Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter [Reprint 2013 ed.] 9783110802054, 9783110157161

"All diese vielfältigen Einzelstudien, deren Erträge hier nur grob angerissen werden können, tragen wesentlich zur

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Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter [Reprint 2013 ed.]
 9783110802054, 9783110157161

Table of contents :
Vorwort
Zur Einleitung
I. Raum und Materie
Universum, Materie, Raum. Moderne Kosmologie und alte Naturphilosophie
Materie und räumliche Ausdehnung in einigen ungedruckten Physikkommentaren aus der Zeit von etwa 1250 – 1270
Chóra, locus, materia. Die Rezeption des platonischen Timaios (48 a – 53 c) durch Nikolaus von Kues
II. Raum als Gegenstand experimenteller und spekulativer Physik
Licht und Raum. Robert Grossetestes spekulative Grundlegung einer scientia naturalis
Experientia, Experimentum and Perception of Objects in Space: Roger Bacon
Heaven, Hell, and Medieval Physics
„Si extra mundum fieret aliquod corpus...“. Extrakosmische Phänomene und die Raumvorstellung der ,Pariser Schule‘ des 14. Jahrhunderts
III. Der reale und der imaginäre physikalische Raum
An Anonymous Question on the Immobility of Place from the End of the XIIIth Century
The Concept of Vacuum in a Scotist “Physics”-Commentary attributed to Antonius Andreae
Motion in a Vacuum and in a Plenum in Richard Kilvington’s Question: “Utrum aliquod corpus simplex posset moveri aequae velociter in vacuo et in pleno” from the ‘Commentary on the Physics’
Infinite Times and Spaces in the Later Middle Ages
Imaginary Space: John Dumbleton and Isaac Newton
IV. Spekulative Entfaltung des Raumbegriffs
Räumlichkeit (Ort und Zeit) gemäß Anselm von Canterbury
Perspektive und Raumvorstellung in den Frühwerken des Albertus Magnus
Albert the Great on Possible Intellect as locus intelligibilium
Raum und Zeit bei Thomas von Aquin
Du lieu cosmique à l’espace continu? La représentation de l’espace selon Duns Scot et les condamnations de 1277
V. Theologische Raumvorstellungen
Zur Begriffsgeschichte der Allgegenwart und Unendlichkeit Gottes im hochmittelalterlichen Denken
„Ecce est locus apud me“. Maimonides und Eckharts Raumvorstellung als Begriff des Göttlichen
La discusión de Tómas de Aquino acerca de la presencia de los espíritus puros en el lugar y en el tiempo
Continuum, Infinity and Analysis in Theology
VI. Topik und Semantik des Ortes
Dialectical and Rhetorical Space. The Boethian Theory of Topics and its Influence during the Early Middle Ages
Der Ort der Argumente. Eigentliche und uneigentliche Verwendung des mittelalterlichen locus-Begriffs
Zenons Aporie des Topos, ihre Interpretation bei den griechischen Aristoteleskommentatoren, bei Averroes, Avicenna und im lateinischen Mittelalter
VII. Raum als Metapher
Loca nocturna – Orte der Nacht
Locus non locus. Der Stil der Innerlichkeit in Augustins Confessiones
Der Raum der memoria
Der Raum des Sehens. Vom Augen-Blick und der mittelalterlichen Entfaltung seines Begriffs
VIII. Geographische Raumvorstellungen
Perceptions of Physical and Spiritual Space in Early Christian Ireland
Terra repromissionis Sanctorum. Die Reise des Heiligen Brendan zum irdischen Paradies
Geographische Vorstellungen und Kenntnisse der böhmischen mittelalterlichen Chronisten
Terrae Incognitae. Zur Umschreibung empirisch noch unerschlossener Räume in lateinischen Quellen des Mittelalters bis in die Entdeckungszeit
IX. Rechtliche und historische Kategorien der Raumerfassung
Zur Kategorie des Raumes in frühmittelalterlichen Rechtstexten
Überlegungen zur Erfassung und Erforschung des Raumes im Böhmen des 14. und 15. Jahrhunderts. Zu den Auswertungsmöglichkeiten der spätmittelalterlichen böhmischen Itinerare – Einige Glossen zum Problem
Das spätmittelalterliche Papsttum und die Problematik der Raumerfassung
X. Heilsraum und Kultraum
Die Erschaffung von Raum und Zeit in Darstellungen zum Schöpfungsbericht von Genesis 1
Heilsräume. Die künstlerische Vergegenwärtigung des Jenseits im Mittelalter
Ne lapidum materia apparentium locus vilesceret. Die Raumvorstellung des Abtes Suger in seiner Kirchweihbeschreibung von Saint-Denis
Bildraum als Kultraum? Symbolische und liturgische Raumgestaltung im „Rationale divinorum officiorum“ des Durandus von Mende
XI. Der Raum in der Musik
Maß und Klang. Die Gestaltung des Tonraumes in der frühen abendländischen Mehrstimmigkeit
Weltraum-Musik und Klangraum im mittelalterlichen Musikschrifttum
XII. Bildräume und Raumwahrnehmung im Wandel
Roger Bacon: Körper und Bild
Landschaft und Raum im Quattrocento. Überlegungen zu Raumwahrnehmung und Epochenwandel
Der Stadtraum als Bühne. Formen architektonischer Inszenierung zwischen Mittelalter und Neuzeit
„Wanderer am Weltenrand“ – ein Raumforscher um 1530? Überlegungen zu einer peregnnatio inventiva
Namenregister

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Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter

W G DE

Miscellanea Mediaevalia Veröffentlichungen des Thomas-Instituts der Universität zu Köln Herausgegeben von Jan A. Aertsen

Band 25

Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998

Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter

Herausgegeben von Jan A. Aertsen und Andreas Speer Für den Druck besorgt von Andreas Speer

Walter de Gruyter · Berlin · New York

1998

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter / hrsg. von Jan A. Aertsen und Andreas Speer. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1997 (Miscellanea mediaevalia ; Bd. 25) ISBN 3-11-015716-0

ISSN 0544-4128 © Copyright 1997 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin

„Wandereram Weltenrand" Signet der 30. Kölner Mediaevistentagung

Vorwort „Raum und RaumVorstellungen im Mittelalter" — unter diesem Generalthema fand vom 10. bis 13. September 1996 in der Universität zu Köln die 30. Kölner Mediaevistentagung statt, die bereits im fünften Jahrzehnt vom Thomas-Institut der Universität zu Köln ausgerichtet wird. Auch in diesem Jahr kamen wiederum 250 Mittelalterforscher aus den verschiedensten Disziplinen und aus über 20 Ländern aus ganz Europa und aus Ubersee zusammen, um die durch das Tagungsthema vorgegebenen systematischen und historischen Fragestellungen zu erörtern und neue Perspektiven für die Mittelalterforschung aufzuzeigen. Der vorliegende 25. Band der Miscellanea Mediaevalia ist gleichfalls der Thematik der 30. Kölner Mediaevistentagung gewidmet. Er enthält neben den in den 13 TagungsSektionen gehaltenen Vorträgen 1 weitere Beiträge zum Tagungsthema, welche die Diskussion ergänzen und weiterführen. Das Thema „Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter" stellt ein überraschendes Desiderat in der Mittelalterforschung dar. Denn offensichtlich nicht zuletzt unter dem Eindruck der Bedeutung der neuzeitlichen Neubestimmungen des Raumbegriffs wurde dem mittelalterlichen Verständnis hinsichtlich des Raumes und der damit einhergehenden Raumvorstellungen bislang wenig Aufmerksamkeit zuteil. Zumeist wird die Frage des Raumes im Zusammenhang anderer Fragestellungen thematisiert; es gibt jedoch kaum Beispiele einer übergreifenden und eigenständigen Behandlung der Raumthematik. Einer der Gründe mag auch in der terminologischen Vielfalt liegen — genannt seien etwa locus, ubi, spatium, orbis, mundus, universum, vacuum, continuum, perspectiva —, auf die man bei der Frage nach dem mittelalterlichen Verständnis vom Raum trifft. Aus dieser semantischen Vielfalt, die mit der Themenstellung eng verknüpft ist, ergibt sich die systematische Verzweigung des Rahmenthemas, das — wie stets auf den Kölner Mediaevistentagungen — nicht nur philosophisch, sondern auch interdisziplinär erörtert wurde. Gleiches trifft auf den vorliegenden Band der Miscellanea Mediaevalia zu. Die 12 Themenkreise, zu denen die 45 Beiträge zusammengefaßt sind, nehmen ihren Ausgang gleichwohl bei der Philosophie, näherhin bei der Naturphilosophie bzw. der Physik. An den Anfang gestellt haben wird den stark beachteten öffentlichen Abendvortrag von Albert Zimmermann zum Ver1

Cf. Α. Speer, Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter. Tagungsbericht über die 30. Kölner Mediaevistentagung vom 10. bis 13. September 1996, in: Bulletin de philosophie médiévale 37 (1996), 1 5 3 - 1 6 0 .

Vili

Vorwort

hältnis von moderner Kosmologie und alter Naturphilosophie, in dem sich der ehemalige Direktor des Thomas-Instituts gegen eine Uberbetonung der Umbrüche und Paradigmenwechsel zugunsten einer Einsicht in die Problemkonstanz naturphilosophischer Grundfragen ausspricht, ohne daß dabei allerdings verkannt werden dürfe, daß diese in unterschiedlichen historischen Kontexten zur Geltung gebracht würden. In welchem Maß sich gerade im Blick auf gegenwärtige Modelle und Konzeptuaüsierungen naturwissenschaftlicher Ergebnisse invariante Fragen und Denkaspekte zeigen, welche den Rückgriff auf Antworten geboten erscheinen lassen, auf die sich auch die heutige Naturphilosophie bei aller Verschiedenheit mit der gleichen Zielintention zu beziehen vermag, verdeutlichen insbesondere die ersten drei Themenfelder, die dem physikalischen Raumbegriff gewidmet sind. Von hier aus eröffnet sich der Blick auf die spekulative Entfaltung des Raumbegriffs, auf seine ontologischen Implikationen und auf die theologischen Raumvorstellungen. Die Frage nach der Topik und Semantik des Ortes sowie nach dem metaphorischen Verständnis von Raum weist zurück auf die terminologisch-semantische Vielfalt des Raumbegriffs. Geographische, rechtliche und historische Kategorien der Raumerfassung lassen den Raum in seiner weiteren kultur- und geistesgeschichtlichen Bedeutung als Lebensraum ins Blickfeld treten ebenso wie die Vorstellungen vom Heilsraum und Kultraum, vom musikalischen Raum und vom Bildraum. Damit tritt der Raum zugleich auch als ästhetische Kategorie in Erscheinung. Insbesondere hinsichtlich des Bildraumes zeigt sich zudem der Wandel in der Raumwahrnehmung am Ende des Mittelalters auf besonders anschauliche Weise. Damit ist die Gliederung des vorliegenden Bandes vorgestellt, die, wie deutlich geworden sein dürfte, eine systematische Entfaltung der Thematik beabsichtigt. Die historischen Gesichtspunkte werden nicht übergreifend, sondern nur bezogen auf die jeweiligen Themenkreise zur Darstellung gebracht. Auf diese Weise soll der systematische Ertrag der letzten Mediaevistentagung stärker akzentuiert und vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung zur Geltung gebracht werden. Mit dem Blick auf die vergangene Kölner Mediaevistentagung gilt es an dieser Stelle Dank zu sagen für vielfältige Unterstützung, die unsere Tagung abermals erfahren hat. Zu den unabdingbaren Voraussetzungen für ein interdisziplinäres Gespräch als Ergebnis der Begegnung von Forschern aus verschiedensten Ländern und mediävistischen Fachdisziplinen zählt nicht zuletzt die finanzielle Förderung, die uns auch dieses Mal wiederum von verschiedener Seite zuteil geworden ist. Unser Dank gilt namentlich der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem Ministerium für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen sowie der Rudolf Siederleben'schen Otto Wolff Stiftung. Auch im Namen aller Teilnehmer sagen wir für die erfahrene Unterstützung, durch die es uns möglich war, die 30. Kölner Mediaevistentagung in dem geplanten Rahmen stattfinden zu lassen, unseren aufrichtigen Dank!

Vorwort

IX

Herzlich gedankt sei ferner dem Prorektor der Kölner Universität Prof. Dr. Jürgen Lenerz, der in Vertretung des Rektors Prof. Dr. Ulrich Matz gemäß einer alten Tradition die Teilnehmer der Mediaevistentagung zu einem Abendempfang in den Alten Senatssaal der Universität zu Köln bat. Ein Dank gilt in diesem Zusammenhang ferner allen Mitarbeitern der Universität zu Köln, deren Hilfe wir stets großzügig in Anspruch nehmen durften. Schon traditionell fand die kunsthistorische Sektion im Schnütgen-Museum für mittelalterliche Kunst statt; dessen Direktorin Frau Dr. Hiltrud WestermannAngerhausen möchten wir auch an dieser Stelle für die erwiesene Gastfreundschaft herzlich danken. Die Vorbereitung und die Durchführung der 30. Kölner Mediaevistentagung lagen wie stets in den bewährten Händen der Mitarbeiter des ThomasInstituts. Das gilt auch für die redaktionellen Arbeiten dieses MiscellaneaBandes, für dessen Register wiederum Hermann Hastenteufel M. A. verantwortlich zeichnet. Allen Mitarbeitern sei für ihren engagierten Einsatz und für ihre vielfache Unterstützung besonders herzlich gedankt! Mit diesem 25. Band, dessen wie stets umsichtige redaktionelle Betreuung abermals in den Händen von Frau Grit Müller lag, feiern die Miscellanea Mediavalia ein kleines Jubiläum, das wir zum Anlaß nehmen möchten, um dem Verlag Walter de Gruyter und namentlich Herrn Dr. Hans-Robert Cram für das verlegerische Engagement, die umsichtige Zusammenarbeit und nicht zuletzt für die großzügige Ausstattung dieser Reihe, wofür der vorliegende Band ein vorzügliches Beispiel bildet, unseren herzlichen Dank als Herausgeber zu sagen. Köln, im Juni 1997

Jan A. Aertsen Andreas Speer

Zur Einleitung J A N A . AERTSEN

(Köln)

Die 30. Kölner Mediaevistentagung zum Thema „Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter" gab bereits vor ihrem Beginn Anlaß zu Auseinandersetzungen. Von mehreren Kollegen habe ich Schreiben erhalten, in denen sie sich kritisch zum Titelbild äußerten, das die Einladung zur Tagung illustrierte. Der abgebildete Holzschnitt ist in der Literatur öfter verwendet worden. Man sieht einen Wanderer, der den Weltenrand durchbricht und mit Staunen in den außerhimmlischen Bereich späht. Am häufigsten wurde dieser Holzstich mit dem Weltbild des Nicolaus Cusanus verbunden und als Ausdruck der causanischen Uberwindung der aristotelischen Kosmologie gedeutet. „Die völlige Änderung des Raumgefühls, dieser Weg in den neuen unendlichen Raum wird vorzüglich durch den bekannten deutschen Holzschnitt von 1530 illustriert" 1 . Mehrere Kollegen haben jedoch auf eine wichtige Studie Bruno Webers aus dem Jahre 1973 hingewiesen, in welcher er die These vertrat, die Darstellung sei überhaupt nicht spätmittelalterlich, sondern stamme von dem französischen Astronomen Camille Flammarion, der den Holzstich erstmals 1888 veröffentlichte 2 . Ein Kollege, der (mit Recht) davon ausging, daß dieser Sachverhalt den Veranstaltern der Tagung nicht unbekannt war, äußerte die Vermutung, die anachronistische Bebilderung wäre nur ironisch gemeint. Angesichts der vorgebrachten Bedenken ist es durchaus angebracht, im letzten Beitrag dieses Bandes auf das Tagungssignet zurückzukommen und zu versuchen, Dichtung und Wahrheit zu trennen. Hans-Gerhard Senger setzt sich in seinem Aufsatz „Wanderer am Weltenrand. Ein Raumforscher um 1530?" kritisch mit der Modernitätsthese auseinander und plädiert für eine Entstehungszeit um 1530. Ohne Übertreibung kann man sagen, daß das Thema der Tagung ein Desiderat in der Mittelalterforschung darstellt. Untersuchungen zur Geschichte des Raumbegriffs haben sich vor allem auf die antike Philosophie und den Wandel der Raumvorstellung in der frühen Neuzeit gerichtet, den Alexandre Koyré als den Ubergang „von der geschlossenen Welt zum unendlichen Uni1

2

G. Heinz-Mohr und W. P. Eckert, Das Werk des Nicolaus Cusanus, eine bibliophile Einführung, Köln 1963, 32. B. Weber, Ubi caelum terrae se coniungit. Ein altertümlicher Aufriß des Weltgebäudes von Camille Flammarion, in: Gutenberg Jahrbuch 48 (1973), 3 8 1 - 4 0 8 .

XII

Jan A. Aertsen

versum" gekennzeichnet hat 3 . Dem mittelalterlichen Verständnis des Raums wurde bisher relativ wenig Aufmerksamkeit zuteil 4 . Der Historiker Aaron J. Gurjewitsch stellt in seinem Buch „Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen" fest, in der Erforschung dieser Grundkategorie des menschlichen Bewußtseins befinde sich zwischen der Antike und der Neuzeit eine Art „Niemandsland" 5 . Das Anliegen der letztjährigen Tagung war, diese terra incognita zu erschließen. Damit befinden wir uns in guter Gesellschaft. Im Mittelalter selbst hat Albert der Große eine derartige Erforschung als eine moralische Anforderung bezeichnet. Das erste Kapitel seiner in Köln verfaßten Schrift „De natura loci" ist überschrieben: „Diejenigen, die nicht die Natur des Ortes untersuchen, sündigen {peccant)"6. Ich möchte fünf Problemfelder und Interessenbereiche kurz umreißen, zu denen der vorliegende Band einiges beizutragen hat. (1) Das erste Problemfeld ist semantischer Art. Entspricht dem Schlagwort „Raum" ein einheitliches Bedeutungsfeld? In den Texten stößt man sogleich auf eine Vielfalt lateinischer Termini, wie locus, ubi, spatium, situs und universum. Klärung der Verbindung zwischen den verschiedenen Wortbedeutungen ist eine erste Aufgabe, die nicht ohne Wichtigkeit für die Frage nach dem mittelalterlichen Raumverständnis ist. Die differenzierte Semantik könnte Ausdruck einer anderen Begrifflichkeit sein als der, welche heute mit „Raum" verbunden ist. Während die neuzeitliche Philosophie viel vom „Raum", jedoch kaum vom „Ort" redet, handeln die antike und scholastische Philosophie — ich erwähnte bereits die Schrift Alberts — vielmehr vom „Ort" (topos; locus) als vom „Raum". Mehrere Forscher haben hervorgehoben, daß die Ausführungen des Aristoteles im IV. Buch der Physik, die für die mittelalterlichen Diskussionen maßgeblich waren, nicht eine Raumlehre, sondern eine Topologie bieten 7 . Aristoteles weist ja die Auffassung zurück, der 3 4

s 6

A. Koyré, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, Frankfurt a. M. 1969. Cf. P. Dinzelbacher, Raum: Mittelalter, in: id. (ed.), Europäische Mentalitätsgeschichte, Stuttgart 1993, 6 0 4 - 6 1 5 ; P. Duhem, Le système du monde. Histoire des doctrines cosmologiques de Platon à Copernic, Bd. VII, Paris 1956; A. Gosztonyi, Der Raum. Geschichte seiner Probleme in Philosophie und Wissenschaften, Bd. I, Freiburg/München 1976, 1 4 1 - 2 3 0 ; E. Grant, The Medieval Doctrine of Place: Some Fundamental Problems and Solutions, in: A. Maierù/A. Paravicini Bagliani (ed.), Studi sul XIV secolo in memoria di Anneliese Maier, Rom 1981, 5 7 - 7 9 . Das erste Heft der argentinischen Zeitschrift Temas Medievales (1991) widmet sich dem Thema „Raum" und enthält eine allgemeine Einführung von N. Guglielmi, El espacio en la Edad Media, 9 - 1 8 . (Ich danke Herrn Kollegen F. Bertelloni herzlich für die Zusendung dieses Heftes). A. J. Gurjewitsch, Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, München 1980, 36. Albertus Magnus, De natura loci, c. 1 (Opera Omnia V/2, ed. P. Hossfeld, Münster 1980,

1): „Quoi naturam loa scire oportet in scientia naturali et quod peccant, qui de ipso non quaerunt". 7

Cf. Κ. Algra, Concepts of Space in Greek Thought, Leiden/New York 1995 (Philosophia Antiqua, 65), 48: „For the most typical feature of the Peripatetic, or at any rate of the Aristotelian, concept of topos is that it is not a ,Raumvorstellung' but a concept of place".

Zur Einleitung

XIII

Ort sei räumliche Ausdehnung oder eine Art Hohlraum, der sich zwischen den Grenzen eines umfassenden Körpers ausbreitet. Der Ort ist vielmehr etwas Umfassendes; er umschließt das, was sich in ihm befindet. (2) Ein zweiter Interessenbereich der Tagung war natürlich die Naturphilosophie. Sie bildet ein Gebiet der philosophischen Mittelalterforschung, auf welchem in den letzten Jahrzehnten vieles geleistet worden ist. Der französische Wissenschaftshistoriker Pierre Duhem hat in seinem zehnbändigen Werk „Le système du monde" die Weichen dazu gestellt. Er betrachtet 1277, das Jahr, in dem der Pariser Bischof 219 an der Artesfakultät gelehrte Thesen verurteilte, als die entscheidende Zäsur in der mittelalterlichen Naturphilosophie im allgemeinen und in der Ortstheorie im besonderen 8 . Für die mittelalterlichen Kommentatoren war der Ort des Himmels ein problematischer Aspekt in der Kosmologie des Aristoteles. Seine berühmte Definition des Ortes (212 a 20 — 21) „die erste, unbewegte Grenze eines umschließenden Körpers" trifft nicht für den ersten Himmel zu, da er von nichts umgeben wird. Wenn der Himmel sich nicht an einem Ort befindet, sozusagen „nirgendwo" ist, könnte er auch nicht eine örtliche Bewegung vollziehen, obwohl es sonnenklar sei, daß der Himmel sich in einem Kreis bewege. Gemäß Duhem ist die Zensur von 1277 „die Geburtsstunde der modernen Wissenschaft" 9 . Große Bedeutung mißt er dem verurteilten Satz Nr. 49 bei: „Gott könnte den Himmel nicht in einer geradlinigen Bewegung bewegen. Der Grund dafür ist, daß er dann ein Vakuum zurückließe (Quod Deus nonpossit movere caelum motu recto. Et ratio est quia tunc relinqueret vacuum)"10. Offenbar sah der Pariser Bischof in dieser These eine Bedrohung der göttlichen Allmacht und Freiheit. Nach Duhems Ansicht machte die Verurteilung den Weg für die Entwicklung von neuen, nicht-aristotelischen Ortstheorien frei. Die neuere Forschung hat sich intensiv mit jener Deutung auseinandergesetzt. Wenn sie auch Duhems Ergebnisse in manchen Hinsichten modifiziert hat, die allgemeine Bedeutung des Omnipotenzprinzips für die spätmittelalterliche Naturphilosophie hat sie anerkannt 11 . Aufschlußreich für die Wirkung der Verurteilung von 1277 ist die Tatsache, daß die einzige Stelle, an der Duns Scotus ausführlich von der Pariser Zensur redet, sich im Kontext 8 9 10

11

P. Duhem, op. cit., 1 5 8 - 3 0 3 . P. Duhem, Études sur Léonard de Vinci II, Paris 1909, 412. H. Denifle/A. Chatelain (ed.), Chartularium universitatis Parisiensis I, Paris 1889, 546; Cf. R. Hissette, Enquête sur les 2 1 9 articles condamnés à Paris le 7 mars 1277, Louvain/Paris 1977, 1 1 8 - 1 2 0 ; Κ. Flasch, Aufklärung im Mittelalter. Die Verurteilung von 1277, Mainz 1986, 1 4 7 - 1 4 9 . Cf. J. E. Murdoch, Pierre Duhem and the History of Late Medieval Science and Philosophy in the Latin West, in: R. Imbach/A. Maierù (ed.), Gli Studi di Filosofia Medievale fra Ottoe Novecento, Roma 1991, 253 — 302. E. Grant, The Condemnation of 1277, God's Absolute Power, and Physical Thought in the Late Middle Ages, in: Viator 10 (1979), 2 1 1 - 2 4 4 .

XIV

Jan A. Aeriseli

seiner Ausführungen über die Lehre vom Ort findet12. Mehrere Beiträge in diesem Band beschäftigen sich mit neuen Entwicklungen in der Naturphilosophie des Spätmittelalters. (3) Das dritte Problemfeld betrifft die Ontologie. Ubi („Wo") ist eine der aristotelischen Kategorien, welche die allgemeinsten Genera der Dinge bezeichnen. Irgendwosein ist eine Grundgegebenheit der weltlichen Dinge, aber was ist der ontologische Status dieser Kategorie? Die ausführlichste Darstellung der diesbezüglichen mittelalterlichen Auseinandersetzungen läßt sich, wie es oft der Fall ist, in den „Disputationes metaphysicae" des Francisco Suárez finden. Die 51. Disputation handelt vom ubi und unterscheidet vier Auffassungen. Gemäß der ersten Auffassung, der des Thomas von Aquin, ist das ubi eine forma extrínseca, eine dem Körper äußerliche Form. Irgendwosein ist nichts anderes als an einem Ort sein. Die zweite, Albert dem Großen zugeschriebene, Position lehrt, das „Wo" sei die Beziehung zwischen einem Körper und seinem Ort. Die dritte Auffassung versteht das „Wo" als den Raum (spatium), der durch den Körper ausgefüllt wird, von dem gesagt wird, irgendwo zu sein. Suárez weist diese drei Stellungnahmen zurück und referiert noch eine vierte Auffassung, die seine eigene Lehre vom ubi darstellt. Das „Wo" wird von einem Körper aufgrund von etwas ausgesagt, das dem Körper selbst innerlich (intrinsecum) ist 13 . Die historisch interessanteste ist die dritte Position, zumal gemäß einer von Suárez erörterten Deutung der Raum nicht als etwas Wirkliches und Positives verstanden wird, sondern als etwas Leeres, das fähig ist, einen Körper aufzunehmen 14 . Dieser Gedanke berührt das Thema des imaginären Raums, das in der spätmittelalterlichen Naturphilosophie behandelt wurde entsprechend der damaligen Tendenz, Probleme secundum imaginationem zu untersuchen. (4) Einen vierten Interessenbereich bilden die für das Mittelalter eigentümlichen theologischen Implikationen der Raumthematik. Wo ist Gott? Einflußreich war die These des Boethius, daß, wenn man die aristotelischen Kategorien von Gott aussagt {in divinam verteritpraedicationem), „sich alles ändert, was ausgesagt werden kann" 15 . Diese Änderung legt er auch hinsichtlich der Kategorie des ubi dar. Das „Wo" kann entweder vom Menschen, wie 12 13

14

15

Siehe den Beitrag von O. Boulnois in diesem Band. Suárez, Disputationes metaphysicae, Disp. 51, sect. 1,1 - 1 3 (in: Opera omnia 26, Paris 1861, 9 7 2 - 9 7 6 ) . Cf. E. Grant, The Concept of ubi in Medieval and Renaissance Discussions of Place, in: Manuscripta 20 (1976), 7 1 - 8 0 . Suárez, op. cit., Disp. 51, sect. 1,12: „Alii ergo probabilius dicunt, illud spatium, prout intelligitur disünctum a corporibus replentibus illud, non esse aliquid reale positivum, sed esse vacuitatem quamdam ex se includentum carentiam corporis cum aptitudine ut ilio repleatur". Boethius, Quomodo trinitas unus Deus ac non tres Dii, c. 4 (Die Theologischen Traktate, ed. M. Elsässer, Hamburg 1988, 14).

Zur Einleitung

XV

2. Β. „auf dem Markt", oder von Gott, wie ζ. B. „überall", ausgesagt werden. Die Ubiquität Gottes heißt jedoch nicht, daß er an jedem Ort wäre — er ist vielmehr nirgends, insofern er selbst nicht von einem Ort aufgenommen wird. Die Allgegenwart Gottes heißt, daß ihm jeder Ort gegenwärtig ist 16 . Anselm von Canterbury hebt in seinem „Proslogion" (cap. 13) hervor, daß Gott nicht durch das „Gesetz vom Ort" (lex loa) gezwungen wird. Diese Einsicht leitet er unmittelbar aus dem Leitbegriff des quo maius nihil cogitari potest ab. Alles, was irgendwie vom Ort eingeschlossen wird, ist geringer als was kein Gesetz vom Ort zwingt. „Weil es nichts größeres gibt als Dich, umschließt Dich kein Ort, sondern Du bist überall (ubique). Du allein bist unbegrenzt (incircumscriptus) " 1 7 . Die theologischen Überlegungen zur Ubiquität Gottes versuchen die Grenzen der an die materielle Ausdehnung gebundenen kategorialen Raumvorstellungen zu übersteigen. Eine neue Konzeption finden wir bei Meister Eckhart in seiner Auslegung von Joh. 1: 38 (Ubi habitas?)18. Er spricht das „Wo" Gott nicht in einem sublimierten, sondern im eigentlichen Sinne (proprie) zu. Für die Begründung dieser Identifikation rekurriert Eckhart auf die drei Eigenschaften, welche Aristoteles dem natürlichen Ort der Dinge zuerkannt hatte: Außerhalb ihres Ortes sind alle Dinge in Unruhe, zu ihm streben sie hin und kehren sie zurück, und in ihm ruhen sie, wenn sie ihn erlangt haben. Diese Merkmale sind Gott im Verhältnis zu den Geschöpfen eigentümlich. Deshalb ist Gott „im eigentlichen Sinne das Wo und der Ort aller Dinge" 19 . Alles Weitere nimmt den Namen „Ort" für sich in Anspruch (usurpant sibi locum), insofern ihm die Eigenschaften des natürlichen Ortes in einem weiten Sinne zukommen 20 . (5) Philosophie bildete wie immer den Schwerpunkt der Tagung. Aber von Anfang an gehörte es zu den Kölner Mediaevistentagungen, sich nicht allein auf die Philosophie zu beschränken. Sie wollen die ganze Geistesgeschichte des Mittelalters zu Wort kommen lassen und ein interdisziplinäres Gespräch zwischen Mediävisten anregen. Das diesjährige Thema war besonders dazu geeignet, weil „Raum" nicht nur (und sogar nicht an erster Stelle) 16

17 18 19

20

Boethius, op. cit., c. 4 (ed. M. Elsässer, 16 — 18): „De deo vero non ita, nam quod ubique est ita did videtur non quod in omni sit loco (omnino enim in loco esse non potest) sed quod omnis ei locus adsit ad eum capiendum, cum ipse non suscipiatur in loco; atque ideo nusquam in loco esse dicitur, quoniam ubique est sed non in loco". Anselm von Canterbury, Proslogion, c. 13 (Opera Omnia I, ed. F. S. Schmitt, 110-111). Meister Eckhart, In Joh. n. 1 9 9 - 2 0 5 (Lat. Werke III, 168,2-173,10). Meister Eckhart, In Joh. η. 200 (Lat. Werke III, 168,12-169,3): „Notandum quod deus proprie locus et ubi est omnium propter tria: primo extra locum suum sunt inquieta omnia; secundo quod ad locum suum tendunt et recurrunt singula; tertio quod in loco proprio tuentur, in tuto sunt et quiescunt universa. Quae tria proprie deo competunt". Meister Eckhart, Sermo V, 3 n. 51 (Lat. Werke IV, 48,13-15): „Cetera vero, puta caelum et similia, usurpant sibi locum, id est nomen loci, secundum quod aliquid praedictarum condicionum loci latìus ipsis videtur competere".

XVI

Jan A. Aertsen

Gegenstand des Nachdenkens ist, sondern Lebensraum, welchen wir erfahren, gestalten oder darstellen. Die Schrift „De natura loci" Alberts des Großen ist ein interessantes Vorbild für die Verknüpfung beider Momente. Sie ist ein philosophischer Traktat, handelt jedoch im dritten Teil vom „Ort" in einem geographischen Sinne. Alberts Beschreibung der Welt ist stark von spätantiken Vorlagen, wie der „Cosmographia" des Ps.-Aethicus, abhängig, versucht aber, den geänderten Verhältnissen in Europa Rechnung zu tragen. Er bezeichnet beispielsweise Paris als die ävitas philosophorumn. Wer hätte das im fünften Jahrhundert vermuten können? In diesem Band berichten viele Kollegen aus ihrem Arbeitsbereich über Räumlichkeit im Mittelalter: (um nur einige Beispiele herauszugreifen) den Klangraum in der Musiktheorie, Raum im juristischen Sinne, d. h. den territorialen Geltungsbereich der Rechtskodifikation, die künstlerische Vergegenwärtigung des vom Diesseits geschiedenen Heilsraums und die Orte der Nacht {loca nocturna). Diese Studien tragen wesentlich zur übergreifenden Behandlung der Raumthematik bei.

21

Albert der Große, De natura loci, tract. III, c. 2 (Opera omnia V/2, ed. P. Hossfeld, Münster 1980, 34).

Inhaltsverzeichnis J A N A . AERTSEN — ANDREAS SPEER

Vorwort

VII

(Köln) Zur Einleitung

J A N A . AERTSEN

XI

I. Raum und Materie (Köln) Universum, Materie, Raum. Moderne Kosmologie und alte Naturphilosophie SILVIA DONATI (Köln/Pisa) Materie und räumliche Ausdehnung in einigen ungedruckten Physikkommentaren aus der Zeit von etwa 1250—1270 DETLEF THIEL (Wiesbaden) Chora, locus, materia. Die Rezeption des platonischen Timaios (48 a — 53 c) durch Nikolaus von Kues

ALBERT ZIMMERMANN

3 17 52

II. Raum als Gegenstand experimenteller und spekulativer Physik (Köln) Licht und Raum. Robert Grossetestes spekulative Grundlegung einer scientia naturalis JEREMIAH HACKETT (Columbia, SC) Experientia, Experimentum and Perception of Objects in Space: Roger Bacon GEORGE MOLLAND (Aberdeen) Heaven, Hell, and Medieval Physics J Ü R G E N SARNOWSKY (Hamburg) „St extra mundum fieret aliquod corpus...". Extrakosmische Phänomene und die Raumvorstellung der .Pariser Schule' des 14. Jahrhunderts ANDREAS SPEER

77 101 121

130

XVIII

Inhaltsverzeichnis

III. Der reale und der imaginäre physikalische Raum (Pisa/Köln) An Anonymous Question on the Immobility of Place from the End of the Xlllth Century MAREK GENSLER (Lódz) The Concept of Vacuum in a Scotist "Physics"-Commentary attributed to Antonius Andreae ELZBIETA JUNG-PALCZEWSKA (Lódz/Cambridge, Mass.) Motion in a Vacuum and in a Plenum in Richard Kilvington's Question: " Utrum aliquod. corpus simplex posset moveri aequae velociter in vacuo et in pleno" from the 'Commentary on the Physics' J O H N E . M U R D O C H (Cambridge, Mass.) Infinite Times and Spaces in the Later Middle Ages EDITH DUDLEY SYLLA (Raleigh) Imaginary Space: John Dumbleton and Isaac Newton CECILIA TRIFOGLI

147 168

179 194 206

IV. Spekulative Entfaltung des Raumbegriffs (Sofia/Köln) Räumlichkeit (Ort und Zeit) gemäß Anselm von Canterbury . . . HENRYK ANZULEWICZ (Bonn) Perspektive und RaumVorstellung in den Frühwerken des .Albertus Magnus M A R T I N J . TRACEY (Notre Dame) Albert the Great on Possible Intellect as locus intelligibilium . . . . WILHELM M E T Z (Freiburg i. Br.) Raum und Zeit bei Thomas von Aquin OLIVIER BOULNOIS (Paris) Du lieu cosmique à l'espace continu? La représentation de l'espace selon Duns Scot et les condamnations de 1277 GEORGI KAPRIEV

229 249 287 304 314

V. Theologische Raumvorstellungen (München) Zur Begriffsgeschichte der Allgegenwart und Unendlichkeit Gottes im hochmittelalterlichen Denken YOSSEF SCHWARZ (Jerusalem) „Ecce est locus apud me". Maimonides und Eckharts Raumvorstellung als Begriff des Göttlichen M A R K U S ENDERS

335 348

Inhaltsverzeichnis

(Pamplona) La discusión de Tomas de Aquino acerca de la presencia de los espíritus puros en el lugar y en el tiempo OLLI HALLAMAA (Helsinki) Continuum, Infinity and Analysis in Theology

XIX

JosEP IGNASI SARANYANA

365 375

VI. Topik und Semantik des Ortes (Notre Dame) Dialectical and Rhetorical Space. The Boethian Theory of Topics and its Influence during the Early Middle Ages CHRISTOPH K A N N (Leuven/Paderborn) Der Ort der Argumente. Eigentliche und uneigentliche Verwendung des mittelalterlichen /»««-Begriffs U D O REINHOLD JECK (Bochum) Zenons Aporie des Topos, ihre Interpretation bei den griechischen Aristoteleskommentatoren, bei Averroes, Avicenna und im lateinischen Mittelalter STEPHEN G E R S H

391 402

419

VII. Raum als Metapher (Sofia) Loca nocturna — Orte der Nacht A C H I M W U R M (Köln) Locus non locus. Der Stil der Innerlichkeit in Augustins Confessiones ROLF SCHÖNBERGER (Regensburg) Der Raum der memoria J O H A N N KREUZER (Wuppertal) Der Raum des Sehens. Vom Augen-Blick und der mittelalterlichen Entfaltung seines Begriffs T Z O T C H O BOIADJIEV

439 452 471 489

VIIL Geographische Raumvorstellungen (Notre Dame) Perceptions of Physical and Spiritual Space in Early Christian Ireland BRIGITTE STARK (Bonn) Terra repromissionis Sanctorum. Die Reise des Heiligen Brendan zum irdischen Paradies M A R I E BLÁHOVÁ (Prag) Geographische Vorstellungen und Kenntnisse der böhmischen mittelalterlichen Chronisten MARINA SMYTH

505 525 340

XX

Inhaltsverzeichnis

(Köln) Terrae Incognitae. Zur Umschreibung empirisch noch unerschlossener Räume in lateinischen Quellen des Mittelalters bis in die Entdekkungszeit

ANNA-DOROTHEE VON DEN BRINCKEN

557

IX. Rechtliche und historische Kategorien der Raumerfassung (Düsseldorf) Zur Kategorie des Raumes in frühmittelalterlichen Rechtstexten IVAN HLAVÁCEK (Prag) Überlegungen zur Erfassung und Erforschung des Raumes im Böhmen des 14. und 15. Jahrhunderts. Zu den Auswertungsmöglichkeiten der spätmittelalterlichen böhmischen Itinerare — Einige Glossen zum Problem GÖTZ-RÜDIGER TEWES (Köln/Rom) Das spätmittelalterliche Papsttum und die Problematik der Raumerfassung

VERENA E P P

575

591 603

X. Heilsraum und Kultraum (Braunschweig) Die Erschaffung von Raum und Zeit in Darstellungen zum Schöpfungsbericht von Genesis 1 B R U N O REUDENBACH (Hamburg) Heilsräume. Die künsderische Vergegenwärtigung des Jenseits im Mittelalter H A N N S PETER NEUHEUSER (Köln) Ne lapidum materia apparentium locus vilesceret. Die Raumvorstellung des Abtes Suger in seiner Kirchweihbeschreibung von Saint-Denis KIRSTIN FAUPEL-DREVS (Hamburg) Bildraum als Kultraum? Symbolische und liturgische Raumgestaltung im „Rationale divinorum officiorum" des Durandus von Mende

JOHANNES ZAHLTEN

615 628 641 665

XI. Der Raum in der Musik (Freiburg i. Br.) Maß und Klang. Die Gestaltung des Tonraumes in der frühen abendländischen Mehrstimmigkeit

CHRISTIAN BERGER

687

Inhaltsverzeichnis

(Köln) Weltraum-Musik und Klangraum im mittelalterlichen Musikschrifttum

XXI

K L A U S WOLFGANG NIEMÖLLER

702

XII. Bildräume und Raumwahrnehmung im Wandel (Freiburg i. Br.) Roger Bacon: Körper und Bild CHARLOTTE E . HAVER (Münster) Landschaft und Raum im Quattrocento. Überlegungen zu Raumwahrnehmung und Epochenwandel

WILHELM KÖLMEL

NICOLAS B O C K — WOLFGANG J U N G

729 739

(Rom)

Der Stadtraum als Bühne. Formen architektonischer Inszenierung zwischen Mittelalter und Neuzeit 763 H A N S G E R H A R D SENGER (Köln) „Wanderer am Weltenrand" — ein Raumforscher um 1530? Überlegungen zu einer peregrìnatio inventiva 793 Namenregister

829

I. Raum und Materie

Universum, Materie, Raum Moderne Kosmologie und alte Naturphilosophie ALBERT Z I M M E R M A N N

(Köln)

Wie das, was mit dem Wort ,Universum' bezeichnet wird, jeden Menschen — fángt er nur einmal an, seine Aufmerksamkeit darauf zu richten — in seinen Bann schlägt, drückte als einer von vielen Immanuel Kant aus: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir" 1 . Legion sind ähnliche Zeugnisse aus der Geistesgeschichte, und heute ist es nicht anders, nimmt man die große Zahl von Büchern, Artikeln, Medien-Sendungen bis hin zu Produkten utopischer science-fiction zum Maßstab. Dazu haben nicht nur die ersten beachtlichen Schritte der Raumfahrt, sondern auch die aufsehenerregenden Hypothesen und Theorien der modernen Wissenschaft vom Kosmos beigetragen. Ausdrücke wie „Urknall", „gekrümmter Raum", „Raumzeit", „schwarzes Loch", „roter Riese", „weißer Zwerg", „Zeitumkehr", „Reise in die Vergangenheit" sind allgemein bekannt, und Buchtitel mit den Wörtern „Schöpfung", „Chaos", „kreatives Universum" ziehen überall die Blicke wißbegieriger Zeitgenossen auf sich 2 . Gewiß erscheint die Art und Weise, Resultate strenger wissenschaftlicher Arbeit zu rezipieren, manchmal bedenklich unseriös. Diese werden als Gegenstand von Unterhaltung verwertet, und am liebsten wird in möglichst kurzen Abständen von einem neuen Umsturz des Weltbildes berichtet. Ich erwähne einige Meldungen, die man in den letzten Jahren lesen konnte: 1986 hieß es, neue Daten erschütterten die Fundamente der Physik. 1991 war die Rede davon, neue astronomische Entdeckungen rüttelten an den Grundfesten kosmologischer Modelle. In demselben Jahr schrieb jemand, man müsse, um den Menschen 1 2

Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Beschluß, Akademie-Ausgabe Bd. V, 161. Hier einige Titel jüngerer Publikationen: Paul Davies, Am Ende ein neuer Anfang (The Edge of Infinity), Düsseldorf 1979; id., Gott und die moderne Physik (God and the New Physics), München 1989; id., Prinzip Chaos. Die neue Ordnung des Kosmos (Cosmic Blueprint) München 4 1993; Harald Fritsch, Vom Urknall zum Zerfall, München 1983; Michael Rowan-Robinson, Das Flüstern des Urknalls (Ripples in the Cosmos), Heidelberg 1994; J. Trefil, Im Augenblick der Schöpfung, Basel - Boston - Stuttgart 1984; Klaus Lindner, Anfang und Ende der Welt, Leipzig 1995. Diese und ähnlich auffallende Ausdrücke finden sich auch in vielen anderen Darstellungen der Kosmologie, wenn darin die entsprechenden Fragen erörtert werden.

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Albert Zimmermann

zu verstehen, die ganze Physik revolutionieren. 1993 wurde die Situation der Kosmologie so beschrieben: Vor 30 Jahren wußten wir kaum etwas, heute leben wir vielleicht in der Epoche, in der die Suche nach dem Ursprung des Universums ans Ziel gelangt. Ein Jahr später war wieder einmal davon die Rede, das Gedankengebäude der Kosmologie erbebe 3 . Die in solchen Meldungen erkennbare Unterhaltungswert-Mentalität hat natürlich Ursachen. Schon vor einigen Jahrzehnten beklagte Bertrand Russell, „die meisten Wissenschafder ... sprächen zu ihren Lesern wie ältere Herren zu abenteuerlustigen kleinen Jungen" 4 . Inzwischen ist das Wort „Wissenschaft" derart inflationiert, daß viele Menschen den „wissenschaftlichen" Umgang mit den Dingen für eigenartig, aber auch für meistens unwichtig halten, bestenfalls für etwas Spannendes. So wundert man sich schließlich nicht allzusehr darüber, daß Zeitungslesern die Nachricht zugemutet wurde, die Wissenschaft habe Sterne entdeckt, die älter seien als das Universum. Ich möchte nun darstellen, mittels welcher Überlegungen in der gegenwärtigen Kosmologie versucht wird, das Universum — das ja unsere Heimstatt ist, mit der wir zutiefst verflochten sind — seine Gestalt und sein Werden zu begreifen. Meine Ausführungen sind in drei Abschnitte gegliedert: Erstens werden die wichtigsten Ergebnisse der modernen Erforschung des Universums referiert. Dann folgen, zweitens, Bemerkungen zu einigen Fragen, denen die Kosmologen sich besonders zuwenden. Schließlich weise ich darauf hin, daß wir bei alledem an uralte naturphilosophische Lehren erinnert werden. I. Anhand einiger Daten sei vergegenwärtigt, wie sich das Universum unserer Beobachtung darbietet 5 : 3

4 5

Es fehlt auch nicht an dem die ganze Wissenschaftsgeschichte begleitenden Genie-Kult. Während man sich — aufgeklärt — über manche alten Lobpreisungen des Aristoteles lustig macht, was übrigens schon lange vor Galilei anfing, liest man heute über Albert Einstein, seine Physik bringe uns ihn nahe „als einen Sucher nach der Wahrheit, wie es ihn nie wieder geben wird" (Albrecht Fölsing, Albert Einstein. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 1993, 11). Zitiert in: Ronald W. Clark, The Life of Bertrand Russell, London 1978, 511. Zugrundegelegt sind neben den schon angeführten Werken die folgenden Darstellungen: Jürgen Audretsch—Klaus Mainzer, Vom Anfang der Welt, München 1989; John D. Barrow, Die Natur der Natur (The World within the World), Heidelberg 1993; Johann Dorschner, Mensch und Universum, in: Mensch und Universum. Naturwissenschaft und Schöpfungsglaube im Dialog, Regensburg 1995; Richard H. Giese, Einführung in die Astronomie, Darmstadt 1981; Bernulf Kanitscheider, Kosmologie, Stuttgart 1984; id., Vom absoluten Raum zur dynamischen Geometrie, Zürich 1976; id., Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaft, B e r l i n - N e w York 1981; id., Von der mechanistischen Welt zum kreativen Universum, Darmstadt 1993; Rudolf Kippenhahn, 1 0 0 Milliarden Sonnen, München 1980; Leon Ledermann - David N. Schramm, Vom Quark zum Kosmos, Heidelberg 1995; Uwe Schultz (ed.), Scheibe, Kugel, Schwarzes Loch, München 1990; Hans-H. Voigt, Das Universum, Stuttgart 1994; Timothy Ferris, Galaxien (Galaxies), Basel 1983; Der Sammelband Kosmologie, Heidelberg 4 1984; John A. Wheeler, Gravitation und Raumzeit, Heidelberg 1992.

Universum, Materie, Raum

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1. Wir leben in einem Kosmos, der eine unermeßliche Vielheit materieller Gebilde enthält. Diese Vielheit hat Strukturen, insofern Sterne, Gestirnhaufen (Galaxien, etwa die Milchstraße, zu der unser Sonnensystem gehört) und Galaxienhaufen jeweils den Eindruck einer gewissen Einheitlichkeit hervorrufen. Eine Galaxie besteht im Durchschnitt aus 109 Sternen, und es gibt schätzungsweise 109 Galaxien. Galaxienhaufen umfassen etwa 100 bis zu 10000 Galaxien. Der größte bisher erblickte Galaxienhaufe hat einen Durchmesser von rund 500 Millionen oder sogar 1 Milliarde Lichtjahren, und er ist etwa 150 Millionen Lichtjahre breit. Ein Lichtjahr entspricht rund 1012 (10 Billionen) km. Den Durchmesser des bis jetzt wahrgenommenen Universums schätzt man auf etwa 100 Milliarden Lichtjahre. Ein Astronom konstruiert folgendes Vergleichsmodell6: Die Erde habe die Größe einer Mikrobe, also ungefähr 1 Millionstel m Durchmesser. Die Entfernung Erde — Sonne entspräche dann 1 cm, und das Sonnensystem hätte einen Durchmesser von etwa 1 m. Die Galaxie, zu der unser Sonnensystem gehört, nähme einen Raum ein, wie ihn die wirkliche Mondsphäre umgrenzt. Die von uns ganz weit entfernten Galaxienhaufen befänden sich im Modell in Abständen von der Mikroben-Erde, die in Milliarden km zu messen sind. Das Modell läßt sich schwerlich noch anschaulich nennen, und wieviel weniger also das Urbild, der wirkliche Kosmos. 2. Das beobachtbare Universum mit der unermeßlichen Vielheit materieller Gebilde erscheint selbst als Einheit, insofern Kräfte und andere Einflüsse über alle Entfernungen hinweg wirken. So nimmt man zum Beispiel an, daß die uns allen bekannte Trägheit von Körpern aus unserer Umgebung nicht von uns geändert werden kann, weil sie die Wirkung weit entfernter und von uns nicht beeinflußbarer Massen ist. 3. Materie und Energie sind im Universum, großräumig betrachtet, gleichförmig verteilt. Bisher hat man jedenfalls keinen Ort ausfindig gemacht, auf den hin die Vielheit ausgerichtet wäre. Eine kosmische Gesamtordnung, etwa mit einem Zentrum und einer Peripherie, ist nicht festzustellen. 4. Aufgrund bestimmter Beobachtungen wird vermutet, daß es außer der sichtbaren auch „dunkle" Materie gibt. Man kennt inzwischen einige Tausend sog. Radio-Galaxien durch ihre Strahlung. Besonders auffällig sind die sog. Quasare (Quasi-Stellar-Radio-Sources), Zusammenballungen gewaltiger Energien auf kleinem Raum, deren Entfernungen von der Erde Milliarden von Lichtjahren betragen. 5. Es gibt Prozesse des Entstehens und Vergehens kosmischer Gebilde. Man vermutet, daß es sogar zum vollständigen Verschwinden beobachtbarer Materie und Energie kommt. Aus den entsprechenden Lokalitäten, „schwarze Löcher" genannt, vermag keinerlei Signal mehr auszutreten. Materie und Energie einschließlich des Lichts verabschieden sich sozusagen an solchen Stellen vom wahrnehmbaren Kosmos. 6

Giese, Einführung . . . , 4.

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Albert Zimmermann

6. Die Lichtspektren der Sterne legen die Deutung nahe, daß der Kosmos sich insgesamt ausdehnt. Die Geschwindigkeit, mit der die Galaxien sich voneinander entfernen, ist umso größer, je weiter der sie trennende Abstand bereits ist. Sie nimmt also ständig zu. Dies läßt vermuten, daß die Expansion Folge eines vergangenen Zustandes ist, in dem das Universum wie in einem Punkt konzentriert existiert und mit dem die ganze kosmische Dynamik in einem „Urknall" anhob. Diese Vermutung wurde bestätigt, als man eine den ganzen Kosmos nahezu gleichmäßig erfüllende Strahlung entdeckte, die als Relikt der Ur-Explosion verstanden werden kann. 7. Bezogen auf das Zeitmaß eines irdischen Beobachters liegt der Urknall schätzungsweise 15 bis 20 Milliarden — vielleicht sogar 30 Milliarden — Jahre zurück. Diese Anfangssingularität entzieht sich unserem Verstehen, weil in einem solchen Zustand die uns bekannten Naturgesetze nicht gelten können. Man versucht natürlich, ihm mit Hilfe der Physik der Elementarteilchen möglichst genau auf die Spur zu kommen. Ein Anhaltspunkt ist auch die jetzige, auf einzelne Bereiche bezogen sehr unsymmetrische Struktur des Universums, die ebenfalls als Folge der Ur-Expansion begriffen werden muß 7 . 8. Versucht wird, die Zukunft des expandierenden Kosmos vorherzusagen. Man hält als Ende des Prozesses die Auflösung aller Strukturen in eine sinnleere Vielheit für möglich, aber auch eine Umkehr der Expansion in eine Kontraktion bis hin zu einem Zustand, welcher der Anfangssingularität ähnlich ist, und eine niemals endende Wiederholung des Gleichen. 9. Weil das Weltall unaufhörlich mit wachsender Geschwindigkeit expandiert, ist auch anzunehmen, daß es Bereiche gibt, von denen kein Signal, das ja höchstens Lichtgeschwindigkeit hat, uns hier auf der Erde jemals erreicht. Ereignisse jenseits einer Grenze, die von den Kosmologen „Ereignis-Horizont" genannt wird, sind uns endgültig und für immer unzugänglich8. Zum expandierenden Universum gehören außerdem Bereiche, die keine dynamische Verbindung mehr miteinander haben, da sie mit zu großer Geschwindigkeit voneinander wegfliegen. Deshalb ist gelegentlich unter den Fachleuten sogar der Ausdruck „Universum" umstritten; denn mit ihm ist normalerweise nur das beobachtete All gemeint. Einige ziehen die Bezeichnung „Gesamtuniversum" vor, um auszudrücken, daß es einen raum-zeitlichen Zusammenhang sämtlicher Teile der materiellen Wirklichkeit gibt, auch über alle Schranken der Beobachtung hinweg.

II. Nun sei der Versuch gemacht, einen Einblick in die Bemühungen der modernen Kosmologie, die beobachteten Strukturen des Universums zu er7

8

Zur Bedeutung des Ausdrucks „jetzige Struktur des Kosmos" siehe unten Abschn. II, 1 und Anm. 12. Dazu beispielsweise Kanitscheider, Wissenschaftstheorie . . . , 107; id., Kosmologie, 384; Dorschner, Mensch . . . , 87.

Universum, Materie, Raum

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klären und womöglich zu verstehen, zu geben. Zuerst wenden wir uns wichtigen methodischen Voraussetzungen zu, dann erörtern wir grundlegende Aussagen über den Kosmos, nämlich die Prinzipien, auf welche die kosmologischen Theorien sich stützen. Der Einblick soll durch einige Beispiele von Erklärungen kosmischer Phänomene weiter verdeutlicht werden. 1. Das Ziel der Wissenschaft vom Universum ist es, die vielfältigen Beobachtungen, von denen die wichtigsten angeführt wurden, zu einer Gesamtschau zusammenzufügen, in der sowohl die geometrischen wie auch die dynamischen Strukturen der raum-zeitlichen Welt möglichst konsistent und einheitlich ihren geordneten Platz haben. Die Einheitlichkeit hat ihr Maß in mathematisch formulierten Gesetzen des Verhaltens von Körpern. Erstrebt wird also die Konstruktion eines Modells, in dem die raum-zeitlichen Abläufe beschrieben und als Ausdruck eines natürlichen und naturgesetzlichen Wirkungszusammenhangs verständlich werden. Dabei stehen stelbstredend nur diejenigen Beobachtungen im Zentrum der Aufmerksamkeit, die — soweit erkennbar — das Weltall im Großen charakterisieren. Das erfordert ein hohes Maß an Abstraktion und eine dementsprechend vereinfachte Sicht der kosmischen Wirklichkeit. Diesem Ziel ist ein methodischer Grundsatz angemessen, der ausdrücklich hervorgehoben sei. In einer Wissenschaft vom Kosmos dürfen nur Objekte vorkommen, die selbst beobachtet sind oder in einer aufweisbaren physikalischen Beziehung mit beobachteten Objekten stehen. Sämtliche Phänomene müssen als Wirkungen beobachteter oder beobachtbarer Ursachen, letztlich also von Massen und Trägern von Energie, verstanden werden. Diesem methodischen Grundsatz fiel auch die lange Zeit hindurch dominierende Raumtheorie der Newtonschen Physik zum Opfer. Bekanntlich hatte Newton den Raum als unendlich ausgedehnten unbewegten Behälter aller Körper begriffen, als das absolute Bezugssystem, auf das letztlich alle Bewegungen zurückgeführt werden müssen. Der so gedachte Raum stellt gewissermaßen jedem Körper seinen Ort zur Verfügung, der an sich betrachtet unbewegt und unbeweglich ist. Newton beschreibt diesen Behälter-Raum einmal folgendermaßen: „Unbewegte Orte sind nur solche, die sämtlich von Unendlichkeit zu Unendlichkeit dieselbe gegenseitige Lage beibehalten, also immer unbewegt bleiben und einen unbeweglichen Raum bilden" 9 . Die Wissenschaft vom Universum hat nun aber nur zwei Möglichkeiten, diese Lehre vom Raum aufzugreifen: Entweder nimmt der materielle Kosmos als ganzer einen begrenzten Teil des unendlichen Raumes ein, er schwebt sozusagen darin wie ein Ballon in der Luft, oder der unbegrenzte Raum ist überall mit Körpern bestückt, so daß es also eine aktual unendliche Menge von Körpern in einem unendlich ausgedehnten Universum gibt. Keine der beiden Annahmen ist 9

J. Newton, Mathematische Prinzipien der Naturlehre (Philosophiae naturalis principia mathematica), Darmstadt 1963, 28.

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Albert Zimmermann

aber vereinbar mit der tatsächlichen Stabilität des unserer Beobachtung zugänglichen Kosmos. An die Stelle der Newtonschen Raumtheorie setzt die moderne Kosmologie die Raumauffassung der Relativitätstheorie. Sie bedient sich, um den Phänomenen gerecht zu werden, einer Geometrie, in der eine variable Metrik, anschaulich bezeichnet als „gekrümmte Raum-Zeit", ausgedrückt ist. Entscheidend ist die Erkenntnis, daß die Körper durch ihre Masse und Energie das meßbare Verhalten in ihrer Umgebung prägen, so daß also die physikalisch erfaßbaren Strukturen in der Welt überall mit den in ihr befindlichen Massen verbunden ist. Ein „absoluter Raum", der sich zu den Prozessen im Weltall neutral verhält, ist für die Kosmologie ohne Funktion und deshalb belanglos. Das angestrebte Modell des Universums hat sich also streng nach dem zu richten, was beobachtet wird. Allerdings ist dabei der folgende wichtige Sachverhalt zu berücksichtigen: Wir wissen, daß Signale, die von einem Objekt ausgehen, sich höchstens mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Das gilt selbstverständlich auch von den Signalen, die es möglich machen, daß wir Objekte, wo sie auch sein mögen, wahrnehmen. Unser Blick in entfernte Bereiche des Kosmos ist also immer auch ein Blick in bereits vergangene Zustände. Was wir zugleich wahrnehmen oder als gleichzeitig annehmen, davon wissen wir also nicht, ob es jemals zugleich existierte oder existiert. Jedes beobachtete Gebilde müßte eigentlich einen Index tragen, der seine zeitliche Beziehung zur Eigenzeit des Beobachters erkennen läßt 10 . Wenn wir den Kosmos anhand von Modellen desselben vorzustellen versuchen, abstrahieren wir meistens spontan von dieser zeitlichen Struktur. Durch die Termini „Raum-Zeit" und „raum-zeitliches Modell" sollen Mißverständnisse vermieden werden, aber man hat oft den Eindruck, als sei das sehr schwierig zu erreichen. Der Gießener Kosmologe und Naturphilosoph Bernulf Kanitscheider, ein anerkannter hervorragender Fachmann, schildert die Lage des Forschers so: Dieser „möchte eine Beschreibung des Universums liefern, wie sie sich dem zeitlosen Auge unabhängig von den Beschränkungen der Erfahrung darbietet. Er möchte ... eine Weltkarte erstellen. Auf dieser ist der Zustand der Welt in einem bestimmten Moment der kosmischen Zeit verzeichnet" 11 . Der Kosmologe strebt letzten Endes danach, das Universum „mit dem überfliegenden Blick des allgegenwärtigen kosmischen Beobachters gewissermaßen sub specie aeternitatis zu erschließen und zu begreifen". Wir 10

11

E.g. Barrow, Die Natur . . . , 492: „Darüber hinaus sind unsere Beobachtungen an sehr fernen Objekten ... Beobachtungen von Ereignissen, die in ferner Vergangenheit abliefen. Das Licht, das wir jetzt von fernen Quasaren empfangen, wurde in ferner Vergangenheit ausgeschickt". Und: „Wir sehen daher ferne Teile des Weltalls, so wie sie vor vielen Millionen oder ... sogar vor Milliarden Jahren waren". Kippenhahn schreibt: Wir „sehen das Weltall keineswegs so, wie es im Augenblick ist, auch nicht, wie es zu einem früheren Zeitpunkt war. Wir nehmen ein Gemisch aus seinen Zuständen zu verschiedenen Zeiten wahr". (Der Anfang der Welt, in: Schultz [ed.], Scheibe . . . , 291.) Kanitscheider, Kosmologie, 193.

Universum, Materie, Raum

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müssen aber wohl hinnehmen, daß „nur ein hypothetischer, spiritueller Beobachter" eine solche Schau des Universums zu erreichen vermag 12 . 2. Aufschluß über die gegenwärtig maßgebenden Vorstellungen von unserem Weltall geben vor allem die Prinzipien, die das weitgehend gemeinsame Fundament und Gerüst der Kosmologie bilden. Das sei in der gebotenen Kürze exemplarisch dargelegt. a. Das wichtigste Prinzip ist das der unbegrenzten Reichweite und ausnahmslosen Geltung von Naturgesetzen. Ihm gemäß gibt es Regel- und Gesetzmäßigkeiten, die für jedes Objekt im Universum und sein Verhalten maßgebend sind. Welche Gesetze das jeweils sind und wie sie sich auswirken, ist im einzelnen unter Umständen umstritten. Anerkannt ist wohl ganz allgemein der Grundsatz, daß es keine ursachlose Entstehung gibt, wobei unter Ursache ein vorgegebener Zustand zu verstehen ist. „Ex nihilo-Prozesse" haben in der naturwissenschaftlichen Weltsicht keinen Platz — mögen sie auch am Horizont der Erklärungen auftauchen 13 . Ebenso ist davon auszugehen, daß alle Vorgänge regelmäßig verlaufen. Das gilt auch für solche, die chaotisch zu sein scheinen. Die Bedeutung dieses Prinzips sei unter einem Gesichtspunkt, der besondere Beachtung verdient, ins Licht gerückt. Es muß nämlich, wenn es einen Sinn haben soll, auch für den Menschen, vor allem insofern er erkennt, gelten. Notwendige Bedingung unseres Erkennens sind ja natürliche Abläufe in den Nervenzellen und Nervenbahnen. Verliefen diese Prozesse nicht prinzipiell in stets gleicher Weise, verlöre das von ihnen abhängige menschliche Erkennen, auf jeden Fall Wahrnehmung und Beobachtung, jeglichen Wert für die Wissenschaft. Der Mensch ist also durch dieses Prinzip in ausgezeichneter Weise in den Betrachtungsbereich der Kosmologie einbezogen. Die Implikationen dieser Feststellung erwägend, vertreten einige Kosmologen die 12

Ibid., 194. Mit Nachdruck sei hier noch einmal auf die Erkenntnissituation hingewiesen, deren Konsequenzen m. E. nicht hinreichend herausgestellt werden. Wesentliche Aussagen der Kosmologen betreffen zeitlich weit zurückliegende Phänomene. Diese Erkenntnis wird aber in vielen Äußerungen schlicht übersprungen. Immer wieder ist die Rede vom „gegenwärtigen Zustand des Kosmos", von der „gegenwärtigen Expansion", der „gegenwärtigen Dichte", von der „gegenwärtigen Struktur des Universums", von der „heutigen großräumigen Erscheinungsform der kosmischen Materie". Man erklärt, daß die Galaxien heute voneinander wegfliegen. Sind derartige Feststellungen eigendich vereinbar mit den Grundsätzen, die von den Kosmologen als Maßstab ihres wissenschaftlichen Vorgehens so oft herausgestellt werden, so etwa in einer Abhandlung „Die Entwicklung des Universums" (Leben und Kosmos, Heidelberg 1995, 22): „Es gibt viele Möglichkeiten, sich den Geheimnissen des Universums zu nähern - wissenschaftlich, philosophisch, theologisch oder esoterisch. Die Wissenschaftler haben sich die beschwerlichste ausgesucht: Sie akzeptieren nur, was durch Experiment oder Beobachtung überprüft ist".

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Dazu u. a. Kanitscheider, Kosmologie, 261 u. 307. Nicht zu übersehen sind die Parallelen mit Überlegungen mittelalterlicher Denker zu der Frage der Weltentstehung und Erschaffung. Cf. hierzu A. Zimmermann, „ Naturalis creatiomm considerare non potest". Überlegungen zur modernen und mittelalterlichen Naturphilosophie, in: Recherches de Théologie et Philosophie médiévales 64/2 (1997).

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Ansicht, bestimmte Akte des menschlichen Erkennens, so die als „Intuition" und als „Reflexion" bezeichneten, spielten offensichtlich eine eigenartige Rolle. Der britische Kosmologe Roger Penrose hebt zum Beispiel hervor, das intuitive Erkennen zeige, daß der Mensch aus der Zeit ausbreche und in eine „platonische Welt" gelange. b. Zu erwähnen ist ferner das sog. „kosmologische Prinzip", auch „kopernikanisches Prinzip" genannt. Es besagt, daß jeder Punkt im Universum jedem anderen physikalisch-kosmologisch gleichwertig ist. Es gibt im Weltall weder einen Vorzugsort noch eine Vorzugsrichtung. Auch wir leben nicht an einer ausgezeichneten Stelle des Universums 14 . Trotz einiger Diskussionen ist es opinio communis der Fachleute, daß dieses Prinzip der Grundstruktur des Kosmos entspricht. c. Umstritten ist allerdings eine erweiterte Fassung des kopernikanischen Prinzips, die man „vollkommenes kosmologisches Prinzip" zu nennen pflegt. Die Erweiterung besteht darin, daß das Prinzip auch auf die zeitliche Struktur des Universums bezogen wird. Es besagt, daß das Universum in jedem Raum-Zeit-Punkt im Ganzen gesehen, also im Großen betrachtet, die gleiche Beschaffenheit hat. Für die Geltung dieses Prinzips spricht der Sachverhalt, daß es eine unverzichtbare Voraussetzung naturwissenschaftlicher Erkenntnis beschreibt, nämlich die grundsätzliche Wiederholbarkeit relevanter Beobachtungen und Experimente. Wer das Prinzip nicht anerkennt, muß einräumen, daß für jeden Vorgang in der Natur auch der Zeitpunkt, in dem er stattfindet, konstitutiv und wesentlich ist oder sein kann. Daraus folgt aber, daß es keine wissenschaftlich brauchbaren Verallgemeinerungen und keine allgemeingültigen Gesetze, sondern nur Berichte über einzelne Ereignisse gäbe 15 . Gegen 14

15

Daß Kopernikus auf diese Weise geehrt wird, beweist das Traditionsbewußtsein der Kosmologen. Es ist aber fraglich, ob seine Vorstellungen vom Kosmos diesem Prinzip entsprachen. Dagegen spricht jedenfalls der berühmte Text aus Kap. 1 0 des ersten Buches von „De revolutionibus orbium caelesrium": „In der Mitte aber von allen steht die Sonne. Wer könnte nämlich in diesem schönsten Tempel diese Leuchte an einen anderen besseren Ort setzen als den, von wo aus sie das Ganze zugleich erleuchten kann". Hingegen ist es nicht fraglich, daß Nikolaus von Kues für eine Sicht des Universums eingetreten ist, die dem kosmologischen Prinzip entspricht: Bei ihm liest man: „Und da es stets jedem, ob er sich auf der Erde oder der Sonne oder auf einem anderen Stern befindet, so vorkommt, als befinde er sich gleichsam an einem unbeweglichen Mittelpunkt und als bewege sich alles andere, würde jener, wenn er sich auf der Sonne, der Erde, dem Mond, dem Mars usw. befände, sich sicherlich immer neue Pole bilden. Der Bau der Welt ist deshalb so, als hätte sie überall ihren Mittelpunkt und nirgends ihre Peripherie ..." (De docta ignorantia II, c. 12, n. 162; cf. Albert Zimmermann, .Belehrte Unwissenheit' als Ziel der Naturforschung, in: Nikolaus von Kues, ed. Klaus Jakobi, Freiburg—München 1979, 1 2 1 - 1 3 7 . Der russische Naturforscher Lew Tarassow drückt das so aus: „Würden sich die physikalischen Gesetze mit der Zeit ändern, so wäre jedes physikalische Experiment bestenfalls von momentaner Bedeutung ... In einer Welt, in der es keine Symmetrie gegenüber zeitlichen Verschiebungen gibt, würden ein und dieselben Ursachen heute die einen und morgen die anderen Folgen nach sich ziehen" (Symmetrie, Symmetrie. Strukturprinzipien in Natur und Technik, Heidelberg 1993, 109).

Universum, Materie, Raum

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das vollkommene kosmologische Prinzip wird eingewendet, es sei nicht vereinbar mit der gesicherten Erkenntnis, daß der Kosmos insgesamt einer unaufhörlichen Veränderung (Evolution) unterliegt, die — wie etwa die beständige Zunahme der Entropie zeigt — mit dem unaufhaltsamen Fließen der Zeit verwoben ist. Man weist zudem darauf hin, daß diesem Prinzip gemäß in einem expandierenden Weltall wie dem unseren immer wieder Materie neu entstehen müßte, was als unerklärlich angesehen wird. Es liegt auf der Hand, daß gerade dieses Prinzip zum Nachdenken über die unterschiedlichen Rollen, die Ort und Zeit bei unserem Erkennen und Verstehen des Universums spielen, zwingt. So werden wir trotz der gelegentlich suggestiv wirkenden Verwendung des Ausdrucks „Raumzeit" des Sachverhalts inne, daß Orte im Weltall als prinzipiell erreichbar gelten, daß Zeitpunkte hingegen nicht so eingeschätzt werden. Wir vermögen vergangene Zeit nicht zu erreichen, geschweige denn zu beeinflussen, obwohl manchmal eine „Reise in die Vergangenheit" als verträglich mit bestimmten kosmologischen Theorien und Hypothesen ausgegeben wird, ohne allerdings wirklich ernst genommen zu werden 16 . 3. An einigen Beispielen sei nun noch dargetan, wie die moderne Wissenschaft vom Universum bestimmte Phänomene zu erklären versucht. a. Ein dorniges Problem stellen Erklärung und Begreifen der „Urknall" genannten Anfangssingularität dar. Daß der angenommene Anfangs- und Ausgangspunkt aus Nichts aufgetreten sei, wird nicht als eine dem Naturforscher angemessen erscheinende Antwort akzeptiert. Jedes beim Verfolgen natürlicher Prozesse erschlossene Ereignis muß nämlich als naturhaftes aufgefaßt und begriffen werden, und demnach ist der Kosmologe gehalten, nach natürlichen Ursachen für es zu suchen und nach einer Erklärung gemäß den Grundsätzen der Naturwissenschaft 17 . Deshalb nehmen einige Kosmologen an, dem Urknall sei ein Zustand vorausgegangen, der als anfangloses, vollständig homogenes und symmetrisches, jeglicher Verschiedenheit bares vakuumartiges potentiell-dynamisches Feld zu denken ist. Es läßt sich nämlich mittels mathematischer Überlegungen zeigen, daß Symmetrie instabil ist. Außerdem gibt es in der Natur Vorgänge, bei welchen eine bestehende Symmetrie spontan gebrochen wird und sich nicht-symmetrische Strukturen bilden. Die Anfangssingularität kann somit grundsätzlich als Symmetriebrechung eines ohne Anfang währenden Feldes aufgefaßt werden. 16

Stephen W. Hawking schreibt: „Doch scheinen die Gesetze der Physik ... solche Zeitreisen nicht zuzulassen. Offenbar gibt es ein Chronologieschutzamt, welches das Weltbild der Historiker sichert, indem es Reisen in die Vergangenheit verhindert ... Doch der beste Beweis dafür, daß Zeitreisen nicht möglich sind und nie möglich sein werden, ist die Tatsache, daß wir bis jetzt noch nicht von Touristenhorden aus der Zukunft heimgesucht worden sind" (Einsteins Traum. Expeditionen an die Grenzen der Raumzeit, Hamburg 1994, 156).

17

Dazu: Barrow, Die Natur . . . , 3 5 0 - 3 6 4 ; Kanitscheider, Kosmologie . . . , 4 3 6 - 4 5 9 ; id., Vom absoluten Raum zur dynamischen Geometrie, Zürich 1976, 1 1 4 sq.

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Albert Zimmermann

Gelegentlich wird noch allgemeiner argumentiert: In einem Feld der beschriebenen Art müssen alle der Quantentheorie entsprechenden möglichen Schwankungen oder Störungen irgendwann einmal auftreten. Das muß so sein, weil es keinen hinreichenden Grund dafür gibt, daß eine mögliche Änderung nicht wirklich auftritt. Zu der Menge sämtlicher Schwankungen muß aber auch diejenige gehören, aus der sich dann unser Kosmos entwickelt hat. b. Mit dem Urknall ist ein weiteres Problem verknüpft, das bereits kurz erwähnt wurde 18 . Die Urexplosion muß ein ganz und gar gleichmäßiger Prozeß gewesen sein, und das Ur-Universum war demgemäß homogen. Wie kann es dann aber zur Bildung von Materieteilchen gekommen sein, die schließlich die — lokal betrachtet — ja sehr unsymmetrische Gestalt des Kosmos zur Folge hatte? Man nimmt auch hier eine spontane Symmetriebrechung als Erklärung an. Es muß sehr früh eines von etwa 10 Milliarden Elementarteilchen kein Partnerteilchen gefunden haben, mit dem zusammen es, wie bei den übrigen der Fall, ein die Homogenität nicht beeinträchtigendes Photon hätte bilden können. Wie es zu diesem Ereignis kam, ist einstweilen unklar. Ohne die Annahme eines kontingenten Vorfalls scheint offenbar keine Erklärung zustande zu kommen. Auch die großräumige Isotropie des Kosmos gilt bislang als unerklärt, weil sie nicht aus der Anfangssingularität abgeleitet werden kann. c. Die Kosmologen verstehen unter der „Kontingenz" des Kosmos den Sachverhalt, daß die erkannten Regel- und Gesetzmäßigkeiten insgesamt gesehen in folgendem Sinn „zufällig" sind: Sie lassen sich auch mit denkbaren dynamischen Systemen vereinbaren, die ganz andere Strukturen, als unser Kosmos sie aufweist, besitzen. Wir leben „offensichtlich in einer speziellen, hochunwahrscheinlichen Welt" 19 . Somit ist es unvermeidlich, daß wir fragen: „Warum dieses Universum, ... diese Anordnung von Materie und Energie?" 20 Warum haben bestimmte elementare Objekte genau diese Größe, warum sind ζ. B. Masse, elektrische Ladung von Elementarteilchen überall von gleichem Betrag? Wie kommt es, daß die Expansion des Kosmos einem Rhythmus folgt, der genau so abgestimmt ist, wie es zur Bildung von Galaxien und Sternen erforderlich war? Viele Kosmologen sehen hier keine Laune der Natur, keine irrationale Willkür am Werk, sondern halten an einer fundamentalen Rationalität der kosmischen Ordnungen fest. Daß dies berechtigt ist, leuchtet ein; denn man kann leicht berechnen, daß jede Abweichung im Zusammenspiel der festgestellten Größen die ganze Ordnung zerstörte. Ein erster Versuch, die beschriebene Kontingenz begreiflich zu machen, beruht auf der Hypothese, die Wirklichkeit bestehe aus unendlich vielen voneinander verschiedenen Universen, die zusammen alle denkbaren Strukturen 18

19

20

Dazu u. a. Audretsch, Physikalische Kosmologie II, in: Audretsch-Mainzer, Vom Anfang ...,93-113. Kanitscheider, Von der mechanistischen Welt . . . , 149; Naturphilosophie . . . , in: Audretsch—Mainzer, Vom Anfang ..., 1 6 8 - 1 7 2 . Davies, Gott und die moderne Physik, 71.

Universum, Materie, Raum

13

verwirklichen. Keines davon beeinflußt irgendein anderes. In dieser unendlichen Menge tritt jedes Ereignis, das physikalisch möglich ist, irgendwann ein. Dadurch findet die Existenz unseres Kosmos mit der ihm eigentümlichen kontingenten Ordnung im Blick auf diese Menge eine Erklärung. Diese Hypothese wird allerdings das Entstehen unseres Kosmos nicht zu einem berechenbaren Ereignis machen, und deshalb nimmt sie ihm niemals die Eigenart, etwas Erstaunliches zu sein 21 . Ein zweiter Versuch schlägt eine andere Richtung ein. Das erstaunlichste Phänomen im beobachteten Weltall ist der Mensch, der ja, obwohl äußerlich betrachtet ein fast verschwindender Teil des Universums, diesem als ganzem erkennend zugewandt ist. Wir, die Menschen, hätten aber die füir unsere Existenz notwendigen Bedingungen nicht im Kosmos finden können, besäße dieser nicht bestimmte Eigenschaften, von denen jede, für sich genommen, kontingent ist, die aber zusammen das Auftreten menschlicher Wesen möglich machten. Es gilt folglich: Damit der Mensch im Kosmos erscheinen konnte, muß dieser spezifische Beschaffenheiten und Größenverhältnisse haben. Daran anknüpfende Überlegungen richten sich nach drei Gesichtspunkten: 1. Das Weltall ist einschließlich des Menschen kontingent. Wir vermögen zwar den notwendigen Zusammenhang zwischen den jeweiligen zufälligen kosmischen Eigenschaften zu entdecken, die Kontingenz des Ganzen bleibt jedoch 22 . 2. Angenommen, es gebe unendlich viele voneinander unabhängige Universen. Als Element dieser Menge zeichnet sich unsere Welt auf jeden Fall aus durch die Eigenschaft, erkennbar zu sein. Wie sonst könnten wir sie erkennen? Eine an sich erkennbare Welt muß aber auch so gestaltet sein, daß sie Leben und schließlich erkennende Wesen hervorbringt. Das liefert eine Erklärung für alle diejenigen Strukturen des Kosmos, ohne die es kein Erkenntnisvermögen geben könnte. 3. Die Entwicklung des Kosmos bis hin zum Auftreten des Menschen ist nur als Wirkung eines inhärierenden steuernden Prinzips zu begreifen; denn weder Wahrscheinlichkeitsgesetze noch Zufallsereignisse geben eine ausreichende Erklärung an die Hand. Demgemäß meint ein Kosmologe: „Machen wir uns ... die Zufälle physikalischer und astronomischer Art, die unseretwillen zusammengewirkt haben, klar, dann scheint es fast, als hätte das Universum gewußt, daß wir schließlich auftreten" 23 . III. Wer nicht rettungslos dem neuzeitlichen Fortschrittsmythos und den dazu passenden Verdrehungen der Geistesgeschichte verfallen ist, wird nicht daran vorbeisehen, daß die moderne Wissenschaft vom Kosmos trotz aller Neuar21 22 23

Dazu Kanitscheider, Von der mechanistischen Welt . . . , 151 sq. Ibid., 196: „Die Kontingenz der Welt ist letztlich nicht eliminierbar". Zitiert ibid., 156.

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Albert Zimmermann

tigkeit recht auffallig an Gedanken erinnert, die schon von den griechischen Naturphilosophen erörtert wurden und die auch die Gelehrten der europäischen Schulen im Mittelalter bewegten. Der Physiker Jürgen Audretsch, ein exzellenter Fachmann, stellt fest: „Auch in der modernen Kosmologie werden Antworten auf alte naturphilosophische Fragen gesucht und gefunden" 24 . Vom Selbstbewußtsein des zeitgenössischen Naturforschers geprägt, spricht er zwar von einem „philosophischen Nach- und Hinterherdenken", hält dieses aber, wenn schon nicht für besonders förderlich, so jedenfalls für unvermeidlich und unverzichtbar. Bernulf Kanitscheider, oben schon zitierte anerkannte Autorität, erwähnt „nichttriviale strukturelle Gemeinsamkeiten" in Theorien antiker Denker, Kants und von Forschern aus der Gegenwart. In der Tat fallen etliche Ähnlichkeiten auf: 1. Damals wie heute setzen die Kosmologen voraus, daß das Universum eine Ordnung hat, durch die es sich als eine kinematische und dynamische Einheit zu erkennen gibt. Die neuzeitliche Technik läßt zwar — im Unterschied zu früher — dauernd neue Entdeckungen machen und weitere erwarten und deshalb nach immer genaueren Erklärungen suchen, aber diese Suche, mag auch ein Ende nicht abzusehen sein, halten wir fraglos für sinnvoll. Wie früher gilt dabei die Mathematik als bestes Mittel, die kosmische Ordnung darzustellen. Es gibt kein Chaos, das nicht an Regelhaftigkeit teilhat und daher entschlüsselt werden kann. Die alten Naturphilosophen sahen in der Kreisbahn die Basis dieser Ordnung. Viele zeitgenössischen Erforscher des Kosmos sehen im Aufspüren grundlegender Symmetrien dasselbe Motiv am Werk 25 . 2. Nach wie vor wird erörtert, ob das Universum endlich oder unendlich ist. Jede Antwort überstieg damals und übersteigt heute die menschliche Vorstellungskraft. Heute wie eh und je denkt man in diesem Kontext darüber nach, ob es eine aktual unendliche Menge kosmischer Gebilde geben kann oder gar muß, und dabei steht die alte Einsicht vor Augen, daß eine solche Menge nicht auszählbar und nicht erforschbar ist. 3. Daß unser singulärer Kosmos mit seiner kontingenten raum-zeitlichen Ordnung existiert, versuchten damals und versuchen heute Kosmologen mittels der Annahme zu erklären, es gebe unendlich viele nebeneinander bestehende oder in endloser Folge einander ablösende Universen. Diese Hypothese galt und gilt als rational, weil man es für eine theoretisch gewisse Erkenntnis hält, daß alles, was nicht in sich unmöglich ist, auch irgendeinmal wirklich wird. 4. Heute wird wie damals über einen Ursprung und einen Urzustand unseres Weltalls nachgedacht. Antike Naturphilosophen lehrten, ein absoluter Anfang sei unvorstellbar. Einige meinten, die jetzige Gestalt des Kosmos sei 24 25

Audretsch—Mainzer, Vom Anfang . . . , 11. Dazu Tarassow, Symmetrie ... (op. cit. Anm. 15).

Universum, Materie, Raum

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immer gewesen, andere nahmen an, sie resultiere aus einem anfanglos währenden Zustand vollendet homogener, jeglicher Unterschiede barer Mischung unendlich vieler unendlich kleiner Urstoffteilchen. Diesem Zustand entsprang — sei es durch einen Ordnung bewirkenden Geist, wie Anaxagoras lehrte, sei es aus reinem Zufall, wie Demokrit meinte — irgendwann der gegliederte Kosmos. Nach Ansicht einiger moderner Kosmologen muß die Forschung bemüht sein, die Anfangssingularität, den Urknall, als natürlichen und Naturgesetzen gemäßen Vorgang verständlich zu machen, der sich in einem anfanglos zu denkenden potentiell-dynamischen Feld ereignete. Andere meinen, der Urknall sei ein geheimnisvoller Vorgang gewesen und bleibe dies auch, weil physikalische Gesetze auf ihn nicht angewendet werden können 26 . 5. Antike Atomisten lehrten, alle Prozesse in der Natur seien streng determiniert. Das Ereignis allerdings, das von der ursprünglichen vollständig homogenen, parallelen und stoßfreien Bewegung der Atome zur Bildung kompakter Körper und schließlich zur Gestalt des mit Körpern erfüllten Kosmos führte, deuteten sie als reinen Zufall, genauer als zufällige, nicht begreifbare Abweichung eines Atoms von seiner Bahn (παρέγκλισις). Wie schon dargestellt, halten moderne Kosmologen die Entstehung von Materieteilchen für die Folge einer ganz geringfügigen Störung der ursprünglichen Symmetrie. Daß eine solche mit der Quantentheorie der Elementarteilchen in Einklang ist, nimmt ihr jedoch nicht den Charakter der Zufälligkeit. 6. Griechische Philosophen sahen in der ewigen Wiederkehr des Gleichen den höchsten Ausdruck der Beständigkeit alles Wirklichen. „Dieser Kosmos" — so liest man bei Heraklit — „war immer, ist und wird sein stets währendes Feuer, nach Maßen sich entzündend und nach Maßen verlöschend" 27 . Modernen Kosmologen, nachsinnend über Vergangenheit und Zukunft des Universums, ist dieser Gedanke ebenfalls nicht fremd. Es mag durch eine Umkehr der kosmischen Expansion zu einer Kontraktion und schließlich zu einem Kollaps desselben kommen, ein vollständiges Ende allen Geschehens wird als etwas Irrationales empfunden. Deshalb sucht man nach einer Theorie der Wahrscheinlichkeit, die „einen neuen Beginn jenseits der Katastrophe" denkbar macht. Kanitscheider, der solche Überlegungen gründlich prüft, stimmt dem amerikanischen Astrophysiker und Naturphilosophen John A. Wheeler zu, der die „einzige übergreifende Klammer" in einer „neuen naturphilosophischen Kategorie", nämlich Veränderung, Wandel, sieht 28 . Ruft dies aber nicht die These des Aristoteles in Erinnerung, Bewegung sei der Grundzug der Natur und wer das bestreite, habe nicht begriffen, 26

27 28

Kippenhahn, Der Anfang des Alls, in: Schultz (ed.), Scheibe . . . , 297: „keine uns bekannte Physik könnte den Zustand mehr beschreiben". Was in der ersten Zeitspanne, der ,PlanckZeit' war, davon „haben wir nicht die leiseste Ahnung". Diels - Kranz, Die Fragmente der Vorsokraüker I, Β 30, 157 sq. Wheeler, Vom absoluten Raum . . . , 118.

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Albert Zimmermann

womit die Erforschung der Natur es zu tun hat? 29 Erinnert es nicht ebenfalls an seine oft diskutierte Lehre, Bewegung, Veränderung, Wandel seien immer gewesen und fanden nie ein Ende? Nun noch eine abschließende Bemerkung! Daß zeitgenössische Kosmologen häufig eine Brücke schlagen zu Gedanken antiker Naturphilosophen, hat — wie hoffentlich dargetan — gute sachliche Gründe. Mir scheint, daß deren tiefster schon von Timaios, dem — so Piaton — „Sternkundigsten unter uns, der die Hauptaufgabe seines Lebens darin sieht, die Natur des Weltalls zu erkennen", angedeutet wurde 30 . Timaios sagte nämlich: „Mir und Euch ... ward eine menschliche Natur zuteil. Somit geziemt es uns, mit wahrscheinlicher Kunde über diese Gegenstände zufrieden zu sein" 31 .

29 30 31

Phys. I, c. 2; VIII, c. 1. Timaios 27 a. Ibid., 29 d.

Materie und räumliche Ausdehnung in einigen ungedruckten Physikkommentaren aus der Zeit von etwa 1250 — 1270* SILVIA D O N A T I (Köln/Pisa)

1.

Einführung

I m Mittelpunkt dieses Aufsatzes, der Teil einer systematischen E r f o r schung der unedierten K o m m e n t a r e zur Physik im 1 3 . J a h r h u n d e r t ist 1 , steht das P r o b l e m des Verhältnisses zwischen Materie und kontinuierlicher Quantität. G e g e n s t a n d der U n t e r s u c h u n g ist eine G r u p p e v o n K o m m e n t a r e n w a h r scheinlich englischer H e r k u n f t , die auf den Zeitraum v o n etwa 1 2 5 0 — 1 2 7 0 zurückgehen. Z u n e n n e n sind dabei v o r allem die Quästionen des englischen Magisters G o t t f r i e d v o n Aspall, der v o r 1 2 6 5 der Artistenfakultät, möglicherweise in O x f o r d , angehörte, und der etwa gleichzeitige K o m m e n t a r des w e n i ger bekannten W i l h e l m v o n C l i f f o r d (Μ. Α . spätestens 1 2 6 5 ) 2 . In d e r folgenden Liste sind die untersuchten W e r k e in der nach den derzeitigen K e n n t n i s sen wahrscheinlichsten chronologischen Reihenfolge verzeichnet 3 : * Die Forschungen über mittelalterliche Kommentare zur Physik, die dem vorliegenden Beitrag zugrunde liegen, wurden mit einem Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft durchgeführt. Ich danke Herrn Thomas Dewender und Herrn Andreas Speer (ThomasInstitut, Köln) für die Korrektur der deutschen Ubersetzung. Herrn Heinrich Riggert (Thomas-Institut, Köln) danke ich dafür, daß er mir seine Transkription des Physikkommentars Wilhelms von Clifford zur Verfügung gestellt hat, die er im Rahmen seiner Dissertation angefertigt hat. 1 Zu einem Einblick in diese Forschung, die ich zusammen mit Dr. Cecilia Trifogli (Universität Pisa) durchführe und die von Prof. Francesco Del Punta (Scuola Normale Superiore, Pisa) koordiniert wird, cf. F. Del Punta, S. Donati, C. Trifogli, Commentaries on Aristotle's Physics in Britain, ca. 1250 — 1270, in: Aristode in Britain during the Middle Ages, ed. J. Marenbon, Turnhout 1996, 265 — 283. Zu einem Uberblick über die unedierten Kommentare zur Physik im 13. Jahrhundert cf. Α. Zimmermann, Verzeichnis ungedruckter Kommentare zur Metaphysik und Physik des Aristoteles aus der Zeit von etwa 1250 — 1350, Leiden —Köln 1971 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters IX). 2 Zum Leben dieser beiden Autoren cf. Α. Β. Emden, A Biographical Register of the University of Oxford to A.D. 1500, Oxford 1957-1959, 1 , 6 0 - 6 1 , 111,2163; zu Gottfried von Aspall cf. außerdem E. Macrae, Geoffrey of Aspall's Commentaries on Aristotle, in: Mediaeval and Renaissance Studies 6 (1968), 9 4 - 1 3 4 , besonders 9 4 - 9 7 . 3 Zu einer Beschreibung der hier untersuchten Werke cf. S. Donati, Per lo studio dei commenti alla Fisica del XIII secolo. I: Commenti di probabile origine inglese degli anni 1250 — 1270 ca., in: Documenti e studi sulla tradizione filosofica medievale 2 (1991), 3 6 1 - 4 4 1

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Silvia Donati

1) Anonymus,

Sententia supra librum Physicorum „extracta de commento de verbo ad verbum", I—VIII. Hss. B 1 = Oxford, Bodleian Library, lat. misc. C. 69, ff. 1 ra— 41 rb, lin. 43. Pa = Paris, Bibliothèque Nationale, lat. 16149, ff. 3 r a 42 ra4. 2) Anonymus, Quaestiones super Physicam, I—VIII. Hs. S = Siena, Biblioteca Comunale degli Intronati, L. III. 21, ff. I r a - 9 2 r a . 3) Guillelmus de Clifford, Compilationes super librum Physicorum Aristotelis, I - V , VII. Hs. Ρ = Cambridge, Peterhouse, 157,1, ff. 43 r a - 1 0 4 ra.

4

(= Einf. und §§ 1 - 5 ) , ibid. 4 (1993), 2 5 - 1 3 3 (= §§ 6 - 9 und Anhänge); ead., Physica 1,1: L'interpretazione dei commentatori inglesi della Translatio Vetus e la loro recezione del commento di Averroè, in: Medioevo 21 (1995), 7 5 - 2 5 5 , besonders 80—98; ead., Il commento alla Fisica di Adamo di Bocfeld e un commento anonimo della sua scuola, in: Documenti e studi sulla tradizione filosofica medievale 9 (1998), im Druck. Die hier angegebene Liste schließt nur Kommentare ein, in denen das Problem des Verhältnisses zwischen Materie und Quantität in Buch I behandelt wird (cf. auch unten, Anm. 8). Zu einer vollständigeren Liste der englischen Kommentare aus der Zeit von etwa 1250 — 1270 cf. die angegebenen Studien. Zu den hier behandelten Kommentaren cf. auch S. Donau, Wissenschaft und Glaube bei der Frage nach dem Ursprung der Materie in einigen ungedruckten Physikkommentaren aus dem 13. bis zum Anfang des 14. Jahrhunderts, in: Scientia und ars im Hochund Spätmittelalter, ed. I. Craemer-Ruegenberg-A. Speer, Berlin—New York 1994, 399 — 420 (Miscellanea Mediaevalia 22/1); ead., Materie und Quantität bei Aegidius Romanus und in einigen ungedruckten Physikkommentaren um die Mitte des 13. Jahrhunderts, in: System und Struktur 3 (1995), 279 — 300; C. Trifogli, Le questioni sul libro III della Fisica in alcuni commenti inglesi intorno alla metà del sec. XIII, in: Documenti e studi sulla tradizione filosofica medievale 2 (1991), 4 4 3 - 5 0 1 ; ibid. 4 (1993), 1 3 5 - 1 7 8 ; ead., Le questioni sul libro IV della „Fisica" in alcuni commenti inglesi intorno alla metà del sec. XIII, ibid. 7 (1996), 3 9 - 1 1 4 ; ead., An Aspect of Medieval Mathematics: Infinity in Number in Some English Commentaries of the XIIIth Century, in: Scientia und ars, 343 - 353 (Miscellanea Mediaevalia 22/1). B 1 und Pa stellen zwei unterschiedliche Fassungen eines grundsätzlich identischen Kommentars dar, die möglicherweise auch den Eingriff von verschiedenen Autoren zeigen. Dies ergibt sich vor allem aus der Tatsache, daß in den den beiden Versionen gemeinsamen Quästionen manchmal entgegengesetzte Meinungen vertreten werden, und daß selbst innerhalb B 1 , die eine größere Anzahl von Quästionen enthält, widersprüchliche Positionen zu finden sind. Zu diesem anonymen Kommentar, der mit dem um die Mitte des 13. Jahrhunderts entstandenen Literalkommentar des englischen Magisters Adam von Bocfeld eng verwandt und außerdem vom Kommentar des Averroes stark beeinflußt ist — was möglicherweise den in Pa überlieferten Titel: Sententia supra librum Physicorum „extracta de commento (seil. Averrois?) de verbo ad verbum", erklärt - , cf. Donati, Il commento alla Fisica, Teil II. Zu einer dritten Fassung desselben anonymen Kommentars cf. ibid. Was das Verhältnis zwischen B 1 und Pa betrifft, so stellt die hier behandelte Diskussion über das Verhältnis zwischen Materie und Quantität gerade den Fall dar, bei dem entgegengesetzte Positionen in den beiden Texten vertreten werden (dazu cf. unten, Abschnitt 4). In diesem Zusammenhang — wie auch noch an anderen Stellen - zeigen sich auch innere Widersprüche in B 1 (cf. unten, Anm. 28).

Materie und räumliche Ausdehnung

4) Galfridus de Aspall, Hs. M1 = 5) Anonymus, Hs. G1 = 6) Anonymus, Hs. M3 = 7) Anonymus, Hs. M2 = 8) Anonymus, Hs. W2 =

19

Quaestiones super Physicam, I —IV (fragm.), VIII. Oxford, Merton College, 272, ff. 8 8 r a - 1 1 8 v b . Quaestiones super Physicam, I — IV. Cambridge, Gonville and Caius College, 367 (589), ff. 120 r a - 1 2 5 vb, 136 r a - 1 5 1 vb. Quaestiones super Physicam, I —V (fragm.). Oxford, Merton College, 272, ff. 136 ra - 174Brb. Quaestiones super Physicam, I, III —IV. Oxford, Merton College, 272, ff. 1 1 9 r a - 1 3 5 C r b . Quaestiones super Physicam, I, 2, 185 b 11—III. London, Wellcome Historical Medical Library, 333, ff. 8 ra—68 vb 5 .

Abgesehen von B 1 — Pa und dem Kommentar des Wilhelm von Clifford, die neben den Quästionen eine Texterklärung enthalten, gehören die hier untersuchten Werke zur literarischen Gattung der Kommentare per modum quaestionis. Trotz des anonymen Charakters der meisten Texte geben die auffallenden inhaltlichen Gemeinsamkeiten einen deutlichen Hinweis darauf, daß diese Schriften aus demselben Milieu stammen, nämlich mit großer Wahrscheinlichkeit aus der Oxforder Ardstenfakultät etwa aus dem dritten Viertel des 13. Jahrhunderts 6 . Auffallende Ähnlichkeiten zwischen diesen Werken 5

6

Die hochgestellten Zahlen, mit denen einige der hier benutzten Abkürzungen versehen sind, erklären sich dadurch, daß dieselbe Handschrift manchmal mehrere Physikkommentare enthält. Bei den Zitaten aus diesen Kommentaren sollten die folgenden Bemerkungen berücksichtigt werden: (1) Die Quästionentitel, die im Text nicht ausdrücklich formuliert sind, werden im folgenden in spitze Klammern gesetzt; (2) in den Quästionentiteln sind offensichtliche Schreibfehler stillschweigend korrigiert worden. Im Vergleich zu den anderen hier untersuchten Kommentaren weisen M 2 und W 2 engere Beziehungen zur Pariser und allgemein zur kontinentalen Kommentartradidon auf, was für diese beiden Werke die Hypothese von der englischen Herkunft weniger überzeugend macht. Im Unterschied zu den anderen Kommentaren kennen M 2 und W 2 nämlich den ca. 1251/ 1252 entstandenen Kommentar Alberts des Großen; außerdem sind beide Werke von einer, wenn auch nur gelegentlichen Verwandtschaft mit einem Kommentar gekennzeichnet, der dem Pariser Magister Heinrich von Gent zugeschrieben wird (Hs. Erfurt, Wissenschaftliche Bibliothek der Stadt, Amplon. F. 349, ff. 1 2 0 r a - 1 8 4 r b ) ; cf. Donati, Per lo studio, § 8, 4 8 51, § 9, 6 5 - 7 1 ; cf. auch unten, Anm. 32, 61, 69. Zur Datierung des Kommentars Alberts des Großen cf. Alberti Magni Physica, Pars I, ed. P. Hoßfeld, Monasterii Westfalorum 1987, V—VI (Alberti Magni Opera Omnia IV, 1). Zu dem Heinrich von Gent zugeschriebenen Kommentar, der etwa auf die Jahre 1268 — 1271 zurückgeht, cf. S. Donati, Commend parigini alla Fisica degli anni 1 2 7 0 - 1 3 0 0 ca., in: Die Bibliotheca Amploniana, ed. A. Speer, B e r l i n New York 1995, 1 3 6 - 2 5 6 , besonders 1 4 2 - 1 4 3 (Miscellanea Mediaevalia 23). Interessant bezüglich des Entstehungsortes und der Datierung von M 2 und W 2 sind darüber hinaus die gelegentlichen Parallelen, die in beiden Werken zu dem Traktat „De principiis naturae" des englischen Magisters Johannes von Siccavilla festgestellt worden sind, welchen der Autor möglicherweise während eines Aufenthaltes in Paris in den sechziger Jahren verfaßte. Zur Datierung und zum Entstehungsort des Traktates cf. Jean de Sècheville, De principiis naturae, ed. R.-M. Giguère, Montréal - Paris 1956, 1 6 - 1 7 . Ähnlichkeiten mit der Schrift „De

20

Silvia Donati

sind auch in der Behandlung der Frage nach dem Verhältnis zwischen Materie und Quantität festzustellen7. Ziel des vorliegenden Beitrages ist eine vergleichende Analyse dieser Texte, die einerseits einen Uberblick über das Gemeinsame ihrer Positionen gibt, andererseits aber zugleich deren eigentümliche Elemente hervorhebt. Grundlage dieses Aufsatzes ist die Erforschung des ersten Buches der Kommentare, in dem der Materiebegriff in seinen vielfältigen Aspekten von den Kommentatoren systematisch analysiert wird 8 .

2. Die p h i l o s o p h i s c h e n H i n t e r g r ü n d e Von Aristoteles wird die Frage nach dem Verhältnis zwischen Materie und kontinuierlich ausgedehnter Quantität nicht eigens thematisiert. Seine seltenen und knappen Bemerkungen sind sowohl für die antiken als auch für die modernen Interpreten Anlaß zu ganz unterschiedlichen Auslegungen gewesen. Ich verweise nur auf die autoritative Interpretation von Michael Frede und Günther Patzig in ihrem Kommentar zu Metaphysik Z. Nach Meinung der beiden deutschen Forscher mißt Aristoteles den Dimensionen unter den Akzidentien der körperlichen Substanz keine Sonderstellung zu, was unter anderem auch mit dem grundsätzlich qualitativen Charakter der aristotelischen Naturphilosophie in Einklang steht9.

7

8

9

principüs naturae" sind z. B. sowohl in M 2 als auch in W 2 in der Frage nach der Einheit der Materie (dazu cf. die unten in Anm. 31, 34, 36 zitierten Stellen) zu finden, während W 2 darüber hinaus in der Diskussion über die metaphysische Struktur der geistigen Substanzen sowie bei der Frage nach den verschiedenen substanziellen Formen des Menschen mit diesem Werk verwandt ist; cf. dazu in W 2 die Quästionen „Utrum omnia citra primum materiata habeanf, „ secundum ventatemi Illud videtur vere in ponendo quod Deus posset facen vacuum et quod unus lapis caderci de coelo ad terram et talis descensus non esset in instantì, propter magnam distantiam inter coelum et terram." Cf. Ν. Kretzmann et al. (eds.), The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, Cambridge 1982, 861. Cf. R. Wood, op. cit., 195.

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Marek Gensler

(succession) of motion. The other is the argument concerning the motion of two bodies through a vacuum. Still another similarity can be found between the second and fourth arguments cited by Burley, and the third objection and the reply to it in our Quaestiones30. Thirdly, the dating of the Quaestiones and the place where they may have been written is also about right. Burley's final Physics-commentary is dated after 1324, i.e., the time he had already been in Paris31. The Quaestiones could not have been written before 1325 (the approximate date of Geraldus' Sentences-commentary). Thus, it is still possible that the Quaestiones were written before Burley's commentary and are the work he cites in it. Of course, with evidence as scant as this, our conjecture remains weak and open to further questioning. Still, even if the Scotist from Burley's commentary and the author of the "Quaestiones in libros Physicorum" are two different people (whoever they may be), the opinions found in both works are two pieces of valuable evidence showing the development in the early Scotist philosophy of nature — a development which, in some instances, was not so much secundum mentem Scoti as our medieval authors professed.

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31

Gualterus Burley, Exposido super totum librum Physicorum IV, t.c. 71, tr. 2, c. 4, in: R. Wood, op. cit., 208: "Positis priori et posteriori in magnitudine super quam vel in qua fit motus, poneretur prius et posterius in tempore etper consequens successio in motu. Et ita sola distantia quantitativa inter términos motus sufficit ad motum successivum. Item, spatium, quod imaginatur esse vacuum, habet vei imaginatur habere extrema et medium. (...) Si aliquod mobile moveatur in tanto tempore per tantum spatium, mobile in duplo velocius pertransit duplum spatium in tanto tempore. (...) Omne mobile quod debet pertransire ab extremo in extremum prius pervenit ad medium quam ad extremum. Sed omne quod prius pervenit ad medium quam ad extremum movetur successive, et per consequens in tempore. (...) Si (...) grave subito descenderet in vacuo, in eodem instanti esset sursum et deorsum, et in toto medio. Igitur si minimum grave - puta, terra minima — moveretur in máximo vacuo, illa terra in uno instanti occuparet totum vacuum, et per consequens esset aequalis toti vacuo, quod est impossibile, quia ponamus quod vacuum sit maius in centuplo quam ista terra minima." Cf. notes 23, 25, 26 supra. Cf. R. Wood, op. cit., 191.

Motion in a Vacuum and in a Plenum in Richard Kilvington's Question:

"Utrum aliquod corpus simplex posset moveri aequae velociter in vacuo et in pleno" from the 'Commentary on the Physics'* ELZBIETA JUNG-PALCZEWSKA

(Lódz/Cambridge, Mass.)

Richard Kilvington, English philosopher and theologian, was probably born between 1302—1305 and died in 1361 1 . In Kretzmanns' view Kilvington, Bradwardine and Burley constituted the first academic generation of the Oxford Calculators. The second generation was constituted by William Heytesbury, John Dumbleton and Richard Bilingham. Whereas all of the other Calculators were Fellows of Merton College, Kilvington he was a Fellow at Oriel2. He is the author of five major opuscula: 1) 'Sophismata'3; 2) 'Quaestiones super libros de generatione et corruptione'4; 3) 'Quaestiones super libros Physicorum'5; 4) 'Quaestiones morales super libros Ethicorum'6; 5) 'Commentary * I would like to thank Prof. John Murdoch for his careful reading and his helpful and incisive comments. I also would like to thank Anna Davenport and Marek Gensler who were kind enough to correct my English. 1 On Kilvington cf., A. B. Emden, A Biographical Register of the University of Oxford to AD 1500, Oxford Univ. Press, 1057, 1050; Ch. H. Lohr, Medieval Latin Aristode Commentaries, in: Traditio 8 (1972), 392—393; Β. Kretzmann, Ν. Kretzmann, The Sophismata of Richard Kilvington. Introduction, Translation and Commentary, New York 1990, (Introduction) 17 — 34; E. D. Sylla, The Oxford Calculators and the Mathematics of Motion 1320 1350. Physics and Measurement by Latitudes, New York - Londres 1991, 4 3 5 - 4 4 6 . 2 In Rigistrum Hamonis Hethe. Diócesis Roffensis (vol. I, 528) Kilvington is mentioned as "Prov. of Oriel, Oxford" in 1333. Cf. Β., Ν. Kretzmann, op. cit., (Intr.) 25, note 28. 3 Cf. Richard Kilvington, Sophismata, ed. Ν. Kretzmann, London 1991. 4 For Information on manuscripts of this work, cf. Ch. H. Lohr, op. cit., 437. Besides those manuscripts mentioned by Lohr there is one more contained in Jagiellonean Univ., Krakow, BJ Cod. 648, ff. 40r—53r, in: Catalogue codicum manuscriptorum Medii Aevi Latinorum qui in Bibliotheca Jagellonica Cracovie ascervantur, vol. IV, Wratislaviae, Varsaviae, Cracoviae 1988, 396. 5 A. Maier states that the manuscript: Vat. lat. 4353, ff. 125r-143v contains the apparently lost set of Kilvington's questions from his commentary on the Physics. Cf., A. Maier, Ausgehendes Mittelalter, vol. I, Roma 1 9 6 4 - 6 7 , 2 5 3 - 2 5 4 . Cf., also Ch. H. Lohr, op. cit., 393; Ν. Kretzmann, op. cit., (Intr.) 2 5 - 2 6 , note 33. 6 For information on manuscripts, cf. Ch. H. Lohr, op. cit., 392; N. Kretzmann, op. cit., 26, note 34.

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Elzbieta Jung-Palczewska

on the Sentences'7. The first four works are the most likely to have been written while Kilvington was in the Arts-faculty; the fifth one was certainly written after he had become a bachelor of theology. In his commentary on the 'Sentences', he refers to commentaries on the 'Physics' and the 'Ethics'8. Because Kilvington was a bachelor of theology in 1335 and had lectured on the 'Sentences' two years earlier, the commentaries on the 'Physics' and 'Ethics' must have been written sometime before 1333. Kilvington may have lectured on those books during his regency in arts, and if so, they can be dated to between 1324—1326, along with his commentary on 'De generatione et corruptione'9. Richard Kilvington is also the author of four questions on motion, which are included by J. A. Weisheipl among the works attributed to Richard Swineshead10. The four questions are contained in Ms. Venice, S. Marco, lat. VI, 72 (2810), ff. 8 1 - 1 1 2 , 168-169, where we read the colophon: Haec sunt quatuor quaestiones compilatae a reverendo viro magistro Ricardo super libros Physicorum. The questions are: 1) Whether in every motion the power of the mover exceeds the power of what is moved; 2) Whether quality is susceptible to more and less; 3) Whether a simple body can move equally fast in a vacuum and in a plenum; 4) Whether everything changed is, at the beginning of its transmutation, in that to which it is first changed11.

7

8 9 10

11

For information on manuscripts, cf. ibid., note 35. The Sentences commentary is being prepared by John Van Dyk. Cf. Ν. Kretzmann, op. cit., (Intr.) 26. For more details, cf. ibid., 26 — 27. J. A. Weisheipl refers to A. Maier as his source of information. Cf. J. A. Weisheipl, Ockham and some Mertonians, in: Medieval Studies 30 (1968), 23; Id., Repertorium Mertoniense, ibid., 31 (1969), 221; A. Maier, An der Grenze von Scholastik und Naturwissenschaft, in: Studien zur Naturphilosophie der Spätscholastik, Vol. III, Roma 1952, 269. E. D. Sylla gives three bits of evidence suggesting that the questions were written by Richard Kilvington and not by Richard Swineshead. Among them, the third piece of evidence is the most persuasive: in the first question on motion Magister Ricardus debates Bradwardine's function as he is reported to have done. Cf., A. Maier, op. cit., 253; E. D. Sylla, op. cit., 438. Ricardus Kilvington Ms. S. Marco, lat. VI, 72 (2810): 1) ff. 81ra-89rb Utrum in omni motu potentia motoris exceditpotentiam rei motar, 2) ff. 89va— lOlva Utrum qualitas susdpit magis et minus·, 3) ff. 101 ra - 107vb Utrum aliquod corpus simplex possit moveri aeque veloríter in vacuo et in pieno-, 4) ff. 107vb-112rb, 168va—169va Utrum omne transmutatum in transmutationìs inirío sit in eo ad quodpnmitus transmutatur. The second question is also contained in four other manuscripts: Ms. Paris, Bibl. Nat. lat. 16401, ff. 149v - 1 6 6 v (inc.: Quaestio de intensione et remissione formarum) attributed to Marsilius of Inghen; Ms. Paris, Bibl. Nat. lat. 6559, ff. 121ra-131ra (inc.: Richardi Kilvington quaestio est ista: utrum qualitas susdpit magis et minus)·, Ms. Vat. lat. 2148, ff. 71r— 75v ascribed to Walter Burley; Ms. Vat. lat. 4429 ff. 64r-70v; Ms. Oxford Bodl. canon. Mise. 226, ff. 61v —65r ascribed to Thomas Wylton (coloph.: "Explirít quaestio de susceptione magis et minus magistrum Tbomae de Anglia,r). I have examined all of the copies of the second question and I can confirm that they all are copies of the same text. Part of q.l also appears in Ms. Vatican, lat. 2198. In qu. 3 Kilvington refers to qu. 1 and qu. 4 and thereby definitely confirms that he is the author of all questions ascribed to Magister Ricardus.

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1. K i l v i n g t o n ' s q u e s t i o n on m o t i o n in a v a c u u m and in a p l e n u m Richard Kilvington begins the question with the formulation of the problem that is then discussed in four parts: Part I contains seven rationes principales-, Part II — contra — contains seven arguments based on the authority of Aristode and of Averroes 12 ; Part III contains the replies to the rationes principales; and Part IV, presented in four arguments, discusses the problem of rarefaction of a medium 13 . It is scarcely possible to find Kilvington's opinion on the main issue explicidy formulated anywhere in the question. The only clear remark, a determinatio, is unexpectedly found at the beginning of Part II: Ad quaestionem dicitur quod est vera eo modo quo probant tertium et sextum principalia istius quaestionis de corporibus mixtis. Et quaestio est etiam vera de corporibus simplicibus motis in medio, quod in medium movetur aeque veloáter sicut illud corpus simplex moverei per se in vacuo motu successivo, quod est verum, ut probant primum et secundum principalia istius quaestionis. The absence of a main determinatio, of polemics with some other philosophers, suggests that Kilvington's question arose out of lectures on Aristode's 'Physics'. The structure of the question and the manner of presenting arguments also confirms its "pedagogical" character. Richard Kilvington's question does not contain much evidence of a live debate. The format of the particular arguments of the question is similar to the format of his 'Sophismata' 14 . It is true that the main subject of the question is a physical and not a logical one, but the adopted technique of so-called calculationes is similar to the technique used by Kilvington in his 'Sophismata'. The secundum imaginationem character of the question can be confirmed by the fact that only two of a dozen arguments refer to what may be called a 'natural situation'; the remaining ones are purely imaginary cases 15 . The answers he gives to the problem analyzed in the question possess characteristic features of the hypothetical language of the Calculators. To give an example: "it is said that, according to imagination, the rarefaction of the 12

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Richard Kilvington, Utrum ahquod corpus simplex possit moveri aeque veloáter in vacuo et in pleno, Ms. Venice, S. Marco, lat. VI, 72 (2810), f. 103vb: "Ad oppositum arguitur per Aristotelem, IV Physicorum et per expositionem Commentatoris textu commenti 72 et per Commentatorem eodem commento." In Part II Kilvington cites Averroes' commentary 71, 72 on Book IV of the 'Physics'; commentary 3 on Book II; commentary 38 on Book VII; commentary 4 on Book VIII and commentaries 102 and 103 on Book II of the 'De coelo'. In this part we find the only reference to a work not by Aristotle or Averroes. Richard Kilvington quotes the Tractatus de sphera' written by an anonymous magister. In Sylla's opinion Kilvington's second question on remission and intention of forms is also written in a logical manner and it resembles his commentary on 'De generatione et corruptione'. Cf. E. D. Sylla, op. cit., 438. To give an example, R. Kilvington, op. cit., f. 107ra: "Imaginaretur vacuum inter locum ignis et centrum terrae"

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medium proceeds infinitely so that if you imagine a medium which is twice as rare as fire, it is not contradictory in itself. And therefore, any proposition which does not include contradiction, is — according to the Commentator and other major authors — essentially possible (per sé) and impossible by accident (per acädens)16. To establish his position and to argue against it, Kilvington presents the "measure language" typical of the Calculators 17 . Using the proportions between the values characteristic of motion such as velocity, gravity, resistance, distance, and time, he debates hypothetical cases (secundum imaginationem) and considers the relation of infinite to finite and of divisible values to indivisible ones. This specific use of proportions is similar to one described by Murdoch and labelled 'Velocity Variation Assumption' 18 . Kilvington employs the technique of division into finite time intervals and space into proportional parts according to a double proportion. He claims that if a simple body traversed the same distance in each of the intervals of time decreased according to a double proportion, the total distance traversed in the total interval of time would be infinite. Consequently, the body would be speeding up infinitely. The structure of the question — which is at times similar to the scheme of a sophism — the mathematical proportions, logical language, and the absence of clear engagement with other opinions on the issue suggest that Kilvington's work belongs to the set of his 'Quaestiones super libros Physicorum'. 2. C o n c e p t s and d e f i n i t i o n s The lack of a clear determinatio makes it difficult to extract Kilvington's own opinion on the issue out of the numerous aporiae he presents in the question. However, I shall try to present his definition of several physical concepts that he uses to solve the main problem. (a) Place The term 'place' designates, first of all, a locus naturalis and appears often when Kilvington considers the problem of the motion of a simple body, i. e., 16

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Ibid.: "Ideo dirítur quod subtiliatw medii procedit in infinitum secundum imaginationem, ita quod si imaginatur medium in duplo subtìlius igne non sequitur contradictora per se ex illa imaginatìone. Et ideo quaelibet propositio eritper se possibilis ad intellectum Commentaient et maiorem auctorum, et non ìncludit contradictionem, ideo eadem est per se proposiúo possibilis et impossibilis per acädens." On the characteristics of the Calculators' procedure, cf. J. E. Murdoch, E. D. Sylla, The Cultural Context of Medieval Learning, in: Proceedings of the First International Colloquim of Philosophy, Science and Theology in the Middle Ages - September 1973, in: Boston Studies in the Philosophy of Science XXVI (1974), 289 sqq. Cf. J. E. Murdoch, Infinite Times and Space in the Later Middle Ages (a paper edited in the present volume).

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of one of the four elements. According to the traditional physics of Aristode, Kilvington treats locus naturalis as a place toward which every body has an inclination. Such a place is an external cause of a body's natural motion. According to Aristode and Averroes, whose authorities are often invoked, the four elements have their own natural places 19 and the sublunary world is finite and enclosed between the sphere of the Moon and the surface of the Earth. All physical phenomena concerning bodies occur in this finite world. The natural places of the elements are stable and immobile, and these are the most significant of their attributes, as stated by Aristode 20 . The fact that elements have their prescribed natural places does not exclude the purely conceivable possibility that any of their spheres is empty. In order to solve the problem of motion in a vacuum, Kilvington frequently conceives a hypothetical situation in which the places of fire, air, or water are void 21 . It is beyond any doubt that such a situation can be considered only secundum imaginationem and never happens in the real world. (b) Medium It is possible to infer that for Kilvington a locus naturalis can either be empty or full. It is only when it is full, i. e., constitutes a plenum, that it is called a medium. In the sublunary world, media should be filled successively by earth, water, air and fire or, as naturally happens, by mixtures of these elements. He concedes that a medium can be more or less dense and considers the problem of the infinite rarefaction of a medium invoking (regrettably without any clear reference) Burley's distinction between rarity and density understood as qualities and quantities. In the opinion of both, rarity in the first sense is a quality consequent to cold and heat. In the second sense, rarity is a relation based on quantity; the medium is rarer if the quantitative parts are more distant 22 . 19

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For a description of their natural places, see R. Kilvington, op. cit., f. lOlrb: "Ignis habet inclinatiomm ad quieten in loco suo in quo est et terra habet inclinationem ut sit in low terrae."·, f. 101 vb: "Ignis habet inclinationem ad motum versus sursum et terra nulUtm inclinationem habet versus sursum." Cf., E. Grant, The Medieval Doctrine of Place: Some Fundamental Problems and Solutions, in: Studi sul XIV secolo in memoria di Annelise Maier, Roma 1981, 59 sqq. R. Kilvington, op. cit., lOlrb: "Imaginaretur iterum quod loca ignis et aeris sint vacua et non loca terrae et aque." — ibid.: "Imaginaretur quod loca terrae et aquae sint vacua" W Burley, Expositio super librum Physicorum: "Dicendum est quod raritas et densitas seu spissitudo et subtiUtas uno modo sunt qualitates conséquentes calidum etfrigidum. Alio mode accrpiturpro approximation partium quantitatis ad invicem νel pro elongatione partium quantitatis ab invicem. Et sie vel sunt de genere quantitatis vel sunt relationes necessario fundatae in quantitate" Ed. R. Wood, Walter Burley on Motion in a Vacuum, in: Traditio XIV (1990), 213, 2 4 - 2 8 . R. Kilvington, op. cit., f. 107ra: "Partes ignis secundum istam superficiem magis distabuntur quam prius per consequens ignis rarefieret" — ibid.: "Partes ignis plus distarent et per consequens ignis purus possit rartfacere." Cf., also R. Wood, op. cit., 203.

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According to Kilvington it is possible accidentally that fire rarefies another element, e.g., a piece of earth, without heating it. The rarefaction is here identified with the enlarging of the distances between the homogeneous parts of an element. Nevertheless, it must be remembered that the fire is simultaneously condensed, and so that is why an infinite rarefaction of a medium cannot occur in nature; it is only possible secundum imaginationem, Kilvington insists 23 . The question of the possibility of infinite rarefaction of a medium is considered by Kilvington with great care because a positive answer would be tantamount to admitting the existence of a vacuum.

(c) Vacuum An empty place, Kilvington concludes, is a vacuum. And the sole definition that can be found in his question is as simple as it can be: vacuum est nihil24. Despite the lack of explicit comments on the characteristics of such a void, one can trace certain latent presuppositions with respect to it: he always assumes it to be "contained" only in a place vacated by an element, spreading over a certain distance between, say, the sphere of the Moon and the sphere of the Earth. Kilvington's term "vacuum" closely resembles the definition of a void given by William Ockham, who says elsewhere that if a vacuum exists, it is a place 25 . In Part IV of the question, Richard Kilvington describes one experiment in which it is possible to generate a vacuum. This experiment, first carried out by the antiqui 26 , as he says, was well known by the Oxford philosophers. 23

R. Kilvington, op. cit., f. 107rb: "Ad quod respondeo concendendo conclmionem primam, si oporteret quod necessario tantum condempsabit in aliqua materia, sicut rartfaceret materia terrae in qua aget ignis et dico, quod illa alia materia condempsabitur ab igne per acädens, quia rarefieret materiam ilhus modicae terrae per se. Et consimiliter dico, quod non est possibile quod aliquid rartfaceret aliquid nisi tantum condempset de alia materia, sed hoc erit per acädens. Et ideo concedo quod ignis potest agere in aliquod per acädens {ita} quod non calefaäet."

24

Ibid., f. 102ra. R. Wood, op. cit., 203: " T h o u g h he holds that vacuum is a place if it exists, he also holds that there is nothing really divisible in a vacuum, and no real distinction of parts within it. According to Ockham, a vacuum could not be produced naturally but only supernaturally, by God's removing the medium between limits without replacing the medium with anything positive." Cf., also, W. Ockham, Expositio Physicorum IV c. 11, 1; 3, ed. V. Richter, GuiHelmi de O c k h a m Opera Philosophies, Saint Bonaventure, N e w York 1985, 5, 122, 124; ibid. 5, 132,162; id., Quodlibet I, q. 8, ed. J. C. Wey, Guillelmi de Ockham, O p e r a Theologica vol. 9, St. Bonaventure, N Y 1980, 4 5 - 4 8 .

25

26

It is probably one of a number of experiments done by Straten and then described by Hero in the 'Pneumatic'. In the thirteenth century the experiments were presented in the 'Summa philosophiae' ascribed to Robert Grosseteste. T h e author of 'Summa' speaks of the investigation of vacuum made by Hero. Cf., L. Thorndike, A History of Magic and Experimental Science, N e w York, 1923, 189; La science antique et médiévale des origines à 1450, ed., R. Taton, Paris 1957, vol. I, 3 7 5 - 3 7 6 .

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Probably it was the most significant argument for proving the possibility of generation of a vacuum 27 . The experiment is as follows: "If the rarefaction of the medium proceeded to infinity, it could be only either actually (de facto) or imaginary (secundum imaginationem). I prove it is actual rarefaction: if I put two flat stones in the air and one of them (A) is over the other (B), then B, being outside its natural place, begins to descend and the air (C) either begins to rarefy or not. If not, then a vacuum is generated. To prove the consequence: (...) the air enters between the circumferential parts of A and Β earlier than between the central parts, therefore, if Β is separated from A immediately, the central parts of Β and A would be separated by a distance. It would follow that there would be vacuum between them" 28 . Kilvington rejects the possibility of the generation of a vacuum in this way, claiming that: 1) in the central parts of A and Β the air rarefies and does not generate a vacuum; 2) it is not true that the air appears earlier in the circumferential parts of A and Β than in the central parts because air appears instantaneously in every part between A and B. Consequendy, there is no experimental proof of a possible generation of a vacuum; moreover, in nature, according to Aristode, a vacuum does not exist. Finally Kilvington concludes: Ideo sequitur quod subtiliatio medii in infinitum procedit secundum imaginationem29.

(d) Space As we noted above, in Kilvington's view, a place is identified with a locus naturalis which can either be full and so be a medium, or be empty, and so a vacuum. It is possible to distinguish all the natural places occupied by simple bodies in the sublunary world. It is also possible to imagine that elements are not in their own places or that the natural places do not include any element. Since a proper place is not only a point but also a sphere of elements, it is called a space — a room enclosed between two spheres, e.g., concavum lunae and centrum mundi, or the spheres of fire and Earth. One of the 27

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29

Cf. M. Gensler, The Concept of Vacuum in a Scotist "Physics"-Commentary attributed to Antonius Andreae (a paper edited in the present volume). Cf. R. Kilvington, op. cit., f. 107ra: "Si subtiliatio medii in infinitum procedit vet hoc erit de facto vet secundum imaginationem; quod de fado probo, quia copio duos lapides planos in aere quorum unum lapis sit superior et alius inferior et descendat lapis superior (...) et sit aere médius inter duos lapides et sit A superior Β vero inferior et C aer médius, tunc B est grave et extra suum locum naturalem, igìtur B descendit vel incipit descendere, tunc arguo sic: Β incipit descendere vel igitur incipit C rarefacen ve! non. Si non igitur generabitur vacuum. Consequentiam probo, quia capiantur partes centrales ipsius Β et aer sit inter Β et A intrabit aliquis aer et prius est introitus in partes circumferentiales, quam in partes centrales, igitur sine medio Β separabitur ab A, igitur sine omni spaho, ut nee medium nec dimitum nec ulta pars sit in te". Epistola (= E) 54 /III 168,4/: %Quamvts nos locorum temporumque spatia separent ...". M 21 /I 36,25 — 27; 37,3 — 4/: „Sicut enim locus a loco distinguitur, ut singula loca sint, ita id quod totum est in uno loco, ab eo quod eodem tempore totum est in alio loco distinguitur, ut singula tota sint... Unum totum non potest esse simul in diversis has totum".

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Georgi Kapriev

Der Raum der Zeit sagt seinerseits die Dynamik aus. Selbstverständlich kann eine Sache in ihrer Ganzheit nicht zugleich zu den einzelnen Zeiten (simul in singulis temporibus) sein, wenn die Zeiten selbst nicht zugleich sind (ipsa tempora simul non sunt). Im Gegenteil ist die Sache ganz zu den einzelnen Zeiten, aber getrennt und unterschieden (separaßm et distincte), das heißt, daß sie ganz gestern und heute und morgen ist, weshalb von ihr im eigentlichen Sinne gesagt wird, daß sie war, ist und sein wird. Damit erhält sie ihre temporale Räumlichkeit; und hiermit ist sie in Teilen durch die Teile der Zeiten hindurch ausgedehnt (partibus extensa per temporum parted), wobei sie durch diese Teile gemäß der Unterschiede der Zeiten geschieden wird {divisa per partes secundum temporum distinctiones)41. Offensichtlich sind die temporalen Teile einer Sache wie auch die Unterschiede der Zeiten, d. h. ihre Teile, nicht die Stunden, Minuten u. s. f., sondern das Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige oder die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Die Ganzheit, die von allen temporalen Teilen der Sache zusammengesetzt ist, ist der Raum ihres Lebens — spatium vitae48. Daraus folgt, daß ihre Lebenszeit (oder ihre aetas) durch die Bewegungen der Zeiten hergestellt wird (per cursus temporum producitur). Diese „Lebenszeit" der Sache ist die Beständigkeit oder die Dauer ihrer Existenz (existendi diuturnitàs)49. In seiner Existenz erweist sich also ein Wesen wesentlich von seiner Zeitdauer abhängig, die die Dynamik und die Grenzbestimmung seines Daseins ist. Im Unterschied zu der höchsten Natur (worin das Wesen mit der Ewigkeit zusammenfällt 50 ) ist ein endliches Wesen nicht mit der Zeit seiner Existenzdauer zu identifizieren. Um jedoch zu existieren, hat ein Wesen Zeit und wird in seiner Existenz von ihr bestimmt. Existierend variiert das Wesen in seiner Rechtheit-rectitudo, d. h. in seiner Intensität der Wahrheit nach, und diese Variationen umschreiben die Wahrheit seiner vergänglichen und vergehenden Existenz. Als existierendes Wesen ist etwas selbst zusammengesetzt und veränderlich, es ist unbeständig und verschieden zu verschiedenen Zeiten, mittels derer es die Teile seiner Existenz erhält 51 , indem die Dauer seiner Existenz das Ganze ist, das durch die dem Maß der Zeit unterworfenen Teile strukturiert wird. Diese Dauer ist die Zeit des Dinges, dessen Sein von der Zeit eingeschlossen wird 52 . Somit ist es der Zeit, in der — wie man sagt — es ist, gegenwärtig (praesens est) und wird von dieser umfaßt (continentur ab ipso)53. In diesem Sinn ist es tatsächlich richtiger zu sagen, daß nicht die Zeit dem Ding gehört, sondern das Ding seine Grenze von der Zeit erhält, durch die seine eigene Gegenwart bestimmt und umschrieben wird. Es geht näm47 48 49 50 51 52 53

M 21 /I 37,17-27/. E 2 /III 100,62/. M 21 /I 37,25-27/. M 21 /I 38,1-3/. M 21 /I 38,5-7/. M 22/I 40,25-26/. M 22 /I 40,30-33/.

Räumlichkeit (Ort und Zeit) gemäß Anselm von Canterbury

239

lieh um die Zeit des Dinges, um die Zeit, die die Dauer dieser einzelnen Existenz festsetzt. Solcherart ist, wie Anselm feststellt, die Beschaffenheit der Zeit (temporis condititi), daß alles, was in ihrem Umfang {meta) eingeschlossen ist, von ihr seinen Charakter erhält: Das Eingeschlossene kann nicht dem Sinn des Teilseins {partium ratio) entgehen, der von seiner Zeit gemäß der Dauer erfahren wird {qualem patitur tempus eius secundum diuturnitatem)54. In dieser Hinsicht erweist sich die Zeit für die Wesenseigentümlichkeit bestimmend, insofern es um das Wesen eines existierenden Dinges geht. Heftet man den Blick auf die Zeit des Dinges, so sind die Wahrheitsamplituden des von ihr eingeschlossenen Wesens sichtbar. Die Konzentration auf die Zeit einer Sache sagt jedoch wenig über das Wesen und die Wahrheit der Sache „Zeit", die darüber hinaus — sogar als die ganze Zeit einer Existenz — nicht zugleich gegeben ist. Erst die Bestimmung der Zeit als Ganzes vermag aber die Gründe zu ergeben, anhand derer man auch über die einzelnen Zeiten der Sachen sprechen könnte. Eben deshalb führt Anselm das Thema des Zeitgesetzes ein, kraft dessen die Zeit die Dauer des ihm Unterliegenden in einer Zeiteinheit beschränkt, indem die Zeit diese gewisse Dauer messend begrenzt und begrenzend mißt {metiendo terminât et terminando metitury, infolgedessen schließt sie die gemessene Dauer durch irgendeine inhaltliche Umgrenzung ein {tempus aliqua continentia claudit)55. Die Universalität der verursachenden Kraft, wodurch die Zeit Bestimmtheit und damit Begrenztsein bewirkt, wird mittels dieser lex temporis artikuliert. Im Gesetz wird die Zeit als unum tempus sichtbar, weil mit ihm nicht nur alles zeitlich Seiende, sondern auch alle Zeiten in Verbindung stehen. Das Gesetz selbst erweist sich als Grenzsäule zwischen zwei Ebenen oder Modi des Seins. Alle Bestimmungen des Endlichen sind zusammenfassend durch die ihm erteilte Räumlichkeit (d. h. durch die Zeitlichkeit und Ortlichkeit) zu charakterisieren56. Alles, was den Gesetzen des Ortes und der Zeit unterliegt, d. h. jede Sache, die irgendwie vom Ort oder der Zeit eingeschlossen wird, ist gemäß Anselm minus im Vergleich zu demjenigen, was kein Gesetz von Ort oder Zeit einengt {quod nulla lex loci aut temporis coercet)57, und dies wird maius genannt, weil es freier und damit Gott, der keinem Gesetz unterliegt {nullius legi subiacet), ähnlich ist58. Dasjenige Wesen, das von der Gesetzgebungskraft des Ortes und der Zeit frei ist, ist auch von deren Natur frei und somit auf 54 55 56

57 58

M 22 /I 4 0 , 6 - 9 / . M 22 β 3 9 , 1 5 - 1 7 ; 2 3 - 2 5 / . Cf. Κ. Kienzier, Glauben und Denken bei Anselm von Canterbury, Freiburg-Basel-Wien 1981, 118. Ρ 13 /I 1 1 0 , 1 2 - 1 3 / . Cu 1 1 2 /II 69,29-30/.

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eine andere Weise im Vergleich mit den endlichen Wesen seiend 59 . Als Schlüssel zum „Rätsel Zeit" 60 erweist sich folglich ein bestimmtes Kriterium. Es geht um den Seinstyp des Seienden, der dadurch bestimmt ist, daß das Seiende der Kraft des Gesetzes unterliegt oder außerhalb dessen steht. Damit werden auch die verschiedenen Intensitäts- und Freiheitsstufen in der einen Seinshierarchie angedeutet. In seinem Wirkungsbereich kommt das Gesetz notwendig und zwar als eine allgemeingültige Notwendigkeit vor. Hierdurch wird die endliche Sache mittels einer Zeit determiniert (determinate in aliquo tempore)61. Diese Determination setzt wesentliche Eigentümlichkeiten der umschriebenen und veränderlichen Dinge voraus: daß sie gemäß der gleitenden gegenwärtigen Zeit {secundum labile praesens tempus) sind oder gemäß der vergangenen oder zukünftigen waren oder werden (secundumpraeteritum velfuturum)62. Diese „Zeitangemessenheit" bestimmt den Charakter der Natur der Sachen selbst. Weil sie einmal entweder waren oder sein werden, was sie nicht sind oder sind, was sie einmal nicht waren oder nicht sein werden; und weil das, was sie waren, nicht mehr ist, das aber, was sie sein werden, noch nicht ist, und das, was sie in der gleitenden und äußerst kurzen und kaum wirklichen Gegenwart sind, kaum ist {et hoc quod in labili brevissimoque et vix existente praesenti sunt, vix est), wird nicht mit Unrecht behauptet, daß sie nicht schlechthin, nicht vollkommen und nicht unbedingt sind, ja sogar, daß sie fast nicht sind und kaum sind {fere non esse et vix esse)63. Die Qualität der temporalen Determination erweist sich von solcher Art, daß sie das Sein des Determinierten in Frage stellt. Somit wird aber auch das Sein der Zeit selbst problematisiert, die als ein Ganzes gedacht wird. Wenn etwas wahrhaft ist, muß es Gegenwart, eine gewisse Präsenz haben 64 . Jedoch bezeichnet „war" die Vergangenheit und „wird sein" die Zukunft. Sie sind kein „ist", kein praesens. Die Vergangenheit und die Zukunft sind jedoch Teile der Zeit, die nicht sind, womit das „ist" ihrer eigenen Gegenwart selbst in Frage gestellt wird. Wenn daraus folgen könnte, daß die Zeit an sich bis zu einem hohen Grade nicht ist, und daß sie Sein als Ganzes eher nicht hat als hat, so wird der Anspruch, daß man sie als ganzes und gegenwärtig Seiendes denke, aus einer anderen Perspektive erhoben. 59

60

61 62 63 64

M 22 /I 39,26-29/: „Quaenam autem rationalis consideratiti omnímoda rations non excludat, ut creatricem summamque omnium substantiam, quam necesse est alienam esse et liberam a natura et ture omnium quae ipsa de nihilo feât, ulta loci cohibito vel temporis includat...". R. Berlinger, Das höchste Sein. Strukturmomente der Metaphysik des Anselm von Canterbury, in: Tradition und Kritik, Festschrift für R. Zocher, ed. W Arnold u. H. Zeltner, Stuttgart-Bad Cannstatt 1967, 51. M 21 /I 31,21-22/. M 22/1 41,10-12/. M 28/I 46,10-16/. M 21 /I 38,10/: „Praesens enim quomodo non habet, si vere est?'

Räumlichkeit (Ort und Zeit) gemäß Anselm von Canterbury

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Über Gott als Schöpfer behauptet man, daß er jeder existierenden Sache permanent gegenwärtig sein muß, um nicht wieder ins Nichts zu versinken. Die höchste Natur darf also keiner Sache fehlen, womit gesagt wird, daß sie an jedem Ort und zu jeder Zeit anwesend ist. Sie muß auch ganz an allen Orten und zu allen Zeiten sein, jedoch auf solche Weise, wodurch sie nicht gehindert wird, gleichzeitig ganz an den einzelnen Orten oder zu den einzelnen Zeiten auf solche Art zu sein, daß es dennoch nicht mehrere Ganze sind, sondern nur ein Ganzes ist (ut tarnen non suntplures totae, sed una sola tota), und daß ihre aetas, die nichts anderes als die wahre Ewigkeit (vera aeternitas) ist, nicht in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verteilt wird 65 . Der erste Schritt, um dem aufgezeigten Problem zu begegnen, besteht in der empirischen Feststellung, daß ich, wie ich in meiner Gegenwart bin, auch eine Vielheit von Dingen bemerke, die ein Sein mit mir zugleich, in demselben gegenwärtigen Augenblick haben. Wenn sich diese Tatsache auf die Totalität der Welt anwenden läßt, wird es möglich zu behaupten, daß dieser Augenblick oder diese Zeit ein und dieselbe Zeit von allen Dingen ist, die in derselben Zeit zugleich sind. Im Schlußsatz seines „Dialogus de Ventate" besteht Anselm nämlich auf diesen Sachverhalt 66 . Nun betrachtet man nicht mehr Dauer oder aetas eines konkreten Seienden, sondern den zeitlichen Raum der zugleich Seienden temporalia, das Zusammensein ihrer Zeiten. Dieses saeculum der Zeiten enthält alle zeitlich bestimmte Dinge, die durch seinen Umfang begrenzt sind 67 . An keiner Stelle seines Werkes konkretisiert Anselm, wie lange ein solches saeculum der Zeiten dauern solle und welche die seine Grenzen bestimmenden Faktoren sein müssen, aber er betont ganz deutlich die Mehrheit der saecula, wenn er sie als saecula temporum auffaßt 68 . Das saeculum bewirkt vor allem ein systematisches Vorhandensein und Nacheinanderfolgen der Ereignisse und Sachen. Eine solche Ordnung vermag nicht mittels der Örtlichkeit konstituiert zu werden, insoweit den einzelnen Orten keine unentbehrliche Ordnung ihrer Koordination eigen ist 69 . Im Gegensatz zu einem Ort umfaßt eine Zeit, z. B. das praesens tempus, jeden Ort und alle Sachen, die an einem Ort zu dieser Zeit sind 70 . Somit ergibt die Einheit des saeculum die notwendige Ordnung des Aufeinanderfolgens der Dinge, die durch das Nacheinander von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft reglementiert wird. Das saeculum, an ihm selbst betrachtet, entzieht sich der Dynamik der Zeit, ohne aber deren reales Vorhandensein, das das Sein aller Zeitelemente umfaßt, zu verneinen. Im saeculum ist nicht nur seine Ge« M 22 /I 39,4-8/. 66 V 13 /I 199,22 — 23/: „ Unum 67

68 69 70

et idem sit tempus omnium quae in eadem tempore simul sunt'. Ρ 21 /111 6,7/: „Saeculum temporum continet omnia temporalis.

Ρ 21 /I 116,8/. Cf. De concordia praescientiae et praedestinationis et gratiae dei cum libero arbitrio (= Q 14/II 253,2-5/. C I 5 /II 254,8 — 9/: „... quaemadmodumpraesens tempus continet omnem locum et quae in quolibet loco sunt".

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genwart, sondern sind auch seine Vergangenheit und Zukunft notwendig gegenwärtig; sie haben Sein in ihm: Sie sind in ihm, sie sind von seiner Existenz umfaßt. Die Vergangenheit ist nicht eine Sache, die vergangen ist, sondern sie ist die Sache „Vergangenheit", die als ein notwendiges Element des saeculum-Sems besteht 71 . Dasselbe gilt auch für die „Zukunft". Auf diese Weise ist das Denken über das saeculum nicht so sehr ein Nachdenken über die Merkmale, die die Zeit prägen, sondern vielmehr über die Eigentümlichkeiten der Existenz der Zeit. Trotzdem ist es immer noch nicht ein Nachdenken über die Zeit an sich selbst, sondern über die Zeit als temporale Existenz: über die Temporalität der Zeit selbst. Die intellektuelle Erörterung des saeculum vermag aber denen keine Befriedigung zu geben, die durch die zeitlichen Dinge die ewigen wahrnehmen wollen und innerhalb der zeitlichen nach der Ewigkeit verlangen 72 . Dies verhält sich so, weil das Wesen der Sache auf verschiedene Weisen in den Aspekten der Temporalität und der Ewigkeit nicht nur erkannt wird, sondern auch ist, sogar wenn es um das Wesen der Zeit geht. Das in einem Fall Veränderliche ist im anderen völlig unveränderlich. In der Ewigkeit ist weder „war" etwas, das geschehen ist, noch steht „wird sein" irgendwie bevor, sondern beide sind schlechthin. In der Ewigkeit ist die Temporalität selbst völlig ausgeschlossen und ist dort secundum tempus nichts 73 . Um das Wesen der Zeit zu erkennen, ist es notwendig, daß ihre zeidose Wahrheit angeschaut wird: die eine Wahrheit aller Zeiten und der einen ganzen Zeit. Hiermit wird — nach der Betrachtung der Zeit des einzelnen Dinges und des saeculum — ein dritter Standpunktwechsel verursacht, von dem aus die permanente praesentia der Wahrheit der Zeit sichtbar werden muß, wodurch die Zeit sich von der Perspektive der Ewigkeit enthüllen und die Art und Weise der Korrespondenz von Zeit und Ewigkeit zugänglich wird. Nachdrücklich lehnt Anselm die Hypothese ab, daß es irgendwo oder irgendwann etwas geben kann, das nicht in der höchsten Wahrheit ist und das nicht von dort her empfangen hat, was es ist, insofern es ist, oder das etwas anderes sein könnte, als was es dort ist 74 . Damit wird die Frage nach dem Wahrsein der lokal- und temporalseienden Dinge und nach ihrer Teilnahme an der höchsten Wahrheit gestellt. Sogleich ist festzustellen, daß im Wesen aller Dinge, die sind, deshalb Wahrheit ist (est ventas), weil sie das sind, was sie in der höchsten Wahrheit sind 75 . Dies besagt, daß jedes Seiende nur durch 71 72 73 74 75

Cf. C I 2 /II 278,7-250,11/. Cf. E 2 /III 98,3/: „...pro temporalibusaeternaperdpere"·, E 3 /III 102,2—3/: „... in temporalibus velie aeternitatem". Cf. C I 5 /II 255,7-26/. V 7/1 185,11-13/. V7/I 185,18-19/.

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die Teilhabe an der höchsten Wahrheit ist, durch die seine Potenzen und seine örtlichen und zeitlichen Bestimmungen festgesetzt sind 76 . Auf diese Weise wird jedoch auch das Fragen nach dem Typ der Präsenz der zeidosen höchsten Wahrheit in den einzelnen „loa veritatis" in Gang gesetzt. Uber das höchste Wesen wird gesagt, daß es, weil es weder Sein nach Art der gleitenden Gegenwart hat, noch nach Art der Vergangenheit oder Zukunft, insofern diese Eigenschaften der veränderlichen Dinge sind, in ähnlicher Weise (similiter) und zugleich ganz (simul totd) jedem Ort und jeder Zeit und allen Orten und Zeiten gegenwärtig ist (praesentem est). Uber es dürfte man sagen, daß es an jedem Ort und zu jeder Zeit ist, weil es keinem (und keiner) fehlt (in omni loco et tempore est, quiua nulli abest) und eben sein Gegenwärtigsein das Versinken jeder Sache ins Nichts verhindert (ab ea praesente sustinentur)·, zugleich darf man dies aber nicht sagen, weil das höchste Wesen keinen Ort und keine Zeit hat (nullum locum aut tempus habet). Es ist gegenwärtig, aber es wird nicht von den Orten und Zeiten umfaßt {praesens est, non etiam continentur)·, deshalb wäre es passender zu sagen, es sei mit Ort oder Zeit, als in Ort oder Zeit (convenientius diá videtur esse cum loco vel tempore quam in loco vel tempore). Das heißt, es ist allen begrenzten und veränderlichen Sachen gegenwärtig 77 . Daraus folgt aber, daß das höchste Wesen nicht in jedem und in allen Orten und Zeiten ist, sondern vielmehr in allem, was ist (in omnibus quae sunt), und zwar nicht als solches, das umfaßt würde, sondern als solches, das alles, es durchdringend, umfaßt (penetrando cunda contineat)78. Es ist also nicht in Orten und Zeit, sondern vielmehr in allem Sein (in all beings 79 ) und konstituiert dieses — einschließlich das Sein der Zeit. Das höchste Wesen hat keine Vergangenheit oder Zukunft; seine Zeitdauer ist seine Ewigkeit (aetas sive aeternitas eius), die es selbst ist. Wenn von ihm „semper", das die ganze Zeit zu bezeichnen scheint (videtur designare totum tempus), ausgesagt wird, so bezeichnet es auf eine wahrhaftere Weise (multo venus ... significare), weil es somit die Ewigkeit anzeigt, die sich selbst niemals unähnlich ist — im Unterschied zum Wechsel der Zeiten (temporum varietas), der sich immer in irgendeinem Stücke nicht ähnlich ist (sibi semper in aliquo non est similis). „Immer" besagt bezüglich des höchsten Wesens, daß es ewig ist und lebt: Es besagt das unbeendbare, vollkommen und auf einmal ganz existierende Leben (eius aeternitas esse interminabilis vita simulperfecte tota existens)60. Damit wird nicht mehr, jedoch auch nicht weniger als dies gesagt, daß die sich immer in irgendeinem Stücke nicht ähnlichen Zeiten eine einheitliche 76

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Cf. H. Kiilling, Wahrheit als Richtigkeit. Eine Untersuchung zur Schrift „De Veritate" von Anselm von Canterbury, Bern 1984, 147 — 148. Cf. M 2 2 / 1 40,6 - 41,18/. M 23 /I 4 1 , 2 1 - 2 5 / . M. McCord Adams, Saint Anselm's Theory of Truth, in: Documenti et studi sulla traditione filosofica medievale, 1/2 (1990), 358. M 24/1 42,11-25/.

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und ganze Zeit sind, weil ihr „semper" seine Gültigkeit von der unveränderlichen Existenz, also von dem ewigen Leben hat, aus welchem das Sein und die Konstitution der Zeit stammt. Die Wahrheit der Zeit ist die Ewigkeit. Die Ewigkeit Gottes (die einfachhin außer aller Zeit und außer allem Ewigen, das aber nicht Gott ist, steht 81 ) erweist sich als die bestimmende Grenze, die die Wahrheit und das Sein der Zeit generiert und garantiert, obschon sie der Grenze jeglichen Anfangs und Endes entbehrt 82 . Von da aus wird der Abgrund sichtbar, der die temporale Gegenwart 83 und die ewige Gegenwart [praesens aeternum, praesentia aeterna84) trennt. Die ewige Gegenwart unterscheidet sich von der temporalen dadurch, daß in ihr alle Zeiten eingeschlossen sind: Wenn die gegenwärtige Zeit auf irgendeine Weise alle Orte und die Sachen in ihnen einschließt, so schließt die ewige Gegenwart zugleich alle Zeit ein und was immer zu einer Zeit gehört 85 . So nämlich enthält die ewige Gegenwart in ihrem „zugleich" nicht nur die temporalen Dinge — sowohl jene, die dem Ort und der Zeit nach zugleich, als auch jene, die an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten sind 86 — sondern auch die saecula temporum selbst 87 . Von dieser Perspektive her kann man bereits relativ leicht die Ebenen des Temporalen bemerken, die Anselm als notwendige begreift. Unter dem Gesichtspunkt der einzelnen Sache ist die Zeit der wesenhaft bedeutsame Rhythmus und die Grenze ihrer Existenz. Unter dem Gesichtspunkt nicht der einzelnen Sache, sondern der Ordnung der Sachen ist sie das, was das Zugleichsein, das Nacheinandersein und damit die Ordnung der Sachen selbst ergibt. Das Gesetz der Zeit wirkt notwendig auch in den beiden Fällen, wobei ihm auch die Zeit selbst in ihrer Gegenständlichkeit unterliegt. Auf diesem Niveau kann sie zwar immer noch nicht als eine Sache und ein Wesen aufgefaßt werden, aber die Tatsache der Gegenwart und die Wirkung des Gesetzes führen zu einer derartigen Sehweise. Die Wahrheit und das Sein der einen Zeit offenbaren sich in der Gegenwart der Ewigkeit, worin die Zeit als ganz gegenwärtig anwesend ist und ihre gänzliche praesentia erhält. Die Zeit erweist sich jedoch nicht lediglich als wahrhaft in der Ewigkeit gegenwärtig, sondern auch als ihr Universalinstrument in Rücksicht auf die 81 82 83

84 85

Cf. Ρ 19 /I 115,10-15/; Ρ 20 /I 115,25-116,3/. M 24 /I 42,27/: „... vera aeternitasprincipi!finisque meta carere intelligitur".

M 24 /I 42,12 — 13/: „... temporale, hoc est labile praesens quo nos utimur".

C I 5 /II 254,20; 23/. C I 5 /II 254,6 — 10/: „Quamvis autem nihil ibi (sc. in aeternitate) sit nisi praesens, non est tarnen

illudpraesens temporale sicut nostrum, sed aeternum, in quo tempora cunda continentur. Si quidem quemadmodum praesens tempus continet omnem locum et quae in quolibet loco sunt: ita aeterno praesentì simul clauditur omne tempus, et quae sunt in quolibet tempore". 86 C I 5 /II 254,13 — 15/: „Habet enim aeternitas suum simul, in quo sunt omnia quae simul sunt loco vel tempore, et quae sunt diversis in loàs vel temporibus. 87 Ρ 21 /I 116,7 — 8/: „... tua aeternitas continet etiam saecula temporum".

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Schöpfung. Wenn in der Ewigkeit alles nur ist, ohne gewesen zu sein oder zu werden, so wird es durch die Zeit etwas, das gewesen ist und sein wird. Die Zeit ist die erste Bestimmung und Konstituente von allem in den Dimensionen der Endlichkeit, und dank der Zeit ist dieser Übergang widerspruchsfrei 88 . Die Totalität der Dinge hat ihre universelle Präsenz in der Ewigkeit, jedoch ermöglicht die sie repräsentierende Zeit die Repräsentation jeder Sache als eine einzelne oder individuelle Substanz. Auf diese Art und Weise kann die Sache nur zu der Zeit sein, in der sich die Wahrheiten der Dinge verwirklichen. Eben deshalb fängt der Beweis der Anfangslosigkeit und Unendlichkeit der Wahrheit mit einem Beweisen der Wahrheit der Teile oder Dimensionen der Zeit an 89 . Der Nachweis der Wahrheit der Zeit ergibt notwendig die Offenkundigkeit des Wahrseins jeder lokalen und temporalen Wahrheit und damit auch die unbeschränkte Allgemeingültigkeit der Wahrheit, die diese Wahrheiten generiert. Erst das Begreifen der Überzeitlichkeit der Wahrheit ermöglicht das Verstehen des Daseins der Zeit als Bild für die höchste Wahrheit 90 . Es stimmt aber dennoch, daß auch der Intellekt ein Verstehen für das höchste Wesen haben kann, wenn er auch nicht die Ewigkeit übersteigen und über ihr Prinzip urteilen kann 91 , vor allem wenn er zu einem Verständnis für das Wesen der Zeit gelangt. Daraus folgt die fundamentale Position des anselmischen Denkens, dergemäß das Unendliche hauptsächlich in seiner Bezogenheit auf das Endliche betrachtet und erkannt werden kann, jedoch die Endlichkeit sich erst dann auch als ein Problem erweist, wenn die Frage nach dem sie Übersteigenden gestellt wird. Es ist nun nicht mehr schwer einzusehen, daß, wenn auch bei Anselm die Zeit als etwas Eines und Ganzes in Betracht kommt, dies mit einer Strategie und einem Motiv getan wird, die den naturalistischen Motiven polar entgegengesetzt sind. Während die Naturalisten ihre These in der gleichgültigen Gleichheit der Naturelemente fundieren, die als die Basis von allem Geschöpflichen betrachtet werden, leitet er seine These aus der einen Wahrheit der Zeit ab, die als die erste Gesetzmäßigkeit der Schöpfung in ihrer Endlichkeit aufgefaßt wird. Diese Gesetzmäßigkeit vermag eben deshalb das endliche Seiende jenseits jeder Endlichkeit zu transzendieren. Die Wahrheit der Zeit korrespondiert demnach mit der Gegenwart der Ewigkeit, mit der Spezifik des göttlichen Leben. 88 89

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Cf. C I 5 /II 254,2—4/: „Sicut entm quamvis in aeternitate non fuit aut erit aliquid, sed tantum est, et tarnen in tempore fuit et erit aliquid sine repugnantia ...". M 18 /I 33,10-13/ = V 1 /I 176,8-10/: „Dewde cogitet qui potest, quando incepit aut quando non fuit hoc verum: scilicet quia futurum erat aliquid; aut quando desinet et non erit hoc verum: videlicet quia praeteritum erit aliquid". Cf. H. Verweyen, op. cit. (wie Anm. 27), 21. De processione spiritus sancti (= Pr) 14 /II 214,20-21/: intellectus nosternonpotest transiré ultra aeternitatem, ut quasi de principio eius iudicet ...".

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Die Eigenart der anselmischen Zeitauffassung wird auch in seiner Lösung der Frage nach dem temporalen Fixiertsein der Wahrheit der Zeit reflektiert. Seinem großen Vorbild Augustin ähnlich redet auch Anselm über einen Punkt der Zeit (den er übrigens in Analogie zum Mittelpunkt der Welt — medium punctum mundi — betrachtet). Dieser Zeitpunkt, der die gegenwärtige Zeit ist, hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Ewigkeit; er ist für die Betrachtung dieser Ewigkeit nutzbringend, weil der Zeitpunkt ebenso wie sie einfach, teillos und unteilbar ist 92 . Jedoch nimmt Anselm nicht das Risiko auf sich, durch diesen die Wahrheit fur das Dasein der Zeit zu erklären. Bei seiner Wiederholung fällt der Zeitpunkt nicht mit sich zusammen: Er ist nicht selbstidentisch. Bei jedem neuen Setzen des Zeitpunktes tritt ein Unterschied und mithin eine Vielheit zutage. Das wiederholte Setzen des Punktes ist keine erneute Setzung desselben auf ihn selbst, sondern ein Setzen mit Abstand, wodurch ein Intervall entsteht. Während also der Punkt der Ewigkeit innerlich einfach ist und sich selbst beim Versuch seines „Wiedersetzens" wiederholt, dank dessen es nicht viele Ewigkeiten gibt, sondern sie nur eine ist — indes Ewigkeit in Ewigkeit oder Ewigkeit mit Ewigkeit immer die eine und dieselbe Ewigkeit ist —, ist das Setzen des Punktes „praesens tempus" nicht ohne Intervall real, und eine gegenwärtige Zeit in oder mit einer gegenwärtigen Zeit ist nicht ein und dasselbe praesens tempus93. Das praesens tempus ist labile94: Es ist in seinem Sein von sich selbst verschieden, es vergeht und sein Sein in re verfällt. Es vermag nicht das wirkliche Sein der Zeit in der Zeit zu beglaubigen. Es besteht keine Sache, die von sich aus notwenig als eine vergangene, gegenwärtige oder zukünftige zu sein vermag, jedoch ist die vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Sache vergangen, gegenwärtig oder zukünftig der Notwendigkeit nach 95 . Diese ist die Spezifik der anselmischen necessitas sequens (der „nachfolgenden Notwendigkeit" oder „Notwendigkeit der Faktizität" 96 ), die alle Zeiten auf die folgende Weise durchläuft: Was war, ist notwendig, daß es war; was ist, ist notwendig, daß es ist und ist notwendig, daß es zukünftig gewesen ist; was zukünftig ist, ist notwendig, daß es zukünftig ist 97 . Unmittelbar ist zu bemerken, daß der Vergangenheit ein Charakteristikum zukommt, das der Gegenwart und der Zukunft nicht eigentümlich ist: 92

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Epistola de incarnatione verbi (= I) 15 /II 34,2-5/: „... punctum temporis, id est praesens tempus, ad aeternitatim nonnuUam similitudinem, non parum ad eiusdem aeternitatis contemplationem utilem (habet) ... Punctum simplex, id est sine partibus, est et indivisibile velut aeternitas". Cf. 115 /II 33,10-34,8/; Pr 16 /II 218,9-16/. M 2 4 / 1 42,12-13/. Cf. C I 2 /II 249,10-250,11/. Cf. G. Piasger, Die Not-Wendigkeit der Gerechtigkeit. Eine Interpretation zu „Cur deus homo" von Anselm von Canterbury, Münster 1993, 127 sq. Cu II 17 /II 125,18-20/: sequens necessitas currit per omnia tempora hoc modo: Quidquidfuit, necesse est fuisse. Quidquid est, necesse et esse etfuturum fuisse. Quidquidfuturum est, necesse est futurum esse".

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Es kann niemals geschehen, daß die Vergangenheit nicht vergangen ist, während im allgemeinen Fall die Gegenwart natürlich in Vergangenheit übergeht, und die Zukunft, wenn sie zur Gegenwartsverwirklichung gelangt, unbedingt als Gegenwart daseiend ist, die sich in Vergangenheit verkehrt 98 . Darin liegt der Grund des anselmischen Satzes, daß die vergangenen Zeiten oder das zeitlich Vergangene der ewigen Gegenwart viel ähnlicher als die temporale Gegenwart sind, weil die Vergangenheit unveränderlich ist: Sie kann nicht nicht vergangen sein". Unabhängig davon, ob während des Schreibens dieser Texte die Meinung des Petrus Damiani über dieselbe Problematik Anselm unbekannt oder (was wahrscheinlicher zu sein scheint 100 ) bekannt gewesen ist, kann man an dieser Stelle eine aufmerksame Korrektur dieser Meinung entdecken. Damiani besteht darauf, daß Gott so tun könnte, daß auch das Geschehene ungeschehen werde; daß auch die Vergangenheit unvergangen werde, weil Gottes Allmacht unbeschränkt ist 101 . Er setzt die Betonung auf die Ungültigkeit des Widerspruchsgesetzes hinsichtlich Gottes. Anselm deutet die Frage genauso im Horizont des Willens Gottes, jedoch von der Perspektive der Wahrheitsproblematik aus, die dabei nicht in einem Verhältnis zur dialektischen Wahrhaftigkeit, sondern absolut gestellt ist; von hier aus wird klar, daß sich in der Unveränderlichkeit der Vergangenheit keine Ohnmacht, sondern die absolute Allmacht Gottes äußert, die mit seinem Willen, mit der Wahrheit, mit ihm selbst zusammenfallt. Keine Notwendigkeit oder Unmöglichkeit geht dem göttlichen Willen oder Nichtwillen wie auch seinem Tun oder Nichttun voraus, obschon es viele Dinge gibt, deren Unveränderlichkeit er will und schafft. So „wenn Gott etwas tut, kann es nicht mehr nicht getan sein, nachdem es getan ist, sondern ist immer wahr, daß es getan wurde. Dennoch sagt man nicht mit Recht, Gott sei es unmöglich, zu machen, daß das, was vergangen ist, nicht vergangen sei. Denn nichts wirkt da die Notwendigkeit nicht zu tun oder die Unmöglichkeit zu tun, sondern allein Gottes Wille, der, weil er selber die Wahrheit ist, will, daß die Wahrheit, wie sie ist, stets unwandelbar sei" 102 . Gott will nicht, daß 98 99

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C I 2 /II 249,29 — 250,2/: „Sed in re praeterita est quiddam quod non est in re praesenti vel futura. Numquam enim fieri potest, ut res quae praeterita est fiat non praeterita ...". C I 5 /II 254, 21 —26/: „... quoniam quae tempore praeterita sunt, ad similitudinem aeterni praesentis omnino immutabUia sunt. In hoc siquidem magis similia sunt aeterno praesenti temporaliter praeterita quam praesentia, quoniam quae ibi sunt, numquam possunt non esse praesentia, sicut temporis praeterita non valent umquampraeterita non esse, praesentia vero tempore omnia quae transeunt fiunt non praesentia". Cf. I. M. Resnick, Divine Power and Possibility in St. Peter Damian's De divina omnipotentia, Leiden-New York-Köln 1992, 81. Cf. De div. omnipotentia, 5. Cu II 17 /II 123,3 — 8/: „Et sicut cum deus facit aliquid, postquam factum est, iam non potest non esse factum, sed semper verum est factum esse; nec tarnen rede dicitur impossibile deo esse, ut faciat quod praeteritum est non esse praeteritum — nihil enim ibi operatur nécessitas non faciendi aut imposibilitas faciendi, sed dei sola voluntas, qui veritatem semper, quoniam ipse Veritas est, immutabilem, sicut est, vult esse".

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etwas, das wahr gewesen ist und in Rücksicht darauf wahr ist, daß es wahr gewesen ist, unwahr wird. Darin besteht seine wahre Allmacht, dank derer die Vergangenheit nicht nicht vergangen sein kann. Die Wahrheit der Räumlichkeit, die sich durch die mittels der Vergangenheit bezeugten Wahrheit der Zeit und durch die mittels der begrenzten Unendlichkeit erwiesenen Wahrheit des Ortes ergibt, wird gemäß Anselm durch die Wahrheit Gottes selbst bestätigt, indes sie ihrerseits diese Wahrheit wiederbekräftigt 103 .

103

Der vorliegende Text ist während meines Aufenthalts am Thomas-Institut als Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung entstanden. Für die sprachliche Durchsicht und Korrektur des Manuskripts bin ich Frau Angela Schiffhauer und meinem Freund Andreas Speer zu Dank verpflichtet.

Perspektive und Raumvorstellung in den Frühwerken des Albertus Magnus HENRYK ANZULEWICZ

(Bonn)*

Für einen mittelalterlichen Universalgelehrten, der sich zwar selbst in erster Linie als Theologe versteht (zumal er als Predigerbruder ein Mann der Kirche im engeren Sinne ist), den seine Mitwelt und nächste Nachwelt aber im Hinblick auf die von ihm erbrachte wissenschaftliche Leistung vor allem als einen großen Philosophen und Naturforscher feiert und ihn magnusphilosophusx oder schlechthin Albertus Magnus2 nennt, waren die Fragen der geometrischen Perspektive und der Raumbegriff in vieler Hinsicht, und das sowohl theologisch als auch philosophisch, bedeutsam. Zu solcher Feststellung kommt man aufgrund der Erkenntnis, daß er sich mit den hier genannten Fragenkomplexen in seinen zahlreichen Werken wiederholt, bisweilen sehr ausführlich und in eingehender Weise befaßt hat. Die Beschäftigung mit der perspectiva und mit dem vielschichtigen Begriff des Raumes geschah mehr oder weniger in Form von Digressionen im Kontext der Theologie und Anthropologie (Seelen- und Intellektlehre, Theorie optischer Wahrnehmung), oder systematisch im seinen Kommentaren zu den Schriften des Aristoteles wie der Physica, De caelo et mundo und De natura loci, aber auch in der Tierkunde (De animalibus) und nicht zuletzt in der Meteorologie (Meteora). In Verbindung mit der geometrischen Perspektive muß ferner das unvollendet überlieferte und bislang nur zum Teil edierte Kommentarwerk Super Euclidem (Geometria) gesehen wer* Für die kritische Lektüre des Manuskriptes danke ich Herrn Dr. Paul Hoßfeld und Frau Dr. Ruth Meyer herzlich. 1 Raymundus Martini, Pugio fidei (1278), zitiert nach M. Grabmann, Der Einfluß Alberts des Großen auf das mittelalterliche Geistesleben (Sonderabdruck aus ZKTh 52 (1928), 153 — 182, 3 1 3 - 3 5 6 ) , Innsbruck 1928, 12. 2 Cf. A. Layer, Namen und Ehrennamen Alberts des Großen, in: Albert von Lauingen. 700 Jahre + Albertus Magnus. Festschrift 1980, hg. vom Hist. Verein Dillingen an der Donau, Lauingen 1980, 41 —43. Für die Begründung des Prädikats „Magnus" aus systematischer Sicht cf. J. A. Aertsen, Albertus Magnus und die mittelalterliche Philosophie, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 21 (1996), 127 sq.: „Die Größe des Albert von Köln besteht erstens in seiner Offenheit für verschiedenartige Denktraditionen; er setzt sich mit dem Aristotelismus, der arabischen Philosophie, der dionysischen Tradition, mit dem Neuplatonismus in der Gestalt des Liber De causis und mit der frühmittelalterlichen Ontologie des Boethius auseinander. Das Epitheton Magnus kommt Albert zweitens aufgrund seiner Verarbeitung dieser Denktraditionen zu. Er entwickelt eine eigenständige Philosophie, gekennzeichnet durch die transzendentale Annäherung an das Erste ...".

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den 3 . Auf den ersten Blick scheinen die Fragen der Perspektive und des Raumes eigentlich nicht in den Bereich der Theologie, sondern — folgt man dem Wissenschaftsverständnis des Albertus Magnus 4 — in den Bereich der theoretischen Wissenschaften zu fallen, nämlich der Mathematik und Physik. Der Theologe und Naturphilosoph vermag sie aber auf keinen Fall außer acht lassen, weil er sich mit dem Begriff locus als auch mit der ganzen Breite der von der Perspektive als Sehtheorie (.mentía de visu, sc. aspectivorum, perspectiva) behandelten Fragen mehrfach konfrontiert sieht oder er diese vielmehr theologisch adaptieren will. Im folgenden sollen die Frühwerke des Doctor universalis — von der Erstlingsschrift De natura boni bis zum Sentenzenkommentar — im Hinblick auf das Thema der geometrischen Perspektive und des Raumes befragt werden. Es geht hierbei primär darum, die Lehre über den Raum sowie die Perspektive anhand der genannten Schriften in ihren wesentlichen Punkten darzustellen und ihre theologische Relevanz hervorzuheben. Den philosophischen Aspekt der Frage des Raumes und des Ortes, wie er von Albertus Magnus im 4. Buch des Physikkommentars dargelegt worden ist, hat zuletzt P. Hoßfeld ausgearbeitet5. Die Themen der geometrischen Perspektive (Optik) dagegen, welche im wesentlichen zum Bestand der anthropologischen Schrift De homine gehören, die aber auch in andere Frühwerke eingestreut sind, beispielsweise in De natura boni (die Lehre vom Schatten)6, De IV coaequaevis (Spiegel- und Spiegelbildlehre)7, Super II Sent. (Theorie des Spiegels und der Reflexion der Lichtstrahlen)8, Quaestio de prophetia („Spiegel der Ewigkeit", Sehtheorie)9, sind ungeachtet der grundlegenden Studien von D. C. Lindberg 10 bis heute in der mediaevistischen Forschung noch unzureichend bekannt. Dieser Umstand hat dazu geführt, daß nicht nur Alberts Beschäftigung 3

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Erhalten sind die Bücher I — IV des Euklidkommentars, davon ist nur das Buch I kritisch ediert: P. M. J. E. Tummers, Albertus (Magnus)' Commentaar op Euclides' Elementen der Geometrie, II, Nijmwegen 1984, 1 - 1 0 2 . Cf. Albertus Magnus, De homine tr. 1 q. 53 a. 1 (Ann Arbor 201 f. 68vb sq.; Ed. Paris. T. X X X V p. 446a-447b); q. 60 (f. 80rbsq; p. 516a-517b); Physica, Ed. Colon. T. IV p. 1 v. 43 sqq.; Metaph. Ed. Colon. T. XVI p. 1 v. 6 sqq., p. 5 v. 2 5 - 3 3 . P. Hoßfeld, Studien zur Physik des Albertus Magnus, in: A. Zimmermann (ed.), Aristotelisches Erbe im arabisch-lateinischen Mittelalter. Ubersetzungen, Kommentare, Interpretationen (Miscellanea Mediaevalia 18), Berlin-New York 1986, 1 - 4 2 , im bes. 1 - 2 8 (I: Ort, örtlicher Raum und Zeit). Albertus Magnus, De natura boni, Ed. Colon. T. XXV, 1 p. 76 v. 3 - p . 78 v. 4. De IV coaequaevis tr. 4 q. 32 a. 1 (Paris, BN lat. 18127 f. 47vbsq.; Ed. Paris. T. XXXIV p. 509b). Super II Sent. d. 4 a. 1, ed. Fr. Stegmüller p. 2 3 5 - 2 3 8 ; Ed. Paris. T. XXVII p. 1 0 3 b - 1 0 5 b . Quaestio de prophetia a. 2 § 1, Ed. Colon. T. XXV,2 p. 54 v. 6 6 - p . 57 v. 41; § 4, p. 65 v. 1 0 p. 72 v. 8. Lindbergs wichtigste Arbeit auf dem Gebiet ist die monographische Untersuchung „Theories of Vision from al-Kindi to Kepler", Chicago - London 1976, dt.: Auge und Licht im Mittelalter. Die Entwicklung der Optik von Alkindi bis Kepler. Übersetzt von A. Althoff, Frankfurt/ M. 1987. Im folgenden wird nach der Originalausgabe zitiert.

Perspektive und Raumvorstellung

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mit den Fragen der geometrischen Perspektive, sondern auch überhaupt sein Interesse an ihr, ähnlich wie sein Beitrag zu mathematischen Fragestellungen, von manchen Fachgelehrten bestritten werden 11 . In der Überschrift zu diesen Überlegungen wurde bereits angedeutet, daß sie um zwei Themenkomplexe kreisen. Dieser Zweiteilung des Gegenstands entsprechend wird im folgenden in zwei Schritten vorgegangen. Zuerst soll die Lehre von der geometrischen Perspektive bzw. Optik bei Albertus Magnus skizziert werden. Dann wird versucht, sein theologisches Verständnis des Raumbegriffs nachzuzeichnen. Doch bevor mit der Schilderung der albertinischen Auffassung auf dem Gebiet der Perspektive und seiner theologischen Lehre über den Raum begonnen wird, ist eine begriffliche Klärung sowie Eingrenzung der im Rahmen dieses kurzen Beitrags zu behandelnden Fragen vorzunehmen. Die Bezeichnung „Perspektive" meint hier die säentiaperspectiva bzw. säentia aspectivorur», welche die spekulative physikalisch-geometrische Optik und die Theorie des Sehprozesses umfaßt. In diesem Kontext werden in den einschlägigen Quellentexten nicht selten auch die Fragen der Augenheilkunde erörtert, im besonderen in den galenischen und medizinisch inspirierten, seit dem 13. Jh. im lateinischen Westen rezipierten optisch-ophthalmologischen Schriften des islamischen Kulturkreises und der Griechen12. Mit der Bestimmung „Raum" ist hier der Sinngehalt des lateinischen Terminus locus gemeint, der Ort, Platz, Stelle, Raum, Rang bedeutet13. Als Synonyma zu locus begegnen uns in den Frühwerken zwei weitere Kategorien: situs und ubi. Neben der Präsentation der Lehre von der Perspektive, in der sowohl Raum als auch Distanz von grundlegender Bedeutung sind, soll hier aufgezeigt wer-

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Cf. J. A. Weisheipl, Albert der Große. Leben und Werke, in: M. Entrich (ed.), Albertus Magnus. Sein Leben und seine Bedeutung, Graz—Wien —Köln 1982, 41: „In der Metaphysik' weist Albert auf ein eigenes Werk mit dem Titel Geometrie hin, aber es ist immer noch ungewiß, was dieses Werk ist oder wovon es eine Paraphrase bzw. zu welchem Werk es ein Kommentar ist". L. Sturlese spricht in seiner Einleitung zu Dietrich von Freiberg, Opera omnia IV (CPTMA II/4), Hamburg 1985, XVI sq. mit Anm. 22 u. 23 vom „geringen Interesse an Optik und Mathematik" bei Albertus Magnus. Seine Auffassung stützt er durch entsprechende Aussagen von J. M. G. Hackett (The Attitude of Roger Bacon to the Scientia of Albertus Magnus, in: J. A. Weisheipl, Albertus Magnus an the Sciences. Commemorative Essays 1980 [Studies and Texts 49], Toronto 1980), A. G. Molland (Mathematics in the Thought of Albertus Magnus, ibid., 463 — 478) und J. A. Weisheipl (Albertus Magnus and the Oxford Platonists, in: Proceedings of the American Catholic Philosophical Associacion 32 [1958], 124 — 139). Für den gegenwärtigen Forschungsstand in der Frage cf. R. Ineichen, Zur Mathematik in den Werken von Albertus Magnus, in: FZPhTh 40 (1993), 55 — 87; ferner Cl. Wagner, Alberts Naturphilosophie im Licht der neueren Forschung (19791983), in: FZPhTh 32 (1985), 65-104, in bes. 103, der im Gegensatz zu Sturlese gerade die unmittelbare Beeinflussung der optischen Studien Dietrichs von Freiberg durch die Naturphilosophie des Albertus Magnus herausstellt. Von Alberts Vermittlung der aristotelischen Sehtheorie an Meister Eckhart spricht G. Schleusener-Eichholz, Das Auge im Mittelalter II (Münstersche Mittelalterschriften 35/11), München 1985, 128. Cf. D. C. Lindberg, 1. c. (wie Anm. 10), 211 sq. Cf. P. Hoßfeld, I.e. (Anm. 5), 1.

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den, (1) wie Albertus den Begriff locus auslegt. Da es uns aber primär um die theologische Relevanz dieses Begriffs geht, werden hier nur die folgenden ausgewählten Orts- bzw. Raumkonzepte Gegenstand der Erörterung sein: (2) paradisus und mundus als natürliche Wohnorte bzw. -räume des Menschen (loci habitations, mansió)·, (3) caelum empyreum als Ort der himmlischen Glückseligkeit {locus beatitudinis)·, (4) limbus und sinus — ein von der Hölle abgetrennter Wohnort der Auserwählten (locus in ora inferni sequestratus ad habitationem electorum) ; (5) purgatorìum und infernus als Orte der Läuterung bzw. der ewigen Strafe (loci poenarum). Jeweils zum Schluß der beiden Hauptteile dieser Arbeit soll im Rückblick auf die skizzenhaft umrissene Lehre von der Perspektive und vom Raum eine Bilanz gezogen werden. I. P e r s p e k t i v e und g e o m e t r i s c h e Optik Die ältere Historiographie der exakten Wissenschaften hat die Leistung des Albertus Magnus auf dem Gebiet der Perspektive und der geometrischen Optik kaum erkannt. Dieser Umstand erklärt sich einerseits durch mangelnde Erforschung der Quellen und unzulängliche Erschließung des Werkes des Doctor universalis, sowie durch eine negative, bisweilen ablehnende Haltung gegenüber dem Mittelalter und der Scholastik anderseits14. Die genannten Forschungsdefizite der Vergangenheit und ihre Nachwirkung wurden bislang noch nicht beseitigt. Für die Veranschaulichung des status quo seien nur einige Beispiele genannt. Der Zeitgenosse Alberts und, wie es scheint, sein Erzrivale Roger Bacon spricht ironisch von einer „selbsternannten Autorität", welche die wissenschaftliche Bedeutung und philosophische Tragweite der geometrischen Optik bzw. Perspektive verkannt und deshalb auf diesem Gebiet nichts geleistet habe 15 . Er meint mit diesen Worten Albertus. Die gezielten Unterstellungen Bacons einerseits und oberflächliche Kenntnisse naturphilosophi14

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Cf. Α. Speer, Die entdeckte Natur (STGMA 45), Leiden-New York-Köln 1995, 5sq. A. Zimmermann, „Finsteres Mittelalter". Bemerkungen zu einem Schlagwort, in: A. Speer (ed.), Die Bibliotheca Amploniana. Ihre Bedeutung im Spannungsfeld von Aristotelismus, Nominalismus und Humanismus (Miscellanea Mediaevalia, 23), Berlin-New York 1995, 1 — 15. Ein Beispiel unverhohlen abwertender Darstellung der Scholastik ist K. Prantls Geschichte der Logik im Abendlande I —II, Leipzig 1927; ähnlich kritisch ist J. Hirschberg, Geschichte der Augenheilkunde. Zweites und drittes Buch: Geschichte der Augenheilkunde im Mittelalter und in der Neuzeit (Graefe-Saemisch Handbuch der gesamten Augenheilkunde XIII), Leipzig 1908. Roger Bacon, Opus tertium c. 11 (ed. J. S. Brewer, p. 37): „Haec autem sdentia (= perspectiva, idest scientia de visu) non est adhuc leda Parisius, nee apud Latinos, nisi bis Oxonie in Anglia; et non sunt tres qui sciant eius potestatem: unde ille qui ferít se auetorem, de quo supenus dixi, nihil novit de huius sdentine potestate, sicut apparet in libris suis, quia nec fedt librum de bac sdentia, et fedsset si sävisset, nec in libris aliis aliquid de hac sdentia redtavit; cum tarnen oportet, quod usus istius sdentiae cadat in omnibus aliis, et quod per eius virtutem sdantur omnia. Et ideo non potest sdre aliquid de sapientiaphilosophiae". Nach einhelliger Auffassung der Mittelalterforscher läßt sich hier Bacon über Albert aus.

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scher und theologischer Schriften des Doctor universalis anderseits haben ein wissenschaftshistorisch verfehltes Urteil, das zu einem Vorurteil mit Langzeitwirkung geworden ist, gefestigt. Unter den gegebenen Voraussetzungen wird Alberts Beitrag zur Perspektive, wie schon erwähnt, ausdrücklich verneint 16 . In einer umfassenden Studie zur Theorie der Perspektive des Mittelalters von G. Federici Vescovini wird Albertus Magnus zwar am Rande erwähnt, aber die Autorin gesteht ihm keinen eigenständigen Beitrag in diesem Bereich zu 17. Ein „geringes Interesse an Optik und Mathematik" bei Albertus konstatiert L. Sturlese in seiner historisch-doktrinellen Einleitung zu den „Schriften zur Naturwissenschaft" des Dietrich von Freiberg18. Die Tatsache, daß im umfangreichen Werk des Albertus Magnus nicht nur Optik und Mathematik enthalten sind, sondern daß Albertus einen Kommentar zur Geometrie des Euklid verfaßt hat, dessen Fragment die Hs. Wien, Bibliothek des Dominikanerklosters 85/40 überliefert, wurde hier offenkundig nicht zur Kenntnis genommen 19 . Um die gängigen Muster nicht zu vervielfältigen und somit der Gefahr ihrer Fehlinterpretationen zu entgehen, wenden wir uns nun den Frühschriften des Albertus Magnus zu. Was ergibt sich aus der Lektüre im Hinblick auf die Lehre von der Perspektive? Schon in seinem ersten theologischen Werk De natura boni geht der Autor bei der Auslegung des Glaubensgeheimnisses der unbefleckten Empfängnis Christi durch Maria, das in der Hl. Schrift als „die Beschattung durch die Kraft des Allerhöchsten" (Lk 1, 35) bezeichnet wird, auf das optische Phänomen des Schattens ein 20 . Diesem Phänomen werden zwei längere naturkundliche Digressionen {notabilia de umbra) gewidmet. Zunächst erörtert Albert vier Aspekte des Phänomens, die er für wissenswert hält: die Ursache eines Schattens und seine drei Eigenschaften. Dabei stellt er fest, daß der Schatten aus der Entgegensetzung eines (undurchsichtigen) Körpers zur Lichtquelle 16

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Cf. oben Anm. 11. Im Quellenapparat zu Sententia libri De sensu et sensato des Thomas von Aquin, Ed. Leonina T. XLV,2 p. 23 n. 33 — 42, verweist der Editor für Thomas Lehre über den Spiegel auf eine Parallele bei Vinzenz von Beauvais. Allerdings hat der Enzyklopädist den betreffenden Text aus De homine des Albertus Magnus entlehnt. G. Federici Vescovini, Studi sulla prospettiva medievale, Torino 1965. Cf. ferner id., L'inserimento della „Perspectiva" tra le arti del quadrivio, in: Arts libéraux et philosophie au moyen âge. Actes du quatrième Congrès International de Philosophie Médiévale, Montréal, 27 a o û t - 2 septembre 1967, Montréal - Paris 1969, 972 sq. L. c. (Anm. 11). Im einzelnen schließt L. Sturlese Alberts Einfluß auf naturwissenschaftliche, und insbesondere auf optische Interessen und Forschungen Dietrichs von Freiberg mit der Begründung aus, daß „Dietrichs große Vertrautheit mit der geometrischen Optik der perspectivi darauf hindeuten würde, daß er sich weit außerhalb der Interessensphäre Alberts bewegt hat" (ibid., XVII). Dieses offensichtlich durch ältere Literatur geprägte Urteil erweist sich angesichts der konstatierten Sachlage als unzutreffend. Die Echtheit dieser Schrift dürfte nach den Untersuchungen von P. M. J. E. Tummers, Albertus (Magnus)' Commentaar op Euclides' Elementen der Geometrie, I —II, Nijmegen 1984, als hinreichend gesichert gelten. Cf. auch R. Ineichen, 1. c., 58 sq. Albertus Magnus, De natura boni, Ed. Colon. T. XXV,1 p. 73 v. 69 sqq.

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entsteht: „substantia umbrarum surgit ex obiectu corporis contra lucem". Darin wird zugleich Substanz und Sein des Schattens, sofern er ein eigenes Sein und eigene Substanz hat, konstatiert21. Die Eigenschaften des Schattens werden aus dessen Verhältnis zum Gesichtssinn, zur Wärme und zur Helligkeit abgeleitet. In dieser Relation zeichnet sich der Schatten durch drei Eigenschaften aus: Er unterstützt die Sehkraft (umbra visum collidi), zweitens spendet er Abkühlung (reftrigerat) und drittens bewirkt er eine Verdunkelung (obscurat). Die Stärkung der Sehkraft erfolgt durch die Konzentration und Vereinigung des den Augen eignenden inneren Lichtes {lumen oculorum), das aus einer Ansammlung von Strahlen (ex congregatione radiorum) herrührt. Die durch die Eigentümlichkeit des Schattens konzentrierte und vereinigte Sehkraft ist stärker als eine breit ausgedehnte und so geteilte (multiplizierte) virtus oculi. Diese Aussage wird durch das vermeintlich aristotelische, in Wirklichkeit aber dem Liber de causis endehnte Theorem „omnis virtus unita plus est infinita et fortis quam virtus multiplicata" gestützt 22 . Diese Eigenschaft des Schattens wird an einem Beispiel erklärt: Wenn wir deutlicher und besser sehen wollen, halten wir die Hand an die Augenbrauen, damit der durch die Hand erzeugte Schatten die Sehkraft verstärkt. Die andere Eigenschaft des Schattens besteht darin, daß er den Lichtstrahl, der die Wärme mit sich führt, hindert und verbirgt (abscondit). Durch das Fernhalten der Wärme spendet er Kühle. Durch Aufhalten des Lichtes erzeugt schließlich der Schatten eine Verdunkelung (obscuritas). Diese bezieht Albertus allegorisch auf das Erkenntnisvermögen des Menschen (obscuritas visus animae nostrae). Den drei Eigenschaften des Schattens gemäß hat die „Kraft des Allerhöchsten" die Gottesmutter „beschattet". Das Licht wird hierbei mit der Gottheit [dettai) gleichgesetzt und der beschattete Körper, durch den die Menschen sich „dem unzugänglichen Licht" nähern können, auf Christus bezogen 23 . Alle Eigenschaften, die das Schattenphänomen auszeichnen (obiectum, colligens visum, refrigerans, obscurans), werden auf Maria angewandt, um auf diese Weise das Glaubensgeheimnis der Gottesmutterschaft verständlich zu machen. Im Kontext seiner Mariologie macht Albertus eine weitere naturwissenschaftlich-philosophische Digression über den Schatten (notabile de umbrd). In Anlehnung an die Schattenlehre von nicht näher bestimmten philosophi — wir können diese zweifelsfrei mit Calcidius (Comm. in Timaeum, c. 90) identifizieren — nennt er drei Arten von Schatten; er erläutert im einzelnen die Art und Weise ihrer Entstehung und er bestimmt sie jeweils im Hinblick auf ihr Wesen. Die erste Art ist der zylindrische Schatten (umbrae cylindroides), die zwei anderen species umbrarum sind der becherförmige und der kegelförmige

21 22 23

Ibid., p. 76 V. 6 - 7 , V. 1 1 - 1 2 . Ibid., v. 12 sqq. mit Anm. 16 im Quellenapp. Ibid., v. 2 7 - 2 8 : „Et secundum hasproprietates «virtus altìssimi obumbravit» gloriosae virgini.

est deitas ...".

Nam lux

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Schatten (u. calathoides, u. conoides)24. Der zylindrische Schatten wird dann erzeugt, wenn die Lichtquelle und ein ihr entgegengesetztes undurchsichtiges Objekt von gleicher Größe sind: „Si ergo (corpus obscurum et lumen) sunt aequalis quantitatis, tunc umbra generata dicitur cylindroides." Dabei wird auf das physikalisch-optische Gesetz der rektilinearen Projektion des Schattens, das diesem Prozeß zugrunde liegt, hingewiesen. Der becherförmige Schatten entsteht dann, wenn ein undurchsichtiger Gegenstand, welcher der Lichtquelle entgegenliegt, größer als diese ist: „Si vero corpus obscurum maius sit quam lumen, tunc umbra generata dicitur calathoides." Ist der undurchsichtige Gegenstand kleiner als die Lichtquelle, wird ein kegelförmiger Schatten erzeugt: „Si autem corpus obscurum minus est lumine, tunc umbra proprio nomine est dicta conoides, quia tunc umbra aliata iuxta lumen contrahitur in communi plus et plus, secundum quod distenditur a lumine." Alle drei Arten von Schatten erklären nach Albertus in allegorischbildlicher Weise (lypicè) das Geheimnis der „Beschattung" Mariens 25 . Diese in De natura boni dargelegte Theorie des Schattens ist für die Frühwerke Alberts einzigartig. Es sei hervorgehoben, daß sie neuplatonisch ist und daß sie im Dienst der Theologie steht. Die neuplatonische, explizit mit Calcidius verknüpfte Sehtheorie wird von Albertus in der Schrift De resurrectione für die Erklärung der Gotteschau des Menschen nach dem Tod in der Herrlichkeit (visto dos) adaptiert. Wie bei Plato, so wird auch hier angenommen, daß den Augen ein eigenes inneres Licht eignet und daß der Sehprozeß auf der Aussendung eines Strahls aus dem inneren Licht der Augen und auf der Vereinigung dieses Strahls mit dem Strahl des äußeren Lichtes beruht. Die im Feld des durch die Vereinigung beider Lichtstrahlen erzeugten kontinuierlichen Sehstrahls befindlichen Dinge werden gesehen 26 . Im gleichen Zusammenhang erläutert Albertus Elemente der Spiegelbildlehre und stellt sie ebenfalls in den Dienst der Gotteserkenntnis 27 . Die theologische Verwertbarkeit der hier dargelegten Gesetzmäßigkeiten einer neuplatonisch fundierten Perspektive hat ihre Grenzen, d. h. ihre Anwendung auf die unmittelbare Gotteschau des Menschen in der Herrlichkeit beruht im wesentlichen nur auf der Analogie 28 . Die Einschränkung der Möglichkeiten der Deutung von Glaubenswahrheiten mit Hilfe der Perspektive und der mathematisch-physikalischen Optik kommt mehrfach zum Ausdruck. So lehnt Albertus eine ihm bekannte Ansicht gewisser Gelehrter (quidam) ab, die behaupten, daß die Erneuerung der Welt vor dem Weltgericht 24

25 26 27 28

Albertus Magnus, ibid., p. 77 v. 16 sqq. Die unmittelbare Quelle des Albertus ist Calcidius, Comm. in Timaeum c. 90, ed. J. H. Waszink p. 141 v. 19 sqq. Albertus Magnus, 1. c. De resurrectione tr. 4 q. 1 a. 9 § 3, Ed. Colon. T. XXVI p. 330 v. 55 sqq. Ibid., p. 331 v. 5 sqq. Cf. ibid., v. 44 - 49: ,Jìt nota, quod non sic est in vistone aeterna sicut est in visione viae; in via enim praeter lumen, quod confortât potentiam visivam, oportet nos habere similitudinem, per quam videamus rem. Sed in patria videbimus sine similitudine et immediate rem sub lumine, quod succedit gratiis praedeterminatis ...".

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durch ein Feuer erfolgen wird, das durch die Reflexion der Lichtstrahlen von flachen, konkaven und konvexen sublimaren Körpern, welche für Lichtstrahlen undurchlässig sind, erzeugt werden wird. Mit den corpora inferiora solida plana et convexa, welche die Lichtstrahlen reflektieren und das Feuer erzeugen, sind Spiegel gemeint 29 . Als Grund für die Zurückweisung dieser Meinung wird vorgebracht, daß durch eine solche Reflexion die Feuersbrunst nicht in gleichem Maße an allen Orten der Welt gewährleistet werden kann, weil die Eigenschaften körperlicher Dinge eben nicht in gleicher Weise die Voraussetzungen eines Spiegels erfüllen können. Hier scheint ein Zeugnis für die Rezeption der optischen Lehre über die Brennspiegel (de speculis comburentibus) vorzuliegen, wie sie erst im 12. Jh. durch die Schriften zur Optik des Alhazen (De aspectibus, De speculis comburentibus), von Ps.-Alhazen (De crepusculis), Euklid (Optica), Ps.-Euküd (De speculis), Alkindi (De aspectibus) und Tideus (De speculis comburentibus bzw. De aspectibus), die vorwiegend aus dem arabischen ins Lateinische durch Gerhard von Cremona (gest. 1187) übersetzt worden sind 30 , bekannt wurde. Gehen wir bei der Sondierung weiterer Schriften Alberts im Hinblick auf die geometrische Perspektive bzw. die Optik wie bisher chronologisch — eine relative Chronologie der Werke Alberts ist im wesentlichen gesichert — vor, so schließen sich an De resurrectione zwei eng miteinander verknüpfte Werke an, die selbst vom Autor als eine zweiteilige Summe De creaturis konzipiert wurden, nämlich De IV coaequaevis und De homine 31 . In beiden Texten gibt es zu unserer Frage einige aufschlußreiche Exkurse (De IV coaequaevis) bzw. weitläufige Abhandlungen (De homine). In der ersten der beiden Schriften — De IV coaequaevis — legt Albertus in kurzen Digressionen im Rahmen seiner Engellehre die Theorie des Spiegels dar. Der Grund für die Einbeziehung der Lehre von der Perspektive war die in der griechischen Vätertradition und im besonderen bei Ps.-Dionysius Areopagita (De caelesti hierarchia, c. 3) beliebte Umschreibung des Engels mit dem Begriff des Spiegels und des Spiegelbildes32. Neben der lateinischen Form speculum benutzt Albertus für die Engel mehrfach den Spiegelbildbe29

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De resurrectione tr. 2 q. 10 a. 1, ed. cit., p. 290 v. 8 — 14: „Nec concedo, quod quidam dicunt quod ilk ignis educator per reflexiones radiorum ad corpora inferiora solida plana et concava et convexa, quia talis eductio ignis non est in omnibus locis aequaliter, sed abundat super corpora radiosa, et super alia non eduàt nisi calorem et quandoque debilem". Cf. D. C. Lindberg, Theories of Vision from al-Kindi to Kepler, 2 0 9 - 2 1 1 . Für zwei Teile einer Summa de creaturis spricht das Incipit von De IV coaequaevis (,j2uaeritur de creaturis. Et primo de creatione quaeritur; secundo de creaturis·. Paris, BN lat. 18127 f. 5ra; Ed. Paris. T. XXXIV p. 307) und das Explizit von De homine {„Et haec de creaturis dicta suffiàant"·. Ann Arbor 201 f. 104vb; Ed. Paris. T. X X X V p. 661b). Cf. Albertus Magnus, De IV coaequaevis tr. 4 q. 35 a. 1 (Paris, BN lat. 18127 f. 52vb; Ed. Paris. T. XXXIV p. 530a); a. 2 (f. 53ra; p. 531a). Für die lateinische, von Albertus benutzte Ubersetzung des Dionysius-Textes — es handelt sich um die Ubersetzung des Johannes Scotus Eriugena - cf. Albertus Magnus, De caelesü hierarchia c. 3, Ed. Colon. T. XXXVI p. 49 v. 75.

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griff in seiner griechischen, aus dem Corpus Dionysiacum entlehnten Wortform agalma33. Die von den Perspectivi übernommene Theorie des Spiegels stellt der Autor in einer Digression dar, welche mit folgender Frage eingeleitet wird 34 : „Iuxta hoc quaeritur iterum, quae sunt agalmata et specula durissima et munda, quae secundum Dionysium peifiàuntur in subditis?" Die Engel sind die agalmata und „hellsten, reinen Spiegel", weil der Intellekt der Engel durch empfangene Erleuchtung gereinigt und terminiert wird. Reinheit einerseits und Begrenztheit anderseits sind nach Albertus jene zwei Eigenschaften, die einen Spiegel konstituieren: Er muß auf der einen Seite die Eigenschaft von etwas Durchsichtigem, Reinem, Strahlendem, Farblosen aufweisen; auf seiner anderen Seite aber muß er die Eigenschaft von etwas Auslöschendem und Begrenzendem haben. Deshalb wird ein Spiegel aus strahlendem und reinen Glas hergestellt, sowie aus Blei, das die Durchsichtigkeit vom Glas von der Rückseite her terminiert und auslöscht: „notandum est, quod duplex natura perfectiva est speculi, scilicet perspicuum et radiosum, quod nullo colore coloratum est, et natura exstinctivi et terminantis in altera parte. Et ideo speculum perficitur de vitro puro radioso et plumbo exstinguente in parte altera"35. Diese Konstitutiven des Spiegels werden von Albertus theologisch adaptiert, indem sie auf den geschaffenen Intellekt der Engel Anwendung finden und so sein Wesen erklären. In einer weiteren Digression, die Albertus bei der Erklärung der dionysischen Bestimmung der Engel als divina lumina et divina specula macht, wird unterstrichen, daß diese Definition der Engel adäquat ist, sofern sie im Hinblick auf das Licht des tätigen Intellekts und den Habitus der Formen der intelligiblen Dinge vorgenommen wird: „dicitur lumina quantum ad lumen intellectus agentis, specula autem quantum ad habitus formarum rerum cognosäbilium"2'6. Mit dem hier verwendeten Formbegriff ist, wie aus den folgenden Ausführungen hervorgeht und sich beispielsweise auch in De homine zeigen wird, die forma speculi, das Spiegelbild, gemeint. Wichtig für unsere Frage ist nun die Erläuterung der physikalisch-geometrischen Voraussetzung der Erzeugung des Spiegelbildes, welche bei der Schilderung des Unterschieds zwischen einem geistigen Spiegel, welches der Engel ist, und einem physikalisch-materiellen Spiegel gegeben wird. Der materielle Spiegel erzeugt das Bild eines Objekts nur unter der Voraussetzung, daß ein Gegenstand sich aktuell und in direkter Entgegensetzung (perpendikulär) zum Spiegel befindet: „speculum corporeum non accipitformam nisi ex directopraesentialiter opposite"37. Die für das Spiegelbild festgelegten Voraussetzungen gelten auch für die Reflexion des Lichtes im Spiegel,

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34 35 36 37

Cf. A. Hiedl, Agalma bei Albert dem Großen, in: J. M ö l l e r - H . Kohlenberger (ed.), Virtus politica. Festgabe zum 75. Geburtstag von A. Hufnagel, Stuttgart—Bad Cannstatt 1974, 307-322. Albertus Magnus, De IV coaequaevis tr. 4 q. 32 a. 1 (f. 47vb; p. 509a). Ibid. (f. 47vb; p. 509b). Ibid., q. 60 a. 2 (f. 75ra; p. 636b). Ibid. (f. 79ra; p. 636b).

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•wie Albertus angesichts der Frage, ob Gestirne das Licht in der Weise eines Spiegels aufnehmen, konstatiert38. In noch größerem Umfang als in De resurrectione und in De IV coaequaevis werden die Modelle und Gesetze der geometrischen Perspektive - die Sehtheorien und die Spiegelbildlehre — in den bereits kritisch edierten Quaesdonen De propheda, De visione dei, De dotibus und De sensibus corporis gloriosi (Ed. Colon. T.XXV, 2) adaptiert, allerdings jetzt grundsätzlich nicht mehr mit der Extramissionslehre Piatos, sondern mit der Empfangstheorie des Aristoteles begründet. Die genannten und die übrigen Texte aus der Quaestionensammlung Alberts werden im Rahmen dieses kurzen Beitrags jedoch nicht analysiert, nicht zuletzt deshalb, weil sie nicht einmal im Rahmen der relativen Chronologie mit einiger Sicherheit datierbar sind und somit nicht ohne weiteres zu den Frühschriften — vielleicht mit der Ausnahme der Quaestio de prophetia — gerechnet werden können. Der eigentliche Ort der geometrischen Perspektive und Optik in den Frühwerken des Albertus Magnus ist, wie bereits mehrfach erwähnt, die Schrift De homine. Der optische Teil von De homine, insbesondere jener Textabschnitt, der in den Ausgaben von P. Jammy und A. Borgnet als Appendix zu der Quaestio 22 genannt wird, kann als die „Perspectiva" Alberts bewertet werden. Ein solches Verständnis jenes in sich als eine optische Abhandlung geschlossenen Textteils, der einen speziellen Beitrag zur physikalisch-geometrischen Optik und zur Physiologie des Sehprozesses liefert, scheint auch im Lichte der Angaben des alten Werkkataloges Alberts legitim zu sein39. In diesem Werk wird sie im Rahmen der von der aristotelischen Seelenlehre der Schrift De anima angeregten Untersuchung über den Gesichtssinn (De visu), d. h. das Vermögen der äußeren (optischen) Wahrnehmung (apprehensiva deforis) der sinnlichen Seele, welches jedem einzelnen Menschen eignet {sensus proprius), entwickelt. Dies geschieht bei der Bestimmung des Gesichtssinns an sich, seitens des Organs, seitens des Gegenstands und des Mediums der optischen Wahrnehmung, ferner bei der Erörterung der Frage nach dem Modus und dem Akt des Sehens. Zur Entfaltung der geometrischen Perspektive und der Lichtspekulation kommt es im Anschluß an die Frage des Gesichtssinns, wo speziell zwei Theorien der optischen Wahrnehmung eingehend behandelt werden — einerseits die sogenannte Emissionstheorie Piatos, wonach das Sehen sich im wesentlichen durch die Aussendung von Sehstrah-

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Ibid. q. 15 a. 1 (f. 31rb; p. 432a): „Praeterea quaeritur, utrum (stella ¡una) recipiat lumen ut speculum vel aliter. Si ut speculum, tunc non deberet proicere radios nisi super id quod perpendicularìter oppositum est et, hoc autem non videmus, quia luna illuminât ärcumquaque sicut et sol". Der alte Katalog der Werke des Albertus Magnus, der in doppelter Fassung erhalten ist — einerseits in der Tabula von Stams und bei Heinrich von Herford (Liber de rebus memorabilioribus sive chronicon) anderseits — nennt eine Schrift zur Perspektive. Cf. Β. Geyer, Der alte Katalog der Werke des hl. Albertus Magnus, in: Miscellanea Giovanni Mercati, II (Studi et Testi 122), Città del Vaticano 1946, 400sq. R. Ineichen, I.e., 57sq.

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len aus dem Auge vollzieht, und die aristotelische Empfangstheorie anderseits, derzufolge das Sehen durch die Veränderung (immutatio) des Sehorgans (das Auge) durch das Medium und des Mediums durch den optisch wahrnehmbaren Gegenstand erfolgt40. In diesem Zusammenhang erörtert Albertus Gegenstand und Methode der geometrischen Perspektive und bestimmt die Grundbegriffe der perspectiva, wie radius, lumen, lux, reflexio und refractio lurìs, color, diaphanum in ihrer Bedeutung. Ferner wird die Differenz zwischen lumen, lux, splendor, radius, radiositas und luminare ausgearbeitet. Die optischen Prozesse und Phänomene, wie die Reflexion in verschiedenen Arten von Spiegeln, das Spiegelbild sowie die physikalischen Voraussetzungen von Spiegel und Spiegelbild, aber auch die Bestimmung des Wesens des Spiegelbildes und die noctiluca nehmen in seinen Ausführungen einen breiten Raum ein. Die Erörterung über den Gesichtssinn auf Seiten des Organs konzentriert sich auf dessen Anatomie und auf die Physiologie des Sehprozesses. Es wird geklärt, ob das Auge in seiner Konsistenz ausschließlich eine feuchte und wasserreiche Substanz (humidum aquosum) oder vielmehr etwas Feuriges, Lichtvolles {igneum luminosum) ist. Diese Fragestellung markiert zugleich die Trennlinie zwischen den zwei gegensätzlichen Sehtheorien — auf der einen Seite die schon genannte Empfangsstheorie des Aristoteles und die Emissionstheorie Piatos anderseits. Beide Richtungen hatten bis ins 13. Jh. ihre zahlreichen Verfechter41. Der Auffassung Piatos und seiner Anhänger zufolge — namentlich werden Calcidius, Galen, Gregorius Nyssenus (= Nemesius von Emesa) und Augustinus genannt — wird das Auge in seiner Konsistenz durch Feuer oder Licht beherrscht {in oculo dominetur ignis vel lumen). Aristoteles und seine Interpreten Avicenna und Averroes nehmen dagegen das Wasser als die Grundsubstanz des Auges an. Im ersten Fall beruht der Sehprozeß auf der Aussendung von Sehstrahlen vom Auge. Im letzteren Fall erklärt sich das Sehen durch die Aufnahme der visuellen Form durch das Medium und das Auge. Albertus selbst vertritt die von Aristoteles begründete Position: Die Grundsubstanz des Auges in bezug auf jenen Teil, in dem die Einprägung der visuellen Form erfolgt, ist Wasser. Die weitläufigen Ausführungen zur Physiologie des Gesichtssinns und des Sehvorgangs enthalten wichtige Aussagen zur Perspektive, die hier nur kurz gestreift werden können. Albertus steht den von Plato und seiner Anhängerschaft entwickelten Theorien des Sehprozesses und der geometrischen Perspektive kritisch ge40

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Albertus Magnus, De homine tr. 1 „Appendix ad quaesrionem 22", (Oxford, Merton Coll. Libr. 0.1.7. [Coxe 283] f. 68rb-70va; Ed. Paris. T. XXXV p. 215a-228b). In der zuvor zitierten Hs. Ann Arbor 201, die als Leithandschrift bei der Erstellung des kritischen Textes von De homine dient und deshalb hier zur Korrektur der unkritischen Ausgabe von Borgnet benutzt wird, fehlt der „Appendix". Näheres zu den beiden Sehtheorien cf. L. Sturlese, Art. Optik, in: Lexikon des Mittelalters, VI (1993), 1 4 1 9 - 2 1 . Hierzu und zum folgenden cf. De homine q. 20 (Ann Arbor 201 f. 26vasqq.; Ed. Paris T. X X X V p. 168a sqq.).

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genüber. Er lehnt die Ansicht der zu dieser Richtung zuzurechnenden geometrae aspectivi — so werden von ihm gewöhnlich die Verfechter der geometrischen Perspektive bezeichnet 42 —, daß die Sehstrahlen die Natur eines Körpers haben und daß sie vom Auge ausgesendet werden, ab. Nach seiner Auffassung sind die Sehstrahlen „die Veränderungen, welche gemäß der rektilinearen Verbreitung im durchsichtigen Medium erfolgen": „diämus radios esse immutationes secundum rectas lineas in diaphano facías'