköpfe u. d. Spitzköpfe' und 'Der aufhaltsame Aufstieg d. Arturo Ui' (1961; Wir diskutieren 7). Klaus S c h u h m a n n , Der Lyriker Bertolt Brecht 1913-1933 (1964; Neue Beitr. z. Lit.-wiss. 20).

Politische Dichtung — Posse

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Zur literar. Situation nach 1945: Literatur u. Politik. 7 Vorträge z. heutigen Situation in Deutschland. Geh. auf d. dt. Schriftsteüerkongreß in Frankfurt a. M. 1948. Hg. u. eingeh v. Heinr. B e c h t o l d t (1948; AsmusBüdier 6). Eugen G ü r s t e r , Der Schriftsteller im Kreuzfeuer d. Ideologien (1962; Bücherei d. Salzburger Hochschulwochen). Walter J e n s , Literatur u. Politik (1963; Opusculaaus Wiss. u. Dichtung 8). Wilh. E m r i c h , Dichterischer u. polit. Mythos. Ihre wechselseitigen Verblendungen, in: Emrich, Geist u. Widergeist. Wahrheit u. Lüge d. Lit. (1965) S. 78-96. Marcel Reich-Ranick'i, Dt. Lit. inWest und Ost. Prosa seit 1945 (1963). Ders., Literar. Leben in Deutschland. Kommentare u. Pamphlete (1965). Karl Aug. H o r s t , Neue Strömungen in d. dt. Lit. d. Nachkriegszeit, in: Handbuch d. dt. Gegenwartslit. Hg. v. Hermann Kunisch (1965) S. 731-745. Jan Ρ e d d e r s e n , Die literar. Situation in d. DDR. Ebda, S. 746-760. — Anthologien: Almanadi der Gruppe 47, 1947-1962. Hg. v. Hans Werner R i c h t e r (1962; 16.-20. Tsd. 1964; Rowohlt Panerback 14). Zeitgedichte. Dt. polit. Lyrik seit 1945. Hg. v. Horst B i n g e l (1963). Albredit S c h ö n e , Über polit. Lurik im 20. Ih. Mit e. Textanh. (1965; Kl. Vandenhoedc-Reihe 228/229). Zu viel diskutierten Werken d. polit. Dichtung: Paul R i l l a , Zuckmayer u. d. Uniform, in: Rilla, Literatur. Kritik u. Polemik (1953) S. 7-27. — Der Streit um Hochhuths 'Stellvertreter'. Mit Beitr. v. Joachim Günther u. a. (1963). Walter A d o l p h , Verfälschte Geschichte. Antwort an Rud. Hochhuth. Mit Dokumenten u. auth. Berichten (1963). Hans Rud. T s c h o p p - B r u n n e r , Hochhuth u. kein Ende. Krit. Bemerkungen zum 'Stellvertreter'. Theater u. Verantwortung (1963). — Ernst W e n d t , Peter Weiss zwischen den Ideologien. Akzente 12 (1965) S. 415-425 — Gotthart W u n b e r g , Die Funktion d. Zitates in d. polit. Gedichten υ. Hans Magnus Enzensberger. Neue Sammlung 4 (1964) S. 274-282. Wolf gang Mohr, Werner

Kohlschmidt

Posse

§ 1. Mit P o s s e (f.) wird heute im allgemeinen eine bestimmte Form des komischen Dramas bezeichnet. Das Wort leitet sich von franz. (ouvrage ä) bosse (erhabene Arbeit) her, von wo spätmhd. possen (m.) (Figur) und frühnhd. posse (m.) (Beiwerk an Kunstdenkmälem) entlehnt sind. Im 16. Jh. werden Scherzfiguren an öffentlichen Brunnen auch possen fm.pl.) genannt. Daran erinnert noch „Possen reißen" (nämlich urspr. auf dem Reißbrett). Von einer komischen Figur wird das Wort schließlich auf einen komischen Vorfall übertragen. (Hans S a c h s [1494-1576] kann deshalb sein komisches

Gedicht Der sdiuester mit seim knecht zu Ulm (1550) poß (m.) nennen.) Sofern ein „Possen" in dramatischer Form berichtet wird, wie das in vielen Fastnachtspielen vor allem von Hans Sachs geschah, bürgert sich dafür langsam die Bezeichnung P o s s e n s p i e l ein. Jakob A y r e r (1543 -1605) gebraucht den Ausdruck allerdings noch selten und zieht den traditionsreicheren Begriff F a s t n a c h t s p i e l vor. Beide Termini meinen bei ihm jedoch ein und dieselbe Sache (Ein Fassnacht- und Possenspil Die zwey paar verwechselten Eheleut ...). Da die Aufführung derbkomischer Stücke vor allem in protestantischen Gebieten nicht mehr auf die Periode der Fastnacht beschränkt bleibt, wird die alte Bezeichnung sinnleer und im Laufe der Zeit ganz durch das zeitlich neutralere „Possenspiel" ersetzt, das schließlich zu „Posse" vereinfacht wird. Diese Rückbildung wurde möglich, weil unter dem Einfluß der Schauspielkunst der engl. Komödianten die dramatische Gestalt alle anderen Darbietungsformen eines oder mehrerer possen in den Hintergrund gedrängt hatte. Für erzählte Possen stand nun ausschließlich das sinnverwandte Wort „Schwank" zur Verfügung, das erst im Laufe des 19. Jh.s in die Terminologie des Dramas aufgenommen wurde. Im Spielplan des Wandertruppen-Prinzipals Johannes V e l t e n (1640-1692) finden sich die Bezeichnungen „Possenspiel" und „Posse" noch nebeneinander (Posse vom Münch und Pickelhäring, eines Bauern Sohn mit der Fidel; 1679. Posse das Waschhaus in Amsterdam; 1679. Possenspiel von dem betrogenen Sicilianer; 1680. Das singende Possenspiel mit der Kist; 1680). Es handelt sich hierbei meist um mehr oder weniger extemporierte komische Zwischen- oder Nachspiele deutscher, englischer, niederländischer oder französischer Herkunft. Am Ende des 17. Jh.s kommt für Stegreifstücke, die nach dem Prinzip der ital. C o m m e d i a B u r l e s c a auf der Grundlage eines rohen Handlungsentwurfs von den Darstellern frei improvisiert wurden, die Bezeichnung „Burlesken" auf. Um die Mitte des 18. Jh.s sind die Termini „Burleske" und „Posse" fast Synonyma. Als sich im Laufe der zweiten Hälfte des Jh.s audi bei den derbkomischen Stücken der fixierte Text durchsetzt, werden sie weiter als „Possen" bezeichnet. Der im-

Posse

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provisatorische Charakter verschwindet je- erster Linie damit zusammen, daß die Audoch niemals ganz und ist noch in den toren zum Teil mit Glück versuchen, von der E x t e m p o r e s der Possendarsteller des damals beliebtesten komischen Theatergat19. Jh.s zu erkennen. tung Frankreichs,dem V a u d e v i l l e , zu ler§ 2. Spricht man heute von „Possen", so nen. Die liberaleren Schriftsteller der ersten hat man mit gutem Grund dabei die P.n des Hälfte des 19. Jh.s erblickten in Paris ihre 19. Jh.s im Auge, die gelegentlich noch jetzt eigentliche Heimat und wurden dort bei aufgeführt werden. Sie zeichnen sich aus kürzeren oder längeren Aufenthalten auch durch die Tendenz zu gröberen komischen durch das Vaudeville fasziniert. Karl LudEffekten, die dem Text vor allem durch wig B l u m (1786-1844) führte es in Deutschmimische und musikalische Ausgestaltung land ein, wo es freilich niemals die gleiche abgewonnen werden. Die k o m i s c h e F i - Beliebtheit erlangte wie in Dänemark (Jogur (der Komiker) bildet den darstelleri- han Ludwig Η e ib e r g , Aprilsnarrene; 1826). schen Mittelpunkt. Von diesen grundlegen- Das konstituierende Element des Vaudevilles den Übereinstimmungen abgesehen, lassen ist das Couplet, dessen letzte Verse die sich verschiedene Typen erkennen: L o k a l - scharf zugespitzte Pointe enthalten und als posse (Adolf B ä u e r l e , Die Bürger in Wien; Refrain suggestiv wiederholt werden. Die 1813), Z a u b e r p o s s e (Ferd. R a i m u n d , Form des Couplets, das in der vom VaudeDer Barometermacher auf der Zauberinsel; ville abhängigen Berliner Lokalposse an die 1823), p a r o d i e r e n d e oder t r a v e s t i e - Stelle des 'Lieds' der Wiener P. tritt, ermögr e n d e P o s s e (Johann N e s t r o y , Judith licht eine Verschärfung des satirischen Eleund Holof ernes; 1849), L i e d e r p o s s e ments. Dies tritt besonders während der (Karl von Η ο 11 e i , Wiener in Berlin; Blütezeit der Berliner P. in den Revolutions1825), wobei die Ubergänge freilich fließend jahren in Erscheinung, nachdem Julius von sind. Repräsentativ ist allein die Lokalposse. V o ß (Der Stralower Fisdizug; 1822) und Ihr zollen die anderen Typen zumindest in Louis A n g e l y (Das Fest der Handwerker; 1830) zunächst eine gemütvollere Form entmehr oder weniger ausgedehnten Anspielungen auf den Ort der Aufführung und die wickelt hatten. Der bedeutendste Vertreter Verhältnisse des Publikums Tribut. Der lo- der leicht satirischen Berliner Couplet-P. ist (Einmalhunderttausend kale Effekt der P.n—neben Musik und Tanz j David K a i i s c h ihr Hauptanziehungspunkt — entspringt da- Thaler; 1847). Der Niedergang setzte in der bei nicht in erster Linie der Handlung. Restaurationszeit mit dem Erlöschen jegliLokaler Reiz geht nicht nur vom D i a l e k t cher Kritik an den öffentlichen Zuständen aus, sondern vor allem von den C o u p l e t s ein und verstärkte sich in den Gründerjahmit deren L o k a l s t r o p h e n und von den ren. Er wurde unterstützt durch die Tatwohlüberlegten ortsbezogenen E x t e m p o - sache, daß der vom Couplet geforderte poinres. Diese Technik macht eine Übertragung tierte Sprechgesang in Deutschland nur auf andere Orte möglich. In ihren höchsten wenige Repräsentanten fand, weil hier im Formen jedoch, so vor allem in den Wiener Gegensatz zu Frankreich die selbstverständStücken Raimunds und Nestroys, bleibt die liche Basis eines kultivierten KonversationsP. gebunden an die Eigentümlichkeit ihres tones fehlte. Am Ende des 19. Jh.s haben Entstehungsortes. Bei diesen beiden Auto- sich in Berlin Couplet und P. auseinanderren erhebt sich die P. — freilich in verschie- entwickelt, einmal zum Kabarett-Couplet dener Weise — zur Dichtung (s. Zauber- (Otto R e u t t e r ) , zum andern zur Ausstatstück). Vor allem die kleineren Repräsentan- tungsoperette (Paul L i n c k e ) . Mit dem ten der Wiener Possenliteratur (Josef Alois Wachstum Berlins zur Weltstadt verlor auch G l e i c h , 1772-1841; Karl M e i s l , 1775- das lokale Element an Bedeutung, das sich 1853; Adolf B ä u e r l e , 1786-1859) werden nur noch in den Vorstädten bewahren hingegen gern und häufig ausgeschlachtet konnte. Damit werden die entsprechenden und erleichtern das Entstehen einer norddt. Werke (Couplets bzw. AusstattungsoperetP., deren Zentrum die Großstadt Berlin ist. ten) zu Waren, die sich überall verkaufen lassen. Diese Entwicklung hatten freilich Die Berliner P. des 19. Jh.s stellt trotz schon die Possenautoren Karl von H o l t e i starker Anleihen bei der Wiener P. eine (Dreiunddreißig Minuten in Grünberg; 1834) eigentümliche Leistung dar. Das hängt in

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Fosse

und Gustav R a e d e r (Robert und Bertram oder Die lustigen Vagabunden; 1856) vorbereitet. Sie machten ihre Stücke vor allem dadurch in einem größeren Umkreis attraktiv, daß in ihnen Dialekte verschiedener Landschaften und Städte zu Worte kamen; auch erhielt die Ausstattung immer größere Bedeutung. Gegenüber den Leistungen der Wiener und Berliner P. verlieren die Versuche, in München, Frankfurt -am Main, Köln und Hamburg eigene Lokalpossen zu schaffen, an Wichtigkeit. Den höchsten literarischen Rang, von den Wiener Stücken Raimunds und Nestroys abgesehen, erreicht Ernst Elias N i e b e r g a l l s Datteridi 'in der Mundart der Darmstädter' (1841). Obwohl als „Posse" bezeichnet, fällt das Werk doch aus dem Rahmen der Gattung; es ist nicht in erster Linie auf Aufführung angelegt und angewiesen und verzichtet auf viele der P. sonst eigentümliche Wirkungsmittel. So stellt es vielmehr ein Stück 'autonomer' Literatur dar, dessen Berührungspunkte mit Georg B ü c h n e r s Sprache und Dramaturgie nicht zu übersehen sind. § 3. Nicht zufällig tragen viele Ρ.·ι den Untertitel: mit Gesang und Tanz. Svnon dadurch wird erkennbar, daß die 'Handlung' der Stücke keine zentrale Bedeutung hat. Das Publikum wird vielmehr gerade durch diejenigen Elemente herbeigelockt und fasziniert, welche die Handlungsvorgänge unterbrechen. Diese Elemente sind einmal musikalischer Natur (ζ. B. Lied, Chanson, Couplet, Quodlibet, Chorgesang, Orchestervorspiele und -Zwischenspiele, musikalische Illustration lebender Bilder), zum andern handelt es sich um choreographische Einlagen und um die Gestaltung von 'Tableaus'. Die offene Form der Possen-Aufführungen wird weiterhin betont durch die Scherze der jeweils örtlich gebundenen k o m i s c h e n F i g u r (z.B. der Parapluiemacher Staberl in Wien), die sich meist direkt an die Zuschauer wendet und von deren Reaktion nicht unabhängig ist. Der Reiz dieser Scherze, die sich von dem vorgeschriebenen Text sehr schnell freimachen können, liegt oft gerade darin, daß sie mit der eigentlichen Handlung konstrastieren. § 4. Im allgemeinen waren sich Autoren, die ihre Stüdce „Possen" nannten, redit ge-

nau im klaren über den Typus des komischen Dramas, zu dem sie sich bekannten. Allerdings gibt es gelegentlich Stüdce, die eindeutig den Typus P o s s e repräsentieren, obwohl sie sich anders nennen. Deutlicher als es bisher geschehen ist, läßt sich die P. von anderen Typen des komischen Dramas und Theaters abgrenzen. Die F a r c e (s. d.) unterscheidet sich von ihr durch die Neigung, der eigentlichen Handlung größere Bedeutung und größere Geschlossenheit zu geben. Das V o l k s s t ü c k (s. d.) bemüht sich im Gegensatz zur P. vor allem um ein realistisches Genrebild sentimentaler Prägung; wo Lieder vorkommen, ergeben sie sich im Gegensatz zu den Musikeinlagen der P. stärker aus der jeweiligen Situation. Ganz zu Unrecht wird jedoch häufig die P. mit dem S c h w a n k (s. d.) identifiziert. Der dramatische Schwank, in dessen Mittelpunkt meist eine sehr domestizierte komische Person steht, ordnet alle komischen Elemente in eine spannungsreiche, in sich gerundete Handlung ein. Damit bildet der Schwank strukturell den Gegentypus zur P., die ihre entscheidenden Wirkungsmittel gerade aus einem meist ganz schematischen Handlungsgerüst ausgliedert. Als sich gegen Ende des 19. Jh.s in der ernsten Dramatik die realistische und naturalistische Ästhetik endgültig durchsetzte, mußte sich auch das komische Drama den neuen Prinzipien beugen: Die P. wurde durch den Schwank verdrängt. § 5. Fast immer wurde die P. als niedrigste Form des Lustspiels betrachtet und angegriffen. Diese Gegnerschaft hängt aufs engste mit dem jeweiligen dramaturgischen Ideal zusammen. In der zweiten Hälfte des 18. Jh.s, das sich weithin für die geschlossene Realität des Dramas einsetzte, verfiel die P. strengem Verdikt, weil ihre Herkunft von Stegreif-Burlesken offenkundig war. In der zweiten Hälfte des 19. Jh.s widersprach sie den Vorstellungen des psychologisch-realistischen Dramas. Nicht zufällig fällt die Blütezeit der P. deshalb in die erste Hälfte des 19. Jh.s, in der unter dem Einfluß romantischer Tendenzen gerade der Formauflösung ein künstlerischer Sinn abgewonnen wurde. Wenn die P. vor allem in Wien ihre bedeutendsten Vertreter fand, so läßt sich das daraus erklären, daß sich im katholischen Süddeutschland und Österreich die strengen Vorschriften Gottscheds nicht in dem Maße

Posse — Fredigt durchgesetzt hatten, wie das in Norddeutschland der Fall war. Vor allem wurde hier die Bedeutung der komischen Figur niemals für längere Zeit ernsthaft in Frage gestellt. All jene mehr vom Publikum als von der Handlung bestimmten Wirkungsmittel, deren sich mittels der komischen Figur gerade die P. zu bedienen pflegt, waren in ihrem Recht unangefochten gebheben. Die Gegenwart, die unter dem Einfluß der Dramaturgie Bertolt B r e c h t s nicht mehr von der Alleingültigkeit der 'klassischen' Form des in sich geschlossenen Dramas überzeugt ist, hat weniger ästhetische Vorurteile gegen die P. als die Vergangenheit. (In vielen seiner Stücke bedient sich Brecht der gleichen Elemente wie die P.). Trotzdem scheint die P. ihre Rolle ausgespielt zu haben. Gelegentliche Wiederaufnahmen älterer P.n im Theaterspielplan werden meist als deutlich historisierende Versuche dargeboten, was dem Wesen der stets gegenwartsbezogenen P. vollkommen widerspricht. Wenn die P. trotz des Nachlassens der bisher aus ästhetischen oder moralischen Gründen gegen sie vorgebrachten Angriffe keine Zukunft hat, so liegt das einmal daran, daß das 'Lokale' aus der modernen immer enger zusammenrückenden und daher immer gleichförmigeren Welt schwindet. Die P.—die dramatische Gestalt burlesker Komik — tritt schließlich zurück in einer Zeit, in der die menschliche Wirklichkeit eher mit den Mitteln des Grotesken wiedergegeben wird. Wenn Robert M u s i l seine grotesk-satirische Komödie Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer (1924) eine „Posse" nennt, ironisiert er damit zugleich das naiv-unreflektierte Lebensgefühl, das die Basis der echten P. gewesen war. T r ü b n e r s Deutsches Wörterbuch. Bd. 5 (1954) S. 179 f. — Allgemeines Theater-Lexikon. Bd. 6 (1842) S. 112-114. Sören K i e r k e g a a r d , Die Wiederholung (1843), in: Kierkegaard, Gesammelte Werke, übers, v. Emanuel Hirsch. 5. u. 6. Abt. (1955) S. 32-45. Gottfried K e l l e r , Brief an Herrn. Hettner (1850), in: Keller, Gesammelte Briefe in vier Bänden, hg. v. Carl Helbling (1950), Bd. 1, S.329-3C5. Hans Michael S c h l e t t e r e r , Das dt. Singspiel von s. ersten Anfängen bis auf die neueste Zeit (1863; Zur Geschichte dramat. Musik u. Poesie in Deutschland 1). Carl Β i 11 ζ, Über das Wort u. d. Begriff Posse. ArdifNSprLit. 73 (1885) S. 36-44. Carl H e i n e , Johannes Velten. E. Beitr. z. Gesch. d. dt. Theaters im 17. Jh. Diss. Halle 1887. Otto Β r a h m , Die Berliner

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Catholy

Predigt § 1. Der vom lat. praedicatio hergeleitete T e r m i n u s hat in der über tausendjährigen Geschichte deutscher Kanzelansprachen seinen Bedeutungsinhalt wiederholt gewandelt; ahd. predigön bezeichnet 'jedes öffentliche Vorlesen oder Vortragen des kirchlichen Wortes', wozu also auch ζ. B. die bair. Exhortatio ad plebem christianum gehört; mhd. predige (>Predig[t]) ist der Oberbegriff für geistliche Ansprachen schlechthin, worunter man sermo, homilia, tractatus und collatio stellt; zum außerkirchlichen Gebrauch vgl. Meier Helmbrecht V. 561 ff. Luther zählt zur P. neben der eigentlichen Kanzelansprache auch Auslegung, Traktat und Vorlesung und drückt damit die Einheit von wissenschaftlicher Exegese und praktischer Verkündigung aus; heute versteht man unter P. im engeren, kirchlichen Sinne ganz allgemein Verkündigung der christlichen Botschaft. Im Laufe der Entwicklung haben sich S o n d e r f o r m e n herausgebildet, die durch bestimmten Anlaß, spezifischen Hörerkreis oder Eigenart des Vortrags bedingt sind. Teilweise über das MA. hinaus ist schon wegen unterschiedlicher Bildungsvorausset-

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Predigt

zungen die lat. Kleriker- von der dt. Laienp. deutlich abgehoben; Sammlungen kurzer Perikopenauslegungen mit veranschaulichendem Erzählgut heißen Plenarien; bei den Brüdern vom gemeinsamen Leben und in Frauenklöstern trägt man coUazien vor: ursprünglich Verlesung der Collationes Patrum, dann schlichter, umfangreicher, außergottesdienstlicher Vortrag mit Unterweisimg und Aussprache über Glaubensfragen; damit kommt man der frühchristlichen Bedeutung des όμιλεΐν nahe. Seit vorreformatorischer Zeit wird neben dem allgemeineren Begriff Contio zwischen Sermo und Homilie unterschieden; letztere bedeutet zunächst Auslegung des Bibeltextes, dann volkstümliche, erbauliche Kanzelansprache mit analytischer Methode; Sermo setzt einen nicht unbedingt den Perikopen entnommenen Bibeltext oder ein anderes Thema (aus Glaubens- und Sittenlehre, aus Heiligenviten o. a.) voraus, worüber in durchgestalteter Form und synthetischer Methode gesprochen wird. Die besonders seit der Reformation gepflegte Form der Postille hat ihren Namen davon, daß sie ursprünglich nach dem Bibeltext (post ilia verba scripturae) der Gemeinde vorgelesen wurde. Dem Wesen der antiken Diatribe kommt die reich veranschaulichte und moralisierende katholische Barockp. oft nahe. Zu einzelnen Festzeiten hat die P. ein besonderes Gepräge erhalten: schon im MA. während der Passionswochen; zu Ostern vergnügt man die Gemeinde mit dem risus paschalis; seit dem 15. Jh. wird der Neujahrsund Fastnachtstage mit ermunterndem Vortrag gedacht; von der gleichen Zeit ab wird andererseits in Türken- und Ablaßp. zur Buße gerufen; in Notzeiten stehen Seuchen, Kriege, Kometenerscheinungen im Mittelpunkt der Kanzelansprache; im ganzen MA. wird die panegyrische oder Legendenp. gepflegt; ergötzliche Züge bringen die Ernteund Kirchweihp.n; die einzelnen Stände werden aus Anlaß ihrer Festtage angesprochen. Mit der Reformation kommt die didaktisch gestimmte Katechismusp. auf. Die technischen Einrichtungen unserer Zeit, Rundfunk und Fernsehen, haben auch neue Formen der geistlichen Ansprache gebracht. Kasualrede, Traktat (s. d.) und Erbauungssdirifttum (s. d.) können hier nur beiläufig berücksichtigt werden, wenn von Letztgenanntem P.sammlungen auch bisweilen schwer zu trennen sind, vgl. Hermann B e c k , Die reli-

giöse Volkslitteratur der ev. Kirche Deutschlands (1891; Zimmers Handbibl. d. prakt. Theol. 102). Eine neuere umfassende Monographie über Wesen, Form und Geschichte der P. gibt es weder von Literaturwissenschaftlem noch von Theologen. Die germanist. Handbücher lassen uns weithin im Stich; so ist Josef Oswald in den Grundzügen der kath. Kirchengeschickte (StammlerAufr. 3, 2. Aufl. 1962, Sp. 1647-1728) auf die P. überhaupt nicht eingegangen. Dafür verweisen wir auf Abhandlungen in den theologischen Sammelwerken. Den gesamten Zeitraum behandeln folgende k a t h o l i s c h e Darstellungen: W. K e u c k , J. B. S c h n e y e r u. V. S c h u r r in: Lexikon f. Theologie und Kirche, Bd. 8 (2. Aufl. 1963) Sp. 705-718. Anton K o c h , Homiletisches Handbuch (5. Aufl. 1953 ff.). K e p p l e r in Wetzer-Weltes Kirdienlexikon. Bd. 10 (1897) Sp. 313-348. Treffl. Zitate und Charakterisierungen in Franz S t i n g e d e r s Geschichte der Schriftpredigt (1920; Predigt-Studien 2). Finden Philologen noch immer unentbehrlich ist Jos. Κ e h r e i n , Gesch. d. kath. Kanzelberedsamkeit d. Deutschen v. d. ältesten bis z. neuesten Zeit. 2 Bde (1843). — P r o t e s t a n t i sche Gesamtdarstellungen: Alfred N i e b e r g a l l , Die Gesch. d. christl. P., in: Leiturgia, Handb. f. d. evang. Gottesdienst, Bd. 2 (1955) S. 181-352 sowie in: RGG. 5 (3. Aufl. 1961) Sp. 516-530. Wolfg. T r i l l h a a s in: Kirdil.-Theol. Handb., T. 2, 1941, S. 501 ff. Martin S c h i a n in: Realenc. f. prot. Theol. u. Kirdie, 3. Aufl. Bd. 15 (1904) S. 623-747 u. Bd. 24 (1913) S. 333-346. Die beste Zusammenfassung u. krit. Sichtung gibt Herrn. H e r i n g , Die Lehre v. d. P. (1905; Samml. v. Lehrb. d. prakt. Theol. 1). Ausführliche Quellenzitate bringt August N e b e , Zur Gesch. d. dt. P., Charakterbilder der bedeutendsten Kanzelredner, 3 Bde (1879). Ernst S t a e h e l i n , Die Verkündigung des Reiches Gottes in der Kirche Jesu Christi, 7 Bde 1951 bis 1964. Monographien über bedeutende Prediger bringt die von Gustav L e o n h a r d i und Wilh. v. L a n g s d o r f hg. Reihe Die P. der Kirche, 32 Bde (1888-1905). Einzelne größere Zeiträume behandeln: Auf Grund der Münchner Codices Anton L i n s e n m a y e r , Gesch. d. P. in Dtld. υ. Karl d. Gr. bis z. Ausg. d. 14. Jh.s (1886). F. R. A l b e r t , Die Gesch. d. P. in Dtld. bis Luther, 3 Tie (1892-1896). Joh. M a r b a c h , Gesch. d. dt. P. vor Luther (1874). R. C r u e l , Gesch. d. dt. P. im MA. (1879). Rieh. R o t h e , Gesch. d. Ρ. υ. d. Anf. bis auf Schleiermacher, hg. v. Aug. Trümpelmann (1881). Gustav W o l f , Quellenkunde der dt. Reformationsgesdi., 3 Bde (1915-1923), bringt Lit. zur Gesch. der P. von der Franziskanerp. des 12. Jh.s bis zu den Anf. der luth. Orthodoxie. Wilh. B e s t e , Die bedeutendsten Kanzelredner d. alt. luth. Kirdie von Luther bis zu Spener, 3 Bde (1856-1886). C. G. F. S c h e n k , Geschichte der deutsdiprotestant. Kanzelberedsamkeit von Luther bis auf die neuesten Zeiten (1841). W. S t ö k -

igt k i c h t , Die diristl. P. in d. ev. Kirche Dtlds., Sammlung geistl. Reden, 3 Bde (1876-1880). Clem. Gottlob S c h m i d t , Gesch. d. P. in der ev. Kirche von Luther bis Spener tn einer Reihe von Biographien u. Charakteristiken (1872). Ludw. S t i e b r i t z , Zur Gesdi. d. P. in d. ev. Kirche von Mosheim bis auf d. Gegenw. (1875). Klassiker des Protestantismus, hg. v. Christel Matthias S c h r ö d e r , 8 Bde (1963ff.; Samml. Dieterich). Joachim K o n r a d , Die evang. P., Grundsätze u. Beispiele homilet. Analysen, Vergleiche u. Kritiken (1963; Samml. Dieteridi 226). Adolf D ο Ilde rs, Meister der P. aus dem 19. u. 20. Jh., e. homilet. Lesebuch (1928). Darüber hinaus liegen weitere Quellensammlungen vor. Uber die älteren Autoren informiert mit Literaturangaben das Verfasserlexikon. § 2. Im Rahmen dieses Art. ist es unmöglich, die P. auf dt.sprachigem Boden in ihrer Gesamtheit, insbesondere aber ihre theologische Funktion, zu betrachten. Vielmehr greifen wir heraus, was für ihre Stellung in der Sprach- und Lit.geschichte von Bedeutung ist, beachten hauptsächlich S p r a c h e , S t i l u n d F o r m . Auch hierbei ist der Umfang der Aufgabe kaum überschaubar, braucht man doch nur daran zu erinnern, wie wichtig die P. für die Entwicklung der dt. P r o s a ist. Man muß allerdings stets die Uberlieferungsform beachten: denn die uns vorliegenden Niederschrif ten oder Druckfassungen weichen meist vom vorgetragenen Original ab. Das große Vorbild war seit der Scholastik die lat. Eloquenz, dabei namentlich der zwischen Niedrigem und Erhabenem stehende sermo humilis; das zeigt sich an der umfassenden Aufnahme und Verdeutschung patristischer Homiliare (schon A u g u s t i n legt Wert auf rhetorische Form, übernimmt inventio et elocutio von der antiken Rhetorik: De doctrina christ. IV, Kap. 10 f.; 26,2 f.). Das wird durch das noch lange Zeit übliche Verfahren bestätigt, volkssprachlich vorgetragene P.n lat. zu konzipieren und zusammenzufassen. Hier sind Reimprosa und Cursus anzuführen, die rhythmische Gestaltung der Satzschlüsse, die allerdings nach Schönbachs Feststellungen in der mhd. P.Überlieferung spärlich ist, weil diese meist auf Hörernachschriften beruht. Die klass. Rhetorik hat auch die Vorliebe für verschiedene Stilfiguren gefördert, ohne daß diese Einflußwege bisher eindeutig nachgewiesen wären. Daneben zeigen die P.n mehr als andere Lit.werke stilistische ErReallexikon III

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scheinungen, die aufschlußreiche Zeugnisse der gesprochenen Sprache sind, ζ. B . das häufige Präsens historicum in der Grieshaberschen Sammlung. Günther K e r t z s c h e r , Der Cursus in der altdt. Prosa. Diss. Leipzig 1944. Friedr. W e n z l a u , Zwei- u. Dreigliedrigkeit in der dt. Prosa des 14. u. 15. Jh.s (1906; Hermaea 4). Albert H a s s , Das Stereotype in den altdt. P.n. Diss. Greifswald 1903. Margar. K e i e n burg, Studien zur Wortstellung bei Predigern des 13. u. 14. Jh.s (Teildr.) Diss. Köln 1934. H. H a s s e , Beiträge zur Stilanalyse der mhd. P. ZfdtPh. 44 (1912) S. 1-37 u. 169-198 (weithin überholt durch Helmut de B o o r , Frühmhd. Sprachstil, ebda. 51, 1926, S. 244 bis 274 u. 52, 1927, S. 31-76). Hans F r o m m , Zum Stil der frühmhd. P. Neuphil. Mitt. 40 (1959) S. 405-417. P.-G. V ö 1 k e r , Die Überlieferungsformen mittelalterl. dt. P.n. ZfdA. 92 (1963) S. 212-227. Leopold L e n t n e r , Volkssprache u. Sakralsprache. Gesch. e. Lebensfrage bis z. Ende d. Konzils v. Trient (1964; Wiener Beitr. z. Theol. 5). Wolfgang S t a m m 1 e r , in: Aufr. Bd. 2 (2. Aufl. I960) Sp. 980-1004. Kurt G e r s t e n b e r g , Dt. Sondergotik (1913). Hermann G u m b e l , Dt. Sonderrenaissance in dt. Prosa, Strukturanalyse dt. Prosa im 16. Jh. (1930; Dt. Fschgn.23). Irmgard W e i t h a s e , Zur Gesch. der gesprochenen dt. Sprache Bd. 1. 2. (1961). Hugo Moser, Sprache und Religion. Zur muttersprachl. Erschließung des relig. Bereichs (1964; WirkWort. Beih. 4), bes. S. 48. §3. Von den A n f ä n g e n b i s zum 12. J h . Seit Beginn der Missionierung in Deutschland gibt es die volkssprachliche P., die sich allerdings zunächst ganz auf lat. homiletische Lit. stützt, dabei stilistisch wenig schöpferisch ist; auch fehlen ihr Gliederung und Durcharbeitung des Themas. Konzilien und Synoden der Karlingerzeit ordnen das P.wesen u. a. mit der Forderung 'transferre homilias patrum in rusticam Theotiscam linguam' (Syn. von Tours 813). Aber die mit der Admonitio generalis von 789 einsetzenden Reformen schaffen weniger eine Erneuerung von Form und Sprache (hätte man doch eine Belebung der Rhetorik durch die karlingische Renaissance erwarten können), sondern dringen mehr auf die Einhaltung der regelmäßigen Verkündigung in der Volkssprache. Die P. war damals und zum Teil noch bis ins 12. Jh. weitgehend unselbständig. Sie war ein ganz der Messe untergeordneter Teil, der auf die lectio folgte. In verhältnismäßig früher Zeit wurde ihr die Exegese der Perikopen aufgetragen, und zwar möglichst in der seit Origines üblichen 15

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dreifachen Sinndarlegung (allegorisch, tropologisch, anagogisch).

Die Quellen fließen in der frühesten Zeit spärlich: von der irischen Missionsp. (600-900) ist nichts erhalten geblieben; das unter dem Namen ags. Mönche Überlieferte hält der kritischen Forschung nicht stand. Die im Folgenden aufgeführten Zeugnisse sind alle lat. niedergelegt, was aber nicht ausschließt, daß sie ursprünglich in der Volkssprache gehalten worden sind. Einige P.n und homiletische Stüdce schuf P a u l u s D i a c o n u s (t 799) nach patristischen Vorlagen; zwei Sammlungen moralisierender Homilien des H r a b a n u s M a u r u s (t 856; Migne 110 Sp. 9 ff. u. 135 ff.) sind in klarer Gliederung, leicht verständlich mit mystischer und allegorisch erklärender Darstellung abgefaßt, jedoch ohne rhetorischen Schmuck; von ihm ist auch in der Institutio Clericorum (Migne 107 Sp. 293 ff., bes. B. III Kap. 28 ff.) eine Art Homiletik mit Anweisungen für die P.praxis erhalten. Moralischallegorisch-anagogische Exegese prägt die drei überlieferten Homilien des W a l a h f r i d S t r a b o (f 849; Migne 114 S. 849 ff. u. 965 ff.) — Eigenheiten, die uns ebenfalls in einigen stilistisch schlichten, aber streng textgebundenen P.n begegnen, die dem Bischof H a i m o von H a l b e r s t a d t (f 853) zugeschrieben werden. Noch älter ist vielleicht das Würzburger Homiliarium, das seinen dt. Glossen zufolge wohl unmittelbare Vorlage für Volksp.n war.

PBB.63, 1939, S. 271-287). Zum Teil gleicher Herkunft sind P.fragmente in München und Nürnberg, die u. a. Gregors und Bedas Homilien folgen. Ein anderes Bruchstück einer BedaHomilie stammt aus dem Anfang des 10. Jh.s; es ist in mittel- bzw. niederfränk. Sprache aufgezeichnet und steht in der Syntax seiner lat. Vorlage schon verhältnismäßig unabhängig gegenüber.

1916, Nr. XXX,

Da die direkte Überlieferung früher volkssprachlicher P.n so dürftig ist, sind uns Zeugnisse über das Verkündigungswesen in ahd. Zeit aus verschiedenen literar. Denkmälern außerordentlich wertvoll. O t f r i d v o n W e i ß e n b u r g (t 870) hat seinem Evangelienbuch sogar Homiliare zugrunde gelegt (vgl. Georg L ο e c k , Die Homiliensammlung d. Paulus Diakonus, Diss. Kiel 1890) und trifft in seiner Dichtung gut den Ton der Volksp., der auch im M u s p i l l i , H e l i a n d , in W i l l i r a m s Η ohes-Lied-Paraphrase und N o t k e r s Psalmerklärung anklingt. Als frühe poetische Zeugnisse sind der P. an die Seite zu stellen: Das um 1090 im Stil der damaligen Kanzelberedsamkeit wohl vom Geistlichen N ö k e r geschaffene alemann. Bußgedicht Memento mori; H e i n r i c h s v o n M e l k satirische Erinnerung und Priesterleben; das um 1150 in Österreich nach Art einer Bußp. im Reimstil abgefaßte Gedicht Die Wahrheit; die um 1180 in Oberdeutschland entstandene Möndisp. Trost in Verzweiflung; die der volkstümlichen P. entsprechenden Dichtungen Vom Rechte und Die Hochzeit, beide um 1140 in guter Reimtechnik und schlichter Sprache geschrieben; die vor 1150 anzusetzende sittenstrenge Rede oom Glauben des sogen, a r m e n H a r t m a n n . Der bereits in der jüngeren Fassung des Ezzoliedes anklingende Typ der Reimp. findet im zweiten Teil der nach 1100 gedichteten rheinfränkischen Summa theologiae und in dem elsässischen Lehrgedicht von Meßgewändern und Meßritus (um 1160) eine stark allegorisierte Ausprägung. Auch in der wenige Jahre später in Österreich entstandenen Lehrdichtung Anegenge herrscht der P.stil vor.

l e r , Zw d. Vorlage d. ahd. Ρ Sammlung A.

In die erste Hälfte des 12. Jh.s fällt die Entstehung der frühmhd. P.kompilation Speculum Ecclesiae (hg. v. Gert Mellbourn 1944; Lunder germanist. Fschgn. 12) aus Benediktbeuren; es sind 68 Sermones für das Volk, als homiletische Hilfsmittel gedacht, die jeweils ein Thema als Mittelpunkt haben, das sie in biblisch-allegorischer Dar-

Um 1000 haben einige bedeutende Prediger im dt. Sprachraum gewirkt, so der Mainzer Erzbischof B a r d o . Da die P.n hoher kirchlicher Würdenträger von der Uberlieferung begünstigt waren, hat man die Zeit von 900-1100 — sicher zu Unrecht — die Periode der Bischofsp. (nach der voraufgehenden Missionsp.) genannt. Es liegen aber doch zu wenige dieser Zeugnisse vor, als daß man Ehrismanns Urteil billigen könnte, damals hätte die dt. P. schon einen Höhepunkt in ihrer Geschichte erreicht. Die im Folgenden angeführten spärlichen Reste in ahd. Sprache geben vielmehr ein bescheideneres Bild. Zwei P.bruchstücke des 10. Jh.s nadi Gregors Homilien enthält die Wiener Notker-Hs.: sie zeigen mit der regelmäßigen Rhythmisierung in den Satzschlüssen lat. Einfluß. Diese Fragmente werden durch zwei P.bruchstücke einer Münchner Hs. ergänzt (E. v. S t e i n m e y e r , Die klei-

neren aha. Sprachdenkmäler,

XXXII und XXXIII). Der gleichen Zeit gehören vier P.fragmente aus einer anderen Ambraser Hs. an. Die Monseer Fragmente enthalten eine Übers, von Augustins 76. P. Femer sind zu nennen Bruchstücke einer St. Gallener P. und P.reste aus Wessobrunn, die in leichtverständlicher Form Sermones von Augustin bzw. Caesarius von Arles übertragen, dabei bereits einige Selbständigkeit im Stil erreichen (I. S c h r ö b -

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Predigt stellungsweise unter Verwendung von naturgeschichtlichem, legendarischem und klassisch-mythologischem Beiwerk abhandeln. Vereinzelt wird der Reim als Stilmittel angewandt, Eingang und Schluß sind fast durchgehend formelhaft gleich. Der St. Blasiener Abt W e r n e r v o n E l l e r b a c h (f 1126) verfaßte unter dem Titel Deflorationes patrum eine ähnliche homiletische Sammlung, der wahrscheinlich dt. Sonntagsp.n zu Grunde liegen. Zur Veranschaulichung dienen ihm Beispiele aus der Naturgeschichte und antiken Mythologie, aber auch Anekdoten und Bilder. 25 vollständige und mehrere fragmentarische Fest- und Heiligenp.n des 12. Jh.s hat Heinrich H o f f m a n n (Fundgruben I, 1830, S. 70-126) aus einem im 13. Jh. geschriebenen Wiener Codex herausgegeben. Mit Namensnennung tritt uns kurz vor 1200 der P r i e s t e r K o n r a d in 114 belehrenden P.n entgegen; 79 legen allegorisch die Sonntagsperikopen aus, 35 feiern die Heiligen nach Legendenüberlieferung (Α. E. S c h ö n b a c h , Altdt. P.n III 1891); sie sind in schlichtem, volkstümlichem Deutsch geschrieben und als Vorlage für seine Amtskollegen gedacht. Der Admonter Abt G o t t f r i e d (t 1167) hat 92 lat. aufgezeichnete Sonntagshomilien hinterlassen, in denen eine genaue Texterklärung und Ermahnung gegeben wird (Migne 174, 21 ff.). Aus der gleichen Zeit stammen 29 Homilien des Mönchs B o t o von P r ü f e n i n g ; der 1163 verfaßte Bibliothekskatalog von St. Emmeram/Regensburg verzeichnet auch Sermones ad populum teutonice. Ferner kennen wir fünf Sermones als textuale Spruchreden des B e r e n g o z von St. M a x i m i n / Trier sowie 108 P.n H e r m a n n s von R e u n (Anton E. S c h ö n b a c h , Die Reuner Relationen. SBAkWien, phil.-hist. Kl. 139 (1898). Abh. V. Ders., Über Η. v. R. Ebda 150 (1904/05) Abh. IV). Jetzt tauchen die ersten homiletischen Hilfsbücher und Materialsammlungen auf. C. S c h m i d t , Über das Predigen in den Landessprachen während des MA.s, in: Theol. Stud. u. Krit. 19 (1846) S. 243-296. Joh. Bapt. H a b l i t z e l , Hrabanus Maurus, e. Beitr. z. Gesch. d. ma. Exegese (1906; Bibl. Studien 11, 3). Anton E. S c h ö n b a c h , Altdt. P.n. 3 Bde (1886-1891; Neudrude 1964). Ders., Über eine Grazer Hs. lat.-dt. P.n (Graz 1890). Wilh. W a c k e r n a g e l , Altdt. P.n u. Gebete, hg. v. M. Rieger (Basel 1876; Neudr. 1964). Ε h r i sm a η η , I, S. 345 ff., II, 1 S. 184 ff. Dt. P.n des 12. u. 13. Jh.s, hg. v. Carl R o t h (1839; Bibl. d. ges. dt. Nationally. 1, 11). § 4. E i n f l u ß d e r S c h o l a s t i k u n d A n f ä n g e d e r P r e d i g e r o r d e n . Mag die dt. P. um 1200 auch stark von Frankreich her beeinflußt worden sein, so hat sie doch andererseits maßgeblich zur Entwicklung

der dt. Prosa seit dem 13. Jh. beigetragen. Die Diktion der Volkssprache zeigt sich vor allem in der den P.n gern beigefügten literar. Kleinform des Exempels (auch P.märlein), das mit lehrhafter und veranschaulichender Tendenz auftritt (Herb. W o l f , P.erzählgut, Deutschunterricht 14, 1962, H. 2, S. 76-99). Die Landessprache wird — soweit sie in der Laienp. noch nicht eingeführt war — u. a. durch das 9. Dekret des Laterankonzils von 1215 verlangt. Die schon vorher gepflegte allegorische Exegese wird jetzt weitergetrieben; schreibt doch der sog. S t . G e o r g e n e r P r e d i g e r : Disiu zaichen sol man gaischlich verstan und sol siu och gaischlich tun, won siu sintvil niutzer denne die liplichen zaichen so diu zaichen ie gaischlicher sint, so siu ie besser sint. Insbesondere durch W . S t a m m l e r s Untersuchungen wissen wir, daß bereits die Scholastik — nicht zuletzt aus den Bedürfnissen ihrer volkssprachlichen P. heraus— wesentlich zur Bereicherung unseres Wortschatzes beigetragen hat. Seit dem 13. Jh. tritt uns die dt. P. in zunehmendem Maße schematisch gestaltet entgegen: auf das Thema folgt das Prothema, dem das Exordium (Anruf an Gott und die Gemeinde) untergeordnet ist; darauf wird das Thema in drei Teilen abgehandelt: Divisio (Bedeutung des Textes, Analyse des darin gebotenen Materials nach mehr oder minder festen Kategorien), Distinctio (Darlegung des Hauptbegriffs dem Wortsinne nach) und damit zuweilen eng verbunden: Dilatatio (Erklärung nach tropologischen, allegorischen und anagogischen Gesichtspunkten). Auch der theologisch beschlagene Schwarzwälder Prediger (der den Text nach Tagesevangelien wählt und hiervon das lat. vorgetragene Thema ableitet, in frischem, didaktisch geprägtem Stil mit Bevorzugung von Allegorie und Personifikation vorträgt) liebt strenglogische, meist gereimte Disposition; er gliedert in vier, der Engelberger in lObis 15Teile. Mit der S c h o l a s t i k kommt die Vorliebe für Anschwellung, prolongatio mit Schmuckwerk und Beweismaterial auf; dabei tritt der Text stärker in Erscheinung. Uber die textuale Spruchp. führt dann der W e g zur Perikopenp. der Reformation. Neben die vorwiegend zur Fastenzeit gepflegte Reihenp. tritt die thematische P., beide mit unmittelbarem Bezug auf die Gemeinde und 15·

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den Alltag. Außerdem werden von dieser Zeit ab Collationen und Traktate gepflegt. Vertreter der scholastischen Methode mit fast ausschließlich lat. P.überlieferung sind A l b e r tus M a g n u s (1193-1280) mit Sermones de tempore et de sanctis (vgl. auch Ausg. seiner „Prophetenpostille", 1952; Opera Omnia 19) und der Zisterzienserabt K o n r a d v o n B r u n d e l s h e i m , wahrscheinlich Vf. der vor 1323 entstandenen Sermones Socci, die erstmals zusammenhängende P.n über ein einheitliches Thema vorlegen. Strenge kunstvolle Gliederung, die schon Anzeichen des Formalismus trägt, findet sich in den lat. P.n des T h o m a s von A q u i n (t 1274). Wegen seiner kunstvollen Formgestaltung, der Beachtung von distinctio, divisio et dilatatio wichtig ist der von Kurt R u h hg. Bonaventura deutsch, ein Beitrag zur dt. Franziskaner-Mystik und Scholastik (Bern 1956; Bibliotheca Germanica 7). Unter deutlichem Einfluß Bernhards von Clairvaux mit kunstvoller Gliederung, klarer und systematischer Analyse, rhetorischem Schmuck steht C a e s a r i u s von H e i s t e r b a c h (t 1240) mit seinen 115 Homilien, darunter eine in Dialogform, während sein Dialogus miraculorum und Fasciculus moralitatis vielen späteren Predigern als Materialfundgrube dienen. Die unter dem Namen St. Georgener Prediger bekannte Sammlung ist deutlich von Bernhards Mystik geprägt; sicher war der Kompilator, auch einer der Verfasser Zisterzienser (vgl. Wolf gang F r ü h w a l d , Der St. Georgener Prediger, 1963; QF. NF. 9). Von N i k o l a u s von L a n d a u (f 1354; Hans Z u c h o l d , Des N. v. L. Sermone als Quelle f. d. Predigt Meister Eckharts u. s. Kreises, 1905; Hermaea 2) liegt eine vierbänd. Sammlung dt. P.n vor; sie sind in trockenem Stil ohne große rednerische Begabung abgefaßt und von stark schematisierter Form, setzen ein lat. Exordium voraus und sind durch Fragen aufgelockert. Hier klingt die Mystik an wie bei J o r d a n u s von Q u e d l i n b u r g (f 1380), von dem zwei P.sammlungen und eine Stoffzusammenstellung für die Leidensgeschichte erhalten sind (Joh. F l e n s b u r g , Die mnd. P.n des J. υ. Q., Diss. Lund 1911). Der Erfurter H e i n r i c h von F r i e m a r (f 1342) zerfasert seine mit pedantischer Gelehrsamkeit zusammengestellten P.n über Heilige und Perikopen; er war ein beliebter Prediger, doch fehlen ihm innige Züge (vgl. Clemens S t r ο i c k , Heinrich von Friemar. Leben, Werke, philosoph.-theolog. Stellung in d. Scholastik, 1954; Freib. Theol. Stud. 68). H e i n r i c h von St. G a l l e n hat in der 2. Hälfte des 14. Jh.s in Prag gepredigt; seine dt. P.n über die acht Seligkeiten, ein Jg. Kanzelansprachen sowie seine Traktate sind schlicht und gemütvoll, mit Vorliebe für allegorische Einkleidung. Daneben wird der Geist der Scholastik in vielen anonymen P.sammlungen bis zum Einsetzen des Buchdrucks weitergetragen (s. u.). Die Vertreter der P r e d i g e r o r d e n halten sich weniger streng an die teilweise schon sterilen Kunstformen der scholastischen F.,

lassen dafür mehr den individuellen Vortrag zum Ausdruck kommen. Sie tragen vorwiegend als Wanderprediger zur lebendigen Aufnahme ihrer missionierenden zeit-, ortsund gemeindebezogenen P. bei, die nicht immer an den Kirchenraum und die Meßhandlung gebunden ist. Insbesondere lassen sich die Mendikanten die Seelsorge angelegen sein, wobei sie nicht auf die Verdeutlichung des Schrifttextes durch Bericht über Naturund Geschichtsereignisse sowie Volksüberlieferungen verzichten. Die starken Ketzerbewegungen des hohen MA.s, die u. a. für die Verkündigung in der Volkssprache eintreten, ziehen Gegenmaßnahmen der Kirche nach sich. Sie setzt seit 1210 Franziskaner, seit 1215 Dominikaner speziell mit Kontroversp.n in der Landessprache an. Die andere große Bewegung des 12./13. Jh.s, die K r e u z z ü g e , wird vielfach von besonders beauftragten Predigern im Abendland vorbereitet und getragen; von ihnen verlangt man eine genaue Schilderung des Heiligen Landes; ihre dt. Ansprachen sind nicht mehr erhalten, sie spiegeln sich teilweise im Liedgut wider (s. Kreuzzugdichtung). Schließlich hat sich auch die G e i ß l e r b e w e g u n g in zahlreichen P.n niedergeschlagen, die aus starker innerer Erregung heraus vor dem Gericht warnen und zur Buße rufen. Die meisten Prediger treten anonym hinter ihren Sammlungen zurück, so in den derben, den Bedürfnissen des Alltags zugewandten e l s ä s s i s c h e n P.n. Wir kennen K o n r a d von S a c h s e n (f 1279) mit seinen drei Zyklen lat. Heiligen- und Sonntagsp.n, Abt E c k b e r t von S c h ö n a u als Verfasser von 13 Sermones, den Albertus-Schüler und Straßburger Dominikaner U l r i c h E n g e l b e r t i (f 1277) als Vf. einer innigen, geisterfüllten dt. P. über die dreifältige Art der Gottesschau, ferner den Augustiner E b e r h a r d , der Ende des 13. Jh.s wirkt — sie zeichnen sich durch klare, einfache Disposition und anschauliche Sprache aus. Ebenfalls gegen Ende des 13. Jh.s verfaßt der Dominikaner P e r e g r i n u s ein P.-Annal, das nodi im 16. Jh. neu aufgelegt wurde; es sind Sermones bzw. textuale Evangelienp.n, die das Thema durch Zergliederung des Textes gewonnen haben. Der Dominikaner D i e t r i c h v o n F r e i b e r g (t 1310) trägt erstmals in dt. P.n mystisdie Ideen vor. Dem gleichen Orden gehört der frühe Thomassdiüler J o h . v o n S t e r n g a s s e n (f 1320) an, dessen dt. P.n in eindringlicher Sprache abgefaßt sind und mystische Gedanken enthalten, die jedoch den neuplatonisch-pantheistisdien Vorstellungen Eckharts fernstehen. Ebenfalls mit mystischem Einschlag, jedoch in alltäglicher Redeweise predigt der Franziskaner Μ a r q u a r d v o n L i n d a u (t 1392). Aus der

Fredigt gleichen Zeit stammen die ζ. T. auszugsweise erhaltenen dt. F.n des Dominikaners H e i n r i c h v o n K ö l n , die zwar ganz von der Scholastik geprägt, aber durch anschauliche Alltagsbilder leimt verständlich sind. Neben einer Anzahl ungenannter süddt. Minoriten (Adolph F r a n z , Drei dt. Minoritenprediger aus aem 13. u. 14. Jh., 1907) sind die bedeutendsten Vertreter der Predigerorden die Franziskaner D a v i d von A u g s b u r g (f 1272), von dem in dt Sprache nur Traktate mit myst. Einschlag erhalten sind, und vor allem B e r t h o l d von R e g e n s b u r g (f 1272). Er hat den seit dem 12. Jh. spürbaren französischen Einfluß weitgehend überwunden. Die Franziskaner haben wesentlich dazu beigetragen, daß das geistliche Schrifttum in kunstvoller Prosa abgefaßt wird und auch für den Laien bestimmt ist (Α. E. Schönbach, Studien zur Gesch. d. altdt. P., VI, SBAkWien., phil.-hist. Kl. 153, 1906). Durch die eindringlichen Untersuchungen Α. E. S c h ö n b a c h s haben wir wenigstens einen gewissen Eindrudc von der lebendigen Vortragsweise B e r t h o l d s , der uns ca.470 P.n, darunter 71 dt. (vorwiegend in den drei Landpredigersammlungen) hinterlassen hat. Ihm sind auch mehrere P.n des St. Georgener Kompilators zuzuschreiben. Bertholds dt. P.n sind frühestens sechs Jahre nach seinem Tod aus Hörernachschriften mhd. niedergelegt, er selbst konzipierte sie lateinisch. Was in dieser Sprache erhalten ist, zeugt von sorgfältiger Ausarbeitung, wenn B. auch selbst keinen Anspruch auf kunstvolle Sprechweise erhob; so ist der Gebrauch des Cursus in seinen Satzschlüssen möglicherweise erst den Nachschreibern zu verdanken. Sein Satzbau ist schlicht und bevorzugt die übersichtliche Parataxe. Seine von der Tagesperikope oder dem Heiligenbezug unabhängigen P.n haben strengen, einprägsamen Aufbau, sind in volkläufig kerniger, zuweilen humorvoller Sprache (deutlich gegen den höfischen Stil abgesetzt) mit Vorliebe für Sprichwörter, Bilder und Vergleiche aus der Natur und dem Alltag sowie Volksmeinungen abgefaßt. Zuweilen wird seine allegorische Deutung willkürlich. Im Gebrauch der Stilmittel folgt er hauptsächlich dem Zuge seiner Zeit; Epizeuxis, stereotype Wendungen, formelhafte Verbindungen (besonders feste Epitheta), Mehrgliedrigkeit, Synonyma, Alliteration, Gradation, Neigung zu dramatischer Gestaltung durch direktes Ansprechen mit fingierter Antwort, Interjektionen, Befehle, Fragen; auf rhetorische Fertigkeiten hingegen verzichtet er. Zur Verdeutlichung flicht er Er-

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zählgut ein: da von wil ich tu ein mserltn sagen, daz behaltet ir vil lihte baz danne die predige alle samt. In allen seinen P.n tritt das belehrende Element stark hervor, insbesondere versucht er als Bußprediger gegen die Hauptsünde seines von starken sozialen Spannungen erfüllten Jh.s anzugehen, die gitigkeit. Auch warnt er vor den „Pfennigpredigem", die üble Ablaßgeschäfte mit den um ihr Seelenheil Besorgten madien. Im Mittelpunkt steht das mit dem Text nur lose verknüpfte Thema, das nach dem vorangestellten Textspruch eingehend in schematische Teile aufgegliedert wird. Herrn. G r e e ν e η , Die P.weise des Franzisk. B. v. R. Progr. Rheydt 1892. Die Ausg. s. P.n hg. v. Franz Pfeiffer u. Heinr. Strobl. 2 Bde. (18621880; Neudr. 1964) hält der Kritik nicht stand. Ende des 13. Jh.s übt Bertholds Schüler B r u der Ludwig scharfe Kritik an kirchlichen Mißständen und weltlichen Unsitten im Geiste franziskanischer Endzeiterwartung; außer zwei großen lat. P.sammlungen sind ihm nur zehn Sprüche aus dt. P.n und vielleicht eine P.kunst zuzuschreiben. Eine Ubergangsgestalt ist Eckharts Verteidiger N i k o l a u s von S t r a ß b u r g , der hohe Ämter im Dominikanerorden bekleidete. Von ihm sind mehrere dramatisch gestaltete und treffend illustrierte dt. P.n erhalten, die unter dem Einfluß des Aquinaten stehen. Sie zeichnen sich aus durch lebendige Darstellung sowie durch Reichtum an Bildern und Gleichnissen aus dem Alltag. Ihr Aufbau ist lose, aber mit durchgehender Einzelgliederung bei freier Gedankenabfolge; die mit Volkserzählgut ausgestatteten P.n haben eine innige Sprache und sind reich an Wortschöpfungen (R. N e b e r t , Die Heidelberger Hs. 641 und St. Florianer Hs. XI 284 d. P.n des Ν. υ. S„ ZfdPh. 34,1902, S. 13-45). Die reiche Uberlieferung meist anonymer P.n liegt in großen Sammlungen vor: die vor 1187 entstandene, Anfang des 14. Jh.s geschriebene Leipziger Sammlung mit 259 P.n ( S c h ö n b a c h , Altdt. P.n I 1886); die Oberaltaicher (ebda II 1888); die Haager, Weingartner, Basler, Regensburger, Zürcher, Wiener, Prager, St. Pauler, Grafische, von der Hagensche und Kuppitschsche Sammlung; femer die bei E h r i s m a n n II 2, 2 S. 414 f. angeführten Fragmente. — Als literarisch verwandte Denkmäler sind zu nennen: die nach 1250 von H e i n r i c h von K r ö l l w i t z in Form eines breitangelegten Lehrgedichtes geschaffene Vaterunser-Paraphrase, deren allegorische Auslegungen P.charakter haben; das Ende des 13. Jh.s entstandene Buch der Rügen — heftige Gesellschaftskritik aus der Feder eines Geistlichen, der den Prediger auffordert, die damaligen Mißstände anzuprangern. Beliebt ist die Gattung der geistlichen Bispelrede, die Ute S c h w a b untersucht hat (Zur Interpretation d. geistlichen Bispelrede. Annali Istituto Universitario Orientale, Sez. Genn. 1, Napoli 1958 S. 153181).

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Fredigt

§ 5. Die P. d e r M y s t i k (s. d.) ist formal von der Scholastik beeinflußt; in Sprache und Stil zeigt sie ihr Wesen: zur unto mystica hinzuführen. Anstelle der trodcenen Klarheit in der scholastischen P. tritt die kühne schöpferische Bemühung, das Unsagbare in subtiler Diktion auszusprechen. Bilder und Gleichnisse werden zunächst in enger Anlehnung an die Bibel gewählt, später tragen sie zuweilen zurVerkünstelung des verinnerlichten P.inhalts bei. Stofflich gesehen werden die Heiligen- und Marienp.n durch die Christusp. zurückgedrängt. Mit dem 14. Jh. tritt die moralisch erbauende Richtung an die Stelle der spekulativen. Am Beginn der reichen Überlieferung stehen H i l d e g a r d v o n B i n g e n (f 1178 liier ist bes. ihr homiletisch-exegetischer Liber vitaemeritorumzu nennen) und M e c h t h i l d v o n M a g d e b u r g (f ~ 1282), die beide mittelbar und unmittelbar viel zur Verselbständigung der dt. Prosa beigetragen haben. Vor allem hat Mechthild durch ihre kunstvolle Handhabung der festen Vorstellungsform und Metapher die dann in der Allegorese zum Ausdruck kommende Übertragungsfreude der Mystik gefördert (Grete L ü e r s , Die Sprache der dt. Mystik des MA.s im Werke der Mechthild υ. Mgdb., 1926). Die Anfänge der dt.sprachigen Mystikerp. in den Frauenklöstern gehen u. a. auf eine Anordnung des Dominikaner-Ordensprovinzials Hermann von Minden (1286/90) zurück: der niedrige Bildungsstand in diesen Gemeinschaften zwang die Prediger, an Stelle des gewohnten Latein die Volkssprache zu setzen, womit auch eine neue theologischphilosophische Terminologie erforderlich wurde. Überdies trug dieses Bedürfnis nach dt. Erbauungsschrifttum zur Ausbildung der volkssprachlichen Prosaliteratur bei. Auf dem Gipfel dieser Epoche steht das Dreigestirn: Eckhart, Tauler und Seuse. Seit der zweiten Hälfte des vorigen Jh.s bemühen sich Theologen und Germanisten um Wiederherstellung der ursprünglichen Fassung von M e i s t e r E c k h a r t s (1260-1327) P.n, selbst der eindringlichen Editionstechnik J. Quints ist es nur ζ. T. gelungen, neben dem gedanklichen Gehalt auch den Wortlaut getreuer herauszuarbeiten. Das hat seinen Grund in der Überlieferungsform: Lediglich sein Büchlein von der göttlichen Tröstung ist von ihm deutsch niedergelegt worden;

außer der P. Von dem edeln menschen liegen ca. 160 Edcartp.n nur in Hörernachschriften vor, die nicht vom Vf. autorisiert wurden und mitunter keine sichere Zuweisung ermöglichen. So wird die Hälfte der 64 P.n in der Sammlung Paradisus animae intelligent aus dem Kartäuserkloster auf dem Mainzer Michelsberg Eckhart zugeschrieben. Trotzdem klingt noch durch diese Textfassung Eckharts rhetorische Meisterschaft, die sich häufig im streng architektonischen Aufbau zeigt, wobei seine Homilien auf die zusammenhängende Exegese des ganzen Perikopentextes verzichten und dafür einzelne Motive, die wortlin, herausgreifen — übrigens eine schon vorher gepflegte Methode. In seinen lat. P.n verwendet er sogar den color rhythmicus, den reformierten kurialen Cursus, Gliederung in Reimprosa. Burdach spricht auch vom „Walten bestimmter rhythmischer Typen in den Satzausgängen", was nicht schlechthin mit dem Cursus gleichzusetzen ist. Oft greift er zur grammatischen Auslegung, wählt unmittelbare Anrede, Fragen und (Schein-)Dialog, überhaupt fällt der Gebrauch dialektischer Denk- und Sprachformen auf. Eckhart liebt Wiederholungen, Gleichnisse, Vergleiche und veranschaulichendes Material aus Fabelund Beispielsammlungen. Er läßt äußerste geistige Zucht walten, wenn seine schöpferische Phantasie den von der Scholastik geprägten wissenschaftlichen Wortschatz aus dem Lateinischen ins Mhd. überträgt. Sein Bemühen, die mystischen Gedanken und Einsichten in der Volkssprache vorzutragen (die Anklageschrift hat ihm das zur Last gelegt), gilt als wichtiger Markstein auf dem Weg der Ausbildung der deutschen Prosa. Μ. E. der Prediger. Festsdir. z. Eckhart-Gedenkjahr. Hg. v. Udo M. Nix u. Raphael ö c h s l i n (1960). M. E.s P.n Hg. v.J. Quint. Bd. 1 (1958; Μ. E.: Die dt. u. lat.Werke. II, 1). J o h a n n e s T a u l e r (1300-1361) wirkt als Prediger auf Grund seiner schlichteren Verständlichkeit und Ausdruckskraft bereits zu Lebzeiten auf weitere Kreise als Eckhart, vor allem auf die Gottesfreunde. Seine auf den Wortklang abgestimmte Spraciie ist volkstümlich und verinnerlicht zugleich, bevorzugt deutliche Bilder, Beispiele und Erzählgut aus dem bäuerlichen Leben und der Natur. Er konzentriert seine Gedanken oft zu sprichwortartiger Prägnanz. Als Kind seiner Zeit spielt er gern mit Zahlenmystik. Er

Predigt spricht seine Hörer unmittelbar an durch rhetorische Fragen, direkte Anrede und Dialog. Der Aufbau seiner P.n ist ζ. T. thematisch durchgeführt, ζ. T. nach analytischer Methode angelegt; die innere Gliederung ist ohne Schema. Überhaupt legt er auf die Form weniger Wert, verwendet häufig Anakoluthe. Tauler bringt die Form der Homilie zur Geltung, vernachlässigt allerdings die geschichtliche Grundlage der Perikopen zugunsten schematisdi geeigneter Texte, die er allegorisch auslegt. Die Nachwirkungen seiner P.n lassen sich u. a. bei Luther, Seb. Franck, Spener ablesen. Johann Taulers P.n, hg. v. Georg H o f m a η η (1961). J. Τ., ein dt. Mystiker. Hg. v. E. F i l t h a u t (1961). H e i n r i c h S e u s e (1295-1366) hat im Rheingebiet eine ausgedehnte P.tätigkeit entfaltet; er ist weniger Prediger für das breite Volk gewesen, vielmehr führt er mystische Gemeinschaften zur Abkehr von der Welt und zur Hingabe an Gott. So ist er besonders durch die Gottesfreunde bekannt geworden. Von seinen Kanzelreden werden nur vier für edit gehalten. Sie zeichnen sich durch Eindringlichkeit, Innigkeit und lyrische, ja fast musikalische Tönung der Sprache aus; man hat diese gemüts- und gefühlsstarke Diktion, in der allerdings auch nicht didaktische Züge fehlen, den weichen Stil genannt, der auch auf die höfische Ausdruckweise zurückgreift. Ihm sind poetischphantasiereiche Gestaltungskraft eigen, nicht zuletzt durch häufigen Gebrauch von Formeln, Metaphern und Bildern — Einzelerscheinungen der geblümten Rede; noch im Pietismus kehren solche Wendungen wieder. Gem greift Seuse auch zu Assonanz, Alliteration und Reim, gestaltet die P.n durch direkte Anrede und Ausrufe dramatisch aus. Oft vermißt man die strenge Durchführung der Gedanken; Text und Thema sind nur lose verbunden. Heinrich Senses dt. Schriften, hg. v. Karl B i h l m e y e r (1907; Neudr. 1961). Mystisches Gedankengut bietet auch die in mehreren Hss. überlieferte Sammlung des sogen. Oberrhein. Predigers, die aus dem Ende des 13. Jh.s von einem wahrscheinlich in Frauenklöstern tätigen Dominikaner stammt. Tauler und den Gottesfreunden steht der schon genannte Engelberger Prediger, B a r t h o l o m ä u s F r i d a u e r (f 1391) nahe, der in seinen 41 Nonnenp.n Kenntnisse der Patristik wie Scholastik aufweist und in gewandter allegorisieren-

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der Textauslegung auf Geistes- und Sittenzucht dringt. Vielfältig spiegelt sich die mystische Bewegung bei Predigern am Niederrhein wider. Die Mißstände in Kirche und Welt hat J a n van R u y s b r o e c (f 1318) in Bußp.n und Traktaten angeprangert, ebenso der Anreger der Windesheimer Kongregation sowie der devotio moderna, G e e r t G r o o t e (1340-1384). Unter seinem Einfluß stehen der Franziskaner H e i n r i c h H e r p und der Kartäuser H e i n r i c h von K a l k a r (f 1408), der außer mystisch-erbaulichen Traktaten mit scholastischem Einschlag Sermones capitulates hinterließ, wortgewaltige Ansprachen für die Festtage des Kirchenjahres. Der ndrhein. Franziskaner J o h a n n e s B r u g m a n n (f 1473) blieb über seinen Tod hinaus ein geschätzter Prediger und Schriftsteller. Sein geistesverwandter Landsmann D i e t r i c h C o e l d e (f 1515) verfaßte neben erbaulichen Schriften mitreißende Volksp.n. Der Niederdeutsche J o h a n nes V e g h e (f 1504) vertritt in seinen anschaulichen und lebendigen P.n das Gedankengut der devotio moderna und der Brüder vom gemeinsamen Leben; seine oft dichterische Sprache liebt Reim und Rhythmus. Als bedeutendster Nachfolger Grootes im ausgehenden MA. gilt T h o mas von K e m p e n (t 1471), der Klosterp.n von eindringlicher Sprachkraft, inniger Frömmigkeit und Volkstümlichkeit hinterlassen hat. In Edcharts Heimat schlugen des Meisters Gedanken rasch Wurzel. Sein Schüler H e i wig von G e r m a r entwickelt in seinen P.n die mystischen Anschauungen weiter. Die voil H ä r tung von E r f u r t oder G i s e l h e r v o n S l a t h e i m um 1330 zusammengetragenen P.n üben auch harte Kritik an der unzuverlässigen Geistlichkeit. Diese Sammlung deckt sich inhaltlich teilweise mit der vom Dominikaner H e i n r i c h von E r f u r t kompilierten Postille; diese P.n handeln von der Geburt des ewigen Wortes und erlauben zuweilen einen Einbilde in die damalige Diskussion um theologische Begriffe. Zur Umkehr mahnt D i e t r i c h von G o t h a mit seinen 57 in einer Leipziger Hs. von 1385 überlieferten P.n, die den vorangestellten Perikopentext in allegorischer Form moralisch ausdeuten. D e r von A p o l d a bevorzugt in Aufbau und Formulierung die klare geistliche Sentenz (Karl B i h l m e y e r , Kleine Beitr. z. Gesch. d. dt. Mystik, in: Beiträge z. Gesch. d. Ren. u. Reformation. Joseph SMecht als Festgabe zum 60. Geb. dargebr., 1917, S.45-62). Chr. H. S c h e e b e n , Über d. P.weise der dt. Mystiker, in: K. R u h , Altdt. u. altniederländ. Mystik, 1964, S. 100-112). Edcharts Straßburger Aufenthalt klingt bei oberrhein. Predigern nodi lange nadi. So sind vom Franziskaner R u d o l f von B i b e r a c h neben wichtigen Traktaten zwei P.sammlungen erhalten. H u g o von S t r a ß b u r g übt nachhaltigen Einfluß durch sein Compendium theologicae veritatis aus. Der jüngere F u t e r e r schmüdct seine P.n mit Allegorien, Legenden und naturgeschichtlichen Exempeln aus. Der 1425 als Prediger im Kolmarer Nonnenkloster Unterlinden bezeugte Dominikaner G e r h a r d v o n N ü r n b e r g ist durch einen reichen,

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Predigt

wenn audi wenig Originaltreuen P.nachlaß bekannt geworden. In Oberdeutschland findet die Mystik durch weitere bedeutende Prediger Verbreitung. Der aus Schwaben stammende Franziskaner S t e p h a n F r i d o l i n (t 1498) wirkte seit 1482 als Prediger am Nürnberger Klarissenkloster; aus dieser Praxis gingen zahlreiche dt.sprachige Erbauungsschriften mystischen Gehalts hervor: die bemerkenswerteste ist 1491 unter dem Titel Schatzbehalter gedrudct worden (Ausgabe seiner dt. P.n von Ulrich S c h m i d t , Η. 1. 1913; Veröff. aus d. Kirchenhistor. Sem. München IV, 1). Sein Ordensbruder K o n r a d B ö m l i n (f 1449) hinterließ adit bild- und gleichnisreiche P.n in dt. Sprache, die sidi durch schlichte, doch schwungvolle Diktion auszeichnen (Paul Gerhard V ö l k e r , Die dt. Schriften des Franziskaners Κ. B., Teil 1, 1964). Diese späten Vertreter der Mystik bevorzugen Belehrungen, die durch anschauliche Vergleiche und Allegorien vermittelt werden. Neben dem hier Genannten steht eine reiche P.Überlieferung, teils anonym, teils zu Unrecht den hervorragenden Vertretern der mystischen Bewegung zugeschrieben, die großenteils noch wenig untersucht worden ist (vgl. ζ. B. die von Friedrich W i l h e l m hg. dt. Mystikerp.n in: Münchener Museum für Philologie des MA.s u. d. Ren. 1 [1911/12] S. 1-36).

§ 6. Die Ρ des a u s g e h e n d e n M i t t e l a l t e r s ist durch eine fast unüberschaubare Vielfalt gekennzeichnet, sowohl hinsichtlich der nunmehr verstärkten Überlieferung, als auch in bezug auf den Reichtum an Formen. In dieser Zeit wird ebenso das Andachts- und Erbauungssdirifttum stark gepflegt, ζ. B. durch H e i n r i c h von L a u f e n b e r g und E r h a r t G r o ß ; die katechetische Literatur ist reich vertreten. Neben Nachwirkungen der in den beiden voranstehenden §§ besprochenen geistigen Strömungen tritt jetzt eine unmittelbarere breite Volksfrömmigkeit hervor, zeichnet sich andererseits als Vorbote der Reformation die kritische Einstellung gegenüber kirchlichen Institutionen ab; der Prediger (jetzt in Städten oft ein eigens bestellter Prädikant) wird zum Künder sozialer und sittlicher Reform. So fehlt denn auch nicht die deutliche Kritik am Verkündigungswesen; wir erinnern an die Scherz- und Nemop.n, an P.n über das Nichts oder das Konkubinat; Nachklänge bringen Hans S a c h s : Die drei schlechten P.n, Thomas M u r n e r : Von blouwen enten predigen und Badenfahrt (vgl. ferner J. Β ο 11 e , Eine P.parodie, ZfVk. 12, 1902, S. 224 f.; ebda 19, 1909, S. 182-185). Trotz der Fülle des vorliegenden, zum Großteil kaum ausgeschöpften

Materials kann man nicht von einer Blüte im damaligen P.wesen sprechen, die etwa der Bedeutung der Kanzelansprache nadh der Reformation gleichkommt, wenn audi vom 13./14. Jh. ab der P. im Kirchenbau Rechnung getragen wird durch Errichtung von Kanzeln u. dgl. Zudem haben kirchliche Gremien seit dem 13. Jh. wiederholt darauf gedrungen, das P.wesen zu ordnen, es schließlich zu einem unentbehrlichen Bestandteil des Gottesdienstes zu machen. Wohl ging von vielen Predigern eine direkte Wirkung zur ethischen und geistlichen Förderung der Gemeinde aus, aber meistens litt die P. unter der Oberflächlichkeit ihres Gehaltes. Auch hören wir jetzt noch von Schwierigkeiten im Gebrauch der Volkssprache: 'vix in vulgari exponere evangelia didicerunt' schreibt Trithemius im 4. Kap. seiner Institutio. Häufig werden den Laien lateinische Zitate zugemutet. D u n g e r s h e i m fordert in seinem homiletischen Handbuch zwar eine gute Ausbildung für Prediger, in der Praxis mangelt es aber daran, wie F r i e d r . W i l h . O e d i g e r , Über die Bildung der Geistlichen im späten MA. (1953; Stud. u. Texte zur Geistesgesch. des MA.s 2) zeigt. Zu beachten ist femer die vielfach strenge Abkehr der Geistlichkeit von volkssprachlichen Büchern; als Gründe führt man an: die dt. Übersetzungen vulgarisierten das Evangelium (so in Surgants Manuale zu lesen); die dt. Bücher hätten gar ketzerische Gedanken, heißt es in Niders Formicarius. Neben dem breiten Überlieferungsstrom, in dem die formal verspielten P.n einen bedeutenden Platz einnehmen, steht die Neubesinnung auf ihre Grundlagen in zahlreichen seit dem 13. Jh. geschriebenen homiletischen Untersuchungen. Allein 229 Titel verzeichnet Harry

Caplan, Mediaeval Artes praedicandi (Ithaca

Ν. Υ. 1934/36; Cornell stud, in classical philology 24/25), ferner Ders., in Classical rhetoric

and the medieval theory of preaching. Classical

Philology 28 (1933) S. 73-96, bes. S. 76 ff.; sowie

Th.-M. Charland, Artes praedicandi. Contributions ά l'histoire de la rhitorique au moyen

äge (Paris 1936; Publ. de l'lnst. d'6tudes mediivales d'Ottawa 7). Als deren wichtigste sind Hieronymus D u n g e r s h e i m s Traktat De modo praedicandi (1514) und Johann Ulrich S u r g a n t s Manuale curatorum (1504) zu nennen

(Dorothea R o t h , Die mittelalterl.

P.theorie

u.

das Man. cur. des J. U. S., 1956; Basler Beitr. z. Geschichtswiss. 58). Das letztere erreichte zehn Auflagen und bietet neben einer Theorie der geistlichen Beredsamkeit praktische Erläuterungen über die fünf üblichsten P.arten. Auch von Johann G e i l e r v o n K a i s e r s b e r g besitzen

Predigt wir eine Schrift zur P.theorie. Johann R e u c h -

lins

Liber Congestorum de arte praedicandi

(1504 gedrudct) hat mit seinen von der antiken Rhetorik übernommenen Regeln und Klassifizierungen stark auf Melandithon (s. u.) gewirkt. Diese homiletischen Werke greifen in die Auseinandersetzung um rhetorische Form und Gestaltung ein, die die Humanisten bewegt. Neben etymologischen Erörterungen über einzelne Wörter versucht man gelegentlich diese in Anwendung des kabbalistischen Notarikons in ihre Buchstaben aufzugliedern, aus denen neue Wörter gebildet werden. Neben derartig äußeren Spielereien beschäftigt man sich auch mit dem inneren Gehalt der Wörter.

Außer den theoretischen Betrachtungen über die P. gibt es im Spätma. eine Fülle praktischer Handreichungen zur unmittelbaren Hilfe für den Kanzelredner. Es sind vor allem lat. Handbücher wie Stoff- und Exempelsammlungen (mit theologischen und profanen Autoritäten, Denkwürdigkeiten, Moralitäten), Konkordanzen, Zitatenlexika, Florilegien, Kommentare, P.skizzen und -dispositionen. Häufig haben diese Kompendien Titel wie Materiae seu Collationes praedicabiles, Dictionarii, Vocabularii, Distinctiones praedicabiles; Distinktionen sind schon seit dem ausgehenden 12. Jh. in der Form allegorisierender Wörterbücher bekannt. Der auch als scholastischer Prediger geschätzte J a c o b von S o e s t gibt seinem alphabetischen Dispositionsmagazin den Titel Distinctiones. Außer den theologischen Sammlungen werden auch philosophische und naturkundliche Enzyklopädien ausgebeutet und dabei ins Geistliche übertragen.

Ein häufig benutztes P.magazin ist das schon genannte Werk K o n r a d s v o n B r u n d e l s h e i m (f 1321). Das von A e g i d i u s A u r i f a -

b e r zusammengetragene Speculum exemplorum

(Straßburg 1490) wurde wiederholt aufgelegt. Gleichzeitig erschien M e f f r e t h s Hortulus reginae, in dem Natur und Geschichte des In- und Auslands in teilweise allegorischer Form verwertet werden. Von den zahlreichen Sammlungen mit Musterp.n ist insonderheit die allein in 46 Auflagen bis zum Jahre 1500 verbreitete des Johann H e r o l t zu nennen. Seine Sermones de sanctis et de tempore wenden sich unmittelbar an den Predigemachwuchs, der ihre Brauchbarkeit schätzte. Immerhin auf 24 Auflagen im

15. Jh. brachten es die Sermones dominicales ... qui dormi secure vel dormi sine cura nuncupati

des Kölner Minoriten J o h a n n v o n W e r d e n . Um 1500 waren als Präparationshilfe die Ser-

mones pomarii de tempore et de sanctis des

Franziskaners Oswald P e l b a r t u s stark verbreitet. Um 1481 erschien Joh. Me I b e r s Voca-

bularius predicantium: idem vocabulum dwersimode acceptum varie theutonizando exprimens, der sich teilweise auf die vielbewunderten P.n

233

des Heidelberger Theologen Jodocus E i c h m a n n stützt und von dem allein 23 Auflagen bekannt sind; dem Gebrauch der Synonyma ist hier besondere Beachtung geschenkt worden.

Trotz dieser vielen Hilfsmittel leidet die P. am Vorabend der Reformation unter großen inhaltlichen wie formalen Mängeln. Damals ist die t h e m a t i s c h e S p r u c h p . vorherrschend, die statt des biblischen Textes verschiedenste Themen zugrunde legt, die mit weitgehender Aufgliederung abgehandelt werden. In ihr tritt das Exordium stärker hervor. Auch Postillatio und Admonitio werden in dieser Zeit besonders gepflegt. Oft beschränken sich die spätmal. Prediger nicht auf das Material der geistlichen Handbücher, sondern greifen zu Sammlungen mit weltlichen Beispielen, mögen diese auch der Würde des Kanzelvortrags unangemessen sein. Eine Practica de modo praedicandi aus dem 15. Jh. wendet sich heftig gegen den Gebrauch ungehöriger Anekdoten (Ad. F r a η ζ , in: Der Katholik, Jg. 84, 1904, S. 161-166), sind doch volkstümliche Legenden, anschauliche Fabeln, derbe Schwänke und selbst Witze reichlich vertreten. Thomas M ü n t z e r soll weltliche Lieder auf der Kanzel gesungen haben, von Geiler wird berichtet, er hätte Tierstimmen nachgeahmt. Der Mißbrauch des Verkündigungsauftrages gipfelt im sogenannten R i s u s p a s c h a l i s , der nach den ernsten Passionsp.n die Gemeinde mit Scherzen erfreuen sollte. Gegen solche Auswüchse schwingen die Humanisten wie Reuchlin, Erasmus und Ludwig Vives ihre Geißel. Während die Predigerorden sich um die innere Wandlung des Menschen bemühen, treten besonders im 15. Jh. sogen. „Pfennigprediger" auf, die auf marktschreierische Weise versuchen, für Bauten und andere Aufwendungen Geld einzutreiben; ihnen folgen die Ablaßprediger. Oft werden auf den Kanzeln abstruse theologische Fragen abgehandelt. Im 15. Jh. kommen P.n auf, die anstelle des biblischen Textes ein Sprichwort setzen oder ganze Kataloge von Proverbien vortragen: Dt.

Sprichwörter aus Hss. d. Schwabacher KirchenBibl, hg. ν. Η o f m a n n . SBAk. München 1870, 2,1 S. 15-38. Ad. F r a n z , Sprichw.p.n aus dem 15. Jh. Der Katholik, Jg. 84 (1904) S. 373-384.

Ludwig S t e r n , Mittlgn. aus der Lübener Kir-

chenbibliothek in: Beiträge z. Bücherkunde u. Philologie. Aug. Wilmanns gewidmet, 1903. S. 75-96). Zu der Frage, ob einige spätmhd. Denk-

234

Fredigt

mäler den Begriff Reimp. verdienen, vgl. E. S c h r ö d e r in: AnzfdA. 7 (1881) S. 189.

Viele spätmal. P.n wuchern mit dem Gebrauch der Allegorien, oft als Übertragung eines Leitthemas. So werden die sieben Todsünden nach P.art in symbolisch-moralisierender Deutung und Veranschaulichung im Goldenen Spiel (ca. 1432/33) des Straßburger Dominikaners Mag. I η g ο 1 d (auch Vf. dreier P.n) behandelt. Eine Kirchweihp. des redegewandten Kartäusers N i k o l a u s von N ü r n b e r g von 1452 vergleicht die christlichen Tugenden mit den Baulichkeiten des Gotteshauses. Narrenschiffsp.n aus der Zeit Sebastian Brants beziehen sich auf das bekannte Literaturwerk (so von J. Geiler von Kaisersberg, vgl. Adolf S ρ a m e r , Eine Narrenschiffp. aus der Zeit Sebastian Brants in: Otto Glauning zum 60. Geb. Festgabe aus Wiss. u. Bibl. Bd. 2, 1938, S. 113-130). Ebenso fehlt es nicht an der Wiedergabe allegorischer P.n durch die bildende Kunst: Ein Bamberger Tafelbild stützt sich auf eine geistliche Ansprache Capistranos. Man predigt einerseits bis zu 6 Stunden lang, vernachlässigt andererseits das Verkündigungsamt ganz (Parthenius M i n g e s , Johannes Link, Franziskanerprediger, in: Beiträge z. Gesch. d. Ren. u. Ref. Joseph Schlecht, als Festgabe zum 60. Geb. dargebr., 1917, S. 248-255). Leichenp.n werden mitunter recht umfangreich angelegt, wenn es sich um einen notablen Verstorbenen handelt (ζ. B. G. S o m m e r f e l d t , Die Leichenp.n des Mag. Matthias υ. Liegnitz auf den Tod des Prager Erzbischofs Johann υ. Jenstein, Mittlgn. d. Ver. f. Gesch. d. Dt. in Böhmen 42, 1904, S. 269-275). Als besondere Formen haben sich im Spätma. herausgebildet die Neujahrs- und Fastnachtsp.n (Luzian P f l e g e r , Altdt. Neujahrp.n, 1912). Letztere hat vor allem der Leipziger Kanonikus Georg M o r g e n s t e r n gepflegt und in einem Band Strafp.n veröffentlicht (um 1494). Die jetzt einsetzende Ablaßp. warnt in lebhafter Anschaulichkeit vor Höllenstrafen (Gg. B u c h w a l d , Die Ablaßp.η des Leipziger Dominikaners Herrn. R a b , in: Arch. f. Ref.gesch. 22, 1925, S. 128-152 u. 161-191; sowie Hans v. G r e y e r z , Ablaßp.n des Joh. Heijnlin aus Stein, Arch. d. Histor. Ver. B e m 32, 1934, S. 113-171). Zusammenstellungen geistlicher Ansprachen für das Volk begegnen uns ab ca. 1400 unter dem Begriff Postille ( = Homilien über die Jahresperikopen) sowie Plenarien (zwischen 1473 und 1521 erschienen 57 anonyme Ausgaben; es sind kurze Perikopenauslegungen in vorwiegend anschaulicher Sprache, mit üblichem Beiwerk illu-

striert: J. A l z o g , Die dt. Plenarien im 15.u.zu Anfang d. 16. Jh.s, Freiburger Diözesanarchiv 8, 1874, S. 255-330; vgl. auch Winfried K ä m p f e r ,

Studien zu den gedruckten

mittelniederdeutschen

Plenarien, 1954; Ndt. Stud. 2). In der Tradition der Scholastik stehen noch viele Geistliche, so der als Reform- und Sittenprediger bedeutsame Erfurter Kartäuservikar J a k o b v o n J ü t e r b o g (t 1465) sowie der letzte namhafte Nominalist Gabriel B i e l (t 1495) mit seinen verbreiteten Sermones sacri

totius anni tum de tempore tum de sanctis cum

aliis nonnullis, in denen das scharf durchdachte lehrhafte Element in schwerfällig breitem Stil erscheint. Der Dominikaner Joh. H e r o l t (t 1468) hat wie die eben Genannten ausgezeichnete Heüigenp.n gehalten, die das Legendarische stark hervortreten lassen (H. S i e b e r t , Die Heiligenp. des ausgehenden MA.s, Zs. f. Kath. Theol. 30, 1906, S. 470-491). Ferner hat Herolt zahlreiche lat. Sermones sowie dt. Adventsp.n hinterlassen, deren Struktur durch seine Vorliebe zur Distinktion ebenfalls scholastisch geprägt ist. Herolt bevorzugt den dreiteiligen Aufbau und benutzt Exempla, Allegorie sowie Emblematik zum Verständnis und Alltagsbezug. Der auch als lat. Schriftsteller Mitte des 15. Jh.s hervorgetretene Franziskaner Herrn. E t z e n hat vier P.zyklen auf Maria verfaßt, die eine gedankenreiche, auf dem Schrifttext aufbauende Disposition haben. Der Basler Franziskaner Joh. G r i t s c h hat seine Fastenp.n (1440) zwar dt. gehalten, aber wie seine anderen P.bände lat. veröffentlicht: bis 1500 erreichten sie 26 Auflagen; im Aufbau sind sie klar, fast pedantisch und finden trotz gelehrt scholastischer Ausführung den Bezug zur konkreten Lebenssituation; zur Verdeutlichung zieht Gritsch neben volkstümlichem Erzählgut auch antike Autoren heran. Um 1400 wirken in Wien drei wortgewandte Prediger mit scholastischer Tradition: der Karmeliter M a g i s t e r F r i e d r i c h hat in glattem sachlichen Deutsch eine Postille abgefaßt, mit der er für die reine Lehre und innerkirchliche Ordnung eintritt; dem aus Hessen stammenden Gelehrten H e i n r i c h v o n Langenstein verdanken wir neben wichtiger Erbauungslit. und einer ars praedicandi in sicherem Stil geschriebene dt. P.n; an Bildung stand ihm N i k o l a u s v o n D i n k e l s b ü h l kaum nach, ein weit geschätzter Kanzelredner, dessen P.n vorwiegend dogmatische Fragen in zeitnaher Diktion und mit allegorischen Mitteln behandeln (F. S c h ä f f a u e r , Ν. v. D. als Prediger, Theol. Quartalsschr. 115, 1934, S. 405-439, 516-547). In Wien war zeitweilig auch P a u l u s W a n n tätig, dessen eindringliche Passionsp.n von Scholastik und Mystik beeinflußt sind. Am Ende der scholastischen Tradition steht Luthers Erfurter Lehrer J o h . v o n P a l t z , der mit seiner Himmlischen Fundgrube und ihren lat. Erweiterungen ein Kabinettstück scholastischer Gliederung und Unterteilung gibt (Herb. W o l f , Die H. F. u. d. Anfänge d. dt. Bergmannsp., Hess. Bll. f. Volkskde. 49/50, Textteil, 1958, S. 347-354). Für die lat. vorgetragene scholastische Gelehrtenp., die sich in der Regel an den Perikopentext hält, haben

Predigt wir eine zuverlässige Untersuchung von Paul A r e n d t , Die P.n des Konstanzer Konzils (1933). Er betont ihren ausgeprägten Formalismus, der sich vor allem in der kunstfertigen Gliederung (Qui bene distinguit, bene docet) zeigt: nach dem persönlichen Wort an die Gemeinde, dem Prothema, kommt das Exordium, dem die eigentliche Einleitung, Prooemium oder Introductio thematis als Überleitung zum Hauptteil folgt; das meist dreigeteilte Thema wird von der Abhandlung = persecutio, amplificatio und dilatatio thematis abgeschlossen. In der vorreformatorischen Zeit bringen einige vom Humanismus beeinflußte Prediger die formalen Regeln der weltlichen antiken Beredsamkeit auf die Kanzeln. Audi das Euagatorium optimus modus praedicandi von 1502 stellt die Anwendung rhetorischer Formen in den Mittelpunkt seiner homiletischen Anweisungen. Außerdem breitet sich die Synonymik in den geistlichen Ansprachen aus. Durch den Humanismus erhält die formal durchgestaltetere P. damals auch eine inhaltliche Vertiefung, vgl. die 108 erhaltenen P.n des durch seinen Ehetraktat bekannten Leipziger Dominikaners M a r k u s v o n W e i d a (f 1516; F r a n z B r e i t k o p f , M . ü. W., ein Prediger u. theol. Volksschriftsteller des ausgehenden MA.s, Diss. Greifswald 1932). Einfluß der Mystik und der jungen humanistischen Strömung zeigt sich bei N i k o l a u s v o n K u e s (t 1464), der ca. 300 lat. P.n hinterlassen hat, die er wenigstens ζ. T. in der Volkssprache gehalten hat; sie haben einen logisch-rhetorischen Aufbau und zeichnen sich durch starke dramatische Ausdruckskraft aus, hinter der man die Dialogform spürt. In seiner Frühzeit benutzt er noch Exempla zur Verdeutlichung, legt die ethischen Forderungen in symbolträchtigen Bildern seiner dichterischen Sprache dar. Deutsch sind nur zwei P.n über das Vaterunser erhalten, die mit volkstümlichen Elementen ausgestattet sind. Seine lat. Klerikerp.n fügen mehrfach ein Memoriale an, das die Hauptpunkte wiederholt (Predigten. 1430-1441. Dt. v. Josef Sikora u. Elisabeth Bohnenstädt, 1952; Schriften des Ν. υ. C., hg. v. Emst H o f f m a n n ) . Des Cusanus späte Kanzelreden sind Zeugnisse für intensive r e f o r m e r i s c h e Tätigkeit, die jetzt auch bei anderen begabten Predigern in Erscheinung tritt, so in den kunstfertigen Melker Klosterp.n des P e t r u s von R o s e n h e i m (f 1433). Nachhaltig setzt sich ebenfalls der Augustiner Konrad von W a l d h a u s e n (f 1369) für die Erneuerung von Kirche und Gesellschaft ein, weswegen man ihn zu einem Vorläufer von

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Johann Hus erklärt hat. Wohl steht er in der streng formalen scholastischen Tradition, bevorzugt die allegorisch-moralische Exegese in enger Anlehnung an den Evangelientext und Erweiterung des Exordiums durch das Prothema; dabei versteht er es, alle Teile seiner Prager Gemeinde wirkungsvoll anzusprechen. Erhalten ist nur eine lat. Postille mit Musterp.n; berühmt ist seine Postilla studentium sanctae Pragensts universitatis. Für die Ordensreform spricht sich der Dominikaner Johannes Μ u 1 b e r g (f 1414) aus, ein geschätzter Volksprediger mit mystischen Anklängen. Nikolaus G r o ß von Jauer (f 1435) hat bedeutende Reformtraktate verfaßt und als reichgebildeter Prediger Aberglauben sowie Häresie bekämpft. Von dem audi als Wissenschaftler bedeutsamen Thomas E b e n dorf er (f 1464) haben wir zwei P.bände über Paulusbriefe; durch seine Auseinandersetzung mit Aberglauben und außerkirchlichen Volkssitten überlieferte er uns reiches kulturgeschichtliches Material. Vom Basier Dominikaner Johann Nider (f 1438) stammen zahlreiche P.sammlungen, in denen er für innerkirchliche Reform eintritt. Er bedient sich dabei wie in seinem wissenschaftlichen Werk der allegorischen Methode und bringt Vergleiche aus Natur und praktischem Leben. Johannes Kreutzer (f 1468) vertritt die kirchliche Reform mit erbaulichen P.n, die z.T. banale Allegorien und Bilder aus dem Volkstreiben enthalten. Joh. H e y n l i n v o n S t e i n (f 1496) redet in seinen 1410 hinterlassenen lat. P.n der Reform von Kirche und weltlichen Ständen das Wort, ζ. T. in dt. Sprache. In ihm verbinden sich Scholastik und Humanismus (strenger Aufbau), was nicht eine mit Illustrationsmaterial und Tagesbezug verlebendigte Sprache ausschließt. Vom Geist der antiken Beredsamkeit ist auch Melandithons Lehrer P a l l a s S p a n g e l (t 1512) durchdrungen, dessen Heidelberger P.n an die Geilerschen heranreichen. Der humanistischen Kreisen nahestehende und in der epideiktischen Rhetorik erfahrene Abt J o h . T r i t h e m i u s (14621516) fördert durch seine den Mönchen vorgetragenen Homilien die Klosterreform. Die volkssprachliche P. wird vor allem in den Frauenldöstem gepflegt, wo neben schon genannten, vorwiegend mystischen Predigern im ausgehenden Mittelalter wirken: der Franziskaner H e i n r i c h Vigilis (f 1499) sowie der Augustinerchorherr P e t e r v o n H a s e l b a c h (f 1506), der schon von Zeitgenossen gerühmt ward und u. a. deutsche P.n über das Leiden Christi hinterlassen hat. Eine Predigerpersönlichkeit mit mystischem und scholastischem Einschlag, die tiefgreifende sittliche Ermahnung und populäre, mitreißende Beredsamkeit in sich vereinigt, ist Heynlins Schüler Joh. G e i l e r v o n K a i s e r s b e r g (1445-1510). Formal löst er sich von den hergebrachten Regeln, indem

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Predigt

er neben dem Evangelientext audi freie Themen über seinen Kanzelvortrag stellt, die oft von vornherein drastische Gestaltung ankündigen; er setzt seinen P.n entsprechende Titel voran oder umrahmt sie mit bildhafter Erzählung (emblematische Form). Zur Disposition und Darstellung bedient er sich oft der Allegorie; zuweilen wird er komisch, derb, banal, ja grobianisch im Ausdruck, liebt den satirisch-realistischen Ton, Dialog sowie Wortspiele (ζ. B. Kirchweih — Kuechweih). Er besitzt die Gabe, sich in die Lebenssituation seiner Gemeinde zu versetzen, die Sprache des niederen Volkes, vorab ihre Sprichwörter und Redensarten, kanzelfähig zu machen. Eine Sammlung solch ergötzlicher P.zutaten hat Joh. Ad. Muling unter dem Titel D. Kaiserspergs Passion ... in stiickes weiß eins süßen Lebkuchen in seiner Margarita Facetiorum 1508 vorgelegt. Von Geiler kommt die Gewohnheit her, allg. beachtliche Vorkommnisse zu in sich geschlossenen P.reihen zusammenzufassen (Irmgard W e i t h a s e , G. v. K. als Kanzelredner, Sprechkunde u. Sprecherziehung IV 1959 S. 116 ff.). Audi seinem Landsmann und Hrsg. Johann P a u l i sind humorvoll-landläufiger Ton sowie plastische Veranschaulichung durch dramatische Gestaltung eigen. Ausgesprochen volkstümliche Töne finden wir ferner in D i e p p u r g s Sermones dominicales; bei dem Franziskaner Heinrich K a s t n e r (f 1530) mit seinen allein erhaltenen Sermones de sanctis et aliis variis, die antike und scholastische Provenienzen beibringen, aber auch lebhaft auf Zeitereignisse eingehen, Volkssprache und -leben widerspiegeln; bei dem Ulmer Ulrich Κ r a f f t (f 1516) und dem Basler Joh. M e d e r mit Bevorzugung des Dialogs in ihren Fastenp.n; bei dem Passauer Kanonikus Michael L o c h m a i r mit Sermones de sanctis, die reiches Material an Legenden, Sagen und Fabeln bieten und im allegorischen Stil ohne eigentliche Gliederung abgefaßt sind; bei Hugo von E h e n h e i m (t 1447), der seine P.n durchsichtig anlegt, trotz seiner trodcenmoralischen Züge mit schlichter Sprache und anschaulichen Beispielen Anklang findet, dabei seine scholastische Bildung ebensowenig verleugnet wie der Augustinereremit Gottschalk H o l l e n (f 1481), der seine Sonntags-, Kirchweih- und Katechismusp.n mit ζ. T. derben Schwänken und Spottanekdoten würzt, überhaupt eine realistische Darstellung aller Lebensbereiche nicht verschmäht, die Anwendung der Volkssprache auf geistliches Schrifttum verteidigt. Moritz K e r k e r , Die P. in d. letzten Zeit d. MA.s, (1861). Ders., Zur Gesch. d. P.wesens in d. letzten H. d. 15. Jh.s mit bes. Beziehung auf d. südwestl. Deutschland (1864). Florenz L a n d m a n n , Das P.wesen in Westfalen in der letzten Zeit d. MA.s (1900; Vorref. Fschgn. 1). J. K e l l e , Dt. P.n d. 15. Jh.s. Serapeum 21

(1860) S.57-59. — R. H e r r m a n n , Die Prediger im ausgeh. MA. Beitr. z. thür. Kirchengesdi. 1 (1929/31) S. 20-68.

§ 7. Die p r o t e s t a n t i s c h e P. der R e f o r m a t i o n s z e i t hat ihren theoretischen Ausgang in Melandithons (1497-1560) Homiletik, die er in verschiedenen Schriften darstellt (hg. von Drews und Cohns, 1929) und auch in einigen seiner rhetorischen Abhandlungen berücksichtigt. Seine Grandsätze sind: dem Bibeltext sollen gewisse beherrschende Gesichtspunkte entnommen werden, loci, die, mehr den Gesetzen der Dialektik denn der Rhetorik entsprangen, als heilsgeschichtlidie Beweise zum Corpus der P. auszuarbeiten sind, damit Belehrung, Glaubensermahnung und sittliche Besserang vorgetragen werden. Zu den drei Genera der klassischen Rhetorik stellt er speziell für die P. ein genus dialecticum, das dem missionarisch-katechetischen Zug der Reformationsp. entgegenkommt. Melanchthon selbst gibt in seiner Postille aber keine Vorbilder für die später vorwiegend synthetisch aufgebaute Protestant. Gemeindep., knüpft vielmehr unter Betonimg seiner Lokalmethode an die Beredsamkeit der klass. Schriftsteller und griech. Kirchenväter an. Er ist zu sehr humanistisch gebildeter Gelehrter und findet darin Entsprechung im 2. und 3. Teil der auf die patristischen Muster der Eloquenz zurückgreifenden Schrift des E r a s m u s : Ecclesiastes sive de ratione concionandi libri quatuor (1535), die neben dem vordringlichen Belehren noch die Berücksichtigung der Affekte des Volkes sowie die Anwendung rhetorischer Mittel fordert. Die von gebildeten Geistlichen vorgetragene P. sollte die Kirche reformieren und das Volk an die Bibel heranführen. Als frühe protestantische Pastoralanweisung ist Johann E b e r l ins Schrift: Wie sich ein Diener Gottes Worts in all seinem Thun halten soll (1525) zu nennen, in der er zwar die Begnadung des Predigers voraussetzt, aber das Studium antiker und zeitgenössischer Rhetorik empfiehlt. Der Vorzug der Protestant. P. liegt in der funktionellen Verbindimg von Homiletik und Hermeneutik, in der strengeren Textbezogenheit und in der unmittelbar christologischen Exegese. Äußerlich distanziert sie sich vom Beiwerk der Legenden, Fabeln, Volkserzählungen, antiken Zitate (vgl. Herb. W o l f , Das P.exempel im. frühen Protestantismus,

igt

237

Ohne Unterschätzung des bisherigen P.Wesens ist festzustellen, daß erst durch Martin L u t h e r (1483-1546) die P. die Hauptfunktion der Verkündigung erhält, die Mitte des Gottesdienstes darstellt. Bis an die Grenzen des Reiches dringt der Ruf, Das man in Deudschen Kirchen deudsch predigen, lesen, singen ... soll (Titel einer Flugschrift von Th. Albertus aus Königsberg/Preußen, 1553). In Lehr- und Pfarramt, die sich bei ihm unabdingbar ergänzen, trachtet Luther danach, das es ia alles geschehe / das das wort ym schwang gehe / und nicht loidderumb eyn loren vnd dohnen draus werde / wie bis her gewesen ist (Weim. Ausg. XII, S. 37). So mag es nicht verwundern, wenn er das Verkündigungswort der P. über das biblische Schriftwort stellt, zumal es ihm weniger um die didaktisch-katechesierende Funktion als um die Realpräsens Christi geht. In der P. kommt die viva vox evangelii zum Klingen.

ichs fahren lassen, und ist mein beste und erste Kunst: tradere scnpturam simplici sensu (WA Tischreden V Nr. 5285). Von Anfang an ist ihm die gewaltige, zuweilen affektgeladene, meist volkstümliche Sprache eigen, die sich trotz seines Festhaltens an der allegorischen Deutung von dem seither üblichen Schema abhebt. Auch verwirklicht er seine Forderung: man soll sich vom Latein abwenden und dem Volk 'auff das maul sehen' (WA XXX, 2 S. 637). Man hat Luther als den genialen Vertreter des sermo humilis auf dt. Kanzeln, den Schöpfer der „heroischen P.weise" genannt. Zeigen doch seine P.n ungekünstelte Naivität, streitbaren Eifer, poetische Sprache, sprichwortartige Diktion, dramatische Redefiguren, Veranschaulichungen durch Bilder und Vergleiche; vielfach knüpft er dabei an die volkstümliche Erbauungslit. des ausgehenden MA.s an. Diese Eigenheiten finden sich auch bei einigen seiner frühen Anhänger, unter denen der ehem. Ulmer Franziskaner H e i n r i c h von K e t t e n b a c h (t 1524) als Wanderprediger heftig gegen die alte Kirche zu Felde gezogen war. Anstelle der kunstvoll durchgestalteten Form bevorzugt Luther den einfachen, durchsichtigen Aufbau. Seit 1521 zerlegt er den Text nach Art der Homilie und analytischen P. in einzelne Stücke, die aber doch unter dem scopus generalis stehen. Mehr als von Augustin ist sein zentrales Predigen von Tauler abhängig. Den bei strenger Schriftgebundenheit auf seine Rechtfertigungslehre abgestimmten Inhalt komprimiert er gern in einem Merkspruch, wie er auch sonst mit Vorliebe einen Spruch in den Mittelpunkt der Darlegung stellt. Anstelle des Exordiums trägt er nach einem Gebet gleich den Text vor oder nimmt auf seine Gemeinde konkret Bezug. Dem unvermittelten Eingang entspricht häufig der abrupte Schluß, manchmal mit einer Applikation. Den Sonntagsp.n legt er die Perikopen zugrunde, behandelt hingegen in Wochen- und Reihenp.n ganze biblische Bücher oder einzelne Kapitel, woraus sich die später oft gepflegte Form der Serienp. entwickelte. Daneben predigt Luther auch über freie Themen aus dem Bereich der Ethik und Dogmatik oder über Katechismusabschnitte, für die er die spezifische Form der Zyklenp. fand, die seine Schüler gern aufnehmen.

Der frühe Luther ist noch von der scholastischen Tradition abhängig, verfängt sich in schwierigen theologischen Auseinandersetzungen, gebraucht die herkömmliche vierfache Auslegung, stellt ein Thema in den Mittelpunkt der Abhandlung; in den P.n über die zehn Gebote (1518) wuchert noch die Bezifferung der Einzelabschnitte. 1516/17 zeigen sich stärker Einflüsse der Mystik. Ab 1516 beginnt sich aber auch allmählich seine selbständige theologische Konzeption in den P.n abzuzeichnen (Elmar Carl Kiessling, The early Sermons of Luther and their relation to the pre-reformation sermon, Diss. Chicago 1935). Er hat selbst seine P.weise beschrieben: Als ich jung war, da war ich gelehrt ...da ging ich mit Allegoriis, Tropologiis und Analogiis um und machte eitel Kunst... Nu hab

Der Inhalt steht im Zeichen der Belehrung, Ermahnung und Erbauung, nicht selten auch der situatioiisbedingten Polemik, wie überhaupt das Zeitkolorit und der okkasionelle Bezug stark hervortreten. 'Ein Prediger soll ein Dialeöticus und Rhetor sein, das ist, er muß können lehren und vermahnen ... zum Andern definiren, beschreiben und anzeigen, was es ist; zum Dritten soll er die Sprüche aus der Schrift dazu führen ... zum Vierten mit Exempeln ausstreichen und erklären; zum Fünften mit Gleichnissen schmükken (WA Tischr. II Nr. 2216). Wiederholt hat er geäußert, daß er Rhetorik nur als verständnisfördemde 'Wolredenheit oder Eloquentia' dulde, nicht als gekünstelte Schönrednerei. Mehr als sie empfiehlt er ein gründliches Studium der Dialektik, die er das 'Werkzeug, dadurch wir fein

Hess. -Bll. f. Volkskde. 51/52, Textteil, I960, S. 349-369). Sie bringt eine klare Textanalyse unter Verzicht auf allegorische und dialektische Künste, aber auch auf scholastischen Formzwang. Trotzdem entbehrt sie nicht eines gewissen Schematismus, besonders durch die emblematisch verdeutlichte Belehrung. Doch wird das entgolten durch schärferes Hervortreten der Predigerpersönlichkeit, in der bald die heftigen Töne der Kontroversen, bald die gemütstiefen Züge einer neu belebten Frömmigkeit durchbrechen. Einige Kanzelredner bemühen sich darum, die P. als literar. Kunstwerk zu gestalten; vom Ende des 16. Jh.s ab wirkt sich dabei der Manierismus aus. Seit der Reformation wird auch die Kasualrede, vor allem Hochzeits- und Leichenp. (die bereits nach 1200 üblich geworden ist), mehr gepflegt.

238

Pri

richtig und ordentlich lehren nennt (WA Tisdir. II Nr. 2629 b). Illustrierendes Beiwerk wie P.exempel (vor allem Fabeln) wendet er maßvoll an, greift hin und wieder zu drastischer, humorvoller Wendung, Wortwitz und Wortspiel oder zu derbem Ausdruck. Er liebt Metapher, Personifizierung, Synonyma, Sprichwörter und dicta probantia aus Antike und Patristik, femer das eingeflochtene Gespräch. Wie Geiler ist er ein 'tardiloquus' und verlangt auch von anderen bedächtig-eindringlichen Vortrag mit vernünftigem, begrenztem Umfang. Wir besitzen von ihm ca. 2000 P.n — großenteils Nachschriften. In diesen mündlich vorgetragenen Zeugnissen ist seine von der volkstümlichen Sprachform beeinflußte Syntax am unmittelbarsten zu fassen. Sein erster und nachhaltigster P.band ist die 1519-21 als Anleitung für Protestant. Geistliche entstandene Kirchenpostille. Im Anschluß daran erlebt die P.publikation und Erbauungslit. der Reformation überall einen sichtbaren Aufschwung: aus ihnen spricht die streng auf die Bibel gegründete, absolute Gültigkeit beanspruchende Dogmatik — vielfach trocken vorgetragen. M. Do e r n e , Luther u. d. Predigt. Luther. Mittlgn. d. Luther-Ges. 22 (1940) S. 36-42. Gerh. H e i n t z e , L.s P. von Gesetz u. Evangelium (1958; Fsdign. z. Gesch. u. Lehre d. Protestantismus 10, 11). E. H i r s c h , L.s P.weise. Luther. Mittlgn. d. Luther-Ges. 25 (1954) S. 1-23. Ders. hat in der Bonner Lutherausgabe (Bd. VII S. 1 ff.) des Reformators Äußerungen über die P. zusammengestellt. § 8 . Unter L u t h e r s S c h ü l e r n und den von der Reformation beeinflußten Zeitgenossen gibt es profilierte Predigergestalten, die Eigenes und Neues bieten, dabei Form und Stil allmählich umprägen. Hier darf man jedoch nicht übersehen, daß in der frühen Reformationszeit Mangel an ausreichend gebildeten Kanzelrednern herrscht, zumal in e i n e m Gotteshaus zuweilen sonntags bis zu sechs, werktags bis zu vier P.n gehalten werden mußten. Also bedient man sich fremder P.vorlagen, am liebsten des Büchleins Urbani Rhegii, das sich durch volkstümlichen Ausdruck und verständliche Vortragsweise auszeichnet. Langsam setzt die Besinnung auf die homiletischen Grundlagen wieder ein, teilweise im Anschluß an Melanchthons Rhetorik in Nicolaus Hemmings Unterriditunge wie ein Pfarrherr ... sich christlich verhalten soll (1566). Nachhaltige Wirkung geht von Hieronymus W e l lers De modo et ratione concionandi (1562) und von Ägidius H u n n i u s ' Methodus concionandi

(NA 1608) aus. Werke gleichen Titels legten audi die Vertreter der synthetischen Methode vor: Andreas P a n c r a t i u s (1571) und Jacob Andreae (1595). Der redebegabte Stuttgarter Hofprediger Lukas O s l a n d e r führt in De ratione concionandi (1582) wie Melanchthon die P. in ihrer Grundlegung und Gestaltung auf die klassische Rhetorik zurück, betrachtet aber den Text als Mittelpunkt. Zu Weiterem vgl. M. S c h i an, Die lutherische Homiletik in der 2. Hälfte d. 16. Jh.s, Theol. Stud. u. Krit. 72 (1899) S. 62-94 sowie W e i t h a s e a.a.O. Bd. 2, S. 30. Vorerst bleibt die analytische P.methode noch bestimmend. Ihr ist vor allem Veit D i e t r i c h (fl549) verpflichtet in seinen P.n über den 91. Psalm (Nürnberg 1543); auch seine zweiteilige Kinderpostille (Nbg. 1546) und S«mmarien( Wittenbei'gl541ff.) zeichnen sich durch schlichte, edle Sprache aus. Ζ. T. setzt sich anstelle der Homilie mit Vers-fürVers-Auslegung Melanchthons Vorliebe für die Herausarbeitimg bestimmter theologischer loci durch, um schließlich in der 2. H. des 16. Jh.s zeitweilig der synthetischen P.weise Platz zu machen, die sich auf den Hauptgedanken des Textes konzentriert (Sebastian F r ö s c h e l f 1570, Georg M a j o r t 1574, Cyriacus S p a n g e n b e r g f 1604 und Johann G i g a s 11581). Neben P.n mit genauer Perikopenauslegung finden sich also — vor allem in den Nebengottesdiensten — auch solche, die ein Thema behandeln, das mitunter über einen ganzen Zyklus gestellt wird. Dieser Wandel vollzieht sich bei einigen Predigern erst im Laufe ihrer Amtstätigkeit. Am Ende des Reformationsjh.s setzt sich die analytische Methode wieder durch mit ihrer Uberbetonung der Rhetorik, der strengen Abfolge fester Teile, der übertriebenen Untergliederungstechnik bei der Exposition, der systematischen Darstellung nach vielfachem 'usus'. Die Exegese geht vorwiegend dem Wortsinn nach, verzichtet aber nicht auf überspitzte etymologische Erörterungen, so daß man meinen könnte, in den Kirchenbänken hätte eine humanistisch gebildete Gemeinde der Verkündigung gelauscht. Es hat freilich auch nicht an begabten Predigern gefehlt, die den Reichtum humanistischer Bildung in geschliffener Sprache vorzutragen verstanden, wie Johann B r e n z (f 1590), vor allem in seiner Evangelien-Postille (Frankfurt 1550) und in den P.n über die Apostelgeschichte (dt. 1564). In der Uberbetonung formaler Eigenheiten (ζ. B. Wortspiele, Synonymik, blümelnde

igt Ausdrucksweise) zeigt sich merklich ein Nachlassen der geistigen Frische und Kraft: in der zweiten Generation institutionalisiert sich die reformatorische Bewegung. In die Sprache dringen derb-bäurischer Tonfall und Kanzleistil ein (Schwulst, Weitschweifigkeit, vom Latein beeinflußter Satzbau). Die von Luther geschaffene K a t e c h i s m u s p. wurde zur fruchtbarsten Verkündigungsform der jungen reformatorischen Bewegung, zumal sie durch den Wechsel von Frage und Antwort dem dieser Zeit eigenen lehrhaften Verlangen nachkam; sie hat längere Zeit hindurch ihre Lehrfunktion bewahrt, allerdings selten im Hauptgottesdienst. Sie wird von Hieronymus M e n c e l (t n. 1560), dem Begründer der thematisch-synthetischen P.methode, sowie den schon genannten M a j o r , G i g a s , F r ö s c h e l , S p a n g e n b e r g und B u g e n h a g e n gepflegt und findet eine musterhafte Ausprägung in der farbenfrohen, humorgewürzten Bauernpostille (1597 ff.) des Lukas Ο s i a η d e r. Um 1600 tritt die allgemeine Lehrp. an ihre Stelle. Seit Beginn der Reformation gibt es lebhafte Fehden innerhalb des Protestant. Lagers, die auch in der P. ihren Niederschlag gefunden haben. Urbanus R h e g i u s (1 1541) hat sich als Prediger nicht vor satirischen Tönen gescheut, ist aber mit seiner Schrift Formulae quaedam caute et citra scandalum loquendi (dt. 1536) gegen polemische und schwärmerische Ausfälle aufgetreten. Kräftige Kontroversp.n hat Caspar G ü t t e l (f 1542) gehalten. Johann B u g e n h a g e n (f 1558), von dem wir auch ein Ρ .hilf sbuch haben (Dominicalia, Wittenberg 1524), polemisiert mit zuweilen unverblümter Grobheit gegen die Schwärmer; seine an Allegorien, Humor und volkstümlichen Zügen reichen P.n sind wegen ihres ungewöhnlichen Umfanges schon von Luther getadelt worden, zu dem er mit den Worten aufblickt: 'Wenn Luther predigt, habt ihr etwas Gebratnes und Gesottnes, wenn ich predige Wasser und Brot' (Hermann H e r i n g , Doktor Potneranus J. B., 1888; SchrVerRefoimGesch. 22. Georg B u c h w a l d , B.s Katechismusp.n v. Jahre 1534. Arch. f. Reformationsgesch. 17 (1920) S. 92-104. Ders., Ungedrudite P.n J. B.s aus den Jahren 1524-29 (1910; Quell, u. Darstellgn. aus d. Gesch. d. Reformationsjh.s 13). Die polemische Haltung kommt auch bei Nikolaus von A m s d o r f deutlich zur Geltung. Vor allem bis ins 18. Jh. sind mehr oder minder heftige Polemiken konfessioneller Widersacher in der Form von Kontroversp.n auf die Kanzeln gebracht worden. Aus der Fülle der P.publikationen im 16. Jh. ragt das reiche Werk des Magisters Johannes M a t h e s i u s (1504-65) hervor. In seinen nahezu 1500 gedruckten P.n kommt er als gelehriger Schüler Luthers dessen Sprachgewalt nahe. In ihm verbinden sich umfassende Bildung mit herzhafter Volkstümlichkeit, umsichtige Frömmigkeit mit wissen-

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schaftlichem Eifer. E r bevorzugt vielfältiges Anschauungsmaterial, um lebendig, eindringlich und nicht selten humorvoll den Schrifttext darzulegen. Hohe Bewunderung und zahllose Nachahmung findet seine eigenartige Kunst, vor der Joachimsthaler Bergbaugemeinde in fachbezogener Sprache Berufsund Glaubenswelt gleichnishaft zu verbin-

den (Bergpostilla oder Sarepta, Nürnberg

1562). Ihm verdanken wir auch die erste Protestant. Lutherbiographie, und zwar in Form von 17 P.n, die in mehr als 50 Auflagen verbreitet ist (Herbert W o l f , Die

Sprache des J. M., philologische

Unter-

suchung frühprotestant. P.n. Phil. Habil. Sehr. Marburg 1966). Neben den schon, genannten Geistlichen sind noch die folgenden Vertreter der reform. Lehre hervorzuheben: Martin M o l l e r (t 1606; mit gefühlsreicher Diktion), Wenzeslaus L i n k (t 1547; mit volkläufiger, gleichnisreicher Sprache), Michael C o e l i u s (t 1559; mit klarer Gliederung), Erasmus S a r c e r i u s (t 1559; mit übersichtlichem Aufbau und einfacher Ausdrucksweise), Gregor S t r i g e n i t z (t 1603; dessen Jonasauslegung in 122 P.n sowie P.n über Kirchenliedertexte wertvoll sind). Anton C o r v i n (t 1553; predigte niederdt.), Arsatius S c h o f e r (f 1542), Joachim M o r l in (f 1571), und Martin C h e m n i t z (t 1586) haben sich als „Postillatoren" betätigt. Femer sind zu nennen: Caspar C r u c i g e r (t 1543), Justus J o n a s (t 1555), Andreas O s l a n d e r (f 1552), Erhard S c h n e p f (t 1558), Johann P o l i a n d e r (t 1541), Paul E b e r (t 1569), Kaspar A q u i l a (t 1560). Reiche Angaben über gedruckte P.n des frühen Protestantismus bringen die Buchmeßkataloge. Im Gefolge der Reformation haben T ä u f e r u n d S c h w ä r m e r verschiedenster Ausprägung gewirkt. Ihre theologischen Meinungen sind durch einige wortgewaltige Prediger verbreitet worden, bei denen die geisdiche Erneuerung vielfach mit sozialreformerischen Ideen verbunden ist. Neben den Kreisen um Johannes D e n k (t 1527), Andreas K a r l s t a d t (t 1541), Balthasar H u b m a i e r (f 1528), Menno S i m o n s (| 1559) und Kaspar S c h w e n k f e l d (t 1561) ist vor allem Thomas M ü n t z e r (f 1525) hervorgetreten (Otto S c h i f f , Τ. M. als Prediger in Halle, Arch. f. Reformationsgesch. 23 (1926) S. 287-293; seine Fürstenp. und Bundesp. in: Th. M.: Politische Schriften. Mit Komm. hg. v. Carl H i n r i c h s , 1950; Hallische Monographien 17). Allgemein unterrichtet Gerhard J. N e u m a n n , P. und Predigerstand in den Täuferdiskussionen der Reformationszeit, Zs. f. Religions- u. Geistesgesch. 10 (1958) S. 209-219. § 9. Gegen E n d e des 16. Jh.s dringt mit dem schon genannten Cyr. Spangenberg (f 1604, vgl. besonders seine 21 Lutherpredigten, 1589) und Nicolaus S e i n e c k e r

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Predigt

(f 1592) als frühem und Johann G e r h a r d (f 1637) als wichtigstem Vertreter die Protestant. O r t h o d o x i e durch, die das religiös-seelsorgerliche Anliegen der Reformation durch konfessionelle Polemik in trockenem Scholastizismus ersetzt und damit die dogmatischen und lehrhaften Züge verstärkt: von der Kanzel herab werden theologische Auseinandersetzungen ausgetragen, nicht die Hörer angesprochen. In der Orthodoxie übernimmt die P. lediglich die Funktion, Gottes Wort zu vermitteln, während die Kanzelverkündigung der frühen Reformation als unmittelbarer Heilszuspruch Gottes selbst galt. Wie Johann H ü l s e m a n n s Homiletik Methodus concionandi (Wittenberg 1625) zeigt, erschöpft sich der P.stil in sterilem Formalismus der dreifachen Analyse (grammatisch, logisch, rhetorisch), im fünffachen genus und usus; die Darlegung selbst des unbedeutendsten Einzelworts wird vor die Betrachtung des Schriftsinns gestellt. Das damals verbreitete P.schema ist stark von rhetorischen Grundsätzen beeinflußt: Exordium und Conclusio rahmen Propositio und Expositio partium ein, die wiederum in Applicatio und Explicatio aufgegliedert werden. In der synthetischen Methode entwickelt sich das Exordium allmählich zum Hauptstück der P. Das vorherrschende rhetorische Mittel ist die Emblematik mit absonderlichen, vielfach unangemessenen Übertragungen, die sich ζ. T. schon in den Themen und Überschriften zeigen, ζ. B. Christus als Handwerker, Anwendung der Symbolik verschiedener Mineralien auf die christlichen Tugenden (Quartband 184 der Homiletica im Landeskirchenarchiv Nürnberg). Schließlich ist die emblematische P.weise durch die Realienmethode des Zittauers Christian W e i s e (f 1708) auf die Spitze getrieben worden. Andererseits hat sich durch die Verbindung mit den Dichterorden der Manierismus der P. bemächtigt und zu teils drastischer, teils überzierlicher Ausdrucksart geführt. An den Haaren herbeigezogene Nebensächlichkeiten des Bibeltextes werden zum Thema, das eine geschmacklose und unschickliche Darstellung findet. Mit Hilfe der Konkordanz, jedoch ohne inhaltlichen Zusammenhang werden die verschiedensten biblischen Aussagen über ein bestimmtes (mitunter belangloses) Wort für die P. aufbereitet, wie es ζ. B. im Titel eines Werkes von Michael Β a u m a η η zum Ausdruck kommt:

Lexicon allegorico-evangelicum, sonderbare Erklärung der Evangelien, da aus jedem Evan-

gelio nur ein einziges Wort genommen und aus-

geführt wird (Nürnberg 1674). Andere Auswüchse dieser zu Extremen neigenden Periode sind der ungewöhnliche Umfang zwei- bis dreistündiger Kanzelansprachen sowie die Sammelleidenschaft. Hermann S a m s o n hat in seiner Himmlischen Schatzkammer (1625) viele Anekdoten zusammengetragen. Konrad D i e t r i c h (t 1639), dem markante Sprache, volkläufiger Stil und zeitkritische Darstellung eigen sind, füllt seine beiden P.bände über den Prediger Salomo mit ca. 7000 Geschichten und Histörchen. Christian W e i d l i n g schafft eine reiche Rea-

liensammlung, Oratorische Schatzkammer

(1701),

Caspar T i t i u s ein theologisches Exempelbuch (1684) mit vielen, zumeist vom Verfasser erfundenen Histörchen. Einige theologische Fakultäten entwerfen Predigerkünste zur Ausdehnung der Kanzelansprache. Beliebt werden P.n, die aus der Häufung von Bibelsprüchen oder Sprichwörtern hervorgegangen sind, ζ. B. Philipp

Ehrenreich W i d e r e r s Evangelische

Sprichwörter-Postill

Aposteltage

Reise- und

auf alle Sonn-, Fest- und

(Nürnberg 1673) und Michael C o r -

d e s ( i u s ) ' Sprichwörter-Postill, darin LXXI allgemeine, wohlbekannte, deutsche Sprichwörter geistlich erkläret und auf die gewöhnlichen Sonnund Festtagsepisteln durchs ganze Jahr appliciret werden

(Rostock 1669).

Die hier aufgezeichneten Mißstände begegnen mehr oder minder deutlich in den zahlreichen Homiletiken dieser Periode. Christoph S c h l e u p n e r (1608) klassifiziert nodi vier verschiedene Genera, Fr. B a l d u i n (1623) erweitert sie schon auf sieben, Nikolaus R e b h a n (1625) wie audi später (1720 ff.) Valentin Ernst L ö s c h e r auf 25, Johann F ö r s t e r (1638) bringt es auf 26, Johann Benedikt C a r p z o v d. Ä. (1656) stellt als strenger Verfechter der neuen Scholastik sogar hundert P.arten auf. Auch Christian C h e m n i t z (1658), Johann O l e a r i u s (1665), Sebastian G ö b e l (1672) und Christian K r u m h o l z (1699) erschöpfen sich in verkünsteltem Schematisieren sowie willkürlicher Aufgliederung der Textgedanken. Eine anonyme Schrift von 1703 beklagt sich, daß die Prediger bisweilen vier Exordia vorausschicken und 22 verschiedene Versionen des Bibeltextes zugrundelegen. Hingegen hat Konrad D a n n h a u e r (f 1666) mit rhetorischen Effekten und gelehrtem Beiwerk Anklang gefunden. J. H. A i s t e d (t 1638) befürwortet eine Rhetorica Ecclesiastica, die auf den sermo humilis abgestimmt war. Das Uberwiegen der formalen Logik und Redekunst zeigt sich übrigens auch im kathol. Lager, wo damals gleichfalls der Prediger mehr Rhetor als Seelsorger sein wollte (s. § 15).

Trotz alledem kann man dieser Zeit ihre tiefe Religiosität nicht absprechen. Auch reichen die Ansätze für die moderne P. in die Jahre um 1660 zurück, was sich in der Diskrepanz zwischen dogmatisch-belehrendem Kanzelwort und zu selbständigem Denken heranreifender Gemeinde ausdrückt. Blühen doch jetzt Kirchenlied und -gebet, bildet

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Predigt sich doch in Süddeutschland ein volkstümlicher P.stil aus. Auch die Mystik schlägt neue Wurzeln: Zuerst bei Valentin W e i g e l (t 1588), dem als Prediger sonderlich mit seiner Kirchen- und Hauspostille Bedeutung zukommt. Noch deutlicher ist dieser Einfluß bei Johann A r η d (1555-1621) zu spüren, der mit seiner praktisch-sittlichen Haltung die trodcenen Lehrmeinungen der Zeitgenossen übertönt. Von ihm liegen mehrere P.bände vor, die weniger durch ausgeprägte stilistische Kunst als durch ihre schon auf den Pietismus hindeutende erbauliche Absicht und subjektive Frömmigkeit mit stark emblematischen Zügen und strenger Formgestaltung noch auf die folgenden Generationen wirken, ζ. B. auf Valerius H e r b e r g e r (1562-1627). Dieser schwelgt im Gebrauch von Bildern, Allegorien, Sprichwörtern, Wortspielen, Anekdoten, ohne sich dadurch etwas von seiner mit innigen und glaubensvollen Zügen, aber auch witzigen und drastischen Wendungen erfüllten Beredsamkeit zu vergeben. Besonders beliebt und verbreitet war seine vierteilige Herzpostille. Ihm verwandt durch humorvollen, zeitsatirischen, beispielgewürzten, freimütigen Vortrag sowie Originalität anstelle herkömmlicher Stilmoden (Rhetorik- und Dispositionszwang) ist Johann Balthasar S c h u p p (1610-1661), der schon zu Lebzeiten wegen seiner „untheolog." P.weise gerügt wurde. Dem erbaulichen Ton der Amdschen P.n stehen noch die folgenden Kanzelredner nahe: Johann G e r h a r d (t 1637), der in seiner Postilla Salomonaea (1631) die Brücke von mystischen Gedanken zum tätigen Christentum schlägt; Johann Matthäus Μ e y f a r t (f 1642), der seinen verinnerlichten und dichterisch durchdrungenen P.n ein erhabenes Sprachgewand verleiht; Johann Valentin A n d r e a e (t 1654), der nach einer Vereinigung von weltläufigem und glaubensinnigem Leben in seinen anspruchsvoll gestalteten P.n trachtet; Paul E g a r d (t 1655), dessen schlichte Bußp.n von ergreifender Herzlichkeit sind. In dieser Zeit findet sich oft sittliche Lauterkeit im Gewände einer süßlich künstelnden, von gefühlsbetonten Bildern überwucherten Sprache, so in Johann H e e r m a n n s Christlichen Träuungs-Sermones (1657). Davon befallen ist ebenso der gewiß geistreichste Prediger des 17. Jh.s, Heinrich M ü l l e r (1631-1675), der nicht gegen die überkommene Form der Kirchlichkeit steht. Er predigt wohl mit den gewohnten emblemaReallexikon III

tischen Einkleidungen der Begriffe, besitzt aber eine virtuose Gabe für rhetorische und poetische Ausschmückung sowie prägnante Diktion, ohne auf rührende Töne zu verzichten. Aufgrund seiner Forderung nach innerer Vertiefung des Glaubens ist er — trotz seiner orthodox lutherischen Einstellung — vor allem durch sein zuweilen sentimentales Erbauungsschrifttum neben Arnd, Herberger und Scriver als Vorläufer des Pietismus anzusehen. Sein gezierter, symbolisch übertragender Stil zeigt sich am deutlichsten in den Geistlichen Erquickstunden sowie den Passionsp.n. Wie der durch seinen Seelenschatz einflußreiche Christian S c r i v e r (f 1693) ist er Schüler des in schlichter, eindringlicher Sprache vortragenden asketischen Schriftstellers Joachim L ü t k e m a n n (t 1655). Das in mehreren Bänden vorliegende P.werk des Johann L a s s e n i u s (1 1692) huldigt der emblematischen Manier in mitunter kerniger Sprache; ihn zeichnen Reichtum an Gedanken und innige Bußstimmung aus. Wie eindringlich und nachhaltig die Wirkung des Pietismus auch ist, vermag er doch die Protestant. Orthodoxie nicht völlig abzulösen oder gar zu beseitigen. Vielmehr findet man ihre Vertreter noch im 18. Jh. und darüber hinaus. Vom festen Boden des Luthertums aus erhebt Valentin Ernst L ö s c h e r (1673-1749) seine Stimme gegen die starre Gesetzlichkeit des Hallischen Pietismus als P.theoretiker, in der Praxis hängt er aber selbst dem scholastischen Formalismus mit allegorienreicher und gelehrter Darstellung an (Martin S c h i a n , Orthodoxie und Pietismus im Kampf um die P., 1912; Studien z. Gesch. d. neueren Protestantismus 7). Auf einer unteren Ebene bekämpft der ebenso wie Löscher zeitweilig in Dresden tätige Prediger Gottlieb C ο b e r (1682-1717) den Pietismus. Er hat sich durch seine Bußp.n Verdienste erworben, in denen er die Zeitgebrechen deutlich anprangert. Er verdient außerdem erwähnt zu werden, weil er das Protestant. Gegenstück zu den sprachgewaltigen kathol. Volkspredigem vom Schlage Abrahams a Santa Clara ist. Vorzügliche Proben seines Talentes liegen in Cobers häufig aufgelegten Bänden Der Cabinett-Prediger (1711) vor. Hier findet man dramatische Gestaltung durch Fragen, Dialoge, Interjektionen sowie prägnant-eindringlichen Satzbau. Aufmerksam werden die Lebensgewohnheiten der Menschen beobachtet, und in volkstümlicher, zuweilen drastischer Sprache wird die lutherische Lehre strenger Observanz weitergegeben. Reim, Wortspiel und Sprichwort, aber auch kabbalistische Wortdeutungen wendet Cober mit Vorliebe an (Moritz G e y e r , Gottlieb Cober, e. Moralprediger d. vorigen Jh.s. 78. Nachricht des Friedrichs-Gymn. Altenburg, 1885). Sein gröberes ländliches Pendant ist der auf einem hannoverischen Dorf amtierende Jacobus S a c k m a n n (1643-1718). Weit über seinen engen Wirkungsbereich hinaus war er als origineller, eindringlicher, dabei frommer Prediger geschätzt. Die wenigen Proben seiner Beredsamkeit, die durch die Ausgabe von H. Mohrmann (1880) erhalten sind, zeigen Sackmann als volksverbundenen Seelsorger, der in seiner nddt. Mundart auch nicht mit kräftigen Äußerungen 18

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Predigt

zurückhält, dramatische Gestaltung und beispielreidie Veranschaulichung liebt. Seiner ganzen Art steht der Franke Johann Friedrich S p ö r r e r (1678-1720) nahe, der Prediger zu Redienberg bei Dinkelsbühl war. Seinen Bauemp.n fehlt es nicht an derben und niedrigen Tönen. Seine bodenständigen Kirchweihp.n sind eindrucksvolle Zeugnisse herzhafter Volksverbundenheit. § 10. Verhaltene Innerlichkeit und subjektive Glaubenserfahrung des gegen 1675 einsetzenden P i e t i s m u s (s.d.) war die natürliche Reaktion auf die bisherige dogmatische Erstarrung. Dabei sind eigentlich die sprachlichen Mittel in beiden Strömungen weithin identisch, zumal die säkulare Barodckultur den gesamten Zeitraum überspannt (August L a n g e n , Der Wortschatz des dt. Pietismus, 1954;Maximilian N e u m a y r , Die Schriftp. im Barock, 1938). Schon zu Beginn des 17. Jh.s wird das Bedürfnis nach vertiefter Frömmigkeit in neuen Formen der Erbauungslit. sichtbar. Ursprünglich von der Kanzel vorgetragene P.n werden zu einer spezifischen Andachtsform für den Druck umgearbeitet, so des Altenburger Hofprediger Arnold M e n g e r i n g s Suscitabulum conscientiae (1638) und Informatorium conscientiae (1644), oder des Salzwedeier Stephan Prä tori us' Achtundfünfzig Traktätlein (1662) in schwungvoller, farbenreicher, gewandter Sprache, nicht ohne gemütvolle Tönung. Im Pietismus setzt sich diese Tradition neben einer Flut von Erbauungsbüchem in der außergemeindlidien Verkündigung vor besonderen Versammlungen (Konventikeln) fort. Dieses Schrifttum nimmt auf lange Zeit den größten Anteil unter allen Drudeerzeugnissen ein. In der P. des Pietismus bekommt die Sprache allerdings durch das verinnerlichte Glaubenszeugnis einen Beigeschmack süßlicher Sentimentalität. Wohl wird der Gegenstand in belehrendem Ton und Applikation gründlich erörtert, doch tritt das nur Gelehrte, Bild- und Gleichnishafte wie alles gekünstelte und schmückende Beiwerk zugunsten des gefühlsstarken Ausdrucks zurück. Der Aufbau ist klar und wohlgestaltet, auf formale Kunstfertigkeit, aber auch Schematismus wird weitgehend verzichtet. Philipp Jakob S p e n e r (1635-1705), der ein umfangreiches P.werk veröffentlicht hat, ist nicht besonders rhetorisch und sprachlich begabt. Er fordert Natürlichkeit des Ausdrucks statt Zierlichkeit der Worte, betont die mitunter in pedantischer Didaktik als Katechisation vorgetragene praktische Sittenlehre. Spener vermischt analytische und synthetische Methode zu einer planmäßigen Durchführung mit formaler Schablone, wobei der Einleitung eine gewisse Selbständigkeit zukommt; im Ganzen steht ihm aber

der Inhalt vor der Form. Er spricht in getragener Diktion ohne jeglichen Höhepunkt, denn durch pathetische oder gar polemische Töne glaubt er die Erbauung zu stören. In vieler Beziehung wächst August Hennarm F r a n c k e (1663-1727) über Spener hinaus: so ist sein Ausdruck gewählter, doch bleibt er ebenfalls bei der einfachen Struktur, beschränkt sich auf die Darlegung des Textes in synthetischer Form. Seine vor allem in der Applicatio erscheinende eindringliche Veransdiaulichungsgabe übertreibt zuweilen den Gebrauch biblischer Metaphern, stört den Gedankengang durch dunkle Sprüche und Redensarten, die vielen Hörern unverständlich bleiben. Im Vortrag ist Francke trocken und langatmig. Johann Anastasius F r e y l i n g h a u s e n (1670 bis 1739) steht mehr unter Speners Einfluß. Er verzichtet auf Bilder, liebt klaren Vortrag, strenge Ordnung und ungekünstelten Stil. Gottfried A r n o l d (1666-1714) treibt die undurchsichtige, empfindsame Ausdrudesweise vor allem in seiner Evangelischen Botschaft (1706) auf die Spitze. Bei ihm tritt die Form weitgehend hinter dem Inhalt zurück. Georg N i t s c h (1663-1729) hingegen bedient sich einer wortgewandten, zuweilen mit Humor gewürzten und natürlichen Darstellung. Seine Bedeutung als erbaulicher Kanzelredner zeigt sich besonders in der Abhandlung Von der Einfalt, welche ein Prediger auf der Kanzel gebrauchen soll (1716). Fr. Andreas H a l l b a u e r s Nötiger Unterricht zur Klugheit erbaulich zu predigen (1723) will die trockene Pedanterie verbannen, vermag aber bei allem Streben nach klarem und erbaulichem Vortrag nicht auf gekünstelte Methoden zu verzichten. Gerhard T e r s t e e g e n (1697-1769) bringt einen mystischen Einschlag in seine eindringlichen Ermahnungsp .n. Den mechanischen Methodismus der Hallisdien Schule überwindet die Hermhuter P.weise durch ihre Vorliebe für anschauliche Bilder, die das Gefühl ansprechen, durch ihre Sentimentalität und Drastik allerdings oft manieriert wirken. Bei Nikolaus Ludwig Graf von Z i n z e n d o r f (1700-1760) treten dazu Originalität und eine ausgeprägte Rednergabe. Auf strenge Gliederung legt er keinen Wert. In seinem reichen P.werk verfügt er über eine empfindungsvolle, naiv-überschwenglidie Sprache, die reich an Tropen und Gedanken ist, dadurch vielfach nur im Kreise seiner Gemeinde richtig verstanden werden konnte. Seine Homilien sind seit 1744 wiederholt aufgelegt worden. Der Geist der Hermhuter beschränkt sich nicht auf die Entstehungszeit des Pietismus, sondern wirkt weiter. Zu seinen Vertretern gehört C. G. S a l z m a n n (1744-1811), dessen P.n von herzlicher Innigkeit getragen sind. Johann Baptist von A l b e r t i n i (1769-1831) führt die P. der Brüdergemeine zu klarem Ausdrude und zu sachlicher Anschaulichkeit. Seine nicht selten dichterisch gestaltete Sprache mit rhythmischen Elementen und sorgfältig gewähltem und abgewogenem Wortschatz, der das Adjektiv bevorzugt, gewinnt durch ihren gefühlswarmen Ton der Heilsgeschichte überraschende Eindringlichkeit ab.

igt Johann Albredit Β en g e l (1687-1752) greift in seinen P.n bei offensichtlicher Unabhängigkeit von dogmatischen Uberlieferungen auf den ursprünglichen Text zurück. Diese aus der reformierten Theologie resultierende Richtung ist der B i b l i z i s m u s . In Bengels Kanzelansprachen steht die Exegese im Mittelpunkt, dazu kommen bodenständige Züge und landschaftliches Kolorit Bengel setzt sich bewußt von der Hallischen Form des Pietismus ab und begründet den Schwäbischen Pietismus. Seiner Betonung der Schriftautorität folgen der unten genannte G. K. Rieger und vor allem Friedrich Christoph ö t i n g er (1702-1780), letzterer mit pietistisdimystischem Einschlag. Er trägt in kräftiger Sprache vor, verzichtet auf kunstvolle logische Disposition und wissenschaftliches Beiwerk. Doch vermag er mit großer Eindringlichkeit darzustellen, indem er die ganze Schöpfung zur Veranschaulichung heranzieht und in natürlicher Manier das Alltägliche anspricht. Georg Konrad R i e g e r (1687-1743) versteht geschickt zu gliedern und rhetorisch zu gestalten, kann sich aber nicht vom Stil des 17. Jh.s lösen. Als Vermittler zwischen den Anschauungen von Pietismus und Aufklärung ist Speners bedeutendster Schüler Johann Jakob R a m b a c h (1693-1735) zu nennen, der A. H. Franckes Nachfolge am Hallischen Waisenhaus antrat und vielseitig als praktischer Theologe wirkte, nicht zuletzt mit Abhandlungen zur Hermeneutik und Homiletik. In ihm hat auch schon die Wölfische Philosophie Wurzel geschlagen — man spürt es an dem logischen Aufbau, der klaren Gedankenabfolge und Durchführung sowie an der Deutlichkeit der Begriffe. Zuweilen huldigt er noch dem alten Schematismus in der Betonung des Exordiums, in der Anwendung des dreifachen usus. Trotzdem kann er als bester Vertreter der Kanzelberedsamkeit vor Mosheim angesehen werden, denn emphatischer Ausdruck, lebhafte Phantasie und unmittelbarer Bezug auf den Hörer verleihen seinen P.n nachhaltige Wirkung. Rambach führt in seiner Erläuterung über die Praecepta homiletica (1736) die Anweisungen der wichtigsten Homiletik des Pietismus weiter, die Joachim L a n g e 1707 unter dem Titel Oratoria sacra ab artis homileticae vanitate repurgata vorgelegt hatte. § 11. Hatte der Pietismus die Grundübel der Polemik und der selbstgefälligen Gelehrsamkeit überwunden, so sorgen die Anhänger des R a t i o n a l i s m u s unter Einfluß der franz. und engl. Kanzelberedsamkeit für einen klaren, schriftgetreuen und zugleich lebensnahen Vortrag. An die Stelle

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weltfremder Dogmatik tritt jetzt mehr die Sittenlehre; gelegentlich werden statt biblischer Texte sogar philosophische Themen abgehandelt, die vorwiegend aus dem Bereich der Ethik stammen. Gegen dieses „Moralisieren" auf der Kanzel erheben sich viele Stimmen. Weder der Pietismus noch die Aufklärung haben das gesamte kirchliche Leben des 18. Jh.s zu prägen vermocht. Es gibt vielmehr in dieser Zeit eine ganze Anzahl bedeutender Prediger, die zwischen diesen beiden Bewegungen oder gar gegen sie ihre Selbständigkeit bewahren, dabei teilweise von der einen oder anderen Seite Anregungen erhalten. Andererseits haben sich sowohl orthodoxe wie pietistische Wesenszüge über diesen Zeitraum hinaus gehalten, um im 19. Jh. neue Bedeutung zu erlangen. Durch seine vermittelnde Stellung hat sich Johann Gustav R e i n b e c k (1683-1741) Verdienste erworben. Er verbindet die Frömmigkeit der vorangegangenen Generation mit der aus Christian Wolffs Lehre gewonnenen Klarheit in der „philosophischen P.weise" und verwendet die demonstrierende Methode. Seine P.n bedienen sich einer gereinigten Sprache mit mystischen Bildern und allegorisierenden Ausdrücken; das waren Gründe genug, seine P.weise für alle Kanzeln in Preußen amtlich zu empfehlen. Der Einfluß der Wölfischen Philosophie ist ebenso bei Georg Joachim Z o l l i k o f e i (1730-1788) festzustellen, der in klarer Darstellung und edler Sprache über moralische Themen, ζ. T. in der Form des philosophischen Traktats predigt. Abraham Wilhelm T e l l e r s (1734-1804) P.n sind wegen ihrer stilistisch abgerundeten Redegewandtheit geschätzt. Mit dialektischer Prägnanz und einfacher Anschaulichkeit behandelt er vorwiegend Gegenstände der christlichen Moral, vermag indes wegen seines verstandesmäßigen, phantasie- und farblosen Vortrags keinen weitreichenden Einfluß zu gewinnen. Als hervorragendster Prediger dieser Zeit weiß Johann Lorenz von M o s h e i m (16941755), von der engl, und franz. Kanzelberedsamkeit beeinflußt, die Erkenntnisse der frühen Aufklärung mit dem Offenbarungsglauben zu vereinbaren. In Lehre und Praxis sieht er die dt. P. als oratorisch elegantes Kunstwerk an, das nicht zuletzt durch guten Vortrag die Glaubensfragen mit dem Verstand in Einklang bringen soll. Der Individualität des Predigers setzt er keine Schranken, auch empfiehlt er den Gebrauch von bildlichen Veranschaulichungen, wendet sich aber gegen die mystische, emblematische und allegorische Darstellungsweise. Dieses Streben nach einem klassisch reinen Stil ιβ'

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Predigt

wird nicht zuletzt durch Gellerts schriftstellerisches Werk, Gottscheds Bemühungen um die Rhetorik sowie die Errichtung einer Professur für dt. Beredsamkeit an der Universität Halle unterstützt. Hiermit soll Mosheims persönliches Verdienst nicht geschmälert werden. Begründet er doch die pädagogischpsychologisch angelegte P.art mit erbaulicher Tendenz, die dann in der Erweckungsp. ihre volle Ausprägung findet (Anweisung, erbaulich zu predigen, Erlangen 1762). Auch beherrscht er glänzend die demonstrierende Methode und bemüht sich um Klarheit der Form, um Deutlichkeit und Beweiskraft der Gedanken. In seinem Streben nach einer erkenntnisgesicherten Offenbarungsreligion wird er zum Künder des aufgeklärten Supranaturalismus. Im Gefolge dieser Entwicklung tritt neben die schriftgebundene Perikopenp. in zunehmendem Maße die situationsbezogene Kanzelansprache mit den Eigenschaften der vom Thema geprägten Kasualrede. Karl H e u s s i , J. L. υ. Μ., ein Beitrag zur Kirchengesch, des 18. Jh.s (1906). Martin Pet e r s , Der Bahnbrecher der modernen Predigt. J. L. υ. Μ. in seinen Homilet. Anschauungen dargestellt und gewürdigt (1910).

Aufgrund dieser Verdienste gilt Mosheim als Begründer der modernen P., die sich der veränderten Welt stellt, aber mit dem kasuellen Bezug die Abhängigkeit vom Text lockert. Die klassizistische Form seiner Hofund Universitätsp.n war zwar wenig geeignet, unmittelbar einer Durchschnittsgemeinde vorgesetzt zu werden. Trotzdem hat Mosheim mehreren Generationen als Vorbild gedient. Zunächst zeigt sich sein Einfluß bei Johann Friedrich Wilhelm J e r u s a l e m (t 1789), der seine Beredsamkeit dem pathetischen Ausdruck verdankt, bei Johann Andreas C r a m e r (f 1788), der in über 20 Bänden P.n stärkere Betonung auf das Formale legt und seine literarische Begabung in lebendigen Bildern entfaltet. Der Supranaturalismus mit antirationalistischen Anklängen wird von dem gefeiertsten Prediger seiner Zeit, dem sächsischen Oberhofprediger Franz Volkmar R e i n h a r d (1753-1812), vertreten, der seine Kanzelansprachen in 43 Bänden herausgegeben und damit nachhaltig gewirkt hat. Er greift darin gem aktuelle Themen auf und spricht durch geschickte Textbehandlung das Gemüt an. Formal ist er noch von der orthodoxen P.weise abhängig;

er formuliert ein Thema und bringt eine durchsichtige, meist dreiteilige Disposition, die schließlich schematisch wird; am Schluß steht eine Zusammenfassung oder Paränese. Seine Sprache hat klassizistischen Charakter, sie strebt nach Schlichtheit und Würde, doch wirkt sie durch die gewählte Diktion steif und zu wenig eindringlich. Er behandelt den geistlichen Stoff mit scharfem Verstand und arbeitet in geistvoller Weise, aber lehrhaftmoralisierender Absicht die sittlich-religiösen Gesichtspunkte heraus. Dabei macht er sich weithin vom Text unabhängig und bedient sich der Mittel der antiken Rhetorik. Hingegen kehrt Johann Joachim S p a l d i n g (1714-1804) wieder zur prunklosen, didaktisch-moralisierenden Redeweise zurück und verzichtet auf rhetorischen Aufbau sowie kunstvolle Gestaltung. Andererseits sind seine nach Erkenntnis strebenden figürlichen Redensarten nicht ohne Pedanterie. Seine würdige Sprache strahlt volkstümliche Herzlichkeit aus. Spaldings Gedanken über denWert der Gefühle im Christentum (1761) warnen davor, Erbauung durch schwärmerische Phantasie erreichen zu wollen. Vielmehr trachtet er nach moralischer Besserung der Gemeinde durch erhabene Aufklärung. Er hat unter dem Titel Von der Nutzbarkeit des Predigeramts seine homiletische Konzeption vorgetragen, worin Johann Gottfried H e r d e r (1744-1803) ungerechtfertigterweise einen Angriff auf die Offenbarungsreligion erblickte. Neben schlichter, antirhetorischer Natürlichkeit, anschaulicher Darstellung und klarer Gedankenführung zeigen Herders P.n eine ernste, zuweilen dithyrambisch-überschwengliche Sprache. Er möchte mit seinen P.n die Andacht wecken, aber im Grunde genommen lehren sie nur chrisdiche Humanität und sind dadurch theologisch fragwürdig. Nannte man doch Herder einen „Aufklärer mit der Bibel in der Hand", der den Menschen vornehmlich psychologisch betrachtet und das humanistische Bildungsideal anstrebt; allerdings lehnt gerade er es ab, der klassischen Beredsamkeit auf der Kanzel nachzueifern. In seinen einfach und ungezwungen vorgetragenen Homilien, die wegen ihrer aphoristischen und poetischen Sprache nur einen Teil seiner Hörer anzusprechen vermochten, wendet er sich von der durch Mosheim geförderten synthetischen P.methode wieder ab. Die Übernahme solcher

Predigt dichterischer Vorbilder führt in dieser Zeit zur Verbreitung der ästhetischen P.weise, die auch poetisch-prosaische genannt wurde; bei vielen unberufenen Vertretern artet ein derartiger Vortrag in sentimentalen Schwulst aus. Eine dichterische, oft rhythmische Sprache ist gleich Herder dem Zürcher Johann Caspar L a v a t e r (1741-1801) eigen, der einen starken alemannischen Einschlag in seinen streng textgebundenen P.n spüren läßt. Seiner lebendigen, bald enthusiastischen, bald schwärmerisch-gefühlsgebundenen Vortragsweise fehlt es nicht an Originalität. Er beschränkt sich auf einen prägnanten Stil, der bei allem Gedankenreichtum keine Ausschmückung duldet. Aus der Schweiz ist neben ihm David Μ. Μ ü s 1 i η (f 1821) zu nennen, der seine Darstellung ebenfalls ganz vom Text her in klarem, nüchternem Stil ausführt. Durch seinen konkreten Bezug auf die Lebensverhältnisse der Hörer, durch seine patriotische und philanthropische Haltung erwirbt er sich tiefe Popularität. Grundsätzlich muß man der Aufklärung einen festen Platz in der Geschichte der P. zusprechen, da in ihr erstmals die Konfrontierung mit der Entwicklung von Wissenschaft und Gesellschaft gewagt worden ist, was dann im 19. Jh. zu einer Lebensfrage der Verkündigung wird. Dabei ist eine innerkirchliche Funktionsverlagerung nicht zu übersehen; jetzt hängt die Legitimation des Predigers nicht mehr von der charismatischen Amtsauffassung ab, sondern von seiner subjektiven rhetorischen Fähigkeit, der Gemeinde nützliche Anweisungen zu geben; er gilt als Moral- und Religionslehrer. Dabei darf nicht übersehen werden, daß der aufgeklärte Prediger die Substanz der Verkündigung, die Botschaft von der Offenbarung Gottes, weitgehend hinter einem gepflegten Stil, durchsichtigen Aufbau und intellektuellen Religionsverständnis zurücktreten läßt. Die P. dieser Richtung, als deren hervorragender Exponent der Göttinger Universitätsprediger Johann Gottlob Μ a r e z o l l (1761-1828) gilt, erschöpft sich nahezu in ihrem Bemühen um moralische Besserung und geistige Läuterung der Hörer. Es ist bezeichnend für den Geist dieser Zeit, -daß der Begriff P. gern durch den der Kanzelrede ersetzt wird. (Reinhard K r a u s e , Die P. der späten dt. Aufklärung, 1770-1805, 1965).

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Audi diese Zeit kann nicht auf die üblichen P.hilfsmittel verzichten, zu denen jetzt noch homiletische Zeitschriften kommen. Chr. S t o c k s Homiletisches Real-Lexikon (Jena 1725) wurde wiederholt aufgelegt. Phil. David B u r k s Evangelischer Fingerzeig bringt in 7 Bänden (1760 bis 1766) Dispositionen über sämtliche Perikopen. Chr. Samuel U l b e r gibt in seinem Erbaulichen Denkzettel (noch 1847 aufgelegt) P.skizzen. Einige Sammlungen schmücken sich nach bewährten Vorlagen auch jetzt noch mit lat. Titeln als Sermones parati, Manuale curatorum, Collectanea, Praedicandi praebens modum. Andere Ausgaben häufen in enzyklopädischer Breite den Stoff an, z.B. Chr. Friedrich K r a u s e s Evangelischer und erbaulicher Predigerschatz, 4 Bde (1719 ff.). In der Vorrede zu Johann L a s s e n i u s ' Heiligem Perlenschatz (1739) werden Beispiele „aus den Geschichten und der Weltweisheit zur Erläuterung" der P. gutgeheißen. Die meisten solcher Handreichungen trachten danach, durch die Aufbereitung verschiedenster Realien dem Prediger Material zur Ausgestaltung eines jeglichen Schrifttextes zu bieten und ihm somit die eigene geistige Bewältigung des Textes abzunehmen. Es fehlt nicht an Kritikern, die dem Mißbrauch der inhaltlichen Entwertung der P. durch formale Künstelei, sachfremde Illustrierung und ä la mode-Sprachmanier entgegentreten. Seine theoretische Stütze findet der aufgeklärte Prediger in Romanus T e l l e r s Demonstrationes homiletico-theologicae (Leipzig 1728) oder in Christoph W e i ß e n b o r n s Gründlichunterrichtetem Kirchen-Redner, weither die Hauptregeln der geistlichen Beredsamkeit ... durch deutliche Fragen und Antworten beybringet (Jena 1721; weiteres homiletisches Schrifttum aus dem 18. Jh. bei Irmgard W e i t h a s e , Zur Gesch. d. gesproch. dt. Sprache, Bd. 2, 1961, S. 56f. und Ursula S t ö t z e r , Deutsche Redekunst im 17. u. 18. Jh., 1962). Oder er greift gleich zu den weltlichen Anleitungen: zu J. A. F a b r i c i u s ' Philosophischer Redekunst (1739) oder zu G o t t s c h e d s Ausführlicher Redekunst (1736; deren V. Hauptstück die geistlichen Reden behandelt), die gegen die homiletischen Methodenkünstler mit ihren Kunstkniffen und Zergliederungssdiemata kämpfen und den Anschluß an die „vernünftige" Rhetorik fordern. — Seit die weltliche Beredsamkeit für die Homiletik nutzbar gemacht wird, mangelt es nicht an Bemühungen, die P. als poetische Kunstform zu gestalten. Dabei wird gewöhnlich die Aufnahmefähigkeit der Gemeinde außer Betracht gelassen. Im protestantischen Deutschland zeigen sich im Laufe des 18. Jh.s mehrere vom Inhalt her bestimmte P.weisen, deren Großteil unter den Nenner des bildungsfreudigen Rationalismus zu stellen ist. Auch die Homilie kommt wieder in Gebrauch. Wesentlichen Anteil an der Verbesserung der P. hat die damals einsetzende Bibelkritik. Man versucht, durch eine exakte Exegese den unmittelbaren Lokalsinn der Schrift für den Kanzel-

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vortrag nutzbar zu machen. Praktische Anweisungen bietet u. a. das von C. C. S t u r m hg. Journal für Prediger (100 Bde 17701842). Daneben erscheint eine Fülle homiletischer Lehrschriften. Endlich wird der Homiletik auch der gebührende Platz in der theologischen Ausbildung eingeräumt. Ein neuer Zug in der Verkündigung deutet sich an: man achtet auch auf die außerkirchlichen Sorgen und Interessen der Hörer. Im Zuge der jetzt mit der P. angestrebten Aktualität steht audi die Tendenz zur reflektierenden Naturbetrachtung. Einmal artet sie zu deklamatorischer Empfindsamkeit aus, zum anderen (so bei G. Chr. Benjamin M o s c h e ) werden teleologische Nutzanwendungen — häufig auf nichtreligiöse Gegenstände — daraus gefolgert. Beispielhaft hierfür ist der schon genannte Christoph Christian S t u r m (f 1786), der aus seinen Naturp.n belehrende und erzieherisdie Schlüsse zieht, später reine Sachthemen ohne theologischen Bezug vorträgt. Es fehlt auch nicht an P.n über die Blatternimpfung und den Kartoffelanbau! Johann Jacob H e ß (1741-1828) predigt über konkrete Lebensfragen mit lebhafter Veranschaulichung; am Ende steht stets eine Nutzanwendung. J. F. K r a u s e gibt 1797 seine P.n über einige Landesgesetze heraus. Der sprachbegabte reformierte Joh. Kaspar H ä f e l i (t 1811) vertritt mit kraftvollem Stil Vernunft und Freiheit als Grundlagen des bürgerlichen Lebens; in seinen weitgehend improvisierten P.n zieht er aus dem Text unmittelbare Nutzanwendungen für die Hörer. Mit nationalen Tönen regt sich die politische P. zuerst Ende des 18. Jh.s in Sachsen und Preußen. Neben anderen erhebt S c h l e i e r m a c h e r während der napoleonischen Herrschaft seine patriotische Stimme in der P. und äußert sich auch grundsätzlich über die Anwendung der Politik auf der Kanzel.

Dieser Aufgeschlossenheit entspricht eine allgemeine Versöhnung zwischen Christentum und Kultur, was auch — bei aller Bewahrung der aus dem Zeitalter der Orthodoxie stammenden Form — in der nunmehr nüchternen, zeitbezogenen P.sprache zum Ausdruck kommt. Doch darf man nicht übersehen, daß immer nur ein Teil der Gemeinde von diesen säkularen Themen angesprochen wird. Reißt doch noch in unseren Tagen die P. innerhalb der Gemeinde Fronten auf, wenn sie — selbst notgedrungen — zu aktuellen außerkirchlichen Vorgängen Stellung nimmt. Karl Heinr. S a c k , Geschichte

der P. in der

dt. evang. Kirche von Mosheim bis auf d. letzten Jahre von Schleiermacher u. Menken (1866). Adolf H e g e r , Evangelische

Verkün-

digung u. dt. Nationalbewußtsein. Zur Gesch. der P. von 1806-1848

(1937; NDtFschgn. 252).

Emst S c h u b e r t , Die evang. P. im Revolu-

tionsjahr 1848 (1912; Stud. ζ. Gesch. d. neueren Protetantismus 8).

§ 12. Die Protestant. Theologie ist im 19. J h . so vielfältig (vgl. Karl B a r t h , Die Protestant. Theologie im 19. Jh., ihre Vorgesch. und Gesch., 1947; Em. H i r s c h , Gesch. der neueren evang. Theologie, Bd. 5, 1954), daß es ein Wagnis bedeutet, die P. dieses Zeitraums in einem Abschnitt abzuhandeln. Angefangen von der wieder stark reformationsbezogenen Orthodoxie werden die meisten theologischen Anschauungen seit dem 17. Jh. neu aufgegriffen, davon aber nicht alle vertieft. Stilistisch läßt sich über das P.wesen im 19. Jh. wenig Allgemeingültiges oder auch nur das Wesentliche Erfassendes sagen. Wir stellen deshalb die profiliertesten Prediger dieses Zeitraumes vorwiegend nach ihrer theologischen Konzeption vor. Die P. erhält jetzt auch allgemeinere Bedeutung, weil sie sich mit den großen Bewegungen und Erschütterungen der Zeit auseinandersetzt. Das tut sie zumeist in einem verweltlichten und nüchternen Ton. In den Freiheitskriegen setzt ein starker Säkularisierungsprozeß ein, der sich auf Spradie und Inhalt der P. auswirkt. Viele Geistliche stellen ihren christlichen Verkündigungsauftrag zurück, um desto mehr als Sprecher nationaler Ideen aufzutreten. Vielfach dient die P. als Propagandainstrument konservativer Kräfte, die unter Vorgabe kirchlichen Auftrags von der Kanzel aus die Vertreter des Fortschritts und der Volkssouveränität bekämpfen. Dieser bis ins 20. Jh. wirksamen Zweckentfremdimg begegnet am entschiedensten die Bekenntnis- und Erweckungsp. mit ihrer Besinnung auf die Glaubensgrundlagen. Sie setzt sich allerdings vielfach selbst Grenzen durch ihre bewußt archaisierende Ausdrucksweise. Diese wirklichkeitsentzogene „Sprache Kanaans" wird in orthodoxen und Gemeinschaftskreisen gepflegt. — Im 19. Jh. verklingt die mundartgebundene P. fast ganz. Ihre letzten Gebiete waren die Schweiz, Siebenbürgen und Niederdeutschland. Noch heute fehlt es nicht an Versuchen, sie bei besonderen Anlässen gelegentlich wieder aufleben zu lassen. Die Methode des Kanzelvortrags bleibt nunmehr weniger der persönlichen Begabung und Originalität des einzelnen Geistlichen überlassen, vielmehr wird seit dem

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E n d e des 18. Jh.s eine systematische homiletische Ausbildung schon auf der Universität angestrebt. Das Bemühen u m gründlicheres P.studium spiegelt sich audi im Aufkommen zahlreicher homiletischer Zeitschriften. In der Gestaltung des Inhalts zeigt sich die historisch kritische Bibelforschung: man bevorzugt Texte, die das geschichtliche Christentum zu Wort kommen lassen. Anstelle der an die ganze Gemeinde gerichteten Moralp. des Rationalismus tritt die zur persönlichen Entscheidung drängende Glaubensp. Theoretisch wird die allegorische Deutung damals abgelehnt, in praxi findet man sie nicht selten. Zur Analyse der aus dem Text gewöhnlich in Dreiteilung gewonnenen Gedanken bedient man sich eines freien Zusammenwirkens von analytischer u n d synthetischer Methode. Ansonsten treten die Bemühungen u m eine bestimmte, vorgeprägte Form jetzt zurück; in wachsendem Maße sucht man sich unmittelbar auf die jeweilige Situation u n d Gemeinde einzustellen. Die Verbindung mit dem von Reinhard in klassizistischer Beredsamkeit vorgetragenen Supranaturalismus nimmt Ludwig E m s t B o r o w s k i (1740-1831) auf. Seine dichterisch gehobene, stark rhythmische Sprache greift zuweilen auf den patristischen Tonfall zurück.

seine konkrete Einstellung auf die vorwiegend gebildete Gemeinde. Mit psychologischem Gespür erfaßt u n d behandelt er Zusammenhänge der christlichen Existenz u n d analysiert auch das politische Geschehen in patriotischer Haltung (vgl. Johannes B a u e r , S. als patriotischer Prediger, 1908; Stud. ζ. Gesch. d. neueren Protestantismus 4). Indem er als Vertreter des Idealismus die Verbindungen zwischen Christentum u n d allgemeinem Geistesleben darlegt, schafft er mit der Kultp. eine Verkündigungsform, die dann der Kulturprotestantismus zur modernen P. weiterentwickelt. Schleiermacher verdanken wir auch eine gültige Ausprägung der Kasualrede, die auf gegenstandsfremde Zutaten u n d äußerlichen Sprachschmudc verzichtet, aber von feierlichem Enthusiasmus getragen ist und sich eines „edel-antiken" Ausdrucks bedient. Uber die zu seiner Zeit herrschenden Anschauungen von Supranaturalismus und Aufklärung hat er sich in seinen P.n, von denen zehn Bände (für den Druck stark überarbeitet, 1834-1856; Sämtliche Werke, Abt. 2) erschienen sind, hinweggesetzt.

Der Schöpfer der neueren darstellenden P.weise, die später in Smend einen trefflichen Vertreter findet, ist Daniel Friedrich S e h l e i e r m a c h e r (1768-1834), dessen wissenschaftliche Bedeutung neben der des Predigers steht. Man hat ihn den ersten dt. Kanzelredner genannt, der unbeeinflußt von der lat. Diktion gesprochen hat. Gleichwohl hat er die antike Rhetorik studiert (ihre nur schmückenden Elemente aber nicht gebraucht), außerdem zeitgenössische engl. Prediger auf sich wirken lassen. In den P.n tritt im Laufe seines Schaffens die anfangs noch streng gehandhabte Disposition zugunsten einer organischen Entfaltung der Gedanken zurück. Er stützt sich in Anlehnung an die Themap. seltener auf den Text, sondern sucht gewöhnlich von religiös-moralischen Gegenständen her seine originellen u n d stark subjektiven Ausführungen weniger auf Belehrung als auf Erbauung u n d „Erhebung des Gemüts" zu richten. Neben der Reflexion gehört zu Schleiermachers wesentlichen Vortragselementen die dialektische Entwicklung des Gedankens, u a d an dieser erweist sich

Wie Schleiermacher verfügt audi Heinrich August S c h o t t (1780-1835) in seinen P.n über die klassischen Mittel der allgemeinen Rhetorik, inhaltlich herrscht bei ihm die Erbauung vor; von ihm stammt audi eine ausgezeichnete Theorie der Beredsamkeit (1815 ff.). Schleiermachers Einfluß zeigt sich deutlich bei dem Theoretiker der „Vermittlungstheologie" Karl Immanuel N i t z s c h (1787-1868). Er vermag geschickt psychologische Mittel einzusetzen und ist wegen seiner lehrhaften Tendenz zum Kulturprediger erklärt worden. Bei aller Hodischätzung durch die Zeitgenossen fehlt ihm dodi letzte Klarheit in der Äußerung seiner Gedanken. Audi Julius M ü l l e n s i e f e n (1811-93) kommt von Sdileiermadier her. Sprache und Inhalt sind bei ihm formal durchsichtig und eindringlich, dabei verzichtet er auf rhetorische Effekte. Als Vertreter der Vermittlungstheologie, die die Verbindung des Glaubens mit den Zeitproblemen erstrebt, ist ferner Carl S c h w a r z (1812-85) zu nennen, ein Wegbereiter der modernen P. Durch seine gehalt-, aber maßvolle Beredsamkeit und sein Bestreben, das Christentum mit den Forderungen des Humanismus in Einklang zu bringen, hat er sich Verdienste erworben. In diesem Zusammenhang müssen noch erwähnt werden: Julius M ü l l e r (t 1878), der audi als theoretischer Homilet Bedeutimg erlangt hat; Willibald B e y s c h l a g (f 1900), der

Wolfgang T r i l l h a a s , S.s P. und das homiletische Problem (1933). Christoph S e n f t , Wahrhaftigkeit und Wahrheit (1956; Beitr. z. histor. Theologie 22).

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eine Brücke zwischen Christentum und moderner Bildung in seinen künstlerisch durchgeformten P.n schlägt; Rudolf K ö g e l (f 1896), der mit poetischer Begabung die Sprache rhythmisch durchgestaltet, ausschmückt und emphatisch darstellt, hinter der edlen Form tritt der Gehalt der P. stark zurück; Emil F r o m m e l (t 1895), der aus seiner humor- und gemütvollen süddeutschen Art heraus in naiver, frischer Sprache predigt; sein Bruder Max F r o m m e l (f 1890), dessen P.n reich an Poesie und Kunstfertigkeit sind; Β. B. B r ü c k n e r (f 1905), der klar zu gliedern versteht, geistreich vorträgt und kunstvoll die Form beherrscht; der Vermittlungstheologe Richard R o t h e (f 1867), ferner J. F. W. A r n d t (f 1881), Heinrich H o f f m a n n (f 1899), Ernst von D r y a n d e r (t 1922). Auch der Rationalismus findet im 19. Jh. unter den Predigern noch späte Anhänger, die sich vor allem auf Reinhard stützen. Hier ist der Dresdner Oberhofprediger Christoph Friedrich von Ammon (1766-1850) anzuführen, dem ausgesprochene Formbegabung, gewandter Ausdruck und phantasievoller Gedankengang eigen sind. Eine Vertiefung des Supranaturalismus zeigen die künstlerisch vorgetragenen und mit patriotischem Geist erfüllten P.n Bernhard D r ä s e k e s (1774-1849), die oft Eingebungen des Augenblicks enthalten und dem Charakter der allgemeinen Rede folgen, dabei klar gegliedert sind und durch gemütvollen Ton, ausgeprägtes Pathos und prägnante Diktion über den Rationalismus hinausreichen. Hingegen vermittelt Ludwig August K ä h l e r (1775-1855) unter Anknüpfung an den Biblizismus zwischen Aufklärung und Supranaturalismus. Seine künstlerisch gestalteten P.n zeichnen sich durch eigentümliche Gedankenführung und knappe Darstellung aus. Der Biblizismus begegnet uns auch in den P.n Geroks und Johann Tobias B e c k s (1S04-1878; letzterer folgt dem schwäbischen Pietismus. Bei ihm herrscht der pädagogische Aspekt vor, auf Ausgestaltung von Thema und Disposition verzichtet er. Sein Landsmann Karl G e r o k (1815-90) läßt bis in den Aufbau seiner P.n die dichterische Begabung erkennen. Durch den melodischen Fluß seiner durchgebildeten Sprache erreicht er stilistische Formvollkommenheit, jedoch vermissen wir tiefere Eindringlichkeit. Der erste bedeutende Vertreter der aus England eingeführten E r w e c k u n g s p . ist der Württemberger Ludwig H o f a c k e r (1798 bis 1828), der die von Idealismus und Romantik gezeichnete Verinnerlichung mit pietistischer Frömmigkeit erfüllt, dazu eine neue homiletische Grundlegung schafft: der Text steht im Mittelpunkt und wird in schmuckloser, biblischarchaisierender Sprache ausgelegt. Hofacker ist Bußprediger mit leidenschaftlichem Affekt, der die Anschaulichkeit bis zum derben Ausdruck steigern kann, hingegen auf Rhetorik und formale Gestaltung verzichtet (Hans Jacob Η a a r b e c k , Erweckliche Predigt, dargestellt an L. H. (Masch.) Theol. Diss. Göttingen 1959). Johann N Evangelista G o s s n e r (1773-1858) trägt originell vor und versteht mit kerniger Sprache und

humorvollem Freimut alle Stände anzusprechen. Aloys H e n h ö f e r (1789-1862) liebt gleichnisartige Gestaltung der Bilder, witzige Pointen und badensisches Kolorit. Claus H a r m s (1778 bis 1855) spiegelt den nddt. Charakter in seiner kernigen Winter- und Sommerpostille, die von herzlichem Volkston und Humor durchdrungen sind. Er bemüht sich um eine natürliche Sprache, der auch enthusiastische Züge nicht fehlen und zu der sich eine geistreiche, zuweilen eigenwillige Diktion gesellt. Harms verzichtet bewußt darauf, seinen P.n einen Text zugrunde zu legen (Friedr. Z i p p e l , C. H. und die Homilie, 1908). Ludwig H a r m s (1808-65) hat durch die naive, beseelte Art seiner eindringlichen Erweckungsp.n bei seiner Hörerschaft tiefen Eindruck hinterlassen (H. G r ä f e , Die volkstümliche P. des L. H., 1963). Um stärkere theologische Fundierung der Erweckungsp. bemüht sich August T h o l u c k (1799-1877), der mit seelsorgerlichem Geschick und verhaltener Erhabenheit auch die gebildeten Kreise anspricht; natürliche Bilder und Vergleiche tragen zum Verständnis seiner aussagestarken und ergreifenden P.n bei. Nachhaltige Verdienste hat er sich durch die Empfehlung von Homilien und P.zyklen über ganze biblische Bücher erworben (Martin S c h e l l b a c h , T.s P., ihre Grundlage und ihre Bedeutung für die heutige Praxis, 1956; Theolog. Arbeiten 3). Tiefe Wirkung geht von den Erweckungsp.n Johann Christoph B l u m h a r d t s (1805-80) aus, die sich durch schlichtvolkstümliche Sprache auszeichnen. Diese gleichen Voraussetzungen bringt sein Sohn Christoph B l u m h a r d t (1842-1919) mit, der vor allem die Fähigkeit besaß, in bewußt nüchternem Ton die der Kirche entfremdeten einfachen Volksschichten anzusprechen, wobei sein Verständnis für die sozialen Belange ebenfalls zum Ausdruck kommt (Roger L e j e u η e, C. B. und seine Botschaft, 1938). Von der schweizerischen Erweckungsbewegung herkommend steht Adolf S c h l a t t er (1852-1938) auch als Prediger auf traditionalistischer Basis in der Auseinandersetzung mit dem Idealismus. S c h l a t t e r und Karl H e i m (1874-1958) gehören zu den Vertretern des Biblizismus; Heims P.n tragen die schlichten und erweddichen Züge des schwäbischen Pietismus, enthalten allerdings auch eine lebhafte Aufgeschlossenheit für die moderne Naturwissenschaft. Der K o n f e s s i o n a l i s m u s hat schon im 19. Jh. die Grundlagen der reformatorischen Bewegung neu belebt. Im Stil seiner P. klingt die kraftvolle Verkündigungsweise des 16. Jh.s an. Hier finden wir aber auch gelegentlich das Erstarren in überkommener Sprache und Form, wodurch sich der innerkirchliche Bereich von der in rascher Entwicklung befindlichen säkularisierten Gesellschaft abschließt und sie, sofern nicht eine besonders überzeugende und wortgewaltige Persönlichkeit dahintersteht, kaum anzusprechen vermag.

Predigt Das bewußte Luthertum vertritt am Beginn des Jh.s Johann Gottfried S c h ö n e r (1749-1818), der seine streng schriftgebundene P. in schlichter Sprache und klarer Disposition mit lehrhafter Tendenz vorträgt. A. W o l f (t 1841) hingegen verfügt über eine wortreiche, fast zu breite Beredsamkeit, die durch geistvolle Themafindung und geschickte Kombinationsgabe Wurzel schlägt Die nachhaltigste Bedeutung kommt J. K. Wilhelm L ö h e (1808-1872) zu. Seine natürliche rhetorische Begabung verbindet sich mit klarer Gliederung, einfacher, bisweilen emphatischer Sprache und affektvoller Reflexion zur meisterhaft gestalteten, scharf umrissenen Themap., die trotz des hohen klassischen Stiles den gottesdienstlichen Charakter nicht vermissen läßt (Hans K r e ß e l , L. als Prediger, 1929; Ders., W. L., der Prediger der Einfalt, Pastoralbll. 84, 1941/ 42, S. 156-158). Friedrich A h l f e l d (1810-1884) hat durch anschauliche Sprache, klar verständliche emblematische Disposition, durch knappen einprägsamen Satzbau und Vorliebe für Gleichnisse, Bilder, Beispiele mit seinen Kanzelanspradien Popularität erlangt. Die begabten Prediger Gerhard U h l h o r n (1826-1901) und Hermann von B e z z e l (1861-1917) stellen die Verbindung zwischen dem lutherischen Konfessionalismus und der Neubelebung des Reformationserbes in unserem Jh. her. Als markanter Vertreter des evang. Bekenntnisses tritt Karl H o l l (1866-1926) mit seinen P.n hervor, deren bedeutendste in den Christlichen Reden (1927) gedruckt wurden; sie setzen sich intensiv mit dem Rechtfertigungsglauben auseinander. Von großem Einfluß ist gegen Jh.ende die komplexe Bewegung des K u l t u r p r o t e s t a n t i s m u s , die von Schleiermacher ausgehend den allgemeinen Bildungsstand der Zeit berücksichtigt und die Fragen der modernen Kulturentwicklung mit dem evangel. Glauben in Einklang zu bringen sucht. Gewiß ist der Ansatz gerechtfertigt, den Menschen auch außerhalb des kirchlichen Bereiches anzusprechen und zugleich für die P. die Erkenntnisse der Soziologie, Psychologie sowie der Volkskunde heranzuziehen. Die Kritik richtet sich vor allem dagegen, daß sich die Vertreter des Kulturprotestantismus vielfach in diesen säkularen Gebieten erschöpfen. In diesem Zusammenhang sind die hervorragenden und weitgeschätzten Prediger Friedrich Rittelmeyer und Christian Geyer zu nennen, die auch zwei P.bände zusammen herausgegeben haben. R i t t e l m e y e r (1872-1938) schloß sich später den Anthroposophen an. Andererseits gilt G e y e r (1862-1922) als typischer Vertreter des liberalen Protestantismus, dessen P.weise insonderheit den kulturellen und theologischen Fragen der Zeit offen gegenübersteht. An die Stelle der christlichen Botschaft und des biblischen Textes treten mehr die Anschauungen der Lebensphilosophie und einer allgemeinen Reli-

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giosität, dazu kommt noch ein betont psychologischer Aspekt der P. Ihre Gedanken werden in gehobener Sprache, aber ohne Gliederung und in aphoristischer Form aneinandergereiht, um den Hörer zu ergreifen. In Verbindung mit dem Kulturprotestantismus stehen auch einige profilierte Verfechter der sozialen Frage. Adolf S t o e c k e r s (1835-1909) P.n lösen sich in Aufbau und sprachlicher Gestalt von der Tradition und nähern sich dem Stil der politischen Rede. Friedrich N a u m a n n s (18601919) P.n weisen eine Form auf, die aufgrund der anschaulichen und klaren Darstellung dem künsderisch ausgearbeiteten Essay nahesteht. Der Schweizer Hermann K u t t e r (1863-1931) wahrt in seinen prophetisch gestimmten P.n in bezug auf den Inhalt eindeutiger die theologischen Grundlagen. Einige dem Kulturprotestantismus nahestehende Kanzelredner haben auch durch ihr dichterisches Werk Bedeutung erlangt; diese Begabung wirkt sich in ästhetisch anspruchsvoller Diktion der P. aus. Adolf S c h m i t t h e n n e r s (1854-1907) zwei gedruckte P.sammlungen zeigen sprachliche Meisterschaft, lassen jedoch eine angemessene Formbehandlung vermissen. Gustav F r e n s s e n (1863-1945) legte nach den großen Erfolgen seiner ersten Romane das Pfarramt nieder. Unter den Bauern seiner Dithmarscher Heimat galt er als geschätzter Kanzelredner, dessen bodenständige und kernige Dorfp.n (3 Bde 1899-1902) aus seiner liberalen Glaubenshaltung kommen, in der sich Naturfrömmigkeit und völkische Ideen begegnen. Der Predigerton klingt oft in seinen realistischen Romanen durch. Die P. konnte sich auch einer Auseinandersetzung mit den Fragen der modernen Naturwissenschaften nicht verschließen, vor allem in den Fällen, da die Forschungsergebnisse als Grundlage einer Ideologie benutzt wurden, die gegen das christliche Weltbild anging. Dabei bedienten sich die Gegner der Kirche sogar der Mittel, die ihr eigen waren. Die Titel wie Wilhelm O s t w a l d s Monistische Sonntagsp.n (1911/12), Henry van de V e l d e s Kunstgewerbliche Laienp.n (1902), Julius B u r g g r a f s Goethep.n (1913) und Schillerp.n (1909) zeigen, daß der Ρ .begriff auch in anderen Kreisen säkularisiert worden ist. Moderne P.bibliothek (Reihe 14 ff. u. d. T.: Göttinger P.bibliothek), hg. v. Emst R o l f f s u. (Reihe 15:) Friedr. N i e b e r g a l l (19091920). Paul D r e w s , Die P. d. 19.Jh.s, kritische Bemerkungen u. praktische Winke (1903; Vortr. d. theolog. Konferenz zu Gießen 19). E. Chr. A c h e l i s , Meister evangel. Kanzelberedsamkeit, in: Der Protestantismus am Ende des 19. Jh.s, hg. v. Carl Werdcshagen, Bd. 2, 1902, S. 693-716. Otto B a u m g a r t e n , P.Probleme (1904). Friedrich N i e b e r g a l l , Wie predigen wir dem modernen Menschen? Teil 1 (1902; 2. Aufl. 1905), 2 (1906), 3 (1921). Aufschlußreich ist die Darstellung verschiedener Predigertypen in der Dichtung, wovon es gerade für den behandelten Zeitraum gute Beispiele gibt: den Pastor Pringsheim in Thomas M a n n s Buddenbrooks, Wilhelm R a a -

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bes Hungerpastor; ein bemerkenswerter Predigertyp des ausgehenden 18. Jh.s ist Karl

Philipp Moritz' Andreas Harthnopf, 2 Teile (1786/90).

§ 13. Die p r o t e s t a n t i s c h e P. d e r j ü n g s t e n Z e i t ist vor allem von zwei Strömungen geprägt, die vielfach zusammenwirken: Besinnung auf das reformatorische Erbe (Lutherrenaissance) sowie Berücksichtigung des .modernen Lebens und Denkens und der jeweiligen Gemeindezusammensetzung. Hatte sich vor dem ersten Weltkrieg die Vorliebe für freie Texte im Gefolge einer subjektiveren Verkündigungsform verbreitet, so rückt später nach Art der Homilie der Bibeltext wieder in den Mittelpunkt; außerdem wird die P. in noch stärkerem Maße als bisher fest in das liturgische Gepräge des Gottesdienstes eingefügt (vgl. Günther D e h n , Unsere P. heute, 1946; Kirche f. d. Welt 8). Zu Beginn des Jh.s sucht man nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten: es fehlt nicht einmal an expressionistischen Tönen. Meist bemüht man sich, Reflexion und Gefühl in angemesseneren Formen anzuwenden. Liberale Kreise drängen auf Verzicht einer geistlichen Eigenform der P.: unter Voranstellung eines Mottos oder eines als Frage formulierten Themas sucht man Anklänge an die Volksrede oder an den Essay, wobei die ästhetischen Belange erfüllt werden. Carl J a t h ο (1851-1913) bringt den Sprachschatz der allgemeinen Bildung unter Hintansetzung des Dogmas auf die Kanzel und predigt in erhabenem, oft dithyrambischem Stil. Hier müssen wir den Anschluß an die freisinnigen Prediger des Kulturprotestantismus im vorigen Jh. suchen, die den modernen theologischen Liberalismus entwickelt haben. Ein markanter Vertreter ist Otto B a u m g a r t e n (1858-1934), der sehr konsequent Folgerungen aus der historisch-kritischen Theologie für die Verkündigimg zieht, ohne dabei das persönliche Zeugnis zu vernachlässigen. Die liberalen Prediger stellen sich den Auseinandersetzungen mit den großen geistigen und technischen Wandlungen und sozialen Problemen. An Schleiermachers Homiletik anknüpfend wird der Typ der Kultp. entwickelt. Sie ist stark subjektivistisch und auf die jeweilige Gemeinde zugeschnitten, sie nähert sich somit der Kasualrede. Daraus folgt größere stilistische Dif-

ferenzierung. Die nüchterne Sprache dringt auf unmittelbaren Kontakt mit den Hörem, doch finden klare Disposition und formale Gestaltung weniger Beachtung. Auf sachgemäßen, zeitbezogenen Vortrag wird besonderer Wert gelegt. Verschiedentlich beruft man sich auf Origines und Johannes Chrysostomos, die gegen die antike Rhetorik und Dialektik standen. Die Konfrontierung mit Kultur und Bildung nimmt neben den eigentlichen Lebensfragen auch jetzt noch breiten Raum ein; angesichts der vielen Ansprüche, denen der heutige Mensch ausgesetzt ist, muß die P. nicht zuletzt im Zeichen der Apologie stehen. Dazu tritt das Bemühen um die schriftgegründete Situationsbezogenheit und Akkommodation der christlichen Botschaft. Dementsprechend bedient man sich einer unkonventionellen Sprache ohne Traditionstümelei und Pathos, unter bewußtem Verzicht auf den binnenkirchlichen Stil. Insbesondere versucht man, abgegriffene theologische Begriffe in das zeitgemäße Verständnis zu übersetzen, dabei auch alte Wörter aufzugreifen und mit neuem Sinn zu erfüllen. Ernst K ä h l e r ist der Auffassung: „Je stärker ein Wort ursprünglich im Kemgebiet der christlichen P. beheimatet war, desto gefährdeter ist heute sein Bestand", demzufolge fordert Dietrich B o n h o e f f e r „die nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe". Noch weiter geht die d i a l e k t i s c h e T h e o l o g i e mit ihrer Anschauung vom Unvermögen, den göttlichen Verkündigungsauftrag ganz zu erfüllen; Karl Barth vertritt die Auffassung: Gott sei der menschlichen Sprache unzugänglich. Das spiegelt sich in den von K. B a r t h und Eduard T h u r n e y s e n hg. P.sammlungen: Suchet Gott, so werdet ihr leben (1917), Komm. Schöpfer Geist (1924), Die große Barmherzigkeit (1935). Sie zeichnen sich aus durch prägnanten, gedrängt-dynamischen Stil, Reichtum an Bildern und Vergleichen, doch verzichten sie gewöhnlich auf klare Disposition sowie psychologische und rhetorische Anlage; im Mittelpunkt steht der Schrifttext. Auch die anderen theologischen Richtungen üben durch die P. als einem unabdingbaren Verkündigungsmittel weitreichenden Einfluß aus: Rudolf B u l t m a n n , Marburger P.n, 1956; Helmut T h i e l i c k e , Das Bilderbuch Gottes, Reden über die

igt

Gleichnisse Jesu, 2. Aufl. 1958; Heinrich V o g e l , Wir sind geliebt, 1958; Günther J a c o b , Heute, so ihr seine Stimme höret, 1958; Helmut G o l l w i t z e r , . . . und lobten Gott, 1962. Anstelle der bisherigen Unterscheidung von synthetischer und analytischer P. läßt sich heute in technisch-formaler Beziehung das Vorherrschen einer Mischform feststellen; doch ist auch diesbezüglich kein strenger Schematismus abzulesen. Neben dem dialektischen oder seelsorgerlichen Aspekt werden jetzt Zeugnis und Anbetimg mehr herausgestellt. Vor allem hat die Zeit des Kirchenkampfes seit 1933 eine strenge Besinnimg auf das Schriftwort gefordert, wobei sich zeigt, daß diese textgebundene P. auch in der Auseinandersetzung mit den Gegenwartsfragen wirksam werden kann (Friedrich D e l e k a t , Die politische P., 1947; Lebendige Wiss. 2). Karl F e z e r hat im Anschluß an H a r n a c k , S t e i n m e y e r und H o l l sowie gestützt auf die dialektische Theologie erkannt, daß die adäquate Form der P. theozentrisch sein muß; sie darf also nicht bei der Erklärung des Schriftwortes oder gar bei der erzieherischen Absicht und künstlerischen Darstellung stehenbleiben (Das Wort Gottes und die P., 1925; Handreichung f. d. geistl. Amt 2). Ausgehend von den liturgischen Erneuerungsbestrebungen ist die P. auf ihre homiletische Funktion hin untersucht worden von: Wolfgang T r i l l h a a s , Evangelische Plehre (4. Aufl. 1955; Pfarrbücherei f. Amt u. Unterweisung 4), Helmuth S c h r e i n e r , Die Verkündigung des Wortes Gottes (5. Aufl. 1949), Leonhardt F e n d t , Homiletik. Theologie und Technik der P. (1949; Sammig. Töpelmann 2, 4). Hans-Rudolf M ü l l e r - S c h w e f e , Homiletik, Bd. 1 (1961), Bd. 2 (1965). Hier ist auch hinzuweisen auf: Julius S c h i e d e r , Unsere P. Grundsätzliches, Kritisches, Praktisches (1957), Walter U h s a d e 1, Die gottesdienstliche P. (1963), Emst-Rüdiger Κ i e s ο w , Dialektisches Denken u. Reden in der P. An Beispielen aus der P.literatur der Gegenwart untersucht (1957; Theolog. Arbeiten 5). Walter R u p r e c h t , Die P. über alttestamentl. Texte in d. luth. Kirchen Deutschlands (1962; Arbeiten z. Theol. II, 1).

Neben der an den Gemeindegottesdienst gebundenen P. wird gegenwärtig die Verkündigung in mannigfaltiger, von der Tradition weitgehend unabhängiger Form gepflegt. Eine große Bedeutung kommt der sozialen Standesp. zu. Sie hat ihre besten Vorläufer in Th. M ü n t z e r s Fürstenp. (1524), J. Mathesius' Bergpostille (1562) und L. Oslanders Bauernp.n. Seit dem Ende des 18. Jh.s kommt diese Gattung

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mehr zur Geltung; Erwähnung verdienen die Landp.n von S c h m a l i n g undj. T o b ler (beide 1768). Bald gibt es auch spez. P.n für Soldaten, Gewerbetreibende, bürgerliche und höhere Stände. Berufsständische P.n sind vor allem im Bergbau seit der Reformation üblich; nach 1850 kommen auch Kanzelansprachen für andere Arbeiter auf. Die von Samuel K e l l e r (1856-1924) eingeführte Evangelisation versucht, die christliche Botschaft in eindringlicher, gegenwartsbezogener Vortragsweise über die Kerngemeinde hinaus zu verbreiten. Göttinger P.-Meditationen, hg. v. Hans Joachim I w a n d u. a. (1946ff.). Friedr. N i e b e r g a l l , Die moderne P. (1929). PastoralbU. Monatschrift f. d. Gesamtbereich des Evangel. Pfarramtes. Hg. v. Erich S t a n g e . Bd. 1-12 (1859-1870) u . d . T . : Gesetz u. Zeugnis. Bd. 1350 (1871-1908) u. d. T.: PastoralbU. f. Homiletik, Katechetik u. Seelsorge. Bd. 51-84 (1908/ 09-1941/42) u. d. T.: PastoralbU. für P., Seelsorge u. kirchl. Unterweisung. Artur F e h l b e r g , Die Form d. modernen P. PastoralbU. 68 (1925/26) S. 519-536. Kleine P.-Typologie, Bd. 1, hg. v. Ludwig S c h m i d t , 1964, Bd. 2, hg. v. C. H. P e i s k e r , 1965. Gerd A l b r e c h t , Film und Verkündigung (1962; Neue Beitr. z. Film- u. Fernsehforschung 2).

§ 14. Wenn wir in den folgenden Kapiteln die nachreformatorischeP. außerhalb des Luthertums gesondert behandeln, so hat das seine Berechtigung, weil mit der konfessionellen Ausprägung auch die Verkündigung weithin eigene Gestalt gewinnt. Hat doch jede Kirche die Einwirkungen der verschiedenen geistesgeschichtlichen Epochen in der ihr eigenen Art verarbeitet. Im Vorstehenden haben wir schon einige reformierte Kanzelredner genannt, die mehr der allgemeinen Entwicklung des protestantischen P.wesens verbunden sind. Die R e f o r m i e r t e K i r c h e hatihrerP. besondere Vollmacht zugesprochen. So heißt es in der Confessio Helvetica posteriori (1562): praedicatio verbi Dei est verbum Dei. Die Anfänge der reformierten P. sehen in Zürich anders als in Genf aus. Obwohl Johann Calvin (1509-1564) mit Zwingli verglichen die eindringlichere und nachdrücklichere Art zu predigen besitzt, ist sein Einfluß auf die dt. reformierte P. weniger stark, weil er sich der franz. Sprache bediente. Calvin bringt den in die Form der Homilie gekleideten, mit klaren Worten und bilderreichen Wendungen gestalteten Kanzelvor-

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trag in didaktischer Absicht und stellt katechisierend die Exegese in den Mittelpunkt. (Erwin M ü l h a u p t , Die Ρ. Calvins, 1931; Arbeiten z. Kirchengesch. 18). Seine Nachwirkung zeigt sich deutlich bei dem Reformator Württembergs Ambrosius Β1 a u r e r (1492-1564), der zunächst allegorische Deutungen bevorzugt, dann in zunehmendem Maße seine P.n konkret auf das praktische Leben zu beziehen weiß, wobei ihm seine volkstümliche und poetische Begabung zugute kommt, die sich auch in seinen zahlreichen Kirchenliedern offenbart. Calvins Vorbild folgt mit hohem rhetorischen Können der Straßburger Reformator Martin B u c e r (1491-1551), der seine Gedanken in dialektischer Entwicklung vortrug. In diesem Zusammenhang sind ferner vor allem Caspar O l e v i a n (1536-87) und Caspar H e d i o (1493-1552) zu nennen; die Uberlieferung ihrer P.n ist aber zu schlecht, als daß man sie charakterisieren könnte. Eindringlicher hat Huldreich Z w i n g l i (1484-1531) die reformierte dt.-sprachige P. beeinflußt. Von ihm sind allerdings nur acht P.n erhalten. Neben dem patristischen Erbe ist ihm die humanistische Bildung mit dem Blick auf die antike Rhetorik eigen, sie klingt auch noch durch seinen Satzbau; er entwikkelt jedoch aus ihr einen selbständigen Stil mit einfacher, herzhafter, allerdings dialektgebundener Sprache, klarer Gliederung und einem von den Perikopen gelösten, in sich geschlossenen Aufbau, der die praktische Schriftauslegung in die Mitte stellt. Bei Zwingli steht die pastorale Aufgabe im Vordergrund: er ist vorwiegend Büß- und Sittenprediger und verhehlt seine pädagogische Absicht nie, die am stärksten in seinen patriotisch-politischen Ansprachen zum Ausdruck kommt und die Hörer gewaltig beeindruckt hat (Rudolf S t ä h e l i n , Z. als Prediger, Basel 1887, Oskar F a r n e r , Aus Z.s P.n 2 Bde Zürich 1957). Ihm schließen sich in stilistischer Hinsicht an Caspar M e g a n d e r (f 1545) und die Zürcher Johannes W o l f (t 1571), Rudolf W a l t e r (f 1586) und Ludwig L a v a t e r (f 1586). Andere seiner Anhänger und Schüler erreichen von ihm ausgehend gewisse Selbständigkeit. Johannes Ο e k ο 1 a m ρ a d (1482-1531) läßt in seinen P.n über ganze biblische Bücher seine reiche humanistische Bildimg zu Wort kommen; mit seinem vielgerühmten Zyklus über den 1.

Johannesbrief verhilft er der Reformation in Basel zum Durchbruch. Uberhaupt ist das Durchpredigen ganzer biblischer Bücher in der Reformierten Kirche verbreitet und üblich geworden, während sich die Lutheraner mehr an diePerikopenordnung hielten« Heinrich B u l l i n g e r s (1504-75) P.n sind von künstlerisch reifem Stil und tief seelsorgerlichem Gehalt; auch er stellt die Schriftauslegung in den Mittelpunkt. Insgesamt sind 618 seiner P.n gedruckt worden. Sein bedeutendstes Werk ist das Hausbuch (1549 ff.), das am Anfang der gedruckten P.-Literatur der Reformierten Kirche steht und durch seine weite Verbreitung einen nachhaltigen Einfluß gewann (vgl. Walter Η ο 11 w e g , Η. B.s Hausbuch 1956; Beitr. z. Gesch. u. Lehre d. Ref. Kirche 8). Zunächst erschien Bullingers Sammlung textloser P.n in lat. Sprache — wohl wegen der größeren Verbreitungsmöglichkeit unter den reformierten Geistlichen verschiedener Länder. Bullinger bedient sich, im Gegensatz zur Forderung der Reformatoren, der allegorischen Schriftauslegung. Die theoretischen Grundlagen des P.wesens untersucht der in Marburg lehrende reformierte Theologe Andreas H y p e r i u s in seinemΊ553 erschienenen Lehrbuch De formandis concionibus sacris (erweitert 1562). E r untersdieidet zwischen weltlicher und geistlicher Redekunst und knüpft weitgehend an altkirchliche Vorbilder an. Hyperius gibt bereits der Form den Vorzug vor dem Inhalt; er macht die fünf P.genera von der antiken Rhetorik unabhängig und stellt der Inventio die Aufgabe, aus dem Text Lehrstücke zu suchen (Peter K a w e r a u . Die Homiletik des Α. H., Zs. f. Kirchengesch. 71, 1960 S. 66-81). Johannes W o l l e b (1586-1629) ist der hervorragendste Prediger der reformierten Orthodoxie. Seine P.n zeichnen sich aus durch individuelle Gestaltung, klare Sprache und durchsiditige Disposition; in ihnen spiegelt sich auch die wissenschaftliche Bedeutung Wollebs. Aug. Fr. Wüh. S a c k (1703-1786) steht unter dem Einfluß Mosheims sowie der engl, und franz. Kanzelberedsamkeit, auch aus dem kathol. Lager. Sein reformiertes Bekenntnis ist gleich dem seines schon genannten Glaubensgenossen Zollikofer von der Wölfischen Philosophie durchdrungen. Deshalb behandelt Sack mit Vorliebe christlich-moralische Gegenstände, die er in nüchternem Gedankengang direkt auf die Hörer zu beziehen versteht. Dabei verliert seine schlichte, erbauliche Sprache nicht den unmittelbar volkstümlichen Ausdruck. E r trägt mit gewandtem Stil vor und disponiert auf analytische Weise. In seinem Amt als Berliner Hofprediger hat er als einer der ersten auf dt. Kanzeln die patriotische Stimme erhoben; an den historischen Ereignissen nahmen auch H e ß und J . J.

Predigt S t o l z lebhaften Anteil, letzterer mit seinen Historischen P.n (1806 f.); nationale Züge hatten wir schon oben bei den reformierten Predigern L a v a t e r , M ü s l i n und Η ä f e 1 i festgestellt. Der zuletzt in Bremen auftretende Erweckungsprediger Gottfried M e n k e n (17681831) setzt sich in bewußter Frömmigkeit deutlich von den philosophischen Strömungen der Zeit ab und schafft streng textbezogene, sehr sachlich darstellende Homilien, die auf rednerischen Schmuck verzichten. Die moderne reformierte P. beginnt mit dem Supranaturalisten Franz T h e r e m i n (1780-1846), der sich die antike Beredsamkeit und die klassischen franz. Kanzelredner zum Vorbild wählt, dabei aber eine persönlich geprägte, rhetorisch-kunstvolle Form mit glänzender Diktion und Neigung zum Demonstrieren entwickelt. Zum Zeichen seiner Auffassung vom Predigen als einer sittlichen Aufgabe stellt er statt des Textes Ideen in den Vordergrund, ohne hierdurch den Bezug auf das Leben aufzugeben. Neben 9 P.bänden hat er Erbauungsliteratur vind Schriften zur Rhetorik veröffentlicht. Der Schweizer Albert B i t z i u s (Jer. Gotthelf, 1797-1854), dessen schriftstellerische Begabung für treues Darstellen des Volkslebens selten in seinen Kanzelansprachen wiederkehrt, bevorzugt konkrete Lebensfragen vor einer strengen Textanalyse (Renate R i t t e r , Jer. Gotthelf als Volksprediger, Masch. Diss. Freiburg 1945). Friedrich Wilhelm K r u m m a c h e r (17961868) vertritt den Neupietismus in der reformierten P. Er setzt sich über den nüchternen Schriftsinn hinweg und wendet eine stark emphatische Sprache an, die der Theatralik zuweilen nahesteht. Dazu bringt er phantasie- und stimmungsvolle Gemütstöne, verschmäht auch nicht das gelegentliche Einflechten romantisch gefärbter Erzählungen — trägt mithin unter Anwendung des Allegorischen und Typischen mit· „biblischer Massivität" vor. Den bewußt auf das reformatorische Erbe zurückgreifenden K o n f e s s i o n a l i s m u s vertritt H. F. K o h l b r ü g g e (1803-75). In der Gegenwart läßt sich die reformierte P. vom Stilistischen her gesehen — und darüber hinaus — kaum von der lutherischen trennen: vgl. das im vorigen § zur dialektischen Theologie Gesagte, wobei besonders hinzuweisen ist auf Karl B a r t h , Das verkündigte Wort Gottes (in: Die kirchliche Dogmatik, Bd. I 1, 1932). Albert S c h ä d e l in, Die rechte P., Grundriß der Homiletik (Zürich 1953) fordert theologische Fun-

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diertheit der P. bei Zurückstellung des lehrhaften Elements; die Prinzipien der Rhetorik sollten der P. nicht zugrunde gelegt werden. § 15. Die k a t h o l i s c h e P. des 16.Jh.s führt hinsichtlich Form, Sprache und gottesdienstlicher Funktion die spätmal. Tradition vorerst weiter. Die inhaltlich bestimmende Gattung bleibt noch auf lange Zeit die Moralp. Durch die Auseinandersetzung mit der Reformation mehren sich die Kontroverstöne; schließlich unterscheidet sie sich mit den apologetischen wie polemischen Stimmen kaum von ihren Gegenstücken im anderen Lager. Der sprachgewaltigste Vertreter der alten Kirche, der Franziskaner Thomas Μ u r n e r (1475-1537), wird von Zeitgenossen „declamator sermonum dei ad populum famosus et praestans" genannt — unmittelbare Zeugnisse dafür fehlen, doch klingt noch in seinen Satiren der Stil seiner dt. P.n nach (F. L a n d m a n n , M. als Prediger, Archiv f. elsäss. Kirchengeschichte 10,1935, S. 295-368). Johannes E c k s (1486-1543) Auseinandersetzung mit der lutherischen Lehre spiegelt sich auch in seinen P.n, die einer seiner Schüler übersetzt und 1530 ff. in Ingolstadt in fünf Teilen herausgegeben hat. Seine dreiteilige Evangelienauslegung erscheint 1532 am gleichen Ort. Eck zeigt sich darin als kundiger Exeget, der nach klarem Aufbau und nüchterner, unmittelbarer Sprache strebt. (August B r a n d t , Ecfcs P.tätigkeit an U. L. Frau zu Ingolstadt, 1525-1542, 1914; Reformationsgeschichtl. Studien u. Texte 27/28). Der Wiener Bischof Friedrich N a u s e a (f 1552) verkörpert die humanistische Tradition und vertritt die apologetische Themap., in der noch synthetischer und analytischer Aufbau nebeneinander stehen und die Gestaltung in mediocti et plane homiliatico dicendi genere durchgeführt ist (Centuriae IV homiliarum 1530, dt. 1535). Er faßt seine P.n lateinisch ab. Bei dem Mainzer Domprediger Johann W i l d (1494-1554) herrscht die populäre Exegese mit didaktischer Tendenz vor. Diesen Charakter haben audi seine vielbenutzten Auslegungszyklen über mehrere Bibelbücher. Ihm verdanken wir ferner Heiligenp.n (Mainz 1554 f.), die stärker vom jeweiligen Festevangelium als von der Legendentradition geprägt sind. Der konvertierte Georg W i t z e l (1501-1573) ist auf strenge Wahrung der sittlichen Ordnung und des rechten Glaubens bedadit. Von ihm besitzen wir u. a. deutsche Postillen sowie homiletische Abhand-

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Predigt

lungen. Der aufgrund vieler Veröffentlichungen einflußreidie Franziskaner Johannes Ν a s (1534-1590) zeichnet sich als scharf polemisierender Kanzelredner mit ausgeprägtem oberdt. Kolorit aus; auch er war zeitweilig Lutheraner. Als bedeutende Prediger verdienen in diesem Zusammenhang noch genannt zu werden der ermländische Bischof Stanislaus Η ο s i u s (1504-1573) sowie der kaiserliche Hofprediger Martin E i s e n g r e i n (t 1578). Letzterer bevorzugt die beliebte Form der Postille (Teil I Ingolstadt 1576, II Mainz 1601) und hält sidi an die strenge Schriftauslegung, insbesondere in seiner Osterp. (Luzian P f l e g e r , Martin Eisengrein, 1908; Erläut. u. Erg. zu Janssens Gesch. d. dt. Volkes VI, 2. 3).

Wesentlichen Einfluß auf die kathol. Verkündigung üben die Orden der Theatiner, Kapuziner und Jesuiten aus. Die Jesuiten kritisieren schonungslos den nachlässigen Klerus und vertreiben ihn von den Kanzeln; im Volk erfreuen sie sich großer Beliebtheit durch ihre mit Erzählgut veranschaulichte Verkündigung. Auch auf dem Tridentinischen Konzil wird eine Verbesserung des P.wesens gefordert, jedoch dem Kanzelwort nicht die zentrale Stellung eingeräumt, die es im evangel. Gottesdienst besitzt. Die Auswirkung der Reformdekrete macht sich schon bei Petrus C a η i s i u s (1521-1597) bemerkbar, der als Professor der Rhetorik die homiletischen Grundlagen durchdenkt und vorbildlich in seinen P.n anwendet. An eindringlicher Beredsamkeit steht ihm Georg S c h e r e r (1539-1605, meist in Wien tätig) kaum nach, der seine hohe Sprachbegabung mit stark polemischen Zügen

erfüllt (Postill oder Auslegungen der Sonn-, der Fest- und feyertägigen Evangelien, 2 Bde Mün-

chen 1603; über ihn: Paul M ü l l e r , Ein

Predi-

ger wider die Zeit. Georg Scherer, 1933; Kl. histor. Monogr. 41).

Im 17. Jh., insbesondere seiner zweiten Hälfte, beginnt auch im kathol. Lager eine grobe Entartung des P.geschmacks durch einen ganz auf das Äußere bedachten Formalismus; die Disposition wird durch gekünstelte Aufteilung überspitzt — innere Gehaltlosigkeit und sprachliche Abhängigkeit treten dazu. Der homiletische Theoretiker Karl Regius zählt allein 29 Dispositionsmöglichkeiten auf, wie sie vor allem die emblematisdie Artikel-, Konzepten- und Paragraphenp. liebt. Jetzt löst die aus Frankreich kommende thematische P. die Homilie ab und verliert sich dabei in grenzenloser Übertragungssucht, die schon in den Titeln zum Ausdruck kommt (ζ. B. Friedrich Hailmann, Lilium sionaeum quinquagena prole foecundum, Nürnberg 1694). Dazu treten

Wucherungen im stofflichen Bereidi: man häuft Zitate, Sentenzen, Anekdoten, Spriidie an, ζ. T. ohne Rücksicht auf den Hörer beim deutschten Vortrag in fremdsprachigem Gewand. Die Emblematik nimmt besonders in den Neujahrsp.n überhand: Friedrich Hailmann,Prag 1691 sowie Hermann Sch lösser (Verbum breviatum, Köln 1699), der die Wünsche zum Jahreswechsel durch ein lückenloses Aneinanderreihen von Bibelsprüchen ausdrückt. Balthasar K n e l l i n g e r predigt in volkstümlicher Beredsamkeit mit anschaulichen Worten und Beispielen etwa über das Thema Der Haußher muß zuforderst über sich selbsten Herr seyn, ein weiterer Band enthält Predigen auf alle Sonntäg deß gantzen Jahrs (München 1706). Es fehlt auch nicht an Predigern in dieser Zeit, die ihre Sprachbegabung ausschließlich in den Dienst der schriftgebundenen Verkündigimg stellen. Hier ist der auch als Lyriker bekannte Tiroler Michael S t a u d a c h e r (f 1673) mit seinen 1656 hg. Geistlichen und sittlichen Redeverfassungen anzuführen. Die barocke Lebenshaltung klingt in den sprachgewaltigen P.n des Christian Brez an (t um 1730; Monographie von Gandulf K ö r t e , 1935). Neben ihm ist der Schweizer Kapuziner Michael Angelus von S c h ο r η ο (f 1712) zu nennen, der in seinen didaktisch gestimmten, klar gegliederten P.n gern rhetorischen Schmuck, Concetti, Steigerung, Kontrast, Syllogismus und Dialog anwendet (Leutfried S i g n e r , Die P.anlage bei P. M. A. v. S., Assisi 1933; Bibliotheca Seraphico-Capuccina, Sect. hist. 1.). Im übrigen findet sich in dem breiten Uberlieferungsstrom der kathol. P. des 17./18. Jh.s beachtliches Material einer landschaftsgebundenen, im Volk wurzelnden Erzähltradition, die Elfriede M o s e r - R a t h untersucht hat (P.mär-

lein der Barockzeit, Exempel, Sage, Schwank u. Fabel in geistlichen Quellen des oberdt. Raumes,

1964; Fabula, Suppl. A 5. Eine unzureichende Anthologie mit P.n zwölf bair. Barockprediger hat Georg L o h m e i e r 1961 hg.). Allerdings vermißt man in diesen Spiegelungen einer beredten Volksverbundenheit zuweilen die tiefere Auseinandersetzung mit den Glaubensfragen als den Kernstücken der Verkündigung. Am wenigsten gilt dieser Vorwurf noch dem vorwiegend in Salzburg tätigen Kapuziner Prokop von Τ e m ρ 1 i η (t 1680), dessen anschauliche P.n die ethische Gesinnung hervorkehren, dabei auf Naturschilderungen, Mundartszenen und P.märlein nicht verzichten. Sein Ordensbruder Conrad von S a l z b u r g zeigt sich in seinem Treuen Hails-Ermahner (1683) zwar noch zurückhaltend

Predigt im Gebrauch von Scherz, Reim, Wortspiel und gelehrtem Beiwerk, doch liebt er Spridiwörter, Redensarten, Anekdoten, Tiergleichnisse und Zeugnisse über Volksbraudi, -glauben und -kultur. Darin schwelgt mit zuweilen derben und effektvollen Bildern der Franziskaner Joh. Capistranus B r i n z i n g im Apocalyptischen Leichter (1677) und in Fastnachtsp.n, zumal er ein versierter Erzähler ist (zu beiden Ignaz Zingerle, P.literatur d. 17. Jhjs, ZfdPh. 24, 1892, S. 44-64 u. 318-341).

Der bedeutendste unter ihnen ist der Wiener Hofprediger A b r a h a m a S a n t a C l a r a (1644-1709). Seine P.n zeichnen sich aus durch drastisch anschauliche, den Satzrhythmus beachtende Vortragsweise mit Anwendung der naiven, teils burlesken Komik und Mimik, durch den Gebrauch von Parodie, Satz- und Wortspielen (Himmelreich-Limmelreich; Fasttag-Lasttag; SchildwachtWacht schilt usw.) sowie Ausrufen (holla! wollan! auff, auffl usw.), durch emblematisches Wuchern mit Vergleichen und Beispielen, durch die Vorliebe für Synonymik (so bringt er allein 17 Epitheta zur Charakterisierung des Todes), Volksüberlieferung und gelehrt-historisches Beiwerk (mythologische Spielerei mit Venus, Mars, Vulkan wider das Fluchen, Ehebrechen, Stehlen), durch verspielte Exegese sowie sprachschöpferisches Fabulieren mit Anekdote, Schwank, Fabel und Legende, durch kritische Zeit- und Situationsbezogenheit. Zu seinen bezeichnendsten P.n gehören: Wiener Dankp. für die Überwindung der Pestseuche; Judas, der Ertz-Schelm; Auff, auff ihr Christliche Soldaten und erwöget woll, daß euer sträflicher Wandel ein grosse Hindernuß seye der Victori und. Sieg. Neben der sechsbändigen Ausgabe von Hans S t r i gl (Wien 1904-1907) ist recht brauchbar: Neun neue Predigten. Aus d. Wiener Hs. cod. 1171. Hg. v. Karl B e r t s e h e (1930; NDL. 278/81) und: Neue Predigten. Nach d. Hss. d. Wiener Nationalbibl. hg. v. Karl B e r t s c h e (1932; BiblLitVer. 278). — Untersuchungen: H. S t r i g l , Einiges über d. Sprache d. A. a. S. C. Zs. f. dt. Wortf. 8 (1906/07) S. 206-312. Wilhelm B r a n d t , Der Schwank u. die Fabel bei A. a. S. C. (Masch.) Diss. Münster 1923. Hellmut H o f f m a n n , Die Metaphern in P.n und Schriften A. a. S. C.s. Diss. Köln 1933. Ambros Η o r b e r , Echtheitsfragen bei A. a. S. C. (1929; Fschgn. z. neueren Litg. 60). Vgl. zu dieser Periode auch Leutfried S i g n e r , Zur Forschungsgeschichte der katholischen Barockpredigt. Kirche u. Kanzel 12 (1929) S. 235-248. Bonaventura von M e h r , Das P.wesen in der Köln. u. Rhein. Kapuzinerprovinz

255 im 17. u. 18. Jh. (1945; Bibliotheca SeraphicoCapuccina, Sect. hist. β). Leutfried S i g n e r , Beiträge zur Bibliographie der oberdt. Renaissance- u. Barockliteratur. Lit.wiss. Jb. d. Görres-Ges. 1 (1926) 142-161 und 2 (1927) 136150. Leonhard I n t o r p , Westfäl. Barockp.n in volkskundl. Sicht (1964; Schriften d. volkskundl. Komm. d. Landsdiaftsverb. Westf.Lippe 14).

Gemütvollere Töne und barocke Bilder finden sich bei dem auch durch sein Erbauungsschrifttum bekannten Kapuziner Martin Linius von C o c h e m (f 1712); sein Historyund Exempelbuch ist eine vielbenutzte Materialsammlung. Der schwäbische Kapuziner Moritz N a t t e n h a u s e n besticht durch seine humorvolle Darstellung. Ansonsten herrscht seit der 2. Hälfte des 17. Jh.s in der kathol. P. die trockene Emblematik vor, die den Bibeltext weitgehend vernachlässigt. Klagt doch schon Abraham in seiner Lauberhütt (Wien und Nürnberg 1723, Bd I S. 430) mit Recht über die Vortragsweise seiner Amtskollegen, die „ihre P.n nicht mit einfältig-eifrigen, sondern mit zierlichen, hochmütigen rhetorischen Figuren zieren, daß sie von dem gemeinen Volk nicht können verstanden werden" Seit der Mitte des 18. J.s kommt der Geist der Aufklärung auch in die kathol. P.; das zeigt sich im nüchternen, aber weithin unbeholfenen Ausdruck. Insbesondere leidet der theologische Gehalt der P.n unter der Bevorzugung seichter Naturbetrachtungen und erbaulicher, moralphilosophischer Reflexionen. Das geht schon aus manchen Titeln hervor: Wohlmeynender Seelen-Eyffer, erzeiget in verfaßten sittlichen Predigen (Innsbrude 1724) von J o r d a n A n n a n i e n s i s , der aus dieser Haltung heraus auch gegen das Fastnachtstreiben mit einer drastischen Bußp. zu Felde zieht: Was falscher und gefährlicher Irrwahn es seye, glauben, daß man zur Faßnachts-Zeit den sündhafften Muthwillen abwarten därffe. Jetzt hat die Themap. ganz die Homilie verdrängt. Uber den Durchschnitt der damaligen Kanzelredner ragen hinaus: der Wiener Jesuit Franz P e i k h a r d t , in dessen zahlreichen Homilien die Exegese noch im Vordergrund steht (Lob-, Dank- u. Leich-Reden, Wien 1749); der Augsburger Domprediger und Rhetorikprofessor Franz N e u m a y r (t 1765), der sich durch Kontroversp.n verdient macht; mit Einfluß der franz. Kanzelberedsamkeit — aber selbst in schlichtem Ton — der Trierer Jesuit Franz Η u n o l t (t 1740), der die thematische Anlage bevorzugt, dem Geist der Aufklärung widersteht

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Predigt

und unter Verzicht auf rhetorische Kunstfertigkeit mit reicher Sadi- und Menschenkenntnis Lebensfragen aufgreift. Darin verwandt sind ihm der Wiener Hofprediger Johann Nepomuk T s c h u p i e k (f 1784), dessen P.n sich durch prägnante Darstellung und klare Gliederung auszeichnen (Ausg. seiner P.n in 6 Bdn von J. Η e r t k e n s , 1898 ff.) sowie der Benediktiner Adrian G r e t s c h (f 1826), der besonders in seinen Fastenp.n (Wien 1796 ff.) durch anschauliche und ausdrucksstarke Sprache wirkt, aber auch in seinen Sonn- und Feyertagsp.n (6 Bde Wien 1797 ff.) Vorbildliches schafft. Einer fast modern anmutenden klaren Sprache und kraftvollem Stil mit rationalistischen Einschlägen begegnen wir bei dem Wiener Rhetorikprofessor Ignaz W u r z (f 1784). Gegen Jh.ende ragen der Homiletikprofessor Eulogius S c h n e i d e r (f 1794) und Anton J e a n j e a n (f 1790) hervor. Jeanjeans P.n, die in 13 Bänden 1830 neu aufgelegt worden sind, sind reich an empfindsamen Einschlägen. Als Wegbereiter für den Rationalismus in der katholischen P. des 19. Jh.s sind Benedikt Maria W e r k m e i s t e r (f 1823) und Georg H e r m e s (t 1831) zu nennen, die die immer noch lebendige Volksfrömmigkeit des Barock zu überwinden trachten. Aus dem Geist der Aufklärung heraus trägt der Benediktiner Ägidius J a i s (t 1822) aufgrund seiner pädagogischen Begabung Wertvolles zur P.-theorie bei, was er in vier veröffentlichten P.bänden praktisch angewandt hat. Anstelle des Bibeltextes wird jetzt häufig kirchliches Überlieferungsgut — vorwiegend Heiligenviten und Legenden — der kathol. P. zugrunde gelegt. Ein Teil der Kanzelredner bemüht sich um eine anspruchsvollere Gestaltung von Sprache und Form der P., während andere mit veräußerlichtem Gepränge, eine dritte Gruppe mit vulgärem Ton und auf derbe Volksart drastisch den Bezug zwischen Glaubensbotsdiaft und Lebensfragen herzustellen versuchen. E i n e abgewogene Synthese zwischen gewähltem Äußeren und eindringlichem, zeitgebundenem Inhalt erreicht der Biscliof Johann Michael von S a i l e r (1751-1832) in seinen P.n, die noch stark dem Geist der Aufklärung verpflichtet sind. Seine thematischen Homilien zeichnen sich durch Klarheit, gewandte Darstellung, Gedankenreichtum, Volkstümlichkeit und Herzenswärme aus. Dem vorwiegend christologischen Gehalt seiner auch von der protestantischen Theologie beeinflußten Kanzelreden kommt die eindeutige Trennung von der weltlichen Rhetorik zugute (Sämtliche Schriften, hg. v. Joseph W i d m e r , 1830 ff. — Über ihn: Chrysostomus S c h r e i b e r , Aufklärung u. Frömmigkeit. Die katholische P. im dt. Aufklärungszeitalter u. ihre Stellung z. Fröm-

migkeit u. z. Liturgie, 1940; Abhdlgn. d. Bayr. Benediktiner-Akad. 4). In letztgenannter Hinsicht folgen ihm auch die zeitgenössischen homiletischen Untersuchungen. Für eine Besinnung und Erneuerung des kathol. P.-wesens setzen sich vor allem Ignaz Heinrich Frh. von W e s s e n b e r g (f 1860) sowie die von Paderbomer Franziskanern hg. Vierteljahresschrift Kirche und Kanzel ein. Das katechetische, dem moralisierenden Rationalismus abholde Anliegen verficht vor der Mitte des 19. Jh.s die T ü b i n g e r S c h u l e mit ihrem beredtsten Vertreter J. B. von H i r s c h e r . Empfindsame Töne schlägt Joseph Ludwig C o l m a r (f 1818) in seinen klar gegliederten, in zeitnaher Sprache, lebendiger Form und übersichtlichem Aufbau gestalteten P.n an (3. Aufl. seiner siebenbändigen P.ausgabe 1879 ff.). Ignaz L i n d l (t 1834) trägt seine schwärmerischen Gedanken in begeisternder Diktion mit kühnen Bildern vor. Moderne Sprache, die bei aller Ausdrucksschärfe und klassischer Gewandtheit gänzlich die Aufklärung überwindet, ist Johann Emanuel V e i t h (1787-1867) eigen, der sich auch mit der geistigen und technischen Entwicklung auseinandersetzt. Zuweilen ist seine Neigung, durch Zeugnisse der Volksüberlieferung und seines Wiener Milieus zu illustrieren (Chr. S c h r e i b e r , P. und Volksbrauch, Volk und Volkstum, 1, 1936, S. 241-249), übertrieben; sie wird aber durch Gedankenreichtum und Inhaltstiefe seiner P.n aufgewogen. Seine thematisch orientierten Homilien gehen von den Perikopen aus. Des Trierer Bischofs Matthias E b e r h a r d (1815-76) thematische P.n und Homilien zeigen großes rhetorisches Geschick. In kunstvollen Analogien und mit exegetischer Begabung predigt er geistreich und gedankentief, wobei es ihm treffend glückt, die biblische Überlieferung durch anschauliche Schilderung zu beleben und in die moderne Vorstellungswelt zu übertragen; doch gelingt es ihm weniger, praktische Nutzanwendungen daraus abzuleiten. Seine Sprache kommt über eine klassische Verhaltenheit, die zuweilen an den sublimen Konferenzton erinnert, nicht hinaus, sie ist allerdings ohne die übliche allegorische oder gar phantastische Willkür und fesselt seine Gemeinde durch lebendiges Ortskolorit. Seine P.n hat Ägidius D i t s c h e i d (Kanzel-Vorträge, 6 Bde, 4. Aufl. 1904-14) herausgegeben. Die franz. Kanzelberedsamkeit des 18. Jh.s nimmt sich noch einmal der Breslauer Fürstbischof Heinrich von F ö r s t e r (1799-1881) zum Vorbild und trägt seine thematischen P.n, später auch Homilien (6 Bde 1912 in 7./8. Aufl. erschienen), in formgewandter Sprache und klarer Disposition vor. Alban Isidor S t o l z (1808-83) läßt seine schriftstellerische Gabe für realistische Darstellung auch in seinen P.n deutlich werden, von denen 3 Bde veröffentlicht worden sind (19081912). Seine Sprache reicht von schlichter Anschaulichkeit über fromm-empfindsame Töne bis zum derb-humoristischen Ausdruck. Nicht zuletzt kommt ihm Bedeutung durch seine 1885 erschienene Homiletik zu. Der dichterische Einschlag spricht audi aus den P.n Wilhelm M o l i -

Predigt—Pritsdimeister tors (f 1880, dreibdge P.ausgabe 1880-82) und Meldiior von D i e p e n b r o c k s (t 1853, 3. Aufl. seiner P.n 1849; A. D o n d e r s , Zur P.weise des Kardinals D. Kirche u. Kanzel 1918, S. 235-246); er hat lange unter dem Einfluß Sailers gestanden und nimmt in seinen P.n beispielhaft zu sozialen und politischen Fragen der Zeit Stellung. Überhaupt werden von der katholischen Kanzelrede um die Jh.mitte die sozialethischen Belange in zunehmendem Maße berücksichtigt, damit auch die S t a n d e s p . neu belebt. Um sie hat sich der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel Frh. von K e t t e i e r (t 1877) durch seine gewaltige und klare Sprache Verdienste erworben (zweibdg. Ausgabe seiner P.n 1878 von Raich). Um die Jh.wende schätzt man Joseph Georg von E h r l e r (f 1905) als weithin vorbildlichen Prediger; seine in 7 Bdn 1871 ff. und 1920 ff. aufgelegten P.n haben einen übersichtlichen Aufbau und bieten in klassischeindringlidier Sprache reichen Inhalt. Der Rottenburger Bischof Paul Wilhelm von K e p p l e r (1852-1926) gilt als Erneuerer der katholischen Beredsamkeit in Blick auf Gehalt und Form. In moderner, lebhaft gestalteter Diktion stellt er dem weltfrohen Bildungsdünkel seinen einfältigen Glauben gegenüber. Neben Schriften zur Homiletik haben die drei Teile seiner Homilien und (thematischen) P.n (1912) heute noch exemplarische Bedeutung. Das gilt ebenso von dem in Lehre wie Praxis gleichermaßen richtungsweisenden Schweizer Albert M e y e n b e r g (t 1934). Johann Nepomuk B r i s c h a r , Die kath. Kanzelredner Deutschlands seit den drei letzten Jhh. 5 Bde (1867-71). Fundgrube für den kath. Prediger, e. Auswahl anerkannt guter u. empfehlenswerter P.n älterer u. neuerer Zeit m. vollständ. Inhaltsangabe des jedesmaligen Werkes und nach Rubriken geordnet (1897 ff.). Heute spricht man im kathol. wie im Protestant. Bereich von einer P.krise, die in der religiösen Entfremdung des Gegenwartsmenschen zu suchen ist, bei dem der gleichsam von oben herab gegebene und vielfach sprachlich konservative Kanzelzuspruch nicht mehr 'ankommt'. Daraus wird u. a. gefolgert: die P. müsse dem Wesen des Gesprächs angepaßt werden; entsprechende Versuche hat man seit geraumer Zeit mit der D i a 1 ο g p. unternommen. Kirchlicherseits sieht man eine Erneuerung der P.Vollmacht und des P.auftrages eher in ihrer stärkeren Bindung an die liturgische Form des Gottesdienstes (sog. Wortgottesdienst). Dabei sollen die Probleme der modernen Welt nicht außer Betracht bleiben, sondern in einer leReallexikon III

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bensnahen Sprache dargestellt werden; die formalen Fragen der P.gestaltung treten demgegenüber zurück. Eine stärkere Förderung der volkssprachlichen P. im katholischen Gottesdienst entspricht auch dem Liturgie-Schema des 2. Vatikan. Konzils. Viktor S c h u r r , Situation und Aufgabe der P. heute, in: Verkündigung und Glaube, Festgabe f. Franz Xaver Arnold (1958) S. 185-208. Joseph J u n g m a n n , Theorie der geistlichen Beredsamkeit (4. Aufl. 1923). Anton K o c h , Homiletisches Handbuch (1952 ff.). Thaddäus S o i r o n , Die Verkündigung des Wortes Gottes, homiletische Theologie (1943; Bücher august, u. franziskan. Geistigkeit 2, 1). Pie D u p l o y e , Rhetorik und Gotteswort (1957). EmU Κ a p p l e r , Die Verkündigungstheologie (1949; Studia Friburgensia N. F. 2). Theologie und P., ein Tagungsbericht, hg. v. Otto W e h n e r u. Michael F r i c k e l (1958; Arbeiten u. Berichte. Arbeitsgemeinschaft Kathol. Homiletiker Deutschlands 1). Johannes R i e s , Krisis u. Erneuerung d. P. (1961). Anselm G ü η t h ö r , Die P., theoret. u. prakt. theolog. Wegweisung (1963). Herbert Wolf Preislied s. Politische Dichtung Priamel s. Spruch Pritscbineister § 1. Ein bemerkenswerter Stand von Berufs- wie Gelegenheitsdichtern, die in der Ubergangszeit vom späten MA. zur frühen Neuzeit (15.-17. Jh. mit Schwerpunkt im 16.) bei höfischen und bürgerlichen Festen als vielseitige Akteure auftreten. Zumal bei fürstlichen Festlichkeiten und landesherrlichen wie städtischen Schützenfesten haben sie wichtige Ämter mit verschiedenen Funktionen als Sprecher, Stegreifdichter, Ordner, Aufseher mit Protokoll- und Strafbefugnis, auch als Spaßmacher. Überall bei höfischen Feiern wie bürgerlichen Festen legt man Wert darauf, daß das festliche Gepränge durch das Auftreten der Pr. geordnet und erhöht werde. § 2. Ihren Namen führen sie von der Pritsche: einem 35-45 cm langen, bis auf den handbreiten gerundeten Griff in schmale, dünne Blätter gespaltenen, oft bunt bemalten Klappinstrument aus Holz oder Leder, nach Landschaft und Zeit variierend, das als Schlagwerkzeug den Trägem inmitten des Festtrubels Gehör verschaffen soll. Das Wort wird bisher abgeleitet von ahd. britissa, Dim. zu bret, das nur einmal belegt ist (Pariser Hs. des 11. Jh.s, Latin. 16702) und zwar als Ubersetzungswort für cancile = Dim. von cancer = Gitter, Schranken vor Gericht, mhd. gater. Diese Erklärung befriedigt keineswegs, weder lautlich noch sachlich: 17

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Pritschmeister

der Unterschied in der Sachbezeichnung von Pritsche = 1. Sitzbrett, einfache Liegestatt, Schlagholz beim Keltern und 2. gefächerter Schlagstock, deutet auf zwei sachlich wie zeidich verschiedene Herkunft-Wörter: das eine sicher von Brett herzuleiten, das andere m. E. vom Schlaggeräusch wie ähnliche lautmalende Wörter. Darauf weisen auch mundartliche Bedeutungen von britsdien (vgl. Schmeller, Bayr. Wb. I, 375): „mit einem klatschenden Laut auffallen: platschen, plätschern, regnen, daß es britscht oder britsdielt, wobei man pritsdi- oder pritschelnaß werden kann" Auch im heutigen Nd. (Oberweser) begegnet britsdien lautmalend: ähnlich wie trillern, wenn junge Mädel sich auf der Straße anrufen. Wir hätten mit dieser Erklärung dann eine Parallele zu Narr und narren, wie oben Bd. II, S. 592 begründet. Die Belege für brizzelmeister, britze-slahen in den mhd. Wörterbüchern stammen aus der vermutlich Nürnberger Neidhartüberlieferung der Hs. c (15. Jh.) und des alten Druckes ζ (1537). Neidh. 49, 18 ersetzt Hs. c älteres bickelmeister (bidiel meister R) durch brizzelmeister (vgl. a. 36, 26 prittelspill c für älteres bickelsptl). Es liegt deshalb nahe, die Entstehung von brizzelmeister und britze slahen erst ins Frühnhd. zu rücken, zumal in mhd. Zeit plaz-metster = Aufseher, Ordner des Tanzes oder Spieles und auch bickelmeister die gleiche Funktion ausüben, wobei sie als Waffe das loterholz verwenden, wie auf mehreren Bildern zur Manessischen Liederhs. zu sehen ist. — Frühnhd. prize, prizenschlaher, britzschen (1517), Pritzen- und Pritschenmeister, latinisiert tympanista pygaeus (so bei J. A. Comenius, Orbis sensualium pictus 1658); im 17. Jh. Pritschen- und Britschenmeister für „Festordner, Stegreifdichter und Spaßmacher"; auch andere wie Narren, Gaukler, Hanswurste und Harlekine griffen bei ihren Darbietungen gern zum Instrument der Pritsche. So war das Pritschen ( = mit der Pritsch schlagen) ganz geläufig. § 3. Die eigentliche Zeit der Pritschmeister bricht an in den bewegten Jh.n des ausgehenden MA.s, wo das aufstrebende Bürgertum, vorweg in den Hanse- und den Reichsstädten, seine Stellung in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur erstmals mit voller Kraft entfaltet. Dabei kommt den Pr.n zugute, daß sie sich auf die Tradition der Herold- und Wappendichter (s. d.) sowie der Spruchsprecher aller Art stützen können. Seit dem MA. sind Spaßmacher wie Reimsprecher an den fürstlichen Höfen zur Unterhaltung bei der Tafel beliebt, vor allem auch bei prunkvollen Hochzeiten, als lustige „Räte" bis ins 18. Jh. Narrenfreiheit genießend: in jenen Zeiten die einzige Möglichkeit, in diesen Grenzen gewisse Kritik zu üben. Gegen Ende des 14. Jh.s weiden die mal. Turniere der Ritter abgelöst durch stattliche Volksfeste, wie sie an erster Stelle als Frei-

sdiießen der Städte und Fürsten abgehalten werden. Auch dies sind Waffenfeste, doch volkstümlicher, gefahrloser, weniger aufregend. Seit 1300 existieren in den Städten Schützengenossenschaften mit strengen Satzungen (vgl. ζ. B. Wolfenbüttler Sammelhs. der Gildevorschriften und Schießbeschreibungen), Schützenhäusem, Schießanlagen und jährlichen Schützenfesten, an denen die ganze Bürgerschaft Anteil nimmt und zu denen weithin Einladungen ergehen (so ζ. B. schon 1387 in Magdeburg, unter Beteiligung von Braunschweig, Halberstadt, Quedlinburg, Aschersleben, Blankenburg, Halle u. a.). Seit 1400 feiern alle dt. Städte von Rang im Süden wie im Norden großangelegte Schützenfeste, bei denen auch Fürsten und Adel nicht abseits stehen. Das von Volksbewegungen getragene 16. Jh. führt, eine natürliche Entwicklung, audi diese Großveranstaltungen auf die Höhe ihrer Zug- und Strahlkraft, die erst in den Wirrnissen des 30jährigen Krieges verblaßt. Bei ihrer Durchführung waren Amt und Person erfahrener Pr. von entscheidender Bedeutung. „Ein Schießen ohne pritschen Gesang Ist wie ein Glocken ohne Klang" (Wolfgang Ferber, Dresden 1610). Sie marschieren an der Spitze vor der Kapelle in prächtigen farbigen Gewändern jeweils in den Farben der Feststadt oder des Landes, mit Federhut, buntem Wams, seidenen Strümpfen und Tüchern, Borten und Verzierung. So findet man sie in Prachthss. abgebildet und in Festgedichten beschrieben. W o nötig, wird der leitende Pr. von Gehilfen unterstützt, damit die Festordnung überall eingehalten wird: beim Aufmarsch, beim Schießen, bei der Preisverteilung. Daneben müssen sie noch durch allerhand Späße, Spott- und Scherzreden das Publikum unterhalten und erheitern. In der Blütezeit ist das Pr.-Amt in der Regel hauptberuflich, auch erblich in den Familien berühmter Meister, die nicht zu den Fahrenden gezählt sein wollen. Seit dem 17. Jh. treten auch bei anderen Gilden Pr. — meist verkleidete Gesellen — auf, jedoch mehr und mehr in der Rolle des Harlekin oder „Paias" (in der Umgebung von Braunschweig). Der Pr.-Titel lebt fort bis ins 18. Jh., in traditionsbewußten Städten sogar bis in die Gegenwart. So ließ die Hauptschützen-Stahlbogen-Gesellschaft von 1429 in Nürnberg-Erlenstegen bei ihrer 525-

Pritsdimeister Jahrfeier 1954 den Pr. in alten Funktionen in historischer Tracht auftreten. § 4. Zu den Pr.n von Rang zählen: Der Augsburger Lienhard (Leonhard) F l e x e l , einer der bekanntesten Vertreter des 16. Jh.s, der mit seinem Sohn Valentin viele Schützenfeste (Heidelberg 1554, Passau 1555, Rottweil 1558, Stuttgart 1560, Wien 1563, Innsbruck 1569, Worms 1575, München 1577) bereist und bedichtet, sich selbst einen „geschwomen und bestallten" Pr. nennt, zwischendurch als höfischer Reimspredier im Dienst des Herzogs Christoph von Württemberg steht. Alle genannten Feste hat er in Reimchroniken beschrieben, die in reich illustrierten, von seinem Sohn ausgemalten und vervielfältigten Hss. (heute in Heidelberg, Rottweil, Stuttgart, München, Wien) ungedruckt erhalten sind (im Drude nur ein Auszug im Journal von und für Deutschland I, 1786, 331 ff.). Karl B a r t s c h , Leonhard Flexel. ADB. 7 (1878) S. 119. Ludwig U h l a n d , Zur Geschichte der Freischießen, in: Uhland, Schriften. Bd. 5 (1870), über Flexel, S. 299 ff. H. v. Collen, 'Das große Rottweiler Herrenschießen anno 1558' von Lienhart Flexel. Alemannia 6 (1878) S. 201-228. Heinrich W i r r i (Wirry, Win, Wire), geb. in Aarau, gelernter Weber, der sich selbst einen Schneider, auch einen „Spillmann von Aarau" heißt, nebenher auch als Schauspieler auftritt; 1544 in Solothum als Bürger aufgenommen, dann sich als „wonhafft in Zürich" angibt, doch wie andere Pr. ein unstetes Wanderleben führt, um in Südwestdeutschland, Österreich und der Schweiz Schützen- (in Lauingen 1555, Schwaz, Passau 1556, Wien 1568), Hof- und Hochzeitsfeste zu besingen als Ordner, Spaßmacher und Festpoet. Als „obrister Britschenmeyster in Schweytz" wie in Österreich schildert 6r die Krönung Maximilians II. zum König in Ungarn und als „teutscher Poet und Prütschenmeister" mehrere fürstliche Hochzeiten, 1570 audi den Reichstag zu Speyer. Zwischendurch organisiert er als Sdiauspeiler in Köln (1558), Freiburg/ Schweiz (1562) und Schaffhausen (1563) vorwiegend Rollen aus der Passionsgeschichte, doch soll er dafür (so in Schaffhausen) „nit mehr dann 1 Pfennig von einer Person nemmen". Audi sonst scheint er nicht viel verdient zu haben, wie seit alters die Fahrenden. Laut Znaimer Stadtrechnungs-

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buch von 1572 (letzte Nachricht) wird er „umb verehrte Abcontrafactur des Turniers Platz und andere Geschichten" bei der Hochzeit des Erzherzogs Karl mit 1 Gulden belohnt. So bekennt er am Sdiluß seines Wiener Schützenspruchs: „Hainrich Wirre, das Edle Blut Das wenig gewint und viel verthut." Doch verliert er darüber nicht seinen Humor. Seine Prosa ist im Stil der damaligen Jahrmarktlit. gehalten. E. H o f f m a n n - K r a y e r , Heinrich Wirri. ADB. 55 (1910) S. 385-387. Camillus W e n d e l e r , Zu Fischarts Bildergedichten. III. 'Audienz des Kaisers' von Heinrich Wirri. ArchfLitg. 7 (1877/78) S. 361-368. Ulrich W i r r i : gleichfalls in Aarau nachweisbar (1577-83) (wahrscheinlich verwandt mit Heinrich W.) als Stadtbote, Ratsmitglied, im Gegensatz zum Namensvetter kaum über die Grenzen seiner engeren Heimat hinausgekommen, nur vorübergehend in Zürich, wo laut Notiz einer Bauamtsrechnung von 1578 der „Gaukler oder Sprecher von Aarau" „uß Erkenntnis wegen etiieher frygen Künste" belohnt wird. Vorher hat er an der Fahrt nach Straßburg zum berühmten Schießen teilgenommen, das Fischart beschrieben und auch er mitsamt der Stadt besungen hat: „Hauptschießens Anfang, so man zu Strassburg gehalten, in rymen gestellet" (1576) und „Lobspruch der Freyen Reychstatt Strassburg zu ehren gestelt." Seine Reimereien halten sich, trotz mehrfacher Auflagen, im üblichen Rahmen und Stil. Benedikt Ε d e 1 b e c k (Edelpödc) aus Budweis war Siebmacher und herzoglichösterreichischer Pr. im Dienste Erzherzog Ferdinands, Maximilians II. und Rudolfs II., in seiner Zeit angeblich der in Schützengewohnheiten kundigste aller Pr., zugleich gefürchtet als schlagfertiger Witzbold, weithin als Pr. bei großen Schützenfesten begehrt, so auch beim Schießen in Zwickau (1573), wo er mit Georg Ferber, dem Vater Wolfgangs, im Auftrag der Stadt als Hauptverantwortlicher seines Amtes waltet und in einem langen Reimwerk (Dresden 1574) den Verlauf jenes großzügigen und kostspieligen Fürstenschießens schildert. Jos. Maria W a g n e r , Benedict Edelpöck. Serapeum 25 (1864) S. 308-309. Franz S c h n o r r v. C a r o l s f e l d , Über Benedict Edelbeck u. andere Pritsdimeister. ArchfLitg. 5 (1876) S. 137-151. Reinhold B e c h s t e i n , Gereimte Vorrede d. Pr. Bell'

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Pritschmeister

nedict Edelbeck 'An den gütigen Leser' zu seiner Beschreibung des im Jahre 1575 in Ztoick.au abgehaltenen Armbrustschießens. GermaniaPf. 8 (1863) S. 462-464. Seine Zwickauer Festdichtung nahm sich zum Vorbild Wolfgang F e r b e r (der Ältere, 1586-1657), geb. als erster Sohn des Tuchmachers und Färbers Georg F . in Zwickau, wo er auf der weit bekannten Lateinschule eine gute Ausbildung audi in den klassischen Sprachen erfuhr, und früh sich seine Neigung zu eigenem dichterischen Schaffen regte. Außer dem väterlichen Beruf betätigt er sich als Steuereinnehmer, doch führt er bald auf vielen seiner Schriften den Titel „Churfürstlich Sächsischer Pr.", was schon sein Vater war, auch sein Bruder Andreas und sein Sohn Georg; so konnten sie beim großen Stahlschießen in Dresden (1615) zu dritt gleichzeitig als Pr. fungieren. Seine Vorfahren hatten wiederholt in Zwikkau den Schützenkönig gestellt. Audi Wolfgang F. verbringt die meiste Zeit nicht daheim in -seiner Vaterstadt; neben den fürstlichen und städtischen Schützenfesten beansprucht der Hof in Dresden ständig seine Dienste. Gegen Ende seines Lebens muß er noch den Niedergang des Pritschmeistertums mit ansehen; er weist jedoch, zugleich im Namen seines Vaters, Bruders und Sohnes, die verständnislosen Angriffe energisch zurück, die der Superintendent Kirchbach von der Kanzel in Zwickau gegen die „unehrliche Zunft" gerichtet hatte: Selbstbewußtsein wie Stolz auf sein dichterisdies Können, neben Bescheidenheit, Frömmigkeit und Heimatliebe bestimmen die Grundzüge seiner Art und Haltung. Sein Sohn Georg übernimmt als dritter in der Generation, wohl auch als letzter das Pr.Amt im Kurfürstentum Sachsen. Das umfangreiche Schaffen Ferbers (bisher sind an die 70 Dichtungen aus den Jahren 1610-53 bekannt), gliedert sich in drei Gruppen: er beginnt als beauftragter und besoldeter Pr. mit Darstellungen großer Schützenfeste wie des Armbrustschießens des Herzogs Christian II. von Sachsen (Febr. 1610), neben dem sorgfältigen Festbericht bemerkenswert durch eine gekonnte Schilderung der Schönheiten von Stadt und Festung Dresden. Die zweite, aus Zeitmangel weniger gelungene Pr.-Dichtung Ferbers ist dem „fümehmen" fürstlichen Armbrustschießen des Herzogs Joh. Casimir von Sachsen (Mai 1614 in Co-

burg) gewidmet. Auf der Heimreise erreicht ihn die Aufforderung des Kurfürsten von Sachsen, sich alsbald nach Dresden zu begeben, wo er im September gleichen Jahres aus Anlaß der Geburt des Prinzen August ein „fürnehmes Stahelschiessen" abhalten will, zu dem auch Ferbers Heimatstadt Zwickau geladen wird. Gemeinsam mit Vater und Bruder waltet er dort seines Amtes und beschreibt Schießplan, Aufzug und Kritik der Schützen, Preisverteilung ziemlich genau (gedruckt Dresden 1615). Die zweite Gruppe umfaßt Ferbers höfische Dichtimg, der Feier bei Fürsten oder anderen Würdenträgem aller Art gewidmet. Hier kann sich seine dichterische Begabung freier entfalten, weil er nicht wie beim Pritsdiensang so streng an feste Formen und Normen gebunden ist. Ähnlich ist die dritte Gruppe zu beurteilen, die- stattliche Zahl reiner Gelegenheitsgedichte von durchweg geringem Umfang, von denen sicher nur ein Teil erhalten blieb. Für die Würdigung des dichterischen Gesamtwerks kommt dieser Gruppe geringe Bedeutung zu. Zacharias T h ü m l i n g , Schuldiges Gratiai dem Ehrenvesten, Vorachtbaren und teutscher Poesie fleissig ergebenem Herrn Wolfgang Ferber (Zwickau 1650). Chr. Gottl. J ö e h e r , Allg. Gelehrtenlexikon II, (1750) Sp. 559 (Wolfg. Ferber). Karl B a c h l e r , Der Pr. Wolf gang Ferber der Ältere (1586-1657) u. s. Stellung in der dt. Lit.entwiddung, Diss. Breslau 1930. Von den übrigen nennenswerten Pr.n wissen wir nur wenig, da sich die Forschung bis heute mit ihnen noch kaum befaßt hat. Namentlich bekannt sind etwa noch Wenzel Braun, ein Kamerad W. Ferbers, Georg Schwarze, gleichfalls aus Zwickau, Johannes Kolb, Ulrich König, Sebastian Luther, Ulrich Erthel, Heinrich Gering, Christoff und Waldlaufer Staudinger, H. Lutz, G. Reutter, H. Weitenfelder. Von ihnen würde der eine oder andere sicherlich eine nähere Untersuchung verdienen: so etwa der Österreicher Hans Weitenfelder, geb. um die Mitte des 16. Jh.s, Seiler und Pr.: neben einem Lobgedicht auf das große Freischießen der „fürstlichen Stadt" Klagenfurt (1571) sind ein Lobspruch auf die Frauen, doch auch eine Satire auf ihre „Klappersucht" bemerkenswert: beide gehören zu den besten Erzeugnissen der humoristischen Lit. des 16. Jh.s; der Lobspruch wurde alsbald auch ins

Frits dimeister Nd. (Magdeburg) übertragen, zugleich als Volkslied gedruckt. Jos. Maria W a g n e r , Hans Weitenfelder. Serapeum 25 (1864) S. 310-315. § 5. Die literar. Gesamtleistung der Pr. muß man in erster Linie aus soziologischer und kulturhistorischer Sicht, nach Kunstverständnis und Lebensgefühl jener Zeit beurteilen, so wie sie selbst vielseitig und gleichzeitig als Dichter und Sprecher, Ansager, Festordner und öffentlicher Amtswalter, als lustige Unterhalter höfischer Gesellschaft wie breiter Volksmassen gewirkt haben. Gewiß, ihr dichterischer Stil ist, zumal bei durchschnittlichem Können, oft schablonenhaft wie weithin im damaligen Schrifttum, und neben der Würde gaukelt oft das Närrische. Doch bei den Könnern wird die Schablone durch individuelle Züge markanter, und der Humor treibt, wie selten in der Folge, frische Blüten. Das gilt im besonderen für die Reimturniere der Pr., die Edelbeck erwähnt, die mit alten Spaßen und lustigen Wendungen gespickt, als Tagesreimereien meist nicht erhalten sind, aber sicher als Augenblicksdichtung eine Tradition haben aus der ritterlichen Tumierzeit. Geschichtliche wie lokale Betrachtungen sind beliebt, beherrschend Pflege und Preis ererbter Tugenden und freundnachbarlicher Beziehungen, wie sie Fischart im Glückhaften Schiff noch einmal verherrlicht. Das Lob der Feststadt hält sich an die überkommene Art enkomiastischer Städtegedichte (s. d.), während bei höfischen Festen Geschichte und Ruhm des fürstlichen Hauses gepriesen werden. In der Form, in Aufbau und Metrik sind die Pritschgedichte einander recht ähnlich: gern greift man zu einer poetischen Einkleidung (etwa Traum oder Dialog) wie in der Herold- und Wappendichtung. Bei den fürstlichen Schießveranstaltungen werden die gemalten Wappen der adligen Teilnehmer, die in den dem jeweiligen Fürsten gewidmeten Prachthss. farbig ausgemalt sind, gern allegorisch ausgedeutet. Die Beschreibung der bürgerlichen Schützenfeste ist genau geregelt vom Aufmarsch der Schützen bis zur Preisverteilung, auch die Schilderung der Aufbauten (Schießhaus und -Ständer, Krambuden, Pritschbank u. a.). Die Sache bietet da wenig Raum für eigene Ausschmückung. Wie bezeichnend, daß die Pr. selbst ihr dichterisches Tun als Handwerk

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bezeichnen: „in Reime stellen". Ähnlich eng gezogen sind die Grenzen für die metrische Gestaltung: der Normalvers der Pritschdichtung ist der strenge, silbenzählende Knittel (Achtsilber bei stumpfem, Neun- bei klingendem Ausgang, paargereimt), weit verbreitet in der gesamten Lit. der Reformationszeit (Brant, Sachs, Murner, Fischart), oft geradezu „Pritschmeistervers" genannt. Der bei strenger Alternierung häufige Verstoß gegen den Wortakzent läßt sich bei schwebender Betonung mildem. Im Ausklang der Pr.-dichtung werden auch der fünfhebige (Blankvers) und seit W. Ferber (von 1626 an) der sechsfüßige Jambus (Alexandriner) verwendet, womit der Ubergang von der volkstümlichen zur gelehrten Dichtung sich vollzieht. § 6. Die Pr. stehen keineswegs isoliert im Rahmen der Lit. ihrer Zeit: schon ihre Doppelfunktion als Reimsprecher und Amtswalter bei bürgerlichen wie höfischen Festen mit jeweils verschiedener Tradition schützt sie vor Einseitigkeit ebenso wie ihre Verbindung zu der überkommenen Herold- und Wappendichtung. Die Pr.-dichtung der Hochblüte hat ihre Geltung so gefestigt, daß sich andere Gattungen wie die Fechtsprüche und auch der Meistersang an sie in der Form anschließen. Gewiß sind Pritscher und Meistersinger unterschiedliche Gestalter volkstümlicher Reimpflege, doch haben sie vieles gemeinsam. In Nürnberg, dem Vorort beider, glaubt auch Hans Sachs der Pritscherei in drei Gedichten huldigen zu müssen. Und als der Meistersang verfällt, sucht er sich noch an den pritschmeisterlichen Spruchsprechem zu stützen. Selbst bekannte Humanisten halten sich, was man beachten sollte, der Pritscherei nicht fern. So widmet der Straßburger Jacob Μ ο 1 s h e m, der sich M i c y l l u s nannte, als Hochschullehrer der griech. Lit. gefeiert, dem großen Heidelberger Schützenfest (1554) ein klassisches Festgedicht „Toxeuticon sive certamen sagittariorum" Und Nicodemus F r i s c h l i n tritt unter der Maske eines Pr.s der Braunschweigischen Schützengesellschaft (1589) auf, als er in dt. Reimen einen theologischen Gegner (Seb. Gobler) „verpritscht", also die Pritscherei zu lit. Fehde nutzt, wie das auch andre tun. Und F i s c h a r t rückt sein Glückhafft Schiff schon durch seine Überschrift nah an die

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Pritsdimeister—Prolog

Pritschgedichte heran und spielt in seinen Dichtungen wiederholt auf das Pritschen an, ζ. B. in der GeschichtklitteTung (Aisleben S. 6), wo er als Beispiel „kurtzweiligs Gespötts", das zu allen Zeiten bei allen Völkern üblich gewesen, auch das „Pritzenschlagen", an anderer Stelle (S. 83) unter „allerhand Hoffartbröcklin" das „Pritschenschlagerische Schellenröcklin" anführt. Auch in der klassischen Lit. tritt der Pr. noch auf: ζ. B. im Egmont (1, 1), bei Jean Paul im Siebenkäs (Schützenfest in Kuhschnappel). Abschließend sei noch auf die „Bilderbritscher" verwiesen, die, als auf den Märkten die Guckkasten aufkamen, ein buntes Bildgemisch von merkwürdigen Personen, Lokalitäten, Ereignissen etc. aushingen und ihre Erklärungen mit der Pritsche verdeutlichten (J. A. Schmeller, Bayr. Wb. I (2. Aufl.), S. 375). Ludwig U h l a n d , Zur Gesch.. der Freischießen, in: Fischart, Glückh. Schiff hrg. von Karl Hailing (Tübingen 1828), wiederh. in: Uhland, Schriften. Bd. 5 (1870) S. 293-321. August E d e l m a n n , Schützenwesen und. -feste der dt. Städte vom 13. bis 18. Jh. (1890). Eugen D i e d e r i c h s , Dt. Leben d. Vergangenheit in Bildern. Bd. 2 (1908), Abb. 1237. Theo R e i η t g e s, Ursprung u. Wesen d. spätmal. Schützengilden (1963). Gustav F r e y t a g , Bilder aus der dt. Vergangenheit. Bd. III, 2 (1924), Die Waffenfeste des Bürgers, S. 420 ff. Georg B a e s e c k e , Joh. Fischart 'Das glückhafte Schiff (1901; NDL. 182), Einl. S. XIVXXV. Wolfg. S t a m m l e r , Von der Mystik zum Barode, 1400-1600 (2. Aufl. 1950; Epochen d. dt. Lit. 11,1) S. 606 ff. Goedeke. Bd. 2 (1886) S. 325-328. Franz F u h s e , Der Pr. Ein altdt. Festordner im, Wandel der Zeiten. Braunschweiger Blätter 1936, S. 17-23 (mit Abbil-

dungen). Gustav Bebermeyer Prolog I. § 1. Eingangsrede, Vorrede, Vorspruch, Vorwort, Vorfabel, Vorauskündigung, nach dem griech. prologos und dem lat. prolögus. Es gibt allgemeine, Dramen- und Festp.e (s. II). Die Dramenp.e zerfallen in dramatische, reflektierende und erzählende P.e, die bereits Handlung sind oder in diese einführen, und P.e, die nichts mit der Handlung zu tun haben. Die Abgrenzung des in mehrere Szenen aufgeteilten dramatischen P.s vom Vorspiel (s. d.) ist oft schwierig. § 2. Der Begriff und das auch die Lit. des deutschen Sprachgebietes mitbestimmende Wesen werden in der Antike geprägt. Aristoteles vergleicht den P. in der Poesie mit

der Einleitung der Rede und bezeichnet als dramatischen P. den ersten Teil des Dramas, der dem Eintritt des Chores vorausgeht. Er soll Thespis, der in einem der ersten drei Jahre der Olympiade 536/5-533/2 v. Chr. als Leiter der großen Dionysien nach Athen berufen wurde, Erfinder des P.s genannt haben. Der Name P. taucht erstmals in den Fröschen des Aristophanes auf (405 v. Chr.): die durch Schauspieler dargestellten Tragiker Aischylos und Euripides definieren in einem Wettstreit den dramatischen Tragödienp. Der erste bekannte P. ist für die nicht erhaltene Tragödie des Phrynichos, Die Phoinissen (476 v. Chr.), verbürgt: Ein Eunuche, der den Raum für die Sitzung des persischen Kronrates vorbereitet, gibt Ort, Zeit, Situation und Vorgeschichte der Handlung an, indem er über die Niederlage des Xerxes bei Salamis berichtet. Die älteste erhaltene Tragödie des Aischylos, Die Perser (472 v. Chr.), hat keinen P. im aristotelischen Sinne, doch hat der in die Situation einführende und die Vorgeschichte erzählende Chor nach neuerer Auffassung P.charakter (A. W. Schlegel s. u.). Durch einen reich gegliederten P., bestehend aus einem Gespräch von Kratos und Hephaistos während der Fesselung und einem Monolog des gefesselten Prometheus, ist der ein paar Jahre jüngere Prometheus ausgezeichnet. In Sieben gegen Theben (467 v. Chr.) folgt auf zwei längere Reden des Eteokles und eines Boten das Gebet des Eteokles. Hochdramatisch ist der am Schluß das wechselnde Schicksal vorausverkündende P. des Wächters auf dem Dache im Agamemnon, stimmungsgeladen der P. des Orestes am Grabe seines Vaters in den Choephoren, äußerst bewegt der P. der Priesterin Apollons in den Eumeniden (458 v. Chr.). Ein „Prolog im Himmel" ging der verlorenen Psychostasie voraus. Die ähnlich aufgebauten P.e des Sophokles bestehen manchmal aus drei, die Erregung steigernden Szenen wie im König Oedipus (429 ν. Chr.) und Oedipus auf Kolonos (401 v. Chr.). Ein selbständiges, an eine Rahmenerzählung erinnerndes Vorspiel mit Einleitung, Beispiel und Moral ist der von Athene, Odysseus und Aias bestrittene P. des Aias (445-442 v. Chr.). Die P.e des Euripides beginnen meist mit längeren Monologen, denen selbständige Stellung und Funktion zukommt; sie werden deswegen

Prolog

als Prooemia, d. h. Eingänge bezeichnet. Die meist folgende Dialogszene, die zwar noch zum P. gehört, schließt sich mit dem parodos (Eingangsgesang des Chores) und dem ersten epeisodion (Dialogszene der Handlung) fast immer zum ersten Akt zusammen. In fünf Tragödien sprechen Hauptpersonen das exponierende Prooemium, wie in der Andromache (zwischen 430 und 415) und Iphigenie auf Tauris (nach 412), in fünf andern erscheinen Figuren, die später nicht mehr auftreten, wie der Schatten des Polydor in der Heka.be (zwischen 430 und 415) oder Götter wie Poseidon und Athene in den Troerinnen (415 v. Chr.), deren vollständig vom Klagemonolog Hekabes abgehobene Dialogszene zu einem geschlossenen Göttervorspiel wird. In der Mehrzahl sind Nebenpersonen Sprecher des Prooemiums wie die Amme in Medea (431 v. Chr.) oder der Landmann in der Elektra (406 v. Chr. oder später), dessen P. einen in bezug auf die Neugestaltung eines bereits behandelten Stoffes polemisch-antithetischen Charakter hat. Der P. des Hippolytos (428 v. Chr.) besteht aus nicht weniger als fünf Szenen und hat chorlyrische Einlagen: Monolog der Aphrodite, Einzug des Hippolytos mit einem eigenen, vom Hauptchor verschiedenen P.chor, Gebet des Hippolytos zu Artemis, Gespräch von Hippolytos und Diener, Gebet des Dieners zu Aphrodite. Der P. der Alkestis (438 v. Chr.) mit Monolog Apollons und Streitgespräch des Gottes mit dem später geprellten Totendämon Thanatos nimmt Goethes Prolog im Himmel (s. u.) vorweg. Gelegentlich werden die Zuschauer in Geheimnisse eingeweiht, welche den auftretenden Personen noch unbekannt sind, wie im P. der Bakchen (406 v. Chr. oder später), den Dionysos spricht. Im Ion (zwischen 415 und 410) erzählt der Götterbote Hermes nach Anführung der Genealogie, Selbstvorstellung und Nennung des Ortes weitschweifig Einzelszenen der Vorgeschichte, worin der Dichter sein gelehrtes Wissen ausbreitet und Geschehnisse begründet, und vergleicht dann nach knapper Exposition des Lebens des Helden und des Schicksals seiner Mutter das Kommende mit einem Spiel, welches sein Bruder inszeniert habe. An diesen ζ. T. bereits außerhalb der Illusion stehenden P.teil schließt sich der dramatisch-lyrische Monolog des Ion an.

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Die P.e der Satyrspiele sind durch idyllische und ländliche Motive charakterisiert und begründen das Auftreten der Satyroi in Geschehnissen, wo sie in der mythischen Tradition fehlen. Ausgesprochen statischmonologisch ist der P. des Kyklops des Euripides (um 440 v. Chr.), dramatisch jener der Ichneutai des Sophokles (um 445 v. Chr.). In der griech. Komödie lassen sich die ersten P.e bei Aristophanes nachweisen. Meistens finden wir zwei Sklaven im Gespräch miteinander wie in den Rittern (424 v. Chr.) oder Herr und Knecht unterwegs wie im Plutos (388 v. Chr.) oder eine Ehefrau allein oder in Gesellschaft wie in der Lysistrata (401 v. Chr.) oder einen biedern Landmann wie Dikaiopolis in den Acharnern (425 v. Chr.). Auf ein witziges, oft aber auch polemisches Gespräch, wobei sich der P.sprecher manchmal direkt an die Zuschauer wendet, folgt die Exposition. Auch die P.e des Aristophanes sind reich gegliedert und können sogar bis auf neun Szenen anwachsen wie im Frieden (421 v. Chr.). Menander beginnt oft mit einer oder mehreren P.szenen, die mitten in die Handlung hineinführen, klärt dann in einem Monolog eines Gottes die Zuschauer über innere Zusammenhänge der Handlung auf und weist auf die Zukunft hin. P.sprecher sind Allegorien oder Gottheiten wie Pan im Dyskolos (317/16 v. Chr.), der zuerst in direkter Anrede an die Phantasie der Zuschauer in bezug auf die Dekoration appelliert und am Schluß seiner Exposition das Publikum auffordert, nun selbst zu sehen. § 3. Im alten Rom, das Komödie und Tragödie als Kunstform von den Griechen übernimmt, erfordert die Rücksicht auf ein nicht vorbereitetes Publikum eine didaktische Form des P.s, wie wir sie zuerst bei den Komödien des Plautus (geb. zwischen 259 u. 251 gest. 184 v. Chr.) feststellen können, bestehend aus Unterhaltung zwischen Dichter und Publikum, Bitte um Ruhe, Captatio benevolentiae, Anpreisung von Stüde und Autor, sowie Quellennachweis. Exposition im griech. Sinne kann (Amphitruo u. a.), muß aber nicht hinzukommen. Neben Gottheiten wie Lar in der Aulularia und allegorischen Figuren wie Luxuria und Inopia im Trinumnus sprechen auch Schauspieler als solche P.e, wobei sie gelegentlich im lockeren Tone eines Conferenciers beginnen wie

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Prolog

im Poenulus. Der P. des Miles gloriosus setzt mit einem, den Charakter des bramarbasierenden Soldaten aufdeckenden Gespräch des Offiziers Pyropolinices mit seinem Parasiten Artotrogus ein, der später nicht mehr auftritt; im zweiten Teil kommt der Sklave Palaestrio aus dem Haus des Offiziers, unterhält sich zuerst wie ein an der Handlung ganz unbeteiligter Prologus mit dem Publikum, nennt erst spät den Titel des Stückes und gibt endlich die Exposition. In einer zweiten Gruppe von Komödien des Plautus stehen die P.e in gar keiner Beziehung zur Handlung, was vermutlich römische Erfindung ist: Der P.sprecher, gelegentlich der Schauspieldirektor, wird einfach 'prologus' genannt wie in der Asinaria. Bei den immer außerhalb der Handlung stehenden P.n des Terenz (geb. um 195, gest. 159 v. Chr.) ist an Stelle von Plautus' lockerem Tone eines Conferencier polemische Rhetorik getreten. Der P.sprecher der Andria ζ. B. betont die Notwendigkeit der literar. Polemik im P. und verteidigt den Dichter gegen Angriffe von Kollegen. Im Heautontimorumenos geht der literar. Polemik eine Captatio benevolentiae eines greisen Schauspielers für seine eigene Person voraus und folgt die Bitte um Ruhe und gütiges Anhören der Truppe nach. In den Adelphoe wird das Publikum als Schiedsrichter im liter. Streit aufgerufen und um geneigtes Gehör gebeten, damit der Dichter noch mehr Eifer zum Schreiben bekomme. Ein eigens zur dritten Aufführung eines bisher erfolglosen Stückes gedichteter P. findet sich in der erhaltenen Ausgabe der Hecyra, der vermutlich ältesten Komödie des Terenz: Der bekannte Schauspieldirektor Ambivius Turpio weist auf seine frühere Taktik hin, durchgefallene Werke wieder aufzuführen, um einen Dichter der Bühne zu erhalten; er erklärt dann die äußern Gründe, die zum vorzeitigen Abbruch der ersten beiden Aufführungen von Hecyra führten (Konkurrenz der Gladiatorenspiele u. a.), legt das Schicksal der dritten Aufführung in die Hand des Publikums und erbittet, nicht zuletzt im Hinblick auf seine eigenen Verdienste um die Bühne, dessen moralische Hilfe, damit der Dichter weiter für die Bühne schaffen könne. In den Tragödien des Seneca (4 v. Chr.-65 n. Chr.) ist der P. weder von der Handlung losgelöst, noch bringt er die eigentliche Exposition. Die von den

Hauptpersonen (Oedipus, Hekuba in den Troades) oder von den Schatten der Unterwelt gesprochenen Monologe (Thyestes im Agamemnon, Tantalus im Thyestes) dienen zur Aufpeitschung der Leidenschaften und zur Ausbreitung der Atmosphäre des Grauens und des Verbrechens. Senecas Eingangsmonolog ist dramatisch-theatralisch und zählt als erster der fünf Akte, wie ζ. B. in der Medea. Er kann von einer (Hercules furens) bis zu vier Szenen anwachsen (Hercules Oetaeus).

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§ 4. Ob die P.technik des antiken Dramas bereits das Schauspiel des MA.s beeinflußt hat, ist ungewiß. P.e können bei ähnlichen Voraussetzungen auch spontan entstehen, wie es das ältere asiatische Theater erweist; auch das indische Drama des 4. und 5. nachchristlichen Jh.s und das jüngere chinesische Schauspiel, deren reiche P.technik in der Neuzeit und Gegenwart für das europäische und amerikanische Theater anregend wirkt (s. u.), dürfte kaum in einem Zusammenhang mit der Antike stehen. Im europäischen MA. scheint die griech. Dramatik, abgesehen von einer Komödie Menanders, unbekannt gewesen zu sein. Senecas Tragödien werden erst im 14. Jh. der Vergessenheit entrissen. Der Italiener Albertino Mussato verfaßt 1315 nach dem Vorbild von Versmaß und Stil des römischen Dramati-

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kers die dramatisch-epische Tragödie Ecerinis, die mit der grauenvollen Enthüllung der Adelaide über die Zeugung ihrer Kinder durch den Teufel beginnt. Von Plautus sind immerhin 8 Komödien in drei Abschriften aus dem 11./12. Jh. bekannt. Terenz wird sehr oft gelesen, und seine Kommentatoren Donatus aus dem 4. und Eugraphius aus dem 6. Jh. tragen zur Bildung der mal. Rhetorik bei. Der St. Galler Mönch Notker Labeo (um 950-1022) kommentiert Terenz und übersetzt die Andria (Ms. verloren). Die Nonne Hrotswitha von Gandersheim (955nach 1000) schreibt nach dem Vorbild des röm. Dramatikers einen Anti-Terenz, eine Sammlung christlicher Lesedramen, worin sie an Stelle des P.s ein Vorwort an den Leser mit Hinweisen auf ihre Absicht und die Quellen schreibt und den einzelnen Stücken kurze Inhaltsangaben in der Art eines Index voranstellt. Die noch weniger dramatischen Elegienkomödien des Franzosen Vitalis von Blois aus dem 12. Jh. (Querolus und Geta nach Prosabearbeitungen der Aulularia und des Amphitruo des Plautus) lassen auf das 'Argumentum', d. h. eine kurze Inhaltsangabe, P.e folgen, in welchen der Autor seine persönlichen Anliegen vorbringt, während Wilhelm von Blois im P. der wohl nach einer Prosabearbeitung von Menanders Androgynes geschaffenen Alda nach der Quellenangabe seine Bearbeitung verteidigt. Im allgemeinen sind sich jedoch die Verfasser der Elegienkomödien der Funktion des P.s nicht mehr bewußt: die P.e werden zu abstrakten Abhandlungen, fußend auf der epischen Prooemium-Tradition, mit Entschuldigung schlechter Verse und anderen mal. Demutsformeln. § 5. Mit größter Wahrscheinlichkeit sind die Berührungen der P.e des volkstümlichen mal. Schauspiels mit der Antike nicht unmittelbare, sondern nur mittelbare. Ausgehend von Aristoteles, vor allem aber Cicero, dem großen römischen Redner des 1. vorchristlichen Jh.s und Verehrer des Terenz, sowie dem jüngeren Rhetor Quintiiianus (35um 100 n. Chr.), hat sich die mal. Rhetorik zunächst in der Gerichtsrede entwickelt, die in diesem 'Exordium' (d. h. Eingang) eine Captatio benevolentiae der Richter (Zuhörer) anstrebt, denen das Urteil zufällt, und zwar bestehend aus Würdigung der eigenen Person, Verächtlichmachung des

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Gegners und Appellation an das Urteilsvermögen der Zuhörer. Von hier gehen nicht nur Einflüsse auf den mal. Briefstil und die Predigt aus, in welcher der Priester zuerst für sich selbst und das gute Gelingen bittet oder Gott um Gnade anfleht, sondern auch auf die mal. Lit., wozu als offenbar mal. Zutat das 'Proverbium', d. h. Sprichwort, Sentenz, tritt, welches als allgemeine Lebenswahrheit an die Spitze gestellt wird. Konrad von Hirsau nennt in seinem Dialogus super auctores sive Didascalion (12. Jh.) als Einleitungen 'titulus' und 'prologus*, die sich darin unterschieden, daß der Titel den Autor kurz einführe, der P. den Hörer oder Leser geneigt mache, den Unterweisungen des Dichters zu folgen, und alles für das Verständnis des Werkes oder der Predigt Notwendige mitteile. Bei Magister Ludolf (13. Jh.) erscheinen 'proverbium', 'exordium' und 'prooemium' als verschiedene Namen für die Captatio benevolentiae. Während die mhd. Heldengedichte wie ζ. B. Die Rabenschlacht und Dietrichs Flucht von Heinrich dem Vogler (um 1275) oder Zeitgedichte wie jenes über Die Schlacht bei Göllheim (1275) sich mit kurzen formelhaften Aufforderungen zum Zuhören begnügen, hat die ritterliche Epik mehr oder weniger umfangreiche zweiteilige P.e, deren erster Teil das Gespräch mit den Hörem oder Lesem aufnimmt und deren zweiter Teil in die Dichtimg einführt, und manchmal auch Epiloge, die aus der Erzählung hinausführen. Das gilt schon für den altfranz. Theben-Roman, mit dem die ritterliche Dichtung einsetzt. Im deutschen Sprachgebiet finden wir größere P.e mit Bitte um Gehör, Quellennachweis, Inhaltsangabe und Hinweis auf den moralischen Nutzen für die Zuhörer oder Leser u. a. beim Alexander des Pfaffen Lamprecht (um 1130), dem Servatius des Heinrich von Veldeke (um 1170), dessen Eingang aus nicht weniger als 198 Versen besteht, ganz im Gegensatz zum knappen P. der lat. Vita des Heiligen. 176 Eingangsverse, auf die sich 47 Schlußverse beziehen, weist der Gregorius des Hartmann von Aue auf (vor 1196). In seinem Armen Heinrich entsprechen die ersten 5 Verse dem 'titulus', die folgenden 23 Verse dem 'prologus' Konrads von Hirsau, während die 4 die Hörer- oder Leserschaft vom Gedichte wegführenden Schlußverse kaum als Epilog anzusprechen sind. 30 Verse

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hat der Eingang seines Iwein (ebenfalls vor 1203), während ein Epilog fehlt. Ihren Höhepunkt erreicht die mal. P.tedinik im ΡατζϊυαΙ des Wolfram von Eschenbach (vor 12001210) nnd Tristan und Isolt des Gottfried von Straßburg (um 1210). Jener beginnt mit einem 'prologus praeter rem1 (Gesprächssituation, Kontaktnahme des Autors mit dem Hörer oder Leser) und schließt daran einen 'prologus ante rem' an, der in das Werk einführt. Dieser setzt mit Sentenzen ein und läßt auf die Vorgeschichte einen geschlossenen P. von nicht weniger als 244 Versen folgen, bevor die eigentliche Erzählung beginnt. 100 Eingangsverse haben die Metamorp/iosendichtung des Albrecht von Halberstadt aus dem 2. Jahrzehnt des 13. Jh.s und der Silvester des Konrad von Würzburg aus dem späteren 13. Jh. Zweifelsohne sind von hier Einflüsse auf das geistliche Volksschauspiel des MA.s ausgegangen. Das älteste Mysterienspiel in dt. Volkssprache, das der ritterlichen Dichtung nahestehende Osterspiel von Muri (um die Mitte des 13. Jh.s), dessen Anfang leider verlorenging, hatte vermutlich einen P., da ja direkte Ansprache ans Publikum auch in der Krämerszene vorkommt. § 6. Der P. im geistlichen Spiel ist zuerst Brücke zwischen Gemeinde und Gott. Ausgangspunkt des geistlichen P.sprechers ist vielleicht der Priester, der die Predigt hält. Als Keim eines P.s wird gelegentlich der 'sermo' oder die 'lectio' bezeichnet, die von einem Priester oder vom Chore gesungen oder den drei Marien in den Mund gelegt wird wie in der Engelberger Osterfeier (12. Jh.) und dem Klosterneuburger Osterspiel (Anfang des 13. Jh.s). Eigentliche P.e tauchen erst im geistlichen Schauspiel des SpätMA.s auf. Sie werden zumeist von besonderen P.sprechern (gelegentlich zwei) vorgetragen, die die verschiedensten Namen haben wie 'auszriefer' d. h. Ausrufer (Hl. Georg), 'de bode' d. h. der Bote (Trierer Theophilus), 'expositor ludi' d. h. Spielerklärer (Innsbrucker Osterspiel), 'praecursor' d. h. Vorläufer (Egerer Passion), 'prelocutor' d. h. Vorredner (Wolfenbüttler Sündenfall von Immessen), 'proclamator' d. h. Ausschreier (Augsburger Oster- und Passionsspiel), 'proclamator' und 'regens' d. h. Leiter (Alsfelder Passion), 'proclamators knedit' und 'proclamator' (Donaueschinger Passion),

'rector processionis' und 'rector ludi' d. h. Prozessions- und Spielleiter (Künzelsauer Fronleichnamsspiel), 'reigierer des spils' (Heidelberger Passion). Manchmal übernehmen auch Spielfiguren den P. wie Johannes (Bordesholmer Marienklage), Pilatus (Erlauer Osterspiel II), Lucifer (Wiener Passion), Theophilus (Helmstedter Theophilus). Den Kirchenvater Augustinus finden wir u. a. in der St. Galler Passion und in der Frankfurter Passion, Sophonias und Gregorius im Rheinauer Weltgerichtsspiel. Der Wirt eröffnet das Vordenberger Weihnachtsspiel und das Glazer Weihnachtsspiel. Beliebt als P.sprecher sind auch Engel (einer im Erlauer Dreikönigsspiel und Innsbrucker Mariae Himmelfahrtsspiel, zwei Engel im Redentiner Osterspiel und Innsbrucker Osterspiel, der Erzengel Gabriel im Reichenbacher Weihnachtsspiel). Im Reichenbacher Dreikönigsspiel hat der P. die Form eines Liedes. Die neutralen P.sprecher haben meist einen Stab als Attribut ihrer Würde und tragen in der Spätzeit vermehrt das weltliche Kostüm des Herolds, der als Eröffner mal. Turniere den P. des geistlichen Spiels mitbestimmt hat. Im Luzerner Osterspiel ist der Proclamator zu Pferde in voller Rüstung. Der bekannte Tiroler Autor und Spielleiter Vigil Raber stellt 1514 in Cavalese selber den 'praecursor' dar (Ludus de ascensione domini). Die mehr oder weniger formelhaften P.e des geistlichen Schauspiels beginnen mit der Begrüßung der Zuschauer, oft mit launiger Namensfiktion, der Bitte, Platz zu nehmen, zu schweigen und aufzuhorchen, der Aufforderung, dem biblischen Geschehen mit wachem Herzen zu folgen, einem Gebet, manchmal durch einen Aufruf zur Buße oder das Versprechen eines Ablasses (Künzelsauer Fronleichnamsspiel) ergänzt, der Inhaltsangabe und didaktischen Auslegung, gelegentlich auch mit Bezugnahme auf bühnentechnische Voraussetzungen. In seltenen Fällen dient der P. dem Autor zu einer Auseinandersetzung mit dem Publikum. P.e des geistlichen Schauspiels, die in Ton und Haltung Ähnlichkeit mit den Vorsprüchen des Fastnachtsspiels haben, wie das Erlauer Osterspiel und das Wiener Osterspiel, sind zweifelsohne von diesem beeinflußt worden. § 7. Urahne des P.sprechers der erst seit dem 14. und besonders seit dem 15. Jh. lite-

Prolog rar. erfaßbaren Fastnachtspiele ist der Anführer und Platzmacher der magisch-kultischen Maskenzüge, -tänze und primitiven Schauspiele. Die P.e des spätmal. Fastnachtspiels beginnen bei abendlichen Aufführungen im geschlossenen Raum mit der Begrüßung des Hauswirtes und humoristischer Entschuldigung wegen der nächtlichen Störung, sowie der Aufforderung, Nachbarn zu holen. Dann ersucht der P.sprecher um Ordnung und Raum, gibt eine ausführliche oder kurze Inhaltsangabe, die nur in ganz primitiven Stücken fehlt, fordert zur Aufmerksamkeit und zum Stillschweigen auf, bittet selten um Getränke, ersucht, allfällige Rohheiten entschuldigen zu wollen, warnt gelegentlich vor Taschendieben, droht Mißfallenskundgebungen mit Prügeln und entschuldigt etwaige Fehler der Spieler. Fast in allen bekannten Fastnachtspielen führt der P. mit notwendigster Exposition und kurzem Hinweis auf das Thema und die Hauptpersonen in die Handlung ein. Die P.sprecher heißen besonders häufig 'precursor', bisweilen audi 'proclamator', 'prolocutor' und 'exclamator' Älter sind vermutlich die dt. Namen 'einschreier', 'ausschreier', 'auszriefer', 'vorlaufer' und 'gewaltnär' In ungefähr der Hälfte der erhaltenen Fastnachtspiele, die bei Hofe oder am Gericht spielen, spricht ein 'herolt' den P., der gelegentlich aber auch in andern Stoffkreisen vorkommt. Im gedruckten Text des König Salomon und Markolf von Hans Folz (spätestens 1512) steht an Stelle des Herolds im Manuskript der Name 'Einschreyer' In dem Tiroler Spill von dem Totenkönig mit den dreien seinen sün heißt der P.sprecher 'precursor oder Herolt', im Rex Violae cum filia sua (1511) nur 'precursor' In nddt. Fastnachtspielen ist P.sprechende Respektsperson der 'puttel' d. h. Büttel. In einigen Fastnachtspielen spricht eine Person des Stückes den P. wie 'Gumprecht', 'Hansmist', 'der erst paur' oder auch nur 'der erst'. Vor allem in jüngeren Fastnachtspielen taucht der 'Narr' als P.sprecher auf. Selten wird der P. der Fastnachtspiele auf zwei Personen verteilt wie 'erst paur' und 'ander redner' oder 'ausschreier' und 'nachpaur', oder Narr und Herold in dem Spiel von dem herzogen von Burgund. Gelegentlich fehlt der P. Meist hat der P. von schwerfälliger Reimerei bei den Fastnachtspielen den volkstümlichen Ton des Spaßmachers. Das älteste

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erhaltene weltliche Spiel des deutschen Sprachgebietes hingegen, das St. Pauler Neidhartspiel (um 1350), kündigt ein 'proclamator' wie ein frommes Spiel an. Auch in der von 58 auf 2200 Versen angeschwollenen Fassung des 15. Jh.s verheißt der 'einschreier' emsthaft, der Finder des ersten Veilchens dürfe seiner Herrin dienen. Hennig B r i n k m a n n , Der P. im MA. als liter. Erscheinung. Bau u. Aussage. Wirk.Wort 14 (1964) S. 1-21. Theodor F r i n g s u. Gabriele S c h i e b , Heinrich von Veldeke. X. Der Eingang des 'Servatius'. PBB. 70 (1947) S. 1-50. Siegfried G r o s s e , Beginn u. Ende der erzählenden Dichtungen Hartmanns von Aue. PBB. 83 (Tüb. 1961) S. 137-166. Emst Friedrich O h l y , Der P. des 'St. Trudperter Hohenliedes'. ZfdA. 84 (1952/53) S. 198-232. Albrecht S c h ö n e , Zu Gottfrieds 'Tristan'Prolog. DVLG. 29 (1955) S. 447-474. Hans S c h r e i b e r , Studien zum P. in der mhd. Dichtung. Diss. Bonn 1935. Edward S c h r ö der, Vom P. deutscher Dichtungen im 13. Jh. ZfdA. 76 (1939) S. 301 f. Walter Johannes S c h r ö d e r , Der P. von Wolframs 'ParzivaV. ZfdA. 83 (1951/52) S. 130-143. Eckehard Catholy, Das Fastnachtspiel des SpätMA.s (1961, Schlagwort P. im allgem. Register S. 380). Wilhelm C r e i z e n a c h , Geschichte des neuem Dramas. I. MA. u. Frührenaissance (1893). Balwant G a r g i , Theater u. Tanz in Indien (1960) S. 24f. Carl H a g e m a n n , Geschichte des Theaterzettels. I. Das mal. Theater. Diss. Heidelberg 1900. Heinz K i n d e r mann, Theatergeschichte Europas. Bd. 1 (Salzburg 1957) S. 314, 406. Otto K o i s c h w i t z , Der Theaterherold im MA. u. in d. Reformationszeit (1926; GermSt. 46). Eva M a s o n - V e s t , P., Epilog und Zwischenrede im dt. Schauspiel des MA.s. Diss. Basel 1949. Otto S ρ a a r, P.u. Epilog im mal. englischen Drama. Diss. Gießen 1913. Dieter W u t t k e , Zum Fastnachtspiel des SpätMA.s. E. Auseinandersetzung mit Eckehard Catholys Buch. ZfdPh.84 (1965) S. 247-267. Ders., Die Druckfassung des Fastnachtspieles „Von König Salomon und Markolf" ZfdA. 94 (1965) S. 141170. Edwin Z e l l w e k e r , P. u. Epilog im dt. Drama (1906) 1. Das geistliche Drama bis zum Beginn der Reformation. 2. Das Fastnachtspiel um das Jahr 1500. § 8. In der Renaissance wird der antike Bühnenp. wiedergeboren. Auf das dt. Sprachgebiet wirken dabei vornehmlich italienische und niederländische Vorbilder ein. In Italien, wo im frühen 15. Jh. 12 weitere Komödien des Plautus und der Terenzkommentar des Aemilius Donatus entdeckt und im späten in Rom, Ferrara und Florenz zum ersten Mal seit der Antike wieder Tragödien des Seneca und Komödien des Plautus und Terenz gespielt werden, wird das Wissen um

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die antike Funktion des P.s wesentlich vertieft. In dem 1444 von Humanisten in Ferrara aufgeführten Dialog Isis von Francesco Ariosto ist 'Calliopius' (röm. Terenz-Kommentator aus dem 3. Jh.) P.- und Epilogsprecher; er empfiehlt zu Beginn das Werk, begrüßt die Zuschauer und gibt eine kurze Inhaltsangabe, wonach die Schauspieler den Dialog selber sprechen, und tritt erst wieder am Schluß auf. Als P.- und Epilogsprecher finden wir ihn auch in den Terenzdrudcen um die Wende des 15. zum 16. Jh. Auf den von röm. Aufführungen des Pomponius Laetus angeregten Holzschnitten der Lyoner Terenzausgabe (1493) trägt er, von einem um die Schultern drapierten phantastischen Mantel abgesehen, von Stück zu Stück wechselnde Tracht. Die ersten Wiederaufführungen von röm. Tragödien und Komödien geben Gelegenheit, neue P.e zu schreiben, wie es z.B. Sulpitius für die Darstellung des Hippolytos' von Seneca an der römischen Akademie von Pomponius Laetus tut (1486), oder Angelo Poliziano, der für eine Schulaufführung der Menaechmi des Plautus in Florenz (1488) einen literarisch-polemischen P. in der Art des Terenz verfaßt, in dem er in heftigster Weise die neulat. Komödien kritisiert und erbittert die Darsteller antiker Komödien gegen heuchlerische Klostergeistliche in Schutz nimmt. Nie fehlt der P. in der italienischen, der röm. Komödie nachempfundenen 'Commedia erudita', worin meist die P.technik des Terenz vorgezogen wird. Lodovico Ariosto tritt in seiner Cassaria (1508), deren P.e die Mitte zwischen Plautus und Terenz einhalten, selber als P.sprecher auf. Der reflektierende P. in Versen des Niccolo di Machiavelli zu seiner Mandragola (zwischen 1514 und 1519) hat autobiographische Züge. Ein selbständiges Vorspiel ist der P. der Calandria von Casentino Bibbiena (1513). In der Seneca nachempfundenen, 1541 in Ferrara aufgeführten Orbecche von Giovan Battista Giraldi-Cinthio, der ersten erfolgreichen Renaissancetragödie auf der Bühne, folgen auf einen besondern P.teil, in dem der Sprecher zart besaiteten Damen empfiehlt, im Hinblick auf die gleich beginnende grauenvolle Geschichte wieder nach Hause zu gehen, die Ansprache der Nemesis und der Monolog des Schattens von Orbecches Mutter. In der 1542 entstandenen, 1546 ge-

druckten Canäce des Sperone Speroni tritt in origineller Weise der Schatten des Kindes, das erst im Laufe der dargestellten Handlung geboren wird, als P.sprecher auf. In einem später hinzugefügten zweiten P. erscheint die Göttin Venus und begründet die unnatürliche Geschwisterliebe als göttliche Rache wie Aphrodite im Hippolytos des Euripides die verbotene Liebe Phädras zu ihrem Stiefsohn. In den Pastoralen sind vornehmlich Gottheiten oder mythologische und allegorische Figuren Sprecher des Arguments wie Merkur im Orfeo des Poliziani (1472), Venus in der Aminta des Tasso (1573), der Fluß Alfeo im Pastor fido des Guarini (1585). Der Schauspieler-Dichter Angelo Beolco Ruzzante verwandelt den P. in seiner Vaccaria nach der Asinaria des Plautus (1533) und Anconitana in ein in bezug auf Sprache und Mimik komödiantisches Bravourstück. In der Commedia dell'Arte beschränkt sich der P. auf Begrüßung des Publikums und Captatio benevolentiae. § 9. Martin Dorpus, seit 1504 Lehrer an der Lilien-Burse der Universität Leiden, verfaßt 1509 anläßlich der Wiederaufführung der Aulularia und des Miles gloriosus des Plautus zusätzliche P.e, worin er sidi stolz als „Plautina simia" bezeichnet und gegen Neider und Murrköpfe ausfallend wird. Guilielmus Gnaphäus beginnt in seinem Acolastus 1529, der ersten geglückten antikisierenden Darstellung eines biblischen Stoffes (Parabel vom Verlorenen Sohne), mit dem Argumentum. Georgius Macropedius ersetzt in seinem 1538 in Utrecht gespielten Hecastus (Jedermann) den üblichen P. durch eine breit angelegte Exposition. P.charakter mit Charakterisierung einer Hauptperson hat das Selbstgespräch des Dieners Nago in der 1535 in Amsterdam uraufgeführten Comoedia sacra cui titulus Joseph des Cornelius Crocus. Die mit den halbgelehrten dt. Meistersingern verwandten ndl. 'Rederijker' lassen in ihren über ein aufgegebenes Thema gedichteten „Speelen van Sinne" Allegorien von Lastern, sog. 'Sinneken', P.e aufsagen, setzen gelegentlich aber auch besondere P.sprecher in langen Kleidern und lorbeerbekränzt ein. § 10. Im dt. Sprachgebiet schreibt der elsäss. Humanist Jakob Wimpheling (14501528) für seinen lat. Festdialog zur Verteidi-

Prolog gung des Studiums einen besonderen P. Die 1501 in Tübingen vorgetragene Comoedia velpotiusdialogusde optimo studio scholasticorum von Heinrich Bebel beginnt mit einer Anrede 'ad spectatores' in Hexametern. Der P. des Ludus Dianae von Konrad Celtis, der im selben Jahre im Schloß von Linz dem Kaiser und der Kaiserin vorgespielt wird, ist eine Rede in Senaren zur Einführung der Diana. In dem vom Autor Jakob Locher selbst gesprochenen P. des Spectaculum de judicio Paridis, das Studenten 1502 an der Universität Ingolstadt aufführen, werden in einem vorangestellten Argumentum die Göttinnen Juno, Pallas und Venus als Personifikationen des tätigen, beschaulichen und genießenden Lebens erklärt. In dem 1515 zum Fürstenkongreß in Wien von Schülern des Schottengymnasiums aufgeführten Humanistenspiel von Wollust und Tugend, Voluptatis cum virtute disceptatio des Benedictas Cheldonius, folgen auf ein Vorwort an die Zuschauer in lat. Prosa ("ad spectatores praefatio') Lobpreisung des Studiums und Bitte um Aufmerksamkeit für das Argumentum in lat. Versen; sodann verkündet der 'preco' (Herold) in dt. Versen die folgende 'kurzweiP, erzählt den Inhalt des 1. Aktes und fordert Frau Venus auf, hervorzutreten und lateinisch zu sprechen. Der P. der am Ende des 15. Jh.s entstandenen, wegen Spötteleien gegen die unwissenden Mönche nicht zur Aufführung gekommenen, satirischen Humanistenkomödie Sergius des Johannes Reuchlin begründet die sprachliche Form in Trimetern, die Beschränkung auf 3 Akte und den Verzicht auf lüsterne Dirnen und ängstlich besorgte Greise. Melanchthon schreibt für die 1525/26 an seiner Schola privata aufgeführten Komödien Miles gloriosus des Plautus und Eunuchus, Andria und Phormio des Terenz liebenswürdig-heitere P.e, in denen es aber auch nicht an Seitenhieben auf falsche Sittenrichter und heuchlerische Theologen fehlt. Er verfaßt ebenfalls zusätzliche P.e für die von seinen Schülern zur selben Zeit gespielten Tragödien Hecuba von Euripides und Thyestes von Seneca. In den neulat. Humanistenkomödien des dt. Sprachgebietes sind die P.e gegenüber den antiken Vorbildern erweitert, um die erzieherischen Momente des Vorwurfs in ein besonderes Licht zu rücken. In dem 1538 gedruckten polemisch-protestantischen Pam-

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machius von Thomas Naogeorgus verschmelzen P. und Argument. Die 1545 von dem neunzehnjährigen Christopherus Stymmelius vollendete, 1549 gedruckte neulat. Studentenkomödie Studentes läßt auf eine Captatio benevolentiae in Versen und eine längere Anrede an die Konsuln und Senatoren von Frankfurt an der Oder in Prosa einen P. in Versen folgen, in dem der Autor auf die Schwierigkeit hinweist, es allen recht zu machen, die Moral des ihm nahegelegten Themas des guten und bösen Studenten erklärt, sowie den Inhalt angibt. Immer mehr werden im lat. Schultheater P.e und Argumente in dt. Sprache abgefaßt, je mehr die Vorstellungen vor einer breitem Öffentlichkeit stattfinden, bis es mit der Zeit zu ganz deutschen Spieltexten kommt. In der Parabel vom verlorenen Sohn des Burkhard Waldis (1527) spricht ein 'Actor' d. h. Darsteller die 'Vorrhede' von 198 Versen; dann steht ein Kind auf und verliest das Evangelium; nach 22 weitem Versen des 'Actors' mit der Bitte, den schlichten, mit Terenz und Plautus so wenig übereinstimmenden Stil entschuldigen zu wollen, ertönt der Lobgesang 'Nun bitten wir den heiigen Geist'. Um 1530 wird in Leipzig die Hecyra des Terenz in der Ubersetzung von Muschler aufgeführt, noch vor 1534 in Halle die Aulularia des Plautus in der Übersetzung von Joachim Greff und die Andria in jener von Heinrich Ham. Zu beiden letzteren Komödien verfaßt Greff zusätzliche P.e, die von dem Narren Morio gesprochen werden. Dieser weist zwar auf seine Unersetzlichkeit im Spiel hin, erinnert aber in ganz humorloser Weise an das Beispiel der Vorfahren, die mit ihren geistlichen Spielen ebenfalls eine sittliche Wirkung erzielen wollten, spielt ebenso auf die Zuchtlosigkeit der Gegenwart und ihre Folgen an und fordert bessere Erziehung der Kinder. In einer 1535 anonym in Magdeburg erschienenen Susanna ist ein Teil des P.s gesprochene Dekoration nach der Art der ital. Komödie. In Greffs Fastnachtspiel Mundus (1537), das die alte Fabel von Vater, Sohn und Esel dramatisiert, entschuldigt sich der Narr Morio für sein ungebetenes Erscheinen, bittet um Erlaubnis, die übrigen hereinrufen zu dürfen, und zählt dann die handelnden Personen auf, was wieder ganz an die P.technik des älteren Fastnachtspiels erinnert. Während auch die 'vorrede' Paul Rebhuhns

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zu seiner Hochzeit zu Cana (1538) und der P. in Jaspar von Genneps Homultis (1539) ungeteilt sind, ist der P. von Hans Ackermanns Verlorenem Sohn (1536) zweigeteilt: im ersten Teil werden der Spielzweck zum Lob Gottes und zum Gefallen der Obrigkeit betont, die Quelle angegeben und auf die Lehren des Gleichnisses hingewiesen; nach der Captatio benevolentiae tritt ein Knabe auf und spricht als zweiten P.teil das Argument. Originelle Züge-haben die P.e von Johannes Krüger, der als Zweck des Spiels die Unterweisung der Jugend in der Gebärdenkunst anführt (Lazarus 1543), und von Johannes Chryseus, der nach der Inhaltsangabe den Spöttern und Tadlem rät, selber ein Stüde zu schreiben (Human 1546). Der 1540-1553 als Schulmeister am Schottengymnasium in Wien wirkende Wolfgang Schmeltzl beruft sich im P. seiner comedia des verlorenen sons (1540) auf die antiken Spiele. Zweigeteilt in 'vorred' und 'argument' ist auch sein P. zur aussendung der zwelffpoten. In seiner Hochzeit Cana Galilee werden 'vorred', in der Schmeltzl die Aufführung als praktisches Beispiel für die jungen Mädchen und Gesellen bezeichnet, die heiraten wollen, und 'jnnhalt' genannt. In der hystoria von dem jüngling David sind 'vorred' und 'jnnhalt' in einem besonders frommen, vom 'precursor' gesprochenen P. mit Hinweis auf Gottes Strafen, die Türkenkriege, Pest und Mißemte, verschmolzen. Im P. seines letzten Dramas Samuel und Saul (1551) wendet sich Schmeltzl zuerst an den siegreich aus dem Felde zurückgekehrten Kaiser. Johannes Baumgart gibt im P. seines gericht Salomonis (1561) eine genaue Übersicht über die verschiedenen Arten von Schulaufführungen: lateinische Aktion vor dem Schulherrn in der Schule, deutsche vor dem Rat im Rathaus und allgemeine für jedermann unter freiem Himmel. Einen ganz umfangreichen historischen Exkurs über den Ursprung und die Geschichte des türkischen Volkes enthält der P. der tragoedia von den dreyzehn türkisdien fürsten des Paul Pantzer (1595). § 11. Im schweizerischen Volksschauspiel, das im 16. Jh. noch näher beim MA. steht (Fastnachtspiele, Bibeldramen, Stücke mit antiken und nationalen Stoffen) tritt immerhin zur mal. P.-technik oft die antike hinzu. Der erste Herold des alten Tellspiels (1512) gibt in der röm. Geschichte von Sextus und

Lucretia ein Teilvorbild, der zweite erzählt die Völkerwanderung und damit die Herkunft der Urschweizer, der dritte stellt in einem kirchlichen und staatlichen Bilde die Geschichte des MA.s dar. Pamphilius Gengenbach läßt in seinem Fastnachtspiel Die zehn Alter dieser Welt (1515) den „Einsiedel" eine 'vorred' von 70 Versen sprecian, in welcher die Darstellung in freier Form begründet wird: Preis von Gottes Güte als Schöpfer und Erlöser, Sorge um die immer üppiger gedeihende Sünde, Bitte an die Zuschauer, aufzumerken, wie jedes Alter sich halten werde. Die 85 Verse der 'vorred' zu Gengenbachs Gouchmatt d. h. Narrenwiese (1516) spricht der Narr, der in mindestens 36 schweizerischen Spielen Vorredner und im Gegensatz zu dem, oft mit ihm zusammen auftretenden, steifzeremoniellen Herold durch mimische Ausgelassenheit gekennzeichnet ist. In den 102 Versen des P.s zum Nollhart (1517) wettert Gengenbach gegen die Laster, nennt als seine Quelle das Buch Nollhart (1488), das er zur Besserung der Zuschauer und zum Trost der Christenheit vollendet habe, und warnt vor Strafe und Untergang der Heimat. In dem Verlorenen Sohn des Hans Salat (1537) leitet der Knecht des Proclamators das Gebet ein und kündigt den Proclamator an, der die Quelle angibt, sich gegen allfällige Kritik wehrt, den Inhalt kurz andeutet, zur tatkräftigen Nachfolge Christi auffordert und um Aufmerksamkeit für das folgende Argument von 93 Versen bittet, die ein Evangelist spricht. In der Lucretia des Heinrich Bullinger (1533) weist ein 'herolt' auf das Beispiel des Seneca hin, der gegen die Ausschreitungen der Spiele eifert, und gibt nach dem Schweigegebot die Quelle an; hernach verliest ein 'schryber' die Fabel nach Livius, worauf der Herold den Zweck der Aufführung bekannt macht. Im Zorobabel von Sixt Birk (1539) betont der 'emholt' die Bedeutung einer zu Gott geführten Obrigkeit für die Erhaltung der göttlichen Ehre, wofür es in der Schrift viele Beispiele gebe, und charakterisiert nach der Quellenangabe die Hauptperson des Darius. In Jakob Ruofs Parabelspiel Von des Herrn Weingarten (1539) beginnt ein, auf das Ungewohnte seines Auftretens hinweisender 'junger knab' mit Stab und Schild den P., den der Herold in gewohnter Weise fortsetzt. In seinem Spiel vom tool oder übel-

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stand eyner löblichen eydgnossenschaft (1542) spricht der Herold nicht weniger als 144 Verse lang über Schweizer Verhältnisse. Der P. seines Tellspiels (1545) ist aufgeteilt in die Vorrede des "erst herold' und Ansprache mit Mitteilung der Vorfabel durch ein Knäblein. In Hans von Rütes Joseph (1538) verteidigt der Herold das Unternehmen, ein Theaterstück zu schreiben, mit der Berufung auf alten Spielbraudi, betont nach der Quellenangabe, daß sich die Personen des Spiels nicht auf anwesende Zuschauer beziehen, und appelliert an die äußere Aufmerksamkeit des Publikums. Am zweiten Spieltag erinnert der Herold an das bisher Vorgefallene, vergleicht Joseph mit Christus und Frau Potiphar mit der Welt und bittet wieder um Ruhe. In seinem Noe (1546) fordert der Teufel die Zuschauer auf, sich nicht still zu halten, zu schwatzen und zu schreien und sich unzüchtig zu gebärden, und verspricht ihnen dafür seine Hilfe; dann erst tritt der Herold hervor, umschreibt in vielen Versen die Schwierigkeit, es allen recht zu machen, weist auf den alten Spielbrauch hin, gibt eine theoretische Erklärung der besondern Form und betont den Spielzweck, die Jugend zu üben, die Laster zu zeigen und die Menschen für das Jüngste Gericht vorzubereiten, worauf das Argument folgt. Einen P. hat auch das, dem tafelnden Noah von Knaben vorgeführte kleine Festspiel. In seinem Kurtzen Osterspiel nach der Offenbarung des Johannes (1552) nennt er den ersten Teil des P.s, in dem der 'erst herold' dem Publikum für das Erscheinen dankt, den Spielgrund zu Ehren der Obrigkeit hervorhebt, die Quelle angibt und zum Schweigen auffordert, 'Prohoemium' (!), den zweiten vom 'ander herolt' gesprochenen Teil wie üblich 'Argument'. Im Weinspiel von Hans Rudolf Manuel (1548) treten nicht weniger als drei Narren im P. auf, die insgesamt 132 Verse sprechen. In der Tragoedia Johannes des Täufers von Johannes Aal (1549) hat der P., in dem ein ausgelassener Narr, der Herold (Quellen- und Inhaltsangabe) und Calliopius (s. o.) als Ausleger der Schrift auftreten, nicht weniger als 335 Verse. Im Abraham von Hermann Aberer (1562) fallen Begrüßung, Schweigegebot und kurze Inhaltsangabe einem vierstimmigen Chorlied zu, wonach der Herold das Argumentum des 1. Aktes spricht. Das Römerdrama Appius und

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Virginia (1591) leiten nicht weniger als je zwei Narren, Herolde und Teufel ein. In der Comedia von zweien jungen Eheleuten von Tobias Stimmer (1580), der einzigen wirklichen Renaissancekomödie der Schweiz, tritt der 'Schalknarr' an die Rampe, verbeugt sich, entschuldigt mit der Fastnacht sein Erscheinen, betont, daß er kein grober Narr sei und mit einem feinen Scherz aufwarte, und ruft die Spieler herein, von denen ein jeder in langsamem Vorüberschreiten an der Rampe die Zuschauer begrüßt. § 12. Bei den Meistersingerdramen des an Plautus und Terenz geschulten Hans Sachs (1494-1576) können zwei Gruppen von formelhaften P.n unterschieden werden. In der ersten größeren Gruppe finden wir bei 70 Tragödien und Komödien Anrede ans Publikum, Quellennachweis, Inhaltsangabe und Schweigegebot, das bei 23 andern Stücken fehlt, in der zweiten kleineren Gruppe bei 17 Stücken keine Quellenangabe, bei vier auch kein Schweigegebot. Anrede, Schweigegebot, Inhaltsangabe und zweites Schweigegebot enthält der P. des Fürst Concretus. Im ersten Vers des P.s der bulerin Thais steht an Stelle der Anrede ein Hinweis auf Terenz. Zwei weitere Stücke, comedia, dass Christus der Messias sei und Waldbruder, haben überhaupt keine P.e. P.sprecher ist im allgemeinen der 'ernholt' d. h. Herold, dessen Tracht aus dem Alltäglichen herausfällt. Ausnahmen sind der Cherub (Schöpfung), Narr (Juno und Jupiter), Herr Lamprecht, der Träger der Hauptrolle (Alt reich burger). In der einen Hälfte der Fastnachtspiele fehlt der P., in der andern ist P.sprecher meist die erste auftretende Person, und nur in Fällen, wo er sich anstandslos in den Rahmen der Stücke fügt, der Herold. Zwei Stücke, zweyer philosophen disputation und L. Papitius Cursor, zeigen die P.art der Tragödien mit Quellenangabe, gesprochen von dem 'Minister, diener' bzw. dem 'Ernholt'. § 13. Im Barock hat zwar nicht mehr jedes Stück einen P., aber dieser behauptet sich immer noch. Gesungene P.e eröffnen die ersten ital. Opern wie Euridice von Jacopo Peri (1600), worin nach einer Trompetenfanfare die allegorische Figur der 'Tragödie' den Inhalt in kurzen Versen skizziert, II Rapimento di Cefalo von Giulio Caccini (1600) mit Apollo und den neun Musen in einer prächtigen P.-Dekoration oder Dafne von

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Marc Antonio Galliano (1608) mit Ovid als P.sänger. Erst in der venezianischen Oper wird seit Mitte des 17. Jh.s der P. weggelassen. Auch im ital. Schauspiel geht die Bedeutung des P.s mehr oder weniger verloren. Carlo Goldoni verwendet den P. nur ganz ausnahmsweise, um sich gegen Angriffe zu verteidigen, wie in der Schalkhaften Witwe (1748). In Spanien hingegen lebt der P., audi 'introito' genannt, noch im 18. Jh. fort. Im 17.Jh., dem 'Goldenen Zeitalter', folgt in den 'Corrales' (Vorstellungen von Berufsschauspielem in Höfen) auf die zu Beginn gesungene Romanze ein von einer allegorischen Figur gesprochener P. wie ζ. B. von der auf zwei Rädern hereinrollenden Fortuna. Lope de Vega (1562-1635) schreibt zahlreiche P.e in Dialogen, worin sich ζ. B. die allegorische Figur 'Theater' mit dem Dichter unterhält. Calderon (1600-1681) macht aus dem P. einen integrierenden Bestandteil seiner Dramen. Auch tritt er mit zahlreichen 'loas' d. h. Lobpreisungen hervor, die im 17. Jh. äußerst beliebt sind, wie Lobpreisungen Gottes in den 'autos sacramentales', des Königs in den 'fiestas reales' und Lobpreisungen von Schauspieltruppen. In Frankreich dichtet Pierre Corneille einen Huldigungs-P. in freien Versen für seine Maschinenkomödie Andromede (1650), den die hoch über einem Gebirge durch die Wolken ziehende Melpomene an Ludwig XIV. richtet. Aus fünf Szenen mit mythologischen Gestalten aus Himmel, Erde und Meer besteht der Huldigungs-P. seines, alle Maschinenkünste spielen lassenden Festspiels zur Hochzeit Ludwig XIV., La Toison d'Or (1660). Jean Racine läßt in seiner Esther (1689) die allegorische Figur der 'Frömmigkeit' ein den König verherrlichendes Gebet sprechen. In ihren klassischen Tragödien jedoch verzichten beide Dichter auf P.e. MoIi6re läßt sich für sein erstes 'Comedieballet', Les Fächeux (1661), von Pellisson einen P. schreiben und verfaßt selber P.e für die folgenden: La Princesse d'Elide (1664), UAmour medecin (1665), Monsieur de Pourceaugnac (1669), Les Amants magnifiques (1670), Le Malade imaginaire (1674), der bei der Uraufführung mit einem szenischen P. (Elogue en musique et en danse) eröffnet wird, später oft mit einer einfacheren P.-Variante, sowie das 'Tragedie-ballet': Psyche (1671). Von seinen klassischen Ko-

mödien hat nur Amphitryon (1668) einen P., mit einem auf die Liebe Ludwigs XIV. zu Madame Maintenon anspielenden Gespräch von Merkur und der Nacht. Von der Handlung losgelöste Lobpreisungen des Königs sind die P.e der franz. Opern von Jean-Baptiste Lully wie ζ. B. Alceste (1676), die audi seine Nachfolger bis zu ihrer Abschaffung im Jahre 1748 einfügen. § 14. Besonders beliebt bleiben die P.e vom späten 16. bis gegen Ende des 18. Jh.s in England. Das Lustspiel Campaspe von John Lyly (1583/84) hat zwei P.e und Epiloge, je einen kürzeren für die Darstellung bei Hofe und einen längeren für die öffentliche Aufführung. Im Eingang der Spanischen Komödie von Thomas Kyd (1586) erzählt der Geist Andreas von seiner Liebe zu Belimpera, die er durch seinen Tod im Kampfe mit Portugal verlor, und seinem Aufenthalt im Hades, bis die 'Rache' erscheint und ihm (und den Zuschauem) verkündet, daß er gleich sehen werde, wie seine Geliebte dem Räuber seines Lebens den Tod geben werde. In der Tragischen Geschichte des Doktor Faustus von Christopher Marlowe (1589) übernimmt ein Chor P. und Epilog. Einen P. hat auch die bürgerliche Komödie Feiertag eines Schuhmachers von Thomas Dekker (1599), einen kurzen P. und Epilog die bürgerliche Tragödie Ein Weib mit Güte getötet von Thomas Heywood (1603). Ben Jonson entdeckt wieder die Bedeutung des P.s als polemisches Instrument: In Everyman out of his humour (1598) treten 'Zusdiauer' auf, denen der Dichter seine Forderung einer den klassischen Regeln folgenden sozialkritischen Komödie an Stelle des sprunghaften Szenenaufbaus populär-romantischer Werke in den Mund legt. Im Eingang seines Römerdramas The Poetaster (1601) wird der 'Neid' von einem bewaffneten 'Prologue' angegriffen, der u. a. die Wahl des röm. Stoffes verteidigt. In seinem Volpone informiert nach kurzem Argument der P. die Zuschauer über die Absichten des Dichters. In seinem Bartholomäus-Markt (1614) hat auch das auf einen kurzen begrüßenden P. folgende längere Vorspiel von Theaterdiener, Souffleur und Schreiber P.charakter. Zwei P.sprecher, die das Pro und Contra des Werkes glossieren, hat seine Schweigsame Frau (1632). In der gesellschaftskritischen Handwerkerkomödie Der

Prolog Ritter vom brennenden Stössel von Beaumont und Fletcher (1607/8) stellt der P.spredber ebenfalls zur Debatte, ob man dem Hofe nahestehende romantische Dramen oder bürgerliche Stücke spielen solle, wie es der vom Zuschauerraum mit seiner Frau und seinem Lehrling auf die Bühne kommende Krämer verlangt. William Shakespeare (1564-1616) setzt in verhältnismäßig wenigen Dramen P.e ein. Parodierenden Charakter haben sie natürlich in den Spielen im Spiel des Sommernaditstraum und des Hamlet. Durchaus ernst gemeint sind sie in Romeo und Julia und Troilus und Cressida (Exposition und Captatio benevolentiae), Heinrich IV. Zweiter Teil (Erweckung der Atmosphäre des Grauens durch das ganz mit Zungen bemalte 'Gerücht'), Heinrich V. ('Chorus', der die Dekoration spricht, an die Phantasie, aber auch an den Patriotismus der Zuschauer appelliert), Heinrich VIII. (P., der betont, daß die Geschichte wahr sei und die Zuschauer auffordert, die Spielpersonen mit solchem Emst anzusehen, als wenn sie lebten). 1630 bis 1640 sind die meist in Versen geschriebenen engl. P.e selbständige Kompositionen, denen sich bei schwer verständlichen Texten das Argument anschließt. In der Restauration beginnt jede Vorstellung nach zwei Musikstücken mit einem anspielungsreichen, oft auch das Publikum kritisierenden P., der von einer Haupt- oder Nebenperson des Spiels gesprochen wird. P.e und Epiloge haben ζ. B. die Gesellschaftskomödie Die Frau vom Lande von William Wicherly (1675) und die Tragödie Das gerettete Venedig von Thomas Otway (1682). Die P.e und Epiloge von John Dryden (16311700) werden oft einzeln gedruckt und an die Zuschauer verkauft. Im Spätbarock lassen sich engl. Autoren manchmal von noch berühmteren Dichtern P.e schreiben, die Stück und Autor anpreisen und gelegentlich auch die literarische oder theatralische Situation beleuchten. Lord Lyttleton verfaßt den P. zu der nach dem Tode des Dichters aufgeführten Tragödie Coriolanus von James Thomson (1748). Noch im spätem 18. Jh. haben fast alle gedruckten engl. Komödien und Tragödien P.e und Epiloge. Der berühmte Schauspieler, Theaterdirektor und Dramatiker David Garrick (1717-1779) verfaßt nicht nur P.e für seine eigenen Komödien, sondern auch für andere. Reallexikon III

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§ 15. Im dt. Sprachgebiet haben die Eingänge der auf der Tradition des humanistischen Schul theaters weiterbauenden barocken Jesuitendramen P.charakter, ob man sie nun 'Prologi' oder 'Praeludia' d. h. Vorspiele nennt. Sie dienen wie die Zwischenspiele (s. d.) und Epiloge dazu, durch meist allegorische Figuren die in den Heiligen und Helden dargestellte religiöse und sittliche Wahrheit zu verdeutlichen. Jakob Masen (16061681) hält in seiner Theorie des Dramas den P. für unentbehrlich. Bereits in dem 1602 uraufgeführten und besonders häufig nachgespielten Cenodoxus des Jacob Bidermann finden wir ein Gespräch von 'Gleißnerei' und drei Teufeln. In dem stummen 'Vorspiel' eines Xaverus-Orama. zur Jahrhundertfeier des Einzuges der Jesuiten in Wien (1651) will der 'Prologus' angesichts der in Dunkelheit liegenden, nur von Blitzen erhellten Bühne und der beängstigenden Bilder auf dem Zwischenvorhang fliehen und hält erst ein, als dieser sich öffnet und ein heiteres Bild enthüllt. Das Festspiel Zelus sive Franciscus Xaverus des Nicolaus Avancini (1640) eröffnet ein Chorus der Völker des Ostens beim Klange von Pauken und Trommeln, während der Morgenstern aufsteigt; dann erscheint unerwartet Hesperus (der Abendstern) und verkündet, daß die Sonne heute im Westen aufgehe: Xaverus, die Sonne Indiens. Das erste seiner 'Ludi Caesarii', d. h. Kaiserspiele, die dem Hofe und dem ganzen Volke vorgeführt wurden, die Pietas victrix, sive Flavius Constantinus Magnus de Maxentio Tyranno Victor (1653), wird mit einem allegorischen 'Praeludium' eröffnet. Der 'Prologus' zu seiner Fides conjugalis (1667) nimmt die Fabel von der ehelichen Treue in einem allegorischen Vorspiel mit Vulcanus, Fides conjugalis, Hymen, Amores, Discordia mit Ira und Furores voraus. Ein aus drei Szenen bestehender 'Prologus' kündigt die Spielhandlung an im Divus Othmarus von Athanasius Gugger (1608-1660) am Sdiultheater der Benediktiner in St. Gallen (1660); 'Neid' und 'Rache', aber auch der böse Viktor und als Hauptsprecher die Heiligen Gallus und Florinus treten darin auf; ein Engelschor im Himmel zeigt am Schluß des P.s an, daß durch die Verdienste und Fürbitte der Heiligen die Welt und die Gerechtigkeit noch nicht vernichtet seien, während sich unten auf der Bühne ein Bär tummelt. 18

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P.e mit allegorischen Szenen eröffnen die, antike Stoffe gestaltenden Dramen von Simon Rettenbacher (1634-1706) am Akademietheater der Benediktiner in Salzburg. Der P. der Komödie Castro Domini Exercitium (1674) von Norbert Theuerkauf (1637-1683) im Zisterzienserkloster Heiligenkreuz bei Wien besteht aus einem, vor dem Janustempel geführten Streitgespräch der eroberungssüchtigen 'ambitio' d. h. Ehrgeiz, des 'Achilles Austriae' und des 'Mars Alemanniae', die Deutschland gegen die unbilligen Vorstöße des 'Ehrgeizes' verteidigen. § 16. Vom lat. Ordenstheater wird das dt.sprachige Volksschauspiel beeinflußt. Im Bruder Klaus von Johannes Mahler (um 1615) kommen die drei ersten Eidgenossen nach einem Vorredner und einem allegorischen, die Zukunft der Schweiz voraussagenden Gespräch zwischen dem Engel Cherubin, dem Teufel Zwietracht und der 'Zeit' auf die Bühne. Der 'Prologus' des Bacqueville-Spiels von Kaspar Abyberg (1645) erzählt, nach Anrufung der Dreifaltigkeit und Begrüßung der Gäste nadi Stand und Rang, die Legende nicht in der folgenden dramatischen Gestalt, sondern wie sie in den alten Büchern steht; im 'Vorspiel' nehmen 'Individia' und 'Fortuna' den Kampf um die Seele Bacquevilles auf. Im Bilderspiel vom Aufstieg und drohenden Untergang der Schweiz, Eydgenössisches Contrafeth auff- und abnehmender jungfrauen Helvetiae, von Johann Kaspar Weissenbach (1672) begrüßt der 'Prologus' die Zuschauer und weist sie auf die Vergänglichkeit der Welt hin; dann deutet er 'Phoebus', der auf der Oberbühne mit Einigkeit, Gerechtigkeit und Vorsichtigkeit auf der einen und Hoffnung, Glaube und Liebe auf der andern Seite erschienen ist, als Schöpfung der Unbeständigkeit und vergleicht ihn mit Helvetia; dieser zeigt jedoch auf seine Begleiterinnen, welche den Untergang der Sonne des Glücks verhinderten. In dem 'Trauer-Freuden-Spiel' Die erbärmliche Belagerung und der erfreuliche Entsatz der Kayserlichen Residenz-Stadt Wien von Johann Matthäus Lüther (1683) hält „Das Romische Reich/in Gestalt eines mit TrauerFlor umhüllten Weibs-Person in der rechten Hand ein Zepter/auf welchem eine erblichene Sonne zu sehen", den P. In der ältesten bekannten Fassung des Oberammergauer Passionsspiels (1662) tritt ein 'Prolo-

gus' auf, 1680 gefolgt von Sathan, der einen Brief Luzifers vorliest. 1748 zeigt ein Genius durch seine Vorrede den Inhalt an. In der Fassung von 1750 erklärt ein Schutzgeist den Endzweck der ganzen Aktion und erscheinen Luzifer, Tod und Sünde, welche den Kampf gegen Christus beginnen, in jener von 1811 rezitiert der Schutzgeist seine kurze Ankündigimg und singt eine Arie, der sich ein Chor der Genien anschließt. In der 1850 erstmals aufgeführten Bearbeitung von Alois Daisenberger tritt der P.sprecher erst nach dem Chor auf, der das erste lebende Bild beschreibt. Gesungen wird der P. in der Comedy vom jüngsten Gericht in Altenmarkt (1755, 1764, 1781). Das Spiel vom jüngsten Gericht in Laas im Südtirol (1805) wird mit einer Art 'Prolog im Himmel' eröffnet, in dem der erzürnte Gottvater nur knapp besänftigt wird. § 17. Die in Deutschland im späten 16. Jh. erstmals auftretenden engl. Komödianten (s. d.) eröffnen ihre Vorstellungen vermutlich mit dem niederländisch sprechenden oder deutsch radebrechenden Clown, der nachweislich die Pausen überbrückt. Jedenfalls finden wir in 10 Stücken des Opus theatricum von Jakob Ayrer (1618) den nach engl. Vorbild (Johan Clant, Johan Bouset) geschaffenen Jahn Clam oder Jan Posset als P.sprecher. Von seinen dreißig Komödien und Tragödien haben nur 2 keine P.e. 12 Dramen zeigen die P.form des Hans Sachs mit Begrüßung, Quellenangabe, Inhaltsskizze und Schweigegebot. Bei vier weitern Stücken fehlt das Schweigegebot, die übrigen Dramen geben keine Quellen an. Die Inhaltsangabe ist selten so ausführlich wie bei Hans Sachs. Die Comedi von dem getreuen Ramo, dess Soldans von Babilonien Sohn beginnt mit einem humoristischen P. der drei Teufel Lucifer, Sathanas und Asmotheus. In der Comedia von der schönen Sidea treten der Postbote Ruprecht mit einem Brief, der die Exposition gibt, der Bauer Rollus und Jahn Molitor als P.sprecher auf. Vorfabel und Schweigegebot enthält der P. des Jahn Clam in der Comedia vom König Edioardt dem Dritten diss Namens, König von Engelland. Im P. des Spiegel weiblicher zucht und ehr treten die Göttin Venus und Cupido auf. In der Comedia Julius Redivivus aus Nicodemus Frischlino nennt eingangs der Bauer Dramo die lärmenden Zuschauer Tölpel und kün-

Prolog digt vornehme Leute an, die er einerseits für Götter, andererseits für Teufel hält, worauf zuerst Mercurius mit seinem Szepter und dann Pluto mit Krone und Gabel auftreten. In 12 Dramen, darunter den 5 Römerdramen, spricht der 'Ehmholt' den P., in andern sind es Personen der dramatischen Handlung. Von den 36 Fastnachtspielen sind 17 ohne P. und Epilog, 4 haben nur einen P. in der Art des Hans Sachs, den der Narr spricht, 15 nur einen Epilog. Von den 11 Dramen des Herzogs Heinrich Julius von Braunschweig, der 1592 englische Komödianten an seinen Hof beruft und sich als Dramatiker von Thomas Sackville beraten läßt, haben, jedenfalls in der Drudeausgabe (1593/94), nur 3 P.e mit Begrüßung, Schweigegebot und Inhaltsangabe: Susanna I und II, sowie Tragoedia Hibeldeha von einem buler und einer bulerin. Nur aus 4 Zeilen bestehen Argument und Bitte um Aufmerksamkeit in Von einem, ungeratenen Sohn. 2 der ursprünglich prologlosen Stücke (Von der ehebredierin und Vincentio Ladislao) bekommen bei spätem Aufführungen außerhalb von Hofkreisen P.e, weil das Volk eine nähere Aufklärung benötigt. Martin Opitz bearbeitet Senecas Trojanerinnen (1625) und übernimmt in seinem Libretto für die Dafne von Heinrich Schütz (1627) nach ital. Vorbild Ovid als'Vorredner'. Angeregt von einer dt. Bearbeitung des Handwerkerspiels in Shakespeares Sommernachtstraum schreibt Andreas Gryphius seine Absurda Comica oder Herr Peter Squenz (1665) als Satire auf das Spiel unbefugter Laien und verspottet auch die konventionelle volkstümliche Form des P.s. In seinen übrigen Werken hält er noch an den einleitenden Reden fest. Der Eingangsmonolog seiner Tragödie Der sterbende Aemilius Paulus Papinianus (1659) erinnert in seiner, die Atmosphäre des Grauens erweckenden Art an einen P. Senecas. Bei den dt. Wandertruppen bleiben P.e und Epiloge bis ins späte 18. Jh. hinein beliebt: Ein Sprecher begrüßt die Zuschauer zu Beginn und führt sie ein und verkündet am Schluß das Programm des nächsten Tages und bittet um freundlichen Beifall. Sophie Charlotte Schröder verfaßt in den fünfziger und sechziger Jahren des 18. Jh.s für die berühmte Gesellschaft ihres Gatten Konrad Emst Adeermann meist selber P.e, wie ζ. B. einen Schäferp., und Epiloge. Carl

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Friedrich Cramer hält sich noch 1776 in seiner Schrift Über den Prolog darüber auf, daß die Theaterdichter und Schauspieler mit ihren P.n um die Gunst des Publikums buhlen, und fordert eine Bezugnahme des P.s auf das aufgeführte Werk. § 18. Im 7. Stüde seiner Hamburgischen Dramaturgie (1767) lobt Lessing hingegen die Verwendung des literarisch-polemischen, außerhalb der Handlung stehenden P.s bei den Engländern und wünscht, daß auch „bei uns neue Originalstücke nicht ganz ohne Einführung und Empfehlung an das Publikum gebracht würden" Er stellt die P.e Drydens über dessen Dramen und übersetzt den P. zu Thomsons Coriolanus. Im 48. Stück verteidigt er die P.technik des Euripides, der dem Publikum gleich zu Beginn die äußern und innem Zusammenhänge aufdecke und die Katastrophe voraus verkünde, gegen den Franzosen Franpois Hedelin (D'Aubignac: Pratique du theätre, Paris 1657). In seinen eigenen Dramen verzichtet er auf P.e, und nicht einmal sein einaktiges Lustspiel Der Schatz nach dem Trinumnus des Plautus hat einen P. In dem auf Goethe und seinen Werther anspielenden Prometheus, Deukalion und seine Recensenten von Heinrich Leopold Wagner (1775) tritt ein Hanswurst, der Straßburger Dialekt spricht, als Prologus und Epilogus auf. Der Prolog des Epimetheus im Festspiel Pandora von Goethe (1807/8) macht kurz mit der Kindheit und Jugend des Helden bekannt. Der Eingang der endgültigen Fassung des Faust I (1808) mit Zueignung, Vorspiel auf dem Theater (angeregt durch den P. des altindischen Dramas Der Ring der Sakuntala) und Prolog im Himmel kann als dreigeteilter P. bezeichnet werden. Einen eigenen, über das Schauspiel Der Krieg von Carlo Goldoni reflektierenden P. dichtet Goethe für die Aufführung vom 15. Oktober 1793 in Weimar, einen andern, in dem Christiane Becker-Neumann über ihre Rolle des Jakob reflektiert, für das Lustspiel Alte und neue Zeit von Iffland, einen Epilog zum Trauerspiel Graf Essex von Thomas Corneille und einen, von einem 'Meistersinger' vorgetragenen P. zum Hans Sachs von Johann Ludwig Deinhardstein (Berlin 1822). Auch tritt er bei Feiern mit P.n (s. II), Vorspielen und Epilogen hervor. Friedrich Schiller nennt in seinen Briefen vom 18. und 21. September 1798 an Goethe Wallensteins 18'

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Lager, das doch ein längeres selbständiges Vorspiel ist, selber P. und läßt diesen Ausdrude auch für das Vorspiel der Jungfrau von Orleans (1801) in der Drudeausgabe stehen. Einen echten P. von 139 Versen dichtet er für die Uraufführung von Wallensteins Lager (Weimar 1798). Goethe schreibt dazu: „Herr Vohs hielt ihn, in dem Kostüm, in welchem er künftig als Piccolomini erscheinen wird; er war hier gleichsam ein geistiger Vorläufer von sich selbst und ein Vorredner in doppeltem Sinne." Schiller nimmt tatsächlich nicht nur auf die Wiedereröffnung der Schaubühne in Weimar Bezug (s. II), sondern umreißt den Charakter Wallensteins. P.charakter hat die exponierende Ansprache der Fürstin Isabella an die Ältesten der Stadt in der Braut von Messina (1803). § 19. Eine größere Bedeutung bekommen P. und Epilog in der Romantik, wobei neben der Antike vor allem das dt. Fastnachtspiel und die engl. Dramatiker der Shakespearezeit anregend wirken. Einen P. von 26 Versen hat schon die erste Märchenkomödie von Ludwig Tieck, Ritter Blaubart (1796). Im Gestiefelten Kater (1797) setzt Tieck einen längeren P. und Epilog mit Gesprächen im Zuschauerraum und auf der Bühne als illusionsstörendes Element ein. In seiner Komödie Die verkehrte Welt tauscht er aus dem gleichen Grunde P. und Epilog aus. In seinem Trauerspiel Leben und Tod der Heiligen Genoveva (1799) tritt der Geist des Hl. Bonifatius mit Schwert und Palmenzweig als P.sprecher auf, stellt sich selber vor, berichtet von seinem irdischen Wirken und der Verehrung nach seinem Tode, bedauert die schwindende Frömmigkeit und gibt dann den Inhalt des Stückes an. Ein langer P. mit einem Aufzug von Kriegern, Schäfern und Schäferinnen, dem Dichter, einem Liebenden, einer Pilgerin, einem Ritter, einem Hirtenmädchen, zwei Reisenden, einem Küster und. der, von andern allegorischen Figuren begleiteten 'Romanze' zu Pferde geht seinem Kaiser Oktavianus (1804) voran. Ludwig Achim von Arnim dichtet für sein 'Schattenspiel' Das Loch oder das wieder gefundene Paradies (1813) einen 'Prolog des Schattendichters', der das Publikum ironisiert. Im P. seiner 'dramatischen Erzählung in drei Handlungen', die 1667 in Ragusa spielt, Marino Caboga, treten der Historiker Johannes Müller und der Geograph Anton Friedrich Bü-

sching vom Bücherschrank herunter und geben eine geschichtliche und geographische Beschreibung Ragusas aus ihren Werken. Das 'Pilgerabenteuer' Jerusalem (1813) eröffnet die als 'Die ernste Erscheinung' bezeichnete Vision mit kurzem Dialog von Christi Tode am Kreuze in Wolken und Nebeln. Die 'Erste Periode' der nachgelassenen episch-dramatischen Päpstin Johanna beginnt mit einer Erzählung, dem die Vorgeschichte aufdeckenden und in die Zukunft weisenden Monolog der Melancholia mit einem schlafenden Kind auf dem Arm und dem Selbstgespräch Luzifers. August Wilhelm Schlegel läßt in Ein schön kurzweilig Fastnachtspiel vom alten und neuen Jahrhundert. Tragirt am ersten Januarii im Jahr 1801 den Herold 46 P.- und 17 Epilogverse sprechen. Realismus und Naturalismus verbannen den P. als illusionsstörendes Element, so daß es in dieser Zeit, von den Aufführungen von Goethes Faust I abgesehen, nur noch Festp.e gibt (s. II). Gustav Freytag stellt in seiner Technik des Dramas (1863) fest: „Bei uns ist die Einleitung wieder in die rechte Stelle getreten, sie ist mit dramatischer Bewegung erfüllt und ein organischer Teil im Bau des Dramas geworden." Er lehnt nicht nur den P. als 'Ansprache des Dichters' ab, sondern hält auch die 'Vorspiele' von Goethe, Schiller und Kleist als 'Ablösung der Eröffnungsszene' für bedenklich. Ludwig Achim v. Arnim, Sämtl. Werke. Hg. v. Wilh. Grimm. Bd. 6 (1840) S. Iff., Bd. 15 (1846) S. 319 f., Bd. 16 (1846) S. 249 f., 398 ff., Bd. 19 (1846) S. 3-20, 150 ff. Jakob Ayr er, Dramen. Hg. v. Adalbert v. Keller. 5 Bde (1865; BibLitV. 76/80). Hubert Becher, Die geistige Entwicklungsgeschichte d. Jesuitendramas. DVLG. 19 (1941) S. 269-302. Berditold B i s c h o f , Jakob Bidermann's 'Joannes Calybita' (1818). Textgeschichtliche Untersuchung (Luzem 1932; Schriften der Ges. f. schweizer Theaterkultur 3) S. 49, 52-56, 100 f. Johann Aug. B i s c h o f , Athanas Gugger, 1608-1669, u. die theatergeschichtl. Bedeutung d. Klosters St. Gallen im Zeitalter d. Barock (St. Gallen 1934) S. 53 f., 71 f. G. S. B. [d. i. George Spencer B o w e r ] , Α Study of the Prologue and Epilogue in Engl. Literature from Shakespeare to Dryden (London 1884). Emst C a s p a r y . P . u. Epilog in d. Dramen d. Hans Sachs. (Masch.) Diss. Greifswald 1920. Wilh. C r e i z e n a c h , Die Schauspiele d. engl. Komödianten (1889; DNL. 23). Herbert Eichhorn, Konrad Ernst Ackermann u. d. Ackermannische Gesellschaft deutscher Schauspieler (Masch.) Diss. Berlin (FU) 1957, S. 57,

Prolog 208, 329, 330, 332, 335, 336, 337, 339, 340. Ferdinand F e 1 d i g 1, Denkmäler d. Oberammergauer Passionslit. (1922) S. I l l f., 113 f., 116, 121 f., 148 f., 280 f. Oskar E b e r l e, Theatergeschichte d. inneren Schweiz (1929; Königsberger dt. Fsdign. 5) S. 73, 81, 89, 94 f., 98, 102, 104, 109, 118 f., 135, 150, 156, 160, 168, 169, 177, 179. Gustav F r e y t a g, Die Technik d. Dramas (12. Aufl. 1912) S. 103. Joh. Wolfgang v. G o e t h e , Gedenkausg. d. Werke, Briefe, Gespräche. Hg. v. Emst Beutler. Bd. 3 (1948) S. 662, 664 f., 666-669, 675-689, 819 f., 821, 822; Bd. 5 (1951) S. 9-14, 141-152, 701, 835; Bd. 6 (1954) S. 102 f., 406 f., 444, 895 ff., 1214-1218; Bd. 14 (1950) S. 17 f., 36; Bd. 15 (1953) S. 297 f.; Bd. 21 (1951) S. 1176. Α. T. G r i f f i t h , A Collection of English Prologues and Epilogues from Shakespeare to Garrick. 4 Bde (London 1779). Max H e r r m a n n , Forschungen ζ. dt. Theatergeschichte d. MA.s u. d. Ren. (1914) S. 4043, 284 ff„ 305 (Abb. 32), 322 (Abb. 42), 345, 407-409, 471-474, 483-485. Helmut Η i r t h e , Entwicklung d. P.s u. Epilogs im frühengl. Drama. Diss. Gießen 1928. Heinz K i n d e r m a n n , Theatergeschichte Europas. Bd. 2-5 (1959-1962) Stichwort 'Ρ' Mary Etta Knapp, Prologues and epilogues of the eigtheenth century (New Haven 1961; Yale stud, in Engl. 149). Eva Maria K r a m p l a , P. u. Epilog vom engl. Mysterienspiel bis zu Shakespeare. Sinn, Zweck u. geschichtl. Darstellung. (Masch.) Diss. Wien 1957. 'Loa', in: Enciclopedia Universal Illustrada. Bd. 30 (1931) S. 1224 f. Dieter M e h l , The Elizabethean Dumb show. The History of a Dramatic Convention (London 1965). Robert P e t s c h , Wesen u. Formen d. Dramas (1945; DVLG., Buchr. 29) S. 365-369. Arthur Ρ ο u gin, Dictionnaire historique et pittoresque (Paris 1885), Artikel 'Prologue', S. 622 f. «Prologoin: Enciclopedia dello Spettacolo. Bd. 8 (1961) Sp. 525-534. Ingo R ö s e c k e , Drydens P.e u. Epiloge. Diss. Hamburg 1938. Otto R o m m e l , Die Alt-Wiener Volkskomödie (Wien 1952) S. 83-88, 126, 132. Η. S c h a u e r , P., in: Reallex. 1. Aufl. Bd. 2, (1926/28) S. 725-727. Aug. Wilh. S c h l e g e l , Poet. Werke. Bd. 2 (1811) S. 77 f., 256 f. Leopold S c h m i d t , Das dt. Volksschauspiel (1962) S. 266, 306. Ernst Leopold S t a h l , Shakespeare u. d. dt. Theater (1947) S. 18 ff., 26 f., 627 f. Heinz W y s s , Der Narr im schweizer. Drama d. 16. Jh.s (Bern 1959; SprDchtg. NF. 4) S. 53-78, 148-157. Edwin Z e l l w e k e r , P. u. Epilog im dt. Drama (1906), 3: Das Schauspiel d. Reformationszeit, 4: Das Drama Hans Sachsens, Herzog Julius' υ. Braunschweig u. Jakob Ayrers. § 20. Eine Renaissance des P.s auf internationaler Basis bahnt sich seit der letzten Jh.wende an, wobei sich Einflüsse der Antike (Neuklassik), des MA.s und der Renaissance (Wiedergeburt des Mysterien- und Fastnaditspiels), der Shakespearezeit und

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der Romantik (Neuromantik) bemerkbar machen, aber auch vom asiatischen Theater (modernes episches Drama). Früheste Ansätze zeigen sich im franz. Symbolismus der 90er Jahre. In der ersten Inszenierung eines symbolistischen Dramas, La fille aux mains coupSes von Pierre Quillard, einem Schüler von Stephane Mallarme (Theatre d'Art 1891), steht eine Rezitierende in langer, blauer Tunica vor dem mit Gaze bespannten Rühnenrahmen und erläutert vor und während des eigentlichen Spiels Ort und Handlung. Wie ein die fatalistische Stimmung des Werkes aufdeckender P. wirkt die Eingangsszene der Mägde am Schloßtor, die erst im letzten Rild als eine Art Chor wieder erscheinen, in Pelleas und Melisande von Maurice Maeterlinck (1893, Erstaufführung in dt. Sprache Rerlin 1898, dt. Ausg. 1902). Im Versdrama Broceliande von Jean Lorrain (1897) beginnt ein Gaukler in einem gotischen Zimmer die Erzählung, worauf sich der Zwischenvorhang öffnet und die Handlung im Wald von Broceliande gespielt wird. Andre Gide bezeichnet den die Vorgeschichte streifenden Eingangsmonolog des Gyges in seinem König Candaules (1897, dt. 1905) selber als P. Einen szenischen P. hat die dritte Fassung der Verkündigung von Paul Claudel (1912, dt. 1913). In seinem Opus mirandum' Der seidene Schuh (19171919, dt. 1939), der formal vom altchines. Drama mitbestimmt wurde, tritt ein grotesker P.sprecher auf, der den Ort der Handlung angibt und die erste Szene mit dem havarierten Schiff und den auf ihm befindlichen Personen beschreibt, um dann die Zuschauer um Ruhe und Aufmerksamkeit zu bitten. In seinem Buch von Christoph Columbus (1929) zieht in einer militärischen Prozession ein Ansager auf, gefolgt von einem Chor, der sich bald in szenischer Unordnung auflöst, dann wieder auf bestimmtem Platze aufstellt, während die Musiker ihre Instrumente vorbereiten. Nachdem der kommandierende General „Silentium" gerufen hat, schlägt der Ansager das Ruch auf und liest, im 2. Bild bittet er Gott um Erleuchtung und Gnade, im 3. Bild zeigt eine Filmprojektion die Erschaffung der Welt beim Gesang des Chores und eines Solo; erst im 4. Bild tritt, vom Ansager angekündigt und beschrieben, Columbus stumm auf. Die Geschichte von Tobias und Sara (1938,

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dt. 1953) beginnt mit zwei erläuternden Chören, welche die Dekoration sprechen; in der 2. Szene des Eingangs berichten drei Erzähler die biblische Geschichte, unterstützt vom Chor, bis Anna auftritt und zornig die Erzähler von der Bühne stößt. Im Spiel von der Teufelsbrücke des Henri Gheon (1925, dt. 1928) kommt der Spielleiter auf die Vorbühne, verkündet die unbeschränkte Herrschaft der Frau Phantasie und spricht, nur mit Stäben, Pfählen und blauem Tuch nachhelfend, die Dekoration. Im P. des surrealistischen Schwankes Die Brüste des Teiresias von Guillaume Apollinaire (1928) begrüßt der Direktor bei geschlossenem Vorhang das Publikum, persifliert den Krieg und appelliert an die Franzosen, wieder mehr Kinder in die Welt zu setzen. Im Orpheus von Jean Cocteau (1927) erklärt der Darsteller der Hauptrolle vor dem Vorhang, daß der P. nicht vom Dichter, sondern von ihm selber sei, und bittet das Publikum, mit der Bekundung seines Mißfallens bis zum Ende der Vorstellung zu warten, da sie sehr hoch und ohne Sicherheitsnetz spielten und der geringste Lärm seine Kameraden zu Tode bringen könnte. Sprechchöre, Rezitierender und Rezitierende eröffnen den Raub der Lucretia von Andre Obey (1932). In der Antigone von Jean Anouilh (1942, dt. 1949) sitzen zu Beginn die Schauspieler plaudernd und strickend auf der Bühne, werden von einem Sprecher vorgestellt, der auch eine Einführung in die Handlung gibt, und verlassen dann die Bühne, um sich für den ersten Auftritt vorzubereiten. Ein P. des ' J e m a n d in Grau' kündigt in einem leeren grauen Gemache das russische Mysterienspiel Das Leben des Menschen von Leonid Ν. Andrejew an (1906, dt. 1907) und interpretiert es auf nihilistische Weise. Ein szenischer P. führt in die Atmosphäre der ungarischen Vorstadtlegende Liliom von Ferencz Molnar ein (1909, dt. 1912) und charakterisiert die Hauptperson. In dem span. Stüde Die frohe Stadt des Leichtsinns von Benavente Jacinto (1916, dt. 1919) beschreibt Crispin eingangs das Los der Fahrenden in guten und bösen Tagen und bittet das Publikum für die nachfolgende Farce um nachsichtige Teilnahme. Einen die Wahl des Themas entschuldigenden Vorspruch des Dichters, dessen Rede immer wieder von der noch unsichtbaren Hauptperson unter-

brochen wird, weist Die wundersame Schustersfrau von Federico Garcia Lorca (1930) auf. Im angelsächsischen Sprachgebiet berichten in der Jakobsleiter von Laurence Housman zwei Chorsprecher den Inhalt. P. und Epilog umrahmen die Romance von Edward Sheldon (1912) und das Schauspiel Der große Gott Brown von Eugene O'Neill (1926). Im Schlafwagen Pegasus und in Unsere kleine Stadt von Thornton Wilder (1938, Erstaufführung in dt. Sprache 1939 am Schauspielhaus Zürich) spricht der Spielleiter die Dekoration und klärt die Situation auf. In Wir sind noch einmal davongekommen (1942, Erstaufführung in dt. Sprache 1944 am Schauspielhaus Zürich) meldet ein unsichtbarer Ansager mit Projektionen und Worten, daß der Weltuntergang nicht stattgefunden habe, und führt dann die amerikanische Familie Antrobus im Bilde vor. Mit einer Szene 'Vor dem Schauspiel' beginnt Die Nacht wird kommen von Emlyn Williams (1935, Erstaufführung in dt. Sprache am Schauspielhaus Zürich 1939). Im Eingang des kultisch-chorischen Festspiels Mord im Dom von Thomas St. Eliot (1937, Erstaufführung in dt. Sprache am Stadttheater Basel 1939) wird in Chor der Frauen von Canterbury und in Wechselrede der drei Priester die politische Spannung zwischen König Heinrich II. und Erzbischof Thomas Becket enthüllt und die Atmosphäre kommenden Unheils heraufbeschworen. In der Glasmenagerie von Tennessee Williams (1944, dt. 1946) ist eine der Hauptfiguren, Tom Wingfield, zugleich Ansager des 'Spiels der Erinnerung'. Sein Camino real (1953, dt. 1954) beginnt mit einem P. P.e haben auch Johanna aus Lothringen von Maxwell Anderson (1947) und Das Zeitalter der Angst von Wystan Hugh Auden (1948). Die Quelle von Robert Jeffers (1950/51, dt. 1960) erweist durch einen durch das ganze Spiel gehenden Sprecher, der zu Beginn die triumphierende Heimkehr des Siegers Agamemnon verkündet, ihre epische Struktur. Eine Art P. hat endlich das Schauspiel Unter dem Milchwald von Dylan Morlais Thomas (1953, dt. 1954). § 21. Im dt. Sprachgebiet eröffnet ein Prologue im Erzengelgewand und schließt ein Epilogus den ersten Teil Die frohe Botschaft des Mysteriums vom Leben und Leiden des

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Heilands Ein Osterfestspiel in drei Tagewerken nach volkstümlichen Überlieferungen von Richard Kralik (1895); im zweiten Teil Die Passion singt ein Trauerchor den P. und weist im Epilog auf Die Auferstehung am kommenden Tage hin. Josef Viktor Widmann beginnt seine episch-dramatische Maikäferkomödie (1897) mit einer einführenden 'Vorrede im Hoftheater der Maikäfer' und stellt den drei Handlungen P.e voraus. Hugo von Hofmannsthal gibt im reflektierenden Eingangsmonolog des Claudio in seinem Totentanzspiel Der Tor und der Tod (1893, Uraufführung 1910) die Grundstimmung der Todesnähe wieder. Im Tod des Tizian (1892) spricht ein Page den P., im Mysterienspiel Das kleine Welttheater (1903) der Dichter in einem dunklen Mantel. In seiner Alkestis nach Euripides (1894, erschienen 1911) übernimmt er das Streitgespräch Apollos mit dem Tode, das hier eine Stimme ankündigt. Einen P. schreibt er auch für das Zwischenspiel Der weiße Fächer (1897). P.charakter hat das Gespräch der Dienerinnen in Elektra (1903), welches die Heldin charakterisiert und die Stimmung des Grauens erweckt. Im Jedermann, dem 'Spiel vom Sterben des reichen Mannes, erneuert nach dem mal. engl. Legendenspiel Everyman (1911, Uraufführung im Zirkus Schumann in Berlin 1912, seit 1920 fester Bestandteil der Salzburger Festspiele), spricht Gott den P., in dem er seinen Zorn über die Abkehr des Menschen ausdrückt und dem Tode befiehlt, Jedermann mit seinem 'Rechenbuch' vor seinen Thron zu bringen. Im Scherzspiel Schluck und Jau von Gerhart Hauptmann (1900) bedauert ein Jäger, daß die Jagdzeit zu Ende gegangen sei, und kündigt als Überraschung für die Gäste des letzten Abends ein 'derbes Stücklein' an. In seinem Breslauer Festspiel in deutschen Reimen (1913) spricht zuerst der 'Dichter des Welttheaters' als Magier mit dem Zauberstab; dann gesellt sich der Jüngling Philistades zu ihm, nimmt Requisiten und Puppen aus seinem Ranzen und präsentiert sie dem Publikum. In der Komödie Michel Michael von Richard Dehmel (1911) tritt Eulenspiegel als Vor- und Zwischenredner auf. In der romantischen Tragikomödie König Nicolo oder So ist das Leben von Frank Wedekind (1902) bezeichnen König Nicolo und Prinzessin Alma im Kostüm des

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achten Bildes als P.sprecher das Spiel als Tragödie eines unbekannten Genies, an dessen Königtum niemand glauben wolle, und wenden sich zuletzt in direkter Ansprache ans Publikum. P.e finden sich schon in zwei früheren, den Expressionismus mit vorbereitenden Tragödien Wedekinds: Den Erdgeist (1893, Uraufführung 1898 in München) eröffnet ein Tierbändiger in der Manege, der den Zuschauern seine Tiere anpreist und als besondere Attraktion die 'Schlange' Lulu vorführt, Die Büchse der Pandora (1892-1901, Uraufführung 1903 in München) ein P.gespräch des 'normalen Lesers', des 'rührigen Verlegers', des 'verschämten Autors' und des, zuerst dem Werk feindlich eingestellten, zuletzt bekehrten 'hohen Staatsanwalts', worin die Funktion der Kunst im geistigen und bürgerlichen Leben der Nation umrissen und zuletzt das Publikum direkt angesprochen wird. In seinem Herakles (1917) tritt der Götterbote Hermes vor den Vorhang, begrüßt die Zuschauer und kündigt das Schauspiel an. Das erste bedeutende expressionistische Drama in Deutschland, Der Bettler von Reinhard Sorge (1910, gedr. 1912), beginnt mit dem an einen ältem Freund gerichteten Geständnis des Dichters, daß er und die Hauptperson des Spiels identisch seien, wobei hinter dem Vorhang die gedämpften Stimmen der Darsteller zu vernehmen sind. Sein Guntwar. Die Schule eines Propheten (1914) hat ein p.artiges 'Vorspiel zwischen Himmel und Erde*. P.charakter hat auch das kurze Vorspiel der vier Wesen auf einer Bergkuppe in Das bist Du von Friedrich Wolf (1917). Der große Kampf von Franz Theodor Czokor (1915) beginnt mit einem P. im Himmel (Ego, Cherub und Stimme aus der Wolke), Die Wandlung. Das Ringen eines Menschen von Emst Toller (1917-1918, gedr. 1920) mit dem ekstatischen Gedichte 'Aufrüttelung' und dem kurzen 'Vorspiel, das audi als Nachspiel gedacht werden kann: Die Totenkaserne' (Der Kriegstod, Der Friedenstod, Skelette). P.artig ist der vierzehnstrophige 'Choral vom großen [Gott] Baal' in Brechts dramatischer Biographie vom [kleinen Bürger] Baal (1919, gedr. 1922), für dessen Wiener Aufführung im Theater in der Josefstadt Hugo von Hofmannsthal 1926 einen eigenen P. Das Theater des Neuen dichtet. Der

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epische Vorspruch von Brechts Schauspiel Im Dickicht der Städte (Uraufführung München 1922, gedr. 1927) leitet zu Brechts epischen Dramen über (s. u.). Ein P. ist das 'Vorspiel auf dem Theater' im Wahnschaffe von Rolf Lauckner (1920), der bezeichnenderweise für das neue Interesse am P. in seiner Übersetzung der Sakuntala (1924) das Eröffnungsgebet des Brahmanen und die Ansage des Spielleiters vor dem Vorhang ebenso übernimmt wie Lion Feuchtwanger in seiner Übertragung des Irdenen Wägelchens (Vasantasena 1916) den P. mit Wunsch um Segen Sivas, Begrüßung der Zuschauer und Bericht über Stück und Autor, ganz im Gegensatz zu den Bühnenbearbeitungen des 19. Jh.s von Freiherr Alfred von Wolzogen bzw. Emil Pohl. In dem expressionistischen Legendenspiel Christoffer von Dietzenschmidt (1920) spricht ein Jüngling einen P. mit knapper Inhaltsangabe und Aufdeckung der Moral. Seine Nächte des Vitalis (1922) leitet der 'Vorspruch' des Priors ein, der mit Maske an die Rampe tritt und die Verse 30—32 aus dem Evangelium des Lukas vorliest. Zur Renaissance des P.s trägt auch die Erneuerung des Volksspiels bei, die sich in der Zwischenkriegszeit zu einer eigentlichen Bewegung auswächst und auch Anlaß zu Neuschöpfungen bietet. Leo Weismantel stellt im Spiel vom Blute Luzifers anläßlich der Uraufführung an den Bauernfestspielen in Langenbiber (1921) einen langen P. von drei Vorsprechern voran und behält einen kürzeren P. auch in der Druckausgabe (1922) bei. In seiner Wallfahrt nach Bethlehem (1923) heißen die drei Vorsprecher Schlaf, Spielmann und Leben. Ein kurzes Vorspiel hat sein Wächter unter dem Galgen. Im A-postelspiel von Max Meli (1922) bezeichnet ein alter Mann, nach dem Hinweis auf die Schuld des Menschen, das folgende Spiel als tröstliches Gleichnis und macht darauf aufmerksam, daß er gleich den Großvater spielen werde. In seinem Nachfolge Christispiel (1927) spricht ein Spielansager den P. Im Berner Oberlandspiel des Caesar von Arx (1926, Uraufführung 1940) tritt nach einem 'Vorspiel im Himmel' der Spielansager auf, zieht sich während seiner Ansage ans Publikum fertig an und entschuldigt sich für sein Zuspätkommen, öffnet dann den Vorhang und unterhält sich mit

den Spielfiguren. In seinem Drama vom verlorenen Sohn nach Hans Salat (1934) läßt er den Evangelisten vor den Vorhang treten und nach einem Gebete die Zuschauer begrüßen, im Epilog den Schluß der Parabel aus dem Evangelium vorlesen und die Zuschauer um Nachsicht bitten. Im Tobias Wunderlich von Heinz Ortner (1932) kommt ein Handwerksbursche in den Zuschauerraum, stellt sich vor, berichtet von seinem Wanderleben und erzählt die Vorfabel. Im Spiel vom deutschen Bettelmann von Ernst Wiechert (1933) verkündet ein Sprecher, nach dem Hinweis auf die Jahreswende und der Bitte um Gnade, das Gleichnis vom deutschen Hiobssohn, worauf ein kurzes Vorspiel folgt. Ausgesprochenen P.charakter haben die zwölf schwarzgekleideten Bauern mit einem 'Vorsager' vor dem schwarzen Vorhang in der Hexe von Passau von Richard Billinger (1935) und das Gespräch zwischen dem 'Herrn vor dem Vorhang' und dem 'Herrn im Parkett' im Michael Kohlhaas von Walter Gilbricht (1935). In der 'dramatischen Ballade' Lilofee von Manfred Hausmann (1936) bereitet der gespenstige Herr Smolk von Brake in direkter Ansprache die Zuschauer auf das kommende Spiel vor und stellt Traum und Spuk in ihrer lebenserklärenden Funktion zur Diskussion. In den 20er und beginnenden 30er Jahren wird es unter Berufung auf den 'Chorus' in Heinrich V. Mode, einen Ansager auch in Werken Shakespeares einzusetzen, wo er in den Originalen fehlt, wie bei Leopold Jessner in Berlin. Im Landestheater Braunschweig inszeniert Julius Cserwinka einen derart bearbeiteten Cijmbelin (Übertragung von Simrock) und umrahmt seine aus beiden Teilen des Heinrich IV zusammengestellte Komödie Sir John Falstaff mit P. und Epilog (1931/32). Paul Barnay führt in seiner Inszenierung des Richard III. in Breslau (1931) einen Chronisten ein, Clemens Schubert in jener des Wintermärchens in Nürnberg (1932) eine Großmutter mit Strickstrumpf, die an einem engl. Kaminfeuer einem kleinen Kinde die Geschichte erzählt. Zweifelsohne liegen hier auch Einflüsse des modernen epischen Dramas vor, das an Stelle der dramatischen Handlung den epischen Ablauf des Stoffes setzt und deswegen auch erzählende P.e oder p.artige Vorspiele liebt. In den 1918 entstandenen, 1924 an der

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Berliner Volksbühne uraufgeführten Fahnen fer, dann sich selber und zuletzt die Zuschauer glossiert, die als Dekoration unsichtvon Alfons Paquet besteht das 'Vorspiel auf dem Puppentheater' aus einer Ansprache bare Stadt Münster beschreibt und die neu auftretenden Personen vorstellt. In seinem des 'Drahtziehers' an die Zuschauer. Ein 'Prolog in Versen' gibt den Auftakt zu seiner ursprünglich als Hörspiel (1954) verfaßten Sturmflut (1926), ein kurzes 'Vorspiel' mit und später für die Bühne bearb. Herkules 'Sager' und 'Teufel' zu seinem Stinchen von und der Stall des Augias (1959) weist Polyder Krone (1931). P.charakter hat das kurze bios, der Sekretär des Herkules, auf offener Bühne das Publikum auf die dargestellte 'Vorspiel' mit dem Moritatensänger der Geschichte hin und spricht, mit vorgeführten Dreigrosdienoper von Bert Bredit (1928). Trickfilme von George Grosz stellen die Beispielen, von den technischen Möglichp.artige Einleitung für Die Abenteuer des keiten der Bühne. In seinem Frank V Oper braven Soldaten Schweijk nach dem tsche- einer Privatbank (1960) bereitet der festlich chischen Roman des Jaroslav Hasek von gekleidete Personalchef Richard Egli das Publikum vor der Ouvertüre in Versen vor. Brecht, Gasbarre, Lania und Piscator (1928). In der dramatischen Bearbeitung von Die wichtigste Figur in Brechts Lehrstück Tolstois Roman Krieg und Frieden durch Der Flug der Lindbergs (1928/29) ist der Sprecher, Vorsänger, Kommentator. In Der Alfred Neumann, Erwin Piscator und GunJasager und der Neinsager (1929/30) trägt tram Prüfer (Uraufführung am Schillertheater Berlin 1955) macht ein Sprecher mit ein Chor das Programm vor und gibt der den historischen Voraussetzungen bekannt, Lehrer, der sich zuerst vorstellt, die Expozitiert Betrachtungen Tolstois, erläutert die sition. In der ersten Szene der Maßnahme pazifistische Tendenz des Stückes, stellt die (1930) werden die vier Agitatoren, welche den Hauptpersonen vor und spricht die Dekorajungen Genossen getötet haben, vom 'KonSpinne trollchor' aufgefordert, den Vorgang zu re- tion. Das Spiel von der schwarzen von Robert Faesi und Georgette Boner nach konstruieren. P.charakter hat das 'Vorspiel' der Erzählung von Jeremias Gotthelf (1956) des Parabelstückes Der gute Mensch von Seeröffnet nach einleitender Musik von Willy zuan (1938, Uraufführung am SchauspielBurkhard ein alter Emmentaler Bauer als haus Zürich 1943). Den P. zu Herr Puntila Erzähler, unterbrochen durch die Titelanund sein Knecht Matti (1940), der ein kosage von Sprechstimmen. P.charakter hat der misches Spiel ankündigt und die HauptperChor der Feuerwehr mit Chorführer in dem son charakterisiert, spricht in der Zürcher 'Lehrstück ohne Lehre' Biedermann und die Uraufführung (1948) der Knecht Matti, in Brandstifter von Max Frisch (1958). In Korder Berliner Fassung (1949) das Kuhmädczak und seine Kinder von Erwin Sylvanus chen. P.charakter haben auch der 'Streit um (1961) betritt der Sprecher die leere Spieldas Tal' der Mitglieder zweier Kolchosenfläche und beginnt aus roten Bauklötzen ein dörfer im Kaukasischen Kreidekreis (1944/ Tor aufzubauen, dann wendet er sich an die 45) und das während der Vorbereitung der Zuschauer, erinnert an den Krieg und fegt Bühne dargestellte 'Vorspiel von 1945' zu die Bauklötze weg; nachdem er die ZuBrechts Inszenierung der Antigone von Soschauer aufgefordert hat, den Raum zu verphokles/Hölderlin (Stadttheater Chur 1948), lassen, wenn sie der Krieg erschrecke, ersowie das kürzere 'Vorspiel in höheren Regionen' mit Hitler, Göring und Goebbels in ! zählt er die Vorfabel und ruft, nach abermaliger Aufforderung ans Publikum, zu seinem Schivejk im zweitenWeltkrieg (1941gehen, wenn es das Polen von 1942 und 1944, gedr. 1957). Einen eigenen P., in dem 1944 nicht kümmere, die zwei Schauspieler sich die Hauptperson dem Publikum vorund die Schauspielerin auf, die sich nur wistellt, verfaßt Brecht für seine Bearbeitung derwillig zur Darstellung bereitfinden. Eine der Tragikomödie Der Hofmeister von Lenz große Rolle spielt der P. endlich im moder(1951). In Es steht geschrieben (1947) fügt Friedrich Dürrenmatt nach dem ersten Auf- nen Hörspiel. tritt von drei Wiedertäufern einen, an die Zuschauer gerichteten P. des Mönchs MaxiJulius Β a b , Das Theater der Gegenwart 1928; 111. theaterg. Monogr. 1) S.215f. Jomilian Bleibeganz ein, der bei langsam sich sef G r e g o r , Der Schauspielführer. 6 Bde öffnendem Vorhang zuerst die Wiedertäu(1953-1957). Bd. 7: Ergänzungen zu Bd. 1-6.

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Prolog

Hg. von Margaret D i e t r i c h u. Siegfried K i e n z l e (1964). Artur K u t s c h e r , Stilkunde der deutschen Dichtung (1952) S. 348353. Jacques R o b i c h e z , Le Symbolisme au Theatre (Paris 1957) S. 115 f., 308-316, 385, 552. Ernst Leopold S t a h l , Shakespeare und das deutsche Theater (1947) S. 627 f., 630. Otto C. A. Z u r N e d d e n u . Karl H . R u p p e 1, Reclams Schauspielführer (9. Aufl. 1960). II. § 22. P.e werden auch unabhängig von dramatischen Dichtungen zu besonderen Anlässen geschrieben. Zur Hundertjahrfeier der Schauburg in Amsterdam ζ. B. dichtet Jan de Marre 1738 einen szenischen P., zur Wiedereröffnung der Opera-Comique Georges Fleury 1752 den das abenteuerliche Schicksal dieses Pariser Theaters schildernden P. L'heureux retour, zur Einweihung des nach dem Brande von 1809 neuerrichteten Drury Lane-Theater in London 1812 Lord Byron den berühmten Begrüßungsp.: „In einer graus'gen Nacht im Flammensturm. " Im dt. Sprachgebiet zeichnet 1781 Johann Jakob Engel für den P, zu Lessings Totenfeier im Nationaltheater Berlin, in dessen Schlußversen er das deutsche Publikum anklagt, Lessings Schauspiele zu wenig zu schätzen. Am 15. Oktober wird das neuerrichtete Hoftheater in Esterhaza (Ungarn) von der dt. Truppe des Franz Joseph Diwald mit einem P. des Direktors eröffnet, am 19. Januar 1791 das Deutsche Theater in Amsterdam mit dem vom Direktor Dietrich verfaßten szenischen P. mit Gesang Der Triumph der Kunst. Christian August Vulpius verfaßt 1791 den Abschieds-P. für den auf den Rat Goethes entlassenen Direktor des Hoftheaters Weimar, Joseph Bellomo. Johann Wolfgang von Goethe dichtet eine ganze Reihe von besonderen P.n: Zur Eröffnung des Weimarer Hoftheaters unter seiner Leitung am 7. Mai 1791, worin er sein Ziel einer 'Harmonie des ganzen Spiels', des 'schönen Ganzen' verkündet, zum Beginn der Spielzeit am 1. Oktober 1791, zum Auftakt der Gastspiele des Weimarer Hoftheaters in Leipzig am 24. Mai 1807 und in Halle am 6. August 1811. Zur festlichen Einweihung des von Carl Friedrich Schinkel errichteten Neubaus des Kgl. Schauspielhauses in Berlin am 26. Mai 1821 dichtet er einen längeren Festp. mit Tanzeinlage im zweiten Teil, den Madame Stidi in wechselndem Kostüm bei zweimaliger offener Verwandlung der P.-Dekoration von Schinkel spricht. Zur

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Schiller-Trauerfeier am 10. August 1805 läßt er nicht nur Das Lied von der Glocke szenisch darstellen, sondern verfaßt auch einen Dankp., der mit dem Schwüre endet, Schillers Erbe weiter zu tragen als große Verpflichtung des gesamten deutschen Theaters, zur Wiederaufführung von Schillers Glocke an dessen 10. Todestage (10. Mai 1815) den Epilog zu Schillers Glocke mit dreizehn hervorragenden Stanzen. P. und Epilog umrahmen Goethes Festzug dichterischer Landeserzeugnisse, darauf aber Künste und Wissenschaften vorführend vom 18. Dezember 1818 in Weimar. Schiller betont im ersten Teil seines P.s zur Eröffnung des Hoftheaters Weimar am 12. Oktober 1798 den harmonischen hohen Geist des neuen Hauses, erinnert die Schauspieler an den Schöpfergenius ihres Meisters [Goethe] und wünscht, daß des Raumes neue Würde die Würdigsten nach Weimar ziehe und dem Urteil höhere Gesetze gebe; dann kommt er auf die Vergänglichkeit der mimischen Kunst zu sprechen ('Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze') und geht erst im zweiten Teil auf Wallenstein ein (s. o.). Der berühmte Theaterdirektor und Schauspieler August Wilhelm Iffland spricht zur Eröffnung des neuen Kgl. Schauspielhauses von Karl Langhans in Berlin am 1. Januar 1802 den Dankund Eröffnungsp. von Karl Alexander Herklots, der den preuß. König als Begründer und Beschützer des neuen Hauses feiert, und spielt zur Feier der Koalition von Preußen und Rußland am 24. Januar 1814 den Friedrich d. Gr. in seinem szenischen P. Liebe und Wille. Im Burgtheater Wien trägt der Schauspieler Maximilian Kom am 18. Oktober 1816 zum Gedächtnis der Schlacht bei Leipzig den P. Der Denkstein unserer Jahre von Η. K. Philippi vor. Das 50jähr. Regierungsjubiläum des Herzogs Leopold Friedrich Franz wird am 20. Oktober 1808 im Hoftheater Dessau mit dem P. Der deutsche Fürst und Glucks Armide begangen. Freiherr Ludwig von Lichtenberg eröffnet am 24. September 1813 das Stadttheater Bamberg mit einem eigenen P. Der Sang der Musen, während für den Eröffnungsp. des Stadttheaters Aachen am 25. Mai 1825 Jean Baptiste Rousseau zeichnet. Die Weihe des Braunschweigischen Nationaltheaters am 29. Mai 1818 vollzieht Madame Klingemann als Vestalin mit einem

Prolog — Psalmendichtung

P., der ganz kurz das dramaturgische Programm ihres Gatten August Klingemann verkündet. Das von Gottfried Semper gebaute neue Hoftheater in Dresden wird am 12. April 1841 mit einem P. von Theodor Hell und Goethes Torquato Tasso eingeweiht. Zur Nachfeier des Geburtstages des Königs von Preußen im Schauspielhaus Potsdam am 16. Oktober 1848 spricht der berühmte Schauspieler Friedrich Haase, ein Schüler Tiecks, den P. von C. Bomemann. In der zweiten Vorstellung der Schillerwoche des Stadttheaters Hamburg am 8. November 1859 wird nach der Jubelouvertüre des Carl Maria von Weber Schillers P. zu Wallensteins Lager (s. o.) rezitiert, sowie ein von Theodor Gassmann zu Bildern aus Schillers Leben verfaßter Festprolog. Georg Herwegh spricht an der Gedenkfeier von Schillers hundertstem Geburtstag im Stadttheater Zürich am 10. November 1859 nach der Aufführung der Neunten Symphonie von Beethoven seinen P. selber. Gottfried Keller dichtet aus demselben Anlaß einen Festp., der an der Vorfeier am 9. November im Stadttheater Bern rezitiert wird, und schreibt für die Eröffnung der Spielzeit 1864/65 des Stadttheaters Zürich ein Eröffnungsgedicht von 104 hervorragenden Versen. Franz Dingelstedt verfaßt 1864 einen P. zur ersten zyklischen Aufführung der Königsdramen in Deutschland, worin er Shakespeare als den größten Weltdramatiker preist, das Wagnis am kleinen Hoftheater in Weimar mit dessen einstiger Stellung unter Goethe und Schiller begründet, aber auch politische Anspielungen macht, indem er von einem künstlerischen Warnsignal vor kontinentalen Verwicklungen spricht. Charlotte Wolter trägt Dingelstedts P. zur Eröffnung des Neuen Hauses der Wiener Hofoper am Ring am 29. Mai 1869 vor. P.e zur Eröffnung neuer Theater oder zu Gedächtnisfeiern sind noch um die letzte Jh.wende beliebt. Zur Einweihung des Deutschen Theaters in Berlin am 29. September 1883 spricht Hedwig NiemannRaabe den P., zu jener des Lessingtheaters am 11. September 1888 die ebenso berühmte Hermine Claar-Delia das Festgedicht von Oskar Blumenthal. Zur Eröffnung des neuen Burgtheaters am 14. Oktober 1888 wird ein längerer szenischer P. von Josef Weilen aufgeführt. Conrad Ferdinand

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Meyer dichtet für die Weihe des neuen Stadttheaters in Zürich am 30. September 1891 den Festp., dem das Festspiel von Carl Spitteier folgt, Josef Viktor Widmann den p.artigen 'Festakt' für jene des neuen Stadttheaters in Bern am 25. September 1903. Hugo von Hofmannsthal den P. zur Feier von Goethes 150. Geburtstag am 8. Oktober 1899 im Burgtheater, Ferdinand Saar den P. zum 70. Geburtstag von Marie v. EbnerEschenbach ebendort am 13. September 1899. Das neue Stadttheater in Köln wird am 6. September 1902 mit einem P. von Josef Lauff, Goethes Vorspiel auf dem Theater, Schillers Huldigung der Künste und dem dritten Akt von Richard Wagners Meistersingern eröffnet. Alfons F r i t z , Theater u. Musik in Aachen seit dem Beginn der preuß. Herrschaft. 2. Teil (1904) S. 16 f. J. W. G o e t h e , Gedenkausgabe. Bd. 3, S. 644-653. Fritz Η a r t m a η η ,

Sechs Bücher Braunschweigischer schichte

(1905)

S. 350.

Heinz

Theater-Ge-

Kinder-

m a n n , Theaiergesch. Europas. Bd. 4, S. 330,

634; 5, S. 149, 166 f., 184, 221, 226, 265, 444, 465, 709; 6, S. 85; 7, S. 166 f., 171. Reinhold

R ü e g g , 50 Jahre 1334-1884

Zürcher

Stadttheater

(18S4) S. 43, 54 f., 112 ff. Otto

Rub, Das Burgtheater. Statistischer Rückblick 1776-1913 (Wien 1913) S. 47, 106, 113. Schweizer Theaterbuch (Zürich 1964) S. 78, 79, 104, 108, 167. Edmund S t a d l e r ,

Fried-

rich Schillers 'Wilhelm Teil' und die Schweiz. Bibliothek des Sdiweizerischen Gutenbergmuseums in Bern 28 (Bern 1960) S. 51 f.

Otto W e d d i g e η , Geschichte der Theater

Deutschlands. 2 Bde (1904-1906) Bd. 1: S. 67, 110, 147, 298, 365, 504, 510, 552, sowie Reprod. zwischen S. 250 u. 251; Bd. 2: S. 552, 669, 672, 751, 905, 936, 958, 998, 1093, sowie Reprod. zwischen S. 970 u. 971.

Edmund

Stadler

Psalmendichtung § 1. Mit dem Namen Psalterium bezeichnet man das Buch der Psalmen, das liturgische Gesangbuch der Synagoge, das auch von der christlichen Kirche als Grundlage ihres liturgischen Gebetsgottesdienstes übernommen wurde. Alle liturgischen Bücher der christlichen Kirche (Psalterium, Vesperale, Graduale, Antiphonar, Rituale, Pontificale; Brevier, Missale, Agende) enthalten Psalmen, sei es vollständige oder einzelne Verse aus ihnen, und lehnen sich auch bei ihren übrigen Gebeten in. Stil und Ausdruck an die Psalmen an. § 2. Einen wesentlichen Bestandteil bildet das Psalterium im Brevier; es ist hier in der

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Psalmendiditung

Weise auf die sieben Tagzeiten verteilt, daß in der Woche sämtliche 150 Psalmen gebetet werden. Bevor das Brevier seit dem 11. Jh. als einheitliches Buch zusammengefaßt wurde, war unter den einzelnen Büchern, in denen bis dahin seine verschiedenen Bestandteile vereinigt waren, das Psalterium das wichtigste; es enthielt außer den Psalmen zumeist auch noch die Cantica, den Ambrosianischen Lobgesang, das Glaubensbekenntnis, die Allerheiligenlitanei und andere Zusätze. Diese Psalterien blieben auch nach der Einrichtung des Breviers noch in Gebrauch. In unverkürzter oder verkürzter Form und vermehrt um andere Gebete wurden sie auch von Laien als Gebetbücher benutzt (salter, saltari); ihre Ausläufer sind seit dem 15. Jh. die Livres d'heures und Hortuli animae. Vgl. den Artikel Liturgie: § 5 Psalterium, § 6 Brevier und § 9 Gebetbuch und die dort angeführte Literatur. — Femer Wilh. B r a m b a c h , Psalterium. Bibliogr. Versuch über die liturg. Bücher des christl. Abendlandes (1887; Sammlung bibliothekswiss. Abhandlungen I). § 3. Psalterium wurde im MA. auch eine Art lat. geistlicher Gedichte genannt, deren Beziehung zu den Psalmen darin gegeben war, daß die Zahl ihrer Strophen der Zahl der 150 Psalmen entsprach. Ursprünglich sollte dabei jede Strophe eine Anspielung auf den ihr entsprechenden Psalm oder eine inhaltliche Berührung mit ihm enthalten; doch ist das keineswegs immer durchgeführt und später ganz vernachlässigt worden. Der größte Teil dieser P.en sind Marien-Psalterien. Man teilte sie auch in drei Abschnitte von je 50 Strophen ein, die bisweilen als „Rosarien" bezeichnet werden, wie das Rosarium, der Rosenkranz, der ebenfalls Psalterium Mariae, Marienpsalter, genannt wird, wegen seiner Zusammensetzung aus dreimal 50 Ave Maria. Guido Maria D r e ν e s , Psalteria Rhythmica. Bd. 1-2. (1900-1901; Analecta hymnica 35/36). Ders., Psalteria Wessofontana (1902; Analecta hymnica 38). § 4. Bei der großen Bedeutung, die dem Psalter für die Liturgie zukam, mußte Wert darauf gelegt werden, sein Verständnis durch Erklärung und Ubersetzung vor allem dem Klerus zu erschließen, der die Psalmen täglich beten und singen mußte. Die älteste bekannte dt. Übersetzung mit Kommentar von N o t k e r L a b e o (gest. 1022) ist wohl

zur Unterweisung der St. Galler Klosterschüler angefertigt worden. Interlinearversionen (s. d.) des Psalters und der Cantica reichen vom 9. bis ins 14. Jh.; sie waren sicherlich in erster Linie zum Studium für geistliche Kreise bestimmt. Mit dem 14. Jh. beginnt dann die lange Reihe der Psalterübersetzungen, die mit oder ohne den lat. Text zur Seite und mit oder ohne Kommentar in zahlreichen Hss. erhalten und auch in der Frühzeit des Buchdrucks oft gedruckt worden sind. Sie enthalten zumeist auch die üblichen Zutaten der Cantica, des Te Deum, des Glaubensbekenntnisses, der Litanei (s. d.) u. a. Gebete. Sie mögen ebensosehr zur Belehrung des Klerus wie zum Gebrauch für Nonnenklöster und als Gebet- und Erbauungsbücher für Laien benutzt worden sein. Vornehmlich an Laienkreise wandten sich die „Seelenwurzgärtlein" und ähnliche Büchlein, die als verdeutschte Livres d'heures und Hortuli animae eine Reihe von Psalmen enthielten. Ridi. Η e i η ζ e 1 u. Wilh. S c h e r e r , Notkers Psalmen nach der Wiener Hs. (1876). Horst Κ r i e d t e , Dt. Bibelfragmente in Prosa des XII. )li.s (1930). D e Β ο ο r Bd. 1 (6. Aufl. 1964) S. 118f. Wilh. W a l t h e r , Die dt. Bibelübersetzung des MA.s. Bd. 1—3 (1889-92; Nadidr. 1966), besonders I 119 ff. und III 557 ff. — Weitere Lit. s. Interlinearversion. § 5. Ältere gereimte Übertragungen einzelner Psalmen sind nur wenige überliefert: aus dem 10. Jh. der 138. Psalm Uuellet ϊτ gihören Daviden den guoten und ein Bruchstück des 139. Psalms (MSD. Nr. XIII); sodann aus dem 13. Jh. eine Ubersetzung des 51. Psalms Miserere (Wackernagel, Kirchenlied II Nr. 45). Doch war bei diesen gereimten Verdeutschungen an einen Gebrauch für den Volksgesang nicht gedacht; das Bedürfnis nach sangbaren Übertragungen der Psalmen in Liedform entstand erst durch die Reformation infolge der Beseitigung der lat. Liturgie. Die Psalmenverdeutschung von ihren ersten Anfängen bis Luther. Hg. in Gemeinschaft mit Fritz J ü 1 i c h e r u. Willy L ü d t k e v. Hans V o l l m e r . 2 Bde (1932-1933; Bibel u. dt. Kultur 2/3). Kurt Erich S c h ö n d o r f , Die Tradition d. dt. Psalmenübersetzung. Unters. zur Verwandtschaft u. Übersetzungstradition d. Psalmen verdeutschung zwischen Notker u. Luther (1967; Mitteidt. Fschgn. 46). — F. W i 11 e m s , Psalm 138 u. ahd. Stil. DVLG. 29 (1955) S. 429-446. Samuel S i n g e r , Die

Psalmendichtung religiöse Lyrik d. MA.s. Das Nachleben d. Psalmen (Bern 1933; Neujahrsbl. d. Literar. Ges. Bern N. F. 10). F. W. R a t c l i f f e , Die Psalmenübers. Heinrichs υ. Mügeln. ZfdPh. 84 (1965) S. 64-76. — Vgl. femer den Artikel Bibelübersetzung. Josgph Gofzg„ § 6. Das katholische MA. interessierte der Psalter wegen seines Lehrgehalts: psalterium est registrum et consummatio totius theologicae paginae (Augustin). Daher er vom 9. Jh. bis in die Zeit der frühen Drucke häufiger als irgendein anderes biblisches Buch in prosaischer Übertragung eingedeutscht wurde. Poetische Bearbeitungen erscheinen nicht, mit einziger Ausnahme der ahd. Behandlung des 138. Psalms, die aber nicht als Brudistück einer Ubersetzung des ganzen Psalters anzusehen ist. Das änderte sich mit der Reformation. Denn für die neue Form des Gottesdienstes bedurfte man der Choräle, und für sie war der Psalter der gegebene Anhalt lind Ausgang, zumal man an der überkommenen, theologisch begründeten Wertschätzung dieses Buches festhielt. So hat nicht nur Luther selbst, sondern, ζ. T. auf sein ausdrückliches Geheiß, die ganze erste Generation der protestantischen Geistlichkeit sich mit der Umwandlung von Psalmen in Kirchenlieder befaßt. Die Stärke dieser ersten Schicht von P. liegt in der Wärme und Tiefe der religiösen Empfindung und in der Freiheit der Behandlung des biblischen Textes, die oft nur eine ganz lockere Paraphrasierung ist, zumal man auch diese Dichtung gelegentlich aktuell färbte und dogmatischen oder polemischen Zwekken dienstbar machte. Auch daß man vorerst nur einzelne Psalmen nach persönlichem Gefallen herausgriff, gab einen Vorsprung vor der Massenproduktion der Folgezeit. Aus soldien Einzelbearbeitungen einen vollständigen dt. Psalter zusammenzustellen, lag nahe; seit Ende der dreißiger Jahre des 16. Jh.s sind mehrere derartige Sammlungen erschienen, von denen die älteste, von Joachim Aberlin herausgegeben (1537), Stücke von mehr als dreißig Dichtern bietet, unter denen kaum ein hervorragender Name der Reformation bis zu Zwingli und den Calvinisten fehlt. § 7. Der nächste Schritt führte zu dt. Psalterien, die durchweg von demselben Bearbeiter herrührten, und dieser Form von P. gehörte die Zukunft. Den Anfang machte

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Der gantz Psalter Davids des Augsburger Geistlichen Jacob D a c h s e r (1538), und schon bis auf Opitz sind mehr als 25 solcher poetischen Psalmenübersetzungen erschienen, neben denen stüdeweise Bearbeitungen, wie sie noch Fischart im Straßburger Gesangbüchlein von 1576, ζ. T. mit gutem Gelingen, bot, schließlich mehr und mehr verschwinden. Formal halten sich die Bearbeitungen gewöhnlich in einfachen, sangbaren Strophen; doch erscheinen, und zwar unter den gröbsten und ledernsten Arbeiten, auch Ubersetzungen in Reimpaaren (Johann Claus 1542, Vitus Abel Entter 1559, Gregor Sunderreuter 1574, Zacharias Eiring 1608). Überhaupt ragt künstlerisch nür weniges über das Niveau des Handwerksmäßigen empor und an die Leistungen des ältesten Kreises heran, am ehesten noch einige Stücke des Burchard W a 1 d i s (1553), der auch in der freien Behandlung und Aktualisierung der biblischen Vorbilder, ebenso in dem Kampf- und Bekennergeist seiner Lieder sich noch ganz zu der ersten Generation der Psalmendichter stellt. Nicolaus S e I η e k k e r , der seiner Psalterauslegung (1565-66) freilich nur einige Psalmenlieder eingelegt hat, ist ihm in manchem ähnlich. Zu beachten ist, wie man immer mehr treue Wiedergabe des Originals, und zwar in der Lutherschen Fassung, erstrebt, und wie man diese Treue immer bestimmter als Ziel der Bearbeitung hinstellt. Aber mit solcher Beschränkung der subjektiven Freiheit verringert sich Kraft und innerer Wert dieser poetischen Erzeugnisse zusehends, zumal die steigende Entwicklung des Kirchengesanges, besonders des chormäßigen, den untergelegten Psalmentexten etwas von ihrer selbständigen Bedeutung benahm. Es ist begreiflich, wenn in Werken wie dem Ganzen Psalter Davids des Cyriacus Spangenberg (1582) oder der Himlischen Cantorey des Franciscus Algermann (1604) das Vorwiegen musikalischer Interessen von einer formalen Vernachlässigung der Texte begleitet ist. § 8. Auf dem Gebiet der Sangbarkeit liegt auch der Hauptgrund, der im späteren 16. Jh. mehrere Dichter die franz. Psalmenübersetzung von Clemens Marot und Theodor Beza als Grundlage dt. Bearbeitungen wählen ließ, ein Werk reformierter Richtung. Um die Melodien übernehmen zu können, war es nötig, auch Strophe und Vers des

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Psalmendichtung

franz. Textes silbengetreu zu kopieren. Das geschah zuerst von Paul S c h e d e - M e 1 i s s u s , der aber nur die ersten 50 Psalmen erscheinen ließ (1572), bald danach (1573) durch Ambrosius L o b w a s s e r , der eine vollständige Ubersetzung vorlegen konnte, die überdies an künstlerischer und sprachlicher Gewandtheit der Schedischen Bearbeitung mit ihrer künstlichen Syntax und ihrer halb gequälten, halb gespreizten Sprache erheblich überlegen war und ihre Schwäche eher in übergroßer Planheit hatte. Dieser Lobwassersche Psalter, gegen den auch eine ähnlich geartete Arbeit des noch von Opitz gerühmten Freiherrn Philipp v. Winnenberg (1588) nicht ankam, ist die erfolgreichste aller Psalmenbearbeitungen geworden: er hat der reformierten Kirche bis in die neuere Zeit als Gesangbuch gedient, ja er hat sich früher gelegentlich auch lutherische Gemeinden und Schulen erobert. Daher lutherische Konkurrenzarbeiten wie Der Psalter Davids Gesangweis des Cornelius Becker (1602), der unter offener Polemik gegen die reformierte Skepsis den christologischen Gehalt der Psalmen stark, bisweilen grob unterstreicht, freilich musikalisch Lobwasser seinen Vorsprung lassen mußte, weil er seine Texte den in der protestantischen Kirche üblichen Melodien unterlegte. Gleichwohl war sein Werk einflußreicher als die Bearbeitung des Johannes Wüstholz, der in seinem Lutherischen Lobtoasser (1617) audi die ketzerischen Weisen beibehielt. § 9. Was der Psalmendichtung von Luther bis Opitz den Stempel gibt, ist, daß dieses erste Jh. sich an das breite Volk wendete und aus den Psalmen Choräle schuf, die gesungen werden sollten. Nebenher läuft freilich fast von Anfang an eine künstlichere, wesentlich aufs Lesen berechnete Form der Psalterbearbeitungen, aber sie ist l a t e i n i s c h . Bis zu Opitz' Anfängen sind in Deutschland an die 15 poetische Bearbeitungen des Psalters in lat. Sprache entstanden, formal denkbar bunt, von rein antiken Versund Strophenmaßen bis zur Nachbildung dt. Strophenformen. Am Anfang steht das von Luthers Beifall begrüßte Psalterium Davidis (in elegischen Versen) des Eobanus Hessus (1542); einen späten Nachläufer bildet der eigentümliche lat.-dt. Davidische Jesuspsal-

ter des Narciss Rauner (1670), den Spener einleitend empfahl. § 10. Diese gelehrte, unvolksmäßige Tendenz bleibt auch die Signatur für die dt. P. im O p i t z i a n i s c h e n Jahrhundert. Nicht daß man auf den Gesang bereits verzichtete, aber auf Vers, Reim, Diktion wird solch Gewicht gelegt, daß diese jüngeren Bearbeitungen notwendig mehr und mehr den Charakter von Lesewerken annahmen; und einige Werke wie die umständlichen und künstlichen Psalmenparaphrasen Weckherlins wollen nur noch so genommen sein. Auch darin bewährt sich der gelehrte Zug der Bearbeitungen des 17. Jh.s, daß man, statt sich mit dem Luthertext zu begnügen, des öfteren auf die hebraica Veritas zurückgeht (so, nächst Opitz, Georg Werner, der 1638 und 1643 zweimal 50 Psalmen Davids erscheinen ließ). Im übrigen war Opitz nicht der erste, der die Regeln der neuen Verskunst auf die P. anwendete. Schon 1628 ließ Johann Vogel 12 Psalmen nach neuer Manier, und zwar in Alexandrinern, erscheinen (1638 den ganzen Psalter), 1631 kamen die 10 Bußpsalmen Flemings heraus, ebenfalls in Alexandrinern abgefaßt, und auch der Poetische Psalter Davids des Andr. Heinr. Bucholtz (1640), dessen „Zierlichkeit" noch Spener hoch belobte, ist vor dem Erscheinen der Opitzischen Bearbeitung begonnen. Diese kam, nach mehreren Einzelveröffentlichungen, 1637 heraus, glatt und elegant, verhältnismäßig schlicht in den Formen, aber dem hymnischen Charakter der Psalmen so wenig konform wie die anderen Bearbeitungen dieser Richtung, etwa die Psalmen des Landgrafen Ludwig von Hessen (1657), die Davidische Herz-Lust des Const. Christ. Dedekind (1669), die mit ausgesprochener Absicht ihr ganzes Augenmerk auf Vers und Reim richtet, der Lust- und Artzeneij-Garten des Königlichen Propheten Davids von Freiherrn v. Hohberg (1675), eine Alexandrinerbearbeitung, die sich schon durch die kostbaren emblematischen Kupfer zu jedem Psalm als ein bibliophiles Lesewerk darstellt. Freilich fehlt es auch an Reaktionserscheinungen nicht. Die Musica Sionia des Daniel Zimmermann (1656) ist eine Bearbeitung, die in ihrem bewußten Verzicht auf die modernen Zierate, der Schwerfälligkeit ihrer Form und der Wärme und Echtheit ihrer Empfindung noch ganz den Geist des 16. Jh.s

Psalmendiditung atmet; und die Neugestimmte Davidsharfe des Christian v. Stöcken (1656) legte es darauf an, die Opitzische Ubersetzung dem Luthertext anzubequemen, stieß auch die Lobwasserschen Melodien ab, an die sich Opitz noch gehalten hatte. § 11. Auch im 18. Jh. dauert der Strom der Psalmenbearbeitungen in unverminderter Stärke an: jede Veränderung des literarischen Geschmacks, jede Neuerung poetischer Formgebung macht das Genos getreulich mit. Aber Werke, die für den Gesang bestimmt sind oder wenigstens diese Fiktion aufrechterhalten, werden nunmehr selten. Dahin gehören als verbreitetstes Werk die mehrfach aufgelegte Ubersetzung des Joh. Jak. Spreng, „auf die gewöhnlichen Singweisen gerichtet" (1741), oder die des Daniel Wolleb (1751), die den veralteten Lobwasser ersetzen möchte. Im allg. bekennen sich die Bearbeitungen als reine Lesewerke, die bisweilen schon im Titel ihre literarische Richtung erkennen lassen. So erschienen 1746 erstmalig Oden Davids von S. G. L. (Samuel Gotthold L a n g e ) ; ihr Verfasser stellt sich als Anhänger Breitingers vor, dem das Werk gewidmet ist, und proklamiert die Psalmen Davids als Muster der Ode, ohne daß er freilich schon auf den Reim zu verzichten wagte. Und die künstlerische Form der Ode in diesem freien Sinne herrscht auch in den Bearbeitungen des späteren 18. Jh.s vor, die sich mehr oder minder stark von Klopstock beeinflußt zeigen. Mit der Lockerung der Form geht öfter eine Befreiung vom Inhalt der Vorlage Hand in Hand, so daß an die Stelle von Ubersetzungen wieder freie Paraphrasen treten. So nähert sich auf gewisse Weise die P. nun ihren Anfängen im 16. Jh., auch darin, daß man öfter wieder nur Auszüge nach subjektiver Wahl bearbeitet (Joh. Ad. Schlegel in den Bremer Beiträgen) und eine Ubersetzung des ganzen Psalters ablehnt (so sehr entschieden Lavater in seinen Auserlesenen Psalmen Davids 1765). Die stärkste dichterische Leistung dieser Zeit ist die Poetische Übersetzung der Psalmen von Joh. Andr. C r a m e r (von 1755 an), in sehr freien Strophenmaßen, aber noch gereimt. Auch in die wenig paßrechte Form antiker Metra hat man die Psalmen wiederholt gegossen (Jos. Ant. Cramer 1787, Ernst Wetisl. Wilh.

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v. Wobeser 1793, am gelungensten noch J. Zobel 1790). Arthur Hübner § 12. Eine neue Gruppe von Psalmendichtungen beginnt mit Herder und Mendelssohn, die in Freien Rhythmen übersetzen und die beide vom Hebräischen ausgehen. Herder, der sich schon 1772 mit Psalmenübersetzungen beschäftigt hatte, übertrug in seinen ersten Weimarer Jahren 51 Psalmen und eine Anzahl anderer biblischer Dichtungen f ü r sein Werk Vom Geist der Ebrätschen Poesie, 1782-83. Es sind wohl die schönsten dt. Psalmenbearbeitungen seit Luther. Mendelssohn, in der hebräischen Sprache wie in der deutschen zu Hause, hatte den Klang der Gebete der Synagoge im Ohr und paßte seine Übertragung dem Urbild eng an, knapp und herb, sachlich und mit verhaltenem Schwung. — Im allgemeinen aber blieb man bei Übertragungen in den zeitüblichen Formen, d. h. in Reimstrophen oder in antikisierenden Odenmaßen. Seit dem Ausgang des 18. Jh.s nahmen auch kathol. Schriftsteller, meist Geistliche, lebhaft daran teil, denn die kathol. Aufklärung brachte eine Wendung zur Volkssprache und vollzog den literar. Anschluß an Norddeutschland, insbesondere an Klopstock. Übertragungen in Reimstrophen gaben F . K. Kienle, 1787; M. F. Jäck, 1817; J. F. Weinzierl, 1819; antike Formen benutzten J. Zobel, 1790, und Friedrich Leopold Graf Stolberg (dessen Übertragung, bald nach 1800 geschrieben, erst 1918 gedruckt wurde). — Auch im 19. Jh. entstand eine Fülle von Nachdichtungen der Psalmen in Kirchenliedform (typisch etwa Wilh. Koethe, 1845, oder Julius Hammer, 1861); doch sie sind alle sprachlich schwach und bleiben formal in den gängigen Strophenarten. Der Versuch von Wilhelm Storck, den parallelismus membrorum der zwei Psalmen-Halbverse durch deutsche Stabreime aus zwei Halbversen wiederzugeben, ist nur als Form-Experiment bemerkenswert. (Die Psalmen in stabreimenden Langzeilen, 1904.) § 13. Aus ganz anderem Welt- und Sprachempfinden, nämlich aus der Aufgewühltheit expressionistischen Geistes, kam die Ubersetzung von Theodor Tagger, 1918, die in kühner Wortprägnatiz, locker-assoziativer Satzfügung und freier Rhythmik den Text wiedergibt, knapp, hymnisch und

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Psalmendiditung

ausdrucksstark. 1925 begannen Martin Buber und Franz Rosenzweig eine Bibelübersetzung, die in erster Linie für das deutsche Judentum gedacht war. In ihr erschienen 1927 die Psalmen Das Buch, der Weisungen, von Buber übertragen; seine freien Rhythmen bleiben denen des Urbilds nahe, und seine Wortwahl versucht, die Hauptbegriffe des religiösen Wortfeldes der Psalmen eindeutig wiederzugeben.—Rudolf Alexander Schröder, der sich in seiner Spätzeit viel mit dem Kirchenlied des-16. und 17. Jh.s beschäftigte und Abhandlungen darüber veröffentlicht hat, dichtete 1937-40 einige Psalmen in Kirchenlieder um, in der Sprache seiner Zeit, der Form und Art nach aber die Tradition von Paul Gerhardt, der Psalmen in Kirchenlieder umgeformt hatte, fortsetzend (Werke, Bd. 1, 1952, S. 940 ff.). Die kathol. Kirche hatte den Psalter seit je in der lat. Fassung der Vulgata benutzt. Da die moderne Bibelphilologie nachwies, daß viele Stellen treffender und besser übersetzt werden könnten, ordnete Papst Pius XII. im Jahre 1941 an, daß eine neue lat. Ubers, durch eine dafür eingesetzte Kommission erarbeitet werde. Sie erschien 1945 und wurde vom Papst für das Breviergebet empfohlen, jedoch nicht allgemein vorgeschrieben. (Einige monastische Orden benutzen weiterhin den alten Text.) Dieser lat. Text (Psalterium Pianum) wurde die Grundlage für die dt. Übersetzung von Romano Guardini, 1950, deren Sprache und Klang, obgleich eng an das Vorbild anschließend, eine Geschultheit durch dt. Verse, zumal die Freien Rhythmen seit Klopstock, erkennen läßt. Guardinis Übertragung ist in den dt. Bistümern eingeführt, sofern nicht der lat. Text benutzt wird. § 14. Die dt. Übersetzungskunst hat sich wohl keinem Werk so vielfach zugewandt wie den Psalmen. Die Zahl der Übertragungen vom 16. bis zum 20. Jh. ist so groß, daß man jeden Wandel des literar. Stils daran ablesen kann. Die Psalmen wurden einerseits getreu übersetzt, und unter den vielen Werken dieser Art gibt es Meisterwerke der Ubersetzungskunst (Luther, Herder, Mendelssohn). Sie haben anderseits immer wieder zu freien Ausgestaltungen angeregt, und unter diesen Umformungen gibt es Lieder, die in den festen Bestand deutscher Lyrik eingegangen sind (Luther, Paul Gerhardt

u. a.). Nur wenige dichterische Ubersetzer übertrugen unmittelbar aus dem Hebräischen (Luther, Herder, Mendelssohn, Buber); die lutherischen Psalmendichter benutzten Luthers Ubersetzung und setzten diese in Verse und Strophen um. Die kathol. Psalmenlieder sind meist von Geistlichen verfaßt, die auf Grund der Vulgata arbeiteten. Oft lagen den Bearbeitern mehrere Übertragungen zugleich vor; Lobwasser hatte außer dem Hugenottenpsalter auch Luthers Ubersetzung zur Hand. Die Psalmen haben der deutschen Sprache und Dichtung eine Fülle von Bildern und Ausdrücken vermittelt, die zumal die religiöse Denkund Gefühlswelt bereichert haben. Darüber hinaus haben sie durch das Medium von Luthers Übersetzung die Schaffung der Freien Rhythmen als dichterischer Form mit angeregt, bei Klopstock, der diese Form dann an Goethe und Hölderlin weitergab. Das Interesse an den Psalmen ist immer ein religiöses gewesen, erst in zweiter Linie ein künstlerisches. Sie waren gottesdienstliche Texte, und in dieser Funktion sind sie seit Jahrtausenden gesungen, gesprochen und gelesen worden. Sie haben die europäischen Literaturen, seitdem diese sich schriftlich auszuformen begannen, immer wieder bereichert. So gehören die dt. Psalmendichtungen in eine Tradition, die lückenlos ist und dauernd wirksam gewesen ist. Hier zeigt sich also eine Kontinuität, wie sie in der Weltliteratur nur selten vorkommt. A Dictionary of Hymnology. Ed. by John J u l i a n (London 1925) S. 1542 ff., bibliographiert 135 vollständige dt. poet. Übertragungen und nennt mehr als 100 unvollständige oder in Prosa geschriebene. E. W e r n e r , Bruno S t ä b l e i n u. Ludwig F i n s c h e r , Psalm. Μ GG. Bd. 10 (1962) Sp. 1688-1713; ausführlich und gründlich. Jos. Κ e h r e i η , Kathol. Kirchenlieder, Hymnen, Psalmen. 4 Bde (1859-65; fotomech. Neudr. 1965). Insbes. Bd. 1, S. 63-67, Bd. 3, S. 113-422. Ph. W a c k e r n a g e l , Das dt. Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zum Anfang des 17. Jh.s. 5 B^e (1864-77; fotomech. Neudr. 1964), enthält 541 Psalmenlieder, die durch die Register mühelos zu finden sind. Albert Fr. Wilh. F i s c h e r u. Wilh. T ü m p e l , Das dt. ev. Kirchenlied d. 17. Jh.s. 6 Bde. (1904-1916; fotomech. Neudr. 1964), enthält 183 Psalmenlieder und vorzügliche Bibliogr. Julius P e t e r s e n u. Erich Τ r u η ζ , Lyrische Weltdichtung in dt. Übertragungen aus 7 Jahrhunderten. (1933; Literarhistor. Bibl. 9), mit Bibliogr. G o e d e k e , Grundriß Bd. 2 (1893)

Psalmendichtung — Puppentheater S. 172 f.; Bd. 7 (1900) S. 589 ff. Phil. Jacob S ρ e η e r s Einleitung zu: Narziß Rauner, Dawdischer Jesus-Psalter (Augspurg 1670), nennt viele neulat. Psalmendiditungen des 16. und 17. Jh.s—Eine Fülle von Psalmenübersetzungen und -nachdiditungen aus den Jahren 1750-1832 nennt: Chr. Gottl. Κ ays e r , Vollständiges Bücher-Lexicon. Bd. 4 (1834) S. 409 ff. Für die Jahre nach 1832 sind die jeweiligen Bände von Kaysers Büdier-Lex. unter dem Stichwort Psalmen heranzuziehen. Max H o r n , Der Psalter des Burckard Waldis. Diss. Halle 1911. Helmut L e r c h e , Studien zu den dt.-evangel. Psalmendiditungen des 16.Jh.s. Diss. Breslau 1936. MGG. Bd.2 (1952): Walter B l a n k e n b u r g , Calvin, Sp.653-666 u. Henry A. B r u i n s m a , Calvinistisdie Musik, Sp. 666-674. E. T r u n z , Die dt. Übers, des Hugenottenpsalters. Euph. 29 (1928) S. 578-617. Ders., A. Lobwasser. Altpreuß. Forschungen 9 (1932) S. 29-97. Ders., Uber dt. Nachdichtungen d. Psalmen seit d. Reformation, in: Gestalt, Gedanke, Geheimnis. Festsdir. f. Joh. Pfeiffer (1967) S. 365-380. Max E i t l e , Studien zu Weckherlins Geistlichen Gedichten. Diss. Tübingen 1911. Hugo Max, M. Opitz als geistlicher Dichter (1931; BeitrNLitg. 17). Friedr. Aug. H e n n , Matth. Jorissen, der dt. Psalmist (1955). Rudolf Haym, Herder. Bd. 2 (1885). Encyclopaedia Judaica Bd. 4 (1929) Art. Bibel (Übersetzungen). Augustin B e a , Die neue lat. Psalmenübersetzung (1949). Erich Trunz Publikum s. Soziologie der Literatur. Puppentheater § 1. Aufführung oder Bühne, in der an Stelle von lebendigen Schauspielern Puppen bewegt werden, denen Puppenführer und andere Mitwirkende ihre Stimme leihen. Nach der Führungstechnik unterscheidet man: 1. H a n d p u p p e n (dt. Kasperletheater, franz. Guignol); 2. S t o c k - oder S t a b p u p p e n (javanisches Wajang-Golek, Kölner Hänneschen), die auf einem von unten geführten Stock aufsitzen, wobei ein Arm oder beide, gelegentlich auch der Kopf, mit Stäben bewegt werden; 3. M a r i o n e t t e n (Faden- oder Drahtpuppen), deren mit Gelenken versehene Körper an Fäden oder Drähten hangen, die meist von einem Spielkreuz aus gespannt oder gelodcert werden; 4. F i g u r e n t h e a t e r (bewegliche Weihnachtskrippen, Theatrum mundi d. h. Szenen der Zeitgeschichte, Kinder- oder Papiertheater), in dem flächige Figuren aus Holz, Metall oder Karton von unten in Rillen verschoben werden; 5. S c h a t t e n t h e a t e r , Reallexikon III

das durch die Bewegung von flachen oder reliefartigen Puppen aus bemaltem Leder, Pergament oder schwarzem Papier hinter einer beleuchteten Leinwand entsteht; 6. A u t o m a t e n , deren Puppen sich mittelst Gegengewicht, Uhrwerk, Hydraulik und anderer Technik von selbst bewegen. Dazu kommen noch Abarten: wie Marionetten, die an einem einzigen Haken hangen, der bewegt wird (Lütticher Marionetten); Metamorphosen, d. s. bemalte Pappfiguren mit waagrechten Klappteilen in der Mitte, welche eine schnelle Verwandlung ermöglichen; Handschattenspiel (Ombromanie) am Ende des 19. Jh.s; in neuester Zeit Spiel mit bloßen oder behandschuhten Händen und von unten geführten Gegenständen wie Papier, Straußenfedern, Spiralen u. a., die Personen bloß suggerieren ('Tragedie de papier' und 'Les mains seules' von Ives Joly in Paris, Fred Schneckenburgers Puppen-Cabaret in Zürich). Von den Spielvoraussetzungen hängen auch die Theaterstücke ab. Das Handpuppenspiel ζ. B. ermöglicht im Allgemeinen nur das gleichzeitige Auftreten von zwei oder drei Figuren an der Spielleiste, sofern diese nicht überwunden wird (Max Jakob in Hohnstein) oder die Aufführung in einem Rundtheater stattfindet (Fred Schneckenburger). Durch die Führung steht die Handpuppe in unmittelbarstem Kontakt mit dem Spieler, daher liegt dem Handpuppenspiel Aktualität und Ansprache des Publikums näher als dem Marionettentheater, das hingegen größere Ansprüche an Text, Kostüm und Dekoration stellt. Zwischen beiden steht das Stockpuppentheater; die dreigeteilte Bühne des Hänneschentheaters bietet besondere Möglichkeiten für Zwischenspiele: rechts von der etwas zurückliegenden Mittelbühne mit Vorhang auf einer offenen Dorfstraße, links auf einer Straße in der Stadt. Philipp L e i b r e c h t , Über Puppenspiele u. ihre Pflege (Innsbruck 1921; BVB Bundessduiften). Peter Richard R o h d e n , Das Puppenspiel (1922; Unser Volkstum 2). Alfred A l t h e r r , Schatten- u. Marionettenspiele (Zürich 1923; Schriften d. Gemeindestube 1). Leo W e i s m a n t e l , Das Werkbuch d. Puppenspiele (1924). Lothar B u s c h m e y e r , Die ästhet. Wirkungen d. Puppenspiels. Diss. Jena 1931. Fritz Eichl-er, Das Wesen d. Handpuppen- u. Marionettenspiels (1937; Die Schaubühne 17). Luzia G l a n z , Das Puppenspiel u. s. Publikum (1941; NDtFschgn. 33). Ergenij S. D e m e n i j , Puppenspiel auf d. 19

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Puppentheater

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§ 2. Der Ursprung des P.s liegt im Dunkeln. An seinen Anfängen stehen einerseits das Kinderspiel mit Puppen, andrerseits das bewegliche Götzenbild. In einem Zauberjagdspiel der Wilden Wedda auf Ceylon wird das Wildschwein, aus Blättern, Gras und Zweigen gefertigt, von einem Knaben, der das Quieken des verendenden Tieres nachahmt, an einer Liane hin und hergezogen. Bei den Primitiven Afrikas und Ozea-

niens kommen bewegliche Puppen bei kultischen Feiern vor. Die javanischen Begriffe wajang (Spiegelbild, Theater), dalang (Puppenspieler, der die Toten in Abbilder bannt) und kelir (Bildschirm) gehören einer praehistorischen Sprachperiode an. Wajang-pürwa ('antikes Theater' im Gegensatz zum neueren wajang-wong d. h. 'Menschentheater') heißt das Spiel mit reliefartigen und flachen Figuren aus bemalter Büffelhaut, welche den Mythos Rämas darstellen; sie werden von den Männern hinter dem Schirm als Puppen, von den Frauen vor dem Schirm als Schattenfiguren gesehen. Auf das hohe Alter des P.s weist auch der indische Mythos, in dem sich Gott Shiva in die von seiner Frau Parva hergestellte Puppe verliebt, ihr Leben einhaucht und sie als Gesandte zu den Menschen schickt. Sutradhärah d. h. Fadenhalter, wird noch im 10. Jh. n. Chr. der indische Theaterdirektor genannt. Uralt sind die bunten transparenten Schattenspielfiguren Chinas. In Ägypten sind hölzerne Gelenkpuppen aus dem Jahre 1900 v. Chr. gefunden worden. Herodot (484-425 v. Chr.) berichtet von beweglichen ägypt. Götterstatuen, Dio Cassius (155-240 n. Chr.) von ägypt. Plastiken, die Blut vergießen, vor Angst schwitzen und vor Schrecken umfallen. Die griech. Marionetten aus Ton, Wachs, Elfenbein und Holz, ausnahmsweise auch aus Bronze und Silber, heißen agdlmata neurospästa (mit Fäden bewegliche Bilder), was auf ihren religiösen Ursprung hinweist. Xenophon schildert in seinem Symposion das Gastspiel eines syrakusanischen Wanderkomödianten im Hause des reichen Kallias in Athen, der 422 v. Chr. eine Pantomime mit lebendigen Darstellern und auch (zum Mißfallen des Sokrates) ein Puppenspiel vorführt. Athenaios erwähnt in seinem Sammelwerke Detpnosophistai den Marionettenspieler Potheinos, einen Nachfahren des Euripides, dem die Athener um 300 v. Chr. sogar das Dionysostheater zur Verfügung stellten. Aristoteles berichtet von autömata thaümata (sich selbst bewegende Erscheinungen), wie einer mittelst Quecksilber beweglichen Venus aus Holz, die Dädalus zugeschrieben werde. Heron von Alexandria gibt im 2. Jh. v. Chr. ein Werk über die von ihm konstruierten Automaten heraus: mittelst Fäden und Gegengewichten bewegliche Figuren, die auf beweglicher Bühne

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ater ζ. Β. eine Apotheose des Bacchus oder auf statischer Bühne mit Dekorationswechsel kleine Tragödien mit Zwischenspielen darstellen. Titus Livius (59 v. Chr.-17 n. Chr.) berichtet von beweglichen röm. Götterstatuen, Horaz von „an Strängen beweglichen Holzfiguren" (nereis alienis mobile lignum). Noch im 12. Jh. bedauert Eustathios, Erzbischof von Thessalonike, die Blüte der Marionettenspiele. Ausläufer des griech.-röm. F.s ist das türkische und griech. Schattenspiel. Schon in der Antike erscheint das F. als Bild des menschlichen Lebens und Schicksals, und dieses Motiv wird als Topos an das MA. und die Neuzeit weitergegeben. Piaton vergleicht den Menschen mit einer Marionette in der Hand der Götter und seine Leidenschaften mit den Fäden, die ihn ziehen, Aristoteles den Meister des Universums mit einem Marionettenspieler, der die Menschen wie Puppen an Kopf, Augen, Händen, Schultern und allen Gliedern bewegt. Horaz, dann der Satiriker Persius Flaccus (34-62) und Kaiser Marcus Aurelius stellen die Handlungsfreiheit des Menschen durch den Vergleich mit der Marionette infrage. Synesius, Bischof in Ägypten um 370 n. Chr., vergleicht die Emwirkung Gottes auf die Dämonen mit ι den Handgriffen des Puppenspielers. Realistischer sieht der röm. Arzt Gallienus (131 -201) den Mechanismus des menschlichen Körpers im Bilde der von Fäden geführten Marionette. Oskar E b e r l e , Cenalora. Leben, Glaube, Tanz u. Theater d. Urvölker (1954; Schweizer Theater-Jb. d. Schweiz. Ges. f. Theaterkultur 22/23) S. 152. Carl Nies sen, Handbuch d. Theaterwissenschaft. 1, 2 (1953) S. 341-347, 1, 3 (1958) S. 666 f., 678-680, 696 f., 705 f., 794, 1010-1015, 1062-1066, 1079, 1226. — Godard Arend Joh. H a z e u , Bijdrage tor de kennis van liet javaansche tooneel (Leiden 1897). J. Kats, Het javaansdie tooneel. 1: Wajang poerwa (Weltevreden 1923). Otto Höver, Javanische Schattenspiele (1923). Erich Hors t e n , Beiträge z. Erforschung d. javanischen Sdiattentheaters (Masch.) Diss. Wien 1963. — Richard P i s c h e l , Die Heimat [Indien] des Puppenspiels (1900; Hallesche Rektoratsreden 2). Otto S p i e s , Das indische Schattentheater (Theater der Welt II 1 S. 1 fl.). — Josef R a a b e , Die Donnergipfel-Pagode. E. Beitr. a. Gesch. d. chines. Schattenspiels. Diss. Bonn 1940. Max B ü h r m a n n , Studien über das diines. Schattenspiel (1963; Lüdenscheider Beiträge 10). — Curt P r ü f e r , Ein ägyptisches Schattenspiel. Diss. Erlangen 1906. Paul Kah-

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§ 3. Mittelst Fäden oder Federn bewegI liche Christus-, Marien- und Heiligenfiguren ] j sind anscheinend schon im 7. Jh. von der | christl. Kirche in Byzanz nach heidnischem Vorbild eingeführt und später vom Abendland übernommen worden. Das altehrwürdige Kruzifix von Boxley, dessen Christusfigur Augen und Mund bewegen konnte, wird 1538 als Teufelswerk zerbrochen. Ein ebenso alter Gekreuzigter aus der Bretagne mit vier beweglichen Figuren zu seinen Füßen ist in einer Sammlung in London erhalten, ein hölzerner Palmesel mit Christus, der einen beweglichen Arm hat, in Aachen, der barocke Torso eines Gekreuzigten aus Holz, der im Tode mittelst einer Feder das Haupt senkt und Blutfarbe verströmt, wenn ihn die Lanze des Longinus an der Seite berührt, in Brig (Wallis). Ein fast vier Meter hohes Kreuz mit einem beweglichen Christus ίο*

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Puppentheater

im Rahmen eines christl. Missionsspiels mit lebenden Darstellern sah noch Ende des 18. Jh.s ein franz. Reisender in Indien. In der Provence gibt es „ Creches parlantes": von unten geführte, mit einem Hebelwerk an den Armen bewegte Figuren führen Weihnachtsspiele auf, in denen auch profane Szenen vorkommen. Im christl. Byzanz wird auch die Kunst der Automaten weiter entwickelt und an die Araber vermittelt, die ihrerseits das Abendland damit beschenken. Hydraulische Automatenuhren mit beweglichen Figuren lassen Harun-al-Raschid Kaiser Karl d. Gr. (807) und Sultan Saladin von Ägypten Kaiser Friedrich II. (1232) überbringen. Automaten werden in Albrechts von Scharfenberg Jüngerem Titurel (um 1270) bei der Beschreibung des Graltempels erwähnt: fliegende Engel, eine an einer Schnur herabschwebende Taube und verschiedene, auf einem goldenen Baume singende Vögel. 1356-1361 wird in der Marienkapelle in Nürnberg ein „Männlein-Laufen" eingerichtet. Eine mechanische Krippe stellt der Augsburger Goldschmied Hans Schlottheim 1585 für den Churfürsten Christian I. von Sachsen her. Unterhalb der Orgel im Nordschiff des Straßburger Münsters bewegten sich früher mittelst Drähten, die mit den Pedalen verbunden waren, ein lebensgroßer Samson auf einem brüllenden Löwen, dem er das Maul öffnete (seit 1489), und zu beiden Seiten ein Trompetenbläser und ein „Meistersinger". Heute noch funktionieren Automatenwerke u. a. am Zeitglockenturm in Bern. Auch die Karussell-Orgeln bewahren noch Reste davon. Vermutlich auf ein von unten geführtes Figurentheater bezieht sich der Ausdruck Himmelreich, der in Basler Zollerhebungen 1470 und 1474, einem Wiener Ratserlaß 1479, «in Zürcher Wörterbüchern des 16. Jh.s und in Nürnberger Ratserlassen derselben Zeit im Zusammenhang mit umherziehenden Gauklern gebraucht wird. In einem Straßburger Ratsprotokoll 1513 werden „himmelreich und puppenspiel, wo in der messzeit pflegen gehalten zu werden" erwähnt. In einem Nördlinger Ratsprotokoll 1575 ist von „gaukelspiel" oder „himmelrich" die Rede; Frischlin (1547-1590) übersetzt himmelreich mit „ludus puparum", was keinen Zweifel an seinem Spielcharakter

läßt. D a ß dabei auch komisdi-dämonisdie Szenen vorkamen, erweist eine Stelle der Narrenbeschwörung von Thomas Mumer (1512), wo in einem himelrych Meister Isengrimm einer Begine den Braten stiehlt und den Ehebrechern mit seinem Pfeil die Nase abschießt, ein Knabe um sich schlägt und die Leute narrt und ein Mönch ein Kissen nach einer Äbtissin wirft. Passions- und andere geistliche Spiele, die ausdrücklich „von Figuren" dargestellt werden, sind im späten 16. Jh. und nachher mehrfach bezeugt. Noch in der 2. H. des 18. und im beginnenden 19. Jh. gibt es in Wien und Niederösterreich ζ. T. mechanische, ζ. T. von unten geführte Krippenspiele, wie ζ. B. in St. Pölten, wo das Spiel von den Paradeisszenen über die Christgeburt bis zu Christi Lehrtätigkeit reicht. In Hötting bei Innsbruck entfaltet sich aus ähnlichen Grundlagen das 'PeterlspieP, bei dem allmählich der lokale Lustigmacher Peterl dominiert. Auf rhein. Krippenspiele mit von unten geführten Figuren geht das 1802 eröffnete 'Hänneschetheater' in Köln zurück, ein Stockpuppentheater, das ursprünglich 'Kreppche' hieß. Noch heute ist das 'Steyrer Krippl' erhalten, das mit mechanischen Mitteln den Einzug der hl. drei Könige, eine Fronleichnamsprozession, die Parade der Bürgergarde, Schlittenfahren, Kindstaufe, den Steyrer Schiffszug und die Einkehr des hl. Nikolaus vorführt. A l b r e c h t von Scharfenberg, Der jüngere Titurel. Hg. v. Werner Wolf. Bd. 1 (1955; DTMA. 45) S. XXXVII, 86 (344), 88 f. (352. 353), 99 (392-395). Albert C a r l e n , Das Oberwalliser Theater im MA. Schweizer. Archiv f. Volkskde 42 (1945) S. 70 u. 102. — A.-M. V i x - B e u l a y , L'Enigme du Roraffe. Essai sur les mannequins articules du buffet des orgues de la cathedrale de Strasbourg. L'Alsace franfaise 20 avril 1935, S. 5-59. — A. Rudolf J e n e w e i n , Das Höttinger Peterlspiel (Innsbruck 1903). Ders., Alt-Innsbrucker HanswurstSpiele. Nachträge zum Höttinger Peterlspiel (Innsbruck 1905). Margarete B i s c h o f f , Alte Puppenspiele in u. um Innsbruck. E. Beitr. z. Höttinger Peterlspiel. österr. Zs. f. Volkskde 63 (1960) S. 85-104. Victor v. G e r a m b u. Victor Z a c k , Das Steyrer Kripperl. Wiener Zs. f. Volkskunde 25 (1919) S. 1-40. Raimund Z o d e r , Das Traismaurer Krippenspiel. E. dt. Weihnachtsspiel aus d. Beginn d. 19. Jh.s (Wien 1920). Ders., Das St. Pöltener Krippenspiel (Wien 1930; Unsere Heimat. NF. 3) S. 130. Emil Karl B l ü m m l u. Gustav G u g i t z , Alt-Wiener Krippenspiele (Wien 1925; Kultur u. Heimat 1). Dies., Alt-Wiener Thespiskarren

Puppentheater (Wien 1925) S. 66, 87, 308, 334, 495. Gustav Gugitz, Regesten z. Gesdi. d. medianischen Theaters in Wien u. NiedeTösterreich. Jb. d. Ges. f. Wiener Theaterforschung 1954/55 (Wien 1958) S. 69-79. § 4. Wann die Handpuppe und Marionette im dt. Sprachgebiet erschienen sind, ist unbekannt. Aus der lat. Übers, des ahd. Begriffes todia (Docke, Puppe) mit mima oder mimula schließen einige Forscher, daß röm. Wanderkomödianten im Gefolge der röm. Heere die Spielpuppe nach Deutschland gebracht haben. Leopold Schmidt sieht in dem im Hochma. erscheinenden Puppenspiel Wandergut fahrender Gesellen, das im Zug der Kreuzzüge und in den anschließenden Berührungen Mitteleuropas mit dem östlichen Mittelmeergebiet hier Eingang fand. Herrad von Landsberg bildet in ihrem Hortus deliciarum (1170) unter dem Titel 'ludus monstrorum' ein Kinder-Marionettenspielzeug ab, das in ähnlicher Form noch im Weisskunig des jungen Maximilian (1513) erscheint: Ein Knabe und ein Mädchen bewegen an horizontalen Fäden geführte Ritter zum Kampfe. Auf ähnliche Schaukelpuppen ('marionnettes ä planche') deuten die im ritterlichen Erziehungsspiegel Der Jüngling des Konrad von Haslau (spätes 13. Jh.) und im Lügenmärchen Das Wachtelmsere (Mitte 14. Jh.) erwähnten tatermanne hin, die an Schnüren bewegt werden; ihr Name erweist den dämonischen Eindruck, den diese beweglichen Puppen auf den Zuschauer machten. 1363 läßt Graf Jan von Blois in Dordrecht ein 'Dockenspiel' aufführen, 1395 wird dort ein Mann dafür bezahlt, daß er vor dem Grafen von Holland ein 'Dockenspiel' aufgeschlagen hat; 1451 wird ebendort verboten, in der österlichen Zeit „Dockenspiele zu hantieren" Das Vorhandensein des Hand-P.s im 14. Jh. erweisen die 1344 zu dem franz. Heldengedicht Li romans du boin roi Alixandre gemalten Illuminationen des vermutlich aus den Niederlanden stammenden Jehan deGrise: u. a. drei Mädchen vor einer Kasperbude, an deren Spielieiste sidi eine männliche und weibliche Figur hauen und stechen. Daß Spielleute Puppen mit sich führten, zeigt das dt. Rittergedicht Malagis (15. Jh., nach einer ndl. Übertragung einer franz. Chanson de geste): Die Fee Oriande, als Spielmann verkleidet, führt im Schlosse zwei Puppen (vermutlich Schaukelpuppen) vor.

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1574 taucht in Lüneburg der Begriff hamerlink auf, der erste bekannte Name eines Lustigmachers des dt. P.s. Fischart spricht in seiner Geschichtsklitterung (1575) von den Possenreißern „Kunzenjäger, Meister hemmerlein und Rosstreckgaukler" und erwähnt in seinem Bienenkorb (1588) die „batzen oder stiber", die man zahlt, um „ein meister Hemmerlinsspil oder andern Gaukelmarkt zu sehen". Im Ambraser Liederbuch (1582) und in der Sprachenschule von Scheräus (1619) ist Meister Hemmerlein der Teufel. Auch Johann Valentin Andreae erwähnt ihn in seiner Christenburg (1626) in diesem Sinne. Leopold Schmidt vermutet in ihm einen phallischen Dämon und in seinem Auftreten im Puppenspiel eine Anregung des türkischen Karagöz. Caspar von Stieler setzt in Der deutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs (1691) „meister Hämmerling" dem Hanswurst gleich; noch Johann Leonard Frisch sagt in seinem Teutschlateinischen Wörterbuch (1741) von ihm: „im Puppenspiel, da man die Hand in die Puppe steckt . . . ist es der Pickelhäring". In dem 1550 in Nürnberg verlegten Werke De varietate return des ital. Arztes und Mathematikers Hieronymus Cardanus werden erstmals in Deutschland neben den bereits bekannten Schaukelpuppen eigentliche Marionetten beschrieben. 1596 taucht in Frankreich der Ausdruck marionnette ('kleines Mariechen') auf, den franz. Forscher von den beweglichen Marienfigürchen herleiten, wie sie, trotz des Verbotes des Tridentiner Konzils, bewegliche Heiligenfiguren anzufertigen, noch im 16. Jh. gebräuchlich waren. Erst um 1700 wird das Wort Marionette in die dt. Sprache übernommen. In seiner sozialen Stellung steht der Puppenspieler im MA. dem niederen Spielmann gleich. Hugo von Trimberg in seinem Lehrgedicht Der Renner (um 1300) urteilt satirisch, wer reidi und achtbar werden wolle, brauche nicht nach Ehrbarkeit und Können zu streben, er solle nur goukel spil lernen, under des mantel erkobolde mache (V. 500811). Im Redentiner Osterspiel (1464) fordert Luzifer seine Gesellen auf, die dar speien mit den docken und den doren ere geld aflocken, vor ihn zu schleppen. Den Topos vom „P. des Lebens" kennt auch das MA. Thomasin von Zerklaere im Wälschen Gast (1216) und Ulrich von dem

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Türlin im Willehalm (2. Η. 13. Jh.) nennen der Welt Freude ein tocken spil; der Spruchdichter Meister Sigeher (1253) sieht das Umspringen des Papstes mit den dt. Kurfürsten im Bilde des P.s. Jakob u. Wilh. Grimm, Dt. Wörterbudi. Bd. IV, 1, 5 (1958) Sp. 57-58 (Gliederpuppe), Bd. VII (1889) Sp. 2245-2249 (Puppe). Schweizer. Idiotikon. Bd. VI (1909) Sp. 158 f. Hans Schulz u. Otto B a s l e r , Dt. Fremdwörterbuch. Bd. II (1942) S. 73. — Handwb. d. dt. Aberglaubens. Bd. 3 (1930/31) Sp. 1376-1378 (Hämmerlein), Bd. 5 (1932/33) Sp. 29-47 (Kobold), Bd. 7 (1935/36) Sp. 388-399 (Puppe), Bd. 8 (1937) S. 676-683 (Tatteimann). H. F r e u d e n t h a l , Puppenspiel. Sadiwb. d. Deutschkunde. Bd. 2 (1930) S. 962-964. Rieh. Β e i 11, Wörterbuch d. dt. Volkskunde (2. Aufl. 1955) S.615-619. — Johann G. Th. Grässe, Zur Gesch. d. Puppenspiels u. d. Automaten (1856; Gesdi. d. Wiss. im 19. Jh., hg. v. J. A. Romberg). Hermann Siegfried Rehm, Das Buch d. Marionetten (1905). Georg J a c o b , Erwähnungen d. Schattentheaters in d. Weltlit. (3. Aufl. 1906). Jacques Chesnais, Histoire ζέηέταΐβ des marionnettes (Paris 1947). Hans Rieh.-Purschke, Vom Bavastell tum Meister Hämmerlein. Perlicko-Perladco. Fachblätter f. Puppenspiel. Bd. 4, S. 64-69 (H. 4, 1959, 2)., S. 80-89 (H. 5, 1959, 3). — Philipp L e i h r e c h t , Zeugnisse u. Nachweise z. Gesch. d. dt. Puppenspiels. Diss. Freiburg 1918. Ders., Gesichtspunkte zu e. Gesch. d. Puppenspiels in Deutschland. LE. 23 (1920/21) Sp. 12111214. Hans Naumann, Studien über d. Puppenspiel. Kurzer Versuch e. wirklichen Gesch. desselben in Deutschland. ZfdB. 5 (1929) S. 114. Hans Moser, Volksschauspiel (1931; Dt. Volkstum, hg. v. John Meier 3) S. 40 f., 99,122, 128. Carl Nies sen, Das Volkssdtauspiel u. Puppenspiel. Handbuch d. Dt. Volkskunde, hg. v. Wilh. Pessler. Bd. 2 (1938) S. 462-487. Leopold Schmidt, Dämonische Lustigmachergestalten im dt. Puppenspiel d. MA.s u. d. frühen Neuzeit. Zs. f. Volkskde 56 (1960) S. 226-235. Ders., Volksschauspiel. Stammler Aufr. Bd. 3 (2. Aufl. 1962) Sp. 2767-2768. § 5. Seit dem Barock nimmt das P. audi im dt. Sprachgebiet einen großen Aufschwung. Viele Wanderkomödianten nehmen auf ihren Reisen Spielpuppen mit, die sie in Notzeiten oft allein einsetzen, und spielen ζ. T. noch im 18. Jh. mit Marionetten und lebendigen Darsteilem. Neben deutschen treten auch Puppenspieler aus England, Frankreich, Holland, Italien und Spanien in Deutschland und Österreich auf. In der Schweiz können von 1670 bis 1800 bei insgesamt 200 Wanderkomödianten 60 Marionettenspieler deutscher, österreichischer, böhmischer, französischer, italienischer, holländischer und engli-

scher Herkunft festgestellt werden. Die dt. Puppenspieler bilden bald eine förmliche Zunft mit besondem Gesetzen, zu denen auch das Verbot der Niederschrift der Spieltexte gehört, und besonderer Berufstracht (schwarzem Mantel und schwarzem Krempenhut). Gespielt wird mit Handpuppen, Marionetten und (seit dem letzten Drittel des 17. Jh.s, von Italien angeregt) mit Schattenfiguren. Gelegentlich werden noch die bisher üblichen geistlichen Stücke gezeigt, wie 1618 in Braunschweig ein Jüngstes Gericht oder die alten Rittergeschichten wie 1611 in Berlin Vom alten Hildebrandt. Bevorzugt werden jedoch die auch geistliche Stoffe umfassenden Haupt- und Staatsaktionen der Wanderkomödianten, in denen Pickelliäring oder Hanswurst eine Hauptrolle haben. Sie gehen, wie ζ. B. die beliebten Puppenspiele vom Doktor Faust und Vom verlorenen Sohn auf Aufführungen engl. Komödianten zurück. Diese treten gelegentlich selber mit Puppen auf, nachdem das Marionettentheater um die Wende des 16. zum 17. Jh. in England zu einer ersten Blüte gekommen war. So führt ζ. B. ein engl. Komödiant 1608 in Köln „englische Docken" vor. 1644 zeigen die Springer von Freiberg vor dem kurfürstlichen Hofe in Dresden ihre Sprünge, einen Bären, eine Fechtschule und Puppen; 1646 spielen sie auf der Moritzburg bei Dresden eine Comödie von Erschaffung der Welt mit Puppen. Grimmelshausen (um 1625-1676) erwähnt im Seltzamen Springinsfeld „Pupaper, Seiltänzer, Taschenspieler, Zeitungssinger und was des ehrbaren Gesindels mehr ist" auf einem Jahrmarkt. Abraham a Santa Clara (1644-1709) spricht von Prinzipalen, welche die „hölzerne Comödie" am Buckel hatten, damit sie die lebendigen Darsteller entlassen konnten, wenn die Geschäfte schlecht gingen. Magister Johann Velthen (1640 bis um 1690) zeigt 1686 in Bremen „italienische Schatten" und bietet in einer Eingabe an Frankfurt „Puppenspiele und Schatten" an. Seine Witwe spielt noch 1712 in Köln mit „angerühmten Marionetten". Um 1695 spielen „dänische privilegierte Hofakteurs" in Hamburg Die öffentliche Enthauptung des Fräulein Dorothea (nach einer Haupt- und Staatsaktion der engl. Komödianten) mit Figuren, wobei die Exekution der Märtyrin mehrmals da capo | verlangt wird. 1698 werden auf dem Ham:

Puppentheater

burger Marktplatz „mit grossen Posituren herrliche Actiones" wie Fausts Leben und Tod gezeigt. 1701 darf der Danziger Bürgerssohn Emst Carcerius in seiner Vaterstadt „Porcionettenspiel, welches in kleinen Marionetten" besteht und „Nachspiele mit lebendigen Personen" veranstalten. 1719 verheißt der starke Mann, Zahnbrecher und Komödiant Ferdinand Beck in Basel, „die Comödie entweder in lebendigen Personen vorzustellen oder aber ihr Marionettenspiel sehen zu lassen", und belebt 1731 in Frankfurt a. Main seine Aufführungen mit einem Schattenspiel. 1731 spielen die „Hochfürstlich Baden-Durlachische Hochdeutsche Comödianten" unter der Direktion von Titus Maass in Berlin mit „großen englischen Marionetten". Auf dem Programm steht auch „eine sehenswürdige, ganz neu elaborirte Hauptaktion, genannt: „Die remarquable Glücksund Unglücksprobe des Alexander Danielowitz, Fürsten von Mentzikoff, eines großen favorirten Cabinetsminister und Generalen Petri I., Czaaren von Moskau . . . , mit Hanswurst, einem lustigen Pastetenjungen, auch Schmirfax und kurzweiligen Wildschützen in Sibirien", also ein aktueller Stoff, wogegen die preußische Regierung aus polit. Gründen ein Spielverbot erläßt. 1746 eröffnen in Hamburg „extraordinär sehenswerte Puppenspieler ihre Bühne mit der Erzzauberin Medea, einer galanten Aktion aus der Mythologie". Der Schneider Carl Friedrich Reibehand aus Sachsen, der seit 1734 mit Marionetten und lebendigen Darstellern auftritt, spielt 1752/53 in Hamburg Burlesken, Haupt- und Staatsaktionen und ital. Schattenspiele. Hauptzugstüdce sind: Ein Dr. Faust-Spiel mit dem lustigen Nachspiel Herzog Michel von Johann Christian Krüger, sowie Der verlohrne Sohn; von ihnen war jedenfalls letzteres eine Puppenkomödie, werden doch darin nur dem Marionettentheater mögliche Masdiinenkünste entfesselt: „Früchte, die der verlohme Sohn essen wollte, verwandelten sich in Totenköpfe, Wasser, das ihn zu trinken gelüstete, in Feuer. Felsen wurden vom Blitze zerschmettert und repräsentieren — einen Galgen, an welchem ein armer Sünder hing, welcher stüdeweise herunterfiel, sich wieder zusammensetzend aufstand und den verlohrnen Sohn verfolgte. Dann sah man diesen in Gesellschaft lebendiger grunzender Säue beim Trebenischmaus."

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1774/75 zeigt Ε. H. Freese in Hamburg mit mechanischen Miniaturpuppen „Stücke mit durchgängigen Lustbarkeiten und Intriguen" wie Don Juan nach Moliere, Die Verwirrung bei Hofe (nadi einer ndl. Bearbeitung der span. Komödie von Mescua), Das zerstörte Fürstentum, und präsentiert gleichzeitig sein bewegliches „Theatrum mundi" mit Figuren. Der Puppenspieler Storm führt im Winter 1777/78 in Hannover Donschang, der desparate Ritter (Don Juan) auf. Im Südosten des dt. Sprachgebietes ist eines der großen Puppenspielzentren die Stadt W i e n , wo 1667 von dem Italiener Peter Resonier das erste stehende Marionettentheater im dt. Sprachgebiet eröffnet wird, das sich 40 Jahre lang behauptet und u. a. das Puppenspiel vom Doktor Faust mit Opernarien und Balletten ausschmückt. 1669 wird Stephan Landolfi als Pulcinella gefeiert. 1669-1672 setzt sich der österr. Pulcinellaspieler Joris Hilverding durch, der 1671 auch in München „fünfmahl das Politschinellaspil exhibirt". Nach seinem Tode (1672) führt sein Sohn Johann Baptist Hilverding das Theater weiter und gastiert mit seinen 1,50 Meter hohen Marionetten 1698 in Prag, 1699 in Danzig, 1700 in Bremen und Stockholm, 1701 in Hannover und Lübeck, 1702 in Köln und Lüneburg, wo er sich rühmt, über fünfzig Komödien und gesprochene Opem bei wechselvoller Dekoration geben zu können, wie ζ. B. Hercules und Alceste, Jason und Medea, Perseus und Andromeda, Aurora und Cephalus. 1685 und 1697 führt ein Peter Hilverding im alten Wiener Ballhaus sein „Polizinelltheater" vor; 1706 finden wir ihn in Breslau, 1707 in Hannover. Mit Puppen spielt zuerst auch der bekannte Hanswurst und eigentliche Begründer des Wiener Volkstheaters, Joseph Anton Stranitzky (1676-1726), der vermutlich auf dem P. seinen berühmten Salzburger BauernHanswurst geschaffen hat. Erwähnt werden 1698 sein „Putschenell-Spill" in Burghausen, 1699 seine „Polichinellspiele" in München und Nürnberg, 1701 und 1702 seine „Marionettenspiele" in Nürnberg und Augsburg. 1702 rühmt er sich in Köln der Pantomimen, Ballette und Maschinensingspiele, die er auf seiner Puppenbühne mit „offener Verwandlung des theatri" aufführt. Obwohl er 17051706 in Wien gemeinsam mit den Puppenspielern Johann Baptist Hilverding und Ja-

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Pappentheater

kob Nafzer zum Theater mit lebendigen Darstellern übergeht, gibt er die Marionetten nidit ganz auf und erhält noch 1714 ein ausdrückliches Marionetten-Spielprivileg in Wien. Stranitzkys Nadifolger, der Hanswurst Gottfried Prehauser (1699-1869), tritt in seiner Jugend sowohl im Personen- wie im Marionettentheater auf. Der von Johann Laroche 1764 in Graz auf der Personenbühne kreierte und seit 1769 in Wien Begeisterung erweckende Lustigmacher „Kasperl" wird bald von der österr. und süddt. Puppenspielbühne übernommen und bringt dem Handpuppenspiel die allgemeine Bezeichnung 'Kasperletheater* ein. Einer der letzten berühmten Wiener Marionettenspieler ist der Mechanikus Georg Geisselbredit, der 1790 in Solothum mit Marionetten- und Schattenspielen gastiert und während des Friedenskongresses in Rastatt (1797-1799) ebenso wie 1804 in Weimar vor allem mit seinem Doktor Faust erfolgreich ist. Um die Mitte des 18. Jh.s ist das P. in F r a n k f u r t sehr rege. Bei der Krönung Franz I. zum dt. Kaiser 1745 treten nicht weniger als drei Puppenspieler auf: Eberhard Meyer, Jakob Saler und Matthäus Buschmann; 1753 und 1754 Eberhard Meyer und Robert Schäffer; 1754—1757 finden wir die Puppenspielerin Anna Regina Heimännin, 1754-1755 Franz Lindt, 1757 Johann Friedrich Weber aus Mainz und Wolfgang Hochstetten In der dt. S c h w e i z tritt in den 30er Jahren des 18. Jh.s der norddt. Puppenspieler Johannes Kunninger mit „Englischen Marionetten in Lebensgröße" in Basel, Solothum und Bern auf. 1745-1750 gastieren Johannes Lind und seine Frau Eva Margareta aus Gerabronn bei Ansbach hauptsächlich mit „großen und propre gekleideten Marionetten auf ihrem oft veränderten Theatro" in Basel, Solothum, Zürich, Winterthur, St. Gallen und Bern, 1752-1758 hauptsächlich mit lebendigen Darstellern, bis Eva Lind 1768 zum Puppenspiel zurückkehrt. Erhalten sind 6 Theaterzettel von Marionettenspielen Linds der Zürcher Pfingstmesse 1750: Don Juan, David und Absalon, Die Zauberschule, Augustus und Cleopatra, Das Narrenspital und Dr. Faust. 1776-1777 gastieren Eberhard Meyer und seine Tochter Elisabeth aus Gerabronn bei Ansbach mit „großen Drahtpuppen", bis 1779 noch sein

Sohn Johannes. 1768-1779 zeigen Jean Joseph Marquis aus Fossano bei Turin, den vermutlich Goethe 1773 in Frankfurt a. M. gesehen hat, „ Ombres chinoises oder chinesische Schatten", 1769-1779 Joseph Gelmy aus Venedig „Singspiele mit chinesischen Schatten", 1785 Jakob Chiarini aus der bekannten ital. Artistenfamilie neben Seil tanz Chinesische Marionetten- und Schattenspiele. Einen besondem Aufschwung nimmt in der 2. Hälfte des 18. Jh.s trotz zeitweiliger Verbote das Marionettenspiel i n M ü n c h e n . An der Jacobi-Dult veranstaltet ein Mang Hage oder Joseph Haage seit 1751 für 44 Jahre regelmäßig seine „englischen sogenannten Marionettenspiele oder Schauspiele mit leblosen Figuren". Seit 1758 spielt Franz Paul Aulinger mit Marionetten. 1772 geben er und Lorenz Lorenzoni gemeinsam „geistliche Hütten- und Kreuzerspiele". 1791 treten die Marionettenspieler Joseph und Anton Heuberger, Franz Xaver Wagner sowie Johann Springer auf, der u. a. einen inhaltlich an Schillers Kabale und Liebe erinnernden Heiligen Taglöhner aufführt, 1792 Joseph Wieser und Simon Leimberger, 1793 Franz Paul Schmid, dessen Bettelstudent über das gleichnamige Lustspiel von Paul Wiedmann auf das Fastnachtspiel Der fahrende Sdiüler mit dem Teufelsbanner (Hans Sachs) zurückgeht. In U l m eröffnet Georg Lindner 1772 mit dem Tanzlehrer und Musiker Joseph Anton Mayer eine erste stehende „Dockenkomödie", die später Mayer allein fortführt und auf seine Töchter vererbt, von denen sie 1824 der Enkel Josef Anton Weyermann übernimmt. Hauptzugstück ist das im 19. Jh. herausgegebene altertümliche tJlmer Puppenspiel vom Doktor Johann Faust, in dem noch der auf die engl. Komödianten zurückgehende Pickelhäring vorkommt. Am 4. Dezember 1781 wird in S t r a ß b u r g ein stehendes „Püppelspiel" eröffnet, wobei in der Folge Hanswurst jedes Neujahr von der Bevölkerung beschenkt wird. Im Winter 1800 gibt das Straßburger Püppelspiel chinesische Schattenspiele und Marionetten-Theater. Christian Heinr. S c h m i d t , Chronologie d. dt. Theaters (1775). Neu hg. v. Paul Legband (1902; SdirGesThg. 1) S. 34, 48, 105, 113 f., 219. Theodor H a m p e , Die fahrenden Leute in d. dt. Vergangenheit (1902; Monographien z. dt. Kulturgesdi. 10) S. 12,37,112 f. Wifii. C r e i z e n a c h , Die Schauspiele d.

Pappentheater engl. Komödianten (1889; DNL. 23) S. XV, XXX. Ders., Gesch. d. neueren Dramas. Bd 1 (1893) S. 388 ff., 3 (1903) S. 445, Anm. 2. — Philipp L e i b r e c h t (s. §4). Leopold Schmidt, Das dt. Volksschauspiel in zeitgenöss. Zeugnissen vom Humanismus bis z. Gegenuo. (1954) S. 13, 15, 35, 65 f., 77 f., 78-80. Ders., Das dt. Volksschauspiel. E. Handbuch (1962) S. 15,16, 30, 33 f., 45 f., 55, 56, 58, 71, 83,166, 167,181, 199, 210, 211, 223, 241 f., 328, 336, 350. Hans N e t z l e , Das Süddt. Wander-Marionettentheater (1938; Beitr. z. Volkstumforsdiung 2). Heinz K i n d e r m a n n , Theatergeschichte Europas. Bd. 3 (1959) S. 389 ff., 553 ff., Bd. 5 (1962) S. 152, 210, 273, 295, 390, 420, 675. —-Eva F r i e d l ä n d e r , Das Puppenspiel in Österreich. (Masch.) Diss. Wien 1948. — Max Fehr, Die wandernden Theatertruppen in d. Schweiz (Einsiedeln 1949; Theaterkultur-Jb. 18) S. 50-56, 69-70, 167-175. Roberto L e y d i u. Renata M e z z a n o t t e L e y d i , Marionette e burattini. Testi dal repertorio classico ital. del teatro delle marionette e dei burattini (Milano 1958). — J. E. V a r e y , Historia de los titeres en Espana (Madrid 1957). Will H e r m a n n s , Aus d. Frühgesch. d. Aachener Puppenspiels. Rhein. Jb. f. Volkskde 1 (1950) S. 101-111. A.E. B r a c h v o g e l , Gesch. d. Kgl. Theaters zu Berlin. 1. Das alte Berliner Theaterwesen bis z. ersten Blüte d. dt. Dramas (1877) S. 49 f., 54 ff., 69 f. Herrn. Siegfr. R e h m , Berliner Puppenspiele im 18. u. 19. Jh. Mittlgn. d. Ver. f. d. Gesch. Berlins 22 (1905) S. 138-139. Heinr. B u l t h a u p t , Die bremischen Theaterzettel von 1688. ZfBüdifr.2 (1898/99) S. 170-175. Gerhard H e l l mers, Zur Gesch. d. Theaters in Bremen. Zur Erinnerung an d. Jubiläum d. 7Sjähr. Bestehens d. Bremer Stadttheaters 1842-1918, in: Stadttheater Bremen. Jb. f. d. Spielzeit 1926/ 27 (1926). S. 6. Joh. B o l t e , Das Danziger Theater im 16. u. 17. Jh. (1895; ThgFsdign. NF. 12) S. 21, 22, 27, 32 f., 151 f., 154, 155, 159, 161. Alfred O v e r m a n n , Aus Erfurts alter Zeit (1948) S. 80-90. Elisabeth M e n t zel, Gesch. d. Schauspielkunst in Frankfurt a. M. (1882; Archiv f. Frankf. Gesch. u. Kunst) S. 103. Dies., Zwei Frankfurter Faustaufführungen in den 30er Jahren d. 18. Jh.s. BerFDH. NF. 9 (1893) S. 229-247. Dies., Zwei interessante Faust-Zettel d. alten Frankfurter Marionetten-Theater. Frankfurter General-Anzeiger 1902, Nr. 264. Johann Friedrich S c h ü t z e , Hamburgische Theatergeschichte (1794) S. 20 ff., 104 f., 121 f. Joh. E. R a b e , Kasper PutscheneUe. Historisches über d. Handpuppen u. althamburg. Kasperlespiele (1912; 2., verm. Aufl. 1924). Bruno H e y n , Wanderkomödianten d. 18. Jh.s in Hannover (1925; Fschgn. z. Gesch. NiedersaAsens VI, 2) S. 10, 15,18 f., 19f., 121—127. Martin J a c o b , Kölner Theater im 18. Jh. bis z. Ende d. reichsstädtisdien Zeit (1938; Die Schaubühne 21) S. 7f., 13 f., 24, 28, 168 f. Paul L e g b a n d , Münchner Bühne u. Litteratur im 18. Jh. (1904; Oberbayr. Archiv f. Vaterland. Gesch. 51) S. 98-100. Theodor H a m p e , Die Ent-

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bewundert in den 20er Jahren den irischen Marionettenspieler Stretch in Dublin und sieht im Marionettenspiel ein Sinnbild des wechselvollen Lebens und seiner Lächerlichkeit. Henry Fielding legt in seine satirische Komödie The Author's farce (1729) das Marionettenspiel The Pleasures of the town ein und läßt in seinem Roman Tom Jones (1749) seinen Helden das Verschwinden von Punch und Jeanne aus dem Puppenspiel bedauern. Samuel Johnson zieht nach dem Zeugnis seines Biographen James Boswell für die Darstellung der Dramen Shakespeares, vor allem des Macbeth, die Marionettenbühne vor. Henry Rowe (f 1800) in York ist mit seinen Shakespeare-Aufführungen, die große Marionetten agieren, erfolgreich. Weniger günstig ist die d e u t s c h e A u f k l ä r u n g dem P. gesinnt, was noch in der 2. Hälfte des 18. Jh.s zu obrigkeitlichen Verboten von Aufführungen wandernder Puppenspieler führt wie 1765 in Dresden, 1772 in München, 1776 in Aachen und 1797 in Salzburg. Philipp Jakob Spener beschwert sich 1703 beim geistlichen Ministerium Preußens wegen Sebastiano di Scio's Berliner Aufführungen von „ärgerlichen Narretheidungen" und „reizenden Liebesgeschichten", vor allem aber der Tragoedie Doctor Faustus mit ihrer „förmlichen Beschwörung des Teufels" und „lästerlichen Abschwörung Gottes an den bösen Feind". In der Oper Der Hamburger Jahrmarkt oder Der glückliche Betrug von Reinhard Keiser (1725) läßt der Librettist Praetorius in einer Art Vorspiel die Plakatanschlager der Oper, der Komödie und des Marionettenspiels um den besten Platz streiten, worauf Herr Unpartheiisch Comödie und Puppenspiel für abgeschmackt hält und die Oper verteidigt. Georg Paul Hönn führt in seinem Betrugslexikon (Leipzig 1721; 2. Aufl. Coburg 1761) auch den Puppenspieler an. Sogar Lessing, der wahrscheinlich vom P. zu seinem Faust (Fragment 1759) mit angeregt wurde, schreibt im 41. Literaturbriefe (1759) verächtlich: „ . . . der Guckkasten wird nun zu einem Marionettenspiel". Johann Friedrich Löwen hält sich in seinem Gedichte Der Puppenspieler (1762) am sozialen Elend wandernder Puppenspieler auf. Johann Jakob Felzer (geb. 1760) erzählt in seiner Autobiographie, daß er als Schüler nicht in der Bibelstunde vorlesen durfte, weil er in der „Schule des Teufels" d. h. im Ma-

rionettentheater gewesen sei. Goethe hingegen macht sich im Urfaust (V. 230 f.) über die „trefflichen pragmatischen Maximen" des P.-Stils lustig. Friedrich Nicolai reiht in seiner Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781 das aus 31 Maschinen bestehende Wiener Krippenspiel und ein anderes mechanisches Theater, das die Geschichte der Armida u. a. zeigt, unter die „Kreuzerkomödien" ein (IV, 620 f., VIII, 152-154). In Augsburg wundert er sich, in einem Marionettentheater „eine viel vornehmere Gesellschaft" zu finden, als er sich vorgestellt hatte. Er spricht von dem Grotesken dieser Art von Schauspielen, das er in der Diskrepanz von Puppe und Sprecher sieht; das Puppenspiel vom Doktor Faust nimmt ihn allerdings nicht zuletzt wegen der neuen improvisierten Szenen gefangen. Emest M a i n d r o n , Marionnettes et Guignols. Les poupies agissantes et parlantes ä travers les äges (Paris 1900). Frank. W. L i η d say, Dramatic parody by marionnettes in eighteenth century Paris (New York 1946). — George S p e a i g h t , The History of the English puppet theatre (London 1955). Paul McP h a r l i n , The puppet theatre in America. A history. With list of puppeteers, 1524-1948 (New York 1949). — Joh. Georg K r ü n i t z , ökonomisch-technologische Encyclopädie. Th. 84 (1801) S. 446 f. Grete de F r a η c e s c ο, Die Macht des Charlatans (Basel 1937) S. 205 ff. — Lessings Faustdichtung. Mit erl. Beig. hg. v. Rob. Petsch (1911; Geimanist. Bibl. 2,4). Charles Μ a g n i n , Histoire des marionnettes en Europe (Paris 1852) S. 319-330: Des emprunts que Lessing et Coethe ont faits aux tni&tres de marionnettes. Waldemar Oehlke, Lessing u. s. Zeit. 2 Bde (1919) I, 307 ff., II, 501. § 7. Um die Mitte des 18. Jh.s beginnt man aber auch in Deutschland und Österreich, die erzieherische, gesellschaftliche, volkskundliche und literarische Bedeutung des P.s zu erkennen. Als ein jüngerer Prediger 1744 gegen eine Spielerlaubnis des Amtsrates Deting in Detmold angeht, verteidigt dieser das Schauspiel als Schule des Volkes. Das Hauspuppentheater wird in gehobenen Gesellschaftskreisen als Erziehungsmittel der Kinder eingeführt. Aber auch Marionettentheater für Erwachsene werden von privaten Kreisen eingerichtet. In Mannheim ζ. B. gründen kurpfälzische Offiziere 1767 eine 'Neue Gesellschaft der dt. Marionetten' und spielen zur Eröffnung Don Juan von Molifere und Herzog Michel von Krüger mit Puppen des Hofbildhauers Engel. Der Wiener Staats-

Poppentheater

Sekretär und Dramatiker Joseph von Pauersbach wird von dem Fürsten Nikolaus Esterhäzy zur Einrichtung und Leitung eines Marionettentheaters auf Schloß Esterhaza berufen und verfaßt u. a. die Parodien Alceste, Demophon, Arlequin der Hausdieb, Die Probe der Liebe, Alcide de Bivio und Das ländliche Hochzeitsfest. Joseph Haydn, der selber ein kleines Marionettentheater sein eigen nennt, komponiert für das fürstliche Marionettentheater Philemon und Baucis sowie die „dt. Marionettenoper" Hexenschabbas 1773, Genovevens Vierter Teil 1777, Dido abandonata 1778, Die bestrafte Radigier, oder Das abgebrannte Haus 1780. 1776 wird Die Fee Urgdle nach Favart mit der Musik von Ignaz Pleyel aufgeführt. Kaiserin Maria Theresia ist von Philemon und Baucis so begeistert, daß sie sich 1777 von Fürst Esterhdzy eine Aufführung in Schloß Schönbrunn in Wien erbittet. Mit Herder setzt das literarische und volkskundliche Interesse am P. ein. 1769 bedauert er in einem Briefe an Johann Georg Hamann die vorzeitige Abreise eines Marionettenspielers, von dem er sich „Entwürfe zu seinen Durchlauchtigsten Helden- und Staatsaktionen" beschaffen wollte, da er die Puppenspieltexte für ein „Präparat der alten deutschen Schauspielkunst" hält (Briefe an J. G. Hamann, hg. v. Otto Hoffmann, 1889, S. 57). In seinem Shakespeare-Aufsatz aus der Sammlung Von Deutscher Art und Kunst (1773) weist er darauf hin, daß Shakespeare keinen Chor vor sich fand, „aber wohl Staats- und Marionettenspiele", aus welchem „schlechten Leim" er das „herrliche Geschöpf" gebildet habe, das da vor uns stehe und lebe, und erhofft von seinem eigenen Volke, daß es sich „wo möglich, sein Drama . . . , wenn audi aus Fastnachts- und Marionettenspiel (eben, wie die edlen Griechen aus dem Chor) erfinden" werde (Werke, hg. v. B. Suphan, Bd. 5,1891, S. 217 u. 218). Lenz, der 1773 in Straßburg gerne das Puppentheater besucht, läßt in seiner Komödie Der neue Mendoza (1774) den Bürgermeister das „Püppelspiel" und seinen Hanswurst gegenüber seinem aufklärerischen Sohne verteidigen (V, 2). Auch Maler Müller (Fausts Leben, Golo und Genoveva 1775-1781) und Klinger (Fausts Leben, Taten und Höllenfahrt 1791) begeistern sich für das volkstümliche P. von Wanderkomödianten; ihre Faust-

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gestaltung wirkt wie Doktor Faust von Julius Graf von Soden (1797), Faust von Emst August Friedridi Klingemann (1815) und in etwas geringerem Maße Goethes Faust auf das P. zurück. In der Jobsiade (1784) erwähnt Karl Arnold Kortum eine Pupenspielerbande, die Fausts Leben und Genoveva aufführt. Im Singspiel Schatten an der Wand von Christoph Friedrich Bretzner erscheinen drei Personen als ital. Schattenspieler. Aufklärung und Sturm und Drang entdecken von der Einsicht in die Ursprünglichkeit des P.s aufs neue seine symbolische Bedeutimg. Moritz August von Thümmel sieht in ihm „die Schauspielkunst mit all dem Pomp ihrer ersten Erfindung" und vergleicht „den vielstimmigen Mann, der unsichtbar über einer lärmenden thörichten Welt schwebt, und mit seiner Rechten ganze tragische Jahrhunderte lenkt", mit Jupiter (Wilhelmine, 1764). Johann Georg Jacobi macht in seinem Gedicht An Aglaya (1771) das P. zum kritischen Bild der Gesellschaft, wobei er an die Zerstörung von Meister Pedros. P. in Cervantes' Don Quixote erinnert. In Goethes Werther und Schillers Kabale und Liebe ist die „Drahtpuppe" das Bild für einen Menschen ohne Willen und Bewegungsfreiheit; das Schlagwort dient dann auch, vom Gesellschaftskritischen ins Ästhetische übertragen, b,ei Herder, Goethe und Klinger der Kritik am klassischen franz. Drama. Eine besondere erzieherische und literar. Bedeutung hat das P. für Goethe. Es erscheint in Wilhelm Meisters Theatralischer Sendung (1776-1785) und Wilhelm Meisters Lehrjahren (1793-1796), aber auch in Dichtung und Wahrheit (1813) als eines der Bildungselemente des jungen Menschen. Vermutlich sah Goethe als Knabe und später als junger Mann in Straßburg, wo ein „vielfältiges Summen und Klingen der Puppenspielfabel" anhebt, das alte Volkspuppenspiel Doktor Faust, das ihn mit zu seinem Urfaust (1773-1775) anregte. Als einen Teil der alten P.-Uberlieferung bezeichnet er selber 1826 die Beschwörung der Helena im Faust II. Auch das Fragment Hanswursts Hochzeit (1775) ist „nach Anleitung eines älteren Puppen- und Buden-Spiels" entstanden. Auf ein „Bibbelspiel", wie er sie auf einer Marionettenbühne mit über halblebensgroßen Puppen in Straßburg gesehen hat, geht vermutlich auch das in Das Jahrmarktsfest zu Plun-

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dersweilern eingelegte Spiel von Esther und Haman zurück, während der auftretende Schattenspieler durch einen ausländischen Gaukler angeregt wurde, den Goethe 1773 sah. 1774 faßt er dieses Gelegenheitswerk mit Künstlers Erdenwallen und Pater Brey unter dem Prolog Neueröffnetes Moralischpolitisches Puppenspiel als Triptychon im Sinne eines kleinen satirischen Welttheaters zusammen. 1781 führt man in Tiefurt zum Geburtstag Goethes als „Ombres chinoises" ein Schattenspiel mit lebendigen Schauspielern auf, wie sie der Autor Siegmund von Seckendorf in Spanien gesehen hatte: Minervens Geburt, Leben und Taten, in dessen drittem Akt auf den Genius Goethes angespielt wird. In dem bald darauf in Weimar folgenden Schattenspiel Die Geschichte des Königs Midas von Seckendorf spielt Goethe den Kammerdiener Amyon. Zweifellos hat er auch in der Folge für das P. des Weimarer Hofes anregend gewirkt, wo Herzog Georg von Meiningen das Schattentheater mit Figuren nach Pariser Vorbild eingeführt hat; erhalten sind drei Handschriften des Kammerherm Friedrich Hildebrand von Einsiedel: die vier ersten Szenen eines Schattenspiels Colombine als Hausfrau und die Puppenspiele Die glücklichen Schleyer und Der große Bandit, eine literar. Parodie von Zschokkes Abällino (1795). An Weihnachten 1800 schenkt Goethe seinem Sohne August ein Figurentheater, wofür er zusammen mit seinem ehemaligen Schreiber Götze die beiden ersten Dekorationen malt. Mit einem P. spielt als Kind auch Schiller und dichtet dafür mit seiner Schwester Stücke. 1800 plant er ein Drama Rosamund oder: die Braut der Hölle, angeregt von Goethe, der das „alte Marionettenstüdc" in seiner Jugend selber gesehen hat und als eine Art von Gegenstück zum Faust oder vielmehr Don Juan bezeichnet.

Gesang" bezeichnete Gelehrtensatire Der neue Doktor Faust (1778-82) für die Aufführung auf dem P. bestimmt. Für ein privates Marionettentheater verfaßt Schink jedoch als antiromantisches Tendenzstück in Alexandrinern Prinz Hamlet von Dänemark (Momus und sein Guckkasten, 1799). 1790 erscheint im 'Neuen dt. Museum' Alfarazambul oder die Marionetten, worin ein menschenfreundlicher Zauberer Geschöpfe der großen Welt in Drahtpuppen verwandelt. 1796 wird in Halle die „dramatischsatirische Rapsodie" Die Uhu von Johannes Falk, eine Satire auf die reaktionären Geistlichen in Preußen und andere Mißstände, von Marionetten gegeben. Mehr Sinn für den besonderen Stil eines P.s zeigt Falk in dem Märchenspiel Die Prinzessin mit dem Schweinerüssel, welche er unter dem Einfluß der Romantik 1804 für den in Weimar gastierenden Wiener Marionettenspieler Geisselbrecht verfaßt, eine Satire gegen die Zunft der Schauspieler, was zu einem eigentlichen „Marionettenkrieg" der Weimarer Hofschauspieler führt. Aug. Moritz von Thümmel, Sämtliche Werke. 8 Bde (1853-1854), Bd. 2, S. 200, 300, Bd. 3, S. 25, 60, Bd. 4, S. 17, 20, 142, 166-169, Bd. 7, S. 152-154. — G o e t h e : Gedenkausausgabe d. Werke, hg. v. Emst Beutler. 24 Bde (Zürich 1949), Bd. 4, S. 160-170, 242 f., 1027-1030, 1051, Bd. 5, S. 672-674, Bd. 7, S. 12-26, Bd. 8, S. 525-539, 955, Bd. 10, S. 453, Bd. 20, S. 808-810. Goethe u. d. P. Auszüge aus 'Wilhelm. Meisters Lehrjahre' hg. v. Maria Sdiolastica Η umfeld (1933; Schönings Dombücherei 106). G o e t h e : Das P. — Der neue Paris. Aus d. Prosaschriften ausgew. v. Erika Rhensor (Wien 1919). Das Journal von Tiefurt. Mit e. Einl. v. Bemh. Suphan hg. v. Ed. v. d. Hellen (1892; SdirGoeGes. 7). — Elisabeth Mentzel, Der junge Goethe u. d. Frankfurter Theater. Festschr. zu Goethes 150. Geb. dargebr. v. FDH. (1899) S. 105-178. Max Herrmann, Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern (1900). Siegmar S c h u l t z e , Falk u. Goethe (1900). Ernst T r a u m a n n , Goethes 'Faust'. Nach Entstehung u. Inhalt erklärt. Bd. 1 (2. Aufl. 1919) S. 34, 39. Alfred Lehmann, Puppenspieler aus Goethes Jugendzeit. Illustrierte Ztg. Bd. 156 (1921) S. 400. Walter Röhl er, Das P. im Weimarer Goethehaus. Goethe 3 (1938) S. 282-286 mit Abb. Hans Wahl, 'Minervens Geburt, Leben u. Taten'. JbGoeGes. 4 (1917) S. 235-244. Ders., Tiefurt (1929) S. 93-98. — Zum FaustPuppenspiel siehe § 10.

Die literatur- und gesellschaftliche Tendenz unter der Maske des P.s, die schon in Goethes Moralisdi-politischem Puppenspiel von 1774 erkennbar wird, setzt sich fort in dem Marionettentheater (1778) von Johann Friedrich Schink mit dem „historischen Schauspiel" Hanswurst von Salzburg und der „dramatischen Fantasei" Der Staubbesen, einem Gericht auf dem Parnass über die Dichter der Geniezeit. Ebensowenig wie § 8. Seinen Höhepunkt erreicht das allgediese Stücke ist seine als „Plaisanterie mit j meine Interesse am P. in der R o m a n t i k ,

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wobei schon die ältere Romantik den besonderen Spielstil der Marionette und dessen vorbildliche Bedeutung für ein stilisiertes Personentheater entdeckt, die jüngere vor allem die Harmonie, aber auch die Dämonie der mechanischen Bewegung. Leben, menschliches Theater und Marionettenspiel gehen jetzt ohne Grenze in einander über, und so wird der symbolische Topos von der „Puppe" zu einem Leitmotiv der Epoche. Ludwig Tieck, der als Kind ein P. sein eigen nannte und den Don Quixote mit seinem Puppenspielkapitel übersetzte, verfaßt 1795 für eine Geburtstagsfeier das Puppenspiel Hanswurst als Emigrant, dessen satirische und burleske Szenen mit romantischer Ironie immer wieder unterbrochen werden. Mechanistische Lehren des Geheimbundromans wirken im Briefroman William Lovell (1795/96) nach; Lovell schreibt an Rosa: „alle Menschen tummeln sich wie klappernde Marionetten durch einander, und werden an plumpen Drähten regiert" (Schriften, Bd. 6, 1828, S. 306), und Lovell selbst erscheint als eine Puppe in den Händen Waterloos. In Ritter Blaubart (1796) heißt es: „Das Leben von uns Allen ist wohl nur ein albernes Puppenspiel." Marionetten als Theater auf dem Theater finden sich im 4. Akt der Komödie Zerbino (1799) mit Prolog und Parodie der Modegattungen des Dramas, des politischen Spiels, der bürgerlichen Tragödie und des rührenden Familiengemäldes. Am Schluß tritt die Marionette des Zauberers Polykomikos dem lebendigen Polykomikos gegenüber. In seinen Briefen über Shakespeare (1800) beschreibt Tieck die Aufführung eines P.s von Schatzgräbern mit Hanswurst und Teufel und sieht darin „die alten Wünsche, auf dem Wege der Marionetten das Volk zu bilden und von manchen Vorurtheilen zu säubern, hier plötzlich in Erfüllung gegangen" (Krit. Sdiriften. Bd. 1, 1848, S. 160,164,170-173). Er plant, eine Sammlung von Marionettenspielen zu dichten (18021803). Für Novalis (t 1801), der von der notwendigen Grobheit des Lustigen spricht, ist das Marionettenspiel das eigentlich komische Theater. Er erkennt auch die „tragische Wirkung der Farce, des Marionettenspiels, des buntesten Lebens, des gemeinen Trivialen". August Wilhelm Schlegel spricht 1802 in Entgegnimg auf eine abschätzige Bezeichnung des Alarcos seines Bruders

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Friedrich als „tragisches Marionettenspiel in Assonanzen" im positiven Sinne vom Puppentheater. Jean Paul fordert im § 41 seiner Vorschule der Aesthetik (1804) für dramatische Burlesken Marionetten statt Menschen zu Spielern: „Die Schaupuppe ist für das niedrigste Spiel das, was für das erhabenste die Maske der Alten war." In dem Sonett Die Puppen- und Menschenkomödie im Musen-Almaaach von Chamisso und Varnhagen auf das Jahr 1804 werden die Marionetten gegen die kalten, an Moral- und Tugendseilen gezogenen Personen der bürgerlichen Rührstücke ausgespielt. 1804 veröffentlicht August Mahlmann in der Zeitung für die elegante Welt den Prolog für Marionetten von August Bode (t 1804), der satirische Anspielungen auf die Rührstücke Kotzebues enthält. 1803 hat Mahlmann selber eine Parodie mit Marionettencharakter auf die „vielbeweinten Hussiten von Naumburg" von Kotzebue, das „Schau-, Trauer- und Thränenspiel" Herodes von Bethlehem verfaßt, das der Wiener Puppenspieler Geisselbrecht 1804 in Weimar mehrere Male aufführt, und vom Spiel im Spiel (Parodie der griech. Tragödie im allgemeinen und von Schillers Braut von Messina im besondem) im 4. Aufzug seines Lustspiels Simon Lämmchen verlangt, daß es im „Marionettentone" gegeben werde. Im Vorwort seines anonym herausgebenen Marionetten-Theaters (1806) bedauert er, daß die Deutschen keine kleinen Lustspiele besitzen; deswegen habe er hier einen Versuch zu solchen Stücken gemacht und sie Marionettenspiele genannt, weil er glaube, „gezogene Puppen von Holz werden sie eher und besser aufführen als die hölzernen lebendigen auf unsem Haupt- und Staatstheatem". Literarische Puppenspiel-Parodien sind die satirischen Stücke des ebenfalls unter dem Einflüsse Tiecks stehenden Friedrich Laun: das „Marionettenspiel mit lebendigen Figuren" Die Kuhglocken oder Der Ehrensdinurrbart (1803) und das „Marionetten-Trauerspiel" Das Schicksal (1808), eine Parodie in Knittelversen auf die Schicksalstragödie. In den Nachtwachen des Bonaventura (1804) ist die Marionette Symbol der Unfreiheit und Ohnmacht des Menschen gegenüber den unerforschlichen Gewalten und Bild des zur Maschine gewordenen Menschen; das Marionettentheater wird zum

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adaequaten Ausdruck der Tragikomödie angesichts der mechanischen Gebundenheit des kühnen Strebens menschlichen Geistes in die Unendlichkeit. Andererseits ist die Marionette der geeignetste Akteur für die kleinen, das große Theater des Lebens nadlahmenden Bühnen, deren „hölzerne mechanische Bewegung" und „steinerner antiker Stil" sich von den lebendigen Schauspielern abhebt. Die Marionettendämonie ist in Heinrich von Kleists Familie Schroffenstein (1803), das auch Einzelzüge vom P. übernimmt, Grundzug. Burlesken mit Tanz und Gesang, die er auf einem Jahrmarkt von Puppen dargestellt sieht, regen ihn zu seiner berühmten Studie Über die Marionettentheater (1810) an. Ε. Τ. A. Hoffmann, der selber Puppenspielaufführungen für seine Freunde veranstaltet, spielt in den Seltsamen Leiden eines \ Theater-Direktors (1814) die Marionette ge- I gen den lebendigen Schauspieler aus: jene I ist für ihn der'ideale Darsteller für das nur von der Außenwelt bedingte Possenhafte; j echte romantische Dramen können nur von ! Marionetten wiedergegeben werden. In an- ! dem Erzählungen zeigt sich Hoffmann von den Automaten fasziniert, wie in Der Sandmann von der Puppe Olimpia und in Die Automate von dein „redenden Türken" In Die Elixiere des Teufels wird Medardus Zeuge des Puppenspiels David und Goliath auf dem spanischen Platz in Rom (Sämtl. Werke. Histor.-krit. Ausg. hg. v. C. G. v. Maassen, Bd. 2, 1912, S. 302). Justinus Kerner sah auf seiner Reise nach Hamburg 1808/9 dort eine Reihe von MarionettenAufführungen und berichtete nach seiner Heimkehr an Varnhagen begeistert über „chinesische Schatten", die er in Tübingen sah. In seinen Reisesdiatten (1811) führt er sidi selber als Schattenspieler Luchs ein (Die Dichtungen. Neue vollst. Sammlung in 1 Bd., 1834, S. 263-512). Die in die Erzäh- ! lung eingefügten Schattenspiele veranlaßten Ludwig Uhland, seinem Freunde zu raten: „Du solltest mehreres auf solche Art bearbei- j ten, Volksromane, Novellen, etwa aus den 'Sieben weisen Meistern', du würdest ein neues und den ästhetischen Theoretikern noch nicht bekanntes dramatisches Genre, das Schattenspiel begründen" (/. Kerners Briefw. mit s. Freunden, hg. v. Th. Kemer. Bd. 1, 1897, S. 43). 1835 erscheint Kerners :

Schattenspiel Der Bärenhäuter im Salzbade. Clemens Brentano lernt mit seinem Freunde Achim von Arnim das Puppen- und Schattenspiel schon in der Kinderzeit im Vaterhause in Frankfurt lieben. Zu einem Geburtstagsfest dichtet er ein Schattenspiel, sein Bruder Christian das politische Schattenspiel Der unglückliche Franzose oder der deutschen Freiheit Himmelfahrt (1816). Achim von Arnim läßt in der Gräfin Dolores (1810) den Grafen Professor Beireis in Helmstedt besuchen und seine Automaten bewundern; auch wird darin von dem Dichter Wallner das volkstümlich-burleske Marionettenspiel Tragikomödie von dem Fürstenhaus und der Judenfamilie vorgeführt, eine Satire auf die verschuldeten kleinen Fürstenhäuser in Deutschland mit Kasperl als eigentlichem Helden, deren Entwurf von Arnim selber stammt, angeregt durch Volksstücke und politische Satiren wandernder Puppenspieler in Karsdorf und Berlin. Auch dichtet er das Schattenspiel Das Loch oder das wieder gefunden e Paradies und das Puppenspiel Die Appelmänner nach einem altdt. Stoff mit Kasperl in der Hauptrolle (1813). In einer Vorrede zu Marlowes Faust in der Ubersetzung von Wilhelm Müller (1817) legt er das Stück dem Kasperle ans Herz, es werde allen Freude machen „die sich an dem ehrlichen Puppenspiel zu ergötzen verstehen" Nach seiner Verbindung mit den Heidelberger Romantikern zieht Jakob Grimm das „Puppenspiel von altem Schrot, mit Hanswurst und Teufel" in seine Rundfrage über verschiedene alte Volksgüter (1815) ein. Julius von Voss veröffentlicht 1816 und 1826 Possen und Marionettenspiele, die am Rande den grotesken Stil der Romantik aufweisen, wie es die drei ausdrücklich als Marionettenspiele bezeichneten Stücke Pigmalion und die Bildsäulen, Der große Hamilkar, eine Satire auf die Zustände im preußischen Heer vor 1816, und Das Judenkonzert in Krakau erweisen. Christoph Wargas gibt 1826 sein Neues Marionettentheater heraus, nachdem er angesichts des Mangels an guten Puppenspielen Burlesken bearbeitet hat, um die „unmoralischen" und „unflätigen" Stücke, aber auch die triviale Lokalposse vom Puppentheater zu verdrängen. Grabbe ist in Scherz, Satire, Ironie und tiefere Betung (1827) wohl durch das literar. Marionettentheater seines Studienfreundes Carl

Puppentheater Köchy in Berlin angeregt, wo anfangs der 20er Jahre Komödien von Holberg und Parodien für einen literar. Zirkel gegeben werden, dem auch Heine angehörte. Lenau läßt in einem Gedichte Die Marionetten („Nachtstück" 1831-1834) einen Klausner von der Aufführung eines grausamen Ritterstückes durch Marionetten berichten, um eine unheimliche, grauenerregende Stimmung zu schaffen (Sämtl. Werke, hg. v. Hermann Engelhard, 1959, S. 171-182). 1833 beginnt er in Wien seinen Faust (1836), zu dem ihn auch das Puppenspiel anregt. Auch er sieht im Marionettentheater „das eigentliche dt. Volkstheater" (an M. von Löwenthal 1839). In einem Briefe an seine Braut Luise Rauh (17. Juli 1831) begeistert sich Eduard Mörike für die Marionetten eines Wanderpuppenspielers (Briefe, hg. v. Friedr. Seebaß, 1939, S. 289 f.). Im Maler Nolten (1832) tritt er für eine künstlerische Vervollkommnung der Zauberlaterne (Latema magica) ein, die „so recht der Märchenpoesie zum Dienst geschaffen" sei, und fügt dem Roman das „phantasmagorisdie Zwischenspiel" Der letzte König von Orplid ein. Im Stuttgarter Hutzelmännlein (1852) erwähnt er ein Spiel vom Doktor Veylland mit dem Stiefelknecht in einem schwäbischen „Dockenkasten" {Sämtl. Werke, hg. v. Herbert G. Göpfert, 3. Aufl. 1964, S. 508-555, 978-1012). Der 1832 verstorbene Carl Julius Weber widmet ein Kapitel seines Democritos oder hinterlassene Papiere eines lächelnden Philosophen (12 Bde 1832-40) dem Marionettentheater; er hebt die besondem Verdienste des Marionettenspielers Geisselbrecht hervor und schlägt die Ausführung von Lichtenbergs Plan vor, die Fabeln Aesops durch Tiermarionetten vorstellen zu lassen (Bd. 12, S. 66-71). Georg Büchner läßt in Dantons Tod (1835) seinen Helden zu Julie sagen: „Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nidits, nichts wir selbstl Die Schwerter, mit denen Geister kämpfen, man sieht nur die Hände nicht, wie im Mährchen" (Histor.-krit. Ausg. hg. v. Werner R. Lehmann. Bd. 1, S. 41), und in Leonce und Lena (1837) Valerio den Prinzen und die Prinzessin als zwei Automaten („nichts als Kunst und Medianismus, nichts als Pappendeckel und Uhrfedern") dem König Peter vorstellen (S. 131). Ein satirisches Puppenspiel im romantischen Sinne ist Das Incognito

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von Joseph von Eichendorff, nach den drei erhaltenen Entwürfen (1841) einzelne, lose verknüpfte Bilder voll von politischer und sozialer Zeitsatire und gleichzeitig marionettenhafter Μ ärchenunWirklichkeit. Heinrich Heine weist in den „Erläuterungen" zu seinem Tanzpoem Doktor Faust (1847) auch auf die „schlichte Puppenspielform" hin, die ihn mit zu seinem Werk angeregt habe. Iffland in seinem Lustspiel Die Marionetten (1807) und Kotzebue in seinem Grafen von Gleichen („Ein Spiel für lebendige Marionetten" 1807) ironisieren die romantische Vorliebe für die Marionette. Eleonore R a p p , Die Marionette in d. dt. Dichtung vom Sturm u. Drang bis z. Romantik. Teildr. (1924), Ms. aus d. Jahre 1917 in d. Schweizer. Theatersammlune. Dies., Die Marionette im romant. Weltgefühl (1964; Fsdig. u. Lehre, hg. v. Inst. f. Puppenspiel 1). Rud. M a j u t , Lebensbühne u. Marionette. E. Beitr. z. seelengeschichtl. Entw. d. Geniezeit bis z. Biedermeier (1931; GermSt. 100). Elisabeth B l o c h m a n n , Die dt. Volksdichtungsbewegung in Sturm u. Drang u. Romantik. DVLG. 1 (1923) S. 419-452. Ilse S c h n e i d e r , Puppen- u. Schattenspiel in d. Romantik. (Masch.) Diss. Wien 1920. — Marianne T h a l m a n n , Der Trivialroman d. 18. Jh.s u. d. romant. Roman (1923; GermSt. 24). Dies., Ludwig Tieck. Der romant. Weltmann aus Berlin (Bern 1955; Dalp-Taschenbücher 318) S. 10, 99-102, 116. — Die Nachtwachen des Bonaventura. Hg. v. Walter W i d m e r (Zürich 1945) S. 21, 35 ff., 60-70, 93 f., 190, 232-237. Joachim S t a c h o w , Studien zu d. 'Nachtwachen von Bonaventura' mit bes. Berücks. d. Marionettenproblems. (Masch.) Diss. Hamburg 1957. Wolf gang P a u l s e n , Bonaventuras 'Nachtwachen' im literar. Raum. Sprache u. Struktur. Jb. d. Dt. Sdiiller-Ges. 9 (1965) S. 447510, bes. S. 454 f. — Heinridi v. Kleist, Über d. Marionettentheater, zusammen mit 11 Studien u. Interpretationen in: Kleists Aufsatz über das Marionettentheater. Mit e. Nadiw. hg. v. Helmut Sembdner(1967;Jahresgabed.Heinr.-v.-Kleist-Ges. 1965/66). Amalie Rohr er, Das Kleistsche Symbol d. Marionette u. s. Zusammenhang mit d. Kleistschen Drama. (Masch.) Diss. Münster 1948. Walter S i l z , Heinr. v. Kleist. Studies in his works and literary character (Philadelphia 1961) S. 69-85. Heinr. M e y e r - B e n f e y , Das Drama H. v. Kleists. Bd. 1 (1911) S. 140 f., Bd. 2 (1911) S. 531, Anm. 17. Friedr. B r a i g , Η. ν. Kleist (1925) S. 100 f., 517-556. — Alfred C h a p u i s , Les Automates dans les oeuvres d'imagination (Neuchätel 1947; Les idees et les lettres 4) S. 64-80. Joachim M a y , Ε. T. A. Hoffmanns theatralische Welt. (Masch.) Diss. Erlangen 1950, S. 168-199. Dietrich K r e p l i n , Das Automaten-Motiv bei Ε. Τ. Α. Η οff mann. Diss. Bonn 1957. Serge T a u b e r , Die Bedeutung d. künstler. Menschenfigur im Werke

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Ritterdramen und Feenmärchen mit den Bühneneffekten der Wiener Zauberstücke). Komische Hauptfigur ist in den ersten sechs Stücken Zipperle, der dann von Hänneschen abgelöst wird. Während der Grundton Spiegels in der Regel sentimental-ernst ist, spielen bei Winters Hänneschen und seine Sippe eine größere Rolle. Wie in der ital. Commedia dell'arte, als deren rhein. Nachkömmling das Hänneschentheater manchmal bezeichnet wird, und wie im flämischen Puppenspiel mit dem Lustigmacher Tchantches und seinen Leuten, das Winters nachweislich angeregt hat, hat Hänneschen Familie und Nachbarn vor der Stadt und städtische Gegenspieler, wodurch sich die Sprache vom Grobmundartlichen bis zur Umgangssprache abstuft. In den 103 Szenarien, die Winter? zwischen 1803 und 1813 verfaßte, finden sich noch zahlreiche Bibeldramen, Bearbeitungen von Volksbuchstoffen und Ritterdramen, von Räuberstücken wie Schillers Räuber, Zschokkes Abällino, Körners Hedwig die Banditenbraut, wozu 1818 der aktuelle Schinderhannes oder die Mühle an der Mosel hinzukommt, dem Winters in seiner Jugend selber begegnet sein soll, von Wiener Singspielen und Zauberstücken, ja sogar von Opern. In einem Register über das Introludium zum Puppenspiel in Zwischenakten von Winters (1820) sind 61 Inhaltsangaben zu sog. 'Faxen' in Prosa (lokalkritischen Zwischenspielen) enthalten. Einen fruchtbaren Boden findet das P. ir: der 1. Hälfte des 19. Jh.s aber auch in B e r lin. Die aus Süddeutschland stammende Marionettentruppe Schütz und Dreher hat bei ihrem ersten Besuch in Berlin 1804 einen solchen Erfolg bei allen Ständen, daß sie sich in der Folge im nahen Potsdam niederläßt und von hier aus in Berlin und Breslau spielt. Während die anonym erschienene Schrift Ideen über das Theater, dessen Zweck und Einrichtung (1816) festhält, daß „recht nette Stücke von Mahlmann" in Berlin gegeben wurden (S. 18), nehmen den Literarhistoriker Franz Horn vor allem die dt. Volksschauspiele gefangen, von denen keine Literaturgeschichte rede, da sie nicht gedruckt seien. Im Spielplan von Schütz und Dreher, in deren Theater man schon 1804 nach dem Zeugnis von Franz Horn „fast alle Abende die geistreichsten Männer, Frauen, Philosophen, Dichter und Kritiker zu finden hof-

Puppentheater fen" konnte ( L e h e n u. Wiss., Kunst u. Religion, 1807, S. 188), finden sich noch ältere Bibeldramen, historische Stücke, Ritterdramen und romant. Umdichtungen antiker Mythen sowie als Hauptzugstüdce Genoveva, Don Juan und Doktor Faust, zu dem als eine Art Fortsetzung Doktor Wagner, oder Fausts Höllenzwang hinzukommt. Vermutlich der erste dt. Verlag, der Bilderbögen für Figurentheater herausbringt, ist Winckelmann & Söhne in Berlin (seit 1829), dem bald Oemigke & Riemenschneider in Neuruppin bei Potsdam, Josef Scholz in Mainz, der 1830-1900 rund 300 Theaterbilderbögen herausbringt, Trentsensky in Wien u. a. folgen. Josef L e f i t z , Straßburger Puppenspiele. E. geschichtlicher Rückblick mit d. alten Texten d. Straßburger Don Juan u. Faust (1942). — Carl Ν i e s s e n , Das rhein. Puppenspiel. ZfDtk. 39 (1925) S. 488-503. Ders., Das rhein. Puppenspiel (1928; Rhein. Neujahrsbll. 7), S. 1-119 (Darstellung), S. 120-264 (Texte). Ders., Schinderhannes im Puppenspiel. Unsere Heimat. Bll. f. saarländ.-pfälz. Volkstum 1935/36, S. 104-107. Das alte Kölner Hänneschen-Theater (1931; Gabe f. Freunde rhein. Volkskunst 3). — A. D e 1 e η, Het Poppenspel in Viaanderen (Antwerpen 1916). — Adolf G l a ß b r e n n e r , Thi&tre en miniature, oder: Neues Berliner Puppenspiel. Der Freimüthige 36 (1839), Nr. 173-174, S. 696 u. 700. Aug. M a h l m a n n , Marionettentheater (1806; audi: Sämtl. Schriften, Bd. 6 u. 7, 1840). Gotthilf W e i s s t e i n , Berliner Puppenspiele (s. § 10) S. 50-62. Fritz Johannesson, Berliner Puppenspiele. Mittlgn. d. Ver. f. d. Gesch. Berlins 44 (1927) S. 109-116. Gustav G o t t s c h a l k , Das Berliner Spiel vom Doktor Faust. Der Roland 2 (1904), Nr. 44/45, S. 638-644 u. Nr. 46/47, S. 670-673. Otto G l a s e r , Ein Berliner Faustpuppenspiel. Berlin. Bll. f. Gesch. u. Heimatkde 1 (1934) S. 80-82. Therese K r i m m e r , Schattentheater, in: Beiträge aus d. bibliothekar. Arbeit. Wilh. Schuster %. 70. Geb. eewidm. (1959) S. 93-98. — Carl Ν i e s s e n , über den Quellenwert d. Theater-Bilderbogen. Das dt. Theater-Jb. f. Drama u. Bühne 1 (1923) S. 159-167/ Walter R ö h l er, P. aus Papier. Die Theaterbilderbogen u. ihr theatergesch. Quellenwert. Theater d. Welt 2, Η. 1 (Jan. 1938) S. 42-50. Ders., Shakespeare auf a. Kindertheater. Shakespeare-Jb. 82/83 (1948) S. 186189. Ders., Große Liebe zu kleinen Dingen. E. Beitr. z. Kulturgesch. d. Papiertheaters (1963; Das Geschenk 5). § 10. Nun wird auch das Interesse der Wissenschaft am P. rege. Friedr. Heinr. von der Hagen spricht zur Berliner Goethefeier 1814 über Das alte und neue Spiel von Dr. Faust. Franz Horn nimmt in seine Poesie Reallexikon III

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und Beredsamkeit der Deutschen (1822-29) die Marionettenspiele von Schütz und Dreher mit auf (II 262-284). Adolf Glaßbrenner weist 1836 im Heft Puppenspiele seiner Reihe Berlin wie es ist — und trinkt Dichter und Kritiker auf das P. hin. Gustav Freytag bezieht in seine Berliner Dissertation De initiis poesis scenicae apud Germanos (1838) auch das P. ein. Karl Simrock gibt 1846 auf Grund der Spieltexte von Schütz-Dreher und Geisselbrecht das Puppenspiel Johannes Faust heraus und würdigt im Vorwort seine dramatischen Qualitäten. Johann Scheible bringt im 5. dem 'Faust* gewidmeten Band des Sammelwerks Das Kloster (1847) neben Ulmer, Kölner, Augsburger und Straßburger Fassungen auch den Spieltext von Geisselbrecht, an anderen Stellen einen Herodes des Johann Falck von Neustadt, Abällino und Don Juan des Augsburger Marionettentheaters sowie zwei weitere Fassungen des Don Juan aus Straßburg und Ulm. Auch in der 2. Hälfte des 19. Jh.s interessieren sich einige Literaten und Gelehrte für das Puppenspiel. Ferdinand Gregorovius hält in seinen Römischen Figuren (1853) den Eindruck fest, den auf ihn Marionettentheater in Rom machten, das gesellschaftlich gehobenere in Sant' Apollinare vor allem mit seiner Kunstfertigkeit und Grazie, dem „Nonplusultra von Gelenksamkeit, wozu es die Puppen gebracht haben" und das ursprünglichere für das niedere Volk auf der Montanara mit seinen Ritterstücken nach Ariost, bisweilen auch Geschichten von Aeneas und König Turnus oder selten Faust, und betont, daß damit die romantischen Sagen im Volke lebendig erhalten bleiben, was kein kleines Verdienst sei (Wanderjahre in Italien, hg. v. Fritz Schillmann, 1928, S. 208 ff., 217-229, Anm. S. 1149). Johann C. Th. Grässe spricht in seiner Untersuchimg Zur Geschichte des Puppenspiels und der Automaten (1856) dem P. das Verdienst zu, in seiner Zeit die wandernden Schauspielertruppen in Deutschland ersetzt und somit auch das dt. Drama wenigstens scheinbar vom Untergang bewahrt zu haben. Karl von Holtei erwähnt in seinem Roman Die Vagabunden (1852) die Aufführung eines P.s von Genoveva und läßt seinen Helden jene des Verlorenen Sohns beschreiben, voll Achtung vor dem alten Volksschauspiel, das in reizend naiver Einfalt jenen ewigen Stoff auf20

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Puppentheater

fasse und behandle, und nicht zuletzt auch vor Kasperle, dem „Chorus der Romantik", der mit derben, treffend ironialen Witzworten gleichsam die Moral der Fabel expliziere (2. Aufl. 1895, S. 431-446). Richard Wagner erkennt nach der Aufführung eines wandernden Puppenspielers im Kasperletheater „die Geburtsstätte des deutschen Theaterspiels"; in dem „Spieler dieses Puppentheaters und seinen ganz unvergleichlichen Leistungen" geht ihm „seit undenklichen Zeiten der Geist des Theaters zuerst wieder lebendig auf" (Ges. Schriften u. Dichtungen, Bd. 9, 4. Aufl. 1907, S. 181 f.). ( Ü b e r Schauspieler und Sänger, 1872.) Theodor Storm verklärt in Pole Poppenspäler (1873/74) einen bis nach Husum vorstoßenden Mechanikus und Puppenspieler aus München. Neben zahlreichen Einzelausgaben versdiiedener Spieltexte, darunter an erster Stelle Doktor Faust, der audi literarisch bearbeitet wird von Karl Simrodc (1872), Richard Kralik (1895) und Carl Höfer (1914) u. a., werden größere Sammlungen herausgegeben von Carl Engel (1874-1892), dessen Puppenkomödien allerdings nur zum Teil auf alte Spieltexte zurückgehen, von Richard Kralik und Joseph Winter mit älteren Spieltexten aus Niederösterreich und der Umgebung Wiens (1884) und von Arthur Kollmann (1891). Johann Lewalter und Johannes Bolte können 1913 auf insgesamt 30 dt. Fassungen des Puppenspiels von Faust hinweisen. Das Puppenspiel vom Doktor Faust. T e x t a u s g a b e n : Augsburger Fassung, in: J. S c h e i b l e , Das Kloster. Bd. 5 (1847) S. 818-852. — H. L ü b k e , Die Berliner Fassung d. Puppenspiels vom Doctor Faust. ZfdA. 31 (1887) S. 105-171. — Ernst K r a u s , Das böhmisdie Puppenspiel vom Doktor Faust. Abhandlung u. Ubers. (1891). — Chemnitzer Fassung: Das Puppenspiel vom Doktor Faust, wortgetreu nach d. hsl. Textbudie d. Marionetten-Theater-Besitzers Rieh. Bonesky hg. v. Georg E h r h a r d t vom Zinnwalde (1905). — Engeische Fassung: Das Volksschauspiel Doctor Johann Faust. Hg. v. Carl E n g e l (1874; 2. Aufl. 1882; 3. Aufl. 1906; Dt. Puppenkomödien 1). Hierzu: Joh. W. B r u i n i e r , Das Engelsdxe Volksschauspiel 'Doctor Johann Faust' als Fälsdiung erwiesen (1894). — Rob. P e t s c h , Das fränkische Puppenspiel von Doktor Faust. ZfVk. 15 (1905) S. 245-260. — Doctor Faust, oder: der große Negromantist. Schauspiel mit Gesang in fünf Aufz. Textbuch d. Puppenspielers Geißelbrecht abgedr. durch Oberst von B e l o w (Berlin [1832]).

Faks.-Neudr. mit e. Nachw. v. Rud. F r a n k u. e. Bibliographie d. dt. Faust-Puppenspiels (1912). — Ein Kärtner Spiel vom Doktor Faust. Nach e. Hs. d. Klosters St. Georgen am Längssee. Hg. v. Georg Gr ab er (Graz 1943; Kärtner Fschgn. 1, 2). — Kölnische Fassung, in: J. S c h e i b l e , Das Kloster. Bd. 5 (l847) S. 805-817. Vgl. audi: Carl N i e s s e n , Das Rheinische Puppenspiel (1928; Rhein. Neujahrsbll. 7) S. 167-181. — Leipziger Fassung: Das Puppenspiel von Doctor Faust. Heroischkom. Schauspiel in 4 Aufz. Nach d. Hs. d. Puppenspielers Guido Bonneschky. Zum 1. Mal in s. urspriingl. Gestalt wortgetreu hg. v. Wilh. H a m m (1850; Kasperle-Theater 1). — Das Volksschauspiel vom Doktor Faust in drei Fassgn. d. Moebiusschen Uberlieferung. Einl. u. Text, in: Joh. W. B r u i n i e r , Faust vor Goethe. T. 2. Progr. Anklam 1910. — Der Mündiener Faust. Chronik d. Wiener Goethe-Ver. 26 (1912) S. 1-16. — Niederösterr. Fassung: Der Schutzgeist, oder Johann Doctor Faust, in: Rieh. K r a l i k u. Joseph W i n t e r , Dt. Puppenspiele (Wien 1885) S. 157-193. — Doctor Faust. Schauspiel in drei Akten. [„Als Puppenspiel v. E. Wiepking im Jahre 1865 in Oldenburg wiederholt aufgeführt.*'] Hg. v. Carl E n g e l (1879; Dt. Puppenkomödien 8). — Doktor Johann Faust. Volksschauspiel vom Plagwitzer Sommertheater. Nach d. Bühnenhs. der J. Dreßler'schen Truppe hg. u. mit d. übrigen Volksschauspielen von Faust verglichen v. Alexander T i l l e ([1895]; Dt. Puppenkomödien 10). — Die Schütz-Drehersche Fassung: F. H. von der H a g e n , Das alte u. d. neue Spiel vom Dr. Faust. GermaniaH. 4 (1841) S. 211-224 (Text, S. 214-223). — Das Sdiwiegerlingsche Puppenspiel vom Dr. Faust. Zum erstenmale hg. v. Albert B i e l s c h o w s k y . Tahresber. d. Kgl. Gewerbeschule Brieg 1881/82, S. 1-50. — Straßburger Fassung, in: J. S c h e i b l e , Das Kloster. Bd. 5 (1847) S. 853-883. Vgl. auch: Josef L e f i t z (s. u.) S. 69-107. — Tiroler Fassung: Erich S c h m i d t , Volkssdiauspiele aus Tirol. Don Juan und Faust. T. 2. ArchfNSprLit. Bd. 98 (1897) S. 266-276. Der Teufelsbanner, oder Dockter Faust's Leben. Zauberspiel in 3 Acten, hg. v. Friedr. Arnold M a y e r , Goethe auf d. P. Forschgn. z. neueren Lit.gesdi. Festg. f. Rieh. Heinzel (1898) S. 245-257. Das Prettauer Faustus-Spiel. Hg. v. Wilh. H e i n . Das Wissen für Alle. Bd. 1 (Wien), Nr. 36-41. Rud. P a y e r von T h u m , Faustisches aus Tirol. Τ. 1. Das Zingerlesdie Faustspiel. Chronik d. Wiener Goethe-Ver. 25 (1911) S. 34-59. — Die Ulmer Fassung, in: J. S c h e i b 1 e, Das Kloster. Bd. 5 (1847) S. 783-805. — Oskar S c h a d e , Das Puppenspiel Doktor Faust. [Nach zwei Hss. d. Landesbibl. Weimar], Weimar. Jb. f. Dt. Spr., Litt. u. Kunst 5 (1856) S. 241-328.—Andere Fassungen u. Bearbeitungen: F. T i e t z , Faust's Leben u. Höllenfahrt. Für d. Figurentheater d. Kinder. E. Weihnachtsgesdienk für d. Jugend (Berlin 1839). Karl S i m r o c k , Doktor Johannes Faust. Puppenspiel in vier Aufz. (1846), der

Puppentheater gleiche Text in: S i m r o c k , Faust. Das Volksbuch u. d. Puppenspiel nebst e. Einl. über d. Ursprung d. Faustsage (1872; 3. Aufl. Basel 1903). Deis., Doktor Johannes Faust nach d. Ausg. v. 1872, hg., eingel. u. um weitere Puppenspieltexte verm. v. Rob. P e t s c h ([1923]; Reclams Universal-Bibl. 6369/69). Rieh. K r a lik, Das Volksschauspiel vom Doktor Faust erneuert (Wien 1895). Elisabeth M e n t z e l , Das Puppenspiel vom Erzzauberer Dr. J. Faust. Tragödie in 4 Akten u. 4 Bildern. Nach alten Mustern bearb. u. mit e. Vor-, Zwischenu. Nachspiel sowie e. Einl. vers. (1900). Drei Puppenspiele vom Doktor Faust [Stephani, O. Seidel, Julius Kühn]. Hg. v. Joh. Lewalter u. Joh. Bolte. ZfVk. 23 (1913) S. 36-51, 137-146. Conrad H ö f e r , Das Puppenspiel vom Doktor Faust. Mit e. Nachw. vers. ([1914]; InselBücherei 125). Bibliographie: G o e d e k e . Bd. 4,3 (1912) S. 782-785 u. Bd. 4, 5 (1957) S. 863-864: Hans H e n n i n g , Faust-Bibliographie. Τ. 1 (1966) Nr. 2387-2504 (Texte u. Theaterzettel), Nr. 2505-2654 (Untersuchungen). — Handschriftenverzeichnisse: Carl Ν l e s s e n , Puppenspiel-Hss., in: N i e s s e n , Katalog d. Ausstellungen Faust auf d. Bühne, Faust in d. bildenden Kunst (1929) S. 57-60. Nils G. S a h l i n , The Faust puppet play. Manuscr. in the W. A. Speck Collection of Goetheana. (Masch.) Diss. New Haven 1937. — Untersuchungen: Albert B i e l s c h o w s k y , Das Alter d. Faustspiele. VjsLitg. 4 (1891) S. 193-226. Artur Κ ο 11 m a n n , Dt. Puppenspiele. Η. 1 (1891) S. 79-109: Zum Puppenspiel vom Doktor Faust. Alfred Frh. ν. Β e r g e r , Die Puppenspiele vom Doktor Faust. Zs. f. österr. Volkskde 1 (1895) S. 97-106. Joh. W. Β r u i n i e r , Untersuchungen z. Entwicklungsgesch. d. Volkssdiauspiels vom Dr. Faust. ZfdPh. 29 (1897) S. 180-195, 345-372; 30 (1898) S. 324359; 31 (1898) S. 60-89, 194-231. Hermann U l l r i c h , Zum Puppenspiel vom Doktor Faust. Euph. 22 (1919) S. 348-349. Konrad B i t t n e r , Beitr. z. Gesch. d. Volkssdiauspiels vom Doctor Faust (1922; PrgDtSt. 27). John A. Walz, Notes on the puppet play of Doctor Faust. PhilQuart. 7 (1928) S. 224-230. Marianne T h a l m a n n , Weltanschauung im Puppenspiel vom Doktor Faust. PMLA 52 (1937) S. 675-681. Anton D ö r r er, Die Prettauer Volksschauspielbücher, ihre Besitzer u. ihre Aufführungen. Beitr. z. Gesch. u. Heimatkunde Tirols. Festschr. zu Ehren Hermann Wopfners. Bd. 2 (Innsbruck 1947; SchlemSchriften 53) S. 35-55. Ders., Dr. Faust in d. Ostalpen. Mimus u. Logos. E. Festg. f. Carl Niessen (1952) S. 27-34. Andere ältere Spieltexte: Abällino der große Bandit, in: J. S c h e i b l e , Das Schaltjahr. Bd. 4 (1847) S. 555 ff. König Herodes. Ebda, S. 702 ff. — Georg E l l i n g e r , E. dt. Puppenspiel: Alzeste oder: Der Höllenstürmer. ZfdPh. 18 (1886) S. 257-301. Ders., Die Braut der Hölle. ZfdPh. 23 (1891) S. 286-290. — Silvius L a n d s b e r g e r , Don Carlos, der Infanterist von Spanien, oder das kommt davon, wenn man

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seine Stiefmutter liebt. Neu hg. n. mit e. biograph. Nachw., sowie e. Abh. über Berliner Puppenspiele vers. ν. Gotthilf W e i s s t e i n (1852; Berliner Curiosa 2). — Don Juan: Augsburger Fassung, in: S c h e i b l e , Das Kloster. Bd. 3 (1846) S. 699-725. Straßburger Fassung, ebda, S. 725-759. Ulmer Fassung, ebda, S. 760-765. Hierzu: Carl E n g e l , Zwei Kapitel aus d. Gesch. d. Don-Juan-Sage. ZfvglLitg. 1 (1887) S. 402 f. Sammlungen: Dt. Puppenkomödien. Hg. v. Carl E n g e l . 12 Hefte (1874-1892). Dt. Puppenspiele. Hg. v. Rieh. K r a l i k u. Joseph W i n t e r (Wien 1885). Dt. Puppenspiele. Ges. u. mit erl. Abh. u. Anm. hg. v. Artur Κ ο 11m a n n . Η. 1: Judith u. Holofemes (1891). Emst T r o m m e r , Repertoire d. sächs. Marionettentheaters. Η. 1. Genoveva (1905), H. 2. Der sächs. Prinzenraub. Vaterländischhistorisches Ritterschauspiel in β Akten. Nach e. alten Ms. v. 1825 bearb. (1905; Zwickauer Theaterbibl. 7). Das Handpuppentheater. Eine Reihe alter u. netter Komödien f . d. Handpuppenbühne. Hg. v. Rob. Adolf S t e m m l e . 18 Bdchn (1928-1932). § 11. Noch blüht das Wanderpuppenspiel, vielfach generationenweise im Familienbetrieb: In den 50er u n d 60er Jahren des 19. Jh.s tritt in Oldenburg, Ostfriesland und Holstein E. Wiepking (f 1871) hervor, in dessen Spielplan sich neben bekannten ältern Volksschauspielen auch ein Wilhelm Teil u n d Der travestierte Don Carlos finden. In Preußen machen zur selben Zeit Fritz u n d Theodor Schwiegerling mit ihrem 'Kunst u n d Figurentheater' von sich reden. In Bayern sind es vor allen Franz Xaver Widmann, der 1850 in Landsberg am Lech beginnt, und seine Söhne Xaver und Michael, sowie Ignaz Schichtl (geb. 1849), der zuletzt mit Marionetten spielt, seine Söhne Johann u n d Franz August, die als Handpuppenspieler hervortreten, Augustin und Julius, sowie sein Enkel Xaver, der 1913 das Unternehmen übernimmt. In Sachsen führen W i t w e und Sohn Guido des Constantin Bonnescliky (t 1864) bis 1875 das schon in der 1. Hälfte des Jh.s bekannte Marionettentheater weiter, die Schwiegertochter bis in die 90er Jahre hinein. Der 1867 geborene Richard Bonesky, der bei Ferdinand Listner u n d Moritz Richter in die Lehre gegangen ist, macht sich 1889 in Chemnitz selbstständig und führt jedes Jahr an die zwölf Mal den Doktor Faust auf. W ä h r e n d das 'PüppelspieP in Straßburg 1851 und kurz darauf, mit dem Tode von Josef Anton Weyermann, die zuletzt scherz2U*

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haft „Ulmer Nationaltheater" genannte 'Dockenkomödie' in Ulm ihre Pforten schließen, führt Witwe Klotz nach dem Tode ihres Großvaters Winters in Köln das Hänneschentheater erfolgreich weiter. Daneben halten sich dort andere stehende P. wie das seit 1849 konzessionierte P. von Franz Millowitsch aus Küstrin, dem Stammvater der später zum Personentheater übergegangenen Kölner Komikerdynastie. In Berlin versucht der Buchhändler Silvius Landsberger die im Vormärz in Berliner Konditoreien organisierten Weihnachtsausstellungen mit P. neu zu beleben. Für eine solche im Jahr 1851 verfaßt er die „spanische Lokalposse mit starkem Berliner Beigeschmack" Don Carlos, der Infanterist von Spanien, „Zeit zwischen 1651 und 1852". In den 60er Jahren werden in der Berliner Walhalla alljährlich einaktige Possen gespielt, in welchen polit. Tagesereignisse oder Berliner Persönlichkeiten vdh Kasperl ironisch beleuchtet werden. In München gelingt es dem Aktuar Joseph Leonhard S c h m i d , ein stehendes P. fest in das Kulturleben der Stadt einzugliedern: das bald über die Landesgrenzen berühmte Münchener Marionettentheater. Als Hausdichter gewinnt er Franz Graf P o c c i , der schon im Winter 1849/50 acht Kasperlkomödien für sein Haustheater im Ammerland und 1854 die Schattenspiele Unter den Wilden und Kasperl in der Türkei verfaßt hat, in denen der von ihm geschaffene Münchner Kasperl Larifari der Lustigmacher ist. Am 5. Dezember 1858 findet in München die Eröffnung mit einem Prolog und dem „romantischen Zauberstück" Prinz Rosenroth und Prinzessin Lilienweiss oder: Die bezauberte Lilie von Pocci statt. Schmid kann in der Folge seine Bühne vergrößern und verschönem, wobei u. a. Simon Quaglio und Mettenleitner Kulissen und Prospekte malen. Pocci dramatisiert neben eigenen Entwürfen auch Märchen der Brüder Grimm und von Perrault, die Undine von Fouque, ferner Geschichten von Christoph Schmid, Hebel und Isabella Braun. Auch schreibt er seine Kasperliaden des Handpuppentheaters für das Marionettentheater um. Andere literar. Mitarbeiter der ersten Zeit, die aber nicht an Pocci heranreichen, sind Emil Harless, Freiherr von Gumppenberg und der Hofmedikus Koch. Daneben gibt es in Gemein-

schaftsarbeit entstandene Parodien auf Musikdramen Richard Wagners wie ζ. B. Isarblech vulgo Rheingold (1869) mit lokalen Anspielungen, die aber auch in den andern Stücken nie ganz fehlen. Nach dem Tode Poccis (1876) führt „Papa Schmid" neben Werken jüngerer Schriftsteller wie ζ. B. Emst von Destouches, der u. a. zum 25. Jubiläum das Festspiel Casperl Jubilaus verfaßt, auch ältere Volkspuppenspiele auf, wie ζ. B. 1876 Der Kampf der guten und bösen Geister (Amanda, die wohltätige Fee des früheren Marionettentheaters in Augsburg und Ulm), 1887 Glückssäckel und Wünschhut (Fortunatus) nach der Ausgabe von Carl Engel und Johannes Faust nach der Ausgabe von Simrock. 1900 kann er ein von der Stadt München errichtetes Theater beziehen. Hier macht er 1902 ein letztes Experiment, indem er auf einer 'Hans Sachs-Bühne' Stücke des Nürnberger Dichters mit Marionetten spielt. Nach seinem Tode (1912) bleibt das 'Münchener Marionettentheater' bis 1933 Hochburg des volkstümlich-literar. Puppenspiels, nachdem inzwischen nach seinem Muster u. a. Georg Pacher (1871-1923) in Bad Tölz, Wilhelm Löwenhaupt in Offenburg und Hermann Scherrer (1853-1948) in St. Gallen, 1903 als erstes stehendes P. in der Schweiz eröffnet, Marionettentheater errichtet haben. Um die letzte Jh.wende floriert in Berlin Julius Lindes 'Erstes Berliner Marionettenund vorzügliches Metamorphosen-Kunstfigurentheater', das erfolgreiche Berliner Bühnenaufführungen in eigenen Bearbeitungen nachspielt wie ζ. B. als Hauptzugstück Die Afrikanerin nach Meyerbeer. A. R i e d e l s h e i m e r , Die Gesch. d. Joseph Schmidschen Marionettentheaters in München von der Gründung 1858 bis zum heutigen Tage (1906; neue Ausg. 1922). Franz P o c c i (Enkel), Das Werk d. Künstlers Franz Pocci. E. Verz. s. Schriften, Kompositionen u. graph. Arbeiten (1926; Einzelschr. z. Büdieru. Hss.-Kunde 5). Franz P o c c i , Sämtlidie Kasperl-Komödien. Hg. v. P. Expeditus S c h m i d t . 6 Bde (1910). Ders., Puppenspiele. Ausgew. u. eingel. v. Karl S c h l o ß (1909). Hyazinth H o l l a n d , Franz Graf Pocci, e. Dichter- u. Künstlerleben (1890; Bayr. Bibl.3). Aloys D r e y e r , Franz Pocci, a. Didxter, Künstler und Kinderfreund (1907). Georg S c h o t t , Die Puppenspiele d. Grafen Pocci. Diss. München 1911. Günter Böhmeru. Ludwig K r a f f t , Papa Schmidt. Altmünchens großer Puppenspieler. Ausst. d. P.sammlung im Münchner Stadtmuseum (1967), mit Verz. der Ur- u. Erstaufführungen 1858-1929. —

Puppentheater Hugo S c h m i d t , Puppenspiel, in: Grundriß d. sächs. Volkskde, hg. v. Walter Frenzel, Fritz Karg, Otto S p a m e r . Bd. 2 (1933) S. 331 ff. — Hermann S c h e r r e r , 20 Jahre St. Galler Marionettentheater, 1902-1922. Das Puppentheater 1 (1923), H. 4 (Sonderheft). Ders., SO Jahre St. Galler Marionettentheater, 1903-1933 (St. Gallen 1934).

§ 12. Mit dem franz. Symbolismus wird Paris zum europäischen Ausstrahlungspunkt des modernen Puppenspiels. Im Pariser'Chat Noir', dem ersten literar. Kabarett, läßt sein Gründer Rodolphe Salis 1885 den Komponisten Charles de Sivry ein künstlerisches Handpuppenspiel und 1887 den Graphiker Henri Riviere das bald weltberühmte 'Theatre d'Ombres' aufschlagen. Gleichzeitig gründet Henri Signoret in bewußter Abkehr vom Personentheater das Figurentheater 'Le Petit Theatre', das 1888 mit dem Wachsamen Wächter von Cervantes und den Vögeln von Aristophanes seine Pforten öffnet. Die Inszenierung des Sturm von Shakespeare im Herbst 1888 wird als Sieg des Symbolismus bezeichnet. Nachdem Signoret anfangs 1889 noch die Komödie Abraham der Eremit aus dem Antiterenz der Hrotswitha von Gandersheim inszeniert hat, übernehmen die Brüder Maurice und Jean Bouchor die Leitung: Jener dichtet poetische Legendenspiele aus der christlichen und antiken Tradition wie Tobias 1889, Noel ou Le Mystere de la NativitS 1890, L'amour aux enfers 1892, Les Mijsteres d'Eleusis 1894. Maurice Maeterlinck, überzeugt, daß in Zukunft der Schauspieler durch geschnitzte Personen, Wachsfiguren oder sogar durch einen Schatten, einen Reflex, eine Proiektion symbolischer Formen ersetzt wird, dichtet sein erstes symbolisches Legendenspiel La princesse Maleine (1889) für Marionetten. Lugne-Poe, der Regisseur der symbolistischen 'Theatre d'Art' und 'Oeuvre' versucht den typischen P.stil auf das Personentheater zu übertragen. In Deutschland ahmt man das Pariser Vorbild vor allem in M ü n c h e n nach. Die 1901 erstmals öffentlich auftretenden 'Elf Scharfrichter' führen auch literar. Puppenspiel vor, entweder mit Stodcpuppen oder mit Schattenbildern; Puppenführer und -Sprecher sind Otto Falkenberg, Leo Greiner und später auch Frank Wedekind. 1906 gründet Paul Brann das 'Marionettentheater Münchener Künstler', das zuerst auf der Bayrischen Lan-

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des- und Jubiläumsausstellung in Nürnberg Puppenspiele von Pocci aufführt; in der Folge ältere und neuere Stücke in München, seit 1910 im eigenen Hause, und auf Gastspielen. Im Spielplan stehen neben dem Doktor Faust in der Augsburger Fassung, Puppenkomödien Poccis und Stücken von Hans Sachs, Moliere, Polgar, Maeterlinck (Der Tod des Tintagiles) auch eigens für die Marionettenbühne geschaffene ältere und neuere Werke wie König Violon und Prinzessin Klarinette (Mahlmann), Der tapfere Cassian (Arthur Schnitzler), Der große und der kleine Klaus (nach Andersen) und Die Legende von der Geburt des Heilands (mit Benutzung alter Weihnachtsspiele und Lieder, von Brann), aber auch ältere Singspiele, komische Opern und Operetten. 1906 gründet Alexander von Bernus die 'Schwabinger Schattenspiele', die nach Privatvorstellungen des Don Juan von Bernus 1907 an die Öffentlichkeit treten und in zwei Spielzeiten neben modernen Schattenspielen auch ältere Werke aufführen: 1907/08 Pan (Bernus), Wegetoart (Adelheid von Sybel-Bemus), Leben und Tod des kleinen Rotkäppchens (Tieck), Der Totengräber vom Feldberg (Kernet), Vormitternacht (Bernus), Der wundertätige Stein (Arnim), Kasperl wird reich (Pocci), Thors Hammer (Karl Wolfskehl), St. Anton oder der Heiligenschein (Coppelius); 1908/09, neben türkischen Schattenspielen mit echten orientalischen Figuren, den Osterspaziergang aus Faust, Der letzte König von Orplid (Mörike), Der Sieg der Gläubigen, „ein geistliches Nachspiel" (August von Platen), Der Bärenhäuter im Salzbade und König Eginhard (Kemer), Kasperl unter den Wilden (Pocci), Fallada (Wolfskehl), Im Zwischenreich (Paula Rosier), Der Dichter, „ein Vorspiel" (Bernus), Der Teufel mit dem alten Weibe (Hans Sachs), Fortunatus und Der Blinde (Will Vesper). 1924 gründen die Schwestern Marie, Magdalena und Sofia Jannsen die 'Sollner Puppenspiele', die für geladene Gäste mit stilisierten Figuren auch Stücke von Wilhelm von Scholz, Ricarda Huch und Emil Kaiser vorführen und Ellen van Valkenburg die Anregung zum ersten künstlerischen Puppentheater in Amerika geben. 1917 eröffnet Albert Huth die 'Künstlerische Puppenbühne' mit unbeweglichen, beidseitig bemalten Flachpuppen, wobei der Hauptwert auf Gruppierung und Bühnenbild (Drehbühne)

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gelegt wird. Im Spielplan stehen u. a. das altflämische Spiel Lanzelot und Sanderein, die spanische Komödie Die Höfe in Salamanca (Cervantes) und die Wiener Zauberstücke Moisars Zauberfluch (Raimund) und Lumpazivagabundus (Nestroy). 1921 eröffnete Hilmar Binter das von seinem Vater übernommene, künstlerisch erneuerte 'Münchner Marionettentheater'. Im Spielplan stehen neben den Volkspuppenspielen Doktor Faust und Don Juan Werke von Hans Sachs und Pocci, Robinson soll nicht sterben von Forster, klassische Dramen wie Turandot (Schiller), Der zerbrochene Krug (von Kleist), Opem von Mozart (Zaide, Die Entführung aus dem Serail, Der Schauspieldirektor), Weber (Abu Hassan), und die Operette Der Mikado von Sullivan. Im Winter 1925/26 bringt Alfred Hahn das farbige Schattenspiel Christi Geburt in München heraus, 1932 Heinz Brenner sein „zeitgenössisches Puppenspiel" Spiel. Ein zweites dt. Zentrum des künstlerischen P.s entsteht vor dem ersten Weltkrieg in B a d e n - B a d e n , als der Maler und Grafiker Ivo Puhonny 1911 das 'Baden-Badener Künstler-Marionettentheater' gründet, das oft längere Zeit in Berlin weilt, seit 1916 unter der Leitung von Emst Ehlert in der ganzen Welt gastiert, sogar in Java, und bis in die 30er Jahre hinein in Bezug auf Artistik der Bewegung, Bühnenbild, Kostüm und Repertoire als das künstlerischste dt. Marionettentheater gilt. Neben Fastnachtspielen von Hans Sachs, Phtlotas (Lessing), Pater Brett und Szenen aus Faust (Goethe), Das Duell (Ludwig Thoma), Das Spukhaus (Hans Gumppenberg), Das Herziounder (Wilhelm von Scholz), Tod und Teufel (Wedekind), Wunderkur (Herbert von Eulenberg) werden außer dem alten Faust-Puppensviel und Puppenkomödien Poccis auch moderne, eigens für die Puppenbühne geschaffene Stücke aufgeführt wie Die Rache des Hakim (Rolf Gustav Haebler), Der Doppelkopf (Wilhelm von Scholz) und Der Froschprinz (Otto Eichrodt). Der Maler Hans Thoma erkennt 1921 nach einem Besuche im Puppenspiel Puhonnys die „ursprünglichste Kunst", den „Anfang aller Künste" — 1919 eröffnet der Dichter Wilhelm Hermanns die 'Aachener Kammerpuppenspiele* mit seinem, im Aachener Dialekt verfaßten Legendenspiel Der Teufel in Aachen, in dem Schängchen (Jean) als loka-

ler Lustigmacher hervortritt. Neben vielen andern Marionettenbühnen treten das "Theater Rheinischer Marionetten' der Brüder Zangerle mit Doktor Faust, Fritz Gerhards Marionetten in Schwäbisch-Hall mit Lanzelot und Sanderein und Peter Anton Kastners Marionetten mit dem Oberuferer Krippenspiel hervor. Leo Weismantel richtet in der Gesolei in Düsseldorf eine Abteilung Puppenspiel ein, Harro Siegel, beeindruckt von einem Berliner Gastspiel des 1912 gegründeten 'Teatro dei Piccoli' von Vittorio Podrecca, errichtet an der Berliner Hochschule für Kunsterziehung eine MarionettentheaterKlasse und tritt 1927 mit den Originalpuppenspielen Zirkus Juhu (Traugott Vogel) und Doppelkopf (von Scholz) an die Öffentlichkeit. Zu seinen wesentlichen Inszenierungen gehören an modernen Dichtungen neben dem Herzwunder (von Scholz) eigens für die Marionettenbühne geschriebene Werke von Hans Watzlik und Richard Seewald und an musikalischen Werken die Coffee-Cantate (Johann Sebastian Bach), Aeneas und Dido (Purcell) und die moderne israelitische Kammeroper David und Goliath (Karel Salomon). Nach dem zweiten Weltkrieg rufen Studenten in München das Marionetten-Studio 'kleines spiel' ins Leben, das neben gelegentlichen Kabarettprogrammen ältere und neuere Dramen aufführt und später in Zusammenarbeit mit Tankred Dorst in surrealistische und abstrakte Reiche vorstößt (s. u.). Im Verband der Städtischen Bühnen Augsburg eröffnet 1948 Walter Oehmichen die 'Augsburger Puppenkiste'. Im Spielplan stehen neben Bearbeitungen Grimmscher Märchen u. a. Cenodoxus (nach Bidermann von Joseph Gregor), das chin. Spiel Das Lied der Laute, die dramatische Bearbeitung des Kleinen Prinzen (Antoine de Saint-Exupery), Peter und der Wolf (Prokofieff), sowie 1960 Die Dreigroschenoper (Brecht/Weill) mit lebendigen Personen auf der Vorbühne für die Songs. Seit dem Ende des ersten Weltkrieges geht auch ein Teil der dt. H a n d p u p p e n s p i e l e r neue künstlerische Wege. 1919 beginnt Carl Iwowski in Berlin den Auftritt der Puppen von der Spielleiste in die Mittelund Hinterbühne zu verlegen, 1921 Liesel Simon in Frankfurt a. M., die bald zum hessischen Rundfunk-Kasperl avanciert, 1925 Werner Perrey in Kiel, der in seinem 'Nie-

Puppentheater derdeutschen Puppenspiel' Nöte der Zeit satirisch durchleuchtet und insbesondere Max Jacob, der auf der Stilbühne seiner Hartensteiner, seit 1928 'Hohnsteiner Puppenspiele', bis zu acht Handpuppen gleichzeitig auftreten läßt, teils in selber verfaßten zeitsatirischen Kasperspielen, teils in Volksund Kunstmärchen nachgebildeten Puppenspielen. Den Handpuppen werden aber auch der Doktor Faust, Der Freischütz (ohne Musik), Fasnachtspiele von Hans Sachs, Die geliebte Dornrose (Andreas Gryphius) u. a. besonders angepaßt. Jacob entwickelt sich zu einem der besten Handpuppenspieler Europas. Nach seinem Rüdetritt (1953) führen Harald Schwarz, der u. a. das zeitkritisdie Handpuppenspiel Goldzauber (Max Jacob) zur Uraufführung bringt, in Essen und Friedrich Arndt in Hamburg die Hohnsteiner Puppenspiele weiter. Arndt schreibt wie sein Lehrmeister meist selber Stücke, bearbeitet zusammen mit Jacob Das Incognito (von Eichendorff) für das Handpuppentheater und kreiert 1960 Undine 60 (Max Jacob). Eine vielseitig schöpferische Persönlichkeit ist audi Carl Schröder aus Radebeul bei Dresden, der sich seit 1930 ein bedeutendes Repertoire ohne Kasperle sdiafft, nach dem zweiten Weltkrieg in den Ateliers der DEFA wie Carl Iwowski als Librettist, Puppengestalter und Regisseur Puppenfilme herstellt und 1966 die Leitung des 'Puppentheaters Berlin' übernimmt. 1952 wird nach einem Gastspiel des russischen Handpuppenspielers Sergei Obraszow ein 'Staatliches Puppentheater' in Dresden gegründet, das auf einer ungerahmten, oben offenen, halbkreisförmigen Bühne mit zwei Spielebenen agiert. Es tritt 1960 mit Der große und der kleine Klaus von Katharina Benkert besonders hervor, 1962 mit Kasper und das Wahrheitstuch von Peter Bedcert nach Stücken von Lena Foellbach, 1963 mit Der Wettkampf mit dem Wolf von Georgi Landau, das 'Städtische Puppentheater* in Magdeburg 1963 mit Lachen und Weinen von S. Midialkow, in Karl-Marx-Stadt 1964 mit Das 'Märdieri vom Schlaraffenland von Marie Turra. 1966 gliedern sich die 'Bühnen der Stadt Gera' das seit 1951 bestehende Puppentheater Oestreich-Ohnesorge an. 1919 kreiert Lotte Reiniger ihren ersten Schattenspielfilm Das Ornament des verliebten Herzens; 1933 emigriert sie in die

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Schweiz, dann nach England, wo sie weiter auf ihrem Sondergebiete tätig bleibt. Seit 1932 widmet sich Max Bührmann dem farbigen chines. Schattenspiel und spielt mit Original-Stedi'nan-Figuren altdiines. Volksstücke in dt. Ubersetzung im ganzen dt. Sprachgebiet, in England, Frankreich, Italien und China. Der Dresdener Schriftsteller und Dramatiker Fritz Gay (geb. 1907) übernimmt für seine Bühne 'Die Schatten' die chines. Technik und das stilbindende Repertoire des orientalischen Vorbildes und schreibt eigene Texte von dichterischem Werte. In Ö s t e r r e i c h verfertigt der Bildhauer und Maler Richard Tesdiner (1879-1948) schon während seines Kunststudiums in Prag Marionetten. 1911 wird er in Holland durch javanische Schattenfiguren und Stodcpuppen zu seinem Schatten- und Figurentheater 'Der goldene Schrein' angeregt, für deren Eröffnung 1912 er indonesische Sagen, Tierfabeln und Märchen bearbeitet. 1920 tritt er mit seinen ersten vier Spielen und dem neugeschaffenen hoffmannesken Nachtstück und der Tänzerin im Kunstgewerbemuseum Wien erstmals an die Öffentlichkeit. Regelmäßige Spielzeiten bringen neue Stücke, wobei Teschner auch die Musik komponiert. 1931 baut er ein neues Theater, den künstlerisch und technisch vollendeten 'FigurenspiegeP, der 1932 mit Orchidee und Farbenklavier seine Pforten öffnet und bis 1948 viele Uraufführungen bringt, darunter die Wiener Sagenspiele Der Basilisk und Schab' den Rüssel. In Salzburg gründet der Bildhauer Anton Aicher die 'Salzburger Marionetten', die 1913 mit Bastien und Bastienne (Mozart) erstmals auftreten. 1926 schafft der Sohn des Gründers, Hermann Aicher, neue Puppen von einer Größe bis zu einem Meter. Rund 150 Opern und Singspiele, in deren Mittelpunkt Mozart steht, Ballette und Pantomimen. Schauspiele und Märchenstücke werden bis heute in der ganzen Welt aufgeführt. In der d t . S c h w e i z führt auf der Schweizerischen Landesausstellung in Bern 1914 das 'Basler Käsperlitheater' mit Handpuppen Basler Satiren vor. Angeregt durch die an der Theaterkunstausstellung Zürich 1914 ausgestellte Sammlung fernöstlicher Puppen von Edward Gordon Craig und ein Gastspiel des Marionettentheaters Münchner Künstler, gründet Alfred Althen-, Direktor der Kunst-

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Pappentheater

gewerbesdiule in Zürich, das 'Schweizerische Marionettentheater', das anläßlich der schweizerischen Werkbundausstellung 1918 in Zürich an die Öffentlichkeit tritt und 1919 als Experimentierbühne der Zürcher Kunstgewerbeschule angegliedert wird. Bis 1935 werden hier unter der Leitung von Altherr in Zusammenarbeit mit dem Bildhauer Carl Fischer, Malern, Dichtern und Musikern der dt. und franz. Schweiz über 300 Aufführungen veranstaltet u. a. Der rotseidene Seiltänzer (Rene Morax), Die beiden Brüder (nach dem Grimmschen Märchen von Werner Wolff), Die heilige Kümmernis (Daniel Baud-Bovy), Der Mann aus einer andern Welt (Wolff), Das Eulensdiloß (Pocci), Die Rache des verhöhnten Liebhabers (Ernst Toller, Musik von Ernst Krenek), Meister Pedros Puppenspiel (Manuel de Falla), Ungarische Nacht (Albert Ehrismann) und Der Spuk im Grichtshuus (Paul Altherr). In seiner Nachfolge entstehen eine ganze Reihe künstlerischer Puppenbühnen, wie die 1926 von dem t)ichter Fritz Ringgenberg und dem Maler Arnold Brügger gegründeten 'Meiringer Marionetten', welche u. a. das in Berner Oberländer Dialekt verfaßte Sagenspiel Drei Meitleni von Isenbolgen (Ringgenberg) uraufführen, 1928 die 'Marionettenbühne Festi Ligerz' bei Biel von Elsi Giauque-Kleinpeter und Fernand Giauque, welche französisch (Fantasie von Alfred de Musset, L'Histoire du Soldat von Ramuz — Strawinsky) und deutsch spielt (Die Vögel von Goethe, Seewy, Winzerspiel von Walter Clenin, Das singende Knöchlein nach Grimm von Emil Schibli). Jakob Flach, der 1928 am Schweizerischen Marionettentheater Regie geführt und hier 1930 sein Puppenspiel Ein armer Teufel kreiert hat, gründet 1937, nach dem Erfolg seines surrealistischen Spiels Turandot in einer Villa in Ascona, zusammen mit den Malern Mischa Epper, Fritz Pauli und Werner J. Müller das 'Marionettentheater Asconeser Künstler' und bringt, seit 1938, bis 62 Programme heraus mit 46 eigenen und 5 selbst übersetzten und eingerichteten Stücken von Plautus, Cervantes, Moliere sowie 11 weiteren literar. Werken wie Das Kälberbrüten (Hans Sachs), Der Prozeß um des Esels Schatten (Wieland), Lyrisches Intermezzo (Heine), Ein Heiratsantrag (Tschechow), Das Nusch-Nusdü (Franz Blei), Der tapfere Cassian (Schnitz-

ler), femer eigens für die Asconeser Marionetten geschriebene Spiele von Richard Seewald, Richard B. Matzig, Jacob Bührer, F. Treubier und Jakob Vischer. 1940 gründet Max Theo Zehntner die 'Basler Marionettenspiele', die neben Märchen und Puppenkomödien Poccis u. a. mit Scherz, List und Rache (Goethe) und Der Paur inn dem Fegefeuer (Hans Sachs) hervortreten. 1941 dichtet der Zürcher Rudolf Jakob Humm für das seit 1940 bestehende Haustheater seines Sohnes sein erstes Marionettenspiel Theseus und der Minotaurus und für das erstmals 1944 an die Öffentlichkeit tretende 'Humm's Marionettentheater' die Novelle Belfagor (Macchiavelli), der weitere Spiele folgen. 1945 läßt der Maler-Dichter Heinrich Danioth in Flüelen sein Urner Krippenspiel, das lebendige Darsteller und Figuren mischt, durch die Marionettenbühne der Künstlergruppe Gelb/Schwarz kreieren. 1945 wild in Basel das unter der Leitung von O. Proskauer vom Goetheanum Domach stehende 'Marionettentheater Zum Gold' mit Prinz Rosenrot (Pocci) eröffnet, er bringt u. a. 1948 in sog. Kammerspielen für Marionetten Manuel (Stefan George) zur Uraufführung. Längern Bestand haben die 1942 von Hans Boiler und Pierre Gauchat in Verbindung mit der „Freien Bühne" Zürich gegründeten 'Zürcher Marionetten', die neben Reprisen von Inszenierungen des Schweizerischen Marionettentheaters Neuinszenierungen von selten gespielten musikalischen Werken und älteren Schauspielen auch Uraufführungen literarisch wertvoller Puppenspiele veranstalten. Das 1944 von Richard Koelner in der Kunsthalle Basel mit Doktor Faust eröffnete 'Basler Marionettentheater' ist heute noch tätig. Aus seinem Spielplan seien neben Spielopem von Mozart und Pergolesi, Fastnachtsspielen \'on Hans Sachs und Märchen besonders erwähnt Turandot (Schiller), Triptychon (Timmermann) 1945, II Pastor fido (Händel), D'Mondladärne (Baseldt. Märchenspiel von Paul Koelner), Der Dreispitz (nach der Novelle von Pedro de Alarcon von Richard Koelner), Goethe im Examen (Groteske von Egon Friedell und Alfred Polgar), Dr Dood im Epfelbaum (nach Osborne von Marianne und Lukas Buschhandt), Chantecler (Rostand). 1956 eröffnet das 'St. Galler Puppentheater' seine Pforten, das, geleitet von Hans Hiller, auch andere Ma-

Puppentheater rionettenbühnen des Kantons St. Gallen in seine Veranstaltungen einbezieht. Zu den bedeutendsten Handpuppenspielern gehört die Bernerin Therese Keller, welche Puppen und Texte kreiert. Mit Oskar Schlemmer erfolgt ein Einbruch der surrealistischen und abstrakten Spielpuppe. Er entwirft 1912-1926 für sein Triadisches Ballett (Musik von Hindemith) menschliche Figuren, die halb in Perspektiven in der Art Leonardo da Vincis, halb in Marionetten aufgeteilt sind, und Barometergestalten für den Stab- und Formentanz seines 'Figuralen Kabinetts'. Sophie TäuberArp setzt 1918 winzige und spitze, fast abstrakte Metallstücke für König Hirsch (Gozzi) vor abstrakten Hintergründen ein und erregt damit anläßlich der Erstaufführung im Schweizerischen Marionettentheater in Zürich 1918 weltweites Aufsehen. Ernst Gubler kreiert hier 1920 seine abstrakten Tänzer und Tänzerin. Paul Klee schenkt seinem Sohne Felix 1922-1925 selbstgefertigte Handpuppen wie den Zündholzschachtelgeist, Elektrischer Spuk, Breitohrclown, Reiner Tor, Vogelscheuchengespenst. In Kurt Schmidt's 'Mechanischen Balletten von 33' werden Die Abenteuer eines hl. Buddigen in einem Tanz von Stangen dargestellt. Die aus der dt. Schweiz stammende Hildegard Weber-Lipsi, Gattin des polnischen Malers Lipsi, stellt in Paris für ihre Kinder Puppen her, die aus einer Spiralfeder mit fliegenden Schleiern bestehen und bekommt den Auftrag für 43 Puppen zur Aufführung des Mystdre de la Vierge (Herault) an Weihnachten 1938 in Paris, die einer modernen Umgestaltung proven9alischer Weihnachtskrippen gleichkommen. In der dt. Schweiz stellt 1943 Fred Schneckenburger (1902-1966) seine ersten abstrakten Hand- und Stabpuppen her und startet 1945 in Frauenfeld ein selber gedich7 tetes Kabarettprogramm 'Unentschlossen' mit „Chasper" als Conferencier. 1948 eröffnet er mit seinem 'Puppen-Cabaret' die Juni-Festwochen Zürich und gastiert in Amsterdam und London, seither regelmäßig in Deutschland. Inzwischen hat er 1961 die Leitung der 'Zürcher Marionetten' übernommen, wo bereits Josef Müller-Brockmann Versuche mit abstrakten Marionetten gemacht hat (Hin und Zurück von Hindemith). Zu surrealistischen und abstrakten Marionetten stößt in den 50er Jahren auch das 'Kleine Spiel' in

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München bei den Uraufführungen der Marionettenspiele von Tankred Dorst vor, der mit seinem Puppenspiel Eine Trompete für Nap auch im dt. Fernsehen auftritt. 1952 stellt Harry Kramer seine ersten abstrakten Marionetten her, 1953 32 Figuren für sein „mechanisches Theater" 13 Szenen, die 1955 in der Galerie Springer in Berlin mit konkreter Musik von Wilfried Schröpfer zur Uraufführung kommen. 1956 siedelt er nach Paris über, wo er den Film Die Stadt kreiert und Automaten zu Signale im Schatten baut (Uraufführung 1959). In Bern beschäftigt sich der Grafiker Ulrich Baumgartner seit 1953/54 mit dem Schattenspiel, bringt 1955 Das verlorene Wort und 1962 im Rahmen der Puppentheaterausstellimg „Asiatica und Experimente" in der Bemer Kunsthalle Das Loch in der Pfanne (Melodrama über Oedipus und den weisen Sigmund) zur Uraufführung. Der Berner Bildhauer Luginbühl schnitzt abstrakte Handpuppen. Der Deutsche A. Köhler stellt 1962 abstrakte Marionetten für den Film Traum an Fäden her, die an Schöpfungen von Oskar Schlemmer erinnern. Paris: Jacques R o b i c h e z , Le Symbolisme au thiätre. Lugni-Poe et les debuts de l'ceuvre (Paris 1957) S. 83 ff. Paul J e a n n e , Le Thiätre d'ombres ä Montmartre de 1887 ä 1923 (Paris 1937). Andre-Charles G e r v a i s , Marionnettes et marionnettistes de France (Paris 1947). Gaston B a t y u. Rene C h a v a n c e , Histoire des marionnettes (Paris 1959). Paul B l a n c h a r t , Gaston Baty et les marionnettes. Revue d'Histoire du Th6ätre 15 (1953) S. 111-123. — Edward Gordon C r a i g , On the Art of the theatre (London 1911) S. 54-94. — Teatro dei Piccoli: Puppen-Oper. Programmschrift für die Gastspiele im dt. Sprachgebiet (1927). München: Karl S c h l o ß , Münchner Marionetten. März. Jg. 2, Bd. 4, H. 24, (Dez. 1908) S. 470-479. Das künstlerische Puppenspiel in München. Das Bayernland. Jg. 48, H. 4 (1937) S. 97-128 (mit Beitr. v. Rieh. Eldiinger, Hanns Kalb, Franz Langheinrich, Franz Rauh, Reinhold Zenz u. Hansheinz Kösters). Emil V i e r i i n g e r , München. Stadt d. Puppenspiele (1943). Ludwig K r a f f t , München u. d. Puppenspiel. Kleine Liebe e. großen Stadt belauscht u. ausposaunt (1961). — Paul Β r a n n , Zum lOjähr. Bestehen d. Marionettentheaters Münchner Künstler. Uber Land u. Meer. Jg. 59 Bd. 118, Nr. 28 (1917) S. 533. Georg Jacob W o l f , Das Marionetten-Theater Münchner Künstler. Dekorative Kunst. Jg. 15, Bd. 20 (1912) S. 441-452 mit Abb. Ders., Das Krippenspiel d. Marionettentheaters Münchner Künstler. Ebda Jg. 29, Bd.

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Puppentheater

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R Rätsel § 1. Ursprünge und Entwicklung. Gesamtkreis und Teilformen. Das R. ist die als Frage, daneben aber auch als Aussage formulierte Aufforderung, ein Dunkles (vgl. die ahd. Umschreibung tunchil für enigma), der Einsicht zunächst Entzogenes zu benennen oder zu deuten. Die Schwierigkeit kann bestehen im Objekt selbst oder — was in der späteren Entwicklung überwiegt—in der Art der Aussage, der „Verrätselung", d. h. in der absichtlichen Erschwerung der Lösung. Zuweilen wird nur dieses letzte Merkmal als Kriterium anerkannt und die Weisheits- und Wissensfragen werden ausgeschlossen. Aber Ursprünge und Frühgeschichte des R.s, das Durchstehen von Weisheits- und Wissensfragen bis in die Volksrätsel der Gegenwart, nicht zuletzt auch die Etymologie ahd. rätussa, as. rädisli, die auf eine Deutung verwandt der der Runen hinweist, stehen einer engen Begrenzung entgegen. Den Ausschlag geben kann nicht der (überwiegende) Bestand der gegenwärtigen Volksrätsel, sondern nur die Gesamtentwicklung des R.s. Was Objekte, ζ. T. auch Aussageform (nicht dagegen durchaus die Stilformen) angeht, lassen sich in der Entwicklung V o l k s r ä t s e l und K u n s t r ä t s e l nicht völlig voneinander trennen. Einerseits nimmt das literar. R. immer wieder alte Volksformen auf, wie schon die lat. Reichenauer Hs. des 10. Jh.s das vom Vogel federlos (MSD Nr. VII 4), in mhd. Zeit Reinmar v. Zweter und jüngere handschriftliche und gedruckte Sammlungen des 15. und 16. Jh.s und späterer Zeit, lateinische wie deutsche. Andrerseits hat das „Volk" immer wieder literar. Rätsel „rezipiert" (ζ. B. vom Jahresbaum, von Adam, Eva, Kain) und bis in die Gegenwart weitergeführt. Immerhin sind die Schwergewichte bei Kunst-R. und Volks-R. gegensätzlich gelagert: 1. Beim Volks-R. sind die Objekte überwiegend konkret; beim Kunst-R. ist die Zahl der abstrakten Objekte oder konkreter in vergeistigter Auffassung relativ groß. 2. Das Volks-R. neigt zur Knappheit, das Kunst-R. zur breiten Ausmalung, so daß oft

durch die Fülle der Einzelangaben das R. überaus schwierig, ja unlösbar wird. 3. Beim Volks-R. überwiegt die Bildlichkeit der Darstellung, bei Kunst-R.n besteht oft auch die Tendenz zur rein begrifflichen und spitzfindigen Formulierung. Unentbehrlich ist es, für Ursprünge, Biologie und Motive das deutsche und germanische R. nach zwei Richtungen weiterzuverfolgen: räumlich durch Europa und darüber hinaus, zeitlich bis zu den der mittel- und nordeuropäischen Entwicklung vorausliegenden Stufen: christliche und nichtchristliche Spätantike, Antike und vorderer Orient (Juden, Araber), Persien und Indien (Veden, Brahmana). Die Entscheidung zwischen „Polygenese" und kultureller Übertragung („Wanderung") ist nicht allgemein möglich, sondern in günstigen Fällen jeweils nur für das einzelne R. Ganz im Gegensatz zu späteren Perioden stehen die Anfänge des R.s im engen Zusammenhang mit Magie (Lösung von R.n u. a. als Fruchtbarkeitszauber) und Kultus (Unterweisung, Einweihung in einen Kultus, Wettstreit um das wahre Wissen). Die Magie des „Wortes" (zu dem auch der „Name" gehört) ist eine der wesentlichen Wurzeln des R.s, andererseits die gesteigerten Kräfte des Ahnens und des Verstandes von Auserwählten. Stärker beachtet werden sollte die Traditionsgebundenheit der R., von denen nicht nur die Fragen, sondern auch die Antworten von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben wurden, offen oder, in gewissen Fällen, als Geheimnis für die zu einem kultischen oder sozialen Verband Gehörigen: Familie, Sippe, Stamm; in neuerer Zeit auch Stände, wie ζ. B. Zünfte und Jäger (vgl. Rudolf Wissell, Des alten Handwerks Recht u. Gewohnheit. Hg. v. Konrad Hahm, 2 Bde, 1929 und Joh. Georg Theod. Grässe, Jägerbrevier, 2. Aufl. 1885). Eine Abzweigung aus dem Geheim-R. eines Verbandes ist wohl das sogenannte „Halslösungsrätsel"; das Individualerlebnis des R.-stellers ist unratbar und befreit aus einer Gefahr oder Verurteilung oder gibt

Rätsel

ihm den Sieg in einem Rätselstreit (Simsons Rätsel, Richter 14,14; Odins Wort zum toten Baldr: Heidreksrätsel, Edda II, Nr. 24, Str. 36 und Wafthrudnirlied Nr. 12, Str. 52; IloRätsel, Wossidlo Nr. 962 mit Var.; KHM 22, vgl. Bolte-Polivka, Anm. I, 188 ff.). Neben diesen verschiedenen Wurzeln des R.s ist schon sehr früh die Neigung zum geistigen „Spiel" zu erkennen; aus geringen, nicht überall eindeutigen (von Huizinga überschätzten) Anfängen hat sie allmählich die unbedingte Herrschaft über das R. gewonnen. Die magischen, kultischen, sozialen Zweckformen werden mehr und mehr zu Spielformen. Parallel mit dieser Entwicklung geht die von der nichtreflektierenden Anschauung der Erscheinungen der Welt und der nachschaffenden Phantasie zur verstandesmäßigen Überlegung und Erfassung, die Entwicklung vom Begriffsrätsel (das übersetzbar ist und darum von Kulturkreis zu Kulturkreis leicht weitergegeben werden kann) zum Worträtsel. Dieses baut auf den Homonymien und den verschiedenen Bedeutungen eines Wortes innerhalb der Einzelsprache auf. Oder es löst die Wörter in ihre Silben oder Buchstaben auf und gewinnt so vielfache Möglichkeiten der „Verrätselung": aus den Bedeutungen des Wortganzen und seiner Teile das Silbenrätsel, die Charade (Hans-Wurst-Hanswurst). Durch Umstellung von Buchstaben das Logogryph (Rose-Eros), durch Umkehrung der Buchstaben- oder Silbenfolge das Anagramm (RebeEber; Schlagbaum-Baumschlag); durch Austausch von Lauten (Last-List-Lust); durch Weglassung oder Zusatz von Lauten (GreisReis-Eis und umgekehrt). Mehrere Formen der „Verrätselung" können auch kombiniert werden (Beispiele zu den einzelnen Formen bei Friedreich § 6 ff.). Eine zeitliche Einstufung der Teilgattungen ist fast unmöglich, da auch künstliche Arten schon sehr früh belegt sind und einfache naturgemäß bis in die Gegenwart lebendigbleiben. Dagegen ist bei Einzelrätseln mitunter aus Kulturellem oder Gedanklichem ein terminus post oder ante quem zu ermitteln, ebenso das Ursprungsgebiet (Schreibfeder, Kartoffel; Galgen. - Reis, Obsidian). § 2. Überlieferung. — V o l k s - R . werden in größerer Zahl erst durch die Volkskunde des 19. und 20. Jh.s aufgezeichnet. Für die

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ältere Zeit lassen sie sich nur aus lat. und dt. literar. Denkmälern herauslösen. An eigenen Dichtungen volkstümlicher Art, die eine Anzahl von R.n enthalten, sind bewahrt nur das Traugemundslied (14. Jh.) und die Kranzsingelieder (seit dem 16. Jh.), die in den „Rätselliedern" der folgenden Jhh. fortgesetzt werden (Erk-Böhme, Liederhort III, Nr. 1062 ff.). Die K u n s t - R . begegnen entweder als eigene Kurzformen, oder sie sind eingefügt in größere Dichtungen. Aufgenommen sind sie hier entweder als lehrhaftes Element, oder sie dienen der Handlungsführung. Wichtiger als der kurze Rätseldialog ohne Bedeutung für die Handlung ist der Rätselwettstreit, vor allem aber die Verwendung des R.s als Aufgabe, deren Lösung der Handlung eine entscheidende Wendung gibt, im Schwank (ζ. B. Stricker, Pfaffe Amis, vgl. Kinder- u. Hausmärchen, Nr. 152: Hirtenbüblein) und im Drama (Turandot, vgl. Walter Anderson, Kaiser u. Abt, Helsinki 1923, FFC. 42, und Jan de Vries, Die Märchen von den klugen Rätsellösern, Helsinki 1928, FFC. 73). An spätantike R. (Symphosius, 4./5. Jh.; sogen. Berner Rätsel, 7. Jh.) knüpfen die ältesten R. des Nordens an, die von Angelsachsen verfaßten des 7. und 8. Jh.s. Lateinisch sind die des Aldhelm, Tatwine, Eusebius, Winfrid-Bonifatius und Alkuins Disputatio regalis iuvenis Pippini cum Albino scholastico, angelsächsisch die des Exeterbuches. Sie sind, bis auf die Definitionsfragen Alkuins, breit ausgemalt und zeigen auch in der Wahl der Gegenstände den wachsenden Anteil biblischer und gelehrter Fragen. Sehr viel näher stehen nach Inhalten und Form dem Volksmäßigen die altnordischen Heidreksrätsel der Wikingzeit, stabende Strophen, deren Wettkampf in eine „Halslösungsszene" einmündet. Einem Drittel etwa, die als Volksrätsel zu bezeichnen sind, stehen solche kunstvolleren Stils gegenüber, ohne doch gelehrten Einfluß zu verraten. Die dt. Tradition setzt ein mit den Enigmata risibilia einer Reichenauer Hs. des 10. Jh.s (MSD, Nr. VII), die u. a. das Volksrätsel von Schnee und Sonne bewahrt hat. Dem Charakter des Schulgesprächs entsprechen die ζ. T. noch älteren Sammlungen der sogen. Joca Monachorum (in Hss. seit dem 8. Jh.), die bei aller Erforschimg biblischen Wissens doch auch der spielerischen Frage

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Bätsei

Raum geben (ζ. B. Qui αυίατη suam virginem violavitp). Sie stehen am Anfang von Traditionslinien, die über die Elucidarien und Katediismen bis zu Volksrätseln der Gegenwart führen. Die Tradition der R. wird, abgesehen von den Lehrgesprächen, fortgesetzt durch lateinische isolierte und in größere Dichtungen eingefügte R. (ζ. B. Egbert von Lüttich, Fecunda ratis; vgl. Manitius II, S. 537); dagegen sind bis zum Ausgang der klassischen mhd. Zeit deutsche R." nur aus Andeutungen zu erschließen (vgl. Uhland, Schriften z. Gesdi. der Dichtg. u. Sage III S. 304-306). Nicht alles, was als R. bezeichnet wird, gehört hierher. Eher ein Wettkampf in Allegorien und ihrer Deutung als ein echter Rätselkampf ist das „Rätselspiel" im 'Wartburgkrieg (Str. 25-114). Ebenso ist das Stück Α des König Tirol (2. Hälfte d. 13. Jh.s; vgl. VerfLex. II 864), das als „Rätselgedicht" bezeichnet wird, nur die Dialogisierung einer breit durchgeführten Allegorie vom Priestertum. Im Appollonius des Heinrich von Neustadt (Anf. 14. Jh.) dagegen sind echte R. eingefügt, außer einem aus der lat. Quelle stammenden reduzierten (V. 679 ff.; BoltePolivka I 200; Heinr. Weismann, Alexander I 473 ff.), das für die Handlung ursprünglich entscheidend war, auch solche ohne stärkere epische Funktion (V. 16 709 ff.). Wie sehr R. biblischen Inhalts auf allgemeines Verständnis rechnen konnten, zeigt ihre Aufnahme in Freidanks Bescheidenheit (1. Hälfte d. 13. Jh.s; vgl. Wilh. Grimm CXXII) und beim Tanhuser (Mitte d. 13. Jh.s; vgl. Singer, Nr. 16; Loewenthal S. 64 f.). Eine größere Bedeutung erhält das R. seit etwa der Mitte des 13. Jh.s bei den mehr oder minder gelehrten Spruchdichtern, die sich nun nicht damit begnügen, Bekanntes zu wiederholen. Sie bauen vielmehr das Überkommene breit aus. An der Spitze steht Reinmar von Zweter, der charakteristischerweise dem Volkstümlichen noch am meisten Raum gibt; er bringt R. über das Jahr, die Eisbrücke, Sonne und Wind. Die Späteren bevorzugen Abstraktes (Alter, Gedanke, Laster, Lüge): der Hardegger, Friedr. von Suonenburg, Meister Kelin, Reinmar der Fiedler, Meister Stolle, der Mamer, der Meißner, Rumzland und Singuf, Hermann der Damen und Wizlav v. Rügen, Frauenlob und Regenbogen. Neu ist das Rätsel auf politische Er-

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eignisse und Persönlichkeiten der Zeit beim Wilden Alexander, beim Tanhuser, bei Reinmar dem Fiedler. Neu ist auch die Verwendimg voneinander gelöster Silben eines Namens (Marn-er) beim Meißner und bei Rumzland. Wie schon bei den lat. und ags. R.n geht auch hier mit der Aufschwellung die Schärfe der Darstellung verloren, so daß die Lösung heute oft nur mühsam zu finden ist. Die bürgerliche Dichtung des späten MA.s führt das R. nach zwei Seiten weiter, einmal in den lehrhaften Sprüchen der Meistersinger (vgl. F. J. Mone, in: Anz. f. Kunde d. teutschen Vorzeit 7,1838, Sp. 372 ff.; Archer Taylor, Literary History of Meistergesang, 1937, S. 98 ff.; Loewenthal, S. 107 ff.), auf der anderen Seite als ein bequemes Mittel der Dialogisierung und der komischen Wirkung in Fastnachtsspielen (Ad. v. Keller, Fastnachtsspiele aus d. 15. Jh. 3 Bde nebst Nachtr. 1853-58, passim). Mit dem Ausgang des MA.s beginnt dann die Reihe der dt. und lat. S a m m l u n g e n im eigentlichen Sinne. An der Spitze steht die von Reinhold Köhler (Weimarisches Jb. 5, 1856, S. 329 ff., wiederholt in: Köhler, Kl. Schriften Bd. 2, 1900, S. 499 ff.) hgg. Weimarer Hs. noch des 15. Jh.s. Es sind meist R. in Prosa, daneben aber auch einige in Reimpaaren. Auffallend ist die inhaltliche Buntheit; von der theologischen Frage bis zum derben und obszönen R. finden sich alle Zwischenstufen, ebenso zwischen dem auf mehreren Bedeutungen eines Wortes beruhenden R. und dem kniffligen Zahlenrätsel bis zur simplen Scherzfrage. Zurüddialtender sind die Sammlungen, die seit dem Anfang des 16. Jh.s in rascher Folge bei genannten und ungenannten Druckern erscheinen, in Straßburg, Augsburg, Nürnberg, Frankfurt, Hamburg. Neben dem Titel „Ratbüchlein" u. ä. begegnet schon im 16. Jh. auch „newe Spinstub" oder „Rockenbüchlein"; das weist hin auf die geselligen Zusammenkünfte des Bürger- und Bauerntums, in denen R. aufgegeben wurden. Obwohl „Kurtzweil" ihr Zweck ist und daher das scherzhafte und auch das derbe und obszöne R. überwiegen, werden doch auch die alten biblischen Fragen weiter gestellt. Anderen Charakter haben die lat. Sammlungen, etwa des Joan. Lorichius Hadamariiis (1540/45), des Julius Caesar Scaliger (1591), des Nicolaus Reusnerus (1599/1602). Humanistische

Rätsel Bildung bestimmt die Auswahl der Objekte (Antikes, Mittelalterliches, Eigenes, ohne alteinheimisches Cut ganz auszuschließen), ebenso die Mittel der Verrätselung und die strenge Form (Hexameter oder Distichon). Ein neuer Geist spricht aus den Titeln, die seit dem Ende des 17. Jh.s begegnen: „Neualamodische Rätzel-Fragen". Als Herkunftsländer der R. werden sowohl der Orient wie Frankreich, Spanien, Italien genannt, Als neuer Zweck erscheint nun u. a.: „zur ergetzlichen Zeitverkürtzung auf Mahl- und Hochzeiten". Was hier als Sammlung gedruckt geboten wird, geht auf altes Brauchtum der bäuerlichen Hochzeit zurück, bei dem das Rätsel nicht nur zur Unterhaltung diente. Das Bürgertum hat daraus seit dem 16. Jh. das kunstmäßige Hochzeitsrätselgedicht entwickelt, das handschriftlich oder im Druck dem Brautpaar überreicht wurde (vgl. Max Hippe, Hochzeitsbräuche d. 17. Jh.s, in: Festschr. Theod. Siebs z. 70. Geb., 1933, S. 421444). Audi das 18. Jh. bietet immer neue Sammlungen an; in einem Titel von 1791 erscheint als Verfasser ein „Kinderfreund"; das deutet schon das Absinken des R.s im bürgerlichen Haus an. Aber bevor es dazu kommt, wird es als kunstvolle Form erneuert durch Fr. Schiller, der aus der Bearbeitung des Turandot-Stoffes durch Carlo Gozzi (1762) nur ein R. übernahm, für die Aufführungen seines Dramas (1802) aber immer neue, im ganzen 14 R. dichtete. Goethe, der gleichfalls eins dazu beisteuerte, nennt sie „entzückte Anschauungen des Gegenstandes". Dieser Anstoß löst eine Welle neuer Rätseldichtungen aus, deren Wirkung bis ins 20. Jh. hineinreicht. Außer Goethe seien nur genannt W. von Humboldt und Schleiermacher, Th. Körner, Hebel, Hauff, Uhland und Fr. Th. Vischer; Platen, Rückert, Geibel, Freytag. Während das kunstvolle R. nach einer kurzen Blütezeit und einer modischen Ausbreitung um die Mitte des 19. Jh.s durch den „Rebus" und nodi später durch das „Kreuzworträtsel" verdrängt wird, vollzieht sich in der Stille die Sammlung der noch mündlich umlaufenden R. Außer K. Simrocks Räthselbuch (1850 u. ö.) offenbaren dann vor allem die großen Sammlungen von E. L. Rochholtz (1857) und R. Wossidlo (1897) die Fülle und vielseitige tiefe Verwurzelung der Volksrätsel.

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§ 3. Form. — Nidit ohne Einfluß auf den Darstellungsstil ist die äußere Form, d. h. ob das R. in Prosa gehalten ist oder rhythmisdi gebunden. Audi das Prosa-R. weist gelegentlich rhythmischen Bau auf; oft geht die Prosa auch unmerklich in die Versform über. Dieser Ubergang ist um so leichter, als das Volksrätsel seine Verse sehr frei baut, sowohl was Taktfüllung als auch was die Taktzahl angeht; reimlose Verse stehen neben soldien mit Voll- und Halbreim öfters in ein und demselben R. Häufiger begegnen Reimpaarfolgen. Das Kunst-R. folgt in seinen Formen der allgemeinen Stilentwiddung des Verses. Antike Maße, besonders Hexameter und Distichen, greift die Dichtung vom 16. Jh. an wieder auf. Strenger oder freier Zeilenstil und andrerseits der Bogenstil zwingen entweder zur knappen Formulierung oder geben der Darstellung freien Raum. Die german. R. bedienen sich im Altnordischen der Strophe, im Westgermanischen der stichischen Folge im knappen Zeilen- oder fülligen Bogenstil. Die deutsch-mittelalterlichen R. verwenden in epischen Gedichten das Reimpaar, während den Spruchdichtern in den umfänglichen Strophenformen ein breiterer Darstellungsraum zur Verfügung steht. Den freien Formen des 16. Jh.s stellt das 17. den Alexandriner gegenüber, während neue R.dichtung seit dem 18. Jh. sich der vielfältigen Möglichkeiten der Zeit bedient. § 4. Aufbauformen und Mittel der Darstellung. — Das R. kann, wie es das neuere Kunst-R. fast stets tut, unmittelbar mit der Darstellung einsetzen. Des öfteren jedoch wird diese eingerahmt durch Elemente, die nicht zu ihr gehören und daher ablösbar sind. Rahmenelemente können als Einleitung oder als Abschluß zugefügt sein. Die Einleitungsformel bringt gelegentlich einen Hinweis auf das „wunder" des nun folgenden Rätsels, am häufigsten aber die Aufforderung zum Raten, die auch den Abschluß bilden kann. Der Schluß enthält außerdem oft einen Hinweis auf die Schwierigkeit oder (sdieinbare) leichte Lösbarkeit oder auch das Versprechen einer Belohnung. Rahmen und Kern werden gewöhnlich getrennt gehalten. Die ganze Fülle der Ausdrucksmittel entfaltet sich in den „Kemelementen". Die Weisheits- und Wissensfragen bedürfen einer Verdunkelung nicht, da die Schwierig-

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Rätsel

keit im Objekt der Frage selbst ruht. Bei den Scherzfragen liegt die Erschwerung in der inhaltlichen Unvollständigkeit oder Unbestimmtheit der im allgemeinen außerordentlich knapp formulierten Frage; dazu gehört auch die Doppel- oder Mehrdeutigkeit eines Satzgliedes, die den Ratenden auf ein falsches Gleis locken soll, oft auf das Gebiet des Obszönen, so daß er die richtige, oft simple Lösimg nicht findet. Diesen beiden durch die Kürze der Frage einander nahestehenden, dem Sinngehalt nach gegensätzlichen R.-arten stehen die R. gegenüber, die das Objekt der Frage näher andeuten. Es sind das diejenigen R., die man oft als die „echten" bezeichnet. Sie sagen im Gegensatz zu den beiden anderen Arten über das Objekt etwas aus, unvollständig andeutend, oft auch unvollständig verhüllend, kurz oder ausführlicher. Sie sind als Aussage formuliert, seltener als Frage. Da die allzu kurze Andeutung vieldeutig, nicht erratbar, auch nicht anziehend genug sein kann (ζ. B. „Alles geit rin un alles geit rin" = Das Alter. Woss. 395), wird die Andeutung gern durch den paradox wirkenden Gegensatz ergänzt („'s brennt ums Hus und zündt's net ä" = Brennessel. Rochholz Nr. 417). Soweit nicht durch die Vermehrung der direkten oder als Vergleich formulierten Angaben (ζ. B. weiß wie Schnee; so groß wie; kleiner als) das Objekt deutlicher und damit ratbar gemacht wird, ist das wichtigste Mittel der Verrätselung und zugleich das poetisch fruchtbarste die Metaphora im weitesten Sinne, d. h. ein partieller oder totaler Austausch der Lebensebenen und -bereiche. Vertauscht werden die Ebenen der Dinge, Pflanzen, Tiere, Menschen, des Abstrakten und Konkreten, ebenso die Teilbereiche innerhalb dieser Ebenen. Zur Personifizierung gehört auch die Namengebung, wobei der Name ein realer („Peter Kruse") oder ein (oft andeutender oder ausmalender) Phantasiename sein kann (Kringelkrumum für den Bach; Klippermann und Klappermann für Halfterkette und Wagen). Vertauscht wird auch Nähe und Feme: eine Beschreibimg oder ein Bericht kann als Ich-Feststellung oder -erlebnis des Erzählenden oder seines engsten Umkreises oder auch des Objektes, aber ebenso auch, freilich seltener, als Aussage oder Erlebnis eines fernen Gewährs-

mannes oder Erlebenden, als Geschehen im fernen Lande gegeben werden, schließlich auch als Dialog. Eine besonders kunstvolle Vertauschung der Ebenen ist die des Stils, wenn ζ. B. eins der Heidreksrätsel (Edda II Nr. 24, Str. 22) die Sau mit den saugenden Ferkeln im hohen Stil eines Preisliedes darstellt, bis ein Stilumschlag zurücklenkt. Mittel der Darstellung sind Benennung, Beschreibung der Eigenschaften (Farbe, Form, Größe, Zahl; innere Eigenschaften) und Handlungsbericht oder eine Mischung von ihnen. Meist ist das Objekt ein Einzelnes (Zwiebel, Regenwurm; Rauch, Regenbogen; Spinnrad, Geige; Auge, Mensch). Nicht selten aber ist Objekt eine Gruppe gleichartiger Gegenstände (die Speichen eines Rades; Stricknadeln) oder eine funktionell oder örtlich zusammengehörige Gruppe verschiedener Objekte (Roß und Reiter, Pflug mit Zugtieren und Pflüger; Wiese und Bach). Eine besondere Schwierigkeit entsteht dann, wenn sachlich und gedanklich Unzusammengehöriges in einem R. vereint wird (Rochholz III Nr. 375: Biene, Eule, Fledermaus; Wossidlo Nr. 419 a: Hahn, Hund, Katze, Wiege). Soweit es sich dabei nicht einfach um Summierung ursprünglich getrennter Einzelrätsel handelt, wie sie auch die Rätselgedichte kennen, sind sie durch Anklänge, Reime oder Parallelismen miteinander verbunden, also nicht zerlegbar in Einzelrätsel. Trotzdem scheinen sie aus solchen hervorgegangen zu sein; wegen ihrer Kürze stehen sie den Wissensfragen nahe. Die Gesamtgeschichte des R.s zeigt zugleich Konstanz und Wechsel in der Wahl der Objekte, der Aufbau- und der Stilformen. Während das literarische R. jeweils eine individuelle Gestalt (nach Auffassimg und Form) annimmt, lassen die mündlich überlieferten R. — bei einer erstaunlichen Zähigkeit des Festhaltens am vielschichtigen Uberlieferten — die Kräfte der Umgestaltung deutlicher werden. Das gilt einmal für den Wechsel der sprachlichen Ausdrucksformen bei gleichbleibendem Objekt, dann aber auch gelegentlich im Objektwechsel bei gleichbleibender Form (ζ. B. Wossidlo Nr. 403 f. Sarg — falsches Geld). Die Reihenbildung von Fragen mit gleichem Eingang lockt auch zur R.-Parodie, in der eine falsche Frage gestellt wird, die darum auch nicht wie eine übliche Scherzfrage beantwortet

Rätsel — Rahmenerzählung werden kann (vgl. ζ. B. Wossidlo Nr. 647 f. Lewalter-Schläger Nr. 910). Das literarische R. hat von jeher die Tendenz, zum Leserätsel zu werden, was auch für seine gedankliche und stilistische Ausformung von Bedeutung ist. Das mündlich überlieferte Volksrätsel, an dem auch das Bürgertum Anteil hatte, ist dagegen nur verstehbar aus dem lebendigen Austausch größerer Gemeinschaften. Es steht, gebend und nehmend, in lebendiger Verbindung mit Redensart und Sprichwort, Volkslied und Kinderreim, Märchen, Sage und Schwank. Audi zum Brauch gehen noch letzte Fäden hinüber, während die in den Anfängen so bedeutsamen Bindungen zum Volksglauben ganz aufgelöst erscheinen. Bibliographie: John M e i e r , Dt. u. niederländ. Volkspoesie. PGrundr. Bd. 2 , 1 (2. Aufl. 1909) S. 1281-1290. Archer T a y l o r , A Bibliography of riddles (Helsinki 1939; FFC. 126), international. Hugo H a y n , Die dt. Räthsel-Litteratur. ZblBblw. 7 (1890) S. 516540, erweitert, jedoch ohne die lat. Sammlungen, in: H a y n - G o t e n d o r f , Bibliotheca Germ, erotica et curiosa. Bd. 6 (1914) S. 348358 (bes. Drucke d. 16.-18. Jh.s). Aldo S a n t i , Bibliografia della enigmistica (1952; Biblioteca bibliografica italica 3). Laurits B o d k e r , The Nordic Riddle. Terminology and bibliography (Copenhagen 1964; Skrifter. Nordisk Inst. f. folkedigtning 3). Mathilde H a i n , Rätsel (1966; Slg. Metzler). Darstellungen: Johann Baptista F r i e d r e i c h , Geschichte d. R.s (1860). Archer T a y l o r , The literary riddle before 1600 (Berkeley 1948). Robert P e t s c h , Neue Beiträge zur Kenntnis d. Volksrätsels (1899; Pal. 4). Ders., Das dt. Volksrätsel (1917; Grundriß d. dt. Volkskde 1). Ders., Spruchdiditung d. Volkes (1938; Volk. Grundriß d. dt. Volkskde 4) S. 132 ff. Friedrich P a n z e r , Das Volksrätsel, in: Die dt. Volkskunde. Hg. v. Adolf Spamer Bd. 1 (1935) S. 263-282. Will-Erich P e u c k e r t , Dt. Volkstum in Märchen, Sage, Schwank u. R. (1938; Dt. Volkstum 2) S. 179 ff. Wilh. B o b z i n , R.atlas. Τ. 1-3 (1941). Antti A a r n e , Vergleichende R.forschungen. 3 Bde (Helsinki 1918-20; FFC. 26-28). Rieh. T h u r n w a l d , Rätsel, in: E b e r t , Reallexikon d. Vorgeschichte. Bd. 11 (1928) S. 27-31. Ders., Des Menschengeistes Erwachen, Wachsen u. Irren (1951) S. 118ff. Schrader-Nehring, Reallexikon d. idg. Altertumskunde. Bd. 2 (2. Aufl. 1929) S. 210-211. Andre J o l l e s , Einfache Formen (1930; 2. Aufl. 1956) S. 104-123. J. H u i z i n g a , Homo ludens (Amsterdam 1940) S. 171 ff. — Martin Haug, Vedische Räthselfragen u. Räthselsprüche. SBAkMünchen 1875, 2, S. 457 ff.; vgl. W. W i l m a n n s , Einige Sprüche Reinmars v. Zweter u. d. Tragemundslied. ZfdA. 20 (1876) S. 250-254. Wolfgang S c h u l t z , Reallexikon III

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mehrerer Erzählungen ( = Binnenerzählungen) unmittelbar vorstellt, den Erzähler also als eine Gestalt der Dichtung selbst erscheinen läßt, die „sich in einem mündlichen Bericht an gegenwärtige Zuhörer wendet" (Käte Friedemann). Dieser Typus muß aus der „Ursituation des Erzählens", d. h. aus der Vermittlerrolle des E r z ä h l e r s zwischen Vorgang und P u b l i k u m begriffen werden. Wir sind daher nicht gezwungen, den Ursprung der R. ausschließlich im Orient zu suchen, auch wenn die literar. Traditionen auf den Orient weisen. Die s c h r i f t l i c h e Form der R. ist ein „technischer Kunstgriff", durch den „diese Ursituation sichtbar gemacht und gesteigert werden kann" (Wolfgang Kayser), und sie ist in dieser Funktion als „Ersatz für den m ü n d l i c h e n Bericht" (Käte Friedemann) aufgefaßt worden. Beiden Erzählweisen liegt ein r e d a k t i o n e l l e s Moment zugrunde: wie der mündlich Erzählende bei der Reproduktion seines Erzählschatzes oder in der Darbietung aktueller Neuigkeiten auf wirkungsvolle „Einsätze", assoziative Verknüpfungen, Spannungsbögen und befriedigende „Schlüsse" bedacht sein muß, so bleibt auch die schriftliche Fixierung an diese Erzähldynamik gebunden, — was überlieferungsgeschichtliche Brüche nicht ausschließt. J e höher jedoch die Kunstform der R. entwickelt wurde, desto stärker wurde aus dem redaktionellen Vorgang eine I n t e g r a t i o n verschiedener Erzähleinheiten; hinter dem absichtsvollen Erzählen und den eigenen Erfindungen trat das Stoffliche immer mehr zurück, zugleich wurde die Erzählerrolle durch Vorleser- und Manuskriptfiktionen erweitert. Die Tatsache, daß das Erzählen selbst „erzählt" wird, hat schließlich dazu geführt, die weitgehend experimentelle Kunstform der R. als d i d a k t i s c h e s und p o e t o l o g i s c h e s Mittel einzusetzen. Im Laufe der Entwicklungsgeschichte hat sich ein Kanon zweckmäßiger Rahmen-Techniken ausgebildet. Der Rahmen ist oft nicht mehr als eine K l a m m e r , aber er kann ebenso zu einer e i g e n e n G e s c h i c h t e ausgebaut werden. E r ist primär „Medium" der Erzählung und wird daher gern im Sinne einer E x p o s i t i o n oder Einstimmung in das Erzählgeschehen benutzt; er kann darüber hinaus durch Binnenerzählungen tiefere Bedeutung erlangen. D i e i n n e r e E i n h e i t

von Rahmen und Gerahmtem ist als Grundvoraussetzung für die Logik und Wirksamkeit der Form anzusehen. Dem G r a d d e r V e r k n ü p f u n g und der Rolle des fiktiven Erzählers kommen gewisse Schlüsselfunktionen zu. Entweder ist der Rahmen auf nur e i n e n E r z ä h l e r , der an den erzählten Vorgängen nicht beteiligt zu sein braucht, oder auf g e s e l l i g e U n t e r h a l t u n g und perspektivische Vielfalt des Erzählens angelegt. Daraus ergeben sich unterschiedliche Erzähltechniken, die einmal von der H ö r e r - , bzw. L e s e r - A n r e d e , zum anderen von der D i a l o g f o r m her zu interpretieren sind und auf den soziologischen Aspekt des Erzählten weisen, wobei die gesellschaftliche Funktion des Rahmens fiktiven Charakter hat. Die Grenzen werden dort überschritten, wo der Erzähler sich ausschließlich an ein Publikum außerhalb der Erzählung wendet oder ins Monologische ausweicht. In jedem Fall muß die E r z ä h l p e r s p e k t i v e den Ausgangspunkt für die Analyse einer R. bilden, denn sie steht in enger Beziehung zu einem distanzierenden M o m e n t , durch das die R. zu „einem bedeutsamen Mittel wird, die künstlerische Entfernung spürbar zu machen, die zwischen dem Gegenstand und dem Betrachter waltet" (Erna Merker). Es ist kein Zufall, daß der Rahmen sowohl eine Ausdrucksform der romantischen I r o n i e als auch ein Funktionselement des Verfremdungseffektes geworden ist; Gesellschaftskritik und literar. K r i t i k haben sich der R. ebenfalls mit Erfolg bedient. Die typische Rahmen-Situation ist nicht immer gattungsprägend. Auch sind die Grenzen zwischen Binnenerzählung und bloßer E r z ä h l e i n l a g e (innerhalb eines Romans oder eines Gesprächs) sowie zwischen Rahmen- und S c h a c h t e l t e c h n i k (als Mittel eines zentralgesteuerten Erzählvorgangs) fließend. Vor allem im Umkreis der gerahmten Einzelerzählung ist ein Spektrum unterschiedlicher Rahmenformen entstanden, das von der Bilddeutung, der chronikalischen Erzählung (s. d.), der Herausgeberfiktion sowie der Brief- und Tagebuch-Stilisierung bis zum Bekanntschafts-Rahmen reicht. In diesem Zusammenhang wird gelegentlich von einem legitimierenden R a h m e n gesprochen, in dem der Erzähler

Rahmenerzählung

sich und seine Geschichte dem Leser selbst vorstellt. Dieter Stephan hat eine Ausklammerung dieser Phänomene durdi den Terminus „ M a n t e l f i k t i o n e n " vorgeschlagen und als Kriterium einer echten R. angesehen, daß der Rahmen „selbst ein Stüde erzählte Welt sein" muß. Bei näherer Betrachtung erweisen sich dann manche „Rahmen" als mehr oder weniger äußerliche Erzählfaktoren oder als ein Stimulans, durch das die Unmittelbarkeit des Erzählens wiedergewonnen werden soll. Die Vorstellungen eines „idealen" Rahmens, bzw. „virtueller" Rahmenansätze (ζ. B. im Zyklus) gehören dagegen eigenen Problemkreisen an; sie reichen nur in Einzelfällen in das Gebiet der Erzähl-Rahmung. Die zentrale Bedeutung des redaktionellen Moments lenkt den Blick auf die K l e i n f o r m e n des mündlichen Erzählens. Diese werden meist durch die Gebrauchsliteratur (Exempla, Predigtmärlein) überliefert. Sie werden gelegentlich auch durch Amplifikationstechniken zu größeren Erzählgebilden ausgedehnt oder fügen sich in einen R a h men ein, dessen verschiedene Erscheinungsformen noch nicht die speziellen Bedingungen einer R. erfüllen. Das kann einmal der a n n a l i s t i s c h - h i s t o r i s c h e Rahmen sein, wie er von der Kaiserchronik bis zu Jansen Enikel begegnet; er kann auch darin bestehen, daß Geschichten für einen bestimmten Z w e c k zusammengestellt werden (Rollwagenbüchlein). In der Anekdote ist der Rahmen von der P e r s o n oder vom T h e m a her angelegt (Eulenspiegel, Schildbürger), aber meist nicht weiter ausgeführt. Oft genügt schon der T i t e l , um den Rahmen zu geben (Geschichten vom alten Fritz, Max-Reger-Anekdoten); wird eine chronikalische V i t a daraus, so ist der Anekdote bereits ein neues Schema übergestülpt. Erst mit der Wahl der E r z ä h l s i t u a t i o n als Rahmen ist eine besondere Stufe der Künstlichkeit erreicht. Dieser scheinbar so selbstverständlichen Künstlichkeit verdankt die Rahmenform ihre bevorzugte Ausprägung zum Typus. Erna Merker nennt als Voraussetzung für die „Rahmenform als Kunstwerk" die „vollendete Ausbildung der Novellentechnik", und einige Novellen-Theoretiker bevorzugen noch immer den Terminus „ Rahmennovelle"; Fritz Lockemann sieht in dieser „Rahmen-

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novelle" sogar „so etwas wie den Prototyp der Novellenform", den er aus dem Wendepunkt-Argument ableitet. Doch hat die enge terminologische Verbindung mit der Novellentheorie das Phänomen der R. ebenso einseitig fixiert wie der Versuch von Andre Jolles, die zyklische R. ihrem Ursprung nach als „Bilderbuch für Moral und Lebensweisheit" zu verstehen. Erst unter dem Eindruck „moderner" Erzählweisen wurde erkannt, daß durdi die exemplarische Bedeutung der R.en Gottfried Kellers und C. F. Meyers auch der Terminus R. steril geworden war. Strukturuntersuchungen und Zeitanalysen klassischer R.en haben seitdem zu einem besseren Verständnis der verschiedenen O r d n u n g s - und B e d e u t u n g s g e f ü g e beigetragen und auf die Vielfalt der Erzählmöglichkeiten aufmerksam gemacht. Neben m e c h a n i s t i s c h angewandten Rahmentypen setzen sich immer wieder s p o n t a n e Erzählweisen durdi, die den Wechsel der Erzählperspektive überhaupt erst bewirken und assoziativ bedingte Ketten- und Schachtelformen erzeugen. Von den Erzählstrukturen und der Eingliederung unterschiedlicher Erzähleinheiten her gesehen wird die gegenseitige f u n k t i o n e l l e Abhängigkeit von Binnen- und Rahmenelementen deutlich. Diese Betrachtungsweise führt zu der Erkenntnis, daß die R. nicht allein Gegenstand der Formen-, sondern in weit stärkerem Maße der Funktionslehre zu sein hat. Daß die Rahmen-Komposition nicht auf eine Gattung beschränkt geblieben ist, zeigt ein Blick auf das D r a m a mit seinen reichen perspektivischen Abgrenzungsmöglichkeiten (Vor- und Nachspiel, Prolog, Spiel im Spiel, Ansage und Lehr-Demonstration). Auch die O p e r hat sich dieses Mittel nicht entgehen lassen, wie Offenbachs Η οff manns Erzählungen, Max von Schillings Mona Lisa und Richard Strauss' und Hugo von Hofmannsthals Ariadne auf Naxos, aber auch moderne Darbietungsformen des „szenischen Berichts" von Igor Stravinskijs ödipus rex bis zu Benjamin Brittens Lukrezia zeigen. So haben wir es bei der R. mit einem äußerst d y n a m i s c h e n M o m e n t schöpferischer Phantasie und hochentwidcelten Form-Bewußtseins zu tun. Die vorliegende Darstellung wird sich auf typische R.en beschränken und andere Phänomene nur heranziehen, soweit sie für die Abgrenzung von Interesse sind. 21·

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Bezeichnend für diesen Zyklus ist die V i e l f a l t d e r einbezogenen Gattungen und R a h m e n k o n s t r u k t i o n e n . In der Erzählung von dem Kaufmann und dem Dämon (1.-3. Nacht) handeln drei Scheiche durch ihre Geschichten dem Dämon das Leben des Kaufmanns ab. Die Erzählung von dem Fischer und dem Dämon (3.-9. Nacht) verwendet zwei verschiedene Binnenerzählungen mit eigenen Rahmen-Situationen als Zwisthenglieder eines in sich geschachtelten Märchenvorgangs; durch die Gesdiidite vom König Junan und dein Wesir Duban versucht der Fischer den Dämon zur Milde zu bewegen, die Geschidite des versteinerten Prinzen führt zur Befreiung des Prinzen und zur Erlösung der toten Stadt. Die Geschichte von der Sdilangenkönigin (482.-503. Nacht) enthält Erzählungen der Königin selbst, durch die der junge Häsib in den Stand gesetzt wird, eine Weissagung (die Heilung des Königs) zu erfüllen; die Königin wird damit zur bewußten Vollzieherin ihres eigenen Schicksals, das sie durch ihren Bericht über die Abenteuer Bulukijas (die noch einige weitere Binnenerzählungen enthalten) hinauszuzögern sucht. In der Geschichte vom Buckligen (24.-34. Nacht) wird die R. als Maßstab für die zu erzählenden Geschichten genommen: die verschluckte Fischgräte und der vermeintliche Tod des Hofnarren führen zu vier Kettenvorgängen (Beseitigung der Leiche) und einer rückläufigen Kette (beabsichtigte Hinrichtung des jeweiligen Täters); vor dem König versuchen sich die vier Beteiligten durch Geschichten frei zu erzählen, wobei die Erzählschachtelung zur Einführung einer 5. Person führt, die nach Erzählung sechs weiterer Geschichten den „Toten" wieder erweckt. In der Geschidite des Lastträgers und der drei Damen (9.-19. Nacht) vermischen sich Märchen und Anekdoten im Rahmen einer „lasziv-komischen Novelle". Die Gesdiidite von Sindbad dem Seefahrer (536.-566. Nacht) reiht Seefahrergeschichten aneinander und ist in den Rahmen eines Lebensrückblickes gefaßt. Didaktische Absichten verfolgt die Gesdiidite des Königs Dschali'ad und seines Sohnes Wird Chän (900.-930. Nacht); Rahmen und Lehrbeispiele sind Grundelemente des typischen Fürstenspiegels. Der „Kriminalfall" der Gesdiidite von den drei Äpfeln (19.-24. Nacht) gibt den Rahmen für die „noch wunderbarere" Erzählung von den Wesiren Nur ed-Din und Scherns ed-Din. Die Geschidite von der Messingsiadt (566.-578. Nacht) wählt als Ausgangspunkt den Hof eines omaijadisdien Kalifen, wo das Geschichtenerzählen zur Ausrüstung einer Expedition führt; die Schicksale der Stadt können nur noch an Tafeln „abgelesen" werden. Mit den vielen auf Harün ar-Raschid übertragenen Erzählungen tritt die höfische Einkleidung als stilbildendes Element hervor. Selbst die eigentliche R. der Erzählungen aus den 1001 Nächten ist eine Zusammenfügung dreier aus Indien stammender Geschichten, die im Zuge überlieferungsgeschichtlicher Kontaminationen zu einer redaktionellen Form entwickelt wurden. D i e Erzähl-Situation der Schehrezäd enthält drei t y p i s c h e M o m e n t e der R . als

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Zykluseinfassung: das Erzählen über eine bestimmte Z e i t hinweg und die R e i h u n g von Erzählungen auf ein Z i e l hin. Sie wird daneben durch zwei charakteristische Motive zusammengehalten: ein V e r z ö g e r u n g s motiv und das Motiv der F r e i l ö s u n g durch eine aufgegebene Leistung. Während jedoch Schehrezäd ihr Ziel erreicht, gelingt es der Amme Sutlemema in der R. zu der Sammlung Tausendundein Tag (1710-1712 von Petis de la Croix ins Franz. übers, u. von Lesage Überarb.) nicht, den Sinn der durch einen Traum verwirrten Prinzessin Farrukhnäz zu wenden, d. h. ihre Haltung den Bewerbern gegenüber zu ändern. Die der R. in 1001 Nacht nachgebildete R. hat im übrigen etwas Äußerliches, so daß Paul Ernst sie in der ersten dt. Ausgabe (1909) mit gutem Grund fortließ. Ein anderes Beispiel für diese wechselnden Möglichkeiten des E r z ä h l a u s g a n g e s der R. bietet die Uberlieferung des Papageienbuches (Tuti-Nameh)·. in der pers. Neufassung des Zijai-eddin Nadischebi (von Joh. Gottfried Ludw. Kosegarten in Deutschland bekanntgemacht) wird die Ehefrau allein für ihren bösen Willen (zum Ehebruch) mit dem Tode bestraft, in der türk. Fassung (erste dt. Übers, v. Georg Rosen. 1858) dagegen kommt sie mit dem Leben davon. In 1001 Tag und im Papageienbuch begegnet uns der Erzähler zudem in einer anderen Rolle als Schehrezäd: sowohl die Amme als auch der Papagei handeln im A u f t r a g e eines anderen, erzählen also zunächst nicht für sich selbst. Ein anderes typisches Moment der R. ist die Absicht, Sinnzusammenhänge durch B e i s p i e l e zu verdeutlichen. Als Form-Muster kann hier das ind. Pancatantra, eine aus fünf Klugheitsfällen bestehende Sammlung angesehen werden, deren Lehrbuchcharakter auf die späteren Fürstenspiegel weitergewirkt hat. Ihre lat. Fassung gilt u. a. als eine Quelle für Boccaccio; aus ihr fertigte Antonius von Pfnorr um 1480 eine dt. Übers. (Das Buch der Beispiele) an. Gegenüber der vorwortähnlichen R., in der berichtet wird, daß der König Amarasakti seine einfältigen Söhne durch einen Brahmanen habe unterrichten lassen, weisen die fünf Bücher jeweils selbständige R.en mit eigenen Themen und ineinandergeschachtelten Sprüchen, Fabeln, Märchen und Schwänken auf.

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Auf orientalische Muster gehen auch die im MA. weit verbreiteten Sieben Weisen Meister zurück. Die R. enthält eine K o m bination verschiedener Motive: Schweigemotiv (dem Kaisersohn ist das Reden verboten), Potipharmotiv (die Stiefmutter klagt ihn der versuchten Verführung an), Verzögerungsmotiv (die Aufschiebung der Hinrichtung) und Unterweisungsmotiv (die Erzählungen der sieben weisen Meister). Besonders auffallend ist dabei die Z a h l e n s y m m e t r i e : das Erzählen von 14 Geschichten in sieben Tagen (jeweils Erzählung und Gegenargument) und die Entdeckung der Wahrheit durch die 15. Geschichte. Pavel Aleksandrovid G r i n c e r , Drevnetndijskaja ρτοζα (obramlennaja povest) (Moskau 1963). Theod. B e n f e y , Pantschatantra (1859). Joh. H e r t e l , Pancatantra (1913). Friedmar G e i ß l e r , Das Pancatantra, e. altind. „Fabelbuch". Wiss. Annalen 3 (1954) S. 657-669 (mit Stemma u. Übers.-Tabelle). J . K l a p p e r , Antonius v. Pfnorr. VerfLex. 1 (1933) Sp. 93-96 u. Nachtr. 5 (1955) Sp. 48 (Ludw. Denecke). Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten. Ubertr. v. Enno L i t t m a n n . Bd. 6 (1953; Insel-Ausg.) S. 649738 (mit Bibliogr.). Mia Irene G e r h a r d t , The Art of story telling. A literary study of the Thousand and One Nights (Leyden 1963), mit Bibliogr. Kaarle K r o h n , Übersicht über einige Residtate der Märdienforschung (Helsinki 1931; FFC. 96). Sukasaptati. Das ind. Papageienbuch, aus d. Sanskrit übers, v. R. S c h m i d t (1913). Otto S p i e s , Türk. Volksbücher. E. Beitr. z. vgl. Märdienkunde (1929). Jos. K l a p p e r , Sieben weise Meister. VerfLex. 3 (1943) Sp. 338-344.

§ 3. Bedeutenden Anteil an der Entwicklung der Rahmentechnik hat auch die Ant i k e durch Werke, die zwar Orientalisches in sich aufgenommen haben, aber ihrerseits stilbildend wurden und teilweise auf den Orient zurückwirkten. Am bekanntesten ist der von Odysseus den Phäaken vorgetragene A b e n t e u e r z y k l u s (Odyssee, 9.-12. Gesang), in dem eine eigene Textschicht des Epos sichtbar wird. Neben dem G a s t m a h l g e s p r ä c h , seit Piatons Dialogen literar. Allgemeingut, sind einige Erzählverfahren des hellenistischen Romans zu nennen. Von rahmenbildender Kraft ist ζ. B. das L i e b e s g e s p r ä c h (Chariton,Chaireasund Kalirrhoe, Xenophon von Ephesos, Ephesiaka und die Historie Apolloni) mit seinen Kunstgriffen der gegenseitigen R e k a p i t u l a t ion des Geschehens und der R ü c k -

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Rahmen

blende. Die Technik der allmählichen E n t h ü l l u n g der V o r g e s c h i c h t e durch Erzählungen anderer Personen (zugleich ein Verzögerungsmittel) erscheint vorbildhaft in Heliodors Äthiopica (erste dt. Übers. 1554). In Daphnis und Chloe des Longos begegnet die beliebte Form der B i l d e r z ä h l u n g (später auch bei Achilles Tatius, Leukippe und Kleitophon), die das Rahmenmoment in sidi einschließt und dadurch ein „genrehaftes Erzählen" erlaubt. Auch heroische B i l d b e s c h r e i b u n g e n wie der Schild des Achilleus in der Ilias (XVIII, 478-607), die Kampfbilder des Junotempels und der Schild des Aeneas in Vergils Aeneis (I, 466-493 u. VIII, 626-728) leben weiter. Die Idee der Metamorphosen, für die ein Hinweis auf Nicander und Ovid genügen mag, begünstigt die Ausbildung des S c h a c h t e l p r i n z i p s ; das vierte Buch der Metamorphosen Ovids enthält (1-415) eine kleine Rahmenhandlung (Erzählung von den Töchtern des Minyas und ihrer Bestrafung) mit drei Binnenerzählungen (Pyramus und Thisbe, Phoebus und Leucothoe, Hermaphroditus und Salmacis); im fünften Buch (294-678) erzählen die Musen Minerva das Schicksal der Pierustöchter; im sechsten Buch (1-145) gibt der Spinnwettstreit zwischen Minerva und Arachne Gelegenheit, Göttermetamorphosen einzuflechten. Im Goldenen Esel hat Apuleius eine Reihe unterhaltsamer Geschichten mit den Abenteuern des Helden verknüpft und dadurch den redaktionellen Rahmen zu einem Roman erweitert, dessen E r z ä h l s t a f f e l u n gen Binnenfunktionen erfüllen. Ein weiterer Romantyp wird durch die Formkontamination der ind. Buddhalegende mit dem christl. Legendenroman repräsentiert, wie er in Barlaam und Josaphat des Johannes Damascenus für das gesamte MA. zum Vorbild wurde; seine Rahmenansätze liegen im a p o l o g e t i s c h e n G e s p r ä c h , das jeweils biblische Geschichten, Gleichnisreden, aber auch außerbiblische Parabeln aufnehmen kann. Uvo H ö l s c h e r , Untersuchungen zur Form der 'Odyssee'. Szenenwechsel u. gleichzeitige Handhing (1939; Hermes, Einzelschr. 6). Reinhold M e r k e l b a c h , Untersuchungen zur Odyssee (1951; Zetemata. 2). Wilh. M a t t e s , Odysseus bet den Phäaken. Kritisches zur Homeranalyse (1958). Erwin R o h de, Uber griech. Noveüendichtung u. ihren Zusammenhang mit d. Orient, in: Rohde, Der griech. Roman (3. Aufl. 1914) S. 578-601. Ot-

mar S c h i s s e l v. F i e s c h e n b e r g , Technik d. Romanschlüsse im griech. Liebesroman. Wiener Studien 30 (1908) S. 231-242. Otto W e i n r e i c h , Der griech. Liebesroman (Zürich 1962). M. O e f t e r i n g , Heliodor u. s. Bedeutung für d. dt. Lit. (1901). Victor H e f t i , Zur Erzählungstechnik in Heliodors 'Äthiopica' (Wien 1950). Wolfgang S c h a d e w a l d t , Der Schild des Achilleus, in: Sdiadewaldt, Von Homers Welt u. Werk (1944) S. 280-302. Ridi. H e i n z e , Virgils epische Technik (1902; 3. Aufl. 1914; Nadidr. 1957) S. 398ff. Waither L u d w i g , Struktur u. Einheit der 'Metamorphosen Ovids' (1965). Emst Jürgen B e r n b e c k , Beobachtungen zur Darstellungsart in Ovids 'Metamorphosen' (1967; Zetemata 43). Paul J u n g h a n s , Die Erzählungstechnik von Apuleius' 'Metamorphosen' u. ihrer Vorlagen (1932; Philologus, Suppl. 24,1). Hermann R i e f s t a h l , Der Roman des Apuleius. E. Beitr. z. Romantheorie (1938; Frankf. Studien z. Religion u. Kultur d. Antike 15). Rud. H e l m , Einl. zu: Apuleius, Metamorphosen oder Der goldene Esel (2. Aufl. 1956; Sehr. u. Quellen d. alten Welt 1). Franz D ö l g e r , Der griech. Barlaam-Roman, e. Werk d. Johannes v. Damaskos (1953; Studia patristicaetbyzantina 1). Hiram P e r i (Pflaum), Der Religionsdisput d. Barlaam-Legende, e. Motiv abendläna. Dichtung (Salamanca 1959; Acta Salmanticensia. Fil. y Letras XIV, 3).

§4. Die m i t t e l l a t e i n i s c h e Literatur bewahrt viele Topoi und schafft innerhalb des romanischen Kulturkreises die Voraussetzungen für die Wiederbelebung und Umgestaltung einzelner Rahmenformen. Neue Formkräfte gehen zuerst vom Klerus aus, der sehr früh die lehrbuchhafte Verbindung von Exemplum (s. d.) und G e s p r ä c h gesucht hat. Die Dialogorum libri quattuor Gregors d. Gr. (um 594) enthalten zahlreiche Kurzgeschichten, die Gregor einem Diakon erzählt. Aus den Zwischenbemerkungen des Diakons entwickelt sich ein Gespräch mit rahmenzyklischem Charakter; Gregor erscheint als ein unterhaltsamer Erzieher, der das Bedürfnis nach Wundergeschichten für heilsgeschichtliche Belehrungen zu nutzen weiß und seine Überlegenheit dem Gesprächspartner gegenüber wahrt. Die Volkstümlichkeit der Erzählweise hat dem Werk eine nachhaltige Wirkung gesichert. So greift noch C a e s a r i u s von H e i s t e r bach in seinem Dialogus miraculorum (1219-1223) auf die Rahmenform Gregors zurück; in der Rolle eines monachus respondens führt er einen novicius interrogans in Glaubenslehren und in die Gedankenwelt des Ordenslebens ein, doch das Lehrgebäude

Rahmenerzählung

(in 12 distinctiones thematisch geordnet) ist dogmatisch starrer und der Stoff weit weniger unterhaltsam dargestellt. Typische Exempla-Zylden sind auch die Disciplina clericalis des Petrus Alphonsus (nach 1106) und der span. Conde Lucanor des Infanten Don J u a n Manuel (1335), die als Rahmen ebenfalls Dialog-Situationen benutzen. Die auf geistliche Unterweisung ausgerichtete und weitverbreitete Disciplina clericalis wirkte vor allem durch die Fülle des vermittelten Stoffes. Im höfischen Conde Lucanor fallen die redaktionellen Formulierungen am Schluß der einzelnen Gespräche zwischen dem Grafen und seinem Rat Patronius auf: „Da aber Don Juan befand, daß das Beispiel gut sei, ließ er es in dieses Buch aufnehmen und machte folgenden Reim" (Ubers, v. Eichendorff, 1840). — Daß das Exemplum in der P r e d i g t stets lebendig geblieben ist, darf für die weitere Entwicklung der R. in der dt. Lit. nicht übersehen werden. Umgekehrt enthält auch die B e i c h t e Momente einer „Ursituation" des Erzählens, die später in säkularisierten literar. Formen von Bedeutung geworden sind. Neben dem Exemplum ist die F a b e l als Binnenerzählung besonders im höfischen Bereich beliebt. Einige Erzählsituationen sind historisch belegt. Durch die Geschichte von der vollgesoffenen Schlange versucht König Theodobald (Gregor v. Tour, Hist. Franc. IV 9) einen vermeintlichen Dieb einzuschüchtern. Bischof Lesio von Mainz stachelt König Theuderich II. von Burgund durch die Geschichte vom friedlosen Wolf zur Vernichtung seines Gegners Theudebert an (Fredegar, Chron. IV 38). Am Hof von Byzanz trägt Tholemus das Märchen von Hirsdh, Löwe und Fuchs vor, um Theoderich zu warnen (Fredegar, Chron. II 57). — Ein ähnliches Wammärchen wird in der Kaiserchronik (V. 6854 ff.) am Hofe des Kaisers Severus erzählt. Stärker literarisch ausgeprägt ist der Typus in der Ecbasts captivi (zwischen 1043 u. 1045), die zwei Tierfabeln, als Rahmen- und Binnenerzählung verknüpft, zur Allegorie ausgestaltet. Richard R e i t z e n s t e i n , Historia Monachorum u. Historia Lausiaca (1916; Fsdign. z. Religion u. Lit. d. Alten u. Neuen Testaments. NF. 7). Margaret D. H o w i e , Studies in the use of Exempla (London 1923). J. Th. W e l t e r , L'Exemplum dans la litterature reltgieuse el didactique du moyen age (Paris 1927; Bibl.

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d'histoire eccles. de France). Erich A u e r b a c h , Literatursprache u. Publikum in d. lat. Spätantike u. im MA. (Bern 1958). Ders., Mimesis (Bern 1946; 3. Aufl. 1964; Samml. Dalp 90). — P. R. C. N o r t o n , The Use of dialogue in the 'Vita sanctorum'. Theological studies 27 (1926). S. 388-395. Karl L a n g o s c h , Caesarius v. Heisterbach. VerfLex. 1 (1933) Sp. 344-370; 5 (1955) Sp. 129-130. Max M a n i t i u s , Gesch. d. lat. Lit. d. MA.s Bd. 3 (1931; Hdb. d. Altertumswiss. 3, 2) S. 274-277: Disciplina clericalis. Zum Conde Lucanor: J. S i m o n D i a z , Bibliografia de literatura hispanica. Bd. 3. 1 (Madrid 1963) S. 257-270. — Frederick R. W h i t e s e l l , Fables in mediaeval exempla. JEGPh. 46 (1947) S. 348-366. Zur Ecbasis captivi s. Reallex. Bd. 2 (2. Aufl. 1965) S. 364.

§5. Die a l t n o r d i s c h e Lit. besitzt in der Gylfaginning des S n o r r i S t u r l u s o n (Jüngere Edda, Anf. d. 13. Jh.s) eine gerahmte Darstellung der „heidnischen" Mythologie. Den Rahmen bildet ein Gespräch zwischen dem fragenden Gylfy-Gangleri und den auskunftgebenden Asen Har, Jafnhar und Thridi. Snorri weicht durch diese Einkleidung möglichen Angriffen des Klerus aus; sein eigener Standpunkt ist daher schwer zu bestimmen. Im zweiten Teil der Jüngeren Edda (Skaldskaparmal) belehrt Snorri den Leser über Skaldenkunst durch ein einleitendes Gespräch des Dichtergottes Bragi mit dem zauberkundigen Ägir (Kap. 55-58). — Rahmengliederung haben schon die eddischen Götterlieder Vafprüdnismdl, Grimnismäl, Alvtssmal, Heidreksgätur, VQluspä. Den Binnenraum füllt ebenfalls mythologisches Wissen; es wirkt durch seine Häufung auf den dramatischen RahmenVorgang retardierend: man wartet auf die letzte, entscheidende und enthüllende Rätselfrage, oder {Alvissmdl) darauf, daß so lange gefragt wird, bis die Sonne aufgeht und der Nachtalb versteint. — Erzähler und Publikum gehören zu den elementaren Bestandteilen jeder Saga. Der m ü n d l i c h e S a g a v ο r t r a g ist am anschaulichster! in der Morktnskinna (199 ff.) belegt, die von einem jungen Isländer an König Haralds Hof berichtet; seine letzte Geschichte (König Haralds Südfahrt) wird vom König selbst in 12 Erzählabende eingeteilt und entscheidet das Schicksal des Gastes. Wir begegnen hier einer eigenen Erzähltradition, einem für Geschichten empfänglichen Fürstenhof und einem (vom Skalden zu unterscheidenden) Erzähler, der sich durch ein umfangreiches

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Rahmer

Repertoire empfiehlt. Da die Erzählsituation in den sogar jeweils vorgegeben ist, erübrigte sich bei der Kodifizierung eine zusätzliche R. — Die Erzählpartien des Landnamaböks sind chronikalisch miteinander verbunden. In der m i t t e l h o c h d e u t s c h e n Lit. erwartet man R.en analog zu den ExemplaZyklen am ehesten bei den Mären (s. d.). Doch sind sie von ihren Verfassern und Redaktoren weder rahmentechnisch gestaltet noch zu Rahmenzyklen verbunden worden, wodurch sie gegenüber der geistlichen Lit. eine Sonderstellung einnehmen. Die mhd. Novellistik (s. d.) ist damit für das Thema ebenso wenig ergiebig wie das höfische Epos. Am 7. Buch von Wolframs Parzival kann andererseits gezeigt werden, daß spontane Erzählvorgänge und redaktionelle Verfahren zwei grundverschiedene Denkweisen voraussetzen. Die dort im Gegensatz zu Chrestiens Graalbuch stark ausgeweitete Geschichte von Obie und Meljanz erscheint als eine „Novelle", zu der die Abenteuer Gawans eine Art Rahmen bilden. Es fehlt jedoch die typische Erzählsituation. Wir haben es hier mit der Expansion und gleichzeitigen Integration einer Binnenhandlung (nicht: Binnenerzählung) zu tun, d. h. „gerade weil die Geschichte von Obie und Meljanz sich in Wolframs Phantasie so sehr verselbständigt hatte, mußte er sie um so dichter in das Motivgewebe des ganzen Epos einfangen" (W. Mohr). Dagegen kann die Exempla-Tradition auch im Bereich des höfischen Romans zu echten R.en führen. Im Guten Gerhard (1220/25) des Rudolf von Ems enthält die umfangreiche Binnenerzählung (Geschichte eines demütigen Kaufmanns) das Exemplum für den Rahmen (Hochmut und Selbstgerechtigkeit, Sündenbekenntnis und Buße Kaiser Ottos) und die Beantwortung der Frage nach dem „rechten Weg zur Vollkommenheit"; in Barlaam und Josaphat (1225/ 1230) ist gemäß der literar. Uberlieferung Josaphats Bekehrungs- und Bewährungsweg aufs engste mit den „Lehren" (Legenden, Gleichnissen und Geschichten) verknüpft. Predigthaftes wird ins Höfische umgeformt, aber die Kraft der „Lehre" bleibt ungebrochen.

Vortragspointen) werkimmanent vorhanden ist und daß daher die Notwendigkeit einer redaktionellen Rahmung nicht gegeben war. Man begegnet aber rein ornamentalen Rahmen, wie in Konrad Flecks Floire und Blantscheflur (um 1220), die das Handlungsgeschehen in Reflexionen einschließen. Ausgeprägte rahmenkompositorische Verbindungen sind in den M i n n e a l l e g o r i e n (s. d.) zu erkennen. In Gottfrieds Tristan hat die Allegorie der Minnegrotte noch den Charakter einer mit dem Gedankengehalt des Werkes verwobenen Erzähleinlage. In Eberhards von Cersne Der mynnen regelen (nach 1404) treten die beiden typischen Erzählbereiche — Handlungsschauplatz und Allegorie — sowie der charakteristische „Eingang" (der Dichter vor der Mauer der Burg) besonders deutlich hervor; die „Lehren" werden teils in Frage und Antwort, teils durch Gebote vermittelt. Die allegorischen Parteien wie auch die Minneregeln sind innerhalb des romanhaften Werkes so beweglich, daß sie terminologisch nicht mit dem Begriff „Binnenerzählung" gleichzusetzen sind. Auch die Rahmenhandlungen tragen durch Zahlenverhältnisse, Namen und Dingsymbole allegorische Züge; in Hadamars von Laber Die Jagd (1335/40) versinnbildlicht schon das Rahmengeschehen das Liebeswerben. In der stoffreichsten Allegorie, der Minneburg (um 1340) werden verschiedene Erzählungen über Entstehung und Wesen der Minne zusammengefügt, wobei Allegorie und Handlung —von der Eingangs-Aventiure abgesehen— kaum noch zu trennen sind.

Vom Verhältnis zwischen Dichter und Publikum her gesehen, ist festzustellen, daß die Vortragssituation in den großen Epen auf andere Weise (u. a. durch Dedikationen und

§ 6. Auf dem Boden einer breiten novellistischen Erzähltradition gedeihen im 14. Jh. in der Romania und in England verschiedene Sammlungen, in denen das Problem der re-

Andreas Heusler, Die altgerm. Dichtung (2. Aufl. 1941; HdbLitw.) S. 200-216. Jan de Vries, Altnord. Literaturgeschichte. Bd. 2 (2. Aufl. 1967; PGrundr. 16) S. 217-222, 538 u. 541. — Elfriede S t u t z , Frühe dt. Novellenkunst. (Masch.) Diss. Heidelberg 1950. Wolfgang Mohr, Obie u. Meljanz, in: Wolfram v. Eschenbach. Hg. v. Heinz Rupp (1966; Wege d. Forschung57) S. 261-286. F. S engle, Die Patrizierdichtung 'Der gute Gernard'. DVLG. 24 (1950) S. 53-82. Heinz Rupp, Rudolf υ. Ems 'Barlaam u. Josaphat'. Dienendes Wort. E. Festg. f. Emst Bender z. 70. Geb. (1959) S. 11-37. Xenja v. E r t z d o r f f, Rudolf v. Ems. Untersuchgn. z. höf. Roman im 13. Jh. (1967) S. 67-89, 160-216.

Rahmenerzählung

daktionellen Eingliederung unterschiedlich gelöst wird. Der „gesellschaftliche Rahmen" ist nicht das einzige Stilmittel. Die R. des anonym überlieferten Werkes L'Intelligenza (zwischen 1305 u. 1310) knüpft an antike Traditionen der Bilddeutung an, wie sie auch G u i l l a u m e d e L o r i s im Roman de la rose und B o c c a c c i o in dem allegorischen Gedicht L'Amorosa visione (entst. 1342/43) verwenden. Die überragende Bedeutung des Decamerone (entst. 1349/53) und die glücklichen Umstände seiner Wirkungsgeschichte haben den s o z i o l o g i s c h e n A s p e k t des Rahmen-Problems zu einem Angelpunkt der Novellentheorie gemacht. Die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen Oberitaliens beeinflußten die Entstehung der novella dell'arte und führten den Bruch mit geistlichen Erzählpraktiken herbei; es bleibt aber umstritten, wie weit Boccaccios Rahmen als Spiegel realer gesellschaftlicher Formen und Gepflogenheiten interpretiert werden kann. Die von Friedr. Schlegel (Prosaische Jugendschr., hg. v. J. Minor II 409) am Decamerone gerühmte „fast geometrisch geordnete Darstellung seines geselligen Kreises" (an 10 Tagen werden von 7 Damen und 3 jungen Männern 100 Geschichten erzählt), die thematische Gliederung (nur der 1. und 9. Abend haben kein festes Thema), der Bildungshorizont und das Zeremoniell des Erzählens sowie die Handlungslosigkeit des Rahmens lassen dieses klassische Form-Muster der Stegreifrunde in erster Linie als ein E r z ä h l s p i e l erscheinen. Die geschickte Täuschung der Zensur, die „versteckte Polemik gegen die Novellendoktrin der Zeit" (W. Pabst) und die sichere Einschätzung des Publikums weisen auf den soziologischen Aspekt zurück. Schließlich ist der Rahmen durch die einleitende Pestschilderung zum Symbol für die Gesittung einer Kultur geworden, die sich des Chaos bewußt ist. Gegenüber den wenig profilierten Rahmengestalten des Decamerone zeichnen sich die Erzähler in C h a u c e r s Canterbury Tales (1387-1400) durch Realistik aus, während die Binnenerzählungen selbst den mal. Exempla vielfach näher stehen. Der lebendige Pilgerfahrt-Rahmen und die Fülle der verwendeten Stoffe sind Kompositionselemente eines z e i t g e s c h i c h t l i c h e n P a n o r a m a s ; die gesellschaftliche Schichtung

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und die Erzählperspektiven der Erzähler strukturieren den Zyklus stärker als alle Themengruppierungen und Zahlentechniken. Kurz zuvor hatte Chaucer mit The Legend of good women (1386) für die Redaktion antiker Liebesgeschichten den Topos der Dichtervision (Anklage Amors und Niederschrift der Geschichten als „Sühne") benutzt. Ähnlicher Topoi bediente sich John G ο w e r : im Speculum Meditantis (1376-1379) gibt die Aussendung der sieben Todsünden durch den Teufel einen Lehrgedicht-Rahmen ab, in der Confessio Amantis (1390-1393) umschließt der aus dem Roman de la rose übernommene Rahmen verschiedene Liebesallegorien. So stehen im 14. Jh. mal. und „moderne" Rahmen nebeneinander und beweisen ihre Zugkraft gegenüber dem Publikum. D i e w e i t e r e E n t w i c k l u n g der zyklischen R., insbesondere der Formenreichtum in den romanischen Literaturen kann hier nicht einmal andeutungsweise umrissen werden. Es seien nur noch zwei Werke genannt, die auch in der dt. Lit. stärkere Beachtung gefunden haben. — M a r g a r e t e v o n N a v a r r a verlegt das Erzählspiel ihres L'Heptameron (1585) in ein abgelegenes Pyrenäenkloster. Dem Rahmen liegt das Form-Muster Boccaccios zugrunde, aber die Standpunkte der Erzähler in Fragen der Liebesleidenschaft und die didaktische Erzählhaltung der Autorin bringen eine Zersetzung der gesellschaftlichen Ordnungen zum Ausdruck. — Giambattista B a s i l e s Pentamerone (1637) greift auf einen orientalischen Rahmentypus zurück; zehn alte Weiber erzählen Wundergeschichten und Märchen, durch die letzte Erzählerin wird die Auftraggeberin selbst entlarvt. August B u c k , Grundzüge d. ital. Geisiesgeschichte (1947; Erbe u. Schöpfung 12). Ders., Ital. Dichtungslehren (1952; Zs. f. roman. Philologie, Beih. 94). Erich A u e r b a c h , Zur Technik d. Frührenaissancenovelle in Italien u. Frankreich. Diss. Greifswald 1921. Walter P a b s t , Novellentheorie u. Novellendichtung (1953; 2., erw. Aufl. 1967). Ders., L'Intelligenza, e. Rahmenerz. Romanist. Jb. 1 (1947/48) S. 276-304. — Luigi R u s s o , Letture critiche del 'Decamerone' (Bari 1956; Bibl. di cultura modema 514). Otto L ö h mann, Die R. des 'Decameron'. Ihre Quellen u. Nachwirkungen (1935; Romanist. Arb. 22). V. B r a n c a , Linee di una storia della critica al 'Decamerone' (Mailand 1939). A. L i p a r i , The Structure and real significance of the 'Decameron'. Yale Romanic Studies 22

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Rahmet

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und auff den wegen deßgleichen in scherheuseren unnd badstuben zu langweiligen Zeiten erzellen mag" Jakob Frey erklärt dagegen mit Bezugnahme auf Wickram, daß er „keine weiten Reisen zu thun tauglidi", und nennt seine Schwanksammlung Die Gartengesellschaft (1556). Auch die W i d m u n g s v o r r e d e n des 16. Jh.s — wie die Vorreden überhaupt — verdienen in diesem Zusammenhang stärkere Beachtung. Im 17. Jh. kehrt der Rahmen-Typus in den G e s p r ä c h s s p i e l e n (s. d.) wieder. Gelehrtengespräch und Gesellschaftsunterhaltung gliedern das Themen- und Erzählgefüge auch dort, wo der Rahmen selbst (wie in G. Ph. Harsdörffers Frauenzimmer Gespredispielen, 1641-1649) nicht näher ausgeführt ist. Getreu ihrem Vorbild spielen sich diese Formexperimente in einer höheren Bildungsatmosphäre (ital. Akademien —Sprachgesellschaften) ab, doch greifen sie bald auf den Roman über und dringen auch in die volkstümliche Literatur ein (Grimmelshausen, Ratstübel Plutonis, 1672). Wer ausschließlich auf die Adaption des Boccaccio-Schemas achtet, verliert die Entwicklung neuer Rahmenphänomene aus den Augen. Gerade im R o m a n der Folgezeit sind Ansätze für Erzählschachtelungen zu erkennen, die schon immer ein Pendant zur strengen Form der R. gewesen sind. Johann Gottfried S c h n a b e l s Roman Die Insel Felsenburg zeigt dies deutlich. Das Werk besteht aus der Sdiachtelung von R.en, ohne selbst R. zu sein. — Der erste Teil (1731) beginnt nach einer Vorrede (Manuskriptfiktion) mit der Ich-Erzählung des Eberhard Julius. Der Leser wird in eine spannende „Handlung" hineingezogen, die sich zunächst auf den abenteuerlichen Kapitän Wolfgang konzentriert. Dieser erzählt während der Seereise seine Lebensgeschichte in „Fortsetzungen" und hebt den „Scüluß" für später auf. Die Ankunft auf der Insel fordert einen eigenen Beriditsraum, um den Leser mit den dortigen Verhältnissen bekannt zu machen. Kern des Buches ist die Lebensgeschichte des Altvaters Albert Julius (mit der in direkter Rede wiedergegebenen „Beichte" des „gottlosen Schandbuben" Lemelie); sie wird ebenfalls in „Fortsetzungen" mitgeteilt, so daß Zeit für eine Besichtigung der Insel bleibt. Die Schilderung der Inselbesiedelung wird durch die Erzählungen der Judith Manders, des David Rawkin (mit der eingeschachtelten Lebensgeschichte des Simon Heinrich Schimmer) und das „Frauenzimmennanuskript" der Virgilia von Catmers belebt. Wichtig ist, daß der Erzähler, bzw. Vorleser sich jeweils unmittelbar an ein BinnenPublikum wendet; Tafeln mit langen Inschriften

Rahmenerzählung sowie die Lebensgeschichte des Cyrillo de Valaro, des Vorbewohners der Insel, erfüllen Hilfsfunktionen; das Manuskript des letzteren wird als „Anhang" beigegeben, um dem „geneigten Leser in den Geschichten keine allzu große Verwirrung zu verursachen". — Das glückliche Inseldasein und das Europa der Kriege und Intrigen (Binnenerzählungen) wirken durch Kontraste, zugleich wird die Vorgeschichte dieser „erzählten Gegenwart" aus verschiedenen Perspektiven rekonstruiert. Die Lebensgeschichten nehmen den Charakter religiöser Erweckungsbekenntnisse an und machen aus der Robinsonade ein Erbauungsbuch. Im 18. Jh. tritt die m o r a l i s c h e E r z ä h l u n g an die Stelle des Exempels. Dabei kommt es in Frankreich unter dem Einfluß der „orientalischen Mode" in Claude Jolyot de C r e b i l l o n s Le Sopha (1745) zu einer Verbindung von orientalischem Rahmen und moralischen Erzählungen als Binnenelementen. Das Werk weist einen Doppelrahmen auf: die Gespräche zwischen dem Erzähler Amanzei' und Schah-Baham, dem fiktiven Enkel des Schah-Riar aus 1001 Nacht und die Erlebniskette des in ein Sofa verwandelten Amanzei", der bis zu seiner „Erlösung" Augenzeuge verschiedenster Liebesaffären wird. Die auf den ersten Blick recht frivolen Geschichten dienen in ihrer geschickten Anordnung und Darbietung den gesellschaftskritisdien und didaktischen Absichten Crebillons, so daß der Untertitel Contes morales durchaus zu Recht besteht. Das Werk wurde 1765 ins Dt. übersetzt. D i d e r o t s Roman Jacques le Fataliste (entstanden 1773/75, im Ausz. gedr. 1778/80 und 1782 in dt. Ubers.) ist dagegen als E r z ä h l e x p e r i m e n t von Interesse. Den Rahmen bilden die Erlebnisse des Dieners Jacques und seines Herrn sowie ihre Gespräche über göttliche Prädestination und die Unmöglichkeit, deterministische Kausalzusammenhänge zu erkennen. Das Erzählmosaik aus verschiedenen Liebesgeschichten ist fester Bestandteil der Gesprächsargumentationen, stützt aber andererseits den Handlungsablauf, der durch Dialog-Einteilungen szenisch hervorgehoben wird. Goethe und Schiller zeigten sich von dem Werk sehr angetan; Schiller übersetzte daraus die Hauptnovelle (Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache). — So darf also der Einfluß franz. Vorbilder für die Entwicklung der R. in Deutschland nicht vergessen werden.

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Rahmenerzählung

geschichten (s. d.); sie werden mit einem mysteriösen Ereignis der R. (dem Schreibtisch-Vorfall) verbunden. Das Unheimliche erfährt seine Ergänzung durch das Abenteuerliche zweier Geschichten aus den Memoiren des Marsdialls von Bassompierre. Diesen negativen Erzählbeispielen werden die „moralische Erzählung" von der jungen Frau des Handelsmannes und dem Prokurator und ein „Familiengemälde" (Ferdinand) gegenübergestellt. Das Hauptthema dieser Gegenerzählungen ist die Entsagung; dieses wiederum steht in Beziehung zum Anlaß der Unterhaltungen (dem Krisenbewußtsein der Adelsgesellsdiaft und dem unbeherrschten Ausbruch Karls in der R.). Das Märchen läßt das Exemplarische des Erzählens vollends hervortreten und setzt durch das Erzählprinzip (Selbstdeutung des Werkes) einen Endpunkt, der die Erzählsymmetrie des Zyklus verändert. In der Anlage kommt Goethe Schillers Kunstprinzipien und Bildungsabsichten entgegen, in der Durchführung treten Gegensätze hervor: eine das Unbewußte mobilisierende Erzählhaltung und die Kritik an Schiller (alle moralischen Geschichten „gleichen sich dergestalt, daß man immer nur dieselbe zu erzählen scheint"). Als beispielhafte Gestalten wählt Goethe innerhalb des Rahmenpersonals die Baronesse und den geistlichen Hausfreund.

Dieses Spiel mit Gattungen und Begriffen (audi der Begriff R. wird reflektiert) bestimmt über das Bildungsprogramm und die zeitpolitischen Akzente (Franz. Revolution und konservative Haltung) hinaus die eigentliche Motorik des Zyklus. — Mit seinem Almanach-Beitrag Die guten Weiber (Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1801) knüpft Goethe an 12 Rambergsche Kupfer (Karikaturen böser Weiber) an und versetzt den Leser in ein „protokolliertes" Gespräch, das als eine kleine Schule des Lesergeschmackes verstanden sein will; Dialogstrukturen, kurze Erzähleinlagen und die Fiktion eines mißglückten Rahmenzyklus sind auf den Almanachton abgestimmt. Goethes Plan einer Fortsetzung der Unterhaltungen geriet sehr bald in den Konzeptionsbereidi der Wanderjahre (begonnen 1807, Wiederaufnahme 1820, 1. Teil 1825, erw. Neufassung 1829); eine Reihe von Erzählungen, die nach den Unterhaltungen entstanden und ζ. T. bereits veröffentlicht waren (Die neue Melusine, Der Mann von 50 Jahren u. a.), sollten durch einen „romantisdien Faden zusammengehalten" werden und ein „wunderlich anziehendes Ganze" bilden (Annalen 1807, vgl. Jubil.-Ausg. Bd. 30, S. 218). Die Umsetzung des Rahmenschemas in das Motiv der „Wanderungen" führte jedoch zu einer Divergenz zwischen

dem Zyklus-Prinzip und der Vielzahl der Roman-Aspekte (Bildungs-, Reise-, Zeit- und Weltroman). Da das Werk „zwar nicht aus einem Stück, aber doch in einem Sinne erscheinen" sollte (Annalen 1821, vgl. Jubil.Ausg. Bd. 30, S. 355), erwies sich die Redaktion des teilweise heterogenen Materials als sdiwierig; nur Das nußbraune Mädchen und Nidit zu weit stehen in engem Zusammenhang mit der Romanfabel; die Novelle, als Paralleldemonstration zum Märchen geplant, wurde wieder entfernt. Die Synthese ist dennoch gelungen. Wie in den Unterhaltungen haben die Binnenerzählungen, bzw. Erzähleinlagen auch hier einen festen Platz innerhalb der Komposition. In W i e l a n d s Hexameron von Rosenhain (1802 als Pentameron von Rosenhain begonnen, 1805 ersdiienen) sind drei Märchen und drei Novellen (mit dem gemeinsamen Motiv: glücklicher oder unglücklicher Liebesausgang) in ein Decameron-Schema mit Verlobungsschluß eingebettet. Mit der Novelle ohne Titel und der vorangestellten Novellentheorie hatte Wieland ähnliche Absichten wie Goethe im Sinn: das Erzählen selber sollte Gegenstand der Dichtung sein; so ist die Reihenfolge der sechs Binnenerzählungen gleichfalls Ausdruck literar. Kritik (Ablehnung „aller empfindsamen Familiengeschichten" und „aller sogen, moralischen Erzählungen"). Aber der Abstand zu den Erzählparadigmen Goethes ist trotz aller Gesprächsund Kompositionskunst nidit zu übersehen. Der Eindruck eines unterhaltsamen Zeitvertreibs dominiert, die Erzählhaltung bleibt unverbindlich. Audi mußte der in der dreigeteilten Erzählkonstruktion (fiktiver Herausgeber, Rahmenerzähler, Binnenerzähler) und der Spielauflösung angelegte Effekt der Illusionsdurchbrechung (der letzte Erzähler ist Held seiner eigenen Geschichte) angesichts der neu aufkommenden romantischen Stimmungsmittel als allzu preziös empfunden werden. Bernhard v. Arx, Novellistisches Dasein. Spielraum e. Gattung in d. Goethezeit (1953; Züricher Beitr. z. dt. Lit. u. Geistesgesch. 5). Hans P y r i t z , Heinz N i c o l a i u. Gerh. B u r k h a r d t , Goethe-Bibliographie (1965), Nr. 9866-9893 (Unterhaltungen), Nr. 9796-9865

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ketten. In einer Gesellschaft erzählt ein „alter Offizier" drei Begebenheiten, um die These zu stützen, daß „die Wahrscheinlichkeit, wie die Erfahrung lehrt, nicht immer auf Seiten der Wahrheit ist". Unterhaltsames Faktum und Rahmung sind aufs äußerste verkürzt; die Darbietungsform läßt vergessen, daß es sich ursprünglich um ein geschicktes redaktionelles Verfahren handelt. Deutlich tritt die Integration audi in Clemens B r e n t a n o s Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl (Gubitz, Gaben der Milde, 1817) zutage. Brentano hat zwei mündlich überlieferte Erzählungen (den Selbstmord eines Unteroffiziers und eine Kindsmordgeschichte) miteinander verbunden und das „Wunderhorn"-Gedidit „Weltlich Recht" als Motivstütze eingefügt. Neben dem Rahmenerzähler, einem Schriftsteller, der im entscheidenden Augenblick in die Handlung eingreift, fungiert eine alte Bäuerin als Binnenerzählerin. Die Verschränkung von erzählter Handlung und erzählter Vergangenheit läßt die expositorische Rahmensituation (Topos: eine alte Frau erzählt) in den Hintergrund treten und durch die „Zeitnot" (immer näher rückender Hinrichtungstermin) unmittelbar Erzählung werden. — Brentanos Rahmenzyklen enthalten im wesentlichen Ubersetzungen und Nachbildungen. Die unter dem Namen (und der Mitwirkung) Sophie von Brentanos erschienenen Spanischen Novellen (1804-1806) schöpfen die Novelas exemplares y amorosas Maria de Zayas y Sotomayor aus und benutzen als Rahmen fünf Erzählnächte, in denen ein Freundeskreis der fieberkranken Donna Lisis die Zeit durdi Geschichten und Spiele vertreibt. Versuche einer Rezeption des Pentamerone in den Italienischen Märdien (Konzeption 1804, Buchausgabe postum 1846/47) und die Nachahmung des orientalisdien Sdiachtelprinzips in den Rheinmärchen (mit dem einleitenden Märdien von dem Rhein und dem Müller Radlauf, Konzeption 1816, Buchausgabe postum 1846) blieben Fragment. — Im Zyklus Die mehreren Wehmüller (1817) wird der unfreiwillige Grenzaufenthalt einer Reisegesellschaft zum Anlaß, drei Erzählungen (Das Picknick des Kater Mores, Von den Hexen auf dem Austernfelsen, Vom wilden Jäger) unterzubringen und die Pest-Situation Boccaccios im donauländischen Milieu zu parodieren.

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Redaktionellen Charakter haben auch die Rahmenzyklen Achim von Arnims. Im Wintergarten (1809) hat Arnim, der sich in der „Einführung der Leser" als Protokollant ausgibt, eine Reihe ansprechender Nachdichtungen („nach alten Erzählungen") zusammengefaßt und mit Ralladen, Liedern und Verserzählungen vermischt; die Rahmenfiktion (Landhaus-Topos, Zeitflucht-Thematik, Liebeshandlung mit abschließender WinterFrühling-Allegorie) wird zur erweiterten „Leseranrede". Umgekehrt hat Arnim in die ursprünglich als Erzählung konzipierte Gräfin Dolores (1810) verschiedene Dichtungen eingeflochten und sogar einen Rahmenzyklus eingelegt, der als integrierter Restandteil der Romanhandlung angesehen werden kann. Der Isabella-Zyklus (1812) beginnt mit einer „Anrede an meine Zuhörer" und verrät durch die Identität der Erzähler und die RahmenEinstimmung (Pegasusritt und Lustfahrt auf dem Rhein) die gleiche Absicht, dem Leser die Lektüre durch einen gefälligen Vorwand zu erleichtern. Die im Landhausleben (1826) aneinandergereihten Dichtungen sind äußerlich nach fünf Wochentagen und ErzählerTypen (Landprediger, Liebhaber, Kunstfreund, Direktor der Theaterschule und Theater-Dichter) geordnet; der nachträgliche Versuch, der Erzähl-Gesellschaft stärkere Konturen zu geben, blieb im Ansatz stecken. Arnim hat offenbar gespürt, daß diese redaktionelle Technik inzwischen verbraucht war. Das geplante Gegenstück zum Wintergarten — ein „Sommerkarneval" — kam nicht mehr zur Ausführung. E. F e i s e , Brentanos Geschichte vom braven Kasperl u. cl. sdiöncn Annerl. E. Form-

analyse. Corona. Festsdir. f. S. Singer (Durham 1941) S. 202-211. Benno v. W i e s e , Die

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trud Hausner, Achim υ. Arnim u. d. dt. Lit. cl. 17. Jh.s. (Masch.) Diss. Wien 1934.

§ 10. T i e c k beruft sich im Phantasus (3 Bde 1812-1816) auf Boccaccio (Sdiriften Bd. 4, S. 104 ff.), aber unter dem Aspekt der werkimmanenten Poetik betrachtet, steht sein Erzählschema Goethes Absichten näher als dem Boccaccio-Muster. Der Plan dazu läßt sich bis ins Jahr 1800 zurückverfolgen. Von den ursprünglich vorgesehenen 49 Einzelwerken enthält diese Sammlung von Märchen, Erzählungen, Schauspielen und Novellen lediglich 14 Stücke, die von 7 Erzählern wechselseitig (und durch anekdotische Einlagen angereichert) vorgelesen werden; die 4 anwesenden Damen fungieren nur als Zuhörer. Die Brüche zwischen den einzelnen (zu verschiedenen Zeiten entstandenen) Werken sind ebensowenig zu übersehen wie die Brüche in der R. selbst, die zwar die Funktion eines redaktionellen Mittels weitgehend erfüllt, aber zugleich Keim eines Romans (Adelheid-Friedrich-Episode) und eines größeren Ästhetik-Dialoges ist. Das Fragmentarische gehört jedoch zur Struktur der Sammlung, die eigene Zahlenproportionen und Erzählpolaritäten aufweist; sie entspricht der literar. Situation, in der sie als eine Retrospektive der bisherigen Produktion Tiecks gedacht war. Am besten ist die Tiedcsche Rahmendynamik als ein Kontrastphänomen zu begreifen, das von den frühen Märchen bis zu den späten Novellen in unterschiedlicher Ausprägung wiederkehrt und im Phantasus Einblicke in die Stimmungsskala des Romantischen ermöglicht. Stimmungserzeugung und scheinbare Aufhebung der Stimmung durch Reflexionen oder Gegensituationen erweisen sich bei Tieck als ein Mittel, durch das er seine Werke davor bewahrt, in Trivialbereiche der Empfindsamkeit oder des Schrekkens zurückzufallen. Schon im Blonden Eckbert (1796) ist dieses Prinzip voll ausgebildet: hier greifen Alltag und Märchen, Psychologie und Schicksal ineinander und erzeugen erst durch die Erzähl-Schachtelung „romantische Stimmung". Im Zauberschloß (1830) ist dagegen das Moment der Spannung Gegenstand werkimmanenter Kritik: als Kontrasterzählung wird die Mustemovelle Die wilde Engländerin eingelegt, um den Abstand zur Rahmengesellschaft und zu ihren Stimmungsreflexen bewußt zu machen. Auf dem Gebiet des Dramas sind Der Gestiefelte Kater (1797) und Die Verkehrte

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Welt (1799) Beispiele für die Einlagerung romantisdier Momente in Rahmenformen (hier der Satire, der Ironie und des Witzes). Die meisten Rahmen Tiedcs enthalten eine Fülle terminologischer Bezüge auf Poetologisches (ebenso zahlreiche Namenanspielungen), aus denen Tiedcs Poetik der Einstimmung in literar. Phänomene abgelesen werden kann. Die R. im Phantasus ist Ausdruck einer zwiespältigen gesellschaftlichen Haltung: während die Rahmengesellschaft die verlorene Zeit zurückzugewinnen hofft, ist sich Tiedc selbst der Esoterik dieser Gartenidylle und der Nicht-Wiederholbarkeit seiner früheren Werke bewußt. Bereits im Jahre 1807 hatte Aug. Wilh. Schlegel in seiner Rezension der von Karl von Hardenberg herausgegebenen Anthologie Dichtergarten bemerkt, daß der „Lauf der weltlichen Dinge" der Poesie neue Aufgaben stellte. In diesem Sinne wird die R. zum Wendepunkt in der Entwicklung Tiecks. Während der folgenden „Novellenperiode" Tiecks ist es allerdings zu keinem neuen Zyklus gekommen, wohl aber zu neuen Rahmenexperimenten, die — zuerst in der Novelle Die Gemälde (1823) — zu einer immer stärkeren Verbindung von Diskussions-Argument und beispielhaften Binnenerzählungen führten. Gerade diese Umwandlung des alten Rahmens bewirkte schließlich den pädagogisch-besinnlichen Effekt der späten Werke Tiecks.

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auf eine suggestive Lenkung des Lesers berechnet. Abgesehen von der Herausgeberfiktion (Elixiere des Teufels, Kater Murr) sind fünf typische Erzählweisen auffällig: Erzählungen, die aus einer gesellschaftlichen Unterhaltung hervorgehen (Magnet iseur, Der unheimlidie Gast), Lebensgeschichten als Binnenerzählungen (Abenteuer in der Sylvesternacht,Die Jesuiterkirdie in G., Spielerglück), Situationsdeutungen von Bildern (Die Fermate, Doge und Dogaressa), Erzähleinlagen in Dialogpartien (Hund Berganza unter dem Einfluß von Cervantes' Novelas ejemplares) und Märcheneinlagen im Märchen (Goldener Topf, Prinzessin Brambilla). Das Ganze ist auf die gegenseitige Durchdringung der Erzähleinheiten, häufig mit Fragment-Effekt, angelegt, so daß die Rahmenform sich als eigenständiges Gebilde selbst aufhebt. Der Magnetiseur ist ein Musterbeispiel für solche Tendenzen: im Erzähleinsatz wird die typische Rahmensituation (Abendgesellschaft) zu einem Spannungsmoment der Formerwartung: die folgenden Erzählungen wahrer Begebenheiten und Träume werden jedoch durch das unerwartete Eintreten des Magnetiseurs in die Gesellschaft zur beängstigenden Wirklichkeit. Das weitere Schicksal der nunmehr in die Handlung einbezogenen Personen erfährt der Leser aus einer Aneinanderreihung von Briefen und Tagebuchaufzeichnungen, die durch eine kurze IdiErzählung miteinander verbunden sind. — Ein Beispiel für die Macht des Erzählten gibt Das Sanctus: hier wird eine Sängerin durch die eingelegte Erzählung von einer Neurose geheilt. Ähnliche therapeutische Effekte (später von Tied; nadigebildet) lassen sich auch in anderen Erzählungen nachweisen, die bezeichnend für das Einfühlungsvermögen Hoffmanns und den Einfluß der zeitgenöss. Psychiatrie auf die Romantik sind.

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§ 11. Das Prinzip der Rahmung und Schachtelung wird von Ε. Τ. A. H o f f mann virtuos weiterentwickelt; es erscheint als Folie in fast jeder seiner Erzählungen und ist

Phantasus zum Symbol der Romantik (ζ. B. für die russ. Dichtergruppe der „Serapionsbrüder") geworden ist.—Die eigene Erzählwelt der R. geht auf einen persönlichen Anlaß zurück; sie ist ein Nachklang seines

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geselligen Verkehrs mit Freunden in Berlin (November 1818 - Frühjahr 1821), und so hat der Zyklus, dessen acht Erzählabende sich fast genau datieren lassen, den Wert eines Freundschafts-Bekenntnisses. Handelt es sich auch um eine Sammlung von ζ. T. bereits in Taschenbüchern erschienenen Erzählungen, so entspricht die gelegentliche Abwertung und Auflösung des Zyklus (Walter Harich, Nino Erne) nicht den editorischen Absichten Hoffmanns. Das Ordnungsgefüge der Sammlung und der Perspektivwechsel zwischen assoziativer Gesprädisvcrknüpfung und Erzählbeispielen haben ihren Mittelpunkt in dem aus der Rahmenepisode des Einsiedlers Serapion abgeleiteten „serapiontischen Prinzip" Die darin enthaltene Forderung Hoffmanns an den Dichter, nur das darzustellen, was er wirklich im Innern geschaut, ist dem Philistertum aller Lebensbereiche entgegengesetzt. In den Erzählungen der Serapionsbrüder wird eine Kunstlehre transparent, die das Unbewußte und die höhere Heiterkeit des Erzählens als Hauptfaktoren des Schöpferischen begreift. Hubert O h l , Der reisende Enthusiast. Studien z. Haltung d. Erzählers in d. 'Fantasiestücken' Ε. T. A. Hoffmanns. (Masdi.) Diss. Frankfurt 1955. Christel S c h ü t z , Studien z. Erzählkunst Ε. T. A. Hoffmanns. Untersuchungen zu d. 'Nachtstücken'. (Masdi.) Diss. Göttingen 1955. — Friedr. S c h n a p p , Der Seraphinenorden u. d. Serapionsbrüder Ε. Τ. A. Hoffmanns. Litwiss. Jb. d. Görres-Ges. NF. 3 (1962) S. 99-112. Walter M ü l l e r - S e i d e l , Nachwort zu: Ε . T. A. Hoffmann, Die Serapionsbrüder (1963) S.999-1026. Lothar K ö h n , Vieldeutige Welt. Studien z. Struktur d. Erzählungen Ε. T. A. Hoffmanns u. d. Entw. s. Werkes (1966; Studien z. dt. Lit. 6) S. 109-141: Die Serapionsbrüder. Probleme des Rahmens. — Walter Η a r i c h , Ε. Τ. A. Hoff mann. Bd. 2 (1920) S. 183-210. Nino E r n e , Vorrede zu: Ε . Τ. A. Hoffmann, Ges. Werke. Bd. 1 (1964) S. 8-12.

§ 12. In den folgenden Jahrzehnten wirkt das Verhältnis zwischen Autor und Publikum weitaus stärker auf die Funktionalisierung der Rahmenform ein als der Wille zu Stilexperimenten. Dabei treten die gesellschaftlichen Konflikte auch dort in Erscheinung, wo man sie zu umgehen sucht. Das zeigt sich bereits bei Hauff und Heine. Die Wirkungsgeschichte der Märchen H a u f f s ließ in Vergessenheit geraten, daß ζ. B. Kalif Stordi, Zwerg Nase und Das kalte Herz eigentlich Teile dreier Zyklen sind.

Wie Hauff die Form des „Almanachs" (18261828) benutzt, um ein märchenmüdes Lesepublikum für diese „alte Jungfer" zu erwärmen (Einleitung Märchen als Almanach), so versucht er dem Bedürfnis nach Spannung und Rührung durch wirkungsvolle Rahmen entgegenzukommen. Er rechnet mit Assoziationen an orientalische Muster und gibt seinen R.en einen kriminalistischen Einschlag; im Kalten Herz wendet er zusätzlich die Methode des „Fortsetzung folgt" an. In der Karawane halten die Figur des „Fremden" und die Furcht vor einem Überfall die Aufmerksamkeit des Lesers bis zum Schluß wach; das Wirtshaus im Spessart lockt mit einer einheimischen Räubergesdiidite; im Sdieik von Alessandria überdeckt die Rückkehrerwartung des Vaters die Entführungsgeschichte des Sohnes. Audi als redaktionelles Mittel sind die Rahmen Hauffs ein Stück „erzählte Welt" und in ihrer Motiwerflechtung für die Einschätzung des Lesergeschmadcs aufschlußreich. In der Karawane und im Sdieik von Alessandria ist jeweils eine Binnenerzählung (Geschichte von der abgehauenen Hand - Geschichte Almansors) mit dem Rahmensdiluß (Lebensgeschichte des Räubers Orbassan - Wiedererkennungsszene) verbunden; im Wirtshaus im Spessart entspricht das Sdiidcsal des jungen Goldschmieds Felix Perner der Vorstellung vom armen Kinde und seinem besdieidenen Glück.

H e i n e s Florentinisdie Nächte (1836 im Morgenblatt für gebildete Stände, 1837 im 3. Bd. des Salon) zeigen die Form eines stark verkürzten Erzähldialoges. Vom Arzt aufgefordert, der todkranken Patientin Maria zur Zerstreuung „allerlei närrische Geschichten" zu erzählen, läßt sich Maximilian durch die Situation zu kleinen Episoden anregen. Die scheinbar beiläufigen Einfälle und Erinnerungen (darunter der Bericht über ein Paganinikonzert) sind ebenso wie der abrupte Schluß Glieder einer bewußten Erzählimprovisation. Zensurrücksichten und Wünsche des Verlegers beeinflußten die Konzeption des Werkes; die im Mittelpunkt stehende Binnenerzählung von der Tänzerin Laurence und dem Zwerg Türlütü hat Hoffmannesken Zuschnitt. Julius M o s e n s „Novellenbuch" Bilder im Moose (1846) steht im Banne Tiecks und Hoffmanns, gleichzeitig ist der Einfluß jungdeutscher Ideen nachzuweisen. Mitglieder eines „renovirten Mönchsordens" treffen sidi „zwischen Estomihi und Palmarum" zu Erzählabenden, einem „harmlosen Novellenund Idyllenleben" (11,63). Dieses Rahmen-

Eählung

Milieu wedct Erinnerungen an einen Dresdener Kunstkreis, der sich gegenüber politischen Verdächtigungen nur kurze Zeit behaupten konnte (die Acta ordinis Benedictorum sind im Nachlaß Mosens erhalten). Die Novellenfiktion wird schnell durchsichtig, denn die meisten Geschichten enthalten Lebensbekenntnisse der Teilnehmer, und aus der Verknüpfung von Rahmen und Erzählfakten entwickelt sich eine romanhafte Liebesgeschichte, die gegen Ende triviale Züge annimmt. Mosen hat die reinen Erzählstoffe geschickt eingeordnet, aber die Diskrepanz zwischen den szenischen Effekten der Handlung und dem stilisierten Novellenton nicht zu überwinden vermocht. Karl I m m e r m a n n setzt sich mit dem Rahmenproblem sowohl in den Epigonen (1836) als auch im Mündihausen (1838/39) auseinander. Die Orientierung an Goethes Wilhelm Meister und die Beschäftigung mit Jean Paul und den Romantikern löst eine interessante Entwicklung aus, die jedoch nicht zum Abschluß kommt. Die Erzähleinlage (am deutlichsten in der Kontrastierung durch die Oberhof-Gesdiidite) setzt zeitkritische Akzente, die gesellschaftliche Erzählsituation (Münchhausen und seine Zuhörer) wird zum Mittel tagespolitischer Charakterisierung. Der Plan des Rahmenzyklus Die Quarantäne (Entwurf 1831) beweist, wie stark Immermann die Fragwürdigkeit des „novellistischen Daseins" und seiner Erzählordnungen empfand. S t i f t e r dagegen versucht, diese Erzählwelt zu bewahren. Sein Einkleidungsstil ist an romantischen Vorbildern geschult; Vorund Nachwort, Gesprächsfiktion, Brief- und Tagebuchtechnik, Ich-Einsätze und Rahmen werden wechselseitig, teils in Jean Paulscher Manier angewandt. Als echte R. kann nur Granit (erste Fassung Die Pechbrenner, 1849) gelten. Hier gibt eine Kinderepisode den Anlaß zu einer Geschichte aus der Pestzeit, die der Großvater seinem Enkel erzählt. In Katzensilber (1853) führt die Erzählerrolle der Großmutter nur zu einer Schachtelung verschiedener Erzählungen. In der rahmenähnlichen Einleitung zum Waldbrunnen (1866) erwecken zwei in Ich-Form vorgetragene Eingangs-Episoden (das „Zigeunermädchen" und „die schöne schwarze Dame") eine gewisse Spannung. Auch die Manuskriptfiktion fehlt nicht; in der Narrenburg (1841) erReallexikon III

337

scheint sie in der stark reduzierten Form der Manuskripteinlage, in der Mappe meines Urgroßvaters (1. Fassung 1841) wird sie zur Exposition einer Lebensgeschichte. Ansätze zyklischer Gestaltungen bleiben ohne Erzählrahmen; in den Bunten Steinen (1853) haben Leitmotive die Funktion des Rahmens übernommen. Manche Einkleidungsformen sollen offenbar persönliche Erlebnisse verbergen; wichtiger ist Stifters Auffassung von der trennenden und dennoch alles verbindenden Zeit, die im Rahmen Symbolkraft erlangt. Zu überzeugender symbolischer Wirkung kommt der Rahmen nur dort, wo eine in ihren sozialen Bedingungen erfaßte Erzählsituation den Kunstgriff der Einkleidung vergessen läßt. So gelingt G o t t h e l f in der Schwarzen Spinne (1842) eine nahtlose Verbindung zwischen redigierter Binnenerzählung und Rahmen. Die breitausgemalte bäuerliche Idylle (festliche Kindstaufe) und die Geschichte der Spinnenplage wirken nicht allein durch Kontraste, bzw. ihre wechselseitige Bezogenheit, sondern vor allem durch die bewußt gemachte Gefährdung dieser gesellschaftlichen Ordnung. Wie Stifter wendet sich G r i l l p a r z e r mehr dem biographisch skizzierten Einzelschicksal zu. Während das Kloster bei Sendomir (1828) noch nach gängigen Rahmenmustern gearbeitet ist, treten im Armen Spielmann (1847) Binnenerzählung (Kunst als Lebenshilfe) und Rahmen (Psychologische Charakterstudie) in ein dialektisches Verhältnis, in dem die Stellung des Künstlers der Restaurationszeit reflektiert wird. Janaki A r n a u d o r f f . W . Hauffs Märchen u. Novellen. Diss. München 1915. Hilde S c h u l h o f , Hauffs Märchen. Euph. 29 (1928) S. 108-132. A. J a s c h e k , W. Hauffs Stellung zwischen Romantik u. Realismus. Diss. Frankfurt 1956. — Walter W a d e p u h l , Eine unveröff. Episode aus Heines 'Florentin. Nächten', in: Wadepuhl, Heine-Studien (1956) S. 109-113. Joh. M i t t e n zw e i , Musikalische Inspiration in Heines Erzählung 'Florentin. Nächte', in: Mittenzwei, Das Musikalisdie in d. Lit. (1962) S. 231-251. — Marta A l e x a n d e r , Die Novellentheorien d. Jungdeutschen. (Masch.) Diss. München 1923. Werner M a h r h o l z , Julius Mosens Prosa (1912; FschgnNLitg. 41). — Hugo B l a n c k , Die Technik d. R. bei Adalbert Stifter. Diss. Münster 1925. — Benno v. W i e s e , Die dt. Novelle von Goethe bis Kafka. Bd. 1 (25.-28. Tsd. 1963) S. 134-153 (Der arme Spielmann), S. 176-195 (Die sdiwarze Spinne). Wolfgang P a u l s e n , Grillparzers Erzählkunst. GermRev. 19 (1944) S. 59-68.

338

Rahmenerzählung

Wolfgang B a u m g a r t , Grillparzers 'Kloster bei Sendomir'. ZfdPh. 67 (1942) S. 162-176. Heinz P o l i t z e r , F. Grillparzers 'Der arme Spielmann' (1967; Dichtung u. Erkenntnis 2).

§ 13. Mit dem Sinngedicht (1851 geplant, in den 70er Jahren wieder aufgegriffen, 1881 in der DtRs. und im gleichen Jahr erw. als Buchausgabe erschienen) gelang Gottfried K e l l e r ein Meisterwerk zyklischer Rahmenkomposition, das innerhalb der Formentwicklung im 19. Jh. einen Höhe- und Endpunkt darstellt. Rahmenhandlung und Binnenerzählungen sind zu einer Einheit zusammengewachsen, so daß jede Analyse von der Ökonomie des Erzählens und der Architektonik der Zuordnungen auszugehen hat. Sind die Rahmenformen Ε. T. A. Hoffmanns musikalischen Tempi verwandt, so liegen die Zahlen-Symmetrien und Erzählgruppierungen Kellers mehr im Bereich instinktiv erzählpädagogischer Neigungen; eine Reihe vorausgegangener Formexperimente zeigt die Tendenz Kellers, von kleineren Erzähleinheiten stets zu umfassenderen vorzudringen. Die „seltsamen Geschichten und Lebensläufe" der Leute von Seldwtjla (Bd. 1, 1856, Bd. 2, 1874) werden durch eine gemeinsame Fiktion des Ortes zusammengehalten. Der kurzen Einführung kommt wie dem „Vorwort" zu den Sieben Legenden (1872) nur eine redaktionelle Funktion zu. Dagegen ist der Rahmen zu den Züricher Novellen (1878) zu einer eigenen Erzählsituation (Heilung des originalitätssüchtigen Herrn Jacques durch Beispielgeschichten) ausgebaut, in der die Fiktion des mündlichen Berichtes zu drei (später fünf) Binnenerzählungen überleitet. Sind auch hier noch Reste des redaktionellen Prinzips zu entdecken, so nimmt die Integration von Rahmen und Binnenerzählungen im Landvogt von Greifensee (Dt. Rs. 1877, danach in den Züricher Novellen) das Erzählprinzip des Sinngedichts ζ. T. vorweg. Im Unterschied zu den Beispielerzählungen im Sinngedicht sind die fünf Liebesgeschichten im Landvogt Teile einer chronikalischen und biographischen Struktur; sie gehören zum Typus der sog. „Rückblenden" und sind daher kaum aus dem Zusammenhang zu lösen. Auch werden sie nicht von Salomon Landolf selbst erzählt, sondern von einem Nacherzähler, der „alles ordentlich einteilt, abrundet und für unser Verständnis einrichtet".

In die Rahmenhandlung sind fünf beispielhafte Geriditsszenen eingelegt, die zu den Liebesgeschichten in zahlensymmetrischer Beziehung stehen. Das Sinngedicht reicht über den ursprünglichen Plan eines „artigen kleinen Decameron" hinaus, und Kellers Bezeichnung „eine Art von Duell" berührt nur einen Teilaspekt dieses Gesprächsspiels, in dem das Sich-freierzählen, die Selbsterkenntnis und das Eindringen in das Wesen des Partners von entscheidender Bedeutung sind. Die Rahmenhandlung erscheint als eine Kombination verschiedener Topoi und Motive. Logaus Sinngedicht ist für Reinhart ein „Rezept", das er in drei E x p e r i m e n t e n (Zöllners-, Pfarrers- und Wirtshaustochter) zu erproben versucht; der Weg zu Lucie gleicht dagegen einer Märchensituation (Forstwildnis, Galathee von Disteln umgeben), in der durch eine F e h l l e i s t u n g (vorzeitige Preisgabe der Absicht) die L i e b e s p r o b e zunächst unmöglich wird. Im anschließenden Gesprächsspiel klingen Probleme der Ebenbürtigkeit von Mann und Frau, der gesellschaftlichen Schranken und des gegenseitigen Verständnisses als Grundthemen an, Bildungsabsichten und Selbständigkeitsideale werden kritisch abgewogen, doch tragen gerade diese V e r z ö g e r u n g s m o m e n t e wesentlich zum Abbau der Hemmungen und Vorurteile bei. Die Abreise Reinharts schafft eine zeitliche Distanz, durch die der Weg zur Liebesprobe frei wird. Auch in der letzten Phase (Wiedersehen) folgt das Geschehen einem strengen Bauprinzip: Lucie erzählt Reinhart die Geschichte ihrer Konversion zum Katholizismus, und obgleich sie Reinhart bittet, die Erzählung „nicht unter die Beispiele zu mischen", hat diese B e i c h t e (ebenso wie die symbolische Befreiung der Schlange von dem Hirschkäfer durch Reinhart) einen bestimmten Stellenwert im Erzählgefüge. Der B a n n ist endgültig gebrochen; eine kurze lyrische Passage leitet die E r f ü l l u n g des Spruches ein. Die sechs Erzählbeispiele umfassen Selbsterlebtes und Literarisches und sind jeweils antithetisch aufeinander bezogen. Lucies Erzählung

Von einer törichten Jungfrau und Reinharts Bei-

trag Regine dedcen in den „verunglückten Heiratsgeschichten" Selbsttäuschungen auf. In der zweiten Erzählgruppe beweisen Reinhart mit der Armen Baronin und Lucies Oheim mit dem Geisterseher (einer Geschichte um Reinharts Vater), daß der äußere Schein durch Tatkraft überwunden werden kann. Danach stellt Reinhart in der Geschichte des Seehelden Don Correa Hochmut und Demut am Beispiel zweier Frauen gegenüber, und Lucie antwortet mit einem „satirischen Pfeil", indem sie den Abenteuerer Thibaut de Vallorme und seinen Mißbrauch der Frauen als Souvenir lächerlich macht (Die Berlocken). Andere Erzählungen, die ursprünglich für das Sinngedicht vorgesehen waren, hatten in-

Rahmenerzählung zwischen in den Sieben liegenden funden.

Platz ge-

Die Individualität der drei „Erzähler" und die kräftige Ausbildung ihres persönlichen Erzählstils sind eigenständige Teile der souveränen, gelegentlich ironisch gefärbten Erzählhaltung Kellers. Die Einheit des Ganzen wird vor allem durch die Sprache, ein leitmotivisches Geflecht von Bildern und Redefiguren hergestellt, das — in Logaus Sinnsprudi keimhaft enthalten — die Macht des Eros als erzähldynamischen Faktor deutlich hervortreten läßt. Hans B r a c h e r , R. und Verwandtes bet G. Keller, C. F. Meyer u. Th. Storm (1909; UntsNSprLitg. NF.3; 2. Aufl. 1924). Agnes W a l d h a u s e n , Die Technik d. R. bei G. Keller (1911; Bonner Fsdign. NF.2). Werner Mitt e l b a c h , Die Rolle d. Erzählers bei G. Keller. (Masch.) Diss. Rostode 1923. Georg L u kdes, Gottfried Keller (1946) S. 76-81 (geschrieben 1939), wiederholt in: Lukäcs, Dt. Realisten (1952) S. 190-193. — Hans T i e t gens, Möglichkeiten einer Zeitgestalt-Untersuchung, dargect. an G. Kellers 'Leuten von Seldwyla'. (Masch.) Diss. Bonn 1949. Karl P o l h e i m , Die zyklische Komposition der 'Sieben Legenden' G. Kellers. Euph. 15 (1908) S. 753-765. Hanna Martha L e i s t e , G. Kellers 'Züricher Novellen' im Umkreis d. 'Sinngedicht'-Motivs. (Masch.) Diss. Graz 1942. Erwin A c k e r k n e c h t : Die Kunst des Lesens (1949) S. 123-162: Die R. d. 'Züricher Novellen'. Karl Ε s s 1, Über G. Kellers 'Sinngedicht' (1926; Prager dt. Studien 40). Priscilla M. K r a m e r , The cyclical Method of composition in Keller's 'Sinngedicht' (New York 1939). H. P e t r i c o n i , 'Le Sopha' v. Crebilhn d. J. u. Kellers 'Sinngedicht'. Roman. Fsdign. 62 (1950) S. 350-384. Henrich B r o c k h a u s , Kellers 'Sinngedicht' im Spiegel s. Binnenerz. (Masch.) Diss. Seattle 1967. § 14. Als Antwort auf die Kritik Paul Heyses am Rahmen der Hochzeit des Mönchs hat C. F. M e y e r von seiner „instinetiven Neigung" zum Rahmen und der Absicht gesprochen, sich den Gegenstand seiner Erzählungen „gerne so weit als möglich vom Auge" zu halten; die Begründung, daß das „Indirecte der Erzählung (und selbst die Unterbrechungen) die Härte der Fabel mildern" (Brief v. 12. Nov. 1884, vgl. Sämtl. Werke Bd. 12, 1961, S. 251), läßt an eine bloße Distanz-Technik denken. Aber in dem Novellen-Jahrzehnt zwischen Amulett und Hochzeit des Mönchs ist nicht nur eine zunehmende Ausbildung dieser Technik (bis an die Grenze manieristischer Formgebung), sondern zugleich eine kunstvolle Verknüp-

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fung von Rahmen und Binnenerzählung zu beobachten, die den Blidc auf die Einheit des Erzählvorganges lenkt. Im Amulett (1873) sind lediglich drei Ich-Beridite (die chronikalische Vorbemerkung, die Anlaßsituation und die Niederschrift Hans Schadaus) miteinander verknüpft. In der Novelle Der Heilige (DtRs. 1879/80, Budiausg. 1880) läßt Hans der Armbruster in einem Gespräch mit dem Zürcher Chorherm Burkhard noch einmal die Vorgänge um Thomas Bedcet und Heinrich II. von England lebendig werden; aus den wechselnden Perspektiven des Augenzeugen und des nur historisch Wissenden entsteht ein eindrucksvolles Porträt Beckets. Für die Einkleidung des Plautus im Nonnenkloster (DtRs. 1881, Buchausg. 1882) hat Meyer eine „Gesellschaft gebildeter Florentiner um Cosmas Medici" als Zuhörerkreis gewählt, vor dem Poggio, zur Mitteilung einer „Facezia inedita" aufgefordert, Selbsterlebtes zum besten gibt. In den Leiden eines Knaben (Schnorrs Familienblatt 1883, Buchausg. 1883) wird der Rahmenschauplatz nach Paris verlegt: als Zuhörer fungieren Ludwig XIV. und die Maintenon, als Erzähler der Arzt Fagon, der den König durch die Leidensgeschichte Julian Bouffiers' vor dem neuen Jesuiten-Beichtvater warnt. Der Rahmen der Hochzeit des Mönchs hat wieder Renaissance-Kolorit: im Kreise der Hofgesellschaft des Scaligers Cangrande in Verona „bezahlt" Dante mit der weit ausholenden Deutung eines Grabsprudies und der Erzählung von Astorre und Antiope seinen „Platz am Feuer". Auch die Typologie der Rahmenerzähler umfaßt eine Entwicklungsreihe, die von dem im erzählten Geschehen selbst verstrickten Erzähler bis zur Rolle der „überlegenen Figur" reicht. Hans Sdiadau „erleichtert" durch die Niederschrift der Ereignisse der Bartholomäusnacht sein „Gemüt" (Bd. 11, S. 8), Hans der Armbruster erlebt das Gespräch mit Burkhard als „Beichte" (Bd. 13, S. 139), und von Poggio sagt Cosmas, er habe seine „Facetie" in jungen Jahren skrupellos gelebt, nun aber als ein „Gereifter" mit der Weisheit der Jahre erzählt (Bd. 11, S. 163); auch Fagon ist noch mit dem Schicksal des jungen Bouffiers verbunden, während Dante einen Standpunkt außerhalb des Geschehens einnimmt und der Gesellschaft um Cangrande einen Spiegel vorhält. In der Hochzeit des Mönchs wird eine Parallelität von Rahmen- und Binnenfiguren (vor allem der Herrschergestalten Cangrande und Ezzelin) angedeutet, die dem Erzählgefüge eine größere Geschlossenheit verleihen soll. Erzähldistanz und relativierende Perspektiven stehen in engem Zusammenhang mit Meyers Auffassung des Geschichtlichen, das wie ein Trauma erst durch einen schöpferischen Bewußtseinsakt bewältigt werden kann. Doch enthüllen die Erzählungen dabei weniger historische Fakten als Leidenschaften und psychologische Motivierungen. Indem Meyer „die Härte der Fabel mildert", 22'

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Rahmen

steigert er die Intensität der Ereignisse, und I menzutragen. In Aquis submersus (1876) wirken indem er den Abstand zu seinen Helden | verschiedene Steigerungsmittel zusammen. Die Ich-Erzählung des Rahmens (mit Landschaftsvergrößert, erzeugt er erst das Gefühl für „Eingang" und allmählicher Heranführung an tragische Situationen. Sein unbedingter Wille den Gegenstand der Erzählung) erregt das Interesse des Lesers an der rätselhaften Inschrift zur Form, seine Rahmengestik, die von den eines Bildes. In der zweiten Erzählphase des übrigen Erzähleinsätzen (ζ. B. der BrautRahmens wird die Manuskriptfiktion vorbereifahrtzeremonie in der Hochzeit des Mönchs) tet, die zur Niederschrift des alten Malers übernicht zu trennen ist, und das „Pathos der leitet; der Schluß läßt den Titel „Aquis submersus" noch einmal leitmotivisdi aufleuchten. Distanz" beruhen weitgehend auf einer MoErwin K a l i s c h e r , C. F. Meyer in seitiv· und Themenwahl, deren psychologische nem Verhältnis z. ital. Ren. (1907; Pal. 64). Voraussetzungen am besten in den Leiden Franz Ferdinand B a u m g a r t e n , Das Werk eines Knaben zu analysieren sind. — Der C. F. Meyers. Renaissance-Empfinden u. Stilgekonnte Faltenwurf seines Erzählgewandes kunst (1917) S. 147-178: Die dekorative Darstellung. Robert M ü h l h e r , C. F. Meyer u. und das geschichtliche Dekor haben lange d. Manierismus, in: Mühlher, Dichtung d. Zeit vergessen lassen, daß die R.en Meyers Krise (1951) S. 147-230. Karl-Heinz S y l l a , in ihrem Prinzip, den Erzählprozeß sichtbar Der monumentale Stil C. F. Meyers als Symzu machen, Ansätze für moderne perspektiptom d. Zeitstils. (Masch.) Diss. Jena 1960. Klaus J e z i o r k o w s k i , Die Kunst d. Pervische Erzählweisen enthalten. spektive. Zur Epik C. F. Meyers. GRM. 48 In den Novellen S t o r m s werden die (1967) S. 398-416. — Louis W i e s m a n n , C. F. Meyer (1958) passim. Ε. F e i s e , Xenion Rahmen auf Begleit-Funktionen reduziert. (Baltimore 1950) S. 215-255: 'Die Hodizeit Die „Erzähleingänge" rufen Stimmungen des Mönchs', eine Formanalyse. Benno v. hervor, in denen Grundakkorde der BinnenW i e s e , Die dt. Novelle υ. Goethe bis Kafka, erzählungen anklingen: LandschaftsimpresBd. 2 (1962) S. 176-197 (Die Hodizeit des Mündts). sionen, Lebenshaltungen, Zeitdistanzen. Diese Anfangstempi beeinflussen die weitere Hans E i c h e n t o p f , Theodor Storms Erzählkunst in ihrer Entwicklung (1908; BtrdtErzähldynamik; durch den Erzähleinsatz in Litw. 11). E. Allen M c C o r m i c k , Th. Storm's den Binnenelementen wird sogleich ein StimNovellen. Essays on literary tedmique (Chamungswechsel bewirkt, Illusionsdurchbrepel Hill 1964; Univ. of North Carolina Stud, chung aber vermieden. Die Erzählperspektiin the Germ. lang, and lit. 47). ven Storms stehen lyrischen Kompositions§ 15. Paul H e y s e bedient sich ebenfalls prinzipen sehr nahe. der Manuskriptfiktion (Märttjrer der PhanDie Resignation des Immensee-Anfangs (1850) tasie, 1847; Beatrice, 1867; Die Stickerin von weist auf den unglücklichen Ausgang der BinTreviso, 1867), des fingierten Briefes (Die nengeschichte um die verlorene Jugendgeliebte; beiden Schwestern, 1868; Antiquarische die Novelle Ein Doppelgänger (1887) umfaßt Vergangenheit und Gegenwart als KontrastsiBriefe, 1900), des Tagebuchs (Unheilbar, tuationen; im Sdiimmelreiter (1888) erreicht die 1862), des Bekanntschafts-Rahmens (Frau Binnenerzählung erst durch die Tatsache, daß Marchese, 1876; Der Blinde von Dessau, ein „aufgeklärter Schulmeister" sie erzählt, spuk1898; Die Ärztin, 1902) und läßt Novellen hafte Wirkung. Storm lenkt den Leser bevvußt auf das „gesprochene Wort", bzw. das vor lanaus Gesprächen hervorgehen (Die Eselin, ger Zeit niedergeschriebene, und setzt die Ich1881; Die schwarze Jakobe, 1883). In zwei Form als Mittel der Vergegenwärtigung ein. Werken wird der Rahmen weiter ausgeführt. Gelegentlich weist er sich selbst als Erzähler aus (oder läßt einen Diditer in der Gesellsdiaft seiIm Zyklus In der Geisterstunde (1894) diener Freunde zum Erzähler werden), in anderen nen vier thematisch verwandte Beiträge als Fällen wird der Erzähler erst allmählich in das Diskussionsargumente wider die materialiBlickfeld des Lesers gerückt. Der fiktive Hörer stische Einstellung einiger Zuhörer. Die nimmt kaum Gestalt an, vielfach wird überhaupt auf ihn verzichtet; Rahmenhandlungen entwikPlaudereien eines alten Freundespaares keln sich nur vereinzelt. Das Dominieren des (1911/12) berühren wechselnde Themen; am Erinnerungsmomentes (Lebensgeschichte, BeichSchluß wird aus den beiden verwitweten te) führt zu chronikalischen Erzählungen, die Gesprächspartnern ein Ehepaar. R.en einschließen können; in Renate (1878) ist der Manuskriptfiktion die Erzählung eines alten Die Wahl dieser Einkleidungsformen Weibes vorangesdiidct, in Zur Chronik von steht im Zusammenhang mit der NovellenGrieshuus (1883) wird der Chronist durch die Heidestimmung („Hier hat Grieshuus gestantheorie Heyses. Stilisierung der Wirklichkeit den") veranlaßt, Material zur Chronik zusamund Wendepunktmedianismus des Erzähl-

cählung

gefüges täuschen „Klassizität" vor. Im Gesellschaftsbild der Rahmen und Expositionsskizzen spiegeln sich Selbstverständnis und Ideale des gebildeten Bürgertums. Die Intimität des Salons (Plaudereien eines alten Freundespaares) und die Gemütlichkeit der Erzählatmosphäre (Unwiederbringlich, 1916) befriedigen das Bedürfnis nach unangreifbaren Erzähl-Idyllen, in denen die Gesellschaft sich zugleich gegenüber dem Erzählten abschirmt. Die Typologie der Erzähler ist daher auch soziologisch von Interesse. In Jakob W a s s e r m a n n s Goldenem Spiegel (begonnen 1907, beendet 1911) bleibt das Gesellschaftsbild des Rahmens schemenhaft. Gemäß der im Dialog Die Kunst der Erzählung (DtRs. 1901, Buchausg. 1904) vertretenen Ansichten, sucht er vielmehr, das „unbegreifliche Spiel des Schicksals" zu gestalten. Die Bürgerlichkeit der Erzählgesellschaft wird zwar äußerlich gewahrt, aber die eigentliche Rahmenfiktion gleitet ins Zeitlose hinüber.

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gebracht. Das Buch der Felsen und das Buch des Gartens führen den Leser in ein gralsburgähnliches Sdiloß, in dem der Hausherr seine Gäste mit hypnotischen Mitteln zu Erzählungen veranlaßt. Im eingeschalteten Buch der Herberge erzählt Abt seine drei Geschichten Bettlern; im letzten Buch der Sonnen und Sterne weitet sich der Rahmen zur Liebeshandlung (Abraham Abt und Beate). Hier tritt ein neuer Wechsel der Erzählhaltung ein. Abt wendet sich mit der Geschichte vom Müller allein an seine Geliebte. Nach ihrem Tode rüdct die Wanderschaft des Vereinsamten und Enttäuschten in den Mittelpunkt des Geschehens; die Geschichte vom Knechte Isenbein erscheint als Monolog. Keine einzige Geschichte weist einen glücklichen Ausgang auf.

Georg von O m p t e d a bezieht in seiner Tafelrunde (1913) für Rahmenschauplatz und -situation (ein Chateau vor Paris während der Belagerung 1871) die Zeitgeschichte stärker ein. Auch die Beispielerzählungen, durch „Stimmungen" aufgeladen, sind „zeitgemäßer" Durch den Titel „Novelle" für den ganzen Zyklus wird die Selbständigkeit des Rahmens stark betont.

Victor H a d w i g e r s Roman Abraham Abt (postum 1912) verdient wegen seiner gegensätzlichen Stilebenen Interesse. Neben neuromantischen Stimmungsmitteln kündigen sich expressive Ausdrucksformen an. Lyrische Passagen, Novellensachlichkeit und Satire greifen ineinander, das Künstlerschicksal Abts wird zum Vermächtnis des Dichters.

Paul E r n s t hat vor allem durch seine fruchtbare editorische Tätigkeit auf die klassizistische Formerneuerung Einfluß genommen. Die von ihm herausgegebenen und mit einem Prolog-ähnlichen Rahmen versehenen Altitaliänischen Novellen (1902) sind als Beitrag zur Novellen-Poetik bedeutsam. Aber er empfand bald das Formalistische der redaktionellen Zyklus-Rahmungen; so verzichtete er in der 2. Ausgabe seiner Gesammelten Werke (1928 ff.) auf den gemeinsamen Rahmen, den er seinen drei Novellensammlungen Die Hochzeit (1913), Die Taufe (1916) und Der Nobelpreis (1919) gegeben hatte. — Die R. hatte sich nach einer mehr als hundertjährigen Ausbreitung in der dt. Lit. abgenutzt, alle Wiederbelebungsversuche der Neuklassiker (zuletzt Wilhelm v. Scholz, Vincenzo Trappola, 1921) konnten darüber nicht hinwegtäuschen. Mit der Besinnung auf alte Formen waren Erzählkonventionen schwerlich zu durchbrechen. Dennoch entstanden auch in den folgenden Jahrzehnten R.en, in denen Rahmen- und Binnenelemente durch neue Kombinationen überzeugten. Nur einige Werke seien genannt.

Hadwiger hat die hier vereinigten und bereits früher publizierten Novellen vier Büchern zugewiesen und durch das Motiv der Wanderungen seines Helden auf eine Handlungslinie

In ihrem Alterswerk Die Nacht im Teppidtsaal (1933) verzichtet Isolde K u r z auf den gesellschaftlichen Rahmen. Durch die monologische Vergegenwärtigung von 6 Liebesgeschich-

Die Schauspielerin Franziska und ihre Freunde (ein Arzt, ein Privatgelehrter (Archäologe), ein angehender Diplomat und ein junger Ingenieur) bilden den Rahmen für den Erzählwettstreit um den von Franziska als Preis ausgesetzten „goldenen Spiegel der Aphrodite". Wassermann hat die nach Stil und Inhalt sehr unterschiedlichen Beispielerzählungen (darunter eine Geschichte über Gauguin und van Gogh) in ein Gesprächsgewebe aus Argumenten, Erlebnissen und Anekdoten eingeflochten und schon durch die Rahmeneinleitung, das plötzliche Verschwinden Franziskas und ihr völlig verändertes Wesen bei der Rückkehr nach Jahresfrist, für Spannung gesorgt. Die Erzählungen tragen dazu bei, daß schließlich Franziska selbst zum Sprechen über ihre schicksalhafte Begegnung mit dem Abenteurer Riccardo Troyers gebracht wird. Der zuletzt erzählten Lebensgeschichte des Ingenieurs wird der Preis zuerkannt. Doch inzwischen ist der Haus-Affe Quäcola mit dem Spiegel entlaufen, der unauffindbar bleibt. Das Werk endet mit einer jugendstilhaften Stimmungsszene.

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Rahmet

ten aus der ital. Renaissance läßt sie den Leser an der dichterischen Inspiration ihres „Wanderers" teilnehmen. In Kurt Kluges Nocturne (1939) gerät ein Reisender in ein unbekanntes Gasthaus, in dem zwei Bilder Anlaß zu einer Phantasie um das Schicksal der „echten Charlotte", der Tochter Marie-Antoinettes, werden. Stefan Andres verknüpft in der Erzählung Das Grab des Neides (1940) eine antike Legende mit der Lebensbeichte eines einsamen Inselbewohners und kleidet diese zweifache Gestaltung des Kain- und Abel-Motivs in einen Reisebericht ein. In der Novelle Der spanische Rosenstock (1940) läßt Werner Bergengruen einen jungen Dichter seiner Geliebten anläßlich der bevorstehenden längeren Trennung eine gleichnishafte Geschichte erzählen; im Letzten Rittmeister (1952) schließt der alte Erinnerungsrahmen memoirenähnliche Erzählungen ein. In Stefan Zweigs Sdiachnooelle (1943) ist die Rahmensituation durch zwei Spiele mit unterschiedlichem Ausgang gegeben; die eingeblendete Lebensgeschichte des Dr. B. offenbart eine menschliche Tragödie. Gertrud von Le F o r t setzt in der Erzählung Die Verfemte (1952) Kriegsschickeale der Jahre 1675 und 1945 zueinander in Beziehung; daneben verwendet sie das Tagebuch (Die Unschuldigen, 1952) und die Manuskriptfiktion (Am Tor des Himmels, 1954) und sucht durch zeitgeschichtliche Konfrontation den Sinn für die Geschichte als Glaubenserfahrung zu wedeen. — Eine zyklische R. von großer Breitenwirkung gelang Hans Scholz mit dem Unterhaltungsroman Am grünen Strand der Spree (1955); der Erzählort (eine Berliner Bar) und die sechs Binnenerzählungen gefallen durch Fabulierlust und Lokalkolorit, aber die gesellschaftskritischen Möglichkeiten des Themas bleiben ungenutzt. Kathi Broekmann, Sprache u. Stil in Heyses Italien. Novellen; die Beziehungen d. NoOellenform Heyses zu der d. Boccaccio. (Masch.) Diss. Köln 1923. Max W. Quadt, Die Einkleidungsform d. Novellen Paul Heyses. GermRev. 2 (1927) S. 26-39. Manfred S c h u n i c h t , Die Novellentheorie u. Novellendichtung Paul Heyses. (Masch.) Diss. Münster 1957. — Ruth Hübler, Isolde Kurz 'Die Nacht im Teppichsaal. Erlebnisse e. Wanderers'. Interpretation e. zykl. R. (Masch.) Diss. Tübingen 1954. — John C. B l a n k e n a g e l , The Writings of Jakob Wassermann (Boston 1942). — Ferd. Jos. S c h n e i d e r , Victor Hadwiger, 1878-1911 (1921) S. 32-45. § 16. In der e x p r e s s i o n i s t i s c h e n Prosa wurde zunächst kein neues Rahmenprinzip ausgebildet; G. Heym, A. Döblin und G. Benn redigierten ihre Novellensammlungen ohne Einkleidung; in K. Edschmids Sechs Mündungen (1915) kommt das zyklische Moment nur in Titel und Vorwort zur Geltung; die fünf novellistisch gestalteten Einzelschicksale in L. Franks Der Mensch ist gut (1918)

sind Teile einer Gesamtkonzeption. Der Ruf nach gesteigerter Intensität des Ausdrucks ließ den Gedanken an solche „veralteten" Mittel nicht aufkommen; ebenso ist vom Typus der chronikalischen Erzählung in Carl Sternheims Novellensammlung Chronik von des 20. Jahrhunderts Beginn (1918) allein der Titel Übriggeblieben. Am Ende dieser Stilphase benutzt Hans Henny J a h n η in seinem Roman Perrudja (1929) die Folie des Bildungsromans, um Handlung und einzelne in sich abgeschlossene Erzähleinheiten zu verketten. Dabei bedient er sich teilweise der Lese-Fiktion (Sassanidischer König, Die Geschichte eines Sklaven). Anderes ist episodisch eingeflochten (Ein Knabe weint, DieMarmeladenesser), aber Gattungsprobleme und formale Zuordnungen sind weniger wichtig: die eruptive Gewalt der Assoziationen und der mitreißende Erzählfluß lassen auch das rahmenkompositorische Phänomen des Romans in einem großangelegten erzählerischen Fugato untergehen. Die 1954 erschienenen 13 nicht geheuren Geschichten verwenden Erzählmaterial des Romans und sind ein Beispiel für die rückläufige Redaktion von Erzählungen. In Weiterführung der seit Carl Einstein gepflegten „absoluten Prosa" produziert die jüngere Generation mit Vorliebe „Texte". In ihnen treten Erzähler und Publikum als Gegenstand des Erzählens zurüdc, doch sind im Prinzip der Erzählmontage wieder Neuansätze für Rahmenkonstruktionen enthalten. Der stärkste Antrieb für neue R.en bleibt der W i l l e zu b e i s p i e l h a f t e m E r z ä h l e n , wobei didaktische Inhalte nicht allein formprägend zu sein brauchen. Alfred D ö b lins Hamlet, oder Die lange Nacht nimmt ein Ende (geschrieben 1945/46, veröffentlicht 1956) zeigt, wie das Erzählen selbst als Problem begriffen und gestaltet werden kann. Der schwerverwundet aus dem Kriege heimgekehrte Edward Allison wird von Döblin in die Rolle eines „modernen Hamlet" versetzt, der durch die Aufklärung der „Strindberg-Ehe" seiner Eltern die eigene Existenz wiederzufinden hofft. Aus den „Kreuzverhören" wird ein „Prozeß"; der Zeitvertreib geselliger Erzählungen im Landhaus des Vaters, eines berühmten Schriftstellers, enthüllt die Erzählfiktionen als Teile einer Traumwelt der Erzähler. Der Hausarzt glaubt anfangs noch an ihre therapeutische Wirkung („man muß Nerven für eine solche Kur haben. Wir erzählen eben nicht Märchen k la Tausendundeine Nacht", S. 182), aber die Ehe-

Rahmenerzählung — Realismus

tragödie ist nidit mehr aufzuhalten; sie schreitet in gleichem Tempo fort wie Edwards Genesung und Befreiimg vom Kriegstrauma. Die Binnenerzählungen sind organische Glieder des Ganzen; sie gehören zum „Hamlet-Spuk" des Romans, zu den poetischen Verschleierungen und Lügen und ihren gleichnishaften Entschlüsselungen. Döblin legt jeweils die Motivierungen der einzelnen Erzählungen frei und beschreibt die tragische Wechselbeziehung von Phantasie und Realität; seine Erzählhaltung verrät den Psychoanalytiker. In den beiden umfangreichsten Binnenerzählungen Die Prinzessin von Tripoli (einer Kontrasterzählung zu Swinburne) und der Geschidite von König Lear (einem „Kommentar" zur Tragödie Shakespeares) werden poetische Legendenoildungen entlarvt. Die Erzählungen der Mutter Edwards umfassen Erlebtes (zwei Geschichten, die um das vergebliche Warten einer Mutter auf den Sohn kreisen) und Literarisches (Die Geschichte Theodoras) und erreichen ihren Höhepunkt in einer selbstquälerischen Bilddeutung (Pluto und Proserpina). Mit den Sonetten Michelangelos und der Geschichte Michelangelo und die Liebe versucht der Vater, sich eine Deutung des eigenen Schicksals zurechtzulegen. Edward formuliert in einer Kurzerzählung Der Löwe und das Spiegelbild das Motto aller Geschichten: „Wir schlagen uns mit unseren eigenen Wahngebilden herum." Selbst die Lebensgeschichten der Eltern, aus verschiedenen Perspektiven erzählt, sind als umfunktionierte Binnenerzählungen Teile dieses Erzählsystems, in dem auch Gespräche (Über den Illusionismus in der Malerei) und Zitate (Kierkegaard, Buddha) nicht fehlen. Die zerfallende Bürgerlichkeit der Rahmensituation bezeichnet den gesellschaftskritischen Standpunkt Döblins. Max F r i s c h s Roman Stiller (1955) berührt Grenzbereiche der R. Manuskriptfiktion (Stillers Gefängnisaufzeidinungen), Herausgeber-Fortsetzung (Nadiwort des Staatsanwalts), Elemente der Kriminalgeschichte und Erzählschachtelungen werden als Rekonstruktionsmittel eingesetzt, um das Verhalten des Helden als Identitätsproblem zu veranschaulichen. Aus diesem Spannungsfeld von Roman und R. sind auch in der Zukunft neue Impulse zu erwarten. Ein Meister beispielhaften Erzählens (und szenischen Demonstrierens) ist Bert B r e c h t . Man entdeckt bei ihm viele Rahmenformen; die Tatsache, daß sie Bestandteile seiner Dramen sind, darf nicht der Grund sein, sie aus der Betrachtung der R.en auszuschließen. Episches Theater und Erzählperspektiven berühren sich eng, und gerade Brecht hat die „Ursituation" des Erzählens wieder wirkungsvoll ins Licht gerückt; erinnert sei nur an die Finnischen Erzählungen in Herr Pun- \

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tila und sein Knecht Matti (1940) und an das Vorspiel zum Kaukasischen Kreidekreis (1944/45). Wie das Vorspiel dienen auch andere Rahmenformen bei Brecht der „ Aufdekkung gesellschaftlicher Kausalitäten". Aus dem „Viergesprädi über eine neue Art, Theater zu spielen" (Der Messingkauf) und den Übungsstücken für Schauspieler (1939/40) entstand der Brecht-Abend Nr. 3 des Berliner Ensembles (1964); durch fünf Gespräche und vier Einlagen wird eine Poetik aufgebaut, die Grundformen des Rahmenerzählens in sich aufgenommen hat. Unter den Prosawerken zeigt das Fragment Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar (entst. 1938, Buchausg. 1957) Rahmen-Struktur; hier wird die Manuskript-Fiktion (Aufzeichnungen des Sklaven Rarus) ihrer traditionellen Gefühlswerte beraubt und das Erzählprinzip der „legitimierenden" Einführung zu einer ironischen Abfertigung des vorgeblichen „Biographen" und seiner Helfershelfer benutzt. Theodor A d o r n o , Noten zur Literatur. Bd. 1 (1958; Bibliothek Suhrkamp 47) S. 61-72: Der Standort des Erzählers im zeitgenöss. Roman. — Rüdiger W a g n e r , Η. H. Jahnns Roman 'Perrudja'. Diss. München 1965. — Wolfgang Gr ο t h e , Die Theorie des Erzählens bei A. Döblin. Text und Kritik 13/14 (Juni 1966) S. 5-21. Dieter B a a c k e , Erzähltes Engagement. Antike Mythologie in Döblins Romanen. Ebda, S. 22-31, bes. S. 26-28. Stefanie M o h e r n d l , 'Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende'. (Masch.) Diss. Graz 1964. — Eduard S t ä u b l e , Max Frisch (2. Aufl. 1960). Monika W i n t s c h - S p i e s s , Zum Problem d. Identität im Werk Max Frischs (Zürich 1965). Max G a s s m a n n , Max Frisdi. Leitmotive d. Jugend. (Masch.) Diss. Zürich 1966. Werner K o h l s c h m i d t , Selbstrechenschaft u. Schuldbewußtsein im Menschenbild d. Gegenwartsdiditung. E. Interpretation d.'Stillet? von Max Frisch u. d. 'Panne' v. F. Dürrenmatt, in: Das Menschenbild. Sieben Essays hg. v. Albert Schaefer (1965; Bedc'sche Schwarze Reihe 34) S. 174-193. — Ernst N i e k i s c h , Heldendämmerung. Bemerkungen zu B. Brechts Roman 'Die Geschäfte d. Herrn Julius Caesar'. Sinn u. Form. Brecht-Sonderh. 1 (1949) S. 170-180. Käthe R ü l i c k e - W e i l e r , Die Dramaturgie Brechts (1966). Emst N e f , Das Aus-der-Rolle-Fallen als Mittel d. Illusionszerstörung bei Tieck u. Brecht. ZfdPh. 83 (1964) S. 191-215. Klaus Kanzog Realismus

§ 1. Die Vieldeutigkeit des B e g r i f f s R., bezogen auf die literar. Darstellung einer äußeren (objektiven) oder inneren (subjektiven) Erfahrungswirklichkeit, die der empi-

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Realismus

rischen Erfahrungswirklichkeit analog erscheint, weiterhin als Bewußtseinslage gegenüber der umgebenden Welt verstanden und endlich bezogen auf die Intentionen und Formen der Darstellung und deren Funktionsbestimmung, ist in den letzten Jahrzehnten der internationalen Forschung unter poetologisch-kritischer wie historischer Problemstellung nachdrücklich bewußt geworden. Sie hat zu einer mannigfaltig begründeten Skepsis gegenüber der wissenschaftlichen Brauchbarkeit eines so vage und diffus erscheinenden, zudem durch unreflektierten Gebrauch entwerteten Begriffs geführt; sie hat lebhafte Diskussionen über Möglichkeiten und Grenzen seiner Definition unter vielen Problemaspekten ausgelöst. Sie wurden um so komplexer, je deutlicher bewußt wurde, daß das Verhältnis zwischen Kunstwerk und Wirklichkeit ein generelles und fundamentales Problem in der Ästhetik aller Künste ist, sich aber je nach ihrem Typus und Charakter, weiterhin je nach der Geschichtszeit und Bewußtseinslage, in der es sich stellt, modifiziert und differenziert; ebenso dadurch, daß der literar. R. zwar ein allen Literaturen inhärentes Phänomen ist, das sich nicht lediglich auf ihre neuzeitlichen oder spätneuzeitlichen Phasen beschränkt, aber sich in den einzelnen nationalsprachlichen Literaturen aus einer Vielzahl historischer und formgeschichtlicher Voraussetzungen jeweils so unterschiedlich darstellt, daß kaum möglich ist, seine Entwicklung und Ausi rägung in der einen Lit. mit generellen Formeln und maßstäblicher Geltung auf eine andere zu übertragen. Damit ist nicht nur die quantitative und qualitative Bestimmung des Stofflichen gemeint, auch nicht nur dessen faktischer und geistiger Aktualitätsrang, sondern ebenso, in welchen künstlerischen Methoden sich formal-stilistisch ein R. objektiviert. Allgemein deutlich wurde, daß ein naiver, unkritischer Gebrauch des Begriffs, wie er seit dem 19. Jh. lange, mit pauschalen Übertragungen auf frühere Epochen und Stilrichtungen geläufig war, sich wissenschaftlich selbst negiert. Daß, aus der Sache, dem Problemobjekt heraus, bisher nicht möglich wurde, zu einer definitiven oder nur relativ einheitlichen Begriffsklärung zu gelangen, macht den folgenden Uberblick zu einem offenen Problembericht, im Gegensatz zu dem Bericht in der 1. Auflage. Er vermag, in Stich-

worten, historische Stilphasen zu skizzieren, auch eine Begriffsgeschichte anzudeuten, aber er ist nicht legitimiert, einen Oberbegriff R. gegenüber dessen Wandlungen innerhalb der einzelnen Epochen, Literaturen und ästhetisch-poetologischen Auffassungsformen zu einer Formel abzuschließen. Sie würde zu weit, um konkret sinnvoll zu sein, oder zu eng, um die Objektdimension zu umfassen. § 2 . E s ist zu unterscheiden: Als e r s t e s das generelle ä s t h e t i s c h e P r o b l e m der Spannungspolarität zwischen Kunst und Wirklichkeit, das dialektisch allen Kunstarten und Stilformen eingelegt ist, auch dort also, wo in der Opposition zu irgendwelchen Formen der Imitatio und realistischen Illusion die Künste eine Beziehung zur außerkünstlerischen Realität verneinen und das Postulat autonomer ästhetischer Eigengesetzlichkeit dogmatisieren. So wenig geleugnet werden kann, daß jedes literar. Werk im Medium der Sprache einen Bezug zur Erfahrungswelt hat, mit der sie dies Medium, wie es auch ästhetisch verändert oder philosophisch gedeutet werde, teilt, so wenig weiterhin zu übersehen ist, daß es immer einen Bezug zur „Wirklichkeit" hat, wie verschieden sie sich aktuell in Erfahrung, Vorstellung und Imagination, in der Zuordnung des Fiktiven und Realen, des Geistigen und des Faktischen, des Ideellen und des Konkreten darstellen möge — es ist festzuhalten, daß das Kunstwerk der Fiktion und die empirische Erfahrungswirklichkeit inkommensurabel sind und verschiedenen Seinsbereichen angehören. Das Kunstwerk ersetzt und kopiert nicht die Realität, es stellt selbst eine ästhetische (geistige, dichterische) Realität her, die nach eigenen Gesetzen konstituiert ist und in deren Sinnzusammenhang eine Wahrheit darzustellen beansprucht, die nur ästhetisch mitteilbar ist, nicht aber über eine außerliterarische Faktizität informiert. E s ist für die ästhetische (nicht hingegen für die historischdeskriptive) Fragestellung unergiebig, den realistischen Kunstcharakter eines Werkes daran zu messen, welche Quantität an realistischem Detail es enthält, zumal dies einer nicht abgrenzbaren historischen Relativität unterliegt und nicht nur für jede geschichtliche Phase, auch für jede literar. Gattimg und Darbietungsform unterschiedlich bestimmt werden müßte. Ebenso unergiebig

Realismus erscheint, nadi Rangqualitäten des Realen zu fragen; sie unterliegen der gleichen Relativität, zusätzlich der Relativität des Blickpunktes des analysierenden und wertenden Interpreten. Was zu bestimmter Zeit, an bestimmtem Ort als hochgradige Realitätsaussage wirkt, kann aus anderer Perspektive als realitätsarm, sogar als Realitätsverfehlung beurteilt werden. Solche Diskrepanzen haben sich ζ. B. auch angesichts der Bewertung kritischer Darstellung der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit ("outer reality') oder der Darstellung des Objektiven im Reflex des Subjektiven, also aus innerer Bewußtseinsperspektive ('inner reality') eingestellt, wie sie sich vorwaltend im dt. R. darbietet. Die Frage nach Umfang, Auswahl, Genauigkeit und Eigenart des Stofflichen in einem literar. Werk gibt zwar eine Fülle historischer Information über das Verhältnis eines Autors zu seiner Zeit und deren Geschichte, über die historische Position des Werkes, seine möglichen Wirkungen und Funktionen im historischen Bewußtseinsprozeß. Sie kann auch graduelle Unterschiede stilhistorischer Valenz angesichts des Verhältnisses zwischen literar. Darstellung und zeitgenössischem Realitätsstoff erkennbar machen. Sie läßt jedoch die Frage nach dem R. als ästhetischem Phänomen, nach Methoden und Formen seiner Objektivation in der literar. Darstellung außer acht, jene Frage also, die den R. als ästhetisch-stilistisches Gestaltungsproblem erkennt. § 3. Als z w e i t e s die s t i l t y p o l o g i s c h e Fragestellung. — Sie geht von einem typologischen Begriff R. aus, der, grundsätzlich von überhistorischer Artung, in allen Geschichts- und Stilepochen möglich ist und dialektisch mit wechselnden Gegenbegriffen wie ζ. B. Idealismus, Romantizismus, Abstraktion, Sentimentalismus verknüpft wird. E r wurde einerseits vielfach aus anthropologischen, weltanschaulichen und psychologischen wie soziologischen Allgemeinvoraussetzungen interpretiert, ist aber andererseits auf fruchtbare, literaturimmanente Weise von Erich Auerbach als „Interpretation des Wirklichen durch literarische Darstellung oder Nachahmung" in der Weltliteratur analysiert worden. Auerbach bezieht ihn auf bestimmte Grundkomponenten, die innerhalb seiner wandlungsreichen Geschichte prinzi-

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piell wiederkehren. E r wird als Darstellung „der alltäglichsten Vorgänge der Wirklichkeit in einem ernsten und bedeutenden Zusammenhang" charakterisiert, die, im Mittelalter wie in der Neuzeit von grundsätzlich gleicher Art und Tendenz, die klassische bzw. klassizistische Unterscheidimg verschiedener Höhenlagen des Stils, wie sie in der Rhetorik begründet ist, durchbricht und aufhebt. Auerbach zeigt sich in dieser These besonders an der romanischen Literaturentwicklung orientiert. E r erweitert diesen stilhistorischen Aspekt um eine zweite Grundkomponente, die dort von R. sprechen läßt, wo eine Enthüllung der nicht mehr ideologisch überformten Wirklichkeit einsetzt, die den Menschen in Grenzsituationen der Not, des Leidens versetzt. Es handelt sich da nicht um einen 'sozialen', sondern 'existentiellen' Realismus. Rene Wellek hat kritisch akzentuiert, daß in Auerbachs R.-auffassung derart die stilhistorische, auf das Gesellschaftliche zurückreflektierende und die existentielle Interpretation unvermittelt nebeneinandertreten. Auerbach vermeidet, der Schwierigkeit einer Definition und Geschichte des „Realismus überhaupt" bewußt, Generalisierungen vorzunehmen, und er hält den Blick für dessen unterschiedliche Erscheinungen offen. „Die Anschauung von der Wirklichkeit, die aus den christlichen Werken der Spätantike und des Mittelalters spricht, ist vollkommen anders als die des modernen Realismus" (S. 495). Dennoch geht es ihm im Wechsel der geschichtlichen Erscheinungsweisen um eine differenzierte Typologie, die den R. als „Maß und Art des Ernstes, der Problematik oder Tragik in der Behandlung von realistischen Gegenständen" (S. 496) auffaßt. Es geht hier nicht um das Stoffliche der Wirklichkeit, sondern um einen bestimmten Aspekt ihrer Interpretation. Die Auswahl dessen, was von Auerbach als exemplarisch realistisch interpretiert wird, verrät eine zu enge Begrenzung dieses Aspektes. E r eliminiert andere Interpretationen der Wirklichkeit, wie sie sich aus ethischem, didaktischem, idyllischem, humoristischem, komischem und selbst tragischem Aspekt ergeben, und schließt derart den dt. R. des 19. Jh.s aus, da er, trotz der Ansätze am Ende des 18. Jh.s, nicht zum Hauptmerkmal des modernen europäischen R., nämlich „ernster Darstellung der zeitgenössischen alltäglichen gesellschaftlichen

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Realismus

Wirklichkeit auf dem Grunde der ständigen geschichtlichen Bewegung" (S. 460) gelangt ist. Was dichterisch deutsche Autoren wie Stifter oder Keller an reinerem, innigerem Entzücken als Balzac, Flaubert oder Zola dem Leser geben (S. 458), zieht ihrem R. die von der weltliterarischen Entwicklung abschneidende Grenze. Auerbachs Kritik hat in mancher Hinsicht, parallel der Kritik durdi G. Lukäcs unter der Perspektive gesellschaftswissenschaftlich-marxistischer Interpretation, in der internationalen Diskussion ein breites Echo gefunden, das sich zu der Formel vereinfachen läßt, über der Akzentuierung der 'inner reality' sei in Deutschland die adäquate literar. Darstellung der 'outer reality' versäumt worden; zumindest seit Goethe. („Als Ergebnis bleibt, daß Goethe die Wirklichkeit des ihm zeitgenössischen gesellschaftlichen Lebens niemals dynamisch, niemals als Keim werdender und zukünftiger Gestaltungen dargestellt hat" (E. Auerbach S. 397). „Die Zerstückelung und Einschränkung des Realistischen blieb audi bei seinen jüngeren Zeitgenossen und bei den nächsten Generationen die gleiche; bis gegen Ende des 19. Jh.s blieben die bedeutendsten Werke, die überhaupt Gegenstände der zeitgenössischen Gesellschaft ernsthaft zu gestalten suchen, im halb Phantastischen oder Idyllischen oder doch wenigstens im engen Bezirk des Lokalen; sie geben das Bild des Wirtschaftlichen, Gesellschaftlichen und Politischen als ein ruhendes." (S. 399). G. Lukäcs radikalisierte solche Kritik an der dt. Lit. trotz ihrer einzelnen progressiven Ansätze (Kleist, Heine, Büchner, Keller, Raabe, Fontane) aus der Perspektive der objektiven Rückständigkeit der ökonomisch-gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich literarisch-ideologisch widerspiegelt, die Ausbildung eines kritisch-progressiven und objektiven politischgesellschaftlichen R. verhindert hat. Indem der einzelne Autor, trotz kritischer Bewußtseinsansätze, aufgrund der deutschen historischen Realität nicht in der Lage war, den objektiven dialektischen Gesellschaftsprozeß darzustellen, konnte er nicht zur vollen künstlerischen Entwicklung des R.vordringen, der, auf eine andere Weise als von E . Auerbach, als ein Typus der Interpretation der Wirklichkeit verstanden wird. Diesen Typus bestimmt bei Lukäcs die marxistische Gesellschafts- und Geschichtsphilosophie; der lite-

rarsoziologische Aspekt geht in den geschichtssoziologischen ein. Die Geschichte des dt. R. ist derart eine Geschichte des verhinderten Realismus: in der Epodie vor der Revolution von 1848/49, die als „letzte große progressive Aufschwungsperiode . . . aus objektiv gesellschaftlichen Gründen in den großen Formen keinen spezifisch deutschen zeitgemäßen realistischen Stil ausbilden" konnte (Dt. Realisten d. 19. Jh.s S. 10), wie nach deren Scheitern, das „die ideologischen Krankheiten des deutschen Geistes und damit der deutschen Literatur" (S. 13) endgültig machte. Zwar zeigt Keller eine schweizerische politische Sondersituation, erringen Raabe, Storm ihre Leistung aus der Opposition gegen die Zeit, aber ihr Lebenswerk ist „mit provinziellen, engen und skurrilen Zügen behaftet", weil ihre Opposition nicht entschieden, nicht prinzipiell genug war, was seine Gründe in der gesellschaftlich-politischen Gesamtbewußtseinslage hatte. Auerbachs Maßstab war die Kunstleistung des franz. R., Lukäcs' Maßstab ist daneben die Frage, was der sozialistische R. (s. d.) kritisch als lebendiges Erbe aus dem dt. R. aufzunehmen vermag. Bei beiden kombiniert sich die historische Fragestellung mit typologischen Perspektiven entsprechend ihrer Typusdefinition dessen, was als R. verstanden wird. Wie die internationale und die deutsche Diskussion zeigt, haben der weltliterarische und der soziologische Aspekt wesentlich auf die Neubestimmung des Begriffs R. in der dt. Lit. eingewirkt, seine Grenzen so wie aber auch die Grenzen dieser Aspekte bemerklich gemacht. Denn sie haben in vereinfachter Anwendung dazu geführt, daß der Begriff R. überhaupt „kaum als charakteristisch für das 19. Jh." in der dt. Lit. angesehen wurde, da sie, sich bewußt vom Geschichtlichen der Zeit distanzierend, einerseits nur das Individuelle, Besondere, Sonderlinghafte, andererseits nur das Allgemeine, Typische, Abstrakte akzentuiert habe. (Claude David Zwischen Romantik u. R., 1966). Arthur Sydney M c D o w a l l , Realism. A study in art and thought (London 1918). Syed Zafarul H a s a n , Realism. An attempt to trace its origin and development in its chief representatives (Cambridge 1928). Erich A u e r b a c h , Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in d. abendländischen Literatur (Bern 1964; 4. Aufl. 1967; Slg.Dalp 90). — Georg L u k ä c s , Karl Marx u. Friedr. Engels als

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losophischen Sprachgebrauch längst geläufige Begriff auf die Künste übertragen wurde (ohne aus der Philosophie oder, wie bei W. Dilthey, aus der Typenstrukturenlehre der Weltanschauungen auszuscheiden), weist darauf hin, daß seine Deskription sich vor allem auf diese Zeit, die in ihr sich darbietenden literar. Konkretisationen zu begrenzen hat. In sie einbezogen ist das seit Aristoteles diskutierte Problem des Verhältnisses zwischen Kunst und Wirklichkeit, jedoch unter den spezifischen historischen Voraussetzungen dieses Jh.s, seiner Bewußtseinslage. (Poetik: „Da der Dichter ein Nachahmer ist, genau wie der Maler oder ein andrer Bildner, so muß man immer eines von den drei Dingen nachahmen, die es gibt: man soll die Wirklichkeit nachahmen, entweder so wie sie war oder ist, oder so, wie man sagt, daß sie sei, und wie man meint, oder so, wie sie sein soll."). Dies bezeichnet drei zentrale Aspekte: l.'eine Wiedergabe der Wirklichkeit aus Beobachtung (Erkenntnis) oder Ermnerung (Tradition) 2. ihre Wiedergabe nach den sie aufnehmenden inneren Erfahrungs- und Bewußtseinsperspektiven 3. ihre Wiedergabe unter dem Gesiditspunkt eines sie typisierenden Weitpostulats. Neben die Wiedergabe, wie sie ist, stellt sich eine Wiedergabe, wie sie sein soll. Einbezogen ist weiterhin die stiltypologische Fragestellung. Der europäische R. und besonders der dt. R. wird historisch und stilistisch stark durdi die Gegensatzspannung zur Tradition des Idealismus, Klassizismus und Romantizismus einerseits bestimmt, andererseits durch die ihn ablösenden, aber in ihm sich bereits vorbereitenden Folgephasen des Naturalismus, Symbolismus, der Subjektivierung spätneuzeitlicher Kunst. Die Diskussion, die werkimmanente Poetik der Autoren bleiben immer wieder auf diese Gegensätze bezogen; Otto Ludwig zielt in seiner Bestimmung des 'poetischen Realismus' beständig darauf, ihn gegen den Naturalismus und Idealismus abzugrenzen, zugleich darauf, deren Gegensätze in ihm zur Synthese als Vollendung des Künstlerischen zu versöhnen. Das Historische geht derart bei ihm wie ähnlich in der Ästhetik von F. Th. Vischer in das Typologische ein. Das Selbstverständnis des R. entwickelt sich in seinen wesentlichen Zügen aus solcher Gegensatzspannung.

Es erscheint nicht zweckmäßig, den Begriff ins Spiel zu bringen, wo es um die Nachfolge der aristotelischen Poetik in der klassizistischen imitatio naturae geht oder wo, wie seit dem MA. bis in das 17. Jh., Details der Wirklichkeit als Teilhaftes, sei es nun stofflich, didaktisch, satirisch, nach dem Gesetz der gewählten Stilebene, aufgenommen werden. Daß dies Prinzip der verschiedenen Stilebenen, wenn auch unter zunehmenden Mischungen, bis in das 19. Jh. hineinreicht, ist von der neuen Forschung mehrfach erwiesen worden (ζ. B. F. Sengle). Es verliert erst seine Geltung um die Jh.mitte, mit dem Einsatz des voll entwickelten Realismus. Man kann von ihm erst sprechen, wo das Detail der Wirklichkeit ganz aus der Funktion der Gegenbildlichkeit (heilsgeschichtlicher, moralischer, komischer, satirischer, idyllischer etc. Art) herausgelöst, als etwas an und für sich Selbständiges und Werthaftes dargestellt wird. § 5. Typologische, historische und literatursoziologische Aspekte verknüpfen sich in der Beobachtung, daß eine Tendenz zum R. dort eintritt, wo die Lit. Stoffe aus der bürgerlichen Welt, gemäß eines bürgerlichen Erfahrungs- und Wertungssystems und für ein bürgerliches Publikum aufnimmt. Dies gilt in der dt. Lit. bereits für das 16. Jh. (H. Sachs, J. Wickram, das protestantische Lehr- und Schuldrama) und macht sich, in der Auseinandersetzung mit anders bestimmten gesellschaftlich-literarischen, bzw. satirischen Stilebenen, zunehmend gegen Ende des 17. Jh.s bemerkbar. Die Verknüpfung von bürgerlichem Bewußtsein und Literatur führt im 18. Jh. in der europäischen Lit. zur dominierenden Tendenz zum Realismus. Frankreich und England übernahmen unter verschiedenen Voraussetzungen (Kampf gegen den Klassizismus, Anknüpfung an die Shakespeare-Tradition, Entwicklung des Romans) die Führung in der Diskussion des Verhältnisses zwischen künstlerischer Darstellung und Wirklichkeit und in der Ausbildung einer realitätsnahen Literatur. Stichworte müssen zum Uberblick ausreichen. Das Prinzip der imitatio naturae löste sich von der Vorstellung einer schönen, universalen oder typischen Natur zugunsten der Aufmerksamkeit auf das zeitlich, örtlich und individuell-konkret Begrenzte. An die Stelle des Primats des

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Ideal-Schönen und der ästhetischen Forde- flikten, Erfahrungen fiktiv dargestellte Welt rung nach Allgemein-Gültigem trat ein Kri- mit der gelebten realen Welt gleichsetzte. terium der Wirklichkeitsnähe und -vergleichBesondere Bedeutung kam für Diderot der barkeit, das nicht nur die Stoffwahl (zum Beachtung der lebenswahren kleinen Details partikular Charakteristischen, Individuellen, im Gegenständlichen und Psychologischen zum Alltäglichen, Unedlen und Häßlichen) zu. Der Realist wurde als „peintre de la naerweiterte, sondern auch die traditionellen ture" verstanden. Gattungswertungen und Stilerwartungen verGrundsätzliche, dem R. inhärente Fragen änderte und die ebenso traditionellen Sprachwurden bewußt; sie behandelten insbesonebenen aufhob. In Frankreich und England dere das Verhältnis zwischen Fiktion und entstanden, auf die gleichzeitige dt. Lit. ausWirklichkeit, Schein und Faktizität, Illusion strahlend, im Drama (comedie larmoyante, und Kunstcharakter; weiterhin zwischen Gebürgerliches Trauerspiel, Gesellschaftskomönauigkeit und Vielzahl des Details einerseits, die) und im Erzählen (Sittenroman, moralidem Postulat des Schönen andrerseits. Diese sche Beispielgeschichte, psychologischer und Fragen betreffen das Verhältnis zwischen fikautobiographischer Roman, das beschreibentivem Erzählen und geschichtlicher Realität, de Lehrgedicht) neue, einander verwandte zwischen moralischer, typischer Wahrheit Darbietungsformen. Sie verdrängten in Darund faktischer Wirklichkeit. Neben einen R. stellungsgegenstand und -methoden die „docals Wiedergabe der konkreten Erfahrungstrine classique", damit die klassischen Gatwelt stellt sich ein R. in Abbildung und Austungsformen (Epos, Tragödie, Ode) oder druck des Gefühls, der inneren Affekte (Gedrangen in sie ein; sie erhielten eine eigene fühlsästhetik des 18. Jh.s) und der ihnen Poetik und wurden zu Mitteln verstärkter korrespondierenden Wirkungserregung beim Wirklichkeitswiedergabe, die bis zu PostuZuschauer und Leser (z. B. J.-J. Rousseau, laten und Formen des Naturalismus oder Julie ou la nouvelle Helöise, 1761). Das psyVerismus führten. Insbesondere setzte sich chologische Interesse lenkte Beobachtung eine andere Bestimmung und Wertung des und Analyse auf die innere Realität, ihre Romans durch. La Varenne forderte 1738, „immense variete des nuances" (Diderot, also zur Zeit des franz. frühaufklärerischen Rousseau's Confessions 1765/70). Eine nicht Romans, in der Zeitschrift L'Observateur mehr abreißende Diskussion über den Roeine Umstellung des Romans von eingebilman ("roman historique') führte zu Bestimdeten Abenteuern und Fiktionen zu einer mungen des 'reel', die eine Begriffsprägung Wahrheit und Nachahmung des Wirklichen. 'Realisme' vorbereiteten. Sie begann sich Ähnliche Umwertungen erfuhr die beschreibald nach dem Beginn des 19. Jh.s in Frankbende Dichtung; in der Lyrik gewann, wenn reich durchzusetzen. („Diese Doktrin, die auch meist scherzhaft gemeint, das Genresich jeden Tag mehr durchsetzt und zur hafte an Spielraum. Diese durch ihre philotreuen Nachahmung nicht der Meisterwerke sophischen (Aufklärung, Empirismus) und nader Kunst, sondern der von der Natur angeturwissenschaftlichen Voraussetzungen und botenen Originale führt, kann man sehr wohl durch viele kunsttheoretische Diskussionen Realismus nennen. Nach einigen Kennzeichen sehr belebte Entwicklung (in England ζ. B. zu urteilen, wird er die Literatur des 19. Jh.s, Dr. Johnson's Kunsttheorie, im Drama G. die Literatur des Wahren sein." Mercure de Lillo, W. Congreve, R. B. Sheridan, im RoFrance, 1826). man D. Defoe, S. Richardson, Η. Fielding, L. Steme, im beschreibenden Gedicht S. Arnold Haus er, Sozialgeschichte d. Kunst u. Lit. (1953; Sonderausg. 1967). Rene W e l Thomson u. a.) gipfelte in Frankreich in D. l e k , History of modern criticism (s.o.). Alan Diderots Wertung der „petites circonstances" D. M c k i l l o p , The early Masters of English als Auslösungsmittel einer „illusion de reafiction (Lawrence 1956). Herman M e y e r , Das lite" (Eloge de Richardson, 1764), in seiner Zitat in der Erzählkunst. Zur Geschichte u. Poetik d. europäischen Romans (1961). NachForderung nach der Wirklichkeitsunmittelbarkeit des Dramas (Entretiens SUT le Fils . ahmung u. Illusion. Poetik u. Hermeneutik. Arbeitsergebnisse einer Forsdiungsgruppe: Nattirel, 1757). Der Leser oder der ZuschauHans Blumenberg, Clemens Heselhaus, Wolfer sollte in eine Illusion versetzt werden, gang Iser, Hans Robert Jauss. Kolloqium Gießen, Juni 1963. Vorlagen und Verhandlungen welche die in Gesellschaft, Personen, Kon(1964), darin insbesondere: Herbert D i e c k -

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m a n n , Die Wandlung d. Nachahmungsbegriffs in d. franz. Ästhetik d. 18. Jh.s, S. 28-59.

aber, trotz vermehrter Realitätsaufnahme im Drama (das Lustspiel, das bürgerliche TrauWerner Krauss, Zur franz. Romantheorie d. 18. Jh.s, S. 60-71. Hans Robert Jauss, Nach- erspiel seit G. E. Lessing), im Erzählen (der ahmungsprinzip u. Wirklidikeitsbegriff in d. Roman; Einfluß der englischen WochenTheorie d. Romans von Diderot bis Stendhal, schriften), in beschreibender Dichtung (Β. H. S. 157-178. Brockes u. a.) länger unter der Dominanz der Gattungsformen, und, als Gegenbild oder § 6. In der dt. Lit. des 17. J h. s erhält die Vorbild, der Wirkungsfunktionen (komischer, Darstellung von gehäuftem Wirklichkeits- satirischer, moralisch-didaktischer, rührender, detail, wie sie vornehmlich im Roman (Grim- idyllischer usw. Art). Dies limitierte das Ausmelshausen, J. Beer u. a.) dargeboten wird, maß an Realitätsdarstellung bis um die Jh.eine Stilisierung unter -Aspekten der Gegen- mitte. Man suchte im Realen das Typische, bildlichkeit, der Kontrastsprache, die mora- Exemplarische. Eine Realitätsdarstellung lisch-didaktisch, satirisch, komisch, parodiwurde weder in J. Ch. Gottscheds Critischer stisch und durch die Prinzipien des niederen Dichtkunst (1730), in der die imitatio naturae Stils bestimmt ist. Man hat angesichts des nicht als eine Nachahmung des Tatsächheroisch-galanten Romans von einem „Realichen, sondern des Wahrscheinlichen und lismus, der sich am Märchen ausrichtet" (C. Möglichen in der wahrscheinlichen Fiktion Lugowski S. 391) gesprochen; im Typus des der Fabel interpretiert wurde, noch in den Schelmenromans wird das nieder-alltägliche poetologischen Schriften von J. J. Bodmer Detail zum Material des moralisch oder komisch-satirisch Exemplarischen. „Und wo Be- und J. J. Breitinger zum Diskussionsgegenstand. Es heißt in J. J. Breitingers Critischer griffe wie 'Wahrheit', 'Wirklichkeit' geDichtkunst (1740), Dichtung müsse „ihre Oribraucht werden, gehören sie weder in die ginale und die Materie ihrer Nachahmung Ästhetik, noch gar in die Erkenntnistheorie, nicht so fast aus der gegenwärtigen, als vielsondern ausschließlich in die Ethik und die mehr aus der Welt der möglichen Dinge entMetaphysik Die Welt darzustellen, wie sie ist, heißt sie satirisch darstellen." (R. Ale- lehnen." Das Mögliche wird als Reich des wyn S. 368). Das Wirkliche wird mit dem Wunderbaren begriffen. (Faks. Ausg. StuttKomischen gleichgesetzt, es wird als Nega- gart 1966 Bd. 1 S. 57). Jedoch drängte das tion bzw. als Opposition zum Idealen inter- Denken der Aufklärung zunehmend zur gepretiert. Dies bedeutet Auswahl, Steigerun- sellschaftlich-moralischen und psychologischen Bewußtseinserziehung und Wirkung gen, Stilisierungen und Maskierungen des auf die konkreten, aktuellen Lebenszustände faktisch Realen. Offen bleibt, wieweit der Begriff 'Naturalismus' für solche wesentlich mittels deren literar. Darstellung. Auf dem Gebiet des Dramas leistete G. E. Lessing arealistischen Stilzüge rechtens gewählt ist. Entscheidendes mittels seiner eigenen TheoErst gegen Ende des 17. Jh.s zeichnet sich, unter Einfluß der europäischen Entwicklung rie des Dramas, von dessen psychologischen und auf bürgerlicher Gesellschaftsgrundlage, und sozialen Funktionen, wie dank der Vereine Wendung ab, die in Roman (J. Beer, mittlung von Diderots Theorie und Praxis Chr. Weise, J. Riemer) wie Drama (ζ. B. Chr. und des engl. Theaters seit Shakespeare. Im Weise, Masaniello, 1683) zur Aufnahme em- Roman hat künstlerisch konsequent Chr. M. pirischer, gesellschaftlich-alltäglicher Wirk- Wieland, unter Einwirkung der Schweizer lichkeit mit der Tendenz zur durchschnitt- Poetik, ihres Verbindens des Wunderbaren lichen bürgerlichen Lebenswelt hinleitet. ! mit dem Wahrscheinlichen, die Wendung zur Damit beginnt, unter noch anhaltender mo„Subjektivität der Welterfahrung" (W. Preiralischer Perspektive, ein Ausgleich zwischen | sendanz S. 79), zum typologisch Naturgedem hohen und niederen Stil, zwischen idea- I mäßen und zur Wiedergabe psychologischer listischer und satirischer Stilisierung und eine j Erfahrungswirklichkeit erreicht. Seine GeAnreicherung mit 'müßigem', d. h. illustrativ- schichte des Agathon (1. Fassung 1766) gab genrehaftem Detail aus der zeitgenössischen ein „Bild eines wirklichen Menschen . . . in Umwelt. welchem viele ihr eigenes und alle die Hauptzüge der menschlichen Natur erkennen möchDie dt. Entwicklung im 18. J h. folgte den ten". Wieland vermied noch, sich um der franz. und engl. Anregungen. Sie verharrte

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Herausarbeitung des Typisch-Exemplarischen willen auf das Partikulare und Individuelle der realen zeitgenössischen Lebenswelt einzulassen, doch meldete sich zunehmend die Erwartung (z. B. J. E. Merdc) realistischer Darstellung zeitgenössischer Wirklichkeit für den Roman an. Dem entsprach die Forderung nach originärer Wahrheit der Sprache. „Das, was man wahr empfindet, auch wahr auszudrücken, das heißt, mit jenen kleinen Beglaubigungszügen der Selbstempfindung, macht eigentlich den großen Schriftsteller, die gemeinen bedienen sich immer der Redensarten, das immer Kleider vom Trödelmarkt sind" (G. Ch. Lichtenberg). Der Akzent lag hier auf Analyse und Darstellung innerer Bewußtseinsprozesse, psychischer Konflikte und Erfahrungen. In Wielands Romanen zeichnet sich zuerst eine für die dt. realistische Erzählkunst charakteristische Polarität von faktischen Vorgängen und Bewußtseinsabläufen, also eine zweifache, äußere und innere Wirklichkeit ab. „Dies Verhältnis von subjektiver und objektiver Wirklichkeit kennzeichnet die weitere Geschichte der dt. Erzählkunst und bestimmt deren eigentümliche Struktur, so daß Wieland in ihr einen maßgeblichen Platz erhält" (W. Preisendanz). Wichtiger als die Wiedergabe zeitgenössischer Lebensrealität war, wie er Bewußtsein und Entwicklung des Menschen im Bedingungszusammenhang seiner konkret-geschichtlichen Modifikationen auffaßte. Es trafen viele Impulse in der dt. Lit. seit der Mitte des 18. Jh.s zusammen, ihr eine zunehmende Tendenz zum R. in Sujets wie Formen und Sprache zu geben. Zu den in der Aufklärung und in der neuen rationalkausalen und empiristischen Naturwissenschaft gegebenen Anlässen trat die von J. G. Hamann inspirierte Wertung des Sinnlichen, Besonderen, Individuell-Konkreten im produktiven Prozeß. Er setzte dem klassizistischrationalistischen Prinzip der Nachahmung der schönen Natur (Batteux) die Forderung nach schöpferischer Rückkehr zur ursprünglichen, elementaren Natur entgegen; eine Forderung, in der sich religiöse und realistische Antriebe verknüpften. Hamann, zugleich die englische Rückentdeckung der Volksdichtung, wurden Grundlagen von J. G. Herders Entwicklung des konkret-historischen Bewußtseins, das auf die individuell-spezifi-

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schen Lebensbedingungen (Zeit, Ort, Nation, Gesittung, Gesellschaft) hinwies, ebenso seiner Wertung des subjektiv-natürlich Ausdruckhaften, die das Einzigartig-Charakteristische über das Allgemein-Typische erhob. Wahrheit und Wirklichkeit der Natur wurden als unbegrenzbare Mannigfaltigkeit individueller Wesen und Erscheinungen verstanden. Zugleich verschärfte ein neues sozialkritisches Bewußtsein den Blick auf die gesellschaftliche Realwelt und ihre Zusammensetzung aus einer Vielzahl von Einzelzügen (im Drama J. M. R. Lenz, H. L. Wagner, der junge Goethe). Die psychologische Selbstdarstellung, ausgelöst durch die pietistische Analyse des Innenlebens, die sich daraus entfaltende Gefühlskultur, bettete die Autobiographie in die Realbedingungen der Umwelt ein (H. Jung-Stilling, K. Ph. Moritz, U. Bräker u. a.). Das Genrehafte erhielt in der Lyrik breite Ausführung und ernste Akzente (G. A. Bürger, J. H. Voß, J. P. Hebel), es wurde in der Idylle durch die heimatliche Folklore (Maler Müller) aufgefüllt. In der Erzählung intensivierte sidi ein psychologisch-kritischer Realismus (F. Schiller). Die Lyrik wurde Aussprache unmittelbar subjektiver Erlebnisfaktizität (G. A. Bürger, Ch. F. D. Schubart). Entsprechend vollzogen sich Veränderungen der Darbietungsformen und der Sprache, traten Darbietungsformen wie ζ. B. die Ballade in den Vordergrund. Solche Veränderungen wurden am weitesten zu einem expressiven Realismus im Drama (J. M. R. Lenz, Der Hofmeister, 1774, Die Soldaten, 1776) vorangetrieben. Der Annäherung von Literaturwerk und Realität folgte die Mischung der Töne, des Tragischen und Komischen und die ernste Aufnahme von Alltagsjargon, Standessprache, Mundart — durchweg auf Realitätsgehalt und Individualisierung der Sprachführung gerichtet. Die Literatursprache näherte sich dem Stil der gesprochenen Rede (Goethe Die Leiden des jungen Werthers), sie erhielt eine realistischhistorisierende Fassung (Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand, 1773) Es fielen stoffliche und sprachliche Begrenzungen, die traditionellen Auswahlgesetze gegenüber dem Schönen und Häßlichen wurden hinfällig, alles, was sich in der Natur des Lebens beobachten und erfahren Heß, wurde der beschreibenden und malenden Darstellung erlaubt. Jedoch wurde die Freiheit des ima-

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ginativen Verfahrens (Hochwertung des Schöpferischen, des Genies) nicht der lediglich faktischen Wiedergabe des Wirklichen geopfert. Es blieb die poetische Legitimation, es umzuformen, zu steigern, zu expressiven Wirkungen zu bringen. Es ist fraglich, ob E. Auerbachs Urteil zutrifft, es sei im Sturm und Drang ein R. erreicht worden, wie er im 19. Jh. in der dt. Lit. nicht wieder gestaltet wurde. Das Realistische wurde, unter dem Prinzip des schöpferischen Nachbildens- der Natur anstelle der Naturnachahmung, in das Poetisch-Expressive (Gefühl, Phantasie, Auswahl, Erhöhung zum Tragischen, Grotesken, Pathetischen, Provokativen) überführt. Spaltungen zwischen Subjektivismus und Naturalismus, zwischen Phantastik und Verismus sind für die Dichtung des Sturm und Drang (ζ. B. W. H. v. Gerstenberg, J. M. R. Lenz, F. Klinger, Chr. D. Schubart, G. A. Bürger, der junge Schiller) charakteristisch. Das Prinzip der Natur-Nachbildung setzte die produktive Imagination frei und verwandelte das Material der Wirklichkeit zum Material des schöpferischen Ausdrucks, der über das lediglich Reale hinausgriff. Wenn R. Pascal sagte, die Verschmelzung von imaginativer Erfahrung mit erfahrener Wirklichkeit sei eine der größten Leistungen des Sturms und Drangs und habe ihn zum geistigen Vater der Romantik und des R. gemacht, gilt dies insbesondere für den jungen Goethe (J. M. Merck: „Dein Bestreben, deine unablenkbare Richtung ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben; die andern suchen das sogenannte Poetische, das Imaginative zu verwirklichen, und das gibt nichts wie dummes Zeug", Diditung u. Wahrheit IV 18, Jub.-Ausg. Bd. 25, S. 67). Rieh. A l e w y n , Johannes Beer. Studien z. Roman d. 17. Jh.s (1932) S. 196-215: R. u. Naturalismus, wiederholt in: Dt. Barockforschung. Hg. v. Rieh. Alewyn (1965; Neue Wiss. Bibl. 7) S.358-371. Clemens L u g o w s k i , Wirklichkeit u. Diditung. Untersuchungen z. Wirklichkeitsauffassung H. v. Kleists (1936) S. 1-25: Die märchenhafte Enträtselung d. Wirklichkeit im heroisch-galanten Roman, wiederholt in: Dt. Barockforsdiung, S. 372-394. Wilh. V o s s k a m p , Zeit u. Geschichtsauffassung im 17. Jh. bei Gryphius u. Lohenstein. (1967; Lit. u. Wirklichkeit Bd. 1). — Joh. Jakob Β r e i t i η ger, Critische Dichtkunst (1740), Faks.-Ausg. (1966). Martin S o m m e r f e l d , Romantheorie u. Romantypus in d. dt. Aufklärung. DVLG. 4 (1926) S. 459-490. Bruno M a r k w a r d t , Ge-

sch. d. dt. Poetik. Bd. 2 (1956; PGrundr. 13, 2). Rieh. D a u n i c h t , Die Entstehung d. bürgerlichen Trauerspiels in Deutschland (1963; QF. 132). Wolfgang P r e i s e n d a n z , Die Auseinandersetzung mit. d. Nachahmungsprinzip in Deutschland u. d. besondere Rolle d. Romane Wielands {'Don Sylvio', 'Agathon'), in: Nachahmung u. Illusion (s. § 5) S. 72-93. Horst S t e i n m e t z , Die Komödie d. Aufklärung (1966; Slg. Metzler). Dieter K i m p e l , Der Roman d. Aufklärung (1967; Slg. Metzler). L. L. A l b e r t s e n , Das Lehrgedicht. E. Gesch. d. antikisierenden Sachepik in d. neueren dt. Lit. (Aarhus 1967). — Clara S t o c k m e y e r , Soziale Probleme im Drama d. Sturm u. Drang (1922; DtFschgn. 5). Roy P a s c a l , The German Sturm u. Drang (Manchester 1950), dt. Ausg. (1963; Kröners Taschenausg. 335). Karl S. G u t h k e , Englische Vorromantik u. dt. Sturm u. Drang (1958; Pal. 223). §7. Es ist hier nicht möglich, die Geschichte von G o e t h e s Realitätsbegriff, die Wandlungen seiner dichterischen Aufnahme und Darstellung von Wirklichkeit, die Grade und Phasen von deren Verwandlung, Einschmelzung ins Imaginative darzulegen. Grundsätzlich bleibt seine Vorstellung von Wirklichkeit auf die Wirklichkeit und Wahrheit der Natur, die in ihr erkennbaren Gesetze, Urformen, Urbilder bezogen; auch das Geschichtliche und Gesellschaftliche wird ihr zugeordnet. Ebenso grundsätzlich blieb ihm eine „einfache Nachahmung der Natur" (Einfädle Nachahmung der Natur, Manier, Stil, 1789) im untergeordneten Rang der fähigbeschränkten Kunstfertigkeit, „im Vorhofe des Stils" Dieser selbst hingegen ruht „auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge, insofern uns erlaubt ist es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen" Damit ist jener Symbolcharakter von Goethes dichterischer Sprache gekennzeichnet, der erneut nach der Mitte des 19. Jh.s entscheidend, wenn auch nicht mehr adäquat erreichbar, das Verhältnis zwischen Dichtung und Wirklichkeit, Poetischem und Realem in der dt. Erzählkunst bestimmt hat. In Goethes Jugendperiode liegt der Akzent auf der „Reproduction der Welt um mich durch die innere Welt" (Br. 21.8.1774), also auf der produktiv-imaginativen Subjektivität, im Alter liegt der Akzent in freiem Verhalten gegenüber dem Realen auf dem unendlichen poetischen Symbolbezug, einer geistigen Verchiffrierung des Realen. „Denn was soll das Reale an sich? Wir haben Freude daran, wenn es mit Wahrheit dar-

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gestellt ist, ja es kann uns audi von gewissen Dingen eine deutlichere Erkenntnis geben; aber der eigentliche Gewinn für unsere höhere Natur liegt doch allein im Idealen, das aus dem Herzen des Dichters hervorging" (zu Eckermann 18.1.1827). Wenn Goethe von einer Phantasie für die Wahrheit des Realen, von seinem „eingeborenen und angebildeten Realismus" sprach, bezeichnete er mehr als nur ein ästhetisches Grundverhalten zur Wirklichkeit. Es lag darin, daß es sich im Anschauen, Durchdringen und Durchbilden des zufällig und gemein Wirklichen zur höheren beständigen Wahrheit des Gesetzlichen, Wesenhaften, Typischen, Urbildhaften richtete. Mit leichter Ironie hat Goethe jene äußerste Spannung brieflich an Schiller gekennzeichnet, die er zu Gleichgewicht und Synthese zu bringen bemüht war. „Die Dichtkunst verlangt im Subjekt . . . eine gewisse gutmütige, ins Reale verliebte Beschränktheit, hinter welcher das Absolute verborgen liegt" (4. 4. 1801). Im Wirklichen wird mittels anschauenden Erkennens eines immanenten gesetzlichen Gefüges, der inneren Rezüge im sinnlich Gegebenen, das objektiv Wahre faßbar. Es ist Sinn der Kunst, „durch den Schein die Täuschung einer höheren Wirklichkeit" zu geben, die, objektiviert gestaltet, einen Anspruch auf Wahrheit legitimiert. Sie ist derart ein Resultat von Beobachtung, Anschauung, Erkenntnis und Einbildungskraft. „Und zwar meine ich nicht eine Einbildungskraft, die ins Vage geht und sich Dinge imaginiert, die nicht existieren; sondern ich meine eine solche, die den wirklichen Boden der Erde nicht verläßt und mit dem Maßstabe des Wirklichen und Erkannten zu geahnten, vermuteten Dingen schreitet." Diese Spannungsdimension, innerhalb derer sich Goethes Realitätsverhältnis mit wechselnden Polakzenten bewegt hat, fand dichterische Objektivation in der Symbolstruktur seines Werkes. Sie bedeutete ihm, sinnlich darstellend und das Stoffliche zum Geistigen, Bedeutenden, Typischen und Poetischen transparent machend, Kunst auf höchster Stufe. („Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeine repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen.") Das nur willkürlich-zufällig Einzelne erschien ihm nicht nur unpoetisch, vielmehr als Abnormes, widersprach es Reallexikon I I I

doch jener Ganzheit ideeller Ordnung, auf die Goethes poetisches, imaginatives Verhältnis zum Realen zielte. „Es ist ein Realitätsbegriff, für den das sinnlich Gegenwärtige weder aufgelöst oder herabgewürdigt, noch materialistisch oder sensualistisch verabsolutiert, das Unendliche, Absolute weder verleugnet noch spiritualisiert noch auch in die Enge des dogmatischen Gedankens hinabgezogen wird" (W. Schadewaldt). Während E. Auerbach aus seiner Realismus-Definition heraus kritisch Goethes Abgrenzung des Bezirks des Realen, audi in den am meisten realistischen Wilhelm Meisters Lehrjahren hervorhob, so daß er „die Wirklichkeit des ihm zeitgenössischen gesellschaftlichen Lebens niemals dynamisch, niemals als Keim werdender und zukünftiger Gestaltungen dargestellt hat" (S. 397), hat die marxistische Lit. Wissenschaft gerade Goethes humanistisch-gesellschaftl. begründeten und bewußten R., seine Bestimmimg der Kunst aus dem konkreten Leben der historischen Epoche hervorgehoben und darin seine Kritik am Idealismus, der Kunst und Leben trenne, gesehen. Goethe erscheint in dieser Auffassung, im Gegensatz zu Schiller, als Repräsentant einer „realistischen Ästhetik und Kirnst", die unmittelbar in das 19. Jh., zu H. Heine überleitet. Entgegen Schiller werden Lessing und Goethe als realistisch-progressive Begründer der dt. klassischen Lit. zusammengefaßt. G o e t h e , Über Kunst u. Literatur. E. Ausw. Hg. u. eingel. v. Wilh. G i r n u s (1953), S. 9-197: Goethe, d. größte Realist dt. Sprache. Georg L u k d c s , Goethe u. s. Zeit (1955). Hans M a y e r , Goethes Begriff d. Realität. Goethe 18 (1956) S. 26-43. Wolfgang S c h a d e w a l d t , Goethes Begriff d. Realität. Ebda, S. 44-88. § 8. Die einseitige Bestimmimg der Kunst S c h i l l e r s aus dem „Idealismus" übersieht, daß es bei ihm, wie die Forschung längst herausarbeitete, in anderer Weise um eine Spannungspolarität geht, die erlaubt, seinen R. zu akzentuieren. Er war ethischer und tragischer Artung, er meinte zugleich den Bereich des Gegenständlich-Anschaulichen. Zwar äußerte er anläßlich des Wallenstein, da poetische Personen symbolische Wesen seien, müsse der Dichter „auf eine öffentliche und ehrliche Art von der Wirklichkeit sich entfernen", doch hob er hervor, es sei 23

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nicht nötig, daß der Gegenstand, an dem wir den schönen Schein finden, ohne Realität sei, „wenn nur unser Urteil darüber auf diese Realität keine Rücksicht nimmt; denn soweit es diese Rücksicht nimmt, ist es kein ästhetisches." Der Realitätsanteil ist derart keine Bedingung des Poetischen, aber er hebt es ebensowenig auf. Beides soll sich in der Synthese vereinigen, die das Ideelle wirklich und das Reale wahr werden läßt. Wenn er im Briefwechsel mit Goethe anmerkte, es sei eine andere Operation, „das Realistische zu idealisieren, als das Ideale zu realisieren" (5. 1. 1798), so war das beschränkt-objektiv Anschaulich-Gegenständliche gemeint, das im Kunstwerk in die Einheit des Sinnzusammenhangs eingelassen wird, der im Wirklichen die höhere geistige Wahrheit verbürgt. Auf eine Synthese zielt ebenso seine psychologische und ästhetische Analyse der Typenphänomene des Realismus (das Naive) und Idealismus (das Sentimentalische) in Über naive und· sentimentalisdxe Dichtung. Ihr 'Antagonism' war ihm einerseits ein typologisch und kunstmethodisch überhistorisches Problem, andererseits mit historischer Aktualität ein Ausdrude der Situation des Menschen in einem sich kultivierenden, schon spätzeitlichen Jahrhundert, die dem Modernen die überwiegende Tendenz zum Ideellen (reflexiv und subjektiv Sentimentalischen) zusprach. Schiller gab den Begriffen Realist und Realismus, die er vornehmlich als Typen des Lebensverhaltens verstand, keine Kunstvalenz; er verwies sie vielmehr mit negativem Akzent in das „gemeine" Leben. Sie lösen sich nur aus ihm in der Vereinigung mit dem 'Naiven', das sie in das Poetische überführt, das mit ansteigenden Graden fähig wird, den Antagonismus im Kunstwerk aufzulösen. Das Poetische befreit den Realisten wie den Idealisten aus seinem begrenzten Zustand. Kurt May, F. Schiller. Idee u. Wirklichkeit im Drama (1948). Ders., Schillers 'Wallenstein', in: May, Form u. Bedeutung. Interpretationen dt. Dichtung d. 18. u. 19. Jh.s (1957) S. 178-242. Wolfgang B i n d e r , Ästhetik u. Dichtung in Schillers Werk. Schiller. Reden im Gedenkjahr 1959 (1961) S. 9-36. § 9. Schiller verstand das nichts als Realistische als eine Negation des Poetischen ( daß der Realismus keinen Poeten machen kann"), er verlangte aber, das Ideelle müsse

realisiert, anschaulich werden. Friedrich Schlegel, von dem die entscheidenden Impulse der r o m a n t i s c h e n K u n s t a u f f a s s u n g ausgingen, gab dem Begriff die Wendung, daß das Reale mit dem Idealen im Sinne der Realität des Ideellen identisch würde. Was er als „neuen Realismus" bezeichnete, war eingebettet in seine Konzeption der Universalpoesie. Dieser R. sollte „idealistischen Ursprungs sein und gleichsam auf idealischem Grund und Boden schweben" Was als R. dem künstlerischen Darstellen zugesprochen wurde, meinte die sinnlich-allegorische, subjektiv-idealistische, ironische und märchenhaft-phantastische Realisierung des Poetischen. „Alle Philosophie ist Idealismus und es gibt keinen wahren Realismus als den der Poesie." Aus dieser Anschauung, nach der nur das Ideelle das real Wahre sei, alle einzelne Wirklichkeit im Kunstwerk nur Bedeutung habe, soweit sie Allegorie, Chiffre, Signal dieses Ideellen werde, erwuchs F. Schlegels Kritik gegen die Einlagerung der poetischen Darstellung in das Profan-Wirkliche und seine Theorie des Romans als „Poesie der Poesie", die in Novalis' bekannter Kritik an Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre als „durchaus prosaisch und modern" ein radikalisiertes Echo fand. F. Schlegel lehnte es ab, daß sich die moderne (romantische) Poesie „ganz an die Gegenwart anschließt und in die Wirklichkeit einengt, damit unter die Herrschaft der beschränkten Zeit gerät" (Lit. Notebooks S. 243), er Schloß die dichterische Darstellung gegen den landläufigen Begriff der Wirklichkeit als „das Gewöhnliche und Gemeine" ab, „dessen Dasein man so leicht vergißt" F. W. J. Schelling hat in seiner Philosophie der Kunst (Vorlesungen 1802/03) systematisch die romantische Scheidung zwischen dem Poetischen und dem Realistischen entwickelt. Er begriff wie F. Schlegel das Ideelle als das wahrhaft Reale. „Die Ideen also, sofern sie als real angeschaut werden, sind der Stoff und gleichsam die allgemeine und absolute Materie der Kunst" (S. 14). Zwar gab ihm Goethe das Beispiel, wie es das Wesen moderner Dichtung sei, das Besondere als Allgemeines erscheinen zu lassen (S. 100), die Originalität zu ihrem Element zu machen, doch er folgerte, daß „gerade je origineller" auch „desto universeller" bedeuten müßte, wobei er das Originelle von der „Partikularität" des

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Realismus nur Realistischen unterschied (S. 91). Es erhielt derart den Charakter der Gegenbildlichkeit, des Negativen zurück. „Die gemeine Wirklichkeit soll sich nur darstellen, um der Ironie und irgendeinem Gegensatze dienstbar zu sein" (S. 322). Wenn der nach der Jh.mitte von Otto Ludwig ausgearbeitete Begriff „poetischer Realismus" auf Schelling (14. der Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, 1803) zurückgeführt wird, ist dies insofern problematisch, als Schelling ihn, auf Piatos Verwerfung der Dichtkunst anspielend, offenbar pejorativ meint — gegensätzlich zur „enthusiastischen Poesie" einerseits, abgehoben von der „christlichen Poesie" andererseits, „welche im Ganzen ebenso bestimmt den Charakter des Unendlichen trägt, wie die antike im Ganzen den des Endlichen." Die christlichromantische Poesie erfüllt, was „ Plato weissagend vermißte" (Ed. M. Schröter Bd. 3 S. 368). Die Einigimg des Allgemeinen und Besonderen, von Idee (Wesen) und Erscheinung (Wirklichkeit), die in der klassischen Symbolsprache vollzogen war, veränderte sich in der romantischen Symbolkunst zur Negation der Brechungen des SymbolischIdeellen und Poetischen durch das Reale. „Das Symbol ist die Existenz der Idee selbst; es ist das wirklich, was es bedeutet, es ist die Idee in ihrer unmittelbaren Wirklichkeit. Das Symbol ist also immer selbst wahr, kein bloßes Abbild von etwas Wahrem" (K. F. W. Solger Vorlesungen S. 129). Jean Paul lehnte in Paragraph 3 der Vorschule der Aesthetik (1804), der die „Poetischen Materialisten" behandelt, ein Bestreben der „Nachdrucker der Wirklichkeit", die Natur getreu zu kopieren, sie prosaisch nachzuäffen, als Widerspruch gegen den poetischen Geist, dessen Bestimmung die „poetische Nachahmung" ist, ab. Wenn im Erzählen (Roman, Novelle) der späteren Romantik zunehmend Bezüge auf zeitgenössische und historische Lebensverhältnisse, insbesondere unter gesellschaftlich-politischem Aspekt (A. v. Arnim, J. v. Eichendorff), und Details der Umweltrealität aufgenommen werden, bleiben sie gleichwohl unter dem Primat der poetischen Verarbeitung, oder sie erhalten, wie bei Ε. T. A. Hoffmann, den Charakter der ironisch-satirischen Gegenbildlichkeit; oder aber sie werden bestimmt und umgeformt durch den poetisch strukturierten Aus-

wahltypus der Darstellungsform (die sog. realistische Novellistik von H. v. Kleist oder L. Tieck). Friedr. S c h l e g e l , 1794-1802. Seine prosaischen Jugendschriften. Hg. v. Jakob Minor (Wien 1882). Ders., Literary Notebooks 17971807. Ed. by Hans Eichner (London 1957). Carl E n d e r s , Friedr. Schlegel. Die Quellen s. Wesens u. Werdens (1913). Hans E i c h n e r , Friedr. Schlegel's theory of romantic poetry. PMLA. 71 (1956) S. 1018-1041. Emst B e h l er, Friedr. Schlegels Theorie d. XJniversalpoesie. Jb. d. Dt. Schiller-Ges. 1 (1957) S. 211252. Rich. B r i n k m a n n , Romantische Dichtungstheorie in F. Schlegels Frühschriften u. Schillers Begriffe des Naiven u. Sentimentalischen. DVLG. 32 (1958) S. 344-371. Klaus Β r i e g l e b , Ästhetische Sittlichkeit. Versuch Über Friedr. Schlegels Systementwurf z. Begründung d. Dichtungskritik (1962; Hermaea. NF. 12). Karl Konrad P o l h e i m , Die Arabeske. Ansiditen u. Ideen aus Friedr. Schlegels Poetik (1966). — Friedr. W. J. v. S c h e l l i n g , Philosophie d. Kunst (1859). Nachdr. (1960). Karl Friedr. W. S o l g e r , Vorlesungen über Ästhetik. Hg. v. K. W. L. Heyse (1829). Jean P a u l , Vorschule d. Ästhetik. Hg. v. Norbert Miller (1963; Werke. Bd. 5). Clemens H e s e l h a u s , Die Wilhelm-Meister-Kritik d. Romantiker u. d. romant. Romantheorie, in: Nachahmung u. Illusion (s. § 5) S. 113-127. Wolfgang P r e i s e n d a n z , Zur Poetik d. dt. Romantik. 1. Die Abkehr vom Grundsatz d. Naturnachahmung, in: Die dt. Romantik. Hg. v. Hans Steffen (1967; Kl. Vandenhoeck-Reihe 250) S. 54 ff. Wolfdietridi R a s c h , Die Poetik Jean Pauls. Ebda, S. 98ff. — Fritz L ü b b e , Die Wendung vom Individualismus zur sozialen Gemeinschaft im romant. Roman (von Brentano zu Eichendorff u. Arnim) E. Beitr. z. Vorgesch. d. R. (1931; Lit. u. Seele 2). Gisela J a h n , Studien zu Eichendorffs Prosastil (1937; Pal. 206). Clemens L u g o w s k i , Wirklichkeit u. Dichtung. Untersudiungen z. Wirklichkeitsauffassung H. v. Kleists (1936). Walter S i l z , Heinrich v. Kleist. Studies in his works and literary character (Philadelphia 1961) S. 247-270: Art and reality. — Hans M a y e r , Die Wirklichkeit Ε. Τ. A. Hoffmanns, in: Mayer, Von Lessing bis Thomas Mann (1959) S. 198-246. Hans-Georg W e r n e r , Ε .Τ. A. Hoffmann. Darstellung u. Deutung d. Wirklichkeit im dichter. Werk (1962; Beitr. ζ. dt. Klassik 13). Claus Friedr. Kopp, R. in Ε. T. A. Hoffmanns Erzählung 'Prinzessin BrambilL·'. Weimarer Beitr. 12 (1966) S. 57-80. — Jörg H i e n g e r , Romantik u. R. im Spätwerk Ludwig Tiecks. Diss. Köln 1955. § 10. Die generelle Wendung des europäischen 19. J h . s zur Beobachtung, Analyse und Wertung der Erfahrungswelt, in ihrer Totalität wie in ihren sich verselbständigenden Details, bedarf hier keiner erneuten Be23"

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Schreibung. Ihre Impulse lagen in eingreifenden gesellschaftlich-politischen Veränderungen, im Pragmatismus bürgerlicher Lebensorientierung, in der Ablösung von Glaubensbindungen und metaphysischen Systemen, in der Abwendung von einem idealistisch-spekulativen Denken, in einem neuen, auf die Aufklärung zurückweisenden szientifischen Weltverhältnis (Naturwissenschaft, Psychologie, Soziologie, Historismus), in ökonomisch-industriell begründeten Interessenumschichtungen. Sie lagen ferner in der Emanzipation des seiner autonomen Willens·, Sinnes- und Vernunftkräfte bewußt gewordenen Menschen, der sich zum Herrn seiner realen Welt machte (Sensualismus, Voluntarismus, Rationalismus, Positivismus). Dieser Ubergang Schloß sich in Frankreich und England mit größerer Kontinuität an die Aüfklärungsprozesse im 18. Jh. an; er mußte sich in Deutschland mit stärkerer antihistorischer, oppositioneller und deshalb auch gesteigert produktiver Wendung gegen die Tradition von Idealismus und Romantik frei kämpfen. „Eine neue Ordnung der Dinge gestaltet sich; der Geist macht Erfindungen, die das Wohlsein der Materie befördern; durch das Gedeihen der Industrie und durch die Philosophie wird der Spiritualismus in der öffentlichen Meinung diskreditiert; der dritte Stand erhebt sich; die Revolution grollt schon in den Herzen und Köpfen; und was die Zeit fühlt und denkt und bedarf und will, wird ausgesprochen, und das ist der Stoff der modernen Literatur" (H. Heine, Der Salon Bd. 2). Die Jahrzehnte zwischen 1830, dem markanten Auftritt einer neuen Generationsgruppe, und 1848/49, eingelagert in das Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution, einem historischen und einem progressiven Denken, bilden die erste Phase einer Tendenz zum R. von eigener stofflicher, ideologischer und stilistischer Prägung. Sie ist gekennzeichnet durch große produktive Energien, eine Häufung von Gegensätzen, eine kreative Unruhe, die zu erheblichen Veränderungen in den literar. Darbietungsformen, im Verhältnis zwischen Lit. und Leben, in den Kriterien des Künstlerischen und in der Handhabung der Sprache führten. Uberall wird ein anderes Verhalten gegenüber der faktisch-zeitgenössischen und historischen Wirklichkeit zum Antrieb, so wenig dies auf eine einzige Formel

reduziert werden kann, betonten doch die Zeitgenossen selbst das Krisenhafte, Widersprüchliche und Offene, also Experimentelle dieser „Ubergangsjähre". Es lassen sich vereinfacht zwei antinomische, gleichwohl geschichtlich zusammenhängende Grundtendenzen unterscheiden. Die eine Grundtendenz findet, in einer Art von weitgehend säkularisiertem Pantheismus, zur positiven Wertung des Gegenständlich-Individuellen, der Weltvielfalt in der Menge ihrer einzelnen Details an Fakten und Dingen aus einem ihr immanenten, harmonisierenden Bezug zu einer inneren Geistigkeit und Ordnung, in die das Bestehende, das Gewesene wie das Werdende eingebettet ist. Dem Realen wird eine in ihm gegebene und ruhende Sinnordnung zuerkannt. Es ist Teil einer geschlossenen Welt. Dies Verhalten zur Realität, wie sie sich in der Geschichte, der Natur, den menschlichen Grundverhältnissen und einzelnen Dingen darstellt, zeigt (ζ. B. die 'Historische Schule', J. Grimm, F . C. v. Savigny, B. G. Niebuhr, L. v. Ranke u. a.) einen konservativen Zug, der sich literar. auch in Formenwahl und Sprachhandhabung (F. Grillparzer, A. Stifter, E. Mörike) bemerkbar macht und Rückbezüge zur klassisch-romantischen Tradition bewahrt. Doch wird deutlich, daß in sie Veränderungen und Brüche sich einlegen, die zu Zeichen einer anderen, zwiespältigen, das Disharmonische bewußt machenden Welterfahrung werden. Die andere Grundtendenz versteht die Wirklichkeit antihistorisch, vorwiegend unter gesellschaftlicher und ideologischer Perspektive, als problematisch, offen und veränderbar. Sie bestimmt sie, unter Akzentuierung des subjektiven und kritisch-reflexiven Verhältnisses zu ihr, als Aufgabe des aktiven Geistes, der ihre moralisch-politische Ordnung neu zu bestimmen hat. Die Realität wird als widersprüchlich, krisenhaft erkannt und die Herstellung einer neuen Einheit von Geist und Leben als Ziel der Zukunft bestimmt. Diese Grundtendenz erkennt sich, wie in den sog. Jungdeutschen, als progressiv-modern, als oppositionell emanzipiert und der „feudal-historischen Schule" (L. Wienbarg, Ästhetische Feldzüge S. 34) entgegengesetzt. Beide Tendenzen fassen das Reale unter der Perspektive eines Ideellen auf: entweder als in ihm naturhaft-historisch und schließlich göttlich Gegebenes, das zur

Realismus Ehrfurcht vor dem Bestehenden, dem Wesen und Gesetz der Dinge hinleitet, oder als ein aufzulösender Widerspruch, der ein negatives Verhältnis zu dem Geschichtlichen und Bestehenden aufnötigt. Graduelle Mischungen beider Tendenzen lassen sich, wie ζ. B. kunsttheoretisch bei F. Th. Vischer, künstlerisch bei G. Büchner beobachten. G. Büchner bestimmt den Grad künstlerischer Wirklichkeitsdarstellung antiidealistisch, antiromantisch, mit Ausgriff zum Sozialen und Kreatürlichen, zu bisher unaufgedeckten inneren Bewußtseinsvorgängen, aus der Einheit exakter Beobachtung und des humanen Mitfühlens, aus der Ehrfurcht vor der geschaffenen Wirklichkeit, aus der Intensität der Lebensunmittelbarkeit („Möglichkeit des Daseins"), die sich in beständiger Bewegung darstellt („Nur eins bleibt: eine unendliche Schönheit, die aus einer Form in die andre tritt, ewig aufgeblättert, verändert" [Lenz]) und nicht lediglich an Kopien des Äußeren gebunden ist („Der Dichter und Bildende ist mir der liebste, der mir die Natur am wirklidisten gibt, so daß ich über seinem Gebild fühle" [ebd.]). Stilgeschichtlich haben in diesen Jahrzehnten G. Büchner in Drama und Erzählung, A. v. Droste in der Lyrik den R. als komplexes künstlerisches Prinzip am weitesten vorangetrieben. So vielfältig das Verhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit, Geist und Leben jetzt erörtert wird, so verändernd diese Auseinandersetzung in die literar. Formen eindringt: im Drama (Chr. D. Grabbe, G. Büchner), in der Lyrik (H. Heine, A. v. Droste, auch E. Mörike; Bevorzugung der Ballade), in der Prosa als eine allgemeine ästhetische Höherwertung wie thematisch und stilistisch im Roman (K. L. Immermann, der junge Gottheit) und in der Novelle (G. Büchner, A. v. Droste, F. Grillparzer), in der Annäherung von Dichtung und Publizistik (H. Heine, G. Weerth, H. Laube, K. Gutzkow u. a.), in der Sprengung von Stoff- und Gattungsgrenzen und in Anreicherungen der Literatursprache: die programmatische Verfestigung eines Kunstprinzips R. ist ausgeblieben, im Unterschiede zu Frankreich, wo der R.begriff als Bezeichnung einer unpersönlichen, getreuen und detaillistischen Darstellungsmethode für zeitgenössische Stoffe und Konflikte, die beobachtet und analysiert werden, in diesen Jahrzehnten geläufig ist. Dabei

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wirkte mit, daß in der dt. Ästhetik und Literaturpraxis, die sich nur schwer von idealistischer Tradition (Wertung des Ideellen), klassizistischer Tradition (Dogma des Schönen) und romantischem Erbe (Primat des Poetischen) ablösten, dem Begriff lange etwas Negatives anhaftete. So energisch die jungdeutsche Ästhetik (L. Wienbarg, Th. Mündt, K. Gutzkow), unter Einfluß H. Heines eine „Poesie des Lebens" als Ausdruck und Abprägung des gesellschaftlichen Zustandes, als Darstellung von Charakteren mit scharf begrenzter Individualität und bestimmter Zwecke, als ethisch-politisch engagierte Aussprache des „Zeitgeistes" verlangte, der Akzent lag auf einem Poetischen, welches die produktiv-reflexive Subjektivität des Künstlers als Realisierung des Ideellen erzeugt. Die „Repräsentation einer Zeit durch Dichter und Schriftsteller" sollte sich „auf die Weise nämlich" vollziehen, „daß sie Zeichnung und Färbung von ihrer Zeit entlehnen, dennoch aber in Gemälden selbständig und schöpferisch zu Werke gehen und einen ihnen eigenthümlichen Stil an den Tag legen" (Wienbarg Ästh. Feldzüge, S. 280). „Sie können die Natur nicht über die Kunst vergessen machen die Wahrheit und Wirklichkeit hat sich ihnen zu gewaltig aufgedrungen und mit dieser muß ihre Kraft so lange ringen, bis das Wirkliche nicht mehr das Gemeine, das dem Ideellen feindlich Entgegengesetzte ist" (ebd. S. 299). R. wurde verstanden im radikalen Spannungsfeld zwischen nur pragmatischer Wirklichkeit und der Realisation des Ideellen, die noch über das Literarische in die Praxis des Lebens zielte. Th. Mündt (Kunst der Prosa, 1837) betrachtete die Ineinsbildung von Idee und Wirklichkeit, von Poesie und Prosa als Hauptthema seiner Generation. Er wehrte sich gegen bloße „Detailseligkeit", er postulierte für den Roman ein Aufheben der Trennung zwischen Poetischem und Realistischem. Die 'moderne' Zuwendung zu realistischen Stoffen, zu deren gesellschaftlicher Wirkungsfunktion (K. Gutzkow), also die literar. Ausprägung eines kritischen Gesellschaftsbewußtseins, die sich seither im engeren Sinne mit dem Begriff R. verknüpft hat, hob nicht die Intention zum Poetischen als essentiell für das Literaturwerk auf. Der Gegensatz zur Romantik lag darin, daß jetzt

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das Ideelle auf das Reale bezogen, in ihm seine Realisation erwartet wurde. Diese Grundposition, die das Wirkliche nur in der Perspektive auf ein Ideelles als darstellenswert erachtete — allerdings differenziert je danach, was man als auswahlwürdige stoffliche Wirklichkeit und als ideelle Tendenz bestimmte (der Unterschied etwa zwischen Immermanns Oberhof-Kapiteln, dem jüngeren Stifter und Gotthelf und den jungdeutschen Erzählern), auch je danach, welche Intensität künstlerischer Darstellung (G. Büchner, A. v. Droste) erreicht wurde — hat G. W. F. Hegels Ästhetik (Nachgelassene ästhetische Vorlesungen, textlich bearbeitet hsg. von H. G. Hotho, 1835) bestätigt. Er sah, darin wirkte der Klassizismus nach, in der Kunst die Verwandlung der zufälligen, willkürlichen, gewöhnlichen Wirklichkeit in eine „höhere geistgeborene Wirklichkeit" (I, S. 20), die Aufgabe der Vermittlung zwischen dem Äußeren und Inneren, dem Individuellen und dem Allgemeinen. „Die wahre Selbständigkeit besteht allein in der Einheit und Durchdringung der Individualität und Allgemeinheit, indem ebensosehr das Allgemeine durch das Einzelne erst konkrete Realität gewinnt, als das einzelne und besondere Subjekt in dem Allgemeinen erst die unerschütterliche Basis und den echten Gehalt seiner Wirklichkeit findet" (I, S. 180). Dies bedeutete zugleich, daß „die subjektive innere Totalität des Charakters und seiner Zustände und Handlung und die objektive des äußeren Daseins nicht" auseinanderfallen dürfen, „sondern ein Zusammenstimmen und Zusammengehören zeigen" (I, S. 248). Zugleich aber machte Hegel die Problematik bewußt, die für die Lit. aus dem zunehmenden Auseinanderfallen von nur abständiger, entpersönlichter und institutionalisierter Wirklichkeit hier, der inneren subjektiv-humanen Welt dort folgen mußte. Er forderte einerseits die Einheit des „konkreten Allgemeinen", er analysierte andererseits für die geschichtliche Lage den Prozeß der Entfremdung zwischen Ideellem und Wirklichem, Totalem und Einzelnem, derart das Grundproblem der realistischen Kunst im 19. Jh. Das Kapitel Das Zusammenstimmen des konkreten Ideals mit seiner äußerlichen Realität (I, S. 248 ff.) enthält die Grundthematik und -problematik des späteren 'poetischen Realismus'.

Es läßt sich nicht übersehen, daß die nachklassische Bemühung um eine Einimg des Ideellen und Realen in der Kirnst dialektisch auf das Bewußtsein jener Verstörungen und Brüche hinwies, mit denen die konkrete Gestaltung um so mehr zu tun hatte, je mehr sie sich zu einer Wahrhaftigkeit gegenüber dem Wirklichen (als Beobachtung und innere Erfahrung) verpflichtet wußte. Das Ideelle und das Reale traten auseinander, Imagination und Erfahrung widersprachen sich, dem 'Subjektiven' stellte sich das 'Objektive' einer abständigen, entfremdeten Wirklichkeit entgegen. Alle Grundverhältnisse (Natur, Gesellschaft, Ethik, Bildung etc.) werden davon so betroffen wie die literar. Formen. Vereinfacht läßt sich sagen, daß diese Erfahrung, wo die konservative Grundhaltung überwog, zu Eingrenzungen des dargestellten Weltausschnitts führte, die eine Illusion der Einstimmung gewährten (die Idylle jenseits der zeitgenössischen Gesellschaft, von Immermanns Oberhof im Münchhausen bis zur trivialen Dorfgeschichte), oder aber zu dessen Stilisierung unter mehr ethisch-ästhetischen (Stifter) oder ethisch-religiösen Voraussetzungen (Gotthelf). Die poetische Ubereinstimmung (Weltganzheit) ließ sich nur durch Beschränkung oder Uberformung (ζ. B. Geschichtsdarstellung) der dargestellten Wirklichkeit oder derart erreichen, daß die faktischen Zustände einen Charakter der Gegenbildlichkeit (ironisch-satirisch und moralischreligiös bei Gotthelf) erhielten. Wo hingegen die 'moderne', progressive Grundhaltung überwog, wurde die Disjunktion durdi die subjektive, kritische Reflexion, durch das Prinzip der 'offenen' Darstellung in Sujet und Form verdeutlicht und die poetisch-reale Harmonie zur ideologischen und künstlerischen Zukunftsaufgabe unter der Voraussetzung politisch-geseilschaftlich versöhnter Realität gemacht. Vom Aspekt der Wertung aus erscheinen Grad und Rang der künstlerischen Leistung im R. der ersten Jh.hälfte dort am höchsten, wo, wie gattungsgemäß und individuell unterschiedlich auch immer, die Erfahrung dieses Widerspruchs zwischen Ideellem und Realem, der sich mehr und mehr zum Widerspruch zwischen dem reflexiv Subjektiven und dem faktisch Objektiven verändert, sei es mit dem Akzent der Unaufhebbarkeit, sei es unter dem Vorzeichen potentieller Aufhebung im Kunstwerk, gestal-

Realismus tet worden ist. Wo er schließlich ebenso im subjektiven Selbstbewußtsein wie in der äußeren Wirklichkeit erfahren wird. Dies gilt für Drama und Prosa (s. oben) wie für die Lyrik (H. Heine, N. Lenau, E. Mörike, A. v. Droste). Der Spannungsintensität dieser Widerspruchserfahrung entstammte die produktive Unruhe, die formschöpferische Vielfalt in diesen Jahrzehnten, mochte auch außerhalb Deutschlands eine Entwicklung zum R. programmatisch und praktisch eindeutiger erscheinen. F. Th. Vischer: „Belgier und Franzosen sind uns wie in der Malerei, so in der Poesie hierin vorausgeeilt, daß sie diesen packenden, schüttelnden Geist der Realität in ihre Kunst aufzunehmen verstanden; uns haben sie den unfruchtbaren Idealismus gelassen" (Herwegh., 1844. Krit. Gänge II, S. 128). Ludolf W i e n b a r g , Ästhetische Feldzüge (1834). Theodor M ü n d t , Die Kunst d. dt. Prosa (1837). G. W. F. H e g e l , Ästhetik. Mit e. Einf. v. G. Lukäcs. Hg. Friedr. Bassenge (2. Aufl. 1965). Friedr. Theod. V i s c h e r , Kritische Gänge. Hg. Robert Vischer (2. Aufl. 1914-1922). Ders., Ästhetik oder Wissensehaft des Schönen. Hg. Robert Vischer (2. Aufl. 1922-1923). Julian S c h m i d t , Gesdiidite d. dt. Lit. im 19. Jh. Bd. 3: Die Gegenwart (2. Aufl. 1855). Ders., Bilder aus d. geistigen Leben unserer Zeit. 4 Bde (1870-1875). Robert P r u t z , Die dt. Lit. d. Gegenwart. 1848-1858 (2. Aufl. 1860). Heinrich H e i n e , Sämtl. Werke. Hg. v. Emst Elster. 7 Bde (1887-1890). Georg B ü c h n e r , Sämtl. Werke und Briefe. Histor.-krit. Ausg. hg. mit Komm. v. Wemer R. Lehmann Bd. 1 u. l a (1967). Otto L u d w i g , Gesammelte Schriften. Hg. v. Erich Schmidt u. Adolf Stern. Bd. 5/6: Studien 1/2 (1891). Theodor F o n t a n e , Aufsätze zur Literatur. Hg. u. mit e. Nachw. v. Kurt Schreinert (1963). Adalbert S t i f t e r , Kulturpolitische Aufsätze. Hg. u. mit e. Nachw. vers. ν. Willi Reich (Einsiedeln-Ziirich 1948). § 11. Die Revolution von 1848/49 bedeutete einen markanten Phasenabschnitt; um die Jh.mitte setzte eine neue Generation ein. Formengeschichtlich ist für sie charakteristisch das Ausbleiben des Dramas (trotz der Anstrengungen, es zu erreichen), ein Zurücktreten der Lyrik (Dominanz der Ballade), das Primat von Roman und mehr noch Novelle, ein gewandeltes Verhältnis zu Formgestaltung, Stil und Sprache. Die Autoren dieser Generation repräsentieren die Breiten- und Höhenentfaltung des 'bürgerlichen' oder 'poetischen' R. in der dt. Literatur. Der Begriff ' b ü r g e r l i c h e r R.' bezieht sich histo-

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risch-literatursoziologisch auf den Zusammenhang dieser Lit. mit der zu vollem Selbstbewußtsein gelangten bürgerlichen Gesellschaft: als Herkunftsort und Umwelt der Autoren, als Thematik und Milieu ihrer Stoffe und Probleme, als Leserpublikum. Er bezieht die dem dt. R. eigene Vermittlungsoder Ausgleichshaltung in Konfliktgestaltung, Problemlösungen, Stil und Sprache ein. Der Begriff ' p o e t i s c h e r R.' gründet auf der formgeschichtlich-stilkritischen Perspektive; er zielt auf das Problem künstlerischer Bewältigung der Disjunktion zwischen Dichtung und Wirklichkeit, Imagination und Realität. Er ist geeignet, Charakter und Typus des dt. realistischen Erzählens gegen dessen andersartige Ausprägung in der franz., engl., russ. Erzähllit. der Zeit abzuheben. Auf sie ist hier nicht einzugehen. In den Jahren um 1850 hat sich durchweg in Europa das Leitwort R. als Programm objektiver, unpersönlicher Beobachtung und Abbildung zeitgenössischer Wirklichkeit, oppositionell zu 'idealistischer Thematik und Sprache und zu einem klassizistisch-romantisch ästhetischen Illusionismus des Schönen, Erhabenen und Poetischen verbreitet. In Rußland bezog schon 1836 V. Belinskij Schlegels Begriff der „realen Poesie" umdeutend auf Shakespeare und Scott. In Frankreich stellte G. Courbet 1855 seine Bilder im „Pavillon du realisme" (mit provokativer Wortbedeutung) aus, es folgten 1856/57 eine Zeitschrift Le R6alisme (Hg. E. Duranty), 1857 eine Essaysammlung von J. Champfleury Le Rialisme. Während in England der Begriff noch bei Emerson und Ruskin 1856/57 negativ gemeint war (Materialismus, Groteske), bezog ihn 1853 ein Beitrag in Westminster Review auf Balzac, 1858 G. H. Lewes in einem Aufsatz Realism in Art: Recent German Fiction auf die dt. Erzähler, von denen er P. Heyse und G. Keller anerkannte, G. Freytag und O. Ludwig ablehnte. Offen muß bleiben, ob er den Wortgebrauch aus Deutschland übernahm. Während in Frankreich der R. als kritische Analyse der Typenzüge gesellschaftlicher Realität, als deren demaskierende Psychologie in der Diskrepanz von Realität und Idealbild ('Desillusionsroman' zwischen Stendhal und E. Zola), als moralische Opposition gegen Konventionsschemata, als Erkenntnis von Naturgesetzlichkeiten ('Wahrheit') im Detail des Zeit- und Gesellschaftspanoramas ('Wirk-

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lichkeit') aufgefaßt wurde, blieb er in Deutschland auf das Problem der'poetischen' Realisierung bezogen. A. Stifter sprach unter ethisch-ästhetischem und metaphysischem Aspekt von einer „Reinheit der Darstellung des Gegebenen", der Dinge „in ihrer objektiven Giltigkeit" und „Wesenheit" (Über Stand und Würde des Schriftstellers, 1848). F. Th. Vischer betonte in seiner Ästhetik (1846/57) zwar die Gesamtwirkung realer Auffassung (IV, S. 485), lehnte jedoch „ein Ertränken der Idee in der Sachlichkeit des Gegenstandes" ab, der vielmehr so zu behandeln sei, daß der Gedanke selbst schlagend aus ihm herausleuchte. Er vermied den Begriff R. als mehrdeutig. Denn er bezog sich einerseits auf den Klassischen Stil als Objektivität der Vergegenwärtigung (wie sie ζ. B. bei A. Stifter vorliegt), andrerseits auf einen naturalisierenden und individualisierenden Stil des Hereinziehens der Einzelzüge des Daseins zum ausführlicheren Schein des Lebens. Der Klassische Stil war aber zugleich in Ausscheidung des Partikularen idealistisch. Der naturalisierend-individualisierende Stil war es ebenfalls insofern, als er seinen Ausgang aus der Tiefe verborgener Innerlichkeit nimmt (Ästhetik, VI, S. 68). Otto Ludwig entwickelte die Theorie des 'poetischen' R. (Shakespeare-Studien, veröff. 1871) als Vermittlung zwischen dem lediglich Zufällig-Realen und dem Ideell-Typischen, das im Partikularen einen immanenten Zusammenhang erfassen läßt, der zugleich kausaler und irrationaler Art ist. G. Keller sprach in dem Aufsatz Die Romantik und die Gegenwart (1849) von dem Ringen „nach einem neuen Sein und nach einem neuen Gewände", Th. Fontane formulierte ein zeitgemäßes Programm des R. (Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848, 1853), das er als Ausdruck einer neuen Generationsgemeinschaft vortrug: „Der Realismus in der Kunst ist so alt als die Kunst selbst, ja noch mehr: Er ist die Kunst." H. Hettner fand in Das moderne Drama (1851) dessen Zukunft in der Wendung zum sozialen Thema. Julian Schmidt wurde, oppositionell der „Willkür der alten Romantik" und der „jungdeutschen Abhängigkeit von französischer Bildung", aus einer bürgerlich-nationalen, auf beharrende gesellschaftlich-volkliche Lebenszustände gerichteten Perspektive, ein kritischer Wortführer des literarischen R., zugleich ein

kritischer Vermittler zur europäischen realistischen Erzählkunst. Wenn er in der Geschichte der dt. Lit. im 19. Jahrhundert in dem die Gegenwart behandelnden 3. Bande sagte, der Inhalt romantischer Kunst war das Ideale, der modernen Kunst sei die Wirklichkeit, so setzte er die jungdeutsche Programmlinie fort. Jedoch mit einer für die nachrevolutionäre Phase signifikanten Wendimg, indem er den R. gegen jenen abgrenzte, der, französischer Herkunft, als Reales nur anerkannte, was dem Idealen widersprach, femer gegen die „roheste Nachbildung des wirklichen Lebens", die er dem Sozialismus zuschob (S. 9). R. bedeutete für ihn, die sittliche Idee ins Detail des wirklichen Lebens auszubreiten und zu vertiefen (S. 379). „Durch den Realismus, d. h. durch die Nachbildung der gemeinen empirischen Wirklichkeit müssen wir uns durcharbeiten, um zur Wahrheit zu dringen, und es ist kein so großes Unglück, wenn wir zunächst in die Selbsttäuschung verfallen, als hätten wir in diesem Realismus bereits die volle Wahrheit" (S. 9). Ähnlich forderte Robert Prutz entgegen abstraktem Idealismus und brutalem R. der „gemeinen" Wirklichkeit die Synthese des Realen und Ideellen. Ihre Zeit schien ihm, wie für Julian Schmidt, erst seit 1848/49, seit der Abstandnahme vom revolutionären jungdeutschen „Idealismus" gekommen zu sein. G. Keller suchte die Darstellung des rein und dauernd Menschlichen im Alltäglichen und Nahen, des „Innerlichen, Zuständlichen und Notwendigen" im Bekannten und Einfachen (Am Mythenstein), er sprach im Grünen Heinrich von dem wirklich Bestehenden als dem einzig möglichen Ideal, sofern „alles Wirkliche, Geschehende und Bestehende, sobald es sein eigenes Wesen ausreichend und gelungen ausdrückt", als das Ideale zu bezeichnen ist. Im Wirklichen ist eine Substantialität der Grundphänomene enthalten, welche die Dichtung im Konkret-Sinnlichen anschaubar macht. Das poetische Verfahren führt derart nicht von der Wirklichkeit fort, sondern zu dem, was in ihr als naturhaft-humane Wahrheit enthalten ist. Keller sprach von der „Reichsunmittelbarkeit der Poesie" als dem Recht, „auch im Zeitalter des Fracks und der Eisenbahnen, an das Parabelhafte, das Fabelmäßige ohne weiteres anzuknüpfen" (Br. 27. 7. 1881); Fontane sprach von der „Widerspie-

Realismus gelung alles wirklichen Lebens, aller wahren Kräfte und Interessen im Elemente der Kunst"; es ging darin nicht u m Reproduktionen und Kopien der Wirklichkeit, sondern u m den Aufbau der dargestellten Welt analog und verantwortlich der äußeren und inneren Erfahrungswirklichkeit in der Vielstimmigkeit und Komplexität ihrer Dimensionen und unter Prinzipien der künstlerischen Auswahl, Durchdringung und Gestaltung. Diese Prinzipien stellen sich in der Entwicklung der Erzählkunst zwischen A. Stifter, J. Gotthelf und Th. Fontane, C. F. Meyer individuell und je nach geschichtlicher Position sehr verschiedenartig dar. Keinesfalls kann bei den dt. Autoren im R. von einer normativen Erzählmethode gesprochen werden.

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bel), am sog. Bildungsroman (Stifter, Keller), in der Psychologisierung und Vergesellschaftung der Themen und Konflikte so erkennen lassen wie in Reduktionen der Symbolsprache. Das Symbolische verengt sich zu funktionaler Geltung im Erzählgefüge; es b ü ß t seinen universellen Charakter ein. Eine Verengung liegt ebenso in der Tendenz zum Ethischen und Pädagogischen (Stifter, Keller, Raabe) wie zur Innerlichkeitsthematik (Raabe, Storm) und zum Regionalen, selbst Lokalen, das Detail- und Atmosphäre-Echtheit um den Preis von Weltdimension erkauft. Die Entfaltung mundartlicher Lit. (F. Reuter, K. Groth, J. Brinckmann u. a.) folgt gleicher Tendenz zur Echtheit der Sprache, die die Suggestion unmittelbarer Realitätswiedergabe enthält. Generell bestimmt den dt. ' p o e t i s c h e n ' § 12. Dies macht die Schwierigkeit einheit- R. weiterhin die Tendenz zur Vermittlung zwischen Poetischem und Wirklichem, Norlicher Begriffsbestimmung aus. Generell gilt eine Abwendung vom Subjektiven, Pathe- mativem und Partikularem, Typischem u n d Individuellem. Sie verstärkte sich angesichts tischen, Rhetorischen, Geistreich-Ironischen, zunehmender Erkenntnis der in diese Spanideologisch Tendenziösen zugunsten einer Verfestigung der Formen, einer Objektivie- nungen eingelegten Widersprüchlichkeit, die sich gegen das Jh.ende als zentraler Konrung der Gehalte, Konflikte und des Stils, flikt· und Problemgegenstand dem Erzäheines mittleren Ausgleichs der Sprache. An len aufzwang (das Alterswerk von Keller, die Stelle der offenen Form trat ein welthaft Raabe, Storm, Fontane, in der Novelle C. F. geschlossenes Darstellen, die Tendenz zu Meyer). Der Disjunktion in der Gesellschaftsepischer Ganzheit. D e m entsprach eine künstund Bewußtseinswelt sollte sich im Kunstlerische Disziplinierung der Prosa, eine Dämpfung des Expressiven. Subjektive Re- werk eine 'poetisch' ausgleichende Ganzheit, flektion der Welt unter ideologischen Vor- die dessen Kunstcharakter ausmacht, entgegenstellen. Damit legte sich über das objekaussetzungen und Engagements wurde abtive Bild der Gesellschaft ein vorwiegend gelöst durch die Darstellung objektiver Zusammenhänge, in welche die subjektive Er- moralisch-kritischer Aspekt, bestimmt von der Subjektivität des betroffenen und eingefahrungs- und Erlebnisweise als Reflex des grenzten Menschen, der einen Schutzraum Subjektiven im Objektiven eingelegt wurde. innerer Freiheit gegenüber der AußenwirkDer objektivierenden Formhaltung entsprach lichkeit im Humor, in der Erinnerung, in der die Bevorzugung der Novelle, zugleich jene Idylle oder Resignation, in humaner IntroReduktion des Weltausschnitts, die Bedinversion sich bereitet. A. Stifter bildete unter gung wurde, eine erzählerische Ganzheit Stilisierungen die erzählte Welt zu einer obherzustellen. Es wird ein Anschluß an Form jektiven, naturhaft, ethisch und ästhetisch und Symbolsprache Goethes, an klassische Formobjektivität (typisch Kellers Verände- begründeten Sinnordnung, in welche die objektiv-humane Innerlichkeit des Erzählers rung des Jean Paul-Zitats in der 1. Fassung einging. G. Keller hielt, bei wesentlich komzu dem Goethe-Zitat in der 2. Fassung des Grünen Heinrich, F. Hebbels Wendung zur plexerer Problemerkenntnis in Psychologie, Gesellschaft und Weltbeschaffenheit, an eiklassischen Tragödienform nach 1848/49, ner naturhaft-humanen Ganzheit des Daseins oder Stifters Symbolstil im Nachsommer und Witiko) zurückgewonnen. Allerdings beglei- und der Gewißheit von deren Wiederherstellung gegenüber Brüchen und Verstörunten diesen Anschluß eingreifende Wandlungen stofflicher, formaler und sprachlicher ! gen fest. W. Raabe fügt durch die ErzählArt, die sich am Drama (Grillparzer, Heb- | subjektivierung eine auseinanderfallende

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Welt zur Erzähleinheit zusammen; auf andere Weise Storm im Typus der Erinnerungserzählung, in der die innere Bewußtseinsperspektive eine Einheit schafft. Fontanes Objektivitätshaltung analysiert die zerfallende Gesellschaftswelt, läßt aber in ihr dem Einzelnen die Chance individueller Humanität. Dodi erhält auch bei ihm das realitätsbezogene Erzählen die dominante Bestimmung zum Kunstwerk (Prinzip der humoristischen Läuterung, Verklärung). Otto Ludwigs 'poetischer' R. zielte darauf, den Widerspruch zwischen Kausalität und Irrationalem, Zufall und Notwendigkeit zu einem inneren Zusammenhang („idealer Nexus") zu überwinden, der sich als sittlichpoetische Realität zwischen dem Wirklichen und Ideellen darbot. Dies hieß, die Fakten gemeiner Wirklichkeit zu Fakten poetischer, künstlerischer Wirklichkeit (Bd. 2, S. 33) umzusetzen; es hieß, in der Realität jenes hintergründige, all gemeingültige anthropologisdie Normensystem faßbar zu machen, an das er als objektive Gegebenheit glaubte. „Also das ideale wie das reale Element, beide in möglichster Steigerung ins möglichste Gleichgewicht gebracht" (Ges. Sehr. Bd. 6, S. 194). Ludwigs Uberzeugung vom im idealen Nexus enthaltenen Objektiven veranlaßte ihn, das im pragmatischen Nexus gegebene Zufällige zum Typischen zu formen, das sich ihm mit dem poetisch Totalen identifizierte. „Die wahre Poesie muß sich ganz von der äußeren Gegenwart loslösen, sozusagen von der wirklichen Wirklichkeit. Sie darf bloß das festhalten, was dem Menschen zu allen Zeiten eignet, seine wesentliche Natur, und muß dies in individuelle Gestalten kleiden, d. h. sie muß realistische Ideale schaffen" (Bd. 5, S. 411). Otto Ludwig sprach eine generelle, im sozialen Sinne stofferweiternde Tendenz aus, wenn er die „Poesie der Wirklichkeit" dazu bestimmte, audi „das Gewöhnlichste im Leben zu beleuchten" (vgl. G. Büchner u. a.); wenn er von ihr die psychologische Analyse (Ausmalen der Stimmungen) verlangte, zugleich ein Herausarbeiten der Idee, „die aber nie ein Parteistandpunkt, sondern stets über den Parteien schwebend sein muß" (Bd. 2, S. 75), also Objektives (und Typisches) im Realen darstellt. Otto Ludwigs Theorie des poetischen R. als objektive Poetisierung des Wirklichen hat lange die

Interpretation des dt. R. bestimmt; ungeachtet jener Brüche, die in seinen Erzählungen der Theorie widersprechen. Dieser Identifizierung von R. und objektiver gegenständlicher Realität hat sich in der gegenwärtigen Diskussion die These (von R. Brinkmann entwickelt) entgegengestellt, daß, was als Wirklichkeit vermittelt wurde, „nur mit den Mitteln der subjektiven Phantasie, mit subjektiven Assoziationen und Manipulationen und auf dem Boden der Illusion intentional" erfaßt und vorgestellt wurde (S. 311 f.). Der Grad der Subjektivierung nahm zu, „je genauer und differenzierter die Realisten das Einzelne, die Tatsächlichkeit in allen individuellen Besonderheiten zu umschreiben versuchten" (S. 312). Paradox führt die sich aufzwingende Fülle des Tatsächlichen „zur differenzierten Erschließung des Einzelsubjekts, seiner Organe, seiner Empfindungen und Reaktionen" (S. 319). Indem sich in der Erzählkunst bis zu Th. Fontane zunehmend ein Schwund normativer Ganzheiten, eine Isolierung des Einzelnen herausstellt, das Tatsächliche sich zu seiner subjektiven Wirklichkeit reduziert, wird die Erzählkunst allerdings zum Ausdrude der realen Bewußtseinslage, des tatsächlichen Verhältnisses dieser Zeit zur Wirklichkeit. Sie wird als Objektives' nicht mehr faßbar. Das Produktive der Interpretation Brinkmanns, die sich G. Lukäcs und E. Auerbachs Interpretation entgegenstellt, lag in der Ablösung von einem 'naiven' R.begriff, der Akzentuierung der Problematik realistischer Erzähldichtung. Indem er jedoch den Pol einseitig beschwerte, hob er jene Spannungspolarität auf, aus der die realistische Erzählkunst ihre Vielschichtigkeit gewinnt. Denn in der „Spannung zwischen dem Subjektivierten und dem intendierten Objektivismus der Wirklichkeitsspiegelung lag das ästhetische Grundproblem der Dichtung dieser Jahrzehnte. Daß es zum Problem wurde, deutet auf die Uberschneidung gegenläufiger Intentionen. Sie lag darin, daß sowohl die Aussage des nur Subjektiven wie die Preisgabe des dichterischen Sprechens an das nur Tatsächliche vermieden und die Verwobenheit des Subjektiven und Objektiven, von Individualsphäre und Objektsphäre in ihrer beiderseitigen Anerkennung und Gegebenheit, in ihrem weltaufschließenden Zusammenhang erstrebt wurde" (F. Martini S. 74).

Realismus Daß dieser Zusammenhang zunehmend brüchiger wurde, zeigen die Konfliktthemen und die Formen in der Erzählkunst, aber auch Veränderungen in der Lyrik (Subjektivierung, Perspektivismus, Momentanisierung, Psychologisierung, die Form des Dinggedichts, das Impressionistische). Dichterisches Darstellen wurde in dieser Spannungslage dadurch möglich, daß das Reale zunehmend in die innere Bewußtseinsperspektive (Darstellung des Objektiven im Reflex des Subjektiven) überführt, derart in ihr gegenüber dem Faktischen eine Dimension des Poetischen bewahrt wurde. In welchem Umfange der Humor eine vermittelnde, poetische Sprachfähigkeit schaffende Funktion gewann, hat W. Preisendanz dargestellt. Zu ihm gesellt sich das Gefühlhafte in mannigfaltigen Entfaltungen (z. B. Raabe, Storm). „Humoristisches Erzählen erweist die Möglichkeit eines freien beweglichen souveränen Bezuges zu der Eigengesetzlichkeit dessen, was dargestellt wird" (W. Preisendanz, Formkräfte, S. 208). Die „humoristische Vermittlung" (der Humor als „angewandte Phantasie") „von objektiver Faktizität und poetischer Wirklichkeit, die Spannweite zwischen Erscheinung und Bedeutung" macht im dt. R. einen spezifisch poetischen R. möglich; in vielstimmiger, je individueller Ausformung. Der Humor muß dabei in ganzer Spielbreite bis zum Ironischen, Grotesken vind Parodistischen (ζ. B. Keller, Raabe) verstanden werden; zugleich führt die Darstellung des Objektiven im Reflex des Subjektiven auch zu den Dimensionen des Emotionalen (das Idyllische, die introvertierte Resignation, die 'Läuterung', 'Verklärung') und Irrationalen, die bis über Ränder des Sentimentalen führen können (ζ. B. Raabe, Storm, auch Th. Fontane). Dies Duichdringen der erzählten Wirklichkeit mit innerer Bewußtseinsperspektive macht die künstlerische Eigenart, aber auch Schwäche der dt. Erzählkunst gegenüber dem europäischen Roman aus. Sie werden dort nicht gemindert, wo sich in ihr eine akzentuierte Tendenz zum verobjektivierten Darstellen (der 'dramatische' Roman, Spielhagens Romantheorie, C. F . Meyers Novellistik) entgegensetzt. Allerdings dankt Th. Fontane seiner künstlerisch sublimierten Tendenz zum Objektiven, die das Einzelmenschliche in Konflikten wie Selbstbewahrung in das Gesellschaftlich-Hi-

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storische einbettete, die Nähe seines Erzählens zum Rang des europäischen Realismus. Doch erweist sich andererseits W . Raabes humoristisch subjektivierte Innerlichkeitssprache in der künstlerischen Nähe zum modernen europäischen Erzählen aus der inneren Bewußtseinsperspektive. Der Ausgleich — nicht zwischen Idealem und Realem zu einem objektiv-typischen Real-Idealen im Sinne Otto Ludwigs — , aber zwischen Faktischem und Imaginativem, Empirischem und Poetischem, der, auf bei den verschiedenen Erzählern heterogene Weise, künstlerisch der Generation der realistischen Prosa möglich wurde, fiel gegen Jh.ende in jene Pole auseinander, die dieser Kunst die innere Spannungsdimension, die Vielschichtigkeit der Erzählformen und -spräche gaben. Neben die Radikalisierung des Prinzips entpersönlichter realistischer Illusion (Naturalismus) trat eine Radikalisierung der Subjektivierungen des künstlerischen Formens und Sprechens (Impressionismus), die zu einer antirealistischen Wendung (Symbolismus, sog. Neuromantik, Jugendstil) führte. Der R. blieb eine immer wieder zu Auseinandersetzungen herausfordernde, in Nachwirkungen breit gelagerte Grundlage der ihm folgenden Entwicklung, aber er sank, wo er nicht kritisch umgebildet wurde (ζ. B. Thomas Mann), ins Epigonal-Belletristische ab (Heimatkunstbewegung) und verlor jene thematischen und künstlerischen Spannungsund Problemenergien, die ihn zum Ausdruck einer historischen Lebens- und Bewußtseinsproblematik im 19. Jh. gemacht hatten. Das Mißverständnis ihm gegenüber, das lange Kritik und Lit.wissenschaft durchzogen hat, hatte seinen Grund nicht zuletzt in seinen ermatteten, epigonalen Nachwirkungen, die sich bis tief in das 20. Jh. erstrecken, aber nicht dem Begriff und der Geschichte des R. in seinem Jahrhundert zugeordnet werden dürfen. Beides läßt auch nicht angängig erscheinen, schlankweg überall nur dort von R. zu sprechen, wo zeitgenössische historisch-gesellschaftliche Stoffe ('outer reality') zum Erzählinhalt gemacht werden, da derart das entscheidende Element ihrer Interpretation mittels der künstlerischen Gestaltung unter gegenüber dem 19. J h . verwandelten Bewußtseinsvoraussetzungen vernachlässigt wird. Es sei denn, der Begriff werde typologisch, nicht aber stilkritisch eingesetzt.

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Zwecke der Literarhistorie unbrauchbar, da das mit der R. zusammenhängende Schrifttum zum überwiegenden Teil theologischfachliche Gebrauchsliteratur ohne jede literar. Intention ist. Aber auch die andere Möglichkeit, unter R.sliteratur die Gesamtheit der Lit. im Zeitalter der R. zu begreifen, trifft nicht den Kern der Sache, sondern führt zu einem Literaturkomplex, der viele heteronome Elemente enthält, die kaum etwas mit der R. zu tun haben dürften. So bleibt nur, unter dem für die Lit.geschichte nicht sehr glücklichen Begriff der R.sliteratur jene Erscheinungen zu erfassen, in denen 'Reformation' und 'Literatur' eine einander bedingende Synthese von Gedanklichem und Formalem eingegangen sind. Ein weiteres Problem für die Literarhistorie ist die Abgrenzung der geschichtlichen Erscheinung der R.sliteratur nach rückwärts und nach vorwärts. Die Geschichtsschreibung greift zur kausal-genetischen Erklärung des Reformations-Phänomens weit in die Vorzeit der R.sbewegung zurück und zeigt deren Voraussetzungen in den geistesgeschichtlichen,politischen, sozialen und kirchlichen Verhältnissen des ausgehenden MA.s auf: den Nominalismus Ockhams, neuplatonische und mystische Strömungen, den religiösen Piatonismus der Renaissance (Ficino), den neue, diesseitige Literaturbereiche erschließenden und zu den Quellen zurückdringenden Humanismus, den erstarrten Formalismus des scholastischen Schulbetriebes, den Beginn des Buchdrucks, Erasmus' Ausgabe des Neuen Testaments, Vallas Schrift über die Konstantinische Schenkung, Reuchlins Kampf um die Erhaltung der jüdischen Literatur, das aufkeimende Nationalbewußtsein (Wimpheling, Celtis), Territorialstaatlichkeit und Städtewesen, das Aufkommen des Frühkapitalismus und die Emanzipation des Bürgertums, die wachsende Kritik an der Kirche und das Versagen des Klerus bei notwendigen Reformen. Die Fülle der Ideen und Spannungen entlud sich, als Luther gegen den Ablaßhändler Tetzel auftrat. Aber diese mehr als ein Jh. dauernde Vorgeschichte, in der Generationen ihre Kritik an der Kirche in politischer, religiöser, sozialer und moralischer Hinsicht äußerten, ist noch nicht eigentliche R.; in Brants Narrenschiff, in Geilers von Kaisersberg Predigten, in der Reformatio Kaiser Sigmunds, in den Epistolae obscurorttm virorum, in Erasmus' Encomion moriae liegt uns

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Refonnationsliteratur

noch keine R.sliteratur vor. Wollte man ein fixes Datum für den Beginn der R.sliteratur angeben, müßte man auf Luthers Thesenanschlag hinweisen, der zwar das äußere Zeichen der einsetzenden Konfessionsspaltung ist, aber für die Lit.geschichte nur einen ungefähren Orientierungspunkt darstellt. Offen bleibt auch die Abgrenzung der R.sliteratur nach vorn. Der Augsburger Religionsfriede von 1555 vermochte nicht unmittelbar die Impulse, die die Lit. von der R. erhalten hatte, außer Kraft zu setzen; ehe die Gegenreformation sich auch literarisch manifestierte, vergingen noch einige Jahrzehnte, doch hebt mit dem Barock — auch mit dem protestantischen — ein neuer literaturgeschichtlicher Abschnitt an. Unter R.sliteratur ist demnach jene Lit. des 16. Jh.s zu verstehen, in der in sprachkünstlerischer Form Gedankengut der R. zum Ausdrude kommt. Sie setzt mit der reformator. Tendenzschriftstellerei Luthers ein und läuft in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s aus. Die Schwierigkeit der Umgrenzung des Begriffs R.sliteratur macht deutlich, daß die R.sliteratur keine Epoche der dt. Lit.geschichte darstellt. Die R.sliteratur hat keinen eigenen, epochalen Literaturstil ausgebildet. Vielmehr hat das geistesgeschichtliche Ereignis der Konfessionsspaltung eine Fülle von menschlichen, gesellschaftlichen und politischen Existenzproblemen aufgeworfen, die der Lit. verschiedenste Impulse gegeben haben, die teilweise lange anhielten, teilweise Früchte vorzüglich in der nachfolgenden Lit. zeitigten. Ein besonderes Kennzeichen der R.sliteratur ist ihre Zweisprachigkeit; die R.sliteratur begegnet uns sowohl im lat. wie im volkssprachlichen Gewände; eine hie und da von der Literarhistorie vorgenommene Trennung der R.sliteratur nach ihren Sprachen, wobei die lat. Lit. zugunsten der dt.sprachigen in den Hintergrund gedrängt wurde, zerstört das wahre Bild der geistigen und literar. Leistung dieser Zeit. Dt.sprachige und lat. R.sliteratur können nur gemeinsam betrachtet werden, zumal eine nicht geringe Zahl von Autoren sich beider Idiome bediente. Entscheidend für die Wahl der Sprache war der Kreis, an den man sich wandte. Gelegentlich haben auch Autoren wie Hutten ihre lat. Schriften selbst ins Deutsche übersetzt. Die großen geistigen Auseinandersetzungen allerdings finden in der Mehrzahl zunächst

noch in Latein statt. Doch läßt sich eine Tendenz zum Ubergang zur dt. Sprache erkennen, die mit der Absicht zusammenhängt, das R.sgedankengut audi den lateinunkundigen Schichten zugänglich zu machen, um sie für die neue Bewegung zu gewinnen. Nach dem statistischen Befund des Buchdrucks überwiegt bei weitem noch die Produktion lat. Texte. Es gehört zur Eigenart dieser R.sliteratur, daß sich die geistige Erschütterung, die die konfessionelle Spaltung hervorrief, im Traditionsstrom herkömmlicher Formen manifestiert. Der anhaltende heftige Kampf der einzelnen Bekenntnisse wurde mit literar. Mitteln geführt, die aus der Vorzeit des 15. Jh.s stammten. Literaturformen des Spätmittelalters und des Humanismus waren die Gefäße, die sich nun mit Erörterungen über die zentralen Probleme des Glaubens füllten. Entscheidend aber war, daß die mit den neuen Inhalten gefüllten Formen neue Funktionen erhielten. Durch die Art der Selbstauseinandersetzung, der Argumentation, der Redeweisen, der Überzeugungskraft und der Ablehnungen, Widerlegungen und Verdammungen erfuhren die übernommenen Formen gewisse Veränderungen und — wie etwa beim Drama — eine grundlegende gattungsgeschichtliche Weiterentwicklung. Die Zweckgerichtetheit der R.sliteratur, bei der das Horazische prodesse wichtiger war als das delectare, konnte nicht, wenn sie wirken wollte, einer bestimmten, noch wenig erforschten Form- und Stilkraft entraten; nur wurden für diese engagierte Lit. weithin andere Mittel und Verfahren angewandt, als eine klassisch orientierte Ästhetik sie sich vorstellte. Die von der R.sliteratur bevorzugten Gattungen sind der Traktat, die Flugschrift, die Predigt, die Fabel, das Kirchenlied, das historische Lied, die lateinische Ode oder Elegie und das Drama. Auch die Erbauungsliteratur unter protestantischem Vorzeichen wie die Lehr- und Mahndichtung (Teufelbücher) erfreuten sich nicht geringer Beliebtheit. Der noch junge Buchdruck erlebte durch die R. einen ungeheueren Aufschwung und hat seinerseits zur Verbreitung des reformatorischen Gedankengutes am meisten beigetragen. Von 1517 bis 1523 stieg die Buchproduktion dt. Texte von 85 auf tausend Titel jährlich, aber bis an die Schwelle des

Reformationsliteratur 17. Jh.s sind die lat. Druckerzeugnisse in der Mehrzahl. Bibliographie: Karl G o e d e k e , Grundriß z. Gesch. d. dt. Diditung. Bd. 2 (2. Aufl. 1886). Gustav W o l f , Quellenkunde d. dt. R.sgeschidite. 3 Bde (1915-1923). D a h Im a n η W a i t ζ , Quellenkunde d. dt. Gesch. (9. Aufl. 1931) S. 587-667: R., Gegenreformation. Karl S c h o t t e n l o h e r , Bibliographie z. dt. Gesdi. im Zeitalter d. Glaubensspaltung 1517-1585. 6 Bde (1932-1940; 2. unveränd. Aufl. 1956-58). Bd. 7: Das Sdirifttum von 1938 bis 1960. Bearb. v. Ulrich Τ hü r a u f (1966). Harold John Grimm, The Reformation era 1500-1650 (New York 1954; 2. ed. 1955). Bibliographie de la Reforme, 1450-1648. Ouvrages parus de 1940 ä 1955 (Leiden 1961 ff.). Darstellungen: Leopold v. R a n k e , Dt. Gesdi. im Zeitalter d. R. (1839-1847; hg. v. Paul Joachimsen, 1925, Ranke, Werke 1, 7). Friedr. v. B e z o l d , Gesdi. d. dt. R. (1890). Wilh. M ö l l e r , R. u. Gegenref. (2. Aufl. bearb. v. Gustav Kawerau, 1899; Lehrbuch d. Kirchengesch. 3). Heinrich H e r m e l i n k , R. u. Gegenref. (1911; 2. Aufl. 1931; Hdb. d. Kirchengesch. f. Studierende 3). Joh. H a l l er, Die Ursachend. R. (1917; Reformations-Reden). Eberhard G o t h e i n , R. u. Gegenref. (1924; Got- ' hein, Sdiriften z. Kulturgesdi. d. Ren., R. u. Gegenref. 2). Herbert S c h ö f f l e r , Die R. Einf. in e. Geistesgesdi. d. dt. Neuzeit. (1936; Abendland 1). James M a c k i n n o n , The Origins of the reformation (London 1939). Paul J o a c h i m s e n , Die R. als Epoche d. dt. Gesdiidite. Hg. v. Karl Schottenloher (1951). Roland Herbert B a i n t o n , The R. of the 16th century (Boston 1952). Ricarda H u c h , Das Zeitalter d. Glaubensspaltung (1937; 2. Aufl. 1954). Elmore Harris H a r b i s o n , The Age of the R. (Ithaca 1958). Gerhard R i t t e r , Die Weltwirkung d. R. (2. Aufl. 1959). Karl B r a n d l , Dt. Gesch. im Zeitalter d. R. u. Gegenref. (3. Aufl. 1960). Herbert S c h ö f f l e r , Wirkungen d. R. Religionssoziologisdie Folgerungen für England u. Deutsdiland (1960). Josef L o r t z , Die R. in Deutsdiland. 2 Bde (1939/40; 4. Aufl. 1962). Heinr. H e r m e l i n k , Der Toleranzgedanke im R.szeitalter (1908; Sehr. d. Ver. f. R.sgesch. 98). Heinr. H o f f m a n n , R. u. Gewissensfreiheit (1932). Günter M o l d a e n k e , Sdiriftverständnis u. Sduiftdeutung im Zeitalter d. R. (1936; Fschgn. z. Kirchen- u. Geistesgesch. 9). Hans R ü c k e r t , Die geistesgesdiiditlidie Einordnung d. R. Zs. f. Theologie u. Kirche 52 (1955), S. 43-64. Gustav A u b i n , Der Einftuß d. R. in d. Gesdi. d. dt. Wirtschaft (1929; Hallische Universitätsreden 44). Friedr. ν. Β e ζ ο 1 d, Staat u. Gesellsdia ft d. R.szeitalters, in: Die Kultur d. Gegenwart. II, 5,1 (1908) S. 1-136. E. W o l f , Reformator. Religiosität u. neue Weltlichkeit. Studium generale 14 (1961) S. 704-713. Renaissance u. Humanismus: Konrad B u r d a c h , Vom MA. z. R. (1896ff.). Paul J o a c h i m s e n , Vom MA. z. R. Histor. Vierteljahrschr. 20 (1920/21) S. 426-470 (Neudr. 1959; Libelli 50). Rieh. Ν e w a 1 d, Renatae litterae u.

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f

§ 2. L u t h e r . Das Phänomen 'Luther* ist bisher vom literarhistor. Standpunkt aus wenig gewürdigt worden. Zwar fehlte es nie an Lobeserhebungen der sdiriftstellerisdien Genialität Luthers, aber das Wesen seiner literar. Leistung harrt noch der Erforschung. Der Anstoß zur R.sbewegung ging von ihm aus, und zwar mit dem Wort, mit literar. Mitteln. Die Vorbildlichkeit und Verbindlichkeit seiner Art zu schreiben ist nicht nur in neuen Gedanken und Vorstellungen, sondern auch in den mit Erfolg angewandten literar. Mitteln zu sehen. Der in jeder Hinsicht unermeßliche Erfolg seiner Schriften hat

nicht nur seine Ursache in einem nach neuen Gedanken hungernden, rezeptionsbereiten Publikum, sondern mindestens ebenso im schriftstellerischen Geschick, sich weiten Kreisen überzeugend verständlich zu machen. Die Anwendung der dt. Sprache ist dabei nur eins der Elemente, die Luther im Kampf um die Popularisierung seiner Ideen einsetzte. Die Skala der von ihm verwendeten Mittel, um seiner Tendenz Gehör zu verschaffen und bestimmte Reaktionen zu provozieren, reicht vom Innigsten und Einfachsten bis hin zum Kunstvoll-Rhetorischen und Grobianischen. Rechtfertigung und innerer Kern dieser Haltung war das unbedingte Engagement an die eigene Idee der Erneuerung des Christentums aus dem Worte des Evangeliums. Die schriftstellerische Leistung seiner Bibelübersetzung, seiner aufklärenden Traktate und seiner zweckgebundenen Dichtung verschafft ihm einen bevorzugten Platz in der Lit.geschichte, abgesehen von dem nachhaltigen Einfluß des Werkes auf die dt. Lit. und abgesehen von dem umfangreichen theologisch-fachlichen oeuvre und dem riesigen Briefwechsel. Luthers B i b e l ü b e r s e t z u n g steht mit der R. in engem Zusammenhang; war das reine Wort des Evangeliums die Basis seiner reformatorischen Bestrebungen, so wurde die übersetzte Bibel, die jedermann zugänglich und verstehbar war, zu einem wichtigen Instrument seines Kampfes gegen die röm. Kirche. Luther gab dem „Volk", das er für seine reformatorischen Absichten brauchte, mit der dt. Bibel die Möglichkeit an die Hand, das Mißverhältnis zwischen dem Evangelium und den kirchlichen Zuständen der Zeit selbst zu kontrollieren. Insofern war die Bibelübersetzung 'nur' die Konsequenz aus seinen bisherigen Ansätzen zur Veränderung der kirchlichen Verhältnisse. Daß Luther sich mit diesem Unternehmen in eine längere Tradition dt. Bibelübersetzungen stellte, schränkt die Leistung seiner Übersetzerkunst nicht im mindesten ein, denn gerade ihr ist es zu verdanken, daß die Bibel in dieser Gestalt über den unmittelbaren Anlaß hinaus von nicht abzuschätzender Bedeutung für das Abendland geworden ist.—Der Grund dafür, daß Luther nicht eine der bereits vorliegenden dt. Bibeln verwandte — immerhin lagen bis 1522 vierzehn hdt. und vier nddt. Bibeldrucke und zahlreiche

Reformationsliteratur

Perikopenbücher und Teilübersetzungen vor — ist darin zu sehen, daß die älteren Übersetzungen auf der Vulgata basierten, deren Textzuverlässigkeit zwar kanonisiert war, aber durch die philologische Kritik der Humanisten erheblich in Zweifel gezogen wurde. Der Rückgriff auf die griech. Fassung, die Septuaginta, war für die humanistisch gebildeten Reformatoren nicht nur vom philologischen, sondern auch vom reformatorischen Standpunkt aus selbstverständlich. Die Ubers, der Bibel nadi den Urtexten trug dem humanistischen Geist der Zeit Rechnung. — Luthers Plan zur Übers, war auf der Wartburg herangereift; die Hauptanregung ging von Melanchthon aus, der bis zu Luthers Tod der vertrauteste Mitarbeiter an dem Unternehmen blieb. Mitte Dezember 1521, nach seinem heimlichen Aufenthalt in Wittenberg, begann Luther mit der Übersetzung des NT; das Manuskript war elf Wochen später bei seiner Rückkehr nach Wittenberg am 6. März 1522 fertig und wurde unter Mithilfe Melanchthons und anderer (u. a. Spalatin und Mutian) ausgefeilt und verbessert. — Die Frage, welche Textvorlagen Luther auf der Wartburg für die Ubers, des NT zur Verfügung standen, hat die Luther-Forschung sehr beschäftigt; von theologischer Seite neigt man heute zu der Auffassung, daß es eine „im einzelnen nicht untersdieidbare griech.-lat. Textkombination" war (Bomkamm). Vorgelegen haben Luther die Vulgata (vermutlich in einem Handexemplar und in einem größeren mit der glossa ordinaria), der griech. Text in der Ausgabe des Erasmus (1518/19, 2. Auflage) und dessen Annotationes (1515, 1519), evtl. auch Gerbeis Novum Testamentum

Graece

(Hagenau, März 1521). Luther hat sich keiner der Vorlagen sklavisch angeschlossen; er folgte zwar dem griech. Text und verbesserte die Fehler der Vulgata, aber er griff auch an einigen Stellen in den Text des Erasmus ein. Umstritten ist, ob Luther noch ältere dt. Ubers.en heranzog. Während Freitag die Benutzung der Zainer-Bibel glaubte nachweisen zu können, sind andere (Bebermeyer, Bornkamm) der Ansicht, Luther habe zwar die älteren Ubers.en, Perikopenbücher und Evangelienharmonien gekannt, aber nicht für seine Arbeit verwendet. Auch Schirokauers Vorstellung, Luther habe die nddt. Bibel benutzt, hat sich nach Bluhms Unter-

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suchungen als kaum haltbar erwiesen; zwar stehen die nddt. Bibeln näher zu Luthers Text als die obdt., aber ein direkter Einfluß läßt sich an den wenigen Berührungspunkten nicht eindeutig nachweisen. Viel für sich hat die Vorstellung, Luther habe im „Bann einer kirchensprachlichen Uberlieferung" (Bruchmann) gestanden. Kurz vor dem 21. September 1522 erschien in Folio Das Newe Testament Deutzsch, Vuittemberg in Verlegung Chn. Dörings und Lukas Cranachs d. Ä., der Drucker war Melchior Lotter; die Auflage betrug wahrscheinlich 3000 Exemplare. Die Namen des Ubersetzers, der Verleger und des Drudcers wurden verschwiegen. In der Luther-Philologie wird dieser Erstdruck als'Septembertestament' bezeichnet — im Unterschied zu der im gleichen Jahr im Dezember erschienenen zweiten Auflage des NT, dem 'Dezembertestament', das bereits zahlreiche Verbesserungen (vor allem in der Wortstellung) enthält. Das Septembertestament erfuhr mehrere Nachdrucke in Oberdeutsciiland: Augsburg, Basel, danach Straßburg und Nürnberg. 1523 erschien die nddt. Übertragung des NT in Wittenberg bei Lotter. Noch während der Drucklegung des Septembertestaments begann Luther mit der Ubers, des AT, von dem der erste Teil, die fünf Bücher Mose, im Sommer 1523 die Presse verließ: Das Allte Testament deutsch. M. Luther. Vvittemberg; eine zweite Auflage desselben Jahres verfügte schon über 150 neue Textveränderungen. 1523 erschien der Pentateuch auch niederdeutsch. Im Januar 1524 kam Das Ander teyl des alten testaments (Josua bis Esther) heraus, im Herbst Das Dritte teyl des allten Testaments (Hiob und Psalter bis Hohelied). Danach trat wegen anderer beruflicher und schriftstellerischer Verpflichtungen eine Pause im Ubersetzen ein; erst vier Jahre später erschien der Rest in zeitlichen Abständen: September 1528 Jesaja, Juni 1529 Weisheit Salomonts, Frühsommer 1530 Daniel, März 1532 Die Propheten alle Deudsdi, 1533 Jesus Sirach und weitere Bücher der Apokryphen, von denen Melanchthon das erste Buch der Makkabäer übertrug. Zur Leipziger Mithaelismesse 1534 kam die erste 'Vollbibel' heraus, der die nddt. Version um ein halbes Jahr vorausgegangen war. Die beiden letzten Ausgaben der Vollbibel, auf die Luther noch Einfluß hatte, sind die Drucke von 1545 und 1546. Uber die Frage, ob 1545 oder 1546, die nach Luthers Tode erschien, als Ausgabe letzter Hand zu gelten habe, hatte sich in der Luther-Philologie ein Streit entsponnen, der mit dem Kompromiß beigelegt wurde, daß das NT von 1546 als Ausgabe letzter Hand zu gelten hat, da hier Rörer, Luthers langjähriger Korrektor, mit vorwissen und rath der Gelerten von Wittenberg Textkorrekturen im Römerbrief und in den Korintherbriefen einfügte, die nachweislich auf Luthers Textrevision vom Herbst 1544 zurückgehen. Die Ausgabe letzter Hand des AT ist die Fassung der Vollbibel von 1545. — Luthers Bibelübers. ist vom Erscheinen des Septembertestaments bis zur Ausgabe letzter Hand

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einem permanenten Werdeprozeß unterworfen gewesen. Die Arbeit daran war nie abgeschlossen, zahlreiche Verbesserungen bietet fast jeder neue, von Luther besorgte Drude. Die Geschichte dieses philologischen Vorganges ist punktuell beleuchtet worden, harrt aber noch einer wünschenswerten Gesamtdarstellung. In die einzelnen Stationen des Textes gewähren die noch erhaltenen sog. Bibelrevisionsprotokolle (WA 3-4) Einblicke; es handelt sich um die von Rörer geschriebenen Protokolle der Arbeitssitzungen, die Luther mit Freunden (Melanchthon, Bugenhagen, J. Jonas, Cruciger, Aurogallus, Ziegler, Forstemius u. a.) abhielt, um an einzelnen Textstellen den Sinn oder die dt. Formulierung zu verbessern. Die Resultate dieser Sitzungen mündeten in die folgenden Drudefassungen der Texte. Fünf solcher Revisionstagungen sind bekannt: 1531, 1534, 1539/40, 1541, 1544.

Die Art und Weise, wie Luther die Bibel verdeutschte, hängt mit seiner theologischen Grundkonzeption zusammen: die Heilige Schrift ist die einzige Quelle religiöser Erkenntnis; durch sie redet Gott zum Menschen; das Evangelium enthält die Offenbarung des göttlichen Willens. Diese humanist. Rückführung auf das Wort als den Vermittler des Glaubens setzte sich bewußt gegen die scholastische Bibelexegese ab, die von der Vorstellung des vierfachen Schriftsinns bestimmt war, und forderte die Erfassung und Erhellung des Wortsinns allein mit Hilfe philologisch-grammatischer Mittel. Der evangelische Theologe mußte, um die Hl. Schrift richtig erfassen zu können, durch die philologische Schule des Humanismus gegangen sein. Für Luther, der jede allegorische Auslegung ablehnte (Ego odi allegorias), galt nur das reine Wort als alleinige Autorität. Es liegt alles am Wort (WA 18, 204) und Maior est enim huius scriptwrae authoritas quam omnis humani ingenii capacitas (WA 9, 66). So sollte seine Ubers, dem Laien den Bibeltext in möglichster Reinheit nahe bringen. Hier kam es ihm zugute, daß er außer seiner religiösen Berufung auch eine Begabung für Sprache, diese schöne, große, herrliche gäbe Gottes (WA TR 3, 3271), besaß, die es ihm ermöglichte, zu der bis heute gültigen Synthese zwischen Inhalt und Form der dt. Bibel zu kommen. Luther ging beim Übersetzen, soweit es sich rekonstruieren läßt, etwa folgendermaßen vor: zunächst wurde der Sinn der Vorlage nach grammatischen Kriterien, dann aus der Kenntnis der ganzen Hl. Schrift heraus zu erfassen gesucht (verbi intelli-

gentia ex tota scriptum et ebeumstantia rerum gestarum petenda est, WA 2, 302); war der Sinn geklärt, dann wurde er in die adaequate dt. Fassung gebracht, was nach Luthers und anderer Berichten von größter Schwierigkeit war. Für drei Zeilen Hiob ζ. B. brauchten Luther, Melanchthon und Aurogallus einmal vier Tage (WA 30, 2, 636). Die sprachliche Tendenz ging auf eine einfache, volkstümliche Fassung, die vom nichtgelehrten Laien verstanden werden konnte. Im Sendbrief vom Dolmetschen (1530) hat Luther, herausgefordert durch die Kritik der kathol. Gegner, insbesondere Emsers, seine Ubersetzungstendenzen klargelegt und an einzelnen Beispielen die philologische wie theologische Richtigkeit seiner Übertragung demonstriert. Generell kam es darauf an, von dem lat. Duktus, der stellenweise (aber nicht überall) die dt. Sprache der Zeit bestimmte, loszukommen und eine Ausdrudesweise und Sprachform zu finden, die der dt. Sprache a priori wesensgemäß waren. In religiöser wie sprachlicher Hinsicht war damit die „Neuschöpfung des Bibelwortes" (Bornkamm) vollzogen. Luther war sich der Bedeutung seiner Ubers, bewußt (Vorrede zum AT 1523), und die heftige Kritik seines ehemaligen Erfurter Lehrers, Hieronimus E m s er s (Ausz was grund unnd ursadi Luthers dolmatschung über das nawe testament dem gemeinen man billich vorbotten worden sey, 1523) bezeugt das, denn er behauptete, 1400 'Fehler' und 'Ketzereien' in Luthers NT-Übertragung gefunden zu haben, die aber fast sämtlich Luthers Abweichung vom Vulgata-Text waren. Emser selbst machte sich dann an eine Überarbeitung des Luther-Textes (1527), indem er dessen Fassung wieder in Übereinstimmung mit der Vulgata brachte. Den geringfügigen Eingriffen Emsers kann man ablesen, wie sehr er an sich den Luther-Text als dt. Übertragung gutheißen mußte. Diese Fassung diente dann später Eck für seine sprachlich sehr interessante Ubers, der mitteldt. Version ins Oberdeutsche. Gegen Emser trat bereits 1524 Urbanus Rhegius mit seiner Schrift Ob das new testament yetz recht verteutscht sey auf. Luthers d e u t s c h e S c h r i f t e n , die seit 1518 in kurzen Abständen erschienen,

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waren durch verschiedene Absichten veranlaßt worden. Zunächst ging es ihm um Information und Aufklärung breiter Laienschichten, die keinen Zugang zur theologischen Fachlit. hatten, dann sah er sich zu Erwiderungen auf Schriften seiner Gegner veranlaßt; diese Streitschriften nehmen einen beträchtlichen Platz in Luthers ceuvre ein und begegnen von Anfang bis Ende in einer wesentlich gleichen Stillage. Schließlich verlangte auch die neue Kirche nach Unterweisung für ihre Gemeinden, und Luther sah sich genötigt, mit Lehrbüchern, Texten, Predigten usw. diesem Bedürfnis entgegen zu kommen. Der Grundtenor aller dieser Schriften ist Luthers zentrales Anliegen des rechten Verhältnisses des Menschen zu einem gnädigen Gott. Nichts dürfe sich zwischen Gott und die Seele einschalten, das Heil sei nicht durch eigene irdische Anstrengungen des Menschen, sondern durch die unverdienbare Gnade Gottes und allein durch den Glauben daran zu erlangen. Die Aufgabe, die Luther vor sich hatte, war eine dreifache: er mußte sich gegen die kirchliche Tradition fachlich zur Wehr setzen; er mußte gleichzeitig seine neuen Gedanken so popularisieren, daß die breite Masse sie verstand und ihr die Richtigkeit der Argumentation einleuchtete, und er mußte schließlich auch aus seiner religiösen Vision die polit. und sozialen Konsequenzen ziehen und Empfehlungen für neue politisch-gesellschaftliche Strukturen geben. Mag manche Publikation ihre Entstehung dem Zufall verdanken, die Richtungen, in die Luthers Appelle gingen, zeichnen klar seine Konzeption ab. Nach dem Anschlag der Thesen, die an die Adresse der theologischen Fadikollegen gerichtet waren, aber gleichwohl in die breite Öffentlichkeit gedrungen waren, verfaßte Luther in den Jahren 1518/19 eine Reihe von Traktaten, in denen er zunächst die Hauptgedanken der Thesen (Sermon von dem Ablas und gnade, 1518) popularisierte, dann aber zur Kritik an den kirchlichen Verhältnissen überging, so im Unterricht auf etlidi Artickell (1519), in denen er nodi für eine Reformierung der Papstkirche aufgrund des Evangeliums eintritt. Gegenüber den drei Drukken der lat. Thesen erlebten diese beiden Traktate jeweils 16 bzw. 10 Auflagen allein im Erscheinungsjahr. Auch die weiteren dt. Schriften des Jahres 1519 sind der klärenden Unterweisung des Laien gewidmet. Im Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi, der die Ansätze zu Luthers Christologie enthält, geht es ihm darum, das mitfühlende Leiden bei der Betrachtung von Christi Opfertod, das durch

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die Passionsspiele oder durch die mal. Andacht gefördert worden war, umzuwandeln in den aktiven Prozeß der Selbsterkenntnis des eigenen sündhaften Zustandes und der Zerknirschung darüber, die wiederum nur aus dem Glauben an die durch Christi Opfertod erfolgte Erlösung und durch die Gnade Gottes überwunden werden soll. In den drei zusammenhängenden Sermones von der Beichte, von der Taufe und vom Abendmahl greift Luther in die Sakramentlehre der alten Kirche ein: nur diese drei seien als Sakramente anzusehen. Er möchte zur Verinnerlichung und zum unbedingten Glauben führen und bemüht sich, seine christl. Lehre — ohne Kritik an den Zeitläuften und ohne Polemik — den Laien verständlich zu machen. Mit dem Sermon von der Bereitung zum Sterben griff Luther eine Lit.gattung auf, die sich im späten MA. reich entfaltet hatte: die ars-moriendiSchriften; geschickt wird hier die Gattung neuen Vorstellungen angepaßt: man müsse nicht nur die äußerliche (Testament) und die innerliche Ordnung (Vergebung angetanen Unrechts) schaffen, sondern im Bilde Christi und im Glauben an Gott den Tod zu überwinden suchen; die Sakramente allein bewirkten nichts, wenn nicht der Glaube da ist.

Mit diesen Schriften hatte Luther dem Laien seine Vorstellungen der neuen Kirche und ihrer Heilsmittel vor Augen geführt; er tat es in einem besonderen, dem Adressaten angemessenen Stil, der sich von anderen Veröffentlichungen nicht unwesentlich unterscheidet: klar, einfach, einprägsam, wenig Zitate und kaum gelehrte Anspielungen. Die Art der Beweisführung und die behutsame Einführung des Lesers in die Probleme haben sicherlich zu dem ungewöhnlichen Erfolg dieser Schriften beigetragen. Nach dieser Vorbereitung erschienen im Jahre 1520 die großen programmatischen R.sschriften, die frühere Gedanken aufnehmen, weiter ausbauen, gelehrt dokumentieren, Argumente der Gegner widerlegen und Neues hinzutun. Die nun zu einem Politicum gewordene R. erhält in diesen Schriften ihr Programm. Im Traktat Von den guten Werken legte Luther seine Vorstellungen der neuen Frömmigkeit vor. Die guten Werke sind die Befolgung der Gebote Gottes; nicht die Kirche, nicht Beten, Fasten, Almosen sind gute Werke an sich, sondern ein gotterfülltes tätiges Leben in seinen täglichen Verrichtungen, wenn sie aus dem Glauben als der Quelle allen menschlichen Tuns geschehen. Der Unterschied der mal. Ethik zwischen profanem und heiligem Handeln ist aufgehoben, denn alles, was aus der rechten Gesinnung gegen Gott geschieht, ist heilig; die

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Lust am Guten und die Gewißheit der Gnade Gottes schälen sich hier als der Kern der reformatorischen Ethik heraus. Luther selbst hielt diese Schrift für das Beste, was er bisher geschrieben hatte (an Spalatin, 25. 3. 1520). Im gleichen Jahr erschien die berühmteste reformatorische Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation . . . , in der Luther versuchte, Karl V. und die deutschen Fürsten für sein Reformprogramm, das auf die weltliche Entmachtung der Kurie zielte, zu gewinnen. Der Kaiser und der Adel sollen zum Heil der Christenheit die drei Sdhutzmauem der Romanisten brechen: die geistliche Gewalt, die sich über die weltliche erhebt, die alleinige Autorität des Papstes in der Schriftauslegung und das alleinige Recht des Papstes, Konzile einzuberufen. Luther forderte damit die Aufhebung der Zwei-Gewalten-Lehre, denn alle Christen seien geistlichen Standes und nur durch ihr Amt unterschieden; der Anspruch der Unfehlbarkeit des Papstes in Glaubensdingen sei ebensowenig aus der Schrift zu belegen wie die Eigengesetzlidikeit der Kurie, allein Konzile einberufen zu dürfen. Der Kaiser solle das notwendige Konzil gegen den Papst einberufen. Luther gibt dann im zweiten Teil der Schrift einen umfangreichen Katalog der Gravamina auf kirchlichem und sozialem Gebiet, beginnend mit der lapidaren Aufgabenteilung: der Papst soll beten, der Kaiser schützen, der gemeine Mann arbeiten, jedem sei sein Werk zugeordnet. Aus der Fülle der abzustellenden Mißstände, die Luther anführt, seien hier nur die hauptsächlichsten Forderungen genannt: Schutz des Volkes gegen die Praktik Roms, Ausschaltung der Kurie bei der Ernennung von Bischöfen und Abschaffung des Bischofeides gegenüber dem Papst; die Kurie dürfe veder weltliche Sachen verhandeln noch sich in weltliche Händel mischen; die casus reservati seien abzuschaffen und das Messe-Lesen stark einzuschränken; Pilgerreisen nach Rom und Wallfahrten zu Wunderstätten wären sinnlos; das päpstliche Interdict sei aufzuheben; es dürften keine kirchlichen Feiertage auf Werktage gelegt werden; es sollen keine Bettelklöster errichtet werden, das Keuschheitsgebot der Priester sei zu annullieren. Eine Universitätsreform sei unerläßlich (u. a. Abschaffung der Schriften des Aristoteles, außer der Logik, Rhetorik und Poetik). Auf sozialem Gebiet wünscht Luther eine Bekämpfung der herrschenden weltlichen Gebrechen: Armenfürsorge durch einzusetzende Almosenschaffner, Kleidergebote gegen Hoffart und Luxus, Importverbote, Ordnung des Zinsund Kreditwesens, Gesetze gegen Mißbrauch des 'Fressens und Sauffens', weil dies Ursache von Mord, Ehebruch, Diebstahl wäre, Abschaffung der Frauenhäuser usw. Luthers theologischer Kampf gegen die alte Kirche verbindet sich hier mit dem praktischen Zweck einer Reform kirchlicher und sozialer Mißstände; die Bedeutung der Schrift (in 18 Tagen sollen 4000 Exem-

plare verkauft worden seinl) basiert auf der Fixierung der Gravamina und auf der Aufhebung der mittelalterlichen Lehre von den zwei. Völkern, zwei Gewalten, zwei Reichen; das die Zeitgenossen überraschende Ergebnis war, daß man keine Furcht mehr vor der geistlichen Gewalt zu haben brauchte. Darüber hinaus ist die Schrift auch vom Sprachlich-Formalen her für die Zeit ansprechend gewesen. Luther zieht hier bereits alle Register seiner Sprachkunst: eindrucksvolle Bilder wie das der drei Mauern des Klerus, Wortspiele, Grobianismen, die Mittel der Ironie und der Klimax, häufige Anaphora, Synonymenketten usw. bestimmen die Stillage, die im ganzen auf den Grundton scheinbarer Demut, auf das Narrenthema, wie es in der Vorrede anklingt, abgestellt ist. Luthers dritte für die reformatorische Bewegung bedeutungsvolle Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen gehört, obwohl sie nachweislich in zwei Tagen entstanden ist (13./14. Oktober 1520), zu dem Großartigsten, was Luther geschrieben hat. Die neue Glaubenslehre ist hier klar und prägnant formuliert worden. Der Anlaß der Schrift war der Versuch, sich mit dem Papst auf friedlichem Wege auseinanderzusetzen, wozu Miltitz kurz zuvor angeregt hatte. Luther faßte seine Glaubensvorstellungen zusammen und widmete sie mit einem Sendschreiben Leo X.; die dt. Fassung erschien zuerst, die lat., überarbeitete, etwas später. Als Sinn der Schrift gab Luther an: es ist eyn kleyn buechle / ßo das papyr voirt angsehen / aber doch die gantz summa eyniß Christlichen leben drynnen begriffen / ßo der synn vorstannden wirt. Luther beteuert in der Einleitung, nichts gegen die Person Leos X. gesagt zu haben, sondern sich gegen die Machenschaften der Kurie zu wenden, durch die die allerheiligste Kirche zu einer Mordgrube, einem Bubenhaus, einem heubt vnd reych aller sund des todts vnd vordamniß geworden sei. Die Schrift hat die Aufgabe, das scheinbare Paradoxon zu klären: Eyn Christen mensch ist ein freyer herr / über alle ding I und niemandt unterthan.—Eyn Christenmensch ist eyn dienstpar knecht aller ding und yderman unterthan. Der inbrünstige Glaube macht ohne alle Werke den Menschen frum, frey und selig, er macht den Christen in geistlicher Hinsicht zum Herrn; in der Gemeinschaft aber hat der Christenmensch aus diesem Glauben und der Liebe zu Gott heraus zu dienen und nützlich zu sein. Die Freiheit des Christenmenschen besteht darin, daß er freiwillig nach Gottes Geboten lebend im Glauben alles ohne Absicht auf Verdienste vor Gott tut. Das alte Dualitätsproblem, Gott und der Welt zu gefallen, hat damit für Luther und den Protestantismus seine Lösung gefunden.

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Zielten die dt. Schriften Luthers vor allem darauf ab, das reformator. Gedankengut im eigenen Volk zu verbreiten, so drang Luther mit der lat. abgefaßten Schrift De captivitate Babylonica ecclesiae (1520) in die Gelehrtenkreise Europas ein, wohin die dt. Texte weniger gelangten, trotz ihrer teilweisen lat. Ubers.en anderer. Luther greift hier ein Herzstück der alten Kirche, den Sakramentsglauben, an. Die Bibel kenne nur ein Sakrament, nämlich das Wort Gottes, und drei sakramentale Zeichen (Taufe, Buße, Abendmahl); die anderen Sakramente lassen sich aus der Bibel nicht belegen und seien abzuschaffen; die Kirche könne keinesfalls Sakramente einrichten. Diese Ablehnung rief nun auch bei den europäischen Gelehrten Erregung und Verstimmung hervor; es ist bezeichnend für Luthers weitreichende Absichten, daß er gerade diese Schrift in Latein ausgehen ließ. In den Jahren nach dem Wartburgaufenthalt hat Luther in zahlreichen Schriften zu Themen der Zeit und der Tagespolitik von seinem Standpunkt aus Stellung genommen; dazu gehören die Schriften Von Kaufmannshandlung und Wucher (1524), Ein treu Vermahnung zu allen Christen, steh zu verhüten vor Aufruhr und Empörung (1522), Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523), Ordnung eines gemeinen Kasten (1523). Besondere Beachtung verdient im Rahmen der Bildungsgeschichte die Empfehlung An die Ratsherrn aller Städte deutschen Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen (1524), in der sich reformator. und humanist. Forderungen zu einem christlich orientierten Erziehungsprogramm verbinden; Erziehung und Ausbildung der Kinder ist nicht allein Sache der Eltern, sondern auch des Rats, der für die entsprechenden Sdiulen zu sorgen und sich um deren Leistungsfähigkeit zu kümmern hat. Insbesondere fordert Luther eine gute Ausbildung in den drei Sprachen Hebräisch, Griechisch und Lateinisch; ohne diese Sprachen müßte das Evangelium untergehen. Außerdem schlägt er die Errichtung von Bibliotheken vor, die neben der Hl. Schrift die Lit. der Antike, juristische und medizinische Bücher und Chroniken und Historien enthalten sollen. Diese Empfehlungen haben in der ersten Hälfte des 16. Jh.s allenthalben ein Echo gefunden. Unter den polit. Stellungnahmen ragen besonders Luthers drei Schriften zu den Vorgängen des B a u e r n k r i e g s hervor (1525); in der Ermahnung zum Frieden versuchte Luther noch im Sinne des Evangeliums zwischen den Parteien zu vermitteln; der Bauernaufstand helfe nicht der Verbreitung des Evangeliums, sondern verhindere sie. Das

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Begehren der Bauern könne nicht im Namen Christi geführt werden. Luthers theologische Trennimg von geistlich-christlichem und weltlichem Verhalten der Bauern befremdete die sich namentlich auf ihn berufende Bewegimg. Die flammende Schrift Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern zeiht die Bewegung des Teufelswerks, der Sünde wider Gott und Menschen (Ungehorsam gegen Obrigkeit, Aufruhr und Plünderei, Mißbrauch von Christi Namen). Die harte Abfertigung ist nur verständlich aus Luthers religiöser — und nicht gesellschaftlicher — Obrigkeits- und Ordnungsvorstellung, die er durch den Bauernkrieg bedroht sah. Das „Zetergeschrei" wegen dieser Schrift veranlaßte Luther zu einem Sendbrief, in dem er seinen Standpunkt zu erklären suchte. Luther war einerseits verärgert, daß die Bauern nichts aus dem Evangelium gelernt hatten, und andererseits stand er prinzipiell auf Seiten jener, die vom Aufruhr heimgesucht wurden, ganz gleich, ob sie schuldig oder unschuldig waren. In der Treuen Vermahnung zu allen Christen (1522) ist der Schlüssel für Luthers häufig mißverstandenen Umschlag in seinem Verhältnis zu den Bauern zu finden. — Auch in späteren Jahren griff Luther — meist in scharfem polemischen Ton — in die polit. Auseinandersetzungen ein. Die Argumente sind dabei im wesentlichen die bekannten, die literar. Diktion und die Treffsicherheit im Ausdruck aber noch wirkungsvoller. In Schriften wie Von der Winkelmesse und Pfaffenweihe (1533) und vor allem in Wider Hans Worst (1541), letztere gegen Heinz von Wolfenbüttel gerichtet, findet Luther eine Form der Polemik, die weit über das Maß der gewöhnlichen Auseinandersetzungen der Zeit hinausgeht. Trotz der Verwendung des grobianischen Stils par excellence tritt als leuchtender Gegenpol Luthers Auffassung von der neuen Urkirche des Christentums hervor, so daß Polemik hier nicht leeres Eifern ist, sondern zu positiver Klärung führt. Wider Hans Worst gehört zu Luthers interessantesten literarischen Leistungen. Wie die Bibelübersetzung und die Prosaschriften verdankt auch Luthers L i e d e r d i c h t u n g ihre Entstehung praktischen Bedürfnissen. Sie hängt mit der Entwicklung des dt. Gottesdienstes zusammen, denn die Einbeziehung der Gemeinde in die Liturgie

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erforderte dt. Lieder. Luther schwebten dabei sowohl die Belebung des Gottesdienstes als auch die Einprägung der Lehre und die Verkündung des Wortes Gottes vor. Der plötzliche Beginn seiner Liederdichtung läßt sich aus Thomas Müntzers liturgischer Reform, der als erster dt. Kirchenlieder in seine dt. Liturgie aufnahm, erklären; Luther sah sich genötigt, neben der dt. Predigt nun auch die Messe deutsch zu fassen und Kirchenlieder als Bestand der Liturgie aufzunehmen. Im Alter von vierzig Jahren verfaßte Luther allein 1523/24 vierundzwanzig geistliche Lieder, das sind Zweidrittel aller Luther-Lieder. Eine Entwicklung im Liedschaffen läßt sich ebensowenig feststellen wie irgendwelche biographischen Bezüge. Ihrem Wesen nach sind es liturgische Lieder und nicht Ausdruck mittelbarer Herzenserlebnisse, wie es ältere Liedforscher annahmen (Spitta ζ. B.). Noch in der Formula missae et communionis (1523) beklagte Luther das Fehlen derartiger Lieder: Cantica velim etiam nobis esse vernacula quam plurima, quae populus sub missa cantaret. Sedpoetae nobis desunt; er empfahl zunächst einige ältere dt. geistliche Lieder als Gemeindegesang zu verwenden. Um die Wende 1523/24 teilt er Spalatin mit: Consilium est, exemplo prophetarum et priscorum patrum ecclesiae psalmos vernaculos condere pro vulgo, id est spirituales cantilenas, quo verbum Dei vel cantu inter populos maneat (WA Br. 3, 698); er bittet um Mitarbeit und um Vermittlung von Poeten für diese Aufgabe. Obwohl einzelne von Luthers Liedern in Einblattdrudsen erschienen, werden sie uns erst in den 1524 gedruckten Liederbüchern greifbar: das sogen. Achtliederbuch des Nürnberger Drukkers Jobst Gutknecht (1523/24) enthält 4 Lieder, zwei Erfurter Enchiridien (1524) 14 Lieder; der authentische Text liegt wohl im Wittenberger Gesangbüchlein von 1524 vor, das Johannes Walther, der Musikmeister des Kurfürsten, mit einer Vorrede von Luther herausgab. Die beiden frühesten Lieder, Ei/n newes lied wyr heben an und Nu frewt euch liebe Christen gmeyn sind noch nicht für den Gemeindegesang konzipiert gewesen; das erste Lied bezieht sich auf die am 1. Juli 1523 erfolgte Hinrichtung zweier Antwerpener Augustiner durch die Inquisition. Die anderen Lieder Luthers dieser ersten Phase sind größtenteils Ubersetzungen mal. Hymnen oder Bearbeitungen von Psalmentexten. Das Reformationslied Ein feste Burg hat sich nach neueren Forschungen nicht mit dem Wormser Reichstag in Zusammenhang bringen lassen, es dürfte im Herbst 1527 entstanden und 1528 veröffent-

licht worden sein und zu dem Kreis der übrigen reformator. Psalmenlieder Luthers und seiner Freunde gehören; der 46. Psalm (Deus noster refugium et virtus) hat wohl den Anstoß zu diesem 'lutherischsten' Lied gegeben. Auch die übrigen nach 1524 entstandenen Lieder, unter ihnen Weihnachtslieder (Vom Himmel hoch 1535), Katechismuslieder und Umdichtungen mal. Hymnen, sind ebenfalls für den Gemeindegesang gedacht gewesen.

Wieweit Luther an der musikalischen Bearbeitung seiner Lieder selbst teilhatte, ist nur in einigen Fällen genau geklärt, anderes ist umstritten oder noch offen. Formale Untersuchungen haben ergeben, daß Luthers Liederschaffen von verhältnismäßig großem Formenreichtum gekennzeichnet ist; Traditionen der Meistersänger, des weltlichen und geistlichen Liedes und des alten Kirchenliedes begegnen in Versmaß und Strophenform. Der Verzicht auf Neuerungen und die Verwendung von dem Volk bekannten und geläufigen Formen ist abermals eine bewußte Entscheidung gewesen, mit vorliegenden literar. Mitteln die eigene Lehre zu propagieren. Die literar. Leistung besteht darin, daß von nun an das Protestant. Gemeindelied eine neue Funktion als liturgisches Lied erhielt, während die mal. Lieder außerhalb der Liturgie standen; unter diesem Zeichen setzte dann die Flut der geistlichen Liederdiditungen des 16. Jh.s ein. Die pragmatische Tendenz, die Luthers ganzes Werk durchzieht, ist auch die Ursache seiner Vorliebe für die F a b e l : wuesste ich ausser der heiligen Sdvrifft / nicht viel Buecher / die diesem (Äsop) uberlegen sein Sölten / so man Nutz / Kunst und Weisheit / und nicht hochbedechtig Geschrey wolt ansehen ... (Vorrede). Die Fabel war Luther ein willkommenes Mittel, die Mensclien zu warnen und in ihrem Wandel und Wesen zu unterweisen. In kurzer Mußezeit Ende April bis Anfang Mai 1530, als er sich auf Geheiß des Kurfürsten während des Augsburger Reichstages auf Schloß Koburg aufhielt, nahm er sich die Erneuerung der äsopischen Fabeln vor; doch ist die Arbeit Fragment geblieben und erst nach seinem Tode gedruckt worden (1557 in der Jenaer Ausgabe); Vorlage war Steinhöwels Äsop-Fassung (1480), die er von ihren Zusätzen und Auslegungen reinigen und der er ein wenig besser Gestalt geben wollte. Es sollte ein schlichtes, allgemeinverständlidies Buch moralischer Unterweisung werden, daraus ein

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Hausvater über Tisch seiner Familie und dem Gesinde vorlesen sollte; deshalb sollte es ein lustiger und lieblicher / doch erbarlicher und züchtiger und nützlicher Esopus werden. Außer der für die Geschichte der Fabel bemerkenswerten Vorrede sind nur 13 Fabeln zu den Themen Torheit, Haß, Untreue, Neid, Geiz, Gewalt zustande gekommen. Ihre einfache Diktion macht sie zu Musterstücken deutscher Prosa des 16. Jh.s. Luthers s p r a c h l i c h e L e i s t u n g , die frühere Forschung an den Anfang des Frühneuhochdeutschen setzte, beruht in allmählicher Erarbeitung eines seinen Zwecken angemessenen literar. Stils, als dessen Faktoren eine erstaunliche Begabung für Sprache und deren Ausbildung durch Lektüre, Beobachtung und unermüdliche Schulung gelten können. Zu seiner Zeit war die dt. Sprache weder in lautlicher noch in grammatischer, geschweige in formaler Hinsicht zu einer Einheitlichkeit gereift. Luther war sich der mundartlichen Gebundenheit des Deutschen bewußt (WA TR 5, 512/524, WA 18, 180; 15, 38); er entschied sich mit Absicht für eine Sprachform, in der er sich, aus Gründen der Propaganda, im gesamten dt. Sprachgebiet verständlich machen konnte; die Basis hierfür war die Sprache des ostmitteldeutschen Raumes. So unbestreitbar ist, daß Luthers dt. Schriften zur Vereinheitlichung der dt. Schriftsprache mitgeholfen und wesentliche Impulse der Stilgestaltung des Deutschen im 16. Jh. vermittelt haben, so wird man aber kaum Luther aufgrund seiner ganz anderen schriftstellerischen Intentionen als Schöpfer des Neuhochdeutschen apostrophieren können. Luthers Literatursprache steht in einer längeren Tradition, die noch keineswegs hinreichend untersucht ist, deren einzelne Elemente er virtuos zu gebrauchen vermochte und durch hohes Stilempfinden zu veredeln wußte. An seinen dt. Schriften läßt sich die Leistimgsfähigkeit der dt. Sprache im 16. Jh. ablesen, aber die stilistisch-formale Wirkung war geringer als die gedankliche. Luthers Sprache ist, der Zeit entsprechend, von starker Bildlichkeit bestimmt; die Diktion ist klar, einfach und hilfreich bei der Explizierung schwieriger Gedanken für den Laien, auf dessen Verständnis Rücksicht genommen wird; in der Polemik wird der Ton satirisch gefärbt und spart nicht an grobianischen Derbheiten. Luthers stilistische Fähigkeiten

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zeigen sich in der Auswahl und Anwendung der Strukturmittel (Antithesen, Fragen, direkte Reden, Wiederholungen als Mittel der Intensivierung, Anreden, Technik der Argumentation und Widerlegung); ein gewisses Maß an Pathos überträgt seine innere Erregung und Beteiligung unmittelbar auf den Leser. Seine sprachliche Begabung zeigt sich vor allem in den in Fülle verwendeten hyperbolischen Vergleichen, Metaphern, Wortspielen, Wortneubildungen, Sprichwörtern, Personifizierungen usw., deren er sich besonders in polemischen Schriften bedient. Obwohl kein Zweifel besteht, Luther qualitätsmäßig zu den bedeutendsten dt. Schriftstellern zu rechnen, und er auch im 16. Jh. der meistgelesene Autor war, ist sein Einfluß als Schriftsteller auf die Lit. seiner Zeit relativ gering. Wenn auch die Zeitgenossen wie Erasmus Alberus behaupteten, Lutherus linguae Germaniae parens, sicut Cicero Latinae und ein Mann wie Rebhun vorhatte, aufgrund von Luthers Schriften eine dt. Grammatik zu verfassen, so haben die Poeten in ihrer Lit.sprache wenig darauf Rücksicht genommen. Wohl aber gab er durch die Art seiner Auseinandersetzung mit der alten Kirche nicht nur die gedankliche Richtung, sondern auch Impulse für die Formen der literar. Kämpfe seines Jh.s an, so daß sich einzelne Hauptgattungen der R.sliteratur entweder auf sein Vorbild (Traktat, Predigt, Lieder) oder aber mindestens auf seine Empfehlungen (Drama, Historien- und Exempeldichtung) zurückführen lassen. Auffälligerweise bediente sich Luther keiner Form der humanist. Lit. wie etwa der oratio, des Dialogs, der Ode, der Satire oder des Lehrgedichts. Literatur war für Luther ein brauchbares Vehikel zur Unterweisung und Erziehung. Das prodesse stand weit vor dem delectare. Er selbst wollte auch gar nicht als poeta angesehen werden (Nam poetae nolo ullo modo comparari, sicut nec debeo neque possum, an Eobanus Hessus,WABr.5,Nr. 1686). Von frühester Zeit an aber war er vom didaktischen Wert der Lit. überzeugt (Exempel unnd Hystorien geben und leren altzeit mehr / dan die gesetz unnd recht / dort leret die gewiß erfarung / hie leren die unerfarene ungewisse wort WA 6, 261). Nützlichkeit und Lehrhaftigkeit waren für Luther und seine Anhänger entscheidende literar. Wertkriterien, sofern sie sich in Ubereinstimmung

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mit dem religiösen Anliegen befanden. So äußerte Luther im Hinblick auf Erasmus: Potentior est Veritas quam eloquentia, potior spiritus quam Ingenium, maior fides quam eruditio. Aus Gründen der Lehrhaftigkeit verteidigte Luther die antike Komödie, schätzte er Cicero und Quintilian, stellte er Cato und die Fabeln des Äsop nächst der Bibel und wollte Iuvenal, Martial und Catull ausmerzen. Der Dichter, der instructus doctrina christiana sein sollte, hatte im Dienst des Glaubens und der Sittlichkeit zu stehen: Die Theologie soll Kaiserin sein, die Philosophia und andere gute Künste sollen derselben Dienerin sein (WA Tischr. 5, 6351). Diese Ansichten Luthers finden sich allenthalben in der Lit. des 16. Jh.s wieder. H. V o l z , Luther-Ausgaben. RGG. IV (3. Aufl. 1960) Sp. 520-523. Josef B e n z i n g , Lutherbibliographie (1966; Bibliotheca bibliographica Aureliana. 10, 16, 19). Luther-Bibliographie, in: Luther-Jb. 1926-1940, 1957 ff. H. V o l z , Die Lutherbibliographie im Lichte d. Gesch. Gutenberg-Jb. 1969, S. 313-330. — A. H a u s r a t h , Luther als Dichter. Neue Heidelberg. Jbb. 8 (1898) S. 58-75. Theod. L o c k e m a n n , Technische Studien zu L.s Briefen an Friedrich den Weisen (1913; Probefahrten 22). Adolf v. H a r n a c k , M. L. u. d. Grundlegung d. R. (1917). Gustav R o e t h e , D. Martin L.s Bedeutung für d. dt. Lit. (1918); wiederholt in Roethe, Dt. Reden (1927) S. 134171. Heinz D a n n e n b a u e r , L. als religiöser Volksschriftsteller 1517-1520 (1930; SammL gemeinverst. Vorträge 145). Hans P r e u ß , M. L., der Künstler (1931). Georg B a e s e c k e , L. ah Dichter (1935; Hallische Univ.reden 65). Emanuel H i r s c h , Lutherstudien. 2 Bde (1954). O. M a n n , L.s Anteil an d. nhd. Schriftsprache u. Literatur. Luther 34 (1963) S. 8-19. Heinz Otto B u r g e r , L. als Ereignis d. Literaturgeschichte (1957). In: Burger, Dasein heißt eine Rolle spielen (1963) S. 56-74. Heinr. B o r n k a m m , L.s geistige Welt (4. Aufl. 1960). Ders., L. als Sdiriftsteller (1965; SBAkHeidelb., Phil.-hist. Kl. 1965, 1). Vincenz H a s a k , Dr. M. L. u. d. religiöse Lit. s. Zeit bis zum Jahre 1520 (1881; Neudr. 1967). Wilh. R e i n d e l l , L., Crotus u.Hutten. E. quellenmäßige Darstellung d. Verhältnisses L.s zum Humanimus (1890). Hans P r e u ß , Die Vorstellung vom Antichrist im späteren MA., bei L. .«. in d. konfessionellen Polemik (1906). Ed. G r o n a u , L.s Stellung z. schönen Lit. u. ihre Bedeutung für uns. Allgem. Evangel.-Luther. Kirchenztg. 61 (1928) Sp. 789-794; 816-823. W. F r i e d e n s b u r g , L. als Satiriker. Archiv f. Reformationsgesch. 30 (1933) S. 129-133. E. V o g e l s a n g , L. u. d. Mystik. Luther-Jb. 19 (1937) S. 32-54. Hans W e r n l e , Allegorie u. Erlebnis bei L. (Bern 1960; Baseler Studien z. d t Spr. u. Lit. 24). Μ. E l z e ,

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und in der gehamischten Kritik an den Mißständen der röm. Kirche und des Klerus. Die Gravamina der Zeit werden in fiktivem schlichten Volkston, aber auch in funkelndem Latein allenthalben behandelt; zwar streben die dt. Schriften im Stil eine gewisse Volkstümlichkeit in Argumentation und Ausdrudesweise an, doch scheint meistens die wissenschaftlich-theologische Beweisführung durch. Als polemisch konzipierte Lit. sind Flugschriften hyperbolisch in jeder Richtung, sei es zum Grobianischen, sei es zum Religiösen hin; sie dürfen nicht als Abbild der wirklichen Verhältnisse angesehen werden, sondern als deren fiktiver, stilistisch überhöhter Ausdruck. Die Fülle der in dt. und in lat. Sprache erschienenen Texte ist noch gar nicht zu übersehen; was bisher bekannt und beachtet worden ist, gehört überwiegend in die Frühzeit der R., etwa in die Jahre 1520 bis 1526; danach geht diese spezifische Produktion etwas zurück; bei einzelnen politisch-religiösen Höhepunkten steigt sie wieder, so bei der Konzilsfrage, bei dem Streit um Heinz von Wolfenbüttel, während des Schmalkaldischen Krieges, bei der Türkenfrage und während des Interims. Die Themen sind keineswegs nur auf Luthers Kampf gegen die Kurie abgestellt; es werden vielfach allgemeine Claubensfragen behandelt, die durch die R. hochgespült wurden; politische Probleme (Reichstage), wirtschaftliche (Steuerwesen, Zins und Wucher) und soziale (Armenpflege, Stellung der Juden, Rechtswesen) Fragen und kulturelle Erscheinungen werden einzeln oder im Zusammenhang besprochen. Eberlin von Günzburg ζ. B. entwarf in seinen Flugschriften ein umfassendes Reformprogramm. Für die Ausbildung der dt. Literatursprache des 16. Jh.s waren die hier verwendeten Kleinformen eine vorzügliche Stilschule. Der Prosastil (Geläufigkeit) und die sprachliche Ausdrucksfähigkeit (Klarheit im Begrifflichen) haben durch das ideologische Engagement, das die Autoren dazu brachte, sich über die Funktion von Lit. und sprachlichen Mitteln klar zu werden, gegenüber dem 15. Jh. sehr gewonnen. Wenn auch bei solcher Tagesliteratur nüchterne, flüchtige und ungefeilte Beiträge nicht selten sind, so weist sie doch ebenso Texte auf, die von hoher Stilkunst zeugen. Einen großen Teil der Schriften kennzeichnet prägnante und treffende Bildlichkeit. Gegner werden gern in Tiermasken dargestellt, der evangel. Weingarten wird durch geistliche Böcke verwüstet, man stellt fiktive Versammlungen von Gegnern dar und bedient sich allegorischer

Reformationsliteratur Vorgänge, um geistige Vorstellungen und Einrichtungen des Gegners durch die Sinne erfahrbar zu machen (Sterben der Messe, medizinische Prozeduren an Gegnern). In grandiosen 'Bildern' wird die geistige Lage der R. dokumentiert: etwa in der Strebkatz, einem Kraftspiel, in dem Luther und seine Gegner an einem Seil ziehend sich gegenseitig zu Fall bringen wollen, oder in dem Bild der göttlichen Mühle: Christus schüttet das Wort Gottes in den Mahlkasten, Erasmus mahlt das Kom, Luther backt daraus das Brot, der Karsthans beschützt sie mit dem Dreschflegel, während ein Vogel ihnen 'Bann' zuschreit. Nicht minder treffend das Bild vom Kegelspiel, in dem Luther, Zwingli, Hutten und Erasmus die Kugel der Hl. Schrift nach dem Ziel des Glaubens stoßen. Die Situation des Reformationsausbruchs ist glänzend im Bild des ominösen Spil gehalten in dem küniglichen Sal zu Pariß (1524) erfaßt: der Papst, Kurienvertreter, Bischöfe und Mönche sitzen um ein Feuer; Reuchlin schürt es ein wenig mit seiner Kritik. Erasmus rät der Versammlung, mit Geduld die Wunden zu heilen, und läßt sich von den Kardinälen hofieren; Hutten hält eine scharfe Rede gegen den Papst, bläst das Feuer mächtig an, fällt im Zorn aber tot um. Luther schleppt daraufhin Holz herbei und entfacht die Glut zu einem großen Feuer. Der Papst bittet die Bettelmöndie, das Feuer zu löschen; das Löschwasser aber verwandelt sich in Branntwein; die Flammen sind nicht mehr einzudämmen. Die Forschung hat sich bisher weniger um die literar. Beschaffenheit dieser Zeugnisse und um ihre nicht leichte Eingrenzung als um die mögliche Verfasserschaft einzelner Texte gekümmert. Nur der geringere Teil der Verfasser ist namentlich bekannt; es sind Autoren, die auch sonst in der Lit. oder Theologie des 16. Jh.s hervorgetreten sind: Hutten, Eberlin von Günzburg, Heinrich von Kettenbach, Michael Stifel, Utz Eckstein, Hans Sachs, Lazarus Spengler, Erasmus Alberus, Johannes Brenz, Nikolaus Hermann, Andreas Oslander, Murner, Eck, Emser, Hartmut von Cronberg, Urbanus Rhegius, Justus Jonas u. a. Für einzelne anonyme Flugschriften hat man versucht, die Autoren durch philologisch-stilistische und motivliche Untersuchungen zu ermitteln, doch sind die Ergebnisse in nahezu keinem

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Fall unbestritten geblieben. Entscheidendes Ergebnis dieser Arbeiten ist aber die Widerlegung der romantischen Ansicht, es handele sich um Schriften aus dem 'Volk'. Vielmehr sind die Verfasser durchweg gebildete Schriftsteller, die für das 'Volk' zu dessen Unterrichtung schrieben. Dabei bedienten sie sich der Maske des schriftstellernden einfachen Mannes und trugen von Anfang an zu dem Eindruck bei, die R. sei eine Volksbewegung. Man wird berücksichtigen müssen, daß es sich ζ. T. um fiktive Volksmeinung handelt. Unter den literar. Formen der R.sflugschriften ist der D i a l o g am meisten und am kunstvollsten verwendet worden. Humanistischer Einfluß, insbesondere das Vorbild des Lukian, ist hier am deutlichsten zu spüren. Die Dialoge H u t t e n s , die an die satir. Götter- und Totengespräche Lukians anknüpfen, sind für die ganze Gattung richtungweisend gewesen. Hutten schwenkte seit 1519 in seinen lat. Dialogen auf die R.spolemik ein, als deren temperamentvollster Autor er angesehen wurde. Rastlos opponierte er gegen alles 'Römische', Kirche, Recht, Finanzwirtschaft und Kaufmannschaft, gegen Juristen und Theologen; sein Ziel war die Erneuerung des Reiches, die der Ritterstand mit Unterstützung der neuen geistigen Mächte (Humanismus und Reformation) herbeiführen sollte. Schärfster Protest und überschäumendes Nationalgefühl durchziehen Huttens gesamtes Schrifttum. 1520 erschien in Mainz bei Schöffler das Büchlein mit den vier lat. Dialogen Febris prima, Fehris secunda, Trias Romana und Inspicientes. In den witzig-satirischen Gesprächen mit dem Fieber empfiehlt Hutten, das ihn plagende Fieber möchte sich einen anderen Wohnsitz suchen, ζ. B. den Kardinal Cajetan oder andere Zeitgenossen; das Fieber kehrt aber bald zurück und berichtet von seinen Erfahrungen mit den Kurtisanen und Theologen. Im Laufe des Gesprächs werden Probleme der Zeit mit satir. Ausfällen gegen die Gegner behandelt; es klingt in der Hoffnung auf Karl V. aus. Mit der Trias Romano gab Hutten den Ton der antirömischen Publizistik an; ζ. T. über ein Jh. alte Klagen werden hier in größter Schärfe und brillanter Form als Protest gegen die römische Bevormundung vorgetragen. In der satirischen Form der römischen Dreifaltigkeit, die die heilige Dreifaltigkeit pervertiert, werden die Übel der Kurie litaneiartig gekennzeichnet. Der vierte Dialog, die Inspicientes, führt mit Sol und Phaeton als Zuschauern des Augsburger Reichstages eine journalistische Zeitanalyse vor, deren Kritik sich gegen die herrschenden politischen, kirchlichen und Wirtschaft-

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Reformationsliteratur

lichen Verhältnisse Deutschlands wendet. Hutten übertrug diese Dialoge im Winter 1520/21 auf der Ebernburg bei Franz von Sickingen ins Deutsche und faßte sie zu dem weithin berühmt gewordenen Gesprächbüchlein zusammen (Straßburg.· Hans Schott 1521), dessen einzelnen Gesprächen das leitmotivartige 'ich hab's gewagt' angefügt ist. Huttens literar. Wirkung ging von dieser dt. Version der Dialoge aus und wurde für die Zeitgenossen zu einem Muster, brennende Zeitfragen zu behandeln. Hutten nahe stehen die Dialogi Septem festivi candidi (1520), die unter dem Decknamen S. Abydenus Corallus Germ, erschienen. Hutten dürfte kaum als Verfasser in Frage kommen; ob man sie Nikolaus Gerbel nach Merkers Vorschlag zuweisen kann, ist umstritten. Die Dialoge sind thematisch aufeinander abgestimmt; sie führen von der Darstellung negativer Zeiterscheinungen zur Verherrlichung Huttens, in dem sich die angestrebte geistige Freiheit verkörpert; als Unterredner begegnen neben typischen Figuren Maximilian und Karl V. in der Unterwelt; Pietas und Superstitio streiten miteinander; eine Sitzung der Kölner theologischen Fakultät mit Eck und Hochstraten wird satirisch im Stil der Epistulae obscurorum virorum vorgeführt. Die beiden letzten Dialoge zeigen die Verfolgung Huttens seitens der Kurie, seine Rettung durch Sickingen und Huttens Verklärung durch die Göttin Wahrheit, die Hutten mit dem „Panzer der Gerechtigkeit, dem Helm der christlichen Heilsbotschaft, dem Schilde der Wahrheit und dem Schwerte des göttlichen Wortes" rüstet. In formaler Hinsicht sind diese Dialoge erstaunlich kunstvoll und ragen teilweise über Hutten hinaus. Von ähnlichem Kaliber sind auch die Murner- und Eck-Satiren der gleichen Zeit. Im Murnarus Leviathan, einer der schärfsten Satiren, wird Mumer aufs Kom genommen; er wird als übler Geldnarr und Verschwender hingestellt, der mit einem Kumpan und mit Hilfe eines Wahrsagers Pluto beschwört, · um seiner ständigen finanziellen Schwierigkeiten ledig zu werden. Als Gegenleistung verspricht er Pluto, Verleumdungen der Lutherischeh zu liefern; ein Horoskop sagt ihm in diesem Vorhaben Erfolg voraus. Der szenisch arrangierte Dialog ist reidi an biographischen Details und stammt sicherlich aus dem oberrhein. Raum. Als ein Musterwerk satir. Dichtkunst, dessen Szenenfolge nahe am Ubergang zum Drama steht, gilt der Eccius dedolatus, in dem in geistreichen, witzigen Gesprächen und grobianischen medizinischen Prozeduren Eck einer Kur unterzogen wird. Das kleine Werk ist in thematischer wie in formaler Hinsicht so vorzüglich geraten, daß die Suche nach dem mutmaßlichen Verfasser mit viel Aufwand betrieben wurde, doch hat sich das Problem nicht eindeutig klären lassen: Hutten, Pirckheimer und Gerbel sind als Autoren beansprucht worden. Zu den Satiren auf Eck gehören auch die beiden Dialogi Decoctio und Eccius Monachus, die aber kein großes Aufsehen erregt haben. Die deutschsprachigen Dialoge, angeregt von Huttens Gesprächbüchlein, erschienen

seit 1521 in großer Zahl, doch ist ihnen die formale Eleganz und die konzentrierte Gedankenführung der lat. Dialogi nidit eigen. Sie unterscheiden sich von diesen auch weitgehend durch die Themen und die Sprecher. Pfarrer, Bürgermeister, Adlige und Priester, Bauern und Mönche, Arbeiter und Handwerker begegnen neben typischen Repräsentanten der Stände und Gruppen: Bischof, Wirt, Knecht, Christ, Jude usw. Die Rolle des Bauern ist besonders auffällig; er gilt als geistig interessiert, bibelfest, ehrlich, witzig und schlau. Die Bibel ist die allgemeine Argumentationsgrundlage, der Laie legt sie selber aus und führt die Spitzfindigkeiten der scholastischen Theologen ad absurdum. Die Tendenz dieser Schriften zielt auf Überzeugung und Gewinnung des Gegners durch Diskussion und Argumentation; die Dialoge haben stets einen positiven Ausgang, der von nicht zu unterschätzender propagandistischer Wirkung auf die Zeitgenossen war. Unter der Vielzahl der Texte ist der 1521 erschienene Karsthans, fortan der Begriff des geistig emanzipierten Bauern, besonders beachtenswert. Das Gespräch wird von Karsthans und Stadens, seinem Sohn, geführt, später treten Mumer und Luther hinzu; der Laie wird hier zum Anwalt der Lehre Luthers; die Disputation über Zeitereignisse endet mit einer Niederlage der Lehre Murners. Gewaltsame Lösungen werden abgelehnt, Mißbräuche lassen sich nur mit der Hl. Schrift, nicht mit Waffen korrigieren. Der anonyme Verfasser erweist sich als sehr gelehrter Zeitgenosse, der in der antiken Lit., im kanonischen Recht, in Erasmus und Reuchlin ebenso beschlagen ist wie in naturkundlichen und medizinischen Fragen; man nimmt an, daß Vadian der Autor ist. Kurz darauf erschien der Neu-Karsthans (1521), in dem in einem Gespräch zwischen Sickingen und einem Bauern die Zeitläufte diskutiert werden; auch hier wird Aufruhr abgelehnt, Vertrauen in den Kaiser gefordert, und Hutten und Sickingen werden als Ritter Christi apostrophiert. Indizien deuten darauf hin, daß der Text aus der Feder Martin Butzers stammt. Zu den interessanten und in ihrer Art für die Gattung typischen Dialogen gehören Das Gespräch eines Fuchses und eines Wolfes auf dem Steigerwald, der Dialog zwischen Cunz und Fritz, das Gespräch Wie ein Bauer mit einem Mönch redet, daß er die Kutte von sich wirft (1525), die Diskussion der Pflanzen in einer Apotheke über Religionsfragen, das Weggespräch gen Regensburg (1525) u.a. Auch Hans S a c h s ' vier Prosadialoge (1524) zu Fragen der Reformation sind bemerkenswert. Von besonderer Eigenart ist der Triumphus Veritatis (um 1525), in dem Luther als gottgesandter Erlöser des Christenvolkes von Patriarchen, Propheten, Aposteln, Hutten gepriesen wird; Luther selber verflucht den überwundenen römischen Türken, dem man das Hl. Grab

Reformationsliteratur (d. i. die Hl. Sdirift) wieder habe entreißen können, und gibt einen Abriß der kirchlichen Mißstände; Karlstadt aber will von der alten Kirche auch das noch einreißen, was Luther stehen ließ. Eine andere Erscheinungsform der Flugschriften ist die O r a t i o : auch sie in gewisser Hinsicht dem Humanismus verpflichtet. 1519 erschien Lazarus S p e n g l e r s mutige Schutzred eines ehrbaren Liebhabers göttlicher Wahrheit, in der er sich vor Luther stellte; Q e c o l a m p a d i u s veröffentlichte im selben Jahr seine ironisch-bissige Canonicorum indoctorum Lutheranorum ad Joh. Eccium responsio. Eine 1521 erschienene Oratio pro Ulricho Huttenio ... et Martino Luthero, Patriae et christianae libertatis adsertoribus rühmt beide als Streiter der christlichen deutschen Freiheit wider die Papisten. In Deutsch oder Latein, in Vers oder Prosa war die Oratio eine beliebte Gattung der Streitlit., sei es als Schutzrede, sei es als Strafrede. Ihr benachbart steht die P r e d i g t (sermo), die sich in polemischer Weise gegen Mißstände wendet; nächst Luther hat sich Heinrich von K e t t e n b a c h in diesem genus versucht. Eberlins von Günzburg als Flugschriften publizierte Predigten zeigen eine mehr seelsorgerische Absicht. Im ganzen sind die Themen dieselben wie in den anderen Gattungen, nur im Predigtton, gelegentlich auch in dessen Parodierung gehalten. Eine Sonderspezies stellen die in der Zeit beliebten P a r o d i e n auf Messe, Paternoster, Credo, Ave Maria usw. dar; auch Passionen mit der Umsetzung von Christus = Luther wurden mehrfach verfaßt, in denen die Gegner Christi als die Gegner Luthers ζ. T. mit starken satirischen Zügen dargestellt werden. Man verfaßte daneben ein Evangelium secundum Pasquillum Romae (1536), Erasmus Alberus schrieb ein Tedeum laudamus von Bapst Paulo dem Dritten (1541); Horoskope und Prognostica wurden mit Witz und Satire in den Dienst der Reformationspropaganda gestellt, und noch 1559 erschien ein Handbüchlein der Papisten, das in Erklärung, Gebeten und Geboten die Gepflogenheiten der Andersgläubigen karikieren zu müssen glaubte. Eine ebenfalls beliebte und auch von den Humanisten verwendete Form war die des B r i e f e s oder S e n d s c h r e i b e n s ; auch sie wurde von Luther der Reformationspublizistik gewonnen. Da schrieb ein Student aus Wittenberg angeblich an seine

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Eltern nach Schwaben über Luthers Lehre, eine Ehefrau beschwor eine Nonne, Luthers Schriften zu lesen, statt sie zu verdammen; Hartmut von Cronberg schreibt an den Kaiser und den Papst. Im Gefolge dieser fiktiven Briefliteratur (die Epistuläe obscurorum virorum waren noch in allgemeiner Erinnerung) stellen sich die H i m m e l s - und T e u f e l s b r i e f e ein, die fingierten E d i k t e und Mandate. Leo X. schreibt angeblich an Luzifer und erhält prompt eine Antwort; ebenso steht der Klerus mit dem Höllenfürsten in regem Briefwechsel. Der Teufel seinerseitskorrespondiert aber auch mit Luther: Absag oder vhedschrifft des Hellischen Fürsten Lucifers Doctor Martin Luther jetzt zugesandt (1524). — Auch die der Tradition des späten Mittelalters entstammende kurze R e i m e r z ä h l u n g wird nun in den Glaubenskampf integriert und vielfach verwendet. Muster sind die Göttliche Mühle, das Gedicht des thurgauisdien Bauern zu lob der Lehre Luthers und vor allem Burkhard Waldis' Streitgedichte gegen Heinz von Wolfenbüttel; auch Hans Sachs* Wittembergisch Nachtigall kann man hierzu rechnen. Aus der Fülle der ernsten T r a k t a t e und S t r e i t s c h r i f t e n , die sich mit theologischen und sozialen Problemen der Zeit beschäftigen und teilweise Fachprobleme von allgemeinem Interesse für den Laien populärwissenschaftlich erörtern, ragen nur wenige hervor, die das Format der Schriften Luthers aufzuweisen haben. Zu ihnen gehört neben Hartmut von Cronberg, Hutten, Kettenbach, Rhegius vor allem E b e r l in v o n G ü n z b u r g , einer der sprachgewaltigsten Schriftsteller des 16. Jh.s. In seinen 1521 zunächst als Einzelschriften, dann zusammengefaßt erschienenen Fünfzehn Bundsgenossen geht es ihm um Aufklärung des gemeinen Mannes über die sozialen und religiösen Mißstände; er tritt für Luther und Hutten ein und wendet sich an den Kaiser mit der Bitte, der Reformation Vertrauen zu schenken; er plädiert für Abschaffung der Fasten, Seelenmesse, Bettelmönche, Frauenklöster und der horae canonicae, gibt Richtlinien, wie eine Gemeinde einen Prediger anstellen soll, welche Hilfe man den Klosterinsassen angedeihen lassen soll und warnt vor den Irrlehren der Kleriker. Texte: Flugschriften aus d. R.szeit. Bd. 1-19 (1877-1928; NDL.). Flugsthriften aus d. ersten

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Reformationsliteratur

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Eck, Emser, Cochläus und Witzel rechnen, doch bleiben sie in ihren Schriften fachlichtheologisch orientiert und erreichen nirgends die literar. Popularität der reformator. Streitschriften. Die antilutherische Polemik hat nur in ganz wenigen Fällen Texte von literar. Rang vorzuweisen. An erster Stelle ist hier Thomas M u r n e r zu nennen, der sich von 1520 an in den Reformationskampf einschaltete. Murner, poeta laureatus und Doktor zweier Fakultäten, war, als er sich in die R.polemik stürzte, bereits ein bekannter und vielgelesener Volksschriftsteller gewesen; seine großen Werke lagen schon längere Zeit vor. Wie Brant, Geiler von Kaisersberg und andere gehört auch er zu dem Kreis jener kathol. Reformatoren, denen es auf eine Renovatio der alten Kirche und der bestehenden Verhältnisse, nicht auf eine Spaltung in Glaubensdingen ankam. So ging Murners Kampf nach zwei Seiten, einmal für die Erneuerung der alten Kirche, zum anderen aber gegen Luther. Er war einer der wenigen Zeitgenossen, die die weiten Dimensionen der neuen Lehre durchschauten. Murner hatte an Luthers Lehre insbesondere vier Punkte auszusetzen; er berief sich auf die Gewohnheiten und den Brauch der Väter, d. h. das alte Herkommen der kirchlichen Tradition wäre sanktioniert und müßte beibehalten werden; er protestierte gegen Luthers Vorstellung vom Priestertum aller Gläubigen und wandte sich gegen die öffentlichen Diskussionen der Streitfragen, da derartige Auseinandersetzungen nur dazu angetan wären, den Laien in seinem Glauben irre werden zu lassen. Der schärfste Punkt in Murners Lutherpolemik war der, daß er Luther für einen politischen Revolutionär, nicht für einen Reformator der Mißstände der alten Kirche hielt. Murner handelte aus eigener Verantwortung gegenüber der alten Kirche, und sein Vorgehen muß von diesem Aspekt aus gewürdigt und beachtet werden; das Murner-Bild der protestantischen Geschichtsschreibung des 19. Jh.s bedarf erheblicher Korrekturen. Von Mumers Plan eines Corpus antilutheranum, das 32 Schriften gegen die Wittenberger enthalten sollte, sind nur 6 Schriften zustande gekommen. Im November und Dezember 1520 erschienen bei Murners Verleger Grienninger in Straßburg die ersten 4 Schriften gegen Luther. Im ersten Traktat (Eine christliche und brieder-

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liehe ermanung) macht er Einwendungen gegen Luthers Forderung des Allpriestertums, gegen die Abschaffung der Messe und gegen die at.sprachige Liturgie. Er ermahnt Luther, von der alten Lehre nicht abzuweichen; der Ton ist sachlich, mäßigend und in gewisser Weise populär gehalten. 14 Tage später erschien ein Traktat gegen Luthers Lehren und Predigten (Von Doctor Martinus Inters leren und predigen). Er wamt hierin den frummen eynfeltigen diristen man vor den Unwahrheiten Luthers, die er von sich aus nicht richtig verstehen könne. Eine weitere Schrift verteidigt die göttliche Einsetzung des Papsttums (Von dem babstenthum). Kurz darauf erschien Mumers groß angelegter Versuch, Luthers erfolgreichste R.sschrift zu widerlegen: seine Erwiderung An den Großmächtigsten ... adel tütscher nation ist ein vorzüglich gelungenes Prosawerk, das frei von allen Grobianismen ist, dennoch nicht trocken wirkt und auf den Laien mit seinem begrenzten Fachverständnis zugeschnitten ist. Mumer ruft hierin den Adel auf, dem alten christlichen Glauben Schutz zu gewähren und sich nicht dem Verführer Luther auszuliefern. Luther als ein Catilina redivivus wolle nur unter dem Dedcmantel der zugestandenen Mißstände der Kurie Aufruhr und Unruhe stiften. Mumer versucht im weiteren, Luther in 4 Punkten zu widerlegen, und verteidigt nicht ohne Kritik gegenüber den Gravamina der eigenen Kirche die althergebrachte Tradition. Die Schrift ist sehr persönlich gehalten; sie gibt keine bestimmte Richtung für eine weitere Auseinandersetzung an, ist aber im Ton wiederum sehr sachlich. Luther habe nicht in allem, was er fordere, Unrecht, sondern er mische nur Wahrheit und Unwahrheit durcheinander und säe damit Aufruhr. Eine ausgesprochene Verurteilung oder Verdammung der Person Luthers erfolgt nicht. Die Protestant. Seite schlug gegen diese Schriften Mumers mit einer Fülle von Satiren zurück. Sie lassen an Grobheit nichts zu wünschen übrig. Mumer war der populärste Luthergegner, und die Schärfe der Polemik gegen seine Schriften hängt wohl mit seinem Einfluß auf jene Kreise zusammen, die auch das Luthertum für seine Bewegung brauchte, nämlich das 'Volk'. Nur eine möglichst rasche moralische wie geistliche Diffamierung des protestierenden Franziskaners konnte seinen Einfluß bei weiteren Volkskreisen außer Kraft setzen. Der polemischen Kampagne der oberdeutschen Flugschriftenliteratur ist das auch weithin gelungen. Doch war Murner nicht der Mann, sich einschüchtern zu lassen, wenngleich er sich da und dort über die Verunglimpfungen bitter beklagte. E r griff 1522 in die Auseinandersetzungen zwischen Luther und Heinrich VIII. ein, indem er dessen lat. Begründung der sieben Sakramente ins Deutsche übersetzte und in der

Schrift Ob der künig uß Engelland ein lügner sey oder der Luther die Gründe beider Kontrahenten gegenüberstellte und die einzelnen Argumente selbst kommentierte. Luther werden 50 Lügen nachgewiesen. Mumer zeigt sich wieder im ganzen als guter Kenner der Schriften und Meinungen der Lutheraner und als ein fairer Gegner. Die Anlage der Schrift ist recht originell und hat ihre Wirkung wohl nicht verfehlt. — Zum Gegenschlag gegen die lutherische Bewegung und gegen seine anonymen Gegner holte Mumer in der groß angelegten Satire vom Lutherischen Narren aus. Nach dem erprobten Modell der Narrenbeschwörung tritt der Autor hier als Exorzist des lutherischen Narren auf, der als allegorische Gestalt die Kräfte der neuen Bewegung repräsentiert, die hier widerlegt und mit Hilfe der Satire ungefährlich gemacht werden sollen. Ausführlich wendet sich Mumer gegen die Parteigänger Luthers, die als einzelne Narren aus dem großen lutherischen Narren beschworen bzw. durch medizinische Prozeduren ans Tageslicht befördert werden. Da begegnen sich Karsthans und Fugger, Landsknechte und Heerführer und vor allem die 15 Bundesgenossen Eberlins, die wirkungsvoll parodiert werden. Unter Luthers Führung wird ein Heerhaufe gebildet, der zum Sturm auf Klöster, Kirchen und Festungen anrückt; die Hauptfestung (der alte Glaube) wird von Murner verteidigt, der sich aber von Luther zur Hochzeit mit dessen Tochter verführen läßt; nach der Hochzeitsfeier verjagt er aber Luthers Tochter, da sie von unheilbarem Grind befallen ist. Luther, der auf dem Sterbebett die Sakramente verschmäht, wird von Mumer im Abort begraben. Nachdem auch der große Narr zu Grabe getragen wurde, stülpt Mumer sich dessen Narrenkappe auf — eine ironisch-humorvolle Geste, die zu einer gewissen Nivellierung der Gegensätze führt. Trotz der kontroversen Meinungen und aller Karikaturen zeigt sich auch hier ein gewisses Maß von Respekt vor Luthers Person. Das Spiel mit dem Narrenmotiv wird kunstvoll in allen Gangarten durchgeführt; Mumer selbst baut sich in die Satire ein und zitiert mit Humor die gegen ihn erhobenen Schmähungen seiner Gegner. Durch seinen Witz und seinen Erfindungsreichtum gehört dieses satirische Epos zu den besten Leistungen der R.sliteratur. Trotz des genialen, bizarren und einfallsreichen Spielens mit allen Dingen, die die R. betreffen, kommen Murners Gegenargumente treffend und einleuchtend heraus; die politischen Konsequenzen von Luthers Lehre sind klar erkannt, und die Hauptpunkte seiner Glaubenslehre werden

Reformationsliteratur drastisch-satirisch in ihrer 'Unsinnigkeit' vorgeführt. Die Wirkung des Werkes auf die Zeitgenossen wäre sicherlich nicht unbeträchtlich gewesen, wenn es nicht kurz nach seinem Erscheinen vom Straßburger Rat konfisziert und verbrannt worden wäre; nur wenige Exemplare sind damals in die Öffentlichkeit gedrungen. — Nach 1525 hat sich Murner, als er Stadtpfarrer in Luzern war, noch einmal in den Kampf gegen den neuen Glauben eingelassen, diesmal gegen den Zwinglianismus in der Schweiz. Die Schriften aus dieser Zeit zeigen ihn als einen tüchtigen und stilgewandten Journalisten. Sein Kirchendiebund Ketzerkalender (1527) dürfte als Gattung literar. Interesse beanspruchen. Hier werden nach Art der Wandkalender Protestanten als Bösewichte, Diebe, Lecker, Schelme wie Kalenderheilige vorgeführt. Eine meisterhafte Satire, die nach Form und Gehalt der Mumerschen Leistung sich an die Seite stellt, ist D a n i e l v o n S o e s t s Ein Gemeyne Bicht oder bekennung der Predicanten to Soest (1534; 1539 gedruckt). Der anonyme Autor, hinter dem man den Soester Juristen Johann Gropper (1503 geb.), Sohn des Bürgermeisters von Soest, oder Jasper van der Borch, einen Kanonikus in Bielefeld und Herford, der aus Soest stammte und dessen Vater Sekretär der Stadtkanzlei war, vermutete, tritt wie Murner für die Ausrottung der kirchlichen Mißstände ein, möchte aber beim alten Glauben bleiben; die R. müsse von der Kirche aus, nicht durch Laien und gegen die kirchliche Autorität in die Wege geleitet werden. Seine satirische Dichtung, die eine Mittellage zwischen Dialog und Komödie einnimmt, schildert die Einführung der Reformation in Soest. Der Teufel steht in Verbindung mit den evangel. Prädikanten. Aus der lutherischen Lehre werden sehr geschickt dieselben Vorwürfe entwickelt, die diese dem alten Klerus machte: Teufelsbündnis, Unkeuschheit, Fälschung, Gewalt, Heuchelei, Volksverhetzung, Hurerei, Gebetsparodie. Die Schilderung des 3520 Verse umfassenden Werkes gipfelt in der Darstellung einer Superintendentenhochzeit, bei der an Witz und Drastik nicht gespart wird. Das Pikante an dieser Bicht ist, daß sie hinsichtlich der Fakten und der Ereignisse ziemlich wirklichkeitsgetreu dargestellt worden ist, wie einzelne Nachforschungen ergeben haben. - Aus der satir. Feder des Daniel von Soest sind noch einige weitere Texte bekannt, so ein Kettenspiegel, ein Apoloeticon, Lieder und ein Dialogon, aber sie haen in keiner Weise die Frische, den Witz, die 25'

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gute Sprachführung und das schriftstellerische Geschidc aufzuweisen wie die Bicht. Murners Kampf gegen die R. in der Schweiz setzte der Luzerner Hans S a l a t (1498-1561) fort. Im Tanngrotz gab er einen tendenziösen Bericht über die Schlacht bei Kappel, der ihm einen Prozeß und einige Tage Haft einbrachte. Bullinger antwortete auf dieses Pamphlet mit seinem bekannten Salz zum Salat. Salat revanchierte sich 1532 mit dem Triumphus Herculis helvetici. Hierin wird das Wesen des Zwinglianismus und Zwingiis selbst, der der Hercules helveticus ist (in Analogie zu der Darstellung Luthers als Hercules germanicus), in ebenso satirischer wie literarisch glänzender Weise dargestellt. — Aus dem alemannischen Gebiet stammen auch noch zwei weitere antilutherische Satiren, die anonym erschienen sind, vermutlich aber aus einer Feder stammen: Das Bockspiel (1531) greift Luthers Neuerungen an und wendet sich gegen die Vermischung politischer und sozialer Tendenzen mit theologischen Angelegenheiten. Die andere Schrift ist Martin Luthers Klaglied (1534), in der mit Bravour Luther in der Vollkraft seiner Schimpfkanonaden und seiner Verfälschungen vorgeführt wird. Das vielfältige Schrifttum, das durch die R. angeregt, dessen Autoren aber andere Wege als die Orthodoxie des Luthertums gingen, ist bisher von der Literaturwissenschaft noch kaum gewürdigt worden. Die geringe Beachtung anderer bedeutender Männer der R.szeit durch die Geschichtsschreibung hat sich auch in der Folge auf die Literaturgeschichte ausgewirkt, so daß vom literarhistor. Standpunkt weder Männer wie Sebastian Franck, Karlstadt, Schwenckfeld, Münzer noch die Täufer, Schwärmer, Spiritualisten insgesamt, bisher genügend berücksichtigt worden sind. Luthers negative Urteile über diese und andere Zeitgenossen waren für die historische Erforschung des 16. Jh.s zu lange verbindlich. Corpus Catholicorum. Werke kathol. Schriftsteller im Zeitalter der Glaubensspaltung Bd. 1 ff. (1919 ff.); 28 (1959). — Luther u. Emser. Ihre Streitschriften aus dem Jahr 1521. Hg. v. L. E n d e r s . 2 Bde. (1890-92; NDL. 96-98). Gustav Κ a we rau, Hieronymus Emser, e. Lebensbild aus der R.sgesch. (1898; SdirVerReformgesdi. 61). O. C l e m e n , Briefe von Hieronymus Emser, Johann Codilaeus, Johann Mensing u. Petrus Rauch an die Fürstin Margarethe u. d. Fürsten Johann u. Georg von Anhalt

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§ 5. D r a m a . Erst im weiteren Verlauf der R. ist das Drama generell in die Auseinandersetzungen einbezogen worden; dann aber übernahm es die Führung und wurde zu einem vorzüglichen Spiegel der die Zeit bewegenden vielfältigen Grundprobleme. Dieses unmittelbare Engagement hatte eine große Zahl von verschiedenen dramaturg. Experimenten zur Folge, die in formaler Hinsicht den besonderen Reiz dieses Dramas ausmachen, denn das vorreformator. Drama besaß nur drei Typen: das geistliche Spiel des MA.s, das bis weit ins 16. Jh. hineinragte, sein weltliches Pendant, insbesondere das vielfältige Fastnachtspiel, und die schüchternen Anfänge des im ganzen noch sehr ungestalten Humanistendramas. Hinzu kommt eine zunehmend tiefere Vertrautheit mit der röm. Komödie, insbesondere mit Terenz, dem bevorzugten Schulautor der Zeit. Die große Beliebtheit, die dem Drama im Zuge der R. zuteil wurde, beruht nicht so sehr auf der literar. Qualität dieser Voraussetzungen, sondern auf einer elementaren Freude am Spielen und Zuschauen, die sich seit dem 15. Jh. bemerkbar machte. Das Spiel, gleich welcher Art, war eins der wichtigsten und wirkungsvollsten Kommunikationsmittel der Zeit, dessen Bedeutung für Popularisierungsmöglichkeiten durch den Druck dieser Texte noch gesteigert wurde. Das dt. Drama hat nie wieder eine solche soziale Funktion gehabt wie in dieser Zeit. So konnte auch diese Gattung in den Dienst der propaganda

fides gestellt w e r d e n . D a s

brachte gewisse Änderungen mit sich. Gegen die spätmal. katholischen geistlichen Spiele machte sich in allen an der R. sich orientierenden Gebieten eine breite Abneigung bemerkbar, und zwar vor allem aus religiösen Gründen: Luther sprach sich gegen Passionsdarstellungen aus, da in ihnen der Zuschauer in Christus nur eine beklagens- und beweinenswerte Person sähe, mit der er Mitleid hätte; die Betrachtung der Passion auf der Bühne brächte ihm auf diese Weise keinen seelischen Gewinn, solange sie ihn nicht zur Selbsterkenntnis des eigenen sündhaften Zustandes führte, aus dem er aus Gnade erlöst werden könne. Das empfundene Mitleid

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lasse aber nicht die Erkenntnis der Sündhaftigkeit aufkommen. Luther war keineswegs gegen die Darstellung der Gesta Christi auf der Bühne, wohl aber gegen eine Darstellungsweise, die den Zuschauer nicht aktivierte. Diese Meinung findet sich auch bei Melanchthon, Birck, Greff, Naogeorg u. a. Außerdem werden da und dort auch dramaturg. Einwände gegen die Passionen vorgebracht, so vor allem gegen die Kreuzigungsszene. Das Drama, das sich im Zuge der R. entwickelte, hatte von Anfang an die Aufgabe, bestimmte Tendenzen zu verbreiten und bestimmte Lehrmeinungen spiegelartig zu verkünden. Aus dieser Absicht entstand seine Berechtigung und gleichzeitig seine formale Konzeption. Nicht ästhetische Probleme, nicht zwischenmenschliche individuelle Spannungen werden vorgestellt, sondern Stoffe, Ereignisse, Geschichten, mit deren Hilfe sich entweder parabolisch eine Unterweisung rechten menschlichen und gesellschaftlichen Verhaltens geben läßt oder mit denen sich die Wunder Gottes preisen und verkünden lassen. Das Drama ist ein anderes Mittel als die Predigt, verfolgt aber dasselbe Ziel. Seine Bedeutung und sein Wert liegen, abgesehen von der Vielgestältigkeit der experimentellen theatralischen Formen, in den dramatischen Exegesen, die bei jeweils gleichen Stoffen sehr verschieden ausfallen können. Die Form dieser Dramen ist weithin bedingt durch die Art der Aussage und deren beabsichtigter Wirkung. Die dramaturg. Strukturen reichen von der offenen, reihenden Spielform bis zur geschlossenen antikisierenden Dramenform, von der Revuetechnik, bei der jeder Ausschnitt für sich unverbunden da ist, bis zur nlat.-klassizistischen Konzentrationsform; beide Extreme und ihre Verbindungsglieder sind jeweils eigenständige Ausdrudesformen, die der Aussagefunktion entsprechen. Die Vorstellungen von 'Form' sind in dieser Zeit noch andere, als man im allgemeinen erwartet, und die Frage, ob es sich 'nur' um einen Spieltext oder 'schon' um ein Literaturdrama handelt, dürfte für diese Art Dramen nicht wesensgerecht sein. Man stößt auf diesem Theater auf szenische Verwirklichungen, die mutatis mutandis sehr modern anmuten. Die in unmittelbarer Beziehung zur R. stehenden zahlreichen Dramen haben im wesent-

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Reformationsliteratur

lichen drei verschiedene Typen herausgebildet: die M o r a l i t ä t und das allegorische Spiel, wie sie etwa in den Jedermannsspielen, in den Spielen von der verfolgten Religion oder Wahrheit oder in den frühen schweizer polemischen Dramen von Gengenbach und Manuel begegnen.Dann das B i b e l d r a m a , ein drama sacrum, das aber seinem Ausgang zuliebe meist als comoedia bezeichnet wird. Hierunter fällt die Hauptmasse der R.sdramen. Ihre Aufgabe bestand weitgehend darin, die Geschichten der Bibel den Zuschauern einzuprägen und die Lehren des göttlichen Wortes mit ihren Konsequenzen für die Menschen aufzuzeigen. Sie waren eine andere Form der Seelsorge und deshalb nicht ästhetisch sondern moralisch orientiert; sie sollten der Festigung des Glaubens und der Stärkung der evangel. Tugenden dienen; in diesem Sinne wurden sie von Luther empfohlen. Statt Glaubenspolemik findet sich hier viel öfter Gesellschaftskritik. Der dritte Typ schließlich enthält H i s t o r i e n stücke, deren Stoffe entweder der Vergangenheit (Lucretia, Hus) oder der Gegenwart (Naogeorgs Incendium, Cochlaeus' Heimlich Gespräch) entstammen; starke polemische oder pädagogisch-soziale Tendenzen walten hier vor und integrieren die Stoffe durch deren Interpretation der Problematik der Zeit. Wie die Dramenform ist auch die Bühnenform uneinheitlich; Versuche, bestimmte Bühnentypen zu fixieren, haben keine für alle Dramen verbindliche Ergebnisse gezeitigt. Die Möglichkeit, mit situationsbedingten Mischformen zu rechncn, ist fast immer gegeben. Die Spieler dieser Stücke waren Schüler, Studenten oder Bürger, das Publikum meistens Bürger, seltener ein Hof oder ein gelehrtes Kollegium. Die unmittelbaren Anfänge des R.sdramas erstrecken sich auf die 20er Jahre des 16. Jh.s. Zwar lassen sich überall Ansätze zur polemischen Auseinandersetzung mit der alten Kirche feststellen, doch sind wir hierbei nur auf Nachrichten von Spielen oder 'Scherzen' in der Fastnachtszeit angewiesen, in denen der Klerus verspottet wurde. Manches scheint nur mimische Darbietung ohne Bezug auf eine literar. Tradition gewesen zu sein. Erste erhaltene literar. Texte werden in der Schweiz greifbar. Ob es sich bei diesen Spielen um Fastnachtspiele handelt, die der

neuen Propaganda dienstbar gemacht werden, oder, was einleuchtender ist, da sich im alemann. Raum keine direkte Fastnachtspieltradition findet, ob es sich um polemische allegorische Spiele handelt, die zur Fastnachtzeit als der bevorzugten Spielzeit aufgeführt wurden, sonst aber sui generis sind, ist noch nicht genau geklärt. Des Baseler Buchdruckers Pamphilus G e n g e n b a c h Totenfresser (1521/22) ist das erste religiöse Tendenzstück; in knapper, aber wuchtiger Form stellt es Papst una Klerus als Leichenfresser dar und erhebt unter diesem allegorischen Bild schärfste Anklagen gegen Ablaßhandel und Totenmessen. Nikolaus M a n u e l (1484-1530), ein genialer Polemiker, nahm dieses Motiv für das erste seiner Tendenzspiele Vom Papst und seiner Priesterschaft (1523) auf und gestaltete es zu einer umfangreichen und eindrucksvollen dramatischen Dichtung aus, die im 16. Jh. nur wenig ihresgleichen hat. Mit der satirischen Technik der Selbstendarvung werden die Gebrechen der alten Kirche und deren Folgen für die Christenheit höchst klar und wirkungsvoll gebrandmarkt. Das Spiel ist zur Fastnachtzeit in Bern (Kreuzgasse) aufgeführt worden. Ahnlich ging Manuel in den beiden anderen Spielen Vor» Papsts und Christi Gegensatz und im Ablaßkrämer vor, der eine der besten satirischen R.sdichtungen darstellt: Richardus Hinderlist, eine Tetzelgestalt, wird von Bauern in die Mangel genommen und bekennt seine schändlichen Betrügereien und Listen. Aus dem Alemann, sind noch zwei weitere anonyme Spiele dieser Art überliefert, Ein frischer Combiszt und Der neu deutsch Bileamsesel, aber beide in späteren Fassungen; sie wurden 1540/45 von Jacob Cammerlander in Straßburg gedruckt. — Aus Gegenden mit einer Fastnachtspidtradition sind sonst keine derartigen reformator. Spiele überliefert; in Nürnberg schrieb Hans S a c h s zur gleichen Zeit seinen bekannten Dialog von der Disputation eines Chorherm mit einem Schuster (1527), der an der Grenze zum Spiel steht; aus Tirol ist aus Vigil R a b e r s Sammlung ein munteres Spiel mit reformatorischer Tendenz: Die zwen Stenndt (um 1529) bekannt. Auch im Norden zeigen sich Ansätze zu derartigen Spielen. 1523 verfaßte B a d o v o n M i n d e n seinen Klos Bur, in dem ein Bauer im Wirtshaus einen Vikar zum Evangelium bekehrt.

Eine der Grundlehren der R.—die Rechtfertigung des Menschen vor Gott allein durch den Glauben — gestaltete der aus Allendorf in Hessen stammende Franziskaner Burkard W a 1 d i s, der 1524 zur R. übertrat und als 'Zinngießer' in Riga lebte, in seinem Spiel De parabell vam verlorn Szohn, das am 17. Februar 1527 in der Petrikirche in Riga aufgeführt wurde. Die theologisch-exegetische Absicht des Verfassers bekundet bereits der Untertitel: luce am XV.

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gespelet unnd Christlick gehandelt nha ynnholt des Texts ordentlick na dem. geystliken vorstände sambt aller umstendicheit uthgeladit. Die Parabel wurde szenisch dargestellt und gleichzeitig im Protestant. Sinne ausgelegt; die Polemik gegen die Werkheiligkeit tritt deutlich hervor. Der Schluß bietet eine theologische Allegorese, in der die Söhne jeweils die röm. bzw. die evangel. Kirche bedeuten. Der zweite Sohn wird zum Pharisäer und Einsiedler, der verderbte Hurenwirt aber zum reuigen Sünder mit der Hoffnung auf Gnade. Das Spiel gehört zu den stärksten Glaubenszeugnissen der neuen Lehre; leider ist es in seiner Zeit wenig bekannt geworden, was einerseits am fernen Druckort Riga und andererseits auch am ndd. Idiom liegen mag. — Mit der Dramatisierung der gleichen Parabel trug Guilelmus G η a p h e u s (1493-1568) unsterblichen Ruhm durch das ganze 16. Jh. davon. Seine Comoedia Acolastus erlebte über 50 Auflagen und wurde mehrmals ins Deutsche übersetzt. In der gelungenen Darstellung von religiöser Problematik mit humanist. Formgebung, von Rechtfertigungslehre mit der terenzianischen Komödienform, war dem Autor die Verwirklichung einer Lieblingsvorstellung seinerzeit, desTerentius christianus, gelungen. Obwohl der Text frei von aller direkten Glaubenspolemik ist, hat die Protestant. Welt ihn in ihrem Sinne verstanden. Darüber hinaus nimmt das Stück auch in der Formgeschichte des dt. Dramas eine Sonderstellung ein, da es für das 16. Jh. als Muster eines humanistischen, an der Palliata orientierten Dramas galt. Textsammlungen: Schauspiele aus d. 16. Jh. Hg. v. Jul. T i t t m a n n (1868). Das Drama d. R.szeit. Hg. v. Rich. F r o n i n g (1894; Nachdr. 1964). Die Schauhuhne im Dienste d. R. Hg. v. Arnold E. B e r g e r (1935; DtLit., Reihe R. 5/6). Vom Sterben d. reichen Mannes. Die Dramen von Everyman, Homulus, Hecastus u. d. Kauffmann. Ubers., hg. u. eingel. v. Helmut W i e m k e n (1965; Samml. Dieterich 298). Leicester B r a d n e r . A Check-list of original neo-Latin dramas by continental writers, printed before 1650. PMLA. 58 (1943) S. 621633. Ders., List of original neo-Latin plays, printed before 1650. Studies in the Renaissance 4 (1957) S. 55-70. Rolf Τ a rot, Lit. z. dt. Drama u. Theater d. 16. u. 17. Jh.s. E. Forschungsbericht. Euph. 57 (1963) S. 411-453. Siehe auch Literaturangaben zum Artikel Neulateinisches Drama.

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Reformationsliteratur hinzu: Eva, in dem die Geschichte der ungleichen Kinder Evae behandelt wird, und Sapientia Salomonis, worin das Bild eines vorbildlichen Herrschers gezeichnet wird. — Bereits vor 1530 hatte der junge B u l l i n g e r in seinem Schauspiel Lucretia, das Birck in Basel 1533 edierte, den Versuch gemacht, die röm. Geschichte von der Vertreibung der Tyrannen als Folie für eine wirkungsvolle Darstellung polit. Verhaltens, wie es die eigene Zeit nötig hatte, zu verwenden. So wundert es nicht, wenn nach den ersten 554 Versen die Lucretia-Geschichte bereits erledigt ist und der umfangreiche Rest des Stückes staatsmännischer Kritik und regierungspolitischen Empfehlungen gewidmet ist. Aufschlußreich ist, daß die harte Römertugend hier als nachahmenswertes Vorbild hingestellt wird. Die Form des Spiels entspricht wie bei vielen dieser Stucke den Erfordernissen der beabsichtigten Aussage. — Einen anderen Weg schlug Johannes Κ ο 1 r ο ß mit seiner 1532 in Basel gespielten, sehr pädagogisch-seelsorgerisch orientierten Moralität von den Fünferlei Betrachtnissen, die den Menschen zur Buße reizen, ein; er knüpfte an ältere Formen an, wie sie etwa in Brants Tugendspiel vorliegen. Diese Gattung lebte noch weiter bei Valentin B o l t z fort, der den Baslern in seiner Moralität Der Weltspiegel (1550) ein kritisches Gesellschaftsspektrum lieferte; auch seine anderen Spiele (Spiel von Pauli Bekehrung, Ölung Davids) wurden in Basel von Bürgern aufgeführt. — Hans von R ü t e , Berner Ratsmitglied, verfolgte in seinen Spielen zunächst die Bahn von Manuel (Spiel von päpstlicher Abgötterei), ging dann aber zu sehr umfangreichen, zwei Aufführungstage beanspruchenden geistlichen Spielen über, in denen vor dem Hintergrund der biblischen Vorgänge auf Zeitprobleme eingegangen wurde (Joseph 1538, Gedeon 1540, Noah 1546, David 1555). Ähnlich waren die dramatischen Produktionen von Jakob R u o f in Zürich, der 5 große geistliche Spiele verfaßte: Hiob 1535, eine Weingärtner-Parabel nach Math. 21, 1539, Joseph 1540, Das Leiden unseres Herrn Jesu Christi 1545, Adam und Eva 1550. Zu diesem Autorenkreis gehören auch Jacob F u n c k e l i n (1565 gest.), von dem leider nicht alle Stücke erhalten geblieben sind, und der etwas jüngere Glasmaler und Dramatiker Jos. M u r e r (15301580), dessen sieben biblische Spiele die Gattung in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s noch auf ihrem Höhepunkt zeigen. Von den schweizer Spielen wurden die elsässischen Autoren stark beeinflußt; Georg W i c k ram s geistliche Spiele — Verlorener Sohn 1540, Apostelspiel 1550, Tobias 1550 — zeigen das deutlich, gleichwohl erreichen sie nicht die Theaterwirksamkeit der schweizerischen Vorbilder. Eine Ausnahme macht allerdings der Joseph (1540) des Thiebold G a r t , der in Schlettstadt von Bürgern gespielt wurde: Ein schöne und fruchtbare Comedia auß heiliger Biblischer schrifft in Rheimen bracht mit anzeygung irer Allegori und geistliche bedeüttung in welmer vil Christlicher zucht Gottsfurcht gelernet wird. Das Stück gehört nach Gehalt, dramaturgischer Struktur und sprachlichem Stü zu den

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besten Bibeldramen des Jahrhunderts. — Sehr kompliziert im Geflecht seiner Vorstellungen (Freiwilligkeit des Bekenntnisses zu Christus, Toleranz in Glaubensdingen, gegen Ketzerverfolgung usw.), voll von theologischem Bildungsgut der Zeit, ist das allegorische Endzeit-Spiel des Alexander S e i t z , das in formaler Hinsicht in die alemann. Spieltradition gehört; dennoch ist es eines der interessantesten R.sdramen, weil in ihm mit den Mitteln des Theaters öffentliche Meinungsbildung betrieben wird. Wegen seiner Spielanordnung ist das Stück auch von theaterwissenschaftlicher Bedeutung. Schweizerische Schauspiele d. 16. Jh.s. Bearb. v. Jakob B a e c h t o l d . 3 Bde (Zürich 1890-1893). — Oskar E b e r l e , Theatergesdi. d. inneren Schweiz (1929; Königsberger Dt. Fschgn 5). Hans S t r i c k e r , Die Selbstdarstellung d. Schweizers im Drama d. 16. Jh.s (Bern 1961; SprDchtg. NF. 7). Ad. F l u r i , Dramatische Aufführungen in Bern im 16. Jh. Neues Bemer Taschenbuch auf d. Jahr 1909 (1908) S. 133-159. — 'Das Zürcher Spiel vom reichen Mann u. vom armen Lazarus' und P. Gengenbach, 'Die Totenfresser'. Hg. v. Josef S c h m i d t (1969; Reclams Universalbibl. 8304). — Sixt B i r c k , Sämtliche Dramen. Hg. v. Manfred B r a u n e c k (1969 ff.; Ausg. Dt.Lit.). — Xystus B e t u l i u s , Susanna. Hg. v. Joh. B o l t e (1894; LLD. 8). [Sixt B i r c k , ] Sapientia Salomonis dramate comicotragico descripta. Ed. by Elizabeth Rogers P a y n e (New Haven 1938; Yale Studies inEnglish89). Friedr. Aug. W i t z , Versuch e. Gesch. d. theatralischen Vorstellungen in Augsburg (1876). Friedr. M i c h a e l , Sixt Birck in Augsburg. ZfdPh. 47 (1918) S. 99-100. Josef Franz S c h ö b e r l , Über d. Quellen d. Sixtus Birck. (Teildr.) Diss. München 1919. Emst M e s s e r s c h m i d , Sixtus Birck (1500-1554), e. Augsburger Humanist u. Schulmeister aus d. Zeit d. R. (Masch.) Diss. Erlangen 1923. Helene L e v i n g e r , Augsburger Schultheater unter Sixt Birck (1536-1554) (1931; Drama u.Theater 2). — Käthe H i r t h , Heinrich Bullingers Spiel von 'Lucretia und Brutus' 1533. Diss. Marburg 1919. — E. L ä u c h l i , 'Fünferlei Betrachtnisse' von Johann Kollross. E. Basier Drama d. 16. Jh.s. In: Basler Stadtbuch (1959) S. 158176. G. B o s s e r t , Zur Biographie d. Dichters Valentin Boltz von Ruffach. Zs. f. d. Gesch. d. Oberrheins 53 (1899) S. 194-206. Fritz M o h r , Die Dramen des Valentin Boltz. Diss. Basel 1916. — W. C r e s c e l i u s , Hans Rüte in Bern u. s. 'Spil von der heidnischen u. päpstlichen Abgötterei'. Alemannia 3 (1875) S. 120-128. Ders., Die Heiligenverehrung in d. Schweiz im 16. Jh. (Nach d. Fastnachtspiel von Hans von Rüte). Alemannia 3 (1875) S. 53-61. B. E r n o u f , Le Mystdre de Νοέ, 1546. (Von Hans von Rüte). Bulletin du Bibliophile et du Bibliothecaire 48 (1881) S. 53-64; 288. — Robert W i l d h a b e r , Jakob Ruf. E. Zürcher Dramatiker d. 16. Jh.s. Diss. Basel 1929. Jakob R u f f , Adam und Heva. Erl. u. hg. v. Herrn. Marc K o t t i n g e r (1848; Bibl. d. ges. dt. National-Lit. I, 26). — Georg W i c k r a m ,

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Reformationslitcratur

Werke. Hg. v. Joh. B o l t e . 8 Bde (1901-1906; BiblLitV. 222/23.229/30.232.236/37.241).Georg W i c k r a m , Sämtliche Werke. Hg. v. HansGert R o l o f f (1967ff.; Ausg. Dt. Lit.). — Thiebold G a r t , Joseph. Biblische Komödie, 1540. Hg. v. Erich S c h m i d t (1880; Elsäss. Literaturdenkm. aus d. 14.-17. Jh. 2). Marianne K l e i n l o g e l , 'Joseph', e. Biblische Komödie von Thiebolt Gart aus d. Jahre 1540. Diss. Gießen 1932. A. L e i t z m a n n , Zu Garts Joseph-Drama. PBB. 50 (1927) S. 413415. — Alexander S e i t z , Sämtliche Schriften. Hg. v. Peter U k e n a (1969ff.; Ausg. Dt.Lit.). Joh. B o l t e , Eine Protestant. Moralität von Alexander Seitz. ZfdPh. 26 (1894) S. 71-77. In M i t t e l d e u t s c h l a n d bildete sich eine im Prinzip andere Dramenform heraus, als sie in den alemann. Volksspielen begegnet; der Tendenz und dem Anliegen nach bestehen aber keine grundsätzlichen Unterschiede. Der strukturelle Ausgangspunkt war hier die Neigung zur Konzentration; diese antikisierende Dramenform läßt sich aus einem intensiven Terenzstudium erklären, das von den Wittenbergem immer wieder empfohlen wurde und festen Bestandteil der Schulordnungen bildete. Eine Vorstellung von der Struktur der Palliata gaben auch die zeitgenöss. Übersetzungen, die eher freie Bearbeitungen waren, wie sieMuschler, Greff, Ham, Agricola vorlegten. Femer dürften die humanist. Dramenversuche wie Gnapheus' Acolastus oder des Sapidus Άνάβιον swe Lazarus (Straßburg 1538) nicht ohne Einfluß gewesen sein. Aber wie die praktizierten Formen zeigen, war diesen Dramatikern das Wesentliche der Palliata in Struktur und Bühnenform noch nicht aufgegangen, so daß wir trotz äußerer Akteinteilung immer wieder auf die Simultanbühne als dramaturg. Spielvorstellung stoßen. Daß in Sachsen in den 30er Jahren eine solche rege Dramenproduktion einsetzte, geht schließlich auch auf Luthers Zuspruch zurück, der in den Vorreden zu den Büchern Judith und Tobias darauf hinwies, daß die Stoffe des AT. für geistliche Spiele geeignet wären. Als Joachim Greff 1543 von Dessauer Geistlichen untersagt wurde, ein Bibelspiel aufzuführen, erbat er sich von maßgeblichen Theologen Gutachten über die Frage, an sacras histories carmine redditas tamquam Comoedias Christiane populo quovis in loco sacro vel profano audiendas et spectandas liceret proponere. Luther, Melanchthon, Georg Major, Hieronymus Noppus und Georg Eber spra-

chen sich einhellig dafür aus, daß derartige Dramen die Kenntnis der biblischen Geschichte u. U. mehr fördern könnten als Predigten. Joachim G r e f f s 1534 erschienenes Spiel vom Patriarchen Jacob trug den sächs. Formvorstellungen eines Bibeldramas zum erstenmal Rechnung. Auf fünf Akte bei nur 2090 Versen war der ganze Stoff knapp und übersichtlich zusammengedrängt; das Stüde erfuhr bei den Zeitgenossen mehr Beachtung, als ihm im Vergleich zu anderen Leistungen zukommt. Auch Greffs andere Stücke gehören nicht zu dem Besten dieser Gattung, wohl aber sind sie als rudimentäre Versuche interessant (Judith 1536, Mundus 1536, Abraham 1540, Osterspiel 1542, Lazarus 1544, Ζadieus 1546). Nach Greffs Muster sind audi die Stücke der anderen Autoren angelegt, denn sie standen alle miteinander in Verbindung und hingen mit Wittenberg eng zusammen; in Chemnitz brachte Valentin V o i t h 1536 eine Esther und 1538 ein Spiel von dem herrlichen Ursprung ... des Menschen, das in lutherischer Sicht die Anfänge der Menschheitsgeschichte darstellt, zur Aufführung; Hans A c k e r m a n n aus Zwickau schrieb einen Verlorenen Sohn (1536) (nach Gnapheus), später einen Tobias (1539) und einen Barmherzigen Samariter (1546). Hans T y r o l f , der einiges von Rebhun und Naogeorg gelernt hatte, veröffentlichte 1539 ein Spiel von der Heirat Isaaks; der Joadiimsthaler Schulmeister Johannes Criginger (Krüginger) ließ ein Lazarus-Spiel (1543) und einen Johannes (1545) erscheinen, in denen ζ. T. mit treffenden satir. Darstellungen Laster der Zeitgenossen angeprangert werden. Der junge Heinrich K n a u s t , der sich in seinen späteren lat. Dramen anderen Stoffen zuwendete, schrieb eine Tragedia von der Verordnung der Stände (1539) und 1541 ein dt. Weihnachtsspiel. Die Palme in diesem Kreis gebührt aber Paul R e b h u n , dessen Susanna (1536) am besten dem Typ des formstrengen Bibeldramas entspricht. Die Uterar. Leistung, die dem Stüde bis heute kanonisches Ansehen verschafft hat, liegt in der Textexegese und in deren gelungener Formgebung; gleichzeitig zeigt gerade dieses Stüde auch die Besonderheit des Dramas im 16. Jh. auf. Rebhuns anderes Spiel, das Hochzeitsspiel auf die Hochzeit von Cana (1538), ist im Hinblick auf seine Lehre über den Ehestand und auf einige formale Erscheinungen von Interesse. — Auch Johann A g r i c o l a s Tragedia Johannis Hus (1537) verdient nach Gehalt und Stil mehr Beachtung, als ihr bisher zugebilligt wurde; sie stellt in recht origineller Form das erste dt. Märtyrerdrama dar. Die Zeit hielt das Stück für so bedeutend, daß der Kurfürst es am 31.12.1537 in Torgau aufführen ließ, daß es mehrfach gedruckt wurde •und daß schließlich ein so prominenter Gegner wie Johannes Cochlaeus sich veranlaßt fühlte, ein Gegenstück zu schreiben, in dem er Agricola und die Wittenberger Theologen auf ebenso witzige wie satirische Weise angriff und ihre Eigenheiten wie ihre 'Weiberwirtschaft' der

Reformationsliteratur Lächerlichkeit preisgab. Das Heimlich Gespräch von der Trageaia Johannis Hussen erschien 1538 und ist der Tragedia durch seine geschliffene Form und seinen treffenden Witz ebenbürtig. Auch dieser Text ist ein Beispiel für die besondere satir. Begabung des 16. Jh.s. Zu den erfolgreichsten Stücken dieses Kreises gehört auch des Johannes C h r y s e u s Hof teuf el (1545), der die Geschichte Daniels in der Löwengrube behandelt, aber auf Erscheinungen am sächsischen Kurfürstenhof gemünzt war. Das in Gestalt des Teufels dargestellte Intrigenwesen interessierte bis ins frühe 17. Jh., wo das Stüde noch gespielt wurde. In Verbindung mit diesem Dramatikerkreis stand auch Thomas N a o g e o r g , der wohl genialste Theaterdichter des 16. Jh.s. Seine sechs lat. Dramen entstanden zwischen 1538 und 1552, wurden teils bis zu viermal ins Deutsche übersetzt und bis ins 17. Jh. hinein gespielt. Jedes seiner Stücke entspricht einem Idealtypus des R.sdramas. Im Pammachius (1538) wurde ein Protestant. Geschichtsbild des tausendjährigen Machtkampfes der Päpste und der Kurie vorgeführt, die vor dem Teufelsbündnis nicht zurückschrecken; in ein groteskes Siegesbacchanal dringt die Nachricht von der Reformation; der fünfte Akt blieb ungeschrieben. Das zweite Drama, die Tragoedia alia nova Mercator (1540), demonstriert Luthers Rechtfertigungslehre am Beispiel des Jedermannstoffes ungemein originell und wirkungsvoll. In den Incendia (1541) schaltete sich Naogeorg in den Kampf gegen Heinz von Wolfenbüttel ein und schrieb ein polit. Schlüsseldrama auf diese Affaire. In der Tragödie Hamanus (1543), in dessen Titelhelden ihm die erste Gestaltung eines intriganten Fürstendieners gelang, zieht Naogeorg gegen Intrigenwesen, Standesdünkel, Bestechlichkeit und Heuchelei vom Leder. Auch in der Tragödie Jeremias (1551) ist der Bibeltext nur die Folie für die eigene Zeit mittelbar betreffende Probleme; gleiches gilt für den ludas Iscariotes (1552), der gegen die Verräter des Evangeliums nach Einführung des Interims gerichtet ist und wohl hauptsächlich auf Melanchthon zielt. Die antikisierende Struktur der Dramen Naogeorgs entsprach den humanist. Vorstellungen dieser Gattung; eklektisch werden bestimmte Formelemente verwendet, soweit sie der primär vorhandenen Absicht, vom Theater aus ideologische Propaganda zu betreiben, nützlich waren; denn das Ziel des Schreibens war für Naogeorg die Verkündung der Glaubens Wahrheit; er schätzte sein Drama als ein Mittel zur Ausrottung der Übel dieser Welt ein. Reinhard B u c h w a l d , Joachim Greff. Untersuchungen über d. Anfänge d. Ren.aramas in Sachsen (1907; Probefahrten 11). W. K a w e r a u , J. Greff in Magdeburg. Geschichtsblätter f. Stadt u. Land Magdeburg 29 (1894) S. 154-77; 401-402. H. S u h l e , J. Greff, Schulmeister zu Dessau, d. Verf. d. Dramas vom Patriarchen Jacob (1534). Mitteilen, d. Ver. f. Anhalt. Gesch. u. Altertumskunde 5 (1890) S. 91-98. W. S c h e r e r , J. Greff. SBAkWien 90 (1878) S. 193-242. — Dramen von Acker-

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mann und Voith. Hg. v. Hugo H o l s t e i n (1884; BiblLitV. 170). P. U h l e , Der Dramatiker u. Meistersänger Valentin Voith aus Chemnitz. Jahrb. d. Ver. f. Chemnitzer Gesch. 9 (1895/ 97) S. 159-92. — Paul R e b h u η , Dramen. Hg. v. H. P a l m (1859; BiblLitV. 49). Paul R e b h u n , Susanna Hg. v. H.-G. Roloff (1968; Reclame Universalbibl. 8787/88). — K. H a h n , Biographisches von P. Rebhun u. Hans Ackermann. Neues Archiv f. Sachs. Gesch. u. Altertumskunde 43 (1922) S. 80-97. Joh. M ü l l e r , Eine Predigt P. Rebhun s nebst Bemerkungen über s. Schriften. Mitteilgn. d. Altertumsver. zu Plauen i. V. 6 (1887) S. 65-83 H. P a l m , P. Rebhun. In: Palm, Beiträge z. Gesch. d. dt. Lit. d. 16. u. 17. Jh.s (1877) S. 84-102. — T. B o l t e , Joh. Ackermanns Spiel vom barmherzigen Samariter (1546). ArchfNSprLit. 77 (1887) S. 303-28. H. H o l s t e i n , Ackermann u. Agricola. ZfdPh. 12 (1881) S. 455-67. B. S t r a u s s , Joh. Ackermann u. Hans Sachs. ZfdA. 53 (1912) S. 303-308. A. L e i t z m a n n , Zu den Dramen von Ackermann u. Voith. PBB. 40 (1915) S. 536-38. — Herrn. M i c h e l , Heinrich Knaust. E. Beitr. z. Gesch. d. geistigen Lebens in Deutschland um d. Mitte d. 16. Jh.s (1903). — O. C l e m e n , Zwei 1543 u. 1545 in Zwickau gedruckte Dramen e. Crimmitschauer Schulmeisters [Johann Criginger]. Alt-Zwickau 1924 S. 41-44. — Gustav Κ a w e r a u , Johann Agricola von Eisleben. E. Beitr. z. R.sgesdxichte (1881). Ders., Über d. Verfasser d. 'Tragedia Johannis Huss'. ArdifLitg. 10 (1881) S. 6-12. — Johann Vogelsang [Cochiäus]. Ein heimlich Gespräch von der Tragedia Johannis Hussen, 1538, Hg. v. Hugo H o l s t e i n (1900; Flugschriften aus d. R.szeit 17). Thomas N a o g e o r g u s , Pammachius. Hg. v. Joh. Β ο 11 e u. Erich S c h m i d t (1891; LLD. 3). Drei Schauspiele vom sterbenden Menschen: 1. Das Münchner Spiel von 1510, 2. M a c r o p e d i u s : Hecastus 1539, 3. N a o g e o r g u s : Mercator 1540. Hg. v. Joh. B o l t e (1927; BiblLitV. 269/70. — P. V e t t e r , Th. Naogeorgs Flucht aus Kursachsen. Arth. f. Reformationsgesch. 16 (1919) S. 1-53; 144-89. — Fritz W i e n e r , Naogeorgus im England d. Rszeit. Diss. Berlin 1907. Leonhard T h e o b a l d , Th. Naogeorgus, d. Tendenzdramatiker d. R.szeit. Neue Kirdil. Zeitschr. 17 (1906) S. 7Θ4-94; 18 (1907) S. 65-90; 327-350; 409425. — Ders., Das Leben u. Wirken d. Tendenzdramatikers d. R.szeit Th. Naogeorgus seit s. Flucht aus Sachsen, (1908; Quellen u. Darstellgn aus d. Gesch. d. Reformations-Jh.s 4). H. L e w i n g e r , D i e Bühne d. Th.Naogeorg. Archiv f. Reformationsgesch. 32 (1935) S. 14566. Α. Η ü b η e r , Studien zu Naogeorg. 1. 'Pammachius', 2. 'Mercator", 3. 'Incendia seu Pyrgopolinices'. ZfdA. 54 (1913) S. 297-338; 57 (1920) S. 193-222. Paul Heinr. D i e h l , Die Dramen des Th. Naogeorgus in ihrem Verhältnis z. Bibel u. zu Luther. Diss. Mündien 1915. Im Gefolge der R. drang das geistliche Spiel auch in den Bereich des M e i s t e r -

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s i n g e r d r a m a s ein. Hans S a c h s hat derartige Spiele erst spät in sein Repertoire aufgenommen; die Comedi daß Christus der wahr Messias sei (1532), die auf alte Prophetenspiele zurückgeht, ist der früheste Beleg; ihr folgen ein Tobias (1533) und eine Esther (1536). Erst etwa ab 1550 erscheinen die biblischen Spiele häufiger; sie lassen sich teilweise auf andere Bibeldramen zurückführen. Die Tendenz dieser Stücke ist einerseits protestantisch-lutherisch, anderseits auch stark auf praktische sittliche Unterweisung ausgerichtet. Das geistliche Spiel der sächsischen Art begegnet auch in Süddeutschland, so bei Hieronimus Z i e g l e r in seiner lm.mola.tio Isaac (1544), bei Johann N a r h a m m e r im Hiob (1546) und vor allem bei Leonhart C u l m a n n , der als Schulmeister und Prediger in Nürnberg neben weltlichen auch zwei beachtenswerte geistliche Spiele (Wie ein Sünder zur Buße bekehrt wird, 1539 und Spiel von der Witfrau, 1544) verfaßte. Friedrich Wilh. T h o n , Das Verhältnis d. Hans Sachs zu d. antiken u. humanist. Komödie. Diss. Halle 1889. Waldemar K a w e r a u , Hans Sachs u. d. R. (1889; Sdir. Ver. Reform.sgesdi. 26). A. L. S t i e f e l , Uber d. Quellen a. Hans Sachsischen Dramen. Germania Pf. 36 (1891) S. 1-60; 37 (1892) S. 203-30. J. B e i fus, Hans Sachs u. d. R. bis zum Tode Luthers. Mitteilungen d. Ver. f. Gesch. d. Stadt Nürnberg 19 (1911) S. 1-76. Emst C a s p a r y , Prolog u. Epilog in d. Dramen d. Hans Sachs. (Masch.) Diss. Greifswald 1920. Alfons Hu g l e , Einflüsse d. Palliata auf d. lat. u. dt. Drama im 16. Jh. mit bes. Berücks. d. Hans Sachs. (Masch.) Diss. Heidelberg 1921.

§ 6. L y r i k . Die Ausbreitung der reformatorischen Ideologie ist in der ersten Hälfte des 16. Jh.s auch seitens der lyrischen Dichtformen der Zeit wesentlich gefördert worden. Die hauptsächlichen Erscheinungen waren das weltliche politische Lied, die Spruchdichtung, das geistliche Lied, insbesondere das liturgisch orientierte Gemeindelied, und Teile der anspruchsvollen neulat. Lyrik. Sie alle wurden unzählige Male in den Dienst der neuen Sache gestellt und vermitteln ein breites Spektrum individueller Meinungen und Stellungnahmen zur Reformation und ihrer Notwendigkeit. Das weltliche p o l i t i s c h e Lied, von der älteren Forschung fälschlich als 'historisches Volkslied' bezeichnet, ist seinem Charakter nach polit. Gelegenheitsdichtung, in der zu

religiösen und politischen Fragen der Zeit Stellung genommen wird. Wegen ihrer Vielschichtigkeit und relativen Unerforschtheit ist diese Gattung noch schwer zu fassen; im ganzen gilt von ihr aber, was bereits Rochus von Liliencron, dem wir die umfangreichste derartige Textsammlung verdanken, gesagt hat: daß nämlich diese Lieder „nicht... geschichtliche Begebenheiten in objektiver Auffassung darstellen, sondern daß sie in den noch fortdauernden Verlauf hineingehören, daß sie aus den Begebenheiten selbst als eine unmittelbare Folge hervorwachsen und daß ihre nächste Absicht dahin gerichtet ist, auf den weiteren Gang der Dinge einzuwirken, indem sie die Gemüter stimmen und die Geister im Volke für eine bestimmte Auffassung der Sachlage gewinnen." Als 'politische Volksdichtungen', wie sie Liliencron entgegen dem Titel seiner Sammlung bereits auffaßte, sind sie auf eine bestimmte Wirkung ausgerichtet; sie sind zwar 'Tagesware', die der Information und Meinungsbildung diente, und sind deshalb auch den Frühformen des Journalismus zugerechnet worden, andererseits aber geschieht die Art und Weise des Mitteilens in traditionellen Iiterar. Formen, vornehmlich denen des sangbaren strophischen Liedes (Spottlied, Klagelied, Loblied, Zeitungslied) und des Reimpaar-Spruches kürzeren oder längeren Umfanges, so daß diese Texte in den Bereich literarhistorischer Betrachtung gehören. — Die Höhepunkte dieser Gattung liegen in den 20er und in den 40er Jahren des 16. Jh.s; das erste Jahrzehnt der R.sauseinandersetzungen und dann die Affäre um Heinz von Wolfenbüttel, der schmalkaldische Krieg und das Interim haben die meisten Anlässe zu diesen Dichtungen gegeben; nach 1554 versiegt diese Produktion fast völlig. Die Gegenstände dieser Lieder und Sprüche waren Fehden und Kriege, Klagen über den Adel, die Türkenfurdit, der Bauernkrieg, der Aufruhr in Danzig, Reichstage, die Sdiladit bei Kappel, Wiedertäufer, der schmalkaldische Krieg und das Interim, die Belagerung Magdeburgs und die Schlacht bei Mühlberg; Preis- und Schmählieder auf Hutten, Zwingli, Luther, Karl V., Heinz von Wolfenbüttel, Moritz von Sachsen und Ermahnungen an die Evangelischen, an die Fürsten usw. begegnen in bunter Mischung und Fülle; allein Liliencron brachte über 400 derartige Texte zusammen; inzwischen ist weiteres Material zum Vorschein gekommen. Als Muster dieser Gattung gelten Luthers Lied

Reformationsliteratur

von den Brüsseler Märtyrern: Ein newes Lied wyr heben an und Huttens berühmtes Ich hab's gewagt; Hans Sachs' allegorisches Gedicht Die wittembergisch nachtigal und Burkard Waldis' 'Streitgedichte' repräsentieren die Formen der Spruchdichtung dieser Periode. John M e i e r , [Bibliographie zum Historischen Volkslied]. PGrundr. Bd. 2 (1899/1902) S. 1200-1203. — Friedr. Leonhard v. S ο 11 a u, Ein Hundert Dt. Histor. Volkslieder (1836; 2. Ausg. 1845). H. R. H i l d e b r a n d , Fr. L. v. Soltaus dt. histor. Volkslieder, Zweites Hundert (1856). Ph. Max K ö r n e r , Histor. Volkslieder aus d. 16. u. 17. Jh. (1840). Aug. Heinr. H o f f m a n n v. F a l l e r s l e b e n , Die dt. Gesellschaftslieder d. 16. u. 17. Jh.s. (2. Aufl. 1860; Nachdr. 1966). Rochus von L i l i e n c r o n , Die histor. Volkslieder d. Deutschen vom 13. bis z. 16. Jh. 4 Bde. m. Nachtr. (1865/ 69). Karl G o e d e k e u. Julius T i t t m a n n , Liederbuch aus d. 16. Jh. (1867; Dt. Dichter d. 16. Jh.s 1). Rochus von L i l i e n c r o n , Dt. Leben im Volkslied um 1530 (1885; DNL 13). L. E r k u. F. M. B ö h m e , Deutscher Liederhort. 3 Bde (1893/94). Aug. H a r t m a n n , Histor. Volkslieder u. Zeitgeaidite vom 16. bis 19. Jh., 3 Bde (1907/13). J. O. O p e l , Die histor. Volkslieder d. Deutsälen. Histor. Zs. 25 (1871) S. 1-48. W. C r e c e 1 i u s, Das geschichtliche Lied u. d. Zeitung im 16. u. 17. Jh. Zs. d. Bergischen Geschidüsver. 24 (1888) S. 1-22. Karl S t e i f f u. Gebhard M e h r i n g , Geschichtliche Lieder u. Sprüche Württembergs (1912). Ursula T h y m , Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel im Historischen Lied s. Zeit. Diss. Greifswald 1934. G. K i e s l i c h , Das 'Historische Volkslied' als publizistische Erscheinung (1958; Studien z. Publizistik 1). Jan M. R a h m e l o w , Die Publizist. Natur u. d. historiograph. Wert dt. Volkslieder um 1530. Diss. Hamburg 1966. Das g e i s t l i c h e L i e d der R.szeit (christlich lied, evangelisch lied, kirchengesang, geystlidier gesang, geistlich lied) läßt sich trotz fließender Grenzen zwischen dem liturgisch orientierten Gemeindelied und den religiösen Erbauungs-, Bekenntnis-, Kampfoder Lehrliedern, die nicht unmittelbar für den Gebrauch im Gottesdienst gedacht waren, differenzieren. Das protestantische Gemeindelied hat eine Sonderstellung im Bereich des geistlichen oder Kirchenliedes; es ist eine zweckgebundene Schöpfung der R. und umfaßt Lieder für die besonderen kirchlich-liturgischen Bedürfnisse, die nach den Sonn- und Festtagen des Kirchenjahres orientiert sind. Die de tempore-Ordnung war bald die Grundstruktur der Gesangbücher. Thomas M ü n t z e r hatte vor Luther in seine deutsche Liturgie 10 alte Hymnen in deutscher Ubersetzung aufgenommen, die

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von der Gemeinde gesungen wurden. Luther griff diesen Anstoß auf und machte durch seine eigenen ad hoc verfaßten Lieder wie durch seine Anregungen auf andere Wittenberg zu einem Zentrum des evangel. Gemeindeliedes. Seit 1523/24 erscheinen die zunächst sehr schmächtigen Gesangbüchlein, die seit dem sogenannten 'Gesangbuch von Klug' (1529) den Zusatz 'geistliche Lieder zu Wittemberg' führen; Johannes W a l t h e r s (1496-1570) Geystiich Gesangk-Budileyn (1524) wurde zum „Grundstock aller evangelischen Liedmusik". Luther hat sich bis ins Alter um die Auswahl der Texte dieser Gesangbücher gekümmert. Aufgabe dieser liturgischen Lieder war es, die evangel. Glaubensvorstellungen zu festigen, die Heilswahrheiten zu verkünden, zum Glauben zu ermahnen und den Dank an Gott in würdiger Form zum Ausdruck zu bringen. Nicht ohne Absicht sind christlich-didaktische Elemente in diese Lieder eingeflossen; sie wenden sich an Verstand und Erfahrung und sind nicht Ausdruck inbrünstig-gläubigen Uberschwanges. Neben Übersetzungen alter Hymnen, die für das Protestant. Publikum bearbeitet wurden, sind biblische Texte, insbesondere die Psalmen, als Vorlage verwendet worden. In formaler Hinsicht, so beim Strophenbau, lassen sich Einflüsse des Meistersangs und des Volksliedes feststellen. Als Verfasser dieser strengen liturgischen Gemeindelieder begegnen neben Luther S ρ e r a t u s , Justus J o n a s , Lazarus S p e n g l e r , Nicolaus H e r m a n n , Johann S p a n g e n b e r g , Johannes W a l t h e r , Herzog A l b r e c h t v o n P r e u ß e n , Johann M a t h e s i u s u . a . ; nicht wenige Lieder erschienen übrigens anonym. Evangelische geistliche Lieder hat es bereits vor Luther gegeben, so von Z w i n g l i , Hans S a c h s , Michael S t i f e l , Ambrosius B l a r e r , aber sie waren als liturgischer Gemeindegesang ungeeignet oder gar nicht dafür vorgesehen. Um die Jh.mitte verwischen sich die Grenzen zwischen diesen Typen zusehends; das geistliche Lied paßt sich dem weltlichen an, versucht, Religion und bürgerliches Leben in Beziehung zu setzen, und wird teilweise flach und trivial. W o dies nicht der Fall ist, geht das Gemeindelied zum Erbauungs- und Andachtslied über, wie es sich bei den späteren geistlichen Liederdichtern Nicolaus S e i n e c k e r

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Reformationsliteratur

(1530-1593) und Bartholomäus R i n g w a l d (1530—1591) beobachten läßt. Das geistliche Lied erfuhr auch im Gebiet der r e f o r m i e r t e n K i r c h e einen starken Aufschwung, audi wenn es hier nicht als liturgisches Lied, abgesehen von Psalmenliedem, die dem Wort der Schrift gleichgestellt waren, begegnet. Zum Teil hat man lutherische Texte entsprechend umgearbeitet. Von besonderem Interesse dürfte das reformierte Nüw gesangbüchle sein, das Johannes Zwick (1542 gest.) um 1533/34 erstmals in Zürich herausgab; es enthält eine Auswahl der besten Lieder aller evangelischen Kreise; die Wittenberger sind darin ebenso vertreten wie Hans Sachs und die Schweizer Zwingli, Jud, Bullinger, Musculus; dazu gesellen sich noch die Brüder Blarer (Konstanz), der Schwendcfeld-Jünger Reussner und Zwick mit mehreren eigenen Liedern.— Neben Nürnberg mit Hans Sachs und Lazarus Spengler und Königsberg mit Herzog Albrecht von Preußen war Straßburg ein weiteres bedeutendes Zentrum des evangel, geistlichen Liedes. Hier erschien 1541 (danach mehrfach neu gedruckt) das große Straßburger Gesangbuch mit einer Auswahl von Liedern von Wolfgang Capito, J. Englisch, H. Hubert, Leo Jud und Wolfgang Musculus. Eine Sonderstellung nehmen die geistlichen Lieder der b ö h m i s c h e n B r ü d e r insofern ein, als sie auf eine Tradition bis zur Zeit Hus' zurückblicken können. Die Hussiten pflegten bereits im 15. Jh. den Gemeindegesang in der Nationalsprache. Der bedeutendste Liederdichter dieses Kreises ist Michael W e i ß e (1534 gest.); er gab 1531 das erste dt.sprachige Gesangbuch der böhmischen Brüder heraus, das weit über hundert eigene Lieder neben Übersetzungen aus dem Tschechischen und dem Lat. enthielt. Mehrere Lieder Weißes, die auch Luther zu schätzen wußte, gingen in die evangel. Gesangbücher des 16. Jh.s ein. Auch die T ä u f e r hatten ihre eigenen geistlichen Lieder, in denen sie in Analogie zum lutherischen Gemeindelied ihre Glaubensgrundsätze vortrugen und vermittelten. Aus dem Schwendcfeld-Kreis gingen so wortmächtige Dichter wie Adam R e u s s n e r und Daniel S u d e r m a n n hervor. — Im ganzen entstand im Zuge der R. eine Flut von mannigfachen geistlichen Liedern, die auf die Zeitgenossen

von großem Einfluß gewesen sein müssen; selbst die k a t h o l i s c h e K i r c h e entschloß sich zu einem derartigen Liederbuch für ihre Gläubigen; 1537 gab es der Propst Michael Vehe in Halle heraus; hier wurde aus dem vorhandenen Liederschatz geschöpft und ggf. von Ketzereien gereinigt und dem eigenen Glauben angepaßt. Gottlieb von Τ u c h e r, Melodien d. evangel. Kirchengesangs im ersten Jh. d. R. (1848). Philipp W a c k e r n a g e l , Bibliographie z. Gesch. d. dt. Kirchenliedes im 16. Jh. (1855; Nachdr. 1961). F. A. C u n z , Gesch. d. dt. Kirchenliedes v. 16. Jh. bis auf unsere Zeit (1855). Jos. Κ e h r e i n , Kathol. Kirchenlieder 3 Bde (1859-63). Aug. Heinr. H o f f m a n n v. F a l l e r s l e b e n , Gesch. d. dt. Kirchenliedes (3. Ausg. 1861). Philipp W a c k e r n a g e l , Das dt. Kirchenlied von a. ältesten Zeit bis z. Anfang d. 17. Jh.s. 5 Bde (1862-77; Nadidr. 1964). Ed. Emil K o c h , Gesch. d. Kirchenlieds u. Kirchengesangs d. christlichen, insbes. d. dt. evangel. Kirche. 8 Bde. (1866-76). Alb. Friedr. Wilh. F i s c h e r , Kirdtenlieder-Lexikon. 3 Bde (1878-86). Wilh. B ä u m k e r , Das kathol. dt. Kirchenlied. 4 Bde (1883-11). Otto W e t z s t e i n , Das dt. Kirchenlied im 16., 17. u. 18. Jh. (1888). Theod. O d i n g a , Das dt. Kirdienlied d. Schweiz i. R.szeitalter (1889). Joh. Z a h n , Die Melodien d. dt. evangel. Kirchenlieder, 6Bde (1889-93).Philipp W o l f r u m , Die Entstehung u. erste Entwicklung d. evangel. Kirchenliedes in musikalischer Beziehung (1890). Das dt. Kirchenlied d. 16. u. 17. Jh.s. Hg. v. Eugen W o l f f (1894; DNL 31). Georg Β e r l i t t , Martin Luther, Thomas Mumer u. d. Kirchenlied d. 16. Jh.s. Ausgew. u. mit Einl. u. Anm. vers. (1900; Samml. Göschen 7). Kurt H e n n i g , Die geistliche Kontrafaktur im Jh. d. R. (1909). Julius S m e n d , Das evangel. Lied von 1524 (1924; Sehr. d. Ver. f. Reformationsgesch. 137). Joh. W e s t p h a l , Das evangel. Kirchenlied nach s. geschichtl. Entwicklung (6. Aufl. 1925). Karl B ö h m , Das dt. evangel. Kirchenlied (1927). Wilh. Ν e i l e , Gesch. d. dt. evangel. Kirchenliedes (3. Aufl. 1928). Leopold C o r d i e r , Der dt. evangelische Liedpsalter (1929). Georg Κ e m ρ f f , Der Kirchengesang im Lutherischen Gottesdienst u. s. Erneuerung (1937; SchrVerReformgesdi. 161). Maria Carmelita P f l e g e r , Untersuchungen am dt. geistlichen Lied d. 13.-16. Jh.s. Diss. Berlin 1937. Lied-, Spruchu. Fabeldichtung im Dienste der Reformation. Hg. v. Arnold Ε. Β er g er (1938; DtLit., Reihe Reformat. 4). Paul G e n n r i c h , Die ostpreuß. Kirchenliederdichter (1939). Rud. S e i l g r a d , Welt u. Mensch im dt. Kirchenlied vom 16.18. Jh. (Masch.) Diss. Köln 1955. W. S a l m e n , Das Gemeindelied d. 15. u. 16. Jhs in volkskundlicher Sicht. Jb. f. Liturgik u. Hymnologie 1 (1955) S. 128-132. Hans F r i e s e , Gloria sei dir gesungen, Liederdichter aus der Zeit Martin Luthers (1963). Hans V o l z , Eine un-

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Reformationsliteratur

Gelegenheitsdichtung, in der sich politischreligiöse Stellungnahmen und scharfe R.spolemik befinden. Die Autoren, meist Philologen oder Theologen, die als Professoren, Schulmeister, Pastoren oder Beamte tätig waren, gehören überwiegend dem Protestant. Lager an. Ihre Dichtungen sind vielfach von reformatorischem Gedankengut oder von aktuellen Zeitfragen durchzogen; vor allem der Wittenberger Kreis um Melanchthon versuchte, auch diese Art Dichtung der Idee der R. dienstbar zu machen. Die dabei entstandene religiöse und politische Gelegenheitsdichtung gestattet manchen interessanten Einblick in die Reaktionsweise bedeutender Gelehrter auf aktuelle Probleme ihrer Zeit. Eine besondere Rolle im Kreise dieser protestantischen neulateinisdien Dichter spielte M e l a n c h t h o n , der weniger durch seine sechs Bücher Epigramme, in denen er nach Gelegenheit Themen der Bibel und der Antike mit religiösen Betrachtungen verbunden behandelte und in schlichten, klaren Formen tiefes und inniges Gottvertrauen verkündete, als vielmehr durch seinen Zuspruch und Rat diese Art der Dichtung gefördert hat. Wie sehr sich humanistische Begeisterung für Luthers Sache engagieren konnte, läßt sidi an Eobanus H e s s u s (1488-1540) erkennen, der in vier Elegien Luthers Wesen und Taten pries, nach dem Wormser Reichstag Hutten zum Kampf gegen den Papst aufrief und gegen Luthers Gegner polemisierte; 1523 ließ er im von ihm meisterhaft gehandhabten Stil der Heroiden ein Schreiben der Kirche an Luther erscheinen, das die Hoffnungen, die die Zeit auf den Reformator setzte, ausdrückt. In späteren Gediditen finden sich Klagen über die Unruhe der Zeit, über den Bauernkrieg, den sacco di Roma und immer wieder antipapistische Polemik. Wie Eoban trat auch Euricius C o r d u s (1538 gest.) mit geschliffenen romfeindlichen Epigrammen für Luther ein; in der Antilutheromastix (1525) polemisiert er gegen die Feinde des Evangeliums, und in der Exhortatio (1525) ermahnt er Karl V. und die dt. Fürsten, Luthers Lehre als die wahre Religion anzuerkennen. Politisch-religiöse Fragen (Türken, Schmalkaldisdier Krieg) sind auch dichterische Gegenstände bei Johannes L a n g e (1503-1564), einem Mann, der im öffentlichen Leben der Zeit stand und die Zeitläufte aus eigener Anschauung kannte. Dieselben Themen — Türkenkrieg, Zeitklage, Politik — begegnen auch in dem lyrischen Werk des Johannes D a n t i s c u s (1485-1548). An der ganzen Generation dieser Autoren, die vor oder kurz nach der Jh.wende geboren wurden, läßt sich am besten die Bedeutung der reformatorischen Bewegung für die geistigen Vorstellungen der Zeit erkennen. Ihr polemisches Engagement trägt den erregten Auseinandersetzungen, von denen kaum jemand verschont blieb, in vollem Maße Rech-

nung, waren sie doch in der Tradition des Humanismus groß geworden und setzten nun ihre Kenntnisse und Fähigkeiten in den Dienst von Luthers Sache, freilich nicht ausschließlich; denn so aufschlußreich diese Texte sind, so sind sie andererseits nur ein kleinerer Teil der umfangreichen neulat. Lyrik, die eher dem unpolitischen privaten Bedarf entsprach. Die jüngere Generation, die im R.sjahrzehnt geboren wurde, Schloß sich den polemischen Älteren nur zum Teil an oder nahm, wie etwa Melanchthons Schwiegersohn Georg S a b i n u s , der zu den stärksten Förderern der neulat. Lyrik in Deutschland rechnet, zu Zeitfragen in der Dichtung keine Stellung. Eine Sondererscheinung ist der junge, begabte Simon L e m n i u s (1511-1550) gewesen, der in seinen Epigrammen sdiarfe Kritik an den Wittenberger Verhältnissen übte und in gleichem Atem Albrecht von Mainz pries; er erwarb sich dafür den Zorn Luthers, wurde relegiert und mußte Wittenberg verlassen. Seinem Ärger über den Reformator machte er im dritten Band der Epigramme und in einem gesalzenen lateinischen Drama Luft. Antipäpstliche R.spolemik, Mönchinvektiven, Türkenprobleme, Schmalkaldischer Krieg begegnen abermals als die zeitbezogenen Themen bei Caspar B r u s c h (1518-1559) in seinen Silvae (1543) und Poemata (1553) und bei Michael T o x i t e s (1515-1581); eine scharfe Kritik gegen die Orthodoxie des Luthertums und gegen das Papsttum wird in den rückhaltlos offenen Satiren von Thomas N a o g e o r g sichtbar, die bereits in die Spätzeit der Reformationsbewegung gehören. Die fünf Bücher der Satiren (1556) beleuchten besonders die Verhältnisse um die Jh.mitte. — Daneben bildete sich bei Johannes S t i g e l (1515-1562) und Georg F a b r i c i u s (1516-1571) eine besondere Art von geistlicher Diditung aus, die in mancher Beziehung der religiösen Lyrik des 17. Jh.s verwandt ist. Aus dem persönlichen R.serlebnis heraus forderte Stigel, daß die Diditung Gottes Lob zu verkünden habe; Klagen über die Nöte der Zeit und seine Auseinandersetzungen mit Flaccius Illyricus sind in seine Verse eingegangen; aus seinen Eklogen aber spricht der tiefe Eindruck, den Luther auf ihn gemacht hat. Bei Fabricius hingegen zeigt sich die Neigung, eine christlidie Dichtung gemäß den alten Poetae diristiani (Prudentius, Sedulius, Avitus) neu zu schaffen. Die Hymne war eine von ihm bevorzugte Form. Stigel wie Fabricius waren für nicht wenige junge Poeten nacheifernswerte Vorbilder, so etwa für J o h a n n e s M a j o r (1533-1600) oder Adam S i b e r (1516-1584). Von der Unruhe der Zeit und von religiösen Elementen mitbestimmt zeigt sidi schließlich auch das lyrische Werk des Meisters der Elegie, des jung verstorbenen Petrus L o t i c h i u s Secundus (1528-1560); audi er stellt, nach dem Vorbilde seines Lehrers Melanchthon, mit dem er eng verbunden war, einen großen Teil seiner Kunst in den Dienst Christi und der neuen Kirche; die Carmina lassen das noch stärker erkennen als die fünf Bücher Elegien (1547-50).

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Reallexikon III

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Reformationsliteratur

reger dieser Literaturgattung angesehen werden, obwohl die Verfasser sich oft auf ihn berufen und obwohl zahlreiche Einzelzüge von Luthers Teufelvorstellung in diese Lit. Eingang gefunden haben. Für Luther war die Teufelpersonifizierung von Lastern und Mißständen eher ein Stilmittel der Konkretisierung seiner abstrakten Vorstellungen als ein Ausfluß eines festen diabologischen Systems. In diesem Sinne finden sich in seinem Werk einzelne Teufelnamen zur Kennzeichnung bestimmter Laster und Mißstände (der Hausteufel, der Saufteufel, der Landteufel, der Hofteufel, der Werkteufel, der Wallfahrtsteufel, der ABC-Teufel und das Schulteufelein); ihre ad-hoc-Erwähnungen bezeugen, daß Luther keine eigentliche Teufellit. vorschwebte. Ihm galt alles, was sich gegen Gott und seine Gebote richtete, als Unterstützung des Teufels; dem Gottesreich stellte er ein Teufelsreich gegenüber, aber in geistiger Beziehung, nicht in konkreter Identifikation. Die Vorstellung der älteren Forschung, daß Luther f ü r die Teufelbücher-Autoren „Wegbahner, Vorbild, Lehrer" (Osborn) war, ist zumindest stark einzuschränken. Die Teufelbücher gehen nicht in erster Linie auf Luther zurück, sondern dürften im wesentlichen Ausdrude bestimmter theologischer und moralischer Vorstellungen der Orthodoxie des Luthertums in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s sein. Mit guten Gründen wird der Beginn der Gattung mit Matthäus F r i e d e r i c h s Saufteufel, der 1552 erschien, festgesetzt. Sowohl die 1538 in Frankfurt a. d. Oder gedruckte Flugschrift Von einem Geldteuffel als auch das Drama Hofteuffel des Johann Chryseus vom Jahre 1545 kann man wegen ihrer gattungsmäßigen Andersartigkeit denTeufelbüdiem noch nicht zurechnen. Nach jüngsten Ermittlungen haben sich für die Zeit zwischen 1552 und 1604 31 Autoren mit 38 Teufelbüchern eruieren lassen. Sie behandeln jeweils Themen aus dem Bereich der Sünden und Laster (so der Saufteufel, Hosenteufel, Fluchteufel, Spielteufel, Jagdteufel, Werksteufel, Wucherteufel, Müßiggangteufel, Hoffartsteufel, Tanzteufel, Kleiderteufel, Schmeichel-, Lügen- und Lästerteufel, Neidteufel, Melancholieteufel), der Ehe und Familie (Eheteufel, Weiberteufel, Hausteufel, Sorgenteufel, Gesindeteufel), des kirchlichen und öffentlichen Lebens (Sabbatteufel, Sakramentsteufel, Gewissensteufel, Pfründ- und Beschneidteufel, Eidteufel, Gerichtsteufel, Pestilenzteufel) oder beschreiben Wesenszüge des Teufels an sich (der Teufel selbst, Teufelstyrannei, Zauberteufel, Bannteufel usw.). Die Verbreitung dieser Lit. ist zu ihrer Zeit ungemein

stark gewesen; Verfasser, Verleger und Leser gehören fast ausschließlich dem Protestant. Raum an. Die Hauptdrudeorte (Eisleben, Erfurt, Frankfurt a. d. Oder, Oberursei) waren bezeichnenderweise Zentren des orthodoxen Luthertums. Alle Verfasser waren lutherische Pastoren; unter ihnen ragen besonders Matthäus F r i e d e r i c h mit seinem Saufteuffel (1552), Andreas M u s c u l u s mit seinen vier Teufelbüchem (Hosenteuffel 1555, Fluchteuffel 1556, Eheteuffel 1556, Teuffelstyrannei 1556) — er gab die stärksten Impulse für diese Gattung — und Cyriacus S p a n g e n b e r g mit dem Jagteuffel (1560) hervor; ihnen schließen sich Ludwig M i l i c h i u s mit dem vor allem soziologisch beachtenswerten Zauberteuffel und Schrapteuffel an; aus der späteren Produktion verdienen insbesondere der Neidteuffel des Johannes R h o d e (1582), der Kleider-, Pluder- Pauss-, und Kraussteuffel des Johannes S t r a u ß (1581), der u.a. ein drastisches Modebüd der Zeit bietet, genannt zu werden. Der große Erfolg der Gattimg reizte den Frankfurter Verleger Siegmund F e y r a b e n d , bereits 1569 einen Sammelband dieser Texte herauszubringen, das sogenannte Theatrum diabolorum; 1575 erschien davon eine zweite erweiterte, 1587/88 eine dritte, reich vermehrte Auflage, die insgesamt 33 Spezialteufel vorführte. Die Formgebung dieser Schriften ist naturgemäß unterschiedlich; zum Teil sind es Predigten oder moralische Traktate, zum Teil Kompendien, zum Teil Lehrgedichte oder Sendschreiben. Sie arbeiten mit den Mitteln der Exemplifikation und kompilieren zu diesem Zwedc alles an literar. Traditionsgut, was f ü r die Argumentation von Nutzen sein kann; so finden sich neben vielen Gedanken und Bildern Luthers und der Bibel vor allem Belege aus der Patristik, der antiken Lit. und aus zeitgenössischen populär-theologischen Veröffentlichungen; auch Sprichwörter haben reichliche Verwendung gefunden. Es gibt sehr humorvolle, stilistisch vorzüglich gestaltete Texte neben nüchternen oder grobianisch gehaltenen Fassungen. F ü r die Literatur- und Sozialgeschichte der zweiten Hälfte des Reformationsjh.s sind diese Texte wegen ihrer spiegelhaften Zeitschilderungen und ihrer didaktischen Forderungen von großem Interesse. Teufelbücher in Auswahl. Hg. v. Ria S t a m b a u g h . (1970 ff.; Ausg. Dt.Lit.). Bd. 1: Ludwig M i l i c h i u s , Der Zauberteufel. Sdirapteufel (1970). Max O s b o r n , Die Teufellit. d. 16. Jh.s (1893; Acta Germanica 3,3). Rieh. N e w a l d , Die Teufellit. u. d. Antike. Bayer. Blätter f. d. Gymnasial-Schulwesen 63 (1927) S. 340-347. Heinrich G r i m m , Die dt. „Teufelbüdier" d. 16. Jh.s. Archiv f. Gesch. d. Buch-

Reformationsliteratur — Reim wesens 2 (1960) S. 513-570, zugl. Börsenblatt f. d. dt. Buchh., Red. Beil. 16 (1959) S. 17331790. Bernhard Ohse, Die Teufellit. zwischen Brant u. Luther. Diss. Berlin (FU) 1961. Gustav F r e y t a g , Der dt. Teufel im 16. Jh. In: Freytag, Bilder aus d. dt. Vergangenheit. Ges. Werke 19, 1888, 360-396. Gustav Rosk o f f , Geschichte d. Teufels. 2 Bde. (1869). W. N. J o h n s o n , The devil in the literature. Manchester Quarterly, Nov. 1911. Harmannus O b e n d i e k , Der Teufel bei Martin Luther (1931; Furche-Studien 4). Ders., Der alt böse Feind. Das biblisch-reformator. Zeugnis von d. Macht Satans (1930). Andreas M u s c u l u s , Vom Hosenteufel. Hg. v. Max Osborn (1894; NDL. 125). Christian Wilhelm S p i e k e r , Lebensgeschichte d. Andreas Musculus (1858). Richard G r ü m m e r , Andreas Musculus, s. Leben u. s. Werke. Diss. Jena 1912. Hans-Gert Roloff Reim § 1 Wort- u. Bedeutungsgesch. § 2 Der R. in der dt. Dichtung. 1. Herkunft; 2. Ahd.; 3. Friihmhd.; 4. Mhd.; 5. Spätmhd., Frühnhd.; 6. Nhd. § 3 Funktion und Wesen. 1. Funktion; 2. R.technik; 3. R.aesthetik; 4. R. und Sinn; 5. R. und Sprache; 6. R. als Hilfsmittel d. Philologie. § 4 I R.formen; II R.stellungen. § 1. W o r t - u n d Bedeutungsges c h i c h t e . Der älteste Beleg für eine poetologische Verwendung von mhd. rim findet sich in Albers Tnugdalus (Ende 12. Jh., v. 2163 f.): Der dise rede hat getihtet / und ze ritnen gerichtet. Das als älter geltende nfränk. Zeugnis in Heinrichs v. Veldeke Sente Serves (ν. 3229): Die sijn leven in rymen dichte soll nach Frings/Sdiieb (Ausgabe 1956, S. XLI) jüngerer Zusatz sein. Die Etymologie von mhd. rim ist ebenso strittig wie seine Bedeutung: 1. Zur E t y m o l o g i e : Seit den ersten Erklärungsversuchen stehen sich zwei Theorien gegenüber: a) Ableitung von lat. rhythmus über afranz. rime (fem.): A. Sdimeller (Bayerisches Wörterbuch III, 1836, S. 86), W. Wadcemagel (Lit.Gesch., 1852), Fr. Zamdce (Mhd. Wörterbuch II, 1,1863), W. Braune (1916), L. Wolff (1930). Für diese Ableitung scheint zu sprechen, daß seitdem 8. Jh. mit rhythmus nichtmetrische Verse bezeidinet wvurden, die im Lat. seit dem 11. Jh., im Afranz. und Ahd. schon früher meist Reimverse waren (vgl. Rithmus teutonicus im Titel des ahd. Ludwigslieds, vgl. auch Rhythmus § 15). Der Genuswechsel (lat. masc., afranz. fem., mhd. masc.) steht dieser These nicht imbedingt im Wege, auch nicht, daß *ritme, *ridme als Vorstufen von afranz. rime nicht belegt sind. Von Gewicht ist jedoch, daß nach Gamillscheg ein Zusammenhang von mlat. rhythmus mit afranz. rime „lautlich unwahrscheinlich" ist (so schon 26'

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Diez, 1853). Audi die literatur- und formgeschichtlichen Voraussetzungen, die bereits für Sdimellers Überlegungen entscheidend waren, sind fraglich (vgl. § 2). Glossographische Belege für die Gleichsetzung von lat. rhythmus und mhd. rim (ricmus, rithmus, eyn rym) sind ebenso mehrdeutig wie mhd. rim (vgl. 1 b) und reichen nicht über das 14. Jh. zurück (Diefenbach 497, Braune 40 f.). Die Schreibweise von engl, rhyme (ältester Beleg 1550) ist das Ergebnis humanistischen Etymologisierens (me. rime). b) Ε. G. Graff (Ahd. Sprachschatz II, 1836, Sp. 506) setzte ahd. rim als Etymon von mhd. Hm an. In der Bedeutung 'Reihe', 'Zahl* begegnet rim im Ahd. mehrfach, so in Glossen (Steinmeyer I, 72, 3) und bei Otfried (manodo after rime, I, 5, 2, weiter III, 14, 1; V, 14, 19); letztes ahd. Zeugnis: Regensburger Glosse (10. Jh.): series, numerus, vel hrim (Ahd. Gl. II, 328, 4). Braune hatte angenommen, das ahd. Wort sei im 10. Jh. ausgestorben; mhd. rim sei aus dem Franz. (afranz. rime < rhythmus) entlehnt. Tömquist dagegen vermutete, ahd. rim sei ins Franz. gelangt, habe dort „poetische" Bedeutung gewonnen und sei dann im 12. Jh. ins Dt. rüdcentlehnt worden. Nach Trübner, Kluge/Mitzka soll der Niederrhein (Veldeke) wie bei anderen Begriffen der höfischen Kultur vermittelt haben. Trier hat jedoch gezeigt, daß ahd. rim durchaus im dt. Sprachraum fortgelebt haben kann: Neben der Bedeutung 'Zahl', späterhin allein durch ahd. zala vertreten, könne unterliterarisch auch schon die aus dem Reihenbegriff entwickelte „musische Bedeutung" im Ahd. bestanden haben. Franz. Kultureinfluß brauchte also höchstens eine heimische Tendenz zu aktivieren. Franz. rime (älteste Belege 2. Hälfte des 12. Jh.s, Bedeutung: 'Vers' und 'Reim') ist nach Gamillscheg ein postverb. Subst. zu gallorom. •rimare 'in eine Reihe stellen', abgeleitet von fränk. *rim Δ ahd. rim (so schon Diez). Das Verbum rimoier ist seit etwa 1120 im Sinne von Scrire, mettre en vers bezeugt. Offen ist, ob prov. rima (fem.), rim (masc.), beide ca. 1200, und die entsprechenden Bildungen im Kelt, ebenfalls auf germ. Wurzel zurückgehen oder ob es sich um arallele Ableitungen aus einem idg. Erbwort andelt, vielleicht mit wechselseitiger Beeinflussung der Bedeutungsentwicklung, die schließlich auch mlat. rhythmus erfaßt haben kann. Zur idg. Verwandtschaft gehören: griech. άριΰμός 'Zahl', lat. ritus 'hergebrachte Weise', air. rim 'Zahl', dorimu 'zähle', anord. rim 'Rechnung', 'Verzeichnis', ags. rim "Zahl", 'Reihenfolge', as. unrim 'große Menge*. 2. Zur B e d e u t u n g s g e s c h i c h t e : Die Grundbedeutung von mha. rim ist 'Vers' (Braune, Trier), schwerlich 'Reim' (Tömquist). Die ahd. Bedeutung rim='Reihe' im Sinne von 'Mannring' (= im Ring versammelte Gemeinde) läßt sich im Ndd. noch im 15. Jh. greifen (Trier). Die Bedeutung 'Vers' ( < 'Wortreihe') begegnet zum ersten Mal bei Alber (12. Jh., Braune, dagegen Tömquist). Bis ins 17. Jh. gibt.es eindeutige Belege für die Bedeutung rim/Reim = 'Vers', so bei Puschmann (16. Jh.), der Waisen und blose Reimen synonym gebraucht, oder Stieler, der in sei-

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nem Teutschen Sprachschatz (1691, Sp. 2510, cf. Sp. 1513) definiert: Synonyma enim sunt nobis Vers et Reim. Audi späterhin kommt Reim = 'Vers' vor, so bei Hölty, Wieland, Goethe, Uhland, Platen u. a. (DWb, VIII). Die Grundbedeutung hält sich bis heute in Kehrreim, Abzählreim, Kinderreim, Reimpaar, Leberreim, Reime 'kurzes Gedicht'. Des weiteren findet sich das Wort Reim (meist in der schwachen Form: ein reymen) seit dem Spätma. auch im Sinne von 'Gedicht* (so Opitz: die reimen deren weibliche verß ...), 'Spruch' und allgemein 'in poetischer Form' (im (Gegensatz zur Prosa). Seit dem 13. Jh. tritt das Wort aber auch in Zusammenhängen auf, in denen (wie im Franz.) die Bedeutung 'Reim' ebenfalls einen Sinn zu geben scheint, mhd. rim also totum pro parte verwendet sein könnte. Unsicher ist, ob die behendeclichen rime (ν. 4715) in Gottfrieds Tristan als 'Reime' oder als 'Reimverse' zu verstehen sind. Doppeldeutig ist auch der Lobpreis auf Heinrich von Veldeke in Rudolfs von Ems Alexanderroman (v. 3113): von Veldeke der wise man / der rehter rime alrerst began. Besagt er, Veldeke habe als erster den „reinen Reim" (Wackernagel, Behaghel) durchgeführt oder „in guter poetischer Darstellung" gedichtet (Braune, C. v. Kraus)? Auch im Renner Hugos von Trimberg kann mit rim 'Reimvers' oder 'Reim' gemeint sein (v. 17817 ff.). Die Bedeutimg 'Reim' liegt nahe in Albrechts von Halberstadt OvidUbersetzung (v. 49 ff.), in Ulrichs von Lichtenstein Frauendienst (v. 444, 8 zu Lied 33), in Konrads von Würzburg Goldener Schmiede (v. 70), und in Mariengrüßen des 13. Jh.s (v. 257 ff., ed. ZfdA. 8,276 ff.). Auch Umschreibungen des Phänomens R. wie rime limen (Gottfried, Tristan v. 4716), so noch Theobald Hock (Reime gleimen, 1601) oder rime binden (Hesler, 14. Jh.; v. 1381 f.) sind mehrdeutig, im Gegensatz zu den Ausführungen des Nicolaus von Jeroschin (14. Jh., v. 299 f.): und min rim werain gebuit / an dem ende iüf glichin luit. Aus der Wendung rime binden wurden aber die ersten eindeutigen Begriffe für den Endr. abgeleitet, so gebint (Nie. v. Jeroschin, v. 26663), in punt 'gereimt' (Suchenwirt, XXI, 14. Jh.), bunt (Kolmarer Liederhs., 15. Jh., ed. Bartsch, S. 76, S. 320), Bundwort (Puschmann, 16. Jh.). Erst mit dem Vordringen des Wortes Vers, das in älterer Zeit im besonderen den metrisch gebauten (lat.) Vers im Unterschied zum akzentuierenden bezeichnete (Lexer, III, 208, Braune, Götze), wird das Wort Reim immer mehr auf die Bedeutung 'Gleichklang' eingeengt. Audi hier wird franz. Kulturemfluß angenommen und die Wende bei Opitz gesehen (Braune), bei dem im Buch von der Deutschen Poeterey (1624) Reim und Vers (Kap. VII) in heutigem Sinne differenziert sind: Ein reim ist eine vber einstimmung des lautes der syllaben und Wörter zue ende zweyer oder mehrer verse. Aber auch nadi Opitz lebt Reim in alter Bedeutung fort: Schottel schreibt in seiner Teutschen Vers- oder Reimkunst (1645): Ein Reim / oder Teutsdier Vers / ist eine Kunstmessige Ordnung der Wörter / vermit-

telst erforderter gewisser Reimmaassen / mit gehörigem Reimlaute sich schliessend. Der Endr. wird im 17. Jh. meist noch durch spezifizierende Komposita benannt: so bei Harsdörffer Reimschluß, Reimwort oder umschreibend der Reimen Reimung (im Plural auch nur Reimen). Mit Reimendung meint er mir den Gleichklang in fragen : sagen. Auch für 'Vers' verwendet Harsdörffer ein Kompositum: Reimzeile. Bei Zesen steht Reimbana im Sinne von 'Reimschema'. Nähere Bestimmungen wie rührende Reimen (Wagenseil 1697) oder bei Stieler reine, unreine Reime, Endreim (= homoeoteleuticus) sind ebenfalls auf den Gleichklang bezogen. Seit dem 18. Jh. tritt dann Reim in heutiger Bedeutung immer häufiger auf: Man setzt gar oflt ein Wort der lieben Reime wegen (J. Chr. Günther); ebenso in Daniel Georg Morhofs Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie (1700; Reim und Reimschluß) oder bei Β. H. Brockes (in Weichmanns Poesie der Niedersachsen, 1725). Bei dieser Entwicklung spielte wohl auch mit, daß im 17. Jh. die bisherige selbstverständliche Identität von Vers und R.vers in Frage gestellt wurde (vgl. § 2, 2). Das Verbum rimen begegnet ebenfalls schon im Ahd.: Otfried I, 3,17 'sich in eine Ordnung fügen' (weiter IV, 2,13 'zuteil werden'), irreimen (sdiw. V., II, 14, 120). Im Mhd. findet es sich wie das Substantiv zum ersten Mal in Albers Tnugdalus (v. 2148), doppeldeutig wie in vielen späteren Belegen: Nach Braune heißt die Stelle „in Verse" oder „in poetische Form gefaßt", nadi Tömquist „gereimt". Im Sinne von 'Reimverse dichten' (im Gegensatz zu versen üf latin) steht das Wort im Renner Hugos von Trimberg (v. 17836). Bedeutungsverengung auf nhd. 'reimen' scheint gegeben bei Nicolaus v. Jeroschin (v. 243 ff.): vil wort man gliche schribit, / der luit unglich sich tribitjsuldi rimen sol man miden..., wenn rimen als Verbum (wie in v. 251 f.: zwischin den zwen endin / rimen di behendin) verstanden wird und nicht als schwaches Substantiv (Tömquist), das häufiger erst seit dem 16. Jh. auftaucht. Bei Stieler (Sp. 1514) ist reimen zwar noch allgemein mit 'poetari', 'versificare', 'rhythmificare' erklärt, bei Puschmann (16. Jh.) und Harsdörffer (17. Jh.) sind jedoch binden und reimen Synonyma. Friedr. D i e z , Etymol. Wörterbuch d. roman. Sprachen (1853). Laurentius D i e f e n b a c h , Glossarium Latino-Germanicum (1857). Ernst G a m i l l s c h e g , Etymol. Wörterbuch d. franz. Sprache (1928). Walther v. W a r t b u r g , Franz. etymol. Wörterbuch. Bd. 16 (1959). Trübners Dt. Wörterbuch. Bd. 5, hg. v. Walther Mitzka (1954). Friedr. K l u g e u. Walther M i t z k a , Etymol. Wörterbuch der dt. Sprache (19. Aufl. 1963). Carl v. K r a u s , Heinrich von Veldeke u. d. mhd. Dichtersprache (1899) S. 165, A.2. Wilh. B r a u n e , R. u. Vers. SBAkHeidbg., phil.-hist. Kl. VII, 1916, 11. Alfr. G ö t z e , R., Vers, Strophe. NJbbAGLP. 20. Jg., 39. Bd. (1917) S. 141 f. Ludw. W o l f f , Zur Bedeutungsgeschichte d. Wortes R. ZfdA. 67 (1930) S. 263-271. Nils T ö m q u i s t , Zur Geschichte

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nische Hexameter seit dem 10., Hymnen seit dem 11. Jh. Trotz diesem Tatbestand hat man die Wurzeln des ahd. Endr.s immer wieder in lat. Dichtung gesucht. Seit Wackernagel (1846, Lit. Gesch. 1852) wird meist die lat. Hymnenpoesie als Vorbild für die ahd. R.dichtung genannt. Die lat. Hymnen sollen den R. entweder aus romanischer Volksdichtung (Wackernagel), aus syrischer Hymnendichtung (W. Meyer), aus der antiken Kunstprosa (Norden) oder aus frühchristl. Psalmen (K. G. Kuhn) übernommen haben. Arabische Herkunft des R.s (meist abgelehnt, so von Gottsched, Adelung, Uhland, F . Wolf) wurde von Schmeller (Bayer. Wörterb., 1836), neuerdings wieder von Hunke (Allahs Sonne über dem Abendland, 1960) vertreten. Zwischen der lat. und ahd. R.dichtung setzte Fränkel ein vorotfriedisches Kirchenlied an. Auch Spielleute wurden als Mittler zwischen ahd. und rom. R.poesie vermutet (Ehrismann, Lit.-Gesch. I, 1932). H. Brinkmarin hat jüngst die These verfochten, Otfried habe von irisch-angelsächsischer Lateindichtung gelernt. (Diese verwendet allerdings neben R. in prägnanter Weise auch Alliteration.) Den leoninischen Hexameter als Vorbild für ahd. R.gedichte haben Jac. Grimm, Uhland, zuletzt Hörmann, Jammers, Rupp erwogen. Die Meinung, Otfried habe den R. als Kennzeichen lat.-christl. Dichtung in bewußter Wendung gegen germ.-heidnische Formen aufgegriffen (Schirokauer), findet in seinen Bemerkungen zur Form (Ad Liutbertum, Kap. I, 1) keine Stütze. Uhland, Wakkernagel und Kelle (Otfr.-Ausg. 1856) haben schon beobachtet, daß Otfried vom R. wie von einem „ganz gewöhnlichen Erforderniss" spreche. Heimischen Ursprung des ahd. R.s hatten Gottsched, Rask und Wilh. Grimm vertreten. Die Möglichkeit der Ausbildung des ahd. R.s auf dem Boden autochthoner Anlagen und Traditionen stellt jetzt wieder Schweikle zur Diskussion, mit Berufung auf Otfrieds poetologische Äußerungen und deren Verhältnis zu den bekannten form- und überlieferungsgeschichtlichen Daten. Die älteren Hypothesen bauten auf der Meinung auf, in germ. Dichtimg habe ausschließlich der Stabreim geherrscht; so vor allem Heusler, der sogär behauptete, die germ. Dichtung sei dem Endr. „mit Fleiß aus dem Wege gegangen". Endr. gibt es

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jedoch nidit nur im Ahd., sondern audi im Ae. (Reimlied), als Phänomen audi sonst in ae. Dichtung, selbst in anord. Runeninschriften, in Edda-Strophen, vor allem in der Skaldendichtung. Namen werden im Germ, nidit nur durch Alliteration, sondern auch durch R. (vgl. Edda, Grimnismdl) verbunden. Gegen die verbreitete Vorstellung, die germ.-heidnische Stabreimdichtung sei gleichsam durch Konfrontation mit dem Christentum „zerbrochen", spricht schon die beachtliche Zahl christl. Stabreimgedichte im Ae., As., Ahd. und Anord. Aus der erhaltenen Lit. kann geschlossen werden, daß beide Formen (R. und Allit.) in den germ. Sprachen angelegt waren. Parallelismus und verwandte Stilfiguren konnten beiden förderlich sein (R. M. Meyer). Welche Bedingungen schließlich dem Stabreim im Ae. und Anord. und dem Endr. im Ahd. Vorrang verschafften, entzieht sich genauerer Bestimmung. Bei den ahd. und as. Stabreimgedichten, die anscheinend alle mit dem ags. Missionszentrum Fulda zusammenhängen, könnte man an einen Einfluß insularer Dichtimg denken. Der besondere Sprachcharakter mag, wie schon Jac. Grimm (Dt. Gramm.) vermutete, die Bevorzugung des Stabreims in den Dialekten mit stärkerem Anfangsakzent begünstigt haben. Daß der Endr. den Stabreim als Verskonstituens schließlich verdrängte, geschah wohl weniger kraft einer ideologischen Prädisposition, sondern weil in seiner Struktur, wie seine Geschichte erweist, größere Entwicklungsmöglichkeiten lagen als fn der mehr der Merkdichtung und Gnomik verhafteten Form der Alliteration. 2. In den Endr.en der a h d . Gedichte erscheinen alle Grade lautlicher Ubereinstimmung, vom ungefähren Anklang (finster :sär) über assonantische Bindungen (fliogen-.nioman) und über R.e zwischen nebentonigen Endsilben (ginädun-.ewun) bis zu zweisilbigen (gipurti-.uurti) und sogar dreisilbigen (lougino-.tougino) Vollreimen. Die Beispiele stammen aus einem der sorgloser gereimten Gedichte, dem Psalm 138, in dem überdies in zwei Zeilen anstelle des R.s Alliteration steht (v. 4,31). In derselben Formenskala bewegen sich auch die anderen ahd. R.gedichte. Am genauesten gereimt ist das ahd. Petruslied: von sechs Bindungen sind fünf rein (einmal Hauptton-:Endsilbe), eine ist assonantisch.

Otfried ließ zwar (anfänglich) vereinzelte reimlose Verse (I, 7, 27) oder solche mit Alliteration (1,18, 9) zu, auch unebene Bindungen wie druhtin:miner oder versteckte Assonanzen wie quena-.zeizero (I, 4, 9). Aber er verbesserte seine R.technik zusehends, war mehr und mehr um vollere R.klän'ge bemüht. Der reine R. wurde allerdings bei ihm nie zur Regel (vgl. Liutbert-Brief, als Maß des Gleichklanges: consimilis). Einsilbig und zweisilbig reine Reime machen in manchen Kapiteln fast zwei Drittel der Gleichklänge aus, der Rest verteilt sich auf Assonanzen wie lant-.giwa.lt und auf Endsilbenr.e wie snello: follo (auch thes-.libes). Aus R.zwang scheint Otfried gelegentlich zu lautlichen Angleichungen Zuflucht genommen zu haben. In den R.en auf Endsilben sah man ein Indiz für eine Abhängigkeit Otfrieds vom lat. R., obwohl Endsilben auch in späteren Epochen reimfähig bleiben, solange sie, wie im Ahd., vollvokalisch sind (vgl. § 4, I, 3, a). In den freier gereimten Gedichten wie dem Psalm 138 wollte man dagegen ein germ. Reimgefühl entdecken, weil bei ihnen öfters sinntragende Wörter im R. stehen (Baesedce, Fränkel). 3. In der f r ü h m h d . Dichtung herrscht als Versband nur noch der Endr. Dies kann als weiterer Beweis für die alten Wurzeln dieser Versbindung in dt. Dichtung gelten. Von einem angeblich fremden Stilmittel hätte sie sich in der Ottonischen Zeit wieder befreien können, in der sie aus der Klosterschreibstube verbannt und damit lat. Einflüssen weitgehend entzogen war. Die frühmhd. R.technik entspricht der der kleineren ahd. R.denkmäler. Die durch die sprachliche Entwicklung tonlos gewordenen Endsilben genügen aber immer weniger zur R.bindung (willen-.hangen) und verlangen nach konsonantischer Abstützung (richen-.zeidien). Manchmal dauern ältere Sprachstufen im Reim fort (archaische R.e: man-.werdan, neben werden, Memento Mori). Im ganzen zeigt sich in der frühmhd. Epoche ein zwar nicht geradliniges, jedoch stetiges Ansteigen der R.ansprüche. Unter den früheren Werken ist die Wiener Genesis (11. Jh.) am nachlässigsten in der R.ung (39 reimlose Verse, nur Vi genaue R.e). Der Skoph von dem löne (ca. 1150) reimt dagegen schon überwiegend rein. Neben den Paarr. tritt gelegentlich an Abschnittsgrenzen der Dreir.

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4. In der m h d . Zeit wurde der reine R. zur Norm. Meist wird dies franz. Kultureinfluß über Heinrich von Veldeke oder auch der lat. Dichtung (Habermann) zugeschrieben. Das kontinuierliche Vordringen des reinen R.s in der frühmhd. Lit. könnte aber auch entelechial verstanden werden; das Vorbild der franz. Lit. hätte dann allenfalls beschleunigend gewirkt. Der reine R. erfordert vollvokalische Silben. Neben Haupttonsilben bleiben auch nebentonige Silben reimfähig (craft: gedanchaft; senedsere-.msere; vogelin:sin). Gleichlauf der Kadenzen ist angestrebt, aber selbst bei formbewußten Künstlern wie Gottfried von Straßburg nicht Bedingung (cleit-.richeit; geleit: arbeit). Zwischen Wörtern mit kurzer offener Tonsilbe (klagen) und solchen mit langer (vrägen) wird in der Kadenz streng geschieden. Aber auch nachdem der reine R. zur Regel geworden war, gestatteten sich die Dichter, analog ihrer sonstigen Fonnhaltung, gewisse Freiheiten. Der rührende R. ist durchweg erlaubt, vollends, wenn die Wörter verschiedene Bedeutung haben (vgl. § 4,1,2, i). a) Epik: In der mhd. überlieferten Eneit Heinrichs von Veldeke stehen noch vokalisch unrein winden-.enden, tume-.gerne, priester: meister oder konsonantisch unrein dingen: gewinnen. Auch bei Wolfram begegnen noch R.e wie ougen-.rouben (P 10,25); vil:hin (P 397,15), er vernachlässigt gelegentlich Quantitätsunterschiede (evtl. Ancepsformen), apokopiert im R. überschießende Vokale (gast: ast(e) Ρ 522,17) oder gleicht Konsonanten an (poulun:rün Ρ 77,27; dagegen pflüm:rüm Ρ 655,7). Hartmann hat Bindungen wie tuomruon (ruom), die nur im Alemannischen rein waren. Es ist nicht immer mit Sicherheit zu bestimmen, ob Ungenauigkeiten im R. durch Mundart, Uberlieferung oder durch formale Nachlässigkeit bedingt sind. Auch bei den verschiedenen e-Lauten (germ, e, Umlaut-e und -ä, oft ebenfalls e geschrieben) sind wegen der unbestimmten lautlichen Verhältnisse genauere Differenzierungen nicht immer möglich. Gleiches gilt für Doppelformen mit wechselnden Vokalqualitäten. Als erster hat Gottfried von Straßburg eine überregionale Reinheit der R.e verwirklicht. Auch die Häufigkeit und Art der R.wörter sind bei den einzelnen Dichtern verschieden. Bisweilen zeichnen sich gewisse

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R.traditionen ab, die sich auch nur aus bequemen Bindungsmöglichkeiten ergeben haben können. Wolfram ζ. B. verwendet t d p : lip im Parzwal 123mal. Einsilbige R.e sind in den höfischen Epen in der Mehrzahl. Bei Gottfried kommt der zweisilbige (klingende) R. bisweilen zur Charakterisierung lyrischer Passagen stärker zur Geltung (Minnegrotte). Wolframs Titurelstrophe verlangt durchweg den klingenden R.; im Jüngeren Titurel wird dieser (aus R.not oft in der Form des Part, präs.) durch die Einführung des Zäsurr.s zur Manier. Manche Dichter lieben einfache, unaufdringliche Reime (Rudolf von Ems bevorzugt Pronomina), andere suchen durch seltene Wörter eine größere R.vielfalt zu erreichen (vgl. die fremdländischen Namen bei Wolfram). Beide Tendenzen können sich ergänzen (Gottfried). Für Athis und Prophilias (nach 1210), ein frühes Beispiel 'geblümter Rede', sind ausgefallene Reime charakteristisch. Auch Konrad von Würzburg ist bestrebt, durch ungewöhnliche, wilde R.e zu glänzen. Im Nibelungenlied ist der reine R. bis auf Reste (Hagene: degene) durchgeführt, die kleineren Heldenepen reimen ζ. T. großzügiger (so ζ. B. im Laurin: biderbe-.widere). b) Lyrik: Im frühen Minnesang sind Halbr.e sehr häufig: Bei den Vokalen treten nur quantitative Unterschiede auf, so bei Kürenberg (a:ä, 2 von 30 Bindungen); konsonantisch unrein sind aber ein Drittel seiner R.e (liep-.niet; was:sach; jär-.hän). Die Ansprüche an die R.technik steigen merklich. Schon Meinloh hat neben zweimaligem Unterschied in der Vokalqualität nur noch bei V7 der R.e konsonantische Unreinheiten. In der Entwicklung hin zum durchgeführten reinen R. markieren die Gedichte Kaiser Heinrichs die Grenze. Friedrich von Hausen, mit dem man gewöhnlich den hohen Minnesang beginnen läßt, gehört reimtechnisch noch zum frühen Minnesang. Der R. in Veldekes Lyrik entspricht dem seiner Epen. Fenis setzt neben den reinen R. die Assonanz als Kunstprinzip (MF 80,1) in Anlehnung an franz. Vorbilder, von denen auch die Durdireimung (Veldeke, Hausen) und andere R.formen übernommen werden. Konsonantische Unreinheiten finden sich noch bei Rugge: mäze:verläzet (MF 101, 23) und in Gedichten, die unter Reinmars (ζ. T. auch Ruggtes) Namen überliefert sind (1mp-.lit MF 103,20; minne-.gedinge MF 106, 37). Waither reimt sehr sorgfältig, in selte-

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nen Fällen läßt auch er mundartliche R.e zu (verwarten: pfarren L 34,18). In der frühen Lyrik gibt es wie in der Epik nur Paarr.e; späterhin werden die R.Stellungen für den Strophenbau immer raffinierter variiert. Reiche Reime, Binnen-, Pausen-, Schlagreime verstärken die Klangreize (vgl. § 4). Der R. kann zum hervorstechenden Merkmal werden in Gedichten mit Vokalspielen (Walther L 75, 25: je einer der fünf Vokale beherrscht den R. einer Strophe) oder mit durchgehendem grammatischen R. (Neifen KLD XXVII). Das Extrem dieser Klangeffekte ist in solchen Gedichten Konrads von Würzburg erreicht, in denen jedes Wort R.wort ist. Wie in der Epik dienen Fremdwortr.e neuen Klangwirkungen (Tannhäuser). Die Waisen (reimlose Verse) der frühen Lyrik entwickeln sich zu Korn-Bindungen von Strophe zu Strophe. Diese R.art ist verabsolutiert in einem vierstrophigen Gedicht Neifens (KLD VII), in dem alle Versausgänge einer Strophe jeweils nur mit denen der übernächsten reimen. Die Formkunst wurde mitunter durch R.artistik ersetzt. 5. a) in spätmhd. und frühnhd. Zeit sinkt der R. teilweise wieder auf die Stufe des frühmhd. zurück. Dabei wirken sich Lautveränderungen ebenso aus wie das nachlassende Bedürfnis nach übermundartlicher Gültigkeit der Dichtung. Neben mancherlei lautlichen Freiheiten (vgl. für die Epik die gelegentlichen konsonantischen Ungenauigkeiten in Wittenwilers Ring [Anf. 15. Jh.] oder für die spätma. Lyrik das Liederbuch der Clara Hätzlerin [1470]) begegnen selbst wieder R.e auf tonlose Endsilben (seltenere Beispiele schon bei Wittenwiler pheiffer: lär, Beheim des:mannes). Ein Tiefstand scheint erreicht in der Pilgerfahrt des träumenden Mönchs (nach 1400). Auf genauere R.e bedacht sind im 14. Jh. die Deutschordensdichter Heinrich von Hesler und Nicolaus von Jeroschin und die in ritterlichen Traditionen dichtenden Johannes Rothe und Ulrich Füetrer (15. Jh.), unter den Lyrikern vor allem Oswald von Wolkenstein, mehr als vor ihm etwa Heinrich von Mügeln oder später Hans Folz oder Hans Rosenplüt. b) Die M e i s t e r s i n g e r hatten strenge R.theorien aufgestellt, verstießen aber in der Praxis nicht selten dagegen, schon weil es an verbindlichen überregionalen Sprachregeln

fehlte. Adam Puschmann (16. Jh.) verlangte zwar in seiner Tabulatur, daß die Bundwörter ... einerley Vocales regirn, nach vermüge hoher Deudscher sprach; er verwirft Dialektr.e wie nümbergisch Mon ('Mann')\dauon und empfiehlt, Tenuis und Media im R. zu unterscheiden. Eines seiner als Muster aufgeführten Gedichte schließt jedoch auf den R. man: Ihon. Martin Luther folgte in seinen Kirchenliedern dem noch freieren R.stil der Volkslieder. Bei den Dichtem des 16. Jh.s wie Hans Sachs, Johannes Fischart, Thomas Murner u. a. ergibt sich eine relative Reinheit der R.e oft nur auf der jeweiligen mundartlichen Grundlage. In Sebastian Brants Narrenschiff finden sich neben Quantitätsunterschieden mannigfache vokalische Differenzen, die sich wegen ihrer unterschiedlichen Mischung nicht alle in mundartlicher Lautung aufheben können, so wenn ά mit ö, ou oder uo reimt, ei mit öu oder OB, i mit ü, iu oder üe. Brant repräsentiert auch in den konsonantischen Unterschieden wie s:st, ch:cht, m:mb neben d:t die übliche R.technik seiner Zeit. Bei manchen Dichtern wurden sogar tonlose Endsilben wieder stärker zugelassen, so vor allem bei dem pfälzischen Erbauungslyriker Winnenberg (16. Jh.), vgl. aber auch Hans Sachs (Luther: Augustiner). 6. a) Im 17. J h. traten mit dem Streben nach einer dt. Hochsprache auch die Bemühungen um den reinen R. in ein neues Stadium. Martin Opitz forderte in seinem Buch von der Deutsdien Poeterey, nicht nur auf die Unterschiede zwischen d:t, u:ü etc. zu achten, sondern auch auf die verschiedenen Lautungen des Buchstabens e. Wie schon Puschmann hält sich jedoch auch er in seinen Beispielen nicht immer an die strengen Regeln und reimt schatten-.braten; können:sinnen. Mehr an der Praxis orientierte sich dagegen Philipp Harsdörffer in seinem Poetischen Trichter (1650): R.e zwischen „verwandten Buchstaben" (gerundeten und nicht gerundeten wie e:ö; e:ä\ ei:eu; i:ü) sind ebenso wie Media-Tenuis-Verbindungen ausdrücklich erlaubt, er verwirft nur stärkere Unterschiede wie in Gold:Schuld; Klang: Dank; brauchen: Augen. Er nimmt auch auf wechselnde Aussprache der Wörter in den Dialekten Rücksicht. Das Ringen um eine dt. Haubt-Sprache (Schottel) im 17. Jh., um I die rechte Lautung der Hochsprache, förder-

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te die Bestrebungen um eine überregionale Reinheit des R.s. Am weitesten ist Zesen auf diesem Wege zum hochdt. R. vorangeschritten. In den Poetiken des 17. Jh.s (Morhof, Stieler, Prasch) wird der R. immer wieder als das entscheidende Merkmal der dt. Poesie hervorgehoben, die im R.gebrauch sogar der franz., ital. und engl, überlegen sei (Wernicke, Prasch). Trotz der großen Bedeutung aber, die dem R. zugemessen wird, erreicht er weder in der Reinheit noch in der Vielfalt der Stellungen und Formen den Reichtum des mhd. R.s. Der R. wird sogar in diesem Jh. zum ersten Mal als alleiniges Verskonstituens in Frage gestellt. Η. M. v. Moscherosch spottet in seinem Werk Gesichte Philanders von Sittewald (1640) über den R.zwang; G. W. Sacer wendet sich in einer Satire Reime dich oder ich fresse dich (1673) gegen eine R.sucht, „die alles reimt, auch was ungereimet ist", und Christian Weise spricht sich in seinen Curiösen Gedancken von deutschen Versen (1691) dafür aus, daß die „sclaverey mit den Reimen nicht allzuweit extendiret". Direkten Anlaß für die Fragen nach Sinn, Notwendigkeit und Nachteilen des Reimes in Lyrik und Epos boten dann die reimlosen Ubersetzungen von Miltons Paradise Lost durch Ε. G. ν. Berge (1682) und des 'Lucan' von L. v. Seckendorf (1695). b) In einer anonymen Breslauer Anleitung zur Poesie (1725) werden ungebundene und ungereimte Dichtungsarten verteidigt. Dies weist auf die tiefgreifenden Neuerungen des 18. J h.s voraus. Auch Gottsched ist in seiner Critischen Dichtkunst (1730) dafür, daß „einem jeden frey" stehe, „gereimte oder ungereimte Verse zu machen", da die dt. Sprache in ihrem „Sylbenmaaß" die Voraussetzung dafür biete. An Pyras und Langes Freundschaftlichen Liedern (1745), von denen ungefähr V3 ungereimt sind, und an der Vorrede, die J. J. Bodmer dieser Sammlung beigesteuert hatte, entzündete sich ein grundsätzlicher Streit um den R., zunächst zwischen Langes Förderer Bodmer, dem Hallenser Professor G. F. Meier und dem Satiriker A. G. Kaestner. Bodmer hatte schon in den Discoursen der Mahlern (1721 ff.) Bedenken gegen den R. geäußert. Mit Klopstock trat dann der bereits von Gottsched geforderte „glückliche Kopf" auf den Plan,

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der mit dem Messias und den Oden den Beweis erbrachte, daß zu gültiger dt. Dichtung kein R. vonnöten sei. Der 'Lehrling der Griechen' schilt den R. als „bösen Geist", der in die Sprache mit „plumpem Wörtergepolter" (An J. H. Voß, 1782) gefahren sei. In seinen geistlichen Liedern griff er jedoch zum R. und gestattete sich audi die üblichen Freiheiten. Lessing gibt gegen die absolute Ablehnimg des R.s zu bedenken, daß der R. nur den beenge, der seiner nicht Meister werde. c) Der R. behauptete sich in der Lyrik auch nach Klopstock gegen alle Angriffe. Vor allem Goethe festigte mit seinen Liedern die Stellung des R.s wieder. In der Romantik wurden besonders die Klangreize des R.s ausgekostet (Brentano). Reimlose freie Rhythmen und Nachbildungen antiker Metren werden aber auch weiterhin gepflegt. In Verserzählungen wurde der R. nach Wieland nur noch selten verwandt, so von Eichendorff, Lenau, Droste-Hülshoff. Im Drama verlor er, abgesehen von Jugendwerken Goethes und dem Faust, seine beherrschende Rolle an den Blankvers. An opemhaften Stellen, an markanten Szenenschlüssen (Schiller) und bei historischen Reminiszenzen (Knittelvers im Faust, in Wallensteins Lager) wird der R. beibehalten. Er taucht gelegentlich im romantischen Drama auf (Tieck, Eichendorff, Zacharias Werner), bei Grillparzer (Ahnfrau, Der Traum ein Leben), mit parodistischem Anhauch bei Platen; dann wieder in der Neuromantik (Hauptmann, Versunkene Glocke), bei Hofmannsthal und schließlich mit persiflierender Tendenz bei Brecht, Peter Weiss (Marat). Auf hochsprachliche R.reinheit wurde nicht immer geachtet. Gern zitiert werden Schillers meist mundartlich zu erklärende R.e wie Menschen: Wünschen; Szene : Bühne; wimmert: dämmert; Röte-.Städte; zitterten: Liebenden. Auch Goethe bindet ζ. B. Blätter: Götter; Flügel: Spiegel (Mit einem gemalten Bande). Auf strengere R.reinheit legten Wert Hölderlin (in seinen spätesten Gedichten), Platen, Rüdcert. Im 19. Jh. bleibt der R. das Kennzeichen der Lyrik. Erst gegen Ende des Jh.s wurde derR. erneut grundsätzlich angegriffen (Arno Holz). Mit Stefan George und Rilke erstanden aber um die Jahrhundertwende nochmals zwei Meister, die der R.bindung neues

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Raffinement abgewannen. George pflegt den R. in absoluter Reinheit; in manchen Gedichten sind konsonantische Ungenauigkeiten oder Assonanzen als Stilmittel eingesetzt; in seinen späten Zyklen nehmen reimlose Verse zu. d) Im 20. Jh. treten neben die gereimten Verse immer häufiger reimlose. Diese Tendenz können drei Anthologien zeigen: In der Mensdxheitsdämmerung (1919) sind noch Va der Gedichte gereimt, in zwei Sammlungen mit 'Lyrik nach 1945' (Widerspiel, 1961, Dt. Lyrik auf der andern Seite, 1960) sind die reimlosen Gedichte in der Überzahl. Heym verwandte, abgesehen von frühen Versuchen, fast durchweg den R., gestattet sich aber mancherlei Freiheiten in der R.ordnung und vor allem im auslautenden Konsonantismus. In Stadlers langen Versen wirken die R.e eher beiläufig. Der späte Trakl bevorzugt reimlose Gedichte. Der Gebrauch des R.s bei diesen drei Lyrikern ist auch für die Folgezeit kennzeichnend: neben Gedichten ohne R. oder mit freierer R.setzung (Brecht) finden sich audi späterhin solche, in denen der R. ζ. T. neue Wirkungen entfaltet (Benn). F ü r die neuere Zeit scheint eine gewisse Erschöpfung des R.reservoirs und ein Uberdruß an den vorgegebenen Klang- und Sinnschematismen charakteristisch. In einfacheren Dichtungsformen (Volkslied, Chanson, Gelegenheitsgedicht u. a.) ist der R. aber nach wie vor integrierender Bestandteil. Die Geschichte des R.s in der dt. Lit. ist noch nicht in systematischem Zusammenhang dargestellt. Ansätze dazu finden sich bei Herrn. Paul (Dt. Metrik, PGrundr. II, 2 [2. Aufl. 1905], §§ 79-88), bei Heusler (Dt. Versgeschichte [1925-29], §§ 439-468, §§ 849-853, §§ 945-954). Ein knapper Überblick über die Entwicklung in neuerer Zeit steht bei Minor (NM. Metrik [2. Aufl. 1902], S. 414-416). Epochendarstellungen gibt es zum frühmhd. R. (Pretzel) und zum R. im 17. und 18. Jh. (Fr. Neumann). Kurze R.Charakteristiken zu einzelnen Dichtem oder Zeitabschnitten finden sidi in Ausgaben, Abhandlungen, Metriken, Literaturgeschichten, die hier nur gelegentlich aufgeführt werden. In den Untersuchungen zum altdt. R. stehen oft grammatische Aspekte im Vordergrund (s. § 3, 6). 1. J. Chr. G o t t s c h e d , Versudi einer critischen Dichtkunst (1730). J. G. H e r d e r , Sämmtliche Werke. Hg. v. B. Suphan. Bd. 11 (1879), Bd. 12 (1880), Bd. 18 (1883). J. Chr. A d e l u n g , Über den Dt. Styl. Bd. 2 (3. Aufl. 1790). Erasmus Ch. R a s k , Die Verslehre der

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gebracht: „je künstlicher der Rhythmus, um so entbehrlicher der Reim; je kunstvollere Reime, um so schwächer entwickelt der Rhythmus." Nach Lipps (Ästhetik, I, S. 400ff.) tritt der R. zum Versrhythmus „als ein verwandtes und doch auch wiederum dazu gegensätzliches Element". Lange hat der R. im Dt. als integrierendes Merkmal der Dichtung gegolten: in Lyrik und Drama bis ins 18. Jh., in der Epik auch noch nach dem Auftreten des Prosaromans im 13. Jh. bis ins Spätma. Goethe schrieb in Dichtung und Wahrheit (III, 11; mit einer auf den „reinen vollkommenen Gehalt" bezogenen Einschränkung), durch „den Rhythmus wie den Reim" werde „Poesie erst zur Poesie" Indem der R. den Einzelvers abschließt (vgl. Barockterminologie: Reimschluß), verknüpft er ihn gleichzeitig mit anderen Versen zu höheren metrischen Einheiten (R.paar, Strophe). Zu dieser fundamentalen Doppelfunktion, „scheiden und verbinden" (Lipps), tritt die g l i e d e r n d e . In strophischer Dichtung macht der R. den Aufbau kenntlich (ζ. B. Stollen, Aufgesang, Abgesang, Perioden). Häufig stimmt die durch ihn markierte metrische Struktur mit der syntaktischen überein (bes. in früher Dichtung oder in einfacheren Formen); vom 12. Jh. an werden aber auch die Spannungen der Gegenläufigkeit gesucht (R.brechung). Neben der gliedernden Funktion wurde in der mhd. Lyrik die s c h m ü c k e n d e (omamentale) bedeutsam: Durch kunstvolle R.spiele und R.bezüge können die Strophen zu komplizierten Klanggebilden werden; die R.e finden bisweilen erst nach mehreren Versen oder in den folgenden Strophen ihre Erwiderung. Auch im Barock und in der Romantik wurde auf den R. als Klangform Wert gelegt. 2. R e i m t e c h n i k : An die Genauigkeit des R.s wurden je nach Zeit und Kunstwollen der einzelnen Dichter wechselnde Anforderungen gestellt. In der ahd. und frühmhd. Zeit genügten assonierende Bindungen. Auf Grund der Lautform der ahd. Sprache und der versrhythmischen Akzentuierung (klingende Kadenz) waren die noch vollvokalisdien Endsilben vollwertige R.träger, zumal im Rahmen der anspruchsloseren R.technik. Wenn behauptet wird, der dt. R. verlange im Gegensatz zum lat.-romanischen wesensmäßig die Stammsilbe, so wird dabei ein Resultat der nach-ahd. Sprachentwicklung zu einem

Reim ursprunghaften Prinzip erhoben: „Es stimmt nicht, daß ein eingewurzeltes germanisches Gesetz Stammsilbenreim verlangt" (Wesle). Bildungs- und Flexionssilben bleiben reimfähig, solange sie einen vollen Vokal und damit einen Nebenakzent haben (mhd. -dt, -In, -sere; nhd.: -keit, -heit, -lieh, -lein u. a.). Entscheidend ist nicht die grammatische Klassifikation, sondern die akzentuelle und lautliche Valenz. Auch nachdem der reine R. zur Norm geworden war, gab es mannigfache lautliche und rhythmische Freiheiten, die jeweils verschieden eingeschätzt wurden. Nicolaus von Jeroschin (14. Jh.) urteilte in seiner Kronike von Pruzinlant: vil wort man gliche schribitj der luit unglich steh tribit;jsulch rimen sol man miden (v. 243 ff.). Im 17. Jh. stand Harsdörffer (Nürnberger Trichter), der Bindungen verwandter Laute als erlaubt betrachtete, gegen Opitz, Zesen, Weise, Wagenseil. Stieler erhob das Ohr zum Richter bei Diskrepanzen von Aussprache und Schreibung. Brockes indes wollte, daß man spreche, wie man sdireibe und so auf die „Reinigkeit der Reime" achte. Bürger bezeichnete in seinem Hübnerus redivious (1791) R.e von gerundeten auf ungerundete Vokale als „nicht völlig richtige, doch wenigstens verzeihliche Reime"; er hielt es im übrigen für eine Frage der Stilschicht, ob auch „bloß ähnlich klingende Reimwörter gut zu heißen" seien. Schiller und Goethe gaben durch ihren R.gebrauch ein Beispiel für eine ungezwungenere Handhabung. Goethe erklärte nachdrücklich den Gehalt für wichtiger als die technische Perfektion der R.ung (Dichtung und Wahrheit; Gespräche mit Edcermann). Den „lässigen Reim" des West-Östlichen Divans machte Heusler für die „Verlotterung in Heines Buch der Lieder" verantwortlich. Mörike konnte sich bei seinem Plädoyer für eine liberalere R.praxis nicht nur auf die „größten Dichter" berufen, er sah auch in Lautdifferenzen wie Stille : Fülle, „sparsam eingemischt... einigen Reiz, . . . der auf vermehrter Mannigfaltigkeit beruhe." Liliencron aber schrieb gegen solche Lizenzen seine Parodie Deutsche Reimreinheit. Wie der Begriff 'R.gefühl' sagt, führt die Frage der R.ansprüche letztlich in die irrationalen Bereiche des Geschmacks. So gehen auch die Ansichten auseinander, ob Differenzen bei der Qualität der Vokale oder Konso-

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nanten oder bei der Quantität der Vokale gravierender seien. Die Postulate der Formdogmatiker finden im tatsächlichen R.gebrauch, vollends im Verhältnis zur Absolutheit ihrer Ansprüche, nicht immer eine ausreichende Stütze. Nicht alle R.kritiker waren so einsichtig wie W. Grimm, der Bindungen verwandter Laute für unbedenklich erklärt. Selbst auf den R. bedachte Dichter wie Platen, Rückert oder George verwirklichen das in den Poetiken vertretene Ideal des reinen R.s nicht durchweg. Ein einschneidender Wandel in den lautlichen Anforderungen an den R. spiegelt sich in der Geschichte des rührenden R.s. Während er im Mhd. erlaubt war, wird er schon bei den Meistersingern als Fehler gerechnet. Im Mhd. war der R. noch stärker ins Versganze integriert, was sich auch terminologisch niederschlug (vgl. § 1). Es scheint, daß mit der terminologischen Sonderung des R.wortes vom Vers der rührende R. anders beurteilt wurde; seine Abwertung könnte mit eine Folge formtheoretischer Überlegungen gewesen sein. Im allgemeinen erwartet das moderne R.gefühl im R.wort nicht nur den Gleichklang, sondern auch die voraufgehende Dissonanz (den Unreim). Aber auch in anspruchsvolleren Dichtungen werden rührende R.e (identische und äquivoke) immer wieder als bewußtes Stilmittel eingesetzt. (Ramler, Lessing, Novalis, Tiedc, Goethe, Schiller, Chamisso, Trakl, Brecht u. a.). 3. R e i m ä s t h e t i k : Mit der Ausbildung der formalen Fertigkeiten wurde nicht allein auf einen genaueren R. Wert gelegt, sondern auch darauf, seine W i r k u n g e n zu variieren, wobei die Tendenzen (oft im selben Werk) gegenläufig auftreten konnten: Der R.klang wurde nicht nur stärker zur Geltung gebracht, sondern auch gedämpft, ζ. B. durch die Wahl unbedeutender Formwörter (vgl. Gottfried von Straßburg, Rudolf von Ems, in neuer Zeit Goethe, Heine, Rilke u. a.) oder dadurch, daß er nur in größeren Abständen verwendet wurde, so in Volksliedstrophen, in denen lediglich jeder zweite Vers reimt (auch bei Heine häufig), oder in neueren LangversGedichten (Stadler u. a.). Weibliche R.e dienen, gegenüber den im allgemeinen häufigeren männlichen, bisweilen dazu, lyrische Stimmungen zu charakterisieren (Tristan, Minnegrotte). Bürger empfand (wie Voß und Platen) den weiblichen R. im Deutschen (ver-

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glichen mit dem italienischen) wegen des tonlosen e in der Endsilbe als störend. Des Wohlklangs wegen plädierte er zumindest für einen regelmäßigen Wechsel von männlichen und weiblichen R.en. Überlegungen zur Symbolik der R.klänge wurden besonders in der Romantik angestellt (A. W. Schlegel). Das Streben nach einer Vermehrung der dichterischen Ausdrudcsmöglichkeiten führte zu einer Erweiterung des R.wortschatzes. Hinzu kam das Bedürfnis, allzu gebräuchlichen abgenutzten R.bindungen auszuweichen oder durch ungewöhnliche R.wörter besondere Wirkungen zu erzielen. Alle drei Beweggründe lassen sich schon in mhd. Dichtung beobachten: Zur Bereicherung des R.bildes wurden seltene Wörter, Fremdwörter, fremdländische Namen herangezogen, sowohl in der Lyrik (im 13. Jh. besonders bei Ulrich von Lichtenstein, Tannhäuser) als auch in der Epik (Wolfram, Konrad von Würzburg). Auch in neuerer Zeit werden die besonderen Wirkungen, welche die im Vers exponierten R.wörter erlauben, gerne genutzt: Heine bezeichnete die musikalische Bedeutung des R.s als wichtig: „Seltsame, fremdgrelle Reime" seien wie „eine reichere Instrumentation" Im 18. Jh. schlug sich die klassische Bildung auch im R. nieder (Cythere : Ehre, Wieland). Im 19. Jh. wurden exotische R.e Mode (Karrou : Gnu, Freiligrath); Fremdwörter im R. sind allgemein dem Lokal- oder Zeitkolorit dienlich (Voliere: Imaginäre, Rilke), altertümliche oder mundartliche Wörter verleihen einen Hauch von Volkspoesie (Schritt:nit,Turnei:treu,XJhl&nd); medizinische u. a. Fachtermini tauchen bei Benn im R. auf (unkategorial: zerebral). Auf komische oder groteske Pointierungen des R.s legten es die Autoren humoristischer Werke an (Kortum, Wieland, Busch, Eugen Roth u. a.). Heine vor allem handhabte den R. als Mittel der Ironisierung: Menschen: abendländ'sehen; Romantik: Uhland, Tieck (Wintermärdien). Durch das jeweilige R.vokabular ergeben sich im Reimstil ζ. T. beträchtliche und kennzeichnende Unterschiede zwischen einzelnen Dichtern (vgl. ζ. B. George und Rilke). Neben der Variation der Quantität und Qualität des R.klanges ist auch die Art seiner Einordnung in den Versfluß von Bedeutung. Otfried hat Syntax und Lautimg gelegentlich

dem R. untergeordnet. Flickr.e sind im Frühmhd. noch häufig, kommen aber auch später immer wieder vor, selbst bei Formkünstlem wie Wieland. Verstöße gegen die Sprachkorrektheit des R.s wegen werden in neuerer Dichtung karikierend angewandt (Heine, Scheffel, Brecht). Die wie selbstverständlich wirkende Einpassung der R.e in Versfluß und Sinnzusammenhang wurde schon von Gottfried von Straßburg als hohe Kunst gepriesen (Literaturstelle v. 4716 ff.). Logau schrieb: „Reime, die gezwungen sind, haben wenig Art." Gottsched rühmte die „Belustigung" und Harmonie der R.e, wenn sie „gleichsam von sich selber fließen." Lessing betrachtete es als „Verdienst", demR. „durch geschickte Wendungen eine so nothwendige Stelle anzuweisen, daß man glauben muß, unmöglich könne ein ander Wort anstatt seiner stehen." 4. Als zweiPole des R.s werden Sinn- und K l a n g r . einander gegenübergestellt. Mit völkerpsychologischer Idealisierung wurde schon behauptet, der Sinnr. sei typisch germanisch, während der Klangr. für die rom. Völker charakteristisch sei. Es wird darauf verwiesen, daß in dt. Sprache der R. sich vornehmlich auf sinntragende Silben (Stammsilben) stütze, während im Rom. auch Endungssilben R.träger sein können. Für diese Unterschiede finden sich jedoch in den jeweiligen Sprachstrukturen sachlichere Erklärungen. Sinn- und Klangr. haben in der Geschichte des dt. R.s ihren gleichwertigen, von der jeweiligen Formhaltung bestimmten Platz. Goethe läßt Faust sagen, der R. befriedige „Ohr und Sinn" (v. 9374). Der Einfluß des R.s auf den Sinn und die vom R. ausgehenden Gedanken- und Motivassoziationen wurden unterschiedlich beurteilt. Harsdörffer lobte, „der Reimschluß" gebe „zu feinen Gedanken Ursach, welche in ungebundener Rede übergangen werden." Bodmer kritisierte die R.e als „kahles Geklapper gleichthönender End-Buchstaben", welche die „Gedancken hemmen". Gottsched hielt dem entgegen, „guten Köpfen" helfe der R. eher, „gute Gedanken anzubringen". Herder zitiert Pope, der den R. echo to sense nannte; er befand, dem einen Dichter sei der R. „ein Ruder", andern „ein Steuer" oder ein „Erwerbmittel der Gedanken" oder eine „Werb-Trommel" Für George ist der R. „bloss ein Wortspiel wenn zwischen den

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durch den reim verbundenen Worten keine innere Verbindung besteht." Goethe gab dem R.wort an rhetorischen und pathetischen Stellen ein besonderes Gewicht; er war ein Meister des bedeutungsvollen R.gebrauchs (vgl. ζ. B. Faust 1,1224 ff.: Wort, Sinn, Kraft, Tat oder Helena-Akt 9377 ff.). Auch bei andern Dichtern stehen signifikante Wortpaare oft im Reim (ζ. B. bei Trakl: Verwesung : Genesung; Ratten: Schatten). Logaus Forderung: „So sei der Sinn der Herr, so sei der Reim der Knecht" fand, gewollt und mehr noch ungewollt, nicht immer Beachtung. Uber ζ. T. absonderliche Auswirkungen der Reimnot und R.armut spottete schon Moscherosch (17. Jh.), ebenso wie J. Chr. Günther. Benjamin Neukirch gestand: „Nennt ich die Rosiiis/der erden lust und wonne/So setzt' ich gleich darauff: schön/wie die liebe sonne." Ähnlich äußerte sich zur franz. Dichtung Boileau. Auch Wieland ironisierte die durch den R. gegebenen Denk- und Bildschablonen: „ . . . und wenn es Ranken/von Reben und Geissblättem sind,/So haben wir's wieder dem Reim zu danken." Hoffmann von Fallersleben klagte über die Eigenwilligkeit der Reime; Platen nahm die Billigkeit von Trivialreimen aufs Korn. Schon Bürger hatte indes gegen die Klagen über abgenützte R.e zu bedenken gegeben: „Es kann aber sehr oft mit sehr alten und abgedroschenen Reimen ein sehr neuer und schöner Gedanke bestehen." Oder Karl Kraus: „Wenn Worte ihren Wert behalten,/kann nie ein alter Reim veralten." Erich Schmidt hat an Goethes Faust durch einen Vergleich von Prosa- und Versfassungen aufgezeigt, wie der R. den Sinn führen kann (S. 17 ff.). 5. Daß der R. in der S p r a c h e angelegt sei, wurde immer wieder ausgesprochen. Hamann meinte: „Wenn der R. zum Geschlechte der Paronomasie gehört: so muß das Herkommen desselben mit der Natur der Sprachen und unserer sinnlichen Vorstellungen beynahe gleich alt seyn." Hegel entdeckte im R. der romantischen Poesie das „Bedürfnis der Seele, sich selbst zu vernehmen." Schopenhauer bemerkte, daß ein „glücklich gereimter Vers . . . die Empfindung erregt, als ob der darin ausgedrückte Gedanke schon in der Sprache prädestinirt, ja präformirt gelegen" habe. NachBenn wird „der lyrische Autor" den R. „wohl immer . . . als ein Prinzip empfinden, das nicht er selber

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ist, sondern das ihm von der Sprache nahegelegt wird." Prästabilierte Harmonien scheinen sich in R.paaren wie Quelle-.Welle; Not:Tod; Zecher: Becher; klingen: singen zu verraten. Solche Bindungen, die sich auch schon auf älteren Sprachstufen finden (got. daups [Adj.]: naups; ahd. quellan:wellan [Verb]), lassen sich gegen Wundts einseitige Theorie anführen, der R. sei aus reduzierten Wortwiederholungen entstanden. Zudem ergeben sich in Sprachen mit vollen Endungen R.bindungen oft schon unwillkürlich durch syntaktischen Gleichlauf. In Überlegungen, welcher Sprache der R. wohl am angemessensten sei, werden bisweilen subjektive Empfindungen verabsolutiert. Es berührt angesichts der großen Zahl bedeutender dt. R.dichtungen und der Selbstverständlichkeit, mit der sich der R. in der Volksdichtung hält, eigenartig, wenn der R. seit dem 19. Jh. immer wieder als ein der dt. Sprache im Grunde fremdes Prinzip hingestellt wird (vor allem von Heusler), das den Stabreim als das eigentlich dt. Wesen entsprechende Verselement zum Nachteil der dt. Sprache und Dichtung verdrängt habe. Man hat sich bei diesem Urteil auf Klagen über R.not berufen, ohne zu bedenken, daß dazu bei Stabreimdichtungen mindestens ebensoviel Anlaß gegeben wäre (vgl. die Wiedererwedcungsversuche im 19. Jh.: Wagner, Jordan). Man hat weiter darauf hingewiesen, daß es im Dt. auf manche wichtige Wörter keinen „natürlichen" R. gebe, so auf Tochter, Frühling, Kirche, Mensch, deutsch. „Ob sich gleich auf deutsch nichts reimet,/Reimt der Deutsche dennoch fort" (Goethe). Barockpoetiker vertraten mit Vorliebe die Meinung, daß der R. in keiner Sprache so gut ausgebildet sei wie im Dt.; Canitz (2. Hälfte des 17. Jh.s) jedoch beneidete die Franzosen, weil bei diesen „Vernunft und Reim gem bei einander" stehen. Ob der R. von außen in die dt. Dichtung gelangt sei, ist strittig, nicht dagegen, daß die dt. reimlosen Formen auf außerdt. Anstöße zurückgehen. Antike, ital., engl. Dichtung in reimlosen Versen (versi sciolti, blank verse) wurde vor dem 18. Jh. ganz selbstverständlich in dt. R.verse übertragen, da man den R. als integrierenden Bestandteil gerade der dt. Dichtung betrachtete. Fr. Schlegel meinte noch: „der Reim geht aus dem ursprünglichen Wesen der dt. Sprache

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selbst hervor." In einfacheren Formen macht auch heute noch der R. das Gedicht. Erst ein gestauter Uberdruß an der Fülle billiger Reimereien mag mit dazu geführt haben, daß im 19. Jh. ein 'germ.' Stabreim gegen einen 'welschen' Endr. ausgespielt wurde. Die Urteile über den R. sind, insgesamt gesehen, so vielfältig und schillernd wie das Phänomen. 6. Der R. als H i l f s m i t t e l d e r P h i l o l o g i e : Wenn ältere Literaturwerke bei der Tradierung in andere Dialekte oder spätere Sprachstufen umgesetzt wurden, blieben in den R.en noch am ehesten originale Formen erhalten. Man kann also u. U. aus den R.en gewisse Hinweise auf den ursprünglichen Dialekt und aus dem wahrscheinlichen Lautund Formenstand (R.grammatik) auf die Abfassungszeit und auch auf Handschriftenverhältnisse und die Textgeschichte gewinnen. Der R. wurde besonders wichtig zur Erforschung der Sprachform Veldekes (vgl. Ausgabe von Frings/Schieb, II, 1965). Der R. wurde weiter bei Echtheitsfragen oder bei Überlegungen zur Strophenfolge, zu zyklischen Reihungen oder auch zu Beziehungen zwischen den Dichtern (Reinmar-WaltherFehde) als Kriterium herangezogen. Wieweit bei dem relativ begrenzten R.kanon im Mhd. dabei sinnvolle Schlüsse möglich sind, ist schwer zu entscheiden. Auch in neuerer Zeit können R.bindungen Rückschlüsse auf die Dialektaussprache eines Dichters ermöglichen, vor allem im Barode, aber auch später noch von Schubart bis George. G. Ph. H a r s d ö r f f e r , Poetischer Trichter. I. Theil. Die 3. Stund: S. 32 ff. (2. Aufl. 1650). J. J. Β ο dm er, Die Discourse der Mahlern (1721-1723). 7. Discours: S. 49ff. G. E. L e s s i n g , 14. Brief: Über d. R. (1753). In: Sämtl. Schriften, hg. v. K. Lachmann, Bd. 5 (1890). J. G. H a m a n n , Kreuzzüge d. Philologen (1762). In: Sämtl. Werke, hg.v.J.Nadler,Bd.2 (1950) S.214ff. J. G. H e r d e r , Briefe zur Beförderung d. Humanität (1793 ff.), 7. Sammlung. In: Sämmtl. Werke, hg. v. B. Suphan, Bd. 18 (1883) S.29ff. Fr. S c h l e g e l , Geschichte d. alten u. neuen Litteratur (1815). In: Sämtl. Werke, Bd. 2 (1822) S. 264 ff. A. S c h o p e n h a u e r , Die Welt als Wille u. Vorstellung (1818). In: Sämtl. Werke, hg. v. A. Hübscher, Bd. 2 (1949), Kap. 37: Zur Aesth. d. Dichtkunst. Fr. H e g e l , Vorlesungen über Aesthetik. Bd. 3. In: Sämtl. Werke, hg. v. H. Glöckner, Bd. 14 (1954). Der Reim: S. 303 ff. H. H e i n e , Gedanken und Einfalle. In: Sämtl. Werke, hg. v. O. Walzel, Bd. 10 (1915) S. 261 ff. W. W u n d t , Das Lied. In: Völkerpsychologie,

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stimmung werden je nach Formhaltung mehr oder weniger strenge Anforderungen gestellt. Entsprechend offen ist die Abgrenzung gegenüber dem b) u n r e i n e n (ungenauen) Reim ( H a l b r . ; vgl. § 2, § 3.2). Geläufige Bindungen, ζ. B. von gerundeten und ungerundeten Vokalen wie gönnt-.Element; zieht-.blüht oder mit quantitativen Unterschieden (hat:Rat) oder mit konsonantischen Ungenauigkeiten wie zwischen stimmhaften und stimmlosen Konsonanten (reden·. Poeten) werden im strengen Sinne oft zum unreinen R. gezählt. Lediglich orthographisch ungenau sind Μenge-.Gedränge; Geld-Welt. Manche Dichter (ζ. B. der späte Hölderlin) meiden bisweilen selbst solche R.e. c) m u n d a r t l i c h e r R e i m : Dieser differiert nur in der Schriftform, war aber u. U. in der Aussprache rein (Grenzen zum unreinen R. fließend): Voß: wach-.Tag; Goethe: neige-.-reiche; Schiller: untertänig: König; George: Auge-.Hauche; im Mhd.: tuon-.sun; lieht-.niht; Waither v. d. Vogelweide: verworren (verworren)-.pfarren (L 34,18). d) A s s o n a n z (von lat. assonare, anklingen): nur Gleichklang der Vokale. In der frühmal. dt. Dichtung war die Assonanz eine vollwertige Versbindung, bis Ende des 12. Jh.s der reine R. zur Norm wurde: Otfried: gicleiptin-.breittin (1,1, 2); Ezzos Gesang: phaphen:machen (v. 3); Kürenberg: fliegen-, riemen (MF 9,5). Als Stilmittel ist die Assonanz in der dt. Dichtung fast nur in Nadiahmung rom. (bes. span.) Formen anzutreffen, so in Romanzen (Brentano: Romanzen vom Rosenkranz, Büschen: schlaf en:blühen: Atem; Eichendorff, Rückert, Platen, Heine); beim späten George (Jahr der Seele, Teppich des Lebens, Der Siebente Ring: /lug:glut) oder in Gedichten im Volkston. 2. Q u a n t i t ä t der Reimzone (Zahl und Valenz der reimenden Silben): a) e i n s i l b i g e r R e i m : entsprechend den Wortgeschleditem im Franz. seit den Trobadors auch m ä n n l i c h e r R. genannt (rime masculine, vgl. grand: grande), Begriff von Opitz in die dt. Verslehre eingeführt. Nach der auf das Versganze bezogenen Klassifikation der Meistersinger: s t u m p f : mein:dein. b) z w e i s i l b i g e r R e i m ( w e i b l i c h [rime fdminine]; Meistersinger: k l i n g e n d ) : meine: deine. Im Mhd. waren zweisilbige R.Wörter mit kurzer offener Tonsilbe in der Kadenz den einsilbigen (männlichen) gleichgestellt (Hebungsspaltung): sagen-.klagen = min: din. c) d r e i s i l b i g e r R e i m (oder gleitender R., nach ital. rime sdrucciole; erster Beleg dieses Begriffs im Nürnberger Trichter Harsdörffers): schallende τ wallende. ^--w ' d) r e i c h e r R e i m (nach franz. rime riche, -Ronsard, Ähre ge de ΤArt poitique, 1565): zweioder mehrsilbige R.e, "bei denen auf die erste (betonte) R.silbe vollvokalisdie Nebensilben oder selbständige Wörter folgen: Wahrheit-.Klarheit ( s c h w e b e n d e r R.); fein sind:gemein sind (Heine; g e s p a l t e n e r R.); todis-.brodis (Athis und Prophilias); gewalkiret:gebalziret (Veldeke); der reiche Reim wird zum

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e) D o p p e l r e i m , wenn die einzelnen Wörter wie selbständige R.e behandelt sind: betwungen stät: gesungen hät (Morungen); lind wiegt:wind schmiegt (George). Eine primär auf komische Wirkung angelegte Sonderform ist der f) S c h ü t t e l r e i m : Bei mehrsilbigen oder mehreren Reimwörtem werden sinnentsprechend die Anfangskonsonanten ausgetauscht :ln Reimes Hut I Geheimes ruht (bei Kreuzr. gelegentlich audi die Hauptvokale). Schüttelr.e begegnen schon im 13. Jh. bei der flämischen Mystikerin Hadewych und bei Konrad von Würzburg. g) e r w e i t e r t e r R e i m : die Reimzone umfaßt über die letzte betonte Silbe hinaus nodi Präfixe, Satzpartikel oder audi ganze Wörter, gleichlautend oder assonierend ( V o r r e i m ) : giwurti:giburti (Otfried); unde klagen-.kumber tragen (Reinmar), beliebt bei Walther: alle frowen var:alle frowen gar. h) G h a s e l r e i m (aus dem Persischen): Auf den eigentlichen R. folgt jeweils eine wörtlich wiederholte Wendung: verachtet, allein zu sein: schmachtet, allein zu sein (Platen). i) r ü h r e n d e r R e i m : die Konsonanten (soweit vorhanden) vor dem letzten betonten Vokal sind in den Gleidiklang einbezogen (Bezeichnung aus der Meistersingerterminologie: Puschmann: halbrärend, Wagenseil, Stieler: rührend). Bei gleicher Bedeutung der Wörter (tat: tat; ist:ist) oder bei R.en zwischen denselben Ableitungssilben {meineclidi: lobelich) spricht man von i d e n t i s c h e m R., bei Homonymen (gleichlautenden Wörtern mit verschiedener Bedeutung tat:Tat; ist:ißt) von ä q u i v o k e m R. (paronomastischer R., rhetorische Figur: Paronomasie, adnominatio). Manchmal wird letzterer als rührender R. im eigentlichen Sinne vom identischen R. abgesetzt. Beide Arten des rührenden R.s sind in der mal. dt. Dichtung erlaubt (vgl. audi im Franz. fust [war]:fust [Holz], Yvain). Rührende R.e begegnen schon bei Otfried, im Mhd. besonders bei R.häufungen (Veldeke MF 58,35; Wimt, Wigalois 12,5 usw.). Sie treten bei den einzelnen Dichtern in unterschiedlicher Häufigkeit auf (seltener bei Freidank, Konrad von Würzburg, Frauenlob) oder mit typischen Einschränkungen (bei Walther sind die R.wörter durch Bedeutung oder durch Vorsilben differenziert: L 10, 11; 20, 28; 24, 15). Als Stilprinzip findet sich identischer R. bei Gottfried von Straßburg (Tristan-Prolog), äquivoker R. bei Gottfried von Neifen (KLD XXVII), Sudienwirt (Die red ist Equivocum), Muskatblüt. Seit dem 16. Jh. werden rührende R.e (wie im Franz., Pl6jade) in den Poetiken für falsch erklärt, begegnen aber noch gelegentlich als Stilrinzip,, so in Lessings Epigrammen (audi im 'anz. Symbolismus). Gestützte Endsilbenr.e (geh6rtin:kSrtin) gehören e definitione nicht zum rührenden R., so wenig wie franz. rime riche (chant6:6t0). k) F e r m a t e n r e i m : Dehnung von imbestimmter Dauer der letzten oder vorletzten R.silbe bei gesungenen Texten (xx); für die mal. Lyrik vermutet, bei den Meistersingern unsicher

g

bezeugt (Puschmann), für den ev. Kirchengesang umstritten (Heusler § 664). 3. G r a m m a t i s c h e A s p e k t e der R.klassifizierung: a) E n d s i l b e n r e i m : Begriff oft in ahistorischer Verkennung der Genese des R.s abwertend als dt. Sprachempfinden fremd bei der Klassifizierung der ahd. und frühmhd. R.tedinik verwendet. Vor allem im Ahd. konnten vollvokalische Endsilben für die R.ung durchaus genügen: lindo-.selbo; afaron-.redinon; gesundaröt:n6t. An solchen Bindungen wurde ζ. T. noch festgehalten, nachdem sie durch die Lautentwiddung überholt waren (minnesam-.verläzen, älter verläzan = a r c h a i s c h e R.e), oder es wurde der alte Lautstand im R. konserviert (man:werdan = T r a d i t i o n s r . e ) . G e s t ü t z t e E n d s i l b e n r . e umgreifen noch die vorhergehenden Konsonanten ( = franz. rime riche). In frühmhd. Dichtung nehmen diese R.e wie zum Ausgleich für die schwindende Vokalqualität der Endsilben zu. Reime auf unbetonte Endsilben begegnen audi späterhin: diener-.ger (Hadloub); spilman-.lonan (Wittenwiler);lilien:zieraten (Fleming);Könige:höh (Schiller); denn: Furien (Liliencron); parodiert von Eichendorff (Mandelkerngedicht). b) g r a m m a t i s c h e r R e i m (Figur des Polyptotons): R.folgen aus verschiedenen Wortbildungs- oder Flexionsformen eines Wortstammes: strophenweise: sänge :müt: lange: gut: müde :güde: sane: lanc (Veldeke MF 66, 24); sechsmal zwei R.glieder bei Reinmar (MF 198,4), drei Variationen eines Wortes bei Neifen (KLD XXVI, vgl. auch VI). c) g e b r o c h e n e r R e i m (nach W. Grimm): von einem zusammengesetzten Wort steht nur der erste Teil im R.: uAp-lich-.lip (Neifen KLD XXXVIII); Ich sihe Sen morgen- / Sternen gtesten ...:... vil unverborgen / üf den esten (Konrad von Würzburg MSH 2, 319 b); Hans Sadis ist ein Schuh-Imacher und Poet dazu; im Schlagreim: ir lip trüter lüter- var (Konrad v. Würzburg MSH 2, 312 b). 4. R e i m f o r m e l : Stehende Wendungen mit R. wie Freud und Leid, Knall und Fall, Saus und Braus gehören wie die alliterierenden Formeln (Haus und Hof) und die lautlich ungebundenen (mhd. wait und ouwe, Gold und Silber) zu den rhetorischen Figuren. II. R e i m s t e l l u n g e n 1. Reime am Versende (Endreime) Α Gruppierungen mit einem Reimklang: a) P a a r r e i m : aa bb: älteste Form der R.stellung, in der ahd. Dichtung durchgehend, Anfänge der mhd. Lyrik, mhd. Epos. b) D r e i r e i m : dient in der Lyrik zur Kennzeichnung von Strophenschlüssen, so bei Reinmar (MF 159,1; 173,6 usw.), Hartmann (MF 216,1), in der Epik von Abschnittsgrenzen, um 1100 schon im Rheinauer Paulus, später in Wimts Wigalois, Heinrichs v. d. Türlin Krone, auch noch bei Hans Sachs. Im Abschnittsinnem regellos im Seifrid Helbling, im Passional.

Reim c) R e i m h ä u f u n g e n (Haufenreim): schon bei Otfried (min :thin: min -.thin, I, 2, 1); in der Lyrik seit Veldeke, vorwiegend in Leichdiditungen (Gutenburg, Rugge, Walther u. a.),bei Hartmann in der Lyrik (ζ. B. MF 216, 29) und in der Epik (Gregorius und Iwein). Später in Michael Beheims gekrönter Weise, bei Hans Folz, Hans Sachs. In Fischarts Flöhhaz schließen einmal 17 Verse mit demselben Reim. d) R e i h e n r e i m ( E i n r e i m , T i r a d e n r e i m , tirade tnonorime): Strophen- oder abschnittsweise wird nur ein R. oder eine Assonanz durchgeführt, besonders in lat. und rom. Dichtung häufig. Ältester Beleg für die lat. Dichtung: Augustinus (Rhythmus gegen die Donatisten), für die franz. Dichtung: Eulalia-Sequenz: typische R.form der Chansons de geste. Im Mhd. außer in Leichdichtungen (s. o.) seltener, so bei Walther (L 39, 1; 75, 25, Vokalspiel), Ulrich von Lichtenstein (KLD XXXIII), Hans Folz (Lied 2, 3). In neuerer Zeit gelegentlich: Heine. e) U n t e r b r o c h e n e r R e i m : reimlose Verse wechseln mit gereimten (meist in Vierzeilern): Volkslied, Goethe Mailied, Heine. f) K o r n r e i m u n g (Ausdrude nach dem Meistersingerterminus Kom, Puschmann): Verse, die in ihrer Strophe keine R.entsprechung finden ( W a i s e n , vgl. MF 11,11), reimen mit entsprechenden Versen folgender Strophen. Bei Provenfalen beliebt, schon Marcabru. Älteste mhd. Belege: Kürenberg MF 7, 1; Veldeke MF 59, 23; durchgehende Kornbindung zwischen ganzen Strophen bei Neifen (KLD VII), Ulrich von Lichtenstein (KLD XXXIII). g) R e i m r e s p o n s i o n e n : gleiche oder ähnliche R.e an parallelen oder wechselnden Stellen verschiedener Strophen eines Gedichtes oder eines vermuteten Gedichtzyklus' (ζ. T. als typisch für mhd. Lyrik angesehen). Die Grenze zwischen strukturell bedeutsamen R.bezügen (ζ. B. Walther L 74, 20: kränz:tanz [Str. 1]; tanze-.kranze [Str. 5] oder L 166, 21 oder Morungen MF 145, 1 [Str. 1 u. 2, 3 u. 4 durch grammat. R.e gebunden]), durch begrenztes R.material begünstigter „Anreimung" oder Reimomamentik, durch die Melodieführung evozierten R.assoziationen oder irrationalen, zufälligen Beziehungen ist fließend. Vergleichbare Phänomene gibt es auch in nhd. Lyrik. Β G r u p p i e r u n g e n mit mehreren Reimklängen: a) a b a b : K r e u z r e i m (gekreuzter R., W e c h s e l r . ) : in mhd. Lyrik zuerst in den stolligen Kanzonen des Burggrafen von Rietenburg, bei Dietmar von Aist, Hausen, im Ansatz bei Kürenberg (MF 7,10). b) a b c ( d ) a b c ( d ) : e r w e i t e r t e r K r e u z r e i m oder v e r s c h r ä n k t e r R.: älteste Belege: Hausen, Veldeke. c) a b b a : ü b e r s c h l a g e n d e r , u m a r mender, u m s c h l i n g e n d e r R., S p i e g e l r.: älteste Belege: Hausen, Fenis. d) a a b a a b : S c h w e i f r e i m : ältester Beleg: Veldeke (MF 56, 1). Im Sonett seit Opitz, Gryphius. e) a a b c c b : Z w i s c h e n r e i m : älteste Belege: Morungen (MF 129, 14; 141, 15), in der 27·

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Epik: Eckenlied.—Die Formen d) und e) werden oft auch als Schweifreim zusammengefaßt, wobei e) nur als eine vereinfachte dt. Form des rom. Modells d) angesehen wird. f) a b a b e b : äußerer Kettenreim oder T e r z i n e n r e i m : Dante, Divina Comedia, vereinzelt bei Paul Schede (16. Jh.) und Opitz (37. und 129. Psalm). Abgewandelt: a b a b a b im Sonett seit dem 17. Jh. (Wedcherlin); im Anschluß an das ital. Vorbild bei Goethe (Faust II), Rückert, Chamisso, George; in der Form a b a e b e in Hofmannsthals Terzinen über die Vergänglichkeit. Die Gruppierungen a)-f) werden vor allem in der mhd. Strophik mannigfach variiert und kombiniert. Die jeweilige Ordnung in einer Strophe heißt R e i m s c h e m a . g) R e i m b a n d : ein R. durchzieht zwischen anderen R.en eine größere Strophe (Bernger von Horheim MF 113,1; Morungen MF 141,15) oder ein ganzes Gedicht (Ulrich von Gutenburg MF 77,36). Mehrere Reimbänder beherrschen eine Strophe: D u r c h r e i m u n g (prov.-franz. Einfluß), Veldeke MF 64,17; auch in Kanzonenformen, Aufgesang und Abgesang zeigen gleiche Reime: Veldeke MF 56,1; Hausen MF 48,32; Morungen MF 139,19. In neuerer Zeit: Annette von Droste, Nietzsche, Rilke (Stundenbuch). 2. Reime im Versinnem: a) B i n n e n r e i m e oder i n n e r e R l e i m e : Die Begrifle werden oft allgemein auf alle R.e im Versinnem bezogen. Beliebt im Mhd. und im Barode. Binnenr. im engeren Sinne: R.klang innerhalb eines Verses: toes sol ich danne in arken oder in barken jehen (Walther L 27; 12). Als durchgehendes Prinzip bei Joh. Klaj, ζ. B. Vorzug des Sommers. b) Z ä s u r r e i m : Binnenr. an metrischen Einschnitten innerhalb eines Verses: nu lange ich mit sänge die zit hän gekündet (Bernger von Horheim MF 115,27). c) S c h l a g r e i m : zwei unmittelbar aufeinanderfolgende R.wörter: ir zunge sunge und lieze ir hant... (Walther L 10, 27); einmaere waere guot gelesen (Konrad von Würzburg, Engelhard v. 1 ff.). M e h r f a c h e r S c h l a g r e i m : gar bar lit wit wait kalt (Konrad von Würzburg MSH 2,326 a). d) M i t t e l r e i m : Wörter in der Mitte verschiedener Verse reimen: Nu muoz ich ie min alten nöt / mit sänge niuwenunde klagen,.. ir gruoz mich vie, diu mir geböt/oil lange niuwen kumber tragen (Reinmar MF 187, 31 ff.). 3. Reime vom Versinnem zum Versende: a) I n r e i m : ein Wort im Versinnem ist mit dem Versende durch Reim verbunden. Steht das 1. R.wort an einer Verszäsur, wird er in lat. Dichtung als l e o n i n i s c h e r R e i m bezeichnet: des mannes sin ist sin gewin (Freidank); Ο Sonne der Wonne (Fleming). b) M i t t e n r e i m : R. zwischen Versende und einem Wort in einem voraufgehenden oder nachfolgenden Vers: W& vund man sament sö manic Ii et? I man vunde ir nie t im künicriche / (Hadloub SMS XXVII, 8).

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Reim — Reimbrechung

c) S c h l a g r e i m am Z e i l e n e n d e : machen: ...swadtert Sachen (Gottfried, Tristan); seltenere Form: E c h o r e i m : das R.wort wird entweder gleich oder variiert wiederholt: beliebt im Barode und bei den Romantikern (nach dem Vorbild Tassos und Guarinis): Hier bin ich einsam, keiner hört die Klage. Klage! / Niemand vertrau ich mein verzagtes Stöhnen. Tönen. (W. Schlegel, Waldgesprädi). d) i n n e r e K e t t e n r e i m e : R.folgen, die Versenden und Versmitten mehr oder weniger fortlaufend verketten: Ο wel daz diu liebe mir niht dikke heilet miner w u n d e n v u n t l ich bin v u n d e n w u n t / v o n ir (Konr. v. Würzburg MSH 2,319 a), oder Hadloub (SMS XXVII, 8) oder Fr. Schlegel (Der Wasserfall). 4. Reime am Versanfang und Versende: a) A n f a n g s r e i m : Konrad von Würzburg (MSH 2,317 a), Frauenlob (ed. Ettmüller, Sprüche408-418), KolmarerLiederhs. (ed.Bartsch, S. 293), HarsdörSer: Ein Laub, das grünt und falbt geschwind,/e i η Staub, den leicht vertreibt der Wind (Das Leben des Menschen), Goethe: Krieg1 ist das Losungswort./Siegl und so klingt es fort. (Faust, 9837). b) ü b e r g e h e n d e r oder ü b e r s c h l a g e n d e r R e i m : Schlagr., der über das Zeilenende hinweg das erste Wort des folgenden Verses umgreift: Ulrich von Singenberg (SMS II, 13), Neifen: in dem walde suoze erklingen;} dringen siht man... (KLD XVI). c) ü b e r s p r i n g e n d e r R e i m : das letzte Wort eines Verses reimt mit dem ersten Wort des übernächsten Verses (Hans Sachs). d) P a u s e n r e i m bindet das erste und letzte Wort eines Verses: ein klosensere, ob erz vertrliege? ich wsne, er nein (Waither L 62,10) oder eines Verspaares: wol vierzec jär hab ich gesungen oder me f von minnen und als iemen sol (Waither L 66,27), oder einer Strophe: Neifen (KLD V). 5. Reim- oder Klangspiele: künstliche R.ordnungen, R.verschlingungen aus Schlagr.en, gebrochenen, übergreifenden R.en, Pausenr.en; besonders beliebt in der Lyrik des 13. Jh.s, auch im Barock. Als R.spiele sind auch P a l i n d r o m - R . e anzusehen; vgl. Peter Suchenwirt, Die red haizzt der froind sin (bla: rot: alb: tor; Werke, ed. A. Primisser, Nr. XLIII). Wilh. G r i m m , Zur Geschichte d. R.s. AbhAkBln. (1852) S. 521-713, wiederholt in: Grimm, Kleinere Schriften. Bd. 4 (1887) S. 125336. Karl B a r t s c h , Die R.kunst d. Troubadours. Jb. f. rom. und engl. Lit. 1 (1859) S. 171197. A.F.C. V i l m a r , Die dt. Verskunst. Bearb. v. C. W. M. Grein (1870). Daniel S a n d e r s , Abriß d. dt. Silbenmessung u. Verskunst (1881); zum Gleichklang: S.60-118. Rieh, v. M u t h , Mhd. Metrik (1882). Jakob M i n o r , Neuhochdt. Metrik (2. Aufl. 1902); ältere Lit.: S. 529-531. Herrn. P a u l , Dt. Metrik. PGrundr. II, 2 (2. Aufl. 1905) S. 107-124. Franz S a r a n , Dt. Verslehre (1907; Hdb. d. dt. Unterr. 3,3). Friedr. K a u f f m a n n , Dt. Me-

trik (1912). Andr. H e u s l e r , Dt. Versgeschichte. Bd. 1-3 (1925-1929; PGrundr. 8). Siegfried B e y s c h l a g , Die Metrik d. mhd. Blütezeit in Grundzügen (5. Aufl. 1963). W. Theodor E l w e r t , Franz. Metrik (2. Aufl. 1966). Wolfgang K a y s e r , Kleine dt. Versschule (12. Aufl. 1966; Dalp-Taschenb. 306). Otto P a u l u. Ingeborg G l i e r , Dt. Metrik (7. Aufl. 1968). K. B a r t s c h , Der innere R. in der höfischen Lyrik. GermaniaPf. 12 (1867) S. 129-194. Ders., Mhd. Kettenreime. GermaniaPf. 25 (1880) S.335-339. Jacob G r i m m , Zur Gesch. d. dt. Reims. In: Kl. Schriften. Bd. 6 (1882) S. 276-279 [zum rührenden Reim]. H. Giske, Über Körner und verwandte metrische Erscheinungen in der mhd. Lyrik. Zfd Ph. 18 (1886) S. 57-80, 210-249 u. 329-341. O. P l a t e , Die Kunstausdrücke d. Meistersinger. Straßb. Studien 3 (1888) S. 147-224. Wiederholt in: Der dt. Meistersang (1967; Wege der Forschung 148) S. 206-263. K. Z w i e r z i n a , Der rührende R. (Mhd. Studien 12). ZfdA. 45 (1901) S. 286-313. K. P l e n i o , Beobachtungen zu Wolframs Liedstrophik. PBB. 41 (1916) S. 47-128. C. v. K r a u s , Der rührende R. im Mhd. ZfdA. 56 (1919) S. 1-76. H. S t ü r e n b u r g , Mundartliche R.e. Mutterspr. 40 (1925) Sp. 299-303. C. v. K r a u s , Über einige Meisterlieder d. Kolmarer Handschrift. SBAkMünch. H. 4 (1929) S. 1-26. Wiederholt in: Der dt. Meistersang (1967; Wege der Forschung 148) S. 277303. Bertha S c h w a r z , „Grammatischer R.". ZfdPh. 59 (1935) S. 253-255. G. M ü l l e r G i e r s l e b e n , Frisch geschüttelt! Eine Betrachtung über die Schüttelreimkunst. Mutterspr. 52 (1937) Sp. 383-388. Ders., Sdierz u. Ernst im Schüttelton. Jb. d. dt. Sprache 1 (1941) S. 235-238. Franz Rolf S c h r ö d e r , Zur Geschichte d. Schüttelreims. GRM. 43 (1962) S. 302-306. Werner Friedr. B r a u n , Zur mal. Vorgesdiichte d. Schüttelreims. GRM. 44 (1963) S. 91-93. Manfred H a n k e , Die Schüttelreimer (1968). Zum mhd. Responsionsreim vgl. vor allem die Untersuchungen von C. v. K r a u s zu Morungen (1916), zu Reinmar (1919), zu Walther v. d. Vogelweide (1935), zu MF (1939), die Arbeiten von Κ. Η. Η a I b a c h (§ 2), von G. M ü l l e r (§ 2), Martha H e e d e r , Omamentale Bauformen in hochmal. dtspraihiger Lyrik. Diss. Tübingen 1966 und die kritischen Stellungnahmen von Fr. V ο g t , Strophenbindung bei Reinmar von Hagenau. ZfdA. 58 (1921) S. 205-216 und AnzfdA. 40 (1921) S. 119-127; vermittelnd: Joerg S c h a e f e r , Walther v. d. Vogelweide u. Frauenlob (1966;HermaeaN.F. 18). Günther Schweikle Reimbrechung Der Begriff ist nach der Wendung rime samnen unde brechen (Wolfram, Parzival 337,25 f.) gebildet. Reimbrechung (eine Sonderform der Brechung, s. dort) liegt vor, wenn Reimpaare durch einen syntaktischen

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Reimbrechung — Reimlexikon

Einschnitt getrennt werden, wobei sich der erste Vers syntaktisch an vorhergehende Verse anschließen, der zweite zu den folgenden gehören kann: Ich sage tu durch waz er kam I mit siner vriundin. / ez hete der herzöge lmäin / hödizit da vor zwei jär (Erec v. 181 ff.). Die Erscheinung, daß die Reimpaareinheit durch Sinn und Syntax 'gebrochen' wird, ist alt; sie findet sich schon in ahd. Dichtung (ζ. B. im Ludwigslied, v. 2, 3) oder in frühmhd. (etwa in der Summa theologiae, v. 23, 24). Es zeichnet sich aber im großen ganzen doch eine Entwicklung im Gebrauch ab: während in älterer Dichtung Reimpaar- und Kolongrenzen häufiger zusammenfallen, wird die Reimpaareinheit mit zunehmender stilistischer Gewandtheit mehr und mehr überspielt, auffällig schon im Alexander des Pfaffen Lamprecht. Bei Konrad von Würzburg ist die Reimbrechung zum Prinzip erhoben. Inwieweit bei der stärkeren Verbreitung der R. franz. Einfluß entscheidend war, ist angesichts der im Frühmhd. zu beobachtenden Entwicklungstendenz schwer zu entscheiden. Die R. (Reimpaarsprung [Heusler]) entspricht etwa dem Hakenstil (Bogenstil [Heusler]) in Stabreimdichtungen (ζ. B. Hildebrandslied, Heliand; vgl. auch Enjambement). Eine besondere Ausprägung der R. ist die Aufteilung eines Reimpaares auf zwei Sprecher; schon bei den ältesten Vertretern der mal. geistlichen Spiele (entsprechend den lat. Vorbildern) zu beobachten: ζ. B. im Osterspiel von Muri (13. Jh.): Pilatus: hvtent so ir mvgint baz. Custos: daz tvn ιvir, herre, wissint daz (I, 13). Ähnliches begegnet in den Fastnachtsspielen und im gereimten Drama der Neuzeit immer wieder, ζ. B. Wallensteins Lager (v. 33 f., bei Dreireim: v. 784 ff.); Goethe, Faust (v. 1874 f., bei Dreireim v. 2245 ff.). Eine erweiterte Form ist der S t i c h r e i m (Wechselgespräch versweise auf die Personen verteilt; Stichomythie): In Ansätzen schon im Osterspiel von Muri (III, 45), ζ. B. auch im Iwein Hartmanns von Aue (v. 483 ff.), in lebhaften Dialogszenen im Drama der Reformationszeit, im Barock (ζ. B. Gryphius, Katharina von Georgien, I v. 138 ff.) und späterhin (Wallensteins Lager, v. 397ff.). Bei verschränkten Reimstellungen lag die syntaktische Trennung der durch den Reim

gebundenen Verse von Anfang an näher als bei Reimpaaren, vgl. in mhd. Lyrik: Burggraf von Rietenburg (MF 18, 1), Friedrich von Hausen (MF 49, 37); Verse mit Kreuzreim, auf mehrere Sprecher verteilt ζ. B. in Wallensteins Lager (v. 663 ff.), Faust (v. 2295 f.), Verse mit umschließendem Reim: Wallensteins Lager (v. 696 ff.), Faust (v. 810 ff.). Max Hermann Rachel, R. u. Dreireim im Drama d. Hans Sachs. Progr. Freiberg 1870.

Karl Stahl, Die R. bei Hartmann von Aue. Diss. Rostock 1888. M. Herrmann, Stidireim u. Dreireim bei Hans Sachs u.

anderen

Dramatikern d. IS. u. 16. Jh.s. Hans-SadisForsdiungen (1894) S. 407-471. J. Minor,

Stichreim und Dreireim bei Hans Sachs. I Euph.

3 (1896) S. 692-705, II Euph. 4 (1897) S. 210251. O. G l ö d e , Die R. in Gottfrieds v. Strassburg 'Tristan' u. d. Werken s. hervorra-

gendsten Schüler. GermaniaPf. 33 (1888) S. 357370. Joris Vorstius, Die R. im frühmhd. 'Alexanderliede'. Diss. Marburg 1917. Weitere Literatur siehe Art. Brechung. Günther Reimlexikon

Schweikle

Es gibt zwei Arten von R.lexika: 1) als Hilfe bei der R.findung, 2) als Mittel der Philologie zur Klärung form-, literatur- und sprachgeschichtlicher Fragen. 1. Die ältesten R.wörterbücher stammen aus der ital. Renaissance. Pellegrino Moreto verfaßte ein R.verzeichnis zu Dante und Petrarca (Rimario de tutte le cadentie di Dante e Petrarca, 1528), das nur beispielhafte R.bindungen enthielt. Umfassender wurde das rimario (1535) von Benedetto di Falco, der außerdem Boccaccio, Ariosto, Pulci u. a. berücksichtigt. Dieses R.Wörterbuch bringt, geordnet nach den auslautenden Vokalen und der Zahl der Silben der R.wörter, auch umgangssprachliche Reime. 1556 erschien ein R.lexikon von Onofrio Bononzio, das sich ebenso wie das allgemeine R.lexikon von Girolamo Ruscelli (1559) nicht auf das Μ aterial einzelner Werke beschränkte. Letzteres wurde zu einer Art poetologischen Grundbuches. Als ältester dt. R.lexikograph ist Erasmus Alberus (1500-1553) bekannt. Seine R.sammlung (Novum dictionarii genus, in quo ultimis seu terminalibus germanicarum vocum syllabis observatis latina vocabula sese offerunt, 1540) diente gleichzeitig als dt.-lat. Lexikon. Das erste franz. R.lexikon datiert erst vom Jahre 1572 (Jean le Fevre, Dictionnaire des rtjmes frangoises).

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Reimlexikon

In einer Zeit, in der das Dichten als lembar galt, wie im 17. Jh., mußte ein Hilfsmittel wie ein R.lexikon besonders willkommen sein: Philipp von Zesen gibt in einem Anhang zu seinem Hochdeutschen Helikon (1640 ff.) einen Anzeiger der dt. gleichlautenden und in einem Wortgliede übereinstimmenden männlichen Reimwörter, der in zwei Wortgliedern übereinstimmendenweiblidien Reimwörter und der in drei Wortgliedern übereinstimmenden rollenden Reimwörter, geordnet nach den auslautenden Konsonanten. Erst die Untergliederung richtet slih nach den Vokalen. 1642 folgte ein R.lexikon von Joh. Peter Titz (in: Zwei Bücher von der Kunst hochdeutsche Verse und Lieder zu machen). Auch Gotth. Werners Deutscher Daedalus (1675) bringt einen R.weiser. Eine selbständige R.sammlung ist Martin Grünwalds Reidier und ordentlicher Vorrath der männlichen und weiblichen Reime (1693). Bis zum Ende des 18. Jh.s wirkte Johann Hübner mit seinem mehrfach aufgelegten Poetischen Handbuch (1696), dessen vollständiges Reimregister nach den reimenden Vokalen und den auf sie folgenden Konsonanten geordnet ist. Schon J. Chr. Günther erhob diese Anleitung zur Deutschen Poesie scherzhaft zur dichterischen Instanz (Nach erhaltener Doktorwürde, 1718), und noch G. A. Bürger wurde durch sie zu seinem Hübnerus redivivus (Das ist: Kurze Theorie der Reimkunst für Dilettanten, 1791) provoziert. 1826 veröffentlichte Peregrinus Syntax ( = F. F. Hempel) ein zweibändiges, 300 000 R.e umfassendes Allgemeines dt. R.lexikon, das auch Fremdwörter, Mundartreime und einen Katalog schwer reimbarer Wörter enthält. Uber die Geschichte der R.lexika handelt das Vorwort von F. A. Ebert. Bis in die neueste Zeit erschienen immer wieder R.wörterbücher, so von W. Steputat (1891, 2. Aufl. 1963), Poeücus ( = F. J. Pesendorfer, Wie werde ich ein Dichter? 1921), H. Harbeck (Reim dich oder ich freß dich, 1953 und Gut gereimt ist halb gewonnen, 1956), S. A. Bondy (1954), E. Gardemin (2. Aufl. 1957), K. Peltzer (1966). 2. Schon Jakob Grimm verwies in seiner Rezension von Goldmanns Ausgabe des Annoliedes (Kl. Sehr. VI, S. 203 ff.) auf die Bedeutung des Reims für die Bestimmung der Sprache mhd. Dichter (vgl. Reim § 3.6). Lach-

mann zählte die Erstellung eines Reimregisters zu den notwendigen Vorarbeiten einer Edition altdt. Dichtungen (Kl. Schriften I, S. 279). Das erste gedruckte 'Reimregister' zu einem mhd. Werk (Vridankes Bescheidenheit, hg. v. Wilh. Grimm, 1834, S. 395-436) hatte (nach der Vorrede S. XXIV) noch vornehmlich den Zweck, das Auffinden bestimmter Stellen zu erleichtern. Nach dem manchmal irrtümlich als ältestes mhd. Reimwörterbuch genannten Reimbuch zu Otte's Eraclius in der EracZius-Ausgabe von H. F. Maßmann (1842, S. 112-133) sind zu einer wachsenden Zahl mhd. Werke gesonderte Reimwörterbücher von wechselnder Brauchbarkeit hergestellt worden. Der Forderung Zwierzinas, ein Reimwörterbuch müsse „die Verse ganz ausgeschrieben" enthalten, damit es ein „Behelf" werde, „das Verhältnis des syntaktischen und lexikalischen Materials zur Metrik und Technik des Verses festzustellen", hat keine dieser Arbeiten zu genügen versucht. Fr. Wilhelm hatte nach dem ersten Weltkrieg angesetzt, die Reime mhd. Dichtungen in breiterem Maße in Dissertationen erfassen zu lassen. Danach wurden besonders in Wien eine Reihe Dissertationen über den Reimbestand mal. Werke angefertigt. — Zu Dichtungen der neueren Zeit gibt es kaum Reimlexika; Eduard Bellings Reimverzeichnisse zu Lessings und Schillers Werken blieben vereinzelt. Fr. A. E b e r t , Allgemeines Vorwort über R.lexika. In: Allgemeines dt. R.lexikon von Peregrinus Syntax. 2 Bde (1826). Κ. Ζwierzin a, Über Reimwörterbücher zu d. höfischen Epikern. Verband, d. 44. Vers, der Philol. in Dresden (1897) S. 124-126. Franz Jandebeur, Reimwörterbücher u. Relmwortverzeidmisse z. ersten Büchlein, Erec, Gregorius, Armen Heinrich, den Liedern von Hartmann von Aue und dem sog. zweiten Büchlein. Mit e. Vorw. über d. Entw. d. dt. R.lexlkographle (1926; Münch. Texte, Erg.r. 5). S. Mehring, Dt» R.lexikon. LE. 11 (1908) Sp. 389396. Carl Wesle, Rez. der in den Münchener Texten erschienenen Reimwörterbücher. Zfd Ph. 54 (1929) S. 454-457. R.Wörterbücher gibt es zu: Otfried (Theodor I n g e n b l e e k , 1880; QF. 37). — Vorauer u. Straßburger Alexander (R. A. Wis bey, A complete Concordance [1968] S. 443538). Heinrich von Melk (G. Hampel, Masch. Diss. Wien 1950). Summa Theologiae (Louise L i e b e r t h , Masch. Diss. Wien 1949). Vom Rechte und Die Hochzeit (Helene Robl, Masch. Diss. Wien 1949). — Berthold von Holle (Franz Schuster, Masch. Diss. Wien 1931). Biterolf und Dietleib (Wilfried Kre-

Reimlexikon — Reimprosa m e r , Masch. Diss. Wien 1932). Dietrichs Flucht und Rabenschlacht (Roland K r u g , Masch. Diss. Wien 1938). Dietrich von Glezze, Der Borte (Maria H e b e n s t r e i t , Masch. Diss. Wien 1955). Friedrich von Hausen (Sonia Orieta H e i n r i c h , Masch. Diss. Heidelberg 1957). Freidank (Wilh. G r i m m , 1834; Η. E. B e z z e n b e r g e r , 1872). Gottfried von Straßburg, Tristan (Emil S c h l a g e t e r , 1926; Münch. Texte, Erg.r. 6). Hartmann von Aue, Lieder (G. W e b e r , Masch. Diss. Heidelberg 1954). Hartmann von Aue, Der arme Heinrian (GuidoC.L.Riemer, 1912; Hesperia3).Hartmann von Aue, lwein (Emma B ü r c k , 1922; Münch. Texte, Erg.r. 2,1). Hartmann von Aue, 1. u. 2. Büchlein, Erec, Gregorius, Armer Heinrich, Lieder (Franz J a n d e b e u r , 1926; Münch. Texte, Erg.r. 5). Heinrich von Neustadt, Apollonias von Tyrland, V. 1-4125 (Helga A n d o r f e r , Masch. Diss. Wien 1952); V. 41268386 (Helene P a u l , Masch. Diss. Wien 1953); V.8387-13510 (Johanna R a u c h , Masch. Diss. Wien 1952); V. 13513-17028 (Elfriede S o n n t a g , Masch. Diss. Wien 1952); V. 1702920644 (Hildegard G a m s j ä g e r , Masdi. Diss. Wien 1952); Heinrich von Neustadt, Gottes Zukunft (Edith B a u e r , geb. L e n z B ü l o w , Masch. Diss. Wien 1959). Heinrich von dem Türlin, Diu Kröne (Elf riede Ρ f ο s e r, Diss. Wien 1929). Hugo von Trimberg, Der Renner (Franz D i e l , 1926; Münch. Texte, Erg.r. 7). Der Hürnen Seyfried (Trude K u n z , Masch. Diss. Wien 1952). Jansen Enikel, Fürstenbuch (Trude S t i e g l e r , Masch. Diss. Wien 1951). Konrad von Fussesbrunnen, Kindheit Jesu (Emil ö h m a n n , 1929; Annales universitatis Aboensis B, 8). Konrad von Wüizburg, Alexius, Der Welt Lohn, Herzmaere (Gertrud K ü r m a y r , Masch. Diss. Wien 1947). Konrad von Würzburg, Engelhard (Rudolf R a a b , Masch. Diss. Wien 1952). Konrad von Würzburg, Partonopier und Meliur V. 1-10050 (Otto K u n z , Masch. Diss. Wien 1952). V. 10051-21784 (Alexander H o f b ö c k , Masdi. Diss. Wien 1954). Nibelungenlied (Paul P r e s s e l , 1853; Leo S ä u l e , 1925; Münch. Texte, Erg.r. 3). Otte, Eraclius (H. F. M a ß m a n n , 1842). Peter von Staufenberg (Gertrud K ü r m a y r , Masdi. Diss. Wien 1947). Der Pleier, Garel von dem blühenden Tal (Leonhard K u p s a , Masch. Diss. Wien 1930). Der Pleier, Meieranz (Franz K u r z m a n n , Masch. Diss. Wien 1930). Der Pleier, Tandareis und Flordibel (Richard R o t h l e i t n e r , Masch. Diss. Wien 1932). Reinbot von Düme, Georg (Elfriede T i e t z , Masdi. Diss. Wien 1952). Reinfried von Braunschweig (Elsa Mathilde S k r a b a l , Masch. Diss. München 1937). Rittertreue (Helmut A u m a y r , Masch. Diss. Wien 1952). König Rother (Gotthard B e r n d t , Diss. Greifswald 1912). Rudolf von Ems, Der gute Gerhard (J. D a n g l , Masch. Diss. Wien 1949). Rudolf von Ems, Alexander (Klaudius N i t z l a d e r , Masch. Diss. Wien 1932). Rudolf von Ems, Willehalm (Humbert D e l l ' Μ o u r , Masch. Diss. Wien 1928). Rudolf von Ems, Weltchronik (Otto W e g n e r ,

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Diss. Greifswald 1914). Der Stricker, Daniel von dem blühenden Tal und Der Pfaffe Amis (K. W a e l z e l , 1926; Münch. Texte Erg.r. 8). Ulrich von Eschenbach (Friedrich R e p p , 1940; Prager dt. Studien 48). Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet (Cleophas B e y w l , 1909; Prager dt. Studien 15). Virginal (Hedwig G l a n z , Masch. Diss. Wien 1953). Waither von der Vogelweide (C.Aug. H o r n i g , 1844). Wemher der Gartenaere, Meier Helmbrecht (Marianne W a l l n s t o r f e r , Masch. Diss. Wien 1947). Wolfram von Esdienbadi (San Marte [Dr. A. Schulz], 1867; Karl Thalmann, 1925; Münch. Texte, Erg.r. 4). Eduard B e l l i n g , Die Metrik Schillers (1883). Ders., Die Metrik Lessings (1887; Germ. Bibl. II, 1). Günther Schwetkle Reimprosa Die R.prosa, eine rhetorisch ausgeschmückte Prosa, deren Satzklauseln reimen, war in der spätantiken Lit. beliebt. Auf diese Form führten Norden, Saran u. a. den ahd. Reim zurück (s. Reim § 2.1). Ungeachtet der Berechtigung einer soldien Herleitung: als besondere Gattung hat die antike R.prosa in der frühdt. Literatur keine unmittelbare Nachfolge gefunden. Weder der Schluß des Prosateiles des ahd. Wessobrunner Gebetes läßt sich in diese Tradition stellen noch die Bamberger Beichte (MSD XCI) oder das frühmhd. Anegenge oder das Frauengebet der Vorauer Hs. (12. Jh.), das Roediger als „sicheres Beispiel" wirklicher dt. R.prosa bezeichnete. Diejenigen f r ü h m h d . Werke, die man mit Wackernagel als R.prosa angesehen hat, verdanken ihre Nähe zu dieser Stilform wohl eher einer noch weniger ausgebildeten Formbewußtheit als dem Anschluß an antike Vorbilder. Auch späterhin entstehen reimprosaähnliche Gebilde ebenfalls mehr als Ergebnis einer metrischen Freizügigkeit denn als F o r m sui generis. Gerade in volkstümlicher Dichtung, imVolkssdiauspiel, im geistlichen Spiel, ist bis in die neueste Zeit die Grenze zwischen dem R.vers (Knittelvers) und gereimter Prosa hin und wieder unscharf. In diese Grenzzone gehören a u d i Werke wie die spätmal. mystische Rede von den 15 Graden (14. Jh.; vielleicht vom selben Verfasser wie Die Lilie, s. u.) und einzelne Passagen in den Satiren Johann Fischarts (1546-1590). R.prosa eigener Prägung erscheint dagegen gelegentlich in den mystischen Visionen der Mechthild von Magdeburg an Stellen hymnischer Steigerungen der Prosa (neben

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Reimprosa —

anderen Formen, die dort gleichsam in statu nascendi beobachtet werden können) und vor allem im Werk des Mystikers Heinrich Seuse (1295-1366), dann in der mystischen Allegorie Die Lilie (einer freien Paraphrase der Vitis Mystica [MPL 184]; die Datierung des mhd. Textes schwankt zwischen 12. und 14. Jh.) und verwandten Werken spätmal. Erbauungsliteratur (auch Predigten und Gebeten), wozu sich die Übersetzungen des weitverbreiteten, in lat. R.prosa verfaßten Speculum humanae salvationis (Der spigel der menschen selikeit) oder der Mahrenberger Psalter (15. Jh.) stellen. Auch in die Predigten Abrahams a Sancta Clara (1644-1709) sind Reime eingestreut. Neuere R.prosa findet sich etwa in Friedrich Rückerts Makamen, in Rilkes Cornet, in Thomas Manns Roman Der Erwählte. Aus den Tendenzen, die traditionellen metrischen Strukturen zu relativieren, erwuchsen in jüngerer Zeit Gedichte, die stellenweise wie R.prosa wirken: „gereimte freie Rhythmen" (Heusler), ζ. B. bei Joachim Ringelnatz (Reisebriefe eines Artisten, 1927) oder Franz Werfel (Das interurbane Gespräch,). Wenn Emst Stadler über Max Dauthendey schreibt: „Seine Langzeilen nähern sich einer rhythmisierten Prosa, zusammengehalten und abgeteilt nur durch die lodcere und freischaltende Bindung der Reime", so gilt dies auch für seine eigenen Langvers-Gedichte und verwandte Werke. Ed. Norden, Die antike Kunstprosa. 2Bde (1898). Karl Polheim, Die lat. Reimprosa (1925). Andreas H e u s l e r , Dt. Versgeschickte II, III (1927-1929) §§ 522,1176, 1215, 1217. W. S t a m m l e r , Mal. Prosa in dt. Sprache. Stammler Aufr. II (2. Aufl. 1960) Sp. 749-1102, vgl. Sp. 836, 936, 1018 f.; eine Zusammenfassung über mittelalterl. dt. R.prosa fehlt, vgl. Sp. 1077. — Wilh. W a c k e r nagel, Geschichte der dt. Litteratur. Bd. 1 (2. Aufl. 1879) S. 107f. M. R o e d i g e r , Dt. Reimprosa. ZfdA. 30 (1886) S. 84 f. P. Poppe, Über das Speculum humanae salvationis und eine mitteldt. Bearbeitung desselben. Diss. Berlin 1887. Ed. Sie vers, Dt. Sagversdichtung des 9. bis 11. Jh.s (1924) Ph. S t r a u c h , Bruchstück einer gereimten mitteldt. Bearbeitung des Speculum humanae salvationis. PBB. 48 (1924) S. 93-104. Helm, de Boor, Frühmhd. Studien (1926). J. B. S choemann, Die Rede von den 15 Graden (1930; GermSt. 80). W. Mohr, Darbietungsformen der Mystik bei Mechthild von Magdeburg. Märchen, Mythos, Dichtung. Festschr. z. 90. Geb. F. v. d. Leyens (1963) S. 375-399. — Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, hg. v. Karl Bihlmeyer (1907).

limvers, Altdt. Die Lilie, eine mittelfränk. Dichtung in Reimprosa, und andere geistl. Gedichte, aus der Wiesbadener Handschrift, hg. v. P. Wüst. DTMA. 15 (1909); Rez. von K. Polheim, AnzfdA.35 (1912) S. 45 Al. Speculum humanae salvationis, hg. v. E. Kloss (1925). — Max D a u t h e n d e y , Die geflügelte Erde; Rez. v. Emst S t a d l e r , Cahiers Alsaciens 1 (1912) Nr. 3, S. 146-147. Günther Schweikle

Reimvers, Altdt. S 1. H e r k u n f t und E n t w i c k l u n g : Unter dem Begriff a l t d t . R.vers wird der vierhebige oder viertaktige Vers mit Endreim verstanden, welcher das Grundmaß der ahd. Reimdichtimg und der mhd. Reimpaarepik ist, der auch in der mhd. strophischen Epik überwiegt, die Anfänge der mhd. Lyrik, das Volkslied und das geistliche und weltliche mal. Spiel beherrscht (s. a. Dt. Versmaße).

Der ahd. R.vers wurde als historisches Phänomen und als Forschungsproblemimmer vor dem Hintergrund des germ. Stabreimverses (s. d.) gesehen. Die ahd. Stabreimverse werden einhellig mit den ae., as., anord. Stabreimversen von einem germ. Urvers hergeleitet. Die Herkunft des ahd. R.verses dagegen ist umstritten. Einig ist man sich meist nur in seiner formgeschichtlichen Einordnung: Er wird gewöhnlich für jünger gehalten als der germ. Stabreimvers, den er im Rahmen der geistesgeschichtlichen Entwicklungen der Karolingerzeit abgelöst habe. Er wird bisweilen geradezu als ein Produkt christl. Gesinnung dem Stabreimvers als dem Ausdruck eines germ. Heldentums konfrontiert. Die Diskussion wird dabei weitgehend von der Vorstellung beherrscht, daß der alleinige germ. Verstypus der Stabreimvers gewesen sei. Die Theorien zur Herleitung des altdt. R.verses hängen mit der jeweiligen Einstellung zur Frage der Herkunft des Versbandes (des Reimes) zusammen und mit der Interpretation der ahd. R.verse, mit der Beurteilung ihrer Beziehungen zum gewichtigsten Vertreter des ahd. R.verses, dem Otfriedvers, und überdies mit der Auffassung von germ. Verskunst. An heimische Wurzeln des Grundverses der dt. Dichtüngsgeschichte wollte niemand so recht glauben. Auch wenn für den ahd. R.vers vorahd. Vorgänger postuliert wurden, so wurde doch zumindest angenommen, die prägenden Einflüsse seien von 'außen* ge-

Reimvers, Altdt.

kommen. S a r a n und L u i c k hatten neben dem epischen Spredivers einen altgerm. viertaktigen Gesangsvers vermutet, der in Liedern tradiert worden sei: unter rom. Einfluß zum R.vers ausgebildet, sei dieser dann zum Vers Otfrieds geworden. V e r r i e r hatte als Vorläufer des ahd. R.verses einen „sangbaren, volkstümlichen Reimvers" einer verlorenen Spielmannsdichtung erwogen, der „nichts anderes" gewesen sein könne als „eine deutsche Anpassung des galloromanischen Sechzehnsilblers." Neben den Hypothesen, die mit literarisch nicht mehr faßbaren Vorgängern operieren, stehen diejenigen, welche sich auf lat. Dichtungsformen beziehen, nur scheinbar auf gesicherterem Boden. Schon Jacob G r i m m und U h l a n d brachten den ahd. R.vers mit den lat. leoninischen Hexametern in Verbindung. Diese Beziehung wird auch neuerdings noch vertreten von Hörmann, Maurer, Rupp, Jammers, mit anfechtbarer Berufung auf die im Kap. I, 1, 49 in Otfrieds Evangelienbuch genannten sehs ziti (vgl. dazu P. v. Polenz und grundsätzlich Fr. Neumann). Breiterer Anerkennung erfreut sich die von W a c k e r n a g e l hergestellte Beziehung zwischen dem Otfriedvers und dem lat. Hymnenvers, der seinerseits nach Wackernagel aus rom. Volksdichtung stamme. Die kaum übersehbaren Unterschiede zwischen dem lat. und dem dt. Vers wurden auf verschiedene Weise erklärt. Für Wackernagel waren sie die notwendige Folge der Einpassung des lat. Versschemas in die dt. Sprache. S i e vers definierte den ahd. Vers als „das resultat eines compromisses zwischen dem fünftypensystem der alliterationszeile und neuen, durch den kirchengesang eingeführten viertaktigen melodien." Ähnliche Formulierungen finden sich auch in späteren Darstellungen, so bei Η e u s 1 e r: der „neue Vers" sei „eine Vermittlung zwischen dem lateinischen und dem altgermanischen", oder bei de B o o r : „der deutsche Vers" habe seine „lateinische Grundlage nicht mechanisch übernommen; er hat sie der deutschen Sprache eingeformt." Audi H i r t , der behauptete, Otfried habe den lat. vierhebigen Hymnenvers „mit Bewußtsein" nachgebildet, räumt ein, Otfried bewege sich dabei aber „ganz auf dem Boden der Allitterationspoesie, deren wichtigste Eigenthümlichkeiten er herübernahm."

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Wie auch im einzelnen die Verse interpretiert wurden, seit L a c h m a n n hielt man Stabreimvers und Endreimvers zumindest durch die Viertaktigkeit verbunden. „Wie die alte Weise der Allitteration im Styl Otfrieds Spuren zurückgelassen" habe, so regiere „ihr inneres Gesetz audi noch seinen Versbau", meinte Lachmann. P r e t z e l sieht dagegen in Ubereinstimmung mit W. H. Vogt eine tiefe Kluft zwischen dem Rhythmus des germ. Heldenliedes (Zwei-Ikten-Prinzip) und der Viertaktmetrik der Evangeliendichtung Otfrieds. Auch gegenüber dem lat. Hymnenvers grenzt er den altdt. R.vers stärker ab, als dies früher geschah. Der lat. Hymnenvers könne nur „in Einzelpunkten" Otfrieds Vorbild gewesen sein: „in der Taktmessung an sich, in der Zahl der Hebungen, kaum in der Verbindung der Kurzzeilen." J a m m e r s faßt den Otfriedvers als „eine Verbindung des kirchlichen Rezitativs mit antiken Reminiszenzen, aber vor allem mit Elementen völkischer oder wenigstens im fränkischen Gebiete heimischer Art" auf. Die älteren Herleitungstheorien werden neuerdings insgesamt in Frage gestellt. Sie kranken alle mehr oder weniger daran, daß sie mit idealen Verstypen arbeiten, wobei die Fülle der Zwisdienformen nicht genügend berücksichtigt wird. Die Vorstellung von dem, was ein typisch 'altgerm. Vers' sei, wirkte dabei nicht immer erhellend. Die Folge waren einseitige Thesen, in denen oft Sekundäres zur Hauptsache erhoben wurde, wie bei der Herleitung des ahd. R.verses vom Hymnenvers. Der Hymnenvers hat mit dem ahd. R.vers nur die Vierhebigkeit gemein; ob für beide auch das Prinzip der Viertaktigkeit gilt, ist bereits fraglich, denn der lat. Vers war vor Otfrieds Zeit entweder quantitierend oder silbenzählend. Das Taktprinzip geht kaum auf lat. Traditionen zurück, sondern könnte eher aus den 'Volkssprachen' ins Lat. gelangt sein. Daß der Reim in den Hymnen zudem keine vergleichbare Rolle spielte, wurde ebenfalls nicht immer genügend beachtet. Im altdt. R.vers sind nodi lange mancherlei Freiheiten erlaubt. Während die Hymnenverse durchweg jambisch oder trochäisch sind, ist die Auftaktgestaltung im ahd. R.vers frei: steigende und fallende Verse wechseln unregelmäßig. Der Hymnenvers zeigt entweder Alternation oder eine bestimmte

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Reimvers, Altdt.

Silbenzahl, im ahd. Vers gibt es häufig Senkungsausfall (einsilbige Takte, ja sogar senkungslose Verse [ftngär thinän Otfried 1,2, 3]), Taktüberfüllung (mehrsilbige Takte). Die Versfüllung kann zwischen 4 und 10 Silben schwanken. Zudem kennt der lat. Vers nicht die für den altdt. Vers typische klingende Kadenz. Demgegenüber wiegt das Fehlen des weiblich vollen Schlusses (neben wenigen Ausnahmen), angeblich nach lat. Vorbild, geringer, zumal diese Kadenzart audi im Mhd. selten bleibt (s. u.). Allen diesen den Verscharakter prägenden Unterschieden steht als alleinige Gemeinsamkeit dieselbe Hebungszahl gegenüber, ein Vergleichsmoment, das bei der Verbreitung der Vierhebigkeit gerade in volkstümlicher Dichtung nicht ausschlaggebend sein kann. Der ahd. R.vers scheint doch wohl auf breiteren und volkstümlichen Grundlagen zu ruhen, als dies in den Hymnen- oder Hexametertheorien zum Ausdrude kommt (vgl. Dt. Versmaße § 4). Wenn Otfried seinen Vers aus volkstümlidien Quellen übernommen hat, können die strenger gebauten lat. Hymnenverse bestenfalls regulierend auf den Gang des Otfriedverses eingewirkt haben. Die relative Zunahme alternierender Verse in Otfrieds Werk kann aber audi das Ergebnis einer sich festigenden Formbewußtheit sein, die audi aus Otfrieds Darlegungen zur Form (Ad Liutbertum und im Kap. I, 1,1) spricht. Die Frage, inwieweit ahd. R.verse monopodisch oder dipodisch zu akzentuieren seien, wird verschieden beantwortet. Pretzel ζ. Β. interpretiert Otfrieds Vers oder den von Christus und die Samariterin als monopodisdien Viertakter (so auch Heusler), den des Ludwigsliedes dagegen, der zwischen Otfrieds Versauffassung und der altgermanischen stehe, als überwiegend dipodisch. Welchen Einfluß Melodien auf den Verscharakter haben konnten, läßt sich nicht bestimmen. Die überlieferten Melodien verraten nichts über den Rhythmus (s. § 3). Dem ahd. R.vers wird schwerlich gerecht werden, wer ihn auf zu enge Normen und Traditionen festlegt. Ähnlich vielfältig und mehrschichtig wie das Phänomen bei aller ursprünglichen Einfachheit ist, können Wurzeln und Wachstum sein. Inwieweit rom., kelt., lat. Einwirkungen (ζ. B. auch der Kirdiengesang) die ahd. Verse und ihre Vorläufer mitgeformt haben, kann im einzelnen

schon deshalb nicht spezifiziert werden, weil nicht alle denkbaren Quellen erfaßt werden können. Wenn als Vorläufer der historischen Formen des Stabreimverses und des ahd. Endreimverses einmal nicht starre Idealtypen angenommen werden, sondern einfachere, offenere, in der Entwicklung begriffene 'Urformen', dann werden Überlegungen möglich, weldie die Vielfalt der ahd. Versformen nicht immer nur unter dem Blickwinkel eines Zerfalls oder mangelhafter Nachahmung irgendeines Vorbildes erscheinen lassen. Die Verschiedenheit der Verse des Muspilli ζ. B. kann nicht nur das Ergebnis einer Formauflösung sein (so die Vulgatmeinung), es können im Muspilli ebensogut verschiedene Entwicklungsstufen und -möglichkeiten bewahrt sein. Es ist auch die Frage, ob die verschiedenen Versformen einfach in solche eines alten und neuen Typus (wie bisher) aufgeteilt werden können oder ob sie nicht verschiedene, längst vorhandene Möglichkeiten darstellen. Audi eine zu eindeutige Scheidung zwischen germ, (freiem) und rom. (gebundenem) rhythmischen Prinzip könnte zu schematisch sein. Im Muspilli stehen nebeneinander Stabreimverse wie dar ist lip ano tod / lioht ano finstri (14), Endreimverse wie diu marha ist farprunnan / diu sela stet pidungan (61) und Verse ohne Stab- oder Endreim: die pringent sia sar / uf in himilo rihi (v. 13). Gemeinsam ist diesen Zeilen ein freies Versgefühl, das lediglich durch das jeweilige Versband seinen Charakter erhält. Otfried hat dies offenbar empfunden, wenn er dem antiken Versprinzip (metrica subtilitate constricta) als Kennzeichen seines Verses das schema omoeoteleuton gegenüberstellt, das nach der antiken Poetik nur ein stilistisches Schmuckmittel, kein Versprinzip ist. Das jeweilige Versprinzip prägt den Vers mit. Durch den Endreim wird er auf die metrischen Grenzen hin ausgerichtet, durch den Stabreim um die stabtragenden Wörter zentriert. Das Grundgefüge scheint weitgehendvariabel. Gemeinsam sind den beiden im Ahd. auftretenden Verstypen (mit Stabreim oder Endreim) Auftakt- und Füllungsfreiheit und bestimmte Kadenzformen. Die Annäherung beider Verstypen kann soweit gehen, daß Otfried Stabreimverse in sein Werk einbauen konnte (I, 18,9 = Muspilli 14) oder daß in einem Gedicht wie dem.

Reimvers, Altdt.

Psalm 138 beide Verstypen nebeneinander begegnen. Die Diskussion um die Herkunft der ahd. R.verse wurde dadurch belastet, daß man einsinnige monokausale Herleitungen konstruieren wollte. Bei dem Bestreben, jeweils einen bestimmten Quellort auszumachen, wurde sowohl die Möglichkeit einer Polygenese als auch die von Parallelentwiddungen außer acht gelassen; gerade bei Grundformen wie dem Vierheber gehören diese Gesichtspunkte notwendig mit ins Kalkül. Nach dem augenblicklichen Stand der Kenntnis der frühen Formen bleibt im Grund nur die Vermutung, daß der ahd. R.vers und der Stabreimvers auf ein urtümliches rhythmisches Grundmaß zurückgehen, auf einen freien Vers, in dem die Hebungen nur ein ungefähres Zeitmaß markierten und der durch Endreim oder Alliteration oder beides ausgezeichnet war. Mischformen, wie sie im Muspilli oder im Psalm 138 begegnen, könnten eine Vorstellung von älteren, noch nicht genauer regulierten Versformen mit wechselndem Rhythmus und Versschmudc oder Versband geben. Die Annahme strengerer Formen am Anfang einer Entwicklung wird durch die überschaubare Formgeschichte nicht gestützt. Otfrieds Leistung könnte darin bestanden haben, daß er eine der in volkstümlicher Dichtung nebeneinander gebräuchlichen Formen in seinem Werk zum herrschenden Prinzip erhob. Diese Entscheidung mag durch eine im Umgang mit lat. Dichtung gewedcte Formbewußtheit, weniger durch ein bestimmtes lat. Formmuster, beeinflußt worden sein. In frühmhd. Dichtung bleibt zwar die Vierhebigkeit das Grundprinzip, wird aber nicht selten durchbrochen. Es gibt Verse, die sich nur schwer auf die Zahl von vier Hebungen bringen lassen; sie sind ihrer sprachlichen Füllung nach entweder zu kurz oder zu lang (bis zu 16 Silben pro Vers). Die ältere Forschung versuchte, durch Texteingriffe, Auftakt- und Taktüberfüllungen das Viertaktschema zu retten. Neuerdings werden diese Verfahrensweisen zugunsten einer freieren Versinterpretation in Frage gestellt. In der 2. Hälfte des 12. Jh.s strebt der Vers einer stärkeren Regelmäßigkeit zu. Diese Entwicklung kann entelechial verstanden werden; unmittelbare äußere Einflüsse, so

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durch den franz. R.vers, können mitgewirkt haben. Die Entwicklung des altdt. R.verses zum alternierenden Vers ist schon in Otfrieds Werk vorgezeichnet; sie dringt seit der geistesgeschichtlichen Wende der Stauferzeit mit ihrer größeren Wertschätzung formaler Schönheit mehr und mehr vor. Ganz wird diese Regelmäßigkeit auch im mhd. Epos und in der mhd. Lyrik nie durchgeführt. Der einsilbige Takt behält seinen Platz als Ausdrucksmittel. Erste Ansätze zu einem gewissen Gleichmaß des Verses zeigen sich im 12. Jh. im Pilatus, im Graf Rudolf. Als erster Meister eines höheren Ansprüchen genügenden mhd. Verses wird Heinrich von Veldeke d· rch Gottfried von Straßburg und Rudolf von Ems gepriesen. Das Nebeneinander des Gottfried- und Wolframverses kann veranschaulichen, wie die verschiedenen Ausprägungen gewisser Grundschemata im Rahmen eines Epochenstiles aus der jeweiligen Fonnhaltung (Individualstil) entspringen. Der alternierende Versbau erreicht seine strengste Ausführung im Werk Konrads von Würzburg. Der Auftakt wird selbst im Mhd. nodi ziemlich frei gehandhabt. Zu den im Ahd. gebräuchlichen Kadenzen, männlich, klingend (zweisilbig: snello, dreisilbig: redinu, nach Heusler: 'voll' und 'klingend'), treten im Mhd. noch die zweisilbig männliche Kadenz bei Wörtern auf kurze offene Tonsilbe (sagen) und die weibliche Kadenz (nach Heusler: 'weiblich voll'). Heusler setzt weiblichen Versausgang schon in frühmhd. Dichtung an, z . T . seines Viertaktprinzips wegen. Seine Interpretationen sind deshalb mehrdeutig. Auffällig ist die zweisilbig weibliche Kadenz bei Thomasin von Zerclaere, wohl im Anschluß an franz. Vorbilder, bei denen diese Kadenz häufiger ist als im Mhd. Die Abhängigkeit des Versgefühls von der prinzipiellen Formhaltung offenbart sich nochmals im Spätmittelalter. Im R.vers werden parallel zu den sonstigen formgeschichtlichen Tendenzen wieder größere Freiheiten üblich. Im Verlaufe der Neuzeit erfolgte dann eine normative Differenzierung des einen metrischen Grundgefüges. Die freiere Versform erfuhr als Hans-Sachs-Vers oder Knittelvers eine absondernde Klassifizierung vom alternierenden Vierheber, der seit Opitz bewußter am franz. Vorbild orientiert wurde.

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Reimvers, Altdt.

§ 2. G r u p p e n b i l d u n g : Der Endreimvers ist seiner Grundform nach in Zweierformation angelegt: im R.paar. Das R.paar kann aus Kurzversen bestehen (Otfriedvers, ahd., frühmhd. Reimgedichte) oder aber aus Langzeilen, bei denen nur die Abverse reimen (Kürenberg-, NibelungenveTs). Maurer interpretiert die ahd. und frühmhd. R.paarverse als binnengereimte Langzeilen. Der Sinn dieser Klassifizierung ist umstritten (W. Schröder). Unter Langzeile wird gewöhnlich eine Verseinheit verstanden, die eine aus der prinzipiellen Ungleichheit der beiden Teile resultierende strukturelle Spannung aufweist: ζ. B. durch Reimlosigkeit und andere Kadenz im Anvers (Sevelingen) oder ausgeprägter durch verschiedene Länge von An- und Abvers (Kürenberg: 4 + 3). Diese Spannung fehlt den im Prinzip aus zwei parallelen Kurzversen gefügten ahd. und frühmhd. R.paaren ebenso wie den von Maurer von diesen abgetrennten höfischen R.paaren. Gegenüber den grundsätzlichen Strukturunterschieden erscheinen gewisse Gemeinsamkeiten (in der Versbehandlung, im Verhältnis von Vers und Syntax, das zudem verschieden beurteilt wird, und auch in der gleichen graphischen Anordnung der Verse in manchen Handschriften) sekundär. R.paare, kurzzeilig oder langzeilig, können sich zu Strophen zusammenschließen, so bei Otfried durchgehend zwei R.paare oder im frühmhd. Ezzolied (Straßburger Fassung) vier und sechs R.paare. In den kleineren ahd. R.gedichten begegnen neben Abschnitten aus zwei R.paaren auch solche aus dreien. Otfrieds Strophe aus zwei R.paaren könnte wiederum, wie auch sein Vers, das Ergebnis einer strengeren Reglementierung einer heimischen Tradition sein, in der auch die Abschnittsbildung freier war. Einfluß der Hymnendichtung ist hier denkbar. Habermann faßt manche „scheinbaren Strophen" im Frühmhd. als „Kettenhaufen" auf. Das vierhebige R.paar bleibt die beherrschende Form im mhd. Epos. Es wird manchmal, vor allem zur Abschnittsgliederung, zur Dreireimgruppe erweitert. In den strophischen Epen (Nibelungenlied, Kudrun) sind reimende Langzeilen verwendet, ebenso wie in der Titurelstrophe Wolframs, deren Weiterbildung im Jüngeren Titurel mit Inreim versehen ist (siehe Strophe).

In den Anfängen der mhd. Lyrik stehen neben kurzzeiligen R.paarstrophen (vgl. MF 3 , 1 ff.) langzeilige (Kürenberg, Dietmar) und Kombinationen beider Verstypen (Sevelingen, Dietmar). Aus langzeiligen R.paaren mit Mittenreim (Ansätze schon MF 12,14; 13,27) entwickeln sich kreuzreimende Kurzversperioden (Kaiser Heinrich, Hausen), vielleicht angeregt durch franz. Vorbilder; sie werden in der Stollenstrophe zur Grundform des Aufgesangs. Bei der Ausbildung der lyrischen Strophe ist das vierhebige R.paar meist nur noch ein Baustein unter anderen" Versen, die in der Zahl der Hebungen wie in der Stellung der Reime mannigfach variieren. Grundsätzlich bestand anfangs die Tendenz, das R.paar (die Kette) auch als syntaktischen Rahmen zu respektieren, jedoch zeigen sich hier schon früh Abweichungen: mehrere Reimpaare werden zu einer sprachlichen Einheit zusammengefaßt, wobei einzelne Reimpaare syntaktisch gespalten werden können (Reimbrechung s. d., Reimpaarsprung; vgl. auch Brechung). Der Sinn kann auch Strophengrenzen überspringen (Strophensprung), ζ. B. bei Otfried (I, 1, 123 ff.) oder im Nibelungenlied (ed. Lachmann, Str. 31,32). §3. V o r t r a g : Die Frage, ob der R.vers genetisch mit musikalischem Vortrag verbunden war (wie Saran, Luick, Verrier annehmen), läßt sich nicht generell beantworten. Sicherlich gesungen wurden die ahd. und mhd. Lieder: Zum Petruslied, zur lat. Übersetzung von Ratperts Lobgesang sind Neumen überliefert. In der Eingangsstrophe von Ezzos Gesang (11. Jh.) ist zum ersten Mal der Komponist eines deutschen Liedes (Wille) genannt. Auch die mhd. Lyrik lebte im gesungenen Vortrag, ehe sie Ende des 13. Jh.s teilweise zur Leselyrik wurde: In den großen Liederhandschriften (ABCE) sind keine Melodien aufgezeichnet: eine Folge einer von der Melodie gelösten Literarisierung der Gedichte. Wie mal. Epen vorgetragen wurden, ist strittig, schon bei Otfrieds Evangelienbuch. Die ältere Meinung, daß Otfrieds Werk nicht sanglich vorgetragen worden sei, stützte sich darauf, daß Neumen nur in der Heidelberger Hs. (P), nicht in der Otfried näher stehenden Wiener Hs. (V) vorkommen und zudem nur zwei Verse (1,5,3) neumiert sind.

Reimvers, Altdt. Diesen Tatbestand hat ζ. B. Saran so gedeutet, daß es sich bei der Neumierung um eine nicht authentische spätere Zutat handle. Weiterhin faßte man den von Otfried auf sein Werk bezogenen Begriff lectio wörtlich als 'Lesung' auf. Hier setzt neuerdings Jammers mit seiner Kritik an: die „Lektio" sei „seit jeher gesungen" worden. Dies legt er mit Berufung auf antike Vortragstraditionen dar. Jammers deutet auch die Akzentuierung in der Wiener Hs. „tonal". Nadi Heusler meinen die „Striche... Nachdruck, nicht Stimmhöhe" (§ 469), für Jammers sind sie Hilfen für die gesangsmäßige Rezitation des Werkes. In den differierenden Vortragsangaben der Heidelberger und Wiener Hs. erblickt Jammers die Notation zweier verschiedener Stilarten: Die Heidelberger Hs. bringe so etwas wie einen tonus solemnis (vergleichbar der oratio ornata), die Wiener Hs. einen tonus ferialis (entsprechend der oratio simplex). Für den Vortrag sei jeweils ein „Modell" benutzt worden, das „immerfort wiederholt" wurde. Das Modell könne ein „zweigeteilter Einzelvers" oder ein Verspaar oder eine Strophe gewesen sein. Vorbilder sieht Jammers im Rezitativ der Kirche, im Hexameter des antiken Epos, im Distichon, aber auch in volkstümlichen Traditionen. Entgegen der Meinung Heuslers, welche die ältere Forschung repräsentiert, das mhd. Epos sei Sprechdichtung gewesen, vermutet Jammers (wie Gennruh, Bertau und Stephan) nicht nur bei den strophischen Epen wie dem Nibelungenlied, dessen Strophe der Liedstrophe des Kürenbergers entspricht, eine „feierliche, gesungene, formelhafte Rezitation" als Vortragsform. Die Melodiezeugnisse sprechen allerdings dafür, daß zwischen den Reimpaarepen und zwischen den strophischen Epen ein Unterschied in der Vortragsart bestanden haben könnte: Melodien sind von Otfried bis zum Jüngeren Titurel nur zu strophischen Epen erhalten. In einer Hs. des Jüngeren Titurel (Wiener Pergamenths. 2675, Anf. 14. Jh.) sind Neumen eingetragen. In diesem Ton dichtete der Schweizer Minnesänger Otto zum Turne (gest. 1339) zwei Lieder zur selben Zeit, in der die Wiener Titurelhs. entstanden ist. Auch Hadamar von Laber verwendet die Titurelstrophe für seine Allegorie Die Jagd. Meistersingerbezeichnungen wie des Labers oder Laubers tön neben im Titurels done ba-

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sieren auf dieser Gemeinsamkeit und dokumentieren grundsätzlich die Möglichkeit sanglichen Vortrags für beide Werke. Ob diese Melodie, wie Bertau und Stephan annehmen, auf Wolfram zurückgehe, kann letztlich nicht geklärt werden. Der Jüngere Titurel verrät aber, daß der rezitative Vortrag nicht die einzige Form der Darbietung eines solchen Werkes war. In Strophe 6031 wünscht der Dichter: daz iz ir aller herzen tugnde bringe,/diez lesen oder hoerenjund der iz sag odr in dem done singe. In Michael Behaims strophischer Reimchronik Buch von den Wienern (15. Jh.) steht als Vortragsanweisung des Verfassers: das man es lesen mag als ainen spruch, oder singen als ain liet. Im Salman und Morolf wird in nachträglichen Ergänzungen ein Vorleser erwähnt (nach 451,768, in 521 und 616). In Reimpaarepen finden sich keine vergleichbar klaren Hinweise auf einen Gesangsvortrag. Wenn es im Armen Heinrich Hartmanns von Aue heißt si haere sagen oder lese (v. 23), so liegt hier die Deutung auf Sprechvortrag nahe, ebenso im Renner Hugos vonTrimberg (lesen oder hceren lesen, v, 19). Wenn in späten Hss. des Orendel oder des Laurin (A) ursprüngliches singen und singsere in sprechen und Sprecher geändert werden, kann dies auch nur eine Auflösung eines metaphorischen Ausdrucks sein; in nachträglichen Ergänzungen taucht auch im Laurin (nach A 1202) ein Vorleser auf. Im Heiligen Georg Reinbots von Düme (13. Jh.) sind, wie schon Lachmann bemerkte, buoch und sagen und liet und singen einander zugeordnet: in buochen noch in lieden / wirt geseit noch gesungen (v. 356 f.). Für eine Klärung der Frage kann ein Blick auf die franz. Dichtung insofern weiterhelfen, als auch zu franz. Reimpaarepen keine eindeutigen Rezitationsformeln belegt sind (vgl. Chrestien, Yvain 5362 ff., wo ein Mädchen ihren Eltern einen Roman vorliest). Melodien sind nur zu der Laissenstrophe der chansons de geste (nach Gennrich zum Litaneitypus gehörig) überliefert. 1. hat. Gedichte des 10. u. 11. Jh.s. Hg. v. Jac. Grimm u. Joh. Andreas Schmeller (1838). Ludwig Uhland, Sdxrtften zur Geschichte d. Dichtung u. Sage. Hg. v. A. v. Keller, Bd. 1 (1865). Wilh. W a c k e r n a g e l , Geschichte d. dt. Litteratur (1872). Karl Lachmann, Über ahd. Betonung u. Verskunst. Kl. Schriften I (1876) S. 358-406. Ders.,

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Reimvers, Altdt.

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Reimvers, Altdt. — rede (mhd.)

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[Anm. der Herausgeber: Es war beabsichtigt, den Beitrag über rede als Gattungsbegriff der mhd. Lit. an den Artikel Rede und Beredsamkeit anzuschließen. Da dieser auf Wunsch des Verfassers den Titel Rhetorik bekommen sollte, hat der Artikel rede seine alphabetische Stelle verloren. Die Herausgeber bitten dies zu entschuldigen.] Das mhd. Wort rede, ahd. radia, red(i)a aus lat. ratio, bedeutet ursprünglich 'Rechenschaft'. Es gibt aber nicht nur lat. ratio wieder, sondern auch opinio, narratio, sermo, sententia und hat damit eine Bedeutungserweiterung erfahren, die es zu verschiedener Verwendung im Bereich literarischer Termini tauglich macht. Die Grundbedeutung ist: 'sprachlich geformte Aussage eines gedanklichen Inhalts'. Daraus hat sich schon früh ein literarischer G a t t u n g s b e g r i f f abgelöst: unter rede verstand man im Besonderen eine zusammenhängende mündliche oder schriftliche Darlegung eines Wissensstoffes in Versen oder Prosa, eine Unterweisung, die Rechenschaft über einen gedanklichen Gegenstand ablegen will (Otfrid L 89: Er hiar in thesen redion mag hören evangelion; Physiologus MSD 262; '1,1: hier begin ih einna reda umbe diu tier waz siu gesliho bezehinen; Heinrich von Melk 2 f.: von des todes gehugde eine rede). Da solche Denkmäler meistens in dichterischer Form abgefaßt waren, wird rede bald zum Allgemeinbegriff für didaktisch-epische Gedichte. In der zweiten Hälfte des 12. Jh.s gilt es sogar auch (neben liet) für die frühen höfischen Romane (Eilharts Tristrant, Veldekes Eneit),

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wobei deren didaktische Momente offenbar die Übertragung ermöglicht haben. Bezeichnenderweise werden Stoffe der Heldensage niemals rede genannt, soildern nach wie vor mit liet oder mit dem neu aufkommenden Begriff msere bezeichnet, msere erobert sich bald aber auch den höfischen Roman und verdrängt rede wieder — ein Vorgang, der sich deutlich im Werk Hartmanns von Aue abzeichnet, wo im Erek für das Gesamtwerk noch rede, für einzelne Teile aber schon msere gebraucht wird; der Iwein wird nur noch als msere bezeichnet. Daneben kommt aventiure auf. Zur Bezeichnung didaktischer Gedichte gilt rede jedoch (neben msere) nach wie vor bis ins späte MA. (eine rede hie tihten, Minneburg v. 1610). Die höfischen Dichter behalten das Wort ebenfalls, verwenden es aber nur noch für solche Teile ihrer Werke, die lehrhaften oder reflektierenden Inhalts sind und die eigentliche Erzählung (das msere) einleiten oder unterbrechen. Wolfram von Eschenbach unterscheidet im 8. Buch des Parzival die aus der Erzählung wegleitenden Exkurse als rede (401,23; 404,9) von der erzählten Geschichte (aventiure: 399,1; 404,11 oder msere: 402,5). Gottfried von Straßburg kündet seinen Exkurs über die Minne als kurz rede von guoten minnen an (Tristan V. 12185). Was im späteren 13. Jh. allmählich zur selbständigen didaktischen Kleinform wird, ist bei den „Klassikern" nodi als Exkurs oder Zwischenrede in den Roman eingebaut. — Thomasin, Welscher Gast 137, nennt seine Einleitung vorrede. Der Versuch, den Begriff rede als Gattungsbezeichnung inhaltlich und formal festzulegen, macht Schwierigkeiten, zumal er sich am Sprachgebrauch der Dichter nicht verläßlich orientieren kann. Immerhin haben diese im 11. und 12. Jh. vorwiegend das unsangbare, unstrophische, in „Reimprosa" (Wackernagel) abgefaßte geistliche Lehrgedicht rede genannt. Primär gattungsbestimmend dürfte die Absicht sein, eine gezielte Belehrung zu erteilen. Da dies nicht nur in der Form der opinio oder sententia, sondern auch in der der narratio oder descriptio geschehen kann, kommt es notwendigerweise zu Überschneidungen mit dem bispel und dem msere (s. Ma. Novellistik); auch stehen Strophik und Sangbarkeit der belehrenden Absicht nicht unbedingt im Wege (Ezzos Gesang nennt sich in beiden

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rede (mhd.) — Rhetorik

Fassungen rede). Wenn Hugo von Montfort seine Gedichte in 'Briefe', 'Lieder' und 'Reden' einteilt, dann zeigt sich darin zwar bereits ein vordem nicht in diesem Maße vorhandener Sinn für terminologische Unterscheidung von Gattungen, andrerseits aber immer noch der Primat des Inhaltlichen: die reden sind teils strophisch, teils unstrophisch; gesungen wurden sie freilich nicht. Langund Kurzformen der rede liegen in Thomasins Welschem Gast und in Freidanks Bescheidenheit vor. Die Tradition des 12. Jh.s hat offenbar der Stricker wieder aufgenommen: seine Bispelrede ist in vielen Fällen Reimpredigt, nämlich dann, wenn das Beispiel der Lehre untergeordnet ist, audi hat er Moralreden ohne Beispiel verfaßt und nicht nur über geistliche Gegenstände. Das setzt sich in den Minnereden und vor allem in den Reden des Teichners fort, die exemplarisch für die Gattung sein können: der Dichter beginnt mit dem Satz: 'Einer fragt mich ..und er endet: 'also sprach der Teichner'. Seine über 700 reden haben die Form des kurzen, zwischen 40 und 100 Verse langen unstrophischen Reimgedichts, für das er selbst oft die Bezeichnung rede gebraucht. Für die Popularität solcher formal einfacher, intentional eindeutiger Gedichte zeugen die Strafreden, Rügereden, Klagereden, Scherzreden, Ehrenreden, Wappenreden, Hohnreden seit dem 14. Jh. Der neuzeitliche Begriff der R. knüpft an den antiken Gattungsbegriff der oratio an und unterscheidet sich vom ausschließlich sachbestimmten 'Vortrag' durch die von den Regeln der Rhetorik (s. d.) bestimmte kunstvoll geprägte Form. Ohne Beziehung auf die Gattung ist rede aber auch einfach als Bezeichnung für den sprachlichen Ausdruck eines Gedankens lebendig geblieben. Albrecht von Johansdorf nennt MF 91, 16 seine im Minnelied ausgesprochenen Gedanken, von denen er hofft, die Geliebte "möge sie verstanden haben, seine rede. Walther v. d. Vogelweide 61, 33: Mir ist min erre rede enmitten zwei gestagen; ähnlich 104, 6. Bei Reinmar dem Alten ist mit rede der durch dichterische Kunst wohlgeformte Inhalt gemeint (MF 157, 24; vgl. dazu die Totenklage Walthers 82, 34: hetst anders niht wan eine rede gesungen, 'so wol dir, wip, wie reine ein naml') Zur Bezeichnung des geblümten Stils im späten MA.

dienen Wendungen wie: mit geblüemeter rede; cluoge rede; mit gemessner red florieren (Wittenwiler); redebluomen (Frauenlob). Hier bezeichnet rede die dichterische Sprache schlechthin. So kann rede auch den Text im Unterschied zur Melodie meinen: red und gedaene singen (Konrad von Würzburg); der laze im mine rede beide singen unde sagen (Reinmar MF 166,12). Julius S c h w i e t e r i n g , Singen u. Sagen (1908) S. 48-56. M a u r e r - S t r o h , Dt. Wortgeschichte (2. Aufl. 1957/60), Bd. 3, Reg. Klaus D ü w e l , Wertbezeichnungen d. mhd. Erzählliteratur 1050-1250. (Masch.) Diss. Göttingen 1965, bes. S. 230ff. Wolfgang M o h r , Landgraf Kingrimursel. Zum 8. Buch von Wolframs 'Parzival'. Philologia Deutsch. Festsdir. z. 70. Geb. v. Walter Henzen (Bern 1965) S. 26-28. Die Minneburg. Hg. v. Hans P y r i t ζ (1950; DTMA. 43), Reg. S. 197. Annemarie K a y s e r - P e t e r s e n , Hugo von Montfort. Beiträge zum Gattungsproblem im MA. Diss. München 1961, S. 82-94. Walter Johannes Schröder

Rhetorik § 1. Die Rhetorik — als ars bene dicendi abgehoben von der Grammatik, der recte dicendi scientia — ist nach antiker Definition die Kunst des guten Redens (und Schreibens) im Sinne einer von Moralität zeugenden, ästhetisch anspruchsvollen, situationsbezogenen und auf Wirkung bedachten Äußerung, die allgemeines Interesse beanspruchen kann. Sie umfaßt sowohl die Theorie (ars rhetorica, Redekunst) als auch die Praxis (ars oratoriä', Eloquenz, Beredsamkeit) und hat damit, zugleich den Charakter von Kunstlehre und von Kunstübung. Antike Definition der Rh.: Heinrich L a u s b e r g , Handbuch der liter. Rh. (1960), § 32-33, S. 40 f. Zur Begriffsbestimmung im Deutschen: Gerhard W e c h s l e r , Johann Christoph Gottscheds Rh., Diss. Heidelberg 1933, S. 29 f. Ursula S t ö t z e r , Dt. Redekunst im 17. u. 18. Jh. (1962), S. 95ff. Joachim D y c k , Ticht-Kunst. Dt. Barockpoetik u. rhet. Tradition (1966), S.32f. Ludwig F i s c h e r , Gebundene Rede. Dichtung u. Rh. in d. liter. Theorie d. Barode in Deutsdiland (1968), S. 24. Hier der Nachweis, daß bis zum 17. Jh. 'rhetorica' im allgemeinen die rh. docens, 'oratoria' (eloquentia) die rh. utens bezeichnet. Davon abweichend kann im Barode 'Oratorie' auch für den gesamten Lehrbereich, 'Rhetorik' nur für 'Stilistik' stehen. Im Laufe des 18. Jh.s bürgert sich die Antithese von Redekunst = Theorie und Beredsamkeit = Praxis ein. 'Wohlredenheit', in der Barodc-Epoche gelegentlich nodi Oberbegriff (im Sinne von Hoquentia der loquentia = „Beredsamkeit" über-

Rhetorik geordnet), fungiert seit der Aufklärung mehr und mehr in der Bedeutung von 'gutem Stil' als einer Voraussetzung der Beredsamkeit. Die Trias Redekunst — Beredsamkeit —Wohlxedenheit gewinnt am Ende des 18. Jh.s verbindlichen Charakter. S u l z e r s Artikel 'Beredsamkeit' und 'Redekunst' in der Allgemeinen Theorie der schönen Künste zeigen an, daß zumal die Frage, ob 'Redekunst' die rh. utens (so allgemein vor Gottsched und noch bei Wieland) oder die rh. docens bezeichne, zugunsten der theoretischen Bedeutung entschieden wurde, die sich auch im 19. Jh. behauptet, in einer Zeit, da die Rh., mehr und mehr an Bedeutung verlierend und ihren Ausdehnungsbereich zunehmend beschränkend, in der Stilistik aufzugehen begann. (Marie-Luise L i n n , Studien zur dt. Rh. und Stilistik im 19. Jh. [1963]). § 2. Das Ziel der Rh. — der „Meisterin der Überredung" (Gorgias) und „seelenwendenden Königin" (Cicero) — ist Psychagogie. Die aristotelische Bestimmung, Rh. sei „die Fähigkeit, für jeden Einzelfall die Mittel ins Auge zu fassen, die es möglich machen, zu überreden", bleibt bis zur Mitte des 18. Jh.s kanonisch. Wieland, in der 'Theorie und Geschichte der Red-Kunst und Dicht-Kunst, Anno 1757': „Wir verstehen unter der Red-Kunst eine auf die Kenntnis der Regeln gegründete Fertigkeit, wohl zu reden, d. i. durch seine Reden die Zuhörer zu überzeugen, sich ihrer Affecten zu bemeistem und sie zu dem Zweck zu lenken, den man sich vorgesetzt hat." Lessing, im Fragment 'Der Schauspieler', das eine Definition der körperlichen Beredsamkeit entwickelt: „Die Beredsamkeit ist die Kunst, einem andern seine Gedanken so mitzuteilen, daß sie einen verlangten Eindruck auf ihn machen." Daß der Topos: „Zweck der Beredsamkeit ist es, die Gemüter zu gewinnen" auch dann noch in Kraft blieb, als an die Stelle der Rh. die Stilistik, an die Stelle der rhet. Regel-Poetik die historisch orientierte Ästhetik trat, wird durch eine Fülle von Zeugnissen belegt: Schopenhauer bezeichnet im Rh.-Kapitel der Welt als Wille und Vorstellung die Beredsamkeit als „Fähigkeit, unsere Ansichten oder unsere Gesinnung hinsichtlich derselben auch in anderen zu erregen, unser Gefühl darüber in ihnen zu entzünden und sie so in Sympathie mit uns zu versetzen." Börne formuliert ähnlich: „Beredsamkeit ist das Vermögen, die Menschen zur Tilgung ihrer eigenen Individualität zu bewegen und sie zu zwingen in unsere einzutreten." Ex negativo bestätigen die im Zeichen des Idealismus vorgetragenen Angriffe gegen die Rh., daß man sich bis weit ins 19. Jh. hinein über ihre Bedeutung als einer intentionalen, auf reale Wirkung und nicht auf die Beförderung von Schönheit abzielenden ze

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Disziplin im klaren war: deshalb die Invektiven gegen ihre „Verstellungs"-Technik (Goethe), gegen die „Maschinen der Überredung", derer sich der Rhetor bediene, gegen das „Uberlisten" und „Uberschleichen" (Kant); deshalb vor allem das Ausspielen der „reinen Poesie, die nie einen Zweck außer sich selbst hat" (Schelling), gegen den „bloß zwedcmäßigen Zusammenhang", von dem das Werk des Redners bestimmt sei (Hegel); deshalb die Antithese von Poesie, die „weder Rede noch Kunst ist", und von Redekunst, die sich der poetischen Vorteile und Rechte bediene und sie mißbrauche, „um gewisse äußere, sittliche oder unsittliche, augenblickliche Vorteile im bürgerlichen Leben zu erreichen" (Goethe). Belege bei Wilfried B a r n e r , Barockrhetorik (1970), S. 12—16 und Joachim G o t h , Nietzsche und die Rh. (1970), S.4ff. (Beide Arbeiten gehen auf den locus classicus der zugleich ethisch und ästhetisch begründeten Abwertung von Rh. ein: Kants Darstellung der Beredsamkeit in der Kritik der Urteilskraft). Wichtig wäre in diesem Zusammenhang eine Darstellung der gesellschaftlichen Implikationen: In der Verachtung der 'politischen' Rh. manifestiert sich die Gesinnung eines Bürgertums, das sich, realer Herrschaft beraubt, im reinen Reich der Kunst für mangelnden politischen Einfluß schadlos halten möchte und deshalb alle Grenzverwischungen unerbittlich attackiert: Rh. paßt nicht ins Konzept der bürgerlichen Eskapismus-Ideologie; ihre Wirkungs-Akzentuierung widerstrebt dem Theorem von der reinlichen Trennung der Welten: der einen der Realität, von der man sich, ohnmächtig, abkehrt, und der anderen der Poesie, die man auf Kosten der Rh. für autonom erklärt und in deren Bezirk man absolute Konzeptionen entwirft, um den mangelnden Einfluß im bürgerlichen Leben zu kompensieren. Zur Trennung von Lit. und Politik in Deutschland, ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen und ihrer sich schon in der reformatorischen Lehre von den zwei Reichen abzeichnenden Geschichte: Arnold Η aus er, Sozialgeschichte d. Kunst u. Lit. (1953), 1, S. 104-114, und Wolf L e p e n i e s , Melancholie und Gesellschaft (1969), S. 79 ff. Die S. 86 angeführte FlaubertSentenz „Als Bürger leben und als Halbgott denken" veranschaulicht sehr genau jene Haltung, die zur Apotheose der Poesie und zur Mißachtung der Rh. als einer im hic et nunc angesiedelten, sich auf die Realität einlassenden, 'hermetischen', zwischen 'Geist' und 'Gesellschaft' vermittelnden Disziplin führt. — Weitere Hin-

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weise zur Mißachtung der Rh. in Deutschland („Tiefe" und „Innerlichkeit" gegen „Deklamatorik" und „hohles Pathos", „Natürlichkeit" gegen „Mache", schlichtes „Ja, Ja, Nein, Nein" gegen „inhaltslose Schönrednerei", „treuherzige Redlichkeit" gegen „künstliches Wortemachen" und „Mißachten der Wahrheit", „konventionelle Manier" gegen „schöpferische Produktivität", Anprangerung des von Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen' beschworenen „Pakts zwischen der Wohlredenheit und dem Aufwieglertum") in den Beiträgen von Herbert S i n g e r und Gerhard S t o r z , Zur Diskussion über die verachtete Rh., Stuttgarter Zeitung, 31.12.1964, 9.1.1965 und 27. 3.1965, und Gerhard S t o r z , Unsere Begriffe von Rh. und vom Rhetorischen, in: Der Deutschunterr. 18, 1966, H. 6, S. 5 ff. Zur Ambivalenz der Angriffe, die sich sowohl gegen das zweckhaft-intellektuelle wie das irrational-„gemütliche" Element der Rh. richten: Joachim G o t h , aaO., S. 10 f. (mit Anführung von Bismarck-Zitaten über das efährlidie, dichterisch-improvisatorische musialische Element der Rh., das sich nicht mit der kühlen Überlegung des Staatsmanns vereinigen lasse). Den ideologischen Formelcharakter der Sentenz „Die Wahrheit bedarf keiner rhetorischen Kunst" zeigt beispielhaft Hanns Johsts Interpretation einer Rede Himmlers, in: Reidisführerl Briefe an und von Himmler, hg. von Helmut H e i b e r (1970), S. 322-326. § 3. Die Rh. kann das gesetzte Ziel, den Hörer (Leser) zur Identifizierung mit dem Redner (Schriftsteller) zu zwingen, auf dreifache Weise erreichen: durch lehrhafte, in erster Linie vom iudicium gelenkte Demonstration (docere), durch unterhaltsame Darbietung (delectare) und durch leidenschaftlichen, in besonderer Weise vom ingenium des Rhetors akzentuierten Appell (movere). Je nachdem, ob der Redner mehr den Verstand, das Gefühl oder den Willen (das Herz) ansprechen möchte, hat er einen bescheidenen, mittelhohen oder pathetischen Stil zu wählen, eine Diktion, die sich zu gleicher Zeit nadi der rednerischen Intention (Beweisen ist notwendig, Unterhaltung angenehm, Bewegen machtvoll) und dem zu beschreibenden Gegenstand richtet. Schlichte Lehre — so die rhet. Theorie — ist angemessen, wenn es um kleine Objekte geht und der Sprechende sich an die Tatsachen hält, an die Dinge in ihrer Faktizität und Pragmatik. Anschaulichausmalende Präsentation in mittlerem Tonfall empfiehlt sich dort, wo das FreundlichGesellige, grace und Anmut, dargestellt werden will, der Bezirk 'bürgerlicher' Familiarität und heiterer Geselligkeit, die Welt der 'Charaktere' im weitesten Sinn. Hochdrama-

tische Einwirkung endlich, in „bewegender Schreibart", ist dann angebracht, wenn es um das Schaudervolle und Monströse, die Passionen der Großen und die Leiden der Märtyrer, um strahlenden Triumph und schrecklichen Untergang geht. Die Theorie von den drei officia oratoris, verbunden mit der Stilarten-Lehre, taucht zum erstenmal in Ciceros Orator auf (Or. 21, 69); die Identität von Gegenstand und Stillage postuliert Or. 29, 100 f. Augustin, De doctr. ehr. IV, 17, 34, verbindet, im Zeichen christlicher Beredsamkeit, die Ciceronianischen Doktrinen und proklamiert eine Entsprechung von rednerischer Aufgabe, Stil und Gegenstand. Über die Entwicklung der Theorie, vor allem ihre mal. Variation (in der Antike ist die sprachliche Form, im MA. der Gegenstandsbereich Ausgangspunkt der Betrachtung; der römische, auf das genus dicendi bezogene Stilbegriff will, „elocutionell" akzentuiert, von jenem „materiellen" des MA.s abgegrenzt werden, der auf die durch Donat und Servius inaugurierte Vergil-Tradition zurückgeht: rota Vergilt!), über die Verbindung zwischen Stiltheorie und Gattungslehre (große Gegenstände in hohem Tragödienstil, kleine Objekte in der Diktion der Komödie), vor allem auch über das Verhältnis von rhet. Dreistillehre — deren Kenntnis im Sinne eines Wissens um den drier slahte sanc (Waither 84, 29) in mhd. Zeit gut belegt ist — und der mit ihr im MA. konkurrierenden, auf die Tropen-Lehre der Herennius-Rh. zurückgehenden Antithese von ornatus facilis und ornatus difficilts: Franz i u a d l b a u e r , Die antike Theorie der genera icendi im lat. MA. (1962) und Ludwig F i s c h e r , Gebundene Rede, aaO., S. 106 ff. (dort die beste Zusammenfassung des Problems).

S

Die Dominanz der rhet. Lehre von den Aufgaben des Redners und den ihnen entsprechenden Stilen und Gegenstandsbereichen wird bis zum 18. Jh. durch eine Fülle von Zeugnissen belegt. Dabei finden sich neben streng-traditionellen Definitionen (Meyfart: Der Redner hat „zu beweisen", „das ist die unumbgängliche Notwendigkeit", „zu belusten", „und das ist die süße Lieblichkeit", „zubewegen", „und das ist die strenge Dapfferkeit") auch freiere Variationen des Grundschemas: Schiller ζ. B. der auf der einen Seite rhet. sehr konservativ argumentiert, von der Bemächtigung des „Verstandes, Gefühls und Willens" oder, ganz aristotelisch, von „Handlungen, Leidenschaften und Charakteren" als Stoffen des tragischen Dichters spricht, umschreibt auf der anderen Seite die Trias docere-delectare-movere sehr frei mit den Begriffen „wissenschaftliche", „populäre oder didaktische" und „schöne" Schreibart.

Rhetorik Herman M e y e r , Schillers philosophische Rh., in: Ζarte Empirie (1963), S. 335-389 und Gert U e d i n g , Schillers Rh. Idealistische Wirkungsästhetik und rhet. Tradition, Diss. Tübingen 1969 (dort weitere Zeugnisse, die belegen, wie sehr gerade Schiller der rhet. Uberlieferung verpflichtet war). Eine eingehende Analyse der Variationen des rhet. Grundschemas in der dt. Lit. des 17. und 18. Jh.s steht noch aus. (Material zur Barocktheorie bei Renate H i l d e b r a n d t - G ü n t h e r , Antike Rh. und dt. literar. Theorie im 17. Jh. [1966]). In diesem Zusammenhang wären vor allen Dingen die Untersuchungen von Klaus Dodchorn über Ethos und Pathos als rhet. Wirkungskonstanten (Wechselspiel von „Würde" — im 17. Jh. dominierend — und „Anmut" — im 18. Jh. herrschend —, von passions und manners, aber audi von grands und tendres passions) weiterzuverfolgen: Klaus D o c k h o r n , Macht und Wirkung der Rh. (1968), S. 49 ff. § 4. So sehr die Rh. immer die Einheit von Belehrung, Ergötzung und pathetischer Überredung betont — „Die Beredsamkeit sorgt . . . für Belehrung und Aufklärung des Verstandes, für die Erzeugung wohltätiger Leidenschaften" (tendres passions!) „und für die Interessierung des Willens und des Herzens" (Ch. Daniel Schubart) —, so nachdrücklich sie die Situationsabhängigkeit von Stil und Redefunktion herausgehoben hat: so entschieden wurde auf der anderen Seite immer wieder von der Schulrh. darauf abgehoben, daß die eigentliche Aufgabe des Redners nicht der Vortrag von Argumenten, sondern die Entzündung der Affekte sei. Um sie zu erobern und sich ihrer zu bemächtigen: als Mittel zur Erreichung von Zwecken benutzt der Redner die rhet. Figuren — signa movent. Selbst aus Affekten erwachsen, Ausdruck des Enthusiasmus, dienen sie ihm als „Maschinen, die die Burg der Affekte erobern" (Alstedt), die Herzen bewegen und, mächtiger als Beweise, die Entscheidung im Sinn der rednerischen Intentionen erzwingen, indem sie einmal, in mittlerer Stillage, „sittiglich", ein anderes Mal, dank jener stürmischen Sprache, in der nach Cicero die eigentliche Kraft des Redners liegt, „gewaltiglich" (Meyfart) wirken. Den Zusammenhang von Rh. und Affektenlehre und die psychologische Determination des Ornatus (ein im Zeichen der new rh. wieder entdecktes Phänomen: John Waite B o w e r s u. Michael M. O s b o r n e , Attitudinal Effects of Selected Types of Concluding Metaphors in Persuasive Speeches, in: Speech Monographs 33, 1966, S. 147-155) betonen D y c k , aaO., S. 802B·

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85 und vor ihm, wegweisend, D o c k h o r n , dem in diesem Zusammenhang der Nachweis gelingt, daß die rhet. Tradition keineswegs im Zeitalter der Aufklärung abbricht, sondern im Gegenteil, als ars movendi, zu einer bedeutsamen Konstituente des Irrationalismus wird. In die gleiche Richtung gehen die Forschungen Basil M u n t e a n o s , der am Beispiel des Abbe du Bos das affektative Element der Rh. herausstellt. Dazu auch Marie-Luise L i n n , A. G. Baumgartens 'Aesthetica' und die antike Rh., DVLG. 41, 1967, S. 424 ff. Daß die rhet. Affektenlehre nicht nur die Lit., sondern in gleicher Weise die Musik und bildende Kunst beeinflußt hat, wurde vor allem von S c h e r i n g , G u r l i t t , U n g e r , S p e n c e r und H o r n O n c k e n betont. (S. Lit. „Rh., Musik und bildende Kunst"). Wie der Redner, so will der Maler mit Hilfe der Farben Leidenschaften zugleich verdeutlichen (Physiognomik!) und erregen, so benutzt der Musiker die Figuren und in ähnlicher Weise die Tonarten zum Zweck der affektuosen Psychagogie; eine bestimmte „Kolorierung" soll im Sinn der rhet. Theorie den Seelenhaushalt des Adressaten verändern. (Athanasius Kircher: „Quemadmodum enim Rhetor artificioso troporum contextu Auditorem movet . . . ad affectus, ita et Musica artificioso clausularum sive periodorum . . . contextu". Johann Joachim Quantz: „Ein Redner und ein Musicus . . . haben einerlei Absicht . . . : sich der Herzen zu bemeistem, die Leidenschaften zu erregen oder zu stillen, und die Zuhörer bald in diesen, bald in jenen Affekt zu versetzen".) Zur Beeinflussung der bildenden Kunst durch die Rh. außerdem: Heinz Otto B u r g e r , Renaissance, Humanismus und Reformation (1969), S. 83: Albertis Traktat Deila pittura als ars movendi rhet. Provenienz. Eine umfassende Untersuchung über die Grenzverwischung im Zeichen der ut-pictura-poesis-Doktrin, über die malerische Erfindungskunst, die Theorie der Kolorierung und ihre Beziehung zu den rhet. Lehren und deren Vokabular — Christian Weise spricht von „guter Zeichnung" und „schöner Farbe", die zu angemessener „Expression" nötig seien — steht ebenso aus wie eine Analyse der „optischen" Rh. unter dem Aspekt des Persuasorischen (Buchtitelblatt, Schauseite der Bauten, Kostüm und Gestik). Vor allein die „körperliche Beredsamkeit", jahrhundertelang ein wichtiger Aspekt der Rh., wäre im größeren Rahmen einer Darstellung wert: Humanistisches Schulstüdc, Jesuitentheater, Weisesche Komödie, höfische Lehre (Castigliones Cortegiano) und Lessingsche Schauspieler-Theorie beschäftigen sich ebenso mit Fragen der angemessenen Haltung, wirksamen Zurschaustellung und einer Ausdrucksweise, die „die Affecte movirt", wie die Lehrbücher der Physiognomik an bestimmten Gesten bestimmte Charakterzüge und Passionen veranschaulichen. Gerade an der körperlichen Beredsamkeit läßt sich der Stilwandel, vom Pathos zum Ethos, anschaulich zeigen: Das Erstarren zu Eis, der Schaum vorm Mund, das Haare-zu-Berge-Stehen im Barode, und demgegenüber das Schillersche Ideal der Anmut und Harmonie, Natürlichkeit und Grazie: „Man

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fordert Anmut von der Rede und vom Gesang, von dem willkürlichen Spiele der Augen und des Mundes, von den Bewegungen der Hände und der Arme bei jedem freien Gebrauch derselben, von dem Gange, von der Haltung des Körpers und der Stellung, von dem ganzen Bezeugen eines Menschen, insofern es in seiner Gewalt ist." Dazu U e d i n g , Schillers Rh., aaO. (Vergleich mit Castigliones Cortegiano, dessen Bedeutung für die rhet. Tradition, zumal unter politischen Aspekten, audi B a r n e r , Barockrh., aaO. S. 369-374 betont.) Besondere Bedeutung gewinnt in diesem Zusammenhang die Schauspielertheorie, wobei es charakteristisch ist, daß im 18. Jh. plötzlich die rhet. Maxime fortfällt, Begeisterung könne nur darstellen, wer selbst begeistert ist. An die Stelle des horazischen si vis me Here, dolendum est primum ipsi tibi, das gerade im 17. Jh. den Charakter einer verbindlichen Sentenz hat (Vossius: in ciendis affectibus caput esse, ut orator prius eo affectu commoveatur, ad quem alium vult adducere), tritt die von einer neuen Schauspieler-Psychologie ausgehende Auffassung Riccobonis, Diderots und Lessings: „pour emouvir il ne faut pas £tre emu!" Günther K n a u t z , Studien zur Ästhetik und Psychologie der Schauspielkunst, Diss. Kiel 1934 (Vergleich zwischen der Theorie von der Selbsttäuschung des Schauspielers und der Bewußtseins-Theorie). Zur „Klassischen" Lehre der Rh.: Erwin R o t e r m u n d , Der Affekt als literar. Gegenstand: Zur Theorie u. Darstellung der Passiones im 17. Jh., in: Die nicht mehr schönen Künste, hsg. von H. R. J a u ß (1968), S. 239ff., (S. 252ff.: Interpretation der rhet. Affektdarstellung im

§ 5. Ungeachtet der Tatsache, daß die Rh. sich in erster Linie an die Affekte wendet — mit Hilfe der oratorischen Figuren, die „nichts anderes sind als die Sprache dieser Affecten" (Breitinger) — und auf emotionale Weise entweder aufzuwühlen (PathosBereich) oder zu besänftigen sucht (EthosBereich), darf ihre lehrhafte Komponente, das von der Theorie stets mitbetonte und von der Praxis (ζ. B. im sermo humilis der christlichen Predigt oder im UnterweisungsStil der sozialistischen Rh.) nachdrücklich verfolgte Ziel, mit den Mitteln der schlichten Lehre und rationalen Unterweisung aufklärerisch zu wirken, nie aus den Augen verloren werden. Gerade die wissenschaftlich akzentuierte, auf überzeugende Analysen, ideologiekritische Diskurse und logische Widerlegungen abhebende sozialistische Rh. — der zitathafte Beleg, der schon den rhet. Duktus von Büchners Hessischem Landboten bestimmt, die Technik des „In-Anführungszeichen-Setzens" und „BeimWortnehmens"! — erhellt sehr deutlich das

Lehr-Element der Beredsamkeit. Nicht zufällig heißt es (in einer Agitationsredel) bei Ferdinand Lassalle: „Ich werde zu Ihrem Verstände sprechen; ich werde wissenschaftliche Tatsachen vor Ihnen aufrollen müssen und bitte daher, auch da, und gerade da, Ihre gespannteste Aufmerksamkeit meiner Rede zu schenken, wo diese trocken und in der Aufrollung von Zitaten, Zahlen und Tatsachen bestehen wird." (Zur sozialistischen Rh.: Juri T y n j a n o w , Das Wörterbuch Lenins, in: Fritz M i e r a u [Hsg.], Sprache und Stil Lenins [1970].) Rhet. Zentralkategorien wie dispositio und argumentatio verweisen nicht anders als die, jahrhundertelang als kanonisch angesehene, aristotelische Definition (Rhet. 1,2, 1355 b 25: Rh. sei die „Fähigkeit, für jeden Einzelfall die Mittel ins Auge zu fassen [theoresaü], die es möglich machen zu überreden") auf jene rationale Komponente der Rh., die sich nicht zuletzt in der Manier zeigt, mit der die Beredsamkeit, höchst bewußt, emotionale Effekte berechnet und gefühlsbedingte Wirkungen auskalkuliert. „Der Redner will mehr unterrichten und überreden, der Poet mehr ergötzen und rühren" — die Sentenz Wielands, die dem Redner an erster Stelle das officium docendi zuschreibt, hat exemplarischen Charakter. Die Spannweite der Rh. ist groß; sie reicht vom sermo humilis zum sermo argutus, vom „Wort in Knechtsgestalt" christlicher Lehre bis zum stilus supremus der Edikte, den rhet. -propagandistischen „ Gegen-Predigten" der Kaiserlichen Kanzlei. (Dazu Heinrich F i c h t e n a u , Arenga. Spätantike u. MA. im Spiegel von Urkundenformeln [1957], S. 1622). Die Auseinandersetzung zwischen Asianisten und Attizisten, Klassikern und Manieristen, Anhängern Ciceros und Gefolgsleuten Senecas, hat den Charakter eines i n n e r rhet. Streits, dessen Extrempositionen um 1600 ζ. B. durch die spanische Para-Rh. (richtig verstanden als gesteigerte, als ÜberRh.) und den englischen plain style im Sinne Bacons, um 1700 in Deutschland durch die Beredsamkeit der Galanten und die pietistische Rh. veranschaulicht werden. (Zum Problem der rhetorica contra rhetoricam, veranschaulicht am Beispiel der pietistischen Eloquenz: Reinhard B r e y m a y e r , „Pectus est, quod disertos facit" — Untersuchung z. Rhet. pietistischer Texte, Magisterarbeit, Masch., Bonn 1970). Die in der Germanistik häufig vertretene Antithese von „volkstümlicher Schlichtheit" und

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„rhet. Kunstfertigkeit", „einfacher Rede" und „metaphemreicher Eloquenz" ist also unhaltbar, weil die locutio simplex so gut ein rhet. Stil sein kann wie die locutio figurata, ja, weil, unter dem Aspekt der Wirkungsintentionalität des Verfassers, der sermo humilis unter Umständen „persuasorischer" ist — und entschiedener dem Gesetz der „insistierenden Nennung" (Conrady) folgt — als ein Gedicht in geblümtem Stil, eine reformatorische Flugschrift (Müntzers Manifest an die Bergknappenl) oder eine auf Information bedachte Rede „rhetorischer" als ein mit stilistischem Raffinement prunkender Text. Das Zählen von Figuren hat also nur dann einen Sinn, wenn der Interpret das Ziel im Auge behält, dem der Aufwand an Stilmitteln dient und nach dem das Mehr oder Minder der Schmuck-Elemente sich richtet. (Dazu beispielhaft: Lowry N e l s o n , Baroque Lyric Poetry [1961]: Gedichte von Göngora, Donne oder Gryphius als dramatische, von einer dynamischen Beziehung zwischen Sprecher, Publikum und Leser bestimmte Diskurse. In die gleiche Richtung führt Roland Barthes' Interpretation der operationes spirituales: „Schon vor vier Jh.en hat Ignatius von Loyola, der Begründer des Ordens, der wahrscheinlich am meisten für die Rh. getan hat, in seinen Geistlichen Übungen das Modell eines dramatisierten Diskurses aufgestellt", in: Roland B a r t h e s , Kritik und Wahrheit [1967], S. 59.) Wie sehr ein scheinbar schlichter Text „rhetorisiert" sein kann, zeigt Birgit S t o l t an Hand der Luther'schen „Predigt, daß man Kinder zur Schulen halten sollte": Docere, delectare und movere bei Luther, in: DVLG. 44, 1970, S. 433 ff. Hier viele Hinweise zur Überredungs-Funktion des oratorischen Schmucks in der homiletischen Theorie (Vermeidung der Langeweile, Spannungerregen bei ungelehrten Leuten) und eine überzeugende Darstellung der Kongruenz von „dialektischen" und „rhetorischen" Elementen in der reformatorischen Unterweisung.

Die Ponderierung der „rationalen" und „irrationalen", „lehrhaften" und „bewegenden" Elemente innerhalb der Rh. richtet sich, abhängig von historischen und gesellschaftlichen Bedingungen, nadi der Doktrin der jeweils herrschenden Schule (höfische Maßhalte-Theorie; Kolorierungs-Praktiken spätmal. Meister; humanistisch-reformatorische ratio-oratio-Formeh eloquentia als Specimen Humanuni; arguiia-Bewegung im Barock; philosophische Oratorie der Aufklärung), doch ist es, im Laufe solcher Gewichtsverteilungen, niemals zur Alleinherrschaft einer bestimmten Richtung gekommen. Im MA. behauptet sich Wolframs „Asianismus" — vom rhet. „Zentrum" aus als 'corrupta eloquentia' etikettiert — gegenüber dem „Attizismus" Gottfriedscher Art (locus classicus: Gottfried, Tristan V. 4615 ff.

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Synkrisis von Hartmann und Wolfram mit Hilfe der rhet. Nomenklatur); im 16. Jh. dominiert der reformatorische Begriff der pia et eloquens sapientia, aber zu gleicher Zeit hebt ausgerechnet der Anhänger der Dialectica Luther die enthusiastisch-affektuösen Momente der Predigt hervor; im 18. Jh. betonen auf der einen Seite Hallbauer, Fabricius und Gottsched, daß die „Uberzeugung" — nicht mehr die „Überredung" — das wichtigste Geschäft des wahren Redners sei, verstärkt die vernünftige Redekunst die „Beweisgründe" auf Kosten der „Bewegungsgründe", stellt man die Rh. im Sinn der Wolff'schen Philosophie unter die Gesetze der Objektivität und Rationalität und behandelt die „Zierrath"-Elemente als zum „Ausputz" zwar nötige, aber eher akzidentielle Bestandteile der Rede; und auf der anderen Seite preisen Bodmer und Breitinger das Beweglich-Pathetische und Affektative im Bereich der Rh., den hohen Stil Longins und die mit der Rezeption der Dubos'schen Ästhetik mehr und mehr dominierenden sensitiven Elemente der „hertzrührenden Beredsamkeit". Selbst im Barock ist sub specie artis rhetoricae das Bild weit weniger einheitlich, als es auf den ersten Blick scheint: Nicht nur die Theorie ist durchaus klassizistisch — Opitz stellt, gut ciceronianisdi, neben „uberredung" und „ergetzung" den „Unterricht" als der „poeterey vornehmsten zweck" heraus —, auch in der Praxis, ζ. B. in der Apophthegmatik und Novellistik, behauptet, unangefochten von hochpathetischer Tropisierung, der sermo simplex das Feld; und was die (angeblich manieristischen, „pararhetorischen") Stilmittel der Barock-Epoche, die Sinngedichte, Allegorien, Metaphern und Argutien angeht, so wollen sie ja nicht nur „meraviglia" erregen, nicht nur ergötzen und bewegen, mitreißen, überrumpeln und in Erstaunen versetzen, sondern zugleich auch (so Meyfart) „unterrichten" und etwas vorher nicht Gewußtes lehrhaft vermitteln. Deshalb der Appell an die Intelligenz und den Scharfsinn des Lesers, die Aufforderung an die 'tiefsinnigen Leute', Bezüge zwischen scheinbar heterogenen Elementen herzustellen und derart die analogia entis zu realisieren, deshalb die Verschwisterung von Pathos und Kalkül, Gedankenrätsel und Spiel, das Kombinieren und jene den rhet. locus ex simili-

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bus ausplündernde Metaphem-Zusammenfügung, die in besonderer Weise Belehrung, Entzücken und Rührung verbürgt. Dazu Ferdinand v a n I n g e n , aaO., passim, mit dem Hinweis, daß gerade didaktische Formen, wie die religiöse Lyrik, im Barode metaphorisch 'rhetorisiert' wurden. Uber argutia, Apophthegmatik und sermo humilis: Theodor V e r w e y e n , Apophthegma und Sdxerzrede

(1970). Mag also der Hauptakzent der Rh. einmal auf dem docere, ein anderes Mal auf dem movere liegen, mag hier ingenium, dort indicium und dort, als eine Synthese von beiden, der 'Geschmack' die Bedeutung eines primum agens gewinnen — niemals dominiert die eine Seite ganz; immer kommt es unter dem Aspekt des Deiktisch-Dialogischen, der Adressaten-Bezogenheit und personalen Zuordnung, zu einer wechselseitigen Durchdringung der Uberzeugungs- und Uberredungs-Momente, attizistischer (Betonung der res) und asianischer (Betonung der verba) Stilrichtungen. Ungeachtet der ständig wechselnden Präponderanzen (hier 'großer Stil', dort taciteische Devise: „the most matter in fewest words") hat die Rh. von der Antike bis zum 18. Jh. in der Theorie und zu einem großen Teil auch in der Praxis immer daran festgehalten, daß sie die von ihr intendierte Wirkung nur durch die Vereinigung von lehrhafter Überzeugung und emotionaler Überredung erreichen könne. § 6. „Die Beredsamkeit wohnte nur da, wo Republik war, wo Freiheit herrschte, wo öffentliche Beratschlagung die Triebfeder aller Geschäfte war . . . Da wir außer der Kanzel, auf der die Beredsamkeit in so kalter Luft ist, fast gar keine Gelegenheit zu öffentlichen Reden haben . . . da von jeher Deutschland das Vaterland des Ceremoniels und einer hölzernen Knechtschaft gewesen ist, so ist's ja Torheit, Regeln einer Kunst zu suchen, wo die Kunst selbst fehlt": Der Herder'sche Satz, aus dem 42. Brief, das Studium der Theologie betreffend, verweist mit Nachdruck auf den öffentlichen Charakter der Beredsamkeit — jenes politische Element, das sichtbar wird, wenn man die gesellschaftsbedingte Verwandlung des rednerischen Idealbilds vom römisch-republikanischen vir bonus über den orator Christianus Augustins und Alkuins, den Cortegiano

Castigliones, den Governor Thomas Elyots und den reformatorischen pius et sapiens orator bis hin zum „Politischen Redner" Christian Weises und dem Anwalt der philosophischen Oratorie Gottsched'scher Provenienz verfolgt. Schon ein erster Überblick lehrt, in wie eminentem Maße gerade die Rh. zum ideologischen Selbstverständnis hier des Adels (in der Renaissance), dort (im 17. Jh.) eines Bürgertums beigetragen hat, das, am Adels-Stil und der von ihm geprägten, gesellschaftlich verbindlichen Geschmacks-Kultur partizipierend, einen Aristokratisierungs-Prozeß durchlief, der einerseits zur Abhängigkeit von Idealen, die ihr Zentrum im Hof hatten, und damit zu einer verstärkten Opposition gegen den „gemeinen Pöbel" führte, andererseits aber auch — und sei's nur im „Uberbau" einer Gelehrtenrepublik, die im 18. Jh. ihre Autonomie gegenüber feudaler Repression zu verteidigen suchte — zumindest in bescheidenem Maße das bürgerliche Selbstbewußtsein emanzipatorisch beeinflußte. Der Prozeß ist also dialektisch zu sehen: Einerseits führte die Adaption des humanistisch-ritterlichen Rhetorenideals im Sinne der Teilnahme an der „politischen Bewegimg" im 17. Jh. zur Feudalisierung des Bürgertums, andererseits war Anpassung an eine „nicht durch Geburt und Rang legitimierte" Geschmadcskultur (Gadamer) für den Bürger die einzige Chance, um sozial aufzusteigen: Der Erwerb von Wissen, das in gleicher Weise vom Pöbel wie vom dummen Regenten abhob, als schärfstes Klasseninstrument. Diese Ambivalenz, die zugleich gesellschaftliche Bedürfnisse und Abhängigkeitsverhältnisse spiegelt, zeigt, wie problematisch die nur scheinbar marxistische These von der „reaktionären" und „volksfremden" Rh. ist, mit deren Hilfe sich eine privilegierte Gelehrtenschicht angeblich allen fortschrittlichen Tendenzen verschließt. Hier bleibt außer acht, daß rhet. Meisterschaft im Sinne von Teilhabe an den dominierenden Sprach-Konventionen, die auf der Beherrschung des oratorischen Reglements basieren, im Sinne der Repräsentation des zeitbestimmenden Stils und der Anerkennung seines Diktats, aber auch der Kenntnis von neuen und schwierigen verbalen Operationen — ordo artificialis, Verjüngung alter Worte —, deren Anwendung als Elite-Ausweis galt, sowohl „von oben" her in

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Dienst genommen (der Jesuitenorden, als Hauptträger der argufia-Bewegung, bot sich im 17. Jh. den Höfen in seiner Eigenschaft als „rhetorisch" exklusivste Schicht an) als auch „von unten" her beerbt werden kann: Humanistische Rhetorenkunst befördert durch die Nobilitierung des dt. Stils das Nationalbewußtsein; im Zeichen der pia et eloquens sapientia führt die Reformation den Kampf gegen eine mal.-rückständige Kirche; mit den Mitteln der Rh. mobilisiert ein Mann wie Christian Weise neue Bildungsschichten und unterstützt zugleich das obere Bürgertum in seinem Kampf um effizientere Lebensbehauptung, indem er es auf „alle Fälle des bürgerlichen Lebens" (Thomasius) vorbereitet, und das mit der Rationalität eines Geschäftsmanns, der die Maxime, „parier c'est agir" zum Prinzip seines Unterrichts macht. Zum Gesamtkomplex Rh. und Öffentlichkeit: Hans-Georg G a d a m e r , Wahrheit und Methode (1960), S. 32 f. Klaus D o c k h o r n , in der Rez. des Gadamerschen Buches, in: GGA

214, 1962, S. 177 ff. (Interpretation des senstts communis

sub specie rhetoricae). Heinz Otto

Burg er, Europäisches Adelsideal u. dt. Klassik, in: Burger, Dasein heißt eine Rolle spielen (1963), S. 223 („Europa verdankt seine geistige, geistesgeschiditlidie Einheit, seinen sensus com-

munis oder jedenfalls den sensus communis ge-

wisser Kreise zum guten Teil der Tradition der Rh."). Jürgen H a b e r m a s , Strukturwandel der Öffentlichkeit (2. Aufl. 1965), S. 14 ff. (S.17f. wichtiger Hinweis auf die Interpretation der repräsentativen Rede — „eine in der Rationalität sich formenden Sprechens sichtbar gewordene menschliche Würde" — durch Carl Schmitt). Gert U e d i n g , Schillers Rh., aaO. (Kapitel 'Das Ideal des vir bonus'). Bedauerlich bleibt, daß die Forschung auch im Fall des rednerischen Idealbilds so wenig auf die Topik der körperlichen Beredsamkeit eingegangen ist, obwohl sich gerade an deren Beispiel die wechselnde politische Akzentuierung besonders deutlich nachweisen läßt. Die Art und Weise, in der dem Redner ein bestimmtes Auftreten anempfohlen wird (Lessings Forderung, der Prediger habe vom Schauspieler zu lemen, das Vorbild Josephs und Daniels in der pietistischen Rh., die Warnung vor proletarischer Anbiederung in Eduard Davids Anleitung für sozialistische Redner etc.), macht jene gesellschaftlichen Implikationen deutlich, die sich dort am markantesten manifestieren, wo es um das Auftreten in Situationen geht, die sich durch extreme Standesunterschiede auszeichnen: „Wenn man in dem Zimmer einem Printzen . . . also schreyen und ruffen wollte wie die Redner auf den Kanzeln und Schul-Cathedem, so würde solches . . . den Ohren des Fürsten beschwerlich fallen. Es ist besser, dass z. E. bey Huldigungen die weit

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Stehenden nicht alles hören als dass der Fürst beschweret werde." (Hallbauer).

§ 7. So scholastisch und festgefügt das Reglement der Rh. sich auf den ersten Blick ausnimmt: seine einzelnen Bestandteile ergeben kein geschlossenes, überzeitlich-verpflichtendes Lehrgebäude (das rhet. System ist in gleicher Weise Fiktion wie d e r rhet. Stil), sondern sind im Gegenteil höchst fungibel und, den Bedürfnissen der jeweiligen Epoche entsprechend, adaptierbar. Nur so erklärt sich die Mühelosigkeit, mit der Praktiken, die ursprünglich dazu dienten, dem Redner vor Gericht und in der Volksversammlung die parteiische Darstellung des zur Debatte stehenden Falls zu ermöglichen und die Entscheidungsbefugten günstig zu stimmen, im Schulbetrieb der Römer "literarisiert' werden konnten. Die Offenheit und Verfügbarkeit der Rh. — eine Folge ihrer politischen Irrelevanz in der Kaiserzeit — war es, ihr Charakter einer Un-disziplin, der es gestattete, daß sie so selbstverständlich von der Theologie und der Logik, der Poetik und der Jurisprudenz in Dienst zu nehmen war und mit ihren Argumentations-Schemata, deren ubiquitäre Anwendbarkeit die mal.en artes praedicandi, dictandi et versificandi bezeugen, jenen Fächern nützlich sein konnte, denen es auf Wirkung ankam. Als ars praedicandi überträgt Rh. die Lehren antiker Beredsamkeit, vor allem Anweisungen, die Stoff und Stil und deren Kongruenz betreffen, auf die christliche Predigt, analysiert Fragen der Publikum-Psychologie (Predigt-Formulare für jeden Stand, jedes Alter, jeden Beruf, vom Papst bis zur Dirne!), des Spannung-Erregens, des Wechsels der Töne und der Affektation, behandelt Probleme des Stils — im sakralen Raum ist Mäßigung geboten: Gebeine eines Heiligen wollen nicht kunstreich geschmückt werden —, zeigt Praktiken auf, wie die Materie zu längen und zu kürzen sei, kurz, sie gibt dem concionator Christianus den Rang eines orator und der Predigt die Bedeutung eines Plädoyers: eine einzige große Linie von Augustins De doctrina Christiana über Alanus' Summa de arte praedicatoria, Melanchthons De officiis concionatoris und den erasmianischen Ecclesiastes, in dem Demosthenes und Cicero Seit an Seit mit Origines und Cyprian als Vorbilder des christlichen Streiters er-

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sdieinen, bis zu der rh. sacra des 17. und Sprache adaptierten, läßt sich anschaulich 18. Jh.sl Exemplarisch für eine fünfhundert- zeigen, mit welcher Selbstverständlichkeit jährige Entwicklung, in deren Zeichen selbst der Formenschatz der Rh. gesellschaftlichen das Gebet, wie bei Wilhelm von Auvergne, Bedürfnissen entsprechend in Dienst genomvom exordium bis zur peroratio durchrheto- men werden konnte. Sämtliche literar. risiert wurde, heißt es bei dem Barockpredi- Zweckformen — und dazu gehörte bis zum ger Johann Balthasar Schupp, ganz gewiß 18. Jh. auch die „eigentliche" Poesie: das keinem Liebhaber der Rh. im klassischen Drama so gut wie die Satire und das LehrSinn: „Was ist ein Prediger anders als ein gedicht — benutzten jene Techniken, die, Orator Ecclesiasticus" ? ursprünglich sehr begrenzt in ihrem AnwenAls ars dictandi bewahrt die Rh. von der dungsbereich, seit der Spätantike mehr und Spätantike bis zum Barode, mit seinen Brief- mehr ihre All-Verfügbarkeit erwiesen und stellern und Sekretariats-Künsten, den Cha- zu fungiblen Elementen der auf Wirkung rakter einer ursprünglich juristisch akzen- abzielenden Literatur wurden. tuierten Methode. Während des gesamten W i e fließend, im Zeichen der einen gemeinsaMA.s war der Rh.-Unterricht identisch mit men Methode, die Grenzen zwischen den einder Unterweisung in Rechtsgeschäften—der zelnen Zweckformen sind, wird besonders eindrucksvoll durch die Übereinstimmung und 'Rhetor ist 'Legist' —, die quaestiones civi- wechselseitige Ergänzung von ars poetica und les galten wie in der Antike als das eigent- ars dictandi demonstriert. (Die Poesie ist als liche Betätigungsfeld der Rh. (Notker: „Re- eine auf Überredung bedachte Disziplin der Rh. thorica dero man in dinge bedärf"), und schwesterlich verwandt: Darstellung der Geund Unterschiede — die Dichauch das kanonische Recht wurde, wie die meinsamkeiten tung hat größere Lizenz, ihr Rahmen ist weiter, Rhetorica Ecclesiastica aus dem 12. Jh. be- sie umspannt nicht nur die res factae, sondern weist, von der forensischen Beredsamkeit auch die res fictae, ihre 'enthusiastische' Strukbestimmt: Die Sentenz des Gossuin von tur, der furor poeticus, hebt sie ebenso wie der Metz „Qui Retoricque bien sauroit: II cöni- höhere Stil über die Rh. hinaus — bei Ludwig I F i s c h e r , Gebundene Rede, aaO., S. 22 ff. stroit et tort et droit" hat, so betrachtet, und, auf das Barodczeitalter beschränkt, Renate exemplarischen Charakter. Die Techniken H i l d e b r a n d t - G ü n t h e r , Antike Rh. u. dt. der Rh. zu beherrschen hieß für den Kleri- literar. Theorie, aaO., S. 33 ff.) Einerseits überker und künftigen Notar in erster Linie: Ur- nimmt die Epistolographie, unter besonderer Berücksichtigung der aptum-Komponente, sämtkunden verfassen und Briefe schreiben zu liche Stilanweisungen der rhet. Poetik — Briefkönnen, und der Ausbildung dieser Fertig- steller und Sekretariats-Künste bewahren bis ins keit dienten der Schulunterricht in gleicher 17. Jh. die oratorischen Regeln am reinsten — , V/eise wie, auf höherer Stufe, die eigentliche andererseits sind es gerade die doctores iuris, ars dictaminis und die kompendienartig- Schreiber und Notare, die im Humanismus das Empfangene zurückgeben und mit ihrer Rhetoknappe Darstellung der Rh. am Anfang der ren-Kunst die dt. Poesie bereichern. Der StadtFormelbücher und Urkundensammlungen. j Schreiber Johannes von Saaz (sein Wahlspruch: Hier wurde gezeigt, daß die'klassischen par- Si honorificis adhaerere / et abundatia vis vigere tes oratoriae, vom exordium bis zur conclu- / tunc rhetoricam bene discas / et assidue ad hanc tendas) breitet im Ackermann, der Ankündigung sio, unter Hinzufügung von salutatio und pe- in der Eingangsepistel entsprechend, die rethotitio, im Bereich der Epistolographie genau ricae essencialia aus, von der Längung und Kürso gut anwendbar waren wie die Findungs-, zung des Stoffes bis zur Beschreibung jener coLob- und Schmuck-Anweisungen der Rh. lores, die aufzuführen und als Färbe- und Zierund die von ihr entwickelte, für den Schrei- mittel in praxi zu beherrschen nach der Vorstellung der Zeit von wahrer Meisterschaft zeugbenden besonders wichtige Doktrin der 'An- te; Sebastian Brant — „ung clerc rhetoricien": gemessenheit', deren Befolgung es ermög- Dozent des römischen und kanonischen Rechts, lichte, dem gewählten Sujet in gleicher später Anwalt zu Straßburg — gliedert die einWeise gerecht zu werden wie dem Rang des zelnen Absdinitte des Narrensdiiffs mit Hilfe ratiocinatio und expolitio; Niclas von Wyle, Adressaten und dem zwischen dem Absen- j von Stadtschreiber wie Johannes von Saaz, transder und dem Empfänger des Schreibens be- ! poniert die Prinzipien der lat. Rh. in die Mutterstehenden Sozialbezug. Gerade am Beispiel sprache und überträgt, allen Schreibern zum der Briefsteller, die seit dem 15. Jh. als 'No- j Nutzen, die ersten colores rhet. der Herenniustariatkünste' und 'Rhetorica und Formulare I Rh. ins Deutsche; Albrecht von Eyb, Staatsmann und Anwalt, bringt das von ital. Rechtslehrem deutsch' rhet. Lehren zum ersten Mal in dt. j Gelernte in seme Humanisten-Rh., die Margarita

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Poetica ein. Die Beispiele — Gregor Heimburgs rhetorica contra rhetoricam und Murners Juristen-Rh. — ließen sich häufen und könnten allesamt den Beweis untermauern, daß die Unterschiede zwischen der im weitesten Sinn politischen Beredsamkeit der Antike und der in der Zweiten Sophistik literarisierten Rh. weit geringer sind, als man gemeinhin annimmt. So unzweifelhaft es ist, daß die Subsumierung der Dichtung unter die Rh. ein Werk der Spätantike ist — unter dem Aspekt von Lob und Tadel, w e r t e n d e r Darstellung, fiel Poesie mit dem genus demonstrativum zusammen — und die Anweisungen, die die rhet. Theorie in der Zweiten Sophistik für die epideiktische Rede entwickelte, ihre Gültigkeit bis über das Barockzeit alter hinaus behielten (Charakterdarstellung, Ethopoüa in mittlerer Stillage, amplifizierende Beschreibung von Göttern, Menschen und Tieren, von Ländern, Städten und Bauten, Abenteuern, Seestürmen und Liebesgeschichten, von Katastrophen und Festen; Vergegenwärtigung des Entfernten, malerische Verlebendigung und leibhaftiges VorAugen-Stellen des nicht Sichtbaren in der evidenten Beschreibung: ut pictura poesis), so falsch ist es, zwischen der intentional bestimmten republikanisch-juristischen Rh. und einer angeblich auf sich selbst verweisenden Virtuosen-Rh. epideiktischer Provenienz eine scharfe Trennungslinie zu ziehen. Das Moment der Wirkungsintentionalität, das Zweckhaft-Adressatengebundene als die prima causa der Rh.: ihr persuasorischer Grundzug bleibt der rhetorisierten Lit. bis zum Barock hin erhalten. August Buchners Satz, es sei „des Poeten Ambt, dass er zugleich belustige und lehre, welches eben der Zweck ist, darin er allezeit zielen soll" steht stellvertretend für Hunderte ähnlicher Aussagen. Auch die Dichtung, Lobrede im weitesten Sinn, will zunächst einmal werben, wirken und für sich einnehmen und es derart dem Autor ermöglichen, sich sozial zu behaupten, indem er, nicht anders als der Gerichts- und Versammlungs-Redner, den Hörer zum wohlwollenden Beipflichten veranlaßt. Nicht um ein l'art pour l'art, sondern um die Einwirkung auf den Adressaten, das Erzwingen seiner bewundernden Zustimmung geht es ihr; und was die juristische Komponente betrifft, so waren es die loci der forensischen Beredsamkeit und das ihnen zugrundeliegende Argumentationsschema, durch die hö-

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| fische Dichter des MA.s und, von traditionel! len Findungs-Vorschriften ausgehend, Humanisten und Barockpoeten einen Tatbestand von allen Seiten her beleuchten und Handlungen psychologisch vertiefen konnten: Wie der Verteidiger vor Gericht versetzt , sich der Dichter in die Lage des Angeklagten und begründet dessen Handlungen durch eine Analyse der Umstände und ein Eingehen auf die charakterologischen Determinanten. In welchem Ausmaß es der rhet. Tradition zuzuschreiben ist, daß die Autoren in die Lage versetzt werden, rednerische Auseinandersetzungen, in Epos, Drama und Roman, mit jener Perfektion zu arrangieren, die kaiserliche controversiae auszeichnet (bei denen der Redner zugleich die Partei des Anklägers und des Verteidigers übernimmt), wurde durch eine Studie Rainer G r u e n t e r s erhellt: Über den Einflttß des Genus Iudiciale auf den Höfischen Redestil, in: DVLG. 26,1952, S. 49 ff. (hier der Nachweis, daß sich das rhet. Erbe durch die Vermittlung mal. Rede-Formen, Disputationen, Streitgespräche und Schuldialoge in der Poesie niedergeschlagen hat).

I I ; j !

§ 8. Das Ausmaß, in dem die Rh. die Lit. bis zur Goethezeit beherrscht hat, liegt in der überragenden Stellung begründet, die der Eloquenz im Unterrichtswesen zukam. So lange die Macht der Lateinschule ungebrochen war und die Unterweisung durch den Dreischritt praecepta-exempla-imitatio charakterisiert wurde, blieb die Rh. die gelehrte Basis aller liter. Beschäftigung, verwischten sich die Grenzen zwischen schulischem Exerzitium und anspruchsvoller Poesie, war beides 'Auftragsliteratur', unterschieden sich Schuldeklamationen dem Tenor nach nicht von Parentationen oder laudationes im bürgerlichen Leben, hatten die Übungen im aphthonianischen Reglement den gleichen Duktus wie jene Lobreden auf den Tabak, das Podagra, die Buchdrudcerkunst oder die kleine Gestalt, die bis zum 18. Jh. die Identität von poetischer und epideiktischer Beschreibung illustrierten. Praktikabilität hieß die Devise: Alles Gelernte war auf einer sehr frühen Stufe verwertbar, die Schule lehrte die „Konventionen des sprachlichen Miteinanders" (Bamer) durch die Unterweisung in Techniken, deren Bedeutung in ihrer Adaptationsfähigkeit lag. Dramen erschienen als Disputations-Traktate —- Bidermanns Cenodoxus: eine gespielte Predigtl —, Roman-Abschweifungen — Ro-

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mane: Schatzkammern schöner Orationen! — basierten auf den Parekbasis-Lehien der Praeexercitamenta, die Geschichtsschreibung folgte unter den Stichworten 'exemplum' und 'evidentia' (lehrhafte Darstellung von moralischer Vorbildlichkeit) den rhet. Doktrinen, und was das Schauspiel betrifft, so war im Humanismus und Barock ein Teil der theatralischen Demonstrationen nichts weiter als die Krönung jener Deklamationen prozessualer Darbietungen und oratorio-dramatisdier Akte, mit deren Hilfe der Schüler sein Gedächtnis zu schulen, seine Haltung zu beherrschen und seine Worte eindrucksvoll zu artikulieren lernte: Die Schulaufführung als Vorspiel auf dem Theater, das den Agierenden die Rollen des größeren Welttheaters spielen ließ und ihn derart über das jedem Stand und jedem Alter Zukommende belehrte, die Komödien des Terenz als ein Oratorium der Moralität, ein rhet. in orationes und oratiunculae einzuteilendes Exempel des Lebens! In jedem Fall wurden die Beispiele für wichtiger als die Regeln erachtet: Schatzkammersammlungen, Ephemeriden, Kollektaneen und Promptuarien dienten der Verbesserung des Stils, klassische Lehrbücher, vor allem die spätantiken Progymnasmata, enthielten, in den Mustern vom Leichteren zum Schwereren voranschreitend, Aufsatzübungen aller Art; humanistische Traktate. Vossius' Rhetorik und Erasmus' De duplici copia verborum ac rerum, boten eine nuancierte Kasuistik, mit deren Hilfe es dem Schüler ermöglicht wurde, alle nur erdenklichen realen und irrealen Situationen zu bewältigen. So trocken das Schema zu sein scheint: „zuerst inveniret, hemach erst disponiret und mit der Elocution ausgeziret und letztlich pronunciret oder agiret": die Dominanz der exempla, die Tendenz zur imitatio, gab ihm praktikable Anschaulichkeit. (Ein Musterbeispiel solcher Praktikabilität: Celtis' Vorlesung Epitoma in utramque Ciceronis rhetoricam cum arte memorativa nova et modo epistolandi utilissimo von 1492.) Dazu Wilfried B a r n e r , Barockrh., aaO., 3. Teil: "Die Verankerung der Rh. im Bildungswesen des 17. Jh.s'. Detaillierte Studien über die mal. und humanistische Sdiul-Rh. — die Ausstrahlung, die von den Rh.-Lehrstühlen an den Universitäten ausging! — bleiben ebenso Desiderate wie Darstellungen der wichtigsten Lehrbücher (Melandithon, Susenbrot, Mosellanus)

und rhet. Viten: Schulbildung, Studieneinflüsse, gelehrte Berufstätigkeit. Wie ergiebig solche Interpretationen sein können, zeigt die Beschreibung der aphthonianischen Progymnasmata, ins Lat. übersetzt von Rudolph Agricola und Johannes Maria Cataneus, kommentiert von Reinhard Lorich, durch Charles Osborne M c D o n a l d , The Rh. of Tragedy, 1966, S. 75 ff. Hier ein aufschlußreicher geraffter Uberblick über das genos epideiktikon, seine amplifizierend-schmüdcenden und malerisch-veranschaulichenden Praktiken und seine Geschichte von Gorgias' 'Verteidigung Helenas' bis hin zu De Quincey's Murder Considered as One of the Fine Arts. Verbindungslinien zwischen der epideiktischen Beredsamkeit der Zweiten Sophistik, der schulrhet. Aufsatzübung und den mittelalterlichen Beschreibungs-Methoden:Hennig B r i n k m a n n , Zu Wesen und Form mal. Dichtung (1928), Emst Robert C u r t i u s , Europäische Lit. u. lat. MA. (1948) und Charles Sears B a l d w i n , Medieval Rh. and Poetic (2. Aufl. 1959). Zur digressio als einem rhet. Amplifikationsmittel, das der 'copia' dient: Michael von Pos e r , Der abschweifende Erzähler. Rhet. Tradition und dt. Roman im 18. Jh. (1969), S. 15 ff. Recht stiefmütterlich ist bis heute die schulrhet., auf der juristischen Textauslegung basierende Hermeneutik behandelt worden. (Rh. lehrte nicht nur, Texte zu m a c h e n ; dank ihres ausgebauten 'Systems', vor allem im Bereich der Stilistik, ermöglichte sie es auch, Dichtung zu i n t e r p r e t i e r e n . Nur wer über das Arsenal der Figuren und Tropen verfügte, konnte hinter der Vielzahl von Bedeutungen den einen Sinn, hinter allegorischen Verrätselungen die Wahrheit erfassen, Hermeneutik betreiben und damit die Prinzipien der Rh., in einem Akt der Instrumentalisierung, nicht zuletzt für das Verständnis christlicher Texte — die Bibel als Kunstwerk! — fruchtbar machen). Grundsätzliches zur rhet. Hermeneutik: Hans-Georg G a d a m e r , Rh., Hermeneutik und Ideologiekritik, in: Gadamer, Kl. Sehr. 1, 1967, S. 117 ff. („Die Erfassung des Textsinns" empfängt „den Charakter einer selbständigen Produktion, die ihrerseits melu- der Kunst des Redners als dem Verhalten seines Zuhörers gleicht. So ist es zu verstehen, daß die theoretischen Mittel der Auslegungskunst weitgehend der Rhetorik entlehnt sind.") Femer Joachim D y c k , Tidit-Kunst, aaO., S. 135 ff. (Kapitel 'Christliche Literaturtheorie'). Die Einheit von Rh. und Dichtung zerbrach, sehr konsequent, in einem Augenblick, als die Poetik ihren normativen Charakter verlor und die historisch bestimmte Ästhetik an die Stelle der Regel-Rh. trat: Um 1700 mehrten sich die Stimmen, die erklärten, daß das klassische Reglement, und in Sonderheit die Drei-Stil-Lehre, nicht mehr in der Lage sei, einer sich mehr und mehr individualisierenden, sozial differenzierten Wirklichkeit beizukommen. Im gleichen Augenblick, da die Poeten anfingen (und das schon im Ba-

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rock), das Axiom der absoluten Rangidentität von Stand, Gattung und Stil zu bezweifeln (die Vorworte zu Gryphius' Cardenio und Celinde und Hofmannswaldaus Helden-Briefen), als man begann, zwischen „Gemüth" und „Geblüth" zu unterscheiden, und rhet. Normen von Seiten der psychologisierenden Experienz in Frage gestellt wurden (Menantes-Neumeister: „Als da redet ein Jäger anders, anders ein Sdiäffer, anders ein Schiffer Wenn man von solchen Leuten schreibet, so soll man auch ihre Redensarten brauchen") — im gleichen Augenblick, als man die Sprache des Herzens gegen die Suade der „nachplaudemden Hofmännchen" (Lessing) ausspielte und die Metaphorik der Umgangssprache entdeckte: das „Verblümte" des wirklichen Gesprächs (der zweite AntiGoeze als Keimzelle einer Rh., die ihre artistischen Elemente durch einen Hinweis auf den republikanischen Markt legitimiert!) — im gleichen Augenblick verfiel mit der Zentralkategorie des „Angemessenen" auch das Lehrgebäude einer Methode, die, auf zeremonielle Realisierung des Bestehenden, Repräsentation und Etikette eingeschworen, sich seit dem 17. Jh. in Deutschland mehr und mehr außerstande sah, ihr Lehrgebäude an die veränderte Gegenwart anzupassen. Mochte der Prozeß langsamer verlaufen als in den ökonomisch weiterentwickelten westeuropäischen Ländern (Deutschland war der letzte Hort des Ciceronianismus; nirgendwo wurde der knappe, vom Geist aufklärerischer Wissenschaft getragene und auf bürgerliches Selbstbewußtsein verweisende piain style, die Bacon'sche Diktion, so spät adaptiert wie hier) — im 18. Jh. hörten audi in Deutschland Aristoteles und Cicero auf, „oratorische Päpste von Unfehlbarkeit" zu sein, der Gottschedianismus hielt die Entwicklung nicht auf, und als die dt. Rh. (Hallbauer: „In Schulen so unbekannt als die Zobeln im thüringischen Wald") endgültig an die Stelle der lat. trat, in der ersten Hälfte des 18. Jh.s, war bereits ein Moment erreicht, da man nicht mehr nur an den Regeln der Rh., sondern an den Regeln schlechthin zweifelte. Zugleich wuchsen seit dem Ausgang des 17. Jh.s die Zweifel an der politischen Relevanz der Rh. (es sei denn, sie beschränkte sich affirmativ auf die Rekapitulation von Reden 'großer Herren und vornehmer Minister' nach Art der berühmten Lüning'schen

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Sammlungen). Einerseits wurde die Kluft zwischen Schule und Leben, dem traditionsreichen Unterrichtswesen und einer Gesellschaftsordnung, in der allein Rationalität und Kalkül ein Weiterkommen ermöglichten, immer offenkundiger — hier der Rhetor vom Schlag des Horribilicribrifax, dort der auf Effekt ausgehende, alle Mittel dem Ziel der persönlichen Karriere unterordnende Weisesche Redner! —, andererseits begann schon im 17. Jh. ein Rhetoriker wie Daniel Richter jene aller aufklärerischen Beredsamkeit feindlichen Elemente des feudalistischen Territorialstaates zu diagnostizieren, die man in den folgenden Jh.en, den Blick nach Westen gerichtet, von Gottsched bis Heine — das Bekenntnis zum' Volksredner' in der Denkschrift über Börne! —, von Herder und Schubart bis Börne, von Abbt bis Mündt so leidenschaftlich anprangerte, — des Untertanenstaates, beherrscht von einem Mann, dessen rhet. Verpflichtungen schon anno 1686 von Veit Ludwig Seckendorff mit dem Satz umschrieben wurden: „Er hat nicht viel Worte mehr bedurfft als ein Hauptmann, wann er seine Compagnie exerciret oder commandiret" (Mehr als 200 Jahre später, 1917, variierte Wilhelm II. den Satz durch das Diktum: „Wo die Garde auftritt, gibt es keine Demokratie.") Zum Verfall der Rh. im Zeichen des Ubergangs von der Regel-Poetik zur analysierenden Ästhetik und zur Verwandlung der Kategorie des 'Angemessenen': Ludwig F i s c h e r , Gebundene Rede, aaO., S. 262 ff. — In diesem Zusammenhang muß noch einmal nachdrücklich betont werden, daß das Ende der Sdiulrh. keineswegs das Ende der Rh. schlechthin bedeutet — sie entfaltet sich im Zeichen der new rh. heute so lebendig wie eh und je —, und was die Schulrh. betrifft, so hat selbst sie, jedenfalls hier und dort, bis in unser Jh. hinein nachgewirkt, von Goethe bis zu Nietzsche und Hofmannsthal („Das nidit zu erschöpfende Werk Emesti's Technologia rhetorica Graecorum et Romanorum lag mir immer zur Hand; denn dadurch erfuhr ich wiederholt, was ich in meiner schriftstellerischen Laufbahn recht und unrecht gemacht hatte" — ein Zeugnis, das für unzählige andere steht, nachzulesen in der G r u m a c h ' schen Edition Goethe und die Antike Bd. 2 [1949], S. 893 ff.). Hier harrt noch ein großes Feld der Bearbeitung, freilich bei weitem nicht das ergiebigste, wenn man bedenkt, daß selbst Epochen wie der Humanismus und das 18. Jh. unter rhet. Aspekten kaum behandelt worden sind. Wie viel noch zu tun, wie groß der Vorsprung der angelsächsischen Forschung ist, wie viele weiße Flecken es gibt — das Fehlen von

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rhet. Biographien (Exempel der Primärliteratur: Heine, Lord Brougham beschreibend; Börnes Analyse des Redners Robespierre; Laubes Charakterisierung der Paulskirchen-Rh.; Hofmannsthals Interpretation der Rh. Victor Hugos), die kaum behandelte Schultradition, die Vernachlässigung der Zweckformen und ihrer persuasorischen Elemente —, verdeutlicht die Bibliographie. Zur Auseinandersetzung zwischen Ciceronianismus und Seneca-Stil und — Ausdrude mangelnder bürgerlicher Emanzipation! — der rhet. 'Verspätung' in Deutschland, EricA. B l a c k a l l , aaO., S. 110 ff. — Zum Thema Rh. und Politik in Deutschland: Zeugnisse bei Hellmut G e i ß η er, Rede in der Offentlidikeit (1969), S. 11 ff. und Walter J e n s , Von deutscher Rede (1969), S. 16 ff.

in bürgerlicher Umgebung am Platz, wie mache ich mich als Prediger zugleich den literati und illiterati verständlich? Auf welche Weise kann ich — Problem der JesuitenRh.: quam apte se orator insinuet — die Wünsche und Vorurteile meiner Partner berechnen, wie meine Insinuation entsprechend ihrer Motivation formulieren, mit Hilfe welcher Formeln mich auf den Habitus der Adressaten einstellen — affirmativ (Christian Weise: „Femer muß er [seil, der galante Redner] auch die Person erkennen, die er zur Affectation bewegen will. Erstlich ihrem Ampt und Verrichtungen nach / ferner ihrem Rang und ihrer Extraction, ja wol ihrem äußerlichen Glücke nach / endlich ihrem sonderbahren Humeur und Inclination nach") oder, im Gegenteil, auf die Negation der Identität von Redner und Hörer bedacht (Lassalle: „Ihnen, den notleidenden Klassen, gehört der Staat, nicht uns, den höheren Ständen")? All diese Fragen, ursprünglich aus der Gerichtsrh. stammend und vom Bestreben bestimmt, dem Richter die eigene Sache möglichst plausibel erscheinen zu lassen, akzentuieren die mal. artes dictandi so gut wie die Komplimentier-Lehren der Galanten (Weises insinuative Technik des 'Zuckerstreuens' um des größtmöglichen Effektswillen!) oder die barocken Bühnenreden (Antonius, der in Shakespeares Julius Caesar angemessen redet und sich, die Kunst des Insinuierens beherrschend, auf sein Publikum einstellt, während Brutus die Lage verkennt), und sie haben gerade in unserem Jh., im Zeichen der new rh., an Aktualität gewonnen.

§ 9. Ist der Redner (mit seinem Ethos und seiner Glaubwürdigkeit) das Subjekt, so ist das Publikum (mit seiner psychischen Disposition und seinem Affekthaushalt) das Objekt der Rh. Schon Aristoteles stellte den Aspekt 'Publikum' neben die Faktoren 'Rede' und 'Redner', und seitdem hat die Rh., und nicht zuletzt, konfrontiert mit dem Problem einer im Glauben geeinten, sonst aber höchst inhomogenen Gemeinde, die Homiletik, nie aufgehört, das Problem des 'äußeren aptum' im Sinn einer optimalen Anpassung der Äußerungen an die gegebenen Umstände (Ort, Zeitlage, Publikumsgliederung) zu analysieren (Tauler, im Frauenkloster, verwendet, rhet. konsequent, andere Stilmittel als Berthold von Regensburg auf offenem Markt). 'Angemessen' zu reden bedeutete von der Antike bis zur Neuzeit so viel wie: Die adäquate Abbildung der Gegenstände, vor allem die sprachliche Adaption der sozialen Ordnung, mit maximaler Beeinflussung der Rezipienten zu vereinen. Welche Umstände verlangen die Mobilisierung welDie amerikanische 'neue' oder 'wissenschaftcher rhetorischer Formen? Mit Hilfe welcher liche' Rh., die, interdisziplinär strukturiert, auf Methoden ist eine Idealrelation zwischen einer Kooperation von KommunikationswissenSprache und Objekt, der Diktion und dem schaft, Soziologie, Individual- und SozialpsychoZweck, Stil und Umständen erreichbar? logie, Politologie, Linguistik und 'klassischer' Rh. beruht und vor allem durch Hovland, Lass(„Ich kann nicht in gleicher Weise spre- j well, Lazarsfeld und Schramm vorangetrieben chen auf einer Betriebskundgebung und in wurde (zu deren Inauguration aber auch I. A. einem Kosakendorf, in einer Studentenver- Richards beitrug und die vor allem der Literasammlung und in einer Bauernrede Die turkritiker Kenneth Burke entscheidend förderte, der an die Stelle der alten 'persuasion'-Wa. die Kunst besteht darin, einen gegebenen Hörer- neue, auf identification abzielende Beredsamkreis auf beste Weise zu beeinflussen": ein keit setzte), diese Rh. untersucht einerseits die Satz, der exemplarisch beweist, daß die Re- sozialen und psychologischen Bedingungen, die eine Beeinflussung der Rezipienten durch die geln der Rh. auch im 20. Jh. noch von Belang sind. Er stammt von Lenin.) Wie spreche ich Kommunikatoren ermöglichen, und analysiert andererseits das Zeichenarsenal, dessen Anweneinen Regenten, wie den Untergebenen an? dung unter bestimmten Bedingungen zu beWie schreibe ich dem Bischof, wie dem stimmten, experimentell abgesicherten und emFreund, welche Sprache ist bei Hofe, welche pirisch belegbaren Wirkungen führt. In diesem Zusammenhang hat sich gezeigt, wie lebendig

Rhetorik zumindest Teil-Aspekte der Schul-Bh. audi heute noch sind: Versuche der Hovland-Schule (welche Argument-Anordnung ist die beste? Was für einen Einiluß auf die Meinungsbildung hat die Glaubwürdigkeit des Redners? Erreicht ein starker oder ein schwacher Appell an die Affekte besser sein Ziel? Wie ist die sozio-psychologisdie Struktur der Ansprechbaren?) variieren stereotype rhet. Doktrinen; die Theorie der attention und interest area (Kathrin Dovring) erinnert an die alten exordium-Vorschriften (der Hörer muß durch die Einleitung lembereit, aufmerksam und freundlich gestimmt werden), die Lasswell-Formel — 'who says what in which channel to whom with what effect' — hat zumindest teilweise formale Ähnlichkeiten mit der hexametrischen Suchformel des Mathieu de Vendöme: quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando? Diese Übereinstimmungen, die sich, ζ. B. durch eine Analyse der sozio-linguistisdi definierten Lasswell'schen Begriffe doctrina, miranda, formula etc., beliebig erweitern lassen, beruhen auf jenem rhet. Element des 'Affectuösen', 'Situativen' und 'Persuasorischen', das, lange verkannt, im Zeichen der modernen Kommunikationswissenschaft wieder relevant wird: einerlei, ob sie nun politologisdi orientiert ist und die 'technique of persuasion' untersucht oder als Linguistik den pragmatischen, die intentionale Realisation von Sprachlichem betreffenden Aspekt betont, ob sie, im Sinn der Paralinguistik, die Prinzipien der optischen Demagogie (Plakat, Werbespot, Mode) oder, Kommunikations Wissenschaft im engeren Sinn, die Effizienz der Zeichenübermittlung im Sender-Empfänger-Bezug mitsamt ihren Implikationen untersucht, immer geht es um die Beschreibung eines der Zielvorstellung (des Redners, Kommunikators) entsprechend instrumentalisierten und von politischen, sozialen und psychologisdien Faktoren funktional abhängigen Zeichensystems, eines Systems, dessen rhet. Struktur die new rh. an Hand der These verdeutlicht hat, daß es eine 'neutrale' Sprache nicht gebe und daß selbst simpelste Aussagen 'pragmatisch', d. h. intentional, situativ ausgerichtet und damit 'rhetorisch' im Sinn von 'persuasorisch' seien. Eine Zusammenstellung der wichtigsten Rh.-Definitionen von Seiten der new rh., die alle die Thesen Kenneth Burkes variieren „Where ever there is meaning, there is persuasion" und „effective literature could be nothing else but rh." oder das Diktum Jane Blankenships umschreiben: „The key word of rh. is effect" bei A. Craig B a i r d , Rh. A Philosophical Inquiry, S. 7 ff. und Donald B r y a n t , Rh. Its Function and Scope, in: Joseph S c h w a r t z und John A. R y c e n g a , The Province of Rh. (1965). Eine knappe kritisch-informative Darstellung des Verhältnisses von 'klassischer' und 'new' Rh. unter dem Aspekt 'Rh. und Werbung' gibt Ludwig F i s c h e r , Alte und Neue Rh., in: Format 5, 1968, S. 2 ff. Zur Relation von Linguistik und Rh. ist besonders aufschlußreich die Interpretation und historische Analyse des pragmatisch-rhet. Komplexes und seine Abgrenzung vom syntaktisch-semantischen Modell der Philosophie durch Karl Otto A p e l ,

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Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico, in: Archiv für Begriffsgeschichte 8, 1963, S. 27 ff. Eine umfassende Darstellung des Problems, die der Saussure'schen Unterscheidung von langue und parole — parole als rhet. Element — in gleicher Weise wie der (durch Charles Morris eingeführten) pragmatischen Dimension Raum geben müßte, steht ebenso aus wie eine Analyse politischer Rh. (im weiteren Sinn), ihrer "Umfunktionierung', entsprechend der Adaption an die jeweiligen ökonomischen, politischen und ideologischen Determinanten und der gesellschaftlichen Rolle, die sie dabei spielt. Zumal für den dt. Bereich fehlt eine ideologiekritische, Sprache als Instrument gesellschaftlicher Interessen wertende Darstellung politischer Beredsamkeit, deren Aufgabe es wäre, Einzelergebnisse zusammenzufassen (Antithese zwischen der faktisch-organisch-ethisch argumentierenden Beredsamkeit der Konservativen und der rational-philosophisch-vernünftig-logisch operierenden Rh. der Linken; adjektivbestimmter Stil der statusquo-Vertreter, verbale Diktion der Opposition, Imperativische, aufs movere beschränkte Rh. des Faschismus; Theorie der 'Macht der Rede' als rhet. Vehikel liberalen Räsonnements) und die Ergebnisse der Kommunikationswissenschaft — neben den Forschungen Lasswells in diesem Fall besonders die Methoden des Speech-Criticism — fruchtbar zu machen. (Der Redner berücksichtigt die Gruppenzugehörigkeit der Aufnehmenden, richtet sich nach dem Maß ihrer Vorinformation, ideologischen Stereotypen und normativen Symbolen.) Grundsätzliches dazu in den im Abschnitt 'Rh. und Politik' zitierten Arbeiten von Dieckmann und Zimmermann. Außerdem: Walther D i e c k m a n n , Information oder Überredung. Zum Wortgebraudi der politischen Werbung in Deutschland (1964), vor allem S. 11 ff. (Kapitel: „Die Anregungen der angelsächsischen Sprachanalyse und Kommunikationsforschung"). Roland B a r t h e s , Mythen des Alltags (1964), S. 130 ff., besonders S. 140 ff. (Beschreibung der Hauptelemente bürgerlicher Rh., in erster Linie der Tautologie, die in der methodisch und sachlich besonders wichtigen, die Ergiebigkeit einer ideologiekritischen Behandlung von politischer Rh. demonstrierenden Arbeit Lutz W i n e k l e r s : Studie zur gesellschaftlichen Funktion faschistischer Sprache [1970], S. 93 als „stilistische Schlüsselfigur der faschistischen und der modernen Reklamesprache" deklariert wird). § 10. So kompliziert, als ein Resultat der Kooperation, das System der new rh. (postaristotelischen oder wissenschaftlichen Rh., rhetorica nova, nouvelle rhetorique) auch ist, nicht nur seine linguistischen (Charles Morris bezeichnet die Rh. als „an early and restricted form of pragmatics"), sondern audi seine psychologischen Konstituentien basieren auf den Theorien, die die alte Rh., von Piaton bis Bacon, von Aristoteles bis Pascal

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und Lessing — und weit darüber hinaus — im Rahmen ihrer Affektenlehre entwickelte: Die Seele als ein Schlachtfeld, auf dem die Fassionen ihre Kämpfe ausfechten, Kämpfe zwischen guten und schlechten Affekten, den Leidenschaften und dem Verstand, der ratio und der Phantasie, Kämpfe, die der Rhetor, mit Hilfe der argumenta illustrantia und probantia zu beeinflussen h a t . . . und das im Sinne jener rhet. Doktrin, die besagt, daß die Menschen leichter durch einen affektuösen Appell an die Passionen als durch den rationalen Appell an den Verstand: eher willensmäßig durdi die Kunst des 'Feinsinns* (Pascal) als 'more geometrico' im Sinne der rednerischen Intentionen gelenkt werden können, eher dadurch, daß der Redner um des Effekts willen „Gründe in Bilder kleidet", „durdi die Phantasie auf den Verstand wirkt" (Lessing) und der 'persuasion d'eloquence' im Gegensatz zur 'conviction de la philosophie' (Εέηέΐοη) vertraut, als daß er das Wagnis eingeht, mit der reinen Lehre die Festung der Affekte zu erobern. (Das Bild von der belagerten Burg ist ebenso topisch wie die Vorstellung vom Seelenschlachtfeld, das in moralischem Sinn zu befrieden Aufgabe des Redners, vor allem des christlichen Predigers sei, dessen Vortrag darum in besonderer Weise auf die commotiones affectuum hinwirken müsse: Noch im 18. Jh. gehört der Abschnitt 'De pathologia' als fester Bestandteil zur Homiletik.) Die Geschichte der Affektenlehre — conditio sine qua non einer umfassenden Darstellung der Rh. — ist noch nicht geschrieben, selbst Einzeluntersuchungen sind spärlich: Wilhelm D i l t h e y , Die Affektenlehre des 17. Jh.s, Ges. Schriften Bd. 2 (7. Aufl. 1964), S. 479 ff.; Antje Η ell wig, Untersuchungen zur Theorie der Rh. bei Piaton u. Aristoteles, Diss. Bonn 1970, S. 236 ff. (die Bedeutung der platonischen Seelenlehre für die Rh.). Zu der eine jh.lange Tradition zusammenfassenden rhet. Affektenlehre Bacons („Aufgabe der Eloquenz ist es, jene Instanz der Phantasie zu erreichen, die zwischen den Affekten und der Vernunft vermittelt, sie auf insinuative Weise von den Passionen zu trennen und durdi eine Konföderation von ratio und imaginatio jene Herrschaft der Affekte zu inhibieren, die unausweichlich wäre, wenn es ihnen gelänge, mit der Phantasie eine Allianz einzugehen . . . und eben das zu verhindern ist die Aufgabe einer um die Psychologie der rhet. Wirkung wissenden Eloquenz I"): Karl L. W a l l a c e , Francis Bacon on Communication and Rh. The Art of Applying Reason to Imagination for the Better Moving of the Will (1943) und

Robert A d o l p h , The Rise of Modem Prose Style (1968), S. 173 ff. Ergänzend: Patricia T o p l i s s , The Rh. of Pascal (1966). Die Berücksichtigung psychologischer Elemente, der Adressatenbezug, das Sich-Einstellen auf ein bestimmtes Publikum: die argumentatio ad hominem ist es, die der Rh. ihre Soziabilität gibt und sie, als eine aufs Glaubhaftmachen des Wahrscheinlichen abhebende Wissenschaft, zumindest idealtypisch von der monologisch, ohne Rücksicht auf die Adaptierbarkeit der erkannten Wahrheit argumentierenden Philosophie trennt. (Geschichtlich freilich ist die strenge Antithese unhaltbar, das Luther'sche 'Dialectica docet, Rh. movet' durch eine Fülle von Uberlagerungen und Verschiebungen der Positionen in Frage gestellt. Wenn Kenneth Burke in einem Essay über semantisches und poetisches Benennen erklärt: „Dieser Essay kann als eine rhet. Verteidigung der Rh. gelten" und später in einer Anmerkung hinzufügt: „Mir scheint, dialektisch an Stelle von rhetorisch wäre der bessere Ausdruck", so gibt er damit einer Ambivalenz Ausdruck, die ihren Grund nicht zuletzt in der 'dialektischen', von der aristotelischen Topik akzentuierten Struktur der beiden ersten partes oratoriae, inventio und dispositio, hat.) Der Topos der offenen Hand (der Rh.) und der geschlossenen (der Dialektik), von Cicero (Orator 32,113) Zenon zugeschrieben, von Quintilian und Sextus Empiricus emeut aufgegriffen und in der Renaissance weit verbreitet, bezeichnet nicht nur den Unterschied von kurzer und ausführlicher Darstellung, er verweist auch auf die Antithetik von esoterischer und exoterischer Manier — Philosophie für die Eingeweihten, Rh. für die große Masse — und deutet an, daß Rh. — als Antistrophe zur Philosophie: eloquentia, die sapientia im hic et nunc ansiedelt — das Denken immer in einen Bezug zur Praxis setzt und sich auf die Welt einläßt, indem sie lehrend, ergötzend und rührend Wahrheit 'realisiert' (Friedrich Schlegel spricht von der „enthusiastischen Rh.", „deren Sache es sei, die praktische Unphilosophie und Antiphilosophie nicht bloß dialektisch zu besiegen, sondern real zu vernichten", Novalis nennt die Rh. eine „technische Menschenlehre": „Rh. . . . begreift die angewandte oder psychologische Dynamik und die angewandte, spezielle Men-

Rhetorik schenlehre überhaupt in sidi"). So betrachtet, ist es die eigentliche Aufgabe der Rh., Wissenschaft zu einem Gesellschaftsfaktor zu machen, der Fach-Isolation und dem Spezialistentum nicht anders als der imperativischen Dogmatik: allem Inhuman-Ungeselligen also entgegenzuwirken und einen sensus communis befördern zu helfen — ein Maximum von Gemeinsamkeit, das es ermöglicht, zu einer raschen und sicheren Übereinkunft auf der Basis des Wahrscheinlichen, dem Fundament des begründet glaubhaft Gemachten zu gelangen. Darstellung der Rh. unter den Aspekten der Praktikabilität, humanen Relevanz und 'sozialen Ubiquität': Hans Georg Gad am er, Wahrheit und Methode, aaO., S. 172. Den Praxis-Bezug der Rh., ihre Fähigkeit, den Gedanken zur Wirklichkeit hinzuführen, „Sachkunde" in „Lebenskunde" (Magass) zu verwandeln und die Diskrepanz zwischen 'Kultur' und 'Gesellschaft' aufzuheben, betont auch Theodor W. Adorno, Negative Dialektik (1966), S. 63 ff. Man sieht, an Ehrenrettungen mangelt es nicht; die Zeit ist vorbei, da Rh. nur noch Antiquariats-Charakter besaß; auch die dt. Literaturwissenschaft, in erster Linie die Barockforschung, hat, wie die Publikationen der letzten Jahre beweisen, inzwischen begonnen, diesen Tatbestand zu realisieren; allein das Faktum, daß — undenkbar um 1950! — ein Literaturbericht über das Schrifttum zur Rh. in den sechziger Jahren im Bereich der Germanistik erscheinen konnte, spricht für sich selbst. B i b l i o g r a p h i e : James W. C l e a r y u. Frederick W. H a b e r m a n , Rh. and Public Address. A Bibliography 1947-1961 (Madison 1964). Robert C. Alston u. James L. R o s i e r , Rh. and Style. A Bibliographical Guide. Leeds Studies in English. New Ser. 1 (1967) S. 137-159. Hellmut G e i ß η er, Sprecltkunde u. Sprecherziehung. Bibliographie d. dt.sprachig. Lit. 1955-1965 (1968). Jährliche Bibliographien (A Bibliography of Rh. and Public Address for the Year ...) in der Zs. Speech Monographs und, von 1968 an, in Speech Abstracts, Vol. 1, ed. by Earl R. Cain u. a. California State College - Long Beach 1970. Forschungsberichte: Alfredo Schiaff i n i , Rivalutazione della Retorica. ZfromPh. 78 (1962) S. 503-518. Lea R i t t e r S a n t i n i , La scienza della persuasione. Vorw. z. ital. Ubers, von L a u s b e r g , Elemente d. literar. Rh. (1969). Birgit S t o l t , Tradition u. Ursprünglichkeit. E. Überblick über d. Schrifttum z. Rh. in d. 60er Jahren im Bereich d. Germanistik. StNeophil. 41 (1969) S. 325-338. Wilfried Β a m er, Barodirh. (1970) S. 3-85. System und T e r m i n o l o g i e : Heinrich L a u s b e r g , Handbuch d. literar. Rh. 2 Bde. (1960). Ders., Elemente d. literar. Rh. (1963; 3. erw. Aufl. 1967). Ders., Rhetorik, in: Das Fischer Lexikon, Literatur, Bd. 2/2 (1965)

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Rhetorik

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Rhetorik

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Rhetorik

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Rhetorik — Rhythmus

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zer betroffen. Welche Stellen seiner Vitalität dabei angesprochen werden, dessen wird er sich kaum bewußt. Vorwiegend scheint Rh. etwas H ö r b a r e s zu sein, aber im Erlebnis setzt er sich in ein allgemeines körperliches B e w e g u n g s g e f ü h l um. Dieses wiederum scheint zu dem sinnlich-vitalen Komplex, der durch Bewegung auf die Schwerkraft reagiert, in besonders naher Beziehung zu stehen. Meint man doch in dem vom lebendigen Bewußtsein gelösten Schwerkraftverhalten der Marionette ein gesteigertes und vollkommeneres Abbild des Rh. wahrzunehmen (Kleist). Auch die bekannte Tatsache, daß eine Folge gleichbleibender akustischer Signale (ζ. B. das Ticken des Metronoms) in Gruppen aus „Hebung" und „Senkung", d. h. als Wechsel von „schwer" und „leicht" umgehört wird, weist in die gleiche Richtung: die Bezeichnungen „schwer" und ..leicht", Metapher des Wägens, der Schwerkraftwahmehmung durch Bewegung, stellen sich unmittelbar ein und werden unmittelbar verstanden. Um Rh. zu erleben, bedarf es jedoch der sinnlichen Wahrnehmung oder des Vollzugs in der Bewegung nicht. E r kann als innere Gestalt in der Vorstellung hervorgerufen werden. Andrerseits wird er auf mancherlei Weise sinnlich erfahren und in mancherlei Substraten aktiv verwirklicht. Die Unterscheidung, die Andre Jolles zwischen „einfachen Formen" (s. d.) und „aktualisierten Formen" getroffen hat, gilt in hohem Maße auch für das Rhythmische. Ta, dns Erleben des aktualisierten Rh., die Entscheidung, ob eine aktuelle Gestalt Rh. habe oder nicht, geht ganz und gar im Innern vor. Schwer läßt sich fassen, worin die Freude am Rhythmischen besteht. Doch ist sie so stark und unmittelbar, daß derjenige, der sie bewußt erfährt, sich bei jedem Mal aufgerufen fühlt, aufs neue davon zu zeugen, und er meint damit zugleich Zeugnis von etwas Allgemein-Menschlichem abzulegen. Dieses unmittelbare Beteiligtsein läßt sich auch nicht ausschalten, wenn man versucht, die Erfahrung des Rh. wissenschaftlich zu objektivieren. Fast jede wissenschaftliche Äußerung über Rh. setzt neu bei den Ursprüngen an und tritt mit Absolutheitsansprüchen auf. Wenn es so schwer gelingt, in den Wissenschaftszweigen, die es mit dem Rh. zu tun

Rhythmus haben, methodische und terminologische Ubereinstimmung zu erzielen, und wenn mandie an sich berechtigte Forschungsrichtungen auf diesem Gebiet an die Grenze der Mitteilbarkeit geraten, so ist das im Gegenstande selbst begründet. Aus der 1. Auflage des Reallexikons sind folgende Artikel von Paul H a b e r m a n n heranzuziehen: Metrik, Metrum, Monopodisdie Verse, Pause, Prosodie, Quantität, Rhythmus, Sagvers, Schallanalyse, Schallform·, Silbenmaß, Sprachmelodie, Takt, Ton. Bibliographien und Sammeldarstellungen zu Rh. und Periodik: C. A. R u c k m i c h , A Bibliography of Rhythm. The American Journal of Psychology 24 (1913) S. 508-520, 26 (1915) S. 457-459, 29 (1918) S. 214-218. — Hellmuth Christian W o l f f , Das Problem d. Rh. in d. neuesten Lit. [ca. 1930-1940]. Ardiiv f. Spradi- u. Stimmphysiologie 5 (1941) S. 163195. — Kurt W a g n e r , Phonetik, Rhythmik, Metrik. German. Philologie. Festschr. f. Otto Behaghel (1934; Germ.Bibl. I, 19) S. 3-18. — Dietrich S e c k e l , Hölderlins Sprachrhythmus. Mit... e. Bibliographie zur Rh.-Forsdiung (1937; Pal. 207). — Berichte übet den 3. Kongreß f. Ästhetik u. allgem. Kunstwissenschaft. Zs. f. Ästhetik 21 (1927). — Studium Generale 2 (1949): Sammelheft über Rh. und Periodik. — Walther D ü r r u. Walter G e r s t e n b e r g , Rh., Metrum, Takt. MGG 11 (1963) Sp. 383-419. Rudolf W e s t p h a l , Theorie d. nhd. Metrik (1870; 2. Aufl. 1877). Ders. Allgemeine Metrik d. idg. u. semit. Völker auf Grundlage d. vgl. Sprachwissenschaft (1892). Ders. Allgemeine Theorie d. musikal. Rhythmik (1880).— Jacob M i n o r , Nhd. Metrik (2. Aufl. 1902). Franz S a r a n , Dt. Verslehre (1907). Ders. Deutsche Verskunst (1934). Andreas Heusl e r , Dt. Versgeschichte Bd. 1 (1925). Fritz L o c k e m a n n , Der Rh. des dt. Verses (1960). — Albertus Wilhelm de G r o o t , Der Rh. Neophilologus 17 (1932) S. 81-100, 177197, 241-365. Ders., Algemene Versleer (s'Gravenhage 1946; Servire's Encyclopaedie, Afd. Taalkunde 1). — Eugene L a n d r y , La Theorie du rhythme et le rhythme du frangais άέclam6 (Paris 1911). — Carlo C e t t i , 11 ritmo in poesia (Como 1938). — Friedrich Kossmann, Nederlandsdi Versrhythme ('s-Gravenhage 1922). — Arthur A r n h o l t z , Studier i poetisk og musikalisk rytmik 1. (Kopenhagen 1938). Werner D ü r r , Untersuchungen z. poetischen u. musikalischen Metrik. (Masdi.) Diss. Tübingen 1962. Hugo R i e m a n n , System d. musikalischen Rhythmik u. Metrik (1903). § 2. Die D e f i n i t i o n e n , die versucht worden sind, enthalten die Elemente des „Gestalthaften" und des „Gegliederten" und beziehen Rh. mit Nachdruck auf einen Z e i t -

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v e r l a u f .Rh. ist ..jede als solche wohlgefällige Gliederung sinnlich wahrnehmbarer Vorgänge" (Säran); „Gliederung der Zeit in sinnlich faßbare Teile" (Heusler); „die Ordnung im Verlauf gegliederter Gestalten, die durch regelmäßige Wiederkehr wesentlicher Züge ein Einschwingungsstreben erweckt und befriedigt" (Trier). Das doppelte Prädikat in der letzten Definition („erweckt und befriedigt") zeigt an, daß der rhythmische Vorgang durch Polarität bestimmt ist. Zwei Prinzipien (Lipps) sind dabei zu unterscheiden, in deren Spannung Rh. entsteht: eine Folge von kleinsten Einheiten, die gewissermaßen den Rh. signalisiert, und eine größere Phase, in der er spontan als Gestalt (Ordnung) wahrgenommen wird. Das Signal erweckt Erwartung und Spannung, in der Wahrnehmung der „Gestalt" findet sie ihre Erfüllung und Lösung. Während Saran die Beziehung zwischen rhythmischem Signal und dem Gestalterlebnis ästhetisch definiert, indem er den Begriff des „Wohlgefälligen" einsetzt, bleibt Trier mit seinem Begriff des „Einschwingungsstrebens" im Bereich des vorästhetisch Vitalen und trägt dadurch der Allgemeinheit des Phänomens Rechnung. Theodor Lipps war ihm mit einer ähnlichen Metapher vorausgegangen, als er feststellte, daß der ..elementare rhythmische Sinn . . . darin sich gefällt, eine bestimmte Weise des Auf- und Abwogens der inneren Bewegung und ihrer sukzessiven Gliederung ungestört weiter zu erleben, d a r i n s i c h zu ' w i e g e n ' " (Ästhetik I S. 375). Die Definitionen enthalten uns jedoch vor, an welcher psychischen oder psychophysischen Stelle der „elementare rhythmische Sinn" sich „einschwingt" oder „einwiegt". Die Antwort darauf ist im § 1 vorbereitet worden; es ist das dort erwähnte „innere Bewegungsgefühl" Dem entspricht die Wahl der Metaphern „einschwingen" oder „sich wiegen" genau. Ebenso aber bedarf die Stelle, an der die rhythmischen „Signale" wahrgenommen werden, einer genaueren Bestimmung. Rh. ereignet sich als „Gliederung der Z e i t in sinnlich faßbare Teile" Nachweislich ist das G e h ö r vor allem dazu befähigt, zeitliche Bewegungsimpulse gestalthaft wahrzunehmen. Haptische, kinetische oder optische Reizes treten hinter den akustischen zurück. Demnach scheint die Spannung zwischen den beiden rhythmi-

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Rhythmus

sehen Grundprinzipien in der Regel zwischen akustischer und kinetischer Vorstellung, einem „inneren Hinhören" und einem Einschwingen in das „innereBewegungsgefühl", vor sich zu gehen. Die Qualität und Abgrenzung der rhythmischen Zeitwerte hängt von der Fähigkeit des Gehörsinnes ab, akustische Gestalten bis zu einer gewissen Zeitgrenze simultan aufzunehmen. Die Psychologie hat dieses Zeitvermögen experimentell geprüft. Schon Herbart (vgl. Meumann, Philosoph. Studien 10 S. 274 ff.) ermittelte als Optimum eine Sekunde, die experimentelle Phonetik (vgl. de Groot nach Stetson) verfeinerte es auf % Sekunde. Die unmittelbare Erfahrung ist jedoch allen exakten Versuchen weit vorausgegangen. Schon die antike metrische Theorie ging von dem Zeitwert eines χρόνος πρώτος (einer mora) aus, der sich in etwa den gleichen Grenzen hält. Am entschiedensten bekennt sich die Musikwissenschaft zu einem festen G r u n d z e i t w e r t . „Langsam" und „Schnell" sind in der Musik keine relativen Begriffe, sondern bezeichnen die Abweichung von einem festen Grundwert nach oben oder unten. Die Musiklehre tut sogar den weiteren Schritt, mit dem ihr die Psychologie nur zögernd vorangegangen war, und setzt den Grundzeitwert mit der Dauer einer mittleren Pulsgeschwindigkeit gleich. „Das System der mus. Tempi hat seinen Ursprung offenbar im psychophysischen Organismus des Menschen" (MGG 11, Sp. 385). Auch die nächsthöhere rhythmische Phase, die P e r i o d e , kann noch simultan wahrgenommen werden. „Die Psychologie hat beobachtet, daß das Maximum einer erfüllten Dauer zwölf Sekunden beträgt" (MGG 11, Sp. 387). Das ist freilich die oberste Grenze. In der Regel wird die rhythmische Periode ungefähr zur Atemperiode in ein Verhältnis treten, mit der sie zudem die Beziehung auf Spannung und Lösung gemein hat. Über das simultan Wahrnehmbare hinaus läuft der rhythmische Vorgang dann ohne spürbare Grenze weiter, indem sich Periode an Periode schließt, wobei das „Einschwingen" der Erwartung eine bestimmte Richtung gegeben hat und das Erinnerungsvermögen es erlaubt, den Verlauf weiterzuverfolgen. Dabei kann schon die einzelne rhythmische Periode — aber e r s t sie, und nicht die rhythmischen

Figuren im Umkreis des Grundzeitwerts — Spannung und Lösung in sich fassen; häufiger aber hält die Spannung über mehrere Perioden an und wird erst zu Ende einer Periodenkette gelöst. Die rhythmische Grundfigur kann sich über mehrere Periodenketten fortsetzen. Für die Folge der kleinsten rhythmischen Einheiten ist der Begriff der Periodizität bisher ausgespart worden, obwohl ihre „regelmäßige Wiederkehr" in den meisten Rh.Definitionen als etwas Selbstverständliches und Unumgängliches erscheint. Das den Rh. hervorrufende Signal kann in der Tat motorisch gleichmäßig sein, muß es jedoch nicht. Wichtiger ist, daß es die Erwartung einer Ordnung weckt, wodurch immer sie bestimmt sein mag. Wenn wir regelmäßige Abstufung und Wiederholung der kleinsten Phasen (Schwer und Leicht, Versfüße, Takte) erwarten, so mag dabei auch rhythmische Gewöhnung mitspielen. Denn das rhythmische Gehaben ist etwas Geübtes und Erlerntes, nicht anders als das Zusammenspiel der Glieder, das Gehen, die Gestik, die Sprache. Es beruht auf allgemeinmenschlichem Vermögen, verwirklicht sich jedoch nur in historischen, nationalen und personalen Varianten. Greift man die (relative) Periodizität der kleinsten Phasen mit ein, so ergibt sich die rhythmische Gesamtgestalt aus der Dialektik dieser Periodizität und ihrer Aufhebung in der nächsthöheren Phase und in der Verkettung solcher Phasen („Perioden") unter dem Prinzip von Spannung und Lösung. Wird die Lösung zu lange hinausgezögert, insbesondere durch hartnäckige Wiederholung kleinster motorischer Phasen, dann schlägt Rh. zwar nicht ins Arhythmische um, aber er wird verkrampft; an die Stelle des „Einschwingens" tritt ein manischer Zwang. Auch diese Erscheinungsform des Rh. spielt eine wichtige Rolle sowohl im vorästhetischen wie im ästhetischen Bereich. So kann Rh. dem einen mehr als Folge regelmäßiger Glieder (bis hin zur motorischen „Zwangsvorstellung"), dem andern hingegen im Bilde von langsam an den Strand laufenden „Wellen", deren keine der andern gleich ist, erlebbar werden. Wenn dabei die Dialektik der beiden „rhythmischen Grundprinzipien" nicht beachtet wird, kommt es zu Polemik und Mißverstehen.

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Diese Grundprinzipien lassen sich unter folgenden Stichwörtem schematisch einander gegenüberstellen:

schen die Skala des „Einschwingens" reicht, selbst wenn es im Bereich eines Nur-Denkbaren geschieht.

rhythm. Periode Gestalt Spannung/Lösung „Welle" Bewegungsgefühl Atem.

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Grundzeitwert — Gliederung — Periodizität — kleinste rh. Einheit Gehör — Pulsschlag —

Aus § 14 läßt sich schließlich noch das Begriffspaar „multiplikativer" (orchestischer) und „additiver" (melischer) Rh. in das Schema übernehmen. § 3. Es unterliegt keinem Zweifel, daß Rh. primär als gegliederter V e r l a u f , also in der Dimension der Z e i t , erfahren wird. W e n n man Rh. auch auf R ä u m l i c h e s bezieht, so liegt darin eine Übertragung: Zeitliches Abschreiten abstrahiert sich auf den gesehenen Raum. Die Übertragung wird dadurch erleichtert, daß schon die Sprache Räumliches und Zeitliches vielfach durch die gleichen Zeichen wiedergibt. Zudem ist das Auge gewohnter, Gestalten mit einem Blick zu erfassen, als das Ohr es ist, sie zu „überhören". Vor allem aber zeigt die Ausweitung des Rh.-Begriffs auf den Raum, ein wie starker und unmittelbarer Gefühlsimpuls vom Rh. ausgeht. Das gleiche gilt hinsichtlich der Erweiterung des Rh.begriffs auf zeitliche Perioden, die der unmittelbaren rhythmischen Erfahrbarkeit nicht mehr zugänglich sind: Rh. des menschlichen Tages- oder Lebensablaufs; Rh. von Ebbe und Flut, Tag und Nacht; biologische, physikalische oder mathematische „Rhythmen". Am weitesten scheinen sich gerade die exakten Wissenschaften mit diesem übertragenen Rh.begriff ins Makro- und Mikrokosmische zu wagen. Sie können es, gerade weil ihr Gegenstand immer mehr seine unmittelbare Anschaulichkeit verliert, so daß ihre Wissenschaftssprache allenthalben im Bereich einer uneigentlichen, symbolischen Anschaulichkeit liegt. Wenn demzufolge von Aristoteles bis heute aus der Analogie mathematischer, physikalischer oder biologischer Perioden zum vitalen Rh.erlebnis naturphilosophische Folgerungen gezogen werden, so hört dabei die Exaktheit vielleicht auf. Aber auch hier erweist sich, wie weit für das rhythmische Erleben des Men-

§ 4. Hatte sich die Beschreibimg bisher möglichst im Umkreis des immanenten Rh. gehalten, so tritt mit dem Phänomen von A r b e i t u n d R h . aktualisierter Rh. ins Blickfeld, ohne daß damit die Grenze zum

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Ästhetischen schon völlig überschritten wäre. Karl B ü c h e r s Nachweise intendierter rhythmischer Gliederung bei primitiven Arbeitsvorgängen, sei es durch Rhythmisierung der Arbeitsbewegungen, sei es durch begleitende Arbeitsrufe und Arbeitslieder (s. d.), haben in der Rh.forschung weithin Beachtung gefunden, ohne daß sie doch in größerem Umfang methodisch weiterverfolgt worden sind. Von grundsätzlichem Interesse ist, daß das von Bücher vorgelegte Material in deutlicher Beziehung zu der in § 2 aufgeführten Stufenordnung der rhythmischen Phasen steht. Es bietet erstens Arbeitsvorgänge, deren Bewegungsimpulse oder akustische Begleiterscheinungen im Umkreise des rhythmischen Grundzeitwertes und seiner motorischen Periodizität liegen (z.B. Hämmern, Reiben, Buttern, Käsezubereiten, Dreschen,Traubenaustreten, Gang, Ritt). W i e wichtig gerade auf dieser Stufe des Rhythmischen die akustische Periodisierung ist, geht daraus hervor, daß dort, wo Bewegungsimpulse vorherrschen, die hörbare Begleiterscheinung mitunter künstlich erhöht wird, ζ. B. durch Klapperringe oder Schellen beim Gang oder Ritt. Zweitens erscheinen in diesem Material langsamere Arbeitsperioden, bei denen Anspannung und Lösung im Vordergrund stehen, und die zumeist den Atemvorgang unmittelbar in die Arbeit einbeziehen (Rudern, Lastenheben und -fortbewegen, Rammen usw.). Drittens begegnen langwierige Arbeitsvorgänge, bei denen weder von der Körperbewegung noch vom Akustischen deutliche rhythmische Impulse ausgehen (gewisse Feldarbeiten, Spinnen usw.). Bei ihnen wird die Arbeit vor allem durch Lieder mit großphasigem Periodenbau, wobei die ..Lösung" so lang wie möglich auf sich warten läßt, begleitet („Reihenlieder" vom Typus „Der Mann der schickt den Jockel aus"). Hier dominiert die höhere Ordnung des Rh., die Reihung von Perioden zu Ketten. Bei der Begleitung der Arbeit durch rhythmische Formen, die oft als Lied auftreten, liegt der erste Anstoß gewiß darin, mühevolle und monotone Abläufe in jene inneren Vorgänge des Bewegungsgefühls einschwingen zu lassen, die Wohlbehagen und Freude auslösen. Das tut schon das Tier instinktiv, und sogar ihm kann die „Arbeit" durch rhythmische Hilfen erleichtert werden, wie jeder Reiter weiß. In der Rhythmisierung der

Arbeit ist der Rh. schon als protoästhetisches Prinzip wirksam; der Schritt vom vitalen Wohlbehagen zum ästhetischen Wohlgefallen ist nicht weit. Dadurch, daß Rhythmisierung der Arbeit in vielen Fällen auch dazu dient, eine Gruppe von Menschen in gemeinsamen Rh. zu bringen, wird der gesellschaftsbildende Bereich des Ästhetischen schon fast erreicht. Spiel, Arbeit, Tanz und Magie sind in primitiven Kulturen noch eine Einheit. D a ß die Arbeitsleistung durch das Einschwingen in den Rh. erleichtert und verbessert wird, ist eine unverächtliche Zugabe, aber nicht die bewegende Ursache der Rhythmisierung. Der Weg ins ästhetische Wohlgefallen am Rh. geht nicht von der Freude an der Erleichterung der Arbeit aus (so G. Lukäcs), sondern von der elementaren Freude am Rhythmischen. Karl B ü c h e r , Arbeit und Rh. (1897; 5. Aufl. 1924). Georg Lukäcs, Ästhetik I (1962), 1. Halbband S. 254-284. (Werke Bd. 11). § 5. Wenn Arbeit und Rh. vorangestellt wurde, so soll damit nicht die Ä s t h e t i k d e s R h . allein aus diesem Bereich abgeleitet werden. E r veranschaulicht nur einen Zustand, wo ein vor-ästhetisches Verhalten zum Rh. — das sogar das Tier einbegreift — sich dem ästhetischen annähert. Immerhin liegt er den Künsten, in denen Rh. als eines ihrer Grundprinzipien herrscht, so nahe, daß er unmerklich in sie übergehen kann. M u s i k , T a n z und D i c h t u n g , die Künste der sinnlich und sinnvoll gegliederten Zeit, sind zugleich mit Vorrecht die rhythmischen Künste. Audi sie waren ursprünglich sehr nah miteinander verbunden. Musik und Dichtung haben sich erst im Lauf der Geschichte voneinander getrennt. Man wird davon ausgehen können, daß die Gebiete, die sie in früheren Kulturen je selbständig besetzten, verhältnismäßig schmal waren. In der Regel war Musik Gesang, Versdichtung gesungene Dichtung. Daher bewahrt die Musik, auch wenn sie sich vom Worte löst, vielfach ein poetisches Element, und Gedichte erscheinen, auch wenn sie gesprochen oder still gelesen werden, „wie gesungen" Der Tanz hat sich bis heute noch nicht aus der Verbindung mit der Musik gelöst. Wenn er auf Musik verzichtet, weicht er nach der Seite des Gestenspiels oder der dramatischen Mimesis von seiner Mitte ab.

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Wenn der elementare Rh. zwischen dem Gehör und dem körperlichen Bewegungsgefühl seinen psychischen Ort hat, so sind Musik und Tanz die am unmittelbarsten vom Rh. bestimmten Künste. Die Dichtung fügt andere Komponenten zu der Ordnung hinzu und läßt sie vielfach überwiegen. § 6. Erst an dieser Stelle hat es Sinn, die Etymologie und Wortbedeutung von griech. ρυθμός heranzuziehen. Die Etymologien, welche versucht worden sind, beziehen die Wortbedeutung auf grundsätzlich sehr verschiedene Benennungsmotive. Die älteren Herleitungen suchten das Benennungsmotiv im Umkreis der in der Natur vorhandenen rhythmischen Signale; ρέω 'fließe' schien das Bild sowohl der Periodizität im Verlauf wie das der „Wellenfolge" zu bieten und paßte damit nicht schlecht zu den beiden Grundprinzipien der rhythmischen Erfahrung. Geht man hingegen von έρύω 'ziehe' (erweiterte Schwundstufe der Wurzel °ver-) aus, dann könnte das Benennungsmotiv in der abstrakten Vorstellung der ..Zucht" zu Regel und Ordnung liegen. Man käme so zu einem von vom herein sehr geistigen Ansatz der Wortbedeutung im Umkreis von αρμονία und σχήμα. Doch gibt es auch in der „Notund Wirkwelt" der Bedeutung 'ziehen' manche Ansatzpunkte für die Etymologie von ρυθμός, ζ. Β. das Einreiten von Pferden, die durch „Zügeln" in ihren „Rhythmus" gebracht werden. J. Trier leitet das Wort aus der gleichen Wurzel ab, und zwar sieht er seinen Ursprung in der sakralen Hegung durch den Tanz, was der ästhetischen Bedeutung von ρυθμός am ehesten gerecht wird. Auch der Wortgebrauch hat sein Zentrum in diesem Bereich: Ordnung der Bewegung', besonders in der (dichterischen, gesungenen) Sprache, wobei man vielleicht vor allem an das getanzte und kultische Chorlied dachte. Bei Aristoxenos von Tarent steht Rh. übergeordnet über Harmonie (Musik), Metrik (Poesie) und Orchestrik (Tanz) und macht sie zu mimischen Künsten. Im Lat. traf das aus dem Griech. entlehnte Wort auf das heimische Wort numerus im Sinn 'orchestisdier und metrischer Ordnung', das ebenfalls aus einer Wurzel hergeleitet werden kann, die die Bedeutung des 'Hegens des Heiligtums' (nemus) in sich enthält (Trier). Die Übertragung des Rh.begriffs aus dem Bereich der

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„mimischen Künste" ins Räumliche oder ins Kosmische setzt audi schon in der griech. Philosophie ein und ist aus ihr an die Neuzeit gelangt. Emile Β ο is a c q , Dictionnaire itymologique de la langue Grecque (4. 1950) S. 845. — Eugen P e t e r s e n , Rhythmus (1917, Abh. d. kgl. Ges. d. Wiss. zu Güttingen, phil.hist. Kl., NF. 16, 5). O. S c h r ö d e r , 'Ρυθμός Hermes 53 (1918) S. 324-329. Eduard Norden, Logos u. Rh. (1928; Rektorenwechsel an d. Friedr.-Wilhelms-Univ. 1927,2). Bonaventura M e y e r , 'Αρμονία (Zürich 1932; Wiss. Beilage ζ. Jahresber. d. Stiftsschule Maria-Einsiedeln 1931/32). Ε. A. L e e m a n s , Rythme en φυθμός. L'Antiquitö Classique 17 (1948) S. 403-412. Jost T r i e r , Rhythmus. Studium generale 2 (1949) S. 135-141. H. W a g n e r , Zur Etymologieu.Begriffsbestimmung von 'Rh'. Bildung u. Erziehung 7 (1954) S. 89-93. — Rudolf W e s t p h a l , Die Fragmente u. die Lehrsätze d. griech. Rhythmiker (1861). Ders., Aristoxenos von Tarent, Melik u. Rhythmik des class. Helenentums, übers, u. erl. Bd. 1 (1883), Bd. 2, hg. v. Fr. Saran (1893). § 7. Indem immanenter Rh. in den ZeitKünsten Tanz, Musik und Dichtung zum aktuellen Rh. wird, trifft er auf jeweils verschiedene Substrate, in denen er sidi verwirklicht. Schon die griech. Theorie hatte dies erkannt und unterschied zwischen dem Rh. und dem R h y t h m i z o m e n o n , in welchem jener zur aktuellen Gestalt wird. Die neuere Ästhetik erweitert den Begriff des Rhythmizomenons gelegentlich von der Bezeichnung des Substrats zur Bezeichnung der Art und Weise, wie sich Rh. in ihm versinnlicht. Die Substrate sind: raumerschließende Bewegung beim Tanz, der Bereich der Töne und Geräusche in der Musik, die S p r a c h e in der Dichtung. Dabei liegen die Verhältnisse in der Dichtung besonders verwickelt, weil die Sprache dem Rh. schon ihr eigenes, vielseitig determiniertes, in sich sinnhaltiges, jedoch außerästhetisdies System, ihre S c h a l l f o r m , entgegenbringt. Ob die Schallform der Sprache als Rh. verstanden werden kann, ist umstritten. Zweifellos hat sie viele Eigenschaften mit dem Rh. gemein, jedoch was sie leistet, entfernt sich von dessen eigentlichem Wirkungsbereich. Gemeinsam ist das folgende: Die sprachliche Schallform ist in kleine a k z e n t u e l l e Gruppen gegliedert, die durch Stärke- und Längeabstufung der Silben und durch die Abstandszeiten zwischen den Akzenten bestimmt werden. Die T o n b e w e -

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Die Attribute der sprachlichen Schallform, g u n g kann als Wortmelodie audi dabei welche dem Rh. nahestehen, gehören sprachsdion beteiligt sein, ihre wichtigste Funktion lich auf die Seite von Wort und vor allem übt sie jedoch darin aus, die akzentuellen Syntax. Silbenabstufung geschieht im Wort Gruppen zu Perioden zusammenzufassen, und im Satz. Die periodenbildende Satzund zwar nach dem Prinzip von Spannung melodie ist geradezu die Schallseite des synund Lösung. Zusätzlich fällt ihr, in Verbintaktischen Vorgangs. Die Phoneme der dung mit Klanglage und Klangfärbung, die Sprache sind insofern beteiligt, als sie durch emotionale Tönung der Rede zu; die sogedie Opposition von Länge und Kürze und nannte occasionelle Betonung wird in der durch ihre Einsatzintensitäten zur rhythmiRegel satzmelodisch angezeigt. Schon die einfache satzmelodische Periode kann zur schen Struktur beitragen. Sprechtempo, absolute Grade von Lautheit und Schwere treten Spannung aufsteigen und die Lösung brinals mehr beiläufige Addenda hinzu. gen. Meist jedoch bilden die Perioden länSprachliche Schallform ist den einzelnen gere Ketten, wobei die erste zur Spannung Sprachen als solchen eigen und unterscheidet führt, die weiteren die Spannung halten, die sich von Sprache zu Sprache und von Mundletzte sie löst. art zu Mundart. Sie unterscheidet sich auch Man erkennt, wie sehr dies alles mit dem rhythmischen Verlauf übereinstimmt. Sprach- von Person zu Person, obwohl jeder einzelne liches Reden und Verstehen, soweit es die ι vornehmlich in die überpersönliche Schallform seiner Muttersprache oder Mundart Schallform der Sprache betrifft, verläuft wie einschwingt. Aber gerade an den Unterschiedas rhythmische in der Folge von Signal, Erden wird man gewahr, wie sehr die Sprache wartung, Spannung und Lösung. Auch in der mit jenen rhythmischen Grundhaltungen, Sprache kommt es zu einem erwartungsvoldurch welche der Charakter von Personen len „Einschwingen" und darauf folgendem und Gruppen geprägt wird, zusammenhängt. ..Mitschwingen", zu einem innerlichen MitIch kann als Hörer oder Leser in den Rh. sprechen beim Hinhören und zu einem voreines zu mir Redenden einschwingen oder wegnehmenden Sich-selber-Zuhören beim sehe mich darin durch die von der meinen Reden. Daß die akzentuellen Gruppen der abweichende Gestik und Rhythmik gestört. Sprache nicht den gleichen motorischen SiDen Ubergang in eine andere Sprache ergnalwert haben wie vielfach die Impulse, die fahre ich als eine Veränderung meines perden Rh. auslösen, ist nur ein Graduntersönlichen Habitus. Das hängt nicht von den schied. Außerdem wird der Akzent in der Sprachinhalten ab, sondern von der immaSprache gemeinhin überhört; wenn man unnenten Schall- und Bewegungsform der bekannte Sprachen anhört, wird deren relaSprache, also von ihrem Rhythmus. Daß es tives Akzentgefälle deutlicher und gestaltmöglich und sinnvoll ist, eine allgemeine hafter wahrgenommen, und man merkt, daß Ästhetik des Rh. vom Sprachlichen her zu Sprache mehr Rh. hat, als man wähnte. Daß entwickeln, zeigt der Abschnitt über den Rh. das rhythmische Grundgefüge der Sprache in Theodor Lipps' Ästhetik. Die Dichtungsdem Aufmerken meist entgeht, es sei denn, wissenschaft im besonderen sieht sich auf die daß Abweichungen vom Sprechusus oder Forschungszweige verwiesen, welche die Fehler auftauchen, hegt daran, daß die lautSchallform der Sprache zu ihrem Gegenlich-zeitliche Klanggestalt Bedeutungsinhalte stand machen. in sich aufgenommen hat und vermittelt. Die rhythmische Klangordnung dient einer logisch-emotionalen Sinnordnung, und diese § 8. An dieser Stelle stößt man auf eine tritt beim Verstehen so sehr in den VorderGrenze des Vermögens der Wahrnehmung grund, daß das rhythmische Grundphänound wissenschaftlichen Beschreibung der men überhört wird und unbewußt bleibt. Phänomene. Was beim Hören sprachlicher Und doch bestehen unlösbare Beziehungen Rede zuerst und unverwechselbar ins Ohr zwischen dem Tonfall und dem Bedeuten, fällt, der „Klang" von Sprache, Mundart sowohl hinsichtlich der akzentuellen Abstuoder individueller Tönung, ist der Wissenfung wie hinsichtlich des melodischen Verschaft bisher fast unzugänglich geblieben. Es laufs und der Tonfärbung. gibt ζ. B. längst eine hochentwickelte und

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vielseitige Mundartkunde, aber dasjenige, woran man die mundartliche Herkunft eines (hochsprachlichen) Redepartners nach wenigen Sätzen zu erkennen pflegt, hat sie noch kaum zu ihrem Gegenstand zu machen gewagt. Es muß in der Sache selbst begründet sein, daß das erste Phänomen unmittelbarer, gestalthafter Wahrnehmung an der Sprache in der wissenschaftlichen Umsetzung zum letzten und schwierigsten wird. Die ältere und die heutige strukturalistische Sprachstatistik, die experimentelle Phonetik und die Phonologie sind am Werk, feinste Unterscheidungen der akzentuellen Abstufungsgrade und der sprachmelodischen Verläufe festzustellen; zum Teil ist es audi gelungen, Typisches von Zufälligem zu trennen. So sehr die Forschung zur Zeit vor allem ins Einzelne geht und sich mit Mikrostrukturen beschäftigt, so wird sie doch in der Lage sein, aus ihnen einmal allgemeinere Gestalten und Gestaltvarianten zu ermitteln. Da die sprachliche Schallform nicht eine sich selbst genügende Gestalt sondern die hörbare Seite der logisch-emotionalen Satz- und Redestruktur ist, kann auch die Syntax zur Bestimmung des Sprachrh. das ihrige beitragen. Es gilt vor allem, die Kontaktstellen zwischen den nach eigenen Methoden arbeitenden Einzeldisziplinen zu finden und die Kontakte zu schließen. Dem steht zweierlei im Wege. Erstens besteht diestrukturalistische Sprachforschung darauf, ihren Gegenstand autonom zu setzen und ihn von Kontakten, die ins Außersprachliche reichen, möglichst abzuschirmen. Zweitens entfernen statistische und experimentelle Verfahren das Material so weit von der hörbaren Erfahrung, daß die Kluft zwischen den Tabellen, Formeln oder Kurven und der sinnlichen Schallform nicht mehr zu überbrücken ist. Die Ergebnisse dieser Forschungen können nur von denen verstanden und genutzt werden, die in der Lage sind, den gleichen statistischen, mathematischen oder experimentellen Weg noch einmal zu gehen. Geisteswissenschaftliche Forschung hat bisher auf die gewissermaßen phänomenologische Prüfung fremder Ergebnisse nicht verzichten mögen, und es ist die Frage, wie weit sie sich in Zukunft dazu erziehen wird, im Sinne eines naturwissenschaftlichen Positivismus „exakte" Ergebnisse unbefragt in ihr System einzubauen.

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Auf der anderen Seite gibt es Versuche, dem Sprachrh. vom Ästhetischen her beizukommen. Sie setzen zumeist beim individuellen Rh. an und verbinden damit die Frage nach den unterscheidenden rhythmischen Merkmalen bestimmter sprachlich-literarischer Genres; sie fragen also nach der rhythmischen „Haltung" des redenden oder schreibenden Individuums im Brief, in der Erzählung, im Drama, in den verschiedenen lyrischen Formen, oder nach den rhythmischen Varianten bestimmter Formen (ζ. B. Blankvers, Stanze) bei verschiedenen Individuen. Merkwürdigerweise wird dabei die Frage nach dem zugrundeliegenden objektiven Rh. der Sprache in der Regel übersprungen. In der Zeit des wissenschaftlichen Positivismus bedienten sich auch diese Arbeiten statistischer Methoden und blieben oft darin stecken. Später setzte sich das Verfahren einer phänomenologischen Interpretation durch. Es beschreibt den ästhetischen Gesamteindrude an ausgewählten Textproben und setzt unmittelbare Empfänglichkeit des Hinhörens voraus. Der Beobachter übernimmt selbst die Verantwortung für seine Eindrücke und Beschreibungen und muß sich bei ihrer Vermittlung einer andeutenden, oft metaphorischen Sprache bedienen. Man kann nicht bestreiten, daß dabei subjektiv Uberzeugendes erreicht wurde. Das Verfahren dient wie jede ästhetische Interpretation dazu, dem Mithörenden Hinweise zu geben, ihm die Ohren zu öffnen und ihn einzustimmen. Er wird nicht informiert, sondern zum Mitmachen aufgefordert. Exakte und einsinnige ..Ergebnisse" darf man dabei nicht erwarten, aber der Spielraum dessen, was Aufmerksamkeit verdient, vergrößert sich. So ringt die Forschung auf zwei entgegengesetzten Seiten um die Fragen der sprachlichen Schallform und des Sprachrh., ohne daß bisher ein gegenseitiges Verstehen und Von-einander-Lemen gesucht wird, geschweige denn erreicht ist. Ob und wo sich die verschiedenen Disziplinen einmal in einer Mitte treffen werden, ist noch nicht abzusehen. Vielleicht wird diese Mitte nicht einmal sehr entfernt von dem liegen, was Theodor Lipps schon zu Anfang dieses Jh.s unter der Überschrift „Das einfache Ganze" im 4. Kapitel des Rh.-Abschnitts seiner Ästhetik vorausentworfen hat.

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Rilke, Brecht u. d. Expressionisten (1970; Lit. als Kunst). § 9. An einer anderen Stelle glaubte die S c h a l l a n a l y s e diese Mitte gefunden zu haben. Der Anstoß ging von der Gesangspädagogik aus, nämlich von der Beobachtung, daß Körperhaltung und innere Gestik in Beziehung zu richtiger oder gestörter Wiedergabe eines gesungenen Modells steht (Rutz). Eduard Sievers übertrug die Beobachtung ins Sprachliche, und indem er versuchte, von daher eine auf die Schallform der Sprache bezogene philologische Methode zu entwickeln, durchschritt er nacheinander die einzelnen Phänomene des Sprachrh. (Akzent, Melodie, Stimmlage, Intonationsabstufungen usw.) und prüfte sie auf ihre Zuordnung zu der immanenten rhythmischen Gestaltserfahrung. Beide, Rutz und Sievers, erkannten, daß es gewisse personale und nationale Grundtypen des inneren rhythmischen Gehabens gebe. Um sie hervorzurufen, zu entdecken und voneinander abzugrenzen, bediente sich Sievers eines Signalsystems, das beide „rhythmischen Grundprinzipien" (vgl. § 2) unmittelbar ansprach, nämlich des Taktschlages und damit verbunden eines Systems verschiedener Bewegungskurven.Das zweite, auf „Einschwingung" bezogene Prinzip gewann bei ihm allmählich das Ubergewicht, so daß er schließlich schon durch das optische Signal der Kurvenbilder (als Drahtfiguren) die gewünschte rhythmische Einstellung hervorzurufen vermochte, zum mindesten bei visuell ansprechbaren Versuchspersonen. Es ist nicht zu bestreiten, daß die Grunderfahrungen, von denen die Schallanalyse ausging, richtig waren, daß ihr Signalsystem gewisse rhythmische Einstellungen hervorzurufen vermochte und daß sich diese Einstellungen in gewissem Grade typisieren lassen. Aber es hat sich inzwischen herausgestellt, daß die Methode so sehr an das persönliche Suggestionsvermögen ihres Urhebers gebunden war, daß sie sich nicht objektivieren ließ. Von Person zu Person konnte noch einiges davon weitergegeben werden, eine Generation später ist sie aus der Wissenschaft verschwunden. In der Praxis freilich wird Schallanalyse von rhythmusempfindlichen Sprechern und Musizierenden weiter geübt, beim Dirigieren bildet sie geradezu die Grundlage alles dessen, was über

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die erlernbare Schlagtechnik hinausgeht. Und wenn ein empfindlicher Hörer wahrnimmt, in wie weit der gesamtrhythmische Habitus eines sprachlichen oder musikalischen Modells bei der Wiedergabe erreicht oder verfehlt wird, ja wenn der stumme Leser in den inneren Tonfall des Gelesenen einschwingen kann oder dabei gehemmt wird, so verfahren diese unbewußt schallanalytisch. Sie bewegen sich dabei im Zentrum des Rhythmischen — aber auch an der Grenze des Mitteilbaren. Ottmar R u t z , Neue Entdeckungen von d. menschl. Stimme (1908). Ders., Sprache, Gesang u. Körperhaltung (1911). Ders., Menschheitstypen u. Kunst (1921). — Eduard S i e v e r s , Rhythmisch-melodische Studien. {1912; GermBibl. II, 5). Ders., Metrische Studien IV. (1918-19; Abh. d. sädis.Ak. d.Wiss.35).Ders„ Ziele u. Wege d. Schallanalyse, in: Stand u. Aufgaben d. Sprachwiss. Festschr. f. Wilh. Streitberg (1924; GermBibl. II, 14) S. 65-112. — W. E. P e t . e r s , Stimmungsstudien. 1. Der Einfiuß d. Sieversschen Signale u. Bewegungen auf d. Sprachmelodie, experimental-phonetisch untersucht. Psychol. Studien 10 (1918) S. 387-572. Olof G j er d m a n , Die Schallanalyse. Vetensk. Societeten i Lund Arsb. 1924, S. 171-186. Fritz K a r g , Die Schallanalyse. E. histor. Betrachtung. Idg. Jb. 10 (1926) S. 116. Gunther I p s e n u. Fritz K a r g , Schallanalytische Versuche (1928; GermBibl. II, 24). Nat. B e c k m a n , Die Schallanalyse. Einige krit. Bemerkungen. Acta philologica Scand. 2 (Kopenhagen 1927/28) S. 264-278. — Jörgen u. Viggo F o r c h h a m m e r , Theorie u. Technik d. Singens u. Sprechens (1921). — Gustav B e c k i n g , Der musikal. Rh. als Erkenntnisquelle (1928). — Herman Ν ο h l , Stil u. Weltansdiauung (1920): Diltheys Weltanschauungstypen in bezug zur schallanalyt. Forschung. Dazu: Oskar W a l z e l , Gehalt u. Gestalt im Kunstwerk des Dichters (1923) S. 83 f. u. 101 ff. — Eduard R o s s i , Die Abhängigkeit d. menschl. Denkens von d. Stimme u. Sprache (1958; Abh. z. Philosophie, Psychologie u. Pädagogik 15). Francis B e r r y , Poetry and the physical Voice (London 1962).

Hören und stummen Lesen mitbeteiligt, es bleibt jedoch meist unbewußt. Es müssen besondere Signale hinzutreten, damit die Sprache sich ihres Rh. ausdrücklich bewußt wird, S p r a c h r h . in V e r s r h . übergeht u n d damit zum ästhetischen Rh. wird. Wenn man Bewußtheit gegenüber Unbewußtheit zum Richtmaß des Rhythmischen macht, so wird man abstreiten, daß plane Rede Rh. habe, und erst dem Verse Rh. zuschreiben. Dabei läuft man jedoch Gefahr, die Erscheinungen der sprachlichen Schallform, welche mit dem Rhythmischen so viele Züge gemein haben, zu übersehen oder einseitig als arhythmisch zu beurteilen. Wer Rh. als eine ausschließlich ästhetische Erscheinung versteht und demzufolge in der Übergangszone vom Außerästhetischen zum Ästhetischen die Grenze zieht, dem verläuft sie mitten durch die Prosa. Dichterische Prosa muß dann auch in ihrer Schallform etwas ganz anderes sein als die Prosa der baren Mitteilung, der Untersuchung und Argumentation usw. und hinsichtlich ihres Rh. auf die Seite der Versdichtung treten. Diese Folgerung zog Franz Saran. Er schrieb dementsprechend der planen Prosa Akzent und Melos, der poetischen Prosa und dem Verse Rh. und Melodie zu. Dieser Grenze, die mitten durch die Prosa geht, entspricht in der Erfahrung nichts. Hinsichtlich der sprachlichen Schwereabstufung ist mit der Unterscheidung von Akzent und Rh. nur dann etwas anzufangen, wenn man Rh. und Metrum fast einsinnig versteht oder mindestens eine metrisch-periodische Gliederung ab Grundbedingung des Rh. ansieht. Eben diese fehlt jedoch auch in der poetischen Prosa. Sarans Behauptung, daß die Melodie des Verses und der poetischen Prosa sich grundsätzlich vom Melos der planen Prosa unterschiede, bestätigt sich ebensowenig. Sowohl das Akzentuelle wie das Melische der Sprache wird in der Dichtung bewußter und als ästhetisdier Faktor wahrgenommen, es bleibt aber, was es in der planen Rede auch schon war.

Vielmehr trifft in der Poesie das rhythmische Signal auf ein Rhythmizomenon, das von sich aus schon seine eigene rhythmische Gestalt mitbringt, nämlich auf die Sprache (Heusler). Darin eben beruht die besondere Ästhetik des V e r s e s , daß sich in ihm zwei rhythmische Systeme begegnen und miteinander messen und daß dadurch die rhythmische Gestalt des Sprachvorgangs als etwas Wohlgefälliges ins Bewußtsein § 10. Wenn man der Sprache in planer, tritt. Auf dem Grenzgebiet der poetisdien Prosa undichterischer Rede Rh. zuschreibt, so er- hat dasselbe statt, aber auch dort bedarf es weitert sich dabei der Rh.begriff um ein des Signals, um den rhythmischen Tonfall bewußt zu machen. Schon der gelungene Vortrag weniges. Das liegt nicht so sehr daran, daß von Prosa (auch von nichtdichterischer Prosa) veres dem Sprachakzent an einer starren, „memittelt „mehr Rh. als man erwartet". In literaritrischen" Periodik zu fehlen scheint, als vielsdien Epochen können abgesetzte Zeilen dem Auge das Signal geben, auf den Rh. zu achten. mehr daran, daß die Intention der planen Goethe war sich dieser allgemeinen SignalwirRede auf etwas anderes ausgeht, als im Partkung bewußt, wenn er es sogar seinem Sekretär ner ein rhythmisches Erlebnis zu wecken. J Riemer überließ, rhythmische Prosa in ZeilenRhythmisches Einschwingen ist zwar bei je- | kola umzuschreiben (beim Elpenor in der Ausdem Sprechakt, beim Reden und Schreiben, : gabe letzter Hand). Die antike Kunstprosa gab

Rhythmus ihre Signale durch satzrhythmische 'Klauseln', die der Eingeweihte kannte und wiedererkannte, und etwas davon ist bewußt und halbbewußt in die Redekunst der Volkssprachen eingegangen. Oskar F l e i s c h e r , Das Accentuationssystem, Notkers in s. 'Boethius'. ZfdPh. 14 (1882) S. 129-172, 285-300. — Rudolf Hildebrand, Vom umgelegten Rh. ZfdU. 5 (1891) S. 730-741. Ders., Rhythmische Bewegung in der Prosa. Ebd 7 (1893) S. 641-647. — Marcel B r a u n s c h w e i g , Le sentiment du beau et le sentiment poitique (Paris 1904; Bibl. de Philosophie contemporaine 322). — Hugo U η sei, Über den Rh. der dt. Prosa. Diss. Freiburg 1906. A. L i p s k y , Rhythm as a distinguishing Characteristic of Prose Style (Archives of Psychology. New York 1907). Max L e d er er, Über ein rhythmisches Prinzip d. dt. Prosa NSpr. 19 (1911) S. 212-18. Siegfried B e h n , Der dt. Rh. u. s. eigenes Gesetz (1912). Ders., Rh. u. Ausdruck in dt. Kunstsprache (1921). Fr. G r o p p , Zur Ästhetik u. statistischen Beschreibung des Prosa-Rh. Fortschritte der Psychologie 4 (1916) S. 43-79. John Hubert S c o t t , Rhythmic prose; ders., Rhythmic verse. (1921 u. 1925; Univ. of Iowa, Humanistic Studies 3, 1 u. 2). Franz S a r a n , Zur Schallform d. dt. Prosa. Donum Natalicium Schrijnen (Nijmegen, Utrecht 1929) S. 501515). Rudolf B l ü m e l , Der nhd. Rh. in Dichtung u. Prosa (1930; GermBibl. II, 29). Ders., Der Rh. der nhd. Prosa. ZfdPh. 60 (1935) S. 192-207. Leonhard B e r i g e r , Poesie u. Prosa. DVLG. 21 (1943) S. 132-160. Friedrich B e i ß n e r , Unvorgreifliche Gedanken über den Sprachrh. Festschrift P. Kluckhohn u. H. Schneider, 1948, S. 427-44. Wolfgang Kayser, Zur Frage von Syntax u.Rh. in derVerssprache. Trivium 5 (1947) S. 283-92. — Eugen T e t z e l , Rh. u. Vortrag (1926). — Ren6 W e l l e k u. Austin W a r r e n , Theorie d. Lit. (1959) S. 177-195. — Konrad B u r d a c h , Uber den Satzrh. der dt. Prosa, in: Burdach, Vorspiel 1,2 (1925) S. 223ff. Eduard Norden, Die antike Kunstprosa (1898). Walter S c h m i d , Über die klass. Theorie u. Praxis des antiken Prosarh. (1959; Hermes, Einzelschriften 12).

§11. V e r s r h y t h m u s ist demnach ein durch zusätzlichen Rh. bewußt und wohlgefällig gemachter, vielfach auch gesteigerter und umgeformter Sprachrhythmus. Dabei ist vorweg zu beachten, daß das Rhythmizomenon des Verses, das bisher allgemein als „Sprache" bestimmt wurde, innerhalb der Geschichte mancherlei Veränderungen erfahren hat. Weithin ist Versdichtung mit dem Gesang fest verbunden. In vorliterarischen Kulturen gilt das fast uneingeschränkt, und auch in Schriftkulturen bleibt die Verbindung von Vers und Gesang manchen Gattungen — vor allem der Lyrik — noch lange so·

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erhalten. In diesem Fall ist also das Rhythmizomenon g e s u n g e n e Sprache, bei gesprochener Versdichtung gesprochene Sprache. In den modernen Schriftkulturen werden jedoch auch Verse mehr und mehr zu still gelesener Dichtung; ihr Rhythmizomenon ist dann i n n e r l i c h v e r n o m m e n e Sprache. Es ist einzusehen, daß durch diese Wandlungen die rhythmische Erfahrung, die vom Vers ausgeht, sich mitverändert. Hinsichtlich der Qualität jenes Zusätzlichen, das im Verse das Rhythmizomenon bewußt macht und zugleich umformt und stilisiert, hat die Verslehre bisher die Grenzen zu eng gezogen. Im folgenden wird versucht, an die Stelle eines einheitlichen Prinzips, das sich in allen Fällen als zu eng erweist, verschiedene zu setzen. 1. Der Fall, daß die Signalwirkung durch eine Folge gleicher oder ähnlicher rhythmischer Grundphasen, d.h. durch ein V e r s m e t r u m , bewirkt wird, ist in der Geschichte der abendländischen Dichtung so häufig, daß es nahe lag, darin das Grundprinzip jeder Versdichtung zu sehen. In den meisten Fällen ist metrische Dichtung wohl von Haus aus gesungene Dichtung, und ihr metrisches Signal- und Umformungssystem stammt aus der Musik. Allerdings bleibt zu beachten, daß Plato den Rh. — womit er wohl das Gestaltprinzip meinte, das er an gesungener und getanzter Dichtung wahrnahm — nicht aus der Musik, sondern unmittelbar aus der Sprache herleitete. Wie dem auch sei, uns Heutige gemahnt das metrisdie Gestaltungsprinzip an die Musik, und Verse dieser Art erscheinen uns, auch wenn sie gesprochen werden, als seien sie gesungen. Die sprachlichen Akzentmerkmale, auf denen die metrischen Grundeinheiten (Versfüße) beruhen, können je nach der Sprache bald auf der Opposition von Länge und Kürze der Silben (quantitierende Dichtung: antiker Vers), bald auf der Abstufung der Druckstärke beruhen (akzentuierende Dichtung: german.-dt. Vers). Das Zeitelement ist als Abstandszeit zwischen den Hebungen in beiden Fällen beteiligt. Entweder bilden die kleinsten metrischen Grundphasen die strukturelle Grundeinheit des Versmaßes, oder sie treten planmäßig zu höheren Gruppen

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(Dipodien) zusammen. Niemals jedoch laufen sie unaufhaltsam in gleicher Weise fort. Sie bilden Perioden, und diese fügen sich kettenweise aneinander. 2. Der Versrh. kann aber audi auf andere Weise ein gesteigerter Spradirh. sein: Die akzentuellen Höhepunkte der Sprache treten in solchen Versen unmittelbar, ohne Beteiligung eines „Metrums" zu einander in rhythmische Beziehung, das übrige schwach- und nebentonige Sprachgut ordnet sich den Gipfeln proklitisch und enklitisch zu. Dieses Prinzip herrscht im germanischen S t a b r e i m v e r s , und zwar in der Regel so geordnet, daß zwei Akzentgipfel den Einzelvers formen, zwei Einzelverse, durch Stabreim gebunden, sich zur Langzeile zusammenfügen. 3. Eine Synthese dieses extrem akzentuellen Formprinzips mit dem metrischen begegnet im a l t d t . R e i m v e r s und seinen weitgestreuten "europäischen Entsprechungen und Nachwirkungen bis in die neuere Zeit. In ihm füllt sich ein metrischer Rahmen ideal gleicher oder ähnlicher Abstandszeiten von Hebung zu Hebung in freiem Wechsel; Hebung kann auf Hebung stoßen, die Senkungen können ein- oder mehrsilbig sein. Die rhythmische Modelung geht nicht von kleinsten Gruppen (Versfüßen) sondern von der (in der Regel vierphasigen) Verszeile aus, wobei in der Kadenz (s. d.) bestimmte Füllungstypen (voll, klingend, stumpf) den Tonfall regeln und auch Pausen zum System gehören. Auch in dieser Versart ist die rhythmische Form wohl erheblich durch die Musik bestimmt. 4. Ein Grenzfall metrischer Modelung ist bei den a l t e r n i e r e n d e n V e r s e n erreicht. In ihnen bestimmt die denkbar einfachste akzentuelle Abstufung, der regelmäßige Wechsel von einsilbiger Hebung und Senkung, das Versmaß. Streng metrische Dichtung wie die der Antike geht dem reinen Alternieren aus dem Wege; sie neigt dazu, alternierende Versfüße mindestens zu Dipodien zusammenzufassen. In den alternierenden Versmaßen des europ. MA.s und der Neuzeit tritt dipodische Ordnung jedoch nur beiläufig und so gut wie nie als metrisches Formprinzip auf. Daraus geht hervor, daß das Altemieren als selbständiges rhythmisches System angesehen werden muß und

weder dem strengmetrischen (1) noch dem hebigen System (3) zugeordnet werden kann. Altemierende Dichtung gewinnt zusätzliche Formung dadurch, daß der unter 3 genannte Verstypus zum Alternieren übergeht und seine festeren, von der Versperiode und ihren Kadenzen geregelten Gliederungen dem alternierenden Verse mitteilt. Wo dieser Halt fehlt oder an Wirksamkeit verliert, tritt die Modelung durch die Abstufungen und Gliederungen des natürlichen Sprachrh., teils in Übereinstimmimg mit dem Altemieren, teils in leiser aber vernehmlicher Spannung zu ihm, ins Ohr, und gerade darin liegt der besondere rhythmische Reiz solcher Verse. 5. Die Frage, ob der s i l b e n z ä h l e n d e V e r s eine Sonderform des alternierenden ist —Altemieren ohne Rücksicht auf den Sprachakzent und damit in dauernder, prinzipieller Spannung zu diesem —, oder ob er einem eigenen rhythmischen Prinzip gehorcht, wird wohl immer ein Streitpunkt bleiben. Daß man beim Silbenzählvers mit geregelter Silbenzahl der Perioden, jedenfalls in seinen europäischen Ausprägungen, zumeist von einem idealen „trochäischen" oder (häufiger) „iambischen" Modell ausgehen kann, spricht für das erste. Doch tritt der Silbenzählvers so häufig und in fem voneinander abliegenden Kulturen auf, daß man vermuten muß, schon eine (nicht zu lange) Reihe gleichbleibender und ungegliederter Signale könne als rhythmische Gestalt wahrgenommen werden. Gestaltpsychologische Experimente scheinen zwar ergeben zu haben, daß solche Signale, wenn sie künstlich (durch Ticken) hervorgerufen werden, auf jeden Fall kleine metrische Gruppen umgehört werden. Man muß dabei jedoch in Rechnung stellen, daß die Versuchspersonen durch Gewöhnung an akzentuelle Verse und Musik in ihrer rhythmischen Einstellung und Erwartung im voraus festgelegt waren. Die bekannteste aktuelle Form silbenzählender Verse in den europäischen Kulturen, der franz. Vers, läßt sich so oder so verstehen: entweder als alternierender Vers, der erst am Ende seiner Phasen in das Akzentsystem der Sprache einschwingt (Saran), oder als echter Silbenzähler, dessen Gruppen deshalb überhörbar werden, weil nach vier oder sechs Silben der Sprachakzent das Ende der Gruppe anzeigt. Jedenfalls for-

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dert der franz. Vers solche festen Zäsuren, der 10/11 silbige Vers commun nach der vierten, der 12/13 silbige Alexandriner nach der sechsten Silbe. 6. Schon der s y n t a k t i s c h e G l e i c h l a u f kann als Signal für die rhythmische Formung der Sprache zum Vers wirken. Gerade die primitivsten Gebilde des Zaubers, der Beschwörung, des Gebets nehmen von daher versrhythmische Gestalt an, und solcherart Verse sind wohl fast allenthalben vorgeschichtlich bei der Ausbildung der entwickelteren Versmaße mitbeteiligt gewesen. Als Hochform erscheint der parallelismus membrorum in der hebräischen Poesie des Alten Testaments und übt von daher eine gewisse Modellwirkung auf die christlichen Kulturen. 7. Namentlich das V e r s e n d e bekommt von daher als rhythmisches (cursus) oder klangliches (Reim) Homoioteleuton Signalwirkung. Im Umkreis der europäischen Versgeschichte jedoch bewirkt dies allein noch nicht die Entstehung von Versarten; bei der Entstehung des Reimverses mag es jedoch mitbeteiligt gewesen sein. Die rhythmische Typisierung des Satzschlusses (cursus) hat in der antiken Kunstprosa ihre Stelle und wirkt von ihr aus von Zeit zu Zeit auch auf die Formung einer kunstvollen volkssprachigen Prosa. Sie hebt vom Satzende her die rhythmische Formung der ganzen Prosaperiode ins Bewußtsein, aber verwandelt die Prosa dadurch nicht zum Vers. In der frühmhd. Dichtung gibt es Fälle, wo die Versreihe erst an ihrem Ende durch Kadenz und Reim versmäßige Gestalt annimmt. Auch manche Schwellverse der buchmäßigen dt. Stabreimdichtung laufen gewissermaßen prosaisch an und gewinnen erst an ihrem Ende feste rhythmische Gestalt. In der neueren Dichtung neigen gerade die längeren Reihen dazu, rhythmisch mehrdeutig einzusetzen (die Eingangssenkung ist diejenige Stelle, die am häufigsten ..schwebende Betonung" fordert) und sich erst allmählich zu ihrer intendierten rhythmischen Gestalt zu bekennen. Der ästhetische Reiz liegt darin, daß die rhythmische Erwartung eine Weile in der Schwebe gehalten und erst nach und nach befriedigt wird. Selbständige Versarten entstehen dadurch jedoch nicht. Im frühmhd. Vers schlägt als intendierter Idealtypus doch das vierhebige, akzentuelle,

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frei gefüllte Grundmaß durch, bei den Schwellversen der zweigipflige Stabreimvers; die Reihen der neueren Dichtung ordnen sich schließlich dem intendierten alternierenden oder akzentuellen Maß ein, und da kein Vers für sich lebt, wird jeder von seiner Umgebung mitgeformt. 8. Bei den f r e i e n R h y t h m e n (s. d.) oder f r e i e n V e r s e n kann das rhythmische Signal allein von der bewußt geformten Kolongliederung des Rhythmizomenons ausgehen. Ein besonderer Fall ist die silbenzählend-freie Rhythmik in den „Prosen" von Tropus und Sequenz. Dort entspricht die ausgegliederte Kolon-Phase einer zugehörigen melodischen Tonfolge, die sich im folgenden Versikel an entsprechender Stelle mit gleicher Ton- und Silbenzahl, aber in abweichender akzentueller Modelung wiederholt. Hier findet also das freirhythmische Gebilde in der musikalischen Formung seinen Halt. Die freien Rhythmen oder Verse seit Klopstock enthalten anfangs mehr oder minder starke Einschüsse metrischer oder akzentuell-metrischer Herkunft. Teils sind es Tonfälle solcher dt. Verse, die „sich antiker Form nähern", wobei die aus antiker Theorie entwickelte Vorstellung der „Wortfüße" in der Modelung der Kola wiederkehrt; teils sind es solche der frei gefüllten volkstümlichen Versarten (des Knittelverses und seiner Verwandten); teils trägt der parallelismus membrorum der Psalmensprache zur Formung bei; auch wirkt die Praxis der Kirchenmusik ein, biblische Texte, in Kolen gegliedert, musikalisch zu metrisieren. Um freie Verse als Verse kenntlich zu machen, bedarf es jedoch mehr und mehr des o p t i s c h e n S i g n a l s der abgesetzten Zeile. Nur in wenigen Fällen gelingt es, aus freien Versen, die in Prosa umgeschrieben wurden, mit Sicherheit die beabsichtigte Versform herzustellen, und die Dichter selbst schwanken in ihrer Entscheidung. Je mehr die Analogien zu metrischen oder akzentuellen Versarten sich verflüchtigen oder bewußt gemieden werden, um so mehr bleibt allein das o p t i s c h e S i g n a l übrig, und es signalisiert einzig, daß bei diesen Versen der eigene Rh. des Rhythmizomenons selbst, der Sprache, ins Bewußtsein treten soll. Solcherart Verse sind nur in extrem schriftlichen Kulturen möglich,

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und sie wenden sich schließlich mehr an das innere Ohr des Lesenden. In diesen neuerschlossenen ästhetischen Bereich gehen aber auch Verse ein, die noch Elemente einer akzentuell-metrischen Formung (ζ. B. liedhafter Art) bewahren, Verse, die man auf der Zunge spürt oder in die man innerlich einschwingt, gerade weil sie nicht laut werden, und die Gefahr laufen, ihren Schmelz zu verlieren, wenn man sie spricht. § 12. Man wird demnach darauf verzichten müssen, nach einem metrischen oder akzentuellen Grundprinzip zu suchen, das allen Versen gemeinsam ist. Es müßte im Umkreis des rhythmischen Grundzeitwertes (s. § 2) liegen, aber gerade da ist die rhythmische Form noch so in statu nascendi, daß sich kein einheitliches Prinzip gewinnen läßt. Anders ist es mit der nächsthöheren Stufe, der Periode, die physiologisch zum Atmen, psychologisch zu der Erwartung von Spannung und Lösung in Beziehung steht. Wo metrische oder akzentuelle Signale aufhören, bleibt noch die Satzkolon-Periode als akustisches oder die abgesetzte Verszeile als optisches Signal. Verse ohne beschreibbares Metrum gibt es, aber Verse, die nicht in Reihen abgesetzt sind, wird man vergeblich suchen. Es gibt wohl nur einen Fall, wo nicht die Reihe, sondern die aus mehreren Perioden gefügte Kette etwas verschmitzt beansprucht, Grundmaß des Verses zu sein: Jean Pauls „Stredcverse" Immerhin hebt Jean Pauls dialektischer Humor damit etwas ins Bewußtsein, was es als äußerste Möglichkeit des Verses eigentlich geben müßte. Denn die Reihe ist ja keineswegs die letzte und oberste Einheit der Versdichtung, sondern selbst wieder Teil eines größeren rhythmischen Verlaufs. Von den im vorigen § aufgeführten Versarten lassen sich nur die metrischen (1) und akzentuell-metrischen (3) auf regelmäßige Wiederkehr gleicher oder ähnlicher Grundfiguren beziehen. Beim Alternieren (4) treten diese im rhythmischen Bewußtsein in den Hintergrund, weil sie zu selbstverständlich sind und daher vom Sprachrh. überspielt werden. Beim Silbenzähler (5) spielen sie nur leise hinein, sofern der Silbenzähler als verkappter alternierender Vers verstanden wird. An der Formung der freien Verse (8) können sie mitbeteiligt sein, aber die neue-

sten Spielarten gehen ihnen eher aus dem Wege. Verse, die von motorisch-rhythmischen Grundfiguren bestimmt werden, lassen sich durchtaktieren oder „durchklopfen", in vielen Fällen über die Versgrenze hinaus. Der ganze Ablauf ist motorisch bestimmt, ähnlich wie es die rhythmischen Abläufe der neueren Musik meistens sind. Franz Saran gibt diesem Tonfall die Bezeichnung „ o r c h e s t i s c h e r R h . " und stellt ihm den „ m e l i s c h e n Rh." der reinen, an sich ungegliederten Tonreihe gegenüber. Beide Rh.arten haben nach ihm vorsprachliche Ursprünge, der orchestische in gleichmäßigen Arbeitsbewegungen, besonders wenn sie von Musik begleitet werden (Bücher), und im Tanz. Für den melischen Rh. ist ihm die freie Melodiebewegung der Schalmei oder des Dudelsacks das Grundmodell. Im Verse aber begegnet er vor allem dort, wo die eigene rhythmische Bewegung der Sprache sich gegen das Metrum durchsetzt oder allein den Versrh. bestimmt. Es ist unverkennbar, daß der Versrh. sich im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Extremen verwirklicht und bald nach der einen, bald nach der andern Seite ausschlägt. So sind diese Bezeichnungen der Beschreibung des Versrh. dienlich. Eine gewisse logische Unscharfe muß dabei in Kauf genommen werden. Sie liegt darin, daß die Bezeichnung „orchestisch" vom Tanz herkommt und ein kinetisch-musikalisches Rh.prinzip an das Rhythmizomenon der Sprache heranführt, während das „ Melische" in Sarans Rh.lehre ein nichtrhythmisches Prinzip darstellt, das er z.B. der planen Sprache, die für ihn keinen Rh. hat, zuschreibt (s. § 10). Wenn man jedoch auch der Sprache Rh. zubilligt, so ordnet sich der orchestische Rh. mehr den Versarten zu, deren Rhythmizomenon von Haus aus gesungene Sprache war, der melische Rh. namentlich denjenigen, die sich in gesprochener Sprache verwirklichen. Doch läßt sich die Unterscheidung der beiden rhythmischen Stile von der Musik her vielleicht noch genauer bestimmen (s. § 14). § 13. Bisher wurde vermieden, die kleinste rhythmische Einheit, die durch ihre Wiederkehr den Rh. mancher Versarten bestimmt, eindeutig zu benennen. Es geschah, um die

Rhythmus bisherigen Überlegungen nicht mit der noch nicht ausgetragenen Streitfrage um die Begriffe Rh., M e t r u m und T a k t zu belasten. Der Begriff M e t r u m mitsamt den Einzelbezeichnungen der Versfüße und der durch sie bestimmten Versmaße und Strophenformen stammt aus der antiken, quantitierenden Verslehre. Wenn er auf den wägenden german.-dt. Vers oder auf andere nichtquantitierende Versarten der nachantiken europäischen Dichtung übertragen wird, macht er zum mindesten einen erheblichen Bedeutungswandel durch. Bei Versen, die sich „antiker Art nähern", wird man auf die antike Terminologie nicht verzichten und vor allem die aus der quantitierenden Metrik übernommenen prosodisthen Bemühungen (dt. Spondäen) nicht wegdisputieren dürfen. Sie tragen zum Stil und zur Schönheit deutscher antikisierender Verse bei. Im übrigen aber stößt die Übertragung der metrischen Begriffe auf den nachantiken Vers auf Hindernisse. Schon die Bezeichnung der alternierenden Versmaße als „jambisch" oder „trochäisch" bereitet Schwierigkeit, weil sich mit dem einen die Vorstellung eines durchweg oder vorwiegend steigenden, mit dem andern die eines fallenden Rh. verbindet, der prosodisch in ihnen keineswegs planmäßig verwirklicht wird. Noch weniger läßt sich die Kadenzregelung des altdt. Reimverses und seiner Nachfahren bis in die neuere Zeit durch die antiken metrischen Begriffe fassen; die Bezeichnungen katalektisch und -akatalektisch reichen nicht aus. Und wenn ein frei gefüllter Vers vom Typ des Knittels mit Hilfe von Amphibrachys, Iambus, Anapäst und Trochäus beschrieben wird, dann schmückt man ihn mit einem Kleide, das ihm nicht steht. Ein guter Teil dieser Verse läßt sich nun in der Tat mit Hilfe des musikalischen Takt-Begriffes hinreichend beschreiben. Dabei muß der Betrachter jedoch darauf verzichten, auf einem Mißverständnis zu beharren, und er muß bereit sein, dem Begriff Takt eine etwas weitere Bedeutung zu geben, als er in der Musik hat oder zu haben scheint. Das Mißverständnis liegt darin, daß man meint, was zwischen den Taktstrichen steht, sei mit der rhythmischen Grundphase identisch. Das ist auch in der Musik nur ausnahmsweise der Fall; der Taktstrich der neueren Notation ist nur eine orthographische Hilfe, um die stärksten Hebungsabstände optisch zu verdeutlichen. Die Bedeutungserweiterung betrifft diese Hebungsabstände. In der Musik erwartet man, daß sie in genauem Zeitabstand aufeinander folgen. Das scheint für die Versikten nicht in gleichem Maß zu gelten. Dies hat darin seine Ursache, daß die Musik grundsätzlich viel empfindlicher gegen Zeitwerte ist als die Dichtung, weil deren Rhythmizomenon, die Sprache, das bewußte Wahrnehmen der Zeitabstände verwischt. Dadurch aber entsteht höchstens ein Gradunterschied, der es nicht ausschließt, den Taktbegriff auf gewisse Versarten zu übertragen. Verzichten wird man dabei in den meisten

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Fällen — und mehr als A. Heusler es tat — auf die Übertragung der zusammengesetzten Taktarten der Musik (4/ Friedrich und Wilhelm Kern). Als „Satire der Satire" hat Wedekind seine Komödie Oaha (1908) bezeichnet, die Vorgänge in der Redaktion des Simplicissimus (*•» Till Eulenspiegel) kolportagehaft verschlüsselt und wegen ihrer Figurencharakteristik (Georg Sterner Wedekind, Dr. Kilian * * Ludwig Thoma, Olestierna * * Bjömson) noch heute von Interesse ist. Mit Wedekind («-» der Pamphletist Dubsky) wiederum rechnet Max Halbe in seiner Komödie Die Insel der Seligen (1908) ab, deren Vorrede ausdrücklich auf den Schlüsselcharakter des Werkes hinweist. Wie in Halbes Roman Jo (1916) sind auch in Willy Seidels Roman Jossa und die Junggesellen (1930) Schwabinger Interna behandelt. Das Nachschlagewerk für die Münchener Boheme aber ist Franziska von Reventlows Roman Herrn Dames Aufzeichnungen (1913), in dem die ,Päpste' und Persönlichkeiten Schwabings (*•* Wahnmoching) mit über legenem Witz verschlüsselt sind. Nach dem Erscheinen der dechiffrierten Tagebücher der .Skandalgräfin' werden auch die Gestalten ihrer übrigen Bücher lebendig. Der Abstand zu den unterhaltsamen Indiskretionen aus Schwabinger Ateliers ist an Thomas Manns Dr. Faustus (1947) zu messen. Zwar enthält der Roman eine Fülle porträthafter Darstellungen (Clarissa Rodde Thomas Manns Schwester Carla, von Heinrich Mann 1906 in der Erzählung, 1911 im Drama Schauspielerin dargestellt, Prof. Dr. Georg Vogler Josef Nadler, Dr. Egon Unruhe Edgar Dacque, Daniel zur Höhe Ludwig Derleth, Jeanette Scheurl