Ratsbürgerschaft und Residenz: Untersuchungen zu Berliner Ratsfamilien, Heiratskreisen und sozialen Wandlungen im 17. Jahrhundert [Reprint 2012 ed.] 9783110880199, 9783110171006

An account of the upper classes and parts of the middle classes in 17th century Berlin and Cölln in the context of the o

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Ratsbürgerschaft und Residenz: Untersuchungen zu Berliner Ratsfamilien, Heiratskreisen und sozialen Wandlungen im 17. Jahrhundert [Reprint 2012 ed.]
 9783110880199, 9783110171006

Table of contents :
VORWORT des Autors
EINLEITUNG
Forschungsstand und Fragestellung
Forschungstand
Fragestellung
Leichenpredigten als Quelle der Sozial- und Stadtgeschichte
Bestandteile der Leichenpredigt
Leichenpredigten als Oberschichtenphänomen
Motivation der Leichenpredigten
Glaubwürdigkeit der Leichenpredigten
Leichenpredigten auf Berliner und Cöllner Bürger
Quellenbestände und deren Eingrenzung
Räumliche Eingrenzung auf Berlin und Cölln
Inhaltliche Eingrenzung: Der Kreis der Probanden
Zeitliche Eingrenzung: Das 17. Jahrhundert
Leichenpredigtenbestände
Ermittelte Leichenpredigten auf Berliner und Cöllner
ERSTES KAPITEL: Ratsfamilien Berlins und Cöllns
Mittelalterliche Familien bis zum Beginn der Neuzeit
Frühmoderne Staatlichkeit und Stadtherrschaft
Familie Blankenfelde
Familien Wins und Matthias
Untergang der älteren und Aufstieg neuerer Familien
Familien Weiler und Krappe
Die Nachkommenschaft der Familie Sturm
Geschlossene Heiratskreise des 17. Jahrhunderts
Der Heiratskreis der kurfürstlich-brandenburgischen Kammergerichtsadvokaten
Familie Pasche
Familie Brunnemann
Familien Moritz und Reichart
Familie Krause
Familie Tieffenbach
Familie Müller
Die Heiratskreise der Familien Wedigen und Wernicke
Familie Wedigen
Familie Wernicke
Die Heiratskreise der Familien Sturm und Reetz
Familie Sturm
Familie Reetz
Die Heiratskreise der Reformierten
Familie Neuhaus
Familie Striepe
Familie Schardius
Exkurs: Familie Lindholtz
ZWEITES KAPITEL: Magistratsmitglieder Berlins und Cöllns
Horizontale Mobilität
Soziale Herkunft
Bildungsstätten und Reiseziele
Schule und Studium
Reisen
Exkurs: Titulaturen
Einzelne Persönlichkeiten
Aufstieg aus einfachsten Verhältnissen
Martin Engel (1628–1693)
Andreas Manitius (1650–1701)
Martin Friedrich Elerdt (1644–1693)
Karrieren in geebneten Bahnen
Joachim Ernst Seidel (1632–1686)
Exkurs: Sozialtopographie
Dr. med. Christoph Schmidt (1631–1711)
Andreas Weber (1605–1694)
Schwierigkeiten des Amtes
Jeremias Eger (1593–1654)
Christian Straßburg (1619–1676)
Friedrich Blechschmid (1605–1656)
DRITTES KAPITEL: Berlin und Cölln im 17. Jahrhundert
Die Residenz im Wandel
Die Menschen im Wandel
ANHANG
Ahnentafeln
Verwandtschaftstafeln
QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS
Ungedruckte Quellen
Gedruckte Quellen
Leichenpredigten- und Ahnenlistenverzeichnis
Literaturverzeichnis
ORTSREGISTER
PERSONENREGISTER

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Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin Band 101

W DE

G_ 2002 Walter de Gruyter · Berlin · New York

Christian Schmitz

Ratsbürgerschaft und Residenz Untersuchungen zu Berliner Ratsfamilien, Heiratskreisen und sozialen Wandlungen im 17. Jahrhundert

w DE

G 2002 Walter de Gruyter · Berlin · New York

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufhahme Schmitz, Christian: Ratsbürgerschaft und Residenz : Untersuchungen zu Berliner Ratsfamilien, Heiratskreisen und sozialen Wandlungen im 17. Jahrhundert / Christian Schmitz. - Berlin ; New York : de Gruyter, 2002 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin ; Bd. 101) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1999 ISBN 3-11-017100-7

© Copyright 2001 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen

Meiner Frau und meinen Kindern

VORWORT Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 1999 vom Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften/Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen und für den Druck noch in einigen Punkten überarbeitet und ergänzt. Es ist mir ein großes Bedürfnis, denen zu danken, die mir halfen. An erster Stelle möchte ich Herrn Prof. Dr. Gerd Heinrich (Berlin) nennen, der mich zur Bearbeitung des Themas anregte und die Untersuchung mit Geduld, Hilfsbereitschaft und gutem Rat förderte. Sodann war es Frau Prof. Dr. Adelheid Simsch ("f") (Berlin), die mir immer mit ihrem freundlichen Wesen vertrauensvoll zur Seite stand. Herrn Prof. Dr. Peter-Michael Hahn (Potsdam) danke ich für seine Selbstlosigkeit, mit der er zum erfolgreichen Gelingen des Promotionsverfahrens beitrug. Für wichtige, weiterführende Hinweise und Ratschläge danke ich Herrn Dr. Peter P. Rohrlach von der Berliner Stadtbibliothek und Herrn Dr. Rudolf Lenz sowie Frau Dr. Eva-Maria Dickhaut von der Marburger Forschungsstelle für Personalschriften. Für die Aufnahme in die Reihe »Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin« danke ich dem Vorsitzenden der Historischen Kommission zu Berlin, Herrn Prof. Dr. Wolfgang Ribbe.

Berlin, im Mai 2001

Christian Schmitz

INHALT VORWORT des Autors

EINLEITUNG

Forschungsstand und Fragestellung Forschungstand Fragestellung Leichenpredigten als Quelle der Sozial- und Stadtgeschichte Bestandteile der Leichenpredigt Leichenpredigten als Oberschichtenphänomen Motivation der Leichenpredigten Glaubwürdigkeit der Leichenpredigten Leichenpredigten auf Berliner und Cöllner Bürger Quellenbestände und deren Eingrenzung Räumliche Eingrenzung auf Berlin und Cölln Inhaltliche Eingrenzung: Der Kreis der Probanden Zeitliche Eingrenzung: Das 17. Jahrhundert Leichenpredigtenbestände Ermittelte Leichenpredigten auf Berliner und Cöllner

VII

L

1 1 9 15 15 20 24 26 29 29 29 32 33 34 39

ERSTES KAPITEL: Ratsfamilien Berlins und Cöllns 43 Mittelalterliche Familien bis zum Beginn der Neuzeit 43 Frühmoderne Staatlichkeit und Stadtherrschaft 43 Familie Blankenfelde 45 Familien Wins und Matthias 47 Untergang der älteren und Aufstieg neuerer Familien 49 Familien Weiler und Krappe 51 Die Nachkommenschaft der Familie Sturm 53 Geschlossene Heiratskreise des 17. Jahrhunderts 55 Der Heiratskreis der kurfürstlich-brandenburgischen Kammergerichtsadvokaten 65 Familie Pasche 65 Familie Brunnemann 69 Familien Moritz und Reichart 73 Familie Krause 77 Familie Tieffenbach 80 Familie Müller 87 Die Heiratskreise der Familien Wedigen und Wernicke 97 Familie Wedigen 97 Familie Wernicke 102

Inhalt

Χ

Die Heiratskreise der Familien Sturm und Reetz Familie Sturm Familie Reetz Die Heiratskreise der Reformierten Familie Neuhaus Familie Striepe Familie Schardius Exkurs: Familie Lindholtz

105 105 106 113 114 120 124 131

ZWEITES KAPITEL: Magistratsmitglieder Berlins und Cöllns Horizontale Mobilität Soziale Herkunft Bildungsstätten und Reiseziele Schule und Studium Reisen Exkurs: Titulaturen Einzelne Persönlichkeiten Aufstieg aus einfachsten Verhältnissen Martin Engel (1628-1693) Andreas Manitius (1650-1701) Martin Friedrich Elerdt (1644-1693) Karrieren in geebneten Bahnen Joachim Ernst Seidel (1632-1686) Exkurs: Sozialtopographie Dr. med. Christoph Schmidt (1631-1711) Andreas Weber (1605-1694) Schwierigkeiten des Amtes Jeremias Eger (1593-1654) Christian Straßburg (1619-1676) Friedrich Blechschmid (1605-1656)

137 137 150 168 168 181 183 186 187 187 189 192 194 194 198 202 204 206 206 209 213

DRITTES KAPITEL: Berlin und Cölln im 17. Jahrhundert Die Residenz im Wandel Die Menschen im Wandel

218 218 238

ANHANG

Ahnentafeln Verwandtschaftstafeln QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS

Ungedruckte Quellen Gedruckte Quellen Leichenpredigten- und Ahnenlistenverzeichnis Literaturverzeichnis

253

255 313 327

327 327 328 331

ORTSREGISTER

353

PERSONENREGISTER

357

EINLEITUNG Forschungsstand und Fragestellung Forschungsstand Stadt- und Familiengeschichte hängen in Alteuropa eng miteinander zusammen. Die Berlingeschichtsforschung hat auf diesem Gebiet viel geleistet. Dennoch gibt es Desiderate. So wies vor erst wenigen Jahren Gerd Heinrich auf die landesgeschichtlichen Arbeiten und Aufgaben in Berlin-Brandenburg hin. 1 Die Zukunftsaufgaben der ereignis- und strukturgeschichtlich ungewöhnlich verdichteten Historischen Stätte oder Geschichtslandschaft Berlins und Brandenburgs eröffneten für Sozial- und Familiengeschichte ein weites Forschungspanorama. Eine Geschichte der bürgerlichen Führungsschichten, der älteren Ratsfamilien als Triebkräfte der Modernisierung und des zivilisatorischen Fortschritts von nicht unerheblicher Bedeutung habe Priorität. Bei Biographien und Lebensbildern fehlten seit langem unter anderem Stammtafelwerke der berühmten Familien Berlins und der Mark. 2 Ahnlich fordert Etienne Frangois eine Analyse bürgerlicher Dynastien oder klar umrissener sozialer Gruppen der städtischen Eliten in Deutschland. 3 Es sei zu fragen, ob der Aufstieg der Juristen einer teilweisen Erneuerung der alten städtischen Oligarchien und einem Prozeß der Ablösung durch neue Schichten entsprach oder ob dieser die Folge einer Änderung im Selbstverständnis der alten städtischen Oligarchie war, die

1 Gerd Heinrich, Landesgeschichtliche Arbeiten und Aufgaben in Β erlin-Brandenburg. Rückblicke und Ausblicke, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 39 (1990), S. 1—42. 2 Heinrich, Landesgeschichtliche Arbeiten, S. 27f. 3 Etienne Franiois, Städtische Eliten in Deutschland zwischen 1650 und 1800. Einige Beispiele, Thesen und Fragen, in: Heinz Schilling/Herman Diederiks (Hrsg.), Bürgerliche Eliten in den Niederlanden und in Nordwestdeutschland. Studien zur Sozialgeschichte des europäischen Bürgertums im Mittelalter und in der Neuzeit (= Städteforschung, Rh. A: Darstellungen, Bd. 23), Köln und Wien 1985, S. 65-83, bes. S. 83.

2

Einleitung

in der Erwerbung einer akademisch abgesicherten Kompetenz für ihr soziales Ansehen eine neue Legitimation suchte, wobei sich Sozialstruktur und innere Zusammensetzung der Eliten nicht änderten.4 So verbinden sich Fragen der Familien- und Stadtgeschichtsschreibung nach dem Herkommen, der Heiratspolitik, der Professionalisierung führender städtischer Familien der Oberschicht mit denen nach ihrer gesellschaftlichen Beweglichkeit. Schon 1928 fragte Hermann Mitgau, welche empirisch nachweisbaren Momente ... zum Aufstieg und zum Verfall der Familien als solchen führten. 5 Und noch 1982 stellte Ingrid Batori fest, daß es wenige Detailuntersuchungen zur sozialen Mobilität in Alteuropa gäbe.6 Es sind in den letzten Jahren einige Untersuchungen hierzu erschienen. Einen breiten Uber- und Einblick bietet Winfried Schulze mit einer Aufsatzsammlung zur ständischen Gesellschaft und sozialen Mobilität. 7 Kontinuität und Wandel innerhalb der politischen Elite Hannovers im 17. Jahrhundert beschrieb Siegfried Müller 1988.8 Den Fragenkreis des innerstädtischen politischen Kräftespiels und Politikschemas der deutschen Stadt des 17. Jahrhunderts untersuchte Christopher R. Friedrichs.9 Die soziale Mobilität eines der deutschen Länder, Sachsens, behandelte Volkmar Weiss.10 Für das Berlin der Frühen Neuzeit gibt es eine derartige Untersuchung nicht. Gut untersucht ist dagegen das Verhältnis zwischen der schwindenden Autonomie märkischer Städte und der im Zusammenhang mit dem Francois, Städtische Eliten, S. 75. Hermann Mitgau, Familienschicksal und soziale Rangordnung. Untersuchungen über den sozialen Aufstieg und Abstieg (= Flugschriften der Zentralstelle für Deutsche Personen- und Familiengeschichte, H. 10), Leipzig 1928, S. 8. 6 Vgl. Ingrid Bätori, Soziale Schichtung und soziale Mobilität in der Gesellschaft Alteuropas: Methodische und theoretische Probleme, in: Ilja Mieck (Hrsg.), Soziale Schichtung und soziale Mobilität in der Gesellschaft Alteuropas. Protokoll eines internationalen Expertengesprächs im Hause der Historischen Kommission zu Berlin am 1. und 2. November 1982 (= Historische Kommission zu Berlin, Informationen, Beih. 5), Berlin 1984, S. 8-28, bes. S. 18. 7 Vgl. Winfried Schulze (Hrsg.), Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 12), München 1988. 8 Vgl. Siegfried Müller, Kontinuität und Wandel innerhalb der politischen Elite Hannovers im 17. Jahrhundert, in: Kersten Krüger (Hrsg.), Europäische Städte im Zeitalter des Barock. Gestalt — Kultur — Sozialgefüge, Köln und Wien 1988, S. 223-269. 9 Vgl. Christopher R. Friedrichs, Politik und Sozialstruktur in der deutschen Stadt des 17. Jahrhunderts, in: Georg Schmidt (Hrsg.), Stände und Gesellschaft im Alten Reich (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte, Beih. 29), Stuttgart 1989, S. 151-170. 1 0 Vgl. Volkmar Weiss, Bevölkerung und soziale Mobilität. Sachsen 1550-1880, Berlin 1993. 4

5

Forschungsstand und Fragestellung

3

reichsweiten Territorialisierungsprozeß sich etablierenden und erstarkenden hohenzollernschen Landesherrschaft. Die ältere Forschung Otto Hintzes, Gustav Schmollers und der meisten ihrer Schüler sah das Haus Hohenzollern im 17. und 18. Jahrhundert einen Kampf um die Machtn mit den Ständen des entstehenden brandenburgisch-preußischen Gesamtstaates austragen, somit auch mit einer zerfallenden Oligarchie12 der Städte. Es unterwarf sich die an ihrer nachmittelalterlichen Autonomie krankenden Städte mit den Mitteln des absoluten Machtstaates und eines zielgerichteten Machtwillens. Am Ende dieses Gesundungsprozesses waren die Voraussetzungen geschaffen für Reformen, Fortschritt und Modernität des 19. Jahrhunderts. Die neuere Forschung betrachtet das Verhältnis zwischen Stadt und Staat differenzierter. Zu Recht stellte auch Wolfgang Mleczkowski nicht nur für das 15. und 16. Jahrhundert fest, daß kein Landesfürst der H o henzollern-Dynastie ein Städtefreund gewesen sei. 13 Doch waren, wie Gerd Heinrich betonte, die Städte trotz oder besser dank der landesherrlichen Eingriffe in die brandenburgisch-preußischen Stadtverfassungen seit dem Dreißigjährigen Kriege eher Nutznießer einer anfänglich hart

durchgreifenden, auch fehlgreifenden, dann einer kontinuierlich-pragmatischen Reformpolitik14, denn Objekte von Aufsicht und Reform, von Besteuerung und Unterdrückung^. Ein Kernproblem der Forschung berühren Richard Dietrich und Peter-Michael Hahn, wenn sie davon handeln, daß der landesherrliche Hof einerseits enge Beziehungen zur städtischen Bevölkerung der Residenzstädte Berlin und Cölln unterhielt, daß andererseits die juristisch gebildeten Fachbeamten das alte Patriziat verdrängten. 16 Ebenso förderte das Konnubium zwischen alteingessenen Ratsfamilien und landesherrlicher Hofgesellschaft einesteils die Integration der Städte in den TerritorialO t t o Hintze, Die Hohenzollern und ihr Werk, 5. Aufl., Berlin 1915, S. 215. Gustav Schmoller, Deutsches Städtewesen in älterer Zeit (= Bonner Staatswissenschaftliche Untersuchungen, H . 5), Bonn und Leipzig 1922, S. 302. 11

12

1 3 Vgl. Wolfgang Mleczkowski, Zum politischen und sozialen Wandel Führungsschichten in Brandenburg im 15. und 16. Jahrhundert, in: Jahrbuch denburgische Landesgeschichte 26 (1975), S. 8 9 - 1 1 8 , bes. und Zitat S. 94.

städtischer für bran-

1 4 Gerd Heinrich, Staatsaufsicht und Stadtfreiheit in Brandenburg-Preußen unter dem Absolutismus (1660-1806), in: Wilhelm Rausch (Hrsg.), Die Städte Mitteleuropas im 17. und 18. Jahrhundert (= Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas, Bd. 5), Linz 1981, S. 1 5 5 - 1 7 2 , Zitat S. 168.

Heinrich, Staatsaufsicht und Stadtfreiheit, S. 155. Vgl. Richard Dietrich, Die Städte Brandenburgs im 16. Jahrhundert, in: Wilhelm Rausch (Hrsg.), Die Stadt an der Schwelle zur Neuzeit (= Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas, Bd. 4), Linz 1980, S. 1 5 3 - 1 9 2 , bes. S. 178f. 15

16

4

Einleitung

Staat der Frühen Neuzeit, wie es andernteils die landesherrliche Verwaltung stabilisierte. 17 Die heutige Stadtgeschichtsschreibung der Frühen Neuzeit geht also nicht mehr allein von der Prämisse städtischen Niedergangs und Verfalls, aufgefangen vom regulierenden absoluten Staat, aus, sondern auch vom Nichtabsolutistischen im Absolutismus^. Heinz Schilling verweist in die-

sem Zusammenhang auf die im Kern ungebrochene Vitalität der gesellschaftlichen Kräfte, das heißt auf die alteuropäische Symbiose staatlichzentralistischer und kommunal-regionaler Elemente19. Es habe eine Uminterpretation, Anpassung und Einfügung der traditionellen Ratsverfassung städtischer Selbstverwaltung in das neue, territoriale Regierungsund Verwaltungssystem des frühmodernen Staates stattgefunden. 20 Für das Berlin des 15. und 16. Jahrhunderts, wie dargestellt, recht weitgehend untersucht, ist diese These für die Residenz des 17. Jahrhunderts zu überprüfen. 21 Auf das 18. Jahrhundert ist jener Forschungsansatz kaum mehr anwendbar. Es hatte in Brandenburg-Preußen bereits im großen und ganzen mit den spätmittelalterlichen Traditionen seines Städtewesens gebrochen, die Stadt staatlicherseits stärker, wenngleich in der Verfassungswirklichkeit nicht vollständig, einbezogen. Die Frage stellt sich, auf welche Voruntersuchungen zurückgegriffen werden kann. Zuvörderst sind hier die »Vermischten Schriften« der ' 7 Vgl. Peter-Michael Hahn, Landesherrliches Amt und Stadtbürgertum in Brandenburg im 16. Jahrhundert, in: Ilja Mieck (Hrsg.), Amterhandel im Spätmittelalter und im 16. Jahrhundert. Referate eines internationalen Colloquiums in Berlin vom 1. bis 3. Mai 1980. Studien aus dem Forschungsprojektschwerpunkt »Soziale Mobilität im frühmodernen Staat: Bürgertum und Amterwesen« am Fachbereich Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin, Bd. 3 (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 45), Berlin 1984, S. 252-274, bes. S. 256 und S. 270. 1 8 Gerhard Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 55 (1968), S. 329-347, Zitat S. 333; auch in: Ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, S. 179-197, ZitatS. 183. 1 9 Heinz Schilling, Stadt und frühmoderner Territorialstaat: Stadtrepublikanismus versus Fürstensouveränität. Die politische Kultur des deutschen Stadtbürgertums in der Konfrontation mit dem frühmodemen Staatsprinzip, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Recht, Verfassung und Verwaltung in der frühneuzeitlichen Stadt (= Städteforschung, Rh. A: Darstellungen, Bd. 31), Köln und Wien 1991, S. 19-39, Zitat S. 21. 2 0 Vgl. Heinz Schilling, Die Stadt in der frühen Neuzeit (= Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 24), München 1993, S. 46. 2 1 Für die frühneuzeitlichen Mediatstädte des kurmärkischen Adels vgl. zuletzt Frank Göse, Zwischen adliger Herrschaft und städtischer Freiheit. Zur Geschichte kurmärkischer adliger Mediatstädte in der Frühen Neuzeit, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 47 (1996), S. 55-85.

Forschungsstand und Fragestellung

5

»Berlinischen Chronik« zu nennen. Der die Berliner Geschlechter enthaltende Teil behandelt die Familien derer von Blankenfelde, Reiche, Stroband, Matthias, Tempelhof, Boytin, Grieben, von Wins und von Rathenow. Die von C. Brecht verfaßten Artikel erzählen die Geschichten dieser bekanntesten Familien von ihrem frühesten Auftauchen in der Mark sowie in Berlin und Cölln im hohen Mittelalter, bis sie sich meist im 17. Jahrhundert aus der Geschichte verlieren. 22 Während diese erste große Schrift über die führenden Familien Berlins und Cöllns im Spätmittelalter und zu Beginn der Neuzeit noch nicht viel mehr leistet, als Familienchroniken aneinanderzureihen, ordnet das Standardwerk von Rachel, Papritz und Wallich über die Berliner Großkaufleute und Kapitalisten diese bereits in einen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Rahmen ein, analysiert und interpretiert, erklärt die Zusammenhänge. 23 Auch hier geht es im ersten Band, der die Zeit bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges behandelt, vorwiegend um die Familien Blankenfelde, Reiche, Grieben, Tempelhof, ferner Lindholz und auch Weiler, Krappe und Engel. Der zweite Band der Zeit des Merkantilismus zwischen 1648 und 1806 kennt bezeichnenderweise kaum noch im Handel tätige Familien, geschweige denn Dynastien, statt dessen im Grunde nur noch einzelne Persönlichkeiten ohne familiäre Verwurzelung oder Verästelung in der Residenz — ein Indiz dafür, daß es in dieser Zeit zu Veränderungen in den familialen Strukturen der Doppelstadt gekommen sein muß. Von nicht unerheblichem Quellenwert für die Zeit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sind in diesem Zusammenhang die chronikalischen Nachrichten des gebildeten Berliner Bürgers Christian Wendland, der, wie Ernst Fidicin feststellte, ein fleißiger Beobachter gewesen zu sein scheint. 24 Zahlreiche Mitteilungen über alltägliche Begebenheiten vermitteln einen Eindruck vom Leben in der Stadt, so wie von Groß und Klein berichtet wird, oder der Roggenpreis Auskunft gibt vom wirtschaftlichen Auf und Ab der Zeit. In ganz ähnlichem Sinne konnte noch Ferdinand Pusthius heute längst verschollene Quellen benutzen und sei-

2 2 Vgl. Berlinische Chronik. Vermischte Schriften im Anschlüsse an die Berlinische Chronik und an das Urkundenhuch, hrsg. von dem Verein für die Geschichte Berlins, Bd. 2, Berlin 1888, fol. 2-78. 2 3 Hugo Rachel/Johannes Papritz/Paul Wallich, Berliner Großkaufleute und Kapitalisten (= Veröffentlichungen des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg), 2 Bde, 1. Aufl., Berlin 1934 und 1938, neu hrsg., erg. und bibliograph. erw. von Johannes Schultze/Henry C. Wallich/Gerd Heinrich, Berlin 1967. 24 Die Wendland'sche Chronik von 1648-1701, in: Schriften des Vereins für die Geschichte der Stadt Berlin 1 (1865), Η. 1, S. 45-104, Zitat S. 46.

6

Einleitung

ne Schrift mit dem Titel »Chronicon Berolinense« verfassen, die mit dem Jahre 1699 abschließt.25 Uber Bürgermeister und Ratsherren aus der Zeit nach dem Verschwinden jener erwähnten Familien, die noch im 16. Jahrhundert vielfach diese Posten besetzt hatten, ist wenig bekannt. Verdienstvoll sind die Arbeiten Peter von Gebhardts um die Bürgerbücher von Berlin und Cölln an der Spree. Doch spärlich sind die Nachrichten über die Bürgermeister von 1575-1720 oder ... über die Ratsherrn von 1575-1705li'. Sie berichten selten mehr als über das Eides- und Todesdatum der betreffenden Personen. Auch Arbeiten aus neuerer Zeit von Kurt Schräder27 oder aus neuester Zeit von Cornelius C. Goeters 28 führen kaum darüber hinaus. Schräders Ausführungen über die soziale Herkunft der Mitglieder des Magistrats in seiner grundlegenden Arbeit über die Verwaltung Berlins bleiben, da in einem Exkurs behandelt, an der Oberfläche. 29 Und Goeters' »Chronologie der Berliner Stadtoberhäupter« erhebt nicht den Anspruch, mehr zu sein als eine Übersicht. 30 Andere Kreise können als durchaus besser untersucht gelten. So ist von der älteren Forschung Julius Heidemann mit seiner Geschichte des Grauen Klosters zu Berlin zu nennen.31 Ausführlich sind seine Lebens25 Chronicon Berolinense continens res Berolini actas ab a[nno] 1307. vsque ad «[nno] 1699, Acced.it Series consulum Berolinensium, in: Schriften des Vereins für die Geschichte der Stadt Berlin 4 (1870), S. 1-56. 26 Das älteste Berliner Bürgerbuch 1453-1700 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin, Bd. 1; Quellen und Forschungen zur Geschichte Berlins, Bd. 1), hrsg. von Peter von Gebhardt [künftig zitiert: Gebhardt, Berliner Bürgerbuch], Berlin 1927, S. 5-10 und S. 11-18. S. auch Die Bürgerbücher von Cölln an der Spree 1508-1611 und 1689-1709 und Die chronikalischen Nachrichten des ältesten Cöllner Bürgerbuches 1542-1610 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin, Bd. 1; Quellen und Forschungen zur Geschichte Berlins, Bd. 3), hrsg. von Peter von Gebhardt [künftig zitiert: Gebhardt, Cöllner Bürgerbücher], Berlin 1930. 2 7 Kurt Schräder, Die Verwaltung Berlins von der Residenzstadt des Kurfürsten Friedrich Wilhelm bis zur Reichshauptstadt. Unter besonderer Berücksichtigung der Stellung der Stadtverwaltung zu den oberen preußischen Staatsbehörden und mit einem Abriß der Behördengeschichte der Berliner Regierung, [Masch.-schr.] Diss., (Berlin/Ost 1963). 2 8 Cornelius C. Goeters, Chronologie der Berliner Stadtoberhäupter und ihrer Stellvertreter (1294-1990), in: Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Stadtoberhäupter. Biographien Berliner Bürgermeister im 19. und 20. Jahrhundert (= Berlinische Lebensbilder, Bd. 7), Berlin 1992, S. 623-669. 2 9 Vgl. Schräder, Die Verwaltung Berlins, S. 119-163. 3 0 Vgl. Goeters, Chronologie der Berliner Stadtoberhäupter, S. 623. 3 1 Vgl. Julius Heidemann, Geschichte des Grauen Klosters zu Berlin, Berlin 1874.

Forschungsstand und Fragestellung

7

Beschreibungen der Lehrer jener Schule, wenngleich auch sie sich nur aneinanderreihen und weniger die Zusammenhänge zu erhellen versuchen. Dennoch ist seine Arbeit für die Geschichte der Bildung und der gebildeten Bürger Berlins und Cöllns nach wie vor von hohem Wert. Akribisch widmete sich in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts der Neuköllner Pfarrer Otto Fischer den Pfarrern der Mark Brandenburg. Seine Arbeiten über die märkischen Familien, die über Generationen Pfarrer stellten, sowie das von ihm bearbeitete Pfarrerbuch für die Mark Brandenburg sind zu unentbehrlichen Nachschlagewerken der brandenburgischen Landesgeschichte geworden. 32 Letzteres enthält alle wichtigen Angaben zu den Gemeinden einerseits, wie zu den Geistlichen seit der Reformation andererseits. Eine der nach wie vor wichtigsten Arbeiten über eine Elite der brandenburgischen Residenz des 17. Jahrhunderts ist die von Hans Saring über die Mitglieder des Kammergerichts zu Berlin unter dem Großen Kurfürsten. 33 Hier wird deutlich, was es mit dem Aufstieg der Juristen im frühmodernen Territorialstaat der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf sich hat. Aus den zahlreichen Lebensläufen ergibt sich die von Fran§ois gestellte Frage, ob es sich um alte Eliten handelte, die sich eine neue — durch ein Jurastudium fundierte — Legitimation verschafften oder ob ältere Führungsschichten durch neuere abgelöst wurden. Denn die familial-strukturelle Verbindung zwischen dem Kammergericht und den Ratsherrn Berlins und Cöllns ist unübersehbar. Doch so wie Saring berechtigterweise die Räte des Kammergerichts in den Mittelpunkt seiner Untersuchung stellte und Verbindungen zur Residenz aufzeigte, so fehlt eine Erforschung der Ratsfamilien, die die Verflechtungen zu Kammergerichts- und anderen Kreisen aufzeigt. Ähnliches gilt für die Geistlichkeit. Der Beitrag von Rudolf von Thadden über die brandenburgisch-preußischen Hofprediger des 17. und 18. Jahrhunderts geht über das hinaus, was Otto Fischer für die sowohl lutherischen als auch reformierten Pfarrer geleistet hat. 34 Durch ihr Bekenntnis blieb die Gesellschaft der Hofprediger und ihrer Familien in ih32 Vgl. Otto Fischer, Märkische Pfarrergeschlechter, in: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte 21 (1926), S. 22-58 und ders. (Bearb.), Evangelisches Pfarrerbuch für die Mark Brandenburg seit der Reformation, hrsg. vom Brandenburgischen

Provinzialsynodalverband, Bd. 1-2, 2, Berlin 1941. 33 Vgl. Hans Saring, Die Mitglieder des Kammergerichts zu Berlin unter dem Großen Kurfürsten, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 54

(1943), S. 6 9 - 1 1 4 und S. 217-256. 34

Vgl. Rudolf von Thadden, Die brandenburgisch-preußischen

17. und 18. Jahrhundert

Hofprediger

(= Arbeiten zur Kirchengeschichte, Bd. 32), Berlin 1959.

im

δ

Einleitung

rer Heiratspolitik auf die reformierten Kreise der Residenz beschränkt. Dadurch, daß letztere jedoch nicht nur bei Hofe, sondern auch in zwar beschränktem, aber wachsendem Maße Einfluß in den Räten von Berlin und Cölln gewannen, unterhielten auch die Hofprediger Kontakte zu den führenden Familien der Residenz. So läßt sich das Bisherige dahingehend zusammenfassen, daß alle diese genannten Berufsgruppen mehr oder weniger in konnubialen Verbindungen mit den alten und neuen Familien Berlins und Cöllns im 17. Jahrhundert standen. Mit Juristen, Pfarrern und Lehrern können die wichtigsten als zumindest ansatzweise untersucht gelten. Gleiches gilt für die älteren Familien der Kauf- und Handelsherrn von Berlin und Cölln bis an die Schwelle des Dreißigjährigen Krieges und das sie berührende Verhältnis von Stadtfreiheit und Landesherrschaft. Wie schon mehrfach angedeutet gibt es aber für den umgekehrten Fall der familialen Beziehungen jener älteren, aus der Berliner Geschichte schwindenden Ratsfamilien und neu entstehenden Berliner und Cöllner Dynastien, nach denen Heinrich und Francois fragen, untereinander und zu anderen Kreisen seit dem Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges keine Untersuchung. Ihre gesellschaftliche Beweglichkeit und ihr Verhältnis zum Kurfürsten liegen im Dunkeln. Hierzu soll mit dieser Arbeit ein Beitrag zur Berliner Stadt- und Familiengeschichtsschreibung des 17. Jahrhunderts geleistet werden. Vordergründig scheint die Quellenlage ungünstig. Nicht ohne Grund verwies Peter Blickle noch 19δ3 auf die Tatsache, daß der Ertrag der sozialgeschichtlichen Forschung für das 17. Jahrhundert, dieses »saeculum obscurum« der frühen Neuzeit35, außerordentlich bescheiden sei. Das hinge einmal mit der verglichen mit dem 16. und 18. Jahrhundert ungünstigen Quellenüberlieferung zusammen, zum anderen mit dem amorphen Charakter des Jahrhunderts^. Daran hat sich im Grunde bis heute wenig geändert, auch wenn neuere Uberblicksdarstellungen wie die von Volker Press neue, wichtige und richtige Akzente setzen. 37 Doch kann die Quellenlage durchaus günstig sein, wenn mit gezielter Fragestellung 3 5 Peter Blickle, Untertanen in der Frühneuzeit. Zur Rekonstruktion der politischen Kultur und der sozialen Wirklichkeit Deutschlands im 17. Jahrhundert, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 70 (1983), S. 4 8 3 - 5 2 2 , bes. und Zitat S. 507.

Ebda. Vgl. Volker Press, Kriege und Krisen. Deutschland 1600-171Ϊ (= Neue Deutsche Geschichte, Bd. 5), München 1991, der das 17. Jahrhundert als eine Einheit betrachtete. Vgl. hierzu auch die Rezension von Heinz Schilling in der Historischen Zeitschrift 257 (1993), S. 1 9 6 - 1 9 8 , der urteilt, daß dies eine Art Handbuch für die akademische Lehre sei, das weite Beachtung verdiene. (S. 198). 36

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Foischungsstand und Fragestellung

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ein konkreter Personenkreis untersucht werden soll. Mit den protestantischen Leichenpredigten der Zeit zwischen der Mitte des 16. und der Mitte des 18. Jahrhunderts besitzt die historische Forschung einen enormen Quellenfundus, den es auszuschöpfen gilt. Auf die Merkmale der Quellengattung Leichenpredigt im allgemeinen und die Quellenlage die Ratsfamilien von Berlin und Cölln betreffend im besonderen wird an anderer Stelle einzugehen sein.

Fragestellung Zunächst ist die Fragestellung im Unterschied oder Vergleich zu den bisher genannten Arbeiten darzustellen. Durch die Zielvorgaben der Forschung und deren Lücken einerseits sowie die Quellenlage andererseits ergaben sich sowohl die Möglichkeit als auch die Notwendigkeit einer analytisch-prosopographischen Untersuchung der Ratsfamilien von Berlin und Cölln im 17. Jahrhundert nach den überlieferten Leichenpredigten. Die Bezeichnung »Ratsfamilien« und der Personenkreis derer, die dazu zählen, löst die Schwierigkeiten der Begriffswahl. »Elite« ist nicht eindeutig genug, da Residenzen wie die brandenburgische nicht nur eine, sondern mehrere Eliten kannten. Die Ratsgeschlechter einer solchen Residenzstadt standen neben der primären Führungsgruppe der fürstlichen Verwaltung. Fraglich ist, ob sie ihr eindeutig nachgeordnet38 waren. Wird zwischen den verschiedenen führenden Gruppen der Residenz erkennbar unterschieden, wird deren Verflechtung erarbeitet, so muß »Elite« nicht tabuisiert werden. Ähnlich verhält es sich mit dem in der Forschung uneindeutig gebrauchten Begriff des »Patriziats«. Wie Wentscher und Mitgau 1966 feststellten, war eine einhellige Begriffsbestimmung des Patriziats ... bisher nicht möglich,39 Vor allem muß bedacht werden, daß »Patriziat« ein der mittelalterlichen Stadtgeschichtsschreibung verhafteter Begriff ist. Axel Flügel, der es als eine geschlossene städtisch-bürgerliche Sozialgruppe definiert, zu der Zugang vor allem nur durch Konnubium möglich war

3 8 Von dieser Voraussetzung geht Franiois, Städtische Eliten, S. 72 aus und hält dementsprechend, wie auch vordem erörtert, den Begriff »Elite« für die Mehrzahl der Residenzstädte für unbrauchbar. 3 9 Erich Wentscher/Hermann Mitgau, Einführung in die praktische Genealogie (= Grundriß der Genealogie, Bd. 1), 4., umgearb. und erg. Aufl., Limburg/Lahn 1966, S. 76.

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und die das kommunale Regiment, die politische Herrschaft ausübte, 40 verweist darauf, daß das ältere Patriziat im Laufe des 16. Jahrhunderts weitgehend verschwand und es nach dem Dreißigjährigen Kriege, abgesehen von Sonderfällen wie den Reichsstädten, kaum noch anzutreffen gewesen sei. 41 Vielfach verwandt wird der Begriff der städtischen »Führungsschicht«. Von Wolfgang Reinhard kommt der Vorschlag, statt dessen von »Oberschicht« und/oder »Führungsgruppe« zu sprechen. 42 Doch weniger aus dem Grunde, daß »Führungsschicht« ideologisch befrachtet sei, als vielmehr der größeren Exaktheit von »Oberschicht« und »Führungsgruppe« wegen soll diesem Vorschlag gefolgt werden. Die politisch-administrative Führung einer frühmodernen alteuropäischen Stadt lag in den Händen einer Gruppe, die Teil der Oberschicht war. Insofern kann dieser differenzierte Sprachgebrauch zu größerer Genauigkeit führen. Trotzdem bleiben auch diese Begriffe, ähnlich wie »Elite«, ungenau, da es in den Residenzen eine breitgefächerte Oberschicht und mehrere verschiedene Führungsgruppen gab. »Ratsfamilien« schließlich trifft am besten den Personenkreis, der untersucht werden soll. Die Räte Berlins und Cöllns wandelten sich im Laufe des 17. Jahrhunderts. Die alten Familien, die in ihnen vorherrschend gewesen waren, verloren an Bedeutung, neue traten an ihre Stelle. Es waren nicht mehr die Dynastien, die, wie ihre Vorgänger, auf eine jahrhundertelange Familientradition in der Geschichte ihrer Stadt zurückblicken konnten. Aber es waren Familien, die über Generationen Einfluß auf das Schicksal Brandenburgs sowie Berlins und Cöllns nahmen. Sie waren die letzten Vertreter einer Art, wie sie das Zeitalter der Aufklärung und erst recht der Industrialisierung fürderhin kaum mehr kennen sollte. Gleichzeitig waren sie die Vorgänger eines neuen Typs von Verwaltungsfachleuten. Sie waren nicht mehr Patrizier im spätmittelalterlichen und noch nicht Beamte im modernen Sinne. Diese klar umrissene soziale Gruppe einer städtischen Elite, die Bürgermeister und

4 0 Vgl. Axel Flügel, Wirtschaftsbürger oder Bourgeois? Kaufleute, Verleger und Unternehmer in der Gesellschaft des Ancien Regimes, in: Hans-Jürgen Puhle (Hrsg.), Bürgertum in der Gesellschaft der Neuzeit. Wirtschaft — Politik — Kultur (= Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1), Göttingen 1991, S. 107-132, bes. S. 109. 4 1 Vgl. Flügel, Wirtschaftsbürger oder Bourgeois?, S. 111. 4 2 Vgl. Wolfgang Reinhard, Führungsschichten in Stadt und Land: Kategorien, Probleme, Verfahren. (Entwurf eines Fragerasters), in: Mieck, Soziale Schichtung, S. 48-51, bes. S. 48.

Forschungsstand und Fragestellung

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Ratsherren und deren Familien, die Bestimmung ihres Standortes in der Geschichte sind Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit. Der sich vollziehende gesellschaftliche Wandel bedeutet in diesem Zusammenhang gesellschaftliche Beweglichkeit. Diese ist, wie schon eingangs betont, für das Alte Reich des 17. Jahrhunderts kaum untersucht. Dementsprechend wichtig ist es, sich ihr für das Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges und danach zu widmen. Der Dreißigjährige Krieg war ohne Zweifel ein ungeheuer wirksamer Faktor der Mobilität in der deutschen Gesellschaft4^. Hatte es vor dem Kriege ein Uberangebot an Akademikern mit dementsprechend nachlassenden Aufstiegschancen gegeben, so war diese Situation durch den Krieg in ihr Gegenteil verkehrt worden. Insbesondere in den Landstädten, wozu auch die Residenzen zählten, war die gesellschaftliche Beweglichkeit größer als in den Reichsstädten. Die sich wieder einstellenden Tendenzen zur Oligarchisierung waren in diesen weit weniger ausgeprägt als in jenen — die Fürsten sicherten ein gewisses Maß an Mobilität. 44 Unter diesem Gesichtspunkt sind das Heiraten unter sozial Gleichgestellten, das Konnubium oder, wie Mitgau es nennt, die geschlossenen Heiratskreise sozialer Inzucht^ von besonderer Bedeutung. Familie und Ämterbesetzung waren in der Frühen Neuzeit eng miteinander verflochten. 46 Zugleich war das 17. Jahrhundert und erst recht dessen zweite Hälfte in Brandenburg und anderswo in dieser Hinsicht eine Zeit des Umbruchs. Die Ständegesellschaft begann sich zu wandeln, das moderne Sach- und Leistungsprinzip dämmerte herauf und veränderte das Gesicht der Gesellschaft des, wie oft betont, krisengeschüttelten 17. Jahrhunderts.47 Doch wie stark waren die erwähnten, nach dem Dreißigjäh4 3 Volker Press, Soziale Folgen des Dreißigjährigen Gesellschaft, S. 2 3 9 - 2 6 8 , Zitat S. 243. 4 4 Vgl. Press, Soziale Folgen, S. 2 5 7 - 2 5 9 .

Krieges,

in: Schulze,

Ständische

4 5 Hermann Mitgau, Geschlossene Heiratskreise sozialer Inzucht, in: Hellmuth Rössler (Hrsg.), Deutsches Patriziat 1430-1740. Biidinger Vorträge 1965 (= Schriften zur Problematik der deutschen Führungsschichten in der Neuzeit, Bd. 3), L i m b u r g / L a h n 1968, S. 1 - 2 5 . 4 6 Zum Problem der Verflechtung vgl. Wolfgang Reinhard, Freunde und Kreaturen. » Verfechtung« als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römische Oligarchie um 1600 (= Schriften der Philosophischen Fachbereiche der Universität Augsburg, Nr. 14), München 1979. 4 7 Hier eröffnet sich eine neue Sichtweise auf den Begriff der »Krise des 17. Jahrhunderts« aus sozialgeschichtlicher Perspektive. Vgl. hierzu Helmut G. Koenigsberger, Die Krise des 17. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für historische Forschung 9 (1982), S. 1 4 3 165.

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rigen Kriege wieder einsetzenden Tendenzen der Oligarchisierung, der Abschottung, wie offen oder geschlossen waren die Kreise der Räte und ihrer Familien in ihren Heiratsbeziehungen? Nur mit Hilfe eingehender Untersuchungen der Familienbeziehungen auf der Grundlage von Ahnen- und Verwandtschaftstafeln lassen sich diese Fragen beantworten. Ein weiterer Aspekt gesellschaftlicher Beweglichkeit betrifft die Unterscheidung zwischen vertikaler Richtung, das heißt zwischen Aufstieg und Abstieg, und horizontaler Richtung, also den Wanderungen vom Land in die Stadt oder von einer Stadt in die andere. Es ist zu fragen, inwieweit die brandenburgische Residenz einer jener »zentralen Orte« war, dessen Zuwanderung von Territorial- und Konfessionsgrenzen geprägt wurde.48 Zuwanderung oder geographische Mobilität war vielfach mit gesellschaftlichem Aufstieg verbunden. Dieser Gesichtspunkt berührt auch den des Herren- oder Fürstendienstes, mithin den des schon angesprochenen Verhältnisses zwischen regional-kommunaler Autonomie und staatlich-zentralistischer Autorität, zwischen Stadt und Staat. Die Frage lautet, wie sich das Verhältnis zwischen Alteingessenen und Zuwanderern in der Verwaltung der Residenz wandelte, inwieweit der Kurfürst von ihm Abhängige, von außerhalb Kommende in den Räten Berlins und Cöllns unterbrachte — unterbringen konnte. 49 So war die in Schichten gegliederte, hierarchisch gestufte starre ständische Gesellschaftsstruktur durch Heirat oder horizontale Mobilität zu durchbrechen, Aufstieg war möglich — nur in Maßen für die ländlichuntertänige Bevölkerung, eher für das städtische Bürgertum. Hier vor allem war Aufstieg, war vertikale Mobilität auch und gerade durch Kapitaleinsatz, Bildung und Berufswahl möglich.50 Zu untersuchen sind dementsprechend die Plattformberufe51, das heißt die Berufe der Väter, deren Söhne gesellschaftlich aufstiegen. In erster Linie zählten dazu niedere und mittlere Amtsträger, Lehrer und Geistliche — kurz: weitestge4 8 Vgl. Schilling, Die Stadt in der frühen Neuzeit, S. 63; ferner: Christian Pfister, Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1500-1800 ( = Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 28), München 1994, S. 1 0 4 - 1 0 6 . 4 9 Zum Problem der Patronat-Klientel-Frage vgl. Peter Moraw, Über Patrone und Klienten im Heiligen Römischen Reich des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Antoni Maczak (Hrsg.), Klientelsysteme im Europa der Frühen Neuzeit ( = Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 9), München 1988, S. 1 - 1 8 . 5 0 Vgl. Diedrich Saalfeld, Die ständische Gliederung der Gesellschaft Deutschlands im Zeitalter des Absolutismus. Ein Quantifizierungsversuch, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 67 (1980), H . 4, S. 4 5 7 - 4 8 3 , bes. S. 458f. 5 1 Hermann Mitgau, Verstädterung und Großstadtschicksal genealogisch gesehen, in: Archiv für Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik 11 (1941), S. 3 3 9 - 3 6 4 , Zitat S. 358.

Forschungsstand und Fragestellung

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hend besitzlose Intellektuelle.52 Zusammenzufassen wären diese unter dem Begriff der Reservoir-Stände5*. Das Bürgertum strebte nach einem immer höheren Grad der Professionalisierung.54 Dies war notwendig, um sich nach dem sogenannten bürgerlichen 16. Jahrhundert dem wiedererstarkenden Adel im 17. Jahrhundert gegenüber behaupten zu können. 55 Ein Schwerpunkt der Arbeit muß sich dementsprechend dem Gesichtspunkt der Bildung widmen. Eine Untersuchung zur gesellschaftlichen Beweglichkeit einer Gesellschaftsgruppe bleibt unvollständig, solange sie nicht die Ausbildung, den Bildungs- und Berufswerdegang ihrer Vertreter berücksichtigt. Gerade die Gruppe der Bürgermeister, Kämmerer oder Stadtschreiber konstituierte sich durch ihre Ausbildung. Die in Leichenpredigten enthaltenen Angaben zu Berufslaufbahnen sind zwar nicht quantitativer Natur, aber strukturell numerisch und lassen sich leicht in Daten mit solcher Eigenschaft transformieren. Sie sind also soweit standardisierbar, daß sie mittels Zeitreihen und Häufigkeitsverteilungen zu analysieren sind. 56 So werden die Zusammenhänge zwischen sozialer Herkunft, Studienfachwahl, Berufschancen und bildungsbedingtem sozialen Aufstieg, der Zusammenhang zwischen Bildung und vordringendem Sach- und Leistungsprinzip offenbar. Dabei muß der wirtschaftliche Hintergrund berücksichtigt werden, da Hochkonjunktur- und Regressionsphasen einerseits sowie elterliche Finanzkraft andererseits Bildungsbereitschaft und -möglichkeit stets beeinflussen. Ferner ist von Interesse die Fächerwahl Vgl. Weiss, Bevölkerung und soziale Mobilität, S. 149. Gerd Heinrich, Amtsträgerschaft und Geistlichkeit. Zur Problematik der sekundären Führungsschichten in Brandenburg-Preußen 1450-1786, in: Günther Franz (Hrsg.), Beamtentum und Pfarrerstand 1400-1800. Büdinger Vorträge 1967 ( = Deutsche F ü h rungsschichten in der Neuzeit, Bd. 5), Limburg/Lahn 1972, S. 1 7 9 - 2 3 8 , Zitat S. 216 sieht in der sekundären Führungsschicht der mittleren weltlichen und geistlichen A m t s trägerschaft das wichtigste personelle Substrat des Absolutismus — vgl. ebda. Problemlos läßt sich dieser Begriff jedoch auch auf diese Untersuchung der Ratsfamilien von Berlin und Cölln anwenden, nicht zuletzt aufgrund der Fälle von Amtsbesetzungen durch den Kurfürsten. 53

Vgl. F r a n c i s , Städtische Eliten, S. 66f. Vgl. zum Bürgertum Hans Pohl, Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung vom Spätmittelalter bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Kurt G. A. Jeserich/Ders./ Georg-Christoph von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, Stuttgart 1983, S. 2 1 5 - 2 6 7 , bes. S. 252f.; vgl. ferner zum Adel Ludolf Kuchenbuch, Adel, in: Richard van Dülmen (Hrsg.), Fischer Lexikon Geschichte, 9 . - 1 0 . Tsd., Frankfurt a. M. 1991, S. 1 0 5 - 1 2 0 . 54

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5 6 Vgl. Peter Lundgreen, Quantifizierung in der Sozialgeschichte der Bildung, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 63 (1976), H . 4, S. 4 3 3 - 453, bes. S. 451.

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und Examensbereitschaft. So ist es möglich, Aussagen zu treffen über das Verhältnis von sozialem Aufstieg und Leistungsorientierung oder gesellschaftlicher Standesprivilegierung. 57 Ein Merkmal der Quelle Leichenpredigt ermöglicht Einblicke in eine Besonderheit damaliger Bildungsgänge: die Bildungsreisen. Diese werden in den Lebensläufen der Leichenpredigten meist ausführlich geschildert, so daß es möglich ist, sie detailliert nachzuvollziehen, zu quantifizieren und statistisch zu verwerten. Der bisherige, dargestellte Stand der Forschung führt zusammengefaßt zu folgenden Untersuchungsansätzen und Fragestellungen: 58 In welchem Verhältnis standen ältere und neuere Familien der brandenburgischen Residenz im 17. Jahrhundert? Von zentraler Bedeutung ist dabei die vertikale Mobilität, das Konnubium, das generative Verhalten der Ratsfamilien Berlins und Cöllns, das heißt deren verwandtschaftliche Beziehungen untereinander und die Verdichtungen um Kerngeschlechter. Zu unterscheiden sind verschiedene Familienkreise, Gruppen- oder Intergenerationsmobilität und individuelle oder Intragenerationsmobilität. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf das Standardwerk zur Geschichte Berlins im Dreißigjährigen Kriege von Eberhard Faden, 5 9 das unter anderem auch diese Themen behandelt. Fadens noch rudimentäre Arbeiten und Tafelwerke dazu sollen fortgeführt werden. Ein weiterer Forschungsansatz hat nach der horizontalen sozialen Mobilität, nach den Wanderungsbewegungen vom Land oder aus anderen Städten in die Residenz und nach der Notwendigkeit der Zuwanderung vom Land oder aus anderen Städten für Berlin und Cölln zu fragen. Interurbane Versippung und Durchdringung des umgebenden Landes eröffnen den Blick auf verschiedene Herkunftskreise. Es interessiert in diesem Zusammenhang der soziale Aufstieg durch Ortswechsel und/ oder Fürstendienst, politischen Bedarf und/oder Protektion und die Frage, ob die Residenzstädte Berlin und Cölln ein sogenannter zentraler Ort waren. Nach diesem gleichsam von außen auf die Familien gerichteten Blick hat sich dieser ihren Mitgliedern im einzelnen zuzuwenden. Wie war es 5 7 Vgl. Rainer A. Müller, Gymnasial- und Hochschulwesen in der Frühen Neuzeit in personalgeschichtlicher Sicht. Forschungsstand — Methodische Probleme — Quellen, in: Rudolf Lenz (Hrsg.), Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften, Bd. 3, Marburg/Lahn 1984, S. 125-138, bes. S. 128-134. 5 8 Vgl. hierzu den allgemein gehaltenen Entwurf eines Fragerasters zur sozialen Mobilität von Reinhard, Führungsschichten in Stadt und Land, S. 48-51. 5 9 Eberhard Faden, Berlin im Dreißigjährigen Kriege (= Berlinische Bücher, Bd. 1), Berlin 1927.

Leichenpredigten als Quelle der Sozial- und Stadtgeschichte

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um deren soziale Herkunft bestellt, welche Berufe finden sich in welchen Amtern, gab es einen Mindeststatus, welche waren die Plattformberufe und Reservoir-Stände? Es gilt, Bildungsgrade, Ausbildungswege und die damit verbundenen Reisen, Werdegänge, Berufswege und Karrieren zu untersuchen; desgleichen das Verhältnis von Bürgermeistern und Ratsherren, die von kurfürstlicher Seite von außerhalb kommend aus eingesetzt wurden, zu denen, die familiär in Berlin und Umgebung verwurzelt waren. Nicht unberücksichtigt bleiben dürfen Aspekte wie die Rolle der Frauen, der Versuch einer Sozialtopographie Berlins und Cöllns sowie ein zumindest ansatzweiser Vergleich mit anderen Städten der Zeit. Sodann sollen Persönlichkeiten aus den Quellen heraus vorgestellt werden, um einen bis dahin tendenziell sozialgeschichtlich-analytischen Blickwinkel auf die Geschichte Berlins und Cöllns um einen biographisch-hermeneutischen zu ergänzen. Nur durch eine solche Offenheit der Geschichtswissenschaft ist es möglich zu erfahren, wie es eigentlich gewesen ist. Eine abschließende Zusammenfassung muß bemüht sein, mittels der Beschreibung von Geburt, Leben, Tod, der Beziehungen der Geschlechter und Generationen zueinander, des Verhältnisses zu Beruf, Obrigkeit und Religion den Zeitgeist und das Lebensgefühl der Menschen — kurz: barockes Leben im Berlin und Cölln des 17. Jahrhunderts lebendig werden zu lassen. So wird es möglich sein, eine Periodisierung vorzunehmen und einen Ausblick auf folgende Zeiten zu ermöglichen. Doch gründen sich diese Fragestellungen nicht nur auf dem Stand der Forschung. Entscheidend sind die Quellen und die an sie zu richtenden Fragen. Hier ist die Quelle der Leichenpredigten des 17. Jahrhunderts in der Lage, Antworten zu geben.

Leichenpredigten

als Quelle der Sozial- und

Stadtgeschichte

Bestandteile der Leichenpredigten Eine Leichenpredigt ist ein Brunnen der Geschichtswissenschaft. Für die sozialgeschichtliche Erforschung des deutschen Bürgertums in der Frühen Neuzeit sind Leichenpredigten daher eine wichtige Quellengattung. Die Gründe sind mannigfach: Der Brauch, Leichenpredigten zu verfassen, zu halten und in Druck zu geben, entstand im protestantischen Deutschland in der Mitte des 16. Jahrhunderts, in der katholischen Kirche war er weitgehend verbo-

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ten.60 Vermutlich gehen die ersten Leichenpredigten auf Martin Luther (1483-1546) selbst zurück. In den folgenden Jahrzehnten entwickelten sich Leichenpredigten zu einem verbreiteten Literaturprodukt. Um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert hatte dieses weitgehend seine endgültige Form gefunden, die für ein bis anderthalb Jahrhunderte bestimmend bleiben sollte. Dazu zählte nach dem anfänglichen Gebrauch des späthumanistischen Neulateins nun der der deutschen Sprache. Vor allem aber wurde es üblich, Leichenpredigten zu gliedern. Diese gedruckten Leichenpredigten enthalten im ersten Teil die eigentliche sogenannte »christliche Leichenpredigt«, die in der Kirche oder am Grab gehalten wurde. In ihr nahm der Pfarrer Bezug auf den Verstorbenen und griff ein passendes Bibelwort auf. Daran schließt sich der Personalteil an, auch Lebenslauf, Ehrengedächtnis, curriculum vitae, memoria defuncti oder personalia genannt. Vor allem dieser Personalteil ist es, der für heutige historische Forschungszwecke so wertvoll ist. Es folgen eine Abdankungsrede und Epicedien genannte Trauergedichte. Aufschlußreich sind nicht zuletzt das meist gleichförmig gestaltete Titelblatt und auf dessen Rückseite die Widmung des Verfassers. Die größte Zahl aller Leichenpredigten folgt diesem Muster. Das Titelblatt enthält persönliche Angaben zum Verstorbenen, meist gab es nahe Angehörige, denen man eine Leichenpredigt widmen konnte. Die christliche Leichenpredigt kann vom Umfang her sehr unterschiedlich ausfallen, teils biographische Angaben zum Verstorbenen enthalten, wenn in seltenen Fällen der Personalteil fehlt. Ob die Leichenpredigt eine Abdankungsrede oder Epicedien enthält, hängt davon ab, inwieweit es Personen gab, die solche auf den Verstorbenen verfaßten. Der überwiegende Teil der überlieferten gedruckten Leichenpredigten besteht aus diesen Komponenten. Im einzelnen haben sie für die Sozialgeschichte folgende Bedeutung: Der wichtigste ist der Personalteil, meist noch zu Lebzeiten vom Verstorbenen selbst verfaßt. Er enthält regelmäßig Angaben zur Person des Verstorbenen wie Namen, Geburts-, Tauf-, Heirats-, Todes- und Beerdigungsdaten, soweit diese bekannt waren. Zu Recht kann von standardisierten Minimalinformationen gesprochen werden, die keiner Leichenpredigt fehlen durften.61 Ämter, Titel und Titulaturen werden dem ba6 0 Grundlegend und für das folgende maßgebend: Rudolf Lenz, Gedruckte Leichenpredigten (1550-1750). I Historischer Ahriß II Quellenwert, Forschungsstand III Grenzen der Quelle, in: Ders., Leichenpredigten als Quelle, Bd. 1, S. 36-51. 6 1 Ines Elisabeth Kloke, Die gesellschaftliche Situation der Frauen in der frühen Neuzeit im Spiegel der Leichenpredigten, in: Peter-Johannes Schuler (Hrsg.), Die Familie als

Leichenpredigten als Quelle der Sozial- und Stadtgeschichte

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rocken Habitus entsprechend genau angegeben und haben Vorrang vor Berufsangaben, die durchaus fehlen können. Auf diese Angaben zur Person des Verstorbenen folgen möglichst ähnlich ausführlich die auf seine Ahnen. Fast immer werden die Eltern genannt, meist die Großeltern, häufig die Urgroßeltern, selten die Ururgroßeltern. Ahnentafeln zu erstellen, ist mit Hilfe dieser Belege keine Schwierigkeit. Sodann folgt der eigentliche Lebenslauf. Auch er ist standardisiert. Bestimmte Topoi wie die Tauf- oder Schulformel tauchen in nahezu jeder Leichenpredigt auf. 62 Aber in den persönlichen Zügen der Ausbildung, des Berufsweges, der Karriere und schließlich des Endes variieren die schematisierten Lebensläufe. 63 Hochgebildet, weitgereist und selbstlos im Einsatz für Heimat und Vaterland gewesen zu sein, sind immerwiederkehrende Wendungen. Und dennoch: Hier kommt Individualität und Persönlichkeit vor. Indes gerade die schablonenhafte Hermeneutik gelebten Lebens es einerseits erlaubt, die Akteure der Geschichte zu verstehen, gestattet sie es andererseits, diese Akteure durch ihre Quantifizierbarkeit in einen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Zusammenhang zu stellen und zu erklären. 64 Auf die Schilderung des Lebensverlaufes folgt die der Familienverhältnisse. Herkunft oder Beruf des Ehepartners, Verlobungs- und Heiratsdatum, unter Umständen Todesdatum des Ehepartners und Wiederverheiratung werden wiederum standardisiert aufgeführt. Den Kindern, auch den bereits verstorbenen, wird große Aufmerksamkeit geschenkt. Bei bereits verheirateten Töchtern findet der Ehemann mit Berufsangabe Erwähnung, ebenso Söhne, die schon im Berufsleben stehen. Diese Einzelheiten erlauben wertvolle Rückschlüsse auf das Fortleben der Familie. Wenig gehaltvoll dagegen ist der Topos vom christlich geführten Lebens-

sozialer und historischer Verband. Untersuchungen zum Spätmittelalter und zur frühen Neuzeit, Sigmaringen 1987, S. 147-163, bes. und Zitat S. 153. 6 2 Vgl. Ingomar Bog, Die Leichenpredigt als Quelle der geschichtlichen Sozialwissenschaften. Untersuchungen zu Berufsweg, Unternehmungen, Schicht und Status reichsstädtischen Bürgertums vom 16.-18. Jahrhundert, in: Lenz, Leichenpredigten als Quelle, Bd. 1, S. 146-165, bes. S. 152. 6 3 Vgl. Franz Lerner, Ideologie und Mentalität patrizischer Leichenpredigten, in: Lenz, Leichenpredigten als Quelle, Bd. 2, S. 126-157, bes. S. 151. 6 4 S. hierzu auch Horst Alfred Fild, Leichenpredigten als Quelle der Geistesgeschichte, in: Lenz, Leichenpredigten als Quelle, Bd. 2, S. 105-125, bes. S. 118: Es gelte, die Grenzen möglicher Hermeneutik im Auge zu behalten und Leichenpredigten sozialund religionsgeschichtlich nach den jeweiligen historischen, soziokulturellen Bedingtheiten zu fragen...

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wandel, der sich anschließt. Er wird stets so gleichförmig wiedergeben, daß er wenig aussagt über den verstorbenen Menschen. Ausführlich wird zum Ende des Personalteils die Sterbeszene beschrieben. Dies liegt in dem religiösen Motiv einer Leichenpredigt begründet. Für die sozialgeschichtliche Untersuchung des Bürgertums einer deutschen Stadt ist dies jedoch von geringem Interesse. Mit einem Gebet auf den Verstorbenen schließt der Personalteil ab. Von den übrigen erwähnten Bestandteilen einer gedruckten Leichenpredigt kann das Titelblatt wichtig sein, im Personalteil fehlende Angaben zur Person zu ergänzen. Dazu zählt die Titulatur des Verstorbenen, die durch Schriftart und Schriftgröße auffällt. Dem barocken, zeitgenössischen Leser von großer Wichtigkeit und daher an herausgehobener Stelle positioniert, ist diese Titulatur noch heute von Bedeutung für die gesellschaftliche Einordnung des Verstorbenen. 65 Ferner kann das Titelblatt meist Todes- und Beerdigungsdaten ergänzen, wenn sie im Personalteil fehlen. Vor allem aber mit Hilfe der Erwähnung des Verfassers der Leichenpredigt und der Kirchengemeinde, in der der Verstorbene beerdigt wurde, ist es möglich, die Konfession des letzteren zu bestimmen, um zwischen Lutheranern und Reformierten zu unterscheiden. Dies ist für den gesellschaftlich-religiösen Standort des Verstorbenen und seiner Familie wichtig. In seltenen Fällen kann das Titelblatt fehlen, wenn Pfarrer von ihren Leichenpredigten Sammlungen anlegten. Als nächster Bestandteil einer gedruckten Leichenpredigt ist die Widmung des verfassenden Pfarrers in der Lage, die Angaben zu den Familienverhältnissen im Personalteil zu vervollständigen oder zu präzisieren. Die Widmung gilt überwiegend der Witwe oder dem Witwer und den Kindern sowie deren Ehepartnern, falls sie schon verheiratet waren. Die eigentliche, sogenannte christliche Leichenpredigt ist für eine sozialgeschichtliche Untersuchung städtischen Bürgertums vor allem in den wenigen Fällen fehlender Personalteile von Interesse. Es finden sich die sonst in den Personalteilen üblichen Angaben dann oft in der christlichen Leichenpredigt, wenn auch in geringerer Ausführlichkeit als in einem standardisiert aufgebauten Personalteil. Dennoch darf die christliche Leichenpredigt in ihrem Gehalt nicht unterschätzt werden. Wesentlich ist, daß sie den Verstorbenen zum Gegenstand der Predigt macht. Aufgrund des Namens, Berufs oder herausragender Ereignisse im Leben 6 5 Wichtig und für das Dekodieren der barocken Titulaturen unentbehrlich: Hans Greuner, Rangverhältnisse im städtischen Bürgertum unter besonderer Berücksichtigung der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main, [Masch.-schr.] Diss., (Frankfurt a. M. 1956).

Leichenpredigten als Quelle der Sozial- und Stadtgeschichte

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oder Sterben des Toten werden die Bibelstellen ausgewählt, über die gepredigt wird. Mit zahlreichen hebräischen, griechischen und lateinischen Zitaten der Bibel und antiker Autoren versehen sind diese Leichenpredigten ein Dokument barocker Ausführlichkeit. Diese Form der um Vollständigkeit bemühten Gelehrsamkeit, die einerseits sicherlich den Kirchenschlaf fördern mochte, ist andererseits vor allem aber ein Indiz ganz anderer Art: Sie ist Ausdruck der Bedeutsamkeit, der Wichtigkeit und der herausgehobenen Stellung des Verstorbenen und seiner Familie.66 Derjenige, auf den eine Leichenpredigt verfaßt wurde, hatte im Leben eine herausgehobene gesellschaftliche Stellung erreicht, die er im Tode dokumentiert wissen wollte. Ein gebildeter Pfarrer, der eine solche Leichenpredigt verfassen konnte, empfahl sich der Gemeinde also nicht nur mit diesem seinem hohen Bildungsgrad, sondern er kam vor allem einem elementaren Bedürfnis seiner Zuhörer nach. Der barocke Mensch, für den Leben und Tod noch eine Einheit bildeten, wird beim Hören einer gelungenen Leichenpredigt den Wunsch gehegt haben, daß auch auf ihn eine solche gehalten werden möge. Insofern ist auch die christliche Leichenpredigt trotz ihres beschränkten Aussagewertes für die Sozialgeschichte eine Quelle für sich. Vor allem der Umfang einer christlichen Leichenpredigt war Statussymbol. Zu den Statussymbolen zählten aber auch die anhängende Abdankungsrede und schließlich die Epicedien. 67 Die Abdankungsrede mußte nicht vom Verfasser der Leichenpredigt stammen, tat dies auch nur in seltenen Fällen. Sie sollte den Verstorbenen loben, seinen Tod beklagen, die Trauernden trösten und den Begleitenden danken. 68 An Abdankungsrede und Epicedien, oft in lateinischer Sprache verfaßt, sind weniger die Inhalte als vielmehr die Verfasser von Belang. Ihre Namen, ihre Berufe und ihre Zahl ordnen den Verstorbenen gesellschaftlich ein. Dieser Kreis von Autoren geht weit über den der Familie des Verstorbenen hinaus. Er beschreibt das Umfeld, in dem sich der Verstorbene zeitlebens bewegte. Für die Bestimmung seiner gesellschaftlichen Stellung sind Abdankungsrede und Epicedien wichtig. Vereinzelt fehlen sie in Leichenpredigtensammlungen, sind im nachhinein von Leichenpredigt und Personalteil abgetrennt worden oder aus sonstigen, nicht mehr nachvollziehbaren Gründen abhanden gekommen, so daß nicht alle Leichen66 Vgl. Rudolf Mohr, Der Tote und das Bild des Todes in den Leichenpredigten, in: Lenz, Leichenpredigten als Quelle, Bd. 1, S. 82-121, bes. S. 83f. 67 Vgl. Eberhard Winkler, Zur Motivation und Situationsbezogenheit der klassischen Leichenpredigt, in: Lenz, Leichenpredigten als Quelle, Bd. 1, S. 52-65, bes. S. 55. 68 Vgl. Christoph Weißenborn, Politischer Leich-Redner..., Jena 1707, S. lf.

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Einleitung

predigtenempfänger auf diesen Personenkreis hin untersucht werden können. Repräsentative, stichprobenartige Einzelfalluntersuchungen sind aber möglich und aufschlußreich.

Leichenpredigten als Oberschichtenphänomen Aufgrund des bisher Dargestellten läßt sich zu der aus einer Leichenpredigt sprechenden, sozialgeschichtlich relevanten Mentalität folgendes feststellen: Vornehmheit der Herkunft und Familie stehen an erster Stelle der Mentalität des Kreises von Bürgern, auf die Leichenpredigten gehalten wurden. Die eigene Eheverbindung und die der Kinder sowie deren Berufswege sind entscheidend für das Ansehen des Verstorbenen und seiner Familie. Sodann wird die Bedeutung der Titulaturen, eines hohen Bildungsniveaus, weiter Reisen und Uneigennützigkeit im Dienst für die Gemeinschaft im Zusammenhang mit der eigenen beruflichen Karriere betont. Eine solche Mentalität dient der ideologisch überhöhten Rechtfertigung des Führungsanspruchs einer Oberschicht, 6 9 die sich mit Hilfe eines verbesserten Buchdrucks und dank langsam ansteigenden Alphabetisierungsgrades dieses Literaturproduktes bedient. Damit ist die Frage berührt, auf wen Leichenpredigten verfaßt wurden. Hierzu sei auf die Arbeiten der Marburger Forschungsstelle für Personalschriften und ihres Leiters Rudolf Lenz verwiesen. Lenz verifizierte die These, daß das Vorkommen der überlieferten Leichenpredigtenbestände am ausgeprägtesten im protestantischen Mitteldeutschland und in den lutherischen oberdeutschen Reichsstädten war. 70 Es gab zwei Blütezeiten, in denen ihr Aufkommen am häufigsten war. Dies sind zum einen die beiden Jahrzehnte vor dem Dreißigjährigen Krieg und zum anderen die drei Jahrzehnte nach demselben. 71 Der dazwischliegende Einbruch während des großen Krieges bedarf keiner Erläuterung angesichts der grauenhaften Zustände während dieser dreißig Jahre, in denen Deutschland und die deutsche Kultur schweren Schaden nahmen. Der Rückgang und das Ende der Literaturgattung Leichenpredigt seit den sechzehn-

Vgl. Lerner, Ideologie und Mentalität, S. 137. Vgl. Rudolf Lenz, Vorkommen, Aufkommen und Verteilung der Leichenpredigten. Untersuchungen zu ihrer regionalen Distribution, zur zeitlichen Häufigkeit und zu Geschlecht, Stand und Beruf der Verstorbenen, in: Ders. (Hrsg.), Studien zur deutschsprachigen Leichenpredigt der frühen Neuzeit (= Marburger Personalschriften-Forschungen, Bd. 4), Marburg/Lahn 1981, S. 223-248, bes. S. 235. 7 1 Vgl. Lenz, Vorkommen, Aufkommen und Verteilung, S. 240. 69

70

Leichenpredigten als Quelle der Sozial- und Stadtgeschichte

21

hundertundachtziger Jahren ist durch eine Vielzahl von Faktoren bestimmt. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang einerseits die heraufdämmernden Tendenzen der Säkularisierung und Entkirchlichung, die in Verbindung stehen mit der Aufklärung und neuen Formen literarischer Dichtung. 72 Die Leichenpredigten der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bleiben davon nicht unberührt. Sie verlieren allmählich ihr einheitliches, aus den verschiedenen beschriebenen Komponenten bestehendes äußerliches Erscheinungsbild des 17. Jahrhunderts. Vor allem aber wandelt sich ihr Charakter, der ein weltlich-empfindsamer wird — kurz: sie literarisieren. Andererseits aber leiteten genauso die neue Frömmigkeitsbewegung des Pietismus oder ein Theologieverständnis, das weniger Sterben und Tod, sondern eher das Leben Jesu Christi zum Mittelpunkt der Religiosität hatte, den Niedergang der Leichenpredigten ein. Vor allem aber erstickten sie an sich selbst. Der überspannte Aufwand, der bei Beerdigungen und Trauerfeierlichkeiten in wachsendem Ausmaß betrieben wurde, betraf auch die Leichenpredigten, die immer umfänglicher, im Format immer größer und somit schließlich immer teurer wurden und nicht zuletzt aufgrund dessen aus der Mode kamen. 73 Wenn durch die bisherige Weise der Formulierung der Eindruck entstehen konnte, daß Leichenpredigten vornehmlich auf verstorbene Männer gehalten wurden, so ist dies mitnichten der Fall. Der Anteil der Frauen, auf die Leichenpredigten verfaßt wurden, bewegt sich bei rund einem Drittel der überlieferten Bestände.74 Gerade Lebensläufe auf Frauen sind so stark standardisiert, daß von Individualität in ihnen kaum die Rede sein kann. Zu sehr glichen sich die Wege der Frauen, über deren Leben aus Leichenpredigten zu erfahren ist. Sie waren zunächst Tochter, dann Ehefrau und Mutter, später Matrone, schließlich Witwe. Sie genossen nicht die Ausbildung der Männer, reisten nicht, machten keine Karriere. Doch sagt dies beileibe nichts über die gesellschaftliche Stellung der Frau in der arbeitsteiligen Welt der Frühen Neuzeit und in der Öffentlichkeit des ganzen Hauses, in dem sie wirkte. Ganz im Gegenteil konnte durchaus der gesellschaftliche Aufstieg eines Mannes erst durch eine günstige Eheverbindung möglich werden. Es muß betont werden, daß 7 2 Michael Maurer, Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680-1815) (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 127), Göttingen 1996, S. 114 spricht davon, daß die gedruckte Biographie als die säkulare Version des verselbständigten biographischen Anhangs einer Leichenpredigt dieser nachfolgte. 7 3 Vgl. hierzu Rudolf Mohr, Das Ende der Leichenpredigten, in: Lenz, Leichenpredigten als Quelle, Bd. 3, S. 293-330. 7 4 Vgl. Lenz, Vorkommen, Aufkommen und Verteilung, S. 241.

22

Einleitung

die soziale Ehre 75 des Einzelnen unabhängig vom Geschlecht durch Familie und Herkunft bestimmt und geprägt wurden. Wert und Güte der Familie bürgten für Wert und Güte des Einzelnen. Diese Gleichwertigkeit von väterlicher und mütterlicher Linie kommt in den Personalteilen der Leichenpredigten zum Ausdruck, daß Agnation keineswegs die alleinige Maxime war, sondern daß vielmehr Vater und Mutter, Großväter und Großmütter in hohem Maße für die soziale Ehre sowohl von Männern wie von Frauen den Beweis lieferten. 76 Dies wird in kaum einer anderen Quelle für die Sozialgeschichte derart dokumentiert wie in der der Leichenpredigten. Leichenpredigten auf Kinder sind sehr selten. 77 In ihrem kurzen Lebenslauf fallen sie notgedrungen als Quelle der Sozialgeschichte aus. In den Angaben zu ihren Ahnen sind sie jedoch genauso wertvoll wie jede andere Leichenpredigt auch. Daher verdienen auch sie Berücksichtigung. Unterschieden nach Schicht und Beruf der Leichenpredigtenempfänger handelt es sich bei der Quelle Leichenpredigt um ein ausgesprochenes Oberschichtenphänomen

mit ausgeprägter

Überrepräsentanz

der

Akademiker78. Im einzelnen heißt dies, daß Geistliche, Professoren, Juristen, Arzte, Lehrer und Studenten mit zirka einem Drittel der überlieferten Bestände den weitaus größten Anteil ausmachen. 79 Gemeinsam mit anderen studierten hohen Beamten, Geheimen Hof- und Kammerräten wächst der Anteil der Akademiker gar auf nicht ganz die Hälfte aller Leichenpredigtenempfänger; sogenannter Bluts- und Geistesadel zusammen machen etwa zwei Drittel der überlieferten Bestände aus. Eine auf der Quelle Leichenpredigt aufbauende sozialgeschichtliche Untersu7 5 Zu Sinn und Bedeutung des Ehrbegriffs der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft, der es nie nur um Macht und Besitz allein, sondern auch und vor allem um ein ehrbar geführtes, ehrenvolles Leben ging, vgl. Carl Hinrichs, Staat und Gesellschaft im Ba-

rockzeitalter,

in: Ders., Preußen als historisches

Problem.

Gesammelte

Abhandlungen

(= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 10), hrsg. von Gerhard Oestreich, Berlin 1964, S. 205-226, bes. S. 225; ferner: Richard van Dülmen, Kul-

tur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 2: Dorf und Stadt. 16.-18.

Jahrhundert,

München 1992, S. 194f. 7 6 Vgl. Heide Wunder, Frauen in den Leichenpredigten des 16. und 17. derts, in: Lenz, Leichenpredigten als Quelle, Bd. 3, S. 57-68, bes. S. 62. 77

Jahrhun-

Die Schätzungen bewegen sich deutlich unter der Fünf-Prozent-Marke: vgl. Lenz,

Vorkommen, Aufkommen und Verteilung, S. 241 und Ines Elisabeth Kloke, Das Kind in der Leichenpredigt, in: Lenz, Leichenpredigten als Quelle, Bd. 3, S. 97-120, bes. S. 102. 78

Lenz, Vorkommen, Aufkommen und Verteilung, S. 248.

79

Vgl. hierzu und im folgenden ausführlich Lenz, Vorkommen,

Verteilung,

S. 241-248.

Aufkommen

und

Leichenpredigten als Quelle der Sozial- und Stadtgeschichte

23

chung sucht die Probanden folgerichtig in diese Richtung gehend aus: unter den mehrheitlich akademisch gebildeten, lutherischen und reformierten Mitgliedern der Oberschicht und Führungsgruppe einer deutschen Stadt des 17. Jahrhunderts, für die große Leichenpredigtenbestände überliefert sind. Hier wird die Wahrscheinlichkeit am größten sein, für einen ausgewählten Personenkreis Leichenpredigten ermitteln und auswerten zu können. Voraussetzung ist, daß bei einer solchen Regionaluntersuchung der Untersuchungsbereich präzis abgegrenzt und die Zahl der Quellenpersonen in hinreichend genaue Relation zum Total der Berufsgruppe eines Untersuchungsbezirks gesetzt werden kann.80 Ist dies gegeben, so ist die Quelle Leichenpredigt aussagekräftig genug, um die Definitionskriterien des Begriffes Oberschicht einesteils zu überprüfen, und um andernteils mit Hilfe dieser Kriterien die Leichenpredigten auswerten zu können. Diese Kriterien sind Vermögen, Ratsfähigkeit und Konnubium. 81 Über das Vermögen der Verstorbenen schweigen die Leichenpredigten pietätvoll. Dies ist hinnehmbar, da das Kriterium Vermögen allein ohnehin nicht hinreichend genug ist, um zu bestimmen, ob jemand zur Oberschicht zählte oder nicht. Für die Frühe Neuzeit von größerem Belang ist die Ratsfähigkeit oder gar Ratsmitgliedschaft, die keine Leichenpredigt unerwähnt lassen würde. Vor allem aber ist das entscheidende Kriterium des Ansehens, der Ebenbürtigkeit, des Konnubiums in den Leichenpredigten dokumentiert. Dieser Gesichtspunkt der Zugehörigkeit zur Oberschicht ist der zuverlässigste, denn wer weder nachweisbar reich noch ratsfähig war, aber mit reichen und ratsfähigen Familien im Konnubium stand, kann mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Oberschicht gerechnet werden.82 Dieser Beweis läßt sich mit kaum einer anderen Quelle als der der Leichenpredigten in vergleichbarer Ausführlichkeit führen. Das Konnubium der im Rat einer Stadt vertretenen Familien mit Hilfe von Leichenpredigten zu untersuchen, verspricht folglich neue Erkenntnisse, die auf anderem Wege kaum zu gewinnen sind und somit einen wertvollen Beitrag zur Erforschung städtischer Oberschicht in der Frühen Neuzeit leisten. Daß heutzutage aus Leichenpredigten nur etwas über einen verhältnismäßig exklusiven Personenkreis zu erfahren ist, liegt an ihrem Preis, den sie seinerzeit hatten. Leichenpredigten waren teuer, so daß nur Wohlhabende sich diesen Brauch leisten konnten, keine Kosten sparten, ohne 8 0 Ingomar Bog, Leichenpredigten und Demographie, Quelle, Bd. 2, S. 45-58, Zitat S. 51. 81 Vgl. Bätori, Soziale Schichtung, S. 14f. 8 2 Bätori, Soziale Schichtung, S. 15.

in: Lenz, Leichenpredigten

als

24

Einleitung

welche die Leiche honeste nicht kann begraben werden.83 Leichenpredigten waren arbeitsintensive Aufträge für die Drucker. Lange Zeit im Oktavformat gehalten und erst gegen Ende ihrer Zeit das Quart- oder gar Folioformat erreichend wurden Leichenpredigten mit Ornamenten geschmückt, mit symbolischen oder allegorischen Vignetten und Emblemen verziert, in seltenen Fällen mit Porträts versehen. Am weitesten verbreitet waren drastische Todessymbole wie der Schädel, aus dem Ähren wachsen oder Würmer kriechen und die abschließende Darstellung eines Sarges. 84 Diese Arbeiten trieben die Honorare der Drucker in die Höhe, für die Leichenpredigten, wenn nicht eine »Goldgrube«, so doch wenigsten die Sicherung ihrer materiellen Existenz bedeuten konnten. 85 Die Auflagenhöhe der einzelnen Leichenpredigt stieg im Laufe des 17. Jahrhunderts von anfänglich durchschnittlichen 100 bis 200 Exemplaren schließlich auf das Mittel von etwa 200 bis 300 Exemplaren.86 Sie bemaß sich nach der Größe der Familie, des Freundeskreises, der Anzahl der Verfasser von Epicedien, der Anzahl von Exemplaren, die der Pfarrer benötigte, um sich höherenorts zu empfehlen und, nicht zu vergessen, den Exemplaren, die an Sammler gingen, unter denen Leichenpredigten gehandelt wurden. 87

Motivation der Leichenpredigten Mit Pfarrern, die Leichenpredigten verfaßten und damit das Interesse verfolgten, sich bekannt zu machen, ist der Aspekt der Motivation frühneuzeitlicher Leichenpredigten berührt. Zunächst muß in diesem Zu83 Großes •vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste ..., Bd. 16, Halle und Leipzig: verlegt von JohannHeinrich Zedier 1737, Sp. 1561 das Stichwort Leichen-Kosten; vgl. auch Sp. 1559f. das Stichwort Leichen-Begängniß: Zu dem Leich-Gepränge gehören auch die Leichen-Predigten, welche dem verstorbenen zu Ehren und Andencken Uber seiner Leiche, oder nach der Begräbniß gehalten werden. An einigen Orten, sonderlich in denen Städten wird dergleichen nicht verstattet, ausser gewissen Ständen, als etwa denen Magistrats-Personen, Predigern, Doctoren «[nd] d[e.r] gleichen], 84 Vgl. Christa Pieske, Die druckgraphische Ausgestaltung von Leichenpredigten. Typologie und Ikonographie, in: Lenz, Leichenpredigten als Quelle, Bd. 2, S. 3-19. 8 5 Vgl. Gerd-Rüdiger Koretzki, Leichenpredigten und ihre Druckherstellung. Ein Beitrag zur Untersuchung der materiellen Voraussetzungen einer gesellschaftlichen Modeerscheinung, in: Lenz, Leichenpredigten als Quelle, Bd. 2, S. 333-359. 8 6 Vgl. Koretzki, Leichenpredigten und ihre Druckherstellung, S. 346. 8 7 Vgl. Fritz Roth, Restlose Auswertungen von Leichenpredigten und Personalschriften für genealogische Zwecke, Bd. 1, Boppard/Rhein 1959, S. X.

Leichenpredigten als Quelle der Sozial- und Stadtgeschichte

25

sammenhang jedoch betont werden, daß Leichenpredigten der Erbauung dienten. Dies ist ihr erster und vornehmster Zweck. 88 In dieser Eigenschaft verbanden sie Altes mit Neuem. Das Alte war die spätmittelalterliche katholisch geprägte ars-moriendi-Literatur, in deren Tradition sie standen. Doch auch im Schöße der protestantischen Kirche war ein glückseliges Sterben möglich — dies galt es mit den Leichenpredigten zu beweisen. 89 Darum enthalten die Personalteile so ausführliche Beschreibungen der Sterbeszenen, weil das Sterben und insbesondere das »richtige« Sterben als die letzte entscheidende Bewährungsprobe eines jeden Menschen aufgefaßt wurde. 90 Unerschütterlichkeit im christlichen Glauben, Furchtlosigkeit vor dem Tod und das Vertrauen auf Jesum Christum kennzeichnen und begleiten einen idealtypischen, ebenfalls meist stark standardisierten Sterbeverlauf, an dessen Ende der Sterbende den Tod sanft und selig fand. Ein solcher Tod hatte Vorbildcharakter für die Lebenden. Doch auch wenn die Ausführlichkeit und Vorbildlichkeit der Sterbeszene dem Spätmittelalter verhaftet ist, so zeichnet sich doch auch und gerade im Spiegel der Leichenpredigten der Wandel zum Neuen ab. Denn Vorbild sollte der Mensch nicht nur im Sterben sein. Nicht mehr der Augenblick des Todes entscheidet über das Schicksal im Jenseits, dieses Risiko wäre zu groß gewesen.91 Vorbildlich geführt sollte das ganze Leben sein. Gerade die Darstellung des individuellen Lebenslaufs unterstreicht diesen Vorbildcharakter eines christlich und ehrenvoll geführten Lebens, bringt die Eintracht von bürgerlichem Lebenslauf und evangelischer Ethik zum Ausdruck. 92 So ist das Exempel eines nachahmenswert beispielhaften Lebens die zweite große, sozial begründete Motivation der Leichenpredigten. Auf den Charakter von Leichenpredigten als Statussymbol muß in diesem Zusammenhang noch einmal verwiesen werden. Die gesellschaftliche Anerkennung des Toten und seiner Familie war von herausragender Bedeutung, das Lob, mit dem der Tote geehrt werden sollte, fiel auf seine Familie zurück. Doch konnte auch der Prediger in der Tat eigennützige Ziele mit dem Verfassen von Leichenpredigten verfolgen. Sich höherenorts mit ge88

S. hierzu Winkler, Zur Motivation und Situationsbezogenheit, S. 57. Vgl. Lenz, Gedruckte Leichenpredigten, S. 37. 90 Vgl. Werner Friedrich Kümmel, Der sanfte und selige Tod. Verklärung und Wirklichkeit des Sterbens im Spiegel lutherischer Leichenpredigten des 16. bis 18. Jahrhunderts, in: Lenz, Leichenpredigten als Quelle, Bd. 3, S. 199-226, bes. S. 212. 91 S. hierzu Philippe Aries, Geschichte des Todes, München und Wien 1980, S. 387389. 92 Vgl. Fild, Leichenpredigten als Quelle, S. 106. 89

26

Einleitung

schliffenen Predigten bekannt zu machen und für eine besser dotierte Stelle auf diese Weise zu empfehlen, konnte einen Pfarrer motivieren, viele und, wie erwähnt, vor Gelehrsamkeit überbordende Leichenpredigten zu verfassen. Auch wenn dem Pietisten Philipp Jakob Spener (1635-1705) keine Eitelkeit unterstellt werden darf, so erstaunt es doch, wie freimütig er im ersten Band seiner Leichenpredigtensammlung den Berliner Kirchen- und Schulinspektoren, denen er den Band widmet, gegenüber bekennt: ich habe auch hierdurch bezeugen wollen den demüthigen respekt und gehorsam / mit welchem ich £[uer] £[dlen] £[uer] E h r erbietigst] Wol=Edl[en] Gejir[engen] und Herrlichkeit] dero so würdige Personen als hochansehnlichstes Amt venerire und ehre.93 Schließlich dürfen nicht die Wirtschaftsinteressen der Drucker außer acht gelassen werden. Es ist nicht auszuschließen, daß diese Interessen dazu beitrugen, die Modeerscheinung Leichenpredigt zu festigten, wenn nicht auch in Zeiten des Abflauens zu beleben. 94

Glaubwürdigkeit der Leichenpredigten Doch wenn Sozialprestige, Eitelkeit und gar wirtschaftliche Interessen den Druck von Leichenpredigten befördern konnten, so stellt sich zwangsläufig die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Quelle. De mortuis nil nisi bene ist Kredo und Verdikt der Quellengattung Leichenpredigt zugleich. Schon von Zeitgenossen wurden Leichenpredigten als Lügenpredigten bezeichnet. Doch konnten weder die Reformer der lutherischen Orthodoxie 95 noch Synoden der reformierten Kirche 96 dem Brauch der Leichenpredigten Einhalt gebieten. Leichenpredigten unterlagen dem rhetorischen Dreiklang von laudatio, lamentatio und consolatio97. Nicht nur aus dem Grunde, daß der Verstorbene der Gemeinde als 93

Zitiert nach Winkler, Zur Motivation und Situationsbezogenheit, S. 55. Vgl. hierzu ausführlich Koretzki, Leichenpredigten und ihre Druckherstellung, S. 346-354. So der Gegner der Leichenpredigten Johannes Brunnemann; s. hierzu Walter D e lius, Der Jurist Johannes Brunnemann (1608-1672) und der Pietismus, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 8 (1957), S. 19-22, bes. S. 20. 96 D i e Synode von Löwen 1661 verbot sämtliche Leichenpredigten, während die Synode von Franeker 1663 den Punkt der Leichenpredigten mit Stillschweigen überging; s. hierzu Balthasar Becker d. J., Kurtzer Bericht von dem Gebrauch und Mißbrauch der Leich-Sermone und Leich-Predigten ..., o. O. 1703, S. 19-23. 97 Rudolf Lenz, De mortuis nil nisi bene? Leichenpredigten als multidisziplinäre Quelle (= Marburger Personalschriften-Forschungen, Bd. 10), Sigmaringen 1990, S. 161. 94

Leichenpredigten als Quelle der Sozial- und Stadtgeschichte

27

Vorbild zu dienen hatte, sparte die Leichenpredigt mit Tadel am Toten oder beließ es bei Andeutungen seiner Fehler. Auch und gerade die lutherische Dogmatik gebot es, über die Schuld eines bereuenden Menschen, der auf Vergebung hofft, zu schweigen. 98 Die reformierte Kirche ihrerseits betonte, daß der Gottlose nicht um Gescbenck willen gerechtfertigt werden dürfe, weil auff solche Weise von GOttes Volck eine Kauffmannschafft gemacht wird." Wenn auch die Gefahr übertriebenen Lobes gegeben war, so mußte der Prediger dennoch glaubwürdig bleiben, wollte er sich, den Toten und dessen Familie nicht der Lächerlichkeit preisgeben. Der Verstorbene war der Gemeinde schließlich bekannt, offensichtliche Beschönigungen oder gar Unwahrheiten wären jedermann aufgefallen. Gerade die Pietisten, aus deren Reihen scharfe Gegner der Leichenpredigten kamen, waren in dieser Hinsicht in die Pflicht genommen — immerhin stand eine im Laufe der Zeit in den Vordergrund tretende Repräsentationsfunktion der gedruckten Leichenpredigt mit den Grundforderungen der Pietisten nach verinnerlichter stiller Frömmigkeit und sozialem Verantwortungsgefühl im Widerspruch. 100 Daß einer ihrer herausragendsten Vertreter, der Berliner Propst Philipp Jakob Spener, ein fleißiger Verfasser von Leichenpredigten war, bürgt daher für ihren Wahrheitsgehalt. 101 Und auch die zweite Führungspersönlichkeit des Pietismus, August Hermann Francke (1663-1727), befürwortete den Druck von Leichenpredigten, wenn das Leben des Verstorbenen Hörern und Lesern ein wahrhaftes Beispiel der Erbauung war. 1 0 2 Es darf in diesem Zusammenhang schließlich nicht außer acht gelassen werden, daß Personen, auf die nach ihrem Tode Leichenpredigten verfaßt wurden, im Leben vielfach Amtsträger waren. Aus diesem Grunde waren sie verpflichtet, in der Öffentlichkeit ein vorbildliches, tugendhaftes und christlich-frommes Leben zu führen. Das Lob auf ein derart geführ-

Vgl. Lenz, Gedruckte Leichenpredigten, S. 44. Becker, Kurtzer Bericht, S. 17. 100 Hierauf verweist zuletzt Hannelore Lehmann, Potsdamer gedruckte Leichenpredigten im pietistischen Beziehungsgeflecht des 18. Jahrhunderts, in: Axel L u b i n s k i / T h o mas Rudert/Martina Schattkowsky (Hrsg.), Historie und Eigen-Sinn. Festschrift für Jan Peters zum 65. Geburtstag, Weimar 1997, S. 4 3 3 ^ 5 5 , bes. S. 446. 98

99

101 So weist auch Reinhard Breymayer, Die Beredsamkeit einer Taubstummen. Zur Bedeutung des Ethos-Bereichs für die Bedeutung der pietistischen Leichenrede, in: Lenz, Leichenpredigten als Quelle, Bd. 2, S. 2 1 3 - 2 3 4 die w o h l w o l l e n d e H a l t u n g Speners d e m Leichenpredigtenbrauch gegenüber nach, w e n n der Verstorbene durch rechtschaffene Lebensführung G e w ä h r für die Glaubwürdigkeit der Leichenpredigt bot. 102 So zuletzt Ulrike Witt, Bekehrung, Bildung und Biographie. des Halleschen Pietismus, Halle 1996, S. 176.

Frauen im

Umkreis

28

Einleitung

tes Leben gehörte dementsprechend in die auf den Verstorbenen gehaltene Leichenpredigt. Fehlte es, wird dies die damalige Zuhörerschaft stutzig gemacht haben und sollte auch den heutigen Leser nachdenklich stimmen.103 Es sollte daher — nach dem Grundsatz der Juristen in dubio pro reo — nicht ausgeschlossen werden, daß das Ideal, das in den Leichenpredigten dem Leser vor Augen geführt wird, mit der Wirklichkeit des geführten Lebens übereingestimmt haben mochte. Aus diesem Grunde sollte von Leichenpredigten als Lügenpredigten mithin keine Rede sein. In Einzelfällen läßt sich der Beweis führen, daß für die Sozialgeschichte quantifizierbare Fakten in Leichenpredigten der Wahrheit entsprechen. So liegen von dem Präsidenten des fürstlich-hessischen Geheimen Rates und Kammerpräsidenten Johann Caspar von Dörnberg, der 1680 in Kassel begraben wurde, nicht nur die auf ihn gehaltene Leichenpredigt vor, sondern auch Briefe und Tagebücher.104 Wie zu erwarten beschönigen die personalia der Leichenpredigt den Lebenslauf Dörnbergs, verschweigen den lange zurückliegenden Streit mit seinem Vater um die Kosten des teuren Universitätsstudiums, von dem die Briefe und Tagebücher berichten. Die einzelnen Abschnitte seines Bildungsganges aber werden richtig und vollständig wiedergegeben. Und so wie in diesem Fall wird es sich auch in den übrigen Fällen verhalten, da, wie erwähnt, die Zuhörer oder Leser den Verstorbenen kannten und über seinen Lebensweg unterrichtet waren. Glaubwürdigkeit, Aussagekraft, Wert und Bedeutung des Literaturprodukts Leichenpredigt als Quellengattung für die historische Forschung sind folglich unstrittig und stehen anderen gleichwertigen Quellen in nichts nach.105

1 0 3 Zur Vorbildpflicht von in der Öffentlichkeit stehenden Personen und zur Glaubwürdigkeit derer Leichenpredigten s. Rudolf Lenz, Emotion und Affektion in der Familie der Frühen Neuzeit. Leichenpredigten als Quelle der historischen Familieforschung, in: Schuler, Die Familie, S. 121-146, bes. S. 137. 1 0 4 Vgl. zum folgenden ausführlich: Ralf Berg, Leichenpredigten und Bildungsverhalten. Einige Aspekte des Bildungsverhaltens ausgewählter sozialer Gruppen, in: Lenz, Leichenpredigten als Quelle, Bd. 3, S. 1 3 9 - 1 6 2 , bes. S. 139f. 1 0 5 So betont Wolfgang Ribbe, daß Leichenpredigten nicht den Wert urkundlicher Quellen hätten, Kirchenbucheinträgen im allgemeinen aber gleichzusetzen seien — vgl. Wolfgang Ribbe (Bearb.), Leichenpredigten, in: Ders./Eckart Henning, Taschenbuch für Familiengeschichtsforschung, begr. von Friedrich Wecken, 10., erw. und verb. Aufl., Neustadt/Aisch 1990, S. 1 3 2 - 1 3 4 , bes. S. 132. Von der größeren Bedeutung der Leichenpredigten als Massenquelle für Untersuchungen zur sozialen Herkunft spricht Weiss, Bevölkerung und soziale Mobilität, S. 30.

Leichenpredigten auf Berliner und Cöllner Bürger

29

Die Palette der Wissenschaftsdisziplinen, die diese Quelle nutzen können, ist breitgefächert. 106 Verschiedene Institutionen widmen sich der Leichenpredigten-Forschung. 107 Sammlungen in und auch außerhalb Deutschlands ermöglichen den Zugang zu der Viertelmillion Leichenpredigten, die in den zwei Jahrhunderten zwischen Reformationszeitalter und Aufklärung in Deutschland gedruckt wurden. 1 0 8 Die bedeutendste ihrer Art ist die der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. 1 0 9 Dort befindet sich neben anderen die größte Leichenpredigtensammlung, die der Gräfin Sophie Eleonore zu Stolberg-Stolberg (16691745). 1 1 0 Ihr wie all den anderen Sammlern jener Zeit verdankt die heutige Sozialgeschichte eine wichtige Quelle.

Leichenpredigten auf Berliner und Cöllner Bürger Quellenbestände und deren Eingrenzung

Räumliche Eingrenzung auf Berlin und Cölln Die überlieferten Leichenpredigtenbestände sind groß. Sie bedürfen der räumlichen, inhaltlichen und zeitlichen Eingrenzung, um bearbeitet werden zu können. Unter dem räumlichen Gesichtspunkt einer Regio-

1 0 6 Einen Überblick von der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte über die Stadt- und Bildungsgeschichte bis hin zur Historischen Demographie oder Familienforschung bietet der Ausstellungskatalog Leichenpredigten. Quellen zur Erforschung der Frühen Neuzeit, bearb. und hrsg. von der Forschungsstelle für Personalschriften, (Marburg/Lahn 1987). 1 0 7 Neben der bereits erwähnten Marburger »Forschungsstelle für Personalschriften« ist hier vor allem die »Deutsche Zentralstelle für Genealogie« in Leipzig zu nennen — vgl. hierzu Hans-Joachim Rothe, Aufbau und Auswertungsmöglichkeiten des Personalschriftenund Leichenpredigtenkatalogs in der Zentralstelle für Genealogie Leipzig, in: Lenz, Leichenpredigten als Quelle, Bd. 3, S. 3 6 1 - 3 6 7 , aber auch Lupoid von Lehsten, Genealogie zwischen Familiengeschichtsforschung und Prosopographie. Das Institut für personengeschichtliche Forschung, Bensheim, in: Jahrbuch der historischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland Berichtsjahr 1993 (1994), S. 2 4 - 2 8 . 1 0 8 Einen Überblick bietet Rudolf Lenz (Hrsg.), Leichenpredigten. Eine Bestandsaufnahme. Bibliographie und Ergebnisse einer Umfrage ( = Marburger Personalschriften-Forschungen, Bd. 3), Marburg/Lahn 1980. 1 0 9 Vgl. Marina Arnold, Die Leichenpredigten der Herzog August Bibliothek und ihre Erschließung, in: Überlieferung und Kritik. Zwanzig Jahre Barockforschung in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel ( = Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 21), Wiesbaden 1993, S. 1 0 5 - 1 1 2 . 1 1 0 Vgl. Fritz Roth, Geschichte und Bedeutung der Fürstlich Stolberg-Stolbergischen Leichenpredigtensammlung, in: Der Archivar 12 (1959), Sp. 2 1 7 - 2 2 6 .

30

Einleitung

naluntersuchung fiel die Wahl auf die kurfürstlich-brandenburgischen Residenzstädte Berlin und Cölln. Zum einen gibt es für diese keine Arbeit, die auf dem Quellenmaterial der Leichenpredigten fußend die Oberschicht und Führungsgruppe der Stadt erforscht. Zum anderen war die Voraussetzung und Gewährleistung gegeben, hier auf genügend Quellenmaterial zu stoßen, um zu verwertbaren Aussagen kommen zu können. Eine Prüfung der zehntausend Leichenpredigten, die Fritz Roth in den Jahren von 1959 bis 1980 auswertete und in schematisierten Zusammenfassungen darstellte, bestätigte diese Annahme. 1 1 1 Es finden sich darin 284 Leichenpredigten, die in den Jahren 1571 bis 1770 auf verstorbene Bürger Berlins und Cöllns gehalten wurden. Damit ist die Residenz unter den deutschen Städten mit einem Anteil von 2,84 Prozent weit überdurchschnittlich vertreten. Sie wird nur von Städten wie Leipzig, der Stadt des Buchdrucks und der bedeutendsten deutschen Buchmesse, übertroffen. Bieten Roths Auswertungen ihrerseits einen repräsentativen Ein- und Überblick über die Leichenpredigtenbestände in Deutschland, so bot der hohe Anteil von Leichenpredigten Berliner und Cöllner Bürger bei Roth seinerseits die Gewähr auf einen reichhaltigen Fundus von Leichenpredigten auf Bürger der Residenz überhaupt. Eine Analyse der Rothschen Auswertungen von Leichenpredigten ergab hinsichtlich der Eingrenzung des Untersuchungszeitraumes folgendes Bild: Während die Quellengattung Leichenpredigt, wie dargestellt, zwei Blütezeiten kannte, die Jahrzehnte vor und nach dem Dreißigjährigen Kriege, weichen die Zahlen Berlin und Cölln betreffend deutlich davon ab. Auch hier gibt es zunächst für das 16. Jahrhundert nur wenige Leichenpredigten, die eine auf größere Datenmengen angewiesene quantifizierende Untersuchung zur Sozial- und Stadtgeschichte nicht rechtfertigen würden. Sodann kommt es gleichermaßen in Berlin und Cölln mit Beginn des 17. Jahrhunderts bis an die Schwelle des Dreißigjährigen Krieges zu einem allmählichen Ansteigen der Anzahl der Leichenpredigten. In der ersten Hälfte des Dreißigjährigen Krieges sinken die Zahlen wie zu erwarten, ein Zeichen der wirtschaftlichen Belastung der Residenz und ihrer Bürger durch Kipper- und Wipperzeit, kaiserliche oder schwedische Kontributionen und Einquartierungen. Doch schon in der zweiten Kriegshälfte kommt es zu einem erneuten, deutlichen Anstieg der Zahl von Leichenpredigten. Bei allen Klagen der Bürgerschaft über die Kosten des Krieges waren die für die Schweden aufzubringenden Gelder so bemessen, daß nicht wenige sich erneut den Luxus einer Lei-

111

Roth, Restlose

Auswertungen.

Leichenpredigten auf Berliner und Cöllner Bürger

31

chenpredigt leisten konnten. 1 1 2 So verwundert es nicht, wenn, wie andernorts auch, im Nachkriegsjahrzehnt die Zahl der Leichenpredigten in die Höhe schnellt, um anschließend zwar wieder abzusinken, insgesamt aber für den Rest des Jahrhunderts auf hohem Niveau zu verweilen. Vor allem aber in den Jahren um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert fallen Berlin und Cölln vollkommen aus dem Rahmen. Die hier erzielten hohen, alle anderen Zeiträume übertreffenden Zahlenwerte liegen in der Tätigkeit des Berliner Propstes Philipp Jakob Spener begründet. E r wirkte von 1691 bis zu seinem Tode im Jahre 1705 an St. Nikolai und unterhielt beste Kontakte zur Berliner Gesellschaft. 1 1 3 Ihm sind zahlreiche Leichenpredigtensammlungen zu verdanken. Sein Tod fällt zusammen mit einem rapiden, zeittypischen Abfallen der Leichenpredigtenproduktion.

ABB. 1: Anzahl der Leichenpredigten in Berlin/Cölln 1571-1770 nach F. Roth, Auswertungen von Leichenpredigten (1959-1980).

1 1 2 Faden, Berlin im Dreißigjährigen Kriege, S. X l f . schreibt: Nirgends begegnet uns die menschliche Neigung, die eigene wirtschaftliche Lage ungünstig zu beurteilen und sich damit gegen jede Forderung des Staates solange wie möglich zu wehren, in so vollendeter Form wie gerade damals .., Drastischer noch übte die ältere historische Forschung harsche Kritik. So urteilt Johann Gustav Droysen, Geschichte der Preußischen Politik, Tl. 3: Der Staat des großen Kurfürsten, Abt. 3, Leipzig 1865, S. 2 8 5 : . . . nur muß man beachten, daß das »Winseln und jämmerliche Klagen« zum Ton der Zeit gehört. 1 1 3 Vgl. Martin Brecht, Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen, in: Ders. (Hrsg.), Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert (= Geschichte des Pietismus, Bd. 1), Göttingen 1993, S. 281-389, bes. S. 353.

32

Einleitung

Wird bedacht, daß diejenigen Einwohner der Residenzen, auf die bei Roth Leichenpredigten gehalten wurden, eine durchschnittliche Lebenserwartung von 55 Jahren hatten, so ergibt sich unter Zugrundelegung einer solchen durchschnittlichen Lebensspanne und unter Berücksichtigung der Verteilung der Leichenpredigten Berlins und Cöllns über das 17. Jahrhundert hinweg ein Untersuchungszeitraum, der dieses gesamte 17. Jahrhundert umfaßt. Der Schwerpunkt liegt in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, der Regierungszeit des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm, und reicht bis an die Vereinigung Berlins von 1709 heran. Für die Stadtgeschichtsschreibung der Residenz ist diese Zeit vor allem unter dem Gesichtspunkt des Widerstreites zwischen städtischer Autonomie und landesherrlicher Autorität von Interesse.

Inhaltliche Eingrenzung: Der Kreis der Probanden Diesen Gesichtspunkt berücksichtigt die inhaltliche Eingrenzung der umfangreichen Quellenbestände und des Untersuchungsthemas, indem die wohlhabende Oberschicht und Führungsgruppe der Residenz in ihren Leichenpredigten erforscht werden sollte. Ermittel- und erfaßbar waren die Mitglieder der Räte von Berlin und Cölln und ihre Familien. Dazu wurde das grundlegende Berlin-Werk von Johann Christoph Müller und Georg Gottfried Küster herangezogen. 114 Die vierte, 1769 von Küster herausgegebene Abteilung enthält neben anderen die Kapitel Von den Stadt-Prxsidenten und Burgermeistern, Von den Syndicis und StadtSecretariis, Von den Raths-herren, Von den Richtern, Actuarien, Gerichts-schöppen und Gerichts-Advocaten. Damit war es möglich, Bürgermeister, Stadtschreiber, Kämmerer und übrige Ratsherren der Residenzstädte Berlin und Cölln zu ermitteln. Weitere Quellen und neuere Darstellungen stützten, ergänzten oder korrigierten dieses Datenmaterial. 115 Ein konkreter Personenkreis wurde erfaßt, von dem für jeden einzelnen Name und Vorname sowie meist die Daten des Amtsantrittes und des Todes feststanden. Insgesamt konnten ermittelt werden:

Johann Christoph Müller/Georg Gottfried Küster, Altes und Neues Berlin ..., 4 Tie [künftig zitiert: Müller/Küster, Altes und Neues Berlin, Tl. 1 (bzw. 2 , 3 , 4)], Berlin 1737-1769. 1 1 5 So Gebhardt, Berliner Bürgerbuch und Ders., Cöllner Bürgerbücher oder Schräder, Die Verwaltung Berlins und Goeters, Chronologie der Berliner Stadtoberhäupter, S. 6 2 3 - 6 6 9 . 114

Leichenpredigten auf Berliner und Cöllner Bürger

33

1. die 35 Bürgermeister Berlins — von Martin Pasche, Amtsantritt 1602, gestorben 1626, bis Heinrich Bernhard Meier, Amtsantritt 1707, gestorben zwischen 1728 und 1731, 2. die 19 Bürgermeister Cöllns an der Spree — von Sebastian Brunnemann, Amtsantritt 1604, gestorben 1638, bis Johann Lauer, Amtsantritt 1708, gestorben nach 1708, 3. die drei Bürgermeister Berlins seit der Stadtvereinigung von 1709, die neben drei Bürgermeister traten, die schon vorher dieses Amt in der Residenz bekleidet hatten — von Ludwig Senning, gestorben 1736, über Johann Joachim Litzmann, gestorben 1712, bis Werner Thieling, gestorben 1735, 4. die neun Oberstadtschreiber/Syndici und Stadtschreiber/Secretarii Berlins vom Anfang des 17. Jahrhunderts bis zur Stadtvereinigung von 1709, die nicht Bürgermeister wurden, 5. die sechs Oberstadtschreiber/Syndici und Stadtschreiber/Secretarii Cöllns an der Spree vom Anfang des 17. Jahrhunderts bis zur Stadtvereinigung von 1709, die nicht Bürgermeister wurden, 6 . 1 9 Ratsherren Berlins vom Anfang des 17. Jahrhunderts bis zur Stadtvereinigung von 1709, die mindestens auch das Amt eines Kämmerers oder eines Stadtrichters bekleideten und nicht Secretarius, Syndicus oder Bürgermeister wurden oder die verwandt waren mit Familien der Bürgermeister, Secretarii oder Syndici, 7. 22 Ratsherren Cöllns an der Spree vom Anfang des 17. Jahrhunderts bis zur Stadtvereinigung von 1709, die mindestens auch das Amt eines Kämmerers oder eines Stadtrichters bekleideten und nicht Secretarius, Syndicus oder Bürgermeister wurden oder die verwandt waren mit Familien der Bürgermeister, Secretarii oder Syndici.

Zeitliche Eingrenzung:

Das 17.

Jahrhundert

Dieser nach inhaltlichen Kriterien bestimmte Probandenkreis mußte wiederum nach den oben beschriebenen Merkmalen zeitlich eingegrenzt werden. D a eine neue Amtsperson meist auf eine verstorbene folgte, diente das Amtsantrittsjähr als Grundlage für die Entscheidung, für welchen Amtsträger schon die Leichenpredigt ermittelt werden sollte und für welchen Amtsträger dies nicht mehr geschehen sollte — so unter anderen 1602, das Jahr in dem Martin Pasche dem ein Jahr zuvor verstorbenen Leonhard Weiler im Amt des Berliner Bürgermeisters folgte. Martin Pasche starb 1626, zum Zeitpunkt einer im Alten Reich insgesamt ansteigenden Zahl von Leichenpredigten und gehört somit zu der ersten Ge-

34

Einleitung

neration von Berliner Bürgermeistern, für die die Leichenpredigten ermittelt werden sollte. Ähnlich wurden die Amtspersonen bestimmt, die zu den letzten gehörten, nach deren Leichenpredigten geforscht werden sollte. So starben die ersten Bürgermeister des 1709 vereinigten Berlins alle in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, mithin in der Zeit, in der die Modeerscheinung Leichenpredigt ihr Ende fand. Sie gehören folglich zu den letzten, für die die Aussicht darauf bestand, ihre Leichenpredigt zu finden. Die große Zahl von Ratsherren mußte wie dargestellt verringert werden, um bearbeitet werden zu können.

Leichenpredigtenbestände D e r Kreis der Probanden umfaßte somit insgesamt 113 Personen zuzüglich ihrer Verwandten, deren Leichenpredigten mitberücksichtigt werden sollten, da sie wertvolle ergänzende Hinweise zu geben in der Lage sind. U m die Suche nach Leichenpredigten zu vermeiden, die bereits von Fritz Roth verzeichnet wurden, mußten zunächst dessen Auswertungen von Leichenpredigten eingesehen werden. 1 1 6 D a Leichenpredigtensammlungen meist am O r t ihrer Entstehung verblieben und noch heute zu finden sind, waren sodann die Berliner Leichenpredigtenbestände zu ermitteln. Danach befinden sich in Berlin große Bestände der Quelle. 1 1 7 D e r größte ist im Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin im Haus Unter den Linden. Er umfaßt rund 7.000 Exemplare. 1 1 8 D e r B e stand ist schlicht katalogisiert, was die Recherche erschwert. 1 1 9 Roth, Restlose Auswertungen. Zur Orientierung vgl. Lenz, Leichenpredigten. Eine Bestandsaufnahme — die Berliner Bestände betreffend s. S. 71f., S. 116f. und S. 180f. Neben Fragen nach der Katalogisierung und Zugänglichkeit der Bestände ist vor allem die nach den Umfangen von Belang für die Untersuchung. 116

117

Vgl. Lenz, Leichenpredigten. Eine Bestandsaufnahme, S. 180. D e r Fachkatalog (Ee) verzeichnet in zwei ledernen Foliobänden 6.800 im Jahre 1933 von der Fürstlich Stolbergschen Bibliothek in Wernigerode für die Staatsbibliothek käuflich erworbene Leichenpredigten in einem Chronologischen Index nach den Todesdaten der Verstorbenen oder nach dem Erscheinungsjahr der Leichenpredigt. 118

119

Das seinerzeitige, heute nicht mehr existierende Auskunftsbüro der deutschen Bibliotheken erstellte als Teil eines geplanten, begonnenen, jedoch nie vollendeten Gesamtkataloges den Personalschriftenkatalog der Staatsbibliothek zwischen den Weltkriegen. Dieser blieb erhalten. E r umfaßt 51 Kapseln mit zirka 20.000 Titeln, darunter die Leichenpredigtensammlung der Staatsbibliothek, und 30 weitere Kapseln mit Registerzetteln. Dieser Zettelkatalog ist alphabetisch geordnet. Für die sogenannte Bückeburger Leichenpredigtensammtang gibt es einen je dreibändigen alphabetischen Katalog der Verstorbenen sowie der Verfasser. Andere Samm-

Leichenpredigten auf Berliner und Cöllner Bürger D e r nächstgrößere Bestand v o n rund 4 . 5 0 0 Leichenpredigten

35 findet

sich in der Berliner Stadtbibliothek. 1 2 0 E r geht z u m größten Teil auf die Sammlungen des Berliner Geheimrats J o h a n n Christian Tieffenbach z u rück, der sie A n f a n g des 18. Jahrhunderts dem Berlinischen G y m n a s i u m z u m G r a u e n K l o s t e r v e r m a c h t e . 1 2 1 Katalogisiert w u r d e n diese L e i c h e n predigten z u Beginn dieses Jahrhunderts v o n H e r m a n n N o h l . 1 2 2 E i n kleiner Bestand v o n Leichenpredigten der St. M a r i e n - und St. N i k o l a i Kirchen in Berlin w u r d e v o n Werner Bienwald aufgearbeitet. 1 2 3 N a c h forschungen bei der Evangelischen Kirche B e r l i n - B r a n d e n b u r g s führten mit einigen wenigen positiven Ergebnissen ins Domstiftsarchiv B r a n d e n burgs an der H a v e l . 1 2 4 D o c h s o w o h l durch den Austausch v o n Leichenpredigten

unter

Sammlern als auch auf den üblichen Wegen der Distribution an Verw a n d t e und Bekannte oder unter Geistlichen k o n n t e n Berliner und C ö l l ner Leichenpredigtenexemplare in Sammlungen andernorts gelangen. Diese sind über Kataloge zu ermitteln. A n veröffentlichten Katalogen

lungen wie die Sammlung von Plotho oder die Sammlung Köhne, die in das Eigentum der Staatsbibliothek übergingen, wurden schon früher verzeichnet, so in der Vierteljahrschrift für Wappen-, Siegel- und Familienkunde 27 (1899), S. 263-286 und S. 290f. Ausführlich zur Geschichte der Personalschriften der Staatsbibliothek vgl. Walter Transfeldt, Die familiengeschichtlichen Quellen der Preußischen Staatsbibliothek (= Flugschriften für Familiengeschichte, H. 18), 3. verm. und verb. Aufl., Leipzig 1936. Vgl. Lenz, Leichenpredigten. Eine Bestandsaufnahme, S. 181. Vgl. Peter P. Rohrlach, Die Sondersammlungen der Berliner Stadtbibliothek, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 87 (1973), S. 405-417, bes. S. 412; vgl. auch ders., Die Sammlungen des Grauen Klosters in Berlin, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 12 (1961), S. 29-36 und ders., Die Bibliothek des ehemaligen Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster. Ein Beitrag zur Berliner Bibliotheksgeschichte, in: Beiträge zur Berliner Bibliotheksgeschichte 1 (1981), S. 7-36. 1 2 2 Vgl. Hermann Nohl, Die Leichenpredigten der Bibliothek des grauen Klosters, in: Vierteljahrschrift für Wappen-, Siegel- und Familienkunde 31 (1903), S. 191-291 und ders., Die Leichenpredigten und Gelegenheitsgedichte der Bibliothek des grauen Klosters, in: Vierteljahrschrift für Wappen-, Siegel- und Familienkunde 36 (1908), S. 226241. 1 2 3 Vgl. Werner Bienwald, Die Leichenpredigten von St. Marien/St. Nikolai in Berlin, in: Archiv für Sippenforschung und alle verwandten Gebiete 28 (1962), H. 6, S. 318-322. 1 2 4 Neben dem dortigen allgemeinen alphabetischen Katalog der Bibliotheks- und Archivbestände s. Richard Behre (Bearb.), Verzeichnis der Leichenpredigten der Domund Katharinenbibliothek Brandenburg, Brandenburg an der Havel [1954]; ferner Peter P. Rohrlach (Bearb.), Personalschriftenkatalog der Kirchenbibliothek Altlandsberg, Berlin [1969]; schließlich Adolf Laminski, Personalschriften-Register der Kirchenbibliothek Blumberg/bei Berlin, Berlin 1991. 120 121

36

Einleitung

waren heranzuziehen die von Augsburg, 125 Braunschweig, 126 Bremen, 127 Breslau, 128 Darmstadt, 129 Dresden, 130 Gießen, 131 Göttingen, 132 Halle, 133 Hannover, 134 Helmstedt, 135 Hildesheim, 136 Hof, 1 3 7 Jena, 138

125 Leichenpredigten-Sammlung im Besitz des Stadtarchivs Augsburg, in: Die Fundgrube 28 (1963), S. 3-14. 126 Gustav Früh/Hans Goedeke/Hans-Jürgen von Wilckens (Bearb.), Die Leichenpredigten des Stadtarchivs Braunschweig (= Niedersächsischer Landesverein für Familienkunde e. V. Hannover, gegr. 1913, Sonderveröff. 14), 9 Bde, Hannover 1976-1985. 127 Hans-Jürgen von Witzendorff-Rehdiger (Bearb.), Die Personalschriften der Bremer Staatsbibliothek bis 1800 (= Bremische Bibliographie, Bd. 1), Bremen 1960. 128 Rudolf Lenz (Hrsg.), Katalog ausgewählter Leichenpredigten der ehemaligen Stadtbibliothek Breslau (= Marburger Personalschriften-Forschungen, Bd. 8), Marburg/Lahn 1986 und ders. (Hrsg.), Katalog der Leichenpredigten und sonstiger Trauerschriften in der Dombibliothek Breslau (= Marburger Personalschriften-Forschungen, Bd. 16), Sigmaringen 1997 sowie zuletzt ders. (Hrsg.), Katalog der Leichenpredigten und sonstiger Trauerschriften in der Bibliothek des Ossolineums Wroclaw/Breslau (= Marburger Personalschriften-Forschungen, Bd. 21), Sigmaringen 1998. Zur Ossolineums-Bibliothek vgl. Ortrud Kape, Die Geschichte der wissenschaftlichen Bibliotheken in Breslau in der Zeit von 1945 bis 1955 unter besonderer Berücksichtigung der Universitätsbibliothek, St. Katharinen 1993, S. 116. 129 Rudolf Lenz (Hrsg.), Katalog der Leichenpredigten und sonstiger Trauerschriften in der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt (= Marburger Personalschriften-Forschungen, Bd. 11, 1-2), 2 Tie, Sigmaringen 1990 und ders. (Hrsg.), Katalog der Leichenpredigten und sonstiger Trauerschriften im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt (= Marburger Personalschriften-Forschungen, Bd. 13), Sigmaringen 1991. 130 Rudolf Lenz (Hrsg.), Katalog der Leichenpredigten und sonstiger Trauerschriften im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden (= Marburger Personalschriften-Forschungen, Bd. 17, 1-2), 2 Tie, Sigmaringen 1993 und ders. (Hrsg.), Katalog ausgewählter Leichenpredigten und sonstiger Trauerschriften in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden (= Marburger Personalschriften-Forschungen, Bd. 19, 1-2), 2 Tie, Sigmaringen 1995. 131 Rudolf Lenz (Hrsg.), Katalog der Leichenpredigten und sonstiger Trauerschriften in der Universitätsbibliothek Gießen (= Marburger Personalschriften-Forschungen, Bd. 7, 1-2), 2 Tie, Marburg/Lahn 1985. 132 Manfred von Tiedemann (Bearb.), Katalog der Leichenpredigtensammlung der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek in Göttingen, 3 Bde, Göttingen 1954-1955. 133 Karl Weiske, Familiengeschichtliche Quellen in der Hauptbibliothek und den Archiven der Franckeschen Stiftung zu Halle a. S., in: Familiengeschichtliche Blätter 22 (1924), Sp. 49-56 und Leichenpredigten in der Hauptbibliothek der Franckeschen Stiftungen zu Halle (Saale). Ein Verzeichnis (= Arbeiten aus der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle a. d. Saale, Bd. 17), Halle (Saale) 1975. 134 Wilhelm Linke, Katalog der Leichenpredigten und sonstigen Personalschriften des Staatsarchivs zu Hannover (= Sonderveröffentlichungen der Ostfälischen Familienkundlichen Kommission, Nr. 7), Leipzig 1931. 135 Verzeichnis der Leichenpredigten der ehemaligen Universitätsbibliothek Helmstedt, Helmstedt 1957.

Leichenpredigten auf Berliner und Cöllner Bürger

37

Kempten, 139 Liegnitz, 140 Lüneburg, 141 Marburg, 142 Meiningen, 143 Merseburg, 144 Minden, 145 Oels, 146 Oppeln-Rogau, 147 Rothenburg ob der Tauber,148 Schleusingen, 149 Schweinfurth, 150 Weimar,151 Weißenburg, 152

136

Hans-Jürgen von Wilckens, Hildesheimer Leichenpredigten und Gelegenheitsschriften (= Niedersächsischer Landesverein für Familienkunde e. V. Hannover, gegr. 1913, Sonderveröff. 11), Hannover 1963. 137 Leichenpredigten-Sammlung in Hof a. d. Saale, in: Die Fundgrube 1 (1955) S. 7 32. 138 Herbert Koch, Die Leichenreden der Universitätsbibliothek Jena, Bd. 1,1-2,3. o. O., o.J. 139 Leichenpredigten-Sammlung der ev.-luth. St. Mang-Kirche in Kempten/Allgäu, in: Die Fundgrube 16 (1959), S. 9-63. 140 Richard Mende, Katalog der Leichenpredigten-Sammlungen der Peter-Paul-Kirchenbibliothek und anderer Bibliotheken in Liegnitz (= Bibliothek familiengeschichtlicher Quellen, Bd. 9), Marktschellenberg 1938. 141 Hans-Jürgen von Wilckens, Die Leichenpredigten der Lüneburger Ratsbücherei, aus dem Nachlaß hrsg. von Uta Reinhardt, Lüneburg 1975. 142 Rudolf Lenz (Hrsg.), Katalog der Leichenpredigten und sonstiger Trauerschriften in der Universitätsbibliothek Marburg (= Marburger Personalschriften-Forschungen, Bd. 2,1-2), 2 Tie, Marburg/Lahn 1980; ders. (Hrsg.), Katalog der Leichenpredigten und sonstiger Trauerschriften in der Universitätsbibliothek Marburg. Nachtrag. Unter Berücksichtigung von Leichenpredigten und Trauerschriften weiterer Marburger Sammlungen (= Marburger Personalschriften-Forschungen, Bd. 12), Sigmaringen 1990 sowie ders. (Hrsg.), Katalog der Leichenpredigten und sonstiger Trauerschriften im Hessischen Staatsarchiv Marburg (= Marburger Personalschriften-Forschungen, Bd. 14), Sigmaringen 1992. 143 Leichenpredigten-Sammlung in Meiningen, in: Die Fundgrube 17 (1960), S. 7-33. 144 Robert Winckler, Die Leichenpredigten in der Bibliothek des Domkapitels zu Merseburg, in: Familiengeschichtliche Blätter 10 (1912), Sp. 7-8 und Ν . N . Klingelstein, Gedruckte Leichenpredigten 1551-1651 im Domkapitelarchiv zu Merseburg, in: Familiengeschichtliche Blätter 35 (1937), Sp. 55-63 und 37 (1939), Sp. 259-262. Karl Grossmann, Katalog der Mindener Leichenpredigten-Sammlung (= Mindener Beiträge 14), Minden 1972. 146 Rudolf Lenz (Hrsg.), Katalog der Leichenpredigten und sonstiger Trauerschriften in der Bibliothek der Schloßkirche zu Oels (= Marburger Personalschriften-Forschungen, Bd. 20), Sigmaringen 1998. 147 Rudolf Lenz (Hrsg.), Katalog der Leichenpredigten und sonstiger Trauerschriften in der Öffentlichen Woiwodschaftsbibliothek zu Oppeln-Rogau (= Marburger Personalschriften-Forschungen, Bd. 22), Sigmaringen 1998. 148 Rudolf Lenz (Hrsg.), Katalog der Leichenpredigten im Stadtarchiv Rothenburg ob der Tauber (= Marburger Personalschriften-Forschungen, Bd. 6), Marburg/Lahn 1983. 149 Leichenpredigten-Sammlung in Schleusingen, in: Die Fundgrube 20 (1960), S. 3 32. 150 Leichenpredigten-Sammlung in Schweinfurth, in: Die Fundgrube 25 (1962), S. 5 29.

38

Einleitung

Wiesbaden, 1 5 3 Zerbst, 154 Zittau, 155 Zwickau, 1 5 6 der Vogelsbergregion, 157 sowie der Katalog der größten und bedeutendsten, der Stolberg-Stolberg'schen Leichenpredigten-Sammlung. 158 Dieses engmaschige Netz von Leichenpredigten-Katalogen konnte noch feiner geknüpft werden durch die unveröffentlichten Kataloge der Marburger Forschungsstelle für Personalschriften. Dazu zählen drei Aktenordner, in denen nach Orten geordnet 90 in Aufsätzen katalogisierte und in Zeitschriften publizierte Leichenpredigten-Sammlungen ausgewertet wurden, sodann ein Aktenordner des 3.307 Leichenpredigten umfassenden Bestandes der Intensivauswertung der Marburger Forschungsstelle, in dem sämtliche Personennamen, Mädchen- und Witwennamen und Ortsnamen verzeichnet sind und schließlich ein rund 17.000 schlesische Leichenpredigten erfassender Titelblattkatalog. In Leipzig verfügt die Deutsche Zentralstelle für Genealogie über die im Zuge der Recherchen ausgewertete Ahnenstammkartei des deutschen Volkes, in der 1,4 Millionen Personen vorwiegend mitteldeutscher Provenienz aus der Zeit zwischen 1600 und 1800 verzeichnet sind. Der für die Untersuchung bearbeitete Gesamtkatalog der Personalschriften und

1 5 1 Selma von Lengefeld, Leichenpredigten und andere Gelegenheitsschriften in der Thüringer Landesbibliothek zu Weimar, in: Familiengeschichtliche Blätter 30 (1932), Registerheft, Sp. 361-370. 1 5 2 G. Wulz, Verzeichnis der Leichenpredigten der Stadtbibliothek Weißenburg i. Bay., in: Sonderdruck der Blätter für Fränkische Familienkunde 12 (1937), H. 1-2, S. 1-18. 1 5 3 Rudolf Lenz (Hrsg.), Katalog der Leichenpredigten und sonstiger Trauerschriften im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (= Marburger Personalschriften-Forschungen, Bd. 15), Sigmaringen 1994. 154 Leichenpredigten-Sammlung des Francisceums zu Zerbst, in: Die Fundgrube 14 (1958), S. 7-56. 155 Leichenpredigten-Sammlung in Zittau/Sachsen, in: Die Fundgrube 19 (1960), S. 3-92. 1 5 6 Ν. N. Förster, Leichenpredigten in der Ratsschulbücherei in Zwickau, in: Familiengeschichtliche Blätter 17 (1919), Sp. 241f. 1 5 7 Rudolf Lenz (Hrsg.), Katalog der Leichenpredigten und sonstiger Trauerschriften in Bibliotheken und Archiven der Vogelsbergregion (= Marburger PersonalschriftenForschungen, Bd. 9), Marburg/Lahn 1987. 1 5 8 Werner Konstantin von Arnswaldt/Friedrich Wecken (Bearb.), Katalog der fürstlich Stolberg-Stolberg'schen Leichenpredigten-Sammlung (= Bibliothek familiengeschichtlicher Quellen, Bd. 2), Bd. 1-4,2, Leipzig 1927-1935; dazu: Reinhold Jauernig, Ergänzungen und Berichtigungen zu Bd. 1 und 2 des Katalogs der fürstlich StolbergStolberg'schen Leichenpredigten-Sammlung, in: Praktische Forschungshilfe 26 (1960), N. F. Bd. 2, S. 322-326.

Leichenpredigten auf Berliner und Cöllner Bürger

39

Leichenpredigtensammlungen der Leipziger Zentralstelle erfaßt 15.000 Personen nach den Namen der Geehrten. 1 5 9 Auf diese Weise wurde angestrebt, bei der Suche nach Leichenpredigten nahezu alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Ermittlung von Leichenpredigten zu nutzen und auszuwerten. Es wurde weitestgehende Vollständigkeit erreicht. 160

Ermittelte Leichenpredigten auf Berliner und Cöllner Nach der dargestellten räumlichen, inhaltlichen und zeitlichen Eingrenzung des Probandenkreises waren die Leichenpredigten von 113 Amtsinhabern zu ermitteln gewesen. Von diesen fanden sich 48, mithin 42,5 Prozent. Hinzuzurechnen sind 80 Leichenpredigten auf Verwandte dieser Amtsinhaber. Im einzelnen ergab die Auszählung der ermittelten Leichenpredigten folgendes, nach Amtsinhabern und deren Verwandten sowie drei Zeiträumen unterschiedenes Bild (siehe TABELLE L). Die Unterscheidung zwischen Amtsträgern und deren Verwandten war notwendig, um zu verdeutlichen, wie hoch der Anteil der tatsächlich ermittelten Leichenpredigten auf Amtsinhaber ist, und in welchem Verhältnis er zur Zahl der Leichenpredigten auf Verwandte steht. Deren Leichenpredigten sind mitunter nicht weniger aufschlußreich als die der Amtsinhaber. Die Leichenpredigten auf Verwandte sind unerläßlich zur Vervollständigung des Bildes, das es von den Ratsfamilien zu entwerfen gilt. Der Personalteil einer Leichenpredigt auf einen Ahnen oder Nachkommen einer Amtsperson kann die Angaben über Vor- oder Nachfahren erheblich vermehren. Die Entwicklung der Familie, ihr Auf- und Abstieg in der Geschichte kann dokumentiert werden. Jede Leichenpredigt auf die Ehefrau eines Amtsinhabers erweitert den Einblick in den

1 5 9 Die Angaben sind dem Merkblatt für Benutzer und Interessenten der Deutschen Zentralstelle für Genealogie in Leipzig entnommen. 1 6 0 Wirkliche Vollständigkeit zu erreichen, war bei der Vielzahl kleiner und kleinster Sammlungen kaum möglich und hätte die Aussagekraft des überlieferten und aufgefundenen Quellenmaterials nicht in nennenswertem Maße erhöht. D i e Wahrscheinlichkeit, noch auf zu suchende Leichenpredigten zu stoßen, war nahezu gleich Null. D e n n bemerkenswerterweise wurde nicht eine einzige Leichenpredigt außerhalb Berlins ermittelt, die sich nicht auch schon in den Berliner Beständen und in einigen wenigen Fällen in den Beständen des Domstiftsarchivs Brandenburgs an der Havel angefunden hatte!

40

Einleitung TABELLEL

Überlieferte Leichenpredigten (Lpp.) auf Amtsinhaber in Berlin/Cölln und ihre Verwandten

Ämter

Anzahl Amtsinhaber

Lpp. Amtsinhaber bis 1648

Lpp. Amtsinhaber bis 1709

Lpp. Amtsinhaber nach 1709

Lpp. Amtsinhaber insgesamt

Lpp. Verwandte bis 1648

Lpp. Verwandte bis 1709

Lpp. Verwandte nach 1709

Lpp. Verwandte insgesamt

1.) Bürgerin. Bln.

35

3

12

1

16

6

25

1

32

2.) Bürgerin. Cölln

19

1

6

1

8

7

12

2

21

3.) Bürgerin, von 1709 an

3

0

0

0

0

0

0

0

0

4.) Stadtschr. Bln.

9

0

3

0

3

1

3

0

4

5.) Stadtschr. Cölln

6

0

0

0

0

0

1

1

2

6.) Ratsherrn Bln.

19

0

9

2

11

0

13

5

18

7.) Ratsherrn Cölln

22

3

7

0

10

0

3

0

3

113

7

37

4

48

14

57

9

80

Summe

Heiratskreis der Amtsperson. Leichenpredigten auf weitere, angeheiratete Familienmitglieder können diesen Einblick vertiefen. 161 Die Differenzierung nach drei Zeiträumen ergab sich aus der Notwendigkeit, die unterschiedliche Verteilung des Leichenpredigtenaufkommens darzustellen. Es wurden zwei Daten gewählt, die einerseits für die Berliner Geschichte von Bedeutung sind, andererseits sich an der typischen Verteilung des Leichenpredigtenaufkommens in Berlin und Cölln 1 6 1 I m einzelnen wurden die Leichenpredigten auf Ehefrauen, Großeltern, Eltern, Geschwister, Kinder, Enkel sowie Schwiegersöhne und -töchter mitberücksichtigt.

Leichenpredigten auf Berliner und Cöllner Bürger

41

orientieren. Das Jahr 1648 bedeutete für die Residenz sowohl einen dynastischen als auch einen demographischen Einschnitt. Der junge Kurfürst Friedrich Wilhelm stand im erst achten Jahr seiner langjährigen Regierungszeit am Anfang einer erfolgreichen Aufbauarbeit nach dem Kriege. Und die Einwohnerzahl Berlins befand sich auf einem Tiefpunkt, von dem aus es nur noch aufwärts ging. Das Leichenpredigtenaufkommen Berlins und Cöllns nahm nach dem Kriege einen nicht untypischen Aufschwung, so daß das Kriegsende in dieser Hinsicht als Zäsur gelten kann. Das Jahr 1709 bedeutet in gleicher Weise Zäsur — in politischer Hinsicht durch die Vereinigung zur Einheitsgemeinde aus vorher fünf selbständigen Gemeinden mit weitreichenden Konsequenzen für die Selbständigkeit der oder richtiger des Magistrats. Und das Leichenpredigtenaufkommen erlebte seinen für die Zeit charakteristischen, durch Speners 1705 erfolgten Tod verstärkten Abschwung. Das Ergebnis der Auszählung der ermittelten Leichenpredigten entspricht den Erwartungen. Im Zeitraum zwischen dem Ende des Dreißigjährigen Krieges und der Stadtvereinigung Berlins von 1709 wurden 37 von 48 Leichenpredigten der Amtsträger ermittelt. Das entspricht einem Anteil von 77 Prozent. Bei den Leichenpredigten der Verwandten ist deren Anteil in eben diesem Zeitraum mit 71,3 Prozent ähnlich hoch. Hier liegt demzufolge das Schwergewicht der Untersuchung in zeitlicher Hinsicht. Für die Zeit vor der Epochenscheide des Jahres 1648 lassen sich noch verwertbare, wenn auch eingeschränkte Aussagen treffen, da der Leichenpredigtenanteil dort bei 14,6 Prozent für die Amtsinhaber und bei 17,5 Prozent für die Verwandten liegt. Nach 1709 jedoch sind die Ergebnisse von 8,3 Prozent (Amtsinhaber) und 11,3 Prozent (Verwandte) wie zu erwarten nur bedingt repräsentativ. Unterschieden nach den sieben Ämterkategorien lassen sich folgende Akzente setzen: Zunächst einmal lassen sich die Bürgermeister sowohl Berlins als auch Cöllns bis zur Vereinigung von 1709 im Spiegel ihrer Leichenpredigten und der Leichenpredigten ihrer Verwandten gleichermaßen gut untersuchen — die Hälfte aller Leichenpredigten auf Amtsinhaber insgesamt entfällt auf diese Gruppe, bei ihren Verwandten ist es deutlich mehr als die Hälfte. Über die Bürgermeister der Stadt, die 1709 und später ihre Amter antraten, lassen sich erwartungsgemäß mit Hilfe von Leichenpredigten keine Aussagen treffen. Die kleine Gruppe der Syndici und Secretarii von Berlin und Cölln, die nicht in das Amt eines Bürgermeisters von Berlin oder Cölln aufstieg, ist deutlich unterrepräsentiert. Über sie und ihre Familien ist durch Lei-

42

Einleitung

chenpredigten nur sehr wenig zu erfahren. Dies liegt daran, daß die Stadtschreiberstelle ein Durchgangsposten auf dem Weg zum Bürgermeisteramt war. Die Mehrzahl der Bürgermeister von Berlin und Cölln bekleidete dieses Amt bevor sie an die Spitze der Verwaltung trat. Die Stadtschreiber aber, die nicht in das höchste Amt aufstiegen, verstarben entweder vorher, machten in der landesherrlichen Verwaltung Karriere oder zogen mit ihren Familien fort, um andernorts Bürgermeister- oder andere hohe Ämter zu bekleiden. Daher verliert sich ihre Spur vielfach, ihre Leichenpredigten, wenn es denn welche von ihnen gab, werden nahezu unauffindbar. Die Gruppen der Ratsherren von Berlin und Cölln dagegen lassen sich wiederum mittels ihrer und ihrer Verwandten Leichenpredigten verhältnismäßig gut untersuchen. Resümierend ist festzustellen, daß die Quellenlage die Ratsfamilien von Berlin und Cölln betreffend gut ist. Die Aussagekraft des vorgefundenen Materials ist groß, da jede Leichenpredigt reich an Informationen für den Historiker ist. Mit Hilfe ergänzender, gedruckter Quellen von König 1 6 2 , Nicolai 1 6 3 oder Seidel 164 sowie ungedruckter Publikenprotokolle 1 6 5 lassen sich neue Erkenntnisse gewinnen.

1 6 2 Anton Balthasar König, Versuch einer Historischen Schilderung der Hauptveränderungen, der Religion, Sitten, Gewohnheiten, Künste, Wissenschaften etc. der Residenzstadt Berlin seit den ältesten Zeiten, bis zum Jahre 1786, 5 Tie, Berlin 1792-1799. 1 6 3 Friedrich Nicolai, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam aller daselbst befindlicher Merkwürdigkeiten und der umliegenden Gegend, 3 Bde, Neudruck der Originalausgabe der 3. Aufl. Berlin 1786, Berlin 1968. 164 Martin Friedrich Seidels Bilder-Sammlung ..., hrsg. von Georg Gottfried Küster, Berlin 1751. 1 6 5 Landesarchiv Berlin [künftig zitiert: LAB], A Rep. 500, Nr. 8, Publikenprotokolle Coin 1657-1667 und LAB, A Rep. 500, Nr. 9, Publikenprotokolle Berlin 1661-1707.

ERSTES KAPITEL

Ratsfamilien Berlins und Cöllns

Mittelalterliche

Familien bis zum Beginn der Neuzeit

Frühmoderne Staatlichkeit und Stadtherrschaft Wohlwollend schrieb Matthäus Merian der Jüngere Mitte des 17. Jahrhunderts von Berlins breiten und sauberen Gassen, wenngleich die Stadt nicht sonderlich groß und von schlechten Gehauen sei.1 Es war eine knappe Beschreibung in gewogenen Sätzen, der Residenz eines deutschen Kurfürstentums noch angemessen. Seine eigentliche Aufmerksamkeit zog das auf der Spreeinsel Cölln gelegene kurfürstliche Schloß auf sich. Berlin und Cölln selbst unterschieden sich kaum von Städten der sie umgebenden Kurmark, Gassenordnungen mußten noch Jahre und Jahrzehnte nach Merian ihre Einwohner zur Sauberkeit anhalten.2 Aber das waren langsam verwischende Spuren des Mittelalters, in denen das Barock lebte. Der Wandel, das Neue, der Aufbruch sind in der Rückschau, doch durchaus auch für den aufmerksamen Zeitgenossen spürbar — nie als Ereignis, immer als Entwicklung, dafür um so nachhaltiger. Veränderungen bekamen zuvörderst die Städte und hier allen voran die Residenzen zu spüren. Der frühmoderne Staat institutionalisierte bisher mittelalterlich-personale Herrschaft, Bürokratie und Hofhaltung wuchsen, so daß die territoriale Herrschaft einen festen Residenzort benötigte. Die Wahl der Hohenzollern fiel auf die Doppelstadt Berlin-Cölln,3 die durchaus opponierte. Aber der Kurfürst war der obsiegende Dritte im Streit zwi1 Matthäus Merian, Topographia Electorates] Brandenburgid et Ducatus Pomeranze etc. ..., Faksimile der Erstausgabe [Frankfurt a. M] 1652, mit einem Nachwort hrsg. von Lucas Heinrich Wüthrich, Kassel und Basel 1965, S. 27. 2 So 1660 und 1679 — vgl. Georg Holmsten, Die Berlin-Chronik. Daten, Personen, Dokumente, 3., durchges., aktualis. Neuaufl., Düsseldorf 1990, S. 136 und S. 140. 3 Vgl. hierzu Lorenz Beck, Hofpersonal und Bürgerschaft in der Residenzstadt Berlin-Cölln im 15. und 16. Jahrhundert. Beziehungen und Verflechtungen, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 1997 (1997), S. 7-32,

44

Ratsfamilien Berlins und Cöllns

sehen den Händlern Berlins und den Ackerbürgern Cöllns, trennte 1442 die seit 1307 vereinigten Städte und begann ein Jahr später mit dem Bau des Schlosses. Doch war der Schloßbau keineswegs eine Liebesgabe, vielmehr ein Akt der Demonstration, wer der neue Herr im Hause Brandenburg war. Ein letztes Mal revoltierten die Bürger mit den alteingesessenen Geschlechtern im Berliner Unwillen der Jahre 1447 und 1448.4 Die Nachbarstädte der Mark Brandenburg konnten sich nicht dazu entschließen, den Berlinern, die dabei waren, für sie die Kartoffeln aus dem Feuer zu holen, zu helfen, ebensowenig die Bundesgenossen der Hanse. So konnte Kurfürst Friedrich II. (1413-1471) den Aufstand niederschlagen und sein Strafgericht halten. Die beteiligten Familien erlitten nicht unerheblichen Schaden an Reichtum, Geltung und in ihren Geschäften; ihre an reichsstädtische Verhältnisse erinnernde Autonomie war dahin. Die alten, tonangebenden Geschlechter konnten teilweise durchaus verlorengegangens Terrain wiedergutmachen, an ihrer Abhängigkeit vom Kurfürsten änderten sie nichts mehr. Die nunmehrige Residenz sowie die übrigen Städte Brandenburgs büßten fortan Rechte der Selbstverwaltung ein, die Landesherrschaft behielt sich das Bestätigungsrecht für die Räte vor und gab es nicht mehr aus den Händen. Es kam durchaus vor, daß der Kurfürst die Bestätigung verweigerte. 5 Nicht nur Familienbande sollten bei der Postenvergabe zählen, sondern auch Leistung. Und dennoch: das personale Moment des Mittelalters sollte sich noch lange halten, bis Anfang/Mitte des 18. Jahrhunderts die Magistratsangehörigen zu Staatsbeamten, der Magistrat zu einer staatlichen Unterbehörde geworden waren. Der fürstliche Absolutismus hatte enorme gesellschaftliche Veränderungen ausgelöst und ihnen den Weg bereitet. Abstammung mußte dabei zwangsläufig bei der Bestimmung sozialer Positionen zurücktreten, das Leistungsprinzip vorrücken.6

bes. S. 23, der das allmähliche Hineinwachsen der Doppelstadt seit der Mitte des 15. Jahrhunderts in die Rolle einer Residenz und die Dichte der personalen Verflechtungen im 16. Jahrhundert zwischen landesherrlichen Amtsträgern und Bürgerschaft der Doppelstadt konstatiert. 4 Ausführlich zum sogenannten Berliner Unwillen der Jahre 1447 und 1448 im allgemeinen sowie zur daran beteiligten Familie Reiche im besonderen: Peter Neumeister,

Persönlichkeiten Geschichte 5

des »Berliner

und Gegenwart.

Unwillens«

Jahrbuch

1447/1448. Die Familie Reiche, in: Berlin in

des Landesarchivs

Berlin 1994 (1994), S. 41-59.

So 1517, als Joachim I. (1484-1535) einen Sproß der Familie Reiche als Ratmann zu-

rückwies, darum, daß Vater und Sohn in alter und neuer Regierung nicht sein sollen, und soll es hinfüro allezeit so gehalten werden — vgl. Dietrich, Die Städte Brandenburgs, S. 178, Zitat ebda. 6 Vgl. Karl Heinrich Kaufhold, Deutschland 1650-1850, in: Wolfram Fischer/Jan A. van Houtte/Hermann Kellenbenz/Ilja Mieck/Friedrich Vittinghoff (Hrsg.), Handbuch

45

Mittelalterliche Familien bis zum Beginn der Neuzeit

Betroffen von diesem Wandel waren die Familien, die die Stadtherrschaft bisher inne gehabt hatten. Auch Berlin und Cölln hatten ihr Patriziat besessen. 7 Den großen Gewinn bringenden Fernhandel hatte es nie betrieben. 8 Die Familien der Blankenfelde, Lindholtz, Matthias, Reiche, Tempelhof oder Wins erwarben ihren Wohlstand im Ein- und Ausfuhrhandel von bescheideneren Gebrauchs- und Genußgütern, Material- und Kramwaren des täglichen Gebrauchs, kurz: von Landesprodukten. Man erwarb Grundbesitz im Barnim und im Teltow, stieg zu bescheidener Patrimonialherrschaft auf. Ebenbürtigkeit mit dem Adel war das immer ersehnte und doch im Grunde nie erreichte Ziel.

Familie Blankenfelde Von größerer Bedeutung war ihr Einfluß auf die Geschicke der Städte Berlin und Cölln. Ehrfurchtgebietend lang war die Reihe von Bürgermeistern, die aus den führenden wohlhabenden Familien hervorgegangen waren. Zwischen 1294 und 1572 stellte die Familie Blankenfelde neun Berliner Bürgermeister. 9 Vermutlich aus Italien stammend, war sie eine der ersten deutschen Familien, die mit der deutschen Ostkolonisation und der Gründung Berlins früh Macht, Einfluß und Ansehen gewonnen hatte. Ihr herausragendster Vertreter, Johann Blankenfelde (1471— 1527) machte allerdings nicht in seiner Heimatstadt, sondern im Deutschen Orden Karriere. Er verließ die kurfürstlichen Dienste, begab sich nach Livland und wurde 1518 Erzbischof von Riga. 1 0 In kurfürstliche Dienste getreten zu sein, wurde dem letzten großen Vertreter der Familie zum Verhängnis. 1544 wurde Johann Blankenfelde kurfürstlich-brandenburgischer Küchenmeister. Vermögend mußte sein, wer einen solchen Posten angetragen bekam, Vorschüsse mußte er dem

der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Sozialgeschichte von der Mitte des 17. Jahrhunderts Stuttgart 1993, S. 5 2 3 - 5 8 8 , bes. S. 538f.

Bd. 4: Europäische Wirtschafts- und bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts,

7 Die Verwendung des Begriffs des Patrizats wurde bereits in der Einleitung problematisiert. Zu Recht stellt Flügel, Wirtschaftsbürger oder Bourgeois?, S. 111 fest, daß mit dem Niedergang der Stadtfreiheit das Patriziat als soziales Phänomen keineswegs ausgestorben sei. Es hätte nur eine andere Ausprägung angenommen, die des Brief-, Amtsoder Beamtenadels. 8 Vgl. Rachel/Papritz/Wallich, Berliner Dreißigjährigen Krieges, S. 2. 9

Vgl. Goeters, Chronologie Vgl. Berlinische Chronik,

10

Großkaufleute,

Bd. 1: Bis zum

Ende

der Berliner Stadtoberhäupter, S. 6 2 4 - 6 3 1 . Brecht, Die Familie von Blankenfelde, fol. 3 - 8 .

des

46

Ratsfamilien Berlins und Cöllns

unter ewiger Geldnot leidenden Hof leisten können. 1 1 Als Johann Blankenfelde 1579 starb, nachdem er 1572 von seinem Amt als Berliner Bürgermeister entbunden worden war, hinterließ er Schulden und ungeordnete Verhältnisse, 12 die Spuren eines der hervorragendsten Berliner Patriziergeschlechter verloren sich. Das Stammhaus der Familie in der Spandauer Straße Nr. 49 ging in den Besitz der Familie Seidel über, 13 augenfällistes Merkmal dafür, daß die Familie keinen bestimmenden Einfluß mehr in der Stadt ausübte. Die Nachkommen des unglücklichen Johann suchten ihr Auskommen in bescheideneren kurfürstlichen Diensten im fernen Königsberg oder als Amtsschreiber in Reetz. 1 4 Im Gedächtnis der Stadt zählten die Blankenfelde noch lange zu den uralten und in der Mark Brandenburg weitberühmten Familien, und vor allem ihr herausgragendster Vertreter, der Erzbischof von Riga, bürgte für die soziale Ehre, das Ansehen, Wert und Güte auch entfernt verwandter Nachkommen und deren Familien. So versäumen weder die Leichenpredigt der Anna Maria Moritz, Ehefrau des 1621 verstorbenen Berliner Bürgermeisters Sebastian Baurath, noch die Leichenpredigt der Margarethe Moritz, Ehefrau des 1667 verstorbenen Berliner Bürgermeisters Benedict Reichart, noch die der Euphrosyne Margarethe Reichart, Ehefrau des 1682 verstorbenen Berliner Bürgermeisters Johann Tieffenbach, auf jenen hinzuweisen, obwohl sie nicht in direkter Linie von ihm abstammten. 15 Das Ansehen der Familie Blankenfelde lebte in der weiblichen Nachkommenschaft fort.

1 1 Zur Schuldenwirtschaft des Kurfürsten Joachim II. ( 1 5 0 5 - 1 5 7 1 ) für seine verschwenderische Hofhaltung vgl. Knut Schulz, Vom Herrschaftsantritt der Hohenzolllem bis zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges (1411/12-1618), in: Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins, Bd. 1: Von der Frühgeschichte bis zur Industrialisierung, München 1987, S. 2 4 9 - 3 4 0 , bes. S. 307f.

Vgl. Rachel/Papritz/Wallich, Berliner Großkaufleute, Bd. 1, S. 4 4 - 5 0 . Vgl. Ernst Fidicin, Berlin, historisch und topographisch dargestellt, 2., unveränd. wohlfeile Ausg., Berlin 1852, S. 65. 1 4 Vgl. Rachel/Papritz/Wallich, Berliner Großkaufleute, Bd. 1, S. 52. 1 5 Vgl. Leichenpredigt auf Anna Maria Wernicke, geb. Moritz (in erster Ehe verheiratet mit Sebastian Baurath), von 1624: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz Haus 1 [künftig zitiert: Stabi] E e 700 - 3927, S. 19f. Leichenpredigt auf Margarethe Reichart, geb. Moritz, von 1668: Stabi Ee 1593 - 1 no. 2, S. 3. Leichenpredigt auf Euphrosyne Margarethe Tieffenbach, geb. Reichart, von 1669, in: Roth, Restlose Auswertungen, Bd. 4, S. 440, R 3923 [Zweitzitate von Leichenpredigten in Roth, Restlose Auswertungen künftig zitiert: Roth]. 12 13

N a c h Generationen war die eindeutige Zuordnung des entfernt verwandten Erzbischofs nicht mehr sicher. Als Anna Maria Wernicke starb, lebte ihre Großmutter müt-

Mittelalterliche Familien bis zum Beginn der Neuzeit

47

Magdalena Blankenfelde, Tochter des letzten Bürgermeisters der Blankenfelde, heiratete den aus braunschweigischer Familie stammenden und in kurfürstlich-brandenburgischen Diensten stehenden Rat und Kammermeister Heinrich Straube. 16 Sie steht, nicht allein, für die Verflechtung der alten führenden Oberschicht mit den neuen bürgerlichen Amtsträgern, die der Hof an sich zog. Alle beteiligten Parteien zogen Nutzen aus derlei Ehen, die vor allem in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts geschlossen wurden. Die alten Familien fanden Aufnahme in die neuen, aufsteigenden Kreise des Hofes; die Residenz wurde auf diese Weise in die neuartigen territorialen Strukturen des Staates integriert. Im umgekehrten Falle stabilisierte sich die frühneuzeitliche Landesherrschaft durch die Verbindung ihrer Vertreter mit denen der alten nachmittelalterlichen Ordnung. 1 7 Auch entferntere Zweige der Familie Blankenfelde knüpften ähnliche Bande. So heiratete Sophia Blankenfelde, Tochter des Bürgermeisters von Frankfurt an der Oder, Joachim Blankenfelde, den kurfürstlichbrandenburgischen Konsistorialrat und Hofprediger Sebastian Müller. Wie in den übrigen Fällen, so lebte auch diese Ehe in den neuen führenden Familien der Residenz des Kurfürstentums fort, indem ihr Enkel Sebastian Rhewend 1656 Berliner Bürgermeister wurde. 18

Familien Wins und

Matthias

Ähnliche Wege schlugen die Familien der Wins oder Matthias ein, die gleichartige Schicksale erlitten. Ursprünglich aus Winsen an der Luhe

terlicherseits, Magdalena Blankenfelde, noch. Deren Großvater Bruder soll er gewesen sein. Die Leichenpredigt der Margarethe Reichart dagegen bezeichnet ihn als des Vaters Bruder jener Magdalena Blankenfeld, ebenso die Leichenpredigt der Euphrosyne Margarethe Tieffenbach. Roth, Restlose Auswertungen, Bd. 4, S. 440, R 3923 weißt aber nach, daß dies nicht stimmen könne. Das Verwandtschaftsverhältnis an sich kann nicht in Zweifel gezogen werden. Alle übrigen Angaben zu den Vorfahren der Verstorbenen sind, soweit sie sich auf die gleichen Vorfahren beziehen, deckungsgleich. Der Verweis auf den Erzbischof diente nicht dem genealogischen Ahnennachweis, sondern leistete Gewähr für die Qualität der Familie. 1 6 S. Ahnentafel 3: Baurath/Moritz und Ahnentafel 35: Reichart/Moritz, ferner Verwandtschaftstafel 3: Moritz und Reichart, Verwandtschaftstafel 4: Müller sowie Verwandtschaftstafel 10: Tieffenbach. Vgl. außerdem Berlinische Chronik, Brecht, Die Familie von Blankenfelde, fol. 8, die dortige Stammtafel.

Vgl. hierzu Hahn, Landesherrliches Amt, S. 256. Vgl. Leichenpredigt auf Sebastian Rhewend von 1666: Berlin-Bibliothek der Berliner Stadtbibliothek [künftig zitiert: Bln.-Bibl.] 46, 8, S. 49 und S. 53, s. Ahnentafel 36: Rhewend/Krause und Verwandtschaftstafel 2: Krause. 17

18

48

Ratsfamilien Berlins und Cöllns

stammend, tauchte die Familie der Wins erst im Verlauf des 14. Jahrhunderts in der Mark auf, 19 gehörte aber zu den ersten, die in kurfürstliche Dienste trat. 2 0 Sie stellte zwischen 1426 und 1519 fünf Berliner Bürgermeister, 21 um in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts aus der Stadtgeschichte zu verschwinden und fortan ein landadeliges Leben zu führen oder in der Stadt zu verarmen. 22 Unter den Ahnen späterer Berliner Bürgermeister ist noch Anna Wins zu finden, die den Sohn des Bürgermeisters zu Cölln an der Spree, Peter Lindholtz d. Ä., der zwischen 1512 und 1536/38 dieses Amt bekleidete, 23 geheiratet hatte. Ihr Urenkel Andreas Lindholtz war Bürgermeister Berlins von 1641 bis zu seinem Tode im Jahre 1655. 2 4 Nicht ohne Stolz betont die Leichenpredigt auf ihn die Abstammung seiner Urgroßmutter aus dreihundertjährigem adligen Geschlecht. 2 5 Die Familie Matthias dagegen war weder adligen Ursprungs wie die Wins noch legte sie sich das Adelsprädikat zu, wie es die Blankenfelde zeitweilig taten. Erst seit der Mitte des 15. Jahrhunderts in Berlin nachweisbar, stellte sie ihrer Heimatstadt drei Bürgermeister. 26 Deren letzter, Thomas Matthias (1520-1576), beging den gleichen Fehler wie sein Amtsgenosse Johann Blankenfelde, mit dem er sich lange Zeit jährlich im Amt abwechselte, indem er sich in die Händel seines Kurfürsten aus Loyalität zu diesem hineinziehen ließ. Er hatte in Wittenberg studiert und war Haus- und Tischgenosse Philipp Melanchthons (1497-1560) gewesen, 1551 zum Hofrat und schließlich zum Geheimen Kammerrat Kurfürst Joachims II. ernannt worden. Als dieser 1571 starb, gehörte Thomas Matthias zu denjenigen, gegen die man der Finanzkalamitäten wegen schärfste Untersuchungen anstrengte. Seine Rechtschaffenheit mußte anerkannt werden, sein ihm entzogenes Bürgermeisteramt wieder

Vgl. Berlinische Chronik, Brecht, Die Familie von Wins, fol. 3 9 - 5 6 . Vgl. Schulz, Vom Herrschaftsantritt der Hohenzollern, S. 304. 2 1 Vgl. Goeters, Chronologie der Berliner Stadtoberhäupter, S. 6 2 5 — 6 2 9 . 2 2 Vgl. Rachel/Papritz/Wallich, Berliner Großkaufleute, Bd. 1, S. 7. 2 3 Vgl. Goeters, Chronologie der Berliner Stadtoberhäupter, S. 640f. 2 4 S. Ahnentafel 20: Lindholtz/Striepe und Verwandtschaftstafel 8: Striepe. 2 5 Vgl. Leichenpredigt auf Andreas Lindholtz II. von 1655, in: Roth, Restlose Auswertungen, Bd. 10, S. 450, R 9730. Auch die Berlinische Chronik, Brecht, Die Familie von Wins, fol. 3 9 betont den adligen Charakter der Familie seit dem hohen Mittelalter, wenngleich Maximilian Gritzner, Chronologische Matrikel der BrandenburgischPreussischen Standeserhöhungen und Gnadenakte, Berlin 1874, S. 3 erst für 1639 vermerkt, daß Kurfürst Georg Wilhelm den 1631 erhaltenen Reichsadelsstand anerkannte. 19

20

26

Vgl. Goeters, Chronologie

der Berliner Stadtoberhäupter,

S. 6 2 7 - 6 3 1 .

Mittelalterliche Familien bis zum Beginn der Neuzeit

49

zuerkannt werden. Das Geld, das er dem Hof geliehen hatte, wurde ihm nicht ersetzt. 27 Sein Sohn Daniel Matthias (1571-1619) dagegen hatte eine glücklichere Hand mit dem 1613 zum reformierten Glaubensbekenntnis übergetretenen Kurfürsten Johann Sigismund (1572-1620), dem er diente. Energisch verteidigte er dessen reformierte Sache. Noch 1615, dem Jahr des Berliner Tumults, als die Bevölkerung Berlins sich gegen die reformierte Politik ihres Kufürsten empörte und mit bewaffneter Gewalt wieder zur Räson gebracht werden mußte, wurde Daniel Matthias in Anerkennung seiner Verdienste in den Geheimen Rat berufen und übernahm kurz darauf die Leitung des Kammergerichts. 28 E r verheiratete seine Tochter Ursula in den höchsten reformierten Kreisen an den bekannten kurfürstlich-brandenburgischen Hofprediger und Konsistorialrat Johannes Bergius (1587-1658). Deren Tochter Catharina Gertraut wiederum heiratete den reformierten, zum Berliner Bürgermeisteramt aufsteigenden Levin Schardius. 29

Untergang der älteren und Aufstieg neuerer Familien Doch die alten klangvollen Namen Berliner Patriziergeschlechter waren zu dieser Zeit längst verklungen. Man erinnerte sich ihrer voller Ehrfurcht, bediente sich ihrer zur Betonung eigener Ehrwürdigkeit. Es waren die verschiedensten Faktoren gewesen, die zu ihrem Untergang geführt hatten. An erster Stelle hatte der Auf- und Ausbau des frühmodernen Territorialstaates gestanden, der einherging mit grundlegenden Veränderungen im Wirtschaftsbereich. 30 Neben dem erwähnten Territorialisierungsprozeß und der kurfürstlichen Schuldenwirtschaft seit der Vgl. Berlinische Chronik, Brecht, Die Familie Matthias, fol. 17-24, hier fol. 19f. Vgl. Siegfried Isaacsohn, Geschichte des Preußischen Beamtenthums vom Anfang des 15. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart, Bd. 2: Das Beamtenthum im siebzehnten Jahrhundert, Berlin 1878, S. 66f. 2 9 S. Ahnentafel 38: Schardius/Bergius und Ahnentafel 44: Stnepe/Schardius sowie Verwandtschaftstafel 8: Striepe. Vgl. außerdem die Leichenpredigt auf Ursula Bergius, geb. Matthias, von 1659: Stabi Ee 502 no. 13, S. 85 und die Leichenpredigt auf Catharina Gertraut Schardius, geb. Bergius, von 1705: Bln.-Bibl. XVI, 15, S. 2. 3 0 Vgl. Rudolf Endres, Die deutschen Führungsschichten um 1600, in: Hans Hubert Hofmann/Günther Franz (Hrsg.), Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit. Eine Zwischenbilanz. Büdinger Vorträge 1978 (= Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit, Bd. 12), Boppard/Rhein 1980, S. 79-109, bes. S. 79f. Als drittes konstituierendes Moment für den tiefgreifenden gesellschaftlichen Strukturwandel unterschlägt Endres nicht den der Konfessionalisierung — vgl. ebda. 27 28

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Ratsfamilien Berlins und Cöllns

Mitte des 16. Jahrhunderts, die zahlreiche wohlhabende Familien in den Ruin trieb, ist schließlich der Faktor der adligen Gutswirtschaft zu berücksichtigen. Der bis dahin oftmals verschuldete brandenburgische Adel auf dem platten Lande war zur Gutswirtschaft übergegangen und setzte seine Produkte ohne den Umweg über die Landstädte direkt an die Seestädte ab. Damit verlor die ansässige Kaufmannschaft eine wichtige Einnahmequelle. Hinzu traten auswärtige Kaufleute, die den einheimischen zu schaffen machten. 31 Berlin und Cölln fanden einen geringen Ersatz durch ihren Status als Residenzstädte, durch den Hof, die Landesverwaltung und die im Schloß stattfindenden Tagungen der Landstände, wovon aber weniger die alten Geschlechter als vielmehr Kleinhändler und Handwerker profitierten. 32 Die kurmärkischen Ständeakten vermerken dazu, daß Von alter ist das vormogen in Stetten gewesen und haben die einwohner derselbigen stadtliche lantguther gehapt. itzo hat sichs vorkert und zeucht, der auf dem lande etwas hat odder uberkommen kan, hinaus . . . 3 3 Und als ob man nicht schon genug Sorgen damit hatte, seine Gelder bei Hofe wieder einzutreiben, frönte man in Kreisen der Stadtjunker und des Patriziats im Berlin des 16. Jahrhunderts vielfach einer weitverbreiteten Spielleidenschaft, Männer wie Frauen kleideten sich verschwenderisch in luxuriöse Gewänder, man hielt oppulente Festgelage ab, kurz: wer es sich leisten konnte — oder besser: glaubte leisten zu können — genoß das Leben in vollen Zügen. 34 In der Summe mußten alle diese Faktoren zum Zusammenbruch der alten Familien führen. Augenfällig wurden die Veränderungen in dem Unterschied zwischen den Polizeiordnungen der Jahre 1580 und 1604. Die ältere war noch vom Rat Berlins allein erlassen worden und umfaßte vier Stände. Im ersten Stand fanden sich hauptsächlich Rats- und Gerichtspersonen, Pröpste, vor allem aber die von den alten Geschlechtern^. Der zweite Stand umfaßte die Kaufleute und wohlhabenden Handwerker, der dritte einfache

Vgl. hierzu Mleczkowski, Zum politischen und sozialen Wandel, S. 103. Vgl. Rachel/Papritz/Wallich, Berliner Großkaufleute, Bd. 1, S. 7. 33 Walter Friedensburg (Hrsg.), Kurmärkische Ständeakten aus der Regierungszeit Kurfürst Joachims II. (= Veröffentlichungen des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg), Bd. 2: 1551-1571, München und Leipzig 1916, S. 318f.; zitiert nach Felix Escher, Das Kurfürstentum Brandenburg im Zeitalter des Konfessionalismus, in: Ingo Materna/Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Brandenburgische Geschichte, Berlin 1995, S. 2 3 1 290, Zitat S. 280. 32

34 Vgl. Werner Vogel, Führer durch die Geschichte Berlins, 3., Überarb. und erg. Aufl., Berlin 1985, S. 52. 35 Zitiert nach Wolfgang Bethge, 1237. Berlins Geschichte im Überblick. 1987, Berlin 1987, S. 17.

Mittelalterliche Familien bis zum Beginn der Neuzeit

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Handwerker und Bürger, der vierte schließlich Tagelöhner und Dienstboten. Die Polizeiordnung von 1604 dagegen kannte nur noch eine Dreigliederung, löste die Zusammengehörigkeit von Kaufmann- und Handwerkerschaft auf und schuf eine stärkere Scheidung zwischen dem Rat und der weniger wohlhabenden Bürgerschaft. 36 Neue, aus dem Westen, vor allem dem Rheinland eingewanderte Kaufmannsfamilien waren in der Residenz aufgestiegen und hatten es zu Reichtum und Einfluß gebracht. Doch nicht mehr sie allein gaben sich eine Polizeiordnung, der Kurfürst fügte vor dem Rat Unsere Beamte, Sekretanen, Kanzlei-, Kammer- und Renteiverwandte ein. 37 Vor allem aber strichen die neuen Familien im ersten Stand den Passus der alten Geschlechter und ersetzten ihn durch vornehme Handelsleute, machten aus dem Geburtsstand einen Berufsstand. 38

Familien Weiler und Krappe Es waren die Familien der Krappe aus Mühlheim am Rhein, der Weiler und Essenbrücher aus Jülich, der Sturm aus Werden an der Ruhr sowie der Niclas und Cassel aus Wesel, die an der Spree ansässig wurden. 3 9 Doch die Neigung, wie Generationen vor ihnen, sich ihrer gesellschaftlichen Stellung entsprechend, im Rat, im Bürgermeisteramt für die Gemeinde, in der man lebte, zu engagieren, hatte schon merklich abgenommen. Der Handelsmann Leonhard Weiler, 1549 in Weiler im Herzogtum Jülich geboren, war der letzte und einzige Vertreter jener Familien, der von 1596 bis zu seinem Tode im Jahre 1601 das Berliner Bürgermeisteramt bekleidete. 40 Unter den folgenden, nachweisbaren Geschlechtern derjenigen Rats- und Bürgermeisterfamilien, die sich in ihren Leichenpredigten papierne Denkmäler setzten, findet sich kein einziger Vertreter der Weilers. In der weiteren Geschichte der Residenz spielte die Familie Weiler keine tragende Rolle mehr, hinterließ keine bleibenden Spuren. 41

3 6 Vgl. Ulrike Asche-Zeit, Sozialgeschichte, in: Hermann Heckmann (Hrsg.), Brandenburg. Historische Landeskunde Mitteldeutschlands, Würzburg 1988, S. 71-79, bes. S. 76. 3 7 Zitiert nach Faden, Berlin im Dreißigjährigen Kriege, S. 26. 3 8 Ebda. 3 9 Vgl. Eberhard Faden, Berlinertum — eine Europa-Mischung?, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 13 (1962), S. 7-21, bes. S. 8. 4 0 Vgl. Goeters, Chronologie der Berliner Stadtoberhäupter, S. 632. 4 1 Vgl. hierzu die Stammtafel des Handelsmannes zu Mühlheim am Rhein, Gebhard Krappe, respektive des Heinrich Weiler, Gerichtsamtmann in Altenhofen im Herzog-

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Ratsfamilien Berlins und Cöllns

Der Schwiegervater des Leonhard Weiler, Jobst Krappe, war selbst Kauf- und Handelsmann und Ratskämmerer Berlins. Er hatte, aus Mühlheim am Rhein stammend, 1558 das Berliner Bürgerrecht erworben und die Tochter des Berliner Bürgermeisters Valtin Döring (zirka 15071573), Ave Döring geheiratet. Während sie ihre Tochter Katharina an besagten Kaufmann Leonhard Weiler verheirateten, trafen sie für ihre Tochter Ursula eine andere Wahl. Diese heiratete den aus dem alteingessenen Geschlecht der Lindholtz stammenden Andreas Lindholtz, dessen Großmutter väterlicherseits eine Wins war. Andreas Lindholtz war ein Vertreter der modernen Generation. Selbst aus einer Handelsfamilie stammend, hatte er die Rechtswissenschaften studiert und brachte es in kurfürstlichen Diensten bis zum Geheimen Sekretär. Die nächstfolgende Generation der Lindholtz trat in die gleichen juristischen Fußstapfen und stieg bis ins Berliner Bürgermeisteramt auf. 42 Ein anderer Zweig der Familie Krappe verfuhr in seiner Heiratspolitik ganz ähnlich. Der Kaufmann Philipp Krappe gehörte der gleichen Generation wie Jobst Krappe an, auch sein Vater Wilhelm war Handelsmann im rheinischen Mühlheim gewesen. Er war ebenfalls im Rat der Stadt zu finden als Ratsverwandter. Seine Tochter Benigna heiratete 1589 den Juristen und späteren Berliner Bürgermeister Jacob Straßburg (1562-1626). Der Kanzler Christian Distelmeyer (1552-1612), Sohn und weniger glücklicher Amtsnachfolger seines berühmten Vaters Lampert Distelmeyer (1522-1588), hatte die Heirat persönlich vermittelt und Jacob Straßburg, der ihm in früheren Jahren gedient hatte, zu dieser Eheverbindung geraten. 43 Die Distelmeyers hatten seit den Zeiten des Vaters vielfältige Verbindungen privaten, beruflichen oder geistig-kulturellen Charakters zu den ersten Familien der Doppelstadt gepflegt. 44 Auch hier

tum Jülich bei Rachel/Papritz/Wallich, Berliner Großkaufleute, Bd. 1, Tafel Nr. V I im Anhang. Danach scheint nahezu die gesamte Nachkommenschaft des Leonhard Weiler in brandenburgisch-kurfürstliche Dienste getreten zu sein. Inwieweit die Familie in Berlin ansässig blieb, ist aus der Tafel nicht ersichtlich. 4 2 Vgl. die Leichenpredigten auf Andreas Lindholtz I. von 1617, in: Roth, Restlose Auswertungen, Bd. 10, S. 449, R 9729 und auf seinen Sohn Andreas Lindholtz II., (Roth), S. 449f., ferner die Leichenpredigt auf Ursula Lindholtz, geb. Krappe, von 1636, in: Roth, Restlose Auswertungen, Bd. 1, S. 21, R 42; s. Ahnentafel 20: Lindholtz/Striepe sowie Verwandtschaftstafel 8: Striepe, außerdem Rachel/Papritz/Wallich, Berliner Großkaufleute, Bd. 1, Tafel Nr. VI im Anhang.

Vgl. Leichenpredigt auf Jacob Straßburg von 1626: Bln.-Bibl. 64, 7, S. 132f. Vgl. Knut Schulz, Der festliche Tod. Bemerkungen zu Selbstvertändnis und Tradition der Familie Distelmeyer und der höfisch-bürgerlichen Gesellschaft in Berlin um 44

Mittelalterliche Familien bis zum Beginn der Neuzeit

53

stellte die nächste Generation mit Christian Straßburg (1619-1676) einen ebenfalls jurstisch geschulten Bürgermeister, diesmal allerdings in Cölln. 4 5

Die Nachkommenschaft der Familie Sturm So verkörperte Christian Straßburg die Symbiose von aufsteigenden Juristen in staatlichen oder städtischen Führungspositionen in seiner väterlichen Linie und an Geltung einbüßenden ansässigen Kaufmannsgeschlechtern in seiner mütterlichen Linie. Bei seiner Ehefrau, Anna Elisabeth, geborene Krause, verhielt es sich ganz ähnlich. 46 Ihr Vater Johann Krause (1600-1657) war Kammergerichtsadvokat geworden. Seine Mutter Elisabeth wiederum entstammte der Handelsfamilie Sturm. Die Sturms stammten aus Werden in der Grafschaft Mark und hatten sich in Cölln an der Spree niedergelassen, um Handel zu treiben. Doch wie in den bisher dargestellten Fällen, so suchte man auch hier für die Töchter die Verbindung mit dem Hofe oder ließ die Söhne an der Universität Jura studieren. 4 7 Am Ende eines solchen Studiums und nach Abschluß einer oftmals ausgedehnten Reise durch Deutschland und Europa, der sogenanntenperegrinatio academica, suchten und fanden zahlreiche Absolventen eine Anstellung am kurfürstlich-brandenburgischen Kammergericht als Advokaten. Diese Kreise der Kammergerichtsadvokaten, darauf sei an dieser Stelle bereits ausdrücklich hingewiesen, waren es, die den Rat und insbesondere das Bürgermeisteramt in Berlin und Cölln in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts dominierten, ja geradezu vereinnahmen sollten. Der Kammergerichtsadvokat Johann Krause war äußerst erfolgreich darin, seine drei Töchter an Kollegen im Kammergericht zu verheiraten,

1600, in: Ders./Bernhart Jähnig (Hrsg.), Festschrift zum 125jährigen Herold zu Berlin. 1869-1994, Berlin 1994, S. 185-217, bes. S. 189.

Bestehen

des

4 5 Vgl. Leichenpredigt auf Christian Straßburg von 1676: Bln.-Bibl. 52, 11, S. 90f., Ahnentafel 42: Straßburg/Krause, Verwandtschaftstafel 2: Krause und Verwandtschaftstafel 4: Müller sowie die genealogischen Hinweise auf den Kammergerichtsadvokaten Gottfried Friedrich Straßburg und dessen jüngeren Bruder Christian Straßburg bei Sanne, Die Mitglieder, S. 225 und S. 227. Vgl. Leichenpredigt auf Anna Elisabeth Straßburg, geb. Krause, von 1706, in: Roth, Restlose Auswertungen, Bd. 8, S. 106, R 7141. 4 7 Vgl. Verwandtschaftstafel 9: Sturm. Während Ambrosius Sturms Tochter Ursel 1608 den Hofrentmeister Johann Wernicke (1570-1630) heiratete, ehelichte die erwähnte Elisabeth den Cöllner Ratskämmerer George Krause. Aus dieser Verbindung ging der Kammergerichtsadvokat Johann Krause (1600-1657) hervor.

54

Ratsfamilien Berlins und Cöllns

die es allesamt bis zum Bürgermeister in Cölln oder Berlin brachten. 48 Wie hatten sich die Zeiten gewandelt. Er, der tagein, tagaus auf das Schloß ging, um im dort beherbergten Kammergericht seiner Arbeit nachzugehen, wäre gar nicht auf die Idee gekommen, anders zu verfahren. Das Kammergericht war seit den vierziger Jahren des 17. Jahrhunderts zu einem Collegium guter Freunde und Verwandter49 geworden, eine Tatsache, die mit dem Vizekanzler des Kammergerichts, Dr. jur. Andreas v. Kohl (1568-1655), in Verbindung gebracht wurde, der selbst aufgrund seiner ehelichen, verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Verbindungen eine steile Karriere gemacht hatte. 50 So heiratete Anna Elisabeth Krause im Jahre 1646 Christian Straßburg, der 1641 als Kammergerichtsadvokat angenommen worden war. 51 Catharina Regina heiratete 1648 den 1644 zum Kammergerichtsadvokaten bestellten Sebastian Rhewend, 52 und die jüngste der Krause-Töchter, Anna Sibylla, schloß am 30. November 1668 die Ehe mit Johann Christoph Otto, der am 24. August des gleichen Jahres Kammergerichtsadvokat geworden war und sich wenige Tage darauf, am 7. September mit ihr verlobt hatte. 53 Für Johann Krauses Vater, den Cöllner Ratskämmerer George Krause, war es dagegen noch eine besonders gute Wahl gewesen, die Tochter eines so bedeutenden Handelsherrn wie Ambrosius Sturm aus Cölln an der Spree zur Frau zu nehmen. Doch gehörte er damit der letzten Generation an, die sich mit Nachkommen der Handelshäuser verband. Diese waren im Niedergang begriffen, so daß sie sich in der Geschichte Berlins verloren, die nächstfolgende Generation zog das juristische Universitätsstudium dem Handel vor. Bei Hofe oder bei Gericht und in Diensten der Stadt oder des Staates ließ sich allemal ein besseres und sichereres Auskommen finden als in der Vorväter Handlung. Die Schuldenpolitik der Kurfürsten einerseits, vor allem aber dann natürlich die Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges andererseits hatten zu ihrem

Vgl. Ahnentafel 19: Krause/Fleck. Friedrich Holtze, Geschichte des Kammergerichts in Brandenburg-Preußen, Tl. 2: Das Kammergericht von 1540-1688 (= Beiträge zur Brandenburg-Preußischen Rechtsgeschichte, 2), Berlin 1891, S. 179. 48

49

5 0 Vgl. den Abschnitt über den Vizekanzler des Kammergerichts Dr. jur. Andreas v. Kohl bei Saring, Die Mitglieder, S. 72. 5 1 Vgl. Leichenpredigt auf Christian Straßburg, (Bln.-Bibl.), S. 92f. und Ahnentafel 42: Straßburg/Krause. 5 2 Vgl. Leichenpredigt auf Sebastian Rhewend, (Bln.-Bibl.), S. 53f. und Ahnentafel 36: Rhewend/Krause. 5 3 Vgl. Leichenpredigt auf Johann Christoph O t t o von 1688, in: Roth, Restlose Auswertungen, Bd. 8, S. 426, R 7776 und Ahnentafel 31: O t t o / K r a u s e .

Geschlossene Heiratskreise des 17. Jahrhunderts

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Ruin und Niedergang geführt. Die Berliner Wirtschaft jener Jahre der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts und darüber hinaus blieb unbedeutendkümmerlich, die Verhältnisse waren und blieben auf lange Sicht ausgesprochen klein und eng. 54 Das Handelshaus Sturm ging, wie so viele andere auch, in den Familien des Hofes und der Kammergerichtsadvokaten auf. 55 Nur noch wenige Namen derartiger Häuser wie Tonnenbinder oder Neuhaus verbanden sich über mehr als eine Generation mit der Stadt und dienten dieser. Die Ideler, Inckefort, Stiller, Beyer oder Gregori sollten es in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts durchaus zu gediegenem Wohlstand, respektabler Stellung und nicht unbedeutendem Ansehen bringen. Ihrem Verständnis als einflußreiche Kaufleute nach fühlten sie sich kaum mehr verpflichtet, sich für die Belange der Gemeinde einzusetzen. Man lebte ganz seinen Geschäften, und darin folgte selten mehr als eine Generation dem Geschäftsbegründer. 56 Doch wurde derartig politisch-gemeinnütziges Verhalten auch kaum mehr von der Kaufmannschaft erwartet. Der Merkantilismus brauchte kräftige Steuerzahler, die Kapital ins Land brachten, um Beamte, stehendes Heer und Hofhaltung finanzieren zu können, während der aufstrebende Absolutismus seinen Untertanen immer weniger Autonomie zubilligte. Die Verwaltungsfachleute aber mußten auf territorialer, auf regionaler, wie auch auf lokaler Ebene juristisch gebildet sein. Daher war die Zeit der Blankenfelde und Wins, der Krappe und Sturm vorüber und neue Kreise traten an ihre Stelle.

Geschlossene Heiratskreise des 17.

Jahrhunderts

Die Frage nach dem Woher und Wohin derjenigen Familien, die im Verlauf des 17. Jahrhunderts in der Geschichte der Residenz auftauchten und über ein, zwei oder mehrere Generationen ihre Geschicke bestimmten, ist unmittelbar verbunden mit der Frage nach dem Wandel der Ständegesellschaft in der Frühen Neuzeit. Denn wenn ein konstitutives Moment der Veränderung vom Mittelalter zur Neuzeit ist, daß personale Herrschaft sich in institutionale Herrschaft wandelte, dann mußte dies Auswirkungen auf die die Stadtherrschaft innehabenden Kreise haben. 5 4 Vgl. Rachel/Papritz/Wallich, Berliner tilismus 1648-1806, S. 11. 5 5 Vgl. Verwandtschaftstafel 9: Sturm. 5 6 Vgl. Rachel/Papritz/Wallich, Berliner

Großkaufleute,

Bd. 2: Die Zeit des

Großkaufleute,

Bd. 2, S. 1 1 - 2 3 .

Merkan-

56

Raisfamilien Berlins und Cöllns

Georg Wilhelm (1595-1640) Kurfürst von Brandenburg

Der Wandel hatte sich seit dem 15. Jahrhundert angekündigt. Die Landstadt hatte ihre reichsstadtähnliche Stellung im sich etablierenden Territorialstaat in weiten Teilen preisgeben müssen, insbesondere durch die neu auferlegte Funktion als Residenzstadt. Das 16. Jahrhundert sah den Niedergang der alten Patriziergeschlechter. Das 17. Jahrhundert war Epoche und Zeit des Ubergangs zugleich. Zum einen verbesserten, verfeinerten oder etablierten sich überhaupt erst Formen moderner Staatlichkeit in Hof, Heer und Verwaltung und stei-

Geschlossene Heiratskreise des 17. Jahrhunderts

57

gerten damit herrschaftliche Autorität. Zum anderen war es noch stark von personenverbandsstaatlichen Strukturen geprägt. 57 Modernität und Beharrung kommen zum Ausdruck im Wandel der Ständegesellschaft, die lediglich in ihrem grundlegenden Aufbau und in ihren Machtverhältnissen statisch war. Die Ständegesellschaft erschwerte die freie soziale Bewegung des unselbständigen Individuums, grundsätzlich waren Lebensbahnen weitestgehend vorgegeben und boten kaum Möglichkeiten eigenverantwortlichen Aussuchens und Wählens. In der Tat war die Frage nach dem Ziel menschlicher Existenz nicht individueller Entscheidung anheimgegeben. 58 Doch ist die Differenzierung städtisch-bürgerlicher Eliten in der Frühen Neuzeit zu berücksichtigen. Juristenelite, Wirtschaftsbürgertum und geistliche Elite der Pfarrer, Superintendenten und Hofprediger bildeten ein neues, territoriales Bürgertum, das den Wandel vom alteuropäischen zum modernen Bürgertum ankündigte. 59 Diese neuen Elemente, ohne festen Platz in der ständisch verfaßten Gesellschaft, waren der dynamische Teil einer statischen Sozialordnung. 60 Sie mußten in dem festgefügten, unangezweifelten, gottgebenen Weltbild ihren Standort finden. Es verwundert daher nicht, wenn sie sich einerseits auf die Suche nach neuen, modernen und eigenständigen Betätigungsfeldern, Verhaltensweisen und Kodizes machten, ande-

5 7 Sehr zu Recht verwies Press, Kriege und Krisen, S. 82 darauf, daß der Gesichtspunkt moderner Staatlichkeit für das 17. Jahrhundert nicht überbetont werden dürfe. Angesichts schlechter Kommunikationsmöglichkeiten hätten sich ältere, auf Personen ausgerichtete Spielregeln, das heißt Oligarchisierung, Patronage und Familiengeist immer wieder durchgesetzt.

Gleichwohl erweckt diese Sichtweise der Dinge den Eindruck, als ob moderne Staatlichkeit im 17. Jahrhundert schon weitgehend beherrschend war, während das personale Moment vergangener Zeiten nur hier und da noch einmal aufblitzt. Bei näherer Betrachtung der Verhältnisse der brandenburgischen Residenz des 17. Jahrhunderts zeigt sich aber, wie stark trotz der ansteigenden absolutistischen Tendenzen Oligarchisierung, Patronage und Familiengeist noch waren, mit denen das moderne Sachprinzip fernerhin konkurrierte. 5 8 Vgl. Dietmar Willoweit, Struktur und Funktion intermediärer Gewalten im Anden Regime, in: Gesellschaftliche Strukturen als Verfassungsproblem. Intermediäre Gewalten, Assoziationen, Öffentliche Körperschaften im 18. und 19. Jahrhundert. Gründungstagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 3J4. Oktober 1977 (= Beihefte zu »Der Staat«, H . 2), Berlin 1978, S. 9 - 2 7 , bes. S. 25.

Vgl. Schilling, Die Stadt in der frühen Neuzeit, S. 35. Vgl. Francois, Städtische Eliten, S. 79. Auch Martin Heckel, Deutschland im konfessionellen Zeitalter (= Deutsche Geschichte, Bd. 5; Kleine Vandenhoeck-Reihe 1490), Göttingen 1983, S. 217 verweist darauf, daß bei erstarrenden Standesschranken und gleichzeitig zunehmender sozialer Differenzierung Aufstiegschancen sich vor allem J u risten, Theologen und auch Soldaten eröffneten. 59 60

58

Ratsfamilien Berlins und Cöllns

rerseits ebenso alten, traditionalen und vorgegebenen Wegen folgten. Das eindringlichste Beispiel ist dafür ihre Heiratspolitik. Geschlossene Heiratskreise waren eines der Merkmale und Mittel neben gleicher Herkunft, gleicher Erziehung und akademischer Ausbildung, gleicher Tätigkeit und gleichen Lebensstils und Glaubens, dessen sich die führenden städtischen Oberschichten auf ihrem Weg zur Funktionselite bedienten. 61 Dabei bildeten sie durchaus keine feste Einheit, waren vielmehr geographisch, verwaltungsmäßig und ideologisch zersplittert — ein Zusammengehörigkeitsgefühl kam standes- oder berufsmäßig, durch das Verhältnis von Patron und Klient oder vor allem familial zustande. 62 Ehelich geboren worden zu sein und zu heiraten waren die Grundfesten der städtisch-bürgerlichen Gesellschaft, die rigide über die Einhaltung dieser Normen wachte. 63 Beides kommt in den Personalteilen der Leichenpredigten zum Ausdruck, die grundsätzlich darum bemüht sind, wenigstens Vater und Mutter des oder der Verstorbenen zu nennen, um legitime Abkunft zu dokumentieren. Auf die stereotyp wiedergegebenen Angaben über Taufe und Schulausbildung folgt der eigentliche persönlich-indivdualistische Lebensweg, der aber ebenfalls weitestgehend in schematisierter Form dargestellt wird, um Identität von Individuum und Stand zu dokumentieren. Dazu gehören die Angaben über Heirat und gegebenenfalls über Wiederverheiratung sowie über Kinder und Enkelkinder, Schwiegersöhne und Schwiegertöchter. Kinderlosigkeit war eine Strafe Gottes, 6 4 Ehelosigkeit bedurfte, zumindestens bei Frauen, einer Erklärung, das heißt, daß sie statt der christlichen Ehe andere christliche Pflichten übernommen hätten. 65 Ehelosigkeit von Männern wird dagegen von den Leichenpredigten nicht thematisiert. Unter der großen Zahl von Probanden der Berliner Ratsfamilien, die in ihren Leichenpredigten Auskunft über ihren Lebensweg geben, sind nur zwei, die nicht verheiratet waren. Der eine war Gottfried Weber, Rektor des Berlinschen Gymnasiums zum Grauen Vgl. Endres, Die deutschen Führungsschichten, S. 90. Vgl. Koenigsberger, Die Krise des 17. Jahrhunderts, S. 158. Es ist an dieser Stelle der Ansicht Koenigsbergers beizupflichten, daß die europäische Gesellschaft des ancien regime vom 14. bis zum 18. Jahrhundert alles andere als fest gefügt, daß der Normalzustand vielmehr das Zusammenspiel dynamischer Kräfte gewesen sei — vgl. ebda, und S. 161. Das Beispiel der Berliner und Cöllner Ratsfamilien macht dies deutlich. 6 3 Vgl. Schilling, Die Stadt in der frühen Neuzeit, S. 18. 6 4 Vgl. Richard van Dülmen, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 1: Das Haus und seine Menschen. 16.-18. Jahrhundert, München 1990, S. 81f. 6 5 Vgl. Wunder, Frauen in den Leichenpredigten, S. 60. 61

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Kloster. 66 Er wurde 1632 in Berlin geboren. Sowohl sein Vater als auch sein Onkel hatten das Berliner Bürgermeisteramt bekleidet. 67 Sein Vater war ihm als Lehrer der berühmten Berliner Schuleinrichtung vorausgegangen, seine Mutter entstammte in mütterlicher Linie der Familie des kurbrandenburgischen Kanzlers Johann Weinleben. Gottfried Webers sämtliche Ahnen bürgten für hochwohlangesehene Familien, er selbst machte eine steile Karriere im Schuldienst und erwarb sich nicht unbedeutende Verdienste, nicht nur durch seine aus dem Rahmen fallende lange Amtszeit von dreißig Jahren. 6 8 So muß es angesichts des familiären Hintergrundes, der herausragenden beruflichen Position und nicht zu verschweigen eines Wesens von charakterlicher Persönlichkeit und Würde unklar, wenn nicht geradezu unverständlich bleiben, warum Gottfried Weber 1698 nicht ganz 66jährig unverheiratet und ohne Nachkommen starb. Seine Ehelosigkeit fiel vollkommen aus dem Rahmen, wurde aber geduldet und war ihm in beruflicher Hinsicht kein Hindernis. Daß ihm der bekannte Berliner Propst Philipp Jakob Spener die Leichenpredigt hielt, bezeugt überdies seine angesehene Stellung im Berlin des ausgehenden 17. Jahrhunderts. Der andere war der kurbrandenburgische Kammergerichtsadvokat Gottfried Friedrich Straßburg, 1615 in Berlin geboren. 6 9 Er entstammte väterlicherseits einer aus Sachsen kommenden Berggeschworenen- und Theologenfamilie, mütterlicherseits dem bekannten Handelsgeschlecht der Krappe. 7 0 Auch in seinem Falle waren bester familiärer Hintergrund und berufliche Sicherheit gewährleistet. Sein Vater war Bürgermeister

66 67

Vgl. Leichenpredigt auf Gottfried Weber von 1698: Stabi E e 710 - 2 4 0 no. 4. Vgl. Ahnentafel 49: Weber/Flöring.

6 8 Vgl. Heidemann, Geschichte des Granen Klosters, S. 1 6 7 - 1 8 0 . Sämtliche Angaben der Leichenpredigt zu Webers Lebensweg stimmen mit denen Heidemanns überein. Während jedoch die Leichenpredigt auf S. 147 zu dem ihm im Februar des Jahres 1668 angetragenen Rektorat bemerkt, daß er dieses in betrachtung der grossen heschwerlichkeit ausgeschlagen habe, weiß Heidemann, daß er aus Rücksicht auf seinen älteren Kollegen, den Konrektor Michael Schirmer, ablehnte — vgl. S. 168. Im Mai desselben Jahres trat letzterer aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand, und Weber wurde in sein hohes A m t voziert und introduziert. 6 9 Vgl. Leichenpredigt auf Gottfried Friedrich Straßburg von 1656: Bln.-Bibl. 51, 10, S. 2 6 - 3 0 . 7 0 Vgl. Ahnentafel 42: Straßburg/Krause. Gottfried Friedrich Straßburg war der B r u der des kurbrandenburgischen Kammergerichtsadvokaten und Cöllner Bürgermeisters Christian Straßburg. D a Gottfried Friedrich Straßburg unverheiratet und ohne N a c h kommenschaft blieb, darüber hinaus keinerlei Funktion im Rat Berlins oder Cöllns ausübte, findet er sich nicht in der Ahnentafel. Vgl. dennoch ferner Verwandtschaftstafel 2: Krause und Verwandtschaftstafel 4: Müller.

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Berlins, er selbst wurde 1639 im Alter von 24 Jahren zum Kammergerichtsadvokaten bestellt, bewegte sich also an dem Ort, an dem bekanntlich Heiratspläne in den hohen und höchsten Kreisen der Residenz geschmiedet wurden. Doch auch hier bleibt es im Dunkeln verborgen, warum er 1656 im Alter von 41 Jahren am Schlag starb, ohne eine Witwe oder Kinder zu hinterlassen. 71 Das Normale war es, verheiratet zu sein. Der Bürgerverband duldete darin nur in seltenen Fällen wie denen Gottfried Webers oder Gottfried Friedrich Straßburgs eine Ausnahme. Individualismus und Pluralismus waren vollkommen fremd und wurden als Bedrohung des Stadtfriedens angesehen, der religiöse und weltanschauliche Übereinstimmung der Glieder der Gemeinschaft voraussetzte. 72 Vor allem aber war die Ehe Privileg, dessen sich privilegierte Stände weidlich bedienten. 73 Hier stimmten die ökonomischen Voraussetzungen, die erfüllt sein mußten, bevor eine Ehe geschlossen werden konnte. 74 Geheiratet wurde grundsätzlich erst, wenn eine gesicherte berufliche Existenz gegeben war, die eine standesgemäße Erziehung von Kindern ermöglichte und garantierte. Der Höhepunkt einer Karriere, wie beispielsweise das Erreichen des Bürgermeisterpostens, mußte zum Zeitpunkt einer Ersteheschließung keinesfalls schon erreicht sein. So läßt sich aus 22 Leichenpredigten auf Berliner und Cöllner Bürgermeister des 17. Jahrhunderts sowie deren Ehefrauen schlußfolgern, daß neun von ihnen vor der Eheschließung als Advokaten beim Kammergericht angenommen worden waren bevor sie zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt Bürgermeister wurden, 75

Vgl. Leichenpredigt auf Gottfried Friedrich Straßburg, (Bln.-Bibl.), S. 29f. Vgl. Schilling, Stadt und frühmoderner Territorialstaat, S. 35f. 7 3 Vgl. zum privilegierten Recht der Eheschließung Pfister, Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie, S. 24. 7 4 Bernd Roeck, Lebenswelt und Kultur des Bürgertums in der frühen Neuzeit (= Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 9), München 1991, S. 32 weißt in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die Ehe in der Frühen Neuzeit keine wirtschaftliche Zweckgemeinschaft allein gewesen sei, doch weitestgehend Arbeitsteilung zwischen berufstätigem Mann und der im Haushalt tätigen Frau bestanden habe. 7 5 Vgl. Leichenpredigten auf Friedrich Blechschmidt von 1656, in: Roth, Restlose Auswertungen, Bd. 2, S. 53, R 1093, auf Martin Friedrich Elerdt von 1693: Stabi Ee 710 195 no. 58 (identisch mit Ee 1660 - 5 no. 6), S. 181f., auf Andreas Lindholtz II., (Roth), S. 449, auf Magdalena Sabina Litzmann, geb. Tieffenbach, von 1717: Bln.-Bibl. XVI, 21, S. 67, Ehefrau des Berliner Bürgermeisters Caspar Litzmann — s. zu diesem auch Karl Litzmann, Geschichte der Familie Litzmann, Tl. 1: Bis um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts, Lfg. 1, Berlin 1913, S. 77 — auf Johann Christoph Otto, (Roth), S. 426 und dessen Ehefrau Anna Sibylla Otto, geb. Krause, von 1678: Stabi Ee 1593 - 2 71

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drei weitere Juristen waren zum Zeitpunkt der Heirat Notare oder Kammergerichtsprotonotar. 76 Zwei spätere Bürgermeister standen in kurfürstlich-brandenburgischen Diensten als Hofküchenschreiber und Vizekammermeister. 77 Es finden sich schließlich ein Lehrer, 78 ein Sekretär 79 und zwei selbständige Kauf- und Handelsmänner mit eigener Handlung. 80 Die Ausnahmen von der Regel waren Martin Pasche und Jacob Straßurg. Ersterer heiratete 1595 die Gubener Bürgermeistertochter Eva Richter und hat sich erst daraufhin von Guben mit derselben anhero nach Berlin / das er sich vnd die seinigen ex praxi nehren wolte / begeben / ist auch also bald in numerum Advocatorum recipiret vnd zugelassen worden / . . . 8 1 Die Zulassung als Kammergerichtsadvokat wird ihm nicht zuletzt aufgrund der Stellung seines lange zuvor verstorbenen Vaters, des kurbrandenburgischen Hofpredigers und Berliner Propstes Joachim Pasche (1527-1578) sicher gewesen sein, so daß er es sich erlauben konnte, erst zu heiraten und dann seine Lebensstellung anzutreten. 82 Der zweite, Jacob Straßburg, hatte bis zum Alter von knapp 27 Jahren als Präzeptor und Begleiter etlicher junger Adliger eigene juristische Studien auf zahlreichen europäischen Universitäten getrieben. Aufgrund seiner Kontakte zu höchsten brandenburgischen Kreisen in der Residenz, zu denen der Kanzler Christian Distelmeyer gehörte, und wegen seiner Weltgewandtheit konnte er es sich erlauben, 1589 die Tochter des

no. 10, S. 50, auf Margarethe Reichart, geb. Moritz, (Stabi), S. 3, Ehefrau des Berliner Bürgermeisters Benedict Reichart, auf Sebastian Rhewend, (Bln.-Bibl.), S. 53f., auf Erasmus Seidel von 1655, in: Roth, Restlose Auswertungen, Bd. 10, S. 219, R 9323 und auf Christian Straßburg, (Bln.-Bibl.), S. 92. 7 6 Vgl. Leichenpredigten auf Caspar Miser von 1640, in: Roth, Restlose Auswertungen, Bd. 7, S. 243, R 6375, auf Johann Wedigen von 1637, in: Roth, Restlose Auswertungen, Bd. 6, S. 263, R 5419 und auf Levin Schardius von 1699: Stabi Ee 615 no. 21, S. 32f. 7 7 Vgl. Leichenpredigten auf Heinrich Julius Brandes von 1691, in: Roth, Restlose Auswertungen, Bd. 6, S. 339, R 5590 und auf Hoyer Friedrich Striepe von 1670, in: Roth, Restlose Auswertungen, Bd. 3, S. 50, R 2067. 7 8 Vgl. Leichenpredigt auf Anna Weber, geb. Flöring, von 1661: Stabi Ee 1550 - no. 5, S. 32, Ehefrau des Bürgermeisters Georg Weber. 7 9 Vgl. Leichenpredigt auf Andreas Weber von 1694: Stabi Ee 710 - 207 no. 3 (identisch mit Ee 1660 - 6 no. 3), S. 85f. 8 0 Vgl. Leichenpredigten auf Matthias Neuhaus von 1681: Bln.-Bibl. 42, 12, pag. 51f. und auf Meinhardt Neuhaus von 1680: Stabi Ee 524 no. 7, S. 37. 8 1 Leichenpredigt auf Martin Pasche von 1626: Stabi Ee 526 no. 1, S. 34. 8 2 Über die Vermögensverhältnisse Martin Pasches und die der Familie seiner Ehefrau sagt die Quelle Leichenpredigt bekanntlich nichts aus. Ergänzende Quellen, die diesen Gesichtspunkt erhellen könnten, fehlen.

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angesehenen Berliner Ratsverwandten und Handelsmannes Philipp Krappe, Benigna Krappe, zu heiraten. Erst nachdem er sich niedergelassen hatte, ist Er in ansehung seiner hohen Erudition vnd vornehmen Qualiteten zu Amt und Würden gekommen.83 Ähnlich verhielt es sich schließlich mit dem 1603 in Liebenwalde geborenen Michael Zarlang. Seine Reisen waren noch wesentlich ausgedehnter gewesen und hatten ihn nahezu alle damaligen europäischen Weltstädte sehen lassen (siehe Karte im Anhang). Er war schon 45 Jahre alt als er die Bande zur Familie seiner Mutter nutzte. Diese war eine geborene Hellwig, eine jener Familien, die zahlreiche Pfarrer in der Mark Brandenburg hervorbrachte.84 Der Cöllner Propst Jakob Hellwig (16001651) war es, der ihm von weiteren Reisen abriet, so daß die Leichenpredigt Michael Zarlangs in quellenspezifischer Art und Weise vermerken kann, 1648 sei ihm ohne die geringste Gedancken darauff zu haben / vielweniger/ daß ersieh darumb beworben haben solte... gleichsam als einen frembden und unbekandten / das ... Consulat offeriret worden / ,.. 85 Er war folglich der einzig, der schon Bürgermeister war, als er in verhältnismäßig fortgeschrittenem Alter die Bürgermeisterwitwe Margarethe Damerow heiratete.86 Die Beispiele zeigen, in welchen Grenzen Individualität möglich war. Sebstverständlich verliefen nicht alle Lebenswege konform, zu Heirat und Ehe aber gab es, bis auf die geschilderten Ausnahmen, keine Alternative. Dabei waren Heiratsstrategien von zentraler Bedeutung für die Reproduktion der Machteliten, so daß Ehen planvoll vorbereitet und in die Wege geleitet wurden. Das konnte durchaus einem Seiltanzakt gleichen, der entsprechend artistische Sicherheit erforderte.87 Denn das Problem war nicht, daß es nicht genug familientragende Stellen schlechthin gab, relativ beschränkt waren bestimmte soziale Positionen.88 Und da

Leichenpredigt auf Jacob Straßburg, (Bln.-Bibl.), S. 134. Vgl. Fischer, Evangelisches Pfarrerbuch, Bd. 2, 1, S. 315. 8 5 Leichenpredigt auf Michael Zarlang von 1675: Stabi Ee 1593 - 1 no. 15, S. 56f. 8 6 Vgl. Leichenpredigt auf Michael Zarlang, (Stabi), S. 57 und Ahnentafel 55: Zarlang/ Damerow. 8 7 Vgl. Rudolf Braun, Staying on Top: Socio-Cultural Reproduction of European Power Elites, in: Wolfgang Reinhard (Hrsg.), Power Elites and State Building (= The Origins of the Modern State in Europe, Theme D), New York 1996, S. 235-259, bes. S. 249: It was a tightrope walk for both sides, requiring sure-footedness on the part of the families. 8 8 Vgl. Josef Ehmer, Heiratsverhalten, Sozialstruktur, ökonomischer Wandel. England und Mitteleuropa in der Formationsperiode des Kapitalismus (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 92), Göttingen 1991, S. 68. 83

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mit der Heirat eine entscheidende und in der Frühen Neuzeit im Grunde so gut wie unumkehrbare Wahl über die zukünftige gesellschaftliche Stellung getroffen wurde, erscheint das Heiratsverhalten in der Tat als eine Variable im Prozeß der sozialen Reproduktion*9. Es heirateten nicht Personen, sondern Vertreter ihres Standes. Der Stand, das waren die wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch Gleichgesinnten, die sich durch ebenbürtige Heiraten von anderen Ständen abschlossen, um ihre soziale Stellung zu sichern.90 Der Grad der Abgeschlossenheit war in der brandenburgischen Residenz und den übrigen kurmärkischen Städten nicht sehr hoch. 91 Dies zeigt ein Blick auf die Verwandtschafts- und Verflechtungsverhältnisse der Berliner und Cöllner Ratsfamilien. Dieser Blick lehrt zweierlei — zum einen, daß führende Familien versuchten, durch ebenbürtige Heirat mit ihresgleichen den einmal erreichten Status zu erhalten oder zu verbessern. Zum anderen wird deutlich, daß ihnen aufgrund des Mangels an ausreichend Nachwuchs in den räumlich engen Verhältnissen des 17. Jahrhunderts nichts anderes übrig blieb, als Aufsteiger in ihre Kreise aufzunehmen. Verflechtung und Patronage, intra- wie intergenerationaler, vertikaler wie horizontaler gesellschaftlicher Aufstieg bedingten sich grundsätzlich gegenseitig, können nicht isoliert betrachtet werden. Verflechtung der Ratsfamilien Berlins und Cöllns ist schwerlich quantifizierbar. Das liegt weniger an der Überlieferung der Quellen, die nie lückenlos sein kann, als vielmehr an den Wechselfällen des Lebens. Manche Familie erlosch, wenn Töchter den Namen der Familie nicht in die nächste Generation weitertrugen, gleichwohl sozial niedriger stehenden Ehepartnern zum sozialen Aufstieg verhalfen, der sich in der nächsten und übernächsten Generation fortsetzten konnte. Oder Stammhalter verstarben in jungen Jahren, ohne je zu Amt und Würden und Nachkommenschaft gekommen zu sein. Schließlich, und das ist von nicht unerheblicher Bedeutung, war nicht jede Generation einer Familie gleich erfolgreich in ihren Heiratsbemühungen. Das war auch nicht möglich, denn groß war die Zahl derjenigen, die bemüht waren, sich von Generation zu Generation nach oben auf der Leiter des sozialen Aufstiegs zu heiraten. Nicht immer aber ließen sich dabei gewünschte und gesuchte Ehmer, Heiratsverhalten, Sozialstruktur, ökonomischer Wandel, S. 69. Vgl. Mitgau, Geschlossene Heiratskreise, S. 5. 9 1 Vgl. Endres, Die deutschen Führungsschichten, S. 94: Die ost- und mitteldeutschen Städte waren ... politisch und gesellschaftlich in ihrer Führungsschicht entschieden offener als die kastenartig erstarrten Stadtaristokratien in Oberdeutschland, die das Geburt s-, Besitz-, Leistungs- und Machtmonopol exklusiv beanspruchten. 89

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Heiratsverbindungen finden und realisieren. Generell gilt, daß je höher der soziale Status war, desto schwieriger gestalteten sich die Heiratsbemühungen unter sozial Gleichgestellten. So ist vor allem festzustellen, daß es immer wieder zu Heiratsverbindungen zwischen sozial Ungleichen kam, durch die vertikale soziale Mobilität, verbunden mit inter- wie intragenerationalem Aufstieg überhaupt erst möglich wurden. Daher ist der möglichst vollständige Nachweis von Verwandtschaftsbeziehungen besonders wichtig, da durch Heirat miteinander verbundene Verwandtschaft, auch die entfernteste, für die Elitenreproduktion instrumentalisiert werden konnte. 92 Dieser Nachweis von Verwandtschaftsbeziehungen ist es, der beweist, daß die führende Oberschicht der Ratsfamilien Berlins und Cöllns im 17. Jahrhundert sich sowohl aufgrund gleicher oder ähnlicher sozialer Daten zusammensetzte und ergänzte als auch durch soziale Verflechtung. 93 Vier mehr oder weniger geschlossene, mehr oder weniger offene Heiratskreise sind für Berlin und Cölln im 17. Jahrhundert zu unterscheiden: zum ersten das schon mehrfach erwähnte Kammergericht und das Kollegium seiner Advokaten. 94 Die Hälfte aller Verwandtschaftsbeziehungen, die sich mit Hilfe des Quellenmaterials der Leichenpredigten nachzeichnen lassen, sind diesem Kreise zuzuordnen. 95 Zum anderen finden sich Kreise, die sowohl Heiratsbeziehungen zum Kammergericht als auch zum Hof, aber auch zu Handelsfamilien unterhielten. 96 Zum dritten gibt es verhältnismäßig stark abgeschlossene Heiratskreise von Han-

Vgl. Reinhard, Freunde und Kreaturen, S. 36. Vgl. Reinhard, Freunde und Kreaturen, S. 19. Reinhard verficht die Ansicht, daß Führungsgruppen sich nicht in erster Linie durch gleiche soziale Daten ihrer Mitglieder konstitiuierten als vielmehr durch soziale Verflechtung, daß eine Oligarchie keine gesellschaftliche Gruppe als Substrat benötige, Verflechtung ihrer Mitglieder genüge. Dem ist hinzuzufügen, daß das Beispiel der brandenburgischen Residenz zeigt, wie im 17. Jahrhundert die vier von Reinhard genannten Gattungen persönlicher Beziehungen als potentielle Träger von Interaktion — Verwandtschaft, Landsmannschaft, Freundschaft und Patronage — im Abnehmen begriffen sind zugunsten des Bedeutung gewinnenden Faktors Leistung. 9 4 Mit dem Verweis auf Faden, Berlin im Dreißigjährigen Kriege, S. 51 sei an dieser Stelle ausdrücklich betont, daß die kurfürstlich-brandenburgischen Kammergerichtsadvokaten freie Leute, keine kurfürstlichen Beamten waren. Dies ist wichtig zu bedenken bei der Unterscheidung zwischen ihnen und anderen freien Berufen einerseits und den kurfürstlich Bediensteten andererseits, die sich in einer vom Hofe abhängigen Position befanden. 9 5 S. Verwandtschaftstafeln 1: Brunnemann, 2: Krause, 3: Moritz und Reichart, 4: Müller, 6: Pasche, 10: Tieffenbach. 9 6 S. Verwandtschaftstafeln 11: Wedigen und 12: Wernicke. 92 93

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delsfamilien, zu denen auch die Apotheker zählen. 97 Handelte es sich bei allen bisherigen Heiratskreisen um Familien von Lutheranern, so bleiben schließlich noch diejenigen der Calvinisten. Hier ist zu unterscheiden zwischen den Handel treibenden Reformierten 98 und denjenigen Reformierten, die in Diensten des Kurfürsten standen. 99

Der Heiratskreis der kurfürstlich-brandenburgischen Kammergerichtsadvokaten Familie

Pasche

Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts tauchten die ersten Kammergerichtsadvokaten in der Funktion der Berliner und Cöllner Bürgermeister auf — 1585 Valentin Retzlow, 1594 Kerhard Scheubelin und 1595 Andreas Weißbrodt. 100 In Cölln war Johann Purcellius 1595 der erste Kammergerichtsadvokat, der das Bürgermeisteramt bekleidete. 101 Über das Fortleben ihrer Familien in der weiteren Geschichte der Residenz ist nichts bekannt, ihre Namen tauchen in keinem späteren Verwandtschaftzusammenhang auf. Der erste, der den wachsenden Einfluß der Kammergerichtsadvokaten in ihrer Bedeutung für das Amt des Bürgermeisters und das anderer kommunaler Amter dokumentiert, ist Martin Pasche. 1 0 2 Schon mit 14 Jahren Vollwaise, war der Sohn eines kurfürstlich-brandenburgischen Hofpredigers außerfamiliärer Vormundschaft untergeben, und über seine Ahnen ist, mit Ausnahme des Vaters, nicht viel mehr bekannt als die Namen der Großeltern. 1602 wurde der Kammergerichtsadvokat Bürgermeister Berlins und Verordneter der Landschaft, 1605 deren Syndikus. Er bekleidete folglich seine hohen Amter schon seit geraumer Zeit, als seine Töchter heirateten. 103 9 7 S. vor allem Verwandtschaftstafel 7: Reetz, aber auch den offneren Heiratskreis der Verwandtschaftstafel 9: Sturm. 9 8 S. Verwandtschaftstafel 5: Neuhaus. 9 9 S. Verwandtschaftstafel 8: Striepe. 1 0 0 Vgl. Goeters, Chronologie der Berliner Stadtoberhäupter, S. 631 f. 1 0 1 Vgl. Goeters, Chronologie der Berliner Stadtoberhäupter, S. 643. 1 0 2 Vgl. Verwandtschaftstafel 6: Pasche und die dort angeführten Ahnentafeln. 1 0 3 Es überlebten ihn fünf von sechs Töchtern und vier von fünf Söhnen — vgl. die Leichenpredigt auf Martin Pasche, (Stabi), S. 2 und S. 34f. Ü b e r Schicksale, Lebenswege oder Heiratsverbindungen einer Tochter und aller Söhne ist nichts bekannt, für die G e schichte Berlins und Cöllns scheinen sie von keiner hervorragenden Wichtigkeit gewesen zu sein. U m s o aufschlußreicher und bedeutsamer sind die Eheverbindungen, die vor allem seine Töchter Anna, Magdalena und Catharina eingingen.

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Des Hofpredigersohnes, Kammergerichtsadvokaten und langjährigen Bürgermeisters Töchter waren umworben bei Bürger- und Bürgermeistersöhnen aus brandenburgischen Städten wie Havelberg, Gardelegen oder Treuenbrietzen, die in die Residenz des Kurfürstentums gekommen waren, um auf juristischem Wege Karriere zu machen. Die älteste, Anna, heiratete 1619 den kurfürstlich-brandenburgischen Hofrentmeister Johann Wernicke. Während es für sie die erste Ehe war, heiratete er bereits zum vierten Male. 1 0 4 Die Ehe steht für die die Stadt- wie Landesherrschaft stabilisierende Verbindung zwischen deren Repräsentanten, der arrivierte Karrieremacher aus Gardelegen heiratete die Tochter des ebenso erfolgreich zum höchsten städtischen Amte aufgestiegenen Kammergerichtsadvokaten. Beide Seiten festigten auf diese Weise ihre erreichte Stellung und gaben diesen Status an die nächste Generation weiter, indem der Sohn Joachim Ernst Wernicke in territorialstaatlichen Diensten Karriere machte und Bürgermeister Cöllns wurde. Anders lagen die Dinge bei der zweiten Ehe, die Anna Pasche, verwitwete Wernicke mit Reichard Dieter Schloß. Nicht zufällig kam Reichard Dieter ebenfalls aus der immer ein Defizit aufweisenden und in ständiger Umorganisation befindlichen staatlichen Finanzverwaltung wie der erste Ehemann seiner zukünftigen Frau. Er war bereits 45 Jahre alt als er 1632 von Kurfürst Georg Wilhelm (1595-1640) als Geheimer Kammersekretär angestellt wurde und im kommenden Jahre Anna Pasche heiratete. Die Ehe mit der Tochter des bereits verstorbenen Bürgermeisters und Witwe eines Hofrentmeisters konnte seinem weiteren beruflichen Werdegang nur nutzen, und auch aus dieser Verbindung ging ein Bürgermeister, diesmal Berlins, hervor. 105 Ganz ähnlich dem eigenen beruflichen Aufstieg nützlich mußte die Ehe wirken, die der junge Kammergerichtsadvokat Erasmus Seidel Schloß, indem der ältere Kollege Martin Pasche ihm die Hand reichte und dieselbe seiner Tochter Magdalena darin legte. 106 Im Falle des Erasmus 1 0 4 Vgl. Leichenpredigt auf Johann Wernicke von 1630, in: Früh, StA Braunschweig, Bd. 9, S. 4408, Nr. 7173 [Zweitzitate von Leichenpredigten in Früh, StA Braunschweig künftig zitiert: Früh], S. ferner Ahnentafel 53: Wernicke/Heidekampff und Verwandtschaftstafel 12: Wernicke. 1 0 5 Vgl. Leichenpredigten auf Anna Dieter, geb. Pasche, von 1677, in: Roth, Restlose Auswertungen, Bd. 8, S. 427, R 7780 und auf Reichard Dieter von 1656, in: Roth, Restlose Auswertungen, Bd. 6, S. 77, R 5122. S. ferner Ahnentafel 9: Dieter/Pasche. 1 0 6 Vgl. Leichenpredigten auf Erasmus Seidel, (Roth), S. 219 und auf Magdalena Seidel, geb. Pasche, von 1676: Stabi Ee 1 5 9 3 - 2 no. 7, S. 66. S. ferner Ahnentafel 40: Seidel/ Pasche und Ahnentafel 41: Seidel/Weise. Die Angaben der Leichenpredigt auf Erasmus Seidel bestätigend: Georg Gottfried Küster, Geschichte des Alt-Adelichen Geschlechts

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derer von Seidel..., Berlin 1751, S. 23-29. Die Angaben der Leichenpredigt auf Magdalena Seidel, geb. Pasche sowie die Eheverbindung zwischen ihr und Erasmus Seidel bestätigend: Martin Dieterich, Historische Nachricht Von denen Grafen zu Lindow und Ruppin, unveränd. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1725, mit einem Nachwort von Gerd Heinrich, Neustadt a. d. Aisch 1995, S. 206.

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Seidel handelte es sich um einen außergewöhnlichen sozialen Aufstieg, den der Sohn des Bürgermeisters von Treuenbrietzen schaffte. Über das Bürgermeisteramt von Berlin brachte er es vom Kammergerichts- und Kriegsrat bis zum Geheimen Rat, den die Kurfürsten Georg Wilhelm und Friedrich Wilhelm (1620-1688) in hohen und nicht unbedeutenden auswärtigen Staatsgeschäften gebrauchten. Erasmus Seidel mehrte damit auch das Ansehen der Familie Pasche, von deren männlichen Nachkommen nichts überliefert ist. Von den Söhnen des Erasmus Seidel und der Magdalena Pasche erlangte der älteste gar einen gewissen Berühmtheitsgrad. Der Kammergerichtsrat, Historiograph und Sammler Martin Friedrich Seidel (1621-1693) 1 0 7 avancierte zum Vater der brandenburgischen Geschichtsschreibung108. Während Martin Friedrich Seidels Leben aufgrund der religiösen Auseinandersetzungen unter Kurfürst Friedrich Wilhelm in den sechziger Jahren des 17. Jahrhunderts äußerst wechselhaft verlief, er die Residenz verlassen mußte und erst Jahre später wieder zurückkehren konnte, machte sein jüngerer Bruder Joachim Ernst Seidel nach langen Jahren der ausgiebigsten Peregrination weit weniger spektakulär Karriere. Er wurde nach seiner Rückkehr im Jahre 1666 zum Justizrat in kurfürstlich-brandenburgischen Diensten berufen und heiratete wenige Jahre später die seinem Stande entstammende Tochter des kurfürstlich-brandenburgischen Rates und ältesten Leibmedicus Martin Weise, Catharina Elisabeth Weise. Schließlich wurde auch er wie sein Vater, diesmal aber in Cölln, ins Bürgermeisteramt berufen. 109 Von einem intergenerationalen gesell-

1 0 7 Vgl. zu diesem ausführlich Jürgen Splett, Martin Friedrich Seidel, in: Lothar Noack/Ders., Bio-Bibliographien. Brandenburgische Gelehrte der Frühen Neuzeit. Berlin-Cölln 1640-1688 ( = Veröffentlichungen zur brandenburgischen Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit), Berlin 1997, S. 4 0 9 - 4 2 1 . S. ferner die ältere Darstellung von J o hannes Bolte, Martin Friedrich Seidel, ein brandenburgischer Geschichtsforscher des 17. Jahrhunderts ( = Wissenschaftliche Beilage zum Jahresbericht des Königstädtischen Gymnasiums zu Berlin, Ostern 1896), Berlin 1896 sowie das Seideische Tafelwerk märkischer Bodenaltertümer, das erstmals im Druck vorgelegt und mit einer Einleitung zu Person und Werk des Martin Friedrich Seidel versehen wurde von H o r s t Kirchner, Des churbrandenburgischen Hof- und Kammergerichtsraths Martin Friedrich Seidel (16211693) Thesaurus Orcivus Marchicus. Aus den Anfängen der Vorgeschichtsforschung in der Mark Brandenburg (= Berliner Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte, Bd. 14), Berlin 1972. 1 0 8 H . Pröhle, Martin Friedrich Seidel, in: Allgemeine Deutsche Biographie, hrsg. durch die Historische Kommission bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften, Bd. 33, Neudruck der 1. Aufl. Leipzig 1891, Berlin 1971, S. 6 2 3 - 6 2 5 , Zitat S. 623. 1 0 9 Vgl. Leichenpredigten auf Joachim Ernst Seidel von 1687, in: Roth, Restlose Auswertungen, Bd. 1, S. 13, R 28 und auf Catharina Elisabeth Seidel, geb. Weise, von 1674,

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schaftlichen Aufstieg kann hingegen bei Joachim Ernst Seidel dennoch keine Rede sein. Die letzte der Familie Pasche, deren Ehe in ebendiesem Sinne zu deuten ist, ist Catharina Pasche. Sie heiratete 1632 Paul Brunnemann, 1 1 0 der 1631 als Kammergerichtsadvokat vereidigt worden w a r 1 1 1 und 1640 Bürgermeister Cöllns wurde. 1 1 2 Zwar nutzte Paul Brunnemann den Heiratskreis seiner beruflichen Wirkungsstätte, des Kammergerichtes, von einem gesellschaftlichen Aufstieg im Vergleich zu seinen Vorvätern kann aber keine Rede sein: Sein Vater Hieronymus Brunnemann hatte die erste Pfarrstelle der Kirchengemeinde zu St. Petri in Cölln inne, sein Onkel Sebastian Brunnemann war wie er Kammergerichtsadvokat und bekleidete jahrzehntelang das Amt des Bürgermeisters von C ö l l n . 1 1 3 Abschließend ist zur Heiratspolitik des Kammergerichtsadvokaten und Berliner Bürgermeisters Martin Pasche zu bemerken, daß er darin äußerst erfolgreich war. Auf diese Art und Weise gelang es ihm, das hohe Ansehen des Familiennamens, dem im 17. Jahrhundert größte Bedeutung zukam, zu bewahren. So wenig seine eigene Heirat mit einer Gubener Bürgermeisterstochter, über deren Vater nichts weiter bekannt ist, einzustufen ist, so sehr zeigen die Ehen seiner Töchter, daß er es verstand, den selbst einmal errungenen Status an die nächste Generation weiterzugeben und gleichzeitig jüngeren Kollegen zum gesellschaftlichen Aufstieg zu verhelfen.

Familie Brunnemann D o c h wie fragil das Gebilde eines Heiratskreises von Anwälten des Kammergerichts zu Cölln die kurze Zeitspanne von nur einem guten Jahrhundert war und blieb, wurde in allen Generationen deutlich. D e r

in: Roth, Restlose Auswertungen, Bd. 3, S. 190, R 2 3 0 8 sowie auf Martin Weise von 1693, in: Roth, Restlose Auswertungen, Bd. 4, S. 250, R 3469. S. ferner Ahnentafel 41: Seidel/Weise und Jürgen Splett, Martin Weise, in: Noack/Ders., Bio-Bibliographien, S. 477-481, bes. S. 478, wo er als der erfolgreichste und angesehenste praktische Arzt der Doppelresidenz Berlin-Cölln bezeichnet wird. 1 1 0 Vgl. Leichenpredigt auf Catharina Brunnemann, geb. Pasche, von 1646, in: Roth, Restlose Auswertungen, Bd. 8, S. 427, R7781. S. ferner Ahnentafel 6: Brunnemann/ Pasche und Verwandtschaftstafel 1: Brunnemann. Die Angaben der Leichenpredigt auf Catharina Brunnemann, geb. Pasche sowie die Eheverbindung zwischen ihr und Paul Brunnemann bestätigend: Dieterich, Historische Nachricht, S. 206f. 1 1 1 Vgl. Saring, Die Mitglieder, S. 223. 1 1 2 Vgl. Goeters, Chronologie der Berliner Stadtoberhäupter, S. 644. 1 1 3 Vgl. Goeters, Chronologie der Berliner Stadtoberhäupter, S. 643f.

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