"Terrible ami - aimable ennemi" Kooperation und Konflikt in den deutsch-französischen Beziehungen 1911-1914 3416028376

Zugl.: Köln, Univ., Diss., 1997

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Polecaj historie

"Terrible ami - aimable ennemi" Kooperation und Konflikt in den deutsch-französischen Beziehungen 1911-1914
 3416028376

Table of contents :
1 FRAGESTELLUNG, METHODE UND QUELLENLAGE
GRENZEN UND MÖGLICHKEITEN EINER
KOOPERATION ZWISCHEN DEUTSCHLAND
UND FRANKREICH 1
2 POLITISCHE KONFLIKTVERMEIDUNG 22
2 1 Frankreich und Deutschland in Afrika Losungsversuche zu
politischen und poht-okonomischen Konflikten 22
2 1 1 Ansätze zur Kooperation in Afrika infolge der Algeciras-Akte
und des deutsch-franzosischen Vertrages von 1909 22
2 111 Kooperation und Abgrenzung deutsche und franzosische
Kolonien in Mittelafnka 23
2 112 Private Interessen und staatliche Intervention
Mineninteressen in Marokko bis 1914 Von der
Mannesmann-Affare zur Arbitrage 34
2 1 2 Die zweite Marokkokrise Koloniale Kompensation
und nationale Konfrontation 44
2 2 Frankreich und Deutschland in Europa Das Ende der
Gemeinsamkeiten oder ein "europaisches Konzert"7 58
2 2 1 Detente und Bundnistreue Frankreich und
Deutschland im Frühjahr 1912 58
2 2 2 Die Balkankrise deutsch-franzosische Aspekte des
europaischen Krisenmanagements, Oktober 1912
bis April 1913 62
2 2 3 Paix armee, Rüstungswettlauf und deutsch-franzosische
Zwischenfalle, April bis November 1913 81
2 2 3 1 Die Konzeption der "paix armee" m Deutschland und
Frankreich Kräftegleichgewicht und die Befähigung
zum Krieg 81
2 2 3 2 April 1913 Zwischenfalle und Losungen 94
2 2 4 Eine Normalisierung? Deutschland und Frankreich am
Vorabend des Krieges, Dezember 1913 bis Juni 1914 98
3. FINANZINTERESSEN ZWISCHEN NATIONALISMUS,
IMPERIALISMUS UND INTERNATIONALER
ZUSAMMENARBEIT 104
3.1. Ökonomische und politische Bestimmungsgrößen 104
3.2. Deutsch-französische Bankenbeziehungen in Europa 112
3.3. Objekte des Imperialismus: China und die Türkei 126
3.3.1. Das China-Syndikat und die "Reorganisationsanleihe"
von 1913 126
3.3.2. Deutsch-französische Finanzinteressen im
Osmanischen Reich 136
3.3.2.1. Von der Dette Publique Ottomane zur
Finanzkonferenz von Paris 136
3.3.2.2. Bahn- und Anleihefragen in der Türkei:
Die deutsch-französischen Verhandlungen von
1913/1914 und der Vertrag vom 15. Februar 1914 148
3.3.3. Konsortium von Konstantinopel und Credit Foncier
Ottoman 167
4. HANDEL ZWISCHEN KONKURRENZ,
PROTEKTIONISMUS UND ZUSAMMENARBEIT 172
4.1. Theoretischer und historischer Bezugsrahmen:
Entwicklungstendenzen der Wirtschaft in
Deutschland und Frankreich 172
4.2. Quantitative Ansätze zur Beurteilung der
deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen
von 1911 bis 1914 176
4.3. Die Ausstellungen in Leipzig und Lyon 1914 185
4.4. Handel und Annäherung 193
4.4.1. Zollpolitik, nationale Interessen und der
Stellenwert des Außenhandels 193
4.4.2. Privates Lobbying für wirtschaftliche Zusammenarbeit:
die deutsch-französischen Wirtschaftskomitees von 1908 208
4.5. Großunternehmen im Deutschen Reich und in Frankreich:
Zwischen Kooperation, Monopolbestrebungen und
internationaler Verflechtung 220
4.5.1. Die deutschen Erzinteressen in Frankreich 220
4.5.1.1. August Thyssen und die Gewerkschaft Deutscher Kaiser 221
4.5.1.2. Emil Kirdorf und die Gelsenkirchener Bergwerks-AG 236
4.5.1.3. Die Gutehoflhungshütte 238
4 5 14 Hugo Stinnes und die Deutsch-Luxemburgische
Bergwerks- und Hutten-AG 242
4 5 2 Die franzosische Schwerindustrie m Deutschland 248
4 5 2 1 Les Petits Fils de Francis de Wendel 250
4 5 2 2 Die Acienes de Longwy, der Valleroy-Vertrag und die
Rochling' sehen Eisen- und Stahlwerke 257
4 5 3 Die Verbände der Schwerindustrie und die
deutsch-franzosischen Wirtschaftsbeziehungen 259
4 5 4 Samt-Gobam 262
4 5 5 Die deutsche chemische Industrie in Frankreich 265
4 6 Weltpolitik und Weltwirtschaft 270
5 GESELLSCHAFTLICHE, KULTURELLE UND
PARLAMENTARISCHE BEZIEHUNGEN 278
5 1 Öffentliche Meinung Annäherung durch Kennenlernen 279
5 1 1 Presse und Publizistik 279
5 1 2 Friedensbewegung und Annaherungskomitees 293
5 1 3 Reisen und Annäherung 300
5 13 1 Geschäft und Politik Maunce Ajams Reise nach
Deutschland 300
5 13 2 Touristisches Reisen 303
5 14 Das Problem Elsaß-Lothringen als Mittel zur Annäherung 306
5 2 Politische und parlamentansche Ansätze zur Entspannung 317
5 2 1 Die Parlamentanerkonferenzen von Bern und Basel
1913/1914 317
5 2 2 Die Sozialistische Internationale und das
deutsch-franzosische Problem 325
5 2 3 Paul d'Estournelles de Constant und die Idee der
Schiedsgenchtsbarkeit 338
6 SCHLUSSBEMERKUNG 345
Abkurzungsverzeichms 357
Quellen- und Literaturverzeichnis 359
Personenregister 395

Citation preview

Wilsberg • „Terrible ami - aimable ennemi"

deutsches historisches

Institut historique allemand

3>*S

PARISER HISTORISCHE STUDIEN herausgegeben vom Deutschen Historischen Institut Paris

Band 49

B O U V I E R VERLAG • BONN

11

Terrible ami - aimable ennemi" Kooperation und Konflikt in den deutsch-französischen Beziehungen 1911-1914

von KLAUS WILSBERG

1998 BOUVIER VERLAG BONN

PARISER HISTORISCHE STUDIEN Herausgeber: Prof. DR. Werner PARAVICINI Redaktion: DR. Stefan MARTENS Institutslogo: Heinrich PARAVICINI, unter Verwendung eines Motivs am Hotel Duret de Chevry Anschrift: Deutsches Historisches Institut (Institut Historique Allemand) Hotel Duret de Chevry, 8, nie du Parc-Royal, F-75003 Paris

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wilsberg, Klaus: , "Terrible ami - aimable ennemi" : Kooperation und Konflikt in den deutsch-französischen Beziehungen 1911 - 1914 / von Klaus Wilsberg. - Bonn : Bouvier, 1998 (Pariser historische Studien ; Bd. 49) Zugl.: Köln, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-416-02837-6 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus zu vervielfältigen oder auf Datenträger aufzuzeichnen. © Bouvier Verlag, Bonn 1998. Printed in Germany. Karikatur auf dem Buchumschlag: New Yorker Revue, 19.11.1911. Druck und Einband: Druckerei Plump, Rheinbreitbach. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

INHALTSVERZEICHNIS

1

FRAGESTELLUNG, METHODE UND QUELLENLAGE GRENZEN UND MÖGLICHKEITEN EINER KOOPERATION ZWISCHEN DEUTSCHLAND UND FRANKREICH

1

2

POLITISCHE KONFLIKTVERMEIDUNG

22

21

Frankreich und Deutschland in Afrika Losungsversuche zu politischen und poht-okonomischen Konflikten Ansätze zur Kooperation in Afrika infolge der Algeciras-Akte und des deutsch-franzosischen Vertrages von 1909 Kooperation und Abgrenzung deutsche und franzosische Kolonien in Mittelafnka Private Interessen und staatliche Intervention Mineninteressen in Marokko bis 1914 Von der Mannesmann-Affare zur Arbitrage Die zweite Marokkokrise Koloniale Kompensation und nationale Konfrontation Frankreich und Deutschland in Europa Das Ende der Gemeinsamkeiten oder ein "europaisches Konzert"7 Detente und Bundnistreue Frankreich und Deutschland im Frühjahr 1912 Die Balkankrise deutsch-franzosische Aspekte des europaischen Krisenmanagements, Oktober 1912 bis April 1913 Paix armee, Rüstungswettlauf und deutsch-franzosische Zwischenfalle, April bis November 1913 Die Konzeption der "paix armee" m Deutschland und Frankreich Kräftegleichgewicht und die Befähigung zum Krieg April 1913 Zwischenfalle und Losungen Eine Normalisierung? Deutschland und Frankreich am Vorabend des Krieges, Dezember 1913 bis Juni 1914

2 11 2 111 2 112 21 2 22 221 222 223 2231 2232 224

22 22 23 34 44 58 58 62 81 81 94 98

3.

FINANZINTERESSEN ZWISCHEN NATIONALISMUS, IMPERIALISMUS UND INTERNATIONALER ZUSAMMENARBEIT

3.1. 3.2. 3.3. 3.3.1.

Ökonomische und politische Bestimmungsgrößen Deutsch-französische Bankenbeziehungen in Europa Objekte des Imperialismus: China und die Türkei Das China-Syndikat und die "Reorganisationsanleihe" von 1913 3.3.2. Deutsch-französische Finanzinteressen im Osmanischen Reich 3.3.2.1. Von der Dette Publique Ottomane zur Finanzkonferenz von Paris 3.3.2.2. Bahn- und Anleihefragen in der Türkei: Die deutsch-französischen Verhandlungen von 1913/1914 und der Vertrag vom 15. Februar 1914 3.3.3. Konsortium von Konstantinopel und Credit Foncier Ottoman

4.

HANDEL ZWISCHEN KONKURRENZ, PROTEKTIONISMUS UND ZUSAMMENARBEIT

Theoretischer und historischer Bezugsrahmen: Entwicklungstendenzen der Wirtschaft in Deutschland und Frankreich 4.2. Quantitative Ansätze zur Beurteilung der deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen von 1911 bis 1914 4.3. Die Ausstellungen in Leipzig und Lyon 1914 4.4. Handel und Annäherung 4.4.1. Zollpolitik, nationale Interessen und der Stellenwert des Außenhandels 4.4.2. Privates Lobbying für wirtschaftliche Zusammenarbeit: die deutsch-französischen Wirtschaftskomitees von 1908 4.5. Großunternehmen im Deutschen Reich und in Frankreich: Zwischen Kooperation, Monopolbestrebungen und internationaler Verflechtung 4.5.1. Die deutschen Erzinteressen in Frankreich 4.5.1.1. August Thyssen und die Gewerkschaft Deutscher Kaiser 4.5.1.2. Emil Kirdorf und die Gelsenkirchener Bergwerks-AG 4.5.1.3. Die Gutehoflhungshütte

104 104 112 126 126 136 136 148 167

172

4.1.

172 176 185 193 193 208 220 220 221 236 238

4 5 14 4 52 4 52 1 4 522 4 53 4 54 455 46 5 5 5 5 5 5

Hugo Stinnes und die Deutsch-Luxemburgische Bergwerks- und Hutten-AG Die franzosische Schwerindustrie m Deutschland Les Petits Fils de Francis de Wendel Die Acienes de Longwy, der Valleroy-Vertrag und die Rochling' sehen Eisen- und Stahlwerke Die Verbände der Schwerindustrie und die deutsch-franzosischen Wirtschaftsbeziehungen Samt-Gobam Die deutsche chemische Industrie in Frankreich Weltpolitik und Weltwirtschaft GESELLSCHAFTLICHE, KULTURELLE UND PARLAMENTARISCHE BEZIEHUNGEN

1 11 12 1 3 13 1

5 13 2 5 14 52 52 1 522 523

Öffentliche Meinung Annäherung durch Kennenlernen Presse und Publizistik Friedensbewegung und Annaherungskomitees Reisen und Annäherung Geschäft und Politik Maunce Ajams Reise nach Deutschland Touristisches Reisen Das Problem Elsaß-Lothringen als Mittel zur Annäherung Politische und parlamentansche Ansätze zur Entspannung Die Parlamentanerkonferenzen von Bern und Basel 1913/1914 Die Sozialistische Internationale und das deutsch-franzosische Problem Paul d'Estournelles de Constant und die Idee der Schiedsgenchtsbarkeit

242 248 250 257 259 262 265 270

278 279 279 293 300 300 303 306 317 317 325 338

6 SCHLUSSBEMERKUNG

345

Abkurzungsverzeichms

357

Quellen- und Literaturverzeichnis

359

Personenregister

395

Vorwort

Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung der wissenschaftlichen Arbeit, die am 28 Juni 1997 von der Philosophischen Fakultät der Umversitat zu Köln unter dem Titel „Kooperative Momente und Konfliktvermeidung Das Deutsche Reich und Frankreich 1911-1914" als Dissertation angenommen wurde Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof Dr Jost Dulffer, der mich unterstutzt und manch wertvollen Hinweis mit auf den Weg gegeben hat Ich danke auch Herrn Privatdozenten Dr Wolfram Pyta, der meme Arbeit als Zweitgutachter gelesen hat Herr Prof Dr Harm Klueting trug als Gutachter dazu bei, daß dieses Forschungsprojekt aus öffentlichen Mitteln gefordert wurde Für finanzielle Unterstützung danke ich dem Deutschen Akademischen Austauschdienst, der mir einen längeren Forschungsaufenthalt, u a m Pans, Nantes und Le Mans, ermöglichte Ich fühle mich besonders auch dem Deutschen Historischen Institut m Paris zu Dank verbunden, dessen finanzielle Hilfe weitere Forschungen m Blois, Bordeaux, Pans und Lothringen möglich machte Über diese matenellen Zuwendungen hinaus profitierte ich oft von der Gastfreundschaft und den gedanklichen Anstoßen des Direktors des Instituts, Herrn Prof Dr Werner Paravicini, und semer Mitarbeiter, insbesondere auch von der Unterstützung durch Herrn Dr Stefan Martens Er begleitete mit konstruktiver Kritik meine Forschungen m Pans und half bei der Überarbeitung für die Drucklegung Wissenschaftliche Anregungen und Hilfen gaben ferner Herr Prof Dr Jean-Claude Allain und Herc Prof Dr Enc Bussiere Meine Forschungsaufenthalte in Frankreich wurden wesentlich erleichtert durch die Gastfreundschaft von Mme Sylvie Mandier Ich danke außerdem allen Mitarbeitern der Archive, die mich über ihre berufliche Aufgabe hinaus mit Rat und Tat unterstutzten Stellvertretend mochte ich Herrn Dr Rasch (Thyssen-Archiv) und Herrn Dr Nougaret (Credit Lyonnais) nennen Zu danken habe ich in ganz besonderem Maße allen, die mich auf dem manchmal ungewissen Weg der Promotion mit Freundschaft, Geduld und Teilnahme begleitet haben Viele nahmen es auf sich, Teile der Arbeit Korrek-

tur zu lesen. Stellvertretend seien Anke Gummersbach, Beate Heimann, Heribert Kamella und Dr. Wolfgang Lohe genannt. Schließlich möchte ich einen besonderen Dank an meine Eltern richten, ohne deren Rückhalt und Hilfe die aufwendigen Forschungen für dieses Buch nicht möglich gewesen wäre.

Bordeaux, zu Ostern 1998

Klaus Wilsberg

1. Fragestellung, Methode und Quellenlage: Grenzen und Möglichkeiten einer Kooperation zwischen Deutschland und Frankreich „Terrible ami - aimable ennemi": Mit diesen gegenseitigen Glückwünschen beendeten Kiderlen-Wächter, Staatssekretär des Äußeren des Deutschen Reiches, und Jules Cambon, französischer Botschafter in Berlin, die langwierigen Verhandlungen um die deutschen und französischen Interessen in Marokko und im Kongogebiet durch den Vertrag vom 4. November 1911 ^ Wenige Äußerungen der letzten Vorkriegsjahre geben das Spannungsverhältnis in den deutsch-französischen Beziehungen vor 1914 so knapp und doch so präzise wieder. Es herrschte keineswegs durchgängig gegenseitige Abschottung, vielmehr bestimmten nach 40 Friedensjahren neben Rivalität und Feindschaft zahlreiche gesellschaftliche, wirtschaftliche, wissenschaftliche und auch politische Kontakte das Bild. Von der Ambivalenz bilateraler Beziehungen zwischen angeblicher „Erbfeindschaft" und politischem Ausgleich, zwischen Protektionismus und engen Handelsbeziehungen, zwischen Nationalismus und Internationalismus, handelt die vorliegende Arbeit. Den deutsch-französischen Beziehungen kam im europäischen Mächtesystem vor 1914 eine Schlüsselstellung zu. Diese Qualität hatte sich mit der französischen Niederlage von 1871 verstärkt. Das Verhältnis des durch den Krieg entstandenen Zweiten Deutschen Kaiserreiches zur Dritten Republik wurde durch die Abspaltung des Elsaß' und eines Teils von Lothringen langfristig schwer belastet. Wenn diese Frage sich auch keineswegs als das beherrschende Thema der Epoche bis zum Ersten Weltkrieg erwies und in ihrer Bedeutung abnahm, begrenzte die beiderseitige Erinnerung an den Krieg jedoch den Spielraum für eine Annäherung in erheblichem Maße und reduzierte sowohl die Möglichkeit als auch den Wirkungsgrad politischer Abkommen. Der französische Publizist Rene Pinon drückte im Jahre 1912 aus, worin auf beiden Seiten Grenzen einer deutsch-französischen Annäherung gesehen wurden: "Des rapports corrects et loyaux, des echanges de vues sinceres, des ententes memes, s'il y a lieu, 'de cas en cas', ou encore des rivalites localisees et de differends passagers regles dans un esprit d'equite et de concorde, voilä ce que l'Allemagne et la France se doivent l'une ä l'autre; mais, dans Tetat actuel de l'Europe, rien de plus."2

1 JÄCKH, Ernst (Hg.), Kiderlen-Wächter, der Staatsmann und Mensch, Briefwechsel und Nachlaß, 2 Bde., Stuttgart/Berlin/Leipzig 1924, S. 140 f. 2 PINON, Rene, France et Allemagne II, 1898-1913, in: RDDM 1912, 2 (1.4.1912), S. 692.

Fragestellung, Methode und Quellenlage

2

Dies zeigt exemplarisch die Schwierigkeit emer angemessenen Beurteilung der spannungsreichen Wirklichkeit, aber auch der Tendenzen und möglichen Alternativen des deutsch-franzosischen Verhaltmsses m den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg Das Spektrum politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Beziehungen sowie die Ansätze zu Kooperation und Deeskalation zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich von 1911 bis 1914 smd Gegenstand der vorliegenden Arbeit und sollen anhand eimger Fragen bestimmt werden Welche politischen Bedingungen herrschten wahrend und nach der AgadirKrise, und wie entwickelte sich das deutsch-franzosische Verhaltms im Kontext von imperialistischer Expansion und europaischem Machtesystem bis 1914? Welche Alternativen zu einer kriegerischen Losung der Spannungen m Europa und an der Peripherie wurden wahrgenommen, und auf welche Weise nahmen Frankreich und das Deutsche Reich am Konfliktmanagement im Rahmen des "europaischen Konzerts" der Machte teiP Welche Bedeutung kam den wirtschaftlichen Beziehungen im Hinblick auf eine friedliche Koexistenz der Staaten zu, und wie laßt sich das Verhaltms der Wirtschaftseilte, insbesondere aus Hochfinanz und Großindustrie, zur Außenpolitik charakterisieren? Wie lassen sich gesellschaftliche und kulturelle Ansätze zu einer Entspannung zwischen Deutschland und Frankreich beurteilen? Welche Zukunftsaussichten besaßen parlamentarische Kontakte, etwa im Rahmen der pazifistischen Bewegung oder der Zweiten Sozialistischen Internationale? Welchen Stellenwert hatten Feindbilder in der öffentlichen Meinung, und welche Bedeutung erlangten Versuche zum Abbau von Vorurteilen und Stereotypen über die Angehörigen der anderen Nation? Gab es, abschließend gefragt, eine in beiden Landern vorherrschende Disposition zum Krieg, die nur noch eines Anlasses bedurfte, oder verwirklichte sich mit Ausbruch des Krieges nur eine von vielen Möglichkeiten, die sich aus dem komplexen Gefuge von politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen ergaben? Die gestellten Fragen betreffen unterschiedliche Bestimmungsfaktoren bilateraler Beziehungen und damit auch unterschiedliche Gebiete der historischen Forschung Diesen Faktoren liegen zudem verschiedene Konzepte über das Zusammenleben der Volker zugrunde, die sich idealtypisch in "realistische" und "idealistische" einteilen lassen3 Dies bedeutet, daß einerseits das Konzept der Machtbalance und des grundsätzlichen Mißtrauens gegenüber dem Kontrahenten, andererseits das Konzept der internationalen Zusammenarbeit, Verrechthchung und Institutionahsierung der Außenbeziehungen in Betracht gezogen werden muß Im folgenden werden Ergebmsse vorgestellt, die die 3

Vgl WRIGHT, Quincy, Realism and Idealism in International Politics, in World Politics V (1952/53), S 116-128, OSGOOD, Robert E , Idealismus und Egoismus in der Außenpolitik, in HAFTENDORN, Helga (Hg ), Theorie der internationalen Politik Gegenstand und Methoden der Internationalen Beziehungen, Hamburg 1975, S 52-68

Fragestellung, Methode und Quellenlage

3

historische Forschung zum Themenkomplex der deutsch-französischen Beziehungen und ihrer Einbindung im europäischen Mächtesystem erbracht hat. Anschließend sollen die Fragestellung und das methodische Vorgehen genauer erläutert werden. Abwehr und Rechtfertigung des Kriegsschuldartikels im Versailler Vertrag bestimmten die Arbeiten der Zwischenkriegszeit ebenso wie die Suche nach den "causes profondes" des Krieges4. Daneben haben die Gesamtdarstellungen von Albertini, Renouvin und Hallgarten, auch aufgrund der raschen Aktenveröffentlichungen nach dem Ersten Weltkrieg, die Entwicklung des Imperialismus und der Vorkriegskrisen detailliert untersuchen können5. Bis auf die Studie Hallgartens beschränkten sich diese Arbeiten im wesentlichen auf diplomatiegeschichtliche Aspekte, ohne auf soziale und wirtschaftliche Beziehungen einzugehen. In der deutschen Forschung folgten neue Untersuchungsansätze als Reaktion auf die Arbeiten Fritz Fischers in den 60er Jahren. Während der Debatte um dessen Thesen sind in Anknüpfung an ältere Analysen Jules Isaacs und Ludwig Dehios über die Strukturen des Mächtesystems hinaus besonders die Ziele der deutschen Politik, die Absichten der politischen Akteure und die Entwicklungslinien der deutschen Großmacht behandelt worden6. Fischer und Imanuel Geiss nehmen an, daß der Aufstieg des Deutschen Reiches zum Verfall des europäischen Konzerts beitrug und die Reichsleitung spätestens seit 1911 bereit war, einen Krieg in Kauf zu nehmen, um die Position der deut4 Vgl. ISAAC, Jules, Un debat historique: 1914. Le probleme des origines de la guerre, Paris 1933; BARNES, Harry Eimer, Die Entstehung des Weltkrieges, Berlin/Leipzig 1928 [1926], dessen deutsche Übersetzung sich vermutlich seiner deutschfreundlichen Tendenz verdankt; FAY, Sidney Bradshaw, The Origins of the World War, 2 Bde., New York 1928; SCHMITT, Bemadotte E., The Coming of the War 1914, 2 Bde., New York/London 1930; DERS., Triple Alliance and Triple Entente, New York 1934. 5 Vgl. HALLGARTEN, George W., Imperialismus vor 1914, 2 Bde., München 1951; ALBERTINI, Luigi, The origins of the war of 1914, vol. 1-3, London/New York/Toronto 1952; RENOUVIN, Pierre, La crise europeene et la Premiere Guerre mondiale, 4C ed., revue et augmentee, Paris 1962; DERS., LEurope contemporaine, La paix armee et la Grande Guerre 1971-1919, Paris 1947. 6 Vgl. FISCHER, Fritz, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschlands 1914/18, Düsseldorf 1984; DERS., Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911-1914, unveränd. Nachdruck der 2. Auflage von 1970, Düsseldorf 1987; DEHio, Ludwig, Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte, hg. v. Klaus HILDEBRAND, Zürich 1996; ISAAC, Un debat historique, S. 30-58; HlNSLEY, Francis Harry, Power and the Pursuit of Peace, Cambridge 1963, S. 266-308; zur Fischer-Kontroverse und zur Weltkriegsforschung, JÄGER, Wolfgang, Historische Forschung und politische Kultur in Deutschland. Die Debatte 1914-1980 über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Göttingen 1984; DROZ, Jacques, Les causes de la premiere guerre mondiale. Essai dliistoriographie, Paris 1973; SCHÖLLGEN, Gregor, Griff nach der Weltmacht? 25 Jahre Fischer-Kontroverse, in: HJb 106 (1986), S. 386-406.

4

Fragestellung, Methode und Quellenlage

sehen Großmacht zu sichern und innere Probleme mit außenpolitischen Erfolgen zu überdecken. Geiss hat besonders die langfristig verhängnisvollen Wirkungen der deutschen "Weltpolitik" hervorgehoben: "Ohne deutsche Weltpolitik' kein Weltkrieg 1914."7 Den sich verengenden Spielraum der deutschen Politik während der Vorkriegskrisen hat Geiss so weit ausgelegt, als ob diese "mit beklemmender Folgerichtigkeit in die Julikrise 1914"8 geführt hätten. Dagegen hat Christopher John Bartlett die Selbstverständlichkeit expansiver Politik im Kreis der europäischen Großmächte betont, mithin dem Deutschen Reich bei der Entwicklung des Staatensystems keine Sonderrolle zugewiesen9. Eine wachsende Bedeutung für die Beziehungen der europäischen Großmächte kam den Rüstungen zu. David Stevenson und David G. Herrmann haben die Entwicklung der Rüstungen im Zusammenhang mit den Vorkriegskrisen untersucht10. Beide gehen davon aus, daß sich politische Blockbildung und Rüstungen erst während der Balkankriege 1912/13 zu einem einheitlichen Phänomen ausprägten. Die „bewaffnete Diplomatie" wurde zur üblichen Strategie, verstärkt durch, wie Stevenson betont, die immer schnellere Abfolge von internationalen Krisen als eigentlicher destabilisierender Faktor des Staatensystems. Die von den Großmächten als Friedensgarantie angesehene „balance of power" blieb „unstable, a temporary equivalence between rising and declining elements " n Herrmann hebt die Bedeutung der Landrüstungen hervor und untersucht die technischen Neuerungen und deren Auswirkungen auf die Kräfteverhältnisse in Europa. Dabei erhöhten nicht nur die Rüstungen selbst, sondern auch die Perzeption der militärischen Machtverschiebungen den Anreiz, eine günstige Gelegenheit für einen siegreichen Krieg zu nutzen. Die deutschen undfranzösischenAspekte der europäischen Hochrüstung und ihre Wechselbeziehung zur Innenpolitik haben Stig Förster und Gerd Krumeich eingehend analysiert12. Die Möglichkeiten deutscher Außenpolitik unter dem Aspekt der Mittellage hat Andreas Hillgruber untersucht und drei Optionen genannt, die in der Zeit 7

GEISS, Imanuel, Der lange Weg in die Katastrophe. Die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges 1815-1914, München/Zürich 1990, S. 209. 8 Ebda, S. 241. 9 Vgl. BARTLETT, Cristopher John, The Global Conflict. The international rivalry of the great powers, 1880-1970, London/New York 1984, S. 29-34. 10 STEVENSON, David, Armaments and the Coming of the war. Europe 1904-1914, Oxford 1996; HERRMANN, David G, The Arming of Europe and the Makkg of the First World War, Princeton (N.J.) 1996. 11

STEVENSON, Armaments, S. 418.

12 Vgl. FÖRSTER, Stig, Der doppelte Militarismus. Die deutsche Heeresrüstungspolitik zwischen Status-Quo-Sicherung und Aggression 1890-1913, Stuttgart 1985, besonders S. 208-296; KRUMEICH, Gerd, Aufrüstung und Innenpolitik in Frankreich vor dem ersten Weltkrieg. Die Entführung der dreijährigen Dienstpflicht 1913-1914, Wiesbaden 1980.

Fragestellung, Methode und Quellenlage

5

von 1871 bis 1914 "zur Stärkung oder zur besseren Absicherung der gefährdeten eigenen Position erwogen oder angestrebt wurden"13. Ein Weg lag in der Konvenienz, d.h. einer Art Gleichgewicht der Großmächte in Europa, das durch das Abstecken von Einfluß- und Interessenzonen außerhalb Europas gesichert wurde. Außerdem ist Hillgruber nicht von einer grundsätzlichen Kontinuität der deutschen Politik vor und im Weltkrieg ausgegangen, sondern hat im Gegensatz zu Fischer Brüche und Kontinuitäten hervorgehoben14. Dieser Ansatz impliziert, daß vor dem Krieg Möglichkeiten der Großmächtepolitik bestanden, die einen Krieg zumindest zeitweise vermeiden konnten. Diese Möglichkeiten sind Gegenstand neuerer Forschungsarbeiten. Gerhard Keiper hat den Versuch unternommen, Ansätze zu einer politischen Annäherung innerhalb des gouvernementalen Rahmens zu beschreiben und ist zu interessanten Erkenntnissen über das Engagement einzelner Persönlichkeiten in Deutschland und Frankreich gekommen. Keiper hat jedoch keine systematische Analyse bzw. Abgrenzung verschiedener Politikbereiche vorgenommen, sondern Aktivitäten von Randfiguren in den Vordergrund gerückt und diese leider in den Rang von wahrscheinlichen Alternativen für eine friedliche Gestaltung der deutsch-französischen Beziehungen erhoben15. Einen innovativen Beitrag zum Verständnis von Großmächtekonflikten in den 50 Jahren vor dem Ersten Weltkrieg hat Jost Dülffer in Zusammenarbeit mit Martin Kroger und Rolf-Harald Wippich im Forschungsprojekt „Vermiedene Kriege" vorgelegt. In Fallstudien auf breiter empirischer Basis wird der Frage nachgegangen, wann ein Krieg zwischen den Großmächten drohte, wie und unter welchen Umständen, auch unter Beteiligung weiterer Großmächte, er verhindert wurde und welche Tendenzen des internationalen Staatensystems sich - auch bei vorsichtiger Betrachtung - bis zur Julikrise konstatieren lassen. Wenn dieser Sammelband auch letztlich in eine empirische Vielgestaltigkeit mündet, die keine eindeutige Prognose auf zukünftiges Krisenverhalten von Staaten und Staatsordnungen zuläßt, so stellt er doch das Bild des unvermeidlichen Weges in den Weltkrieg in Frage und fragt erneut nach der Verantwortung führender Staatsmänner der Epoche. Er mag zudem als Anregung für weitere Analysen dienen, die sich kooperativen Ansätzen und Konfliktmanagement zwischen Großmächten widmen und den Blick unter anderem auf die Wirkung eines Ausgleichs von Konflikten an der Peripherie richten16. 13

HILLGRUBER, Andreas, Deutsche Großmachtpolitik und Militarismus im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 1974, S. 17. 14 Vgl. DERS., Deutschlands Rolle in der Vorgeschichte der beiden Weltkriege, Göttingen31986, S. 58-67. 15 KEIPER, Gerhard, Biographische Studien zu den Verständigungsversuchen zwischen Deutschland und Frankreich am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Frankfurt a.M. 1997. 16 DÜLFFER, Jost/KRÖGER, Martin/WlPPlCH, Rolf-Harald, Vermiedene Kriege. Deeskalation von Konflikten der Großmächte zwischen Krimkrieg und Erstem Weltkrieg 18561914, München 1997.

6

Fragestellung, Methode und Quellenlage

Die französische Forschung bleibt deutlich hinter der deutschen zurück. Die Analyse der französischen Vorkriegspolitik ist stark von innenpolitischen Fragen geprägt, während außenpolitische Themen meist in Biographien behandelt werden, ohne einen Beitrag zu den oben genannten Debatten zu leisten oder vergleichende Analysen für die französische Außenpolitik vor 1914 zu unternehmen. Die Arbeiten von Francis Caron und Poidevin/Bariety verstehen sich lediglich als Überblicksdarstellungen17. Einen gewichtigeren Beitrag zur Darstellung der französischen Politik haben zwei englische Autoren, Keiger und Hayne, geleistet. Sie haben Entscheidungsprozesse und Personalstrukturen am Quai d'Orsay und in den französischen Gesandtschaften untersucht18. Vor allem die von beiden Autoren getroffene Unterscheidung zwischen verständigungsbereiten und antideutschen Diplomaten konnte für die vorliegende Arbeit genutzt werden, wenn auch die Dichotomie zwischen der Haltung von Botschaftern und Quai d'Orsay, den Brüdern Cambon und dem Stab Poincares, bisweilen überzogen wird. Auch Poincare, wie Keiger in seiner jüngst erschienenen Biographie herausgearbeitet hat, lag an einer friedlichen Koexistenz Frankreichs mit dem Deutschen Reich bzw. der Triple Entente mit dem Dreibund, unterschied sich allerdings in seinen innen- wie außenpolitischen Methoden wesentlich von seinen Vorgängern. Poincare setzte die Vorrangstellung des Ministerpräsidenten gegenüber seinen Botschaftern durch, betonte die Interessen der „patrie" und erhob die Stabilität der Bündnissysteme zum Garanten für den Frieden19. Eine stärkere Verknüpfung innen- und außenpolitischer Fragen hat HansUlrich Wehler bereits 1973 mit der These des "Sozialimperialismus" geleistet, die auf die Studien Eckart Kehrs zurückgeht. Die Deutung des deutschen Imperialismus steht hierbei im Zeichen der Systemstabilisierung und des Machterhalts der Herrschaftseliten durch außenpolitische Erfolge und verstärkte Rüstungen. Aus dieser Motivation heraus werden die außenpolitischen Manöver der Reichsleitung analysiert, das Prestigemoment und die Probleme der außenpolitischen Konstellation ganz im Spiegel innenpolitischer Bedingungen gesehen. Wehler hat seine Position jüngst im dritten Band seiner Gesellschaftsgeschichte differenziert aufgegriffen, im wesentlichen aber seine „Ablenkungsthese" bekräftigt. Wehler hebt jedoch die Verantwortung der 17 Vgl. MlQUEL, Pierre, Poincare, Paris 1984; DUROSELLE, Jean-Baptiste, Clemenceau, Paris 1988; ALLAIN, Jean-Claude, Joseph Caillaux, tome I: Le Defi victorieux 1863-1914, Paris 1978; POIDEVIN, Raymond/BARIETY, Jacques, Frankreich und Deutschland. Die Geschichte ihrer Beziehungen 1815-1975, München 1982; CARON, Francois, Frankreich im Zeitalter des Imperialismus 1851-1918, Stuttgart 1991. 18 HAYNE, M., The French Foreign Office and the Origins of the First World War 1898-1914, Oxford 1993; KEIGER, John F., France and the Origins of the First World War, London u.a. 1983. 19 Vgl. KEIGER, John F., Raymond Poincare, Cambridge 1997, S. 130-163.

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deutschen Führungsschicht stärker hervor, gerade weil es keine „Einbahnstraße" in den Ersten Weltkrieg gegeben habe20. Mit einem starken Akzent auf der „Sozialimperialismus"-Debatte ist Emily Oncken der Frage nach Motiven und Beteiligung der politischen und wirtschaftlichen Eliten während der zweiten Marokkokrise nachgegangen und im Gegensatz zu Wehler zu dem Schluß gekommen, daß die innenpolitische Konstellation in den Planungen des Auswärtigen Amtes keine Rolle spielte. Bei der einige Jahre zuvor erschienenen Studie von Jean-Claude Allain fehlt der Rekurs auf diese Debatte21. Beide Studien geben einen guten Überblick über den Ablauf der Verhandlungen und die EntScheidungsprozesse in beiden Außenministerien, leisten allerdings kaum eine vergleichende Analyse der Wirkungen von außenpolitischen Konzepten, den Gründen für die Vermeidung eines deutsch-französischen Konfliktes, der Bedeutung Englands für die französische Zurückhaltung im Juli 1911, der wechselseitigen Bedingtheit machtpolitischer Strategien und der Folgen der Krise für das deutsch-französische Verhältnis bis 1914. Es muß überdies bezweifelt werden, ob die These des "Sozialimperialismus" einen tragfähigen Ansatz zur Beurteilung bilateraler Beziehungen darstellt, wenn man berücksichtigt, daß imperialistische Erfolge bei allen Großmächten innenpolitisch stabilisierend wirken konnten und den politischen Eliten zur Legitimierung dienten. Machtpolitische Faktoren wie Prestige, wechselseitige Perzeptionen und nationale Ambitionen bleiben bei dieser Betrachtungsweise außer acht. In den letzten Jahren sind neue Forschungsarbeiten zur zweiten Marokkokrise erschienen, die allerdings kaum über die bisher erarbeiteten Ergebnisse insbesondere der Arbeiten von Oncken und Allain hinausgehen und eine vergleichende Analyse außenpolitischer Konzepte und Taktiken nur am Rande berücksichtigen. Ralf Forsbach hat in seiner Biographie über Alfred von Kiderlen-Wächter jedoch in anderer Hinsicht eine Lücke geschlossen, da er erstmals umfassend und detailliert Auskunft über Leben und politischen Werdegang des bislang wenig bekannten Staatssekretärs des Äußeren und Initiators der Marokkokrise Auskunft

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Vgl. WEHLER, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 3: Von der "Deutschen Doppelrevolution" bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849-1914, München 1995, S. 1109-1168; DERS., Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, 6., bibliogr. ern. Aufl., Göttingen 1988; KEHR, Eckart, Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894-1901, Berlin 1930. Zur Debatte um Wehlers These vgl. NoLTE, Ernst, Deutscher Scheinkonstitutionalismus?, in: HZ 228 (1979), S. 529-550; LANGEWffiseHE, Dieter, Das Deutsche Kaiserreich - Bemerkungen zur Diskussion über Parlamentarisierung und Demokratisierung Deutschlands, in: AfS 19 (1979), S. 628-642. 21 Vgl. ALLAIN, Jean-Claude, Agadir 1911. Une crise imperialiste en Europe pour la conquete du Maroc, Paris 1976; ONCKEN, Emily, Panthersprung nach Agadir. Die deutsche Politik während der Zweiten Marokkokrise 1911, Düsseldorf 1981.

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gibt22. Thomas Meyer behandelt die Marokkopolitik Kiderlen-Wächters im innenpolitischen Beziehungsgeflecht von Verbänden, Presse, Botschaften, Reichsadministration und Reichsleitung und hebt den Willen der öffentlichen Meinung als Verkörperung des Willens der Nation hervor. Die deutsche Marokkopolitik sei als „Kapitulation vor dem affektbestimmten Wollen der politischen Nation - die außenpolitische Bankrotterklärung der autoritären kaiserlichen Regierung"23 mehr Reaktion als Aktion gewesen und habe sich nicht primär aus weltpolitischem Prestige, bündnispolitischen Überlegungen oder den deutschen Wirtschaftsinteressen in Marokko gespeist. Da die Reichsleitung nach Meyers Auffassung - als Neuformulierung der These des Primats der Innenpolitik - ihre Berechtigung nicht wie die parlamentarisch orientierten Westmächte aus Wahlen herleiten konnte, mußte sie angesichts des öffentlichen Drucks nachgeben und sich durch „Weltpolitik" Geltung verschaffen24. Für die deutsch-französische Rivalität im Zeitalter des Imperialismus stellt sich damit erneut die Frage nach den Realitäten und Perzeptionen kolonialer und "weltpolitischer" Ambitionen und den Möglichkeiten einer im Riezlerschen Sinne friedlichen "parallelen Expansion"25, die sich dem von Hans Plehn im Jahre 1914 proklamierten Wahlspruch verpflichtet sah, "Weltpolitik ohne Krieg" zu führen26. Es ist eine von der historischen Forschung nicht beantwortete Frage, ob es Möglichkeiten zu einer "peripheren Strategie" im deutsch-französischen Verhältnis gab, d.h. eine Annäherung über Fragen zweiten Ranges, die Gegensätze wenn nicht aufheben, so doch entspannen konnte27. Betrachtet man die gemeinsamenfinanziellenInteressen der beiden Mächte in Drittländern, so haben Poidevin, Mommsen und Ziebura festgestellt, daß die Regierungen die jeweiligen Finanzgruppen dazu zwangen, ihre ökonomischen Ziele stärker an nationalen Belangen zu orientieren28. Gustav Schmidt 22

FORSBACH, Rah; Alfred von Kiderlen-Wächter (1852-1912). Ein Diplomatenleben im Kaiserreich, 2 Bde., Göttingen 1997. 23 MEYER, Thomas, "Endlich eine Tat, eine befreiende Tat..." Alfred von KiderlenWächters "Panthersprung nach Agadir" unter dem Druck der öffentlichen Meinung, Husum 1996, S. 177. 24 Vgl. ebda, S. 179. 25 RUEDORFFER, J.J. [Riezler, Kurt], Grundzüge der Weltpolitik in der Gegenwart, Stuttgart/Berlin 1914, S. 191 ff. 26 PLEHN, Hans [anonym erschienen], Deutsche Weltpolitik und kein Krieg!, Berlin 1914. 27 Vgl. SCHÖLLGEN, Gregor, Das Zeitalter des Imperialismus, München 1985, S. 71 f.; SCHMIDT, Gustav, Der europäische Imperialismus, München 1985, S. 136-138. 28 Vgl. MOMMSEN, Wolfgang I , Europäischer FinanzimperiaHsmus vor 1914, in: HZ 224 (1977), S. 17-81; PoiDEVIN, Raymond, Le nationalisme economique et financier dans les relations franco-allemandes avant 1914, in: Revue d'Allemagne 1996 (janv-mars), S. 63-70; ZIEBURA, Gilbert, Sozialökonomische Grundfragen des deutschen Imperialismus

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hat dagegen, in Anlehnung an Schumpeter29, die Eigeninteressen der internationalistischen Hochfinanz betont, die ihre Aufgabe in Mäßigung und Annäherung gesehen und ihre Ziele nicht allein über den nationalstaatlichen Prestigegewinn definiert habe30. Die Wechselbeziehungen zwischen deutscher Politik und Hochfinanz, ihre Interessen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede hat Boris Barth für die verschiedenen Gebiete der imperialistischen Expansion analysiert, ohne auf die speziellen Motive der deutschen und französischen Politik in Regionen mit gemeinsamen Finanzinteressen näher einzugehen31. Wie in vielen anderen Untersuchungen haben auch in dieser stets die deutschenglischen Beziehungen im Mittelpunkt gestanden, in der deutschen Forschung insbesondere die Frage nach den Möglichkeiten der deutschen Außenpolitik, zu einem Ausgleich mit England zu kommen32. Der Idee einer "peripheren Strategie" ist Gregor Schöllgen in verschiedenen Untersuchungen nachgegangen, hat sich allerdings ebenfalls auf die deutsch-englischen Beziehungen beschränkt33. Jacques Thobie hat zwar die französischen Interessen in der Türkei eingehend beschrieben und die dortigen Möglichkeiten einer friedlichen Koexistenz Deutschlands und Frankreichs ansatzweise analysiert, aber der komplexe Zusammenhang zwischen französischen Bedrohungsängsten, deutschen Expansionswünschen und Bankeninteressen läßt ebenso Fragen offen wie die Bewertung des deutsch-französischen Vertrages vom 15. Februar vor 1914, in: WEHLER, Hans-Ulrich (Hg.), Sozialgeschichte heute, Festschrift für Hans Rosenberg, Göttingen 1974, S. 495-524. 29 Vgl. SCHUMPETER, Joseph, Zur Soziologie der Imperialismen, Teil IV, in: Archiv für Soziafwissenschaft und Sozialpolitik 46 (1918/19), S. 275-310. Schumpeter deutete den Imperialismus als Erbe des absolutistischen Fürstenstaates und nicht als notwendige Entwicklung des Kapitalismus. 30

31

Vgl. SCHMIDT, Imperialismus, S. 30.

Vgl. BARTH, Boris, Die deutsche Hochfinanz und die ImperiaHsmen. Banken und Außenpolitik vor 1914, Stuttgart 1995. 32 Zur britischen Politik der letzten Vorkriegsjahre vgl. GADE, Christel, Gleichgewichtspolitik oder Bündnispflege? Maximen britischer Außenpolitik (1909-1914), Göttingen/Zürich 1997. Gade vertritt die These, daß die Bündnisse für die englische Politik nicht allein Mittel für eine übergeordnete Gleichgewichtspolitik waren, sondern eine eigenständige Bedeutung erlangten und nicht mehr angetastet wurden. 33 Vgl. SCHÖLLGEN, Gregor, Imperialismus und Gleichgewicht. Deutschland, England und die orientalische Frage 1871-1914, München 1984; DERS., Richard von Kühlmann und das deutsch-englische Verhältnis 1912-1914. Zur Bedeutung der Peripherie in der europäischen Vorkriegspolitik, in: HZ 230 (1980), S. 293-337; DERS., Die deutsch-englische Orientpolitik der Vorkriegsjahre 1908-1914, in: GWU 30 (1979), S. 668-685; CRAMPTON, Richard John, The Hollow Detente. Anglo-German Relations in the Balkans 1911-1914, London/New Jersey 1979; HENNING, Hansjoachirn, Deutschlands Verhältnis zu England in Bethmann Hollwegs Außenpolitik 1909-1914, Köln 1962; LYNN-JONES, Sean M., Detente and Deterrence, Anglo-German Relations, 1911-1914, in: MILLER, Steven E./LYNNJONES, Sean M./VAN EVERA, Stephen (Hg), Military Strategy and the Origins of the First World War, rev. and exp. ed., Princeton (N.J.)1991, S. 165-194.

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1914 im Hinblick auf semen Wert für die Bereinigung außenpolitischer Konfliktfelder34 Eme Übertragung des Ansatzes der "penpheren Strategie" auf die deutsch-franzosischen Beziehungen m der Türkei und m China bietet sich demnach an Auch die von Schollgen aufgeworfene Problematik des Verhältnisses von Perzeption und Wirklichkeit der deutschen "Weltpolitik" ist für das deutsch-franzosische Verhältnis nicht erschöpfend behandelt worden, vor allem mcht für die franzosische Perzeption der deutschen Bahn- und Industrievorhaben in der Türkei35 Bei Darstellungen zur Innenpolitik sind deutliche Unterschiede zwischen deutscher und franzosischer Forschung erkennbar Die deutsche Forschung hat sich, wie bereits dargelegt, in der Debatte um die "Sozialimpenahsmus"These verstärkt mit der Verzahnung innen- und außenpolitischer Fragen beschäftigt Viele franzosische Arbeiten zur Dritten Republik bleiben dagegen der Innenpolitik verhaftet und behandeln die Entwicklung der deutsch-franzosischen Beziehungen ab 1911 oft lediglich als Epoche, die "vers la guerre" geführt habe, m der Fmanznvalitat und Nationalismus die Oberhand gewannen und die Wahl Poincares zum Präsidenten die deutsch-franzosischen Beziehungen zusatzlich belastete36 Zu den deutsch-franzosischen Wirtschaftsbeziehungen vor 1914 hat Raymond Poidevm eine detaillierte Studie vorgelegt und in jüngeren Untersuchungen vertieft37 Die von Poidevin vertretene These der Nationalisierung der Wirtschaftspolitik und der nationalen Abgrenzung zu Lasten der internationalen Kooperation behandelt die unterhalb der Regierungsebene erkennbaren Ansätze zur internationalen Verflechtung weniger unter ihren ökonomischen Eigengesetzlichkeiten als unter politischen Aspekten Wenn Poidevin auch feststellt, daß wirtschaftliche Fragen kein Kriegsgrund gewesen seien, so weist er ihnen doch eine Mitverantwortung für die Verschlechterung des bilateralen Verhältnisses zu Details der wechselseitigen Einflußnahme von Schwerindustrie und Politik hat Willibald Gutsche untersucht, dessen Analyse 34

Vgl THOBIE, Jacques, Les interets economiques, financiers et politiques francais dans la partie asiatique de 1'Empire ottoman de 1895 ä 1914, 2 vol, Paris 1975, besonders vol 2, S 1345-1372 35 Vgl SCHOLLGEN, Gregor, Die Großmacht als Weltmacht Idee, Wirklichkeit und Perzeption deutscher "Weltpolitik" im Zeitalter des Imperialismus, in HZ 248 (1989), S 79-100 36 Vgl REBERIOUX, Madeleine, La Republique radicale? 1898-1914, Paris 1975, S 148-156, MAYEUR, Jean-Marie, La vie politique sous la Troisieme Republique 1870-1940, Paris 1984, S 223-232 37 Vgl POIDEVIN, Raymond, Les relations economiques et financieres entre la France et rAilemagne de 1898 ä 1914, Paris 1969, DERS , Peripeties franco-allemandes Du milieu du XDCe siecle aux annees 1950 Recueil d'articles, Bern u a 1995, DERS , Wirtschaftlicher und finanzieller Nationalismus in Frankreich und Deutschland 1907-1914, in GWU 25 (1974), S 150-162

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allerdings weltanschaulichen Vorgaben unterliegt38. Gutsche kommt zu dem Schluß, daß es "monopolkapitalistische" und dem Krieg vorgreifende expansive Überlegungen gewesen seien, die die deutsche Schwerindustrie zu einem Engagement in Frankreich getrieben hätten. Gutsche fuhrt den Ansatz Fischers fort, die deutsche Wirtschaft habe den Krieg nicht nur in Kauf genommen, sondern bereits lange vor dem Krieg mit Vorsatz eine Politik der Konfliktverschärfung betrieben. Gutsche vertritt damit die problematische These der Kontinuität von Vorkriegs- und Kriegszielpolitik, um den "inneren Zusammenhang zwischen deutscher Vorkriegsexpansion in Frankreich, wachsender Kriegsbereitschaft und amtlicher Kriegszielpolitik"39 aufzudecken. Der Charakter der Außenwirtschaftsbeziehungen prinzipiell gleichberechtigter europäischer Staaten wird auf einen "Bestandteil des imperialistischen Rivalitätskampfes"40 reduziert, ohne die Möglichkeit der konfliktentschärfenden Wirkung wirtschaftlicher Verflechtung zu berücksichtigen. Den jüngsten Ansatz zu den wirtschaftlichen Beziehungen der europäischen Großmächte hat Carl Strikwerda vorgestellt. Die Kontinuitätslinien der Wirtschaftsbeziehungen sieht Strikwerda in einem größeren Rahmen und schlägt den Bogen seines Vergleichs von 1914 bis 1950. Als Kriterium für diese Festlegung wählt Strikwerda die Verflechtung der wichtigsten Branchen, Kohle und Stahl. Außerdem unterscheidet er zwei generelle Trends der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, "one toward economic integration, which had the potential at least to encourage further internationalism, and the other toward self-interested and destructive nationalism."41 Fraglich ist, inwieweit deutsche und französische Großindustrielle, die teilweise über beste Kontakte zu ihren Regierungen verfugten, in der Lage waren, wirtschaftliche und politische Belange derart zu trennen. Darüber hinaus sind zu mehreren deutschen und französischen Unternehmen Untersuchungen veröffentlicht worden, die Aufschluß über die binnenund außenwirtschaftliche Tätigkeit der Firmen geben, ohne Rückwirkungen der wirtschaftlichen Aktivitäten auf die bilateralen Beziehungen angemessen zu analysieren42. Auch Untersuchungen zur Mentalität von Unternehmern im 38

Vgl. GUTSCHE, Willibald, Die deutschen Montanmonopole und Großbanken und die französischen Erzfelder vor dem ersten Weltkrieg. Zum Zusammenhang von ökonomischer Expansion und Kriegszielpolitik des deutschen Imperialismus, in: ZfG 24,1 (1976), S. 681706; DERS., Monopole, Staat und Expansion vor 1914, Berlin 1986. 39 GUTSCHE, Montanmonopole und Großbanken, S. 681. 40 Ebda, S. 688. 41 STRIKWERDA, Carl, The troubled origins of european economic integration: international iron and steel and labor migration in the era of World War I, in: AHR 98, 4 (1993), S. 1123. 42 Vgl. PLUMPE, Gottfried, Die I G Farbenindustrie AG Wirtschaft, Technik und Politik 1904-1945, Berlin 1990; TREUE, Wilhelm, Die Feuer verlöschen nie. August-ThyssenHütte 1890-1966, 2 Bde., DüsseldorfTWien 1966; POSSEHL, Ingunn, Modern aus Tradi-

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Kaiserreich orientieren sich in der Regel an innenpolitischen Strukturen, etwa an der Aktivität und den politischen Einflußmoglichkeiten von Wirtschaftsverbanden43 Die Schwierigkeit einer angemessenen Beurteilung der außenpolitischen Rolle von Firmen und Unternehmern erklart sich jedoch aus der Quellenlage, ein Problem, das in der Forschung stillschweigend übergangen wird Die Wirtschaftsakten des untersuchten Zeitraums zeichnen sich oft durch emen Mangel an solchen Quellen aus, die Rückschlüsse auf die Beweggrunde der handelnden Personen zulassen Werturteile der Unternehmer erfahrt der Histonker oft nur durch die Wiedergabe in Benchten der Konsulate und Botschaften oder durch Zeitungen und Zeitschriften, m denen sich Unternehmer äußerten Als wertvolle Ergänzung können die Memoiren vieler Wirtschaftsfuhrer angesehen werden, bei denen allerdings häufig apologetische Tendenzen zu erkennen sind44 Dieser Mangel scheint nur durch zwei Methoden behoben werden zu können, die in dieser Arbeit genutzt werden Zunächst lassen sich konkrete Wirtschaftsdaten wie Produktionsziffern, Beteiligungsverhaltnisse und Marktanteile sowie die Entwicklung des Außenhandels erfassen, aber auch die Gestaltung der Vertrage und die Zusammensetzung der Entscheidungsgrermen analysieren Dadurch werden Aussagen über die positiven Erwartungen zur wirtschaftlichen und politischen Entwicklung möglich, die jede Investition im Regelfall begleiten Eine andere Möglichkeit liegt in der Untersuchung politischer Akten, die allerdings mcht aus der Untemehmerperspektive verfaßt wurden

tion Geschichte der chemisch-pharmazeutischen Fabrik E Merck Darmstadt, 2 , erw Aufl, Darmstadt 1994, BussiERE, Eric, Paribas 1872-1992 L'Europe et le Monde, Antwerpen 1992, DAVIET, Jean-Pierre, Un destin international La Compagnie de St Gobain de 1830 ä 1939, Paris 1988, eine Ausnahme bildet die Jubilaumsschrift der Deutschen Bank Die Deutsche Bank 1870-1995, mit Beitragen von L GALL, G D FELDMANN, H JAMES, C -L HOLTFRERICH, H E BUSCHGEN, München 1995 43

Vgl STEGMANN, Dirk, Die Erben Bismarcks Parteien und Verbände in der Spatphase des Wilhelminischen Deutschlands Sammlungspolitik 1897-1918, Köln/Berlin 1970, der sich ausdrücklich an die These Kehrs und den ''Primat der InnenpoHtik" anlehnt, dagegen eher verbandsgeschichtlich orientiert JAEGER, Hans, Unternehmer in der deutschen Politik (1890-1918), Bonn 1967, KAELBLE, Hartmut, Industrielle Interessenpolitik in der Wilhelminischen Gesellschaft Centralverband Deutscher Industrieller 1895-1914, Berlin 1967, MlELKE, Siegfried, Der Hansa-Bund für Gewerbe, Handel und Industrie 1909-1914, Gottingen 1976, ULLMANN, Hans-Peter, Der Bund der Industriellen, Gottingen 1976 44 DuiSBERG, Carl, Meine Lebenserinnerungen, Leipzig 1933, FURSTENBERG, Carl, Die Lebensgeschichte eines deutschen Bankiers 1870-1914, hg von Hans FURSTENBERG, Berlin 1931 Eine Ausnahme stellt mit einem kritischen Bück auf die deutsche Vorkriegsund Kriegspolitik dar MUEHLON, Wilhelm, Ein Fremder im eigenen Land Erinnerungen und Tagebuchaufzeichnungen eines Krupp-Direktors 1908-1914, hg und eingel von Wolfgang BENZ, Biemen 1989

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Einen frühen Ansatz zu einer mentahtatsgeschichthchen Betrachtung der deutsch-französischen Beziehungen hat Gilbert Ziebura mit seiner Untersuchung des Deutschlandbildes m der französischen Presse von 1911 bis 1914 geleistet, die vor allem wegen ihrer Differenzierung nach Haltungen gesellschaftlicher Gruppen eine Basis für die vorliegende Arbeit bildet, denn von Ausgleichsbestrebungen laßt sich nur für die nationale Mitte und die pazifistische Linke sprechen Für die nationalistische Rechte beider Lander wäre eine solche Untersuchung sinnlos45 Die Untersuchung von Michael Jeismann analysiert die langfristige Entwicklung von Feindbildern und Kriegsmentahtat von 1792 bis 1914, beschrankt sich aber auf Zeitabschnitte, die von Feindseligkeiten zwischen Deutschland und Frankreich geprägt waren und deshalb nur bedingt Rückschlüsse auf die Zeit vor dem Krieg zulassen46 Die Existenz emes "patnotisme respectueux de l'autre"47 wird dabei ebenso vernachlässigt wie Bestrebungen in Teilen der öffentlichen Meinung, zu einer Entspannung beizutragen Wolfgang J Mommsen hat sich in seinem Beitrag über Kriegsmentahtat und Kriegserwartung in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg ebenfalls auf die negativen Aspekte in der öffentlichen Meinung beschrankt48 In ähnlicher Weise hat Hartmut Kaelble m seiner Untersuchung über die Entwicklung der deutschen und franzosischen Gesellschaft seit 1880 den Gemeinsamkeiten eine eher untergeordnete Rolle zugewiesen, die "vor 1914 recht oft verwaschen, an den Rand gedrangt und von der nationalen Sonderentwicklung überlagert"49 worden seien Eine vergleichbare Tendenz laßt sich bei franzosischen Autoren konstatieren, etwa bei Jacques Droz und Claude Digeon, die von emer Verschlechterung der gesellschaftlichen und kulturellen 45 ZIEBURA, Gilbert, Die deutsche Frage in der öffentlichen Meinung Frankreichs von 1911-1914, Berlin-Dahlem 1955 46 Vgl JEISMANN, Michael, Das Vaterland der Feinde Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverstandnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992, LANGEWIESCHE, Dieter, Nation, Nationalismus, Nationalstaat Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in NPL 40 (1995), S 190-236, MentaHtaten-Geschichte Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, hg von Ulrich RAULFF, Berlin 1987 47 MERLIO, Gilbert, Rezension zu Jeismann, Vaterland der Feinde, in Francia 22/3 (1995), S 212, vgl dazu auch Jeismann selbst in seiner Einleitung Vaterland der Feinde, S 18 48 Vgl MOMMSEN, Wolfgang J , Der Topos vom unvermeidlichen Krieg Außenpolitik und öffentliche Meinung im Deutschen Reich im letzten Jahrzehnt vor 1914, in DÜLFFER, Jost/HOLL, Karl (Hg ), Bereit zum Krieg Kriegsmentahtat im wilhehninischen Deutschland 1890-1914, Gottingen 1986, S 194-224 49 Vgl KAELBLE, Hartmut, Nachbarn am Rhein Entfremdung und Annäherung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1880, München 1991, S 139, vgl auch die Untersuchungen zur Entwicklung des Deutschlandbildes in der Literatur und bei den Intellektuellen LEINER, Wolfgang, Das Deutschlandbild in derfranzosischenLiteratur, Darmstadt 1989, GODDE-BAUMANNS, Beate, L'idee des deux Allemagnes dans rhistoriographie francaise des annees 1871-1914, in Francia 12 (1984), S 609-619

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Beziehungen seit der ersten Marokkokrise ausgehen, augenfällig in der Konversion des Dichters Charles Peguy vom Sozialismus zum Nationalismus50. Stärker auf die Presseberichte der Kriegszeit konzentriert sich die Arbeit von Thomas Raithel in einer vergleichenden Analyse der deutschen und französischen Öffentlichkeit vor und im Ersten Weltkrieg, der die Thesen Jean Jacques Beckers zur keineswegs uniform kriegsbegeisterten Öffentlichkeit in Frankreich fortfuhrt und insbesondere mit Blick auf den Begriff der „Einheit" differenziert51. Einen Teil der öffentlichen Meinung bildeten die Friedensbewegung und die sozialistischen Parteien in Frankreich und Deutschland. Viele Einzelaspekte sind bereits in Monographien behandelt worden, die aber selten über den Wirkungskreis bestimmter Gruppen oder Persönlichkeiten hinausgehen52. So haben Laurent Barcelo und Adolf Wild das Leben und Wirken des Friedensnobelpreisträgers Baron d'Estournelles de Constant für eine deutsch-französische Aussöhnung analysiert53. Eng verbunden mit der Frage der Verständigung waren Ansätze zur Regelung internationaler Konflikte durch ein internationales Schiedsgericht und durch eine zunächst vorsichtig formulierte Annäherung auf parlamentarischer Ebene, worunter auch die Versuche der deutschen und französischen Sozialisten zur Kriegsvermeidung zu zählen sind54. 50

Vgl. DROZ, Jacques, Les relations franco-allemandes intellectuelles de 1871 ä 1914, Paris 1973; DiGEON, Claude, La crise allemande de la pensee francaise (1870-1914), Paris 1962. 51 RAITHEL, Thomas, Das "Wunder" der inneren Einheit: Studien zur deutschen und französischen Öffentlichkeit bei Beginn des Ersten Weltkrieges, Bonn 1996; BECKER, Jean Jacques, 1914. Comment les Francais sont entres dans la guerre, Paris 1977. 52 Vgl. CHICKERING, Roger, Imperial Germany and a World Without War. The Peace Mouvement and German Society, 1892-1914, Princeton (N.J.) 1975; stellvertretend für die Literatur über Friedensgruppen: SCHEER, Friedrich-Karl, Die Deutsche Friedensgesellschaft (1892-1933). Organisation, Ideologie, politische Ziele. Ein Beitrag zur Geschichte des Pazifismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1981. 53 Vgl. WILD, Adolf; Baron d'Estournelles de Constant (1852-1924). Das Wirken eines Friedensnobelpreisträgers für die deutsch-französische Verständigung und europäische Einigung, Hamburg 1973; BARCELO, Laurent, Pro Patria per orbis concordiam Paul d'Estournelles de Constant [1852-1924] et la conciliation internationale, in: Annales de Bretagne 100 (1/1993), S. 129-141; DERS., Paul d'Estournelles de Constant. L'expression dWe idee europeenne, Paris 1995. 54 Vgl. HANSCHMIDT, Alwin, Die deutsch-französischen Parlamentarierkonferenzen von Bern (1913) und Basel (1914), in: GWU 26 (1975), S. 335-359; Zum Problem der Schiedsgerichtsbarkeit vgl. UHLIG, Ralph, Die Interparlamentarische Union 1889-1914, Friedenssicherungsbemühungen im Zeitalter des Imperialismus, Stuttgart 1988; DÜLFFER, Jost, Regeln gegen den Krieg? Die Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 in der internationalen Politik, Berlin/Frankfurt/Wien 1981; BRUMMERT, Ulrike (Hg), Jean Jaures. Frankreich, Deutschland und die Zweite Internationale am Vorabend des Ersten Weltkriegs, Tübingen 1989; DRACHKOVITCH, Milorad, Les socialismes francais et allemand et le probleme de la guerre 1870-1914, Genf 1953; JOLL, James, The Second Inter-

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Obwohl zu diesem Thema zahlreiche Darstellungen vorliegen, fehlt eine Einordnung m den Gesamtzusammenhang der deutsch-franzosischen Beziehungen, die einen Vergleich zwischen realistischen und idealistischen Konzepten zulaßt und innenpolitische Bedingungen und Ruckwirkungen etwa der Parlamentanerkonferenzen berücksichtigt, die nur aus dem Zusammenhang von Ansätzen zur Parlamentarisierung im Deutschen Reich und innenpolitischen Widerstanden in beiden Landern gegen die Rustungsprojekte zu verstehen sind Was die Forschung trotz der hier nur ansatzweise behandelten Vielzahl der Darstellungen zum europaischen Machtesystem vor 1914 bisher nicht geleistet hat, ist eine angemessene Beurteilung der deutsch-franzosischen Beziehungen in den letzten Vorkriegsjahren unter besonderer Berücksichtigung kriegsvermeidender Momente Obgleich politische Spannungen und die Möglichkeit einer militärischen Konfrontation standige Begleiter der Staatenbeziehungen vor dem Ersten Weltkrieg waren, erscheint es übertrieben, das Verhaltms des Deutschen Reiches und Frankreichs allein aus diesen Faktoren zu erklaren Stattdessen lohnt es sich, entspannende und kooperative Momente einer zweifellos konfliktbeladenen Beziehung zu untersuchen, mögliche Alternativen, die sich vor dem Krieg andeuteten, nach Ausbruch des Krieges aber mcht weiterverfolgt werden konnten Die vorliegende Arbeit geht von der Hypothese aus, daß die deutsch-franzosischen Beziehungen bis 1914 keinen Verlauf nahmen, an dessen Ende zwangsläufig der Krieg stehen mußte Ebensowemg lassen sich deutsche "Weltpolitik" und französischer Imperialismus als hinreichende Bedingungen für eine Konfliktverscharfung bestimmen, die das Risiko eines Krieges beinhaltete Gegenstand der Analyse sind die Bereiche, in denen Möglichkeiten einer Annäherung bestanden gouvernemental-pohtisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich-kulturell Die Arbeit behandelt zunächst die politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich, beginnend mit den Verhandlungen über eme Kooperation in Nord- und Mittelafrika 1910/11 und der Agadir-Knse 1911 Im weiteren werden die deutschen und franzosischen Beitrage zum europaischen Konfliktmanagement vor dem Ersten Balkankneg untersucht Für die Jahre 1913 und 1914 soll den Fragen nachgegangen werden, wie sich Zwischenfalle in den Grenzregionen (1913), die damit verbundenen Reaktionen in der Presse, die Verabschiedung der Rustungsprojekte (1913) und die Wahlen zur franzosischen Nationalversammlung (1914) auf die deutsch-franzosischen Beziehungen auswirkten und welche Perspektiven für national 1889-1914, rev and ext ed, London/Boston 1974, GROH, Dieter, Negative Integration und revolutionärer Attentismus Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Frankfurt a M /Berlin 1973, HAUPT, Georges, Der Kongreß fand nicht statt Die Sozialistische Internationale 1914, Wien/Frankfurt/Zurich 1967

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eme friedliche Nachbarschaft am Vorabend von Sarajevo bestanden Im Anschluß daran werden die Beziehungen m Dnttlandem untersucht, in denen das Deutsche Reich und Frankreich finanzielle Interessen im Rahmen des informellen Imperialismus verfolgten und sich durch diese Interessendeckung Anreizen zur Rücksichtnahme gegenubersahen, insbesondere auf dem Balkan, m China und der Türkei Em besonderes Augenmerk gilt dabei der Pariser Finanzkonferenz von 1913 und den deutsch-franzosischen Verhandlungen über die Bagdadbahn 1913/14, deren Verlauf und Ergebmsse Aufschluß über die Möglichkeiten imperialistischer Staaten zur Konfliktvermeidung geben werden Das komplexe Gefuge aus Banken- und Regierungsinteressen wird dabei berücksichtigt Die Arbeit befaßt sich m emem weiteren Teil mit den deutsch-franzosischen Handelsbeziehungen Die Analyse der direkten Unternehmensbeziehungen - vor allem der Schwerindustrie - und der Tätigkeit der entsprechenden Verbände soll die ökonomischen Interessen, Absichten und Wechselbeziehungen aufzeigen, die sich mcht nahtlos unter dem Begriff der "Politik der Illusionen", gleichsam als Vorgriff auf einen für die nahe Zukunft erwarteten oder geplanten Krieg interpretieren lassen55 Diese Analyse soll emer im Zusammenhang mit der Fischer-Kontroverse gestellten, aber bislang mcht eingelösten Forderung nachkommen, Unternehmen aufgrund ihrer autonomen Quellenuberlieferung zu beurteilen und den Aspekt der internationalen Wirtschaftsverflechtung starker herauszuarbeiten56 Schließlich werden verschiedene idealistische und praktische Ansätze zur Verbesserung der Beziehungen vorgestellt, Bestrebungen m Presse und Publizistik zum Abbau von Feindbildern und Vorschlage zur Losung des Problems Elsaß-Lothringen Auch Ansätze einer parlamentarischen Zusammenarbeit werden untersucht, die der Friedensbewegung und der Sozialistischen Internationale zuzurechnen sind Ziel dieses Kapitels ist es, die These langfristiger kultur- und mentalitatsgeschichthcher Analysen zu widerlegen, die Feindschaft sei das konstitutive Merkmal deutsch-franzosischer Nachbarschaft vor dem Ersten Weltkrieg gewesen57 Nicht eingegangen wird auf militärische Dispositionen in beiden Landern und auf die innenpolitischen EntScheidungsprozesse wahrend der Rustungsdebatten der Jahre 1912/13, was den Rahmen dieser Arbeit gesprengt hatte und außerdem dem Anspruch, Kooperationen und Konfliktregelungsmechamsmen zu untersuchen, mcht gerecht geworden wäre 55

Vgl FISCHER, Krieg der Illusionen, S 516-541, 636-640 Vgl HATZFELD, Lutz, Thyssens Denkschriften an Reichskanzler und Auswärtiges Amt 1914/15 Anmerkungen zu F Fischers "Griff nach der Weltmacht", in Düsseldorfer Jahrbuch 51 (1963), S 307-314, TREUE, Wilhelm, Wirtschaft und AußenpoHtik Zu dem Problem der deutschen Weltmachtstellung 1900-1914, in Tradition 9 (1964), S 193-218 57 Vgl dazu allgemein JEISMANN, Vaterland der Feinde 56

Fragestellung, Methode und Quellenlage

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Es ist notwendig, die in dieser Arbeit verwendeten Begriffe naher zu bestimmen, ohne daß der Anspruch emer umfassenden theoretischen Deutung erhoben werden konnte Konflikt und Konfliktvermeidung, europaisches Konzert, Imperialismus, Wirtschaftsbeziehungen, gesellschaftlich-kulturelle Beziehungen Der Begriff "Konflikt" wird mcht im weiten Sinne auf alle gesellschaftlichen Beziehungen angewandt Es wird daher begrifflich zwischen "Konflikt" und "Wettbewerb" (oder auch "Rivalität", "Konkurrenz") getrennt, um so eme hinreichende empirische Unterscheidung zu gewährleisten, die bei einer generellen Verwendung des Konfliktbegriffs mcht möglich wäre "Competition in lts broadest sense exists when any potential positions of two behavior units are mutually incompatible This is a broader concept than conflict in the sense that, whereas all cases of conflict invorve competition, in the above sense, not all cases of competition involve conflict Conflict may be defined as a Situation of competition in which the parties are aware of the incompatibility of potential future positions and in which each party wishes to occupy a position that is incompatible with the wishes of the other " 5 8

Dieser Konfliktbegriff laßt sich um den Aspekt der kritischen Spannung erweitern, die potentiell zur Zerstörung der Orgamsationsstruktur fuhren kann, in der die Konfliktparteien koexistieren Die Konfliktlosung oder -regelung beinhaltet jedoch mcht zwangsläufig die Beseitigung der grundsatzlichen Gegensatze, sondern kann durch Verhandlung und Vermittlung erfolgen und dadurch einen Wandel in den Beziehungen herbeifuhren, ohne den Grundkonflikt eskalieren zu lassen59 Für Konfliktlosungsprozesse hat Kurt Singer vier für diese Arbeit fruchtbare Idealtypen definiert, von denen "Integration", als Erhöhung des Organisationsgrades mit dem Kontrahenten, und "Regression", als Verringerung des Organisationsgrades, die Erhaltung des Systems garantieren, wahrend "Revolution" und "Isolation" den Beziehungszusammenhang zerstören60 Auf die deutsch-franzosischen Beziehungen vor 1914 angewandt bedeutet dies, nach der Relevanz der ersten beiden Idealtypen msbesondere in Wirtschaft und Politik zu fragen Das "europaische Konzert", das auf dem Wiener Kongreß begründet wurde und ohne schriftlich fixierte Rechtsgrundlage em System diplomatischer Zusammenarbeit in Europa bildete, wird von Stanley Hoffmann als die nicht-m-

58

BOULDING, Kenneth E , Conflict and Defense A General Theory, New York 1962,

S 4f 59

Vgl LINK, Werner, Der Ost-West-Konflikt Die Organisation der internationalen Beziehungen im 20 Jahrhundert, 2 , uberarb u erw Aufl, Stuttgart u a 1988, S 35-40 60 Vgl SINGER, Kurt, The Resolution of Conflict, in Social Research 16 (1949), S 230-245, Link, Ost-West-Konflikt, S 41-44

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Fragestellung, Methode und Quellenlage

stitutionalisierte Organisation der europäischen Großmächte beschrieben61. Im 19. Jahrhundert erfuhr dieses System einige Veränderungen und wurde seit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 und dem Niedergang des Bismarckschen Bündnissystems von rivalisierenden Bündnissen überlagert. Besondere Probleme lagen nicht im Zusammentritt der Mächte in Verhandlungsgremien wie der Londoner Botschafterkonferenz, sondern in der Durchsetzung und Kontrolle der Beschlüsse sowie in zunehmendem Maße auch in der Beschränkung des Entscheidungsspielraums durch die formalen oder symbolischen Bündnisverpflichtungen, ohne daß von einer Blockbildung gesprochen werden kann, die keine bündnisübergreifende Politik mehr zuließ. Angesichts der vielfältigen Erscheinungsformen des europäischen Imperialismus ist es sinnvoll, von "Imperialismen" zu sprechen, wie es bereits Schumpeter getan hat und von Rene Girault und Boris Barth übernommen worden ist62. Eine nähere Eingrenzung leistet der von Robinson und Gallagher in die Forschung eingebrachte Begriff des "informellen Imperialismus"63, der zwei Aspekte umfaßt, zum einen die Beziehungen der Großmächte zu unterentwickelten Regionen ohne direkte Ausübung der Herrschaft, zum anderen die Interessen von Hochfinanz und Politik. Dieser Begriff sagt allerdings nichts darüber aus, in welchem Maße und aus welchen Gründen Banken und Regierungen unabhängig voneinander oder gemeinsam agierten. Dies bleibt Aufgabe der empirischen Analyse für jedes Land, in dem Deutschland und Frankreich konkurrierende imperialistische Interessen verfolgten. Die Untersuchung von Wirtschaftsbeziehungen unter dem Aspekt der Kooperation setzt zwei grundlegende Modelle voraus, das liberalistische Kooperationsmodell und das merkantihstische Konfliktmodell64. Mit Begriffen der Spieltheorie begreift das erste Modell die Austauschbeziehungen als Positivsummenspiel, d.h. als nutzenmaximierend für beide Parteien, während das zweite Modell, als Nullsummenspiel, von Gewinnern und Verlierern der Tauschhandlung ausgeht, was nichts anderes heißt, als daß der wirtschaftliche Erfolg eines Staates zu Lasten des anderen geht65. Diese theoretischen Ansätze dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß in der Realität der internationa61 Vgl. HOFFMANN, Stanley, Organisation internationales et pouvoirs politiques des Etats, Paris 1954, S. 21-36. 62 Vgl. SCHUMPETER, Soziologie der Imperialismen; GIRAULT, Rene, Diplomatie europeenne et imperialismes, 1871-1914, Paris u.a. 1979; BARTH, Deutsche Hochfinanz, S. 12 f. 63 ROBINSON, Ronald/GALLAGHER, John, The ImperiaHsm of Free Trade, in: EHR 6 (1953), S. 1-15. 64 Vgl. WATRIN, Christian, Konflikt und Kooperation. Bemerkungen zu zwei Betrachtungsweisen der internationalen Handelsbeziehungen, in: Wirtschaftspolitische Chronik 2/3 (1967), S. 193-207. 65 Vgl. RAPOPORT, Anatol, Kämpfe, Spiele und Debatten. Drei Konfliktmodelle, Darmstadt 1976, S. 125-262 (Die Logik der Strategien).

Fragestellung, Methode und Quellenlage

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len Wirtschaftsbeziehungen vor 1914 das Spektrum von protektiorustisch orientierten Unternehmern bis hm zu Freihändlern reichte, ganz abgesehen von internationalen Kartellen, die den Freihandel zwar ausschalteten, aber dennoch auf dem Prinzip von internationaler Interessendeckung und Arbeitsteilung beruhten Anders gewendet ermöglichten auch neomerkantihstische Vorstellungen aufgrund struktureller Bedingungen und materieller Abhängigkeiten internationale Kooperation, obwohl die Suche nach dem Vorteil für die nationale Wirtschaft auf Kosten anderer Lander an Bedeutung gewann66 Für eine Analyse der poht-okonomischen Beziehungen sind die Beziehungen der Unternehmen deshalb so bedeutend, weil sie zunehmend als eigenständige internationale Akteure neben dem Staat auftraten, ohne allerdings dessen Entscheidungskompetenz anzutasten67 Gesellschaftliche und kulturelle Beziehungen umfassen em Konglomerat von Erscheinungen, die auf lange Sicht Auswirkungen auf die politischen Beziehungen haben können Dies erfolgt jedoch kemeswegs zwangsläufig Folgt man der Unterscheidung Johan Galtungs von "Public Level" und "Private Level", fallen beinahe alle Bemühungen zur deutsch-franzosischen Annäherung in den privaten Bereich, oft auch dann, wenn Parlamentarier beteiligt waren Schwache Formen der Annäherung, Kennenlernen durch Pressearbeit, Reiseveranstaltungen und Publizierung von Informationen über das Nachbarland können daher oftmals kaum als "Co-operation", sondern eher als "Exchange" bewertet werden Eme spatere Kooperation kann damit jedoch erleichtert bzw vorbereitet werden68

66 Vgl SCHMIDT, Gustav, Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkriegs, in STURMER, Michael (Hg), Das kaiserliche Deutschland Politik und Gesellschaft 18701918, Dusseldorf 1970, S 410 f 67 Vgl NYE JR , Joseph S /KEOHANE, Robert O, Transnationale Beziehungen und Weltpolitik, in HAFTENDORN, Helga (Hg ), Theorie der internationalen Politik Gegenstand und Methoden der Internationalen Beziehungen, Hamburg 1975, S 69-88, zur theoietischen Analyse des Verhältnisses von Wirtschaft und Politik vgl femer PARSONS, Talcott/SMELSER, Neil J, Economy and Society A Study in the Integration of Economic and Social Theory, London 1956, VlNER, Jacob, International Finance and Balance of Power Diplomacy 1880-1914, in International Economics, Studies by Jacob Viner, Glencoe (Illinois) 1951, S 49-85, STRANGE, Susan, International Economics and International Relations ACaseof Mutual Neglect, in International Affairs46 (1970), S 304-315, STREIT, Manfred, Theorie der WirtschaftspoUtik, 4 , neub u erw Aufl, Dusseldorf 1991, LORENZ, Detlef; Außenwirtschaft, Auslandshilfe, Machtpolitik, in Moderne Welt 1968, S 267-287 68 Vgl GALTUNG, Johan, A Theory of peaceful Co-operation, in DERS (Hg), Coopeiation in Europe, New York 1970, S 10

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Fragestellung, Methode und Quellenlage

Die vorliegende Untersuchung stützt sich auf das Studium zahlreicher Quellen in deutschen und französischen Archiven, um der Vielfalt der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen gerecht zu werden und sowohl die Entscheidungsprozesse als auch die strukturellen Bedingungen des deutsch-französischen Verhältnisses darstellen und analysieren zu können. Grundlegend waren die Akten des Auswärtigen Amts in Bonn und des Quai d'Orsay in Paris, die durch die edierten deutschen und französischen Akten - die Große Politik der Europäischen Kabinette und die Documents Diplomatiques Franfais - ergänzt wurden. Hinzu kamen die seit Ende der 80er Jahre in Nantes zugänglichen Berichte der französischen Botschaften und Konsulate69. Dagegen waren die Nachlässe von Politikern in der Regel unergiebig, ausgenommen die Papiere Jules Cambons im Quai d'Orsay und die Brief Sammlung Stephen Pichons im Institut de France. Für die wirtschaftspolitischen Beziehungen stellten die Serien F/12 (Commerce et Industrie) und AQ (Archives d'Entreprises) in den Archives Nationales sowie die Akten der handelspolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes im Bundesarchiv in Potsdam die wichtigsten Quellen dar. Über die politischen Vorstellungen Joseph Caillaux' gab der von Jean-Claude Allain inventarisierte Fonds Roche-Caillaux in der Fondation Nationale des Sciences Politiques (Paris) Aufschluß. Für die Beziehungen auf Unternehmensebene wurden die Akten der Banque Ottomane und besonders der Fonds Marine-Wendel in den Archives Nationales ausgewertet70. Der Analyse der deutschen wirtschaftlichen Expansion in Frankreich und der Verflechtung der Grundstoffindustrien dienten die Aktenbestände einiger Unternehmensarchive, besonders der Thyssen-AG (Duisburg), der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg-AG (Augsburg), des Credit Lyonnais SA (Paris), der Banque de Paris et des Pays-Bas SA (Paris), der Saint-Gobain SA (Blois) und der Deutsche Bank AG (Franldurt/Main). Die Bestände des Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchivs (Köln) wurden als Grundlage für das Kapitel über die wirtschaftlichen Interessen der Gutehoffnungshütte in Frankreich herangezogen. Ergänzende Hinweise zu den wirtschaftlichen Beziehungen fanden sich in verschiedenen öffentlichen Archiven in Deutschland und Frankreich, unter anderem in den Archives Departementales von Metz, Nancy und Strasbourg sowie im Archiv für ChristlichDemokratische Politik der Konrad-Adenauer Stiftung (St. Augustin). Die zeitgenössische Publizistik und Presse, für die Analyse gesellschaftlicher und kultureller Beziehungen von besonderem Wert, standen in verschiedenen deutschen und französischen Institutionen zur Verfügung, besonders in der Bibliotheque Nationale (Paris und Versailles), der Bibliotheque de l'Arsenal 69

Vgl. EVEN, Pascal, Deux siecles de relations franco-allemandes, in: Francia 16/3 (1989), S. 83-97. 70 Der Fonds Marine-Wendel ist jüngst durch ein Inventar von 1994 erschlossen worden (189-190 AQ).

Fragestellung, Methode und Quellenlage

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(Paris), im Bundespresseamt (Bonn), in der Friedrich-Ebert-Stiftung (Bonn) und der Berliner Staatsbibliothek. Zu den Aktivitäten und Zielen der Friedensbewegung wurden die Nachlässe des Barons Paul d'Estournelles de Constant in den Archives Departementales de la Sarthe (Le Mans) und der Nachlaß Conrad Haußmanns im Hauptstaatsarchiv Stuttgart mit Gewinn eingesehen.

2. Politische Konfliktvermeidung 2.1. Frankreich und Deutschland in Afrika: Lösungsversuche zu politischen und polit-ökonomischen Konflikten 2.1.1. Ansätze zur Kooperation in Afrika infolge der Algeciras-Akte und des deutsch-französischen Vertrages von 1909 Im Vertrag vom 9. Februar 1909 verständigten sich das Deutsche Reich und Frankreich über ihre jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Interessen in Marokko und sorgten somit nach vielen Jahren des Streits für eine vorübergehende Entspannung in dieser Frage. Die marokkanische Frage betraf jedoch nicht nur die deutsch-französischen Beziehungen, sondern mit England und Spanien die Interessen von zwei weiteren europäischen Mächten. Nicht zuletzt beruhte diefranzösisch-englischeEntente Cordiale von 1904 auf der Lösung von Streitpunkten in Ägypten und Marokko1. Im Gegenzug versuchte die Reichsleitung, die marokkanische Frage als Hebel gegen die Entente Cordiale zu benutzen, um Frankreich die Grenzen des neuen Bündnisses aufzuzeigen und eigene Interessen in Marokko durchzusetzen. Während der ersten Marokkokrise gelang der deutschen Regierung zwar ein kurzfristiger Prestigeerfolg, der mit dem Rücktritt Delcasses seinen Höhepunkt erreichte, die Erwartung, mit seinem Nachfolger Rouvier leichter zu einem günstigen Abschluß zu kommen, wurde jedoch enttäuscht. Auf der internationalen Konferenz von Algeciras (1905/06) sah sich das Reich mit Österreich isoliert2. Die AlgecirasAkte bestimmte zwar eine partielle Zusammenarbeit deutscher und französischer Firmen, insbesondere bei öffentlichen Arbeiten in Marokko, bis 1909 überwogen allerdings Streitigkeiten, die 1908 in der Casablanca-Affäre ihren Höhepunkt erreichten, als mehrere Deserteure der Fremdenlegion in Begleitung eines deutschen Diplomaten gewaltsam an der Ausreise gehindert wurden und es zu einer schweren diplomatischen Krise zwischen beiden Ländern kam, die erst durch einen Schiedsspruch des internationalen Gerichtshofs in Den Haag gelöst werden konnte3. Der Vertrag von 1909 schien die Streitpunkte zu beseitigen und eine Ära der Kooperation in kolonialen und finanztechnischen Fragen einzuleiten. Frankreich erhielt von deutscher Seite das Zugeständnis, politisch vorrangige Rechte in Marokko auszuüben, während dem Deutschen Reich die uneingeschränkte wirtschaftliche Gleichberechtigung zugesichert wurde. Ausdrück1

Vgl. RENOUVIN, Pierre, La politique exterieure de Th. Delcasse (1898-1905), Paris

1962. 2 Vgl. RAULFF, Heiner, Zwischen Machtpolitik und Imperialismus. Die deutsche Frankreichpolitik 1904-1906, Düsseldorf 1976. 3 Zum diplomatischen Ablauf vgl. DDF 2, DC-490, 494, 495, 498.

Frankreich und Deutschland in Afrika

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lieh vermerkte der Vertrag den Willen der Regierungen zur Zusammenarbeit, "qu'ils chercheront ä associer leurs nationaux dans les affaires dont ceux-ci pourront obtemr Tentreprise "4 Im folgenden soll untersucht werden, welche Ergebmsse diese Willenserklärung zu gememsamen deutsch-französischen Projekten in Marokko und Zentralafrika bis zum Ersten Weltkrieg hervorbrachte und welche Ruckwirkungen auf das deutsch-französische Verhaltms in Nordafnka und auf dem Kontment sich daraus ergaben 2.1. L L Kooperation und Abgrenzung: deutsche undfranzosische Kolonien in Mittelafnka Durch den Erwerb afrikanischer Kolomen waren Frankreich und das Deutsche Reich auch m Afrika Nachbarn geworden Ernsthafte Konflikte resultierten daraus mcht Eine andere Frage ist jedoch, ob die deutsch-franzosischen Beziehungen eine neue Form kolonialer Zusammenarbeit hervorbrachten, die sich positiv auf die allgemeinen politischen Beziehungen auswirkten Diese Ruckwirkungen sind allerdings nur schwer zu bewerten Zwar sahen Vertreter des franzosischen Parti Colomal und der deutschen Kolonialverbande, vor allem der vergleichsweise gemaßigt-gouvernementalen Deutschen Kolonialgesellschaft, die Vorteile emer Kolonialentente unter den ideologischen Vorzeichen einer gemeinsamen zivilisatorischen Aufgabe in Afrika und Asien, aber Ansätze, die über den Rahmen des kolonialen Handels hinausgegangen waren und politische Bedeutung erhalten hatten, gab es bis 1909 mcht5 Als Testfall für die deutsch-franzosische Kooperation m Afrika erwiesen sich Plane für ein grenzüberschreitendes Unternehmen in Deutsch-Kamerun und Franzosisch-Kongo Anlaß für diesen Plan waren angebliche Grenzubergriffe der deutschen Sudkamerun-Gesellschaft auf franzosisches Gebiet, die die franzosische N'goko-Sangha-Gesellschaft als Grund für ihre Schadenersatzansprüche gegen die franzosische Regierung vorbrachte6 In die Affare

4 GP 8490, Vertrag vom 9 2 1909, in Berlin von Schoen und Jules Cambon unterzeichnet 5 Vgl Deutsche Kolonialgesellschaft, Franzosisch-Westafrika, Vortrag gehalten von Lucien HUBERT am 15.3 1907, Berlin 1907, PDBRARD, Richard von, The German Colonial Society, in KNOLL, Arthur J /GANN, Lewis H (Hg ), Germans in the Tropics Essays in German History, Westport (Connecticut) 1987, S 19-37 6 Die N'goko-Sangha-Gesellschaft war aus der Fusion zweier Konzessionsgesellschaften (der Compagnie des produits de la Sangha und der Compagnie de la N'goko-Ouesso) im Jahre 1904 entstanden In einem früheren Verfahren, das sich auf angebliche Übergriffe der Kamerungesellschaft gründete, war der N'goko-Sangha-Gesellschaft eine Erweiterung ihres Besitzes zugesprochen worden Vgl VIOLLETTE, Maurice, La NTgoko Sangha, Paris 1914, SURET-CANALE, Jean, Afrique noire, occidentale et centrale L'ere coloniale (1900-

Politische Konfliktvermeidung

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schaltete sich Andre Tardieu ein, der einflußreiche Redakteur des Temps. Im März 1909 wandte er sich informell an die deutsche Botschaft, um für die Interessen der Konzessionsgesellschaft zu werben, deren Präsident Tardieus Onkel Mestayer war. Tardieu regte an, eine gütliche Regelung könnte die deutsch-französischen Beziehungen entspannen und der Gesellschaft zu einer Entschädigung verhelfen7. Einer deutschen Entschädigungszahlung stand das Kolonialamt ablehnend gegenüber, befürwortete aber eine Unternehmenskooperation, eine Idee, die von Tardieu mit Interesse aufgegriffen wurde8. Der N'goko-Sangha-Gesellschaft gelang es, eine Entschädigung vom französischen Staat zu erhalten, die allerdings an die Zustimmung des Parlaments gebunden war. Ein Schiedsgericht, das aus Merlin, Gouverneur des französischen Kongo, Herault, Premier President de la Cour des Comptes, und Tardieu selbst bestand, entschied am 29. April 1910, der Gesellschaft knapp 2,4 Millionen Francs aus staatlichen Mitteln zu zahlen. Am 6. Mai 1910 sprach Tardieu bei der deutschen Botschaft vor, um den Erfolg seiner Lobbyarbeit mitzuteilen, denn das Schiedsgericht hatte die Zahlung an die Verpflichtung der Firma zur Kooperation mit der deutschen Gesellschaft geknüpft, um zukünftige Zwischenfälle und damit finanzielle Belastungen zu vermeiden9. Daß Tardieu bei seinem Kooperationsplan verwandtschaftliche und persönliche Interessen förderte, trug ihm das Urteil Hallgartens ein, er habe "Schiebergeschäfte"10 protegiert. Die Wege, die Tardieu für diesen Plan beschritt, zeigen allerdings weniger die moralische Verwerflichkeit seines Handelns als vielmehr die informellen Strukturen der deutsch-französischen Diplomatie. Lancken fand daher in der Rückschau nichts Verwerfliches daran, daß das N'goko-Sangha-Projekt "sein Entstehen einer Idee des praktischen Herrn Tardieu"11 verdankte, der ihn im Frühjahr 1910 zu einer Entenjagd mit Mestayer einlud, um bei dieser Gelegenheit wie zufällig die Geschäfte in Mittelafrika besprechen zu können. Lancken und Tardieu vermochten es, den nationalliberalen Reichstagsabgeordneten Semler, den Vorsitzenden des Aufsichtsrates der Südkamerungesellschaft, für eine Kooperation zu gewinnen, bei der die deutsche Gesellschaft das Kapital und die französische den Boden beisteuern sollte. Die Ergebnisse der ersten Verhandlungen zwischen Semler und Mestayer wurden von Dernburg, Staatssekretär des Kolonialamtes, sehr

1945), Paris 1964, S. 156-162; WEDI-PASCHA, Beatrix, Die deutsche Mittelafrika-PoHtik 1871-1914, Pfaffenweiler 1992, S. 229-241. 7 PA-AA, Afrika Generalia 15, Bd. 27, Radolin an Bülow, 6.3.1909. 8 Ebda, Bd. 28, Stellungnahme der Kolonialverwaltung vom 19.3.1909 und Lancken an Bülow, 17.5.1909. 9 Ebda, Bd. 29, Radolin an BH, 6.5.1910. 10

11

HALLGARTEN, Imperialismus, Bd. 2, S. 172.

LANCKEN WAKENITZ, Oscar Freiherr von der, Meine dreißig Dienstjahre 18881918. Potsdam-Paris-Brüssei Berlin 1931, S. 90 f.

Frankreich und Deutschland in Afrika

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begrüßt12. Im Mai 1910 entstand ein Vorvertrag für eine deutsch-französische Gesellschaft, die Societe du Gabon auffranzösischemBoden und mit französischer Vorrangstellung im Verwaltungsrat, aber mit Verwaltungssitz in Deutschland13. Die endgültige Übereinkunft verzögerte sich durch die Bearbeitung im französischen Kolonialministerium, obwohl Außenminister Pichon sich mit der Gründung grundsätzlich einverstanden erklärte. Semler stellte den Franzosen ein Ultimatum bis zum 30. November, während Tardieu seine Position in der Presse nutzte und im Temps die "obstruction des bureaux"14 attackierte, die sich seiner Ansicht zufolge gegen den erklärten Willen der Unternehmen und des Außenministeriums richtete. In einem Notenwechsel schrieben Pichon und Schoen die grundsätzliche Verständigung der beiden Regierungen in dieser Frage fest. Pichon kündigte an, im Parlament die Vertrauensfrage stellen zu wollen, "da Mißbilligung vorliegender deutsch-französischer Verständigung von ihm als Verurteilung seiner gesamten auf Ausgleich und Versöhnung mit uns gerichteten Politik aufgefaßt werden müßte und würde."15 Schoen gegenüber, der diese Auffassung von europäischer Entspannungspolitik über Fragen Afrikas teilte, äußerte sich Pichon kurz darauf über die Weichenfunktion dieses Abkommens und über die Risiken, die eine Ablehnung mit sich bringen könnte: "...[es gebe] für das Verhältnis Frankreichs zu Deutschland nur zwei Möglichkeiten ... Die eine sei die, daß beide Nationen sich auf den Standpunkt stellten, von einander nichts wissen zu wollen und sich überall da, wo sie sich berührten, befehdeten, ein Zustand, auf dessen Bedenklichkeit nicht erst besonders hingewiesen zu werden brauchte. Die andere Möglichkeit bestehe darin, daß Regierungen und Völker gute Nachbarschaft hielten, und auf wirtschaftlichem Gebiet, überall da, wo sich Interessengemeinschaften zeigten, sich zu loyalem Zusammenarbeiten die Hand reichten. Dieser letzteren Möglichkeit entspreche die Politik, die er... als dierichtigeerkannt und nach Kräften bestätigt habe."16

Ahnlich äußerte sich Pichon vor der Budgetkommission und beklagte, "ä quel point le spectacle des lüttes entre nations europeennes est demoralisant pour l'indigene et nuisible au developpement de l'oeuvre de paix et de civilisation."17 Die französische Regierung konnte das Projekt nicht durchsetzen, weil die Budgetkommission im Januar 1911 wegen der rechtswidrigen Form 12

PA-AA, Afrika Generalia 15, Bd. 29, Mestayer an Dernburg, 26.5.1910 und Demburg an Semler, 9.6.1910. 13 Ebda, Semler an Reichskolonialamt, 30.5.1910. 14 Le Temps, 9.12.1910. 15 PA-AA, Afrika Generalia 15, Bd. 30, Schoen an AA, 15.12.1910 und Notenwechsel Pichon-Schoen vom 15.12.1910, der vorbehaltlich einer Zustimmung des Parlaments die Erteilung der gemeinsamen Konzession befürwortete. 16 Ebda, Schoen an Bethmann Hollweg, 16.12.1910; vgl. GP 10516, Schoen an Bethmann Hollweg, 15.12.1910. 17 AN, 324 AP 71, Sous-dossier 17, Pichon vor der Budgetkommission, 14.12.1910.

Politische Konfliktvermeidung

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des Schiedsgerichts Einspruch erhob. Im April 1911 verweigerte auch das Parlament seine Zustimmung, nachdem Caülaux noch einmal auf die Unrechtmäßigkeit des Verfahrens hingewiesen hatte18. Die Bindung der Schadenersatzzahlung an die Gründung einer deutsch-französischen Gesellschaft erwies sich als verhängnisvoll, und auch das Bedauern derfranzösischenRegierung über den für sie peinlichen Rückzug konnte die Enttäuschung Semlers und der deutschen Regierung nicht mildern. Joseph Caülaux, im neuen Kabinett Monis Finanzminister, bot der deutschen Regierung andere Kooperationsfelder als Ersatz an. Caülaux, der als verständigungsbereiter Politiker mit guten Kontakten zur Hochfinanz galt, wandte sich zunächst informell an Lancken. Wenn man Lanckens Ausführungen folgt, entstand im Gespräch mit Semler ein neuer Plan, den Lancken mit Einverständnis des Kolonialamtes und des Auswärtigen Amtes Caülaux vortrug. Es handelte sich um das Projekt einer zentralafrikanischen Transversalbahn, die Kamerun, den belgischen und den französischen Kongo sowie Deutsch-Ostafrika verbinden sollte19. Hier trat zum ersten Mal Fondere als Vertrauensmann Caülaux1 und als Vertreter der N'goko-Sangha-Gesellschaft in Erscheinung20. Am 12./13. Mai 1911 fand sich Fondere in Berlin zu Verhandlungen mit Semler ein, der den guten Absichten derfranzösischenRegierung nach den Erfahrungen der N'goko-Sangha-Affäre mißtraute, sich aber zu diesem neuen Projekt bewegen ließ, das zwar nicht die ursprüngliche Idee einer internationalen Afrikabahn aufgriff, aber ein neues deutsch-französisches Großprojekt darstellte. Die Übereinkunft erfolgte während des zweiten Treffens am 24. Mai 1911 und wurde der französischen Regierung zur Genehmigung vorgelegt. Die Vereinbarung Fondere-Semler sah ein zu gleichen Teilen von Deutschen und Franzosen finanziertes Unternehmen vor, dessen Direktion paritätisch besetzt sein sollte. Jede Seite verpflichtete sich, eine etwa gleich lange Bahnstrecke auf dem eigenen Hoheitsgebiet zu bauen. Der Sitz der Gesellschaft sollte durch Los bestimmt, Probleme schiedsgerichtlich entschieden werden. Beide Staaten garantierten nach diesem Entwurf einen Zins von 3% auf das eingesetzte Kapital21. Auch dieses zweite Projekt scheiterte, weil Außenminister Cruppi seine Zustimmung nun an weitergehende Unternehmen bzw. an emen freundschaftlichen Ausgleich in Nordafrika 18

JO, Chambre desDeputes, 5.4.1911, S. 1767-68. Vgl LANCKEN WAKENITZ, Meine dreißig Dienstjahre, S. 93-95; PA-AA, Afrika Generalia 15, Bd. 31, Lancken an Langwerth, 21.5.1911. 20 Fondere war der Gründer der Messageries ftuviales, die das Schiffahrtsmonopol auf dem Kongo und dem Oubangui besaßen. Er leitete die Handels- und PlantagenGesellschaft Afrique et Congo und die Societe forestiere sowie die in Gabun tätigen Societe des factoreries de NT^ole und Societe de rOgooue-NGounie. Vgl. SURETCANALE, Afrique Noire, S. 160. 21 PA-AA, Afrika Generaha 15, Bd. 31, Semler an AA, 31.5.1911 mit Vereinbarung Fondere-Semler als Anlage vom 24.5.1911. 19

Frankreich und Deutschland in Afrika

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band22. Cruppi legte am 15. Juni 1911 einen Gegenentwurf vor, der allerdings in wesentlichen Punkten von den Vorstellungen der Kolonialunternehmer abwich, denn Cruppi schlug eine französisch dominierte Gesellschaft vor23. Mit diesem Gegenvorschlag der französischen Regierung endete der Versuch einer regionalen Kolonialentente in Mittelafrika. Die Gründe für das Mißlingen sind vielfältiger Art. Zunächst schienen der gute Wille der Regierungen und die schnelle Übereinkunft der deutschen und französischen Unternehmer für beide Projekte eine schnelle und einvernehmliche Lösung herbeizuführen. Entscheidende Hindernisse lagen im zögerlichen Entscheidungsprozeß der französischen Regierung und in der Bindung des Projekts an die Schadenersatzleistung für die N'goko-Sangha-Gesellschaft. Es gab bei dieser Entscheidung keinen antideutschen Aspekt, obwohl der Gegenentwurf Cruppis daraufhinauslief, den deutschen Einfluß in der neuen Gesellschaft zu schwächen. Vielmehr spielte die französische Innenpolitik die entscheidende Rolle, weil die Affäre wegen der Vorteilsnahme von Kolonialunternehmen auf Kosten des Staates in der öffentlichen Meinung als Skandal gesehen wurde und sich außerdem gegen die Regierung Briand instrumentalisieren ließ24. Ein Kennzeichen der Verhandlungen bestand in mangelnder Koordination und widersprüchlichen Zielvorstellungen innerhalb der Regierungen. Der Rücktritt von Staatssekretär Lindequist im November 1911 etwa motivierte sich vorgeblich aus der Wertlosigkeit eines Gebiets, in dem Kolonialamt und Auswärtiges Amt noch bis Mitte 1911 die Möglichkeit gemeinsamer Projekte mit Frankreich erwogen hatten. Die französische Politik wiederum präsentierte sich als wenig berechenbar, weil Caülaux aus innenpolitischen Gründen gegen die Zusammenarbeit deutscher und französischer Firmen opponierte und diese schließlich zum Scheitern brachte. Die Tatsache, daß die deutsche Regierung bis zum Krieg Caülaux als Wunschkandidaten für das Amt des President du Conseil sah, zeigt jedoch, daß die negativen außenpolitischen Wirkungen dieses Mißerfolgs begrenzt blieben. Allerdings verlor die französische Außenpolitik in den Augen der Reichsleitung an Kredit und erweckte den Eindruck, daß sie von innenpolitischen Unwägbarkeiten abhängig war. Festzuhalten ist, daß die N'goko-Sangha-Affäre nicht, wie Tardieu dies in sei-

22

Ebda, Schoen an AA, 15.6.1911. Ebda, Schoen an Bethmann Hollweg, Gegenentwurf vom 15.6.1911. 24 Innenpolitisch wurden in der Beurteilung der Affäre zwei Thesen vertreten: 1. Maurice Viollette, Berichterstatter der Budgetkommission, hielt die Affare nicht für international, weil sie nie dem Parlament vorgelegt worden war (Vgl. JO, Chambre des Deputes, 15.3.1912, S. 764 f.); 2. Tardieu vertrat die Auffassung, die Regierung habe das Konsortium aus politischen Gründen gewollt. Er warf Viollette vor, Dokumente unterschlagen zu haben (Vgl. Le Temps, 17.3.1912). 23

Politische Konfliktvermeidung

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nen Artikeln suggerierte und in späteren Notizen festhielt, den unmittelbaren Auslöser für den "Panthersprung" bildete25. Für die wirtschaftlichen Interessen deutscher Firmen in Mittelafrika ergaben sich durch die Gebietsabtretungen des Novembervertrages im Kongo neue Perspektiven. Die N'goko-Sangha-Affäre wurde durch den Kongovertrag obsolet, weil viele der französischen Konzessionsgesellschaften nun auf deutschem Gebiet lagen. Für sie mußte eine neue Lösung gefunden werden. Die folgende Tabelle zeigt, in welchem Umfang die Gesellschaften die Hoheitsgewalt wechselten. Gesellschaften Societe du Haut Ogooue Compagnie de la Ngoko-Sangha N'goko-Sangha (Ouest) Ngoko-Sangha (Est) Compagnie francaise du Haut-Congo Compagnie francaise de rOuhamenana Compagnie Forestiere

Größein km 107.400 52.000 30.800 21.200 70.000 50.000 180.500

Auf deutschem Auf französischem Gebiet (in %) Gebiet (in %) 98,2 1,8 84,6 15,4 0,8 99,2 63,4 36,6 87,9 12,1 45,0 55,0 41,0 59,0

Tab. 1: Französische Konzessionsgesellschaften am 4.11.191126

Diese Frage wurde von der deutschen Regierung schon während der Verhandlungen im Oktober 1911 als Problem erkannt. Ein Gutachten der Deutschen Bank informierte das Auswärtige Amt über Rechtsform und Tätigkeit der seit 1899 existierenden Gesellschaften27, und Ende November konstituierte sich ein Konsortium unter Führung der Deutschen Bank, um die Gesellschaften in ein oder mehrere deutsche Unternehmen umzuwandeln28. Am 29. Dezember 1911 berichtete Schoen, daß die Compagnie Forestiere bereits Aktien an eine Pariser Finanzgruppe gegeben und zwei deutsche Vertreter in ihren Verwaltungsrat aufgenommen habe, um eine spätere deutsch-französische Kooperation vorzubereiten29. Die rechtlich unklare Ausgangsposition erforderte allerdings zunächst eine Interpretation aller offenen Fragen des KongoVertrages. Ein erster Schritt hierzu war das Abkommen über die Staatsangehörigkeit der 25

AN, 324 AP 69, umfangreiche Notizen Tardieus vom 12.12.1929 zur NgokoSangha-Affare: In der Rückschau zählte Tardieu das Scheitern zu den Hauptgründen für Agadir und den Weltkrieg. Vgl. Le Temps, 12.1.1912, eine Anklage gegen die französischen Kammern, die eine wirtschaftliche Entente verhindert hätten. 26 CAN, Berlin A-225, Auszug aus dem Protokoll von Bern, S. 50. 27 PA-AA, Frankreich 102 Nr. 8 secr., Bd. 7, Gutachten vom 19.10.1911. 28 Ehda, Bd. 10, Deutsche Bank (Helfferich) an Kiderlen-Wächter, 23.11.1911. Zum Konsortium gehörten u.a.: Discontogesellschaft, Dresdner Bank, Bank für Handel und Industrie, Bleichröder. 29 PA-AA, Frankreich 102 Nr. 8 secr., Bd. 12, Schoen an Bethmann Hollweg, 29.12.1911.

Frankreich und Deutschland in Afrika

29

Eingeborenen, das am 2 Februar 1912 von Unterstaatssekretar Zimmermann und Jules Cambon abgeschlossen wurde Diese Regelung sah emen Wechsel der Staatsangehörigkeit mit der Option vor, innerhalb emes Jahres auszuwandern30 Für weitere Streitpunkte des Vertrages wurde eme deutsch-franzosische Kommission eingerichtet, die vom 15 Juni bis zum 19 Juli 1912 m Bern zusammentrat Die drei wichtigsten Streitpunkte betrafen die endgültige Grenze zwischen Neu-Kamerun und Franzosisch-Kongo, die Modalitaten der Gebietsubergabe und die Behandlung der Konzessionsgesellschaften Über diese offenen Fragen unterzeichneten die Regierungen am 28 September 1912 drei Vertrage31 Das Abkommen zu den Konzessionsgesellschaften enthielt emen überraschenden Artikel Die Gesellschaften behielten ihre Nationalität gemäß der Vertrage, durch die sie sich 1899 dem französischen Staat gegenüber verpflichtet hatten Damit setzte sich die franzosische Meinung durch, daß die Unternehmen ihre wirtschaftliche Einheit behalten mußten, um auf dem schwierigen Kautschukmarkt bestehen zu können Die deutschen Vertreter hatten angeführt, die Unternehmen hatten sich den verschiedenen Rechtssystemen anzupassen32 Firmen, die unter deutsches und franzosisches Hoheitsrecht fielen, mußten in Deutschland eine Zweigniederlassung errichten, konnten aber einen gememsamen Repräsentanten ernennen, der von beiden Regierungen bestätigt werden mußte Dieser Verpflichtung wurde 1913 durch die Vertretung des Bankhauses von der Heydt zum Teil Genüge getan33 Die Warenausfuhr aus den Kolomen konnte wahlweise durch deutsches oder franzosisches Gebiet erfolgen34 Mit dieser Regelung verwirklichte sich auf Umwegen die Kooperation, die noch 1910/11 gescheitert war Semlers Haltung gegenüber emer Kooperation mit franzosischen Firmen blieb allerdings zwiespaltig, wie vielleicht alle Versuche vor 1914, poht-okonomische Kooperationen von Fall zu Fall auf Interessenbasis zu schaffen Semler befürchtete einerseits, die Kooperation mit franzosischen Unternehmen konnte ihm von seinen Wahlern negativ ausgelegt werden, weshalb er im Januar 1912 im Auswärtigen Amt vorstellig wurde, um vor den Verhandlungen im Reichstag klarzustellen, daß die Initiative 1910 von der franzosischen Regierung ausgegangen war, hielt aber andererseits Kontakt mit dem Auswärtigen Amt, um den Fortgang der Bahnbauprojekte zu 30

Ebda Bd 13 Abkommen vom 2 2 1912 mit Ratifikationsurkunden vom 14 9 1912 CAN Berlin A-224, 3 Vertrage über Grenze, Gebietsubergabe und Konzessionsgesellschaften in Mittelafhka, 28 9 1912 32 CAN, Berhn A-225, Protokoll der Sitzung vom 10 7 1912 33 PA-AA, Frankreich 102 Nr 8, Bd 18, Solf an Jagow, 14 3 1913 und Antwort Pichons auf eine deutsche Anfrage nach den Niederlassungen der Konzessionsgesellschaften, 114 1913 34 CAN, Berhn A-224, Vertrag zu den Konzessionsgesellschaften, Artikel 3, 12, 21, 24,35 31

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Politische Konfliktvermeidung

verfolgen35. Im Dezember 1912 schrieb Staatssekretär Solf an Semler, die Planungen für die Verkehrserschließung Kameruns und der von Frankreich erworbenen Gebiete könnten nach der Entscheidung des Reichstags für eine Budgeterhöhung beginnen. Mit Blick auf die mögliche Fortsetzung der Kamerunbahn auf französischem Gebiet zeigte Solf sich nicht abgeneigt, die Kooperation mit denfranzösischenKolonialunternehmern wieder aufzunehmen: "Falls auf französischer Seite Absichten entstehen oder schon vorhanden sein sollten, anschließend an das Kameruner Bahnnetz nach Osten weiter ins französische Gebiet hinein Eisenbahnen zu bauen, so wäre das nur mit Freuden zu begrüßen ... Euer Hochwohlgeboren wäre ich dankbar, wenn ich eine Mitteilung erhalten könnte, falls Ihnen von solchen Absichten der Franzosen etwas bekannt wird."36

Die neuen Möglichkeiten, die sich durch die territoriale Verquickung deutscher und französischer Interessen ergab, führten auch auf Unternehmensebene zu neuen Ansätzen der Kooperation. Mit Henrotte, dem Präsidenten der N'goko-Sangha-Gesellschaft, vereinbarte Semler die Einbringung der Konzessionen in eine neue deutsche Gesellschaft mit Hauptsitz in Hamburg und Nebensitz in Paris. Von den Mitgliedern des Verwaltungsrats sollten 5 aus Deutschland und 4 aus Frankreich kommen37. Semler nutzte die alte Verbindung zu Lancken Wakenitz, um die Kontakte zu Fondere wiederzubeleben, der im Dezember 1912 zu Gesprächen nach Hamburg kam38. Der durch die gescheiterten Verhandlungen von 1910 belastete Name der N'goko-SanghaGesellschaft gestaltete die neuen Ansätze jedoch schwierig. Eine konkurrierende Konzessionsgesellschaft, die Compagnie du Haut-Congo, die mehrheitlich auffranzösischemGebiet verblieben war, hegte Ambitionen, die N'gokoSangha-Gesellschaft in das eigene Unternehmen zu integrieren. Semler und Trehot, der Delegierte des Verwaltungsrates der Compagnie du Haut-Congo, kamen überein, die deutschen und französischen Interessen nach vorheriger Verschmelzung der beidenfranzösischenGesellschaften zu vereinigen und ein deutsches Unternehmen zu gründen39. Die Kolonialministerien beider Länder erhoben dagegen keine Einwendungen. Auch der Plan der deutschen Regierung, das Konzessionssystem langfristig gegen Eigentum auf verringerten Flächen einzutauschen, stieß bei denfranzösischenFirmen auf Zustimmung. Jean Weber, Direktor der Compagnie Forestiere, war bereit, 10,6 Millionen Hektar

35

PA-AA, Afrika Generalia 15, Bd. 32, Aufzeichnung Kiderlen-Wächters vom 16.1.1912 und Semler an Kiderlen-Wächter, 18.3.1912. 36 Ebda, Bd. 33, Solfan Semler, 9.12.1912. 37 PA-AA, Frankreich 102 Nr. 8, Bd. 17, Semler an Lancken Wakenitz, 4.11.1912. 38 Ebda, Schoen an AA, 13.12.1912. 39 PA-AA, Frankreich 102 Nr. 8, Bd. 18, Schoen an Bethmann Hollweg, 16.1.1913.

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Konzessionsland gegen 1,7 Millionen Hektar in Eigentum und 160.000 Hektar in Pacht zu tauschen40. Das Abkommen zur Übergabe der Gebiete sah vor, daß die im Kongovertrag abgetretenen Territorien in mehreren Abschnitten bis zum 1. Juni 1913 übergeben werden sollten. Zu diesem Zweck war es notwendig, in der Grenzfrage, die im Vertrag nicht detailliert geregelt wurde, zu einer Lösung zu kommen. Ein zusätzliches Abkommen sah daher vor, für die strittigen Punkte zwei nationale Grenzexpeditionen zu bilden, die unabhängig voneinander die örtlichen Gegebenheiten untersuchen sollten, um den endgültigen Grenzverlauf nach den natürlichen Bedingungen zu bestimmen. Drei Grenzfragen blieben allerdings ungeklärt: die Zugehörigkeit der Inseln in den Flüssen Kongo und Oubangui und der Inseln vor den dem Deutschen Reich zugesprochenen Flußabschnitten - die sogenannten Tentakeln des deutschen Gebietes, die durch französisches Gebiet zu den Flüssen führten, um den Zugang zu diesem wichtigen Transportweg zu garantieren - sowie die Länge dieses Flußabschnitts41. Die letzte Frage wurde von beiden Regierungen als die wichtigste angesehen, weil sie über den nutzbaren Uferabschnitt am Oubangui entschied. Die deutsche Regierung beanspruchte etwa 12 Kilometer, während die französische nur 6 zugestand. Die Delegationen einigten sich auf Brüssel als neuen Verhandlungsort, wo sich die Beratungen bis in den Sommer 1914 hinzogen, ohne in den letzten Punkten eine Einigung herbeizuführen42. Die Langwierigkeit dieser Verhandlungen macht noch einmal deutlich, wie sehr sich die Spannungen und Eitelkeiten politischer Fragen im deutsch-französischen Verhältnis auch in kolonialen Angelegenheiten niederschlugen. In den Grenzfragen kam der Wille zum Ausdruck, dem Kontrahenten nur wenig entgegenzukommen und möglicherweise zusätzlich der Wunsch, nach den Abstrichen, die man 1911 gemacht zu haben glaubte, nachträglich kleine Vorteile zu erlangen. Das Abkommen vom 28. September 1912 regelte eine weitere deutsch-französische Grenzfrage in Mittelafrika, denn durch eine Zusatzerklärung ("Declaration complementaire") trat das Grenzabkommen vom 23. Juli 1897 für die Kolonien Togo und Dahomey endgültig in Kraft, so daß nach 17 Jahren eine Frage zweiten Ranges im Rahmen des Kongovertrages geregelt wurde43. 40

CAN, Berlin C-7, J. Cambon an Doumergue, 16.3.1914. MAE, NS Afrique Equatoriale 45, Periquet (französischer Vertreter in der Grenzkommission) an Kolonialministerium, 12.9.1913. 42 PA-AA, Afrika Generalia 15, Bd. 34 gibt Aufschluß über die wechselseitigen Vorwürfe während der Brüsseler Verhandlungen. 43 MAE, NS Afrique occidentale 27, Analyse der Grenzfrage des Quai d'Orsay vom 14.11.1910, die die Geschichte der Grenzfrage seit 1897 rekapituliert. Eine erste Kommission trat 1899-1900 zusammen, 1901 kam es zu einer Konferenz in Paris, 1904 zu weiteren Gesprächen. Eine letzte gemischte Kommission in den Jahren 1909-1910 erzielte 41

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Politische Konfliktvermeidung

Nach diesen Ausführungen stellt sich die Frage nach den Rückwirkungen der deutsch-französischen Nachbarschaft in Mittelafrika auf die europäische Gesamtlage. Im Gegensatz zu den nordafrikanischen Fragen, die in stärkerem Maße strategische, wirtschaftliche und politische Aspekte der deutsch-französischen Beziehungen betrafen, blieb die Bedeutung der mittelafrikanischen Grenzfragen beschränkt. Gleichwohl kam das Abkommen den deutschen Plänen entgegen, weil es dem Deutschen Reich die weitere Erschließung Mittelafrikas eröffnete, die im Anschluß an die Verträge vom November 1911 als Argument für den Erfolg der Verhandlungen ins Feld geführt worden war und als Baustein für die Verwirklichung der Mittelafrika-Idee galt44. Für das deutsch-französische Verhältnis bleibt festzuhalten, daß die Abwicklung des Kongovertrags trotz der verschiedenen Interessen ohne Spannungen erfolgte und eine weitere Verständigung über die afrikanischen Kolonien - über die belgischen und portugiesischen Besitzungen - zwischen England, Frankreich und dem Deutschen Reich möglich erschien. Im Kongogebiet (Neukamerun und Französisch-Kongo) bahnte sich außerdem eine deutsch-französische koloniale Zusammenarbeit an, denn die Konzessionen bedeuteten durchaus eine deutsche Verpflichtung, "qui, il n'y a pas lieu d'en douter, sera respecte en temps de paix ... En temps de guerre, il y a beaucoup d'autres choses qui seront mises ou remises en question ..."45 Mittelafirika bot neben China und der Türkei noch die Möglichkeit für das Reich, im Riezlerschen Sinne "parallel" zu den konkurrierenden imperialistischen Großmächten zu expandieren und einen Verteilungskrieg um die Kolonien bzw. Interessengebiete zu vermeiden. Für die französische Regierung verknüpften sich in kolonialen Verhandlungen mit Deutschland daher mehrere Aspekte, zum ersten die Sorge wegen der deutschen Ambitionen auf das belgische Kongogebiet, zum zweiten die Furcht vor den Folgen der Beschränkung deutscher Expansionsmöglichkeiten, die zu einem gewaltsamen Ausbruch fuhren konnte, zum dritten die Möglichkeit kolonialer Zusammenarbeit im Interesse der "europäischen Zivilisation". Die Regelung von Streitfragen mit dem Reich beinhaltete die Möglichkeit, deutsche Expansionspläne nicht prinzipiell zu blockieren, um die Gefahren einer unkontrollierbaren Entwicklung zu vermeiden. Jules Cambon plädierte dafür, in Umkehrung der Bismarckschen Politik, eine Strategie der Ablenkung Deutschlands an die Periebenfalls kein Ergebnis. Nachdem während der Agadirkrise die Verhandlungen suspendiert worden waren, ging die Grenzfrage in die Grenzverhandlungen von Bern ein. 44 Vgl. GuiLLEN, Pierre, Les questions coloniales dans les relations franco-allemandes ä la veille de la Premiere Guerre mondiale, in: RH 248 (1972,2), S. 87-106. Für die deutschen Ambitionen in Mittelafrika und die Rechtfertigungspolitik vgl. die regierungsnahe Schrift: Marokko oder Kongo? Der neue Marokko-Vertrag, bearbeitet von Africanus Major, Berhn 1911; WEDI-PASCHA, Deutsche Mittelafrika-Pohtik, S. 243-254. 45 RDDM, 15.11.1911, S. 471 f. (F. Charmes).

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phene zu betreiben "M de Bismarck nous souhaitait des difficultes coloniales pour occuper nos initiatives II serait peut-etre bon que FAllemagne eüt, eile aussi, au loin, l'emploi de ses energies "46 Es wirkte beruhigend auf die deutsch-französischen Beziehungen, daß die Reichsleitung bereit war, über eine zukunftige Regelung der mittelafhkanischen Fragen mit Frankreich und England zu verhandeln Solf sah m Mittelafrika ein Kooperationsfeld für diese drei Machte, etwa m gememsamen Eisenbahnproj ekten "L'Afrique renferme de telles nchesses , et il y a tant ä y faire que les querelies entre les peuples europeens devraient faire silence au seuil de ce merveilleux continent Ce devrait etre la terre de la paix entre les hommes blancs Les trois grandes puissances africaines surtout, la France, l'Angleterre et rAllemagne, auraient le plus grand avantage ä s'entendre sur un programme d'action commune en matiere de chemins de fer "47

Eine ähnliche Haltung vertrat Staatssekretär Jagow "Aux yeux du Secretaire d'Etat, si la France, rAllemagne et l'Angleterre pouvaient s'entendre sur l'exploitation du centre africain, toute chance de guerre serait ecartee pour de tres longues annees, car l'activite allemande, dont l'inquietude est un danger, aurait un champs d'action presque mdefini ouvert devant eile Cela nous pennet de reflechir sur le meilleur procede ä employer pour mauitemr l'equilibre dans le centre africain et sauvegarder les faibles "48

In der Vorstellung einer gemeinsamen zivilisatorischen Aufgabe deckten sich die Ansichten beider Regierungen Dennoch blieb der Weg der kolomalen Kompensation, die eine Spannungsmmderung über koloniale Fragen hatte bewirken können, schwierig und wurde nach der Agadir-Krise em Reizthema in der öffentlichen Meinung beider Lander Die Losungen rührten außerdem mcht am Grundverstandnis deutscher undfranzosischerKontinentalpolitik und wurden, trotz positiver Absichtserklärungen, im Gegensatz zu den deutschenglischen Annäherungsversuchen mcht als Mittel verstanden, die von deutscher Seite als Einkreisung verstandene Situation des Reiches durch eme kooperative Politik in Mittelafrika zu entspannen

46 47 48

DDF 3, VII-317, J Cambon an Pichon, 8 7 1913 CAN, Berhn C-7, J Cambon an Doumergue, 1 3 1914 Cambon zitiert hier Solf MAE-PAAP, 113-10, J Cambon an de Margerie, 13 4 1914

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2.1.1.2. Private Interessen und staatliche Intervention: Mineninteressen in Marokko bis 1914. Von der Mannesmann-Affäre zur Arbitrage Wenige andere Namen stehen in einem so hohen Maße für wirtschaftliche Konflikte zwischen deutschen und französischen Firmen außerhalb Europas wie die Aktivitäten der Brüder Reinhard und Max Mannesmann in Nordafrika. Sie hatten in der Zeit nach der Algeciras-Konferenz Erzkonzessionen vom marokkanischen Sultan erworben, deren Rechtmäßigkeit jedoch allgemein angezweifelt wurde. Zwar hatte der Sultan, unter Mitwirkung der deutschen Gesandtschaft in Marokko, die Vorrangigkeit der Mannesmannschen Entdeckungen und Anträge festgestellt, die gesetzliche Anerkennung ging jedoch in den inneren Unruhen verloren, die auf die Proklamation des Gegensultans Mulay-Hafid 1907/08 folgten49. Das diplomatische Korps in Tanger faßte am 20. August 1908 in einem Schreiben an den Maghzen den Beschluß, die Monopolstellung einzelner Firmen zu unterbinden und die marokkanischen Minengeschäfte durch eine europäische Gesetzgebung zu regeln. Dieser Beschluß wurde zur Grundlage einer internationalen Konferenz über ein neues marokkanisches Berggesetz, die vom 17. November 1909 an in Paris tagte50. Die deutsche Regierung drängte bald auf Verhandlungen der Mannesmanns mit der Union des Mines Marocaines (UMM), die 1907 im wesentlichen als Zusammenschluß französischer, deutscher und englischer Interessen gegründet worden war51. Die Beteiligung deutscher Industrieller an der UMM brachte die Mannesmanns in Widerspruch zu den Zielen der eigenen Regierung und zeigte, daß sie keineswegs die deutschen wirtschaftlichen Interessen vertraten, wie sie mit Hilfe des Alldeutschen Verbandes, von Mittelsmännern52 und der Presse gegen die Regie-

49 PA-AA, Marokko 25 Nr. 8a, Bd. 8, Memoire concernant l'afiaire Mannesmann, remis ä M. Caülaux (durch französische Mittelsmänner der Mannesmanns), 8.7.1911. 50 Vgl. POGGE V. STRANDMANN, Hartmut, Rathenau, die Gebrüder Mannesmann und die Vorgeschichte der Zweiten Marokkokrise, in: GEISS, ImanuelAVENDT, Bernd Jürgen (Hg.), Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1973, S. 251-270. 51 MAE, NS Maroc 374, Darcy für UMM an Justizministerium, 20.7.1915: Die Aktienmehrheit wurde im Jahre 1914 mit etwa 68% von französischen Firmen gehalten. Die Aktien verteilten sich allerdings auf mehrere Firmen wie die Compagnie Marocaine (7%), Schneider et Cie (5,5%), Societe Generale de Credit Industrie! et Commercial (4%), SaintGobain (3,5%), Compagnie des Forges et Acieries de la Marine d'Homecourt (2%). Größter Einzelaktionär war die Firma Krupp mit 7,5%. Der deutsche Anteil bei Kriegsausbruch lag laut Darcy bei knapp 20%, bei 5 (von 25) deutsch oder österreichisch besetzten Verwaltungsratssitzen. 52 Einer dieser Mittelsmänner war General von Loebell, der vom AA daraufhingewiesen werden mußte, daß das AA "diesen extremen M.[annesmann]sehen Standpunkt nicht verteidigen könnte", PA-AA, Marokko 25 Nr. 8a, Bd. 1, Notiz vom 27.10.1909.

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rung nachzuweisen versuchten53 Im Reichstag kritisierte Bethmann Hollweg am 16 März 1910 die Pressekampagne der Mannesmanns und verteidigte die Reichspohtik gegen den Vorwurf der Schwache Sem Ziel sei es mcht, deutsche Interessen aufzugeben, sondern em Ausscheren des Reiches aus internationalen Vereinbarungen zu verhindern54 Dennoch befürchtete die franzosische Regierung eme sich ausweitende Tätigkeit der Mannesmanns zu Lasten der Interessen franzosischer Unternehmen Sie verfolgte daher das Ziel, das Zusammengehen des Deutschen Reiches mit Spamen ebenso zu verhindern wie die Einflußnahme der Mannesmanns auf die spamsche Regierung Die Teilung Marokkos m Einflußzonen, wie es den Brüdern Mannesmann vorschwebte, wäre die Vorwegnahme emer politischen Teilung gewesen, die weder im Sinn der franzosischen noch m der Absicht der deutschen Regierung lag Botschafter Radolin drängte auf den Abschluß der Verhandlungen und auf eme gewisse deutsche Nachgiebigkeit, um das seit Februar 1909 angebahnte bessere Verhaltms mcht wieder m Frage zu stellen55 Die franzosische Regierung befürwortete die Konsortiallosung, das heißt die Einbindung der Mannesmanns in die internationalen Strukturen der Bergwerksinteressen in Marokko, jedoch unter franzosischer Vorherrschaft56 Die deutsche Regierung setzte, nachdem Wilhelm II m London mit Pichon ein Gesprach gefuhrt und unverbindliche Zusagen erhalten hatte, Walther Rathenau als Vermittler zwischen den Mannesmanns und der UMM ein, nach Darstellung Rathenaus auch auf Wunsch der Mannesmann-Bruder57 Nach nur zehntägigen Verhandlungen konnte Rathenau am 6 Juni 1910 emen Vertragsentwurf präsentieren, der den Mannesmanns auf Umwegen jenes wirtschaftliche Teilungspnnzip zurückgab, das beide Regierungen eigentlich vermeiden wollten Sudlich des 33 Breitengrades gaben die Mannesmanns, nordlich davon die UMM alle Rechte an Erzkonzessionen auf58 Am 7 Juni unterzeichneten parallel dazu die Vertreter Spaniens, des Deutschen Reiches, Englands und Frankreichs das Protokoll der Bergwerkskonferenz m Pans, m Ausfuhrung des Artikels 112 der Algeciras-Akte, der es dem Sultan anheim-

53

54

Vgl POGGEV STRANDMANN, Gebruder Mannesmann, S 253 f

Vgl Stenographische Protokolle des Reichstags, 16 3 1910, S 2162B-2168B 55 PA-AA, Marokko 25 Nr 8a, Bd 3, Radolin an AA, 18 5 und 19 5 1910 56 MAE, NS Maioc 367, J Cambon an Pichon, 20 5 1910 57 Vgl POGGE v STRANDMANN, Gebruder Mannesmann, S 256, GP 10509, Bethmann Hollweg an Wilhelm II, 18 5 1910 und Anmerkung PA-AA, Marokko 25 Nr 8a, Bd 3, Schoen an Botschaft Paris, 20 5 1910, kundigt Rathenaus Vermittlung an Ebda, Rathenau an AA, 19 5 1910 und MMS an Rathenau, 19 5 1910 58 MAE, NS Maroc 367, Direction Politique an J Cambon, 8 6 1910

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gestellt hatte, die Minenfrage nach dem Vorbild europäischer Gesetze zu regeln59. Am 10. Juni 1910 scheiterte der Vertragsentwurf Rathenaus an der Hartnäckigkeit, mit der die UMM und die Mannesmanns ihre Positionen noch zu verbessern suchten. Rathenau, der sich während der Verhandlungen die Sympathie der französischen Regierung erworben hatte, beendete seine Vermittlertätigkeit und reiste am 12. Juni 1910 nach Berlin zurück. Die Mannesmanns versuchten im Herbst 1910, die Verhandlungen mit Hilfe des Auswärtigen Amtes wieder aufzunehmen, obwohl sie die Vermittlungsvorschläge Rathenaus weiterhin ablehnten. Der Briefwechsel zwischen Rathenau und dem Marokko-Minen-Syndikat (MMS) von Juli/August 1910 machte das Unbehagen Rathenaus über die seiner Ansicht nach unrichtigen Darstellungen der Mannesmanns deutlich. Langwerth teilte er mit, er habe erneut eine Richtigstellung zu den gescheiterten Verhandlungen an Otto Mannesmann gesandt, "diesmal in einem Tone, der den Herren etwas deutlicher machen wird, daß nun der Spaß zu Ende ist."60 Eine Fortsetzung der Verhandlungen scheiterte also zunächst, weil das Auswärtige Amt nach einer einvernehmlichen Lösung suchte und die Methoden der Brüder Mannesmann ablehnte, mit denen sich auch die an der UMM beteiligten deutschen Firmen nicht anfreunden konnten61. Aber auch der Kommentar Henry Darcys, Präsident der UMM, zeigt, daß diese Verhandlungen eher auf dem Konsens der deutschen und französischen Regierung als auf dem guten Willen der Unternehmen beruhten: "Quant ä nous, Monsieur le Ministre, nous n'avions pas recherche l'entente; son echec ne nous erneut pas. Nous redoutions singulierement les difficultes du lendemain, les exigences, les appels ä Tassistance', les compromissions, les surprises de tout genre. Si cependant, pour la seconde fois en dix-huit mois, nous avons fait tous nos efforts pour arriver ä un arrangement, nous ne nous sommes imposes cette täche penible que pour repondre ä votre voeu, Monsieur le Ministre, et contribuer pour ce qui depend de nous ä l'apaisement de Temotion si etrangement suscitee en Allemagne ..."62

Im Juli 1911, in der ersten Phase der Agadir-Krise, ergriffen die Mannesmanns erneut die Initiative. Auf Wunsch des neuen französischen Ministerpräsidenten Caülaux erhielt dieser von "unseren französischen

59 Ebda, Protokoll vom 7.6.1910, unterzeichnet von Haber (Vortragender Rat hn Reichskolonialamt), de Los Villares y Amor, Aguillon (Inspecteur des Mines), Cunynghame. 60 PA-AA, Marokko 25 Nr. 8a, Bd. 5, Rathenau an Langwerth von Simmern, 10.8.1910. 61 Zu den Details der Verhandlungen zwischen dem 26.5. und 12.6.1910 vgl. POGGE V. STRANDMANN, Gebrüder Mannesmann, S. 257-268. 62 MAE, NS Maroc 367, Darcy an Pichon, 15.6.1910 (Hervorhebung im Original unterstrichen).

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Freunden" eine Darstellung des bisherigen Verlaufs der Minenfrage63 Dem Auswärtigen Amt benannten die Mannesmanns den deutsch-englischen Bankier Schröder und das franzosische Mitglied des MMS, den "Conseiller de commerce exteneur" Gontier, als Vermittler64 Mit dem Einverständnis beider Regierungen nahmen die Bruder Mannesmann und die UMM die Verhandlungen im Oktober 1911 wieder auf Wie em Schreiben Darcys an Caillaux im Juli 1911 darlegt, war das Angebot eines deutsch-englischen Bankenkonsortiums - Spitzer, Schröder, Cassel - bereits im Fruhjahr/Sommer 1911 an die UMM herangetragen worden, um mit deren Hilfe eme Konsortiallosung durchzufuhren Nach diesem Angebot hatten die UMM 50%, die Mannesmanns 40% und die Banken 10% am Konsortium erhalten Der rechnerische Anteil der franzosischen Unternehmen hatte zu diesem Zeitpunkt allerdings nur 28,5% betragen, der deutsche etwa 51% 65 Damit war dieser Vorschlag für Darcy unannehmbar Dennoch stellte Darcy die grundsätzliche Bereitschaft der franzosischen Gruppe zu emer Übereinkunft fest, die er in starkem Kontrast zur Unzuganglichkeit der deutschen Gruppe sah "En instituant une Societe dans laquelle etaient representees dans une proportion equitable toutes les nationahtes interessees ä l'exploitation mdustnelle du Maroc, les fondateurs francais avaient espere, et tel avait ete aussi l'espoir de votre Departement, donner un temoignage convainquant de l'esprit de conciliation et de discretion de l'industrie nationale Hs en ont donne une preuve encore plus sensible en tendant la main ä des rivaux dont les pretentions sont plus que contestables et dont les compatriotes allemands tiennent dejä une place si large dans notre Societe "66

Die Vorstellung der Mannesmanns, eine Kooperationslosung ausschließlich zu ihren Bedingungen durchzusetzen, weckte sogar die Kritik der von diesen selbst um Beteiligung gebetenen Bankiers Spitzer sprach Schoen gegenüber von "unzuverlässigem Benehmen"67 der Bruder, die Fachleute im Auswärtigen Amt kritisierten den Vertragsentwurf aus der Feder der Mannesmanns als "auch in semen Grundlagen unbrauchbar" und überdies "nur fluchtig hingehauen"68 Das Interesse der Regierungen an emer Einigung verhinderte einen Abbruch der Verhandlungen, der durch die Ungeduld und die Sonderpolitik der Mannesmanns in Marokko riskiert wurde Reinhard 63

PA-AA, Marokko, 25 Nr 8a, Hseitige Darstellung für Caillaux vom 8 7 1911 Ebda, MMS an Kiderlen-Wachter, 18 7 1911 Gontier wurde als Freund Caillaux1 bezeichnet, dessen Sohn Caillaux* Privatsekretar sei 65 Anteile am geplanten Konsortium 1 Franzosischer Anteil 50% (UMM) x 0,57 (französischer Anteil an UMM) = 28,5% 2 Deutscher Anteil 40% (Mannesmann) + 50% (UMM) x 0,22 (deutscher Anteil an UMM) = 51% 66 AD-Sarthe, 39 J 16, Darcy an Caillaux, 23 7 1911 67 PA-AA, Marokko 25 Nr 8a, Bd 8a, Schoen an Bethmann Hollweg, 3 10 1911 68 Ebda, Haber an AA, 5 10 1911 64

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Mannesmann bat nun, vermutlich durch Vermittlung Lanckens, um die Beteiligung Fonderes an den Verhandlungen. Caillaux äußerte Spitzer gegenüber sein "Interesse an der Zufriedenstellung der Mannesmanns"69. Spitzer und Fondere trafen sich am 9. Oktober 1911 zu ersten Gesprächen und faßten den Entschluß, die Interessen der Mannesmanns zunächst in einer französisch-englischen Gesellschaft zu integrieren, um erst danach die UMM daran zu beteiligen, ein Vorschlag, der nie verwirklicht wurde70. Neue Gespräche mit Peyerimhoff, Mitglied des Verwaltungsrats der UMM, führten zum Zugeständnis der Mannesmanns,französischenFirmen im MMS eine den deutschen Interessen in der UMM vergleichbare Beteiligung anzubieten71. Die UMM lehnte es allerdings ab, das Abkommen überstürzt und ohne interne Rücksprache abzuschließen. Der Vertrag, der am 13. November 1911 zur Unterzeichnung kam, lehnte sich gleichwohl an die Pläne aus dem Sommer 1911 an. Er entsprach den Vorstellungen Caillaux', die Mannesmanns nicht mehr als eigenständigen Konkurrenten in Marokko gewärtigen zu müssen und gleichzeitig das französische Übergewicht festzuschreiben, denn "le capital suit le drapeau; avec le temps, il viendrait aux mains fran9aises."72 Die Mannesmanns, die für das MMS und die Mannesmann-Rif-Company unterzeichneten, brachten ihre Minenrechte in ein "Omnium" ein, das von der UMM, dem MMS und den Banken kontrolliert wurde. Das MMS erhielt ebenso wie die UMM einen Anteil von 40%, das Bankenkonsortium die restlichen 20%73. Die Gesellschaft wurde für eine Dauer von 9 Jahren gegründet, Rechte der UMM an der Societe d'Etudes du Haut-Guir blieben von diesem Vertrag unberührt. Eine "lettre explicative" Peyerimhoffs legte fest, daß das Konsortium allein von französischen Banken gebildet wurde74. 69

Ebda, Schoen an AA, 8.10.1910. Ebda, Schoen an AA, 10.10.1911. 71 Ebda, Reinhard Mannesmann an Peyerimhoff; 25.10. und 27.10.1911. 72 CAN, Berlin A-220, Darcy an Poincare, 20.1.1912, zitiert einen Ausspruch Calllaux^ 73 PA-AA, Marokko 25 Nr. 8a, Bd. 8a, Vorschlag Reinhard Mannesmann vom 28.10.1911, der den Aufbau dieses "Omniums" erhellt, das paritätisch sowohl nach betrieblichen als auch nach nationalen Gesichtspunkten besetzt war: 70

UMM Fransais Allemands Divers sommes 74

22,4 % 8,8 % 8,8 % 40,0 %

MMS 8,8 29,2 2,0 40,0

% % % %

Neutres 12,0 % 5,0 % 3,0 % 20,0 %

totaux 43,2 % 43,0 % 13,8 % 100,0 %

CAN, Berlin A-219, Dossier zu den Verhandlungen, von Conty an de Berckheim in Berlin am 28.11.1911 übersandt. Das Dossier enthält den Accord und den Schriftwechsel vom November 1911.

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Die Mitwirkung Schoens am vorlaufigen Erfolg scheint mcht unerheblich gewesen zu sein Die Unterzeichnung erfolgte, nachdem Schoen im Verem mit Caillaux und de Selves das Mißtrauen der Mannesmanns gegenüber der französischen Regierung zerstreut hatte Das Abkommen selbst sah er als Abwendung einer "penl imminent"75 für beide Lander, was angesichts der Parlamentsdebatten über die Marokkoverhandlungen eme durchaus verständliche Gefuhlslage, wemger aber eme Realität darstellte Schoen erhielt Gluckwunsche von de Selves und die Zusicherung, "auch in anderen Fallen deutsch-franzosischen wirtschaftlichen Zusammenarbeiten auf sem lebhaftes und tatiges Interesse"76 rechnen zu können Schoen gelang es sogar, Darcy zu einem Brief an de Selves zu bewegen, m dem Darcy das Außenministerium um "la plus grande bienveillance possible"77 bei der Anerkennung der Mannesmannschen Minenrechte bat Darcy schilderte nach Abschluß der Affäre im Januar 1912 die Reaktionen beider Botschafter auf die Übereinkunft vom 13 November 1911 Cambon habe die Überzeugung geäußert, damit sei das letzte Hindernis auf dem Weg zum Protektorat beseitigt, und Schoen "me prenait les deux mains et me disait que nous avions sauve son oeuvre de pacification, que sans cet accord le traite franco-allemand eüt ete compromis "78 Der erreichte Kompromiß hatte jedoch mcht lange Bestand Der Comite des Forges de France, der bedeutendste Verband der franzosischen Schwerindustrie, forderte eine Beteiligung am neu entstandenen Omnium, wahrend die Mannesmanns sich weigerten, von ihrem Anteil die Ansprüche der franzosischen Schwerindustrie zu alimentären, die der deutschen Beteiligung an der UMM entsprechend emen Anteil von etwa 20% am MMS erhalten sollte79 Die franzosischen Banken forderten mehr Mitspracherecht im Verwaltungsrat und eine vorrangige Gewinnbeteiligung, weil ihre Fmanzbeteihgung deutlich über ihrem Gesellschaftsanteil lag80 Die Bruder Mannesmann kundigten die Zusammenarbeit am 13 Dezember 1911 schließlich auf, ohne die deutsche Regierung oder die Botschaft davon zu unterrichten Ihr Vorschlag, ein neues Konsortium auf strikt paritätischer Grundlage ohne Beteiligung der Banken zu bilden, wurde abgelehnt81 Die UMM zeigte sich von der neuerlichen überraschenden Wendung "aufs Peinlichste"82 überrascht Sie er75

Ebda, Darcy an de Selves, 15 11 1911 PA-AA, Marokko 25 Nr 8a, Bd 8a, Schoen an AA, 8 11 1911 77 CAN, Berhn A-219, Darcy an de Selves, 15 11 1911, von der Hand Schoens 78 CAN, Berhn A-220, Darcy an Poincare, 20 1 1912 79 MAE, NS Maroc 369, Aufweichung der Direction politique vom 29 11 1911 nach Gesprächen mit dem Comite des Forges de France und Aufzeichnung des Comite des Forges, 2 12 1911 Vgl auch CAN, Berlin A-220, Darcy an Poincare, 20 1 1912 80 MAE, NS Maroc 369, Sitzung der Banken vom 13 12 1911 81 Ebda, Darcy an de Selves, 15 12 1911 82 PA-AA, Marokko 25 Nr 8a, Bd 9, Schoen an Bethmann Hollweg, 30 12 1911 76

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klärte sich bereit, auf der Grundlage der Vorschläge Rathenaus von 1910 neu zu verhandeln, ohne daß sie jedoch den Mannesmanns eine maßgebende Rolle dabei zuerkennen wollte. Vor allem der Plan der Mannesmanns, die Banken auszuschalten, stieß bei der UMM auf Unverständnis, weil sie von diesen im Gegensatz zu den Mannesmanns "les garanties de stabilite, de prudence et de patience particulierement necessaires dans les affaires du genre des nötres"83 erwartete. Die deutsche Botschaft wurde angewiesen, die Verhandlungen nicht als endgültig gescheitert zu betrachten und auf die verständigungsbereiten Elemente in der UMM einzuwirken84. Die Mannesmanns, die von nun an nicht mehr offiziell an den Minenverhandlungen partizipierten, versuchten in den nächsten Jahren, über Kontakte zu französischen Unternehmern ihren Einfluß in Marokko zu behalten. Gerüchte über die Gründung französischer Firmen kamen regelmäßig auf. Im März 1912 teilte Max-Vincent, französischer Anwalt der Mannesmanns, dem Quai d'Orsay mit, eine neue Gesellschaft mit 6 Millionen Francs Kapital sei gegründet worden, mit mehrheitlich französischer Besetzung des Aufsichtsrats85. Am 6. Juni 1913 lag dem Quai d'Orsay, der über den Deputierten Francis Deloncle Kontakt zu den Mannesmanns hielt, ein Vertrag zwischen den Mannesmanns und einer französischen Gesellschaft vor86. Schoen informierte das Auswärtige Amt, daß es sich um eine Finanzgruppe mit dem Credit Lyonnais und der Banque de TUnion Parisienne handle, die sich an einer mehrheitlich dem MMS gehörenden Gesellschaft beteiligen wolle, bei einem französischen Übergewicht im Verwaltungsrat87. Noch im Januar 1914 wurde unter rätselhaften Umständen die Gründung der Compagnie Nouvelle du Maroc angekündigt. Der französische Bankier Bruyant, der beabsichtigte, sich an dem Projekt zu beteiligen, erhielt vom Quai d'Orsay nur vage Auskünfte88. Im März 1914 fragte Max-Vincent nach den Dispositionen der französischen Regierung und behauptete, sie habe im 83

Ebda, Peyerimhoff (UMM) an MMS, 23.12.1911. Ebda, AA (Konzept Rosenberg) an Botschaft Paris, 4.1.1912. 85 MAE, NS Maroc 370, Klotz an Poincare, 27.1.1912, Handelsministerium an Poincare, 30.1.1912, Max-Vincent an Conty, 28.3.1912, Darcy an MAE, 23.4.1912, der über die mögliche Beteiligung des Comptoir d'Escompte de Mulhouse spekulierte. Edouard Fournier, der Protagonist dieser Neugründung, war "Conseiller du Commerce exterieur" in Lyon. 86 MAE, NS Maroc 371, Pichon an J. Cambon, 13.4.1913, Konvention vom 6.6.1913 mit Glossierung Pichons. 87 PA-AA, Marokko 25 Nr. 8a, Bd. 10, Schoen an Bethmann Hollweg, 9.6.1913. 88 MAE, NS Maroc 372 und 373, Note des MAE vom 20.1.1914 ohne Namen der beteihgten französischen Firmen, angeblich deutsche Kapitalmehrheit bei französischem Übergewicht im Verwaltungsrat in einer FirmafranzösischenRechts mit immerhin 50 Millionen Francs Kapital. Du Peyrat empfing Bruyant am 6.2.1914 im Bureau du Maroc des Quai d'Orsay, ohne daß dem Bankier eine ausreichende Auskunft darüber gegeben wurde, wie das Außenministerium zu einer Kooperation mit den Mannesmanns stand. 84

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November 1911 eine entgegenkommende Haltung zu den Planen der Mannesmanns zugesagt89 Die Plane der Mannesmanns, m Kooperation mit franzosischen Firmen ihre marokkanischen Minenrechte zu retten, schlugen schließlich fehl Nach dem Novembervertrag von 1911 stand das deutsch-französische Verhaltms m Marokko auf einer neuen Rechtsgrundlage, und spätestens seit der Errichtung des Protektorats war diefranzosischeVorherrschaft m Marokko besiegelt Dies hatte zur Folge, daß sich pnvate Sondermteressen wie die der Mannesmanns nur noch schwer durchsetzen ließen Nur solange die Mannesmanns durch Anarchie und personliche Einflußnahme beim Sultan freie Hand in Marokko hatten, konnten sie ihre Interessen wider alle politischen Zwange durchsetzen Nun fiel die Frage der Minenrechte wieder m die ausschließliche Verhandlungskompetenz der Regierungen zurück Die Grunde für das Scheitern der Kooperation zwischen den Mannesmanns und der UMM wurden bereits deutlich Wahrend die Regierungen eine Kooperation planten und die Unternehmen immer wieder zur Neuaufnahme der Verhandlungen drängten, beteiligte sich die UMM nur widerstrebend und beabsichtigte lediglich, die Ansprüche der franzosischen Regierung zu erfüllen, um sich selbst den wirtschaftlichen Erfolg zu garantieren " nous voulons bien creer une association d'interets pnves, nous ne voulons pas creer une association d'agitations pohtiques contre Tun quelconque des gouvernements "90 Die pnvatwirtschaftlichen Interessen waren jedoch durch die Forderungen des Comite des Forges und der Bankengruppe so verschiedenartig, daß eine Einigung auf Unternehmerseite unmöglich wurde Schließlich verhinderte die kompromißlose Agitation der Bruder Mannesmann sowohl gegen die franzosische als auch gegen die deutsche Politik eme schiedhche Losung des Problems Im Frühjahr 1913 unterzeichneten Spamen und Frankreich ohne Beteiligung des Deutschen Reiches den "Reglement mimer" Dagegen protestierte das Auswärtige Amt, weil es der Auffassung war, die am 7 Juni 1910 geschlossene Vereinbarung zwischen England, Deutschland, Spamen und Frankreich besitze noch Gültigkeit und das neue Minengesetz bedürfe daher der deutschen Zustimmung91 Die franzosische Regierung vertrat dagegen die Auffassung, der Novembervertrag habe Frankreich politisch freie Hand m Marokko gegeben und das Deutsche Reich sei durch die "lettre interpretative" Kiderlens vom 4 November 1911 gebunden92 In emer Note vom 3 Mai 1913 pra-

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MAE, NS Maroc 373, Max-Vincent an MAE, 9 3 1914 CAN, Berlin A-219, Darcy an de Selves, 15 111911 91 CAN, Berlin C-135, Pichon an J Cambon, 28 4 1913 und Konzept einer Note Cambons an Jagow, 8 5 1913 92 GP 10774, Kiderlen-Wächter an J Cambon "L'adhesion du Gouvernement Allemand, accordee d'une maniere generale au Gouvernement Francis par Tarticle I de la dite 90

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zisierte die deutsche Regierung ihre Haltung und forderte die Zustimmung des diplomatischen Corps in Tanger. Im Gespräch mit Paleologue betonte Schoen den juristischen Charakter der Note, lehnte jedoch den Rückgriff auf das Schiedsgericht in Den Haag ab93. Auf Drängen der französischen Regierung legte das Auswärtige Amt die deutsche Haltung noch einmal fest. Gegen die französische Interpretation des Novembervertrages führte die deutsche Regierung die gleichberechtigten wirtschaftlichen Interessen an, die Frankreich dem Deutschen Reich 1911 zugestanden hatte. Der grundsätzliche Unterschied in der Regelung von Konfliktfällen zwischen dem Abkommen von 1910 und den Entwürfen von 1913 lag in der Konstruktion der Kommission, die im ersten Fall unabhängig, im zweiten aber nach Wahl des Maghzens "arbitrairement composee"94 vorgesehen war. Die neuen Regelungen seien nicht nur von den Protektoratsmächten, sondern durch multilaterale Verhandlungen zu beraten und im Zweifelsfall, hier hatte sich die deutsche Position entscheidend modifiziert, durch das Haager Schiedsgericht zu entscheiden95. Schoen schlug vor, die Frage von Kriege und Renault, den Fachmännern für internationales Recht in den Stäben der Außenministerien, beraten zu lassen96. Pichon erweiterte das Gremium um einen spanischen Vertreter97. Anfang Juli kamen Kriege und Renault überein, die Minenfrage durch eine internationale Kommission zu lösen, um die von beiden Seiten wenig geschätzte Arbitrage in Den Haag zu vermeiden. Mit dieser Regelung ließ sich auch die Konsulargerichtsbarkeit der einzelnen Mächte in Marokko umgehen, deren Existenz umstritten war, weil die französische Regierung gemäß Artikel 9 des Marokkovertrags beabsichtigte, ihre alleinige Gerichtshoheit in Marokko durchzusetzen98. Renault willigte in die internationale Arbitrage ein, aber das Außenministerium zögerte und schien die Arbitrage auf Forderungen von Ausländern gegenüber dem Maghzen beschränken zu wollen, was nichts anderes bedeutet hätte, als daß die zahlreichen Streitigkeiten zwischen Ausländern um Minenrechte ausgeschlossen gewesen wären. Dagegen erhob Mes Cambon heftigen Wider-

convention, s'applique naturellement ä toutes les questions donnant matiere ä reglementation et visees dans Tacte d'Algeciras." 93 MAE, NS Maroc 371, Note verbale vom 3.5.1913. 94 Ebda, Note Renaults ohne Datum, etwa Ende Juni 1913. 95 CAN, Berlin C-135, Deutsche Note vom 9.6.1913. 96 Kriege war Direktor der Rechtsabteilung des AA und Teilnehmer der Haager Friedenskonferenzen, Renault übte neben seiner Professorentätigkeit in Paris eine Funktion als Rechtsberater des MAE aus und war Mitglied der Cour Permanente d'arbitrage de La Haye. 97 MAE, NS Maroc, 371, Pichon an J. Cambon, 12.6.1913. 98 Ebda, Note Krieges Anfang Juli 1913. "H [le gouvernement allemand] a droit au maintien de ses juridictions consulaires tant qu'une entente ne sera pas intervenue pour leur suppression conformement ä l'article 9 de Taccord."

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spruch und erläuterte die negativen Folgen der zögerlichen Haltung semer Regierung "Un perimetre est dispute entre les Mannesmann et des Francds, si le litige n'est pas regle par la commission arbitrale, mais reste soumis ä la juridiction consulaire, on ne sortira pas facilement d'embarras, chacun voulant se laisser poursuivre pour avoir le benefice de sa propre juridiction consulaire H est d'un mteret general que les anciens Utiges soient regles le plus vite possible par une juridiction non suspecte Jinsiste sur ce point parce que si le Departement persistait dans sa maniere de voir, l'accord me paraitrait impossible *'99

Pichon zeigte sich mit Cambons Einwendungen einverstanden, sah die Ausweitung der Arbitrage auf Auslander allerdings als "preuve de large espnt de concihation"100 an und betonte, daß die Arbitrage nur auf bereits akute Konflikte, mcht aber auf zukunftige Streitfalle angewendet werden solle Die Verhandlungen zwischen den drei Staaten fanden vom 27 Juni bis zum 26 Juli 1913 in Berlin statt und stellten keine offiziellen Verhandlungen im volkerrechtlichen Sinn dar, sondern lediglich offiziöse Gespräche, deren Schlußprotokoll jedoch in den spanisch-franzosischen "Reglement minier" und die zusatzliche schiedsgerichtliche Regelung der "Litiges mimers" eingehen sollte Da im Herbst 1913 weitere offene Fragen, etwa zum Sitz der Kommission und zur Kostenerstattung für ihre Inanspruchnahme, geklart worden waren, traten beide Dekrete am 19 Januar 1914 in Kraft das Minenreglement als bindendes Gesetz für die Zukunft und die Arbitrageregelung für alle vergangenen Streitfragen101 Im "Reglement Mimer" wurde das Minenrecht in einer für internationale Bewerber offenen Weise festgeschrieben Die Arbitrage sollte durch ein Gremium erfolgen, in dem Vertreter der betroffenen Nationen, des Maghzen und ein "Surarbitre" saßen, der vom Komg von Norwegen aus semer Verwaltung bestimmt wurde Diese Kommission tagte m Pans und setzte sich aus Vertretern der Signatarstaaten von Algeciras zusammen102 Eme Statistik, die Jules Cambon am 13 Juni 1914 von der Sous-direction d'Aihque übersandt wurde, zeigt, daß die Interessenten die Arbitrage-Regelung schnell zu nutzen 99

Ebda, J Cambon an Pichon, 117 1913 (Hervorhebungen im Original unterstrichen) Ebda, Pichon an J Cambon, 11 7 1913 101 CAN, Berlin C-135, Bulletin Officiel du Protectorat de la Republique Francaise au Maroc, 30 1 1914 I Dahir portant reglementation pour la recherche et l'exploitation des Mines dans la zone du Protectorat francais de rEmpire Cherifien, II Dahir portant reglementation pour la Solution des Utiges miniers qui ont une cause anterieure ä la Promulgation du Dahir sur les mines en date du 19 janvier 1914 102 Le Matin, 6 5 1914, veröffentlichte die Liste der Mitglieder, die seit April in der Kommission arbeiteten Gram (Norwegen), Renault (Frankreich), Du Peyrat (Protectorat), Prida (Spanien), Gonzalez-Hontoria (Protectorat), Gneist (Deutsches Reich, deutscher Konsul in Rotterdam), Wagner (Österreich-Ungarn) und weitere Vertreter Italiens, Portugals, der USA, Belgiens, Großbritanniens, Schwedens und der Niederlande 100

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verstanden. Die Kommission, die bis zum Krieg keine effektive Arbeit mehr leisten konnte, zählte 288 Reklamationen für die französische Zone, darunter 100französischeund 142 deutsche, die wiederum beinahe ausschließlich von den Mannesmanns und ihren Gesellschaften eingereicht worden waren103. Die Konzentration deutscher und französischer Interessen in der französischen Zone zeigt, wie sehr die Frage der Minenrechte de facto ein deutsch-französisches Problem darstellte, das nun, im Frühjahr 1914, gelöst zu sein schien. Es wird deutlich, daß in dem komplexen Verhältnis von Wirtschaftsverbänden, Unternehmen und Politik in Marokko kein Muster existierte, das Regierungen oder Unternehmer auf ein bestimmtes spannungsminderndes oder -verschärfendes Verhalten festlegte. Die Agitation der Mannesmanns wurde durch die politische Regelung dieser nur scheinbar rein wirtschaftlichen Problematik entschärft. Die Affäre Mannesmann, die als Name für eine ganze Periode wirtschaftlicher Konflikte in Marokko steht, ging in die neuen internationalen Regelungen ein und fand damit ihren Abschluß. Mit der Arbitrageregelung fanden beide Regierungen außerdem ein Instrument, um in Fragen zweiten Ranges ihre Interessen durchzusetzen. Die französische Regierung sah in der Regelung sogar "eine Ermutigung zum Einschlagen dieses Weges in etwaigen ähnlichen Fällen" i°4.

2.1.2. Die zweite Marokkokrise: Koloniale Kompensation und nationale Konfrontation Wie kein anderes Ereignis gilt die Agadir-Krise als wichtiger Einschnitt in den deutsch-französischen Beziehungen vor dem Ersten Weltkrieg, aber auch für die Entwicklung der internationalen Beziehungen der Großmächte in Europa. Die französische Regierung hatte sich im April 1911 zu einem militärischen Eingreifen in Marokko entschlossen, um Leben und Eigentum der in Marokko seßhaften Franzosen zu sichern. Dieses Vorgehen stellte solange keinen Anlaß zu einer Reaktion dar, wie die französische Regierung eine längere militärische Okkupation des Landes vermied105. In seiner Aufzeichnung vom 3. Mai 1911 legte der Staatssekretär des Äußeren, Alfred von Kiderlen-Wächter, die

103

CAN, Berlin C-135, Sous-direction d'Afrique an J. Cambon, 13.6.1914. Allein 105 Anträge entfielen auf die Marokko-Minen-Gesellschaft, 17 auf die Hamburg-MarokkoGesellschaft und weitere auf die Brüder Mannesmann persönlich. Die weiteren Anträge verteilten sich auf Frankreich (100), Großbritannien (17), Belgien (5), Spanien (6), Holland (10), Portugal (2), USA (4), unbekannt (2). 104 PA-AA, Marokko 25 Nr. 8a, Bd. 10, Schoen an Bethmann Hollweg, 6.8.1913. 105 Vgl. ALLAIN, Jean-Claude, 1911: L'annee du Maroc. La marche sur Fes, in: RI 4 (1975), S. 21-38.

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Erwartungen und Optionen der deutschen Politik fest106 Er erwartete, daß die franzosische Regierung langfristig m Nordafrika gebunden und damit der zentrale Punkt der Algeciras-Akte, die gememsame europaische Politik unter Wahrung der formalen Selbständigkeit des Sultanats, außer Kraft gesetzt sem wurde Mogador und Agadir wurden als mögliche Orte für eme deutsche Aktion in Betracht gezogen, die mit dem Schutz deutscher Interessen gerechtfertigt werden sollte "Im Besitz emes solchen Faustpfandes wurden wir die weitere Entwicklung der Dinge m Marokko in Ruhe mitansehen und abwarten können, ob etwa Frankreich uns m semem Kolonialbesitz geeignete Kompensationen anbieten wird "107 Als Begründung dafür, warum sich das Deutsche Reich mcht damit zufrieden geben sollte, daß erhebliche militärische Kräfte Frankreichs in Marokko gebunden waren, wies Kiderlen auf die Chance hin, "der Marokkoangelegenheit eme Wendung zu geben, die die früheren Mißerfolge vergessen machen konnte "108 Probleme von selten Englands erwartete Kiderlen mcht, weil die genannten Hafen zu weit vom Mittelmeer entfernt seien Die Hoffnung auf koloniale Kompensationen wurde durch Äußerungen Caillaux' und Jules Cambons genährt, Frankreich werde für die Anerkennung seiner Rechte in Marokko zu anderweitigen Zugestandnissen bereit sein, obwohl Caillaux zu diesem Zeitpunkt lediglich Fmanzmrmster war109 Zwei wichtige Voraussetzungen sah Unterstaatssekretar Zimmermann als erfüllbar an Der englischen Regierung sollte klargemacht werden, daß Deutschland zum Preis geeigneter Kompensationen zu Verhandlungen bereit sei Die öffentliche Meinung glaubte er mit der Absichtserklärung beruhigen zu können, daß "wir durchaus mcht die Absicht haben, Frankreich und Spamen in Marokko Schwierigkeiten zu machen"110 Unberücksichtigt blieben die Interessen und Optionen Frankreichs, wie auch konkrete Kompensationsvorschlage fehlten, die offenbar seitens der franzosischen Regierung erwartet wurden Vielleicht nahm man aufgrund der Äußerungen Caillaux' und Cambons an, sie werde schnell zu Gesprächen bereit sein, vielleicht spielte diese Überlegung aber auch keine Rolle, weil eine Drohpolitik gegenüber Frankreich als beste Garantie für den Erfolg der Aktion angesehen wurde Aber auch in der Reichsleitung blieb der Kreis der Emgeweihten denkbar klein Bis auf die von Kiderlen instrumentalisierten Mitarbeiter der HamburgMarokko-Gesellschaft und verschiedener in Marokko tatiger Unternehmen 106

GP 10549, Aufzeichnung Kiderlen-Wachter, 3 5 1911 Das Dokument geht auf ein Konzept Langwerths von Simmern und Zimmermanns zurück, erhielt aber von Kiderlen seine entscheidende Prägung und diente als Grundlage für die Zustimmung des Kaisers 107 Ebda 108 Ebda 109 GP 10554, Schoen an AA, 7 5 1911, GP 10555, Schoen an Bethmann Hollweg, 7 5 1911, GP 10575, Bethmann-Hollweg an Schoen, 16 6 1911 110 GP 10572, Aufzeichnung Zimmermanns, 12 6 1911

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spielten industrielle Interessen für Kiderlens Entscheidung keine Rolle. Auch Reichskanzler und Kaiser waren nur bedingt von Ablauf und Zielsetzung der Aktion unterrichtet und verstanden kaum die komplexe und gleichzeitig widersprüchliche Strategie Kiderlens, unter Einsatz militärischer Drohmittel machtpolitische Ziele auffriedlichemWege zu erreichen111. Die französische Regierung zeigte sich überrascht und verärgert über die deutsche Aktion, zumal Kiderlen in seinen Gesprächen mit Cambon in Kissingen am 20./21. Juni keinerlei Andeutung darüber verloren hatte. Die Verärgerung milderte sich nicht dadurch, daß die deutsche Regierung über ihre Botschaft in Paris die beruhigende Devise ausgab, man habe nicht die Absicht, "de creer des difficultes au Gouvernement frai^ais"112 und wolle bald in Verhandlungen eintreten. Jules Cambon, der als gemäßigter Vertreter der französischen Deutschlandpolitik galt, hatte bereits Anfang Juni 1911 angeregt, die marokkanische Frage entgegenkommend zu regeln. Die Grenzen und Möglichkeiten kolonialer Verhandlungen traten gleichwohl zutage, wie Cambon gegenüber Bethmann Hollweg betonte: "... il n'y aura jamais d'entente cordiale entre nous; nous sommes divises par une question que, ni vous, ni nous, ne pouvons aborder, mais, ces premisses posees, ü me semble que nous pourrions examiner les questions qui nous interessent les uns et les autres et donner ä l'opinion francaise, et chercher ä l'opinion allemande les satisfactions qui permettraient ä cette derniere de voir sans inquietude le fruit du Maroc mürir pour la France: ainsi les difficultes graves qui vous preoccupent comme un peril toujours imminent au sujet du Maroc seraient ecartees.M113

Das deutsche Vorgehen schockierte Cambon so sehr, daß er sich im Gespräch mit Schoen erregte, "combien j'etais personnellement Messe d'une mesure de cette nature"114. Cambon gab zu, das deutsche Vorgehen in einer ungewöhnlichen Gefühlsregung als "cochonnerie"115 qualifiziert zu haben. Im folgenden sollen weder der Ablauf der Krise noch die innenpolitischen Entscheidungsprozesse und territorialen Forderungen rekonstruiert werden, 111

Bezeichnend für die Position Wilhelms II. sind seine Anmerkungen zu einem Bericht Bethmann Hollwegs über diese ersten Gespräche. Ungeduldig erklärte der Kaiser: "Diese Art von Diplomatie ist für mein Hirn zu fein und zu hoch!" (GP 10600). Kiderlen gab in einem Brief an die Baronin de Ioannina am 19.7.1911 an, er habe am liebsten "richtig" daruntergesetzt (FNSP, ERJC 1-Nr. 8: Kiderlen-Wächter an Marina de Ioannina, 19.7.1911). Vgl. ONCKEN, Panthersprung, S. 146-218; Kurt Riezler. Tagebücher, Aufsätze, Dokumente, eingel. u. hg. von Karl Dietrich ERDMANN, Göttingen 1972, Dok. 511, 29.7.1911. 112 DDF 2, XIV-2, Aufzeichnungen aus dem Quai d'Orsay, 1.7.1911. 113 Ebda, Xm-349, J. Cambon an Cruppi, 11.6.1911. 114 Ebda, XIV-42, Jules Cambon (der sich in Paris aufhielt) an Caillaux, 7.7.1911. 115 Ebda. Interessant ist, daß Schoen diese Entgleisung des französischen Botschafters nicht erwähnte und nur festhielt, Cambon fühle sich wegen der Gespräche in Kissingen persönlich betroffen und in seinem guten Willen beeinträchtigt (GP 10595, Schoen an AA, 6.7.1911).

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sondern nach den Gründen gesucht werden, die ausschlaggebend dafür waren, daß das vom Auswärtigen Amt beabsichtigte Ziel erreicht wurde, bilaterale Verhandlungen mit Frankreich über eine koloniale Kompensation aufzunehmen. Darüber hinaus sollen die entspannenden Momente der deutsch-französischen Verhandlungen und die damit verbundenen Risiken und langfristigen Folgen untersucht werden. Ein positiver Aspekt ergab sich aus dem guten persönlichen Verhältnis der Verhandlungsfuhrer, Jules Cambon und Kiderlen-Wächter. Das CasablancaAbkommen von 1909, für das Schoen und Radolin das Kreuz der Ehrenlegion erhalten hatten, war im wesentlichen von Cambon und Kiderlen ausgearbeitet worden. Schmeichelnd schrieb Kiderlen später: "C'est du reste, comme ä Constantinople, avec Tambassadeur de France, que je m'entends le mieux. Les Fransais veulent vraiment la paix, je le crois."116 In seinen Aufzeichnungen sprach Kiderlen in der Regel von "Jules" und wurde während der AgadirKrise von Wilhelm II. aufgefordert, seine guten Beziehungen zum französischen Botschafter zu nutzen und "de votre ami Jules"117 zu berichten. Dieses seit 1909 gewachsene Verhältnis wurde von Kiderlen leichtfertig aufs Spiel gesetzt, als er Cambon über die deutschen Pläne in Marokko im unklaren ließ. Am 9. Juli, nach Cambons Rückkehr nach Berlin, kam es zum ersten Gespräch mit Kiderlen seit dem Treffen in Bad Kissingen118. Kiderlen beschrieb die "Leichenbittermiene" seines Gesprächspartners und die längeren Phasen des Schweigens in der Konversation. Nach einigen von Cambon vergeblich in das Gespräch eingebrachten Kompensationsfeldern in Kleinasien kam das Gespräch auf den französischen Kongo und den deutschen Togo, während Kiderlen territoriale Ansprüche in Marokko ausdrücklich negierte. Das Gespräch endete in freundlicher Stimmung und legte den Grundstein für die weiteren Verhandlungen. Beeindruckt von diesem Gespräch und mit wiedergewonnenem Optimismus schrieb Cambon an Fallieres, eine Lösung könne mit "un peu de bonne volonte et de largeur d'esprit" erzielt werden, vorausgesetzt, der Quai d'Orsay sei bereit, "d'apporter ä cette täche plus de doigt6 qu'on ria coutume d'en montrer dans les bureaux ä Paris."119 Die von Jäckh überlieferten Grußadressen nach Abschluß der Verhandlungen brachten dieses persönliche Verhältnis zum Ausdruck, aber auch die Ambivalenz in den Beziehungen der Diplomaten. Freundschaftlich verabschiedeten sich die Ver116 JÄCKH, Kiderlen-Wächter, Bd. 2, S. 25, Kiderlen-Wächter anfranzösischeDiplomatenfrau (unbekannt), 7.3.1909. 117 FNSP, ERJC 1, Dossier 1, Nr. 10, Kiderlen-Wächter an Marina de Ioannina, 29.7.1911. 118 GP 10598, Aufzeichnung Kiderlen-Wächters vom 9.7.1911; DDF 2, XIV-51, J. Cambon an de Selves, 10.7.1911: Cambon äußerte sich hofihungsvoll: "[une] demente soudaine, qui peut permettre d'esperer une Solution satisfaisante aux difficultes presentes." 119 FNSP, ERJC 1, Dossier 1-5, J. Cambon an Fallieres, 10.7.1911.

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handlungspartner und überreichten sich gegenseitig Photographien ihrer selbst. Jules Cambon versah sie mit der Aufschrift: "ä mon terrible ami!", worauf Kiderlen erwiderte: Hä mon aimable ennemi!"120 Die gute Kenntnis Cambons der Person Kiderlen-Wächter schlug sich in einer sehr persönlichen Charakterisierung anläßlich Kiderlens Tod nieder: "M. de Kiderlen etait un homme ä l'esprit net aux mceurs faciles, au langage pittoresque, et qui avait rhorreur de la vie officielle. Ses propos dans rintimite, quand il parlait des Princes, etaient d'une incroyable liberte. Dans les affaires il apportait une certaine negligence: il n'en aimait pas les details. Je Tai souvent entendu maudire ses bureaux, et bien qu'ü eüt de la finesse et meme de la subtilite, il redoutait l'esprit juridique. Pai vu M. de Kiderlen se hvrer ä des acces de colere qui depassaient toujours le but: il revenait vite ä la mesure."121

Stärker als die persönlichen Beziehungen fiel die Haltung der französischen Regierung ins Gewicht. Die von der deutschen Regierung erhoffte Bereitschaft zu kolonialer Kompensation wurde nicht enttäuscht. Die nach dem 1. Juli geführten Gespräche überzeugten die deutsche Regierung davon, daß Caillaux nicht nur zu Verhandlungen bereit war, sondern auch die deutsche Argumentation vom Ende der Algeciras-Akte zu akzeptieren schien. Caillaux stellte allerdings die Bedingung, eine Landung deutscher Truppen zu vermeiden122. Zu diesem Zeitpunkt mußte die französische Regierung außerdem darüber entscheiden, ob Präsident Fallieres wie geplant zu einem Staatsbesuch in die Niederlande reisen sollte. Die französische Regierung entschied sich für die Durchfuhrung des Besuchs und versuchte, Normalität zu demonstrieren und den Eindruck zu erwecken, daß Frankreich sich von der deutschen Politik nicht einschüchtern lasse. Die entscheidenden Gespräche führte Jules Cambon im Pariser Außenministerium mit dem noch zögernden Caillaux, den er von den nützlichen Wirkungen dieser Maßnahme überzeugen konnte123. Der gewünschte Effekt trat ein. Verschiedene Zeitungen sahen in der Reise einen Beleg dafür, daß die Affäre nicht so ernst sei124. Da Fallieres von Außenminister de Selves begleitet wurde, übernahm Caillaux bis zum 7. Juli auch die Geschäfte im Außenministerium. Am 4. Juli legte er in einem Brief an Jules 120 JÄCKH, Kiderlen-Wächter, Bd. 2, S. 140 f. Diese Darstellung wird untermauert durch den Artikel von Genevieve TABOUIS (eine Nichte Cambons), A Berlin avec Jules Cambon, in: RDDM 5, 15.10.1958, S. 635-653. "Face au canape, une table d'acajou basse. Sur eile, une seule Photographie ... Longue dedicace enfrancais:'A son terrible adversaire et eher ami, Jules Cambon, en souvenir des lüttes acharnees et agreables par la personne du hitteur, pendant Tete 1911. Tout est bien quifinitbien!' signe: Kiderlen." (S. 642). 121 DDF 3, V-173, Jules Cambon an Poincare, 4.1.1913. 122 GP 10585, Schoen an AA, 2.7.1911 und 10686, Schoen an BH, 3.7.1911. 123 MAE-PAAP, 043-51, Notes sur le voyage ä Paris, 22.6.-8.7.1911. l24 f L Eclair, 4.7.1911 (Arren): "Tout cela laisse supposer qu'il y a dans toute cette aflfaire surtout des marchandages menes ä l'allemande et que Mercure, dieu du business, y preside plutöt que Mars, dieu de la guerre."

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Cambon die Politik der französischen Regierung fest. Jules Cambon wurde beauftragt, die Ziele der deutschen Regierung herauszufinden und die Möglichkeit eines weitgehenden deutsch-französischen Ausgleichs in bilateralen Verhandlungen zu besprechen: "II s'agirait alors d'une conversation generale tendant ä aplanir entre l'Allemagne et nous le plus grand nombre possible des difficultes qui nous divisent presentement sur divers points du globe."125 Schwieriger war die Entscheidung über die Entsendung eines französischen Kriegsschiffs. Ein solcher Schritt, den das Auswärtige Amt in seinen Planungen nicht in Betracht gezogen hatte, beinhaltete die Möglichkeit einer unkontrollierbaren Eskalation der Krise. Caillaux wandte sich daher gegen jede überstürzte Handlung und wies die Botschaften in Berlin, Madrid, Rom, London, Den Haag und St. Petersburg an, äußerste Zurückhaltung zu wahren. Der englischen Regierung gegenüber sollte nicht mehr von der Entsendung eines Schiffes gesprochen werden126. Aus verhandlungstaktischer Sicht handelte es sich um eine besonnene Reaktion, weil der deutschen Regierung der Vorwand genommen wurde, diefranzösischeRegierung wolle einen Krieg um Marokko provozieren127. Mit diesem Entscheidungsprozeß am Quai d'Orsay hing die Haltung der englischen Regierung eng zusammen. Grey bestätigte Paul Cambon, England sehe sich von der marokkanischen Frage weiterhin betroffen. Die Entsendung eines Schiffes lehnte Grey ab, nachdem er zunächst der gegenteiligen Ansicht Paul Cambons zugeneigt gewesen war128. Der moderaten Haltung gegenüber dem Ententepartner entsprach die Mahnung an die deutsche Regierung, die britische Haltung könne keine desinteressierte sein129. Ungeachtet dieser Warnung zögerte Kiderlen-Wächter eine konkrete Kompensationsforderung bis zum 15. Juli hinaus. Zwei Wochen waren seit der Ankunft des "Panthers" in Agadir vergangen, ohne daß die Verhandlungen tatsächlich begonnen hatten. Als Kiderlen schließlich die Forderung stellte, Frankreich solle den ganzen Kongo abtreten, war der Eindruck in Paris und London denkbar ungünstig130. Die Mansion-House-Rede Lloyd Georges muß als Reaktion auf die fehlenden Ergebnisse dieser Präliminargespräche und die nach englischer An125

MAE, NS Allemagne 34, Caillaux an J. Cambon, 4.7.1911. DDF 2, XIV-18, Caillaux an die Botschafter in den genannten Städten, 4.7.1911. 127 FNSP, ERJC 1, Dossier 2, Interrogatoire du 7 mars 1919. Caillaux behauptete hier zu seiner Rechtfertigung, de Selves habe auf den Rat Contys bei der englischen Regierung angefragt, ob sie sich der Entsendung eines Schiffes nach Mogador oder Agadir anschließen werde. Mit dieser Initiative sei der Bruch zwischen dem zur Mäßigung ratenden Jules Cambon und de Selves vollzogen worden. 128 BD 7,1-351, Grey an Bertie, 3.7.1911; DDF 2, XIV-26, Paul Cambon an Caillaux, 5.7.1911, XIV-28, Paul an Jules Cambon, 5.7.1911. 129 B D 7^ i-3565 Grey an Graf de Salis zu einem Gespräch mit Metternich, 4.7.1911. 130 GP 10607, Bethmann Hollweg an Wilhelm II., 15.7.1911; vgl. BARRACLOUGH, Geoflrey, From Agadir to Armageddon, Anatomy of a Crisis, London 1982, S. 126-130. 126

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sieht überzogenen deutschen Forderungen gesehen werden. Lloyd George verdeutlichte die Entschlossenheit der englischen Regierung, eine Verhandlungslösung durchzusetzen und eine Demütigung des Bündnispartners zu verhindern, was zu heftigen antienglischen Ausbrüchen in der deutschen Presse führte131. Die Haltung Greys hinsichtlich der Entsendung eines Schiffes blieb jedoch auch zu diesem Zeitpunkt unverändert, weil Grey darin die Vorstufe einer Eskalation sah. Außerdem hatte die englische Regierung bereits am 20. Juli unmißverständlich klargemacht, daß selbst eine Landung deutscher Truppen in Marokko nicht als Casus belli gesehen werde, weil sie Marokko nicht mehr als "vital to british interests"132 sah. Die englische Politik wirkte also in beiden Richtungen mäßigend und versuchte, einerseits die deutschen Forderungen zu mildern und andererseits die französische Kompromißbereitschaft zu erhöhen133. Die Funktion Englands für die Beziehungen der rivalisierenden Kontinentalmächte läßt sich daher mit dem Begriff "balancer"134 treffend beschreiben. De Selves versuchte allerdings, die englischen Interessen als Druckmittel gegen die deutsche Regierung einzusetzen und drohte damit, das Scheitern der Verhandlungen werde eine internationale Konferenz zur Folge haben, worin aufgrund der schlechten Erfahrungen in Algeciras ein wirksames Druckmittel gegenüber der Reichsleitung bestand135. Eine größere Kohärenz der deutschen Verhandlungsposition folgte daraus allerdings nicht. Zwar befleißigte sich Kiderlen-Wächter in den folgenden Gesprächen mit Jules Cambon eines gemäßigten Tons, bestätigte somit den Eindruck, den die Rede Lloyd Georges hinterlassen hatte, und bot zudem am 23. Juli Togo als weitere deutsche Kompensation an, um eine Abtretung des Kongogebietes für Frankreich annehmbar zu machen136, zog jedoch seinen eigenen Vorschlag Mitte August unter dem Vorwand wieder zurück, die öffentliche Meinung werde sich mit einer derartigen Abtretung nicht abfinden137. Der Eindruck, den die mangelnde Transparenz der deutschen Politik und das Ausbleiben konkreter Ergebnisse nach mehreren Wochen des Wartens und zäher Verhandlungen in Frankreich hervorriefen, war fatal, denn Caillaux 131

Vgl. WERNECKE, Weltgeltung, S. 26-66. DDF 2, XIV-87, Note der englischen Botschaft, 20.7.1911. 133 Ebda, XIV-118, Paul Cambon an de Selves, 28.7.1911; vgl. GREY, Lord Edward, Fünfundzwanzig Jahre Politik 1892-1916, München 1926, Bd. 1, S. 225 ff 134 SHEEHAN, Michael, Balance of Power. History and Theory, London/New York 1996, S. 65-71. 135 DDF 2, XIV-108, de Selves an J. Cambon, 26.7.1911. 136 Ebda, XIV-97, J. Cambon an de Selves, 24.7.1911 zum Gespräch vom 23.7.; vgl. GREY, Fünfundzwanzig Jahre Politik, S. 217-224, 231-234. Der Darstellung Greys widerspricht A.J.P. Taylor, der die Rede Lloyd Georges eher als Warnung an die Adresse Frankreichs als an Deutschland beurteilt hat: vgl. TAYLOR, Alan John Percivale, The Struggle for Masteiy in Europe 1848-1918, Oxford 1954, S. 471. 137 DDF 2, XIV-186, J. Cambon an de Seves, 17.8.1911. 132

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zeigte sich verärgert "II faut qu'on se rende compte, en Allemagne, que le pays que nous sommes ne supportera pas longtemps certaines fa9ons et certames brutalites "138 Auch in der Beurteilung der Verhandlungsbereitschaft der neuen franzosischen Regierung unterlag Kiderlen-Wachter schweren Fehleinschätzungen, denn die Politik Caillaux' beruhte mcht nur auf semem Willen, mit Deutschland zu einem friedlichen Ausgleich zu kommen Sem Handeln laßt sich mcht als idealistische Friedenspolitik charakterisieren, die willfährig gegenüber deutschen Forderungen gewesen wäre Vielmehr bildeten Motive und Ziele Caillaux' ein Bündel aus idealistischen und machtpolitischen Ambitionen, denn er orientierte sich sehr wohl an den militärischen Möglichkeiten Frankreichs, m emem Krieg gegen das Deutsche Reich bestehen zu können Seine Entscheidung, m Verhandlungen einzutreten bzw diese im August 1911 mcht abzubrechen, resultierte aus der Einschätzung Joffres, Frankreich habe im Ernstfall keine 70%-Siegchance139 Auch die politischen Ansprüche Frankreichs in Nordafrika standen für Caillaux mcht zur Debatte Es blieb in seiner Amtszeit ein vorrangiges franzosisches Ziel, Marokko für Frankreich zu gewinnen und Konkurrenten wie das Deutsche Reich und Spamen auszuschalten140 Aus diesen primären Zielen franzosischer Außenpolitik, in Kontinuität seit Delcasse, ergab sich zwar eme erhöhte Konzessionsbereitschaft, aber mcht um den Preis einer außenpolitischen Demütigung durch allzu weitreichende Forderungen, wie sogar Wilhelm II zugeben mußte141 Auch Jules Cambon forderte, obwohl er weiterhin für eme flexiblere, deutsche Wunsche mcht a priori ablehnende Verhandlungsstrategie des Quai d'Orsay eintrat, wahrend der Verhandlungskrisen im August und September, m Übereinstimmung mit der englischen Regierung, eme emdeutige Schuldzuweisung für den Fall des Abbruchs der Verhandlungen " il est indispensable que la responsabihte de la rupture mcombe ä l'Allemagne, sans conteste possible, car autrement, meme l'appui de l'Angleterre nous ferait defaut "142 Erschwert wurden die Verhandlungen aber mcht nur durch die "bedenkliche Duplizität"143 der Politik Kiderlens zwischen Drohung und Kompromiß, sondern auch durch die offenkundigen Memungsverschiedenheiten am Quai d'Orsay, die mit den verschiedenen Auffassungen zusammenhingen, die dort über die Deutschlandpolitik herrschten 138

Ebda, XIV-144, Caillaux an J Cambon, 4 8 1911 JoFFRE, Joseph Jacques, Memoires du Marechal Joflfre (1910-1917), Paris 1932, Bd 1, S i 5 f , v g l ALLAIN, Agadir, S 370 140 DDF 2, XIV-144, Caülaux an J Cambon, 4 8 1911 141 GP 10608, Treutier an Bethmann Hollweg, 17 7 1911 142 FNSP, ERJC 1, Dossier 5, Nr 37, J Cambon an Caillaux, 16 9 1911, vgl GREY, Fünfundzwanzig Jahre Politik, S 225 f 143 MOMMSEN, Wolfgang J, Burgerstolz und Weltmachtstreben 1890-1918 (Propyläen Geschichte Deutschlands), Berlin 1995, S 463 139

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"Je ne sais plus ce que veut le Gouvernement que je represente: je sens entre ses membres des divisions aigues et la presse est employee manifestement par certains fonctionnaires ä combattre ce que je crois les intentions memes du chef du Gouvernement: je devine dans certaines des Instructions qui me sont donnees le desir de faire peser sur moi les responsabihtes dont on veut se degager. On redige des documents diplomatiques avec le tatillonage et l'esprit de defiance d'un huissier de campagne."144

Waren die offiziellen Verhandlungen auf beiden Seiten schon von Widersprüchen, Abstimmungsproblemen und Verzögerungen gekennzeichnet, sollte der Novembervertrag nachträglich durch einen weiteren Punkt belastet werden: die Aufnahme informeller Verhandlungen, die durch Einschaltung Lanckens, Fonderes und einiger Vertreter der Hochfinanz (Gunzbourg) zustandekamen. Verhandlungstechnisch ergaben sich aus den informellen Kontakten zwei Wirkungen, die widersprüchlich erscheinen. Auf der einen Seite stellten sie durchaus ein probates Mittel dar, um jeweilige Ansprüche ohne Verbindlichkeit auszutauschen, also weniger ein Druckmittel als eine vermittelnde Zwischeninstanz145, auf der anderen Seite ließ sich, durch das imperative Mandat für Lancken und Fondere, die Unveränderbarkeit eigener Forderungen unterstreichen und durch die stets notwendige Rücksprache zudem immer auf die Zuständigkeit der politischen Instanzen verweisen. Da diese Möglichkeit der Selbstbindung an eigene Positionen jedoch beiden Regierungen zur Verfügung stand, kam es zu Verzögerungen und Mißverständnissen, die im August 1911 beinahe zum Abbruch der Verhandlungen führten146. Um die Entschlossenheit der deutschen Regierung zu akzentuieren, verstärkte Kiderlen den Eindruck, das Reich sei notfalls zum Krieg bereit: "Ich glaube nicht, daß die Franzosen den Fehdehandschuh aufnehmen, aber sie müssen fühlen, daß wir zum Äußersten entschlossen sind."147 Auch die privaten Äußerungen Kiderlens verfolgten das Ziel, die französische Regierung zu beeindrucken und deutschen Wünschen gefügig zu machen. Die deutsche Strategie scheiterte, weil die französische Regierung durch die Rückversicherung in London über ein eigenes wirksames Drohmittel verfügte148. Zu den informellen Methoden des 144 MAE-PAAP, 211-2, J. Cambon an Delcasse (Marineminister), 4.10.1911; vgl. HAYNE, French Foreign Office, S. 221 f. 145 Vgl. ONCKEN, Panthersprung, S. 279-308. 146 So entstand die Nachricht, ein englisches und einfranzösischesKriegsschifF sollten nach Agadir entsandt werden, was zu heftigen Reaktionen des Kaisers führte: GP 10696 Wilhelm II. an Kiderlen-Wächter, 9.8.1911; vgl. SCHELLING, Thomas C, The Strategy of Conflict, Cambridge Mass. 1976, S. 21-52 (An Essai on Bargaining). 147 JÄCKH, Kiderlen-Wächter, Bd. 2, S. 129, Kiderlen-Wächter an Bethmann Hollweg, 17.7.1911. 148 FNSP, ERJC 1, Dossier 1-15, Kiderlen-Wächter an Baronne Marina de Ioannina, 12.8.1911: "Si je voulais me rendre populaire, je pousserais ä la guerre ce qui serait facile. Mais je n'ai pas cette ambition."; STIEVE, Friedrich (Hg.), Iswolski, Alexander Petrowitsch: Der diplomatische Schriftwechsel, Berlin 1926, Bd. 1, Doc. 112, Iswolski an russische

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Auswärtigen Amtes gehorte auch der Versuch Kiderlens, die am Quai d'Orsay vorhandenen Differenzen zu nutzen und über Briefe an die mit ihm befreundete Baromn de Ioannina den Eindruck zu erwecken, es bestunden schwerwiegende Memungsverschiedenheiten zwischen Caillaux und Jules Cambon "L'affaire de Jules et Caillaux se comphque de plus en plus, c'est tres dröle, je vous le raconterai une fois Mais Jules sera le plus fort, c'est lui qui m'ai [sie'] fait maintenant les propositions de l'autre""149 Ähnlich verhielt es sich mit Kiderlens überraschendem Besuch m Chamomx Mitte August 1911, für den die Motive im Dunkeln bleiben150 Mit Hilfe Maximilian Hardens erlangte er einen Brief zurück, den er in Chamomx der Baromn de Ioannina zur Verbreitung in franzosischen und russischen Kreisen überlassen hatte, den er jedoch mcht als Beleg für seme politischen Intngen "plötzlich schwarz auf weiß unter Anfuhrungszeichen in einer fremden Zeitung"151 sehen wollte Em Regulativ zur Pattgefahr, die sich aus den ähnlichen Strategien von Bluff, Drohung und Desinformation ergeben konnte, bildete die vereinbarte Geheimhaltung, die es den Kontrahenten erleichterte, ohne Gesichtsverlust von ihren Positionen abzurücken, die aber den Verhandlungsprozeß verlängerte und für Außenstehende undurchschaubar werden ließ152 Die Wirkung der Geheimhaltung auf die öffentliche Meinung stellte eine Belastung für die Verhandlungen dar Manfred Wernecke hat die vergeblichen Versuche des Auswärtigen Amtes beschrieben, die von Kiderlen selbst erzeugten Erwartungen zu maßigen und die Ansprüche der nationalistischen Verbände, vor allem die Agitation des Alldeutschen Verbandes und semes Vorsitzenden Heinrich Claß153, in Bahnen zu lenken Neben den sozialistischen Zeitungen äußerten lediglich liberale Organe wie die Frankfurter Zeitung und das Berliner TaBotschaft in London, 18 8 1911 " kehren Sie zum 28 nach Berlin zurück, und dann wollen wir beide entscheiden, ob Kneg oder Frieden " soll Kiderlen Cambon verabschiedet haben 149 FNSP, ERJC 1, Dossier 1-12, Kiderlen-Wächter an Baronne Marina de Ioannina, 2 8 1911 (2 Brief) Eine vermutlich von Caillaux stammende Randbemerkung zeigt, daß die Äußerungen Kiderlens ihr Ziel fanden und sich offenbar mit derfranzösischenStrategie vereinbaren Heßen "II ne comprend pas C'est nous qui le jouons " Die Herausgeber der Großen Politik haben den Eindruck zu verstarken gesucht, daß Caillaux Zugestandnisse gegen den Willen Cambons machte Vgl GP 10678, Schoen an AA, 27 7 1911 Wirkliche Differenzen am Quai d'Orsay bestanden zwischen de Selves und Caillaux Vgl FNSP, ERJC 2, Dossier 6, Protokolle der Vernehmungen von 1919, belastend Doc 27 (de Selves), entlastend Doc 30 (J Cambon) 150 CAILLAUX, Joseph, Mes Memoires, Paris 1947, vol. II, S 228, ANDREAS, W, Kiderlen-Wächter Randglossen zu seinem Nachlaß, in HZ 132 (1925), 274 f 151 BA-K, NL Harden, Bd 60, Kiderlen-Wachter an Harden, 12 9 1911 152 Vgl SCHELLING, Thomas C , Versuch über das Aushandeln, in BUHL, Walter L (Hg), Konflikt und Konfliktstrategie Ansätze zu einer soziologischen Konflikttheorie, München 2 1973,S 235-263 153 Vgl CLASS, Heinrich, West-Marokko deutsch', München 1911

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geblatt Bedenken. In der nationalen und der nationalistischen Presse, deren Vertreter sich am 4. Mi im Schriftstellerclub in Berlin trafen, um über die Affäre zu sprechen, herrschte Genugtuung154. Die nationalistische Strömung geriet dem deutschen Staatssekretär außer Kontrolle, die Geister, die Kiderlen gerufen hatte, wurde er nun nicht mehr los155. Die Geheimhaltung, die im Stile klassischer Geheimdiplomatie betrieben wurde, erwies sich folglich als kontraproduktiv. Die Agitation insbesondere deutscher Zeitungen zerstörte die Illusion, bilaterale Verhandlungen könnten an der öffentlichen Meinung vorbei geführt werden. In Frankreich reagierte die Presse zunächst zurückhaltend. Die Reaktionen ähnelten denen nach der ersten Marokkokrise 1905, als viele Zeitungen die deutsche Regierung lediglich aufforderten, ihre Absichten offenzulegen156. Auch diesmal herrschte Unsicherheit vor, nicht Feindseligkeit. Ernest Judet, Antisozialist und strikter Befürworter einer militärischen Stärkung Frankreichs, faßte die Lage in der Frage zusammen: "Que veut rAllemagne?" Judet plädierte dafür, die Verbündeten nicht ins Spiel zu bringen, um sich nicht schwach und verletzbar zu zeigen: "Conservons notre belle humeur avec la confiance dans notre droit."157 Der Figaro vermutete innenpolitische Probleme vor der Reichstagswahl, die durch außenpolitischen Prestigegewinn kompensiert werden sollten. Raymond Recouly sah die französische Politik keineswegs nur in einer passiven Rolle, sondern erwartete von der französischen Reaktion entscheidende Auswirkungen auf das Verhalten Deutschlands158. Die Grundhaltung des Figaro blieb optimistisch und prognostizierte einen schnellen Accord159. Als dieser ausblieb, schlug die Stimmung um. Dieser Umschwung erfolgte im übrigen noch vor der Rede Lloyd Georges am 21. Juli, stand also mit der englischen Warnung an die deutsche Regierung in keinem Zusammenhang. Der Temps verteilte Vorwürfe und Ratschläge zu gleichen Teilen an die deutsche und die französische 154

155

Vgl. WERNECKE, Weltgeltung, S. 37.

Vgl. ebda, S. 125. Die Formulierung im Temps vom 4.4.1905 zeigt, wie austauschbar die Äußerungen derfranzösischenPresse von 1905 und 1911 waren: "Le gouvernement allemand ... dispose d'un moyen tres simple de prouver sa sincerite en dissipant son inquietude: c'est de faire connaitre par la voie diplomatique le point de vue que jusqu'ici il se refuse ä exposer 'ärond'." l57 LEclair, 8.7.1911 (Judet). ^Le Figaro, 5.7.1911 (Recouly). 159 Ebda, 15.7.1911 (Recouly: "Vers l'accord"), 17.7.1911 (Recouly dämpft Optimismus), 29.7.1911 (Recouly: "L'etat des negociations"), 3.8.1911 (Recouly: "Situation stationnaire"). Ähnlich der Eclair, 18.7.1911 (Judet: "Deux ilhisions miHtaires", beide Länder seien eher am Frieden als am Krieg orientiert), 20.7.1911 (Judet: "Sous k loi du BlufF, harsche Kritik am deutschen Umgang mit Frankreich), 22.7.1911 (Judet "Non possumus"). 156

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Regierung, glaubte aber nicht, daß das Ziel der deutschen Politik wie 1905 in der Sprengung der Entente bestand, sondern lediglich dann, Frankreich zu Verhandlungen zu bewegen "Que demandera rAllemagne'? Qu'oflhra la France*? C'est ä leurs diplomates de debattre les conditions Quoi qu'il en soit, tout porte ä croire que la Panther n'est que l'annonciatrice d'un business dont rAllemagne desire accelerer la marche II serait donc ridicule et facheux de prendre au tragique ce petit bateau, dont l'arrivee ä Agadir n'etait point necessaire pour que Paris et Berlin pussent de sang-froid discuter de leurs affaires " 160

Die Meinung des Temps wurde vermutlich auch von der Enttäuschung Tardieus über die gescheiterten Projekte des Jahres 1910 in Mittelafhka bestimmt Am 6 Juli beklagte der Temps die Erfolglosigkeit der deutsch-französischen Projekte seit 1909 und machte dafür innenpolitische Querelen verantwortlich, die in der internationalen Politik nichts zu suchen hatten Der Temps kritisierte die mangelnde Konsistenz der deutschen Politik und die Forderungen der Pangermanisten, die vergessen hatten, daß noch 1905 die Integrität Marokkos und die Souveramtat des Sultans Leitmotive der deutschen Intervention gewesen waren161 Der Matin bemerkte ironisch, es sei vielleicht "de cette fa?on que l'Allemagne desire que nous le comprenions "162 Selbstbewußter argumentierte der Matin bereits wemge Tage spater, das Deutsche Reich habe kern "monopole de politique des coups d'epingle", man vertraue aber auf die Verhandlungsfuhrer, die "toujours des relations tres cordiales"163 gepflegt hatten Andere Massenblatter wie der Petit Journal und der Petit Parisien hielten sich zurück, zumal die internationale Politik mcht zu ihren bevorzugten Arbeitsgebieten gehorte Der Petit Pansien, unter semem Herausgeber Jean Dupuy das auflagestarkste Blatt Frankreichs164, begrüßte eine "entente, qui sauvegarderait les droits, les vues d'avemr, la fierte nationale des deux pays - leurs interets respectifs et aussi la raison la recommandent, et le monde civilise la saluerait avec joie "165 Eme befriedende Rolle wurde Wilhelm II zugesprochen Judet glaubte, daß es im Interesse der Hohenzollern liegen müsse, den Konflikt zu beenden "A moins de tenter le saut dans Tinconnu, il sera, le premier, desireux de clore une conversation qui 160

Le Temps, 5 7 1911 (Hervorhebung im Original kursiv) Ebda, 17 7 1911 162 Le Matin, 2 7 1911 163 Ebda, 7 7 1911 164 Vgl Histoire generale de la presse francaise, tome II De 1871 ä 1940, publiee sous la directum de Claude BELLANGER u a , Paris 1972, S 296 Le Petit Parisien (1,3 Mio), Le Petit Journal (850 000), Le Journal (1 Mio), Le Matin (650 000) waren 1912 die auflagestarksten Zeitungen in Frankreich Dagegen kamen Zeitungen wie Le Temps oder Le Figaro nur auf 45 000 bzw 36 000 Exemplare, was allerdings nichts über den ungleich größeren Einfluß der letztgenannten Blatter aussagt 165 Le Petit Parisien, 31 8 1911 161

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a trop duree et d'en finir."166 Der Figaro berichtete über die Rückkehr Wilhelms IL nach Berlin und ließ einen frankophilen deutschen Verbindungsmann über die friedensstiftenden Initiativen des Kaisers berichten167. De Lanessan, Direktor des republikanischen Siede, erhob den Kaiser zum Herrn über Krieg und Frieden in Europa und wies auf die Stellung hin, die der Kaiser in Europa erreichen könnte, wenn der Frieden erhalten bliebe: "En ce moment, si Tempereur Guillaume mettait la main ä son epee, il aurait contre lui toutes les nations du monde, y compris ses allies et la majeure partie de son peuple. II compromettrait, ä la fois, son empire et sa couronne. Si, au contraire, il tient ä meriter dans rhistoire le surnom de 'pacifique', il peut rendre ä son empire et ä sa dynastie un Service considerable."168

Das Bild des Kaisers kontrastierte in diesem Fall besonders auffällig mit der ansonsten wenig deutschfreundlichen Tendenz des Siede, der das größte Verdienst der deutschen Politik darin sah, Europa im Mißtrauen gegenüber einem Land geeint zu haben, in dem nicht einmal die Sozialdemokratie als bedeutende Opposition gegen die Regierungspolitik angesehen wurde169. Die Beunruhigung der Öffentlichkeit beschränkte sich nicht nur auf die Presse. In beiden Ländern hatten die Verhandlungen schwere innenpolitische Auseinandersetzungen zur Folge. Im Reichstag provozierte der scharfe Protest der Konservativen und ihres Führers, Heydebrand von der Lasa, die Unterstützung der Sozialdemokraten für Bethmann Hollweg. In der französischen Senatsdebatte nutzte Clemenceau die Geheimverhandlungen, um die Divergenzen im Ministerium Caillaux offenzulegen und gleichzeitig die Desinformation der Öffentlichkeit anzuprangern. In der Nationalversammlung enthielten sich viele Abgeordnete der Stimme, um ihren Unmut über die Verträge zu demonstrieren, ohne die Ratifizierung zu gefährden. Dem Sturz Caillaux' im Januar 1912 folgte die Regierung Poincare, die sich auf eine breite Zustimmung in der Bevölkerung stützen konnte, zukünftig eine wachsamere Politik gegenüber dem Deutschen Reich zu betreiben170. Die Bilanz der zweiten Marokkokrise gab aus diesen Gründen kaum zu Optimismus Anlaß, denn die koloniale Kompensation gelang nur um den Preis einer Verschlechterung der bilateralen Beziehungen. Das Krisenmanagement unter den Bedingungen machtpolitischer Strategien171 hatte es zwar vermocht, l66

LEclair, 11.9.1911 (Judet). Le Figaro, 29.7.1911 (Bonnefon). 168 l e Siede, 8.9.1911 (de Lanessan). 169 Ebda, 16.9. (de Lanessan) und 3.11.1911 (P. Baudin: "Germanisation et socialisme en Alsace-Lorraine"). 170 Vgl. CAILLAUX, Memoires, vol. II, S. 199-216; GP 10797, Lancken an Bethmann Hollweg, 14.2.1912. 171 Vgl. VASQUEZ, John A., The Steps to War: Towards a Scientific Explanation of Correlates of War Findings, in: World Politics 40 (1987/88), S. 108-145. 167

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eine Eskalation zu vermeiden und einen wesentlichen Streitpunkt zwischen beiden Landern auszuräumen, von dem nur noch Details zu regeln blieben, die Minenfrage und die Frage der Konsulargerichtsbarkeit Die Wertung Pierre Guillens zu den langfristigen Wirkungen der kompensatorischen Vertrage von 1911 - "On ne peut donc dire que les questions coloniales, dans les annees 1912-1914, aient contnbue seneusement ä l'aggravation de la tension francoallemande"172 - muß jedoch differenziert werden Zwar bedeutete das Abkommen für beide Lander eine Machterweiterung, für Frankreich die endgültige Anerkennung der Herrschaft m Marokko, für Deutschland die Ausnutzung der "letzten Gelegenheit, ohne zu fechten - etwas Brauchbares m Afrika zu erhalten"173, aber das Konfliktmanagement des Jahres 1911 hinterließ andere Probleme, die von größerer Tragweite waren als koloniale Streitfragen eine erregte öffentliche Meinung m beiden Landern, parlamentarischen Streit und eine Erschwerung zukunftiger Verhandlungen durch das wachsende Mißtrauen gegenüber den überraschenden Wendungen der deutschen Politik Gleichwohl führte die Agadir-Knse mcht zwangsläufig zur "course europeenne ä la guerre"174, denn die Krise hatte mcht nur gezeigt, daß europaische Machtepohtik wieder unter den Vorzeichen militärischer Aktionen geführt werden konnte, sondern auch, daß die leitenden Staatsmanner, Kiderlen-Wächter und Caillaux, obwohl sie im Knegsfall auf einen breiten nationalen Konsens hatten rechnen können, die friedliche Losung wählten, mithin eine fatale Festlegung der Entscheidungen verantwortlicher Politiker mcht gegeben war

172

GUILLEN, Les questions coloniales dans les relations franco-allemandes, S 105 JACKH, Kiderlen-Wachter, Bd 2, S 129, Kiderlen-Wachter an Bethmann Holhveg, 177 1911 173

174

ALLAIN, Agadir, S 418

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2.2. Frankreich und Deutschland in Europa: Das Ende der Gemeinsamkeiten oder ein "europäisches Konzert"? 2.2.1. Detente und Bündnistreue: Frankreich und Deutschland im Frühjahr 1912 Die deutsch-französischen Beziehungen hatten sich nach dem MarokkoKongo-Vertrag beruhigt, aber nicht normalisiert. Die Ernennung Raymond Poincares zum Nachfolger Caillaux' als "President du Conseil" galt zwar nicht als Affront gegenüber Deutschland, zumal beim Sturz Caillaux' die außenpolitischen Fragen teilweise nur als Hebel für innenpolitische Machtkämpfe gedient hatten, wurde aber als Ausdruck der neuen französischen Politik gesehen, die ein neues "Agadir" nicht tatenlos hinnehmen würde175. Ein unmittelbarer Anlaß zur Besorgnis im deutsch-französischen Verhältnis existierte zwar nicht mehr, aber Schoen erkannte bald: "Es läßt sich nicht verkennen, daß die deutsch-feindliche Stimmung in Frankreich tiefe Wurzeln geschlagen hat."176 Dennoch bemühte sich die neue französische Regierung unter Poincare, die "bedauerliche Trübung der Beziehungen zu Deutschland"177 zu beseitigen. "II (ce traite) nous permettra egalement de maintenir entre une grande nation voisine de la France, dans un esprit sincerement pacifique, des relations de courtoisie et de franchise inspirees par le respect mutuel de leurs interets et de leur dignite. Autant que jamais, nous entendons rester fideles ä nos alliances et ä nos amities."178

In dieser Äußerung Poincares läßt sich jedoch schon die Duplizität seiner Politik erkennen, denn trotz des Friedenswillens verpflichtete er Frankreich auf die Bündnistreue, damit es "ä la hauteur de tous ses devoirs"179 bleiben könne, um eine neuerliche Herabsetzung zu verhindern. Die Politik gegenüber dem Deutschen Reich erfolgte nun unter dem Anspruch einer selbstbewußteren, die nationalen Belange stärker herausstellenden Position. Bedeutsam für Poincares Ansehen bei der deutschen Regierung war es deshalb, daß sein Votum für den deutsch-französischen Vertrag von 1911 zwar nicht euphorisch 175 Vgl. WEBER, Eugen, The Nationalist Revival in France, 1905-1914, Berkeley/Los Angeles 1959. 176 GP 11521, Schoen an Bethmann Hollweg, 17.4.1912. 177 GP 11514, Lancken an Bethmann Hollweg, 20.2.1912 zu einem Gespräch mit Paleologue, dem politischen Direktor. 178 JO, Chambre des Deputes, 3. Sitzung vom 16.1.1912, S. 11; vgl. POINCARJI, AU Service de la France, vol. I, S. 22: "... entretenir avec rAllemagne, comme avec toutes les autres puissances, des relations sincerement pacifiques ..." 179 GP 11511, Schoen an Bethmann Holiweg, 17.1.1912.

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ausfiel, er diesen jedoch als Notwendigkeit zu emer Losung der Streitpunkte m Nordafrika bewertete und als Mitglied der Senatskommission gemeinsam mit Ribot wesentlichen Anteil daran hatte, daß der Vertrag schließlich die Zustimmung des Senats erhielt Die Unterschiede in der Bewertung offenbaren sich, wenn man die Redebeitrage der Protagomsten der Debatte, Pomcare und Clemenceau, gegenüberstellt Wahrend Pomcare auf der grundsätzlichen Bedeutung des Vertrages insistierte - "II a y dans le texte meme de la Convention, un temoignage important de l'intention concihante et de la smcente des deux parties "18° - rührte Clemenceau an den Kompetenzen des President du Conseil und suggerierte, der Vertrag stelle wegen der mangelnden parlamentarischen Kontrolle der Vorgange eme diplomatische Niederlage dar "Des negociations obscures ont conduit, par des phases mysteneuses, ä l'enfantement d'une sorte de monstre diplomatique, qui n'est pas sans analogie avec ce fameux cheval de Troie, qui etait une ofifrande ä la paix et qui retentissait du son des armes "181 Die Zustimmung der franzosischen Kammern überdeckte mcht, daß das Vorgehen m Marokko das grundsatzliche Mißtrauen gegenüber der deutschen Außenpolitik verstärkt hatte AJlerdmgs stand für Jules Cambon die Ernsthaftigkeit der kompromißbereiten Haltung Bethmann Hollwegs außer Frage Bethmanns Versicherung, Deutschland werde kernen Krieg mit Frankreich beginnen, nahm Cambon mit Wohlwollen auf182 Eme optimistische Haltung nahm Cambon auch gegenüber den Planen des preußischen Hofrates Carl Rene, Mitglied des Zentralkomitees für deutsch-französische Annäherung, ein Rene hatte in einem Gesprach mit dem Herausgeber des Matin, Bunau Vanlla, und in mehreren inoffiziellen Gesprächen mit dem Auswärtigen Amt, der franzosischen Botschaft und der deutschen Botschaft m Pans versucht, mit Hilfe der elsaß-lothnngischen Frage emen Prozeß der Annäherung einzuleiten Seine Vorschlage wurden von Kiderlen-Wachter jedoch abgelehnt183 Dennoch behauptete Rene gegenüber Cambon, seme Gespräche mit dem Auswärtigen Amt seien erfolgreich gewesen und betonte, die deutsche Regierung sei "prete aux plus larges concessions"184 Die Reaktion Poincares auf diese offiziösen Annäherungsversuche war ablehnend Er übermittelte Cambon eine klare Formulierung semer Bundniskonzeption und verbat sich jede weitere Beachtung der Vorschlage Renes In einem Pnvatbnef wies er Cambon an, Vorsicht walten zu lassen, um die Entente mit England mcht aufs Spiel zu setzen

180

Zitiert nach POINCARE, Au Service de la France, vol I, S 65 Ebda, S 66 182 MAE-PAAP, 043-58, J Cambon an Pomcare, 27 3 1912 183 Ygi POINCARE, Au service de la France, vol i n , S 359 184 MAE, NS Allemagne 47, J Cambon an Poincare, 23 3 1912, vgl KEIGER, France and the Origins of the First World War, S 70 181

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"A ecouter des propositions comme Celles de M. Charles Rene, nous nous brouillerions avec l'Angleterre et avec la Russie, nous perdrions tout le benefice de k politique que la France suit depuis de longues annees, nous n'obtiendrions pour l'Alsace que des satisfactions ilhisoires et nous nous retrouverions le lendemain isoles, diminues et disqualifies."185

Der Brief zeigt weniger die Gegnerschaft Poincares zu Deutschland und die "ideas on the rigid Separation of the two blocs", weniger auch die "complete isolation"186 Cambons im Quai d'Orsay, sondern vielmehr, wie hoch er die Bedeutung der Allianzen für die französische Sicherheit und die abschrekkende Wirkung gegenüber dem Dreibund einschätzte. Die Meinung, die französische Sicherheit werde durch das Deutsche Reich gefährdet, wurde am 10. März 1913 durch den "Störenfried"-Artikel der Kölnischen Zeitung erhärtet, in dem Frankreich als "Störenfried" des europäischen Mächtesystems bezeichnet wurde187. Wenn auch die Norddeutsche Allgemeine Zeitung als offizöses Organ der Regierung die Wogen zu glätten versuchte, rief die Unbeherrschtheit der Kölnischen Zeitung eine Verstärkung des "Paix-Armee"-Gedankens bei Poincare hervor. "La France mena9ante? Quel audacieux mensonge!", vermerkte Poincare, mittlerweile zum Präsidenten der Republik gewählt, am 11. März 1913 in seinem Tagebuch und zählte die vielfachen deutschen Provokationen seit dem deutsch-französischen Krieg auf. Den Gedanken der "Revanche", der ihm von deutscher Seite unterstellt wurde, wies er von sich und betonte, es handle sich um eine Frage der militärischen Bedrohung: "Et c'est contre cette menace qu'ils [les jeunes Fran9ais] veulent que notre pays pacifique soit militairement armee."188 Poincares Vorstellung, daß eine selbstbewußte französische Politik die deutsche Regierung von einer aggressiven Außenpolitik abhalten könnte, läßt sich noch in der Julikrise nachweisen. Poincare zeigte sich im Gespräch mit Nikolaus IL zwar überzeugt von der Friedensbereitschaft Wilhelms IL und der deutschen Regierung, jedoch nicht länger davon, daß die deutsche Regierung sich gegen die öffentliche Meinung durchsetzen könnte. Deshalb sei es möglich, daß die Reichsleitung während einer Krise das Risiko eines Krieges eingehen könnte, denn eine "attitude raisonnable, une attitude conciliante et sage ... sera aussitöt interpretee comme une reciüade."189 185

MAE, NS Allemagne 48, Poincare an J. Cambon, 27.3.1912; vgl. POINCARE, Au Service de la France, vol. DI, S. 358-360, wo die Rolle Renes als die eines Einzelgängers beschrieben wird, dessen "bonne foi dans l'interet de la paix europeenne" (S. 360) in Kontrast zur unnachgiebigen Haltung Kiderlens gestellt wird. 186 KEIGER, France and the Origins of the First World War, S. 73; vgl. DERS., Jules Cambon andfranco-germandetente, 1907-1914, in: HJ 26 (1983), S. 641-659. 187 Kölnische Zeitung, 10.3.1913, Mittag; antifranzösische Artikel auch am 4.3., Mittag; 12.3., Mttag;16.3.1913, 2. Morgen. 188 BN, Papiers Poincare NAF 16024, 11.3.1913. 189 Ebda, NAF 16027, Aufeeichnung zum Besuch beim Zaren, 20.-23.7.1914.

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Die Vorsicht Pomcares m den ersten Monaten semer Amtszeit als President du Conseil erklarte sich vor allem durch sein vorrangiges außenpolitisches Ziel, das Bündnis mit England zu vertiefen Die Haldane-Mission weckte bei Poincare daher die Befürchtung, daß die englische Annäherung an Deutschland Erfolg haben und gleichzeitig innenpolitische Gegner der Entente wie Hanotaux starken konnte Parallel zu den deutsch-englischen Gesprächen versuchte er daher, die englische Zusage zu emer gememsamen Politik "au maintien de la paix"190 zu erhalten Mit Genugtuung nahm Pomcare daher das Scheitern der Haldane-Mission und das Zogern der britischen Regierung vor einer Neutrahtats-Erklarung zur Kenntnis, unternahm aber weitere Anstrengungen, um England starker an Frankreich zu binden "II [Paul Cambon] peut faire remarquer que l'Angleterre ne s'est liee vis-ä-vis de nous par aucune Convention diplomatique, qu'elle a reserve sa pleine liberte d'action, malgre les conversations de nos Etats-majors et qu'il y aurait la plus facheuse contradiction ä ce qu'elle ahenät cette liberte contre nous et auproflt de l'Allemagne " 1 9 1

Zur großen Enttäuschung Pomcares blieb die englische Regierung bei ihrer Weigerung, die Entente naher zu definieren Am 15 April 1912 stellte Nicolson im Gesprach mit Paul Cambon klar, daß England sowohl zu Frankreich als auch zu Deutschland gute Beziehungen unterhalten wolle und der Status quo der Entente beibehalten werde192 Nach einem erneuten Vorstoß Paul Cambons, England solle sein Bundnisangebot von 1905 wiederholen (Lansdowne-Delcasse), definierte Grey die englische Haltung ex negativo Es bestehe keine englische Verpflichtung, mit Frankreich gegen das Deutsche Reich zu kämpfen, umgekehrt aber auch keine Verpflichtung gegenüber Deutschland, Frankreich mcht beizustehen193 Die Wirkung der englischen Haltung war ambivalent Einerseits führte sie eme Mäßigung der französischen Politik gegenüber Deutschland herbei, sorgte aber andererseits dafür, daß Poincare mchts unternahm, was in seinen Augen die Entente schwachen konnte Vor dem Hintergrund dieser keineswegs gesicherten Bundnisverhaltmsse muß auch das Scheitern der deutsch-franzosischen Annäherungsversuche im Frühjahr 1912 gesehen werden

190

DDF 3,11-105, Poincare an Paul Cambon, 26 2 1912 Ebda, 11-266, Note de Poincare, 27 3 1912 und BD 6, 11-564, Bertie an Grey, 3 4 1912 Bertie vertrat in wesentlichen Punkten die Position Poincares und warnte vor der "unangenehmen Überraschung", die ein deutsch-englisches Abkommen in der französischen Öffentlichkeit erzielen wurde 192 BD 6, 11-576, Aufzeichnungen Nicolsons, vgl NICOLSON, Sir Arthur Nicolson, S 367-371 193 Ebda, 11-580, Grey an Nicolson, 21 4 1912 191

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2.2.2. Die Balkankrise: deutsch-französische Aspekte des europäischen Krisenmanagements, Oktober 1912 bis April 1913 Auf dem Balkan hatte sich schon im Sommer 1911 ein neuer Konfliktherd gebildet. Der Tripoliskrieg Italiens gegen die Türkei spielte dabei in mehrfacher Hinsicht eine bedeutende Rolle. Er schwächte die Türkei und erhöhte damit die Chancen für den Erfolg möglicher Angriffe der Balkanstaaten, die nach formaler Unabhängigkeit strebten und Reformen einklagten. Zudem offenbarte das Vorgehen Italiens Dissonanzen innerhalb des Dreibundes, insbesondere die Gegensätze der Balkaninteressen zwischen Italien und der Donaumonarchie. Die Probleme, denen sich die deutsche Regierung dadurch gegenübersah, verdeckten das französische Dilemma. Die Politik Rußlands als Rivale Österreichs auf dem Balkan konnte die kritische Situation einer russischen Intervention heraufbeschwören, in der Frankreich, ohne eigene Interessen zu vertreten, vor der Frage von Krieg und Frieden stand. Im Februar 1912 fragte Sasonow bei Poincare an, wie sich Frankreich bei einer inneren Krise der Türkei, einem einseitigen Vorgehen Österreichs im Sandschak von Novi-Basar bzw. in Albanien oder im Falle eines Konfliktes zwischen den Balkanstaaten und der Türkei verhalten werde194. Ziel Sasonows war es zunächst, die Möglichkeiten des Mächtekonzerts für eine diplomatische Aktion auszuloten. Vorsichtshalber sicherte Iswolski Poincare zu, keine dem französisch-russischen Bündnis widersprechende eigenmächtige Aktion zu unternehmen. Denn spätestens seit seinem Besuch in St. Petersburg im August 1912, bei dem Sasonow Poincare den bulgarisch-serbischen Vertrag vom 29. Mai 1912 übersetzt hatte, war Poincare sich über die Tragweite der Konstellation auf dem Balkan im klaren. Er erkannte darin sofort den kaum verhüllten Angriffspakt der Balkanländer, der mit Hilfe Rußlands zustandegekommen war. Poincare betonte nachdrücklich, daß er eine automatische Bündnispflicht keinesfalls für gegeben hielt195. Die Initiative des österreichischen Außenministers Berchtold für eine gemeinsame Aktion der Mächte in Konstantinopel blieb ohne Folgen und stieß auch bei der Reichsleitung auf Kritik196. Poincare sicherte der österreichischen Regierung zwar zu, der Vorschlag werde untersucht und die französische Regierung suche "le concours de toutes les Puissances"197, aber am 22. September legte er ein Gegenprojekt vor, das von der englischen Regierung in wesentlichen Punkten - Status quo-Sicherung und Lokalisierung - gebilligt wurde. DiefranzösischeRegierung antizipierte engli194

MAE-U, Affaires balkaniques, vol. I, "Questionnaire" von Sasonow an die französische Regierung, 14.2.1912. 195 Vgl. POINCARE, Au service de la France, voL n, S. 117. 196 GP 12087 Aufeeichnung Kiderlen-Wächters, 15.8.1912. 197 MAE-U, Affaires balkaniques, vol. I, Poincare an Dumaine (Botschafter in Wien), 1.9.1912.

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sehe Bedenken und teilte mit, eine Trennung der Großmächte nach Bündnissystemen werde durch Rücksprache mit allen Großmächten vermieden198. Erst jetzt nahm die französische Regierung Kontakt mit Berlin auf. Jules Cambon übermittelte dem Quai d'Orsay die Friedensbekundungen Bethmann Hollwegs, der an den Erfolg der Lokalisierungsstrategie und einer Beeinflussung Wiens glaubte199. Eine ähnliche Haltung vertrat Kiderlen-Wächter, der in der Abspaltung der Balkanstaaten eine Unvermeidlichkeit sah und nur zu verhindern suchte, daß sich diese Entwicklung als "bouleversement"200 vollzog, der eine Gefahr für den Frieden zwischen den Großmächten bedeutet hätte. Für beide Mächte handelte es sich um einen Konflikt, der ihre Interessen nur indirekt, die Interessen ihrer engsten Bundesgenossen jedoch essentiell berührte. Für beide hingen die eigenen Reaktionen also, der späteren Julikrise vergleichbar, von der Politik sowohl der Bundesgenossen als auch der Gegenpartei ab. Diese Möglichkeiten der Großmächtepolitik wurden wiederum in hohem Maße durch das Verhalten der Balkanstaaten bestimmt, die weder von Frankreich noch vom Deutschen Reich an ihren Plänen zu hindern waren, einen Krieg gegen die Türkei zu beginnen201. Aus seiner Vorgehensweise erschließt sich der Doppelcharakter der politischen Initiative Poincares. Einerseits stellte er die Entente in den Vordergrund seiner Initiative, andererseits, auch auf Druck der englischen Regierung, suchte er die Mitarbeit aller Großmächte, wobei der Schwerpunkt seiner Politik grundsätzlich auf der Sicherung und Vertiefung der Entente lag. Diese Rangfolge der politischen Präferenzen zeigte sich deutlich in der Anweisung Poincares an die Botschaft in London, vor einer Aktion der europäischen Mächte müsse unbedingt dasfranzösisch-russisch-englischeKonzert stehen. Die politische Initiative sollte, so auch der Wunsch Sasonows, unbedingt bei der Triple Entente bleiben202. Die anfangs von Berchtold initiierte Zusammenarbeit der Mächte wurde daher von der französischen Regierung aufgenommen und umformuliert. Am 22. September übergab Poincare den "Projet d'aecord" an die deutsche Regierung203. Kiderlen-Wächter stimmte der französischen Position zu, eine Intervention der Großmächte einzuleiten und diese am besten von Österreich-Ungarn und Rußland, also den primär interessierten Staaten, durchführen zu lassen204. Zu diesem Zeitpunkt der Krise, noch vor 198 BD 9, I, 2-734, Bertie an Grey, 22.9.1912; -741, Bertie an Grey, 24.9.1912; -745, Grey an Bertie, 25.9.1912; vgl. CRAMPTON, Hollow Detente, S. 58. 199 MAE-LJ, Affaires balkaniques, vol. I, J. Cambon an Poincare, 19.9.1912. 200 MAE, NS Turquie 235, J. Cambon an Poincare, 20.9.1912. 201 Zur Rolle der "kleinen Staaten" im Mächtekonzert vgl. HOFFMANN, Organisation Internationales, S. 86-111. 202 MAE-LJ, Affaires balkaniques, vol. I, Poincare an Fleuriau (Botschaft London), 30.8.1912. 203 GP 12188, Lancken an Bethmann Hollweg, 26.9.1912. 204 MAE, NS Turquie 235, J. Cambon an MAE, 28.9.1912.

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jeder Kriegshandlung, war es demnach gelungen, einen ersten Meinungsaustausch zwischen den Großmächten durchzuführen und eine prinzipielle Übereinstimmung über die Sicherung des Status quo auf dem Balkan und die Lokalisierung eines möglichen Krieges zu erzielen. Jules Cambon und Poincare schätzten die gemeinsame Aufgabe des Deutschen Reiches und Frankreichs als sehr wichtig ein. Poincare "konstatierte mit Genugtuung volle Gleichartigkeit deutsch-französischer Interessen"205. Jules Cambon zeigte Verständnis für das Problem der Reichsleitung, trotz der Interessenkonflikte innerhalb des Dreibundes eine kohärente Balkanpolitik zu betreiben, und lobte die deutsche Haltung in dieser Frage: "Quant ä l'Allemagne, la sincente de ses efforts en vue du maintien de la paix ou tout au moins de la localisation du conflit, n'est pas douteuse. Peut-on en effet imaginer une Situation phis fausse que la sienne entre la Turquie et l'Italie, entre 1'ItaHe et l'Autriche, et meme entre l'Autriche et la Russie? De lä vient le grand souci du Gouvernement Imperial d'ecarter l'obligation de prendre parti dans le conflit et dty jouer un röle de premier plan ..."206

An dieser Stelle zeigt sich ein entscheidender Unterschied zur Julikrise. Noch bevor ein unvorhergesehenes Ereignis den Ablauf der diplomatischen Verhandlungen hätte stören können, waren die Großmächte zu einer ersten Übereinkunft gekommen, ein Grund dafür, warum die Gefahr gemildert wurde, daß die orientalische Krise Anfang Oktober 1912 eine Gefahr für den Frieden in Europa wurde. Die Zusammenarbeit zwischen Paris und Berlin gewann dabei noch an Bedeutung. Am 1. Oktober legte Kiderlen-Wächter dem französischen Botschafter seine Ansicht über die Lage auf dem Balkan dar. Obwohl er den Ausbruch des Krieges erwartete, plädierte er für Maßnahmen, um den Kriegsfall noch zu verhindern und bei einem Mißerfolg der Vermittlung den Großmächtekonflikt zu vermeiden. Auf welche Weise der Status quo auf dem Balkan gehalten werden konnte, wurde von Kiderlen jedoch nur unklar formuliert. Seine Politik basierte jedoch auf der Vorstellung, daß Frankreich und das Deutsche Reich als jeweils unabhängige Vermittler mit mäßigendem Einfluß auf ihre jeweiligen Bündnispartner auftreten sollten207. Bis zum 3. Oktober konnte zwischen Berlin, Paris und Sankt Petersburg eine weitgehende Übereinstimmung erzielt werden. Sasonow erklärte sich bereit, entweder gemeinsam mit Österreich-Ungarn im Namen Europas 205

PA-AA, Türkei 203 Nr. 1, Bd. 1, Lancken an AA, 28.9.1912, Kiderlen-Wächter informierte am 30.9.1912 die österreichische Regierung, GP 12189, Kiderlen-Wächter an Botschaft Wien, 30.9.1912. 206 MAE, NS Turquie 235, J. Cambon an Poincare, 29.9.1912. 207 MAE, NS Turquie 236, J. Cambon an MAE, 1.10.1912 zu einem Gespräch mit Kiderlen-Wächter; vgl. dazu auch GP 12191, Aufzeichnung Kiderlen-Wächters vom 1.10. zu diesem Gespräch und Beibrief Kiderlen-Wächters an den Reichskanzler mit der Bitte, persönlich bei Poincare auf die ähnlichen Interessen Deutschlands und Frankreichs hinzuweisen.

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oder mit allen Großmächten den Balkanländern die Position der Großmächte mitzuteilen208. Die ersten Differenzen traten auf, als es um die Redaktion der österreichisch-russischen Demarche ging, obwohl die französische Regierung am 4. Oktober 1912 die Haltung der deutschen Regierung in dieser Frage lobte: "D'apres notre ambassadeur, l'Allemagne cherche sincerement a maintenir k paix; M. de Kiderlen souhaite que l'Autriche et la Russie arrivent ä s'accorder et se neutralisent rune par l'autre. Notre ambassadeur indique qu'une fois encore les interets de la France et de l'Allemagne concordent en Orient."209

Diese Würdigung der deutschen Mitwirkung am Plan Poincares konnte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß das sogenannte "europäische Konzert" nicht in der Lage war, die Willenserklärungen der Regierungen in politisches Handeln umzusetzen. Als Organisation in ihrer unverbindlichsten, weil institutionell weder geographisch noch organisatorisch definierten Form, die keinerlei völkerrechtlichen Bindungen im Rahmen eines eigenständigen Organs unterlag, verlor sie Zeit, um das Einverständnis aller Regierungen einzuholen und die letzten Bedenken der österreichischen Regierung zu zerstreuen. Drei Tage dauerte es, bis Berchtold dem Vorschlag Poincares nachgab, "um nicht als Störenfried dazustehen"210. Die Angst Berchtolds vor einer Isolierung im "europäischen Konzert" überwog im Oktober 1912 die Versuchung, in Balkanfragen ohne Rücksprache mit den anderen Mächten zu agieren. Gemeinsam mit der deutschen Zurückhaltung spielte dieser Faktor vermutlich die größte Rolle für den Umstand, daß die österreichische Regierung schließlich einlenkte. Das Verhalten der europäischen Regierungen in dieser Krise erlaubt es auch, von einem "europäischen Konzert" zu sprechen, obwohl dieses von den Bündnisstrukturen überlagert wurde und die Abstimmung innerhalb der Bündnisse voraussetzte. Seine wesentlichen Eigenschaften bestimmten sich über die Anerkennung des Status quo, die Verhinderung des eigenmächtigen Handelns eines Staates, die Abstimmung zwischen den Kanzleien und die grundsätzliche Möglichkeit einer Mächtekonferenz über die Konfliktregelung auf dem Balkan. Das deutsch-französische Zusammengehen stieß nicht bei allen französischen Diplomaten auf Gegenliebe. Die orientalische Frage wurde zum Streit208 Vgl. GP 12213, Kiderlen-Wächter an Tschirschky, 3.10.1912; DDF 3, IV-25, Poincare an Botschaft Berlin, 3.10.1912. 209 MAE, NS Turquie 236, MAE an die Botschaften bei den Großmächten, 4.10.1912; Reaktion auf DDF 3, IV-45, J. Cambon an Poincare, 4.10.1912. 210 Zur Entstehung des Textes vgl. GP 12220, Textvorschlag Poincares vom 4.10.1912; GP 12222 Beschwerde Wilhelms II. über mangelnde Information, 4.10.1912; GP 12231, Kiderlen-Wächter an Tschirschky, 5.10.1912 zu einer Änderung auf englischen Wunsch hin; GP 12232, Zustimmung Berchtolds, 6.10.1912.

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punkt zweier Konzeptionen, die das deutsch-französische Verhältnis in der Türkei und auf dem Balkan unterschiedlich bewerteten. Auf der einen Seite stand das Urteil der französischen Diplomaten in Berlin unter Führung Jules Cambons, die eine optimistische Einschätzung der möglichen Zusammenarbeit vertraten. De Manneville äußerte bereits am 3. August 1912 die Meinung, daß der Orient für beide Staaten ein Gebiet darstelle, "sur lequel elles peuvent causer et, sinon s'associer leurs actions, du moins agir dans le meme sens."211 Trotz der auch von Manneville mit aller Vorsicht bewerteten Möglichkeit einer Entente in speziellen Fragen des Orients reagierte Bompard, französischer Botschafter in Konstantinopel, empfindlich. Bompard verfolgte die französischen Interessen in der Türkei mit besonderer Wachsamkeit und betrachtete das Deutsche Reich als Hauptrivalen in der Türkei. Er warf seinem kurz zuvor verstorbenen deutschen Kollegen Marschall von Bieberstein vor, daß er zwar in Wirtschaftsfragen gerne mit derfranzösischenBotschaft zusammengearbeitet, dabei jedoch stets "les avantages industriels et moraux" für die Deutschen beachtet habe, während den Franzosen meist "le soin de la [l'entente] financer" geblieben sei. Bompard plädierte daher für eine "plus juste conception de la collaboration"212 zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich. In einem Rundschreiben an die Großmächte griff der Quai d'Orsay diese interne Debatte auf, rief die Ausführungen Bompards in Erinnerung und relativierte die Aussage vom 4. Oktober, indem er auf die Zugehörigkeit Deutschlands und Frankreichs zu verschiedenen Bündnissystemen hinwies. Allerdings stellte die Direction politique klar, daß Bompard eine Konzeption vertrat, "que nous ne saurions admettre sans sacrifier nos interets essentiels."213 Zu Beginn der Balkankrise sah die französische Regierung eine Zusammenarbeit mit der deutschen Regierung also durchaus positiv und als Möglichkeit zur Überwindung politischer Gegensätze über die Bündnisgrenzen hinweg214. Am 7. Oktober behauptete die Direction politique trotz der Differenzen zwischen England und Rußland, daß innerhalb der Triple Entente weitgehende Einigkeit erzielt worden sei. Sasonow, der eigens nach Paris gereist war, bestätigte die Politik Poincares ebenso wie Grey und Nicholson, die

211

DDF 3, ffl-239, Manneville an MAE, 3.8.1912. Ebda, ffl-467, Bompard an MAE, 27.9.1912. 213 MAE, NS Turquie 236, MAE an die Botschaften bei den Großmächten, 5.10.1912. 214 Vgl. POINCARÄ, Au Service de la France, vol. n, S. 235: "Cetait donc une collaboration directe avec rAllemagne qu'avaient acceptee d'un commun accord la France et la Russie." Daß Poincare seine europäische Friedensinitiative ins beste Licht rückte, mindert nicht den Gehalt dieser Aussage für die Anfangsphase der Balkankiise, wie es von den Akten bestätigt wird. 212

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allerdings eine kollektive Aktion der Großmächte bevorzugten, um das Feld in der Türkei nicht ganz Rußland zu überlassen215. Die deutsche Regierung begrüßte zwar die aktive Rolle Poincares und war bereit, Initiativen zum Erhalt des Friedens auf dem Balkan zu unterstützen, von einer einheitlichen Linie konnte jedoch keine Rede sein. Die Gründe dafür lagen in den Interessenkonflikten der Dreibundpartner auf dem Balkan, die sowohl eine inhaltliche Absprache zur Politik auf dem Balkan als auch das einheitliche Auftreten des Bündnisses nach außen erschwerten, sowie in den Nachwehen der deutsch-französischen Krise von 1911. Schoen betonte daher die taktischen Vorteile, die das französische Engagement für das Deutsche Reich mit sich bringe, weil es das in der französischen öffentlichen Meinung gezeigte Selbstbewußtsein steigere: "Ich glaube, daß es bei den Charaktereigenschaften der Franzosen nützlich ist, sie vorerst in dieser Selbstgefälligkeit nicht zu stören, da sie auf diese Weise wohl am leichtesten den Weg aus ihrer Nervosität finden werden."216 Kiderlen-Wächter bemühte sich, die Verdienste Poincares in der Presse insofern würdigen zu lassen, als Poincare verhindert habe, daß "selbst bei Ausbruch des Kriegs im Balkan ... der Brand weiter um sich greife."217 Nachdem bis zu diesem Zeitpunkt, also etwa von Ende September bis zum 8. Oktober 1912, ein loses Band zwischen den Mächten und Gruppierungen geknüpft worden war, brachte Poincare die Idee einer Mächtekonferenz ein, die er zunächst innerhalb der Triple Entente zur Diskussion stellte und erst nach einer skeptischen russischen und befürwortenden englischen Antwort den Mittelmächten vorlegte.218 Die Rolle, die Poincare Frankreich dabei zuwies, bleibt rätselhaft, denn es stellt sich die Frage, ob Poincare seine Bemühungen als grundsätzliches Element einer langfristigen Friedenssicherung betrachtete oder ob er, wie aus dem Wortlaut der Anweisung an die Botschaften hervorgeht, darin nur die Hinausschiebung eines unvermeidlichen Konfliktes sah, was ihn in die Nähe der Riezlerschen Konzeption brachte: "Notre röle sera de maintenir constamment entre nos allies et leurs rivaux eventuels un concert süffisant, si nous voulons retarder pour les uns comme pour les autres

215

MAE, NS Turquie 237, Notiz der Direction poütique vom 7.10.1912 zu den französisch-russischen Gesprächen in Paris; DDF 3, IV-86, Paul Cambon an Poincare, 7.10.1912 zum englischen Einverständnis. 216 GP 12251, Schoen an Bethmann Hollweg, 7.10.1912. 217 GP 12260, Schoen an Bethmann Hollweg, 9710.10.1912, Glossierungen KiderlenWächters. 218 D D P 3 rV-112, Poincare an die Botschaften in St. Petersburg und London, 10.10.1912. Die Anfrage war in beinahe suggestivem Ton gehalten: "Veuillez donc demander au Gouvernement britannique ... si eventuellement il n'estimerait pas comme moi qu'une reunion diplomatique ayant pour objet immediat Tetude des reTormes ... serait le seul moyen de conjurer la crise redoutable qui menace rEurope."

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l'ere des grandes realisations en Orient."219 Fest steht, daß sich Poincares Vorgehen aus der Furcht nährte, Österreich-Ungarn könnte einen Alleingang auf dem Balkan unternehmen, besonders für den Fall, daß die österreichische Regierung Kenntnis vom Inhalt des Balkanbundes erhielte, wie Poincare Paul Cambon gegenüber erklärte220. Kiderlen reagierte zurückhaltend auf die französische Konferenzidee, vor allem, weil er bei einer möglichen Abwesenheit Italiens eine Mehrheit der Triple Entente befürchtete221. Gegenüber Jules Cambon deutete er an, Deutschland wolle die Hände frei haben, um sich später auf die Seite des Siegers schlagen zu können222. Die Überlegungen der Regierungen wurden hinfällig, als der Balkanbund am 16. Oktober 1912 die Kriegshandlungen gegen die Türkei begann und die Rolle der Großmächte als Zuschauer festschrieb. Kiderlen sah die Vermittlung der Mächte nun als gescheitert an und bat die französische Regierung um einen Meinungsaustausch am Ende des Konflikts im Rahmen des "europäischen Konzerts", ohne sich auf eine Konferenz festzulegen223. Eine gewisse Entspannung trat ein, weil zur gleichen Zeit in Lausanne der Friedensvertrag zwischen Italien und der Türkei unterzeichnet wurde. Wie verhielt sich die öffentliche Meinung beider Länder zu diesen Vorgängen? Nahm sie die diplomatische Tätigkeit als gemeinsame Politik der Großmächte wahr oder waren es nur die "eingeweihten einflußreichen Kreise", die "dem Zusammengehen Frankreichs mit Deutschland nicht nur große aktuelle Bedeutung ..., sondern ... auch erfreuliche Wirkungen für die Zukunft"224 beimaßen? Schoen, der aus der französischen Presse hauptsächlich die Würdigung Poincares als Friedensstifter herauslas, erkannte erst Ende Oktober an, daß die meisten Pariser Blätter, auch ansonsten wenig deutschfreundliche, die deutsche Haltung positiv würdigten "und einzelne Äußerungen des Mißtrauens ... von unbefangener Anerkennung unseres loyalen Verhaltens übertönt"225 wurden.

219

MAE, NS Turquie 238, Poincare an die Botschaften bei den Großmächten, 12.10.1912; vgl. RUEDORFFER [Riezler], Grundzüge, S. 183 ff. 220 DDF 3, IV-170, Poincare an P. Cambon, 15.10.1912. 221 GP 12265, Kiderlen-Wächter an Tschirschky, 13.10.1912. 222 DDF 3, IV-153, J. Cambon an Poincare, 14.10.1912. 223 GP 12275, Kiderlen-Wächter an Tschirschky, 16.10.1912; vgl. auch GP 12277 Aufzeichnung Kiderlen-Wächters vom 16.10.1912 zu seiner Antwort an Jules Cambon: "JPaccepte volontiers l'idee d'un concert entre les Puissances en vue d'interposer leur mediation en temps opportun entre les belligerants. L'expression temps opportun' comporte qu'il n*y a pas Heu ä mediation imm&liate. En ce qui concerne l'idee de la reunion d'une Conference j'estime qu'elle doit etre examinee et ne pas faire l'objet d*une decision ä rheure actuelle." 224 GP 12271, Schoen an Bethmann Hollweg, 13.10.1912. 225 GP 12296, Schoen an Bethmann Hollweg, 25.10.1912.

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Der Eclair betrachtete die Friedensbemühungen Pomcares mit Skepsis und warf ihm sogar vor, mcht genug gegen den Ausbruch des Krieges getan zu haben Die Haltung des Deutschen Reiches wurde mit Erstaunen zur Kenntnis genommen, wenn Direktor Judet sich auch mcht sicher war, ob die deutsche Politik einem "calcul machiavehque" oder emem "mteret bien compns" entsprang "Nous sommes, jusqu'ä nouvel ordre, en droit de supposer que cette sagesse est conforme ä une politique reflechie, prudente et avisee"226, nahm Judet zugunsten der deutschen Politik an Im weiteren Verlauf der Krise kritisierte er wiederholt in scharfer Form die Ineffizienz des Machtekonzerts, obwohl er von der grundsatzlichen Fnedensbereitschaft der Machte überzeugt zu sein schien227 Im Figaro beschwor Raymond Recouly die Einheit der Großmachte und erhielt auch sprachlich die Vorstellung aufrecht, daß es sich beim "europaischen Konzert" um eme Übereinkunft der Großmachte und mcht, wie immer deutlicher wurde, um eine Zusammenarbeit zwischen Mitgliedern zweier Bündnissysteme handelte "La cnse actuelle a quelque peu brouille le jeu des alliances et des ententes europeennes C'est entre Pans et Berlm que l'accord a paru, a certaines heures, le plus complet"228, so das verhaltene Lob Recoulys zu einem Zeitpunkt, als der Krieg bereits ausgebrochen war Uneingeschränkt lobte Jaures die partielle Zusammenarbeit als "peut-etre Tevenement le plus considerable de ces dernieres annees"229 In der Zusammenarbeit zwischen England, Frankreich und Deutschland sah er eme Garantie für den allgemeinen Frieden, wahrend er Gefahren für diesen ausschließlich von selten Rußlands oder Österreichs erwartete Jaures' Position als em hervorragender Vertreter der Sozialistischen Internationale definierte sich mcht allem aus machtpolitischen Erwägungen, die für ihn nur "second best"-Losungen darstellten, weil er den Weitblick der Regierungen m Zweifel zog Stattdessen forderte er den Protest des Proletanats zur Losung der internationalen Konflikte ein230 Der Matin würdigte im Oktober 1912, obwohl er gleichzeitig deutsche wirtschaftliche Interessen in Frankreich heftig angriff231, die franzosisch-deutschen Kontakte als Ausdruck für das ausgezeichnete Verständnis zwischen Kiderlen-Wachter und Pomcare und lobte die deutsche Regierung als die einzige Regierung, die unmittelbar das Zusammenwirken mit der französischen gesucht habe232 Beinahe eine Ausnahme bildete der Verweis des von Jean Dupuy geführten Petit Panswn, die von den Umstanden herbeigeführte deutsch-franzosische Einigkeit sei angesichts der erst em Jahr zuruck226

L'Eclair, 16 10 1912 (Judet) Ebda, 21 10 , 29 11, 4 12 , 16 12 1912,2 1 , 9 1 1913 (außer 9 1 Judet) 228 Le Figaro, 18 10 1912 (Recouly) 229 L'Humanite, 8 10 1912 (Jaures) 230 Ebda, 13 10 1912 (Jaures), La Depeche de Toulouse, 6 10 , 12 10 1912 (Jaures) 231 Le Matin, 9 10 1912 zur chemischen Fabrik Scheidemantel 232 Ebda, 7 10 1912 227

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liegenden Agadir-Krise "piquant"233. Francis Charmes zeigte sich in der Revue des Deux Mondes davon überzeugt, daß Deutschland am Bündnis mit Österreich festhalten, es aber auch mäßigen werde234. Größeres Mißtrauen brachten die Autoren des Siede, Jean Herbette und Pierre Baudin, der deutschen Politik entgegen. Herbette warf den Zweibundmächten vor, es an "patriotisme europeen"235 mangeln zu lassen, Baudin vermutete hinter der deutschen "reserve silencieuse" eigene Ziele. Das Urteil Baudins, Senator im Departement Ain und Mitglied der "gauche democratique", war besonders deshalb interessant, weil sein Engagement im Comite Commercial francoallemand und sein Eintreten für eine engere wirtschaftliche Kooperation im Kontrast zu seinen politischen Vorbehalten stand236. Der regierungsnahe Temps hob die Rolle Frankreichs und Poincares für eine Friedensregelung hervor, räumte aber ein, daß auch die deutsch-französische Zusammenarbeit von Bedeutung sei, weil beide Staaten ihren jeweiligen Bündnispartnern gegenüber ähnliche Positionen einnehmen müßten und deshalb für eine Vermittlung prädestiniert seien, eine Interpretation, wie sie auch Le Radical vertrat, das Organ der Radikalen und Radikalsozialisten237. Resümierend läßt sich für die Zeit bis zum Ausbruch des Krieges eine weitgehend freundliche Berichterstattung großer Teile derfranzösischenPresse gegenüber Deutschland konstatieren. Diese Haltung reichte von der moderaten nationalen bis zur sozialistischen und radikalen Presse und schloß die politisch weniger festgelegten Massenblätter ein, mit Ausnahme des Petit Journal, in dem sich der auch für das Journal d'Alsace-Lorraine tätige Emile Hinzelin zum Problem ElsaßLothringen äußerte, Fragen der Konfliktvermeidung auf dem Balkan dagegen kaum publiziert wurden238. Ein allgemeines Kennzeichen der französischen Berichterstattung war die Verwendung von Begriffen wie "les Puissances" und "l'Union de l'Europe", neben dem unverhohlenen Stolz, daß die politische Initiative Poincares zu einer bündnisübergreifenden Verständigung geführt und damit seine Legitimation als europäischer Staatsmann gestärkt hatte. Die deutsche Presse zeigte sich skeptischer. Die Frankfurter Zeitung kritisierte vor allem das Fehlen kollektiven Handelns und das mangelnde Vertrauen der Großmächte in die Möglichkeiten der eigenen Politik. Erst nachdem durch die Demarche Poincares zumindest eine gemeinsame Position festgelegt worden war, lobte sie die "von allen Sondermteressen freie, aus-

233 ie petjt Parisien, 4.10.1912: "piquant" ist allerdings ein Begriff mit vielfacher Bedeutung: verletzend, anregend, unangenehm, angenehm. 23 *RDDM, 1.12.1912, S. 718-720. 235 Le Siede, 1.10.1912 (Herbette). 236 Ebda, 7.10.1912 (Baudin). 237 Le Temps, 12.10.1912 (vermutl. Tardieu); Le Radical, 17.10.1912. 238 Z,e Petit Journal 15.10., 18.10.1912 (Hinzelin).

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schließlich versöhnliche Richtung"239 derfranzosischenund deutschen Politik Beiden Landern schrieb die Zeitung große gemeinsame Interessen auf dem Balkan zu Die Kolnische Zeitung berichtete nach einigem Zogern, daß die franzosische Regierung "abermals einen Beweis ihrer friedliebenden Gesinnung" gegeben habe, "nachdem sie schon seit dem Ausbruch der Balkankrise m dankenswerter und eifrigster Weise bemuht ist, dem drohenden Brand m jenen Gebieten vorzubeugen "240 Die konservativen Hamburger Nachrichten gestanden zu, daß das Zentrum der diplomatischen Aktivitäten in Pans liege, wahrend das liberale Berliner Tageblatt ahnlich wie die Vossische Zeitung den gemeinschaftlichen Charakter des deutsch-franzosischen Vorgehens betonte241 Die konservativen Berliner Neuesten Nachrichten dagegen sahen m derfranzosischenPolitik lediglich den Versuch Poincares, "das unbewegliche Europa vor seinen diplomatischen Triumphwagen zu spannen"242 und wandten sich gegen emen Kollektivschritt der Machte, den sie als Sieg der Entente über den Dreibund auslegten Die Hindernisse für ein langfristiges deutsch-franzosisches Konfhktmanagement zeigten sich deutlicher nach Ausbruch des Krieges auf dem Balkan Einerseits ließ sich die Konfliktvermeidung durchaus als Erfolg der bundnisubergreifenden Strategie Poincares verbuchen, andererseits vereinnahmte die franzosische öffentliche Meinung den Erfolg der Balkanlander auch als Erfolg der eigenen Waffen, vor allem der bulgarischen Artillerie, die zum großen Teil von Frankreich ausgerüstet worden war243 Eme vorsichtigere Haltung in der franzosischen Diplomatie wurde von Paul Cambon vertreten Er befürchtete, das Deutsche Reich könne den Ausgleich mit Rußland suchen und dadurch die Triple Entente schwachen "Notre Ambassadeur a Berlin depeint en effet le Gouvernement allemand comme affectant de jouer, dans les circonstances actuelles, un röle modeste, efface Le Cabinet de Berhn evite de prendre parti, donne son assentiment ä toutes les propositions, de quelque cöte qu'elles viennent II semble se reserver pour une action ulteneure et vouloir se diriger selon les evenements Sir Arthur Nicholson se preoccupe vivement de l'attitude de rAllemagne II redoute avec juste raison que les evenements ne procurent ä cette Puissance des occasions de se faire bien venir ä Petersbourg, d'exploiter a son profit quelque divergence de vues entre la Russie, l'Angleterre et la France, enfin de miner et d'ebranler la Triple Entente " 2 4 4 239

Frankfurter Zeitung, 9 10 1912, Abendausgabe Kolnische Zeitung, 7 10 1912, Morgen, vgl auch Kolnische Zeitung, 8 10 1912, 1 Morgen, Abend 241 Hamburger Nachrichten, 5 10 1912, Morgen, Berliner Tageblatt, 5 10 1912, Abend, Vossische Zeitung, 4 10 1912, Abend, 5 10 1912, Abend 242 Berliner Neueste Nachrichten, 5 10 1912, Abend, vgl auch die Einkreisungsidee in der Ausgabe vom 6 10 1912, Morgen 243 GP 12296 und 12303, Schoen an Bethmann Hollweg, 25 und 26 10 1912 244 DDF 3, IV-184, P Cambon an Poincare, 16 10 1912 240

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Paul Cambon plädierte, um diesen Eventualitäten vorzubeugen, für eine Ententepolitik mit einemfranzösisch-englischenKern, der auf die russische Politik einwirken sollte. Die Implikationen dieser Einschätzung Paul Cambons waren gravierend. Sie zeigt das Mißtrauen, das in derfranzösischenDiplomatie gegenüber der deutschen Politik vorherrschte, bestimmt von den Erfahrungen des Jahres 1911 und von der Sorge um den Bestand der Entente, die erst mit dem immer noch vorsichtig formulierten englisch-französischen Abkommen vom 22. November 1912 gemildert wurde245. Etwas positiver, aber prinzipiell mit den gleichen Vorbehalten, äußerte sich Jules Cambon. Zwar versicherten Kiderlen-Wächter und Bethmann Hollweg dem französischen Botschafter, daß Frankreich und Deutschland auf dem Balkan gleichsam automatisch die Rolle der Vermittler zufalle, aber das Bündnis mit Österreich werde dadurch keinesfalls in Frage gestellt: "Elle [rAllemagne] attache beaucoup de prix au fait que les circonstances ont permis ä la France et ä l'Allemagne de manifester une certaine communaute de vues ä propos de rOrient. Assurement, malgre toutes les amertumes que la politique de TAutriche lui a causees et lui cause tous les jours, eile se montrera fidele alliee en cas de difficultes graves, mais eile aimerait n'y etre pas obligee et eile prefererait pouvoir rester neutre."246

Die Zurückhaltung der deutschen Regierung könne außerdem taktischer Natur sein: "... on fait le personnage modeste en se reservant l'arbitrage supreme quand tout sera si bien brouille qu'on ne saura comment s'en tirer."247 Bei allen Vorbehalten gegenüber der deutschen Politik übten die Brüder Cambon allerdings heftige Kritik an der Politik Poincares. Sie beurteilten seine Außenpolitik als zu statisch und mit zu wenig Freiräumen für die Botschafter, kurz, er habe keinen Sinn für diplomatische Verhandlungen und kümmere sich um unwesentliche Details. Poincares Idee der Botschafterkonferenz, urteilte Paul Cambon am 28. November 1912, sei nur aus dem Ehrgeiz geboren worden, Präsident der Republik zu werden248. Diese Haltung Poincares hatte auch für die deutsch-französische Zusammenarbeit im Rahmen der Großmächteverhandlungen Konsequenzen. Jules Cambon mußte feststellen, daß Poincare die deutsche Regierung nicht als gleichwertigen Partner ansah, sondern die Leitung des "europäischen Konzerts" in den eigenen Händen zu behalten versuchte: 245

Text in: Ebda, IV-534, P. Cambon an Poincare, 23.11.1912 (Briefwechsel GreyCambon im Annex); Vgl. NICOLSON, Sir Arthur Nicolson, S. 371-374; FAY, Origins, S. 312-346. 246 DDF 3, IV-199, J. Cambon an Poincare, 18.10.1912. 247 CAMBON, Paul, Correspondance 1870-1924, Bd. 3 (1912-1924), Paris 1946, Paul an Mes Cambon, 15.10.1912 (paraphrasiert einen Brief Jules'). 248 Ebda, Paul an Jules Cambon, 28.11.1912.

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"Jai donne dans un telegramme dluer un resume des observations de Kiderlen sur la Conference des Ambassadeurs et sur la facon dont eile devrait proceder - j'ai essaye de faire de cela des suggestions en l'air, car il est insupportable ä Poinc [are] qu'on hü parle d'un programme venu d'ici, et son esprit naturellement numerote, classe et enregistre tout comme dans un dossier " 249

Der öffentliche Sprachgebrauch Poincares bestätigte das Urteil der Bruder Cambon In seiner programmatischen Rede am 27 Oktober 1912 m Nantes erwähnte Pomcare die deutsche Mitwirkung an der Verhinderung emes europaischen Krieges mcht mehr ausdrücklich250 In emem Schreiben an die Botschaft in Berlin bestätigte Pomcare, daß er mcht gewillt war, außerhalb des Zweibundes mit Rußland zu handeln, ohne allerdings seme doppelte Strategie aufzugeben, das Deutsche Reich m seine Konzeption von der "entente europeenne" einzubinden Jedoch wurde diese Entente begrifflich immer begleitet von der Wahrung der "digmte nationale" im Verbund mit England und Rußland251 Der Dreiklang der Politik Pomcares im Herbst 1912 laßt sich demnach beschreiben als Zusammenspiel von französisch-russischem und franzosisch-englischem Bündnis, franzosischen Interessen auf dem Balkan und dem Erhalt des europaischen Friedens Wahrend m dieser ersten Phase des Balkankrieges die Gewichte dieser Ziele noch gleich verteilt erschienen und vor allem diefranzösischenfinanziellen Interessen in der Türkei eme Annäherung an Deutschland nahelegten, überwog bald Sicherheitsdenken in einer klar abgestuften Hierarchie von Zielen Dann stand das franzosisch-russische Bündnis an erster Stelle, um die Großmachtrolle Frankreichs in Europa, auch gegen das Deutsche Reich, zu garantieren252 Für die deutsche Regierung stand entsprechend das Bündnis mit ÖsterreichUngarn, aber auch eme Annäherung an England im Vordergrund In dieser ersten Phase der europaischen Verhandlungen entschied sich die deutsche Regierung daher auf Initiative des Geschäftsträgers m London, Richard von Kuhlmann, anstelle einer Vertiefung der deutsch-franzosischen Option oder der von Jaures propagierten Zusammenarbeit von England, Deutschland und Frankreich für eine engere deutsch-englische Zusammenarbeit auf dem Balkan Bereits im August 1912 hatte Kiderlen-Wachter diese Kooperation angeregt und Goschen, englischer Botschafter m Berlm, hatte vorgeschlagen, diesen Ansatz bis zu einem gewissen Grad zu verfolgen, ohne daß die Beziehungen "with our more mtimate fnends"253 gestört werden durften Im Oktober zeichnete sich diese Zusammenarbeit immer starker ab Das deutsche Inter249

MAE-PAAP, 043-100, Jules an Paul Cambon, 14 12 1912 BN, Papiers Poincare NAF 16036, S 175 251 MAE-LJ, Affaires balkaniques, vol I, Poincare an J Cambon, 26 10 1912, ähnlich äußerte sich Poincare vor der Commission des Affaires etrangeres am 5 12 1912 252 vgl TAYLOR, Struggle for Mastery, S 492 f 253 Zitiert nach CRAMPTON, Hollow Detente, S 57 250

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esse galt dabei keineswegs nur der Friedenswahrung im Vorderen Orient, sondern der Schwächung des englisch-russischen Bündnisses254 und der allgemeinen Verbesserung der deutsch-englischen Beziehungen, obwohl Kiderlen-Wächter der deutschen Diplomatie Zurückhaltung auferlegte, "um die Anfänge der erwünschten Entwicklung nicht im Keime zu gefährden."255 Den drängenden Vorschlägen Richard von Kühlmanns vom 15. Oktober 1912, den Wünschen Greys nach einer Verständigung mit Deutschland nachzukommen, begegnete Kiderlen zwar mit prinzipiellem Einverständnis, aber mit Skepsis hinsichtlich der Stellung Greys im Foreign Office und mit Mißtrauen, weil die Anregung dazu auf informellem Weg, während eines Essens Kühlmanns mit dem Privatsekretär Greys, Tyrrell, zustandegekommen war. Ein eigenständiges Vorgehen Kühlmanns unterband Kiderlen mit dem rüde vorgetragenen Hinweis, Kühlmann habe sich an die Anweisungen des Auswärtigen Amtes zu halten. An die englische Regierung stellte er die Bedingung, daß die deutschenglischen Besprechungen über den Balkan vertraulich sein und die Ergebnisse von der englischen Regierung auch nach außen hin - sprich innerhalb der Triple Entente - vertreten werden müßten256. Die Entwicklung der deutsch-englischen Kontakte soll hier nicht weiter verfolgt werden. Sie trugen dazu bei, daß die Botschafterkonferenz, zu der sich die Großmächte im Dezember 1912 nach zähen Vorverhandlungen bereit erklärten, partielle Erfolge erzielte257. Die Angst vor einem einseitigen Vorgehen Österreich-Ungarns brachte die französische Regierung im November 1912 dazu, erneut initiativ zu werden. Die Schwierigkeit, das "Konzert der Mächte" zusammenzuhalten, äußerte sich in ersten Differenzen über den Tagungsort. Paris kam für Kiderlen-Wächter nicht in Frage, weil er den Einfluß Iswolskis und die Ambitionen des italieni-

254 GP 12240, Kühlmann an AA, 7.10.1912; GP 12253, Tschirschky an Bethmann Hollweg, 8.10.1912, jeweils mit erwartungsvollen Randbemerkungen Wilhelms II. zu einer englisch-russischen Verstimmung. 255 GP 12263, Kiderlen-Wächter an Jenisch, 12.10.1912. 256 GP 12284, Kühlmann an Bethmann Hollweg, 15.10.1912; GP 12287, KiderlenWächter an Kühlmann, 20.10.1912; vgl. CRAMPTON, Hollow Detente, S. 55-74; NICOLSON, Sir Arthur Nicolson, S. 383-386. Zu den persönHchen Beziehungen Kühlmanns zu Angehörigen des Foreign Office vgl. KÜHLMANN, Erinnerungen, S. 307-314. 257 Zu Konferenzen als Verortung des europäischen Konzerts vgl. HOFFMANN, Organisations internationales, S. 27-36. Zum Themenkomplex der deutsch-englischen Vermitthingsbemühungen und zur Politik Greys während der Botschafterkonferenz vgl. GREY, Fünfundzwanzig Jahre Politik, Bd. 1, S. 240-264; NICOLSON, Sir Arthur Nicolson, 357390; TAYLOR, Struggle for Mastery, S. 482, der die These vertritt, daß die englische Unterstützung für Rußland nicht so selbstverständlich war wie für Frankreich, und dadurch die deutsch-englische Verständigung erleichtert wurde; HENNING, Deutschlands Verhältnis zu England; LYNN-JONES, Detente and Deterrence.

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sehen Botschafters Tittoni fürchtete258 Schoen verwarf zudem den Gedanken, die Wahl von Paris konnte der Verbesserung der deutsch-französischen Beziehungen dienen Deutlich äußerte er seine Vorbehalte gegenüber der Politik Poincares und seme Zweifel daran, die Stimmung m Frankreich durch deutsches Entgegenkommen zu verbessern In dieser Phase kam dem Urteil Schoens besonderes Gewicht zu, weil er mit Ressentiments argumentierte, die die deutsche Politik emer angeblich antagonistischen deutsch-französischen Tradition verpflichtete "Er [Pomcare] ist, schon als Lothnnger, mcht unser Freund und seine Politik ist mcht von dem Gedanken beseelt, die Kluft zwischen Frankreich und uns zu überbrücken, sondern eher, sie zu vertiefen"259 Nicht wemger problematisch gestaltete Schoen seme Aufgabe, die franzosische öffentliche Meinung zu analysieren und dem Auswärtigen Amt mitzuteilen Nachdem er schon die Bedeutung, die m Frankreich der deutsch-franzosischen Rolle in der Vorgeschichte der Balkankriege beigemessen wurde, unterschätzt hatte, unterschlug er, wie negativ die Reichstagsrede Bethmann Hollwegs vom 2 Dezember 1912, in der der Reichskanzler die absolute Bundnistreue des Deutschen Reiches nachdrücklich unterstrichen hatte, m der franzosischen öffentlichen Meinung aufgenommen wurde260 Langfristig entspannende Effekte versprach sich Schoen von emer deutsch-franzosischen Balkanpolitik mcht "Zwischen uns und Frankreich liegen Dmge, die mcht durch Freundlichkeiten hinweggeschafft werden können "261 In der deutschen Politik fand vor allem em Wandel m der Haltung gegenüber Osterreich statt Noch am 9 November 1912 betonte Wilhelm II m einem Gesprach mit Kiderlen und Bethmann Hollweg, der Casus foederis sei mcht gegeben, wenn er "den Launen der auswärtigen Politik emes anderen Staates direct dienstbar gemacht und quasi dafür zur Verfugung gehalten werden muß'"262 Als jedoch Schoen Ende November 1912 die franzosische Befürchtung wiedergab, Osterreich könne sich "zum Zerhauen des Knotens mit dem Schwert entschließen", kommentierte Wilhelm II dies mit emem "hoffentlich ja" Schoen vermittelte allerdings auch den Eindruck, daß die franzosische Regierung sich mcht ohne weiteres m emen Krieg für russische Interessen hineinziehen lassen werde263 Eme schwerwiegende Krise m der deutschen Politik entstand, als Lichnowsky am 3 Dezember die Warnung Kriegsminister Haldane's nach Berlm übermittelte, die englische Regierung 258

GP 12503, Schoen an Bethmann Hollweg, 24 11 1912, Anmerkung KiderlenWachters 259 Ebda 260 PA-AA, Türkei 203 Nr 1, Bd 11, Schoen an AA, 3 12 1912 261 GP 12503, Schoen an Bethmann Hollweg, 24 11 1912 262 GP 12349, Aufzeichnung Wilhelm II, undatiert, zu Gesprach vom 9 11 1912 mit Kiderlen-Wachter und Bethmann Hollweg 263 PA-AA, Türkei 203 Nr 1, Bd 9, Schoen an Bethmann Hollweg, 24 11 1912, Randbemerkungen Wilhelms II

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werde einer Niederwerfung Frankreichs nicht tatenlos zusehen. Bekanntermaßen erging sich Wilhelm II. in antienglischen Ausbrüchen und berief am 8. Dezember den berühmt gewordenen "Kriegsrat" ein, der über einen möglichen Krieg und die notwendigen Maßnahmen beriet, nachdem bereits am 1. Dezember Moltke und Ludendorff ein Memorandum zum gleichen Thema verfaßt hatten. An dieser Stelle kann nicht weiter auf Verlauf und Bedeutung des Kriegsrats eingegangen werden264. Tatsache ist, daß diese militärpolitischen Beratungen die diplomatischen Bemühungen nicht verhinderten und die zivile Reichsleitung ihre Vorbereitungen für die Botschafterkonferenz fortsetzte. Nachdem der Plan Poincares für den Konferenzort Paris gescheitert war, fiel die Wahl gegen den Willen Greys auf London265. Kiderlen gab Lichnowsky Anweisung, sich zunächst stets mit den Dreibundpartnern zu einigen, ohne nach außen hin diesen Eindruck zu erwecken266. Das Gremium des "europäischen Konzerts" in London hinkte. Es brachte zwar alle Vertreter der Großmächte zusammen, konnte aber nur parallel zu den Bündnisstrukturen arbeiten und sich nicht über sie hinwegsetzen. Vereinbart wurde der formlose Charakter der Gespräche, ohne Protokoll, aber mit möglichst einstimmig zu fassenden Beschlüssen. Der deutsch-französische Aspekt, der zu Beginn der Krise noch eine Rolle gespielt hatte, wich der deutsch-englischen Zusammenarbeit, die im übrigen auch von Wilhelm IL, unbeschadet der enttäuschten Illusionen über die englische Politik, rückhaltlos gebilligt wurde267. Erste Ergebnisse stellten sich rasch ein. Über die Gründung des autonomen Staates Albanien wurde bereits im Dezember 1912 eine Einigung erzielt268. Obwohl sich Wilhelm II. in Tiraden gegen Poincare erging, der sich Schoen gegenüber optimistisch über den Erfolg der Konferenz geäußert hatte269, schien sich im Januar 1913, unter dem Eindruck der zu Beginn erfolgreichen 264 Vgl. RÖHL, John CG., An der Schwelle zum Weltkrieg. Eine Dokumentation über den "Kriegsrat" vom 8. Dezember 1912, in: MGM 1 (1977), S. 77-134; FISCHER, Illusionen, S. 231-247; SCHULTE, Bernd F., Vor dem Kriegsausbruch 1914, Deutschland, die Türkei und der Balkan, Düsseldorf 1980, S. 75-107; HILLGRUBER, Deutschlands Rolle, S. 54-58; SCHÖLLGEN, Griff nach der Weltmacht, S. 390 f. 265 GP 12518, Lichnowsky an AA, 7.12.1912; vgl. GREY, Fünfundzwanzig Jahre Politik, S. 253 f. 266 GP 12540, Kiderlen-Wächter an Lichnowsky, 15.12.1912. 267 GP 12581, Wolffbureau an Wilhelm DL, 28.12.1912 und Randbemerkungen; GP 12592, Bethmann Holhveg an Wilhelm IL, 31.12.1912 zu deutsch-englischer Kooperation; vgl. das nachträghche Lob des Fürsten LICHNOWSKY für Grey in seiner Verteidigungsschrift, Meine Londoner Mission 1912-1914 und Eingabe an das preußische Herrenhaus, Berlin 1919, S. 11-13. 268 GP 12545, Lichnowsky an AA, 17.12.1912. 269GP 12558, Schoen an Bethmann Hollweg, 19.12.1912, Anmerkungen Wilhelms EL: "Was weiß denn der Affe von dem was die Russen an der Galizischen Grenze machen!? Einbildung des eitlen Zivilisten, der über Militaria einfach zur Tagesordnung übergeht", um zu schließen: "Allgemeiner Quatsch! Gallisches Getratsch!"

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Zusammenarbeit der Großmachte, em entspannteres deutsch-französisches Verhältnis anzubahnen Nach der Kollektivnote der Großmachte an die Türkei vom 17 Januar 1913 und der russisch-österreichischen Entspannung begann die franzosische Regierung mit vorsichtigen Versuchen, die deutsche Regierung von ihrem Friedenswillen zu überzeugen Im Februar 1913 besuchte Poincare als neu gewählter Präsident der Dritten Republik überraschend die deutsche Botschaft und wiederholte die bekannten Grundzuge seiner Politik als President du Conseil, die friedliche Beilegung der Krise im Verem mit allen Großmachten Dies sei Beweis genug, daß Frankreich kerne kriegerischen Absichten gegen das Deutsche Reich hege Dennoch hob Pomcare den "Frieden in Ehren"270 als wiederkehrendes Motiv emer selbstbewußteren franzosischen Staatsfuhrung hervor Das neue Kabinett Bnand fand em positives Urteil m den Berichten Schoens Außenminister Jonnart betonte die Gemeinsamkeiten der deutschen und franzosischen Interessen in der Türkei271 Diese Avancen blieben ohne Folgen Zum beherrschenden Thema des Jahres 1913 wurden die Rustungsvorlagen und das Gesetz über die Verlängerung des franzosischen Wehrdienstes Die franzosische Regierung betonte, sie sehe darin kerne "geste provocatnce", und Schoen bestätigte den guten Willen der franzosischen Regierung "Ich habe den Eindruck, daß die vorstehenden Erklärungen dem Wunsche entspringen, namentlich in Hinsicht auf allgemeine europaische Lage deutschfranzosische Beziehungen mcht als gespannt erscheinen zu lassen "272 Richtig daran war, daß die deutsch-franzosischen Beziehungen mcht den eigentlichen Anlaß für die deutschen Rustungsplane ausmachten Vielmehr sah sich die Reichsleitung aufgrund der Ereignisse auf dem Balkan veranlaßt, die eigene Großmachtrolle auf dem Kontinent, besonders angesichts der offenkundigen Schwache des Bündnispartners, neu zu definieren und Anstrengungen zu unternehmen, um einen zukunftigen Krieg aus einer unsicheren Mittellage heraus gegen zwei Fronten fuhren zu können Die aktuelle Krise verstärkte demnach den beiderseitigen Eindruck, antagonistischen Systemen anzugehören, ohne daß ein gememsames Krisenmanagement dadurch ausgeschlossen wurde Vor diesem Hintergrund ist die Aussage Jules Cambons zu verstehen, die franzosische Regierung wolle "unter Innehaltung ihrer Verpflichtungen gegen Rußland 'de concert avec le Cabmet de Berlin'" auf dem Balkan vorgehen, ohne allerdings diese Kooperation öffentlich zu machen "II 270

PA-AA, Frankreich 105 Nr la, Bd 24, Schoen an AA, 21 2 1913 und 22 2 1913, skeptische Randbemerkungen Wilhelms II, vgl SCHOEN, Erlebtes, S 148 f 271 PA-AA, Frankreich 105 Nr 1, Bd 30, Schoen an Bethmann Hollweg, 30 1 1913 272 PA-AA, Frankreich 94, Bd 65, Schoen an Bethmann Hollweg, 19 2 1913, ahnlich äußerte sich Jonnart am 13 3 1913 (PA-AA, Frankreich 102, Bd 56, Schoen an Bethmann Hollweg) "An sich finde er aber unsere Rüstungen durchaus verständlich und sehe in ihnen durchaus nicht eine herausfordernde Geberde oder kriegslustige Absichten "

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ne faut pas qu'on le sente dans la rue, mais il faut qu'on le sente bien dans les Cabinets."273 Die größte Bewährungsprobe hatten die Mächte Ende April 1913 zu bestehen, als die Montenegriner Skutari besetzten und ein Angriff Österreich-Ungarns auf Montenegro befurchtet werden mußte. Der Druck der Mächte zwang König Nikita zum Rückzug. Es folgte der Einzug internationaler Truppen in Skutari und die Umsetzung des Beschlusses, den Staat Albanien unter Aufsicht der Mächte zu gründen274. Nachdem die Kriegsparteien den Präliminarfrieden von London geschlossen hatten, beschloß die Botschafterkonferenz am 11. August 1913, Grenzkommissionen einzusetzen, die die albanische Grenze nach ethnographischen und geographischen Gesichtspunkten vermessen sollten275. Interessant sind hierbei weder die Schwierigkeiten, auf die die aus jeweils sechs Vertretern der Londoner Konferenzmächte bestehenden Kommissionen bei der albanischen Bevölkerung und der griechischen Regierung stießen, noch die Debatte um das Konsensprinzip bei Abstimmungen, bei denen auf Druck Frankreichs und Rußlands die Einstimmigkeit beibehalten wurde, sondern das Verhalten der Kommissionsmitglieder. Die Vertreter Frankreichs und Rußlands sowie Deutschlands und Österreichs bildeten jeweils eine Gruppe, während die englischen Vertreter oft mit den Dreibundvertretern zusammenarbeiteten, mit dem Erfolg, daß wenigstens die Kommission für Südalbanien im Dezember 1913 ein Protokoll mit Grenzkarte vorlegen konnte. Dagegen gestalteten sich die Verhandlungen in der Nordkommission so schwierig, daß Fournier, der französische Vertreter, bei seiner Regierung gegen die englische Haltung protestierte: "Je vous serai oblige de le [die Unterstützung des englischen Vertreters für den Dreibund] signaler ä nouveau ä Sir Edward Grey et de lui marquer tout l'interet que je verrais ä ce que le delegue anglais recut de son Gouvernement des Instructions precises de marcher d'accord avec ses collegues de la Triple Entente."276

Die Albanienfrage reflektierte also die Ausgleichsbemühungen der englischen Regierung ebenso wie die deutsch-englische Kooperation und die Festigung des deutsch-österreichischen sowie desfranzösisch-russischenBündnisses auf dem Kontinent. 273 GP 12743, Jagow an Wilhelm IL, 27.1.1913, abfällige Randbemerkungen Wilhelms II. über die "Gallier", die ihren Worten Taten folgen lassen müßten. 274 Vgl. LÖHR, Hanns Christian, Die Albanische Frage. Konferenzdiplomatie und Nationalstaatsbildung im Vorfeld des Ersten Weltkriegs unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Außenpolitik, Bonn 1992, S. 92-115. 275 MAE, NS Albanie 22, Dossier 1 und GP 13690, Beschluß der Botschafterkonferenz zur Abgrenzung von Südalbanien vom 11.8.1913. 276 MAE, NS Albanie 23, Dossier 2, MAE (verfaßt in der Sous-Direction d'Europe, deren Direktor Berthelot war) an die Botschafter bei den Großmächten, 11.5.1914, mit Bericht Fourniers als Anlage.

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Der seltene Fall eines deutsch-französischen Einvernehmens trat durch die Kavallafrage ein. Im griechisch-bulgarischen Streit um die Städte Drama, Seres und Kavalla in Makedonien beanspruchten Österreich und Rußland das Gebiet für Bulgarien, während das Deutsche Reich und Frankreich für eine Übernahme durch Griechenland plädierten. Für beide Entscheidungen spielten taktische und bündnispolitische Erwägungen eine Rolle. Österreich warb um Bulgarien, um es zu beruhigen, einen Konflikt Bulgariens mit Rumänien zu vermeiden und Rumänien als Bollwerk gegen Rußland zu nutzen. Das Deutsche Reich verfolgte das Ziel, Griechenland für den Dreibund zu gewinnen277. Auch auf das Risiko einer Verstimmung Österreichs hin wies Jagow Tschirschky an, die deutsche Position zu vertreten, daß Griechenland nicht um die Früchte seines Sieges gebracht werden dürfe, weil es sonst dem Dreibund verloren gehe278. Über diese Frage entstand aus den verschiedenen Überlegungen und Motivationen heraus ein punktuelles Einvernehmen zwischen der deutschen und französischen Regierung. Der Quai d'Orsay sah sich gezwungen, Rußland gegenüber seine Haltung in der Kavallafrage zu verteidigen und damit den Bukarester Frieden vom 6. August zu sichern279. Die Verstimmung im französisch-russischen Bündnis erwies sich als so groß, daß sich Pichon veranlaßt sah, über die Presse eine formelle Bestätigung der französisch-russischen Einheit zu verbreiten: "Aucun des deux n'a jamais demande ä l'autre le sacrifice de son point de vue."280 So ging die Botschafterkonferenz in das Jahr 1914, ohne daß die grundsätzlichen Fragen, die die Politik und die Interessen der Mächte auf dem Balkan aufwarfen, Gegenstand der Verhandlungen hätten sein können: das Verhältnis Rußlands zu Österreich-Ungarn, das Verhältnis Deutschlands zu Frankreich und die Bündnisfragen281. Die akuten Fragen eines möglichen Krieges und Mechanismen zur Konfliktvermeidung reduzierten sich auf die Ebene der "paix armee" und des Machtgleichgewichts, alternative Lösungsvorschläge wurden nur noch unterhalb der politischen und diplomatischen Entscheidungsebene vertreten, etwa in der Friedensbewegung282. Der deutsch-franzö277

GP 13700, Jagow an Tschirschky, 1.8.1913. GP 13702, Tschirschky an Jagow, 2.8.1913 (eingetroffen) und Jagow an Tschirschky, 2.8.1913. 279 GP 13742, Schoen an Bethmann Hollweg, 6.8.1913; GP 13748, Schoen an Bethmann Hollweg, 11.8.1913. 280 DDF 3, VIII-14, Pichon an die Botschafter bei den Großmächten und den kriegführenden Parteien, 12.8.1913. 278

281

282

Vgl. GEISS, Katastrophe, S. 149.

Vgl. HILDEBRAND, Klaus, Julikrise 1914: Das europäische Sicherheitsdilemma. Betrachtungen über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in: GWU 36 (1985), S. 485; DERS., Europäisches Zentrum, überseeische Peripherie und neue Welt. Über den Wandel des Staatensystems zwischen dem Berliner Kongreß (1878) und dem Pariser Frieden (1919/20), in: HZ 249 (1989), S. 83.

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sische Diskurs beschränkte sich auf spezielle Fragen und verlor mehr und mehr den Anspruch, mäßigend auf die jeweiligen Bündnispartner einzuwirken. Beide Regierungen gingen zudem stärker als zuvor von ihrer Gegnerschaft in einem möglichen Krieg aus. Das Dilemma der französischen Politik, gleiche Interessen mit dem Deutschen Reich in der Türkei zu vertreten und gleichzeitig russische Wünsche zu berücksichtigen, sowie das ähnlich gelagerte Problem der Reichsleitung, Österreichs Wünschen nachzukommen, ohne das "europäische Konzert" zu sprengen, wurde im Frühjahr 1913 gelöst, indem die Finanzfragen von der Botschafterkonferenz abgekoppelt und einem selbständigen Fachgremium in Paris übertragen wurden. Durch die Bilateralisierung von Detailproblemen der Mächtebeziehungen wie der Bagdadbahn im Herbst 1913 verbesserten sich die Erfolgsaussichten entscheidend, aber eine positive Rückkopplung an das internationale System wurde dadurch erschwert. Das Ende des Jahres 1913 bot somit ein zwiespältiges Bild. Zwar war es den Mächten gelungen, den europäischen Frieden untereinander zu wahren und den Kontakt zu erhalten, zweifellos ein Erfolg des "europäischen Konzerts", aber über die Balkankrisen kam es zu einer Minderung der Handlungsspielräume der Großmächte, vor allem der Zweibundsysteme Frankreich/Rußland und Deutsches Reich/Österreich-Ungarn. Die positiven Ansätze des Jahres 1912 zeigen jedoch, daß die Bündniszugehörigkeit nicht a priori eine bündnisübergreifende Politik zur Konfliktvermeidung in Europa verhinderte. Die Bündnisse erwiesen sich in begrenztem Maße als flexibel. Die Zusammenarbeit wirkte allerdings nie systemsprengend. Die deutschfranzösischen Ansätze vom Herbst 1912 stellten für beide Regierungen die jeweils schwächere Alternative dar. Für die Reichsleitung hatte das Bündnis mit Österreich-Ungarn Priorität, während sie gleichzeitig die Nähe zu England suchte. Die deutsch-englische Kooperation war nicht nur mit gemeinsamen Handels- und Finanzinteressen auf dem Balkan zu erklären - diese bestanden in gleichem Maße zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich -, sondern mit den mittelfristigen Zielen der deutschen Englandpolitik. Die französische Regierung orientierte sich stärker an der Politik Rußlands, obwohl sie zu keinem Zeitpunkt der russischen Regierung so ergeben war, wie es die Herausgeber der "Großen Politik" glauben machen wollten283. Auch wenn die deutsch-französische Zusammenarbeit in den Anfängen steckenblieb und über einen episodischen Charakter nicht hinauskam, bietet sie doch interessante Einblicke in die Funktionsweise und bündnisübergreifenden Ansätze eines schwächer werdenden "europäischen Konzerts" der Großmächte.

283

Vgl. etwa GP 14201, Lucius (St. Petersburg) an AA, 28.10.1913 und Fußnote 3.

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2.2.3. Paix armee, Rüstungswettlauf und deutsch-französische Zwischenfälle, April bis November 1913 2 2 3 1 Die Konzeption der "paix armee" in Deutschland und Frankreich: Kräftegleichgewicht und die Befähigung zum Krieg "Es wird niemals möglich sein zu beweisen oder zu widerlegen, daß das Gleichgewicht der Machte durch seme stabilisierende Wirkung zur Vermeidung vieler Kriege beigetragen hat Man kann mcht von einer Hypothese ausgehend den Lauf der Geschichte zuruckverfolgen Kann zwar niemand aufzahlen, wieviele Kriege es ohne das Gleichgewicht der Machte gegeben hatte, laßt sich doch leicht erkennen, daß die meisten Kriege seit dem Beginn des modernen Staatensystems vom Gleichgewicht der Machte verursacht wurden " 284

Diese skeptische und in sich widersprüchliche - denn der Beleg für die spannungssteigernde Wirkung des "Gleichgewichts" kann auf dieser Basis ebensowenig erbracht werden - Einschätzung Hans J Morgenthaus weist auf eme der Schwierigkeiten hm, die eme Untersuchung des Machtesystems und der mit diesem verbundenen Begriffe - "Europaisches Konzert der Machte", "Gleichgewicht der Großmachte" und "Paix armee/Bewaffheter Frieden" - mit sich bnngt Die genannten Begriffe suggerieren emen mechamschen Ablauf von Prozessen m der internationalen Politik, die es erleichtern, Vorgange strukturell zu erklaren und sie in Modelle zu fassen Sie bedeuten allerdings auch eine Vereinfachung der historischen Wirklichkeit Die Probleme der Theorie werden mcht dadurch aufgehoben, daß eine umfassende empirische Untersuchung, das "Correlates-of-War-Project", zu dem Ergebms kommt, daß Rüstungswettläufe, die einen Zustand der "Paix armee" bewirkten, seit 1816 in den meisten Fallen zu Kriegen führten und daß in empirischer Analyse die Herstellung eines Gleichgewichts kernen stabilisierenden Charakter aufwies, sondern im Gegenteil die Wahrscheinlichkeit kriegerischer Konflikte deutlich erhöhte285 Die vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Kalten Krieges geführte Diskussion hat die Theorien der realpohtischen Schule m Frage gestellt, die davon ausgeht, daß sich Rustungsspiralen nur in Abhängigkeit von politischen Spannungen ergeben und daß folgerichtig em Abbau politischer Spannungen Rüstungsbeschränkungen nach sich ziehen werde286 Auch die stabilisierende Wirkung der gegenseitigen Abschreckung von Bündnissystemen wird von den "Correlates-of-War"-Studien in Frage gestellt Michael D 284

MORGENTHAU, Hans J, Macht und Frieden Grundlegung einer Theorie der internationalen Politik, Gütersloh 1963, S 186 285 Vgl SINGER, J David (Hg), Explaining War Selected Papers from the Correlates of War Project, London 1979 286 Vgl SMALL, Mervin/SlNGER, J David, Conflict in the International System, 18161977 Histoncal Trends and Policy Futures, in SINGER, Explaining War, S 57-82, VASQUEZ, Steps to War

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Wallace kommt zu dem Ergebnis, daß Allianzen tendenziell ein höheres Kriegsrisiko in sich bargen, und dies umso mehr, je enger die Allianz gestaltet wurde. Die Wahrscheinlichkeit des Krieges und seine mögliche Dauer erhöhen sich nach Meinung von Wallace und de Mesquita mit einer Veränderung des Staatensystems in Richtung höherer "systemic tightness"287. Das Ziel dieser Ansätze besteht nicht nur in der wissenschaftlichen Behandlung des Phänomens Krieg, sondern in Erkenntnissen, die die Theoriebildung unterstützen und die Anwendbarkeit auf zukünftige Konflikte erleichtern sollen. In diese Richtung einer normativen Anwendung der Kriegsforschung geht auch die Forderung von Kenneth N. Waltz nach einer umfassenden Theorie der internationalen Beziehungen. In Umkehrung der von Wallace und de Mesquita vertretenen Anschauung, daß engere Bündnisstnikturen die Kriegswahrscheinlichkeit erhöhen, erläutert Waltz am Beispiel des Ersten Weltkriegs, daß eine größere Kohärenz der Blöcke einen Krieg hätte vermeiden können, weil dies die Unklarheit über die Reaktionen der Großmächte in ihren jeweiligen Bündnissen beseitigt hätte, mithin ein Informationsproblem, das zu den Illusionen der deutschen Regierung über den Kriegseintritt Englands führte288. Dieser Forderung einer systematischen Betrachtung versuchen auch die System- und entscheidungstheoretischen Modelle gerecht zu werden, indem sie Verhaltensweisen auf bestimmte Grundbedingungen eines Machtgleichgewichts zurückführen, unter denen es funktionsfähig ist289. Um normative Aussagen über das Verhalten der Akteure unter reduzierten Annahmen zu gewinnen, nutzen verschiedene Autoren Ansätze aus der Spieltheorie, die für das deutsch-französische Verhältnis besonders zutreffend sind und ein bilaterales Gleichgewicht unter den Bedingungen des "Gefangenendilemmas" plausibel erscheinen lassen. Die Anwendbarkeit der Spieltheorie ergibt sich aus den auf die historischen Akteure anwendbaren Annahmen, der rationalen und strategischen Entscheidung beider Spieler, deren Ergebnis in hohem Maße von der 287

MESQUITA, Bruce Bueno de, Systemic Polarization and the Occurrence and Duration of War, in: SINGER, Explaining War, S. 113; vgl. auch die Aufsätze ebda: WALLACE, Michael D., Alliance Polarization, Cross-Cutting, and International War, 1815-1964, A Mesurement Procedure and Some Prelirninary Evidence, S. 83-111; DERS., Arms Races and Escalation. Some New Evidence, S. 240-252. Dagegen hat Jack S. Levy die Meinung vertreten, daß die den Allianzen zugrundeliegenden Unsicherheiten und nicht die Allianzen selbst für die Wahrscheinlichkeit des Krieges verantwortlich sind: LEVY, Jack S., Alliance Formation and War Behavior. An Anarysis of the Great Powers 1495-1975, in: JCR 25 (1981), S. 581-613. 288 Vgl. WALTZ, Kenneth N., Theory of International Politics, Massachusetts u.a. 1979, S. 161-193. 289 Vgl. HAFTENDORN, Theorie der internationalen Politik, besonders die Aufsätze von KRELLE, Wilhelm, Entscheidungstheoretische Methoden in der auswärtigen Politik, S. 244-254; KAPLAN, Morton A , Systemtheoretische Modelle des internationalen Systems, S. 297-317.

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Entscheidung des Kontrahenten abhängt, dem beiderseitigen Wissen um die Nutzenzustände und Konsequenzen dieser Entscheidungen und dem Streben nach Nutzenmaximierung290. Anatol Rapoport hat die Annahme der rationalen Entscheidung kritisiert und auf die Grenzen dieser Art der strategischen Entscheidung hingewiesen, die sich auf ein Nullsummenspiel beschränkt, bei dem der Gewinn des einen stets der Verlust des anderen sein muß. Die Ausweitung auf ein mögliches Positivsummenspiel müßte, so Rapoport, auch die Überlegungen des anderen einschließen und über kooperative Elemente einen höheren Nutzen für beide Parteien herbeiführen291. Offenbar beschreibt die erste Art des nicht-kooperativen Nullsummenspiels hinreichend die politischen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg. Die Regierungen beider Länder nahmen das Risiko in Kauf, daß die eigenen Rüstungen vielleicht Gegenmaßnahmen provozieren könnten, weil sie davon ausgingen, daß die Entscheidung für eine Erhöhung der Kriegsfähigkeit des Landes als beste Wahl zu gelten hatte, ohne Rücksicht darauf, was die andere Partei entscheiden würde. Beide Regierungen rechtfertigten Rüstungen als Reaktion auf eine tatsächliche oder als real angenommene Bedrohung, auf die reagiert werden müsse. Der stabilisierende Faktor dieses Denkens wiederum ergab sich aus den gleichartigen Schlußfolgerungen, die die Staaten daraus zogen, nämlich das "europäische Konzert" als Element der europäischen Politik beizubehalten und sich gleichzeitig durch Allianzen abzusichern, weil über das Verhalten der anderen Staaten in Krisensituationen Unsicherheit herrschte: "Le probleme du rapport entre le concert et les alliances se trouve ainsi pose. H n'y avait pas necessairement antagonisme entre eux. C'est la mefiance ... et la volonte de maintenir i'equilibre europeen qui amenait les grandes puissances ä se reunir; c'est la meme mefiance - entre elles - et le meme desir de maintenir l'equilibre qui les poussa ä conclure des alliances."292

Diese theoretischen Überlegungen zur Machtbalance im europäischen Staatensystem zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind notwendig, um die Bedeutung der deutschen und französischen Perzeption der Idee des "europäischen Konzerts" und des "Gleichgewichts der Kräfte" zu verstehen, denn mit diesen Ideen rechtfertigten beide Länder das System der Allianzen als Garantie für den Frieden. Obwohl Autoren wie Bernhardi, die einem Präventivkrieg das Wort redeten und den Krieg als eine unvermeidliche, einem Naturereignis

290

Vgl. ebda. Vgl. RAPOPORT, Kämpfe, Spiele und Debatten, S. 185-213, 245-261; AXELROD, Robert, Die Evolution der Kooperation, München 1987, S. 67-79. 292 HOFFMANN, Organisations Internationales, S. 47. 291

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gleiche Erscheinung ankündigten293, große Erfolge in Deutschland erzielten, ist es fraglich, ob der Pessimismus der nationalistischen Publizistik einen allgemeinen und weit verbreiteten Willen zum Krieg wiedergab und ob er wirksam genug war, um die Politik der Regierungen in diesem Sinne zu beeinflussen294. Die Frage ist, ob die wechselseitige Vorstellung, einen Krieg durch militärisches Gleichgewicht und Rüstung zu vermeiden - also einen "bewaffneten Frieden" zu bewahren - nicht dazu beitrug, in einer von Krisen geprägten Zeit für eine Stabilisierung zu sorgen, die nicht an der schnellen Abfolge von Krisen scheiterte, sondern begrenzt, "by strengthening mutual deterrence"295,friedenserhaltendwirkte. Diese Haltung läßt sich in den Äußerungen der führenden Staatsmänner sowie in der Publizistik und Presse beider Länder nachweisen. In Frankreich war der Einfluß extremer Nationalisten gering, was auch mit der innenpolitischen Polarisierung in der Dreyfus-Afifäre zusammenhing, bei der sich letztlich die "Dreyfusard" durchgesetzt hatten. Die "AntiDreyfiisard", zum Teil identisch mit den Nationalisten und Monarchisten, spielten seit der Rehabilitierung von Dreyfus im Jahre 1906 weder in der Nationalversammlung noch in den französischen Kabinetten eine entscheidende Rolle296. Auch die deutsche Botschaft in Paris vermittelte der Reichsleitung den Eindruck, daß das größere Selbstbewußtsein derfranzösischenRegierung und die Debatte um die Verlängerung des Militärdienstes nicht mit einem erhöhten Kriegswillen der Bevölkerung einherging: "Das französische Volk ist im Großen und Ganzen durchausfriedlichgesinnt."297 Andre Tardieu, der sich als Verfasser des "Bulletin de l'etranger" im Temps regelmäßig mit außenpolitischen Fragen befaßte, veröffentlichte im Juli 1912 in der pazifistischen Deutschen Revue einen Artikel zu den deutsch-französischen Beziehungen. Er stellte zwar fest, daß die öffentliche Meinung ganz unter dem Eindruck der Agadir-Krise stehe, glaubte jedoch nicht, daß die Polemik in der Presse langfristige Änderungen im bilateralen Verhältnis auslösen würde. Auch die lange Friedensphase seit 1871 sah Tardieu als Bestätigung, daß Deutschland und Frankreich zwar nicht die grundsätzlichen Probleme ihrer Beziehung beseitigt, bisher aber den Frieden aufgrund eines "relativen Gleichgewichts"298 erhalten hätten. Diese Konzeption hatte Tardieu in den 293

BERNHARDI, Friedrich von, Deutschland und der nächste Krieg, Stuttgart/Berlin

1912. 294

Vgl. MOMMSEN, Der Topos vom unvermeidlichen Krieg, in: DÜLFFER/HOLL, Bereit zum Krieg, S. 194-224. 295

296

STEVENSON, Armaments, S. 14.

Vgl. BECKER, Comment les Francais, S. 573-590: "Le premier constat que nous avons pu faire est que Texistence d'un veritable renouveau nationaliste ä l'approche de la guerre est tout a fait contestable." (S. 575). 297 GP 15643, Schoen an Bethmann Hollweg, 29.4.1913. 298 Deutsche Revue, Juli 1912, S. 15.

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Leitartikeln des Temps während der ersten Marokkokrise entwickelt und in seinem Buch "La France et les Alliances" vertieft299. Sein Hauptvorwurf an die deutsche Regierung lautete, sie empfinde die Ententepolitik nur deshalb als "Einkreisung", weil die deutsche Hegemonie durch die Bündnissysteme abgelöst worden sei, die nun ein Gleichgewicht in Europa hergestellt hätten. Mit einem Rückgriff auf die deutsche Obstruktionshaltung auf der zweiten Haager Friedenskonferenz 1907 versuchte er, dieses Argument zu untermauern300. Die Friedenserhaltung nach Agadir sei, so Tardieu in der Deutschen Revue, eine Frage "reinlicher Scheidung" der Interessen und nicht durch "gemeinschaftliche Sache"301 zu erreichen. Der Weg der deutschfranzösischen Interessenscheidung in der Türkei deutete sich in diesem Gedanken bereits als Möglichkeit der Konfliktvermeidung an. Deutlich wies Tardieu eine über gute Beziehungen zwischen Nachbarn hinausgehende deutsch-französische Annäherung zurück, weil diese gegen ein "natürliches Gesetz" verstoße, hinter dem unausgesprochen die Erinnerung an den Krieg von 1870/71 stand. Die Erinnerung war zwar kein entscheidendes Kriterium zur Lösung aktueller Streitpunkte, erwies sich aber als Hindernis für eine auf langfristige Zusammenarbeit angelegte Entente. Entfiel die Möglichkeit einer Entente, blieb nur noch das Konzept der "Paix armee", um ein zwar friedliches, aber keineswegs freundschaftliches Verhältnis beider Länder zu sichern, wofür Tardieu mit einem pathetischen Plädoyer warb: "Ist es notwendig hinzuzufügen, daß diese Auffassung jede pazifistische Phantasie ausschließt und daß der Friede, so aufgefaßt, nur bis an die Zähne bewaffnet sein kann? An dem Tag, an dem das eine der beiden Völker durch das Schwachwerden des Gegners die Gefahren eines Krieges geringer werden sähe, wäre für es die Versuchung zu groß, dem Rufe der Toten zu folgen, die reden, und wieder zu den Waffen greifen."302

Karl Max Fürst Lichnowsky, der spätere Botschafter in London, zu diesem Zeitpunkt aber noch Privatmann, stimmte Tardieu im wesentlichen zu. Eine deutsch-französische Verständigung hielt er erst zu einem späteren Zeitpunkt für möglich, wenn beide Länder vielleicht "auf fremden Erdteilen historische Erinnerungen und Empfindlichkeiten ganz zurücktreten lassen"303 könnten. Die Veröffentlichung dieses Meinungsaustauschs in der Deutschen Revue und im Temps304 zeigt die Absicht, in beiden Ländern Verständnis für die nach 299

Vgl. TARDIEU, Andre, La France et les Alliances. La lutte pour requilibre 18711910, Paris 1910. 300 Vgl. Le Temps, 6.4., 2.5.1907; 22.6., 8.8., 11.8., 30.8., 31.8.1908. 301 Deutsche Revue, Juli 1912, S. 16. 302 Ebda. 303 Ebda, S. 20. 304 Le Temps, 18.10.1912. Diese späte Veröffentlichung ist sicherlich auch der Ernennung Lichnowskys zum Botschafter in London, aber auch der Aktualität zu verdanken, die diese Artikel im Oktober 1912 erhielten.

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Meinung der Autoren friedenserhaltende Wirkung der Rüstungen zu erwekken, noch ein Jahr vor den Rüstungsdebatten in Frankreich und Deutschland um Wehrvorlage und "Trois Ans". Das Verständnis der Berechtigung aller nationalen Anstrengungen ging in diesen national-gouvernementalen Kreisen so weit, daß die bedrohlichen Elemente der Rüstungen hinter die Betonung des nationalen Rechts zu Rüstungen zurücktraten. "Est-il besoin d'ajouter ... que l'Allemagne, ce faisant, use de son droit et remplit son devoir?",fragteLe Temps am 24. April 1912305, und ein Jahr später war es an den Preußischen Jahrbüchern, zwar den "Gleichheitsfanatismus der Franzosen" im militärischen Wettlauf mit dem Deutschen Reich zu beklagen, gleichzeitig aber eine Schwächung Frankreichs zu furchten, "das Erstarren und Sinken Frankreichs, worin wir eine ernste Gefahr für das europäische Gleichgewicht und einen schmerzlichen Verlust für die Gesittung der Welt erblicken müssen."306 Mit dieser Einschätzung verwandt war die beiderseitige Ablehnung aller Gegner der Rüstungen, vor allem der sozialistischen Parteien. Maximilian Harden wies in der Zukunft im August 1913 daraufhin, daß die Rüstungen jeweils aus wohlbegründeten und aus seiner Sicht legitimen Sicherheitsinteressen gesteigert worden seien und eine Geringschätzung Frankreichs nicht im Sinne nationaler Gesinnung liegen könne: "Da die Mehrheit des deutschen Volkes einen Krieg gegen Frankreich nicht wünscht und auch die Minderheit ihn ... nur als das unvermeidbare Mittel gegen unerträglichen Drang hinnähme, sollte Jeder, der öffentHch spricht, Jeder, der öffentUchem Urtheil Raum gewährt, sich sorgsamer als bisher vor ungerechtem, das Selbstachtungsbedürfhis der Franzosen verletzendem Meinensausdruck hüten."307

Die Frage von Gleichgewicht und den Möglichkeiten einer "rational-moderaten Richtung des Imperialismus"308 beschäftigte auch einige der deutschen Regierung nahestehende Publizisten. Kurt Riezler, Sekretär des Reichskanzlers, legte in zwei Büchern Überlegungen zu diesem Thema vor309. In den "Grundzügen der Weltpolitik in der Gegenwart" sah Riezler eine weltwirtschaftliche Interessenverflechtung, die die Grundlage der weltpolitischen Interessendeckung bilde. Trotz der Rücksichten, die die Staaten wegen der vielfältigen Berührungspunkte nehmen müßten, postulierte Riezler die Idee, daß 305

Le Temps, 24.4.1912. 306Preußische Jahrbücher, 152, Heft 1, Die Verlängerung der Militärischen Dienstzeit in Frankreich, S. 195 (E. Daniels). 307 Die Zukunft, 16.8.1913, S. 209 (Harden). 308 NDPPERDEY, Thomas, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 2, München 1992, S. 680. 309

RIEZLER, Erforderlichkeit des Unmöglichen; RUEDORFFER [RDBZLER], Grundzüge;

vgl. GEISS, Vorgeschichte, S. 124-158; HILLGRUBER, Andreas, Riezlers Theorie des kalkulierten Risikos und Bethmann Holhvegs politische Konzeption in der Julikrise 1914, in: HZ 202 (1966), S. 333-351.

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"ein jeder Staat letzten Endes jedem anderen in absoluter Feindschaft"310 gegenüberstehe. Diese Feindschaft könne zwar durch das, was Riezler "parallele Expansion" der in den freien Raum expandierenden Großmächte nannte, aufgehoben werden, aber in der Unmöglichkeit, über die verteilten Kolonien hinaus zu expandieren sowie im "natürlichen und ewigen Gegeneinander"311 lagen die Grenzen dieser Konzeption. Für das Deutsche Reich und Frankreich gab es demnach keine Möglichkeit, auf lange Sicht ein Nebeneinander ohne Krieg zu gestalten, weil die Frage Elsaß-Lothringen eine Annäherung verhinderte. Bündnisse und Rüstungen bewertete Riezler zwiespältig. Obwohl diese, so argumentierte Riezler, Mittel der Staaten darstellten, Kosten und Risiken eines möglichen Krieges zu minimieren - denn, so die Logik Riezlers, ein Krieg mit erhöhten Rüstungen würde ungleich höhere Kosten verursachen -, versuchten die Staaten, die Konstellationen zu ihren Gunsten zu verschieben. Strukturell jedoch, hier deckte sich Riezlers Analyse mit der Paix-armeeVorstellung seiner Zeit, erschwerten Bündnissysteme den Krieg, solange sie sich bei Spannungen elastisch verhielten. Direkte Interessengegensätze tauchten außerdem immer zwischen Staaten, nicht jedoch zwischen Bündnissystemen auf312. Im besonderen Verhältnis zu Frankreich herrschte bei Riezler jedoch Pessimismus vor. Die Idee, mit Frankreich zu einem Ausgleich zu kommen, lag für ihn wie für die meisten Beamten der Reichsregierung außerhalb der Möglichkeiten deutscher Außenpolitik, weil er die französische Bedrohung überschätzte: "... in der inneren Politik Frankreichs spielt die Gegnerschaft gegen Deutschland und die Macht der Empfindungen, von der sie getragen ist, eine so große Rolle, daß jedes Ministerium, das nicht diese Macht der Empfindungen von den Gegnern gegen sich ausnutzen lassen will, darauf bedacht zu sein pflegt, sich gegen den Verdacht besonderer Hinneigung zu Deutschland zu schützen."313

Die populärphilosophisch verbrämte Idee Riezlers, ein "Friedensbund aller Staaten" könne die Kämpfe der Völker regeln und aus "dem Gegeneinander ein Ineinander einer einzigen Gemeinschaft entstehen lassen"314, entsprang weniger der politisch verstandenen Idee einer allmählichen Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, wie sie bei den Anhängern der Schiedsgerichtsbarkeit zu finden war, sondern der romantisch-abstrakten Vorstellung

310

RUEDORFFER[RIEZLER], Grundzüge, S. 187 f Ebda, S. 210. 312 Vgl. ebda, S. 219-223. 313 Ebda, S. 241; vgl. TUDYKA, Kurt R, Internationale Beziehungen. Eine Einführung, Stuttgart u.a. 1971, S. 23 f. 314 RIEZLER, Kurt, Die Erforderlichkeit des Unmöglichen. Prolegomena zu einer Theorie der Politik und zu anderen Theorien, München 1913, S. 228. 311

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des humanistisch gebildeten Beamten im Auswärtigen Amt, der der westlichen Staatsidee skeptisch bis ablehnend gegenüberstand. Einem Appell an die Regierungen ähnelte Hans Plehns anonym erschienene Schrift "Deutsche Weltpolitik und kein Krieg!", die 1913 erschien. Die Stoßrichtung Plehns zielte auf ein gutes deutsch-englisches Verhältnis, so daß er sogar gescheiterte Ausgleichsbestrebungen wie die Haldane-Mission als "Entente" schönredete315. Den Marokko-Kongo-Vertrag mit Frankreich sah Plehn als Beispiel dafür, daß mit Frankreich, bei aller Rivalität, politische Geschäfte abgeschlossen werden konnten. In Mittelafrika biete sich Frankreich die Möglichkeit, die deutsche Expansion durch Zugeständnisse zu kanalisieren und von Europa fernzuhalten316. Das Buch Plehns war im Vergleich zu den Werken Riezlers ungleich konkreter, aber es gab als Realität vor, was sich in Wirklichkeit als Wunschvorstellung der deutschen Regierung entpuppte. Die hier vorgestellten Überlegungen in der öffentlichen Meinung entsprachen den politischen Paradigmata in Deutschland und Frankreich. In Frankreich hatte Poincare den dort und in Deutschland als verständigungsbereit geltenden Caillaux abgelöst. Im Juni 1912 betonte Poincare, er wolle die Beziehungen zu Deutschland "loyales et courtoises"317 gestalten. In Nantes legte er am 27. Oktober 1912 seine Konzeption der Aufgaben Frankreichs und der Triple Entente dar. Nachdem Poincare alle Republikaner zur Mitarbeit und zum Vertrauen in die Regierung aufgerufen hatte, um die Aufgaben in der aktuellen Krise auf dem Balkan zu bewältigen, definierte er nachdrücklich Frankreichs Bündnispolitik und unterstrich die Bedeutung der Bündnispartner, mit denen Frankreich durch "liens entrelaces et indestructibles"318 verbunden sei. Für den Frieden in Europa sah Poincare die Triple Entente als besten Garanten, denn deren "solidite demeure necessaire ä l'equilibre europeen"319. Die Balkankrise zerstörte die Illusion, die Ruhe in Europa und der Welt mit den hergebrachten Mitteln der Mächtepolitik bewahren zu können. Die Angst vor einem möglichen Krieg bzw. einer Schwächung der eigenen Position im 315

Vgl. PLEHN, Weltpolitik und kein Krieg!, S. 46-51; HILDEBRAND, Das vergangene Reich, S. 277-282. 316 Vgl. PLEHN, Weltpolitik und kein Krieg, S. 31 und 79-97. 317 JO, Chambre des Deputes, 14.6.1912, S. 1482. Hier äußerte sich Poincare auch optimistisch über die Möglichkeit, Streitfragen zum Marokko-Kongo-Vertrag durch die im Vertrag enthaltene Schiedsklausel zu lösen. Caillaux hat in der Rückschau Poincares Haltung in der Kammerdebatte als "premiers pas, prudents mais resolus, sur la route du nationalisme" gebrandmarkt (CAILLAUX, Memoires, vol. m, S. 15) . Diese Darstellung steht stellvertretend für die Tendenz Caillaux*, Poincare eine erhebliche Mitschuld am Ausbruch des Krieges zu unterstellen, zumal Caillaux sich für den geeigneteren Politiker hielt, um die Beziehungen zu Deutschlandfriedlichzu gestalten. 318 BN, Papiers Poincare NAF 16036, S. 175. 319 Ebda.

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Mächtesystem wurde zur wichtigsten Legitimation für die neuen Rüstungsvorhaben, begleitet von politischer Rhetorik, die die Friedensliebe des eigenen Landes herausstellte. Poincare, Bethmann Hollweg und mit ihnen eine große Zahl deutscher und französischer Journalisten und Publizisten waren zutiefst davon überzeugt, mit Rüstungsanstrengungen einen Beitrag zum europäischen Gleichgewicht zu leisten, sei es aus Angst vor der zahlenmäßigen Überlegenheit des Gegners oder vor dem Zusammenbruch des Bündnispartners. Poincare drückte diesen Gedanken mit einer Anspielung auf das Deutsche Reich aus: "Une nation pacifique qui ne saurait pas se faire respecter serait ä la merci du hasard. Tant qu'il y aura, sur la surface du globe, des peuples capables d'obeir inopinement ä un ideal belliqueux, les peuples les plus sincerement fideles ä un ideal de paix sont dans l'obligation de rester prets ä toutes les eventualites."320

Poincare untermauerte seine Konzeption auch publizistisch. Im Dezember 1912 gründete er die Zeitschrift La Politique etrangere, mit der er sich an ein politisch gebildetes Publikum wandte, um die komplexen Probleme der Zeit um "quelques renseignements exacts et quelques paroles de sang-froid"321 zu bereichern. Sein Mitarbeiter Jean Herbette322 würdigte die Wahl Poincares zum Präsidenten und die positive Aufnahme der Wahl sogar in Deutschland. Das Verhältnis zu Deutschland beschrieb er ganz im Sinne Poincares: "Les peuples, dans leurs relations entre eux, n'ont point de gendarme ni de tribunal qui les aide ä se maintenir sur le droit chemin. Un individu qui a envie de transgresser les lois morales voit generalement s'elever contre lui toute la puissance de l'Etat. Une nation n'est protegee contre ses appetits que par la force des nations voisines. Si la vigueur de ses voisins diminue, eile est poussee presque irresistiblement vers les tentations. Si ses voisins affilent soigneusement leur epee et choisissent un bon che£ eile eprouve le goüt sahitaire de la courtoisie et de la loyaute."323

Je weiter die Verwirklichung der Heeresvermehrung jedoch näherrückte, desto stärker erhob Herbette den Vorwurf, das Deutsche Reich gefährde das europäische Gleichgewicht, weil es danach trachte, seine verlorengegangene hegemoniale Stellung in Europa wiederzugewinnen.324 La Politique etrangere wurde aber auch zu einem Forum, in dem deutsche Autoren ihre Meinung über die deutsche Politik veröffentlichten. Ein deutscher Publizist versuchte 320

Ebda, S. 179. Den Vorwurf des "ideal belliqueux" hatte Poincare im Konzept mit "passions belliqueuses" noch viel schärfer angegriffen. 321 La Politique etrangere, 15.12.1912, S. 1. 322 Jean Herbette (1878-1960) war der Vetter von Maurice Herbette, "Chef du cabinet et du personnel" am Quai d'Orsay und beim Temps zeitweise für den Bulletin politique zuständig. 323 La Politique etrangere, janv. 1913, S. 2 (Herbette). 324 Vgl. ebda, fevr. 1913, S. 2 f. (Herbette).

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im Mai 1913, also während der Rüstungsdebatten in den Parlamenten, die Friedfertigkeit des deutschen Volkes zu belegen, dessen Enttäuschung sich weniger gegen das Ausland richte als gegen die Unfähigkeit der deutschen Politik, der wirtschaftliehen Kraft des Deutschen Reiches eine adäquate internationale Stellung zu verschaffen325. Die französische Einschätzung der deutschen Politik trug dieser deutschen Befindlichkeit Rechnung. Jules Cambon, der auch in deutschen Augen als Verfechter eines deutsch-französischen Ausgleiches galt, vertrat dabei eine Poincare sehr nahe Position326. In einem Brief vom 23. März 1912 charakterisierte Cambon die Eigenschaften der deutschen und die Möglichkeiten der französischen Politik: "A la verite, je persiste a penser que le gouvernement allemand ne veut pas la guerre mais qu'il pratique avec exces la maxime 'si vis pacem, para bellum'. II se rend compte que jamais la Situation generale n'a ete aussi obscure qu'ä present, aussi pleine d'eventuaütes redoutables qu'un hasard independant de toute volonte peut faire eclater. H tient ä etre pret. II ne faut donc ni s'affoler, ni l'accuser de duplicite, mais faire de meme, c'est-ä-dire vouloir la paix, se tenir pret ä la guerre et eviter tout ce qui pourrait ressembler ä une provocation. A ce point de vue, l'apaisement des esprits est bien necessaire."327

Cambons Deutschlandbild war also nicht von einem blauäugigen Verständigungswillen geprägt; lediglich seine Vorstellung von der Friedfertigkeit des Kaisers, dessen Autorität durch Intrigen und Gerüchte um die Entlassung Kiderlen-Wächters geschwächt zu sein schien, zeichnete sich durch politisch nicht begründbaren Optimismus aus328. Im Reichstag entwickelte Reichskanzler Bethmann Hollweg am 2. Dezember 1912 in einer kurzen, aber viel beachteten Rede eine der Konzeption Poincares vergleichbare Argumentationskette. Er lobte zunächst die Zusammenarbeit der Mächte bei der Lokalisierung des Krieges und den "lebhaften Gedankenaustausch"329 zwischen den Mächten. Obwohl Bethmann Hollweg den Kriegsfall als unwahrscheinlich bezeichnete, stellte er unmißverständlich klar, das Deutsche Reich werde im Zweifelsfall an der Seite Österreich-Ungarns "zur Wahrung unserer eigenen Stellung in Europa, zur Verteidigung der Sicherheit und Zukunft unseres eigenen Landes fechten."330 Im Unterschied zu Poincare, der die Solidität der Allianz betonte und weitere Verwicklungen 325

Vgl. ebda, mai 1913, S. 3-5 (Gustav Durnstrey). Vgl. dagegen KEIGER, France and the Origins of the First World War, S. 68-72, der einen Gegensatz zwischen der Verständigungspolitik Cambons und der Ententepolitik Poincares sieht. 327 MAE, PAAP, 043-58, J. Cambon an Poincare, 23.3.1912. 328 Ebda, "Un seul homme voit phis clair que les autres, c'est TEmpereur, mais son autorite a ete tellement ebranlee qu'il n'ose phis l'exercer." 329 Stenographische Protokolle des Reichstags, 2.12.1912, 2472 A 330 Ebda. 326

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als "toutes les eventualites" umschrieben hatte, lag der Akzent in Bethmann Hollwegs Rede auf einem denkbaren Kriegsfall, wenn dieser auch an bestimmte Voraussetzungen geknüpft zu sein schien. Indem Bethmann Hollweg in einer Mischung aus Drohung und Bündnisappell die Möglichkeit eines Krieges evozierte - im übrigen im Konsens mit Konservativen, Zentrum und Nationalliberalen331 -, entfernte er sich von der moderaten Argumentation Poincares, mit dem er allerdings die Vorstellung der kriegsvermeidenden Machtbalance teilte. Francis Charmes kritisierte in der Revue des Deux Mondes die absolute Bündniszusage Bethmann Hollwegs, obwohl weder eine konkrete Forderung Österreichs bekannt geworden sei, noch Serbien damit gedroht habe, einen allgemeinen Krieg zu provozieren332. Charmes meinte zwar feststellen zu können, daß gerade in Momenten, wo Deutschland "agite fort son grand sabre"333, es ihn wahrscheinlich nicht benutzen werde, aber der Temps erinnerte daran, daß in keiner europäischen Hauptstadt "de si brutal au fond et de si maussade dans la forme" gesagt worden sei. Der Verfasser dieses "Bulletin de TEtranger", vermutlich Tardieu, entschuldigte die Wortwahl des Reichskanzlers mit dem wenig schmeichelhaften Hinweis: "II faut se rappeler que les Allemands manquent de nuances, et que loin d'attenuer la rudesse des idees qu'ils expriment, ils se plaisent ä l'accentuer."334 Dieser Kommentar steht stellvertretend für die skeptische Einschätzung der deutschen Politik in regierungsnahen Blättern wie Revue des Deux Mondes oder Temps an der Jahreswende 1912/13. Die Wehrvorlagen verteidigte Bethmann Hollweg im Reichstag im April 1913 mit Hinweis auf die seit Monaten andauernden Spannungen seit Beginn des Balkankrieges, obwohl er zumindest in öffentlicher Rede an seiner positiven Einschätzung der Zusammenarbeit aller Mächte festhielt335. Mit Blick auf Frankreich versicherte der Reichskanzler, das Deutsche Reich werde nur bei einem Angriff Frankreichs in den Krieg ziehen, obwohl er wissen mußte, daß 331

Vgl. ebda, Fortgang der Reichstagsdebatte mit Beiträgen von Ledebour (SPD) 2472-2483, Graf von Kanitz (Zentrum) 2485-2488, Bassermann (Nationalliberale) 24882493, der z.B. ausführte: "Besserungen unserer Beziehungen zu Frankreich und zu England begrüßen wir gewiß alle gern, auch meine Fraktion; aber begeisterte Dithyramben über bessere Beziehungen, die sich aus den speziellen Balkaninteressen dieser beiden Staaten ergeben, würden verfrüht sein." (2489 D); vgl. auch das Referat Bassermanns vom 9.2.1913 im Zentralvorstand der nationalliberalen Partei: Von Bassermann zu Stresemann. Die Sitzungen des nationalliberalen Zentralvorstandes 1912-1917, bearb. v. Klaus-Peter REIß, Düsseldorf 1967. 332 Vgl. RDDM, 15.12.1912, S. 956 f. 333 Vgl. ebda, S. 957. 334 Le Temps, 4.12.1912. 335 Vgl. WOLLSTEIN, Günter, Theobald von Bethmann Hollweg, Gottingen/Zürich 1995, S. 75-81. Es ist allerdings fraglich, ob man Bethmanns rationale Argumentation von den "ideologischen Zusätzen" (S. 77) trennen kann, wie das folgende Zitat zeigt.

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diese Aussage in krassem Gegensatz zur militärischen Planung stand. Die Unsicherheit über die außenpolitische Lage und die Sicherheit des Deutschen Reiches brachte Bethmann Hollweg in widersprüchlichen Gedanken zum Ausdruck: "Unsere Beziehungen, meine Herren, zu der französischen Regierung sind gut... Ich habe allen Grund zu glauben, daß die gegenwärtige französische Regierung in nachbarlichem Frieden mit uns zu leben wünscht. Ob und welchen Wechsel die Zukunft bringen mag, weiß niemand."336 Vor dem Hintergrund dieser diffusen Zukunftsängste pries Bethmann Hollweg den Dreibund als Friedensgarantie. Die Rüstungen Frankreichs, die von demselben Verständnis nationalen Prestiges, absoluter nationaler Souveränität in Rüstungsfragen und von der Ungewißheit über die Entwicklung in Europa bestimmt wurden, verstand Bethmann Hollweg daher nicht als Provokation: "Auch Frankreich will sich eben militärisch so stark machen, wie es vermag."3^ In der französischen Debatte spielte die Störung des Gleichgewichts durch das Deutsche Reich eine große Rolle. Joseph Reinach forderte, die Aufgabe Frankreichs bestehe hauptsächlich darin, "de retablir entre l'Allemagne et nous cet equilibre militaire qui est l'une des conditions indispensables de l'equilibre politique."338 Auch er glaubte, daß allein militärische Stärke den Frieden zu sichern vermöge, "de toutes les garanties de la paix, il n'en a pas de plus solide que la force au Service du droit."339 Während Reinach dem Deutschen Reich nicht unmittelbar aggressive Tendenzen unterstellte, gab es andere Abgeordnete, die mit dem Bruch des Gleichgewichts auch die Möglichkeit einer "attaque brusquee" gegeben sahen340. Auf Regierungsebene dagegen dominierte der Abschreckungsgedanke, ohne daß die Rüstungen der Gegenseite als unmittelbare Kriegsvorbereitungen gesehen wurden, und auf beiden Seiten empfand man die eigenen Rüstungen als Reaktion auf die Bedrohung durch den anderen, in Deutschland durch den "Reveil National" und die angebliche Revanchelust Frankreichs, in Frankreich durch die Wehrvorlage und die der deutschen Führung zugeschriebenen militärischen Dispositionen. Das Konzept, "... durch eine Fortentwickelung unserer militärischen Machtmittel... das Risiko einer kriegerischen Politik so [zu] steigern, daß den dortigen Machthabern das Wagnis, mit uns anzubinden, erneut zu groß erscheint"341, wurde zum Credo beider Regierungen. 336

Stenographische Protokolle des Reichstags, 7.4.1913, 4513B C. Ebda, 4514 C. 338 JO, Chambre des Deputes, 3.6.1913, S. 1676. 339 Ebda, S. 1688. 340 Vgl. z.B. die Ausführungen des Abgeordneten Lefevre: JO, Chambre des Deputes, 5.6.1913, 1746-1754. Winterfeldt, deutscher Militärattache in Paris, nannte die "invasion brutale" des Reiches als Leitmotiv derfranzösischenBerichterstattung zur Gesetzesvorlage über die dreijährige Dienstzeit (GP 15632, Winterfeldt an Kriegsministerium, 12.3.1913). 341 GP 15635, Aufzeichnung aus dem AA (Langwerth von Simmern), 15.3.1913. 337

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Serret, der französische Militärattache in Berlin, gab das Bild einer an der Erhaltung des Friedens interessierten Regierung und eines friedlich gesinnten deutschen Volkes wieder, schenkte jedoch der Agitation der nationalistischen Verbände große Aufmerksamkeit. Obwohl Serret nicht die Gefahr einer "attaque brusquee" sah, warnte er vor dem inneren Zusammenhang von deutscher Mentalität, wirtschaftlicher Expansion und Rüstungen, auf den geachtet werden müsse, weil 'Tenergie qu'un peuple developpe pour garantir sa dignite et sa vie, se retrouve ... dans toutes les formes de l'activite nationale". Die militärischen und wirtschaftlichen Anstrengungen und Erfolge des Reiches erschienen so als zwei Seiten der gleichen Medaille: "... tout en reconnaissant que ce peuple, en pleine prosperite industrielle et commerciale, est, comme l'Empereur, foncierement desireux de paix, il est impossible de ne pas voir en lui depuis quelque temps dejä une poussee d'imperialisme nee de sa force d'expansion, de sa confiance en l'avenir, de ses instincts de parvenu. 'Deutschland über alles!' II faut que tout recule devant eile. Sans avoir d'intentions belUqueuses, eile est decidee ä se constituer une force militaire d'une superiorite impressionnante. Elle veut que dans les conflits ... le poids de son epee fasse immediatement pencher la balance, sans meme qu'il soit necessaire de sortir la lame du fourreau."342

Der Gefahr der Unterlegenheit könne man nur entkommen, wenn, hier deckten sich die Urteile Serrets und Cambons, Frankreich eine ähnliche Anstrengung unternehme. Aus allen Äußerungen der französischen Diplomaten und Regierungsvertreter geht hervor, daß sie die Rüstungen des Jahres 1913 als Reaktion auf die deutschen Anstrengungen verstanden, also auf eine Erhöhung des militärischen Potentials des wichtigsten Gegners im Kriegsfall, denn am Erfolg der Wehrvorlage herrschte, trotz derfinanziellenBelastung für das Reich, in französischen Regierungskreisen kein Zweifel343. Untersucht man die Berichte Winterfeldts, des deutschen Militärattaches, und Schoens, finden sich ähnlich widersprüchliche Einschätzungen, bei denen einerseits die Friedfertigkeit des französischen Volkes, andererseits die Existenz des "Reveil national" betont wurde344. Winterfeldt plädierte dafür, die negativen Rückwirkungen der Rüstungen auf die deutsch-französischen Beziehungen nicht zu übertreiben:

342

DDF 3, V-494, Serret an Etienne, 1.3.1913; vgl. HILDEBRAND, Europäisches Zentrum; BARIETY, Jacques, Das Deutsche Reich im französischen Urteil 1871-1945, in: HILDEBRAND, Klaus (Hg.), Das Deutsche Reich im Urteil der großen Mächte und europäischen Nachbarn (1871-1945), München 1995, S. 203-218. 343 DDF 3, V-239, Serret an Kriegsministerium, 20.1.1913; DDF 3, VI-185, Serret an Etienne, 3.4.1913. 344 GP 15652, Schoen an Bethmann Hollweg, 8.8.1913; GP 15653, Winterfeldt an Preußisches Kjiegsministerium, 20.8.1913.

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"Deutschland hat, wie die Dinge augenblicklich Hegen, gewiß alle Veranlassung, seinem westhchen Nachbarn mehr als je in militärischer Hinsicht scharf auf die Finger zu sehen, es hat aber keine Ursache, das neue französische Militärgesetz für bedrohlicher zu haken, als es tatsächlich ist."345

Wie um die Spannungen des Jahres 1913 nachträglich zu entschärfen, sorgte Tirpitz dafür, daß die französische Regierung auf Umwegen Versicherungen des deutschen Friedenswillens erhielt. In einem Gespräch mit Madame de Faramond, der Frau des französischen Marineattaches, forderte Tirpitz die französische Regierung auf, die "politique de sentiment" in Elsaß-Lothrigen aufzugeben. In diesem Fall sei Deutschland zu großen Konzessionen bereit. "Jamais nous ne vous declarerons la guerre. Je ne crois pas non plus qu'en France on desire la guerre ..."346, behauptete Tirpitz, obgleich sich weder die deutsche noch die französische Regierung Illusionen darüber hingeben konnten, daß bei einem österreichisch-russischen Konflikt und eintretendem Bündnisfall ein deutscher Angriff auf Frankreich zu erwarten war.

2.2.3.2. April 1913: Zwischenfälle und Lösungen Grenzzwischenfälle im Elsaß und in Lothringen waren an der Tagesordnung. Regelmäßig kam es außerdem zu Ausweisungen von Franzosen, in den meisten Fällen wegen eines fehlenden Visums, in seltenen Fällen unter dem Vorwurf der Spionage347. Mit fortschreitender Technisierung trat ein weiterer Konfliktpurikt hinzu, der für beide Seiten schwieriger zu kontrollieren war, die private und militärische Luftfahrt mit Luftschiffen und Flugzeugen. In der Regel verliefen Grenzzwischenfälle dieser Art ohne politische Folgen. Die Luftfahrzeuge wurden, falls es zur Landung kam, meist einer Untersuchung unterzogen, um den Spionagevorwurf zu klären, die Piloten durften auf dem Landweg in ihr Heimatland zurückkehren348. Am 3. April 1913 erregte die Landung des Luftschiffs Z VI bei Luneville Aufmerksamkeit und löste diplomatische Aktivitäten beider Regierungen aus. Der Grund hierfür lag in den sich häufenden Zwischenfällen und der allgemein als gespannt 345

GP 15653, Winterfeldt an Preußisches Kriegsministeriurn, 20.8.1913. MAE, NS Allemagne 52, J. Cambon an Doumergue, 19.1.1914; vgl. die Aufzeichnung Poincares in BN, 16026, 25.1.1914. Cambon berichtete, daß Tirpitz den Wunsch äußerte, daß seine Mitteilungen weitergegeben würden. Mme de Faramond war gebürtige Amerikanerin. Eine ihrer Schwestern hatte Speck von Sternburg geheiratet, den ehemaligen Botschafter in Wadungton und Freund des Kaisers. 347 Vgl BARBEY-SAY, Helene, Le voyage de France en Allemagne de 1871 ä 1914, Nancy 1994, S. 37, Statistik für das Jahr 1887, Jahr der Einführung des "Permis de sejour" für Franzosen in Elsaß-Lothringen. 348 Eine ausführliche Pressemappe zu diesem Thema findet sich in AD-Bas-Rhin, 132 AL 7, Dossier la. 346

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empfundenen politischen Lage, denn die Landung erfolgte kurz nach Bekanntgabe der Wehr- und Deckungsvorlage, während sich gleichzeitig die Lage auf dem Balkan erneut zuspitzte349. Hinzu kam die psychologische Wirkung des Zeppelins, der auch in Frankreich als bedeutende technische Errungenschaft und wichtiges Kriegsgerät des Reiches galt. Der Empfang der deutschen Besatzung durch die Bevölkerung war alles andere als freundlich, und Soldaten untersuchten das Schiff auf Gegenstände, die den Verdacht der Spionage hätten belegen können350. Am 4. April erschien der vom französischen Kriegsministerium entsandte General Hirschauer, der den Zeppelin nach einer kurzen Untersuchung freigab und sich im Hinblick auf den Spionagevorwurf auf das Ehrenwort des Kommandanten verließ351. In den französischen Zeitungen erfolgte vielfach keine Reaktion, manche begnügten sich mit Sachdarstellungen und Photos des Zeppelins als Kuriosität352. Wo das Ereignis näher kommentiert wurde, zeichnete sich die Berichterstattung, wie Schoen vermerkte, durch "bemerkenswerte Ruhe und Objektivität"353 aus. Auf politischer Ebene wurde der Vorfall als erledigt betrachtet und Verhandlungen für eine Regelung eingeleitet, die für die Zukunft Zwischenfälle dieser Art ausschließen sollte. Wenige Monate später, am 15. August 1913, trat ein entsprechendes Abkommen in Kraft, für das ein Briefwechsel zwischen Jagow und Jules Cambon vom 26. Juli 1913 die rechtliche Grundlage bildete354. Das Abkommen enthielt Regelungen über die Ausweispflicht notgelandeter Schiffe und deren Notsignale. Die Spionagefrage sollte durch das Ehrenwort des Luftschifführers, keine verbotene Handlung beim Überfliegen vorgenommen zu haben, geklärt werden. Für ein absichtliches Überfliegen bestand die Möglichkeit, sich einen Erlaubnisschein einzuholen. Der aufnehmende Staat garantierte notgelandeten Luftfahrern seinen Schutz. In der öffentlichen Diskussion fand dieses Abkommen keine Beachtung. Im Vordergrund standen dort, wenn überhaupt, lediglich Erörterungen militärischer Natur über die Luftschiffahrt, oder, zum Zeitpunkt der Landung des Zeppelins, Beschwerden deutscher Zeitungen über das unbotmäßige Verhalten der französischen Bevölkerung. Der Führer des deutschen Luftschiffes, Kapitän Glund, trug wenig zur Entspannung bei, als er am 18. April 1913 in der Frankfurter Zeitung seine persönliche Darstellung der Landung veröffent349

Vgl. Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 29.3.1913. Zu den Einzelheiten vgl. WERNECKE, Weltgeltung, S. 228 f. 351 GP 15684, Heeringen (Preußischer Kriegsminister) an Bethmann Hollweg, 9.4.1913. 352 Vgl. Le Matin, 4.4., 5.4.1913; Le Petit Parisien, 4.-6.4.1913; Le Journal, 5.4.1913; Le Petit Journal, 5.4.1913. 353 GP 15682, Schoen an Bethmann Hollweg, 4.4.1913. 354 PA-AA, Botschaft Paris 363 C 38, Schriftwechsel Jagow-Jules Cambon, 26.7.1913, Abdmck in Schultheß Geschichtskalender 1913, S. 290-292. 350

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lichte und sowohl das Vorgehen der Behörden als auch das der Bevölkerung kritisierte: "Das Verhalten des Publikums war sehr flegelhaft."355 Beiden Regierungen war allerdings daran gelegen, den Zwischenfall schnell abzuschließen, um Pressedebatten wie während der Agadir-Krise zu vermeiden. Die schnelle Abwicklung der Angelegenheit trug der deutschen Regierung sogar Lob von französischen Zeitungen ein. L'Eclair druckte den Dankbrief Schoens an die französische Regierung ab und schrieb die deutsche Höflichkeit der Überraschung zu, daß eine peinliche und mit Spionageverdacht verbundene Affäre so zügig geregelt wurde. Judet vermutete, die französische Reaktion habe wohl nicht den deutschen Erwartungen entsprochen. Sein Kommentar enthielt indirekt einen Vorwurf an die deutsche Presse: "Nous ne regrettons pas l'histoire recente qui nous permet de causer ainsi plus agreablement, puisqu'elle a contribue ä nous montrer au dehors tels que nous sommes et non comme les sinistres machinateurs de complications nous depeignent bien ä tort."356 Die deutsche Presse bestätigte das schlechte Bild, das Judet von ihr zeichnete, denn ein Zwischenfall in Nancy löste neue Spannungen aus. Eine Gruppe von deutschen Reisenden war am 14. April 1913 in einem Gasthaus und später auf dem Bahnhof in Nancy von Franzosen belästigt und beschimpft worden. Der Vorfall löste eine Welle antifranzösischer Ressentiments in der deutschen öffentlichen Meinung aus357. Nur wenige deutsche Zeitungen bemühten sich, die Ereignisse angemessen und moderat zu beurteilen. Theodor Wolff wandte sich im Berliner Tageblatt gegen die Chauvinisten in beiden Ländern358, der Vorwärts kritisierte den allgemeinen "Chauvinistennimmel"359. Nicht das Ereignis selbst, sondern die Reaktionen der deutschen Presse stellten den eigentlich bedeutsamen Faktor dieser Affäre für die deutsch-französischen Beziehungen dar, insbesondere, wenn man die Zurückhaltung der französischen Presse nach dem Zwischenfall von Luneville berücksichtigt. Chauvinistische Entgleisungen, wie sie in der deutschen Presse zu lesen waren, fehlten trotz vielfacher Kritik in den französischen Massenblättern360. Allerdings vertraten nun sogar Gegner der "Trois Ans" wie Gaston Doumergue die Meinung, daß die Gefahr, die die Regierung als Grund für die Wehrge355

Frankfurter Zeitung, 18.4.1913, Abend; vgl. WERNECKE, Weltgeltung, S. 230 f. L'Eclair, 6.4.1913 (Judet). 357 Vgl. WERNECKE, Weltgeltung, S. 231-243. Eine zweifelsfreie Darstellung der Ereignisse ist angesichts der widersprüchlichen und tendenziösen Zeugenaussagen kaum möglich. Protokolle hierzu in MAE, NS Allemagne 49 und PA-AA, Frankreich 102 Nr. 3, Bde. 3-4. Heftige Angriffe gegen Frankreich: Tägliche Rundschau, 15.-17.4.1913; Kölnische Zeitung, 16.4.1913; Neue Preußische Zeitung, 23.4.1913 (Schiemann). 358 Vgl. Berliner Tageblatt, 21.4.1913. 359 Der Vorwärts, 17.4.1913. 360 Le Petit Journal, 16.4.1913; Le Petit Parisien, 16. u. 19.4.1913; L'Eclair, 16. u. 18.4.1913 (Judet); Le Matin, 15.-18.4.1913. 356

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setze angeführt hatte, nicht erfunden sei. Deshalb hielt er eine Vorbereitung auf den Ernstfall für notwendig, die jedoch nicht verhindern solle, Mä ce que nous cherchions a attenuer dans toute la mesure possible les causes de conflit entre rAllemagne et la France"361. Le Temps kritisierte 'Tinexplicable fureur"362 der deutschen Presse und regte eine besonnene Beurteilung der Affäre an. Der Figaro sah in den Reaktionen einen Vorwand für nationalistische Gruppen, "pour s'emporter contre la France en accusations violentes ethaineuses."363 Die französische Regierung zeigte sich daran interessiert, die Affäre schnell zu klären und die deutschen Forderungen nach öffentlicher Genugtuung zu erfüllen. Nachdem eine Untersuchungskommission unter Staatsrat Ogier die Pflichtverletzungen von Beamten festgestellt hatte, wurden Polizisten und der Präfekt versetzt und die Polizei von Nancy reorganisiert. Auf staatspolitischer Ebene wurde der Vorfall damit zu den Akten gelegt. Schoen mußte anerkennen, daß die französische Regierung bis an die Grenze des Möglichen gegangen war, stellte aber fest, sie habe die Maßregeln nur auf deutschen Druck hin veranlaßt. Er kritisierte die Presse beider Länder, erkannte also an, daß die deutsche Presse mit ihren zum Teil blindwütigen Reaktionen zur Verschärfung der Affäre beigetragen und eine Annäherung erschwert hatte: "Wesentlich zur Zurückleitung der erregten Geister in ruhige Bahnen wird es beitragen, wenn auch unsere Scharfmacher-Presse ihren blinden Eifer einschränkt und namentlich die unverständigen Angriffe auf die eigene Regierung und Diplomatie, mit denen sie schweren Schaden anrichtet, unterläßt." (Anmerkung Wilhelms II: "Davon lebt sie ja!")364

Das Entgegenkommen der französischen Regierung für Vorkommnisse, deren Entstehen sie nicht zu verantworten hatte, war symptomatisch. Im Gegensatz zur deutschen Regierung, die zwar über die Norddeutsche Allgemeine Zeitung die Affäre für beendet erklärte365, aber in keiner Weise mäßigend auf die deutsche Presse einwirkte, bemühte sich Außenminister Pichon, geringfügige Anlässe zu Klagen durch eine kompromißbereite Haltung auszuräumen, wie sich bei zwei weiteren Gelegenheiten zeigte. Am 14. Mai 1913 sagte Pichon der deutschen Regierung zu, keine Theaterstücke mit beleidigendem Inhalt gegen Deutschland oder mit deutschen Uniformen auf der Bühne mehr

361

La Grande Revue, 10.5.1913, S. 198 f. (Doumergue). Le Temps, 16.4.1913; vgl. Le Temps, 17. u. 18.4.1913. 363 Le Figaro, 16.4.1913. 364 GP 15643, Schoen an Bethmann Hollweg, 29.4.1913. 365 Vgl. Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 27.4.1913. Lediglich privatrechtliche Ansprüche wurden von den Geschädigten Heyne und Teichmann erfolglos eingefordert. Vgl. PA-AA, Frankreich 102 Nr. 3, Bd. 4. 362

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zuzulassen366. In der Frage ehrenrühriger antideutscher Postkarten gab Pichon Anweisung, diese aus dem Verkehr zu ziehen367. Betrachtet man die Reihe von Zwischenfallen, die mit dem "Störenfried"Artikel der Kölnischen Zeitung begonnen und mit dem Zwischenfall von Nancy ihren Höhepunkt erreicht hatte, können mehrere Konstanten im Verhalten der Beteiligten festgehalten werden. Die Außenministerien beider Länder bemühten sich um Verständigung und kamen in allen Fällen zu Lösungen, die von der politischen Ebene als befriedigend angesehen wurden. Dagegen zeigte sich ein deutliches Mißverhältnis in der Presseberichterstattung. Obwohl die französische Presse zunächst mehr Grund gehabt hätte, Zwischenfalle hochzuspielen, die von deutscher Seite zu verantworten waren, blieb sie im Ton moderat, zum Teil desinteressiert. In der deutschen Presse dagegen wurde Frankreich zum "Störenfried" stilisiert und zur Gefahr für den europäischen Frieden ebenso wie für deutsche Reisende erklärt. Im Ergebnis läßt sich zwar nicht sagen, daß die Stimmung in der öffentlichen Meinung langfristig gestört blieb, aber die Grenzen politischer Beeinflussung der Presse wurden in beiden Ländern offenkundig, und damit auch die Gefahren, die von der nationalistischen Presse ausgingen. 2.2.4. Eine Normalisierung? Deutschland und Frankreich am Vorabend des Krieges, Dezember 1913 bis Juni 1914 Im April 1913, kurz vor dem Zwischenfall von Nancy, übermittelte Alfred Ballin dem Auswärtigen Amt einen Brief seines Freundes Warburg an Unterstaatssekretär Wahnschaffe. In diesem Brief berichtete Warburg, daß die Idee einer deutsch-französischen Annäherung im Rahmen einer größeren politischen Entspannung in Kreisen der Hochfinanz und der Politik durchaus zur Sprache kam: "An und für sich ist es gewiß lächerlich, heute von der Möglichkeit einerfranzösisch-englisch-deutschenVerständigung zu sprechen, aber mir wurde doch von ernsthafter Seite gesprächsweise gesagt, daß man sich nicht wundern würde, wenn wir in fünf Jahren so weit wären."368 Dieser Gedanke erscheint utopisch, weil er in einer Phase geäußert wurde, in der sowohl die deutsch-französischen Beziehungen als auch die Beziehungen im europäischen Mächtekonzert starken Spannungen ausgesetzt waren. Kurzfristige Chancen zur Verwirkhchung dieses Gedankens gab es also kaum. Es ist gleichwohl interessant, daß vom Auswärtigen Amt und vor allem von der deutschen Botschaft in Paris Möglichkeiten einerfreundlicherenfranzösischen Politik gegenüber Deutschland gesehen wurden, die vor allem mit dem Namen 366 PA-AA, Frankreich 102, Bd. 58, Schoen an Bethmann HoDweg, 367 MAE, NS Allemagne 50, Pichon an J. Cambon, 16.5.1913. 368

14.5.1913.

PA-AA, Frankreich 102, Bd. 57, Warburg an Wahnschaffe, 12.4.1913.

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Joseph Caillaux verbunden waren369. Diese Einschätzung hing mit drei wesentlichen Punkten zusammen, den strukturellen Unterschieden in der Staatsform zwischen Deutschland und Frankreich, den Erfahrungen der zweiten Marokkokrise und den Rüstungsdebatten des Jahres 1913. Die Unterschiede der politischen Verfassung führten dazu, daß die deutsche Regierung von einem Regierungswechsel mehr erwarten konnte als umgekehrt die französische Regierung bei Ämterwechseln im Reich. Anders gewendet: Aus dem für die eigene Innenpolitik abgelehnten Demokratieprinzip leitete die deutsche Regierung Erwartungen über die künftige Gestaltung der französischen Außenpolitik ab, bei denen naturgemäß "linken" - für annäherungsbereit gehaltenen - Kabinetten der Vorzug gegeben wurde. Dagegen ist aus denfranzösischenQuellen nicht nachweisbar, daß etwa mit dem Amtsantritt Jagows Anfang 1913 eine nennenswerte Änderung der deutschen Außenpolitik erwartet worden wäre. Die Agadir-Krise hinterließ in der deutschen Politik den Eindruck, daß eine Regierung Caillaux sich auch in Zukunft verhandlungsbereit zeigen würde. Schließlich vermittelte die Rüstungsdebatte der deutschen Regierung die Existenz einer starken radikalen und radikal-sozialistischen Opposition, die aus der Forderung zur Völkerverständigung heraus oder wegen Vorbehalten hinsichtlich Notwendigkeit und Finanzierung die "Trois Ans" bekämpfte. Die machtpolitischen Implikationen der positiven deutschen Erwartungen treten klar hervor. Eine Opposition, die im Reich selbst scharf bekämpft wurde und deren Gedankengut im deutschen diplomatischen Corps nicht vertreten war, wurde außenpolitisch als nützlich angesehen. Die positive Erwartung beschränkte sich also auf eine utilitaristische Kosten-Nutzen-Analyse, ohne daß inhaltliche Elemente übernommen wurden. Zum positiven Bild Caillaux' trugen auch die guten Kontakte bei, die er zur Hochfinanz unterhielt und während der Verhandlungen von 1911 genutzt hatte. Im Jahre 1913 erschien Caillaux der deutschen Botschaft erneut als Anwärter auf den Posten des President du Conseil. Die Ablösung Barthous, dessen Politik immer als deckungsgleich mit der Politik Poincares gesehen wurde, schien mit den Protesten gegen die "Trois Ans" besiegelt zu sein. Caillaux oder Clemenceau galten als mögliche Nachfolger, wobei Lancken in Caillaux die für Deutschland günstigere Alternative sah: "Caillaux würde, wie ich höre, ohne Zaudern sein auf eine Verbesserung des Verhältnisses zu Deutschland hinzielendes Programm zu bestätigen suchen. Dementsprechend würde er vor allem die Vorlage über die dreijährige Dienstzeit fallen lassen und durch den von dem

369 Vgl. ROBIN-FINETTI, Marie-Francoise, L'opinion fran9aise face ä l'Allemagne de 1912 ä 1914: La Vision de l'ambassade allemande ä Paris, in: Cahiers de l'Institut dlustoire de la presse et de ropinion 4 (1977), S. 179-194.

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Politische Konfliktvermeidung

Verbände der Linksrepublikaner befürworteten Entwurf Messimy-Boncour (30monatige Dienstzeit für Kavallerie und Artillerie, 28monatige für die übrigen Truppen) ersetzen."370

Der Wortlaut dieses Berichts deutet daraufhin, daß die Urteile der deutschen Botschaft nicht auf schriftlich fixierten Äußerungen der französischen Politiker, sondern auf Mitteilungen informeller Natur beruhten. Weder existierte ein Programm, das auf eine deutschfreundliche Haltung Caillaux* hätte schließen lassen können, noch war Caillaux der deutschen Wünschen willfahrige Politiker, wie es ihm in Frankreich während der Ratifizierungsdebatte um den Marokko-Kongo-Vertrag zur Last gelegt worden war. Diese Erwartungshaltung verstärkte sich, als Caillaux im Oktober 1913 in Pau zum Präsidenten der Radikalen und der Radikalsozialisten gewählt wurde. Auch hier gründete sich das positive Urteil der deutschen Botschaft wohl eher auf die mehrheitliche Ablehnung der "Trois Ans" durch die französischen Linksparteien als auf förmliche Zusagen zu einer deutsch-französischen Zusammenarbeit für den Fall einer radikalen Regierung. Weder die Aussage der "Herstellung eines leidlich guten Verhältnisses zu Deutschland, auf allgemein politischem wie namentlich auf wirtschaftlichem Gebiet", noch die Aussicht auf Erfolg einer Partei, die sich "eine Annäherung an Deutschland auf ihre Fahnen schreibt"371, waren Bestandteil der Schlußerklärung des Kongresses von Pau, die Malvy am 19. Oktober 1913 verlas. Vielmehr gingen auch die Radikalen davon aus, daß erst durch die deutschen Rüstungen die französischen Vorlagen verursacht worden waren. Hauptsächlich aufgrund der außerordentlichen finanziellen Belastungen für Frankreich wurde in diesen Kreisen die Forderung nach einer Verbesserung der Qualität der militärischen Ausbildung in kürzerer Dienstzeit gestellt. Erst danach, "ayant porte au maximum les forces defensives de la nation"372, sollte eine Reduzierung der Dienstzeit angestrebt werden. Abgesehen von der Tatsache, daß der Kongreß sich in der Hauptsache mit innenpolitischen Fragen befaßte, wie dem Verhältnis von Kirche und Staat, sozialen Fragen und den Plänen zur Steuerreform, war der Wortlaut der wenigen Passagen zurfranzösischenAußenpolitik allgemein gehalten und unverbindlich. Dieser Umstand erleichterte es den Radikalen nach dem Sturz der Regierung Barthou, zunächst auf eine Rücknahme der "Trois Ans" zu verzichten. In deutscher Sicht bedeutete der Sturz Barthous das Scheitern Poincares und die Wiedererstarkung der Linken. Boye, Vertreter des Bankiers Fürstenbergs in Paris, beurteilte die außenpolitischen Folgen des neuen Kabinetts daher mit Optimismus: "Diese selben 290 370 PA-AA, Frankreich 87, Bd. 92, Lancken an Bethmann Hollweg, 25.5.1913. Zur positiven Einschätzung eines Kabinetts Caillaux vgl. auch GP 15652, Schoen an Bethmann Hollweg, 8.8.1913. 371 PA-AA, Frankreich 94, Bd. 23, Schoen an Bethmann Hollweg, 5.11.1913. 372 Parti Republicain radical et radical-socialiste. Congres de Pau. La declaration du Parti. Le Programme minimum, Paris 1914, S. 10.

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Stimmen [die den Sturz herbeiführten] der vereinigten Linken sind für keinen Krieg, sondern für eine Verständigung; für keine kolonialen Abenteuer, wie überhaupt für keine Abenteuer."373 Schoen hoffte nun auf ein Ministerium Caillaux, hielt aber jede andere Wahl für besser als Barthou, dem er eine nationalistische Politik unterstellte374. Das Ministerium Doumergue, in dem Caillaux Finanzminister wurde und als heimlicher Hauptakteur galt, behielt zwar die "Trois Ans" bei, setzte aber die bereits unter Barthou und Pichon begonnenen Ausgleichsverhandlungen zu den deutsch-französischen Interessen in Kleinasien fort, die im Februar 1914 zum Abschluß kamen. Die Berichte, die Boye in den kommenden Monaten an die Reichsleitung sandte, verstärkten den Eindruck, Frankreich habe sich mit der Dienstzeitverlängerung politisch und wirtschaftlich übernommen und sei nun, wie Fürstenberg kurz nach Verabschiedung des Gesetzes geurteilt hatte, schon aus wirtschaftlichen Gründen zu einer friedfertigen Politik verpflichtet375. Boye vermittelte das Bild eines innenpolitisch zerstrittenen Landes, in dem auf die Rüstungsdebatte nun die Steuerdebatte folgte376. Die Hoffnungen auf ein Kabinett Caillaux zerschlugen sich jedoch endgültig, als Madame Caillaux am 16. März 1914 in die Redaktionsräume des Figaro eindrang und Gaston Calmette, den Direktor, erschoß, weil er über Monate hinweg eine Kampagne gegen Caillaux geführt hatte, in der er nicht nur Finanzgeschäfte Caillaux' angeprangert, sondern auch Caillaux' erste Frau dazu gebracht hatte, gegen ihren Ex-Mann auszusagen. Von einer Veröffentlichung deutscher Dokumente aus der Krise von 1911, die Cailaux zusätzlich belasteten, hatte Calmette nur auf Druck Barthous hin abgesehen377. Dieser Skandal führte zum Rücktritt Caillaux' als Finanzminister. Mit dem Ausscheiden Caillaux' aus Regierungsämtern ruhten die Hoffnungen der deutschen Politik auf den französischen Wahlen, die als Gradmesser für die Haltung der Bevölkerung zur Militär- und Innenpolitik während der Präsidentschaft Poincares galten. Ihnen wurden direkte Auswirkungen auf die deutsch-französischen Beziehungen zugeschrieben: "Im ganzen würde sich eher eine weitere Verschiebung nach links wie nach rechts ergeben. Von unserem Standpunkte könnte das nur erwünscht sein, denn je weiter nach links, desto mehr findet der Wunsch nach ruhigen, friedlichen Beziehungen zu Deutschland eine Stütze."378 Während der erste Wahlgang Ende April 1914 noch keine entscheidende Änderung erwarten ließ und die Germania das

373

PA-AA, Frankreich 94, Bd. 24, Boye an AA, 3.12.1913. Ebda, Schoen an Bethmann Hollweg, 4.12.1913. 375 Ebda, Bd. 23, Fürstenberg an AA, 26.7.1913. 376 Ebda, Bd. 24, Boye an Bethmann Hollweg, 1.3., 7.3., 10.3., 11.3.1914. 374

377

Vgl. CAILLAUX, Memoires, vol. in, S. 106 ff.

378

PA-AA, Frankreich 105 Nr. 1, Bd. 30, Schoen an Bethmann Hollweg, 4.4.1914.

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Politische Konfliktvermeidung

Ergebnis als "eher den nationalistischen Plänen günstig"379 und eine Gefährdung des europäischen Friedens durch Frankreich sah, erhob im Berliner Tageblatt Ludwig Haas, badischer Abgeordneter der FVP, den Sieg der Linken im zweiten Wahlgang zum Erfolg der Parteien, "die den Frieden wollen und die chauvinistischen Treibereien bewußt und energisch ablehnen. Die Mehrheit des französischen Parlaments will die Verständigung mit Deutschland."380 Auch die deutsche Botschaft erwartete von der Kombination einer radikalen Regierung mit einem nun von Radikalen und Sozialisten dominierten Parlament einen gemäßigten außenpolitischen Kurs und möglicherweise eine Rückkehr zur zweijährigen Dienstzeit: "In dieser Hinsicht kann man annehmen, daß die Regierung und Kammermehrheit in Zukunft offener und mit mehr Erfolg für eine Besserung in den Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland eintreten wird."381 Insgesamt zeichnete sich in den deutsch-französischen Beziehungen seit Dezember 1913 eine spürbare Entspannung ab. Diese hatte ihre Ursachen im Abflauen der Feindseligkeiten auf dem Balkan, im Abschluß der Rüstungsdebatten, im Erfolg der Verhandlungen über die kleinasiatischen Bahnprojekte, aber auch in der innenpolitischen Niederlage Poincares, die Frankreich in den Augen der Reichsleitung geschwächt erscheinen und die Hoffnung auf ein deutschen Zielen eher gewogenes Kabinett aus Linksrepublikanern wachsen ließ. Allerdings war die deutsche Regierung nicht in der Lage, ihre Beobachterrolle aufzugeben und der neuen französischen Regierung Signale der Verständigung zu übermitteln. Es bestand ein Konsens zwischen deutscher Botschaft und Reichsleitung darüber, daß die Beziehungen zu Frankreich friedlich gestaltet und durch Einigung über periphere Fragen entspannt werden sollten. Eine Entente galt jedoch nicht als erstrebenswert. Diese Vorstellung von friedlicher Nachbarschaft speiste sich weniger aus der Absicht, bündnisübergreifende Kontakte zu pflegen, als aus taktischen Erwägungen, denn ein schwaches und innenpolitisch zerstrittenes Frankreich wurde als Garant der deutschen Stellung in Mitteleuropa gesehen. Die Analyse Schoens zur deutsch-französischen Politik vom 15. November 1913 brachte die Grenzen einer Annäherung auf den Punkt. Die Hoffnungen, die Schoen in die zukünftige Entwicklung der französischen Innenpoütik und ihre außenpolitischen Implikationen setzte, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch bei den Radikalen und Radikalsozialisten in Frankreich Konsens über diese Grenzen bestand:

379

Germania, 5.5.1914. Berliner Tageblatt, 3.6.1914, Morgen (Haas). 381 PA-AA, Frankreich 110, Bd. 16, Radowitz an Bethmann Hollweg, 11.5.1914.

380

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"... die jetztigen guten Absichten der Franzosen [berühren] angenehm und können, in Taten umgesetzt, unser Verhältnis zum westhchen Nachbar auf einige Zeit zu einem leidlichen gestalten. Zur Ausfüllung der zwischen uns und ihnen hegenden Kluft werden sie freilich ebensowenig fuhren, wie zu einer Änderung in der Gruppierung der europäischen Mächte ... Selbst wenn es sich wesentlich verbessern sollte, wird unser Verhältnis zu Frankreich auf lange Zeit hinaus eine übertünchte Höflichkeit sein, die leicht rissig und bröckehg wird. Immerhin wird diese Gestaltung erwünschter sein, wie der schwer erträgliche Zustand, wo, wie die Franzosen zu sagen heben, 'on se regarde comme des chiens de fayence'."382

382

GP 15657, Schoen an Bethmann Hollweg, 15.11.1913.

3. Finanzinteressen zwischen Nationalismus, Imperialismus und internationaler Zusammenarbeit 3.1. Ökonomische und politische Bestimmungsgrößen Im Unterschied zu den Handelsbeziehungen unterlagen die deutsch-französischen Finanzbeziehungen stärkeren politischen Einflüssen Dies lag zum emen an den informellen Kontakten zwischen Politikern und Bankiers, zum anderen an der politischen Bedeutung der Kapitalflusse m Europa und Übersee Denn bei Anleihegeschaften m wemger entwickelten Staaten waren mcht allein ökonomische Gesichtspunkte ausschlaggebend, sondern auch mihtar- und bundnispohtische Dieser Aspekt der internationalen Finanzbeziehungen spielte im 19 Jahrhundert noch eme germge Rolle, gewann allerdings zu Beginn des 20 Jahrhunderts stark an Bedeutung Für das Deutsche Reich stellte der Kapitalexport eme Form von "Weltpohtik" dar, wie es im Bagdadbahnprojekt augenfällig wurde Im wemger industrialisierten Frankreich, wo Sparkapital in germgerem Maße investiert wurde und daher vermehrt für Anleihegeschafte zur Verfugung stand, galt Geldkapital als bedeutender Reichtum des Landes und in wachsendem Maße als Mittel zur Durchsetzung außenpolitischer Ziele In beiden Landern kamen Forderungen der Unternehmen und der öffentlichen Meinung hinzu, die Hergabe nationalen Kapitals an Handelsgeschäfte zu koppeln, um mcht indirekt die Interessen der Konkurrenten zu fordern Gesteigert wurde die Bedeutung dieser Finanztransaktionen dadurch, daß em großer Teil der Kredite in die Balkanlander und das sich immer am Rande des Bankrotts bewegende Osmamsche Reich floß In diesen politisch unsicheren Regionen versuchten die Großmachte, mit dem Kapitalzufluß mehrere Ziele gleichzeitig zu erreichen, erstens die Erhaltung der Zahlungsfähigkeit des Schuldners, zweitens die Erschließung neuer Markte für die eigene Industrie und drittens die politische Einflußnahme in der jeweiligen Region zur Sicherung der eigenen Großmachtstellung Die franzosische Regierung hatte ihren Anspruch auf Mitwirkung an den Anleihegeschaften franzosischer Banken festgeschrieben1 Zwar bezog sich 1

Vgl BORN, Karl Erich, Geld und Banken im 19 und 20 Jahrhundert, Stuttgart 1976, S 240 f Bom zitiert ein Schreiben des Finanztoinisters Caillaux an Außenminister Pichon vom 23 12 1908 Caillaux forderte, franzosische Gelder sollten starker zur Durchsetzung franzosischer Interessen genutzt werden Die regierungsinterne Leitlinie legte Caillaux schon in einem Rundschreiben vom 6 9 1907 fest (AD-Sarthe, 39 J 18) "Mon attention vient d'etre appelee par M le Ministre des Affaires Etrangeres sur les graves inconvenients que peut presenter, au point de vue de la defense des interets generaux de la Nation, une pratique qui enleve au Gouvernement la possibilite de negocier avec les Etats emprunteurs et d'obtenir de ceux-ci, en echange de Touverture de notre marche, soit des avantages commerciaux ou pohtiques II n'est pas douteux, en efifet, que les emprunteurs

Ökonomische und politische Bestimmungsgroßen

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das Zustimmungsrecht auf alle Kapitalinvestitionen im Ausland, wurde aber besonders dann m Erinnerung gerufen, wenn deutsche Banken franzosische Institute einzubeziehen wünschten, wie es vor allem bei der seit 1903 bestehenden 30%-Beteihgung der Banque Ottomane an der Bagdadbahn der Fall war2 Das einzige Mittel, das der franzosischen Regierung zur Kontrolle der Auslandsinvestitionen neben ihren informellen Kontakten zur Verfugung stand, war die "Cote", die Borsenzulassung für Wertpapiere m Pans Allem über dieses Instrument konnte sie die Finanzkreise in ihrem Sinne beeinflussen, denen allerdings andere Möglichkeiten offenblieben, wie zum Beispiel Unterbeteiligungen, Umwegfinanzierungen über Drittlander und Geldmarktgeschafte Der politische Aspekt der internationalen Bankenbeziehungen ist für eine Betrachtung des deutsch-franzosischen Verhältnisses wichtig, weil er den Rahmen für die Tätigkeit der Hochfinanz setzte und ihr vollkommen unabhängiges Wirken unmöglich machte Die Vorbehalte und Restriktionen der franzosischen Politik gegen eme Inanspruchnahme des franzosischen Marktes durch die deutsche Finanz sind mit der Sonderstellung der deutsch-franzosischen Finanzbeziehungen in einer ansonsten liberalen Weltwirtschaft zu erklaren Die franzosische Regierung betrachtete die deutsche wirtschaftliche Expansion mit Argwohn und verband damit die Befürchtung, im Konkurrenzkampf zurückzubleiben Sie wandte sich daher gegen eme Finanzierung deutscher Anleihegeschafte und industrievorhaben durch franzosische Banken Ganzlich verhindert werden konnte die Kooperation allerdings mcht "Was für ein außerordentliches Zwischenspiel m dem wirtschaftlichen Fortschritt des Menschen war doch das Zeitalter, das im August 1914 endete"3, so beschrieb Keynes die finanzwirtschafthchen Aspekte der Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges aus Sicht der Versailler Staatenwelt, als "so-called golden age of the international economy"4 bezeichnete Bloomfield diese Epoche trotz der ne sont plus directement interesses ä l'admission aux negociations de la Bourse de valeurs dont ils ont touche ou dont ils sont assures de toucher le montant Le refus d'autorisation qui appartient ä mon adrninistration ne saurait plus atteindre, en pareil cas, que les banques et l'epargne francaise Neanmoins, etant donne le röle, de jour en jour plus important, que nos capitaux sont appeles ä jouer ä l'etranger, je me verrai oblige, conformement ä l'avis de M le Ministre des Affaires etrangeres, de m'opposer rigoureusement desormais ä Tinscription a la cote officielle des emprunts etrangers conclus d'une maniere ferme sans mon assentiment " 2 MF, B 31 286, Pichon an Caillaux, 13 6 1908 Pichon stellte angesichts einer möglichen Mitwirkung französischer Banken an der II Tranche der Bagdadbahnanleihe klar, daß es sich hier um eine Staatsaffare handelte Vgl THOBIE, Interets, vol 2, S 1253-1279 3 KEYNES, John Maynard, Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages, München/Leipzig 1921, S 6 f 4 BLOOMFIELD, Arthur I , Pattems of Fluctuation in International Investment before 1914, Princeton (N J ) 1968, S 1, vgl SCHMIDT, Gustav, Imperialismus, S 6, der von der Stabilität der Weltwirtschaftsordnung bei gleichzeitiger Instabilität der politischen Staatenordnung spricht

Finanzinteressen

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Einschränkungen, die für die deutsch-französischen Finanzbeziehungen galten. Die Gründe für das Zustandekommen von Finanzbeziehungen lagen sowohl in den ökonomischen Gemeinsamkeiten industriell entwickelter Staaten als auch den Unterschieden der beiden Volkswirtschaften, im französischen Kapitalreichtum und deutschen Kapitalbedarf. Die Arten der Kapitaltransfers waren verschiedener Natur. Sie gingen auf die verschiedenen Formen der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen zurück, auf Geldmarktgeschäfte, Außenhandelsfinanzierung und Industrieinvestitionen. Die Geldmarktgeschäfte der Banken überbrückten kurzfristige Liquiditätsengpässe der deutschen Wirtschaft. Das Zinsniveau im Deutschen Reich lag aufgrund des hohen Kapitalbedarfs der wachsenden Industrie über dem der Nachbarländer, so daß das Deutsche Reich als attraktiver Anlageplatz galt, an dem hohe Renditen zu erzielen waren5. Deutschland bot demnach ein ideales Terrain für Geldanlagen aus einem kapitalreichen Land wie Frankreich, wo durch die verzögerte industrielle Entwicklung der Absorptionsgrad des Kapitals durch die heimische Industrie deutlich geringer war, mithin auch das Zinsniveau um etwa einen Prozentpunkt hinter dem des deutschen Marktes zurückblieb6. Die direkten Transaktionen blieben jedoch auf den Geldmarkt beschränkt, weil eine offizielle französische Mitwirkung an deutschen Industrieanleihen politisch nicht durchsetzbar gewesen wäre. Diese Geldmarktgeschäfte waren für die Regierungen kaum zu kontrollieren und sind auch in der historischen Betrachtung nur schwer nachzuweisen. Einige Ereignisse lassen jedoch Rückschlüsse auf das finanzpolitische Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich von 1911 bis 1914 zu. 5

Vgl. WHITE, Harry D., The French International Accounts 1880-1913, Cambridge Mass. 1933, S. 269-288, der in Zweifel zieht, ob die Renditen für den französischen Kleinanleger in Anbetracht der Risiken wirklich so günstig waren. White vermutet, daß die Banken die größten Nutznießer der Anleihegeschäfte waren und Risiken herunterspielten. 6 Die Zinssätze im internationalen Vergleich 1909-1913 (Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 1914, S. 67). 1909 1910 1911 1912 1913

Berlin 2,87 3,54 3,54 4,22 4,98

London 2,31 3,18 2,94 3,64 4,39

Paris 1,79 2,44 2,61 3,16 3,84

Wien 3,33 3,76 4,07 4,79 5,72

Zu den Unterschieden der französischen und deutschen wirtschaftlichen Entwicklung vor 1914 vgl. ZIEBURA, Gilbert, Sozialökonomische Grundfragen des deutschen Imperialismus vor 1914, in: WEHLER, Hans-Ulrich (Hg.), Sozialgeschichte heute, Festschrift für Hans Rosenberg, Göttingen 1974, S. 495-524; KAELBLE, Hartmut, Nachbarn am Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1880, München 1991, S. 19-40; CAMERON, Rondo E., France and the Economic Development of Europe 1800-1914. Conquests of Peace and Seeds of War, Princeton (N.J.) 1961, S. 369-403.

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Die Septemberkrise des Jahres 1911 galt als Fanal für die deutsche Geldknappheit, weil kurzfristige Gelder m einer angespannten Lage zurückgezogen wurden, was für einen - wenn auch sehr kurzlebigen - Borsenembruch sorgte Durch Geld amenkamscher Banken und Eingriffe der Reichsbank wurde die Krise schnell behoben Wie tief der Stachel der Enttäuschung darüber saß, daß die Anfälligkeit des deutschen Marktes offenbar wurde, zeigte der Artikel Karl Helffenchs im Bankarchiv im Oktober 1912, der die Abhängigkeit Deutschlands von auslandischem Kapital zum Mythos erklarte und behauptete, Deutschland sei nun beinahe frei von kurzfristigen Auslandsgeldern7 In den Bereich der Mythen gehört allerdings auch die von Caillaux spater verbreitete und eher seiner Eitelkeit als einer polit-okonomischen Realität zuzurechnende Behauptung, mit semem persönlichen Einfluß in Finanzkreisen habe er die Krise ausgelost, um die deutsche Regierung unter Druck zu setzen8 Zu einem differenzierten Urteil kam Jules Cambon, der am 5 September 1911 die politische Krise, die Mißernte und eme andauernde Pleitenwelle als Grunde für den Kurseinbruch in Berlin anführte9 Trotz des Abzugs franzosischer Gelder tauchten bis 1914 immer wieder Gerüchte auf, franzosische Gelder seien deutschen Banken zur Verfugung gestellt worden, wie die franzosische Botschaft in Berlin im August 1912 berichtete "On doit s'attendre a voir le mouvement qui s'est ainsi produit s'accentuer a breve echeance, si du moms le calme continue a regner dans la Situation politique "10 Dann schien sich zunächst, wie de Manneville feststellte, eme Umkehrung der seit September 1911 herrschenden Zurückhaltung der franzosischen Banken zu mamfestieren Wenn sich diese Informationen auch mcht durch andere Quellen bestätigen lassen, darf dennoch angenommen werden, daß in Finanzkreisen im Sommer 1912 eine optimistischere Einschätzung der politischen Lage herrschte als noch im Herbst 1911 De Manneville vermutete, daß auch die "meilleure tendance qui parait se mamfester dans les rapports entre la France et rAllemagne"11 entscheidend zum neuerlichen Engagement beigetragen hatte Im Februar 1913, nach dem Scheitern des Waffenstillstandes auf dem Balkan, teilte de Manneville mit, daß die Bedeutung der franzosischen Geldanlagen in Deutschland wieder gesunken sei und unterstrich damit die Abhängigkeit der kurzfristigen Kapitalbewegungen von der politischen Stabilität des Kontinents12 Die grundsätzliche Haltung der Hoch7

Vgl HELFFERICH, Karl, Deutschlands Finanzkraft in der Marokkoknsis, m BankArchiv 15 10 1912, S 17-20, MELCHIOR, Carl, Deutsche Kapitalinteressen un Ausland, in Bank-Aichrv, 15 5 1914, S 263-268 8

Vgl CAILLAUX, Memoires, vol n, S 170

9

MAE, NS Allemagne 38, J Cambon an de Selves, 5 9 1911 CAN, Berhn B-88, de Manneville an Pomcare, 7 8 1912 Ebda Ebda, de Manneville an Jonnart, 15 2 1913

10 11 12

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finanz und freihändlerischer Kreise, die Freiheit der Kapitalbewegungen zu bewahren, blieb jedoch bis zum Ausbruch des Krieges ungebrochen. Noch im Frühjahr 1914 verteidigte Yves Guyot13 diese Freiheit in verschiedenen Zeitungen und legte dar, daß die deutschen und französischen Banken vor dem Ersten Weltkrieg keineswegs dazu verurteilt waren, der amtlichen Politik zu folgen, sondern auch in dieser Phase zu eigenständigem Handeln in der Lage waren: "Si des capitaux peuvent servir ä fabriquer des canons et des fiisils, ä plus forte raison le minerai de fer et le coke employe ä le fondre. Si les necessites de la vie economique aboutissent ä des combinaisons de ce genre, ä plus forte raison donnent-elles Heu ä des combinaisons financieres de tous genres. Offwiellement les marches peuvent etre fermes. Ils ne sont pas etanches. Ils se penetrent les uns les autres, et les phenomenes d'endosmose et d'exosmose ne sont pas accidentiels, ils sont permanents. Alors pourquoi opposer une fiction d'isolement ä une realite de solidarite?"14

Sogar stärker dem Merkantilismus zugewandte Kreise mußten zugeben, daß eine Steigerung des Exports nur möglich war, wenn ein Minimum an Freiheit im Kapitalverkehr erhalten blieb15. Die zweite und bedeutendere Form der Finanzbeziehungen ergab sich durch den wachsenden Außenhandel zwischen Deutschland und Frankreich, der die Mitarbeit der Banken erforderte, da diese den Güteraustausch durch Akkreditive erleichterten und teilweise erst ermöglichten16. Verdeutlichen läßt sich dieser Sachverhalt mit der Anzahl der Konten deutscher Firmen bei französischen Banken. Das Kontenbuch des Credit Lyonnais in Paris wies zum 31. Dezember 1911 ca. 1.200 laufende Konten ("comptes courants") deutscher Kunden aus, vornehmlich von Kaufleuten und Handelsgesellschaften, die auf kreditorisch geführter Basis geführt wurden. Der allein auf diesen Konten verfügbare Betrag belief sich auf etwa 10 Millionen Francs, ein Indiz für die Bedeutung des deutschen Außenhandels mit Frankreich17. 13 Guyot, Yves (-Prosper): 1843-1928, verschiedentlich als Journalist tätig, 1885-1893 Depute de la Seine (extreme gauche radicale), Freimaurer, zeitweise Direktor des Siede (bis 1903), Mitarbeiter (in früher Zeit) des Radical, Verfechter des Freihandels, Mitghed des Institut international de statistique und der Royal Statistical Society in London, Präsident der Societe de statistique de Paris, der Societe d'economie politique, der Ligue du libre-echange. 14 Le Commerce mondial, 15.6.1914 (Guyot), hervorgehobene Passagen im Original kursiv; ähnlich äußerte sich Guyot in der Vossischen Zeitung, 12.4.1914, Morgen. 15 Vgl. MELCHIOR, Deutsche Kapitalinteressen, S. 268. 16 Vgl. BLOOMFIELD, Arthur I., Short-Term Capital Movements under the Pre-1914 Gold Standard, Princeton (N.J.) 1963, S. 34-70. Ein belebtes Kontokorrent- und Akkreditivgeschäft weist die Akte des Credit Lyonnais CL, DHB 2337/1 (Dossiers Deutsche Bank et Discontogesellschaft) auf. 17 CL, Livres de comptes, Passif, 31.12.1911 N° 1, Paris.

Ökonomische und politische Bestimmungsgroßen

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Die dritte Form der Finanzbeziehungen bestand in Industrieinvestitionen, sei es in deutsche Unternehmen m Frankreich oder französische Unternehmen in Deutschland, obgleich letztere sich weitgehend aus eigenen Mitteln finanzierten und den Kapitalmarkt kaum m Anspruch nahmen Ein Beispiel für eme solche Transaktion war die Emission von Obligationen un Werte von 10 Millionen Mark durch die Rochling'schen Stahlwerke und die Acienes de Longwy für die gemeinsam ausgebeutete Grube "Carl Alexander"18 Spatere Versuche, die Geld- und Kapitalmarktbewegungen der drei großen Kapitalexportnationen - Großbritannien, Frankreich, Deutsches Reich - zu berechnen, haben ergeben, daß im Deutschen Reich das Verhaltms von Auslandsinvestition zu nationaler Sparleistung sehr germg war, weil hohe Investitionen im Inland getätigt wurden In den letzten Jahren vor 1914 zeigten sich jedoch einschneidende Veränderungen bei den langfristigen Kapitalbewegungen Die Kapitalexporte ("net outflows") des Deutschen Reiches übertrafen m der Penode von 1911 bis 1913 erstmals diejenigen Frankreichs, vermutlich als Folge der gestiegenen Kapitalbildung aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung und der Exporterfolge im Handelsgeschäft Es gab also Anzeichen für bevorstehende Umbrüche in der scheinbar festgefugten Ordnung von Landern mit Reichtum an Geld- oder Industriekapital19 Im Urteil der franzosischen Gesandtschaft mischten sich angesichts der Tätigkeit deutscher Banken Bewunderung und Vorbildflmktion für die eigenen Institute Jules Cambon nahm die Entwicklung der deutschen Banken zum Anlaß, der franzosischen Geschäftswelt "l'espnt d'imtiative de leurs nvaux"20 vor Augen zu halten Insgesamt vermittelten die franzosischen Gesandten allerdings ein sehr unscharfes Bild Einerseits wurde die franzosische Wirtschaft aufgrund ihres Kapitalreichtums als die überlegene angesehen, andererseits bewunderte man den industriellen Erfolg des Nachbarn, der sich un 18 Vgl Kolnische Zeitung, 2 9 1911 (Emissionsprospekt), zur Kooperation dieser Betriebe vgl Kap 4 5 2 2 19 vgl WHITE, French International Accounts, S 122 f, BLOOMFIELD, Patterns, S 8 f (Charts 1, 2), S 47 (Appendix 2) Das Problem dieser nachträglich erstellten Statistiken liegt in ihrei mangelnden Genauigkeit und Differenzierung So ist es nicht möglich, landerspezifische Kapitalbilanzen zu erstellen, die bspw den Fluß langfristigen Kapitals von Frankreich nach Deutschland und umgekehrt enthielten Auch ist es mangels Quellen kaum möglich, den Fluß privater Gelder zu verfolgen Die mangelnde Genauigkeit der historischen Rekonstruktion von Kapitalbüanzen hegt an der indirekten Methode der Bilanzierung, die sich aus dem Mangel an Quellen ergibt Dabei werden zunächst alle anderen Unterbilanzen der Zahlungsbilanz geschätzt, so daß ein rechnerischer Differenzbetrag als Kapitalbilanz entsteht Für die hier angeführte Tendenz der Kapitalbildung und -investition liefert diese Methode jedoch brauchbare Ergebnisse Selbst bei größeren rechnerischen Schwankungen kann mit Hilfe der Daten Bloomfields eindeutig festgestellt werden, daß die deutschen Kapitalexporte die franzosischen in der Periode von 1911-1913 um beinahe das Doppelte übertrafen und etwa ein Drittel der englischen ausmachten 20 MAE, NS Allemagne 69, J Cambon an Jonnart, 12 2 1913

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Außenhandel und in der deutschen Präsenz in Frankreich bemerkbar machte. Ein gutes Beispiel für das unklare Bild der französischen Diplomatie von der deutschen Kapitalkraft und dem Bedarf der deutschen Wirtschaft ist der Bericht desfranzösischenHandelsattaches Ferrand vom 22. Juni 191221. Ferrand führte aus, daß die französischen Banken den deutschen nach der Börsenkrise von 1902 noch zweimal zu Hilfe gekommen seien, nämlich im September 1911 und im März 1912. Das Bild, das Ferrand bei dieser Gelegenheit von derfranzösischenHochfinanz entwarf, war wenig schmeichelhaft. Der Credit Lyonnais und die Societe Generale hätten im September 1911 durch ihre Transfers geholfen, die Krise zu meistern: "Ce fut une verkable trahison." Den französischen Bankenvertretern schrieb Ferrand ein nationales Interesse nur in dem Maße zu, "oü ses propres interets y trouvent avantage". Die deutschen Bankhäuser beurteilte Ferrand dagegen als "ardemment patriote"22. Mit diesen Zerrbildern versuchte Ferrand, die französische wirtschaftliche Überlegenheit zu belegen und gleichzeitig einen Katalog von Maßnahmen zur Geldverknappung gegen das Deutsche Reich für den Ernstfall durchzusetzen, um die Kriegsfinanzierung zu erschweren. Die Reaktionen auf diesen Bericht zeigen, daß Ferrands Analyse keineswegs die Meinung seiner Regierung wiedergab. Nicht nur die angeklagten Banken dementierten die Vorwürfe, auch aus dem Finanzministerium kam Kritik. Klotz schrieb an Poincare, Deutschland leide nicht unter einem Mangel an Kapital, sondern vielmehr an einer "surconsommation de capital, due ä la hardiesse, ä l'audace, ä l'activite des industriels allemands."23 Das Deutsche Reich könne sich zur Not leicht Kapital beschaffen und sei ein zunehmend wohlhabender Staat. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, daß die Bemühungen der französischen Regierung, sich im Wettbewerb um die internationalen Anleihen durchzusetzen, auch einem finanzpolitischen Rivalen galten, der, nachdem Frankreich schon handelspolitisch ins Hintertreffen geraten war, auch im Finanzbereich zu dominieren drohte. Die Möglichkeiten der Regierungen waren allerdings begrenzt. Denn so schwer die Krisen der Jahre 1911 bis 1914 die internationalen Beziehungen auch belasteten, so wenig war zu erkennen, daß das privatwirtschaftliche Element in den deutsch-französischen Beziehungen der politischen Tendenz zur Nationalisierung der Finanzbeziehungen folgte. Vielmehr traf immer noch das dem Bankier Fürstenberg zugeschriebene Wort von den "natürlichen Assoziationen"24 in den Bankenbeziehungen zu. Die europäische Hochfinanz orientierte sich weiterhin an ihren in21

MAE, NS Allemagne 115, Bericht Ferrands vom 22.6.1912. Ebda. 23 Ebda, Klotz an Pomcare, 23.7.1912. 24 FÜRSTENBERG, Lebensgeschichte, S. 162; vgl. SEIDENZAHL, Fritz, Das Spannungsfeld zwischen Staat und Bankier im \\dmelrninischen Zeitalter, in: Tradition 13 (1968), S. 142-150. 22

Ökonomische und politische Bestirnmungsgroßen

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ternationalen Traditionen, an der "culture d'inspiration universaliste"25, wie Fran9ois Caron sie mit Blick auf die lange Friedensperiode seit dem deutschfranzösischen Krieg bezeichnet hat und wie es die Memoiren deutscher Bankiers bestätigen26 Selbstverständlich besaß die Finanzwelt trotzdem mcht das Instrumentarium oder gar die Macht, um an den politischen Instanzen vorbei eme unabhängige Anleihepolitik zu betreiben Ihre Verbmdungen zur Politik waren in beiden Landern informeller, mcht institutioneller Art Unter den politischen Voraussetzungen emes starker werdenden Finanznationalismus und den dargelegten ökonomischen Bedingungen - franzosischer Kapitaluberschuß bei gleichzeitiger deutscher Kapitalnachfrage - folgte eme Asymmetrie der Finanzbeziehungen, bei denen die deutschen Institute m der Regel im Sinne der deutschen Regierung handelten, wahrend diefranzosischenInstitute diese Ruckendeckung entsprechend verloren, sobald sie offen m Kontakt mit ihren deutschen Partnern traten Die Finanzinstitute behielten dennoch ihre internationale Ausrichtung und paßten sie nur zum Teil dem veränderten politischen Rahmen an "Assimiler la concurrence entre banques ä la competition entre nations revele donc une meconnaissance de la nature de la relation existant entre banque ä la "belle epoque' H n*y a pas vraiment concurrence entre banques allemandes et francaises ni meme entre etablissements isoles Les Operations internationales se fönt dans le cadre de reseaux et de syndicats internationaux oü se retrouvent impliques des partenaires de plusieurs places La concurrence oppose donc des reseaux entre eux et non des etablissements isoles " 2 7

Anstatt die Entwicklung der deutsch-franzosischen Fmanzbeziehungen vor dem Ersten Weltkrieg vorrangig im Lichte der zunehmenden Rivalität der Bundmssysteme zu sehen, behandeln die folgenden Kapitel beide Aspekte, die privatwirtschaftliche Bankenkooperation und die poht-okonomische Zusammenarbeit der Staaten im Rahmen des informellen Imperialismus sowie die Wechselbeziehungen zwischen Hochfinanz und Regierungen

25

BussiERE, Eric, Paribas, S 10 (Vorwort von F Caron) Vgl FURSTENBERG, Lebensgeschichte, SCHWABACH, Paul von, Aus meinen Akten, Berlin 1927, WARBURG, Max M , Aus meinen Aufzeichnungen, hg v E WARBURG, New York 1952, GwiNNER, Arthur von, Lebenserinnerungen, hg von M POHL, Frankfurt a M 1975 27 BUSSIERE, Paribas, S 85 f 26

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Finanzinteressen

3.2. Deutsch-französische Bankenbeziehungen in Europa Zu Beginn des 20 Jahrhunderts vervielfältigten sich m Frankreich und Deutschland Marktdurchdrmgung und Interpenetration der Interessen durch Fihalgrundungen und Beteiligungen Die Entspannung im deutsch-franzosischen Verhaltms nach dem Marokkovertrag von 1909 begünstigte Überlegungen des Auswärtigen Amtes zur Gründung emer deutsch-franzosischen Bank m Pans, um den komplementären Interessen von deutschen Geldnehmern und französischen Kapitaleignern entgegenzukommen Die politischen Auswirkungen wurden äußerst optimistisch emgeschatzt "Es dürfe schließlich nicht unberücksichtigt bleiben, daß ein solches Unternehmen berufen erscheint, eine wirtschaftliche und politische Annäherung zwischen unserem Lande und Frankreich zu vermitteln, somit Gegensatze zu überbrücken, und dadurch einen nicht zu unterschätzenden politischen Faktor zu bilden " 28

Obwohl dieser Plan mcht weiterverfolgt wurde, vermehrten sich die Falle, m denen deutsche undfranzosischeBanken kooperierten Der bedeutendste Fall war die Zusammenarbeit zwischen der Nationalbank für Deutschland und dem Credit Mobiher29 Der bereits 1906 vom Bankier Jacques de Gunzbourg lancierte Plan sah eme Kapitalerhohung des Credit Mobiher von 25 auf 45 Millionen Francs vor Am 27 Februar 1909 griff Gunzbourg den Plan auf und teilte der deutschen Botschaft seine Absicht mit, die Nationalbank für Deutschland daran zu beteiligen Obwohl diese Operation m Fmanzkreisen, m der Presse und bei der deutschen Regierung auf Zustimmung traf, hielt sich die franzosische Regierung zurück, weil sie diese Kooperation mcht als Vorstufe zu emer weitergehenden Annäherung in Finanzfragen verstanden wissen wollte und auch nach dem Vertrag vom 9 Februar 1909 über Marokko kerne Möglichkeit zu emer Zulassung deutscher Wertpapiere an der Pariser Börse sah Caillaux riet dem Credit Mobiher, trotz einer optimistischen Einschätzung der politischen Lage, zur Zurückhaltung " je n'ai pas manque de lui recommander, conformement ä votre desir, de se montrer tres circonspect dans ses relations avec la finance allemande Je ferai la meme recommandation ä nos grands etabhssements de credit "30 An der Kapitalerhohung wurde die Nationalbank für Deutschland dennoch mit 3 Millionen Francs beteiligt

28

PA-AA, Frankreich 102 Nr 7, Bd 2, Notiz aus dem Auswärtigen Amt (hervorgehobene Passage im Original unterstrichen), März 1910 mit einem Vermerk Gwinners, er halte die Sache für "ausführbar" 29 Vgl POIDEVIN, Relations economiques et financieres, S 491-495 30 MAE, NS Allemagne 69, Caillaux an Pichon, 23 3 1909

Deutsch-französische Bankenbeziehungen in Europa

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Weitere Falle emer Vertiefung der deutsch-franzosischen Fmanzkontakte folgten Im Februar 1910 gründete die Societe Generale m Berlm die Societe fran9aise de Banque et de Depots für die Einlösung und Diskontierung von Wertpapieren und alle Depotgeschafte Unter den Mitgliedern des Verwaltungsrates befanden sich Vertreter der Societe Generale und em Vertreter der Elsassischen Bank31 Die Dresdner Bank übernahm zwischen 1910 und 1911 einen bedeutenden Anteil der 1901 gegründeten Banque J Allard et Cie, deren Verwaltungsrat im Jahre 1911 aus Bankenvertretern mehrerer europaischer Lander und den USA bestand, unter ihnen Jean-Jacques Schuster, Administrator der Dresdner Bank, der Marquis de FrmdeviUe von der Banque de l'Union Pansienne und Victor Fns, Senator und Präsident der Banque Internationale de Bruxelles, der seit 1911 auch als Präsident des mehrheitlich deutsche und franzosische Interessen vereimgenden Konsortiums von Konstantinopel amtierte32 Die Generalversammlung der Banque Allard vom 3 August 1915 dokumentiert, daß die Direktion die internationale Ausrichtung ihrer Finanzgruppe als konstitutives Merkmal und die internationale Zusammensetzung des Verwaltungsrats m der Zeit vor dem Krieg als "un des facteurs les plus lmportants de l'extension de notre champ d'action et de l'activite de nos affaires"33 betrachtete Auch im Versicherungswesen wurden Geschaftbeziehungen auf ganz Europa ausgedehnt Der franzosische "Phenix-Compagnie fran9aise d'assurances sur la vie" besaß Zweigstellen in Bern, Amsterdam, Konstantinopel, Beirut, Barcelona, Brüssel, Luttich, Basel, Mailand und Rom Im Frühjahr 1911 ernannte der Verwaltungsrat Erich Volker m Berlm zum Repräsentanten für das Deutsche Reich und widerrief eine altere Prokura Als Bankverbindung wählte der Phenix die Deutsche Bank34 Die deutsche Regierung ermächtigte den Phemx zwar, sein Geschäft in Deutschland zu betreiben und erlaubte 1912 auch alle lebenslänglichen und gemischten Versicherungen, hinderte ihn jedoch daran, SpezialVersicherungen wie zB Kriegsversicherungen abzuschließen Maurice Ajam, Präsident des Comite du Commerce Fran9ais avec TAllemagne, beklagte diesen Zustand in der France vom 31 Oktober 1913 und wies darauf hm, daß die deutschen Versicherer ihrerseits unbehelligt m Frankreich arbeiten konnten35 Ajam zahlte die Vorteile auf, die die Tätigkeit 31

CAN, Berhn B-88, Grundungswerbung der Societe francaise de Banque et de Depots 32 CAMT, 65 AQ-A 19, Generalversammlung vom 8 4 1911, vgl unten, Kap 3 3 3 33 Ebda, Generalversammlung vom 3 8 1915 34 AN, 42 AQ 15 Mi 8, Sitzungen des Conseil dAdministration vom 4 1 und 153 1911 35 La France, 31 10 1913 (Ajam) Diese Behauptung wird von der Antwort der französischen Regierung vom 1 8 1912 auf eme Anfrage der Perleburger Versicherungsgesellschaft bestätigt, die eme Erlaubms für das Versicherungsgeschaft mit der Begründung ab-

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der Versicherungen für das Gastland mit sich brachte, etwa die Konstituierung deutscher Vermögen und die Plazierung deutscher Wertpapiere in den Portefeuilles der Gesellschaften. Er forderte gleichzeitig dazu auf, dem Phenix die bisher vorenthaltenen Geschäftsbereiche zu öffnen. Die französische Regierung intervenierte 1914 mit einer Verbalnote erfolgreich zugunsten des Phenix. Im Januar 1914 gewährte das Auswärtige Amt die Ausweitung des Geschäfts auf Kriegs-, Todesfall- und Rentenversicherungen, beschränkte die Erlaubnis allerdings durch den Ausschluß der Rheinprovinz, der Bayerischen Pfalz und des Fürstentums Birkenfeld36. Die bisherige Beschränkung des deutschen Marktes, die sich in der geringen Anzahl von Verträgen und in der vergleichsweise geringen Risikorückstellung für deutsche Versicherungen niederschlug, war damit aufgehoben37. Die Perspektiven des Phenix in Deutschland waren aus diesem Grund, entgegen dem Urteil Poidevins38, zu Beginn des Krieges besser als jemals zuvor, wie sich an der Zufriedenheit der Geschäftsführung des Phenix ablesen läßt39. Die Chancen auf dem deutschen Markt traten umso deutlicher hervor, weil der Phenix in Italien durch das Inkrafttreten eines staatlichen Monopols auf Versicherungen in Schwierigkeiten geriet und die Aufgabe des Marktes erwog40. Auf dem Geld- und Kapitalmarkt sind weitere Transaktionen nicht überliefert, was zum einen am tatsächlichen Rückgang der Geschäftstätigkeit infolge der Agadir-Krise, zum anderen an der informellen Struktur dieses Marktes lag, so daß viele Vorgänge nicht in den Akten festgehalten wurden. Eine Ausnahme bildeten die Aktivitäten des Bankhauses Warburg, das eng mit der Banque Paribas und der Societe Generale zusammenarbeitete. Das Bankhaus Kuhn/Loeb in New York, deren Leitung mit der Familie Warburg verwandtschaftlich verbunden war41, verkaufte einem französischen Konsortium am 6. Mai 1912 153.500 Aktien der American Smelters Securities zur Einfuhrung lehnte, für die nicht staatlicher Kontrolle unterhegenden Versicherungen bestehe keine Zulassungspflicht (CAN, Berlin A-223, de Margerie an J. Cambon). 36 CAN, Berlin B-88, Doumergue an J. Cambon, 17.1.1914, Antwort des AA auf Verbalnote des Quai d'Orsay vom 21.1.1914. 37 AN, 42 AQ 15 Mi 19, Hauptversammlung vom 29.4.1912. Die Höhe der Rücklagen betrug insgesamt 393 Millionen Francs, davon nur 1,5 Millionen für das Deutsche Reich. Im Portefeuille des Phenix befanden sich zu diesem Zeitpunkt für etwa 2,5 Millionen Francs deutsche Werte. 38 Vgl. POIDEVIN, Relations economiques et financieres, S. 749 f. 39 CAN, Berlin B-88, Dank des Phenix an J. Cambon, 4.5.1914. 40 AN, 42 AQ 15 Mi 8, Sitzungen des Conseil dAdministration Ende 1911. 41 Vgl. CHERNOW, Ron, The Warburgs. A family saga, London 1993, S. 142. Die Genealogie der Familie Warburg (im Anhang bei Chemow) zeigt die verwandtschaftlichen Bindungen der Warburgs in der Hochfinanz: Die Mutter Max M. Warburgs war Charlotte Oppenheim, seine Nichte Carola wurde 1916 mit Walther N. Rothschild verheiratet, sein Bruder Paul M. mit Nina Loeb (1895), seine Cousine Rosa Warburg mit Alexandre Baron de Gunzbourg (1891).

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auf dem franzosischen Markt Das Bankhaus Warburg wurde, vermutlich mit Rucksicht auf die enge Zusammenarbeit Warburgs mit Kuhn/Loeb und die verwandtschaftlichen Bindungen, mit 27,5% am Konsortium beteiligt, m dem die Banque Paribas und die Societe Generale mit jeweils 36,25% die Mehrheit erhielten42 Die Banque Panbas schloß mit dieser Transaktion an die internationale Geschaftspohtik seit ihrer Gründung im Jahre 1872 an43 Langjährige Kooperationsfelder deutscher undfranzösischerBanken m Europa lagen vor allem m den Balkanstaaten Hier stieg das Interesse Frankreichs und des Deutschen Reiches an politischer Einflußnahme Jedoch standen seit Beginn der Balkankriege im Oktober 1912 alle Gläubigerstaaten vor einem Dilemma Den nationalen Handelsinteressen und dem Bestreben, Staaten wie Bulgarien, Rumamen oder Griechenland dem jeweiligen Bündnissystem zu verpflichten und sie außerdem als Absatzgebiete für die heimische Industrie zu sichern, standen erhebliche Risiken gegenüber, etwa der Verlust der eingesetzten Finanzmittel und des Ansehens innerhalb des "europaischen Konzertes", dessen Mitglieder sich zu Beginn des ersten Balkankrieges dazu verpflichtet hatten, keine Kredite mehr an kriegführende Staaten zu geben Die franzosische und die deutsche Regierung mußten darüber hinaus politische Rucksichten auf ihre Bündnispartner Rußland und Österreich-Ungarn nehmen Die deutsche Regierung stand vor dem zusätzlichen Problem, daß das Bagdadbahnprojekt erhebliche Mittel des größten Instituts, der Deutschen Bank, band und sich daher eine allemige Durchsetzung finanzieller Interessen schwierig gestaltete Aus diesen Gründen waren die Staaten in ihrer Anleihepolitik mcht vollkommen frei Finanzpolitisch gab es für dieses Problem nur zwei Losungen, die für die Regierungen ebenfalls mcht frei von unerwünschten Risiken waren Zum emen konnte man die internationale Kooperation der Banken weiterhin dulden und mußte m diesem Fall die politischen Interessen zurückstellen, zum anderen bestand die Möglichkeit, die Anleihegeschafte ohne fremde Mitwirkung abzuschließen, war dann aber außerstande, alle Schuldnerstaaten zufriedenzustellen Am schwierigsten war die deutsche Position nach 1911 m Serbien44 Dort blickten die Berliner Handelsgesellschaft (BHG) und die franzosisch-englische Banque Ottomane (BO) auf eme langjährige Zusammenarbeit zurück, die 42

Paribas, 1/Cabet-1/183, Dossier American Smelters Securities Company Vgl BussiERE, Paribas, S 19-32 Die 1863 von der deutsch-judischen Familie Bischoffsheim in Amsterdam gegründete Banque de Credit et de Depots des Pays-Bas und seit 1869 bestehende Banque de Paris schlössen sich am 5 August 1872 zur Banque Paribas zusammen, um ein Gegengewicht zum Bankhaus Rothschild zu bilden, das die Reparationsanleihen für den verlorenen deutsch-französischen Krieg ganzlich übernommen hatte Die Grundungsakte wies deutsche neben danischen, belgischen und schweizerischen Kapitalzeichnern aus 44 Vgl POIDEVIN, Raymond, Les interets financiers francais et allemands en Serbie de 1895 ä 1914, in DERS , Peripeties, S 153-168 43

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1895 mit der Konversionsanleihe über 355 Millionen Francs begonnen hatte. Zu jener Zeit war auch die serbische Monopolverwaltung zur Sicherstellung der serbischen Staatsschuld entstanden, in der unter anderem ein deutscher und ein französischer Delegierter saßen. Weitere Anleihegeschäfte erfolgten in den Jahren 1902 (Emprunt des Monopoles, 60 Millionen Francs), 1906 (95 Millionen) und 1909 (110 Millionen). Die BHG erhielt an diesen Geschäften eine Beteiligung zwischen 10 und 25%. Die Anleihen von 1902 und 1906 wurden nicht an der Berliner Börse, sondern ausschließlich in Paris notiert. Der Grund dafür lag in der Weigerung der französischen Regierung, die deutsche Industrie angemessen an den daran gebundenen Handelsgeschäften partizipieren zu lassen. Stattdessen wurde die österreichische Industrie bevorzugt behandelt, weil der Quai d'Orsay zu diesem Zeitpunkt eine Annäherung an Österreich-Ungarn wünschte. Die Zusammenarbeit erwies sich also bereits in dieser frühen Phase der serbischen Anleihegeschäfte als problematisch. Die Beteiligung der BHG erschien mehr als Konvention im Anschluß an die bisherige Kooperation denn als freiwilliges Zugeständnis45. An der Anleihe vom 9. November 1909 wurde die BHG mit 25% beteiligt und erhielt die Zusage für Industrieaufträge - Lieferungen von Waffen und Eisenbahngütern - in entsprechender Höhe46. Der Anteil der BHG mußte allerdings auf dem deutschen Markt emittiert werden, ohne daß Teile davon später an den französischen Markt abgegeben werden konnten. Die These Poidevins, daß sich in dieser Affäre die beiden Regierungen letztmalig positiv für eine "coUaboration fmanciere" entschieden hätten, muß angesichts dieser Emissionsbedingungen relativiert werden47. Bereits 1909 lassen sich Tendenzen in der deutschen und französischen Anleihepolitik erkennen, die auf die Erringung eigener politischer Vorteile zu Lasten des Konkurrenten hinausliefen. Die 1909 gewählte Form der finanziellen Beteiligung der BHG war unter den gegebenen politischen Verhältnissen die einzig mögliche und kündigte die Entwicklung der kommenden Jahre an. Die Kooperation ging also nicht so weit, daß die deutschen Banken direkt vom französischen Anleihemarkt profitierten. Eine so geartete Finanzkooperation scheiterte am Willen derfranzösischenRegierung, die zu keinem Zeitpunkt ernsthaft beabsichtigte, deutsche Projekte über die Pariser Börse zu finanzieren, wohingegen diefranzösischenBanken durchaus 45

Vgl. ebda, S. 162. PA-AA, Serbien 7, Bd. 20, Mettemich an Bethmann Hollweg, 11.11.1909; vgl. SCHAEFER, Karl Christian, Deutsche PortfoHoinvestitionen im Ausland 1870-1914. Banken, Kapitalmärkte und Wertpapierhandel im Zeitalter des Imperialismus, Münster 1995, S. 268 f. Die BO führte das Serbienkonsortium 150 Millionen Francs wurden bei einem Zins von 4,5% mit einem Kurs von 85 (für Serbien) bzw. 90 (als Ausgabekurs) emittiert. Die Differenz von 5 Ausgabepunkten mag die Höhe des Gewinns verdeutlichen, den die Banken aus dem Geschäft zogen, die sich durch die Liefergeschäfte mit der Industrie indirekt noch erhöhte. 47 Vgl. POIDEVIN, Peripeties, S. 164. 46

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auf eine derartige Möglichkeit hofften und ihre Wunsche im Quai d'Orsay vortrugen48 Aber auch unter den Banken erfolgte m Serbien eme Art VerdrangungsWettbewerb Im Sommer 1910 wurde m Pans die Banque francoserbe von der BO, dem Bankhaus Bardac, der Societe Fmanciere d'Onent und der Banque de l'Union Pansienne gegründet Die Banque franco-serbe trat in direkte Konkurrenz zur ungarischen Banque Andreevits & Co, an der die BHG mit 40% beteiligt war49 Noch im Herbst 1911 plädierte der französische Geschäftsträger m Serbien, Descos, für em vorsichtiges Vorgehen der Banque franco-serbe, um unvermeidliche Enttäuschungen anderer Banken abzumildern50 Im Mai 1911 konstituierte sich letztmalig das Serbien-Konsortium mit deutscher Beteiligung Die Vorrangstellung der BHG als deutscher Partner wurde dabei in Frage gestellt, wie aus einem Privatschreiben Furstenbergs an den Bankier Noel Bardac hervorgeht Furstenberg bat Bardac, mit dessen Familie er eine langjährige Freundschaft pflegte, für die Rechte der BHG einzutreten "Mon eher arm, Je suis fier de pouvoir me vanter de relations d'amitie avec vous de pres de quarante ans, aussi, en bons amis, il a toujours suffi d'un mot, sinon moins, pour nous entendre aussi bien dans les affaires que dans toute autre chose, aucun malentendu n'a jamais surgi entre nous et nous n'avons pas eu non plus besoin d'interpretes Or voilä des personnes qui commencent ä s'interposer sans autorisation depuis quelques semaines ce qui me semble menacer notre bonne entente traditionnelle " 51

Furstenberg gelang es, die BHG im Syndikat zu halten Allerdings scheiterte das Projekt, die Staatsanleihen von 1902, 1906 und 1909 m eine Anleihe über 320 Millionen Francs zu konvertieren, zunächst an den Spannungen m der Folge der Agadir-Krise Von Juli 1911 an ruhte das Syndikat, hatte allerdings noch bis Mai 1913 Bestand, bevor es mit leichten Verlusten für die BHG aufgelost wurde Die BHG unterband von sich aus weitere Kontakte zu dem Syndikat und kritisierte vor allem die Societe Fmanciere d'Onent wegen überhöhter Provisionen52 Die vermutlich von Noel Bardac sondierte Möglichkeit eines Wiedereinstiegs in das Syndikat für die neue Serbienanleihe Ende 1913 lehnte die BHG mit Hinweis auf geringe Gewinnmoglichkeiten ab53 48

Vgl ebda, S 171-182 PA-AA, Serbien 7, Bd 20, verschiedene Schriftstucke, Sommer 1910 50 MAE, NS Serbie 26, Descos an de Selves, 21 10 1911 51 BA-P, BHG 14119, Furstenberg an Noel Bardac, 29 5 1911, vgl FÜRSTENBERG, Lebensgeschichte, S 162 52 BA-P, BHG 14119, BHG (Direktor Herbst) an J Zutrauen (Repräsentant der BHG in Paris), 30 5 1913 53 Ebda, Schreiben vom 18 8 1913, vermutlich von Herbst an Zutrauen verfaßt Bardac war wegen der Bagdadbahnverhandlungen nach Berlin gereist 49

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1912 bildete sich ein belgisch-österreichisch-ungarisch-deutsches Konsortium, das der serbischen Regierung 150 Millionen Dinar als vorläufige hypothekarische Investitionsanleihe für öffentliche Bauten anbot, weil der Zeitpunkt für eine Konversion der serbischen Staatsschuld - von der ja automatisch, durch die früheren Beteiligungen, die deutschen Finanzinteressen betroffen gewesen wären - ungünstig erschien. Dies geschehe "im Einverständnis mit den befreundeten Finanzleuten in Paris, Antwerpen und Genf'54, wie der deutsche Gesandte in Belgrad, Freiherr von Griesinger, dem Auswärtigen Amt mitteilte. Die Idee einer deutsch-französischen Bankenkooperation lebte bei den Instituten weiter, ohne sich auf dem Balkan verwirklichen zu können. Obwohl dort die Lage immer verworrener wurde, dachte die BO nicht daran, den Kontakt zur deutschen Finanz aufzugeben. Boye, Direktor der BHG, teilte dem Auswärtigen Amt im Februar 1913 die Bereitschaft der BO zu einem weiteren gemeinsamen Engagement mit: "Gewissermaßen als Ergänzung möchte ich noch vertraulich hinzufügen, daß die BO in Paris uns zu verstehen gegeben hat, sie lege den größten Wert darauf in den zukünftigen serbischen Geschäften mit uns in intimster Weise Hand in Hand zu gehen. Sie würde, bevor sie in ein serbisches Geschäft entriere, alsbald mit uns Fühlung nehmen und bittet uns, auch unsererseits in gleicher Weise zu verfahren."55

Diese Bereitschaft wurde von der Führung der BHG allerdings nicht mehr geteilt. Die BHG zeigte sich am serbischen Emissionsgeschäft interessiert, nicht aber an einer französischen Beteiligung, die von Fürstenberg strikt abgelehnt wurde56. Die französische Finanz sah sich daher gezwungen, im September 1913, nach vorläufiger Beruhigung der Lage auf dem Balkan, eine Anleihe über 250 Millionen Francs ohne deutsche Unterbeteiligung abzuschließen. Diese konnte wegen der harten französischen Bedingungen an Serbien erst im Januar 1914 emittiert werden. Hinter der deutschen Zurückhaltung verbarg sich das Kalkül der deutschen Regierung, Frankreich allein agieren zu lassen und die angespannte finanzielle Lage nicht durch deutsche Beteiligungen zu erleichtern. Frankreichs Sparkraft, argumentierte Schoen, lasse nach, und daher auch seine Rolle als Bankier der Welt57. In Rumänien war die Discontogesellschaft der traditionelle Kreditgeber der Regierung. Die Anleihe von 1910 über 128 Millionen Francs wurde unter ihrer Führung gemeinsam mit den Konsortialpartnern Comptoir National d'Escompte, Banque Paribas und Societe Generale emittiert58. An der Emission dreijähriger Schatzbriefe im Januar 1913 beteiligten sich die französi54 55 56 57 58

PA-AA, Serbien 7, Bd. 21, Konsulat Belgrad an Bethmann Hollweg, 20.5.1912. Ebda, Boye an Rosenberg (AA), 28.2.1913. PA-AA, Serbien 7, Bd. 22, Notiz von Neurath (AA), 13.12.1913. Ebda, Schoen an Bethmann Hollweg, 10.1.1914. Vgl. Berliner Tageblatt, 3.2.1910.

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sehen Banken dagegen mcht Die deutsche Gesandtschaft in Bukarest vermutete richtig, daß politische Grunde hierfür ausschlaggebend waren59 Pomcare hatte das Finanzministerium darauf hingewiesen, es liege mcht im französischen Interesse, der Discontogesellschaft einen Teil der finanziellen Belastung abzunehmen Die Korrespondenzbank der Discontogesellschaft, der Comptou d'Escompte, war deshalb gezwungen, eine Beteiligung abzulehnen, äußerte jedoch die Absicht, die Kuponeinlosung m Frankreich zu übernehmen, weil sonst der Eindruck entstehe, er wolle mit seiner deutschen Korrespondenzbank mcht mehr zusammenarbeiten Außerdem, so ventilierte Blondel, Botschafter in Bukarest, beabsichtigten die franzosischen Banken, sich per "Arrangements" inoffiziell mit den deutschen Instituten zu einigen Nicht einmal diese eingeschränkte Form der Kooperation ließ die neue Regierung Bnand/Jonnart zu und schloß somit nahtlos an die Politik Poincares an60 Im Herbst 1913 versuchte die rumänische Regierung erneut, eme längerfristige Anleihe zu emittieren Auf den Wunsch Wilhelms II hm sollten sich das Bankhaus Bleichroder und die Discontogesellschaft bei griechischen und rumänischen Anleihen engagieren, was den Interessen der deutschen Politik, diese Staaten naher an den Dreibund heranzuführen, unmittelbar Vorschub geleistet hatte61 Waldburg, deutscher Geschäftsträger in Bukarest, beachtete, die franzosischen Banken seien zu einer Anleihe über 300 Millionen Francs bereit Er warnte vor der Gefahr, Frankreich werde den Anleihevertrag ohne deutsche Beteiligung unterzeichnen62 In franzosischen Bankenkreisen reiften im Gegensatz zu den Vorstellungen des Quai d'Orsay Plane, em neues deutsch-rumamsch-franzosisches Konsortium zu bilden Am 3 Oktober 1913 erläuterten die Banken ihren Plan, den Comptoir National d'Escompte, die Banque Paribas, den Credit Lyonnais und die Societe Generale mit dem Haus Bleichroder, der Discontogesellschaft, der Banque Nationale de Roumanie und der Banque Generale Roumaine zu vereimgen Dieses Konsortium sollte insgesamt 300 Millionen Francs in zwei getrennten Tranchen von je 150 Millionen auf dem deutschen und franzosischen Kapitalmarkt plazieren Die Weigerung der franzosischen Regierung, hier des Finanzministers, den Plan zu unterstutzen, wurde vom Konsortium als "inexplicable" bewertet Eme strikte Trennung der Markte sei garantiert, und der rumänische Finanzminister Marghiloman habe die Berücksichtigung der franzosischen Industrie zugesagt 59 PA-AA, Rumänien 4, Bd 13, Gesandtschaft Rumänien an Bethmann Hollweg, 23 1 1913 60 MAE, NS Roumanie 12, Blondel an Jonnart, 28 1 1913, Klotz (Fmanzminister) an Jonnart (Außenminister), 28 1 1913, Jonnart an Klotz, 29 1 1913 Jonnart wandte sich hier ausdrücklich gegen die Unterstützung von Staaten "en relations intimes avec le groupement oppose a la Triple Entente " 61 PA-AA, Rumamen 4, Bd 13, Aufzeichnung Rosenbergs, 12 9 1913 62 Ebda, Waldburg an AA, 23 9 1913, 1 10 1913

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Schon wegen der offenbar nicht als hinreichend angesehenen Aufnahmefähigkeit des französischen Marktes sei eine Teilung mit Deutschland wünschenswert63. Die französische Regierung blieb jedoch bei ihrer harten Haltung. Für sie zählte allein das Argument, daß durch den Umtausch der im Januar 1913 emittierten Schatzbriefe in eine französische Anleihe indirekt deutsche Papiere auf den französischen Markt gelangten64. Die Discontogesellschaft erhielt schließlich den Zuschlag für eine Anleihe über effektiv - nach Abzug der konvertierten Schatzbriefe von 1913, die kein neues Kapital darstellten - 175 Millionen Francs. Die Pläne der französischen Regierung verwirklichten sich nicht, denn Societe Generale und Credit Lyonnais gingen leer aus, wurden von Finanzminister Dumont gleichwohl für den Mißerfolg verantwortlich gemacht. Dumont beschimpfte die Societe Generale als "esclave de ses attaches avec une Banque allemande" und beklagte die Haltung des Credit Lyonnais als "incomprehensible resistance aux suggestions les plus pressantes qui lui etaient adressees au nom de l'interet national"65. Die Interpretation des unscharfen Begriffs "nationales Interesse" durch die französische Regierung umfaßte demnach längst nicht mehr den sinnvollen Einsatz französischer Spargelder und die politische Absicherung von Anleihen, sondern reduzierte sich auf die politische Einflußnahme auf dem Balkan, zu deren Erfüllungsgehilfen die Banken werden sollten. Auch in Bulgarien standen umfangreiche Anleihegeschäfte bevor. Der bulgarische Staat litt unter großen Finanznöten, und auch hier waren verschiedene Banken der Großmächte betroffen und folglich daran interessiert, die finanzielle Leistungsfähigkeit Bulgariens zu erhalten. Die deutsch-französische Krise im Sommer 1911 bedeutete eine schwere Belastung für die Finanzinteressen der französischen Großbanken, hier der Banque Paribas, die für die kommenden Anleihewünsche Bulgariens auf die Bildung eines internationalen Konsortiums unter Einschluß der deutschen Banken gehofft hatte. In einem Brief an Gwinner informierte Turrettini, Direktor der Banque Paribas, die Deutsche Bank über die Höhe der laufenden bulgarischen Verpflichtungen und den Wunsch der bulgarischen Regierung, bis zum Jahresende eine diese Schulden umfassende Konversionsanleihe zu begeben. Gleichzeitig drückte Turrettini seine Sorge über die politische Entwicklung aus und beschwor die Solidarität der europäischen Hochfinanz, die als Mittel zur Beruhigung der deutsch-französischen Spannungen eingesetzt werden sollte:

63 MAE, NS Roumanie 12, Note vom 3.10.1913 ohne Verfasserangabe, vermutlich aus Bankenkreisen. Der Vorgang wurde durch das Berliner Tageblatt vom 23.10.1913 bestätigt, das sich auf die Darstellung Marghilomans berief. 64 Ebda, Notiz aus der Direction politique vom 3.10.1913. 65 Ebda, Dumont an Pichon, 6.10.1913.

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"Quel cauchemar que ces negociations Kiderlen-Cambon Plaise ä Dieu qu'un terrain d'entente se trouve bientöt Je n'ai pas besoin de vous dire que la finance parisienne, comme la votre j'en suis persuade, ne veut pas croire ä des complications dont les resultats seraient reciproquement si graves pour les uns et les autres que rimagination se refuse ä se les representer, aussi notre röle, ä nous autres financiers, est de precher le sang-froid et le calme, aussi bien au public qu'ä la presse, c'est ce que nous nous eflbrcons de faire dans la mesure de nos moyens C'est bien entre nous et tout personnel " 6 6

Die Interpenetration der Finanzinteressen verstärkte sich m den Jahren 1911/12 Franzosische, deutsche und bulgarische Institute gründeten am 1 Januar 1912 die Allgemeine Hypothekenbank für das Königreich Bulgarien mit 10 Millionen Francs Kapital, an der unter anderem die Banque Generale de Bulgane, die Banque Paribas und die BHG beteiligt waren67 1912 fusionierte diese Gesellschaft mit dem seit 1911 bestehenden Credit Foncier franco-bulgare Im Verwaltungsrat der neuen Gesellschaft, deren Grundkapital nun 20 Millionen Francs betrug, saßen sechs Franzosen, fünf Bulgaren, drei Belgier, drei Österreicher, zwei Russen und em Deutscher Panafieu, der franzosische Botschafter in Sofia, druckte dem Quai d'Orsay gegenüber semen Arger über die internationale Zusammensetzung dieses franzosischen Unternehmens aus68 Diese Neugrundungen standen m engem Zusammenhang mit den Planen der bulgarischen Regierung, m Frankreich eme neue Anleihe aufzunehmen, die vor allem alte Schulden konvertieren sollte Am 10 April 1912 gab Panafieu den Wunsch des biüganschen Mimsterprasidenten Guechoff nach Paris weiter, 180 Millionen Francs zu 4,5% auf 60 Jahre aufzunehmen, um damit Eisenbahnen und Hafenanlagen zu bauen und außerdem die noch umlaufenden Anteile der 6%-Anleihe von 1892 zu konvertieren69 Pateologue teilte Panafieu umgehend mit, Rußland garantiere für die friedlichen Absichten Bulgariens und hob damit politische Bedenken gegen die Anleihe auf Am 25 April 1912 übergab Stancioff, der bulgarische Botschafter m Pans, eme offizielle Note mit dem Anleihewunsch70 66

Tunettini an von Gwinner, 25 8 1911, Dokument aus dem Archiv der Banque Paribas, Serie Bulgarie, nach Reorganisation unauffindbar, von M Eric Bussiere freundlicherweise übersandt, vgl BussiERE, Paribas, S 85 67 PA-AA, Bulgarien 7, Bd 24, von Below (deutscher Botschafter in Sofia) an Bethmann Hollweg, 12 12 1911, Einzelheiten in der Bulgarischen Handeiszeitung vom 12 12 1911 Dem Verwaltungsrat gehorten demnach bulgarische, ungarische und je ein französischer (E Chevrant, Banque Paribas), belgischer und deutscher Vertreter (Paul Wallich, BHG) an 68 MAE, NS Bulgarie 24, Panafieu an MAE, 29 5 1912, Note zur Neugrundung aus demMAEvoml5 5 1912 69 Ebda, Panafieu an MAE, 10 4 1912 Von diesen restlichen etwa 80 Millionen Francs der Anleihe von 1892 hielten englische Anleger 12, deutsche 20, österreichische 20 und bulgansche 28 Millionen Francs 70 Ebda, Paleologue an Panafieu, 11 4 1912 und bulgarische Note vom 25 4 1912

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Die Entstehungsgeschichte dieses später mit dem ersten Balkankrieg gescheiterten Projekts zeigt deutlich, wie wichtig die russische Politik auf dem Balkan für die Entscheidungen der französischen Regierung geworden war. Die Banque Paribas setzte sich allerdings im Hintergrund bald mit der Deutschen Bank in Verbindung, bei der Karl Helfferich engen Kontakt zur deutschen Regierung hielt71. Im Laufe der Verhandlungen bat Gwinner Turrettini um Klarheit über die Frage, ob die Deutsche Bank bei der bulgarischen Anleihe beteiligt werde. Das Recht dazu leitete Gwinner aus dem Plan ab, auch deutsches Kapital aus der Anleihe von 1892 zu konvertieren72. Am Quai d'Orsay entstanden vorübergehend interne Spannungen, weil Paleologue, der politische Direktor am Quai d'Orsay, einer deutschen Beteiligung angeblich im Namen Poincares zugestimmt hatte. Poincare stellte dies richtig und bezeichnete diese Möglichkeit als "inadmissible"73. Helfferich teilte das für die deutschen Interessen enttäuschende Ergebnis dem Auswärtigen Amt mit, hoffte aber, Druck auf die Banque Paribas ausüben zu können74. Anfang Juli 1912 kam es in Frankfurt zu Gesprächen zwischen Helfferich und Turrettini, bei denen sich beide auf eine Beteiligung der Deutschen Bank in Höhe von 40% einigten, die allerdings auf dem deutschen Markt plaziert werden sollte. Helfferich regte im Auswärtigen Amt an, man solle die bulgarische Regierung auf die deutsche Mitwirkung hinweisen, um indirekt Druck auf die französische Regierung auszuüben, dem Geschäft keine Hindernisse mehr in den Weg zu legen und die Papiere an der Börse zuzulassen75. Den Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt, Zimmermann, bat Helfferich in einem persönlichen Schreiben, die Vereinbarung zwischen der Deutschen Bank und der Banque Paribas möge "streng geheim"76 bleiben. Die Banque Paribas setzte diese Abmachungen gegen die Absicht der französischen Regierung durch, die deutsche Beteiligung zu verringern, um den Forderungen der französischen Industrie nach Handelsgeschäften mit Bulgarien nachzukommen. Sie provozierte damit die Kritik Panafieus, der die internationale Tendenz der Paribas kritisierte und auf ihre jüngste Zusammenarbeit mit deutschen Banken in Rußland hinwies. Noetzlin, Präsident des Verwaltungsrats der Banque 71

PA-AA, Bugarien 7, Bd. 25, Schoen an Bethmann Hollweg, 24.5.1912 mit Notiz Rosenbergs. 72 MAE, NS Bulgarie 24, von Gwinner an Turrettini, 13.6.1912, von Turrettini am 7.6. an Paleologue weitergeleitet. 73 Ebda, Notiz aus der Direction des affaires pohtiques et commerciales im MAE, ohne Datum und Verfasser, zwischen 17. und 28.6.1912, mit Glossierung Poincares: "Je n'ai jamais dit cela...". 74 PA-AA, Bulgarien 7, Bd. 25, Botschaft Sofia an Bethmann Hollweg, 26.6.1912 und Geheime Aufzeichnungen Rosenbergs zu Äußerungen Helfferichs vom 4.7.1912. 75 Ebda, Helfferich an Romberg, 9.7.1912. Die Information ergibt sich aus dem beigelegten Schreiben der Deutschen Bank an die Firma Krupp vom 8.7.1912. 76 Ebda, Helfferich an Zimmermann, 8.7.1912.

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Panbas, gab daraufhin die vage Zusicherung, die industriellen Interessen Frankreichs mcht zu vernachlässigen77 Finanzminister Klotz bestätigte die Beteiligung der Deutschen Bank, die allein den deutschen Anteil tragen und von diesem auch die österreichischen Banken bedienen werde Aber auch die Position der franzosischen Regierung war mcht allein von politischen, sondern auch von ökonomischen Überlegungen geprägt Sie konnte sich mit emer deutschen Beteiligung abfinden, weil diese das hohe Verlustrisiko emer Kapitalanlage auf dem Balkan minderte "II est permis de penser qu'au point de vue stnctement financier, la participation de la finance allemande pourrait etre envisagee sans defaveur notre propre marche se trouverait sensiblement allege, ce qui peut etre appreciable d'autre part l'interet important pris par le capital allemand dans l'operation nous donnerait certainement une garantie au point de vue du credit bulgare Mais on a le devoir de se demander si rapposition au bas d'un meme contrat de la signature de la Banque de Paris et de celle de la Deutsche Bank ne presenterait pas de graves inconvenients au point de vue poUtique, je suis, pour ma part, enclin ä le penser " 7 8

Poincare teilte die Ansicht Klotz' sowohl hinsichtlich der Vor- als auch der Nachteile Nur eine deutsche Unterbeteiligung war aus Sicht der franzosischen Regierung ein annehmbarer Kompromiß, wahrend die Banque Panbas drohte, sie werde das ganze Projekt aufgeben, falls sie weiterhin unvorhergesehenen Schwierigkeiten begegne Turrettini erklarte sich bereit, mit der Deutschen Bank erneut über eme Unterbeteihgung zu verhandeln79 Das selbstbewußte Auftreten der Banque Panbas zeigt die Möglichkeiten und Grenzen der franzosischen Hochfinanz im Verhaltms zu ihrer Regierung Zwar besaß der Quai d'Orsay verschiedene Druckmittel zur Behinderung von Anleihegeschaften oder zur Beeinflussung der Hochfinanz, aber die aktive Rolle fiel weiterhin den Instituten zu, die verpflichtet waren, das Geld der pnvaten Anleger - keine Regierungsgelder - nach deren Vorstellungen von Sicherheit und Rentabilität anzulegen Auch der Weg, andere Banken zu beauftragen, die ihren Wünschen wemger Widerstand entgegenbrachten, blieb der franzosischen Regierung verschlossen, weil die Banken in der Regel langjährige Geschäftspartner der jeweiligen Lander waren, die mit Filialen vor Ort unmittelbar Präsenz zeigten Eine Auflösung dieser gewachsenen Strukturen konnte außerdem bedeuten, daß sich entweder eme nationale oder eme freie internationale Konkurrenz ergab, wodurch sich die erzielten Renditen zugunsten der Schuldnerstaaten vemngert hatten Der von der franzosischen Regie77

MAE, NS Bulgane 24, Panafieu an Poincare, 28 6 1912, Noetzlin an Klotz, 29 6 1912, Union des Industries metallurgiques et minieres an Handelsminister David, 4 7 1912 78 Ebda, Klotz an Poincare, 13 7 1912 79 Ebda, Klotz an Poincare, 29 7 1912

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rung angestrebte Kompromiß emer Unterbeteihgung hatte daher zwei Probleme gelost, zum emen die Stärkung des Prestiges der franzosischen Regierung m Bulgarien und zum anderen die Garantie der ökonomischen Absicherung80 Die deutsche Regierung wiederum durfte erwarten, daß die Beteiligung deutschen Kapitals mcht unbekannt blieb und auch für sie politischen Gewinn bedeutete Die Voraussetzungen für eme Bankenkoopeiation unter diesen emgeschrankten Bedingungen waren folglich gegeben Noch Ende September 1912 drängte Poincare auf die förmliche Festlegung der Emissionstermine und machte den Vertrag mcht einmal mehr vom Frieden auf dem Balkan abhangig Gegenüber Finanzminister Klotz und Botschafter Panafieu insistierte Poincare auf seinen Ressortvonechten als President du Conseil und Außenminister und verwarf alle Einwendungen81 Mit dem Balkankneg nahm das bulgarische Anleihevorhaben eme Wendung Zunächst wurde die Anleihe von 1912 bis auf weiteres suspendiert Der Ausbruch des Balkankrieges zerstörte die Hoffnungen der franzosischen Regierung, in Bulgarien als Gläubigerstaat Einfluß zu gewinnen Erst im Jahre 1914 wurde die Frage der bulgarischen Finanzen wieder akut In einem Brief an Zimmermann wies Max Warburg, der beabsichtigte, der deutschen Gruppe beizutreten, darauf hm, daß sich Bulgarien vom franzosischen Markt emanzipieren wolle82 Auch Osterreich drängte darauf, Bulgarien mittels der Anleihe für den Dreibund zu gewinnen und die franzosischen Glaubiger leer ausgehen zu lassen83 Der deutsche Botschafter m Sofia, Michahelles, regte gleichzeitig an, die bulgarische Anleihe an den Börsen von Hamburg und Berlm zuzulassen "Bulgarien steht heute an emem Wendepunkt seiner Geschichte und es hangt von uns ab, welche Richtung eingeschlagen wird "84 Die franzosische Regierung blieb trotz des Angebots einer Gruppe von Pariser Banken über 300 Millionen Francs passiv Der Grund hierfür mag darm gelegen haben, daß man es der deutschen Finanz mcht zutraute, eine Anleihe dieser Größenordnung ohne französische Hilfe abzuschließen85 Doch wie schon 1910 bei der Turkeianleihe schätzte die franzosische Regierung die Lage falsch em Weitere franzosische und englisch-französische Projekte wie etwa das Angebot der Banque Perier über einen Betrag von 500-600 Millionen Francs wurden vom bulgarischen Finanzminister Tontschew abgelehnt Aber mcht nur die franzosischen Banken gehorten zu den Verlierern Die Deutsche Bank äußerte Bedenken, weil sie die Bedurfnisse der Bagdadbahn für bedeutender als das 80

Ebda, Poincare an Klotz, 29 7 1912 Ebda, Poincare an Klotz, 18 9 1912, Klotz an Poincare, 21 9 1912, Panafieu an Poincare, 19 9 1912 82 PA-AA, Bulgarien 7, Bd 28, M Warburg an Zimmermann, 17 2 1914 83 Ebda, Notiz der österreichischen Botschaft, 13 1914 84 Ebda, Michahelles an Bethmann Hollweg, 23 3 1914 85 MAE, NS Bulgarie 25, Panafieu an Doumergue, 8 4 1914 81

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deutsche Engagement in Bulgarien hielt, zumal jenes von ihrem Konkurrenten, der Discontogesellschaft, betrieben wurde Ihrer Ansicht nach sollte em kurzfristiger Vorschuß den bulgarischen Bedarf vorübergehend decken, um spater, im Herbst 1914 oder Frühjahr 1915, über eine internationale Anleihe alle Schulden zusammenzufassen86 Wie wemg populär die bulgarische Anleihe in der deutschen öffentlichen Meinung war, zeigen zwei Presseberichte aus Zeitungen mit unterschiedlicher politischer Ausrichtung Die konservative Deutsche Tageszeitung hielt den bulgarischen Schuldner mcht für kreditwürdig und kritisierte die Hergabe deutscher Gelder für auslandische Volkswirtschaften87 Die liberale Frankfurter Zeitung berichtete am 9 Juni 1914 mit Genugtuung über das vorlaufige Scheitern der Verhandlungen Sie schlug vor, die franzosischen Banken sollten einen Vorschuß leisten, der spater von deutschen und franzosischen Instituten gemeinsam konsolidiert werden konnte88 Am 12 Juli 1914 jedoch brachte die Discontogesellschaft überraschend die Vertragsverhandlungen mit der bulgarischen Regierung zum Abschluß 120 Millionen Francs sollten gegen Schatzbons zur Verfugung gestellt, eine Anleihe von weiteren 500 Millionen in zwei Serien emittiert werden Bahnbauten und die Ausbeutung von Kohlegruben wurden in Aussicht gestellt89 Die Vertrage traten me in Kraft Mit dem Krieg scheiterten alle Plane einer Konsolidierung der biüganschen Staatsschuld, an deren Anfang das gemeinsame Projekt der Banque Panbas und der Deutschen Bank gestanden hatte Ein Gesamturteil zu den deutsch-franzosischen Bankenbeziehungen vor dem Ersten Weltkrieg ist schwierig zu fallen Wahrend die Jahre vor der Agadir-Knse verschiedene Kooperationen hervorbrachten, waren die Jahre 1911 bis 1914 zunächst von der Agadir-Knse, spater von den Spannungen auf dem Balkan bestimmt Ihre traditionell internationalen Bindungen gaben die Banken jedoch me ganz auf Bis zuletzt bestand die Vorstellung fort, das Anleihegeschaft auf dem Balkan international weiterbetreiben zu können Das innenpolitische Verhaltms der Banken zu den jeweiligen Regierungen wurde mit der Nationalisierung der Anleihepolitik und Emissionsmarkte jedoch eme Funktion der Regierungspolitik Denn wahrend die franzosischen Banken sich den Ansprüchen ihrer Regierung auch auf die Gefahr politischer Maßnahmen hin widersetzten, ohne die politische Entscheidung andern zu können, folgte die deutsche Hochfinanz weitgehend den Wünschen der Reichsleitung Der Einfluß der deutschen Banken beschrankte sich auf fachliche Mitwirkung und 86 PA-AA, Bulganen 1, Bd 29, Deutsche Bank (von Gwinner, Helfferich) an AA, 15 5 1914 87 Vgl Deutsche Tageszeitung, 6 8 1912 und 1 4 1914 88 Vgl Frankfurter Zeitung, 9 6 1914 89 PA-AA, Bulgarien 7, Bd 30, Michahelles an AA, 12 7 1914, vgl FRIEDRICH, Wolfgang-Uwe, Bulgarien und die Machte 1913-1915, Stuttgart 1985, S 88-95

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Vermittlung Em abschließendes Entscheidungsrecht kam ihnen gleichfalls nicht zu, obwohl sie Entscheidungen beeinflußten oder vorbereiteten90 Das Verhalten der franzosischen Banken sorgte aber dafür, daß sich der Quai d'Orsay außenpolitisch zu Kompromissen genötigt sah, etwa bei stillschweigend akzeptierten Unterbeteiligungen deutscher Banken, mithin ein mäßigendes Element für die nationalen Ansprüche der Regierungen Eme andere Entwicklung nahmen Finanzdienstleistungen auf dem deutschen und franzosischen Markt Die fehlende Zulassung deutscher Wertpapiere m Paris erschwerte zwar Portfoho-Investitionen französischer Banken, aber dennoch bestand in franzosischen Bankenkreisen em großes Interesse an deutschen Aktien und am deutschen Versicherungs- und Bankenmarkt91 Das bereits vor dem Ersten Weltkrieg gut ausgebaute Netz von Korrespondenzbanken ermöglichte es umgekehrt den deutschen Banken, insbesondere deutsche Kaufleute im Frankreichhandel zu unterstutzen

3.3. Objekte des Imperialismus: China und die Türkei 3.3.1. Das China-Syndikat und die ,fReorganisationsanleiheM von 1913 Das finanzielle Engagement der Machte in China hatte sich im ersten Jahrzehnt des 20 Jahrhunderts erheblich verstärkt, von 1902 bis 1914 nahezu verdoppelt92 Den Rahmen der deutsch-franzosischen Beziehungen in China bildete ein internationales Geflecht von Machten und Finanzinstituten Die interessierten Banken verfolgten bis zum Eintritt Rußlands und Japans in das Konsortium ausschließlich finanzielle und industrielle Interessen und lehnten eine Teilung Chinas m Emflußzonen strikt ab Der Zusammenhalt der Gruppe wurde von mehreren Faktoren bestimmt Durch die politische Unterstützung sicherten sich die Banken die ausschließliche Kontrolle der chinesischen Finanzgeschäfte Den Regierungen der Syndikatsmachte ging es darum, ihren Einfluß informell - ohne militärisches Eingreifen - und indirekt - über das En-

90

91

Vgl LINK, Ost-West-Konflikt, S 30

Paribas, 6/DFOM-221/382, Briefwechsel Sept bis Nov 1911, Chabert, Sous-directeur de la Paribas und Maurice Schlesinger (Pariser Börse) zu den Chancen einer Markteinführung der Phoenix-Aktie 92 Vgl die Angaben bei OSTERHAMMEL, Jürgen, Das moderne China, Frankfurt/Berlin/Munchen 1979, S 20 Danach verdoppelte sich das Engagements der Staaten, die spater dem Sechserkonsortium angehorten, von etwa 800 Millionen auf 1,6 Milliarden US-$

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gagement der Finanzinstitute - zu sichern93 Em Konsortium ließ sich zudem leichter kontrollieren als eme freie Konkurrenz unter Banken In China galt mithin das gleiche ökonomische Prinzip wie auf dem Balkan Die Banken verteilten das Risiko des Kreditausfalls und sicherten sich gegen die Überlastung der einzelnen Finanzmarkte ab Auf diese Art sorgte die Konsortiallosung bei allen Beteiligten für Sicherheit, Kalkulierbarkeit und die Aussicht auf wirtschaftlichen und politischen Erfolg, solange mcht einzelne Staaten oder Unternehmen einen größeren Erfolg außerhalb des Konsortiums zu erzielen glaubten Die Geschichte des China-Konsortiums ist so komplex wie die politischen Ambitionen, die hinter den einzelnen Finanzgruppen standen Es bestand zunächst aus einer englisch-deutsch-franzosischen Bankengruppe unter Fuhrung der Hongkong & Shanghai Bank, der Deutsch-Asiatischen Bank und der Banque de 1'Indo-Chine, die sich am 6 Juli 1909 zusammenschlössen Am 10 November 1910 wurde das Konsortium um eine Gruppe amerikanischer Banken unter Fuhrung der J P Morgan-Bank erweitert Die amenkamsche Regierung hoffte, daß die Zusammenarbeit die Integrität des chinesischen Reiches sichern und die Gleichberechtigung in Handelsgeschäften garantieren konnte94 Dieses neu gebildete Viererkonsortium - das Dreierkonsortium hatte formal weiterhin Bestand - einigte sich im März 1911 auf eme Munzreform für die drei mandschurischen Provinzen95 Die Grunde dafür lagen im desolaten Zustand der chinesischen Wahrung Der Güterverkehr erfolgte weitgehend im Naturaltausch, die chinesische Wahrung, der Tael, besaß einen von der Provinz abhangigen Silbergehalt und wurde teilweise m Klumpen umgeschmolzen Durch umlaufendes Kupfergeld, die regionale Verwendung des mexikanischen Dollars, chinesische Dollarpragungen, die in der Mandschurei durch den Rubel ergänzt wurden, und durch den Notenumlauf der Konsortialbanken ergab sich das chaotische Bild verschiedener, mcht mehr zu kontrollierender Doppelwahrungen Die Reformbedurftigkeit der chinesischen Geldwirtschaft stand daher außer Frage Diese Verhaltmsse machten deutlich, wie schwach die Zentralgewalt der Mandschu-Dynastie mittlerweile geworden war Franz Urbig, Direktor der Discontogesellschaft, führte im Bankarchiv aus, China müsse langsam an Bank- und Wahrungsdisziphn nach dem Muster der Großmachte gewohnt

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Vgl SCHOLLGEN, Imperialismus, S 58-74, SCHMIDT, Gustav, Imperialismus, S 136-138, SCHIEDER, Europa im Zeitalter der Nationalstaaten, S 78-109 94 PA-AA, China 3, Bd 26, Aide-Memoire der britischen Botschaft Berlin vom 13 2 1911, vermutlich aus der Hand des amerikanischen Staatssekretars Knox 95 Ebda, Generalkonsulat Shanghai (Buri) an Bethmann Hollweg, 30 3 1911 Die "Impenal Chinese Government 5% currency reform sinking fund gold loan of 1911" sollte mit einer Laufzeit von 45 Jahren begeben werden

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werden96 Diese Aufgabe beschrankte sich mcht auf reme Finanzgeschäfte Abgesehen von den Industriegeschaften der europaischen Kaufleute in Chma finanzierte das Vierersyndikat auch Industrieprojekte Die Hukuang-Anleihe von 1911 diente dem Bau der Eisenbahnstrecke von Kanton nach Hankeou und der Setchouen-Linie Es wurde garantiert, daß jede Glaubigermacht ein Viertel der daran gebundenen Industrieauftrage erhielt Die bauliche Leitung oblag den vier Machten gememsam auf zugeteilten Streckenabschnitten97 In Frankreich wurde die Emission trotz regierungsinterner Widerstände als internationale Anleihe zugelassen98 Die chinesische Revolution beendete die trügerische Ruhe, in der die Anleihegeschafte vorbereitet wurden Bereits im Frühjahr 1911 kam es zu Aufstanden in wichtigen Hafenstädten, die sich auch gegen Europaer richteten Am 15 Oktober wurde die "Republik der Mitte" proklamiert Der neue Premierminister Yuan-Che-Kai, der im November 1911 m Peking einzog und nach der endgültigen Abdankung der Kaiserfamihe im Februar 1912 zum Präsidenten gewählt wurde, hatte großes Interesse daran, mit den Vertretern des Syndikats wegen neuer Vorschusse in Verbindung zu treten, nachdem sich die Emission der Wahrungsanleihe wegen der Revolution verzögert hatte Unter diesen chaotischen Bedingungen waren die Großmachte gezwungen, ihre Chinapolitik erneut abzustimmen Diese Abstimmung wurde von der politischen Initiative der russischen und japamschen Regierung erschwert, die auf das Jahr 1911 zurückging, als Rußland nach Abschluß der Wahrungsanleihe sem Interesse an emem Eintritt in das Vierersyndikat bekundet hatte99 Die russische Regierung protestierte vor allem gegen den Artikel 16 des Anleihevertrags, der die Finanzgeschäfte auf die Vierergruppe beschrankte und damit die Konkurrenz sowohl unter den Konsortialmachten als auch aus anderen Staaten ausschalten sollte Die franzosische Regierung trat für ihren Verbündeten ein und befürwortete die Streichung dieses Artikels100 Daß Rußland mit semem Beitrittswunsch eigene machtpolitische Ziele verfolgte, dokumentiert die Anweisung Sasonows an Iswolski vom 14 Dezember 1911, in der er das Ziel der russischen Politik mit der Sprengung des Syndikats definierte, eme Politik, die m keiner Weise den Vorstellungen der franzosischen Außen96 Vgl URBIG, Franz, China und seme Wahrung, in Bank-Archiv 21 (1 8 1911), S 323-326 97 MAE, NS Chine 665, Dossier Bahnanleihen Die Anleihe vom 20 Mai 1911 betrug 6 Millionen £ bei einem Zinssatz von 5%, besichert durch Einnahmen der Provinzen Hunan und Hupei, MAE, NS Chine 448, Notiz vom 4 8 14 zu den deutschen Eisenbahninteressen in China, vgl Tägliche Rundschau, 13 6 1911, SCHMIDT, Vera, Die deutsche Eisenbahnpolitik in Shantung, Wiesbaden 1976, bei der jedoch der Bezug zum europaischen Machtesystem fehlt 98 MAE, NS Chine 400, Pichon an Dumont, 7 6 1913 99 GP 11752, Luxburg (Geschäftsträger Peking) an Bethmann Hollweg, 17 4 1911 100 G p 11758j Schoen an Bethmann Hollweg, 17 7 1911

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pohtik entsprach, wie Sasonow vermerkte101 Der Quai d'Orsay stand vor der Situation, der Forderung der russischen Regierung nachzukommen und wirtschaftliche Nachteile m China in Kauf zu nehmen oder sie abzulehnen, und dadurch die Verstimmung des Verbündeten zu riskieren, zumal weder em russisches Glaubigersyndikat geschweige denn russische Forderungen gegenüber China existierten Hinzu kam, daß die deutschen und französischen Finanzinteressen auch nach Ausbruch der Revolution als identisch beurteilt wurden Jules Cambon teilte mit, daß die deutsche Regierung angesichts der Unruhen in China ebenso wie Frankreich gegen eine Teilung in Einflußzonen sei und ein geeintes China mit offenem Handelsverkehr für alle Nationen bevorzuge102 Die deutsche Politik entsprach in diesem Punkt ihrem Vorgehen m Marokko, teilweise auch der in der Türkei vertretenen Politik der offenen Tur, bei der man sich auf die eigene Wirtschaftskraft und die Überlegenheit der deutschen Produkte im Wettbewerb mit den anderen Nationen verließ Mit Sorge beobachteten die franzosischen Gesandten in Chma daher das wachsende Engagement der deutschen Wirtschaft, das als "penetration pacifique" empfunden wurde103 Entspannend wirkte im Frühjahr 1912 die Einigung der vier Machte auf eme Erweiterung des Syndikats um Rußland und Japan Gerade mit Blick auf die unsichere Lage in Chma entwickelten die Konsortialmachte eine Strategie der finanziellen Entente, um sich vor Unwagbarkeiten abzusichern Sie waren deshalb bereit, den russischen Wünschen nachzugeben, um Rußland innerhalb des Syndikats kontrollieren zu können Außenminister de Selves vermerkte die Zustimmung des Deutschen Reiches zu emer russischen Beteiligung mit Optimismus Die „entente generale" der Großmachte besitze "une importance politique particuliere en raison des circonstances actuelles en Chine et de l'eventualite d'une Intervention que Ton retarde jusqu'au jour oü des evenements tragiques et une desorganisation complete pourraient l'imposer "104 Die russische Beteiligung, von deutscher Seite nur mit Blick auf die aktuelle Lage in China befürwortet105, rief den Protest des franzosischen Finanzministers Klotz hervor, der seine Zweifel darüber äußerte, ob Rußland und Japan überhaupt in der Lage sein wurden, ihren finanziellen Verpflichtungen 101

STIEVE Iswolski, Bd 1, Doc 175, Sasonow an Iswolski, 14121 12 1911 MAE, NS Chine 155, J Cambon an Poincare, 21 1 1912 103 Ebda, Wilden (Franzosischer Konsul in Yunnanfou) an Conty (Botschafter in Peking), 9 3 1913, der vor allem über die Aktivität des Hauses Carlowitz, "mi-financiere, mimdustnelle qui puisse etre en meme temps fournisseur et preteur", berichtete Conty beachtete Pichon am 19 8 1913, daß die Ernennung SeckendorfTs zum neuen deutschen Botschafter in Peking für eine energische Chinapolitik des Deutschen Reiches stehe Auf den bedeutenden Markten Chantoung, Setchouen, Hounan, Shanghai, Kanton, Hankeou und Tientsin wachse die deutsche Präsenz 104 DDF 3,1-448, De Selves an Louis (Botschafter St Petersburg), 9 1 1912 105 GP 11869, Kiderlen an Pourtales, 1 3 1912 102

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nachzukommen Die Politisierung der Chinaanleihen durch Rußland stieß also auch hier auf Kritik Diese akzentuierte sich, weil Klotz die russische Regierung verdachtigte, mit Frankreich ein ähnliches Spiel zu treiben wie 1903 m der Frage einer franzosischen Beteiligung an der Bagdadbahn Damals habe Rußland Frankreich von emem verstärkten Engagement abgehalten, spater jedoch, im Potsdamer Abkommen von 1910/11, der deutschen Regierung den Weiterbau erleichtert Die franzosische Regierung befand sich m emem Zielkonflikt Einerseits hegte sie Mißtrauen gegen die Politik Rußlands, wollte aber das Bundms mcht belasten Sie vertraute andererseits in Finanzfragen auf die gleichartigen Interessen des Deutschen Reiches, in dem sie jedoch einen Rivalen um den politischen und wirtschaftlichen Einfluß in Chma sehen mußte106 In der Zwischenzeit nahm der äußere Druck auf die Vierergruppe zu Mehrere Finanzgruppen nutzten die neue Lage und den Finanzbedarf Chinas und boten der chinesischen Regierung Kredite an Das Bankhaus Cottu - für ein belgisch-enghsch-franzosisches Konsortium - konnte nur auf englischen und amenkamschen Druck hm von einer Anleihe abgehalten werde107 Versuche, das Syndikat zu sprengen, unternahmen außerdem die Banque Sino-Belge und der Österreicher Arnold Karberg im Namen der Firma Skoda in Berlm108 Die Politik Pomcares lief daher darauf hinaus, den Zusammenhalt der Vierergruppe zu sichern und die chinesischen Angelegenheiten weiterhin im Rahmen der Großmachte zu behandeln Um den Zusammenhalt der Machte zu sichern und gleichzeitig der chinesischen Regierung Finanzmittel zur Verfugung zu stellen, stimmte Pomcare Anfang 1912 Vorschüssen des Vierersyndikats zu, mit der Option auf emen spateren Beitntt Japans und Rußlands109 Bis zum Sommer 1912 stellte das Syndikat über 9 Millionen Tael zur Verfügung110 Die russischen Proteste gegen die Unterstützung Chinas vor dem eigenen Beitritt stießen m dieser Phase auf die entschiedene Ablehnung Poincares, der insbesondere Iswolski verdachtigte, Frankreich aus dem Vierersyndikat herauslosen zu wollen111 Am 14/15 Mai 1912 trafen die Bankenvertreter in London zusammen Die Yokohama Specie Bank und die Banque Russo-Asiatique wurden im Prinzip als Kandidaten für einen Beitritt zum Syndikat behandelt, eme Einigung hm106

MAE, NS Chine 356, Note aus dem Fmanzministerium vom 19 1 1912 PA-AA, China 3, Bd 28, Urbig an Zimmermann, 31 10 1911 108 MAE, NS Chine 358-359, Margerie an Poincare, 7 5 1912 (Ruckzug der Banque Sino-Belge), Dumaine (Botschafter in Wien) an MAE, 30 4 1912 zur Karberg-Anleihe 109 MAE, NS Chine 356, Note Poincares, 26 2 1912 110 MF, B 31 294, Private Statistik von November 1912, vermutlich aus englischen Bankenkreisen 111 MAE, NS Chine 357, Poincare an Louis, 22 3 1912 und Note aus dem MAE zur französischen Chinapolitik (22 S ) vom 313 1912, die Vorwurfe an Iswolski enthalt, die von Poincare handschrifthch verschärft wurden 107

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sichtlich besonderer politischer Rechte und der russischen Forderung nach internationaler Zusammensetzung der russischen Gruppe konnte jedoch mcht erzielt werden Die Gespräche über diesen Punkt wurden vertagt, zumal die franzosischen Vertreter Simon und Ullmann vehement gegen die russische Position votierten Urbig gab den Eindruck weiter, "daß im gegenwartigen Momente zwischen Rußland und Frankreich mcht die große Harmonie herrscht "112 Erstmals forderten die deutschen Vertreter Urbig und Rehders auf Betreiben der deutschen Regierung den Beitritt österreichischer Banken, em Vorschlag, den die anderen Machte jedoch ablehnten und der für den weiteren Ablauf der Fmanzverhandlungen bedeutungslos blieb113 Der Beitntt der Russen und Japaner erfolgte endgültig auf der Bankenkonferenz vom 18 20 Jum 1912 Im "Sextuple Agreement" fand die russische Forderung nach Sonderrechten nur in emem allgemeinen Rucktrittsrecht Niederschlag Verhindern konnte Rußland eine mit ihren politischen Zielen unvereinbare Anleihe folglich mcht Der jeweilige Anteil an der Reorganisationsanleihe, die auf einen Gesamtbetrag von 60 Millionen Pfund veranschlagt wurde, mußte außerdem auf den nationalen Markten emittiert werden114 Die mangelnde Ruckendeckung der franzosischen Bankiers für politische Interessen Rußlands wurde zum wiederholten Male offenbar Verstraete, belgischer Vertreter der russischen Gruppe, warf Ullmann vor, durch die mangelnde Unterstützung der russischen Position die Interessen Frankreichs mcht genügend zu vertreten115 Die Probe für die Solidität des Syndikats ließ mcht lange auf sich warten Die Londoner Birch-Cnsp-Bank schloß am 13 August 1912 mit dem chinesischen Botschafter in London, Lew Yuk Lin, einen Anleihevertrag über 10 Millionen Pfund ab Die chinesische Regierung brach gleichzeitig die Verhandlungen über die erste Tranche der Reorganisationsanleihe über 25 Millionen Pfund ab und nahm sie erst auf Druck der Machte wieder auf, die zwi-

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PA-AA, China 3, Bd 31, Memorandum Urbigs vom 23 5 1912 MAE, NS Chine 359, J Cambon an Pomcare, 11 5 1912 und Protokoll der Interbankenkonferenz vom 14 /15 5 1912 Vgl BARTH, Deutsche Hochfinanz, S 390 114 MAE, NS Chine 361, Memorandum Poincares vom 24 6 1912 mit positivem Resume, Hoffnung auf Stabilität in China und Zusammenarbeit mit Rußland, PA-AA, China 3, Bd 32, Aktennotiz Urbigs vom 28 6 1912 zur Konferenz vom 18 -20 6 1912 und Vertrag vom 18 6 Die deutsche Bankengruppe setzte sich u a aus der Discontogesellschaft, der Deutschen Bank, Bleichroder, der BHG, Dresdner Bank, Oppenheim und der Bayerischen Hypothekenbank zusammen, die französische Gruppe bestand aus der Banque de rindo-Chine, dem Credit Lyonnais, der Banque Paribas und dem Credit Mobiher 115 Die russische Gruppe hatte ihren Status als internationales Syndikat durchgesetzt Ihr gehorten hauptsachlich belgische, franzosische und englische Banken an Sogar das deutsche Bankhaus Schroeder hielt über die Londoner Schroeder-Familie eine Unterbeteiligung, vgl BARTH, Deutsche Hochfinanz, S 392 f Verstraete soll sich über Ullmann so geäußert haben "et au surplus son origine allemande et juive l'a mal prepare ä comprendre la poUtique et les interets generaux de la France " (S 393) 113

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schenzeithch Birch-Cnsp zur Aufgabe gezwungen hatten116 Im Herbst 1912 geriet der Bestand der französischen Gruppe in Gefahr Urbig kontaktierte seine Kollegen Ulimann und Simon Er erfuhr, daß die Banque Panbas und die Banque de l'Union Pansienne zwar die geplante Beteiligung an der Bahnanleihe einer belgisch-franzosischen Gruppe aufgegeben hatten, die französische Gruppe jedoch an Zusammenhalt verlor Die franzosische Regierung, so die Angaben der franzosischen Bankiers, wolle kein Geschäft abschließen, das den russischen Interessen widerspreche Die franzosischen Banken wiederum betonten, ihnen sei sehr daran gelegen, das Bankensyndikat m kleinerer Form zu stabilisieren, mdem man es auf die drei ursprunglichen Nationen Deutschland, England und Frankreich - zurückführte117 Eine Opposition der deutsch-englischen zur franzosisch-russischen Gruppe ist daraus mcht zu entnehmen, trotz verstärkter Kontakte zwischen den deutschen und englischen Instituten Vielmehr engten die Ansprüche der russischen Regierung den Handlungsspielraum der franzosischen ein, die aus dem beschriebenen Dilemma heraus weder m der Lage war, sich den russischen Wünschen zu widersetzen, noch den franzosischen Banken die Ermächtigung zu geben, unter ökonomischen Gesichtspunkten mit den anderen Instituten zu verhandeln118 Das Verhaltms der Machte zu China blieb gespannt Die 11 Signatarstaaten des Protokolls des Boxeraufstandes protestierten am 28 Oktober 1912 gegen Plane der neuen chinesischen Regierung, die 1901 für die Entschädigung verpfändete Salzsteuer anderweitig zu verwenden119 Erst dieser Protest brachte die chinesische Regierung dazu, trotz des innenpolitischen Drucks m neue Verhandlungen mit dem Syndikat einzutreten Auf der Konferenz vom 13/14 Dezember 1912 legte die Sechsergruppe die Bedingungen für die Reorganisationsanleihe fest und forderte zur Besicherung die Verpfandung der Salzsteuer, deren Erhebung von auslandischen Finanzberatern kontrolliert werden sollte120 Die Vertreter der Machte in Chma wurden am 10 /ll Januar 1913 ermächtigt, über einen Betrag von 25 Millionen Pfund mit einem Zinssatz von 5,5% zu verhandeln Die Auflosungserscheinungen des Syndikats zeigten sich in der Entscheidung, Industrieanleihen vom Sextuple-Agreement auszunehmen, sie also im Prinzip zur Konkurrenz freizugeben Auch die Internationalisierung der Anleihe schien gefährdet zu sein Urbig stellte fest, daß der früher übliche Weg der Konvertibilität der Anleihen sich zunehmend verschloß Die Einigung mit Japanern und Russen im Jahre 1912 basierte daher auf der Zusicherung, daß jede Bank "will apply for and use lts best endeavors to ob116

MAE, NS Chine 363, Note der britischen Botschaft in Paris, 28 9 1912, vgl BARTH, Deutsche Hochfinanz, S 394-397 117 PA-AA,China3,Bd 35, Aktennotiz Urbigs vom 13 11 1912 118 Vgl BARTH, Deutsche Hochfinanz, S 396 f 119 Vgl Schultheß* Geschichtskalender 1912, S 521 ff 120 MAE, NS Chine 364, Bankenkonferenz vom 13 /14 12 1912

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tarn a quotation on lts market for the total amount lssued by lt "121 Die Banken hielten sich allerdings eine Hintertür offen, mdem sie die Intemationahsierung zu einem spateren Zeitpunkt, neun Monate nach der Emission, vereinbarten Das deutsche Interesse wurde davon allerdings materiell mcht berührt, weil alle bis dahin dem Deutschen Reich zugeteilten Chmaanleihen an deutschen Börsen plaziert worden waren Allein die Erwartung, daß die Amerikaner ihre Quote im Falle der Nationalisierung senken wurden, ließ Urbig allerdings das deutsche Prestige gefährdet sehen, weil dadurch Englander und Franzosen ihre Quote gegenüber der deutschen erhohen mußten Die franzosische Regierung und im besonderen Poincare hielten nach außen hm an der Fiktion der Einheit der Machte fest, die im Sinne der "interets generaux de la civihsation"122 erhalten werden sollte Wie wemg diese Idee den Realitäten entsprach, offenbarte der Streit um die Posten m der chinesischen Finanzverwaltung und der Ruckzug der amerikanischen Regierung aus dem Syndikat Der Streit um die Verwaltungsposten ging von der deutschen Regierung aus, die den Posten des "Conseiller de la Gabelle" forderte, wahrend die anderen Machte die Direktion der Schuldenverwaltung und den Posten des stellvertretenden Generalinspekteurs der Salzverwaltung anboten Obwohl sich der deutsche Botschafter in Peking, von Haxthausen, nachdrücklich für den ursprunglichen Plan emsetzte, mußte die deutsche Regierung schließlich nachgeben123 Dieser Streitpunkt sorgte zwar nicht für größere politische Verstimmungen, aber die Regierungen der europaischen Staaten begannen, ihr außenpolitisches Prestige und ihren handelspolitischen Erfolg auch in China starker als bisher einzufordern124 Der Ausstieg der amenkamschen Regierung kam für die Syndikatsmachte überraschend Präsident Wilson erklarte im März 1913 den Ausstieg aus Knox' "Dollardiplomatie" und enthob die amerikanischen Banken der Verpflichtung, an der Reorganisationsanleihe zu partizipieren125 Der schließlich ohne Beteiligung der Amerikaner und ohne Quote der Japaner zustandegekommene Anleihevertrag vom 26 April 1913 wurde nicht internationalisiert, lediglich die Kuponeinlosung sollte nach zwei Jahren international ermöglicht werden Die franzosische und die britische Gruppe übernahmen je 7,417 Mil-

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PA-AA, China 3, Bd 36, Memorandum Urbigs vom 27 1 1913 MAE, NS Chine 365, Poincare an Delahaye (Deputierter der NV), 9 1 1913 123 PA-AA, China 3, Bd 37, Haxthausen an AA, 19 2 1913 Angebot der Machte an das Deutsche Reich, Haxthausen an Bethmann Hollweg, 6 3 1913 124 Vgl SCHIEDER, Theodor (Hg ), Europa im Zeitalter der Nationalstaaten und Europaische Weltpohtik bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1968, S 78-129, SCHMIDT, Gustav, Imperialismus, S 114-120 125 MAE, NS Chine 366, Jusserand (Franzosischer Botschafter in Washington) an MAE, 19 3 1913 122

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honen Pfund, die deutsche Gruppe 6 Millionen, Rußland 4,166 Millionen126 An der Berlmer Börse wurde die Anleihe stark überzeichnet, was die französische Botschaft allerdings auf die Nachfrage der Banken zumckfuhrte, die eme Intemationahsierung und damit Kursgewinne durch Arbitragegeschafte erwartet hatten127 Kurz nach Abschluß des Vertrags sah es für eine kurze Zeit so aus, als konnte die alte Dreiergruppe wiederbelebt werden Nachdem die deutsche und die englische Regierung ihre Uberemstimmung festgestellt hatten, die chmesische Regierung auf eme Verpflichtungserklarung festzulegen, "binding themselves and their successors"128, legte Urbig den Entwurf einer Presseerklärung vor, die hervorhob, daß die Interessen von England und Frankreich für Stabilität m China "mit den unsengen durchaus kongruent"129 seien Montgelas, Vortragender Rat im Auswärtigen Amt, verstärkte diese Aussage, indem er "kongruent" für die Veröffentlichung m der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung durch "identisch" ersetzte130 Am 7 Juli 1913 trafen die deutschen, franzosischen und englischen Bankenvertreter - Addis, Urbig, Rehders, Simon und Ulimann - m Brüssel zusammen Diese Zusammenkunft war der letzte Versuch, die Dreiergruppe zusammenzuhalten und die freie Konkurrenz für Industrieanleihen m China zumindest einzuschränken Aus diesem Grund empfahlen sie ihren Regierungen, "de decourager les negociations d'emprunts ou avances par leurs nationaux respectifs soit au gouvernement central, soit au gouvemements provinciaux"131 Die Dreiergruppe v o n 1909 wurde zwar mit einer auf drei Monate verkürzten Kündigungsfrist verlängert, jedoch wurden im September 1913 alle bestehenden Verpflichtungen aus Dreier-, Vierer- und Sechsersyndikat aufgehoben Das Sechsersyndikat scheiterte, weil die englische Regierung die Bevorzugung der beteiligten Banken für Anleihen offiziell aufgab und allen interessierten englischen Banken ihre Unterstützung bei Kreditgeschäften m China zusagte Allem das Reorganisationssyndikat und die Zusammenarbeit bei der Hukuang-Eisenbahnanleihe blieben bestehen132 Mit dem Niedergang der internationalen Zusammenarbeit stellt sich die Frage nach den Ruckwirkungen des informellen Imperialismus in Chma, d h 126

Vertrag in MAE, NS Chine 367 Zur besseren Vergleichbarkeit der Größenordnungen 25 Millionen Pfund entsprachen 511 Millionen Mark und 631 Millionen Francs Der Emissionskurs an den europaischen Börsen sollte 89 (St Petersburg und Brüssel), 90 (Berlin) und 91 (Paris) betragen, abhangig vom Zinsniveau in den Landern 127 MAE, NS Chine 368, de Manneville an MAE, 29 6 1913 128 PA-AA, China 3, Bd 39, Aide-Memoire vom 2/3 5 1913 129 Ebda, Urbig an Zimmermann, 165 1913, S 2 des Entwurfs l30 NAZ, 18 5 1913 131 MAE, NS Chine 369, Interbankenkonferenz vom 7 7 1913 132 Ebda, Proces-Verbal der Sechsergruppe vom 26 9 1913, Frankfurter Zeitung, 1 10 1913

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der Kooperation deutscher und franzosischer Fmanzinstitute und der Absprachen zwischen den Regierungen, auf die europaischen Machtebeziehungen Die Ruckwirkungen waren gering, weil bei den chinesischen Geschäften das Prestige der europaischen Großmachte in geringerem Maße als bei den Bahnund Industrieprojekten im Osmamschen Reich auf dem Spiel stand Weder die deutsche noch die franzosische Regierung wiesen dem internationalen Engagement m China eine Funktion als Spannungsabieiter für Europa zu133 Eine Politik der "'peripheren' Strategie" Deutschlands gegenüber England oder Frankreich hat es in China mcht gegeben134 Umgekehrt jedoch trugen die Spannungen zwischen den europaischen Staaten dazu bei, die Verhandlungen zu erschweren und einer Nationalisierung der Anleihepolitik Vorschub zu leisten Dies lag hauptsächlich an der russischen Regierung, die den Charakter des Chinakonsortiums politisierte, weil sie als asiatische Macht im Unterschied zu den Konsortialmachten geopohtische Interessen an den Grenzen Chinas verfolgte Die finanzpolitischen Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich schlugen sich m der Frage der Borsenzulassung meder, aber auch in der Verfolgung wirtschaftlicher Interessen war eme Nationalisierung mcht zu verkennen, die schließlich dazu führte, daß mit Ausnahme der Reorganisationsanleihe und verschiedener Eisenbahnprojekte alle Versuche einer Kartellierung des chinesischen Marktes aufgegeben wurden Die traditionelle Kooperation der Banken, die Anleihen mcht unter nationalen, sondern unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachteten und in einer Risikoverteilung den besten Schutz gegen den drohenden Verlust der Kredite sahen, wurde dadurch erheblich belastet135 Dies galt besonders für die Position der Banque de l'Indo-Chine, die gegen ihren Willen Rucksicht auf die politischen Wunsche Rußlands nehmen mußte, obwohl auch in der franzosischen Regierung verschiedene Auffassungen über den Nutzen der Erweiterung des Konsortiums existierten So war der Zerfall des Chinakonsortiums auch daraus zu erklaren, daß die franzosische Regierung ihr Dilemma zwischen Erfüllung der Bundnispfhcht gegenüber Rußland und Sicherung eigener Kapitalinteressen gemeinsam mit dem Deutschen Reich mcht zu losen vermochte

133 Vgl STINGL, Werner, Der Ferne Osten in der deutschen Politik vor dem Ersten Weltkrieg (1902-1914), Frankfurt a M 1978, S 774-785 134 Vgl SCHOLLGEN, Imperialismus, S 71, vgl unten, Kap 3 3 2 2 135 Vgl BARTH, Deutsche Hochfinanz, S 407-409

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3.3.2. Deutsch-französische Finanzinteressen im Osmanischen Reich 3.3.2.1. Von der Dette Publique Ottomane zur Finanzkonferenz von Paris Die Konkurrenz des Deutschen Reiches zu Frankreich m den türkischen Finanzfragen trat wahrend der Verhandlungen um die Anleihe von 1910 deutlich zutage, als Djavid Bey, der türkische Finanzminister, sich personlich zu Verhandlungen nach Europa begab Ein bereits ausgehandelter Vertrag über 125 Millionen Francs scheiterte jedoch am Einspruch der franzosischen Regierung, die die Cotierung an der Pariser Börse verweigerte136 Die möglichen Ruckwirkungen dieser Verhandlungen auf die deutsche Politik im Vorderen Orient waren erheblich Gelang es der Türkei mcht, mit neuem Geld die akuten Finanzbedurfnisse zu decken, war auch die Bagdadbahn bedroht Außerdem verfolgte die Reichsleitung das Ziel, die Türkei dem Einfluß der Triple Entente zu entziehen Wilhelm II befahl, den Türken müsse "unbedingt" geholfen werden, "damit sie mcht ad aeternum unter Gallo-Bntische Druckherrschaft per Beutel fallen"137, wie er einen Artikel der Frankfurter Zeitung vom 26 September 1910 glossierte Nach dramatischen Verhandlungen wurden die türkisch-französischen Verhandlungen schließlich im Oktober 1910 abgebrochen, weil die franzosische Regierung zu harte Bedingungen stellte und unter anderem einen franzosischen Beamten als Revisor im türkischen Finanzministerium forderte Lancken berichtete, Finanzminister Cochery habe die Bankenvertreter auf ihren Patriotismus verpflichtet und "erbitterte Feindschaft der Regierung"138 für den Fall angedroht, daß Kredite nach Deutschland gegeben wurden, die für Turkeikredite verwendet werden konnten Mit dieser Entscheidung wurde die deutsche Reaktion endgültig eine Frage des Prestiges Eine passive Haltung der deutschen Politik hatte die franzosische Auffassung bekräftigt, die deutschen Banken seien außerstande, den türkischen Finanzbedarf zu befriedigen, und auch das Prestige des Reiches im Vorderen Orient erschien gefährdet "Vor der ganzen türkischen Welt wird dann die finanzielle Praponderanz Frankreichs und zugleich unsere eigene finanzielle Ohnmacht konstatiert sem "139 Mit diesem Appell drängte Freiherr von Marschall, deutscher Botschafter in Konstantinopel, die Reichsleitung zum Handeln Am 9 November 1910 wurde, zur großen Überraschung und Enttäuschung der franzosischen Regierung, die deutsche Turkeianleihe über 11 Millionen türkische Pfund abgeschlossen140 136

Vgl THOBIE, Finance et Politique GP 10049, Bethmann Hollweg an Wilhelm II, 30 9 1910 138 GP 10055, Lancken an Bethmann Hollweg, 25 10 1910 139 GP 10058, Marschall an AA, 29 10 1910 140 GP 10066, Marschall an AA, 9 11 1910, GP 10068, Schoen an Bethmann Hollweg, 18 11 1910 137

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Nichtsdestowemger waren deutsche und franzosische Interessen m der Türkei auf vielfaltige Weise miteinander verknüpft Zwei Institutionen garantierten die internationale Kontrolle der türkischen Staatsfinanzen die Tabaksregie und die Dette Publique Ottomane (DPO) Darüber hinaus vertraten das Deutsche Reich und Frankreich, über die DPO hinaus, emen Großteil der türkischen Schulden Die Regie Cointeressee des Tabacs de l'Empire Ottoman war eine Gründung aus dem Jahr 1884, die von der Wiener Credit-Anstalt, dem Bankhaus Bleichroder und der BO verwaltet wurde Die Gewinne aus den Tabakgeschaften flössen an die DPO, die türkische Regierung und an die Tabaksregie selbst Die Gewinnverteilung war so geregelt, daß die Türkei bei höheren Gewinnen einen uberproportionalen Anteil erhielt141 Eme Note des franzosischen Finanzmimstenums aus dem Jahre 1911 stellte fest, daß sich die Aktien der Tabaksregie zu 55% in franzosischer Hand befanden, der Rest hauptsächlich in Deutschland und Osterreich142 Die Tabaksregie blieb bis zum Ersten Weltkrieg ein international besetztes Gremium und wurde 1914 gegen die Opposition der türkischen Regierung, die vorschlug, die Tabaksregie in die DPO zu integrieren, um 15 Jahre verlängert143 Der Gewinn sollte von 1914 an zum größten Teil an die Aktionare gehen Dieses türkische Handelsmonopol diente also vorrangig deutschen und franzosischen Interessen und blieb formal em privates Unternehmen, das mcht an politische Weisungen gebunden war Kiderlen-Wachter druckte es Jules Cambon gegenüber so aus, daß in der Tabaksregie deutsche und franzosische Interessen "connexes"144 seien Für die Deutsche Bank war es wegen der Balkanwirren von entscheidender Bedeutung, die Neuorgamsation der Tabaksregie so zu gestalten, daß eine Gefahrdung der Pfander der Bagdadbahn ausgeschlossen wurde Diese Angst der Deutschen Bank und der deutschen Regierung um die Bagdadbahn prägte die Verhandlungen um die Festlegung und zukunftige Behandlung der türkischen Staatsschuld Die fehlende Bindung an politische Weisungen zeigte sich besonders, als Deutsche Bank und BO Ende Januar 1913 nach Rucksprache mit ihren Regierungen vereinbarten, dem türkischen Staat im Namen der Tabaksregie einen Vorschuß über 1,5 Millionen türkischen Pfund zu geben, der spater durch die Emission von Schatzbons zurückgezahlt werden sollte Der türkischen Regierung stellte die Deutsche Bank die Bedingung, zuvor die Vertrage für die 141

Deuba, Or 1333, Cahier des Charges von 1884 MAE, NS Turquie 368, Note desMFvom4 2 1911 143 Deuba, Or 1340, Rapport du Conseil d'Administration 1911/12 Im Conseil wurden zwei Gruppen unterschieden, zum einen die "membres residant ä retranger" (de Neuflize, Benedikt, Blum, Mallet, von Schwabach) und die "membres residant ä Constantinople" (Sallandrouze de Lamornaix, Eugenidi, de Janko, Nias, Pritsch, Rambert, de Vendeuvre) Aus dieser Aufstellung geht die französische Dominanz hervor 144 MAE, NS Turquie 368, J Cambon an Pichon, 2 2 1911 142

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Metro von Konstantinopel und die Erneuerung der Tabaksregie zu unterzeichnen145 Als private Gesellschaft ging die Tabaksregie sogar so weit, der Türkei Vorschusse zu gewahren, obwohl diese sich bereits im Krieg mit dem Balkanbund befand146 Der Baron de Neuflize stellte Paul Schwabach im Februar 1913 vor die Frage, ob die Tabaksregie es sich erlauben durfte, gegen den Beschluß der Großmachte, den kriegführenden Parteien kerne Fmanzhilfe mehr zu gewahren, an die Türkei emen weiteren Vorschuß zu leisten " il a ete decide, ceci d'accord avec le Gouvernement allemand et anglais, d'observer une neutralite absolue vis-a-vis des puissances belligerantes et d'interdire, par consequent, toute Operation financiere au profit de l'une d'elles - Cela nous paralyse bras et jambes pour donner de quoi subsister ä nos pauvres Turcs La Regie, en tant qu'etablissement prive, pourra-t-elle intervenir, soit comme paravent, soit pour son propre compte, si eile obtient la Prolongation de son monopole*?"147

In den Monaten Juli/August 1913 betrug die Hohe der Vorschusse der Tabaksregie 1 Million türkische Pfund, weitere 500 000 wurden der Türkei m Aussicht gestellt, wie Pichon der russischen Regierung mit dem Hinweis auf die Unabhängigkeit der Tabaksregie beinahe entschuldigend übermittelte148 Neuflize zerstreute die Sorge Helffenchs, eine Verlängerung der Tabaksregie könne die Pfander der Bagdadbahn gefährden, so daß die Deutsche Bank ihrem Büro in Konstantmopel im März 1913 ihr Einverständnis mit dem Vorschlag der BO erklaren konnte149 Die bedeutendere Einrichtung mit internationalem Charakter stellte die DPO dar Sie war durch das "Decret de Moubarrem" im Jahre 1881 gegründet worden, weil die türkische Verschuldung unkontrollierbare Ausmaße angenommen hatte Eme vom Berlmer Kongreß vorgesehene Kommission war me zusammengetreten, dagegen hatte die Türkei ihre Glaubiger zusammengerufen, um über eme Reorgamsation und langfristig gesicherte Verwaltung ihrer Finanzen zu beraten Das daraus entstandene Decret de Mouharrem150 umfaßte die Liquidation der bestehenden Anleihen, die Bestimmung des Zinssatzes und der Tilgung der Schulden, die Festlegung der Pfander und die Organisation der DPO Das Osmamsche Reich trat die Einnahmen aus dem Salz145 Deuba, Or 1333, Helfferich an Schwabach, 22 1 1913 Ein gemeinsames Telegramm von Deutscher Bank und BO wurde, unter Mitarbeit des Barons de Neuflize, mit diesem Vorschlag an die BO-Konstantinopel geschickt 146 AN, 207 AQ 264, Dossier zur Commission financiere 1913 Aus einer Etüde preliminaire der DPO geht hervor, daß die Tabaksregie noch am 25 10 1912 einen Vorschuß von 123 000 Ltq zu 6% geleistet hatte 147 Deuba, Or 1333, Neuflize an Schwabach, 10 2 1913 148 DDF 3, VHI-13, Pichon an Delcasse (St Petersburg), 12 8 1913, dazu auch DDF 3, VIII-1, Note aus dem MAE über Vorschusse der Tabaksregie 149 Deuba, Or 1333, Deutsche Bank an Orientburo, 12 3 1913 150 Abgedruckt bei GWINNER, Lebenserinnerungen, S 158-163

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und Tabakhandel, die Briefmarken-, Fischerei- und Spirituosensteuer, den Zehnten auf Seide und Überschüsse aus den Zolleinnahmen, weiteren Tnbutzahlungen (der Balkanlander) und sonstigen Einkünften an die Glaubiger ab 1903 erfolgte die Umfizierung der türkischen Staatsschuld zur "Dette unifiee", an der die franzosischen Glaubiger bis zum Krieg den größten Anteil hielten151 Die Administration der DPO setzte sich aus Vertretern Frankreichs, Englands, des Deutschen Reiches, Österreich-Ungarns, Italiens und der Türkei zusammen Jede vertretene Nation hatte einen Sitz inne, nur Frankreich besaß zwei, je einen für die franzosische Regierung und die BO, den lange Zeit wichtigsten Glaubiger Der Vorsitz wechselte zwischen England und Frankreich, die Stimme des Präsidenten gab bei Stimmengleichheit den Ausschlag De la Bouliniere, Präsident der DPO, bescheinigte der Organisation großen Erfolg bei der Bewältigung der türkischen Schuldenkrise, insbesondere bei der Konsolidierung und Steigerung der an die Dette abgetretenen Einnahmen152 Die DPO verwaltete also einen bedeutenden Teil der türkischen Staatsfinanzen, mcht aber alle Schulden, was eme Gesamtsicht der Finanzlage und des Anteils der Großmachte vor dem Ersten Weltkrieg mehr als schwierig gestaltet Als grober Meßwert verschiedener Statistiken laßt sich angeben, daß franzosische Glaubiger kurz vor dem Ersten Weltkrieg etwa die Hälfte der türkischen Schulden hielten, deutsche Glaubiger etwa 20%, wobei sich unter diesen Glaubigem sowohl Privatleute als auch Banken befanden153 Die privaten Glaubiger hatten sich zudem in nationalen Interessengemein151

Nach emer deutschen Aufstellung in PA-AA, Türkei 110 Nr 2, Bd 7 vom 14 9 1913 hielten französische Glaubiger ca 45%, englische 11% und deutsche 12% an der Dette Unifiee, von der zu diesem Zeitpunkt noch knapp 38 Millionen Ltq in Umlauf waren (zum Vergleich der Umlauf von Bagdad I-II betrug 1913 noch etwa 7,2 Millionen Ltq) 152 AN, 207 AQ 263, Dossier 1, Notice sur rimportance, les conditions juridiques, economiques et financieres du Capital francais en Turquie et sur le röle de la Dette Publique Ottomane et l'efficacite de sa garantie, 5 11 1911 Die Revenus concedes der DPO entwikkelten sich nach der Darstellung de la Boulinieres wie folgt (in Millionen Ltq) 1898/99 2 56

1900/01 2 53

1902/03 3,04

1904/05 3,0

1906/07 3,18

1907/08 3,87

1908/09 4,14

1909/10 4,49

1910/11 4,73

153 Vgl die verschiedenen Angaben der Zeitgenossen 1 De la Bouliniere (AN, 207 AQ 263) gab den franzosischen Anteil 1911 mit 50% und 2,5 Mrd Francs an, wodurch sich eine Gesamtverschuldung der Türkei von 5 Mrd Francs errechnet 2 Wangenheim (PAAA, Türkei 110 Nr 2, Bd 6, an Bethmann Hollweg, 20 10 1913) gab den deutschen Wert mit 1 Mrd Francs an, unter Zugrundelegung des Wertes aus 1 ein Anteil von 20% 3 HELFFERICH (Die türkische Staatsschuld und die Balkanstaaten, in Bank-Archiv, 1 3 1913, S 168) gab ebenfalls 20% an 4 Bompard (MAE, NS Turquie 381, an Doumergue, 4 4 1914) kritisierte die angeblich geschonte deutsche Statistik, wies gleichwohl den deutschen Gläubigern einen Anteil von 32,6% zu, den franzosischen 57,3%, den englischen nur knapp 5%

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Schäften zusammengeschlossen, um ihre Forderungen zu schützen Dem deutschen Syndikat stand das Bankhaus Bleichroder vor, dem franzosischen die BO, vertreten durch den Baron d'Hottmguer Wahrend der Balkankriege zeigten sich diese Syndikate weitgehend solidarisch in der Ablehnung einer türkischen Kriegsentschädigung154 Die Sohdantat der Mitglieder der DPO, die sich auf das gememsame Interesse am Erhalt der Türkei und ihrer Finanzen gründete und nur die Staaten einschloß, die tatsächlich Finanzinteressen zu vertreten hatten, wurde ab 1912 auf eine harte Probe gestellt Der russische Botschafter m Konstantmopel informierte Bompard am 4 Oktober 1912 über die Absicht semer Regierung, in der DPO repräsentiert zu sem155 Bompard verstand sich als Wahrer der franzosischen Interessen m der Türkei und wurde nicht müde, vor der deutschen Expansion in Kleinasien zu warnen Dennoch beurteilte Bompard den russischen Vorstoß mit großer Skepsis, obwohl Rußland als engster Partner Frankreichs durchaus dazu beitragen konnte, die franzosischen Interessen m der Türkei starker zur Geltung zu bringen, wie es die deutsche Regierung befürchtete Bompard stellte die gememsamen Finanzinteressen über die politischen Verpflichtungen und betonte den finanzpolitischen Charakter der DPO, der sich mit dem Beitritt Rußlands in einen politischen andern wurde Er plädierte für die Beibehaltung des Status quo, schon um die englische und franzosische Vorrangstellung mcht in Frage zu stellen Im April 1913 griff Bompard das Thema wieder auf und betonte, die russischen Interessen seien den franzosischen entgegengesetzt und liefen auf eine Schwächung durch Verarmung hinaus In Rußland sah Bompard auch den Urheber der Kampagne für eine türkische Kriegsentschädigung, die von Frankreich und Deutschland abgelehnt wurde Wenn sich auch das deutsche Interesse im wesentlichen auf die Bagdadbahn konzentriere, werde Frankreich im Widerstand gegen die russische Forderung "certamement ä nos cötes l'Allemagne" finden, "qui a en Turquie des interets similaires aux nötres"156 Die Diskussion dieser Frage erfolgte zunächst innerhalb des Quai d'Orsay, wahrend die Vorlage des Problems an die in der DPO vertretenen Machte durch den Balkankrieg bis zum Herbst 1913 vertagt wurde Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die vorsichtige, maßgeblich von Bompard beeinflußte Position der franzosischen Regierung geändert Sie stimmte nun einem russischen Vertreter m der Dette zu, stellte allerdings die Bedingung, gemäß den Wünschen des franzosischen und des englischen Vertreters m der DPO müsse sich em russisches Glaubigersyndikat bilden157 Bompard und Jules Cambon ver154

AN, 207 AQ 264, Dossier 3, Demarches du Syndicat des Porteurs 1912/13 MAE, NS Turquie 370, Bompard an Poincare, 4 10 1912 156 MAE, NS Turquie 374, Bompard an Pichon, 4 4 1913 157 MAE, NS Turquie 378, Memorandum Adam Blocks (englischer Vertreter in der DPO) vom 25 10 1913, der die Unabhängigkeit der DPO hervorhob, Versammlung der 155

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traten die gegenteilige Auffassung und plädierten dafür, das Thema ruhen zu lassen, weil sie weder den Charakter der DPO andern noch dem Deutschen Reich als Kompensation eine stärkere Position in der Dette zugestehen wollten158 Diese Befürchtung stellte sich als berechtigt heraus, weil die deutsche Regierung auf Initiative Wangenheims einen zweiten deutschen Sitz oder alternativ ein deutsches Präsidium und damit die Gleichstellung mit den Vertretern der Westmachte forderte159 Die Deutsche Bank beanspruchte ihrerseits, einen "Repräsentant special" in die DPO entsenden zu dürfen, ein Vorschlag, der vom Quai d'Orsay abgelehnt wurde160 In seiner Antwort analysierte Jules Cambon die Diskrepanz zwischen den politischen Bindungen in der Triple Entente und der mangelhaften russischen und englischen Unterstützung bei der Sicherung der franzosischen Finanzinteressen in der Dette und sah ein erhebliches Risiko in den möglichen deutschen Reaktionen auf den russischen Vorstoß "A mon sens, M de Sazonoff, en demandant a la France de s'employer pour obtenir l'admission d'un delegue russe au Conseil de la dette Ottomane, nous demande de travailler nous-memes ä empirer notre Situation ä la Dette Car, si nous entamons les conversations avec les Allemands sur la question de la Dette Ottomane, nous sommes certains que l'Allemagne reclamera un second delegue ou tout au moins une vice-presidence Sommes-nous assures, par contre, que nous serons toujours soutenus par le delegue russe*? On en peut douter, car actuellement nos amis pohtiques les Anglais sont le plus souvent nos adversaires ä la Dette Mais le Gouvernement russe jugera-t-il que nos interets financiers en Turquie priment l'inteiet politique que represente pour lui l'admission d'un delegue russe au conseil de la dette Ottomane*?"161

Das Druckmittel der russischen Regierung bestand in der Zustimmung zu einem neuerlichen Zollzuschlag von 4%, der für die Türkei eine neue Einnahmequelle und damit eme zusatzliche Sicherung der Gläubigerstaaten bedeutete Das Dilemma der franzosischen Regierung, zwischen russischen und deutschen Forderungen, gemeinsamen finanziellen Interessen und Bundnissohdantat entscheiden zu müssen, blieb bis zum Krieg ungelöst Auch der Vorschlag, einen weiteren türkischen Delegierten zuzulassen, fand weder deut-

Porteurs fiancais vom 28 10 1913, an der auch de la Bouliniere teilnahm, Fkanzminister Dumont an Pichon, 3 11 1913 158 Ebda, J Cambon an Pichon, 29 11 1913 159 PA-AA, Türkei 110 Nr 2, Bd 6, Wangenheim an Bethmann Hollweg, 20 10 1913 und Zimmermann an die Botschaften in Wien und Rom, 27 10 1913 mit dem Versuch, die Dreibundstaaten auf diese deutsche Position zu verpflichten 160 MAE, NS Turquie 379, Doumergue (Konzept de Margerie) an die Botschaften in Beilin, London, Konstantinopel und St Petersburg, 17 12 1913 161 Ebda, J Cambon an Doumergue, 22 12 1913

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sehen noch franzosischen Zuspruch162 Der ganze Vorgang dokumentierte nicht nur die abnehmende Solidarität unter den Großmachten, wie es Pntsch, der deutsche Vertreter m der DPO, beklagte163, sondern bedeutete auch emen neuerlichen Embruch Rußlands in die Solidarität der deutsch-franzosischen Finanzinteressen, nachdem die russische Regierung bereits m Chma mit Absicht dazu beigetragen hatte, das internationale Finanzsyndikat zu schwachen Es war jedoch mcht zu übersehen, daß neben dem gemeinsamen deutschfranzosischen Interesse am Erhalt der Finanzkraft der Türkei auch die deutsch-franzosische Rivalität bei den verschiedenen Bahnprojekten und um den zukunftigen Einfluß in emer möglicherweise aufgeteilten Türkei zunahm Diese Rivalität milderte sich dadurch, daß beide Orgamsationen zur Kontrolle der türkischen Staatsfinanzen, die DPO und die Tabaksregie, erhalten werden konnten und der Vertrag vom 15 Februar 1914 auch die speziellen Bahn- und Anleihefragen mit emem Kompromiß regelte Der dritte große Komplex der finanziellen Interessen der Großmachte in der Türkei betraf, neben Tabaksregie und DPO, allgemeine Finanzfragen und, ausgelost durch den Balkankrieg und die Londoner Botschafterkonferenz, die Frage der Beteiligung der Balkanstaaten an der türkischen Staatsschuld Am 28 Oktober 1912 fanden auf Initiative der Deutschen Bank hin Gespräche mit der BO in Paris über die Liquidation der türkischen Schatzbons und Vorschusse statt, die erhebliche Ausmaße angenommen hatten und mittlerweile als "Dette flottante" eine eigenständige Form der türkischen Schulden bildeten Die Neuverteilung der Forderungen sollte im Verhaltms 50/25/25 zwischen Frankreich, Deutschland und England vorgenommen werden, vorbehaltlich der Zustimmung der Regierungen Um die Regierungen der Großmachte den eigenen Zielen gewogen zu machen, ließen die Banken bei den Botschaften m der Türkei auf die Konsequenzen einer Ablehnung hinweisen, denn ohne offizielle Mitwirkung der Regierungen war die Operation und damit die Zahlungsfähigkeit der Türkei gefährdet164 Der Baron de Neuflize betonte in emer gemeinsamen Sitzung der BO und der Banque de Salomque, Englander und Deutsche zu dieser Transaktion hinzuziehen zu wollen, "pour donner ä l'operation un caractere aussi international que possible"165 Obwohl die Deutsche Bank von den französischen Partnern verdachtigt wurde, sich mit franzosischem Geld als Retter der Türkei zu präsentieren und nur die Bag162

MAE, NS Turquie 382, Note der russischen Botschaft (Iswolski) an Doumergue, 14 5 1914 163 PA-AA, Türkei 110 Nr 2, Bd 8, Stellungnahme Pritschs, 14 5 1914 164 AN, 207 AQ 263, Dossier 2, Reunion in der BO, 28 10 1912, Teilnehmer Helfferich, Sir Babington Smith (Banque Nationale de Turquie), Benac, Spitzer, Adler (Banque de Salonique), Baron d'Hottinguer, Lawrence, Barry, de Neuflize, Henry, de Cerjat 165 Ebda, Reunion BO und Banque de Salonique, 25 10 1912

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dadbahn im Sinn zu haben, blieb der Plan emer gememsamen Ablösung der Dette flottante bis in das Jahr 1913 hinein bestehen166 Der Plan wurde lediglich zurückgestellt, weil die Regierungen, entgegen der Auffassung der deutschen und franzosischen Bankiers, die Fortführung des Krieges mcht durch Finanzhilfen erleichtern wollten167 Das Problem der Konsolidierung der türkischen Schulden wurde mit Beginn des Balkankrieges von der Frage der Beteiligung der Balkanstaaten an diesen Schulden überlagert Erste Antworten gab der Bericht der Kommission, die die franzosische Regierung im November 1912 angesichts des Kriegsbeginns zur Klarung der Lage der Glaubiger eingesetzt hatte Am 17 November 1912 teilte die Kommission mit, daß Gebietsabtretungen m jedem Fall mit einer anteiligen Übernahme der türkischen Staatsschuld verbunden sein mußten Als Berechnungsmethode favorisierte sie das Proportionalsystem, das die Belastung der Balkanstaaten nach dem Verhaltms der Einnahmen des Teilstaates zu den Einnahmen des bisherigen Osmanischen Reiches festlegte168 Die deutsche Regierung zeigte sich weitgehend einverstanden mit den von der Kommission niedergelegten Prinzipien Jedoch erachtete die Deutsche Bank die Berechnungsmethode als wemg sinnvoll, weil sie angeblich das System der durch Spezialpfander gesicherten Anleihen mcht berücksichtigte Die Deutsche Bank, die m diesen banktechnischen Fragen federführend tatig wurde, schlug als Konkurrenzsystem die Verteilung nach Pfandern vor, alternativ die Festlegung eines Anteils für jeden Balkanstaat, der mindestens so hoch sein müsse wie die dort verpfändeten Einnahmen169 In einer Anweisung an die Botschaft m London verdeutlichte sich die Unterscheidung, die Kiderlen-Wachter zwischen politischen und wirtschaftlichen Fragen traf Lichnowsky wurde aufgefordert, sich auf der Botschafterkonferenz in allen politischen Fragen mit den Dreibundpartnern zu verstandigen, wahrend er nach außen hin nur im Namen der eigenen Regierung sprechen 166

Ebda, Reunion BO und Banque de Salonique, 11 12 1912, vgl auch MAE, PAAP 149, N° 4, Nias an de Cerjat 15 10 1912, der der Deutschen Bank unterstellte, die Frage allein unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung der Bagdadbahn zu beurteilen 167 AN, 207 AQ 263, Reunion vom 6 2 1913, Babington Smith, Helfferich, Benac, Adler, Spitzer, Barry, d'Hottinguer, de Neuflize, Henry, de Cerjat In der Mitteilung an die türkische Regierung betonten die Banken ihre Bereitschaft zu einer Finanzhilfe, die aber am Widerstand der Regierungen scheitere Dies war nicht nur Rhetorik, um sich der Türkei gegenüber als Freund zu präsentieren Die interne Korrespondenz der BO zeigt deutlich die Unterschiede ihrer Haltung zur Regierungsmeinung, vgl AN, 207 AQ 264, Dossier 2, Telegrammsammlung Sept 1912 bis Febr 1913 zwischen Deutscher Bank, BO und BOlntern, bspw Nias an de Cerjat, 12 2 1913, der die absolute Notwendigkeit sah, den Türken finanziell zu helfen 168 MAE, NS Turquie 370, Klotz an Poincare, 13 11 1912 und Kommissionsbericht, 17 11 1912 169 PA-AA, Türkei 110 Nr 2, Bd 2, Bleichroder, Gwinner und Helfferich an AA, 28 11 1912 und GP 15161, Kiderlen-Wachter an Schoen, 28 11 1912

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sollte Kiderlen-Wachter betonte also m politischen Fragen die Solidantat des Dreibundes, m Finanzfragen dagegen den umgekehrten Weg "In Dette- und Kommissionsfragen ist mit franzosischem Botschafter enge Fühlung zu halten, da eme von Pomcare eingesetzte Kommission m Pans bereits Vorarbeiten hierfür geleistet hat "17° Auch Gout, Subdirektor am Quai d'Orsay, hielt die deutschen und franzosischen Interessen für gleichartig Auf emer Versammlung des deutschen und franzosischen Syndikats der Glaubiger der Türkei m Paris sprachen sich die Bankenvertreter gegen eme Knegsentschadigung aus und stellten ihre Einigkeit hinsichtlich einer Schuldenubernahme durch die Balkanstaaten fest171 Die Deutsche Bank schwenkte auf den Verteilungsvorschlag der franzosischen Kommission um, weil zu Beginn des Jahres 1913 feststand, daß die Details auf emer gesonderten Konferenz besprochen werden wurden, auf der Helfferich semen Einfluß geltend machen konnte Im März 1913 legte die Londoner Konferenz endgültig die Grundsatze für die Verhandlungen fest und entschied, daß die Finanzberatungen mit Beteiligung der Balkanstaaten in Paris stattfinden sollten Eine Kriegsentschädigung der Türkei wurde als unerwünscht abgelehnt172 Nachdem die Vertreter der einzelnen Staaten m der Finanzkommission bestimmt worden waren, trafen die franzosischen, englischen und deutschen Delegierten vom 3 -6 Mai 1913 zu einer Vorbesprechung zusammen, um ihre Positionen zu klaren Die deutsche und diefranzosischeRegierung sahen sich einig in ihrer Haltung gegen eine Knegsentschadigung und kritisierten m zum Teil scharfer Form entsprechende von Rußland emgebrachte Vorschlage173 Die franzosische Politik blieb allerdings widersprüchlich, oszillierte zwischen emer "entente franco-allemande" in Finanzfragen und dem franzosisch-russischen Bundms, das durch die russische Haltung Gefahren für die finanzielle Situation der Türkei barg174 Die Position der deutschen Regierung definierte sich über die kiemasiatischen Bahnprojekte und Handelsinteressen ver170

PA-AA, Türkei 110 Nr 2, Bd 2, Kiderlen-Wachter an Botschaft London, 15 12 1912 171 MAE, NS Turquie 371, Reunion vom 19 12 1912, Teilnehmer d'Hottinguer, de Neuflize, de Cerjat, Revoil, Helfferich, von Schwabach, de Lamornaix Nach deutscher Berechnung bezifferte sich der Anteil der Balkanstaaten auf 21,45%, nach französischer auf 18,46% 172 GP 12978, Lichnowsky an AA, 15 3 1913 Folgende Grundsatze wurden vereinbart 1 Abtretung der europaischen Gebiete des Osmanischen Reiches außer Albanien (unter Machteverwaltung), 2 Inselfrage bleibt den Machten vorbehalten, 3 Kreta gehört nicht mehr zum Osmanischen Reich, 4 Kriegsentschädigung der Türkei unerwünscht, gleichzeitig Einladung an die Balkanstaaten, an den Beratungen in Paris teilzunehmen 173 MAE, NS Turquie 374, Revoil an Gout oder Ponsot, 8 4 1913 174 MAE, NS Turquie 375, Protokolle der Reunions preliminaires vom 3-6 5 1913 und Konzept einer Note tur Pichon zur Haltung Frankreichs in der Finanzkonferenz, 14 5 1913

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gleichsweise einfach Um den Weiterbau der Bagdadbahn zu gewahrleisten, durften die Einnahmen der DPO und damit des türkischen Staates mcht gefährdet werden, denn die Bagdadbahn war durch die Überschüsse der Einnahmen der DPO besichert, die nur zu 25% an die Dette Unifiee flössen, wahrend 75% dem türkischen Staat und über diesen der Bagdadbahn und der franzosischen Anleihe von 1904 zugute kamen Kurz nach Abschluß des Präliminarfriedens von London vom 30 Mai 1913 trat die Finanzkonferenz am 4 Jum zusammen, nachdem die franzosische Regierung auf erheblichen Druck der deutschen Regierung hin den Vorschlag einer beratenden Stimme für die Balkanstaaten wieder aufgegeben und sich zu inoffiziellen Vorverhandlungen bereit erklart hatte175 Die Finanzkonferenz tagte in Paris als ein der Botschafterkonferenz zuarbeitendes Gremium technischer Delegierter ohne eigene Entscheidungsbefugnis Die Delegierten bildeten drei Unterkomitees zu speziellen Fragen, wobei der "Comite de la Dette" für die deutschen und franzosischen Interessen als der wichtigste galt Umso wichtiger war es für die deutschen Interessen, daß Helfferich in diesem Komitee den Vorsitz erhielt176 Erschwert wurde die Arbeit durch die überraschende Entscheidung der Finanzkonferenz, den Balkanstaaten mcht nur eine beratende Stimme, sondern em Recht zur Mitentscheidung zu verleihen und die Entscheidungen außerdem der Einstimmigkeit zu unterwerfen, was den Prozeß der Entscheidungsfindung erheblich erschwerte177 Der "Comite de la Dette" wurde deshalb so wichtig, weil hier über die beiden Berechnungssysteme - nach Pfandstellung ("Speciahsation des gages") oder nach dem Verhaltms der Einnahmen ("Systeme proportionnel") - debattiert und einzelne Posten der türkischen Staatsschuld analysiert wurden Im Brennpunkt standen dabei vor allem die deutschen Interessen, die Vorschusse der Anatohschen Eisenbahngesellschaft und die dritte Tranche der Bagdadbahnanleihe (Bagdad III) Bei beiden Forderungen bestritten der griechische 175

Ebda, Aufzeichnung Gout vom 23 5 1913 zu einem Besuch Lanckens, weitere Aufzeichnung vom 26 5 aus dem MAE, daß Lancken mit Ruckzug der deutschen Delegierten gedroht habe, PA-AA, Türkei 203 Nr 7, Bd 2, J Cambon an Jagow, 30 5 1913, gibt Gedanken der beiatenden Stimme auf 176 PA-AA, Türkei 203 Nr 7a, Bd 1, Sitzung der Finanzkonferenz, 16 6 1913 Festlegung der Comites Bureau des Comites, President de Margerie, Membres Helfferich, Volpi, Raffalovich, secretaire Ponsot, 1 Comite de la Dette vice-pres Helfferich, rapporteur Su Harvey, membres Helfferich, Pritsch, de Janko, Comte Sossisch, Sergent, de la Bouliniere, Sir Harvey, 2 Comite des Concessions et Contrats vice-pres Volpi, rapporteur Adlei, membres Pntsch, Schwabach, Gout, Peytel, Harvey 3 Comite des Reclamations Pecuniaires des belligerants vice-pres Raffalovich, rapporteur Luquet, membres Schwabach, Helfferich, Luquet, Sergent, Harvey 177 MAE, NS Turquie 376, Paleologue an Dumaine (Botschafter in Wien), 10 6 1913 Osterreich gab als letzter Staat seinen Widerstand gegen diese Entscheidung auf

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und der russische Delegierte die Rechtmäßigkeit der Schuld, weil diesen Finanztransaktionen zwar Vereinbarungen zugrunde lagen, eine Auszahlung aber nicht erfolgt war. In diesem Punkt wie auch in der Frage der Berechnung der Anteile der Balkanstaaten kamen die Vertreter des Comite de la Dette zu keinem Ergebnis178. Helfferich gab sich dennoch optimistisch und behauptete, die Bagdadbahn sei ein gesichertes Projekt, während das französische Außenministerium die finanzielle Grundlage für prekär hielt und annahm, die Deutsche Bank - und mit ihr die deutsche Regierung - sei trotz aller Beteuerungen finanzieller Unabhängigkeit auf französische Hilfe angewiesen179. Helfferich bewertete die Konferenz dennoch als Erfolg: "... nous avons marque des distances qui nous separent, et cette demarcation est le premier pas pour surmonter ces distances"180, schloß er die Beratungen des Komitees ab. Die Finanzkonferenz wurde bis zum Herbst 1913 vertagt, trat aber wegen des Wiederaufflammens der Kämpfe und der bald schon beginnenden deutschfranzösischen Verhandlungen um die Bahnprojekte und wirtschaftlichen Einflußzonen vor dem Krieg nicht mehr zusammen. Im Frühjahr 1914 wurde ein Neubeginn für Herbst 1914 avisiert181. Im Anschluß an die Konferenz tauchte die Frage wieder auf, in welcher Form eine große Türkeianleihe durchgeführt werden könnte. Die Deutsche Bank war davon überzeugt, daß die BO dafür deutsche Hilfe benötigen werde. Die Direktion der Deutschen Bank notierte, die BO halte es für notwendig, "diese Anleihe als internationale Anleihe zu emittieren. Natürlich zählen sie dabei auf die Mitwirkung Deutschlands."182 Gestützt wurde diese Ansicht durch einen Brief des Baron de Neuflize an die Deutsche Bank, in dem er es angesichts der Höhe des türkischen Finanzbedarfs als unbedingt 178

PA-AA, Türkei 203 Nr. 7a, Bd. 3, Sitzung des Comite de la Dette vom 18.7.1913. MAE,NS Turquie 376, Notiz zur Sitzung vom 19.7.1913: Bagdad I war durch Einnahmen aus Asien gesichert. Bagdad II und IQ dagegen waren durch die 75% der Excedents des Revenus concedes besichert, die an den türkischen Staat zurückflössen. Für das Jahr 1911 betrugen diese Überschüsse 818.000 Ltq. 25% davon gingen an die Dette unifiee, verblieben 614.000 Ltq. Von diesem Rest wurde die Anleihe von 1904 vorrangig bedient (Annuität von 124.000 Ltq), danach Bagdad II und III (zusammen Annuität von 408.000 Ltq). Am Ende blieben 82.000 Ltq für die jährliche Zins- und Tilgungsleistung von Bagdad IV-VI, ein viel zu geringer Betrag, bei einer geplanten Annuität von 291.000 Ltq. Ein Bericht der deutschen Botschaft in Konstantinopel vom Mai 1913 (PA-AA, Türkei 110, Bd. 67) kam zu einem ähnlichen Ergebnis. Auch Bagdad II und III waren nur bis zum Ausbruch des Balkankrieges gedeckt. Die Pariser Finanzkonferenz, so der Bericht, sei entscheidend für den Zusammenhalt der Türkei und für die Neuverteilung der Einnahmen, also auch tur die Bagdadbahn. 180 PA-AA, Türkei 203 Nr. 7a, Bd. 3, Sitzung vom 18.7.1913, S. 16. 181 MAE, NS Turquie 382, de Margerie an Botschaft Berlin, 8.5.1914 legte zunächst den 15.6.1914 als Neubeginn fest, während de Manneville an MAE, 29.5.1914, die Verzögerung bis in den Herbst meldete. 182 PA-AA, Türkei 110, Bd. 68, Deutsche Bank an AA, 25.10.1913. 179

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erforderlich bezeichnete, "que l'operation ait un caractere international"183 Die Deutsche Bank griff diesen Gedanken auf, weil sie immer noch glaubte, mit den franzosischen Gläubigerbanken gemeinsam zu einem Abschluß kommen zu können Die positive Einschätzung der Direktion korrespondierte mit der Haltung in Bahnfragen, bei denen die Deutsche Bank bis zuletzt an der Idee der internationalen Finanzierung unter Einschluß der Franzosen festhielt "Insofern kann dieser Brief geradezu einen Wendepunkt in dem Verhaltms Deutschlands und Frankreichs m internationalen Finanzgeschäften bedeuten "184 Allerdings zeigte sich die Deutsche Bank wemg geneigt, der BO zur Jahreswende 1913/14 bei der Konsolidierung verschiedener Vorschusse durch eine Anleihe zu helfen, obwohl Sergent Helfferich noch am 16 Januar 1914 nachdrücklich aufgefordert hatte " j'espere vous trouver plus conciliants et mieux disposes ä temr compte de 1'effort fmancier que nous aurons ä fournir dans l'interet commun, pour le retabhssement financier de la Turquie "185 Die vom Auswärtigen Amt an dieser Haltung geübte Kritik wies die Deutsche Bank mit dem Hinweis auf das ausschließlich franzosische Interesse an diesem Geschäft zurück Dagegen erwartete die Deutsche Bank eme deutschfranzosische Zusammenarbeit für die große Konsohdierungsanleihe, wie sie Artikel 10 des Abkommens vom 15 Februar vorsah186 Am Ende blieb die Zukunft der deutsch-franzosischen Kooperation m Finanzfragen ungewiß Den gemeinsamen Interessen standen, durch den Kneg auf dem Balkan verstärkt, divergierende politische Interessen in der Türkei gegenüber Die Kontakte der deutschen und franzosischen Banken bestanden weiter, und eine Zusammenarbeit war angesichts der gemeinsamen Interessen nicht ausgeschlossen, wahrend die weitere politische Entwicklung der Türkei bei Ausbruch des Krieges kaum abzusehen war Fraglich ist, ob die erzwungene Nationalisierung von Prestigeprojekten wie der Bagdadbahn hatte rückgängig gemacht werden können Wahrscheinlicher ist, daß sich bei den wirtschaftlichen Unternehmen in der Türkei eine noch stärkere Zweiteilung herausgebildet hatte, die auf eine strikte Trennung bei politisch als bedeutend angesehenen Projekten und eine engere Zusammenarbeit bei privatwirtschaftlichen Interessen hinausgelaufen wäre Die Geschichte der deutsch-französischen Kooperation bei der Bagdadbahn und m zwei bedeutenden türkischen Konsortien soll diese Überlegung fortfuhren

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Ebda, de Neuflize an Helfferich, 24 10 1913 Ebda, Deutsche Bank an AA, 25 10 1913 185 Ebda, Sergent an Helfferich, 16 1 1914, ein weiterer Brief mit gleichem Datum von Neuflize an Helfferich 186 PA-AA, Türkei 110, Bd 71, Deutsche Bank an AA, 17 3 1914 184

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3.3.2.2. Bahn- und Anleihefragen in der Türkei: Die deutschfranzösischen Verhandlungen von 1913/1914 und der Vertrag vom 15. Februar 1914 Das Bagdadbahnprojekt stellte ein Symbol deutschen Prestiges und deutscher Expansion außerhalb Europas dar und berührte Interessen Englands, Rußlands und Frankreichs. Nachdem die türkische Regierung der Deutschen Bank 1899 die Konzession für die Anatolische Eisenbahn erteilt hatte, schloß die Deutsche Bank im selben Jahr einen Vertrag mit der BO, die eine 40%ige Beteiligung erhielt. 1903 wurde die Bagdadbahngesellschaft gegründet. Da aber weder die deutsche Regierung noch die Deutsche Bank ihre beherrschende Stellung an diesem Projekt aufgeben wollten, zogen sich die Engländer 1903 aus dem Projekt zurück, so daß am 14. November 1903 die Anteile neu festgelegt werden mußten187. Die Deutsche Bank erhielt 40%, die - ebenfalls deutsch bestimmte - Anatolische Bahngesellschaft bekam 10%, die BO 30%, Schweizer, Italiener, Türken und Österreicher teilten sich die restlichen 20%. Den Conseil d'Administration bildeten 12 Deutsche, 8 Franzosen, 3 Türken, 2 Österreicher und 2 Schweizer188. Auch die französische Regierung weigerte sich, ein Projekt mit deutscher Vorherrschaft zu unterstützen. Delcasse konnte zwar die Beteiligung der BO nicht mehr verhindern, sorgte aber für die Immobilisierung der Wertpapiere im Portefeuille der BO durch seine Weigerung, diese an der Pariser Börse einzufuhren189. An der ersten Tranche der Bagdadanleihe, Bagdad I, die 1904 für die Strecke Konia-Boulgurlu in Berlin emittiert wurde, beteiligte sich die BO daher nicht offiziell190. Mit der Konzession für den Weiterbau der Bahn nach El Helif schloß die türkische Regierung den Vertrag für die Anleihen Bagdad II und III, wovon allerdings nur Bagdad II am 25. Juni 1910 mit 108 Millionen Francs wirklich emittiert wurde. 1909 gründeten die Banken in Glarus/Schweiz eine Kon187

Zu den Anfangen der Bagdadbahn, den Gründen für den englischen Ausstieg und den Zielen der Mächte im Osmanischen Reich vgl. THOBIE, Interets, vol. 1, S. 650-673; DERS., Finance et PoUtique, le Refus en France de rEmprunt Ottoman 1910, in: RH 239 (1968), S. 327-350; BODE, Friedrich Heinz, Der Kampf um die Bagdadbahn. Ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-englischen Beziehungen, Neudruck der Ausgabe Breslau 1941, Aalen 1982; LEMKE, Heinz, Das Scheitern der Verhandlungen über die offizielle Beteiligung Frankreichs am Bagdadbahnunternehmen 1903, in: JbfG 29 (1984), S. 227-262; MANZENREITER, Johann, Die Bagdadbahn als Beispiel für die Entstehung des Finanzimperialismus in Europa (1872-1903), Bonn 1982; MEJCHER, Helmut, Die Bagdadbahn als Instrument deutschen wirtschaftlichen Einflusses im Osmanischen Reich, in: GG 1 (1975), S. 447-481; SCHÖLLGEN, Richard von Kühlmann und das deutsch-englische Verhältnis. 188 Vgl. THOBIE, Interets, vol. 1, S. 656-660. 189 Vgl. LEMKE, Scheitern der Verhandlungen; KÖSSLER, Armin, Aktionsfeld Osmanisches Reich. Die Wirtschaftsinteressen des Deutschen Kaiserreiches in der Türkei 18711908, New York 1981, S. 290-375. 190 Vgl. THOBIE, Interets, vol. 1, S. 660-663.

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struktionsgesellschaft, an der die BO ebenfalls 30% hielt Der Börsenplatz in Paris blieb sowohl den Aktien als auch den Obligationen der Bahngesellschaft bis 1914 verschlossen191 Die Entrevue von Potsdam und die deutsch-russische Vereinbarung über die Anerkennung der gegenseitigen Interessen in der asiatischen Türkei ließen Regierung und öffentliche Meinung in Frankreich aufhorchen Rußland hatte sich zu einer Einigung mit dem potentiellen Gegner Frankreichs in Mitteleuropa auf peripherem Gebiet bereit gefunden und loste damit eme Penode neuer Verhandlungen aus, in der es zu türkisch-englischen, englisch-deutschen und franzosisch-deutschen Gesprächen kam Paul Cambon deutete bereits Anfang 1912 eine Losung der Frage an, sobald franzosische Interessen m Syrien unterstutzt wurden192 In der Denkschrift der Deutschen Bank vom 7 April 1911 trat diese Idee starker hervor Die franzosische Regierung, noch unter dem Eindruck der überraschend in Berlin abgeschlossenen Turkeianleihe von 1910, versuche, verlorenes Terrain wiederzugewinnen Da aber der Umfang der deutschen Kredite an die Türkei mittlerweile den zweiten Platz nach den franzosischen einnehme, könne man an die "solidarischen Interessen"193 appellieren Die Einigung mit der franzosischen Gruppe werde über getrennt zu bauende Bahnstrecken angestrebt, die aber gemeinsam finanziert werden sollten Gleichzeitig versuchte die deutsche Regierung, Verhandlungen mit England aufzunehmen und schlug im März 1911 vor, die Endstrecke der Bagdadbahn von Basra oder Nedjef bis zum Persischen Golf mit Rucksicht auf die englischen Interessen von einer internationalen Gesellschaft bauen zu lassen194 Die Losung dieser Fragen machte m den zwei folgenden Jahren durch die politischen Ereignisse kaum Fortschritte, obwohl die Deutsche Bank der BO mehrfach anbot, die von jener gehaltenen Papiere zurückzunehmen Im Mai 1911 erfolgte die erste Initiative, die nach Rucksprache der BO mit Außenminister Cruppi abgelehnt wurde Eine neue Demarche der Deutschen Bank im Jahre 1912 blieb unbeantwortet Die BO plante zu diesem Zeitpunkt emen "Trust de Valeurs ottomanes", der auch die Bagdadwerte eingeschlossen und auf diesem Umweg der Bagdadbahn den Weg an die Pariser Börse eröffnet hatte Im September 1912 schlug die Deutsche Bank erneut die Rücknahme der Anteile an Bagdad II vor, erwartete dafür aber die Übernahme der mit der Türkei bereits 1911 vereinbarten Anleihen Bagdad IV und V (jeweils 54 Millionen Francs) durch die BO Die russische Opposition ließ das Projekt 191

MAE, NS Turquie 351, Note von Oktober 1916 zur französischen Beteiligung 192 PA-AA, Türkei 152, Bd 53, Metternich an Bethmann Hollweg, 26 2 1911 zu einem Gesprach mit Paul Cambon 193 Ebda, Bd 54, Promemona der Deutschen Bank vom 7 4 1911 194 Ebda, Bd 53, Promemona der Deutschen Bank vom 4 3 1911 zu deutsch-türkischen Verhandlungen und Verhandlungspapier vom 7 3 1911

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scheitern. Noch im Januar 1913 entschied sich das deutsch-französische Konsortium, obwohl seine wirtschaftliche Zukunft ungewiß war> für einen Vorschuß von 12 Millionen Francs auf die noch nicht emittierte Anleihe Bagdad III, an dem sich die BO mit dem ihr zustehenden Anteil von 30% beteiligte. Ein weiterer Vorschuß wurde für September 1913 vereinbart. Insgesamt leisteten die französischen Banken bis zum Frühjahr 1914 knapp 9 Millionen Francs an Vorschüssen195. Die grundsätzliche Frage nach der Form der französischen Beteiligung blieb ungeklärt, weil die französische Diplomatie sich über die Lösungsmöglichkeiten uneinig zeigte. Der französische Botschafter in Konstantinopel, Louis-Maurice Bompard, resümierte anläßlich des Todes Marschalls kritisch die deutsche Türkeipolitik, bei der er seit dem Machtantritt Wilhelms IL die europäische Solidarität vermißte. Auch die europäische Verlegenheit angesichts des drohenden Krieges auf dem Balkan lastete er der deutschen Politik an. Bompard forderte, die französische Finanz solle das deutsche Unternehmen der Bagdadbahn nicht weiterhin finanzieren196. Mit Energie versuchte Bompard zu verhindern, daß deutsche Werte im Rahmen des von der BO geplanten Omniums türkischer Werte indirekt zur Pariser Börse zugelassen wurden197. Der engen, auf die französischen Interessen in der Türkei und die Zulassung deutscher Wertpapiere in Paris fixierten Sichtweise Bompards setzte Jules Cambon eine Position mit weiterer, auch bündnispolitischer Perspektive entgegen: "Ces pourparlers engages avec la BO et repousses par nous sont un nouveau pas dans la voie oü les Russes et les Anglais nous ont depuis longtemps engages. II est vraiment regrettable de voir que la BO repousse avec perseverance toutes les offres qui lui sont faites ... Je me demande, vu la Situation economique future de lAsie Mineure, si nous n'eprouverons pas dans l'avenir de grands dommages de cette attitude qui consiste ä se refuser avec perseverance aux participations et aux avantages qui nous sont successivement ofFerts, tandis que nos partenaires ne se privent pas quant ä eux de traiter avec l'Allemagne, nous laissant le soin de faire echouer ce que ces accords ont d'incommode pour eux, et reclamant de nous les preuves de confiance et d'amitie qu'ils ne nous donnent pas." 198

Cambon befürchtete konkret, die Deutsche Bank könne sich mit Rußland über die persische Linie Teheran-Khanikine verständigen und auch mit England über den Weiterbau der Bahn bis zum Persischen Golf einigen. Zwar behauptete Bompard, seine und Jules Cambons Positionen wichen kaum voneinander ab, aber die Beschränkung seiner Sichtweise auf das französische Prestige in 195

MAE, NS Turquie 347, Note aus dem MAE vom 24.5.1913 zur Geschichte der Jahre 1912/13; zur Höhe der französischen Vorschüsse vgl. die Aufstellung bei THOBIE, Interets, vol. 1, S. 667. 196 D D F 3? j v . 3 8 ? Bompard an Poincare, 3.10.1912. 197 Ebda, IV-73, Bompard an Poincare, 6.10.1912. 198 Ebda, IV-159, J. Cambon an Poincare, 14.10.1912.

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der Türkei und seine prinzipielle Ablehnung, franzosisches Kapital für deutsche Projekte beizusteuern, unterschied Bompards Ansicht von der Jules Cambons, der die multilateralen Aspekte der Verhandlungen über die Interessen in der Türkei starker berücksichtigte, wo die franzosische Regierung unter Druck geriet, weil sie im Mai 1913 eme deutsch-englische Eimgung in naher Zukunft erwartete199 Dieser mdirekte Druck verstärkte sich, als parallel zu den Verhandlungen der Pariser Fmanzkonferenz die deutsche Regierung der englischen zugestand, die Endstrecke der Bagdadbahn zum Golf durch eme Kooperation deutscher und englischer Firmen bauen zu lassen Paul Cambon, der kaum eine Möglichkeit sah, das Bahnprojekt und die deutsch-englische Verständigung zu verhindern, schlug vor, die Beteiligung der BO durch politische Unterstützung aufzuwerten "Or bien que le chemin de fer de Bagdad ne mette en cause par lui-meme aucun mteret politique fran9ais precis, il y a toujours un mteret politique ä faire partie d'une affaire qui a mcontestablement un caractere mondial "200 Pichon glossierte, mit Paul Cambon übereinzustimmen, der eine Eimgung mit dem Deutschen Reich anstrebte und sagte zu, Frankreich werde wie England mit der Reichsregierung in Verhandlungen treten201 Bompard warf Paul Cambon daraufhm mangelnde Sachkenntms vor und behauptete apodiktisch, Frankreich habe "aucun mteret ä entrer dans le Bagdad plus avant que nous y sommes, nous avons au contraire tout mteret ä en sortir "202 Jules Cambon kam seinem Bruder zu Hilfe und warb um Verständnis für die beschrankten Optionen der deutschen Politik, entweder die eigenen Hoffnungen in den Erfolg der Bagdadbahn enttauscht zu sehen oder den Erfolg mit Frankreich teilen zu müssen Jules Cambon regte als Taktik an, die deutsche Regierung auf die Rolle der "Demandeurs" festzulegen, um leichter Kompensationen zu erhalten203 Die Verhandlungsbereitschaft beider Regierungen fiel mcht zufällig mit dem Präliminarfrieden von London vom 30 Mai 1913 zusammen, mit dem sich die internationale Lage zu entspannen schien Am 1 Juli 1913 fand die erste Besprechung zu den Bahnfragen in der Türkei statt, an der Sallandrouze de Lamornaix, Vizepräsident der Tabaksregie, Karl Helfferich und Paul Revoil, der Generaldirektor der BO, teilnahmen Helfferich ging es vor allem darum, die franzosische Seite für die Erhaltung 199 MAE, NS Turquie 347, de Manneville an Pichon, 17 5 1913, vgl SCHOLLGEN, Impenalismus und Gleichgewicht, S 388 f 2 0 0 D D F 3 yi-592, P Cambon an Pichon, 22 5 1913 201 Ebda, Glossierangen Pichons auf dem Schreiben von P Cambon ("Repondre ä M Cambon que je suis d'accord avec lui pour penser que nous devons chercher ä nous entendre avec les Allemands et obtenir d'eux les compensations necessaires "), DDF 3, VI617, Pichon an P Cambon, 26 5 1913 (" frappe des arguments que vous foumissez en faveur d'une entente avec les Allemands *') 202 DDF 3, VII-5, Bompard an Pichon, 31 5 1913 203 Ebda, VII-31, J Cambon an Pichon, 4 6 1913

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Finanzinteressen

der "Excedents de la Dette" zu gewinnen, die als Pfänder für die Bagdadanleihen dienten. Helfferich wünschte grundsätzlich eine Fortsetzung der Kooperation mit der BO und bot für diesen Fall sogar eine Beteiligung der französischen Industrie am Bahnbau an. De Lamornaix zeigte Verständnis für das deutsche Dilemma, weder eine ausreichende Beteiligung der BO zu erhalten noch mit einer Kooperation rechnen zu können. Die öffentliche Meinung könne jedoch nicht verstehen, daß trotz der Beteiligung die 8 französischen der insgesamt 24 Administratoren der Bagdadbahngesellschaft keinen Einfluß hätten. Enttäuscht mußte Helfferich feststellen, daß die von ihm gewünschte Entente nicht zu erreichen war, obwohl de Lamornaix noch einmal die Gemeinsamkeiten in der Tabaksregie und im Konsortium von Konstantinopel als erfolgreiche Kooperation anführte204. Die Kooperation bei der Bagdadbahn fand mit dieser Konferenz definitiv ihr Ende. Denn am gleichen Tag versammelte Pichon eine Gruppe von Diplomaten und Finanzfachleuten im Quai d'Orsay, um die Frage der Börsenzulassung für die Bagdadbahnpapiere noch einmal zu beraten. Nach langen Jahren mit deutschen Initiativen, um die Blockade der Papiere durch die französische Regierung zu überwinden, wurde diese Frage nun endgültig beantwortet. Das Außenministerium beschloß, daß es eine französische Unterstützung durch Zulassung zur Cote keinesfalls geben werde. Als Begründung wurde die öffentliche Meinung angeführt, obwohl sich diese kaum mit den türkischen Bahn- und Finanzfragen befaßte. Pichon folgte damit weitgehend den Grundsätzen des anwesenden Bompard, während sich die Position der Brüder Cambon, die offenbar nicht an dieser Entscheidungsfindung beteiligt waren, nicht durchsetzen konnte205. Pichon informierte umgehend Paul Cambon von dieser Entscheidung und wies ihn an, bei der britischen Regierung darauf zu bestehen, daß der französisch-englische Accord vor dem englisch-deutschen geschlossen werden sollte206. Helfferich wurde mitgeteilt, daß die französische Gegenleistung bei Verhandlungen nun, nachdem die Börsenfrage entfallen war, in der Auffüllung der Pfänder für die Bagdadbahnanleihen auf der Finanzkonferenz bestehen werde207. Eine letzte Unterredung zwischen Helfferich und de Lamornaix fand am 11. Juli 1913 statt, bei der sich Helfferich noch einmal die französische Politik des Desinteressements vor Augen führen lassen mußte. Diesen Tatsachen zum Trotz, und obwohl die Finanzkonferenz sich am 18. Juli auf unbestimmte Zeit vertagte, hielt Helfferich an der Fiktion fest, die Mitwirkung der BO könnte noch ermöglicht wer204

Ebda, VH-275, Reunion Helfferich-Lamornaix (1.7.1913), Compte rendu 3.7.1913. DDF 3, VH-246, Konferenz vom 1.7.1913 im Quai d'Orsay, ohne Präsenzliste. Genannt wurden folgende Diplomaten: Pichon, de Margerie, Bompard, Berthelot. 206 Ebda, VII-247, Pichon an die Botschaften in London und Berlin, 1.7.1913; vgl. THOBIE, Interets, vol. 2, S. 1368-1387. 207 PA-AA, Türkei 152, Bd. 63, Schoen an AA, 16.7.1913. 205

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den208 Bompard ventilierte nunmehr die Auffassung, die Bahnbauten überstiegen die finanziellen Möglichkeiten des Reichs, - "cette entrepnse demesurement agrandie ä nos frais" - und forderte eine "bienveillante abstention"209 derfranzösischenRegierung Pichon sah das Deutsche Reich m emer schlechten Position, weil die franzosischen Forderungen auch ohne deutsche Unterstützung gesichert seien und Frankreich aus diesem Grund zu kemer Gegenleistung verpflichtet sei Allerdings glaubte er, und in diesem Punkt deckten sich die Limen seiner Politik mit den Grundsätzen der Bruder Cambon, daß eine Losung dieser Frage endlich die Rivalitäten beseitigen konnte, die so lange die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei zum Schaden beider Lander gehemmt hatten Paleologue und Pichon äußerten sich Schoen gegenüber in diesem Sinne "Damit konnten, so betonen beide, mcht nur ortliche Reibungsflachen beseitigt, sondern es wurde auch allgemein eme wohltuende erhebliche Entspannung der Beziehungen beider Nationen erzielt werden "2i° Die Haltung der franzosischen Regierung hatte sich aus emer Mischung der Positionen der Botschafter in Konstantmopel, Berlin und London ergeben Richtete sich Pichon m der konkreten Abwicklung der Bagdadbahnbeteiligung eher nach den Vorstellungen Bompards, versuchte er der Regelung msgesamt einen politischen Aspekt abzugewinnen, indem er wemger das deutsche gegen das franzosische Prestige ausspielte, sondern die Vorteile einer schiedhchen Trennung der Interessen für eine vorbeugende Konfliktregelung m der Türkei hervorhob Dies erhielt für die franzosische Politik eine umso größere Bedeutung, weil Jules Cambon nach einem Gesprach mit Bethmann Hollweg auf die Gefahren hinwies, die sich aus einer franzosischen Politik ergeben konnten, wenn sie prinzipiell und mcht wegen konkreter Interessen deutsche Expansionswunsche behindere Die Ablenkung der deutschen Tatkraft nach außen erschien ihm als probates Mittel, die Lage in Mitteleuropa zu entspannen, denn im umgekehrten Fall, so Cambon, gehe Frankreich ein wesentlich größeres Risiko ein "Est-il raisonnable de croire qu'une nation de plus de soixante-dix millions dliabitants, qui s'accroit sans cesse et dont l'industrie se developpe, peut se cantonner sur le territoire occupe ü y a quelques annees par trente-cinq millions d,hommes