Visualität und Weltpolitik: Praktiken des Zeigens und Sehens in den Internationalen Beziehungen [1. Aufl.] 9783658299705, 9783658299712

Jeden Tag erreichen uns Bilder, Fotos und Videos über Konflikte und Krisen, die unsere Vorstellung und unser (vermeintli

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Visualität und Weltpolitik: Praktiken des Zeigens und Sehens in den Internationalen Beziehungen [1. Aufl.]
 9783658299705, 9783658299712

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XII
Visualität und Internationale Beziehungen (Axel Heck, Gabi Schlag)....Pages 1-27
Weltanschauungen. Visual Culture, Macht und Gegenmacht in den globalen Nord-Süd-Beziehungen (Lisa Bogerts)....Pages 29-63
Un-/Sichtbare Folter. Streit um Normen ‚made in Hollywood‘ (Gabi Schlag)....Pages 65-88
Umstrittene Legitimität. Das Internationale Straftribunal für Ex-Jugoslawien (ICTY) als „Stimme der Menschheit“ und als „politisches Gericht“ (Anna Geis, Katarina Ristić)....Pages 89-120
Kriegsspiele. Video-Games und Weltpolitik (Axel Heck)....Pages 121-150
ISIS und die Inszenierung von Kulturgüterzerstörung für ein globales Publikum (Hanna Pfeifer, Christoph Günther)....Pages 151-179
Europas Blick auf die Erde. EU Copernicus und die visuelle Versicherheitlichung von Umwelt (Delf Rothe)....Pages 181-214
Bilder des Friedens? Die metaphorische Visualisierung von Frieden im Film (Stephan Engelkamp, Kristina Roepstorff, Alexander Spencer)....Pages 215-244
Was zieht junge Menschen in die Bundeswehr? Eine Gender-Analyse der YouTube-Serie „Die Rekruten“ (Frank A. Stengel, David Shim)....Pages 245-275
Sehen als Praxis. Visuelle Strategien der Kritik und die Ausstellung „Terror Incognitus“ (Frank Gadinger)....Pages 277-310
Die Praxis der visuellen Analyse. Ein Dialog (Axel Heck)....Pages 311-348

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Horizonte der Internationalen Beziehungen

Gabi Schlag · Axel Heck Hrsg.

Visualität und Weltpolitik Praktiken des Zeigens und Sehens in den Internationalen Beziehungen

Horizonte der Internationalen Beziehungen Reihe herausgegeben von Anna Geis, Hamburg, Deutschland Gunther Hellmann, Frankfurt, Deutschland Benjamin Herborth, Groningen, Niederlande Matthias Hofferberth, San Antonio, USA Oliver Kessler, Erfurt, Deutschland Klaus Schlichte, Bremen, Deutschland

Die Horizonte der „Internationalen Beziehungen“ haben sich verschoben. Unter anderem über den Einfluss von Sprachphilosophie, Postkolonialismus und Praxis­ theorie haben sich die theoretischen Zugänge des Fachs über die klassische Ausrichtung hinaus erweitert. Vor allem in den vergangenen zehn Jahren sind zahllose innovative Beiträge entstanden, deren Bezüge zum Beispiel in die Lite­ raturwissenschaft, die Geographie, die Ethnologie, in die großen Diskussionen der Soziologie und in andere Fächer reichen. Neben diesen aus der akademischen Diskussion entstandenen Veränderungen hat auch der Gegenstand des Faches an Dynamik gewonnen. Es ist jetzt schon erkennbar, dass hergebrachte Lehrmeinun­ gen nicht reichen, um diese Veränderungen analytisch und begrifflich zu erfassen und dem Verständnis zugänglich zu machen. Mit dieser Schriftenreihe bieten die Herausgeber neuen, heterodoxen Arbeiten ein Forum, die die sich verändernde internationale Politik auf neue und das Verständnis erweiternde Weise begreifen. In der Reihe erscheinen hervorragende Arbeiten, welche theoretisch-konzeptio­ nell und/oder empirisch und/oder methodisch dazu beitragen, die Horizonte der Internationalen Beziehungen und damit unser Wissen über diese zu erweitern. Ziel der Reihe ist es, Inhalte, Konzepte und Methoden der bisherigen IB-For­ schung in ihrer ganzen Breite zu diskutieren, diese gleichzeitig aus unterschiedli­ chen Perspektiven weiterzudenken und somit zu erweitern.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16068

Gabi Schlag · Axel Heck (Hrsg.)

Visualität und Weltpolitik Praktiken des Zeigens und Sehens in den Internationalen Beziehungen

Hrsg. Gabi Schlag Universität Tübingen Tübingen, Deutschland

Axel Heck Universität Kiel Kiel, Deutschland

ISSN 2524-3853  (electronic) ISSN 2524-3845 Horizonte der Internationalen Beziehungen ISBN 978-3-658-29970-5 ISBN 978-3-658-29971-2  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-29971-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort: Visuelle Weltpolitik im Zeitalter der digitalen Kommunikation Roland Bleiker

  Bilder sind politisch. Sie sind politisch in ihrem Inhalt wie auch in ihrer Funktion. Bilder sind unzertrennlich verbunden mit den wichtigsten internationalen Ereignissen unseres Zeitalters, von Klimapolitik und Terrorismus bis hin zu Wahlkämpfen und finanziellen Krisen. Oft hört man sogar, dass wir in einem visuellen Zeitalter leben, einem Zeitalter, in dem unsere Wahrnehmung der Welt vor allem durch Bilder vermittelt und verdinglicht wird. Bilder beeinflussen wie wir - als politische und soziale Gemeinschaften - Ereignisse wahrnehmen, diskutieren und politisch angehen. Flüchtlingspolitik, zum Beispiel, kann nicht von visuellen medialen Repräsentationen getrennt werden, denn diese Repräsentationen beeinflussen, wie die Öffentlichkeit Geflüchtete sieht, empfindet und entsprechende politische Debatten über Migration geführt werden (können). Ziel des vorliegenden Buches über Visualität und Weltpolitik, hervorragend zusammengestellt und herausgegeben von Axel Heck und Gabi Schlag, ist es, diese visuellen Dimensionen der internationalen Beziehungen aufzuzeigen und zu analysieren. Das Format eines Sammelbandes ist ideal dafür geeignet, ein solch breites, vielfältiges und kompliziertes Thema anzugehen. Das Resultat ist beindruckend und innovativ: Visualität und Weltpolitik ist meines Wissens das erste Buch in deutscher Sprache, das die Wechselbeziehung zwischen Bildern und internationaler Politik auf übergreifende Art und Weise dargelegt. Nach einer informativen und engagiert geschriebenen Einführung folgen neun Kapitel, die verschiedene Aspekte der visuellen Weltpolitik darlegen, von visuellen Repräsentationen von Folter, Klimawandel, Umweltproblemen, Sicherheitspolitik, Nord-Süd Beziehungen, Außen- und Friedenspolitik bis hin zu visuellen Beweisen bei Gerichtsverhandlungen. In einem kurzen Vorwort ist es nicht möglich, dieses interessante und wichtige Buch übergreifend zusammenzufassen. An eine auch nur annähernd komplette Darstellung der Thematik von Visualität und Weltpolitik ist schon gar nicht zu denken. Ich möchte dieses Vorwort daher nutzen um zuerst drei Themen aufzuV

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greifen, die mir besonders wichtig erscheinen. Danach werde ich kurz aufzeichnen, wie dieses Buch drei wichtige Beiträge zu einem verbesserten Verständnis der visuellen Weltpolitik leistet. Um ein systematisches Verständnis der visuellen Weltpolitik zu erlangen, ist es notwendig, sich nicht nur auf zweidimensionale Bilder zu beschränken. Diese spielen natürlich sehr wichtige und weitgreifende Rollen, wie zum Beispiel in der Form von ikonischen Medienbilder, Kunst, Kartographie, Videos, Spielfilme und digitale soziale Medien. Um visuelle Politik zu verstehen, ist es jedoch wichtig, auch drei-dimensionale visuelle Phänomene zu versehen. Dazu gehören die politische Funktion von, zum Beispiel, Grenzinstallationen, Militärparaden, Monumenten oder Kirchen, Moscheen und andere religiöse Gebäude. Deren symbolische Existenz beeinflusst, wie wir Politik sehen und gestalten. Es gibt bedeutende Unterschiede zwischen zwei- und drei-dimensionalen visuellen Phänomenen. Zweidimensionale Bilder können sich sehr schnell verbreiten, vor allem in Zeitalter der digitalen Kommunikation. Drei-dimensionale visuelle Objekte und Bewegungen, wie Gotteshäuser oder Protestmärsche, sind dagegen auf ihre räumlichen Dimensionen beschränkt, zumindest vorerst. Gleichzeitig gibt es drei wichtige Gemeinsamkeiten zwischen zwei- und drei-dimensionalen visuellen Phänomenen und diese Gemeinsamkeiten zeigen auf, wie wichtig visuelle Weltpolitik heute ist. Erstens sind im Zeitalter der Globalisierung und der digitalen Kommunikation die Unterschiede zwischen zwei- und drei-dimensionalen visuellen Phänomenen nicht mehr absolut. Nehmen wir das Beispiel des Jüdischen Museums in Berlin, das von Daniel Liebeskind entworfene und 2001 eröffnete Gebäude. Das eigentliche Gebäude spielt eine wichtige politische und symbolische Funktion bei der Vermiittlung von jüdischer Kultur und jüdisch-deutscher Geschichte. Weit mehr als 10 Millionen Besucher*innen haben das Museum seit der Eröffnung besucht. Die meisten Menschen kennen das Museum hingegen nicht durch einen persönlichen Besuch, sondern weil sie das Gebäude und damit verbundene Ereignisse über digital verbreitete Bilder gesehen haben. Genau dies kann auch von den meisten anderen drei-dimensionalen visuellen Objekten und Phänomenen gesagt werden, von Militärparaden und Protestanlässe bis zu diplomatischen Gipfeltreffen und Wahlkampfkampagnen. Die meisten unter uns sind bei solchen Ereignissen nicht selbst dabei, sondern erleben sie indirekt und oft über Bilder, die in konventionellen und in sozialen Medien zirkulieren. Zweitens vermitteln visuelle Phänomene nicht nur, sondern sie zeigen uns etwas über die Welt und deren Politik. Sie sind Zeugen der Zeit. Fotografien und Filme vom Zweiten Weltkrieg tragen dazu bei, wie wir heute dieses historische Ereignis sehen. Visuelle Repräsentationen von humanitären Krisen beeinflussen, wie wir

Vorwort: Visuelle Weltpolitik im Zeitalter der digitalen Kommunikation

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diese Krisen politisch und moralisch betrachten und wie wir darauf regieren können und sollen. Visuelle Phänomene können dazu beitragen, vorherrschende Machtstrukturen zu festigen und auszubauen. Modefotografien, zum Beispiel, basieren oft auf konventionellen Geschlechterrollen und tragen dazu bei, diese Rollen zu legitimieren. Gleichzeitig können visuelle Faktoren auch Widerstand verkörpern und zum sozialen Wandel führen. Fotografien oder Videos von Protestbewegungen, zum Beispiel, können den Einfluss der Bewegung erweitern. Dies ist vor allem der Fall im Zeitalter der digitalen Medien, weil die Möglichkeiten zur Zirkulation von Bildern heute beinahe uneingeschränkt ist. Noch vor wenigen Jahrzehnen hatten nur einzelne Institutionen – vor allem Zeitschriften und Fernsehsender – die Möglichkeit, Nachrichten und Bilder zu verbreiten. Heute können dies beinahe alle Menschen, die mit einem Mobiltelefon ausgestattet sind und Zugriff zu sozialen Medien wie Facebook, Twitter oder Instagram haben. So können auch lokale Protestereignisse in kurzer Zeit einen potentiell globalen Einfluss haben. Oder nehmen wir das Beispiel der visuellen Kunst, die schon oft mit politischem und kulturellem Wandel in Zusammenhang gebracht worden ist. Picassos berühmtes Gemälde Guernica oder die visuelle Aufarbeitung des Ersten Weltkrieges durch Otto Dix, sind auch heute noch in der Öffentlichkeit präsent und dienen als Mahnmale, die an die brutalen und tragischen Dimensionen des Krieges erinnern. Dritten können visuelle Bilder und Objekte zu politischen Phänomenen an sich werden. Landkarten, zum Beispiel, sind nicht objektive Abbildungen der geographischen Realität, sondern politische Repräsentationen. Hollywood Filme drehen sich oft um stereotypische Repräsentationen von „Helden und Halunken“, die soziale Werte beeinflussen, sei dies während des Kalten Krieges oder heute. Oder nehmen wir das Beispiel von terroristischen Attacken, wie diejenigen vom 11. September 2001: sie sind oft so geplant, dass sie einen möglichst großen visuellen Effekt haben, um damit Angst auszulösen und größtmögliche Aufmerksamkeit zu gewinnen. Die Autor*innen in Visualität und Weltpolitik bearbeiten die Schnittstellen dieser drei Phänomene auf eindrückliche Art und Weise. Die Kapitel individuell zusammenzufassen und zu würdigen, ist in diesem Format nicht möglich. Daher möchte ich drei Aspekte kurz betonen, die das Buch insgesamt auszeichnet. Erstens diskutiert das vorliegende Buch wichtige Erkenntnisse über visuelle Methodologien. Dies ist kein einfaches Thema. Bilder funktionieren anders als Worte. Darin besteht gerade ihre Macht: sie kommunizieren oft emotional und auf eine Weise, die nicht sprachlich-fundiert ist. Aber gleichzeitig benötigen wir sprachliche Formen, um visuelle Kommunikation analysieren zu können. Dabei geht gezwungenermaßen etwas verloren. Das heißt hingegen nicht, dass das Visuelle im Gegensatz zum Sprachlichen gesehen werden sollte. Ganz im Gegenteil. Dieses VII

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Buch zeigt auf, wie visuelle und sprachliche Kommunikation eng mit einander verbunden sind. Um diese komplexen Verbindungen zu verstehen, braucht es notwendigerweise auch eine Vielzahl von Methodologien, die von den Autor*innen dieses Buches auf überzeugende Weise dargestellt werden. Verbreitet über das ganze Buch finden wir interessante Erläuterungen, wie verschiedene qualitative und interpretative Methoden, beispielsweise Rezeptions-, Diskurs-, Ikonen- und Metaphern-Analysen, angewendet werden können. Zweitens zeichnet sich dieses Buch durch ein außergewöhnliche Format aus. Ich möchte hier vor allem auf das Schlusskapitel hinweisen, das in der innovativen Form eines Dialoges zwischen allen Autor*innen geschrieben ist. Hier werden alle wichtigen konzeptionellen Themen behandelt, wie die Rolle von Macht, Diskursen oder Ikonen. Vor allem ist dieses Kapitel, wie auch der Rest des Buches, so gut und so zugänglich geschrieben, dass auch Leser*innen folgen können, die nicht gezwungenermaßen in den Fächern Politikwissenschaft oder Soziologie spezialisiert sind. Drittens ist es angebracht, zu betonen, dass das Buch sich nicht nur mit visueller Politik befasst, sondern auch in breitere politische Diskussionen eingreift. Besonders wichtig hier ist ein Plädoyer für interdisziplinäre Forschung und eine Kritik an der immer noch stark verbreiteten Tendenz, Forschung in den internationalen Beziehungen von anderen Bereichen abzuschirmen und rein disziplinär auszulegen. Die Autor*innen unterbreiten ein meiner Meinung nach überzeugendes Argument für interdisziplinäre Forschung und zeigen am Beispiel der visueller Weltpolitik auf, was für Formen solch eine Forschung annehmen kann. „Weltpolitik“ wird daher dem Begriff „Internationale Beziehungen“ vorgezogen, denn Ziel ist, nicht nur Themen wie Diplomatie und Beziehungen zwischen Staaten zu behandeln, sondern sich auch transnationalen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomenen zu widmen. Diese beinhalten, zum Beispiel, Videospiele, Satellitenbilder und Propagandafilme von Terrororganisationen.

Inhalt

Visualität und Internationale Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Axel Heck und Gabi Schlag Weltanschauungen. Visual Culture, Macht und Gegenmacht in den globalen Nord-Süd-Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Lisa Bogerts Un-/Sichtbare Folter. Streit um Normen ‚made in Hollywood‘ . . . . . . . . . . . . . . 65 Gabi Schlag Umstrittene Legitimität. Das Internationale Straftribunal für Ex-Jugoslawien (ICTY) als „Stimme der Menschheit“ und als „politisches Gericht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Anna Geis und Katarina Ristić Kriegsspiele. Video-Games und Weltpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Axel Heck ISIS und die Inszenierung von Kulturgüterzerstörung für ein globales Publikum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Hanna Pfeifer und Christoph Günther Europas Blick auf die Erde. EU Copernicus und die visuelle Versicherheitlichung von Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Delf Rothe

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InhaltRoland Bleiker

Bilder des Friedens? Die metaphorische Visualisierung von Frieden im Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Stephan Engelkamp, Kristina Roepstorff und Alexander Spencer Was zieht junge Menschen in die Bundeswehr? Eine Gender-Analyse der YouTube-Serie „Die Rekruten“ . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Frank A. Stengel und David Shim Sehen als Praxis. Visuelle Strategien der Kritik und die Ausstellung „Terror Incognitus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Frank Gadinger Die Praxis der visuellen Analyse. Ein Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Das Netzwerk

Die Autor*innen Die Autor*innen

LISA BOGERTS ist freie Politikwissenschaftlerin und Mitglied des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (ipb) in Berlin. STEPHAN ENGELKAMP ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department of War Studies des King’s College in London. FRANK GADINGER ist Forschungsbereichsleiter am Käte Hamburger Kolleg / Centre for Global Cooperation Research der Universität Duisburg. ANNA GEIS ist Professorin für Politikwissenschaft, insbesondere Internationale Sicherheitspolitik und Konfliktforschung, an der Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg. CHRISTOPH GÜNTHER ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der JohannesGutenberg-Universität Mainz und leitet die Nachwuchsforschergruppe Dschihadismus im Internet. AXEL HECK ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. HANNA PFEIFER ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg. KATARINA RISTIC ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Global and European Studies Institute der Universität Leipzig.

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Die Autor*innen

KRISTINA ROEPSTORFF ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre for Humanitarian Action in Berlin. DELF ROTHE ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg. GABI SCHLAG ist akademische Rätin an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. DAVID SHIM ist Senior Lecturer an der Universität Groningen. ALEXANDER SPENCER ist Professor für Politikwissenschaft, insbesondere Internationale Beziehungen, an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. FRANK A. STENGEL ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel. WAEL TOUBAJI ist Animations-Künstler und Filmemacher.

Visualität und Internationale Beziehungen Axel Heck und Gabi Schlag

Die (Un-)Sichtbarkeit von internationaler Politik1 Bilder und Dokumentationen menschlichen Leids, seien es Massaker, Hunger, Vertreibung oder die Zerstörung ganzer Dörfer und Städte sind wiederkehrende Begleiterscheinungen von Bürgerkriegen und internationalen Gewaltkonflikten. Diese Tatsache wurde zumindest in Teilen der Disziplin der Internationalen Beziehungen (IB) schon vor vielen Jahren anerkannt (Campbell 2003b, 2007; Hoskins und O’Loughlin 2010; Kennedy 2008). Visuelle Repräsentationen prägen nicht nur die kollektiv geteilten Vorstellungen von Krieg und dessen Folgen, sondern vermitteln oftmals darüber hinausweisende, politisch und normativ aufgeladene Narrative über Täter und Opfer eines Konflikts. Die „Bilder des Krieges“ (Paul 2004), das haben Historiker*innen, Soziolog*innen, Kultur-, Kommunikations- und Medienwissenschaftler*innen schon lange verstanden, sind daher weder objektiv, neutral oder einfach nur visuelles „Beiwerk“ medialer Berichterstattung (Brothers 1997; Fahmy und Kim 2008; Griffin 2010; Hariman und Lucaites 2003; Hoskins 2004). 1 Die hier vertretenen Beiträge wurden im Rahmen des von Gabi Schlag und Axel Heck koordinierten DFG Netzwerkes „Visualität und Weltpolitik“ erarbeitet (Projektnummer 288814046). Wir danken der DFG für die Unterstützung unserer Forschung und die Ermöglichung des Bandes. Unser Dank gebührt auch Leonie Basting, Mitja Blümke, Juliane Hauschulz, Hannah Kristen und Leon Koch für die hilfreiche Unterstützung des Projekts. Ebenfalls danken wir den anonymen Gutachter*innen für wertvolle Hinweise sowie den Herausgeber*innen der Buchreihe „Horizonte“. Die Autor*innen des Sammelbandes achten auf eine gender-gerechte und inklusive Sprache. Daher wird i. d. R. der * benutzt. Von dieser Praxis weichen einzelne Beiträge dann ab, wenn die Aussage sich empirisch nicht auf Menschen anderen Geschlechts bezieht.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Schlag und A. Heck (Hrsg.), Visualität und Weltpolitik, Horizonte der Internationalen Beziehungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29971-2_1

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Bilder und andere visuelle Repräsentationen politischen Geschehens sind aus den Diskursen der aktuellen Weltpolitik nicht hinweg zu denken. Ganz gleich, ob es sich um militärische Konflikte und Auseinandersetzungen handelt oder um den Klimawandel und seine Folgen; um das Ausmaß globaler Umweltzerstörung oder die pandemische Verbreitung von Gesundheitsrisiken – viele Ereignisse werden erst durch Bilder, Filme, Videos, Graphiken oder Computersimulationen sichtbar. Auch in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Konfliktthemen wie Immigration, sozialer Ungleichheit oder Kriminalität werden visuelle Darstellungen bedeutsam, in dem sie von Politik, Medien und gesellschaftlichen Akteuren genutzt werden, um Aufmerksamkeit zu erzeugen und ein Problembewusstsein zu schaffen, oder um „Stimmung“ für die eigene Sache zu machen und populistische Ressentiments zu schüren (Freistein und Gadinger 2019). Die mediale Verwendung sowie der politische Gebrauch von Bildern und visuellen Repräsentationen kann folglich sehr vielfältig sein, wobei fast immer auch die normative Umstrittenheit der Visualität offenkundig wird – insbesondere, wenn es um hoch emotionale oder emotionalisierende sowie um ethisch problematische Darstellungen geht. Unter Visualität sind unterschiedliche Praktiken des Zeigens und Sehens zu begreifen, die uns im Alltag und der Alltagskultur, im öffentlichen Raum, in Medien und sozialen Netzwerken oder auch in Museen und Ausstellungen begegnen. Die performative Kraft der gezeigten und gesehenen visuellen Repräsentationen besteht darin, dass sie unser Wissen und unsere Weltanschauung(en) – im wahrsten Sinne des Wortes – nachhaltig prägen und Gegenstände der politischen Auseinandersetzung visuell (mit-)konstituieren (Campbell 2003a; Heck und Schlag 2013). Gleichzeitig ist das Zeigen und Sehen selbst gesellschaftlich geprägten, aber prinzipiell kontingenten Sichtbarkeitsregimen unterworfen (Hempel et al. 2010). Was und wie gezeigt wird, aber auch was und wie wir sehen, ist von sich wandelnden und wandelbaren Regeln, Normen und Konventionen bestimmt (Berger 2015; Sturken und Cartwright 2001). Zeigen und Sehen sind gleichsam politische Praktiken, da sie unseren Blick auf die Welt strukturieren und einen sinnhaften mithin kontroversen Austausch über die Bedeutung des Gezeigten gestatten und somit zur Konstitution von Diskursen beitragen. Visualität ist demnach wesentlicher Bestandteil der Diskurse, in denen Phänomene der internationalen Politik verhandelt und mit Bedeutung ausgestattet werden. Die Praktiken des Zeigens und Sehens erstrecken sich jedoch weit über die Mediatisierung politischer Ereignisse hinaus. Sie beziehen sich auch auf die Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Akteuren, Strukturen und Subjektpositionen. Visualität fragt explizit nach den Macht-, Herrschafts- und Legitimitätsansprüchen sowie den autoritativen Kräften, die durch Praktiken des Zeigens und Sehens Einfluss auf die Möglichkeitsbedingungen politischen Handelns nehmen. Je nach-

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dem, ob, was und wie etwas gezeigt und gesehen wird, können Forderungen nach politischen Aktionen und Maßnahmen sinnhaft, glaubwürdig, legitim oder sogar notwendig erscheinen aber auch Empörung, Kritik und Ablehnung hervorrufen. Somit rückt Visualität unweigerlich in das Zentrum politischer Deutungskämpfe und diskursiver Aushandlungen. Eine Reflektion der Visualität, also der Praktiken des Zeigens und Sehens, sollte folglich zentraler Bestandteil jeder politikwissenschaftlichen Analyse sein. Der vorliegende Sammelband möchte Anregungen geben, wie dieser Anspruch in unterschiedlichen Forschungsfeldern und Politikbereichen umgesetzt werden kann. Denn zu jedem Problemfeld der aktuellen Weltpolitik steht ein umfangreiches Archiv von Bildern und visuellen Darstellungen zur Verfügung, die geradezu ikonischen Status erlangt haben. Keine Reportage, Dokumentation oder Ausstellung über den Vietnamkrieg wird ohne das Bild von Kim Phuc auskommen, die Niederschlagung der Demonstrationen auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking wurden durch das Bild des „tank man“ im kollektiven Gedächtnis (zumindest der westlichen Welt) unauslöschlich verewigt und die Bilder der einstürzenden Zwillingstürme sind für viele Kommentator*innen zum Sinnbild einer neuen Ära geworden. Doch inwiefern prägten und prägen diese ikonischen Bilder die Möglichkeitsbedingungen politischen Handelns? Worin liegt ihre politische Bedeutung und performative Kraft? Wer über Flucht und Migration spricht, kommt um die Fotos der überfüllten und maroden Boote, die auf dem Mittelmeer (oder in anderen Regionen der Erde) in Seenot geraten sind, nicht herum (Bleiker et al. 2013). Die Bilder angeschwemmter Leichen, wie am Beispiel des kleinen Aylan Kurdi auf besonders drastische Weise deutlich wurde, werden über soziale Netzwerke zirkuliert und lagern sich in den kollektiv geteilten Bildarchiven der internationalen Politik ab (Adler-Nissen et al. 2020; Mielczarek 2018; Mortensen 2017; Olesen 2017; Schlag 2018). Die Bilder und Dokumentationen über die dramatischen Umstände und oftmals tödlichen Folgen von Vertreibung und Flucht werden somit konstitutiver Bestandteil des politischen Diskurses um das Thema Migration. Sie prägen unsere Vorstellungen, unser Wissen, schaffen politisches Problembewusstsein und tragen dazu bei, humanitäres Handeln, wie etwa die Seenotrettung diskursiv zu ermöglichen, sinnhaft und sogar notwendig erscheinen zu lassen. Gleichzeitig werden Bilder von Vertreibung, Elend und Gewalt aber auch vielfach genutzt, um Ängste zu schüren, das Fremde als Bedrohung darzustellen und Migrant*innen als die „Anderen“ zu konstruieren, um hierdurch eine Politik der Abschottung und Ausgrenzung zu legitimieren. Wer an den Bürgerkrieg in Syrien denkt, wird die Videoaufnahmen der sich vor Schmerzen krümmenden Menschenkörper, die nach den zahlreichen Giftgasattacken um die Welt gingen, nicht ignorieren können (Geis und Schlag 2017). Auch hier

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tragen Bilder und Videoaufnahmen zur Konstitution eines politischen Diskurses bei, entwickeln Erzählungen über Täter und Opfer und führen die Folgen eines Chemiewaffenangriffs in drastischer Weise vor Augen. Immerhin ermöglichten diese Bilder zumindest die Entsorgung eines Teils der vorhandenen Chemiewaffen durch die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW), zeigen aber auch die Grenzen visueller Politik. Denn wir wissen aus eigener Erfahrung nur allzu gut, dass das Zeigen und Sehen schrecklicher Bilder nicht automatisch oder zwangsläufig Empathie, Solidarität und tatsächliche Hilfe hervorbringt (Moeller 2002; Zelizer 2010). Die Kriege im Irak oder in Afghanistan werden seit vielen Jahren durch Filme und Dokumentationen begleitet, die in der kollektiven Mediathek westlicher Gesellschaften eingelagert werden und dabei nicht nur über die dramatischen Folgen der Kriege für die Zivilbevölkerung erzählen, sondern auch für jene, die sie führen (Heck 2017a, 2020; van Munster 2015). Auch hier konstituieren mediale Repräsentationen politische Diskurse mit, prägen kollektiv geteilte Vorstellungen über „Freund und Feind“, Sinn und Unsinn, Legitimität und Illegalität militärischer Interventionen, zeigen die Ausübung militärischer Gewalt aus der Perspektive der Soldat*innen und verankern die Kriegseinsätze im kollektiven Gedächtnis westlicher Gesellschaften. Wie wir uns in Zukunft an diese Kriege erinnern, wird also auch davon bestimmt, wie sie visuell-medial repräsentiert und inszeniert werden. Auch Staaten und Organisationen, die gemeinhin als Hauptakteure der internationalen Politik gelten, werden erst in und durch kulturelle, d. h. auch visuelle Praktiken sichtbar. Denn wie David Campbell betont, sind politische Akteure wie etwa ein Staat „an artefact of a continual process of reproduction that performatively constitutes its identity“ (Campbell 2003a, S. 57). Folglich wird auch unser Bild global agierender Akteure – seien es NGOs (Orgad 2013) und Protestbewegungen (Bogerts 2016; Gadinger et al. 2019) oder terroristische Gruppen (Spencer 2010) – durch digitale und multi-modale Medien geprägt. Politische Akteure sind dabei nicht nur Objekt visueller Repräsentation durch Dritte, sondern setzen bewusst visuelle Medien ein, um ihr „Image“ zu prägen. Gewaltakteure wie der Islamische Staat nutzen das Internet zur Rekrutierung und Verbreitung ihrer Ideologien (Heck 2017b; Pfeifer und Reder 2017), internationale Organisationen und Staaten investieren in politische Werbekampagnen und die Verbreitung von Info-Videos in sozialen Medien (Hülsse 2009). Auch traditionelle Armeen haben moderne „Image-Kampagnen“ für sich entdeckt, um junge Menschen für den Dienst an der Waffe zu begeistern und das Bild der neuen Soldat*in zu prägen (Brown 2012; Enloe 2015). Hierbei zeigt sich auch eine für die IB relevante Verknüpfung zwischen Visualitäts- und Genderforschung, da Soldat*innenbilder, die auf Facebook

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gepostet werden bestimmte Vorstellungen von Maskulinität und Verhaltensnormen mitdefinieren (Crilley 2016; Shim und Stengel 2017). Visualität wird aber auch da offenkundig, wo sich komplexe Phänomene einer unmittelbaren Beobachtung entziehen. Über Viren wie Ebola, SARS und „Corona“, radioaktive Strahlung oder selbst über den Klimawandel kann ohne die Verwendung visueller Darstellungen überhaupt kein sinnhafter Austausch stattfinden, da sie für uns zunächst unsichtbar bleiben und erst durch technisch voraussetzungsreiche Messungen, Statistiken, Karten und Animationen darstellbar und nachweisbar werden (Lester und Cottle 2009). Solche technischen Bilder, wie sie entstehen, verwendet und gelesen werden, haben bisher in der Politikwissenschaft wenig Beachtung gefunden, obwohl durch sie die Koordinaten der Darstellbarkeit politischer Phänomene definiert werden (Bredekamp et al. 2012). Die IB sind angesichts der aktuellen umwelt-, gesundheits- und sicherheitspolitischen Herausforderungen von teilweise sehr grausamen, geradezu apokalyptischen Bildern dominiert. Aber auch der Frieden und die Hoffnung der Menschen verlangen nach Visualisierung und Sichtbarkeit, haben es aber ungleich schwerer in der Konkurrenz um mediale Aufmerksamkeit (Engelkamp et al. 2020; Heck 2020; Möller 2008, 2017; Möller und Shim 2019). Die interdisziplinäre Auseinandersetzung mit den damit verbundenen praktischen und ethischen Fragen, wie „gute“ Bilder gemacht werden können und was sie zeigen sollen, steht erst noch am Anfang.

Die Macht des Zeigens und Sehens Visualität ist in diesem Buch ein zentraler theoretischer und methodischer Anknüpfungspunkt, da es hier um Diskurse und Praktiken, d. h. um die Macht des Zeigens und Sehens sowie deren performative Effekte geht. Untrennbar mit Visualität ist aber auch die Macht der Verhüllung, des Nicht-Sehens, Versteckens und der Unsichtbarkeit verknüpft (Mirzoeff 2011). Visualität ist also stets im Spannungsfeld zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zu denken, um zu verstehen, was, warum, wie und mit welchen Folgen (nicht) gezeigt und (nicht) gesehen werden kann, darf und soll (Hempel et al. 2010; van Veeren 2018). Folglich richtet sich gerade der politikwissenschaftlich informierte und zugleich kritische Blick auf jene autoritativen Kräfte, die darüber entscheiden, was sichtbar wird und unsichtbar bleibt. Während sich die Politikwissenschaft im Allgemeinen und die IB im Besonderen seit vielen Jahren mit der Analyse politischer Diskurse befasst und dabei in erster Linie sprachliche Bedeutungsaushandlungen und -zuweisungen untersucht, blieb die visuelle Dimension politischer und medialer Kommunikation lange unberück-

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sichtigt. Allenfalls am Rande der Disziplin tauchten Beiträge auf, die auch medial vermittelte Bilder in die Analyse von internationaler Politik integrierten und einer genaueren Betrachtung unterzogen (Campbell 2002, 2004, 2007; Shapiro 1988, 1997). So stellte Michael Williams in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Kopenhagener Versicherheitlichungstheorie bereits 2003 fest: “taking seriously the role of images in the ‚media-saturated environment‘ of contemporary political communications provides a series of fundamental challenges for the analysis of security relations” (Williams 2003, S. 527).

Mit diesen konzeptionellen, methodologischen und praktischen Herausforderungen beschäftigt sich der vorliegende Sammelband. Die Gründe für die anfängliche Dominanz diskurs- und sprechakttheoretischer Zugänge und die gleichzeitige Marginalisierung der Visualität im Zuge der konstruktivistischen Wende in den IB, sind vielschichtig. So lässt sich mit dem Bildwissenschaftler Gottfried Boehm (Boehm 1995) darauf hinweisen, dass Strömungen der Philosophie den Wahrheitsgehalt und die Wahrheitsfähigkeit des Bildes seit je her kritisch gesehen haben. Bilder (können) täuschen, während Sprache und Sprechen Erkenntnis bringe, so die lange Zeit gängige Position. Hinzu kommen für die IB mindestens zwei spezifische Umstände, zum einen die Ein- und Abgrenzung ihres Untersuchungsgegenstandes gegenüber anderen Disziplinen und zum anderen inner-disziplinäre Debatten-Konstellationen, die einer schnellen Öffnung zu visuellen Repräsentationen entgegenstanden. In dem Maße wie die IB als empirische Sozialwissenschaft verstanden wird – was insbesondere im deutsch-sprachigen Raum eine dominante Lesart zu sein scheint – etabliert sich eine gegenstandsbezogene Abgrenzung gegenüber anderen Disziplinen. IB beschäftigt sich mit beobachtbaren Phänomenen grenzüberschreitenden, transund internationalen sowie globalen Handelns sowie den damit verbunden Akteuren, Institutionen und Strukturen. Sprache rückt somit unweigerlich in den Mittelpunkt der Analyse, während Bilder, wenn überhaupt, als „Beiwerk“ betrachtet werden, aber keiner Analyse bedürfen. Die inner-disziplinären Debatten-Konstellationen der 1980er und 1990er Jahre, wie Waever (Waever 1996) anschaulich gezeigt hat, erweiterten zwar das Spektrum epistemologischer und methodologischer Perspektiven in den IB, förderten jedoch gleichzeitig eine stärkere Ausdifferenzierung der Disziplin in Lager (Agathangelou und Ling 2004; Brzoska 2012; Schlichte 2012). Diese Diversität lebt einerseits von einer Öffnung gegenüber anderen Disziplinen, einer Erneuerung theoretischer und methodischer Ansätze sowie einer Erweiterung und Reflektion der zu untersuchenden Gegenstände. Gleichzeitig sind eine disziplinäre Identität und Identifikation, was denn nun „noch“ IB sei, fluider und variabler

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geworden.2 Letzteres führt oft zu alarmistischen Tönen, die eine Fragmentierung und damit verbundene Irrelevanz des Faches beklagen. Diese Diversität ist jedoch auch ein Glücksfall und Voraussetzung für die Öffnung zum Visuellen, da neue Themen, Konzepte und Methoden aufgegriffen und produktiv für die Analyse von Politik gewendet werden. Wir verstehen daher sowohl „Weltpolitik“ als auch „Visualität“ als offene Konzepte, die durch wechselseitige Beziehungen verbunden sind. Die Beschäftigung mit Weltpolitik und Visualität ist daher nicht exklusiver Gegenstand eines Faches, sondern erfordert geradezu einen inter- und trans-disziplinären Zugang jenseits etablierter Grenzziehungen. Medien- und Kommunikationswissenschaftler*innen sowie Soziolog*innen scheinen dies bereits erkannt zu haben, wie Publikationen der letzten Jahre verdeutlichen (Eder und Klonk 2016; Reer et al. 2015). Während gesellschaftswissenschaftliche Nachbardisziplinen schon längst eigene Forschungszweige und Traditionen entwickelt haben, die sich mit den spezifischen Eigenschaften des Visuellen befassen, hinkt die Politikwissenschaft diesen Entwicklungen theoretisch, methodisch und empirisch hinterher. Der daraus resultierende Deutungs- und Kompetenzverlust zeigt sich etwa, wenn ein Kernthema wie gewaltsame Konflikte und deren visuelle Repräsentation primär jenseits politikwissenschaftlicher Forschungskontexte erarbeitet wird. Die Beiträge unseres Sammelbandes greifen diese Lücke auf und bauen Brücken zu Debatten über das Visuelle und Politische, die in Nachbardisziplinen bereits intensiv geführt werden. Visualität ist als eine Machtpraxis zu begreifen, die nicht nur aber auch im Kontext der Weltpolitik von Bedeutung ist und demnach zentrale Frage- und Problemstellungen der IB anspricht. Die meisten Politikbereiche haben ohnehin nationalstaatliche Grenzen überschritten, staatliche und nicht-staatliche Akteure interagieren auf lokaler, regionaler und globaler Ebene, inter- und supranationale Institutionen und nichtstaatliche Organisationen strukturieren die Möglichkeiten und Grenzen globalpolitischen Handelns. Mit dem Begriff der „Weltpolitik“ wird hier der Tatsache Rechnung getragen, dass in diesem Band nicht nur staatliches oder Regierungshandeln jenseits nationaler Grenzen in den Blick genommen wird. So können auch gesellschaftliche Akteure und kulturelle Phänomene berücksichtigt werden, die einen überregionalen Bezug aufweisen. Sicherlich ist der Begriff des Politischen zu komplex, um ihn an dieser Stelle definitorisch zu verorten. Was die

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Dabei gab es bereits vor einigen Jahren vielversprechende Ansätze bezüglich der Analyse visueller Daten in der deutsch-sprachigen Politikwissenschaft. Diese interdisziplinäre Pionierarbeit, so unser Eindruck, ist leider nur auf begrenzte Resonanz gestoßen und erst durch eine Internationalisierung der IB zurückgekehrt. Für wichtige Arbeiten sei etwa verwiesen auf Strübel (2002) und Hofmann (2006).

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Beiträge jedoch mehr oder weniger explizit als „politisch“ begreifen bezieht sich dabei meist auf Fragen nach den Strukturbedingungen sozialen Handelns und den Funktionslogiken gesellschaftlicher Diskurse, die politisches Handeln ermöglichen und begrenzen. Zwischen konsens- und konfliktorientierten Politikbegriffen bewegen sich daher auch die Beiträge dieses Buches, in denen die Autor*innen sich der Bestimmung von „Weltpolitik“ und „Visualität“ auf ihre je eigene Art und Weise nähern. Diese Vielfalt ist erwünscht, um den Blick zu öffnen und Anregungen zu geben, anstatt neue definitorische Grenzen des Sagbaren, Sichtbaren und Erforschbaren zu ziehen. Allerdings wollen wir betonen, dass die Hinwendung zum Visuellen keinesfalls mit einer Abkehr von sprachlicher und verbaler Kommunikation verwechselt werden sollte. In diesem Buch geht es nicht darum, visuelle gegen andere Formen politischer Kommunikation und Repräsentation auszuspielen oder im Sinne eines „Kräftemessens“ zu zeigen, ob nun Bilder oder Worte eine größere Macht im politischen Entscheidungsprozess haben. Vielmehr soll eine Sensibilität für die Eigenart visueller Kommunikation, Medien, Repräsentationen und Artefakte entwickelt werden, um gerade das Zusammenspiel unterschiedlicher Modi der Kommunikation und der daraus resultierenden Bedeutungsgenerierung besser erklären und verstehen zu können. Weil wir Visualität als ein offenes Konzept verstehen, das auf Diskurse und Praktiken des Zeigens und Sehens verweist, ist eine klare Eingrenzung von empirischen Untersuchungsgegenständen, aber auch von theoretischen und methodischen Zugängen, problematisch. Folglich wurde es den Autor*innen des hier vorliegenden Bandes selbst überlassen, welchen thematischen Schwerpunkt, theoretischen Standpunkt und methodischen Zugang sie wählen. Die dabei auftretenden Spannungen zwischen den Beiträgen wurde nicht nur in Kauf genommen, sondern bewusst gefördert, was sich in der abgebildeten Diskussion im Abschlusskapitel in produktiver Weise niederschlägt. Insbesondere die Annahme eines „Eigenlebens der Bilder“ ist eine theoretisch hoch umstrittene Position, die auch von Autor*innen im hier vorliegenden Band kontrovers diskutiert wird. Ungeachtet der theoretischen Differenzen besteht jedoch Einigkeit darin, dass die IB die politische Relevanz und das Machtpotential des Visuellen viel zu spät erkannt hat. In Zeiten sozialer Netzwerke und neuer Medien kann sich ein Band, der den Titel „Visualität und Weltpolitik“ trägt, aber nicht nur um Bilder im engeren Sinne drehen. Film- und Videoaufnahmen lassen sich über das Internet so rasch verbreiten, dass viele Ereignisse in Echtzeit verfolgt werden können. Neben diesen dokumentarischen Bildern, Filmen und Videos existieren aber zahlreiche nicht-dokumentarische Produkte und Medien, die den „Bildatlas“ der internationalen Politik ebenfalls mitprägen. Während Bilder im Sinne von Pressefotos und dokumenta-

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rischen Videos mehr und mehr Aufmerksamkeit erfahren, umfasst Visualität für uns mehr: Diskurse und Praktiken des Zeigens und Sehen verweisen auf jedes Medium und jeden Modus visueller Darstellung und Darbietung, also Fotografien, Spielfilme, Videoclips, Werbeplakate, Cartoons, Memes, Graphic Novels, Skizzen, Grafiken, Gemälde und Skulpturen in analoger und digitaler Form sowie das Gestalten, Entwerfen, Zeichnen, Malen, Fotografieren und Editieren visueller (und textueller) Elemente (Kress 2010). Solch ein multi-medialer und multi-modaler Ansatz ermöglicht es den Autor*innen dieses Bandes, unterschiedliche Formen des Sichtbaren/Unsichtbaren in Beziehung zu Fragen internationaler und globaler Politik zu setzen.

Ästhetik und Ethik des Visuellen Die Rede von der „Macht der Bilder“ ist weit verbreitet und wird gerne bemüht, wenn es irgendwie um Visualität geht. Allerdings bezieht sich die Macht der Bilder in der Politik meist auf fotojournalistische und dokumentarische Bilder und Videos aus Konfliktregionen, denen eine politische Bedeutung oder sogar Wirkung zugeschrieben wird (Koltermann 2017; Maar und Burda 2004). Aber selbst solche Fotografien mit dokumentarischem Ursprung werden immer wieder zum Gegenstand von Deutungskämpfen und somit unweigerlich zum Objekt politischer Diskurse (Ahrens et al. 2014). Allerdings wäre es eine theoretische Verknappung, Bilder lediglich als abbildende Objekte zu sehen, die von ihren Produzenten und Konsumenten nach variablen Maßstäben ge- und missbraucht werden können. Bilder sind mehrdeutig und in ihrem Bedeutungsgehalt ambivalent. Oftmals scheinen Bilder geradezu widerständig und verwehren sich einer allzu eindeutigen oder generalisierenden „Lesart“. Gerade der scheinbar strategische oder propagandistische Gebrauch von Bildern kann zu völlig unvorhersehbaren Konsequenzen führen, wie etwa das ISIS-Video von der Verbrennung des jordanischen Kampfpiloten Muʿādh al-Kasāsba zeigt, was selbst von Anhängern einer radikal-islamischen Ideologie massiv kritisiert wurde. Oftmals wird auch gänzlich auf das Zeigen eines Bildes verzichtet, wie etwa im Falle der Tötung Osama bin Ladens, wo die U.S.-Regierung bewusst die Veröffentlichung von Bildern seines Leichnams vermied (Schlag 2019). Bilder können eine „Eigenaktivität“ entfalten, die sich der Kontrolle des Produzenten völlig entzieht, wie der Kunsthistoriker Horst Bredekamp in seiner Bildakttheorie argumentiert (Bredekamp 2010). Sie können ein Eigenleben mit Wünschen und Bedürfnissen entwickeln, wie der Kulturkritiker William J. T. Mitchell schreibt (Mitchell 2005), aber auch Begehr-

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lichkeiten auf Seiten der Betrachter*innen wecken, die an die Grenzen des ethisch vertretbaren führen oder diese gar überschreiten. Schließlich stellen sich durch die Flut an analogen und digitalen Bildern und Videos ethische Fragen zur Produktion, Darstellung und Gebrauch visueller Daten. Die Medienethik thematisiert dabei insbesondere journalistische Aspekte der Herstellung und Publikation photographischen Materials, das – sofern Personen dargestellt sind – immer Persönlichkeitsrechte tangiert (Isermann und Knieper 2010; Ward 2011). Journalistische Bilder (i. d. R. Fotografien) sind Ausdruck einer professionellen Augenzeugenschaft, die mit der Anwendung bestimmter Regeln (z. B. Nacktheit, Schutz von Kindern und Jugendlichen, gewaltverherrlichend Darstellungen), Konventionen und Genres bei der Herstellung und des Gebrauchs bzw. Abdrucks von Bildern verbunden ist. Der Deutsche Presserat ist eine Institution der freiwilligen Selbstkontrolle der Medien und tritt für die Einhaltung ethischer Standards ein. Doch in Zeiten sozialer Medien und weltweit vernetzter Server, die sich nationalstaatlicher Kontrollen und Selbstbeschränkungen entziehen oder verweigern, stellen sich Fragen nach der Bildethik in einer völlig neuen Dimension. In Redaktionssitzungen ist es üblich, selbst-kritisch auch über den Umgang mit problematischen Bildern zu reflektieren, wie Journalist*innen und Redakteure zu berichten wissen. Wie Leifert (Leifert 2007, S. 148 eigene Herv.) treffend schreibt, wirft „erst der Umgang mit Bildern in der Praxis zwischenmenschlicher Kommunikation (.) Fragen nach dem richtigen Handeln mit Bildern auf“. Wenn jedoch selbst große Medienhäuser ihre Korrespondent*innen nicht mehr in bestimmte Regionen und Gegenden schicken können und stattdessen auf sogenannte Bürgerjournalist*innen angewiesen sind, verändern sich auch die Bedingungen professioneller Bericht­erstattung, da eine Prüfung der Quellen kaum mehr möglich ist. Die wissenschaftlichen Debatten haben sich dabei zumeist auf ethische Dilemmata der Repräsentation von (menschlichem) Leid und Gewalt fokussiert (Chouliaraki 2006; Linfield 2011; Möller 2009; Reinhardt 2007, 2012): Was darf, soll und muss gezeigt und gesehen werden? Können visuelle Darstellungen von Leid und Gewalt Voyeurismus und Indifferenz befördern oder tragen sie zu Anerkennung, Solidarität und gar Mobilisierung bei? Können Bilder selbst Ausdruck von Gewaltpraktiken sein, die politisch und ethisch unterbunden werden sollten? Gerade in jenen Fällen, in denen Gewalt mit dem Ziel ausgeübt wird, die Bilder des vollzogenen Verbrechens zu verbreiten, gerät auch die Betrachtung ethisch fragwürdiger Bilder unter den Verdacht der Komplizenschaft, weswegen nicht nur das Zeigen, sondern auch das Sehen als visuelle Praktik verstanden werden muss, durch den der Bildakt vollzogen wird. Der ethische Verantwortungsbereich wird vor diesem Hintergrund auch auf die Betrachtung des Bildes ausgeweitet.

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Ethische Fragen stellen sich aber nicht nur, wenn Bilder (und andere visuelle Daten) zur Repräsentation gemacht, gebraucht und gesehen werden, sondern auch in der Forschung und Lehre. Welche Bilder zeigen wir im Seminar mit welcher Absicht? Sollen Student*innen auch Bilder sehen müssen, die grausame und brutale Ereignisse zeigen, vielleicht sogar selbst Ausdruck von Gewaltpraktiken sind wie etwa die Folterbilder aus Abu Ghraib oder die Propaganda-Videos des Islamischen Staates? Sicherlich haben einige Leser*innen bereits die Erfahrung gemacht, dass solche Bilder unterschiedliche Reaktionen bei Student*innen hervorrufen und dementsprechend im Seminar oder der Vorlesung thematisiert werden müssen. Auch dort, wo Wissenschaftler*innen schließlich selbst zu Produzent*innen von visuellen Daten werden – angefangen von dem grafischen Schaubild bis zum Video-Artikel – muss gefragt werden, was „wir“ wie zeigen und sehen sollen und was nicht gezeigt werden kann (Wiles et al. 2012). In allen Dimensionen der Herstellung, Darstellung, dem Gebrauch und der Rezeption des Visuellen sind ethische und machtpolitische Aspekte präsent. Bilder sollten daher auch vor dem Hintergrund ethischer Fragen nicht als bedeutungsleere und passive Objekte begriffen werden, die von Akteuren nach Belieben mit jedweder Bedeutung aufgeladen und interpretiert werden können. Bilder wollen etwas, sie bestimmen mit und definieren, was ist. Die Annahme einer Eigenaktivität von Bildern verweist auf den Umstand, dass Bilder ihre Botschaften mitunter auch eigenmächtig kommunizieren, unabhängig davon, welche ursprüngliche Intention der Schöpfer einmal gehabt haben mag und unabhängig davon, ob und wie ein/e Zuschauer*in die Bilder versteht (Heck 2019).

Die Visualisierung von Politik und die Politik der Visualisierung – Konturen eines Forschungsfeldes Wann in den IB damit begonnen wurde, systematischer über den Zusammenhang zwischen visuellen Repräsentationen und (welt-)politischen Fragen nachzudenken, lässt sich schwer rekonstruieren. Eine der ersten größeren Auseinandersetzungen mit dem Begriff der „Repräsentation“ im Kontext politischer Diskurse stellt sicherlich Michael Shapiros Buch „The Politics of Representation“ dar, das bereits Ende der 1980er Jahre erschienen ist und bis heute immer wieder zitiert wird (Shapiro 1988). Shapiro untersucht hierbei unterschiedliche Formen der Repräsentation, wobei er sich ausführlich dem Medium der sozialkritischen Fotografie und deren ideologisierenden Effekten widmet (Shapiro 1988, 124ff). Für den Umgang mit Fotografien gibt Shapiro zu bedenken:

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Shapiro beschreibt hier treffend, dass fotografische Bilder politische Effekte haben (können), indem sie dabei helfen, dominante Diskurse entweder zu reproduzieren oder zu de-naturalisieren. Die sozial-dokumentarische Fotografie diskriminierter gesellschaftlicher Gruppen erinnert uns daran, die Mehrdeutigkeit von Bildern und ihren sich verändernden gesellschaftlichen Gebrauch mitzudenken. Dorothea Langes Fotografie der „Migrant Mother“ (1936) konnte seinerzeit als Sinnbild der Great Depression in den USA gelesen werden. Andererseits reproduzierte das Bild dominante Geschlechterstereotype der „sorgenden Mutter“ und verengte die Armutsfrage auf „weiße Siedler“. Denn durch den Untertitel des Bildes wurde der Eindruck erweckt, es handle sich um eine aus Europa stammende Frau, während Florence Owens Thompson eine Angehörige der Cherokee war (Hariman und Lucaites 2007). Repräsentationsfragen wurden im Lichte des „linguistic turn“ in den IB der 1990er Jahre jedoch primär sprach-philosophisch gewendet und im deutsch-sprachigen Raum auf eine „konstruktivistische Wende“ verkürzt. Während in sprachorientierten Ansätzen die materielle und visuelle Dimension vernachlässigt wurde (Neumann 2002; Williams 2003), konzentrierten sich konstruktivistische Ansätze auf die Erforschung von Kultur(en), Normen und Identitäten. Kultur, so Jetschke und Liese in ihrem Literaturbericht von 1998 in der Zeitschrift für Internationale Beziehungen, werde von den meisten Autor*innen verstanden als „als Bedeutungssystem, Wertesystem oder als Repertoire von Handlungsstrategien“ (Jetschke und Liese 1998, S. 151). Die Frage, wie durch das Sehen und Zeigen sozialer Sinn und Bedeutung hergestellt, Werte vermittelt oder Handlungen ermöglicht werden, spielte jedoch keine größere Rolle. Der Kulturbegriff blieb daher trotz seiner bedeutungs- und wissensbasierten Orientierung erstaunlich traditionell auf sprachliches Handeln, Wertestrukturen und Identitätskonzepte fokussiert (Reckwitz 2000). Auch diskursanalytische und -theoretische Ansätze, die sich auf Michel Foucaults Werk bezogen, blieben mehrheitlich sprachfixiert, obwohl gerade Foucault dem Wandel von Sichtbarkeitsregimen und deren Kontrollmöglichkeiten große Aufmerksamkeit schenkte (Foucault 1980; Hempel et al. 2010).

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Erst die Rezeption post-feministischer, praxistheoretischer und bildwissenschaftlicher Arbeiten, insbesondere Judith Butlers Performativitäts-Ansatz, Pierre Bourdieus Praxistheorie und William J. T. Mitchels Bildtheorie, schärfte den Blick für die nicht-sprachlichen Dimensionen der Herstellung und kontinuierlichen Reproduktion von Wissen, Normen und Ordnungen. Mag die wiederkehrende Rede von einer neuen „Wende“ auch etwas ermüdend sein, so ist der „visual turn“ der Geistes- und Kulturwissenschaften prägend für die Sozialwissenschaften gewesen (Mirzoeff 2011; Moxey 2008). Heute etablierte(re) Forschungszweige der visuellen Soziologie (Raab 2017) und der visuellen Geschichtswissenschaft (Paul 2004) verdeutlichen diese Entwicklungen, welche die Politikwissenschaft und die IB erst verspätet wahrnehmen. Im englischsprachigen Teil der IB beschäftigen sich jedoch seit den 1990er Jahren und verstärkt nach der Jahrtausendwende Wissenschaftler*innen mit dem Visuellen. Beispielhaft lässt sich dies an den Critical Security Studies und der Diskussion der sog. Kopenhagener Schule zeigen (Heck 2018, 2019). Ähnlich wie Williams (2003), spricht Lene Hansen (2000) in ihrem Beitrag The Silent Mermaid’s Silent Security Dilemma and the Absence of Gender, erschienen 2000 in der Zeitschrift Millennium, die Tatsache an, dass Kommunikation auch non-verbal erfolge: “This delineation of discourse is verbal and relatively easily identifiable in is textual form. But it is also a delineation which excludes the potential importance of non-verbal communication. In the context of security politics two forms of nonverbal communication are particularly central: the visual and the bodily. Visual representation has historically involved drawings, photography, and television, but the growth of mass media and real time transmission as well as the advent of the Internet and its interactive possibilities have added to the relative importance of the visual. Yet, while the ‘language’ of the visual cannot be reduced to that of the text, and while the relationship between text and image is worthy of serious reflection, it is the question of the body which pushes the discursive approach most fully to its limits” (Hansen 2000, S. 300).

Während Hansen hier schließlich den Blick auf den Körper richtet (und dann 2011 den Faden wieder aufgreift), so erkennt sie die Bedeutung visueller Repräsentationen explizit an. Roland Bleiker, James DerDerian, Michael Shapiro und David Campbell haben sich seit den 1990er und frühen 2000er Jahren mit solchen visuellen Repräsentationen von Krieg (Shapiro 1988), Hunger und Gewalt (Campbell 2002, 2003c) beschäftigt. Gemeinsames Anliegen war dabei zu zeigen, wie Visualität die Möglichkeitsbedingungen für politisches Handeln sinnhaft erscheinen lässt und somit ermöglicht oder verhindert, d. h. auch Kritik und Reflektion möglich macht. Insbesondere Roland Bleiker trägt mit seiner Proklamation eines „aesthetic turns“ dazu bei, dass sich Teile der IB gegenüber nicht-sprachlichen Formen und

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Formaten von Bedeutungs- und Sinnstiftung öffnen, was neben dem Visuellen auch deren Verknüpfung mit Emotionen beinhaltet (Bleiker 2001; Bleiker und Hutchison 2008). Nicht zu unterschätzen für die Öffnung der IB hin zum Visuellen ist auch die popular culture-Bewegung, die spätestens mit Jutta Weldes’ Aufsatz (und dem folgenden Sammelband) zu Going Cultural: Star Trek, State Action and Popular Culture, ebenfalls in der Zeitschrift Millennium im Jahr 1999 erschienen (Weldes 1999), an Zulauf gewinnt (Nexon und Neumann 2006). Das Spiel zwischen Sichtbaren und Verborgenem, zwischen Praktiken des Sehens und Zeigens ist ein wesentliches Element populärer Medien wie etwa TV-Serien, Spielfilme oder Comics (Cooper-Cunningham 2019). Hier werden nicht nur Geschichten erzählt, sondern wirkmächtige Bilder über Politik, Gewalt, Geschlecht, Freundschaft, Liebe und Verrat „mit allen Mitteln der Kunst“ erzeugt (Switek 2018). Interessant ist jedoch, dass bereits der Begriff „Re-präsentation“ nicht nur eine politische Konnotation hat, sondern auf die visuelle Praxis des Zeigens – Präsentieren – und die Wiederholung bzw. Vermittlung durch ein Medium – das Re – verweist. Die hier versammelten Beiträge teilen eine konstruktivistische und post-positivistische Grundhaltung, die davon ausgeht, dass „Weltpolitik“ erst durch das Wechselspiel von bedeutungsorientiertem Handeln von Akteuren und sinnstiftenden Strukturen konstituiert wird. Weil die politische Welt aber eine gemachte ist (Onuf 2012), befinden sich Akteure und Strukturen im Fluss und bleiben veränderbar, obgleich wir temporäre Manifestationen und Verstetigungen beobachten können. Durch diese geteilte Grundhaltung wird jedoch auch deutlich, was dieser Sammelband nicht zu leisten vermag, nämlich eine epistemologische und methodologische Bandbreite abzubilden, die positivistisch, kausal-analytische und primär rezeptionsorientierte Ansätze umfasst. Allerdings sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass hierzu gerade in den Medien- und Kommunikationswissenschaften zahlreiche Studien bestehen, die sich mit der Wirkung von Bildern und visuellen Medien befassen (Geise und Müller 2015). Insbesondere auf die methodologischen und methodischen Herausforderungen einer Erhebung und Analyse visueller Daten wollen wir im Folgenden kurz eingehen.

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Visuelle Methodologie und Forschungspraxis – eine multidisziplinäre Verständigung und ihre Grenzen Die Frage, wie man denn nun Texte und Bilder auf eine Art und Weise analysiert, die nicht subjektiv, aber dafür verlässlich und für Dritte nachvollziehbar ist, kennen alle Autor*innen dieses Buches nur allzu gut. Der oftmals von Student*innen (und Gutachter*innen) geäußerte Wunsch nach einem klar umrissenen methodischen Werkzeugkasten ist zwar verständlich, da das tatsächliche Forschen am Gegenstand somit einfacher wird. Das Wechselverhältnis von Theorie, Empirie und Methodologie kann auf diesem Wege aber weder problematisiert noch reflektiert werden (Herborth 2011). Der Begriff Methodologie leitet sich aus dem Griechischen ab und bezeichnet die Lehre von den (wissenschaftlichen) Vorgehensweisen. Als Teil der Wissenschaftstheorie dient die Methodologie der Verständigung darüber, welche Vorgehensweisen und Methoden dazu beitragen, Wissen und Erkenntnis zu produzieren. Auch in den IB wird gerne von der wissenschaftstheoretischen Trias der Ontologie (Seins-Lehre), der Epistemologie (Erkenntnis-Lehre) und eben der Methodologie gesprochen (Schlag 2016, S. 68). Oftmals wird die Methodologie jedoch vorschnell auf eine Auswahl der „richtigen“ Methoden und Analysetechniken verkürzt, die dazu beitragen sollen, den Untersuchungsgegenstand in dem Maße handhabbar zu machen, wie Definitionen, Hypothesen und Variablen formuliert und empirische Fälle zur Überprüfung begründet ausgewählt werden. Das (neo-)positivistische Leitbild einer Einheit der Wissenschaften, deren Erkenntnisse auf empirischen Beobachtungen gründen, ist bereits seit den 1970er Jahren verstärkt problematisiert worden. In seinem Buch mit dem programmatischen Titel Against Method betont Paul Feyerabend, dass weder Methoden theorieunabhängig noch Theorien methodenunabhängig seien. Theorien scheitern demnach nicht an der Wirklichkeit, sondern allenfalls an Beobachtungen, die von methodischen Entscheidungen abhängig sind (Schlag 2016, S. 68). Warf Robert Keohane in seiner programmatischen Rede anlässlich der ISA 1988 konstruktivistischen Autor*innen noch vor, bisher kein empirisches Forschungsprogramm formuliert zu haben, so haben die methodischen und methodologischen Beiträge in den letzten 30 Jahren deutlich zugenommen. Zwar bleibt Keohanes Wunsch nach einer empirischen Validierung „des“ Konstruktivismus in vielen Kreisen ungehört oder wird explizit zurückgewiesen, aber Methoden-Fragen gelten bei weiten nicht mehr als exklusives Terrain positivistischer und quantitativer Ansätze. Anna Leander hat darauf hingewiesen, dass Methoden immer einem Ziel dienen und variabel einsetzbar sind: „One does not drill holes with a hammer or fix nails with a drill“ (Leander 2008, S. 12). Dennoch verfügen wir nicht einfach

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über einen wertneutralen Methoden-Werkzeugkasten, in dem wir uns beliebig je nach Aufgabe bedienen können. Denn Methoden sind nicht neutral, sondern selbst performativ, situiert und reflexiv (Aradau und Huysmans 2014) – und helfen uns dabei, manche Dinge sichtbar zu machen während anderes im Verborgenen bleibt.3 Der Standardmethodenwerkzeugkasten, den sich viele Forscher*innen wünschen, ist somit aus mindestens zwei Gründen problematisch: zum einen wird durch die Vorstellung eines festen Repertoires an Methoden nicht nur die Differenz zwischen Theorie und Empirie fortgeschrieben, sondern in eine asymmetrische Beziehung zueinander gesetzt. Während methodengetriebene Forschung sich in immer detaillierteren Forschungsdesigns verliert, entfernt sich eine theoriebesessene Debatte von der Überzeugung, dass Politik auch ein praktisches Handeln ist. Andererseits sind Methoden eben keine objektiven, neutralen Werkzeuge, sondern selbst kon­ stitutiv und somit politisch (Law 2004). Dies bedeutet jedoch nicht, dass all unsere Forschungsergebnisse subjektiv sind, sondern nur, dass es ein fortwährender Prozess ist, Intersubjektivität dadurch herzustellen, dass wir uns als Forscher*innen in unserem wissenschaftlichen Handeln rechtfertigen und kritisieren (Barbehön et al. 2019). Sowohl die Soziologie, die Medien- als auch Kommunikationswissenschaften haben gleichsam weniger Bedenken, Methoden zur Analyse von visuellen Daten zu benennen. Auch hier reicht das Spektrum von hermeneutischen bis zu experimentellen Ansätzen, die sich anhand der traditionellen Pole zwischen verstehend-interpretativen und erklärenden Ansätzen aufreihen. Unser Anliegen mit diesem Sammelband ist es nicht, diese Polarisierung zu reproduzieren oder zu dekonstruieren. Sie scheint uns schlichtweg als wenig hilfreich, wenn es darum geht, zu fragen, wie man Praktiken des Zeigens und Sehens im Kontext globaler Politiken denken und untersuchen kann. Auch wenn Bleiker zur recht darauf hinweist, „the politics of images is far too complex to be assessed through a single method“ (Bleiker 2015, S. 873), so erfordert die Untersuchung von Visualität doch eine Verständigung über mögliche und hilfreiche methodische Zugänge zu ein- oder mehrdimensionalen visuellen Medien. Denn schließlich, so unsere Überzeugung, sollte gezeigt werden, wie durch die autoritative Praxis des Zeigens und Sehens Politik möglich wird und wie durch Politik Un-/Sichtbarkeiten geschaffen werden. Die methodische Debatte zu Bildern und Politik hat in den IB erst begonnen und zeichnet sich durch Vielfalt, Offenheit und Kreativität aus (Bleiker 2015; Hansen 2011; Vuori und Saugmann 2018). Dabei knüpfen Forscher*innen sowohl an etablierte Methoden der Datenerhebung und -auswertung wie etwa Fragebögen und Inhaltsanalyse, diskursanalytische, semioti3

Siehe den englischen Begriff „enlightenment“ (Erleuchtung, Erkenntnis), der eine visuelle Metapher beinhaltet.

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sche und praxistheoretische Ansätze an und erweitern diese um eine Konzeptualisierung des Visuellen. Im Allgemeinen lassen sich methodische Zugänge zum Bild in zeichentheoretische, phänomenologische und kontextbezogene unterscheiden (Bildphilosophie 2014, S. 13). Eine Übertragung dieser Einteilung auf Forschungsansätze in den IB, gerade auch mit Blick auf englisch-sprachige Publikationen, ist jedoch schwierig. Referenzen zur Semiotik und den Visual Studies finden sich dort zwar zahlreich, eine strikte Einteilung in unterschiedliche methodische Schulen existiert jedoch nicht. Vielmehr spiegelt sich hier die Differenz zwischen verstehend-interpretativen und kausal-analytischen Perspektiven wider, welche die IB seit den 1990er Jahren methodologisch prägt. Die hier versammelten Beiträge greifen daher die Vielfalt der methodologischen und methodischen Zugänge auf, erinnern uns aber zugleich daran, dass ein Sammelband kaum alles abbilden kann. In positivistischer Tradition stehende, quantitative und experimentelle Forschungsdesigns fehlen hier.4 Die Fokussierung auf unterschiedliche Zugänge zu Visualität innerhalb konstruktivistischer und post-positivistischer Perspektiven bietet jedoch den Vorteil, Verbindungen zu etablierten Methoden wie etwa der Medien-, Diskurs-, Narrativ- und Metaphernanalyse aufzuzeigen, diese aber zugleich um eine visuelle Komponente zu erweitern. Aus der Hinwendung zum Visuellen ziehen einige Wissenschaftler*innen schließlich die Konsequenz, anstatt nur Bücher oder Aufsätze zu schreiben, Videos und Filme zu produzieren. Cynthia Weber, Bill Callahan, James DerDerian, Costas Constantinou, Debbie Lisle, um nur einige prominente Vertreter*innen zu nennen, nutzen die Möglichkeiten des Fotografierens, Filmens und Editieren, um zu forschen. Visualität wird hier zum einen als (wissenschaftlichen) Methode genutzt und reflektiert. Mit visuellen Mitteln werden Argumente formuliert, Forschungsergebnisse präsentiert und/oder Kritik an aktuellen politischen Entwicklungen geäußert (Elkins 2013). Zugleich werden aber auch neue bzw. alternative Bilder produziert, marginalisierte oder gar unsichtbare Subjektpositionen „ins Licht“ gerückt. Die Diskussion, ob und wie Visualität eine kritische Methode sein kann, steht aber in 4 Im engeren Sinn auf das Bild bezogen bieten solch eine umfassende Übersicht Geise und Müller (2015) sowie Netzwerk Bildphilosophie an. Gerade in den deutsch-sprachigen Kultur- und Sozialwissenschaften gibt es zahlreiche Publikationen, die sich mit Methoden der Bildanalyse beschäftigen. Mit dem Bild ist dabei i. d. R. ein visuelles, reproduktives Medium (analog oder digital) wie etwa eine Fotografie, ein Plakat oder Bewegtbilder (dokumentarisch, fiktional, animiert) gemeint. Der englische Begriff „images“ ist weiter gefasst und wird sowohl wörtlich als auch im übertragenen Sinne verwendet. Die deutsch-sprachigen Bildwissenschaften beziehen sich i. d. R. auf „pictures“ (Boehm, pictorial turn; Mitchell, picture theory). Lediglich Bredekamps Buch „Theorie des Bildakts“ heißt in der englischen Übersetzung „Image acts“.

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den IB noch am Anfang. Denn auch unsere Studienpläne, Promotionsordnungen und Publikationsformate setzen primär auf die Qualifikation des Diskutierens und Schreibens. Dass auch andere Formen des Nachdenkens, Forschens und Schreibens über Visualität und Weltpolitik möglich sind, zeigt der an Schlagworten orientierte Sammelband „Visual Global Politics“ von Roland Bleiker (Bleiker 2018) sowie die Video-Beiträge von Student*innen der LSE aus einem Seminar zu „Visual International Politics“, das von Bill Callahan geleitet wird.5 Die Produktion eines Filmes, die Herstellung einer Fotoserie oder die Kooperation mit Kulturschaffenden, Künstler*innen und visuellen Gestalter*innen erfordert Zeit, oftmals Geld und natürlich Muse. Welchen methodischen und methodologischen Weg Leser*innen dieses Sammelbandes einschlagen wollen, bleibt daher selbstverständlich ihnen überlassen. Zahlreiche Anregungen werden sie hoffentlich bei der Lektüre der folgenden Seiten finden.

Überblick und Lesepfade: zum Gebrauch des Bandes Die Beiträge für diesen Band sind aus einer über zwei-jährigen Kooperation der Autor*innen im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Netzwerkes hervorgegangen. Zu unseren gemeinsamen Workshops haben wir eine Reihe an Expert*innen eingeladen, denen wir zahlreiche Anregungen für die eigene Forschung sowie gewinnbringende Diskussionen verdanken. Da sich sowohl Visualität als auch Weltpolitik durch ein hohes Maß an Diversität und Fluidität auszeichnet, haben wir bewusst keine strenge Auswahl von Themen getroffen, sondern auf die Kreativität und Expertise der hier versammelten Autor*innen vertraut. Eine Reihe der Beitragenden beschäftigen sich schon seit längerem mit dem Visuellen, während andere durch den Austausch im Netzwerk bestehende Forschungsinteresse um eine visuelle Dimension ergänzt haben. Wir sind sicher, dass diese unterschiedlichen Zugänge zu Visualität und Weltpolitik auch für Leser*innen einen gewinnbringenden Einblick bieten. Da dieser Band nicht einem vereinheitlichenden Forschungsdesign folgt, kann jede*r variable Lesepfade wählen. Die zentrale Aufgabe der Beiträge, die in diesem Band zusammengeführt wurden, ist, jenen Forscher*innen Orientierung und Inspiration zu bieten, die bei ihrer Arbeit immer wieder auf visuelle Daten stoßen, dabei aber vor der alles 5 Die Ergebnisse dieser Seminare erscheinen bei https://vimeo.com/channels/ir318 (abgerufen am 1. März 2019).

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andere als trivialen Frage stehen, ob und wie solche Daten in die Analyse integriert werden können. Die hier versammelten Autor*innen bieten keine Blaupausen und Patentrezepte an, liefern aber theoretisch geleitete, methodisch reflektierte und empirisch begründete Beiträge zu aktuellen Debatten über Visualität und Weltpolitik. Ziel des Buches und seiner Beiträge war und ist, Forscher*innen aus der Politikwissenschaft insgesamt aber vor allem in den IB eine praktische Hilfe für den Umgang mit dem Visuellen zu liefern: nicht im Sinne eines allgemeingültigen Forschungsdesigns, sondern als Inspirationsquelle, die zu mehr Kreativität anregt. Dabei gilt es zu beachten, dass die hier vorgeschlagenen Wege zur Untersuchung spezifischer visueller Daten jeweils nur eine Möglichkeit aufzeigen, aber auch alternative Zugänge denkbar wären. Insofern kann das Buch also entweder von den verwendeten Methoden her gelesen werden oder entlang der empirischen Themen. Ausgehend von Klassikern der englischsprachig geprägten Visual Culture Studies widmet sich Lisa Bogerts in ihrem Beitrag dem Visuellen aus einer machtkritischen Perspektive. Wenn Machtfragen eben auch Repräsentationsfragen sind, so Bogerts, ist die Möglichkeit zu zeigen und zu sehen in hohem Maße politisch und damit auch umstritten. Am Beispiel alltäglicher Fehlrepräsentation von Spendenwerbung für die Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe sowie alternativer Kartografien zeigt sie, dass sich die ungleichen Machtverhältnisse zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden in visuellen Repräsentationen und Techniken widerspiegeln. Gabi Schlag diskutiert in ihrem Beitrag die Frage, wie populärkulturelle Repräsentationen von Folter Bestandteil und Ausdruck der konstatierten Krise der Anti-Folter-Norm sind. Während die Verbindung von Populärkultur und politikwissenschaftlichen Lehrkonzepten sich großer Beliebtheit erfreut, plädiert Schlag für ein tiefergehendes Verständnis populärer Kultur als genuin politisch. Die Ambivalenz eines erfolgreichen Hollywood-Films wie Zero Dark Thirty (2012; R: Kathryn Bigelow) zeige sich darin, dass er einerseits sichtbar mache, unter welchen Bedingungen verdächtige Terroristen von Geheimdienstmitarbeiter*innen gefoltert wurden. Andererseits werden diese Taten aber durch die narrative und visuelle Komposition des Films normativ legitimiert, da der Rechtsbruch und eine notwendige Strafverfolgung unsichtbar bleiben. Anschließend thematisieren Anna Geis und Katharina Ristić in ihrem Beitrag, wie der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) seine Legitimität durch die Ansprache unterschiedlicher globaler und lokaler Adressaten mit visuell-sprachlichen Selbstdarstellungen zu fördern versucht. Dabei werde deutlich, dass diese normativen Selbstbeschreibungen des Gerichtshofes und seiner Tätigkeit in den lokalen Medienberichterstattungen über Strafprozesse oft abgelehnt

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Axel Heck und Gabi Schlag

werden. Der ICTY inszeniere sich zwar als überparteiliche „Stimme der Menschheit“, die den Opfern der Jugoslawienkriege zu ihrem Recht verhelfen wolle, hochrangige Täter bestrafe und historische Wahrheiten etabliere, wirke aber kaum transformativ in die Post-Konflikt Gesellschaften des ehemaligen Jugoslawiens hinein. Axel Heck richtet den Blick in seinem Beitrag auf Videospiele, um die (welt-)politischen Dimensionen dieses gesellschaftlich weit verbreiteten Mediums auszuloten. Der Schwerpunkt der Betrachtung liegt vor allem auf der Frage, welches politikwissenschaftliche Erkenntnispotential in einer analytischen Auseinandersetzung mit Videospielen liegt, die Kriege und internationale Gewaltkonflikte thematisieren. Politisch relevant sind kulturelle Erzeugnisse wie Videospiele unter anderem auch, da durch die Re-mediatisierung und pluri-mediale (Erll und Wodianka 2008) Verankerung von Ereignissen kollektiv geteilte und sinnstiftende Erinnerungsnarrative geprägt und stabilisiert, aber auch hinterfragt und gegebenenfalls umgeschrieben werden können (Kansteiner 2009, S. 30). Zudem wird diskutiert, wie Videospiele theoretisiert und methodisch geleitet untersucht werden können. Dies wird insbesondere dann wichtig, wenn die Forscher*innen keine Gaming-Experten sind und folglich auch nicht über eine ausgeprägte Spielpraxis oder die erforderlichen Fingerfertigkeiten verfügen. Während die ersten Beiträge bereits verdeutlichten, dass ein visueller Blick auf klassische Themen der IB – Macht, Normen, Gerechtigkeit und Krieg – gewinnbringend ist, widmen sich Hanna Pfeifer und Christoph Günther der medialen Inszenierung von Kulturgüterzerstörungen des Islamischen Staates (ISIS). Dieser eigne sich einen globalen Kulturdiskurs an, der je nach Kulturgut zwischen unterschiedlichen Adressaten der ikonoklastischen Akte unterscheide. Durch einen Vergleich von zwei Videos lasse sich zeigen, dass ISIS einerseits eine Abgrenzung gegen das Andere durch eine militarisierte Form der Feindbildkonstruktion innerhalb eines Sicherheitsdiskurses verfolge, während andererseits die Zerstörung von Kulturgütern der Purifizierung eines Selbst innerhalb eines Religionsdiskurses diene. Beide Formen der visuellen Identitätsbildung verfolgen, so Pfeifer und Günther, das Ziel, die von ISIS etablierte politische Ordnung zu legitimieren. Kaum ein Thema erfährt derzeit so viel Aufmerksamkeit wie der Klimawandel und Umweltschutz. Praktiken des Zeigens und Sehens, so Delf Rothe, spielen insbesondere für solche Bedrohungen eine wichtige Rolle, die für das bloße menschliche Auge unsichtbar sind und/oder in der Zukunft liegen. Visuelle Technologien helfen, abstrakte Phänomene wie den Klimawandel für die Menschen durch „Rahmungen“ begreifbar zu machen. Anhand eines Informationsvideos des Europäischen Erdbeobachtungsprogramms EU Copernicus zeigt Rothe, wie Umweltsicherheitsgefahren für die politische Bearbeitung der identifizierten Herausforderungen narrativ und visuell konstruiert und verdichtet werden. Mithilfe von Copernicus, so die Moral

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des Narrativs, werde der Einfluss des Menschen auf den Planeten sichtbar und damit kontrollierbar. Bewegte Bilder – Videos, Dokumentationen und Spielfilme – bestehen aus unterschiedlichen Modi, die Bedeutung konstituieren. Stephan Engelkamp, Kristina Roepstorff und Alexander Spencer zeigen in ihrem Beitrag, dass eine visuelle Metaphernanalyse dabei helfen kann, Bedeutungshorizonte multi-modaler Medien strukturiert zu erfassen. Beispielhaft zeigen die Autor*innen anhand des unabhängigen Spielfilms Mango Dreams (2016; R: John Upchurch), wie Frieden durch drei visuelle Metaphern – Heimat, Reise, Brücke – als ganzheitliches Phänomen erzählt wird und sich eben nicht auf einen rein „negativen“ Frieden verkürzen lasse. Soziale Medienplattformen wie etwa Facebook und Youtube prägen heute nicht nur das private Leben, sondern auch die politische Öffentlichkeit und ihre Debatten. Frank Stengel und David Shim diskutieren in ihrem Beitrag eine von der Deutschen Bundeswehr in Auftrag gegebene Youtube-Serie, die den Alltag von jungen Rekrut*innen darstellt. Stengel und Shim stellen die Frage, welche Form militarisierter Maskulinität in „Die Rekruten“ produziert werde und wie diese zur Legitimität und Attraktivität der Bundeswehr als Arbeitgeber beitrage. Einerseits operiere „Die Rekruten“ mit der zu erwartenden Vermittlung von militärischen Werten wie Disziplin, Durchhaltevermögen, hierarchische Ordnung und Stärke. Andererseits verdeutliche die Serie, dass in der Bundeswehr auch Platz für Individualität, Freiraum und Vergnügen ist. Nicht nur populäre Medien wie Youtube und Kinofilme, sondern auch künstlerische Auseinandersetzungen und Positionierungen sind eine wichtige Quelle unserer Reflexion über Weltpolitik. Der Fotograf Edmund Clark hat in seinem Projekt „Terror Incognitus“ verlassene Schauplätze des „Krieges gegen den Terror“ besucht und in ihrer vermeintlichen Harmlosigkeit fotografiert. Frank Gadinger nähert sich den ausgestellten Arbeiten von Clark aus einer praxistheoretischen Perspektive. Die visuelle Strategie der Kritik von Clark, so Gadinger, ist als Form der Kritik besonders wirkungsvoll, denn sie erzeuge ein Gefühl des Unbehagens und der Mitverantwortung in den Betrachter*innen, ein unmenschliches System grenzenloser Überwachung und paranoider Kontrolle stillschweigend zu billigen. Gerade der künstlerische Zugang, der sich einem dokumentarischen Wahrheitsideal verweigere, könne durch den Bedeutungsüberschuss eine emanzipatorische Wirkung entfalten und arbeite einer visuellen Abstumpfung durch Bilder explizit gezeigten menschlichen Leids entgegen. Neben diesen thematisch-fokussierten Einzelbeiträgen, die einen je eigens entworfenen methodischen Ansatz verfolgen, greift das Schlusskapitel die übergeordnete Frage nach der Forschungspraxis wieder auf. Da dieser Sammelband in erster Linie Anregungen bieten möchte, haben wir auch für das abschließende Kapitel

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Axel Heck und Gabi Schlag

eine alternative Form gewählt. Das Schlusskapitel ist als eine (nieder-)geschriebene Diskussion zwischen den Autor*innen verfasst. Alle Autor*innen wurden gebeten, zu einzelnen Fragen Stellung zu beziehen, die sich aus unserer Sicht regelmäßig bei der Erforschung visueller Materialien stellen. Da wir in unseren gemeinsamen Diskussionen immer wieder an die Grenzen des sprachlich Sagbaren gestoßen sind, hat der Künstler Wael Toubaji einige Aspekte unserer Diskussion für diesen Sammelband mit Unterstützung von Lisa Bogerts visualisiert. Wir hoffen, dass auch dies ein Anstoß sein kann, mehr Kreativität in den IB zu wagen.

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Zusammenfassung

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Visual Culture, Ideologie, postkolonial, Rassismus, Weltpolitik.​

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Schlag und A. Heck (Hrsg.), Visualität und Weltpolitik, Horizonte der Internationalen Beziehungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29971-2_2

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Lisa Bogerts

Einleitung*1

Ob wir Politik für richtig oder falsch halten, ist davon beeinflusst, wie sie in gesellschaftlichen Diskursen dargestellt und verhandelt wird. Das Wissen über die Welt, unsere Sinnzuschreibungen und darauf aufbauende Identitäten bilden die Basis für unsere politischen Meinungen und Handlungen (Doty 1996, S. 5; Duncombe 2015). Politik wird sowohl sprachlich als auch durch Bilder vermittelt, die uns nicht nur in der institutionellen, ‚hohen‘ Politik, sondern gerade auch im Alltag begegnen – von Nachrichtenmedien über Kinofilme und Netflix-Serien bis zu Memes, Fotos und Videos, die wir auf Twitter, Facebook oder Instagram teilen. Nach Roland Bleikers (2001) Aufruf, den visuellen Ausdrucks- und Darstellungsformen internationaler Politik mehr Beachtung zu schenken und ästhetisch inspirierte Konzepte anzuwenden, machten Forscher*innen der Internationalen Beziehungen (IB) Ansätze aus der Kommunikationswissenschaft, der Kunstgeschichte und aus den Visual Culture Studies nutzbar (Hansen 2014, S. 5). Visual Culture ist ein Forschungsfeld, das gegenstandsorientiert verschiedene Disziplinen zusammenführt, um visuelle Medien und das Sehen als kulturell erlernte soziale Praxis in ihren politischen, sozialen und ökonomischen Zusammenhängen zu untersuchen (Mitchell 2008, S. 314, 262). Sie untersucht verschiedene Aspekte eines Bildmediums: Im Mittelpunkt steht entweder das Bild an sich und was es uns über die es umgebende Gesellschaft sagt, die Wahrnehmung des Publikums oder die Zirkulation von Bildern durch verschiedene Institutionen und soziale Räume, gerade im Kontext der Globalisierung (Sturken und Cartwright 2001, S. 6). Obwohl die Ansätze und disziplinären Hintergründe der Visual-Culture-Forschung sehr breit gefächert sind, finden drei Aspekte in ihren Publikationen besondere Aufmerksamkeit: die grenzüberschreitende Verbreitung von Bildern in einer globalisierten Welt (vgl. Pfeifer und Günther in diesem Band), der alltägliche Bildkonsum und Populärkultur (vgl. Heck in diesem Band) sowie die Einbettung von Bildern in Machtstrukturen bzw. -beziehungen. Politische Machtpraktiken äußern sich häufig in Alltagsbildern, dort wo wir (Welt-)Politik nicht unbedingt erwarten und bewusst wahrnehmen. Daraus ergeben sich auch Anknüpfungspunkte für die IB und verwandte Felder wie die Friedens- und Konfliktforschung. Allein schon, weil internationale Politik und Konflikte nicht nur massenmedial vermittelt (Eder und Klonk 2016, S. 4; Mirzoeff 2009, S. 4), sondern auch beeinflusst werden, wenn nicht gar entschie* Für hilfreiche Anregungen und Kommentare zu diesem Beitrag danke ich Michaela Zöhrer, Carolin Philipp, Ghiath Al-Jebawi, Hanna Pfeifer und den Mitgliedern des DFG-Netzwerks Visualität und Weltpolitik, insbesondere Gabi Schlag und Axel Heck.

Weltanschauungen

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den, können wir die Wirkungsweisen visueller Medien nicht ignorieren. Zudem wird ein Verständnis von Weltpolitik gestärkt, das nicht nur institutionelle und inter-nationale, also zwischenstaatliche Politik als bedeutsam ansieht, sondern auch Alltagskultur als einen Ort anerkennt, an dem Politik ausgehandelt wird und die Menschen wirklich betrifft, bewegt und prägt. Wer was zeigen kann, wer was sieht und wer wie gesehen wird, hängt von gesellschaftlichen Machtpositionen ab (Sturken und Cartwright 2001, S. 10). Wie etwas oder jemand dargestellt, also repräsentiert ist, obliegt denjenigen, die die Macht haben Bilder zu produzieren. Die in der Visual Culture untersuchten Machtbeziehungen offenbaren insbesondere durch die Repräsentationskraft von Bildern einen politischen Charakter. Bilder prägen unser Bild davon, wie die Welt beschaffen ist und somit – im wahrsten Sinne des Wortes – unsere Weltanschauungen. Bilder vermitteln und prägen Werte und Ideologien, oft versteckt und meist unbewusst. Dennoch gehen die meisten Visual-Culture-Ansätze nicht von allgegenwärtigen und unüberwindbaren dominanten Machtstrukturen aus, die wenig Raum für sozialen Wandel lassen. Sie beleuchten explizit auch Taktiken einer ‚Gegenmacht‘, eines visuellen Widerstands. Macht bedeutet nicht nur Dominanz oder Herrschaft, sondern auch Widerspruch und Protest. Die Sinngebung der Welt findet nicht durch passive Konsument*innen von Bildern statt, sondern durch aktive Nutzer*innen und (potenzielle) politische Aktivist*innen, die bestehende (Un-)Sichtbarkeitsregime infrage stellen und neu verhandeln (Adami 2016, S. 73). In diesem Beitrag argumentiere ich, dass uns eine Perspektive des Zeigens, des Sehens und Gesehenwerdens dabei helfen kann, Machtbeziehungen – ein Kernthema der Politikwissenschaft – zu verstehen. Ein solcher Blick auf internationale Politik und ihre alltäglichen Repräsentationen (Doty 1996, S. 19) erweitert unser Verständnis davon, wie Sinn und Identitäten konstruiert werden. Dieses erste Kapitel des Sammelbandes soll einen Einblick in verschiedene Machtverständnisse in den ‚Klassikern‘ der Visual Culture geben, wobei ich mich auf theoretisch-konzeptionelle Ansätze konzentriere (Abschnitt 2). Dabei berücksichtige ich vor allem jene Ansätze, die visuell vermittelte Politik als einen Antagonismus zwischen Macht und Gegenmacht verstehen und somit auch Widerstandsmöglichkeiten aufzeigen. Wo sich diese Orte der Gegenmacht eröffnen, hängt davon ab, wie man die Macht des Visuellen versteht. Daher arbeite ich zunächst Anknüpfungspunkte zu Machtverständnissen in den IB heraus (Abschnitt 3.1). Um konkrete Schnittmengen aufzuzeigen, stelle ich Beispiele visueller Repräsentationspolitik aus den globalen Nord-Süd-Beziehungen vor, die ungleiche Machtbeziehungen widerspiegeln und reproduzieren, aber auch Gegenvisualität provozieren (Abschnitt 3.2). Da ich Macht vor allem als Macht der Repräsentation verstehe, wähle ich ein Beispiel für die Fehlrepräsentation in der politischen Praxis, nämlich Spendenwerbung für

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Entwicklungszusammenarbeit (EZ) und Humanitäre Hilfe (Abschnitt 3.2.1), und eines für die Reproduktion solcher Repräsentationen in der IB-Forschungspraxis, nämlich die Nutzung visuellen Kartenmaterials (Abschnitt 3.2.2). Die Schlussfolgerungen fasse ich in einem Fazit zusammen.

2

Visual Culture, Macht und Gegenmacht

2.1

Visual Culture als Interdisziplin

Die Bezeichnung Visual Culture lehnt an das Forschungsfeld der Cultural Studies an, deren Zentrum ab den späten 1960ern das Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) um den jamaikanisch-britischen Soziologen Stuart Hall in Birmingham wurde. Die Cultural Studies waren medienwissenschaftlich geprägt, untersuchten aber interdisziplinär und zumeist mithilfe von marxistischen und poststrukturalistischen Ansätzen Alltags- und Populärkultur, insbesondere im Hinblick auf die Repräsentation gesellschaftlich marginalisierter Gruppen in den Massenmedien. Dabei ging es auch um die Frage, „[…] how the subjective field of vision itself is produced through sexual, racial and gendered difference“ (Evans und Hall 1999, S. 314). Das erklärte Ziel war es, Konsument*innen mit Werkzeugen dafür auszustatten, durch Medien und Alltagskultur die Gesellschaft deuten und verstehen zu können (Sturken und Cartwright 2001, S. 2–3). Mit einem stärkeren Fokus auf visuelle Medien etablierte sich ab Ende der 1990er Jahre auch die Visual Culture.1 Ähnlich wie in den Cultural Studies bezieht sich der Kulturbegriff hier auf symbolische Formen, soziale Praktiken und Prozesse, die es Menschen ermöglichen, der sie umgebenden Welt Sinn zu verleihen sowie diese Sinnzuschreibung auszudrücken und untereinander auszuhandeln. Während sich das visual in Visual Culture also auf die Sinnproduktion aus visuellen Repräsentationen der Welt bezieht, verengt sich das culture explizit nicht auf Dinge oder Kulturerzeugnisse im Sinne von ‚Hochkultur‘. Vielmehr bezieht sich Kultur hier auf Praktiken und Prozesse der gesamten menschlichen Lebensweise, also auch Alltags- und Populärkultur. Sie steht nicht im Plural, also nicht in Abgrenzung von anderen ‚Kulturen‘, als angeblich in sich einheitliche Systeme, die in einer bestimmten Handlungsweise ihrer exklusiven ‚Mitglieder‘ resultierten. 1 Siehe entsprechende Einführungswerke (Mirzoeff 1999; Sturken und Cartwright 2001; Walker und Chaplin 1997) und Reader (Carson und Pajaczkowska 2001; Evans und Hall 1999; Jones 2002; Mirzoeff 1998).

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Eher gilt sie als Repertoire oder tool kit von Symbolen, Geschichten, Ritualen und Weltanschauungen, aus dem soziale Akteure auswählen, um ihre Handlungen und Identitäten abzuleiten (Swidler 1986, S. 273, 277; s. a. Hannertz 1969, S. 186–88). Forschende im Bereich Visual Culture betonen, der disziplinenübergreifende Eklektizismus des gegenstandsorientierten Forschungsfeldes führe das Beste der analytischen, methodischen und epistemologischen Ansätze, Techniken und Argumente mehrerer Disziplinen – wie der Kunstgeschichte, Medien- und Kommunikationswissenschaft, Soziologie, Feministischen Theorie, Filmwissenschaft und Psychoanalyse – zusammen (Schirato und Webb, 2004, S. 10). Ihre Vertreter*innen sehen ihre Arbeit als ein inhärent interdisziplinäres Projekt an, das die begrenzende – und im wörtlichen Sinne disziplinarische – Wirkung der Disziplinen (Steyerl 2010) hinter sich lässt (Mirzoeff 1999, S. 4; Walker und Chaplin 1997, S. 1). Gleichzeitig heißt das aber auch, dass sich dieses Forschungsfeld seine Ansätze und Werkzeuge überwiegend aus den es prägenden Disziplinen ‚leiht‘ (Fuery und Fuery 2003, S. xiii; Walker und Chaplin 1997, S. 1). Im Folgenden sind also nicht nur genuine Ansätze der Visual Culture zu erwarten. Vielmehr führt dieses Feld implizite oder explizite Bildbezüge aus bestehenden theoretischen oder methodischen Ansätzen zusammen und bezieht sie auf ihre Fragestellungen der Bildanalyse. Letztendlich ist Visual Culture nicht als Disziplin, sondern vielmehr als „Interdisziplin“ (Mitchell 2005, S. 356) zu verstehen. Für Bleiker macht sie gerade das so wertvoll für die IB: „The dilemmas that currently haunt world politics, from terrorism to raising inequalities, are far too serious not to employ the full register of human intelligence to understand and deal with them“ (Bleiker 2001, S. 529). Visual Culture beruht auf der Überzeugung, dass ein analytisches Verständnis von Bildern nicht ‚Spezialist*innen‘ wie Kunsthistoriker*innen vorbehalten, sondern für alle diejenigen wichtig ist, die die Zunahme von visueller Kommunikation tagtäglich erleben (Sturken und Cartwright 2001, S. 4–5). Angesichts audiovisueller Medien und anderer Formate wird das Sehen dabei jedoch nie als alleinstehend betrachtet, sondern als ein multimodales Phänomen, das sowohl mit anderen Sinnen (z. B. Hören) als auch mit anderen Zeichensystemen (z. B. Texten) interagiert (Fahlenbrach et al. 2014; Mirzoeff 2009, S. 4).

2.2

Macht und Gegenmacht in der Visual Culture

Jeden Tag wenden wir unbewusst die soziale Praxis des Sehens an, um die Welt um uns herum zu deuten (Sturken und Cartwright 2001, S. 10). Wir können die Welt nur durch Repräsentationssysteme sehen und interpretieren, deren Konventionen wir kulturell erlernen. Genau wie sprachlich-linguistische Zeichen, bilden auch

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visuelle Zeichen nicht die eine vorab bestehende Realität der materiellen Welt ab, sondern organisieren, konstruieren und mediatisieren unser Verständnis davon. Die ‚Macht der Bilder‘ rührt vom Evidenz- und Naturalisierungseffekt des Visuellen, der Bildern eine scheinbare Objektivität und somit wichtige Rolle in Wahrheits- und Wissensdiskursen verschafft (Schade und Wenk 2011, S. 98, 103): „Was evident ist kann man ‚sehen‘ (videre) […] man weiß etwas mit Sicherheit, weil man es gesehen hat“ (Kamecke 2009, S. 11). Da Bilder aber immer nur Repräsentationen der Welt und somit beeinflussbar sind, muss ihre Beeinflussbarkeit innerhalb von Machtverhältnissen und Ideologien berücksichtigt werden: “To explore the meanings of images is to recognize that they are produced within dynamics of social power and ideology. Ideologies are systems of belief that exist within all cultures. […] Our ideologies are diverse and ubiquitous; they inform our everyday lives in often subtle and barely noticeable forms. One could say that ideology is the means by which certain values […] are made to seem like natural, inevitable aspects of everyday life. […] Images and media representations are some of the forms through which we persuade others to share certain views or not, to hold certain values or not” (Sturken und Cartwright 2001, S. 21).

Marita Sturken und Lisa Cartwright verstehen Ideologie als Werte und Überzeugungen, mithilfe derer Menschen die sozialen Strukturen des Alltags interpretieren – von individueller Freiheit und Fortschritt über romantische Liebe und das Verständnis von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ bis zu Nationalismus2 (Sturken und Cartwright 2001, S. 21–22). Ideologien wirken oft subtil und erscheinen als gegeben, und nicht als (von Menschen) gemacht: „[…] societies function by masking their ideologies as ‘natural’ systems of value or belief. As a consequence, it is easier for us to recognize ideologies of other times and cultures than within our own“ (Sturken und Cartwright 2001, S. 51). Ideologien werden auch durch Bilder vermittelt. Anlehnend an die Ideologieverständnisse Antonio Gramscis und Louis Althussers werden sie von gesellschaftlichen Institutionen – von politischen Parteien über Religions- und Bildungseinrichtungen bis zur Werbe- und Unterhaltungsindustrie – eingesetzt, um die Gesellschaft zu regulieren (vgl. Gramsci 1971; Althusser 1970; in Evans und Hall 1999, S. 319, 321). Bilder sollen helfen, Werte und Verhalten zu kategorisieren und sie somit entweder zu rechtfertigen oder zu delegitimieren (Sturken und Cartwright 2001, S. 22). Ein ähnliches Ideologieverständnis hatte auch Guy Debord, der vor den Pariser Mai-Aufständen die Gesellschaft des Spektakels (1967) und die Macht der Konsum2 Zur identitätsbildenden Wirkung von Nationalsymbolen und -flaggen s. Flacke (2011) und Fleckner (2011).

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kultur reflektierte. Debord kritisierte, dass direkte zwischenmenschliche Interaktion und aktives, kritisches Denken durch reine Repräsentationen, durch eine passive Vermittlung mithilfe von Bildern und Waren – dem ‚Spektakel‘ – abgelöst worden seien (Debord 1978, These 1 und 4). Wichtiger als das ‚Sein‘ sei also nicht mehr nur das ‚Haben‘, sondern vielmehr das ‚Erscheinen‘ im Sinne seiner kapitalistischen Verwertbarkeit (Debord 1978, Thesen 5 und 17). Am offensichtlichsten zeige sich das Spektakel in Form der – keineswegs neutralen – Massenmedien, durch die kapitalistische Eliten und der moderne Staat Machtmittel konzentrierten und die Gesellschaft steuerten: „[…] wenn die Verwaltung dieser Gesellschaft sowie jeder Kontakt zwischen den Menschen nur mittels dieser Macht augenblicklicher Kommunikation stattfinden können, ist dafür der Grund, daß diese ‚Kommunikation‘ wesentlich einseitig ist […]“ (Debord 1978, These 24). Um sich dem Spektakel zu widersetzen, schlugen Debord und die Intellektuellen- und Künstlerbewegung Situationistische Internationale Gegenmaßnahmen vor. Für eine revolutionäre Neuordnung der Gesellschaft mithilfe von Kunst und Alltagspraktiken setzten sie etwa die subversive Taktik des détournement ein: Bestehende ästhetische Formen sollten umgedreht und ironisch rekontextualisiert werden, um sich kulturelle Symbole anzueignen und die als hegemonial betrachtete Kommunikation – wie Werbung oder Mainstream-Medien – zu unterwandern (Debord 1957; Situationniste Internationale 1958). Eine spätere Form des détournement ist etwa das Adbusting, also das Verfremden von Werbe- oder Wahlkampfplakaten, um ihre intendierte Botschaft gegen die Produzent*innen zu richten. Das Stören von hegemonialen Repräsentationen sah auch Stuart Hall als wirkungsvolle Taktik an, da es immer in der Hand der – keineswegs passiven – Zuschauenden liege, wie sie das Vermittelte interpretierten. Hall (1993) betonte, dass Zeichen nicht nur von Produzentenseite kodiert, also mit Bedeutung aufgeladen, sondern auch von Rezipient*innen dekodiert, also entschlüsselt werden. Man muss demnach nicht mit der intendierten, ‚dominant-hegemonialen‘ Lesart übereinstimmen, sondern kann der gesandten Botschaft bzw. der ihr innewohnenden Ideologie widersprechen, sie anders als gewollt interpretieren oder sie einfach ignorieren. Neben diesem „oppositional reading“ (Hall 1993, S. 103) bzw. „oppositional looking“ (Sturken und Cartwright 2001, S. 63) können Rezipient*innen auch zwischen totaler Übereinstimmung und Ablehnung verhandeln, zum Beispiel indem sie sich die Zeichen – etwa durch humoristische oder parodische Interpretationen – so aneignen, dass sie die eigene Lesart unterstützen (Sturken und Cartwright 2001, S. 57–58). Dieses Verständnis von Repräsentation durch Zeichen, deren Ver- und Entschlüsselung sowie Aneignung lehnt an die Zeichenlehre, die Semiotik an. Mit semiotischem Vokabular, in dem neutrale Grundbedeutungen von Zeichen als

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Denotationen und subjektive, assoziative und emotionale Bedeutungen als Konnotationen bezeichnet werden, könnte man sagen: „Ideologies are […] connotations parading as denotations“ (Sturken und Cartwright 2001, S. 22). Dies wirft wiederum die Frage auf, wie sich die Denotationen und Konnotationen visueller Zeichen unterscheiden können, das heißt durch welche stilistischen Mittel und Apparate sie ihre Machtwirkung auf den Betrachter entfalten. Anlehnend an die Kunstgeschichte und die (politische) Ikonografie (Warnke et. al. 2011) rücken verschiedene Ansätze der Visual Culture konkrete Stilelemente wie Farbe, Komposition oder Perspektive von Bildern in den Vordergrund. Der Historiker Martin Jay (1998) etwa sieht die in der Renaissance als künstlerische Revolution gefeierte Zentralperspektive als das dominante visuelle Machtmittel dieser Epoche – als ‚skopisches Regime‘ – an, da sie Betrachter*innen eine rationale und wissenschaftliche Weltsicht vorspiele, die die Realität objektiv erfassen und wiedergeben könne (s. a. Berger 1977 [1972], S. 16–17). Die Idee des skopischen Regimes geht auf den Filmtheoretiker Christian Metz (1975) zurück, der unter Rückbezug auf die Psychoanalyse argumentierte, dass in verschiedenen historischen Epochen ein bestimmtes sensorisches Regime hegemonial gewesen sei. Für das zu seiner Zeit dominante skopische Regime hielt er den Kinofilm (cinematic apparatus), der durch die kinotypische Sehsituation, das Ambiente des Kinoerlebnisses (dunkler Saal, starker Sound etc.) und die filmtypische Darstellungsweise die Verbreitung von Ideologien erleichtere (Sturken und Cartwright 2001, S. 73). Der Voyeurismus des Kinos drücke sich darin aus, dass die Zuschauer*innen das dargestellte Abwesende begehrten und auf die Rolle der passiven Konsument*innen reduziert würden (Mirzoeff 1999, S. 11): „[…] the viewer suspends disbelief in the fictional world of the film, identifies not only with specific characters in the film but more importantly with the film´s overall ideology through identification with the film´s narrative structure and visual point of view […]“ (nach Sturken and Cartwright 2001, S. 72). Dieser psychoanalytisch inspirierte Ansatz schließt an das Konzept des zum Objekt machenden Blicks (‚the gaze‘) an, der eng mit Voyeurismus und Fetischismus zusammenhängt. Die normierte und normierende Macht des Blicks zeigt sich in verschiedenen Machtapparaten, vom medical gaze (Foucault 1963) über den colonial gaze (Bhabha 1983), den postcolonial gaze (Said 1978) und den imperial gaze (Kaplan 1997) bis zum widerständigen oppositional gaze (hooks 1992) der Objektifizierten selbst. In feministischen Theorien wurden schon früh die ideologischen und politischen Machtwirkungen der (Fehl-)Repräsentation von Frauen in der bildenden Kunst, in Filmen und in der Werbung untersucht (Mulvey 1999 [1975]; Nochlin 1971; Williamson 1978). Der sogenannte male gaze degradiert Frauen zum Objekt des männlichen Blicks und schreibt ihnen restriktive kulturelle Attribute zu, nämlich „mother or sex symbol, virgin or vamp“ (Sturken und Cartwright 2001, S. 40,

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76). In ihrer psychoanalytischen Analyse patriarchaler Ideologievermittlung beim Kino-Erlebnis beleuchtete Laura Mulvey (1999 [1975]) u. a. den Hollywood-Film, in dem die Frau oft als passives, fetischisiertes Sex-Objekt und somit als „Spektakel“ für den voyeuristischen (männlichen) Blick diene, während der aktive Mann (Handlungs-)Macht repräsentiere und die narrative Handlung forttreibe (Mulvey 1999 [1975], S. 839). Kurz gesagt, mit den Worten John Bergers: „[…] men act and women appear“ (Berger 1977 [1972], S. 47). Mulvey erklärt die Magie von Hollywood mit der „Schaulust“ nach Sigmund Freud: „As an advanced representation system, the cinema poses questions of the ways the unconscious (formed by the dominant order) structures ways of seeing and pleasure in looking“ (Mulvey 1999 [1975], S. 833). Ähnlich der postkolonialen Theorie und Kritischen Weißseins-Forschung, die sich auch mit einem (visuellen) Othering als Projektion rassifizierter Diskurse beschäftigt (Evans und Hall 1999, S. 1), fordern feministische Arbeiten die Macht zur Selbstrepräsentation und kritisieren asymmetrische Repräsentationspolitiken, die mit einer materiellen Macht-Ungleichheit einhergehen. Darin wird die Kategorie des Weißen Mannes als unmarkierte Norm angesehen, die die Macht zu sehen und zu repräsentieren beansprucht (Haraway 1992, S. 188). Diese Visualisierung sozialer Differenz theoretisierte u. a. Donna Haraway, wie Gillian Rose erläutert: “She argues that what this visuality does is to produce specific visions of social difference – of hierarchies of class, race, gender, sexuality, and so on – while itself claiming not to be part of that hierarchy and thus to be universal. It is because this ordering of difference depends on a distinction between those who claim to see with universal relevance, and those who are seen and categorised in particular ways, that Haraway claims it is intimately related to the oppression and tyrannies of capitalism, colonialism, patriarchy and so on” (Rose 2016, S. 13–14).

Dieser Ansatz baut auf dem Foucault´schen Verständnis auf, dass Repräsentationen bzw. Ideologien in Form von (visuellen) Diskursen durch Institutionen geprägt und verbreitet werden. Nach Michel Foucault produzieren Diskurse Wissen, mit dem sie soziales Verhalten indirekt regulieren: „[…] knowledge is always implicated in power and power implies limits on what can be seen and shown, thought and said“ (Evans und Hall 1999, S. 311). Foucault untersuchte die Macht des Visuellen einerseits am Beispiel des menschlichen Körpers, der als normal oder ‚abnormal‘ bzw. krank kategorisiert (Foucault 1976) und unterworfen wird, z. B. durch zur Schau stellende, öffentliche Bestrafung (Foucault 1975) (vgl. Fuery und Fuery 2003, S. 16). Andererseits thematisierte er die visuelle Überwachung in Jeremy Benthams Panoptikum, dem ‚idealen‘ Gefängnis, das allein durch die allgegenwärtige Möglichkeit des Gesehenwerdens zur (Selbst-)Disziplinierung der Gefangenen beitrage (Foucault 1975). Dieser Zustand diente Foucault als Metapher für die zunehmende

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Überwachung und Selbstdisziplinierung von sozialen Subjekten und für subtile Herrschaftsformen in unserer Gesellschaft: „For the governed individual, relations of power and knowledge imposed on the visual image are seductive and the subject is the one who is subjugated and objectified“ (Fuery und Fuery 2003, S. 2). Visuelle Diskurse vermitteln Normen darüber, wie etwas ‚zu sein hat‘, und beeinflussen somit unsere Selbst-, Fremd- und Feindbilder sowie unser Handeln. Die Macht bzw. das Privileg, diese Bilder zu produzieren, obliegt Foucault zufolge den Institutionen (institution-as-state), gegen deren Dominanz das Individuum in seiner Subjekt-Werdung ankämpfen muss (Fuery und Fuery 2003, S. 3). In der Visual Culture wird (zumindest der späte) Foucault oft so interpretiert, dass dieser Kampf gegen Dominanz, gegen Ausbeutung und Unterwerfung nicht aus der Perspektive der Macht, sondern in der Logik einer potenziellen Gegenmacht, eines Widerstands gesehen werden sollte (Malmvig 2016; Fuery und Fuery 2003, S. 1). Einige Vertreter*innen der Visual Culture sehen dieses Ringen zwischen Macht und Widerstand als elementaren Gegenstand des Forschungsfeldes an. So versteht Nicholas Mirzoeff das Forschungsfeld per se als Infragestellung einer dominanten Visualität: „Such a history of visual culture would highlight those moments where the visual is contested, debated and transformed as a constantly challenging place of social interaction and definition in terms of class, gender, sexual and racialized identities“ (Mirzoeff 1999, S. 4). Die Forschung solle daher nicht nur das alltägliche visuelle Erleben priorisieren. Ihre Aufgabe sei es sogar ausdrücklich, die Ambivalenzen, Zwischenräume und Widerstandsorte postmodernen Alltagslebens aus der Sicht der Konsument*innen der Massenkultur und -medien zu betrachten (Bogerts 2017; s. a. Canclini 2013; Mirzoeff 1999, S. 3, 7, 9). Darauf aufbauend solle sie Möglichkeiten einer Gegenvisualität ausloten, die die Autorität einer dominanten Visualität infrage stellt und Alternativen anbietet zur gängigen visuellen Praxis, soziale Subjekte zu kategorisieren, zu segregieren und diese Abgrenzung schließlich zu ästhetisieren, um sie natürlich und gut erscheinen zu lassen (Mirzoeff 2011, S. 24–25, 29). Ähnlich wie Stuart Hall schließt auch Mirzoeffs Betonung der Ambivalenzen und individuellen Handlungsmöglichkeiten an Antonio Gramsci (1971) an. Nach Gramsci kann eine gesellschaftliche Gruppe Hegemonie erreichen, indem sie eine Ideologie so sehr etabliert, dass die Bevölkerung die herrschenden sozialen und ökonomischen Bedingungen als ‚common sense‘, also als natürlich und unumgänglich wahrnimmt und somit nicht durch Zwang, sondern durch Konsens akzeptiert (Gramsci 2009, S. 357, 430). Stephen Duncombe erklärt die Bedeutung des Visuellen in der kulturellen Hegemonie so:

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“The power of cultural hegemony lies in its invisibility. Unlike a soldier with a gun or a political system backed up by a written constitution, culture resides within us. It doesn’t seem ‘political’, it’s just what we like, or what we think is beautiful, or what feels comfortable. Wrapped in stories and images and figures of speech, culture is a politics that doesn’t look like politics and is therefore a lot harder to notice, much less resist. When a culture becomes hegemonic, it becomes ‘common sense’ for the majority of the population” (Duncombe 2015).

Dass gesellschaftliche Gruppen im Kampf um die kulturelle Hegemonie Bedeutung zum Beispiel auch mithilfe von Populärkultur ständig verhandeln (Gramsci 1971, S. 229–235, 2009, Kap. VII), öffnet den Horizont für subversive und gegenhegemoniale Taktiken. So ist Gramscis Hegemoniekonzept in der Visual Culture vor allem für Ansätze nützlich, die den Einfluss von Bildkonsument*innen auf Bedeutungszuschreibungen und die Nutzung von solcher Populärkultur betonen wollen, die nicht den Interessen der Medienindustrie und anderen Nutznießern der visuellen Hegemonie dient (Sturken und Cartwright 2001, S. 54). Diese Übersicht von Ansätzen zeigte, wie Bildproduktion und -rezeption als Ausdruck von Macht, aber auch als Feld der gesellschaftlichen Aushandlung und des Widerstands gesehen werden kann. Im folgenden Kapitel werde ich den Bezug zur Weltpolitik und mögliche Anknüpfungspunkte in den IB verdeutlichen.

3

Sehen als Machtpraxis in den IB

3.1

Machtbilder und Bildermacht in den IB

Machtverständnisse der Visual Culture sind durchaus mit solchen aus den IB vereinbar. Politik wird nicht nur in staatlichen Institutionen und in gewaltsamen Konflikten, sondern auch in der Sprache, den Geschichten und den Bildern ausgefochten, die unsere Weltanschauungen prägen (Duncombe 2015). In seinem Aufruf zum ‚aesthetic turn‘ erinnert uns Bleiker daran, dass sich ästhetisch informierte IB nicht nur der unvermeidbaren und unüberbrückbaren Abweichung zwischen der (visuellen) Repräsentation und dem von ihr Repräsentierten bewusst sein muss. Vielmehr sieht er gerade diesen Zwischenraum als den Ort, an dem Politik stattfindet (Bleiker 2001, S. 510, 512). Repräsentation ist immer eine Machtfrage – eine Macht, die dann am größten ist, wenn eine Repräsentation die ihr innewohnenden subjektiven Werte und Interessen verschleiern kann (Bleiker 2001, S. 515). Gerade weil wir internationale Politik meist nur mediatisiert erleben, ist ihre Repräsentation zentral, vor allem wenn es um globale Machtverhältnisse geht (Doty 1996,

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S. 5). Meera Sabaratnam fasst am Beispiel globaler Ungleichheit einige Fragen zu Machtverständnissen in den IB zusammen: “A central topic in the study of world politics is the nature and structure of international power and authority. There is widespread agreement that in the contemporary world something called the ‘West’ remains predominant in various spheres, although much dispute takes place regarding the nature, origins, durability and effects of that power. Is the power hard or soft? Is it based in military, ideological or capitalist expansion? Does it support or undermine international institutions? Is it best characterised as operating through consent, coercion, hegemony or governmentality?” (Sabaratnam 2011, S. 795).

Obwohl das Verständnis des Internationalen in den IB oft auf einer sehr statischen und materialistischen Idee von Macht beruht (Sabaratnam 2011, S. 783), die nicht nur auf militärische oder ökonomische Ressourcen fokussiert, sondern auch inhärent staatszentriert (inter-national) ist, gibt es auch mehrdimensionalere Machtbegriffe. Mit dem Begriff der ‚soft power‘ brachte Joseph Nye (1990) Aspekte wie Kultur, politische Werte und Diplomatie mit ins Spiel: „It is the ability to get what you want through attraction rather than coercion or payments. It arises from the attractiveness of a country’s culture, political ideals, and policies. When our policies are seen as legitimate in the eyes of others, our soft power is enhanced“ (Nye 2004, S. 34). Der Begriff ‚smart power‘ berücksichtigt indes, neben staatlichen, auch nichtstaatliche Akteure und deren Fähigkeit, im Informationszeitalter durch neue Narrative ‚hard‘ und ‚soft power‘ zu kombinieren: „[…] conventional wisdom has always held that the State with the largest military prevails, but in an information age, it may be the states (or nonstates) with the best story that win“ (Nye 2011, S. xiii). Diese ‚weiche‘, psychologische Dimension von Macht, die Sichtweisen und Werte von Menschen zu beeinflussen – „the battle for hearts and minds“ – wird in verschiedenen IB-Konzepten angesprochen (u. a. Barnett und Duvall 2005; Lukes 2005; Lukes 1974). Anlehnend an Foucault gehen Michael Barnett und Raymond Duvall (2005) etwa von einer diskursiven oder ideologischen ‚produktiven Macht‘ aus, die soziale Subjekte in ihren Identitäten und Weltanschauungen beeinflusst. Auch Roxanne Doty hat ein produktives Verständnis von Macht, vor allem hinsichtlich der Repräsentation und Subjektivierung von Akteuren in den asymmetrischen Kräfteverhältnissen der internationalen Politik (Doty 1996, S. 4). Während die diskursive, ideologische und psychologische Komponente von Macht in der internationalen Politik also schon länger berücksichtigt wird, verbleibt die Machtwirkung des Sehens, Zeigens und Gesehenwerdens in Diskurs, Ideologie und menschlicher Psyche weitgehend untertheoretisiert. Dabei kann Nyes Feststellung, dass Narrative zur gesellschaftlichen Bestimmung von Legitimität und Delegitimität,

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von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ beitragen (Nye 2011, S. xiii), auch auf Bilder übertragen werden, wenn auch das Visuelle als Teil eines Diskurses gesehen wird, der Dinge auf eine bestimmte Weise sichtbar oder unsichtbar macht (Rose 2016, S. 187–188). Auch visuell gestützte Narrative tragen zur Neubestimmung militärischer, politischer und ökonomischer Macht bei, da sie Menschen in den „battles for eyes and minds“ ansprechen (Fahlenbrach et al. 2014, S. 206). Dieses Verständnis der Visual Culture wird zunehmend für IB-relevante Fragestellungen aufgegriffen. Am Beispiel von ikonischen Fotos im sogenannten ‚war on terror‘ fragt Lene Hansen etwa: “Thus we might ask how [visual] icons are situated within discourses that articulate ‘the international’ and how that ‘international’ constructs identity/difference, Self/ Other, universality/particularity, progress/repetition, and reason/barbarism. Who and what, in more concrete words, appear as subjects, objects, actors, threats and opportunities, and with which identities and responsibilities?” (Hansen 2014, S. 11).

Die Macht der Repräsentation obliegt denjenigen, die die Fähigkeit haben Bilder zu produzieren und somit ihre Autorität im visuellen Diskurs legitimieren können (Mirzoeff 2011, S. 22; Haraway 1991, S. 189–90). In der Tat wird der medialen Kontrolle von Bildern und ihrer „propagandistischen Wirkung“ immer wieder eine entscheidende Rolle zugesprochen (Lohoff 2007, S. 112). Doch Bilder wirken nicht nur diskursiv auf die (De-)Legitimation von Politik im medialen, ideologischen „Krieg der Bilder“ (Mitchell 2011). Auch in materieller Hinsicht sind visuelle Techniken für den Machterhalt zentral. Die von Foucault problematisierte visuelle Überwachung kommt etwa in der internationalen Terrorbekämpfung zum Tragen, indem durch Bildtechniken Orte und Bevölkerungen beobachtet, vermessen und kontrolliert werden können: „Surveillance renders subjects knowable, visible objects of disciplinary power“ (Doty 1996, S. 11). Zur Rolle von Bildern und Bildtechnik in Konflikten fasst Mirzoeff zusammen, dass Bilder längst zu „smarten“ Waffen im „military-visual complex“ (Mirzoeff 2005, S. 13) geworden seien. Dabei beklagt er eine globale Konzentration dieser „visuellen Produktionsmittel“ in der Hand von wenigen Personen und großen Medienkonzernen im Globalen Norden (s. a. Dorfman und Mattelart 1991; Mirzoeff 2005, S. 17–18). Gleichzeitig wird sowohl in den IB als auch in der Visual Culture davor gewarnt, Widerstandsmöglichkeiten zu unterschätzen und von einer totalen Bildermacht durch politische oder ökonomische Eliten auszugehen. Dabei betonen Forschende auch das demokratische Potenzial von Online-Medien und mobilen Endgeräten. Sturken und Cartwright klingen fast schon euphorisch, wenn sie das Internet bezeichnen als „global information super highway that provides access to knowledge and power to all individuals with access to this global network“ (Sturken und Cartwright 2001, S. 334). Im folgenden Teil werde ich anhand globaler Nord-Süd-Beziehungen und am

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Beispiel verschiedener Medien die Machtwirkung des Visuellen in der Weltpolitik veranschaulichen. Dabei gehe ich nicht von einer passiven Bildkonsumentin aus, sondern stelle jeweils auch Beispiele von Bildmedien als Gegenmacht vor.

3.2

Sehen als Machtpraxis globaler Nord-Süd-Beziehungen

Das weltpolitische System ist noch immer stark von ungleichen Machtbeziehungen zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden geprägt. Sabaratnam betont, dass sich historisch verfestigte imperiale Beziehungen noch heute im internationalen System zeigen (Sabaratnam 2011, S. 783). Auch in unserem formal (weitgehend) dekolonisierten Zeitalter, prägen koloniale Vorstellungen noch immer, wie die Welt verstanden und dargestellt wird (Sabaratnam 2011, S. 802; s. a. Quijano 2016). Ein handlungsfähiger ‚Westen‘, so machtkritische Ansätze, stelle sich selbst als liberales Optimum dar und einem nicht-liberalen ‚Rest‘ gegenüber3, um diskursiv die Universalisierung seiner Werte und Politik durch ‚moderne‘ Formen liberaler governance zu rechtfertigen (Sabaratnam 2011, S. 797). Dies äußere sich auch in Repräsentationspolitiken, Selbst- und Fremdbildern: “The various objectifying representations of the South as backward, developing, failed or ‘new’ states continually reproduce the hierarchical self imagery that underpinned European colonialism, and specifically produces a disposition that favours intervention and control between the full subjects and lesser objects of world politics” (Sabaratnam 2011, S. 787).

Dieser colonial gaze auf den Globalen Süden findet sich laut Sabaratnam nicht nur in der politischen Praxis, sondern auch in den IB als Forschungsdisziplin wieder, selbst in vielen sogenannten kritischen Ansätzen: „While, given the intertwined character of modernity with colonialism in Europe, this is not altogether surprising, the academy has been relatively slow to elaborate ways of seeing and engaging that might help unpick some of these myths and framings of world order“ (Sabaratnam 2011, S. 802, eigene Hervorh.). Die einseitige Handlungsmacht des (neo-)liberalen Nordens, der den nicht-liberalen Süden objektifiziert, zeigt sich somit nicht nur in den politischen Nord-Süd-Beziehungen – die mit gutem Grunde eben nicht Süd-Nord-Beziehungen heißen –, sondern werden auch auf analytischer Ebene reproduziert (Sabaratnam 2011, S. 797). Doty spricht sogar von einer „Komplizenschaft“ 3

Obwohl Stuart Hall in The West and the Rest: Discourse and Power (Hall 1992) den Begriff des ‚Westens‘ gebraucht, ziehe ich die Bezeichnungen Globaler Norden und Globaler Süden vor (zur Definition s. glokal e. V. 2013, S. 8).

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der IB-Forschung, die bestimmte konstruierte Differenzen und Repräsentationen des Globalen Südens reproduziere und so zu seiner realen Abhängigkeit beitrage (Doty 1996, S. 5). Globale (Nord-Süd-)Politik sei maßgeblich davon beeinflusst, wie der Süden diskursiv von Politiker*innen, Forschenden und Medienmacher*innen aus dem Norden repräsentiert wird (Doty 1996, S. 2) – auch durch visuelle Mittel. Sabaratnams Formulierungen colonial gaze und ways of seeing nehme ich im Folgenden wörtlich und beziehe sie am Beispiel globaler Ungleichheit auf das Sehen als Machtpraxis. Mirzoeff betont, dass ein Blick in die Weltgeschichte einen „immensely productive visual colonialism“ (Mirzoeff 1998, S. 282) offenbart. Diese historischen Dokumente reichen von Karten, Gemälden und Fotografien über die Vermarktung von ‚Kolonialwaren‘ und erbeuteter Kunst bis zu Reiseberichten über die entdeckten ‚Monster‘ und ‚Wilden‘ und ihre öffentliche Zurschaustellung auf ‚Völkerschauen‘ (vgl. Schade und Wenk 2011, S. 112): „Collectively, the visual culture of colonialism had a significant role to play in both explaining and defining the colonial order“ (Mirzoeff 1998, S. 282). Anlehnend an Gramscis Verständnis der kulturellen Hegemonie wird daher ein kultureller Imperialismus untersucht, also wie eine Ideologie, eine Politik oder ein Lebensstil durch den Export von Kulturgütern in andere Gebiete übermittelt wird – was teilweise auch die globale Bildzirkulation erklärt (Sturken und Cartwright 2001, S. 322).4 Wie sich dieses koloniale Erbe auch nach Ende der politisch-formalen Dekolonisierung und des Kalten Krieges visuell fortsetzt, zeigt sich gerade auch in alltäglichen Bildern und ihren (Fehl-)Repräsentationen. Die Beispiele reichen von Comics bis zur anhaltenden Ehrung kolonialer Feldherren durch Straßennamen und heroische Statuen in deutschen Städten (Aikins 2008). Nachfolgend führe ich zwei Beispiele aus, in denen sich globale Ungleichheit auch visuell äußert: Spendenwerbung der EZ und Humanitären Hilfe (3.2.1) sowie Kartografie (3.2.2).

4 Ein Beispiel dafür ist Ariel Dorfmans und Armand Mattelarts 1971 in Chile – und später auch auf Englisch – veröffentlichtes Essay How to Read Donald Duck: Imperialist Ideology in the Disney Comic (Dorfman und Mattelart 1991). Darin argumentieren sie, dass eine imperialistische Weltanschauung mithilfe von Populärkultur auch an ein unpolitisches Publikum vermittelt werde, wie etwa durch US-Comics in Chile nach dem Putsch gegen Salvador Allende (Dorfman und Mattelart 1991, S. 96). Im Hinblick auf die heutige Globalisierung verschränkt Aníbal Quijano Gramscis Hegemoniekonzept mit rassismuskritischer Theorie, um die fortbestehende ‚Kolonialität der Macht‘ aus lateinamerikanischer Perspektive aufzuzeigen (Quijano 2016). Zum Einsatz von visuellen Medien und Kunst während der Blockkonfrontation im Kalten Krieg siehe Torres Arroyo (2013), Castellanos (2017) und Hattam (2016).

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3.2.1

Spendenwerbung für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe

Die Legitimierung internationaler Politik und die Abgrenzung vom „Anderen“ werden auch visuell gestützt. Sabaratnam beschreibt diesen diskursiven Mechanismus als „[…] the ways in which the global South […] become[s] objectified in discourse as requiring external control, involvement and direction – in Said’s term that they ‘beseech domination’“ (Sabaratnam 2011, S. 787). Zu legitimationswürdigen (Außen-)Politiken und Interventionen des Globalen Nordens gehören auch EZ und humanitäre Hilfe, wobei gerade Nichtregierungsorganisationen (NGOs) besonders auf Spendenwerbung setzen, um ihre Arbeit finanzieren zu können. In Forschung und Praxis wird schon länger kritisiert, dass viele dieser Werbebilder den Diskurs der globalen Ungleichheit eher verstärken als bekämpfen, indem sie zwar einerseits die kolonial entstandene Ungleichheit zwischen Nord und Süd thematisieren, aber trotzdem durch die Förderung kolonialer Fantasien Rassismus aufrechterhalten (Grada Kilomba im Film White Charity 20115, min. 00:34:34). Tahir Della erklärt das Dilemma der deutschen EZ-Spendenwerbung wie folgt: „Zunächst einmal haben Bilder eine große Wirkungsmacht. Durch sie werden Inhalte transportiert, die auf bewusster sowie auf unbewusster Ebene wahrgenommen werden. Sie können zur Festschreibung von Ansichten und Einschätzungen führen. Bilder werden oft genutzt, um Textlastigkeit zu vermeiden und somit Menschen direkter zu erreichen. […] Aussagen werden verkürzt, aber über ein Bild wird trotzdem wichtiges und komplexes Wissen vermittelt. Ganz bewusst werden ganz viele Situationen und Strukturen nicht problematisiert. Denn das Konzept der Entwicklungszusammenarbeit, deren Strukturen und auch Spendenwerbung ist sehr stark von kolonialen Verhältnissen und Fantasien geprägt“ (Della 2017, S. 7).

Der Kritikpunkt der kolonialen Fantasien bezieht sich auf die „historische Kontinuität kolonialer Bilderwelten […] die sich auch […] an personenbezogenen, hochgradig entwürdigenden Darstellungen“ festmachen lässt (Zöhrer 2017, S. 12). Denn oft stellen Spendenplakate und -anzeigen Menschen aus dem Globalen Süden, meist Schwarze und People of Color, als passive Hilfeempfänger*innen, als exotisch und naturverbunden dar, was sie rückwärtsgewandt und traditionell wirken lässt (Della 2017, S. 7). Dem gegenüber steht der „moderne“, aktive Norden, der den potenziellen Spender*innen aus der Weißen Mehrheitsgesellschaft6 eine Identifikation bieten soll: „Und nur sie tun Gutes, sie sind die Geber! Sie sind sozusagen 5 https://www.whitecharity.de, abgerufen am 23. April 2018. 6 Zur fehlenden Berücksichtigung der in Deutschland lebenden Diaspora und People of Color, die durch Spendenwerbung stereotypisiert und als Teil der (Geber-)Gesellschaft

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die gute Seele dieses Planeten. Die Anderen sind die Empfänger, die Armen, die Schwachen, um die sich der Norden großzügigerweise kümmert“ (Lucia Muriel, zitiert in Zöhrer 2017, S. 14). Aus einer Visual-Culture-Perspektive wird in visuellen Repräsentationen Bedeutung durch „visions of social difference“ (Rose 2016, S. 13), also Abgrenzung und Differenz erzeugt. Oft tragen binäre Gegensätze, die sich Codes von „Andersartigkeit“, Dominanz und Unterordnung bedienen, dazu bei, Sinn und Identitäten zuzuschreiben. Dazu gehören Kategorien wie Kultur/Natur, europäisch/lokal, Weiß/ nicht-Weiß, männlich/weiblich, modern/traditionell, zivilisiert/naturverbunden bzw. zivilisiert/primitiv (Sturken und Cartwright 2001, S. 100–104). Solche stereotypen visuellen und auch literarischen Darstellungen der kulturell „Anderen“ sind ein Erbe der Kolonialpolitik, die von sichtbaren Differenzen entscheidend legitimiert wurde (Schade und Wenk 2011, S. 112). Die Ideologie des Rassismus, also die angebliche biologische bzw. kulturelle Überlegenheit der (weißen) Europäer*innen und ihre daraus abgeleitete Macht- und strukturellen Privilegien, rechtfertigte diskursiv die Sklaverei und wirkt durch die stereotype Visualisierung rassifizierter Unterschiede bis heute nach (Mirzoeff 1998, S. 281). Grada Kilomba erklärt zur politischen Funktion von rassistischen Stereotypen über die „Anderen“: „Wenn ich diese Bilder anschaue, dann verbinde ich mit einem Bild eine Identität, die mit Bedeutung verknüpft ist. Bedeutungen wie Hilflosigkeit, Unzivillisiertsein, Ungebildetsein und so weiter. Und eine Bedeutung wird dabei zur Assoziation der anderen. Am Ende verkörpert das Schwarze Subjekt die ganze Kette der Assoziationen. Und das ist keine biologische Tatsache. Das ist eine diskursive Tatsache, wie Rassismus selbst“ (in White Charity 2011, 00:11:01).

Diese bis heute – nicht nur in der Spendenwerbung – andauernden und sich wiederholenden visuellen Abgrenzungen lassen sich auch mithilfe des gaze-Ansatzes (s. Kap. 2.2) erklären. Anlehnend an psychoanalytische und poststrukturalistische Arbeiten geht Homi K. Bhabha von einem kolonialen „Schautrieb“ (scopic drive, nach Fanon 1952) aus, also einer „Lust am Sehen“, die gleichzeitig fasziniert ist und kontrollieren bzw. disziplinieren will (Bhabha 1983, S. 28–29; s. a. Kilomba in White Charity 2011, 00:15:24). Dieses skopische Regime hat das koloniale Machtgefüge maßgeblich gestärkt: “The construction of the colonial subject in discourse, and the exercise of colonial power through discourse, demands an articulation of forms of difference – racial

ignoriert werden, siehe z. B. Sandrine Micossé-Aikins (in Zöhrer 2017, S. 14), Aram Ziai (2014) und allgemeiner Stuart Hall (2012, S. 16).

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Lisa Bogerts and sexual. Such an articulation becomes crucial if it is held that the body is always simultaneously inscribed in both the economy of pleasure and desire and the economy of discourse, domination and power” (Bhabha 1983, S. 19).

Der zentrale Differenzmarker im kolonialen Regime der Sichtbarkeit und Identität ist für Bhabha klar: „Skin, as the key signifier of cultural and racial difference in the stereotype, is the most visible of fetishes […]“ (Bhabha, 1983, S. 30; s. a. Castro Varela und Dhawan 2015, S. 228). Schon der Soziologe, Historiker und Bürgerrechtler W. E. B. du Bois (1903) betonte diese Funktion der visuellen Abgrenzung in der rassifizierten Segregation von Gesellschaften mithilfe des Begriffs der color line (vgl. Douglass 1885). Dass sowohl das visuelle Othering (vgl. Spivak 1999, S. 113) als auch der Entwicklungsbegriff 7 die imaginäre Selbstvergewisserung und Überlegenheit des Nordens stärken, beruht auf einem Modernitätsnarrativ, welches das Selbstbild des Nordens seit der Aufklärung prägt und auch von Stuart Hall (1992, S. 219) problematisiert wurde: „Entwicklung ist eine einseitige Autobahn, die in Richtung westlicher Modernität geht (…). Ausgehend von bestimmten Kategorien kann man dann Regionen und Länder einordnen: ‚Ach, die sind ja im Mittelalter‘ oder ‚die leben in der Steinzeitn‘“ (Elina Marmer in Zöhrer 2017, S. 14).8 Das eingangs genannte Zitat Tahir Dellas bezieht sich aber nicht nur auf die visuelle Reproduktion stereotypisierender Repräsentationen. Spendenwerbung wird auch kritisiert, weil sie politische Ambitionen und Zusammenhänge von EZ und Humanitärer Hilfe meist verkürzt: „Die humanitäre Bildsprache hält nicht nur Abhängigkeitsstrukturen aufrecht, sondern erkennt auch nicht wirklich die Gründe für das globale Ungleichgewicht an. Sie verleugnet die Realität der Ausbeutung völlig“ (Rajkamal Kahlon, in glokal e. V. und ISD 2017, S. 21). Eine depolitisierende Darstellung verschleiert den umstrittenen politischen Aspekt sowohl einer auf dem „westlichen“ Modernitäts- und Entwicklungsnarrativ beruhenden EZ als auch von Humanitärer Hilfe, die oft erst aufgrund von komplexen politischen Ursachen wie Korruption oder militärischen Konflikten nötig wird (Baughan 2017, S. 28). Zudem sind gerade zur Zeit der erfolgreichen afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen deren Befreiungskämpfe und politische Selbstbestimmung in den Hintergrund gerückt (Baughan 2017, S. 33). Stattdessen wurden afrikanische Menschen vor allem als hilflose, meist unbekleidete Kinder dargestellt, was suggerierte, „dass sie irgendwo im letzten, respektive vorletzten Jahrhundert steckengeblieben“ (Peggy Piesche 7

Zur Kritik am Entwicklungsbegriff und zum Beitrag der EZ zur Festigung von globalen Macht- und Abhängigkeitsstrukturen siehe z. B. Aikins et al. (2013). 8 Siehe ausführlicher zum Thema Rassismus in deutschen Schulbüchern am Beispiel von Afrikabildern Marmer (2013).

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in White Charity 2011, 00:13:58) und auf westliche Hilfe angewiesen seien. Das Schwarze Subjekt als Kind darzustellen so Kilomba, ist eine alte koloniale Strategie, die Intervention rechtfertigt, um es zu erziehen und zu bilden, „die Erlaubnis zu kolonisieren, vor Ort zu sein, zu dominieren“ (Grada Kilomba in White Charity 2011, 00:19:16). Zur dargestellten Hilflosigkeit kam später ein weiteres Kriterium, das sich im Wettbewerb um Mitleid bewährte: die Unschuld, meist von Frauen und Kindern symbolisiert, weil sie anders als erwachsene Männer als unpolitisch und ungefährlich galten.9 So haben die Bilder leidender, Empathie erregender Kinder zwar kurzfristig Aufmerksamkeit und Hilfe erwirkt, doch langfristig haben sie das globale Ungleichgewicht zementiert und nachhaltige Lösungen für Armut unerreichbar gemacht (Baughan 2017, S. 27, 34). Das Beispiel der Spendenwerbung deutscher NGOs zeigt, dass wir Bildern globaler Machtungleichheit täglich im öffentlichen Raum begegnen. Würde man die auf Spendenplakaten dargestellten Personen durch Weiße ersetzen, so Kilomba, funktioniere die Werbung nicht mehr, „[…] weil das Machtverhältnis weg ist. Rassismus ist genau die Verbindung aus Vorurteil und Macht. Die Macht zu haben Andere darzustellen, die Macht zu haben auszugrenzen“ (in White Charity 2011, 00:22:08). Doch auch hier fordern kulturelle und politische Interventionen dominante visuelle Repräsentationsregime heraus. Visuelle Selbstrepräsentationen sind eine mögliche Form der Machtaneignung durch Bilder. Sie erzeugen alternative Sichtbarkeiten, die mit Anerkennung und Zugang zu (Macht-)Ressourcen verknüpft sind: „Sichtbarkeit als produktive Macht des (scheinbar) Faktischen ist ein zentraler Faktor politischer Repräsentation“ (Schade und Wenk 2011, S. 104; s. a. Adami 2016, S. 73). Wie können also widerständige Sichtbarkeitspolitiken jenseits fremdbestimmter Darstellungen zur Verschiebung von diskursiven und materiellen Machtverhältnissen beitragen? Eine reine Kritik rassistischer Spendenkampagnen, so Kilomba, reicht als Widerstand nicht. Stattdessen gehe es darum, „einen neuen Diskurs zu schaffen, neue Fragen zu stellen. Dagegensein ist nicht genug, wir müssen umgestalten“ (in White Charity 2011, 00:43:40). Zu bildlicher Gegenmacht schlägt etwa Peggy Piesche vor, dass Armut und Benachteiligung im Globalen Süden als etwas dargestellt werden muss, wovon wir im Globalen Norden profitieren und was unsere eigene Privilegierung direkt bedingt (in White Charity 2011, 00:31:14). Als gelungenes Beispiel gilt etwa die Bildsprache der NGO medico international, die Menschen aus dem Globalen Süden als proaktive Projektpartner*innen darstellt, ihnen als Aktivist*innen selbst das Wort gibt und die Kritik an politischen 9 Zur hierarchischen Gegenüberstellung der binären Geschlechterkategorien männlich/ weiblich durch die Gegensätze öffentlich/privat, politisch/unpolitisch und rational/ emotional, siehe Sauer (1997).

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Machtstrukturen – etwa an der skandalösen Rolle der deutschen Textilindustrie in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen in Bangladesch – nicht ausspart (vgl. Della 2017, S. 9).10 Ein konkretes Beispiel ist das Solidaritätsplakat von medico und der Zeitung „Adopt a Revolution“, das eine demonstrierende Person darstellt und zu Spenden für die lokalen unbewaffneten Basiskomitees in Syrien aufruft (s. Abb. 1).11

Abb. 1 Solidaritätsplakat für die unbewaffneten Demonstrant*innen in Syrien; herausgegeben von Adopt a Revolution und medico international, 2016; Künstler*innen: Syrian People Know Their Way.

10 Siehe https://www.medico.de/industrial-911-ist-noch-lange-nicht-vorbei-16483/ oder, für ein anderes Beispiel, https://www.medico.de/material/shop/section/products_detail/50-jahre-medico/kostet-die-welt-eigentlich-die-welt-plakat/, abgerufen am 24. April 2018. 11 https://www.adoptrevolution.org/wp-content/uploads/2016/10/plakat-demonstrieren. jpg, abgerufen am 4. Mai 2018.

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Eine andere subversive visuelle Taktik ist das auf dem détournement beruhende Adbusting (s. Kap. 2.2), das auch auf bereits bestehende öffentliche Spendenwerbung abzielt. Es kann sich die Bildsprache diskriminierender Plakate aneignen und sie in positive Beispiele umwandeln. Wie Abbildung 2 zeigt, kann diese Technik die Öffentlichkeit aber zumindest auf den zugrundeliegenden Rassismus aufmerksam machen, indem sie etwa die intendierte Lesart eines Plakats ironisch umkehrt.12

Abb. 2 Adbusting von Spendenwerbung, Moritzplatz Berlin 2016; Bildrechte: DIANOKIE.

Um den Entwurf nicht-rassistischer Gegenbeispiele für Spendenwerbung ging es auch im Projekt „(De)Koloniale Bilderwelten“, das die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD) gemeinsam mit dem Verein für machtkritische Bildungsarbeit

12 Siehe z. B. https://www.mangoes-and-bullets.org/rassistische-bildsprache-in-spendenkampagne/, abgerufen am 24. April 2018. Dieses und andere Bilder wurden 2016 von der Gruppe DIANOKIE auf der Plattform linksunten.indymedia.org geteilt, der Link ist wegen des Verbots der Plattform wegen angeblicher Verfassungsfeindlichkeit jedoch nicht mehr zugänglich. Zu diesen und anderen anti-rassistischen Kommunikationsguerilla-Kampagnen siehe auch http://www.whitecharity.de/de/aktion/ und http://maqui.blogsport.eu/2016/12/26/b-adbusting-zu-humanitaerer-spendenwerbung-es-reicht-mit-rassistischer-werbung/, abgerufen am 4. Mai 2018.

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glokal e. V. veranstaltete.13 Letzterer bietet Beratung, Workshops und Publikationen für Individuen, NGOs und Institutionen an, um kritisch die eigene Rolle in globalen und gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen zu hinterfragen. Dazu gehört etwa die Reproduktion exotisierender Klischees durch Fotos von Auslandsaufhalten im Rahmen von entwicklungspolitischen Freiwilligendiensten (glokal e. V. 2013, S. 24–27). Während Filmprojekte wie „White Charity: Schwarzsein und Weißsein auf Spendenplakaten“ (2011) diese lokal-globalen Zusammenhänge mit dokumentarischem Anspruch beleuchten, werfen satirische Produktionen wie die kenianische Comedy-Serie „The Samaritans“ den Blick zurück in den Norden, indem sie auf humoristische Weise den Nutzen von NGOs in der EZ und den „White saviour industrial complex“ (Teju Cole, in glokal e. V. und ISD 2017, S. 26) hinterfragen.14 Dabei geht es einerseits darum, EZ als das darzustellen, was sie ist, nämlich ein Machtinstrument innerhalb des globalen Nord-Süd-Gefälles (Lena Ziyal, in glokal e. V. und ISD 2017, S. 22). Andererseits offenbart ein „Zurückwerfen des Blicks“ (returning the gaze, Bhabha 1994, S. 81), dass Herrschaftsbeziehungen selten total und Widerstände immer möglich sind (Castro Varela und Dhawan 2015, S. 229). Wie der IB-Forscher Robbie Shilliam (2013) betont, geht es darum, im Sinne von Stuart Halls „oppositional“ bzw. „negotiated reading“ von Kulturprodukten (s. Kap. 2.2.), neue dekoloniale Repräsentationsformen und Ästhetiken zu schaffen. Zugleich sollte eine kritische Visual Culture ästhetische Fragen niemals losgelöst von den politischen Ursachen und Auswirkungen auf die Weltpolitik betrachten: „Es geht nicht nur darum, die Bilder zu verändern, ‚schöner zu machen‘, sondern die Gesamtkonzeption der Entwicklungszusammenarbeit tief gehend und kritisch zu hinterfragen“ (Della 2017, S. 8).

3.2.2 Kartografie Neben diesem Beispiel aus der politischen Praxis verwenden auch IBler*innen in ihrer Forschungspraxis Bildmedien oft unhinterfragt. Während bestimmte visuelle Medien Objektivität und somit wissenschaftliche oder dokumentarische Autorität ausstrahlen, spielen sie durch ihren Naturalisierungs- und Evidenzeffekt eine wichtige Rolle in Wahrheits- und Wissensdiskursen (s. Kap. 2.2). Neben mathematischen 13 Zum Projekt siehe http://www.glokal.org/de-koloniale-bilderwelten-beitraege-zur-vermeidung-von-diskriminierung-in-der-entwicklungspolitischen-spenden-und-oeffentlichkeitsarbeit/, abgerufen am 4. Mai 2018. Die ISD vertritt die Interessen Schwarzer Menschen und tritt für eine anti-rassistische Haltung in allen gesellschaftlichen Bereichen ein (http://isdonline.de/verein/). 14 http://www.aidforaid.org/, abgerufen am 22. August 2017; zur positiven bildlichen Repräsentation diverser afrikanischer Identitäten in Kinderbüchern, siehe auch die ghanaische Initiative Golden Baobab (http://www.goldenbaobab.org/; abgerufen am 24. April 2018).

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Formeln, Zahlen und Diagrammen aus Statistiken von Internationalen Organisationen, die durch ihre objektive Erscheinung politische (Legitimations-)Interessen verdecken15, sind auch Karten ein wichtiges Bildmedium der Weltpolitik.16 Karten sind sozusagen Ausdruck eines skopischen Regimes, in dem sie die Autorität einer scheinbar „objektiven“ Vermessung raumbezogener Geodaten (s. a. den Beitrag von Rothe in diesem Band) besitzen und visuell – eigentlich politische – Diskurse der Ein-, Aus- und Abgrenzung manifestieren und naturalisieren. Dabei gilt es zu beachten, dass Karten „stets in Prozesse politischer, gesellschaftlicher, ideologischer wie auch ästhetischer Entscheidungsfindung eingebunden [sind] – kurz: Karten werden ge-Macht!“ (Namberger et al. 2018, S. 187). Indem sogenannte politische Karten bei umstrittenen Gebietsansprüchen meist nur das Narrativ der Sieger-Seite übernehmen, reduzieren sie komplexe politische Situationen zuungunsten von alternativen, gegenhegemonialen Ansprüchen und schreiben visuell die dominante Ordnungsdeutung fest: „Maps and territories are co-constructed […] mapping activates territory“ (Dodge et al. 2011, S. 18). Dies zeigen am deutlichsten solche Karten, die unhinterfragt Nationalstaaten als Basis-Einheiten – und als „Produkte ‚erfolgreicher‘ historischer Behauptungen“ – übernehmen und somit als wirkmächtige „Imagi-nation“ (Namberger et al. 2018, S. 197, 198) einen methodologischen Nationalismus reproduzieren. Sie blenden auch aus, dass das europäische Nationalstaatenmodell keine natürliche Gegebenheit ist, sondern vor allem im Globalen Süden der gewaltsamen Umsetzung kolonialer Herrschaftsansprüche der europäischen Großmächte diente, wie etwa die geometrische Aufteilung Afrikas unter den Kolonialmächten auf der Berliner Afrika-Konferenz 1884/85 zeigt (Gatter 1984). Im kartografischen Bild des territorialen Staatscontainers, das eng an die Konstruktion nationalstaatlicher Identitäten gebunden ist (im Sinne von „imagined communities“, siehe Anderson 1991), zeigt sich deutlich „die Wirkmächtigkeit des scheinbar Unpolitischen“ (Namberger et al. 2018, S. 191). Es versteht sich folglich fast von selbst, dass sich die Siegerin der historischen Raumaufteilung – Europa – in der festgeschriebenen räumlichen Hierarchie selbst als ganz oben in der „natürlichen“ eurozentrischen Ordnung darstellt und somit auch visuell die Überlegenheitsideologie manifestiert (Wintle 2009, S. 63, 67). Diese letztlich auch „mentale Karte“ (Wintle 2009, S. 74) globaler Ungleichheit wird insbesondere mit der heute überwiegend gebrauchten sogenannten Mercator-Projektion reproduziert, die seit ihrer Entwicklung im Jahr 1569 – nicht zufällig zur Hochzeit der europäischen Expansion durch sogenannte Entdeckungsreisen – zum Gefühl 15 Zur Macht von mathematischen Zahlen und Algorithmen in der Politik s. O´Neil (2016). 16 Hierzu gibt es zahlreiche Publikationen aus der cultural geography, wie zum Beispiel Elwood (2011).

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der kulturellen Überlegenheit im globalen System beitrug (Harley 1988; Quijano 2000, S. 189). Diese Karte verzerrt die tatsächlichen geografischen Dimensionen nicht nur zugunsten der nah an den Polen liegenden Gebiete und zu Lasten tropischer Gebiete. Sie (re-)präsentiert Europa auch als „ganz oben“ (also im Norden) und im Zentrum der Welt stehend (Wintle 2009, S. 60).17 Diese visuelle Fortschreibung des Überlegenheitsnarrativs findet sich heute – ausgeweitet von Europa auf den Globalen Norden – auch in thematischen Karten. Bei sogenannten Choroplethenkarten werden die Flächeneinheiten (meist Staaten) mit verschiedenen statistischen Werten gefüllt und visuell (z. B. durch farbliche Schattierungen) scharf voneinander abgegrenzt, wodurch „zu einer statistischen Generalisierung eine visuelle Dramatisierung hinzukommt“ (Namberger et al. 2018, S. 202). Hohe statistische Gewaltintensitäten im Globalen Süden werden, etwa mithilfe der Ampelskala, durch ein warnendes Rot als „no-go-area“ gekennzeichnet und von Ländern des Globalen Nordens, meist in positiv konnotiertem Blau oder Grün oder neutralem Grau, abgegrenzt. Vorstellungen von begrenzten Gewalträumen im Globalen Süden und einer Regionalisierung von Krisen, so Fabian Namberger et al., würden somit auch visuell untermauert: „Räumlich dualistische Verortungen in ein (friedliches) Hier und (gewalttätiges) Dort, Nah und Fern, global Nord-Süd, die auf der Konstruktion von Differenzen beruhen, sind allgegenwärtig. Aus (politik-)wissenschaftlicher Perspektive sollen sie helfen, Krieg und Frieden zu ‚ordnen‘ und erforschbar zu machen“ (Namberger et al. 2018, S. 183–184).

In den IB und der Friedens- und Konfliktforschung gängige Konzepte wie „zerfallende Staatlichkeit“ und failed state, die Abweichungen von der europäischen Norm pathologisieren, werden so auch visuell untermauert. Dies trägt nicht zuletzt zur Legitimation von Interventionen bei, die von „Entwicklungs“-Maßnahmen bis zu peacekeeping-Militäreinsätzen reichen (Sabaratnam 2011, S. 787; Namberger et al. 2018, S. 197). Dass nicht nur Weltkarten als visuelle Machtpraxis und als „kontrollierbare geopolitische Abstraktionen“ (Agnew und Corbridge 1995, 49; eigene Übers.) dienen, zeigt auch ein Blick in die Visual-Culture-Forschung. Für Mirzoeff war mapping schon auf der kolonialen Plantage eine zentrale visuelle „technique of governance“ (Mirzoeff 2011, S. 58), um die Produktion für den wirtschaftlichen 17 Ein Video-Ausschnitt aus der Fernsehserie „The West Wing“ (2001) veranschaulicht die Verzerrungen der Mercator-Karte und die Vorzüge der Peters-Projektion: „You tell me that Germany isn´t where we think it is?“ (siehe https://www.youtube.com/watch?v=OH1bZ0F3zVU; abgerufen am 13. August 2018).

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Profit der imperialen Machtmetropolen aufrecht zu erhalten. Auch der preußische Militärwissenschaftler Carl von Clausewitz sah später in seinem Hauptwerk „Vom Kriege“ (1832) die Fähigkeit des räumlichen Zurechtfindens auf dem Schlachtfeld, des Sehens und der Imagination als zentral für die Autorität des heldenhaften – natürlich männlichen – Feldherren an (von Clausewitz 1991, S. 39–40; vgl. Mirzoeff 2011, S. 25). Die Digitalisierung des Schlachtfelds im Zuge der revolution in military affairs sieht Mirzoeff, anschließend an Foucault, gar als post-panoptische Visualität (Mirzoeff 2011, S. 19). Diese zeige sich unter anderem in visuellen Technologien wie Satelliten- und Wärmebildern, kamerabildgesteuerten unbemannten Drohnen in bewaffneten Konflikten und der alltäglichen Kontrolle des öffentlichen Raums durch Videoüberwachung, die sicherheitspolitische Entscheidungen legitimieren sollen (Mirzoeff 2011, S. 20, 294; s. a. Shim 2018). Karten legitimierten nicht nur koloniale Legitimationsbestrebungen, sie dienen noch immer als visuelle Hilfsmittel oder Untermauerungen normativer wie politischer Beurteilungen, Entscheidungen und Machtressourcenverteilung in der inter-nationalen Politik (Wintle 2009, S. 69). Ein reflektierter Umgang mit Karten in der IB-Forschung berücksichtigt einerseits diese Gemachtheit von Karten und macht andererseits alternative Kartierungspraxen – im wörtlichen Sinne – sichtbar, die eine visuelle Gegenperspektive auf (Welt-) Politik anbieten. So haben sich schon die versklavten Plantagenarbeiter*innen Kartierungstechniken für ihren Widerstand angeeignet, indem sie das Gebiet erfolgreich Geflohener als befreite Zonen visuell festhielten oder Raum für subversive Taktiken markierten. Ein prominentes Beispiel für dieses „remapping [of] colonial space“ (Mirzoeff 2011, S. 61) ist die jamaikanische Maroon-Anführerin Queen Nanny (1700–1740), die Theorie und Praxis der Kartierung transformierte, indem sie durch topografisches Wissen Widerstands- und Fluchtvorteile auslotete (Aikins 2009). Auch heute machen sich Akteure die kartografische Autorität zunutze, um Gegenbilder zum hegemonialen (Bild-)Diskurs anzubieten. Ein emanzipatorisches und partizipatives counter-mapping-Projekt (vgl. Dalton und Mason-Deese 2012) ist etwa die palästinensische Plattform Grassroots Jerusalem, die interaktiv einen alternativen Stadtplan Jerusalems entwickelte.18 Beispiele aus Lateinamerika sind das Beehive Design-Kollektiv, das die (neo-)kolonialen globalen Verflechtungen und aktiven Widerstände in Zentralamerika visualisiert19 oder die Iconoclasistas aus Buenos Aires, ein Projekt zum kollektiven und kritischen Kartografieren durch die

18 https://www.grassrootsalquds.net/grassroots-jerusalem/mapping-and-assessment, abgerufen am 13. August 2018. 19 http://beehivecollective.org/, abgerufen am 13. August 2018.

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Abb. 3

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Iconoclasistas 2016, Manual of Collective Mapping, Auszug aus S. 58 und S. 56; verfügbar unter https://issuu.com/iconoclasistas/docs/manual_mapping_ingles

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Bewohner*innen der betreffenden Gebiete.20 In ihrem Manual of Collective Mapping (2016) leitet das Iconoclasista-Projekt pädagogisch die Erstellung alternativen Kartenmaterials an und will Sichtweisen zutage fördern, die oft hinter offiziellen Repräsentationen versteckt sind (Iconoclasistas 2016, S. 18; s. Abb. 4). So repräsentieren sie Lateinamerika entgegen der im Globalen Norden gängigen Narrative, welche die Region häufig auf Natur und Exotik oder Gewalt und politisches Versagen reduzieren. Konkreter verwenden sie, zum Beispiel, eine alternative Ikonografie von Symbolen und Piktogrammen für die selbstständige Beschriftung von Karten (s. Abb. 3), um kollektive Güter und ihre Ausnutzung durch transnationale Konzerne sichtbar zu machen, aber auch Orte des Widerstands aktivistischer Bewegungen, um politisches Bewusstsein und Selbstorganisation zu fördern. Sequence that shows the method of: Collective Mapping Workshop A playful and reflexive space for collective invention, the socialization of tools, and the exchange of knowledge(s) and practices. by Iconoclasistas

Presentation After seeing a visual exhibition that reflects upon the importance of a counter-hegemonic cartographic vision, the participants form groups based on their common interests. They work together at tables with large-scale maps and icons whose referents were chosen beforehand through consensus among the organizers. Working with these, the groups begin to produce a story about the territory.

The dominant power creates maps that serve the utilitarian appropriation of territories asa form of organization and ownership and that function as a means to formulate strategies of invasion, control and plunder.

Abb. 4 Methode eines Collective-Mapping-Workshops; Auszug aus „Truth is concrete. A Handbook for Artistic Strategies in Real Politics“ (2012), S. 194, von den Iconoclasistas (https://de.scribd.com/document/225635857/Truth-is-concreteA-Handbook-for-Artistic-Strategies-in-Real-Politics, abgerufen am 13. August 2018

20 http://www.iconoclasistas.net/; für ein ähnliches ecuadorianisches Projekt siehe auch https://geografiacriticaecuador.org/, abgerufen am 13. August 2018.

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Auch Weltkarten, die Europa visuell provinzialisieren (vgl. Chakrabarty 2000), gibt es in vielen Varianten. Sie reichen von jenen des muslimischen Kartografen Muḥammad al-Idrīsī, der im 12. Jahrhundert Mekka im Zentrum und Europa südlich davon platzierte (Wintle 2009, S. 70–71) über die neuseeländische Upside-down map21 und die lateinamerikanische Version von Joaquín Torres-Garcías (1943) (INBA 2010), in der der Südpol ,oben´ ist (s. a. Abb. 3 unten rechts und Abb. 4 oben rechts). Die relativ neue AuthaGraph-Karte aus Japan hingegen kann man so falten, dass prinzipiell jeder Punkt der Erde im Zentrum sein kann. Somit verliert Europa seine Lage in der Mitte der Kontinente und der Norden ist nicht mehr unbedingt im oberen Teil der Erdkugel, „was unseren Blick auf die Welt verändern könnte“ (Askari 2016). Neben diesen praktischen Projekten kommen theoretische Alternativen sowohl aus der Kritischen und Postkolonialen Geografie (u. a. Lahiri-Dutt 2017; Moyo und Yeros 2005) als auch aus der Kritischen Kartografie. Die Forschung kann wohl kaum komplett auf Kartenmaterial verzichten. Die post-representational cartography (Dodge et al. 2011; Kitchin und Dodge 2007) verschiebt daher „den analytischen Fokus vom vielfach geschönten, formalisierten und abstrahierten Endprodukt der Karte selbst, hin zum eigentlichen Prozess des ‚Kartenmachens‘“ (Namberger et al. 2018, S. 187) und beleuchtet somit zumindest den Produktionskontext verwendeter Karten und dahinter liegende Machtinteressen.

4 Fazit Dieses Kapitel sollte zeigen, wie eine Perspektive des Zeigens, des Sehens und Gesehenwerdens die Analyse von Machtverhältnissen in der internationalen Politik erweitern kann. Dafür stellte ich solche Ansätze aus dem Forschungsfeld der Visual Culture vor, die den politischen Charakter von Alltagsbildern und eine globale Bildkommunikation als Antagonismus von dominanten und widerständigen Nutzungen visueller Medien begreifen. Mithilfe der Beispiele zweier Medien aus dem Bereich der Nord-Süd-Beziehungen veranschaulichte ich, wie sich visuelle Repräsentationspolitiken auf globale Machtstrukturen auswirken und sie reproduzieren. Dabei zeigte sich – ob bei den räumlich-visuellen Abgrenzungen der Kartografie oder der rassistischen Stereotypisierung und Depolitisierung in der Spendenwerbung –, dass sich die ungleichen Machtverhältnisse zwischen dem

21 https://www.flourish.org/upsidedownmap/, abgerufen am 21. August 2017.

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Globalen Norden und dem Globalen Süden in diesen visuellen Repräsentationen und Techniken widerspiegeln. Eine solche Perspektive auf internationale Politik, und insbesondere auf ihre Repräsentationspraktiken (Doty 1996, S. 19), ermöglicht ein erweitertes Verständnis von Macht und davon, wie Sinn und Identitäten in den IB konstruiert werden. Die Analyse visuellen Materials kann auch subtilere Ideologievermittlung und unbewusste Prägungen zutage fördern. Diskursive Repräsentationen sind Produkte von Machtbeziehungen, in denen Abgrenzungskategorien eben nicht „natürlich“, sondern selbst konstruiert sind (Doty 1996, S. 4). Aber sie reproduzieren diese Machtverhältnisse auch, indem sie Selbst- und Fremdbilder prägen und damit sowohl das politische Handeln gegenüber den Repräsentierten als auch deren eigenes Verhalten beeinflussen (Doty 1996, S. 19). Trotz dieser umfassenden Machtwirkungen sollte eine politische Visual Culture das Visuelle als einen Ort der Ambivalenzen und der Interpretation sehen, der immer Raum für alternative Imaginationen und Widerspruch bietet (Appandurai 1996, S. 4–5; Sienra Chaves 2015). Es ist also keineswegs von einem passiven Bildkonsumenten und einer totalen Bildermacht durch politische oder ökonomische Eliten auszugehen, was sich nicht nur in den hier gezeigten Beispielen, sondern auch in Online-Medien zeigt: „Everyone is a potential producer on the World Wide Web, the argument goes, hence the power relations between the culture industry and its audiences will be transformed“ (Sturken und Cartwright 2001, S. 334). Gerade durch den erweiterten Kreis von Bildproduzent*innen durch mobile Endgeräte wird Online-Medien ein großes Potenzial gegen die Hegemonie der monopolistischen Medienproduktion von wirtschaftlichen oder staatlichen Interessenvertretern zugesprochen: “In a globalized image world, visual and media hegemonies perpetuate the neoliberal configurations of power. However, new media platforms may foster emancipative potentials based on the production, manipulation, and circulation of images that flow to an aesthetic field able to disrupt and disturb official narratives” (Fahlenbrach et al. 2014, S. 209).

Nachdem die Visual Culture lange als Ablenkung von „ernsthafter“ wissenschaftlicher Arbeit mit Textmaterial gesehen wurde (Mirzoeff 1999, S. 31) ist sie heute auch in den IB angekommen. Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass (welt-) politische Bezüge überinterpretiert und in allen uns umgebenden Bildern ein starker politischer Gehalt erkannt werden muss. Vielmehr kann die Berücksichtigung visueller Materialien unser interpretatives Repertoire und somit unser Verständnis der Welt, von Politik und schließlich von Weltpolitik maßgeblich erweitern – und einen Ansatz dafür bieten, alltägliche Repräsentationspraktiken aus einer neuen Perspektive zu hinterfragen (Bleiker 2001, S. 519). Schließlich reproduziert nicht

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nur internationale Politik, sondern auch die IB-Forschung selbst Machtverhältnisse. Auch die Wissenschaft hat keinen objektiven Zugriff auf die Realität, besitzt aber dennoch eine gewisse gesellschaftliche Autorität. Deshalb sollten IB-Forschende verantwortungsvoll sowohl mit untersuchtem Bildmaterial als auch mit ihrem eigenen Bildgebrauch umgehen und ihre eigene Sprechposition reflektieren, die notwendigerweise die eigene Arbeit beeinflusst (Bleiker 2001, S. 513, 526).22 Sowohl als Forschende als auch als tägliche Bildkonsument*innen können wir unsere visual literacy stärken, die eine erweiterte Perspektive auf Weltpolitik und die dahinterliegenden Weltanschauungen ermöglicht.

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22 Zu dekolonialen Strategien in der IB-Forschung, die u. a. den Globalen Norden als primäres Subjekt moderner Weltgeschichte und -politik hinterfragen und dafür auch (subalterne) Subjektpositionen des Globalen Südens rekonstruieren, s. Sabaratnam (2011, S. 785–786).

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Un-/Sichtbare Folter Streit um Normen ‚made in Hollywood‘ Gabi Schlag

Zusammenfassung

Dieser Beitrag setzt sich mit der Darstellung von Folter in dem Film Zero Dark Thirty (2012; R: Kathryn Bigelow) auseinander. Ausgangspunkt meiner Überlegung ist die Annahme, dass sich die Umstrittenheit von Normen nicht nur in ‚klassisch‘ politischen Texten wie etwa Präsident*innenreden, Regierungsverordnungen, Geheimdienstberichten oder Parlamentsdebatten beobachten lässt, sondern auch gesellschaftlich und kulturell manifestiert. Diese gesellschaftlich-kulturellen Orte des Streits um Normen finden wir in populären Medien wie etwa fiktionalen und dokumentarischen Filmen, Romanen, Autobiographien oder Comics. In diesem Beitrag möchte ich deshalb zeigen, dass ein Blick auf Populärkultur eine Möglichkeit bietet, besser zu verstehen, unter welchen Bedingungen selbst etablierte Normen wie das absolute Folterverbot in die Krise geraten. Hierbei geht es vor allem um die Frage, wie Folter in Zero Dark Thirty ausgeführt, gezeigt und somit gegenüber dem Publikum sichtbar gemacht wird. Der Film spiegelt nicht nur die Debatte über die Normalisierung und Legalisierung erweiterter Verhörmethoden im GWOT wieder, sondern ermöglicht den Zuschauer*innen einen Blick hinter die Kulissen. Weil der Film den Anspruch erhebt, auf Tatsachenberichten zu beruhen, prägt er unweigerlich das öffentliche Bild über die Notwendigkeit und Effektivität von Foltermethoden. Schlüsselbegriffe

Populärkultur, Folter, Normen, Umstrittenheit, Filme

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Schlag und A. Heck (Hrsg.), Visualität und Weltpolitik, Horizonte der Internationalen Beziehungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29971-2_3

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1 Einleitung Obwohl die Folter von Gefangenen durch Erklärungen, Konventionen, nationales und internationales Recht verboten ist und moralisch geächtet wird, findet sie Vielerorts nach wie vor Anwendung. Folter wird aber nicht nur in autoritär geführten Staaten praktiziert, sondern auch in liberalen Demokratien, die sich gerne als Vorreiter im Menschenrechtsschutz sehen (Rejali 2000; McCoy 2012). Der ‚globale Krieg gegen den Terrorismus‘ (global war on terrorism, kurz: GWOT) dürfte das jüngste Beispiel dafür sein, wie durch eine demokratische Regierung so genannte ‚erweiterte Verhörmethoden‘ (enhanced interrogation techniques, kurz: EIT) autorisiert, legalisiert und angewendet wurden. Der Begriff ‚erweiterte Verhörmethoden‘ ist dabei nichts anderes als ein Euphemismus für weithin bekannte Folterpraktiken, zu denen etwa Reizentzug, Stresspositionen und waterboarding1 zählen, also Techniken, die möglichst geringe oder gar keine körperlichen Spuren hinterlassen (Dratel und Greenberg 2005; zu den Praktiken, Rejali 2000). Die im Jahre 1984 unterzeichnete UN-Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (kurz: CAT)2 lässt keinen Zweifel daran, dass diese Taten unter keinen Umständen legal oder legitim sind. Auch nationales Recht und deren Rechtsprechung erkennen das absolute Folterverbot an, wie der in Deutschland bekannte Fall des entführten Bankierssohns Metzler und die Androhung von Folter durch den stellvertretenden Frankfurter Polizeipräsidenten Daschner gegenüber dem Verdächtigen und tatsächlichen Täter Gäfgen aus dem Jahr 2002 zeigt.3 Ungeachtet der rechtlichen und moralischen Ächtung versuchen Befürworter*innen jedoch unter Verweis auf die Effektivität und 1

Auf Grund der schlechten Übersetzbarkeit des Begriffes wird die englische Bezeichnung verwendet. 2 Dort wird Folter in Art. 1 folgendermaßen definiert: „Im Sinne dieses Übereinkommens bezeichnet der Ausdruck „Folter“ jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich grosse körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmasslich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen, um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden. Der Ausdruck umfasst nicht Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind.“ 3 Daschner und ein weiterer Kollege wurden wegen Verleitung zu einer Straftat sowie Nötigung zu einer Geldstrafe verurteilt. Gäfgen legte 2005 vor dem EGMR Beschwerde

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Notwendigkeit ‚erweiterter Verhörmethoden‘ in Ausnahmesituationen bis heute deren Anwendung zu rechtfertigen. Folter solle demnach als Mittel zur Verhinderung und Vorbeugung schwerer Straftaten wie etwa terroristischer Anschläge oder der Rettung von Menschenleben eingesetzt werden dürfen, notfalls mit einer richterlichen Folteranordnung wie dies der U.S.-amerikanische Jurist und Hochschullehrer Alan Dershowitz 2003 vorschlug (Beestermöller und Brunkhorst 2006). Der systematische und weithin belegte Einsatz von Foltermethoden in Guantànamo Bay, Abu Ghraib oder in den weltweit verstreuten Geheimgefängnissen der CIA zeigt, dass die Diskussion über die mögliche Legalisierung und Legitimierung gewaltsamer Verhörmethoden nicht rein hypothetisch formuliert, sondern von der U.S. Regierung und ihren nachgeordneten Sicherheitsorganen praktisch umgesetzt wurde. Spätestens seit Beginn der 1990er Jahre sind internationale Normen wie das Folterverbot ein zentraler Untersuchungsgegenstand der Internationalen Beziehungen (IB). Nach über zwei Jahrzehnten der Forschung über die Entstehung, Verbreitung und Einhaltung internationaler Normen zeigt sich jedoch immer deutlicher, dass über „standards of behavior defined in terms of rights and obligations“ (Krasner 1983, S. 2) vielfältig gestritten wird. Kritische Ansätze der Normenforschung betonen daher die Instabilität und Umstrittenheit von Normen, deren Normalität und Normativität stets aufs Neue hergestellt werden müsse (Niemann und Schillinger 2016, Wiener 2014, Deitelhoff und Zimmermann 2013). Selbst weithin akzeptierte und formalisierte Normen wie das Folterverbot könnten somit erodieren, wenn Praktiken und Diskurse die Geltung der Norm dauerhaft unterminieren und damit verbunden ihre Normalität und Normativität in Frage stellen. Normenforscher*innen haben in diesem Sinne sowohl die Ursachen als auch die Folgen einer möglichen Aushöhlung des absoluten Folterverbots durch den GWOT thematisiert (u. a. Rosert und Schirmbeck 2007; Liese 2009; McKeown 2009, Brunné und Toope 2010, Blakeley 2011, Sikkink 2013, Birdsall 2016, Keating 2016, Schmidt und Sikkink 2018). Während einige die U.S.-Folterpraxis und den Versuch, diese zu legalisieren und/oder zu banalisieren, als einen erstzunehmenden Bruch mit der Anti-Folter Norm verstehen, so kommen andere zu dem Urteil, dass der normative Kern des Verbotes weiterhin robust sei. Schmidt und Sikkink (2018, S. 106) haben jedoch erst kürzlich darauf hingewiesen „that the US contestation masked a deeper attempt to contest the validity of the norm itself“. Der Versuch der Legalisierung von Folterpraktiken, die Verschleierung des CIA-Verhörprogrammes sowie die präsidiale Zusicherung, keine Strafverfolgung gegen U.S.-amerikanische Täter*in-

wegen der Verletzung von Art. 3 EMRK (Folter- und Misshandlungsverbot) und Art. 6 EMRK (faires Verfahren) ein.

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nen einzuleiten, zeigen, dass selbst eine etablierte Norm wie das Folterverbot eine krisenhafte Phase mit unbekanntem Ausgang erleben kann. Ich teile die Einschätzung von Schmidt und Sikkink und möchte zeigen, dass populäre, kulturelle Texte Hinweise bieten, warum sich die normative Bindung des Folterverbots in einer beunruhigenden Krise befindet. Diese Krise ist gekennzeichnet von dem Mythos der Notwendigkeit und Effektivität von Folter, um geheimdiensttaugliche Informationen zu erhalten, sowie der Straflosigkeit derjenigen, die Folter autorisiert und ausgeführt haben. Ausgangspunkt meiner Überlegung ist die Annahme, dass sich die Umstrittenheit von Normen nicht nur in ‚klassisch‘ politischen Texten wie etwa Präsident*innenreden, Regierungsverordnungen, Geheimdienstberichten oder Parlamentsdebatten beobachten lässt, sondern auch gesellschaftlich und kulturell manifestiert. Diese gesellschaftlich-kulturellen Orte des Streits um Normen finden wir in populären Medien wie etwa fiktionalen und dokumentarischen Filmen, Romanen, Autobiographien oder Comics. In diesem Beitrag möchte ich deshalb zeigen, dass ein Blick auf Populärkultur eine Möglichkeit bietet, besser zu verstehen, unter welchen Bedingungen selbst etablierte Normen wie das absolute Folterverbot in die Krise geraten. Dieser Beitrag setzt sich mit der Darstellung von Folter in dem Film Zero Dark Thirty (2012; R: Kathryn Bigelow) auseinander. Hierbei geht es vor allem um die Frage, wie Folter ausgeführt, gezeigt und somit gegenüber dem Publikum sichtbar gemacht wird. Der Film spiegelt nicht nur die Debatte über die Normalisierung und Legalisierung erweiterter Verhörmethoden im GWOT wider, sondern suggeriert den Zuschauer*innen einen Blick hinter die Kulissen. Weil der Film den Anspruch erhebt, auf Tatsachenberichten zu beruhen, prägt er unweigerlich das öffentliche Bild über die Notwendigkeit und Effektivität von Foltermethoden. Obgleich es sich nur um einen Spielfilm handelt, vermag ZDT in der öffentlichen Rezeption vermeintlich authentischere Texte, wie etwa den detaillierten Bericht des U.S.-Senatsausschusses oder interne Untersuchungsberichte des U.S.Militärs, zu verdrängen. Die Folterszenen treten somit auch an die Stelle von dokumentarischen Videoaufnahmen, die (wahrscheinlich) unrechtmäßig durch die derzeitige CIA-Direktorin Gina Haspel vernichtet wurden.4 ZDT prägt ‚unser‘ Bild von Folter. Im Folgenden werde ich zuerst meinen Beitrag in der Debatte über Norm-Kontestation und die Erosion der Anti-Folter Konvention verorten sowie die produktive Schnittstelle zwischen Normenforschung und Populärkultur aufzeigen. Der zweite 4 Zum Fall Gina Haspel, die als CIA-Mitarbeiterin ein geheimes Verhörgefängnis in Thailand beaufsichtigte, siehe die jüngst veröffentlichten Telegramme, die von der Folter des Häftlings al-Nashiri berichten. Digitale Kopien der Telegramme sind im National Security Archive (https://nsarchive.gwu.edu, abgerufen am 1. Oktober 2018) verfügbar.

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Teil widmet sich dann der filmpolitologischen Diskussion von Zero Dark Thirty (Heck und Schlag 2016). Dabei soll erörtert werden, wie die filmische Inszenierung den Mythos der notwendigen und effektiven Folter zwar weiterleben lässt, gleichzeitig aber das fehlende Unrechtsbewusstsein der ‚Täter*innen‘ sag- und sichtbar macht.

2

Un-/Strittige Normen: Rechtfertigung und Kritik der Anti-Folter Norm

Zweifellos haben U.S.-Behörden bereits vor dem GWOT Foltermethoden eingesetzt, um Gefangene zu verhören, wie etwa im sog. Phoenix-Programm in Vietnam (McCoy 2012). Das U.S.-Militär hat mit dem SERE-Programm, in dem Soldat*innen lernen sollen, gewaltsame Befragungen in Gefangenschaft zu überstehen, sowie mit dem sog. KUBARAK-Handbuch zu Verhörmethoden sich dem Thema Folter auch in der eigenen Ausbildungspraxis gewidmet. Im Verlauf des GWOT wurden zahlreiche Gefangene gefoltert, um die Preisgabe von Informationen zu erzwingen. Laut Bericht des Geheimdienstausschusses des U.S. Senats, federführend zusammengetragen von der demokratischen Senatorin Diane Feinstein, wurden 30 Gefangene ‚erweiterten Verhörmethoden‘ unterzogen, wobei der ‚Erfolg‘ dieser Methoden unterschiedlich ausgefallen sei. Im Ergebnis hätte der Einsatz dieser Methoden jedoch zu keinen belastbaren Aussagen geführt, meist handelte es sich sogar um Falschinformationen. Sowohl führende Mitarbeiter*innen des CIA, Mitglieder der Bush-Administration als auch republikanische Senator*innen haben dieser Darstellung widersprochen. Dass Folter eine wenig verlässliche Verhörmethode darstellt, ist jedoch gut belegt. Folter dient vielmehr der Erniedrigung und Bestrafung, obgleich es als öffentliches Spektakel fast vollständig verschwunden ist (Foucault 1975; Langbein 1976).5 Die Bemühungen der Bush-Regierung, ‚erweiterte Verhörmethoden‘ zu legalisieren, wecken Zweifel, ob die Beteiligten die normative Bindung des absoluten Folterverbotes überhaupt anerkennen. Die mittlerweile allseits bekannten Folter-Memos legen nahe, dass es sich beim Einsatz von Folter im Rahmen des GWOT nicht um einen üblichen Fall des Verstoßes gegen nationales und internationales Recht handelt. Die beteiligten Politiker*innen und Jurist*innen zielten im Gegenteil darauf ab, Foltermethoden wie etwa waterboarding als Rechtens darzustellen. Zunächst 5 Zur Funktion und Effektivität von Folter, siehe zahlreiche Autobiographien und journalistische Berichte sowie wissenschaftliche Beiträge unterschiedlicher Disziplinen, O’Mara (2015), Schiemann (2016).

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wurden die Anschläge des 11. Septembers 2001 als ein kriegerischer Akt bezeichnet, Terroristen aber als unrechtmäßige Kombattanten klassifiziert, die nicht unter den Schutz der Genfer Konvention fallen sollten. Zweitens wurde der Folterbegriff durch eine juristische Neudefinition so eng gefasst, dass lediglich Organversagen und der mögliche Tod des Häftlings noch unter diesen subsummiert werden konnte. Drittens wurde die verfassungsrechtlich umstrittene Position vertreten, dass die Befehlsgewalt des U.S. Präsidenten als militärischer Oberbefehlshaber nicht durch zur nationales und internationales Recht eingehegt sei (Sikkink 2013, S. 151; Liese 2009, S. 31–32; McKeown 2009, S. 13; Birdsall 2016, S. 183; Blakeley 2007; Greenberg 2005). Eher sicherheitspolitisch motivierte Rechtfertigungen wie etwa das Szenario einer ‚tickenden Bombe‘ sowie Vorstellungen einer asymmetrischen Kriegskonstellation, in der Demokratien im Nachteil seien, weil sie im Gegensatz zu Terroristen an Recht gebunden sind, komplementieren die juristische Diskussion. Das absolute Folterverbot wurde daher nicht einfach gebrochen – der Verstoß gegen eine Norm mag deren Geltung und Gültigkeit kontrafaktisch bestätigen –, sondern die Beteiligten adressieren sowohl die Anwendbarkeit als auch Validität der Anti-Folter Norm im GWOT. Der Streit um die Anwendung der Anti-Folter Norm zeigt sich auch in anderen Fällen, etwa am Umgang Großbritanniens mit der Irish Republican Army (IRA) in den 1970er Jahren oder Israels Verhörmethoden bis zum Jahr 1999 (Liese 2009; Rejali 2012). Zunächst ist immer wieder zu beobachten, wie Regierungen und Sicherheitsbehörden die Absolutheit des Folterverbots durch Verweis auf eine besondere Gefahrenlage relativieren, weshalb die Anwendung von Gewalt zur Erzwingung von Informationen zumindest notwendig, wenn nicht gar geboten sei (‚tickende Bombe‘ oder sog. Rettungsfolter). Zweitens bezeichnen Regierungen den Einsatz von Gewalt gegen Gefangene nicht als Folter, sondern als notwendige ‚erweiterte Verhörmethoden‘, die unter äußerst strenger Beobachtung stehen und stets von erfahrenen Staatsdienern oder Expert*innen ausgeführt werden sollen. Drittens unterscheiden insbesondere liberale Demokratien zwischen der Anwendung von Folter und dem Einsatz von Verhörmethoden, die als ‚torture lite‘ verharmlost werden. Entsprechend wurde in den USA diskutiert, welche Praktiken oder Kombination von Praktiken bei der Vernehmung von Gefangenen angewendet werden dürften, um noch unterhalb der Schwelle zur Folter zu bleiben. Betrachte man den ganzen juristischen und geheimdienstlichen Aufwand, den die Bush-Regierung betrieben hat, um die Anwendung von ‚erweiterten Verhörmethoden‘ als erforderlich und rechtens darzustellen, lasse sich aber auch der Schluss ziehen, so Birdsall (2016, S. 177), dass die Anti-Folterkonvention ein entscheidender Referenzpunkt sei. Denn man hätte das Folterverbot ja auch einfach ignorieren können.

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In der Normenforschung werden solche Konflikte über die Bedeutung, Anwendung und Validität von Normen als Kontestation bezeichnet. Der Streit um Normen verweist nicht nur auf einen faktischen Verstoß gegen oder eine Missachtung von anerkannten Verhaltensregelungen wie etwa dem Folterverbot. Umstrittenheit bezeichnet zum einen das beobachtbare in-Frage-stellen der Anwendbarkeit sowie normativen Bindung einer Regel durch (betroffene) Akteure (Deitelhoff und Zimmermann 2013, S. 1). Die Folgen von Kontestation können dabei unterschiedlich ausfallen, d. h. sowohl zu einer Präzisierung, aber auch zu einer Erosion von Normen führen. Zum anderen ist der Streit um eine Norm konstitutiver Bestandteil normativer Ordnungen, die erst im Spannungsfeld von Rechtfertigung und Kritik ihre Bindung entfalten können (Wiener 2014, 2017; Günther und Forst 2010). Kontestation beinhaltet somit eine empirische als auch eine normative Dimension und betont die Fluidität und Ambiguität von Normen (Hofferberth und Weber 2015; Engelkamp und Glaab 2015). Während Normenforscher*innen in den 1990er Jahren oftmals die Stabilität und Eindeutigkeit von Regeln und Normen betonten, fokussieren aktuellere Ansätze stärker auf gesellschaftliche Diskurse sowie auf sinnstiftende Praktiken, die Normen in konkreten Situationen Bedeutung verleihen. Weil die Bedeutung von Normen, so Niemann und Schillinger (2016, S. 30), „illusive, shifting, and contested when it comes to their application in specific situations“ ist, hat die kritische Normenforschung eine diskursive Wende vollzogen. Zahlreiche Forscher*innen haben sich bereits mit der Frage beschäftigt, wie der Verstoß der Bush-Regierung gegen das Folterverbot zu deuten sei: Erosion oder Bestätigung bilden die beiden diagnostischen Pole (exemplarisch: Rosert und Schirmbeck 2007; Schmidt und Sikkink 2018).6 Im Mittelpunkt der Analysen stehen dabei in der Regel Regierungsdokumente, Reden von politischen Entscheidungsträger*innen, Untersuchungsberichte und auch Korrespondenzen, wie sie jüngst durch Wikileaks zugänglich wurden, die als Manifestation politischer Diskurse gedeutet werden. Selten werden jedoch populäre und kulturelle ‚Daten‘ wie etwa Autobiographien, Dokumentationen, Spielfilme und TV Serien analysiert. Gerade populäre Medien wie der Film zeigen aber, ob und wie Akteure die Bedeutung einer Norm verhandeln und „wie sich Menschen ihr zwischenmenschliches Miteinander vorstellen, welche Regeln gelten sollen und welche normativen Erwartungen gestellt werden“ (Gadinger 2018, S. 298). Die Regeln des Sag- und Sichtbaren werden eben nicht nur durch politische Reden, sondern auch durch populäre Bilder und Texte mitbestimmt.

6 Für einen praxis-orientierten Ansatz, siehe Austin (2017).

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Populärkultur und die Darstellung von Folter

Politikwissenschaftliche Arbeiten7, die sich mit kulturellen Massenmedien, Populärkultur und Pop beschäftigen, werden immer noch belächelt und provozieren oft den Vorwurf, die*der Autor*in mache sein*ihr Hobby, z. B. Videogames spielen (siehe den Beitrag von Heck in diesem Band), Comics lesen, ins Kino gehen und Serien schauen, zum Beruf. Der Begriff Populärkultur bzw. Popkultur (im engl. ‚popular culture‘) wird für Produkte verwendet, deren primäre Ziele Unterhaltung und kommerzieller Erfolg sind, und die massenhaft verbreitet und konsumiert werden. Auch gruppenspezifische (Alltags-)Praktiken sind Teil von Popkultur, wie z. B. Fußballfankultur. Oftmals wird mit der Bezeichnung Populärkultur im Gegensatz zum bildungsbürgerlichen Kulturverständnis ‚ästhetisch wertvoller‘ Produkte und Praktiken eine negative Bewertung beabsichtigt. Welche Produkte und Praktiken aber als Teil der Populärkultur gelten, ist bedingt durch historische und gesellschaftliche Einflussfaktoren, d. h. wandelbar und kontingent.8 Durch die Entwicklung des Films als populäres Massenmedium des 20. Jahrhunderts und beflügelt von neuen Serienformaten auf HBO, Netflix und Amazon Prime, sind in den letzten Jahren sowohl im deutsch- als auch englischsprachigen Raum eine Reihe von Publikationen mit politikwissenschaftlichem Fokus erschienen, die dem einseitigen Bild einer ‚Hobbywissenschaft‘ entgegenwirken wollen.9 7 Die Wertschätzung populärer Medien mag in anderen Disziplinen wie etwa der Soziologie und der Geschichtswissenschaft anfänglich ähnlich gering gewesen sein. Die britischen Cultural Studies, wesentlich durch die Arbeiten von Stuart Hall geprägt, und die Frankfurter Schule, insbesondere Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Abhandlung zur Kulturindustrie, sind zwei wichtige Referenzpunkte. 8 Zu Konzepten und Ansätzen, siehe Kühne und Troschitz (2017). Storey weist zu Recht darauf hin, dass eine ‚Definition‘ von Popkultur immer umstritten ist und vielmehr die kontinuierliche wissenschaftliche Debatte widerspiegelt: „any definition of popular culture will bring into play a complex combination of the different meanings of the term ‘culture’ with the different meanings of the term ‘popular’. The history of cultural theory’s engagement with popular culture is, therefore, a history of the different ways in which the two terms have been connected by theoretical labour within particular historical and social contexts“ (Storey 2008, S. 5). Zu gesellschaftlichen und wissenschaftspolitischen Vergleich von Populärkultur und Popular Culture, siehe den informativen Beitrag von Thomas Kühne in Kühne und Troschitz (2017). 9 Einen sehr guten Einblick in deutsch-sprachige Debatten in der Politikwissenschaft bieten Hamenstädt (2016), Besand (2018), Switek (2018). Die Herausgeber*innen der Reihe Popular Culture and World Politics bei Routledge sowie die gleichnamige Konferenz, Panels auf der Jahreskonferenz der International Studies Association und Publikationen in renommierten Fachzeitschriften haben in den letzten Jahren für eine größere Sichtbarkeit und Akzeptanz in den IB gesorgt.

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Nicht nur hochschuldidaktische und pädagogische Aspekte der ‚Nutzung‘ von populären Medien werden diskutiert, sondern auch die konstitutive Bedeutung von (Massen- und Populär-)Kultur für das Verständnis von Politik und die Bedeutung des Politischen. Auch Teile der IB sind von dieser Bewegung erfasst worden. Obwohl in der IB-Forschung die Bedeutung kultureller Aspekte wie Identität, Ideen und Sprache mit dem Aufkommen konstruktivistischer und post-strukturalistischer Ansätze bereits in den 1980er Jahren (!) begann und heute weitgehend anerkannt ist, zeigt sich in der systematischen Auseinandersetzung mit populärkulturellen Medien eine große Zurückhaltung. Dies ist umso erstaunlicher, weil gerade die Popularität, also (massenhafte) Verbreitung und Rezeption dieser Medien ihre hohe gesellschaftliche Relevanz untermauern. Als kulturelle Medien bieten sie ‚Weltdeutungen‘ an und beteiligen sich damit an der Formation und Strukturierung von gesellschaftlichen Diskursen. Iver Neumann und Daniel Nexon (2006, S. 10) haben vorgeschlagen, vier Ansätze zu unterscheiden, wie Populärkultur und (internationale) Politik zueinander in Beziehung stehen: Erstens kann man danach fragen, inwiefern popkulturelle Produkte Ergebnis, Auslöser oder gar Ursache politischer Entscheidungen sind. Zweitens kann man zeigen, wie Popkultur gesellschaftliche Themen und Prozesse widerspiegelt und dabei hilft, diese besser zu verstehen oder erklären zu können. Drittens kann Popkultur als eine Form von Daten behandelt werden, anhand derer sich die Existenz von Normen, Überzeugungen und Identitäten untersuchen lässt. Schließlich lässt sich die Beziehung zwischen Popkultur und Politik als eine wechselseitig konstitutive verstehen, in der reflektiert wird, wie populäre Repräsentation des Politischen politische Entscheidungen ermöglichen und legitimieren. In jüngster Zeit – und mit der Absicht, mehr Wissenschaftler*innen davon zu überzeugen, ‚how popular culture matters‘ – haben einige Autor*innen eingefordert, den kausalen Einfluss von beispielsweise Science-Fiction und Agentenkrimis auf Politik nachzuweisen (Carpenter 2016; Daniel und Musgrave 2017). Jutta Weldes (1999, S. 118) erinnert uns jedoch daran, dass ‚Kultur‘ aus „potentially contested codes and representation“ bestehe und daher schwerlich als reine Ursache oder Wirkung operationalisiert werden könne. Vielmehr stellt sich die Frage, inwiefern Politik immer schon eine kulturelle Basis voraussetzt, die politische Entscheidungen als angemessen, notwendig und gerechtfertigt erscheinen lasse. Populärkultur, so Weldes (1999, S. 119) weiter, biete „a background of meanings that help to constitute public images of international relations and foreign policy“. Sie wirke an der Herstellung von gesellschaftlichem Konsens zu ‚umstrittenen‘ Themen mit: “Popular Culture thus helps to construct the reality of international politics for officials and non-officials alike and, to the extent that it reproduces the content and

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Gabi Schlag structure of the dominant foreign policy discourse, it helps to produce consent for foreign policy and state action. Popular culture is thus implicated in the ‚production of consent’” (Weldes 1999, S. 119).

Kommerziell erfolgreiche Filme wie ZDT gestalten die Realität des GWOT in dem Maße mit, wie sie Narrative und Bilder des dominanten U.S.-amerikanischen Diskurses reproduzieren und Unterstützung für umstrittene politische Entscheidungen wie etwa Folter mobilisieren können. Popkulturelle Darbietungen sind nicht (nur) unterhaltsame Ablenkungen oder didaktische Werkzeuge, die einer eigenen und damit vom Politischem getrennten Sphäre entspringen. Vielmehr lässt sich die Relation zwischen Populärkultur und Politik als ein Kontinuum verstehen (Grayson, Davies und Philpott 2009, S. 155).10 “IR scholarship should be concerned about what happens to culture and to politics when one is rendered in terms of the other. Thus, there is a clear need to explore what is placed in the ‘frame’ of analysis when current reconfigurations of world politics are examined through the lenses of popular culture” (Grayson, Davies und Philpott 2009, S. 160).

In diesem Sinne kann der Film ZDT einerseits als Spiegel des Folterdiskurses verstanden werden, da die gängigen Rechtfertigungspraktiken der U.S.-Regierung, aber auch die Ambiguität dieser Praxis sich in den Bildern und Narrativen des Films manifestieren. Andererseits konstituiert ZDT das öffentliche Bild von Folter im GWOT und reproduziert damit verbundene Mythen über die Notwendigkeit und Effektivität von gewaltsamen Verhörmethoden. Deshalb ist der Film nicht nur eine Analogie, sondern Bestandteil des Streits über die Anwendung und Geltung des Folter-Verbots. Populärkultur ist somit ein Ort, an dem Normen, d. h. Erwartungen angemessenen Verhaltens, verhandelt werden. Sie kann sowohl der kulturellen Validierung, sozialen Anerkennung als auch in-Frage-Stellung von Normen dienen (zum Kon-

10 Dieses Kontinuum beschreiben die Autor*innen folgendermaßen: „The popular culture– world politics continuum is not a product of mapping where intersections between the two take place, the lines of connection between them or the moments when they break apart. Rather, conceptualising them as a continuum brings sensitivity to how political phenomena are, at times, diminutively positioned as properly residing within the sphere of popular culture and, at others, positioned as important products of world politics despite being intertextual, mutually constitutive and even materially entangled through cycles of production, distribution and consumption“ (Grayson, Davies und Philpott 2009, S. 158).

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testation-Zyklus, siehe Wiener 2017). Denn, so schreibt Deanna Sellnow (2010, S. 5, zit. nach Kühne und Troschitz 2017): “popular culture persuades […] by conveying messages about desirable and undesirable, appropriate and inappropriate, and normal and abnormal beliefs, attitudes, values, and behaviors. Thus, popular culture is significant because it has the persuasive power to shape beliefs and behaviors” (eigene Herv.).

Die Darstellung von Folter in popkulturellen Medien und damit verbunden die Analyse dieser ist keineswegs neu oder außergewöhnlich. So enthalten zahlreiche Filme und Fernsehserien, die seit 2001 produziert wurden, Szenen, in denen gefoltert wird, jedoch meistens zur Unterhaltung des Publikums und selten als kritische Reflexion über die Praxis exzessiver Gewalt (Adams 2016; Flynn und Salek 2012). Solche filmischen Darbietungen von Folter rekurrieren oft auf eine „accepted iconography“ (Rejali 2012, S. 222), wie Gewalt ‚aussieht‘ und wann Gewalt von wem mit welcher Intension (oder eben ohne) eingesetzt wird. Gerade das Bild ‚effektiver Folter‘ wird in U.S.-amerikanischen Serien und Spielfilmen gerne reproduziert. Die Darstellung der folternden Charaktere basiert meistens auf zwei verschiedenen Mustern. Entweder sind die Folterer tragische Helden, die keinen anderen Weg sehen, als Gewalt anzuwenden, um von einem Verdächtigen, der meistens auch schuldig ist, ein Geständnis zu erlangen, das weitere Menschenleben rettet – der Prototyp ‚Jack Baur‘ und das Szenario der ‚tickenden Bombe‘ in der TV-Serie 24. Oder sie sind Sadist*innen, die perfiden Gefallen daran finden, andere zu Quälen und oftmals unschuldigen Opfern Schmerzen zuzufügen – der Prototyp des James Bond-Gegenspielers und SS-Soldaten. Die Sicht- und Hörbarkeit der körperlichen Qualen treibt die filmische Handlung regelrecht an und soll Zuschaueraufmerksamkeit erzeugen: Horror, Schrecken, aber auch Ekel und Abscheu. Die psychologischen (Langzeit-)Folgen von Folter, sowohl bei Täter*innen als auch Opfern, werden hingegen selten gezeigt und thematisiert. Nicht zu vergessen ist, dass Folter im Film (und der Populärkultur im Allgemeinen) bis auf einige Ausnahmen von männlichen Charakteren angewendet wird.11 Prominente Serien wie etwa 24 haben nicht nur politische, sondern auch wissenschaftliche Debatten über die Darstellungsformen von Folter in der Popkultur in den letzten Jahren befördert. Im Mittelpunkt steht oftmals die Frage, inwiefern die vermittelten Bilder und Erzählungen einer Normalisierung und Legitimierung von Folter Vorschub leisten (Peacock 2007, van Veeren 2009, Gadinger 2018). Während die Serie 24 in der Tat wenig Zweifel an der Notwendigkeit und Effektivität von 11 Eine Ausnahme bildet z. B. die angedeutet Folterszene in The Siege (1998) mit Annette Benning als undurchsichtige CIA-Agentin.

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Folterungen weckt, sollten man nicht die Ambiguität von Gewalt-re-präsentation unterschätzen. Spielfilme und Dokumentationen können durch die Thematisierung von Folter auch eine Praxis sichtbar und ‚nachvollziehbar‘ machen, die oftmals im Schutz des Verborgenen seine volle Wirkmächtigkeit entfaltet.12 Auch populärkulturelle Medien müssen von einer*m Leser*in und Zuschauer*in de-kodiert und gedeutet werden. Bedeutung ist aber selten eindeutig, sondern ambivalent und polyphon (zu ZDT, siehe Purse 2017). Wie ich im zweiten Teil dieses Beitrages zeigen werde, spielt auch ZDT mit dieser Uneindeutigkeit des Kulturellen. Einerseits nutzt die Regisseurin die bereits angesprochene akzeptierte Ikonographie bei der Inszenierung der Folterszenen: das Szenario der ‚tickenden Bombe‘, die tragischen Held*innen sowie der Mythos der Notwendigkeit und Effizienz von Folter spiegeln sich in ZDT wider. Andererseits ermöglicht der Film auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem U.S. Folterprogramm, indem sowohl die Gewalttätigkeit, das fehlende Unrechtsbewusstsein der ‚Täter*innen‘ und schließlich die Straflosigkeit von Folter sichtbar werden.13

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‚I have no wish to be tortured again‘ – ZDT und die Kontestation der Anti-Folter Norm

4.1

ZDT als Datum

ZDT ist, wie ein Kritiker anmerkte, „an exercise in instant history and hot-afterthe-fact myth-making“ (Powers 2013, S. 303). Neben einer Reihe an Dokumentationen auf HBO und Fox News ist ZDT bis heute das populärste, d. h. am meisten gesehene, auf unterschiedlichen Plattformen (u. a. Netflix) verbreitete, kommerziell erfolgreiche und rezipierte Datum, das sich mit der Suche von CIA-Agenten nach Osama bin Laden auseinandersetzt.14 Die Popularität von ZDT ergibt sich auch aus der Tatsache, dass bisher keine Bilddokumente (Fotografien oder Videos) veröffentlich wurden oder zugänglich

12 Siehe hierzu vor allem die Dokumentation Standard Operating Procedure (2008, R: Errol Morris) und Torturing Democracy (2008; P: Washington Media Associates, in assocication with National Security Archive / George Washington University). 13 Auf die ‚gendered nature of violence‘ und die Thematisierung von Geschlechternormen in ZDT werde ich in diesem Beitrag nicht eingehen. 14 Siehe Manhunt: The Search for Osama bin Laden (2013; HBO), The man who killed Osama bin Laden (2014; Fox News).

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sind, die CIA-geführte Verhöre von Gefangenen zeigen. Während die Aufnahmen aus Abu Ghraib das weltweite Bild von schweren Misshandlungen und sexuellem Missbrauch bis heute wesentlich bestimmen (auch wenn zu bedenken ist, dass von den hunderten Fotografien lediglich eine Handvoll publiziert wurden), sind angeordnete Folter wie waterboarding nur durch Zeugenaussagen dokumentiert. Video-Material von Verhören wurde zerstört.15 Wie in ZDT die besonderen Verhörmethoden visualisiert werden ist daher von besonderer Bedeutung, da Bigelow den Anspruch erhebt, den Einsatz von Gewalt möglichst authentisch und Dokumenten-basiert darzustellen. ZDT kann als Dokudrama bezeichnet werden, weil es tatsächliche Ereignisse fiktionalisiert und authentisches Bild- und Tonmaterial wie etwa eingehende Notrufe von Opfern am 11. September 2001 oder Nachrichtenberichte zu terroristischen Anschlägen verwendet. Dokudramen setzen wahre Begebenheiten in Szene und signalisieren dies auch mit einem Text-Hinweis im Vor- oder Nachspann gegenüber dem Publikum (Heck 2017). Ihre Plot-Struktur ist durch historische Ereignisse vordefiniert. Da die*der Zuschauer*in womöglich weiß, wie die Geschichte enden wird – es handelt sich ja um einen bekannten historischen Stoff –, sind die Anforderungen, Aufmerksamkeit und Spannung durch die Darbietung zu erzeugen, komplexer. Als Drama und Action-Thriller folgt ZDT daher den genre-typischen Regeln des Hollywood-Kinos und erzählt in knapp 160 Minuten die 11 Jahre dauernde Suche nach Osama bin Laden. Zugleich kann man ZDT sicherlich auch dem neuentstandenen, aber umstrittenen Genre „Dark Americana“ (Jones und Smith 2016) zuschreiben, dessen Haupt-Charaktere ambivalente und pathologische Züge aufweisen und dessen Erzählungen die moralischen Grauzonen des GWOT ausleuchten. ZDT wurde von Kathryn Bigelow gedreht, die als erste Frau einen Regie-Oscar für ihren Film The Hurt Locker bei den Verleihungen 2010 erhielt. Der Film basiert auf dem Buch von Mark Boal und wurde von Boal, Bigelow und Megan Ellison produziert. Das Budget betrug ca. 40 Millionen USD, an den Kinokassen spielte ZDT über 130 Millionen USD ein. Der Film kam Ende Dezember 2012 zuerst in die U.S.-amerikanischen Kinos, wurde dann ab Januar 2013 weltweit vermarket. Sowohl die Bush- als auch die Obama-Administration hatten die Suche nach bin Laden zu einem ihrer wichtigsten Ziele erklärt, verkörperte er doch den Feind und Gegner, den es zu fassen und bestrafen galt (Jeffords und Al-Sumait 2015). Als Osama bin Laden Anfang Mai 2011 in seinem Versteck in Pakistan von U.S.-Spezialkräften aufgespürt und getötet wurde, arbeiteten Bigelow und Boal bereits an einem Filmprojekt mit dem Arbeitstitel Tora Bora, Al- Qaidas Rückzugsort 15 Siehe hierzu die zum Teil veröffentlichten ‚cables‘ im Fall Gina Haspel.

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in Afghanistan (Leopold und Henderson 2015). Das Pentagon gewährte Bigelow und Boal einen umfassenden Einblick in Akten und ermöglichte Gespräche mit Analyst*innen und Geheimdienstmitarbeiter*innen. Dokumente, die im Rahmen des Freedom of Information Act veröffentlich wurden, legen eine enge Kooperation zwischen der CIA und den Filmemachern nahe (Mahler 2015).16 Bigelow und Boal „won unprecedented access to secret details about the bin Laden operation, and how they got agency officers and officials to review and critique the ZDT script“ (Leopold and Henderson 2015). Die Filmemacher betonen jedoch, dass es sich bei ZDT nicht um einen Dokumentarfilm handle.17 Während die CIA-Agent*innen in ZDT fiktionale Charaktere darstellen, verweisen einige Gefangene auf reale Personen, u. a. Ammar Al-Baluchi, Hassan Ghul und Abu Farraj al-Libbi. Der Film erzählt die Geschichte aus Sicht der CIA-Agentin Maya (Jessica Chastain)18, die so ambitioniert und fokussiert ist bin Laden zu finden, dass soziale Beziehungen (oder gar ein Privatleben) für sie nebensächlich sind. Sie wird begleitet von ihrem Vorgesetzten Daniel, genannt Dan (Jason Clark), der gleichzeitig auch ein Vorbild für die Ausübung von Folter ist. Ammar (Reda Kateb) ist der wichtigste Gefangene, der schließlich den entscheidenden Hinweis zu bin Ladens bevorzugtem Kurier gibt, nachdem Dan und Maya ihn dem waterboarding unterzogen und in die Irre geführt haben, dass ein Anschlag seiner Saudi-Gruppe misslungen sei. Nach jahrelanger intensiver Geheimdienstarbeit, zahlreichen Rückschlägen und Opfern führt der besagte Kurier Maya zum Aufenthaltsort von bin Laden in Pakistan. Spezialkräfte dringen in der Nacht in das Haus ein und töten u. a. bin Laden, dessen Leiche schließlich auf einem Militärstützpunkt aufgebahrt und von Maya identifiziert wird. In der Schlussszene sehen wir Maya, im Transportraum eines Militärflugzeuges mit unbekanntem Ziel sitzend, der Tränen über das Gesicht kullern.

16 Siehe auch CIA Office of Inspector General report: Alleged Disclosure of Classified Information by Former D/CIA, March 2014; and CIA Office of Inspector General report: Potential Ethics Violations Involving Film Producers, September 2013. See: https://news. vice.com/article/tequila-painted-pearls-and-prada-how-the-cia-helped-produce-zerodark-thirty, abgerufen am 1. Oktober 2018. 17 https://www.theguardian.com/film/2013/jan/08/bigelow-zero-dark-thirty-torture, abgerufen am 1. Oktober 2018. 18 Matthew Cole und Jane Mayer schreiben, dass die Rolle von Maya einer CIA-Agentin nachempfunden ist, die später als Alfreda Frances Bikowsky bekannt wurde und mutmaßlich an der Inhaftierung und Folter des deutsch-libanesen al-Masri beteiligt war. https://www.newyorker.com/news/news-desk/unidentified-queen-torture, abgerufen am 1. Oktober 2018; https://www.nbcnews.com/news/investigations/bin-laden-expert-accused-shaping-cia-deception-torture-program-n269551, abgerufen am 1. Oktober 2018.

Un-/Sichtbare Folter

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Gewalt ist ein Leitmotiv von ZDT, dessen Plot durch die Abfolge von terroristischen Anschlägen und Verhören vorangetrieben wird. Einige Szenen zeigen die Anwendung von Folter in detaillierter Weise. Ammar wird mehrfach von Dan und Kolleg*innen sexuell erniedrigt, misshandelt und gefoltert. Auch Maya unterstützt die Verhöre, ordnet die Anwendung von Folter eines Gefangenen, Abu Farraj (Yoav Levi), an, übt selbst aber keine physische Gewalt aus. Zudem beziehen sich einige Szenen des Films implizit auf die Anwendung von Folter. Das Wort ‚Folter‘ (im engl. ‚torture‘) taucht im Film lediglich zweimal auf: wenn der neu gewählte Präsident Obama in einem Interview für CBS sagt „America does not torture“ und wenn Hassan Ghul (Homayoun Ershadi), ein Al-Qaida Unterstützer, Maya darum bittet, nicht mehr gefoltert zu werden: „I have no wish to be tortured again. Ask me a question, I can answer it“.

4.2

Der Streit über ZDT

Die gesellschaftliche Debatte in den USA ist auf die Frage fokussiert, ob ZDT Folter als ein effektives Mittel zeige und ob diese Darstellung den Tatsachen entspreche. In ihrer Filmkritik für The New Yorker schreibt Jane Mayer (2012), renommierte Journalistin und Autorin von The Dark Side: Inside Story of How the War on Terror Turned Into a War on American Ideals: „Can torture really be turned into morally neutral entertainment?“. In den Chor der prominenten Kritiker*innen reihten sich auch die Senator*innen Diane Feinstein (Demokraten), Carl Levine (Demokraten) und John McCain (Republikaner) ein, die in einem offenen Brief an den CEO von Sony Pictures Entertainment schreiben, die Erzählung von ZDT sei „grossly inaccurate and misleading in its suggestion that torture resulted in information that led to the location of Usama bin Laden“.19 Bigelow ließ diese Vorwürfe nicht unbeantwortet und reagierte in einem kurzen Beitrag für die LA Times: „I do wonder if some of the sentiments alternately expressed about the film might be more appropriately directed at those who instituted and ordered these U.S. policies, as opposed to a motion picture that brings the story to the screen.“20 Es ist gerade diese gesellschaftliche Debatte, die untermauert, dass Populärkultur – und in diesem Falle ZDT – Teil politischer Kämpfe um Deutungen und Bedeutungen ist. 19 Siehe Feinstein Releases Statement on ‘Zero Dark Thirty’, 19 December 2012; https:// www.feinstein.senate.gov/public/index.cfm/press-releases?ID=b5946751-2054-404a89b7-b81e1271efc9, abgerufen am 1. Oktober 2018. 20 Siehe http://articles.latimes.com/2013/jan/15/entertainment/la-et-mn-0116-bigelowzero-dark-thirty-20130116, abgerufen am 1. Oktober 2018.

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4.3

Die Visualisierung von Folter im Film

Die Eröffnungsszene von ZDT setzt den visuellen und narrativen Rahmen und führt die Zuschauer unmittelbar in das Geschehen ein (Burgoyne 2014). Der Film beginnt mit einem schwarzen Bild, dann erscheint für einen Moment in weißer Schrift der Hinweis „[t]he following motion picture is based on first hand accounts of actual events“. Eine Audio-Kollage von dokumentarischen Notrufen am 11. September 2001 ist zu hören, während erneut in weißer Schrift der Hinweis „11 September 2001“ zu lesen ist. Die Stimmen werden lauter, kaum zu verstehende Gesprächsfetzen erzeugen eine düstere Atmosphäre und enden abrupt. Wie Coll treffend beschreibt, „[b]efore any actor speaks a single fictional line, [.] Zero Dark Thirty makes two choices: it aligns its methods with those of journalists and historians, and it appropriates as drama what remains the most undigested trauma in American national life during the last several decades“ (Coll 2013). Die folgende Szene führt dann die zentralen Charaktere Dan, Maya und Ammar ein. Während Dan das Verhör leitet und über den Einsatz von Gewalt entscheidet, wird Ammar als der machtlose, disziplinierte Gefangene gezeigt, der Gewalt erdulden muss. Ist Maya zu Beginn lediglich Zuschauerin, assistiert sie im weiteren Verlauf Dan beim waterboarding, indem sie ihm den gefüllten Wasserbehälter reicht. Zwar wendet sie wiederholt ihren Blick von der Gewaltszene ab, scheint aber nicht die Notwendigkeit von Folter zu bezweifeln, um Informationen über Anschlagspläne der sog. Saudi-Gruppe von Ammar zu erhalten. Vielmehr drängt Maya Dan zu Beginn der Einstellung, das Verhör nach der ‚gewaltfreien‘ Befragung im ersten Teil gleich fortzusetzen anstatt zu warten. Bedenkt man sowohl den dokumentarischen Frame als auch die ‚Unsichtbarkeit‘ von CIA-geführter Folter in der Öffentlichkeit, bietet die Inszenierung in ZDT dem Publikum ein mögliches Bild und Narrativ an, wie die Anwendung von waterboarding aussieht und welche Ziele mit dem Einsatz von Gewalt verfolgt werden. Folter erscheint hier sowohl als Akt der Vergeltung und Bestrafung für die Toten des 11. September 2001 (siehe Frame) als auch als Mittel zur Informationsgewinnung unter Zeitdruck (siehe tickende Bombe). Auch wenn Dan derjenige ist, der physische Gewalt einsetzt, so ist es doch Ammar, der als Schuldiger definiert und bestraft wird, wie der folgende Dialog verdeutlicht: AMMAR (screaming): Why are you doing this to me? DANIEL: You’re a terrorist, that’s why I’m doing it to you. Die Bedeutsamkeit von Feindbildern und Zeitdruck für die Ermöglichung und Rechtfertigung von Folter sind bestens bekannt. Allein die Tatsache, dass Ammar

Un-/Sichtbare Folter

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als ‚Terrorist‘ identifiziert wird, rechtfertigt den Einsatz von Gewalt für die Akteur*innen. Im Verlauf des Filmes wird Folter immer wieder als strategisches und taktisches Instrument zur Gewinnung von Informationen unter Zeitdruck genutzt. Da kontinuierlich tödliche Anschläge im Namen von al-Qaida geschehen, befinden sich Dan und Maya im Wettrennen mit Terroristen, denen eben nicht anders als mit Gewalt beizukommen sei. Zugleich erfasst die erste Folterszene in ZDT das Publikum mit einer emotionalen, visuellen und auditiven Wucht – insbesondere durch den Einsatz von Nahaufnahmen, einer wackeligen Kameraführung und authentischer Akustik –, sodass das Bild des körperlich und psychisch angeschlagenen Ammar Mitgefühl wecken kann. Folter wird hier eben auch als Disziplinierungs- und Bestrafungsinstrument sichtbar. Als Verhörmethode bleibt der Einsatz von Gewalt unmittelbar nicht zielführend. Ammar gibt keine Informationen unter und direkt nach der Folter erst preis, sondern bei einem ‚normalen‘ Gespräch etwas später im Film. Erstaunlich ist aber, dass Ammar keine psychologischen Verletzungen durch die Gewalt davonträgt (Flynn und Salek 2012, S. 10), da er schließlich Vertrauen zu Dan und Maya fasst und den entscheidenden Hinweis zu bin Ladens Kurier gibt.

4.4

Die tickende Bombe

Der Plot von ZDT und die Suche nach bin Laden wird wesentlich durch eine Folge von terroristischen Anschlägen zeitlich und räumlich strukturiert. Dazu zählen Anschläge in Khobar/ Saudi Arabien (keine Angabe des Datums)21, London/ Vereinigtes Königreich (7. Juli 2005), Marriot Hotel in Islamabad/Pakistan (20. September 2008), Camp Chapman/ Afghanistan (ohne Angabe des Datums)22 und New York City/USA (1. Mai 2010). Die Inszenierung der Anschläge ist teilweise begleitet von Ausschnitten aus Nachrichtenberichten mit dokumentarischen Bildern und Stimmen. Das Szenario der ‚tickenden Bombe‘ ist eine wohl bekannte Figur des politischen als auch des cineastischen Folterdiskurses. Mit dem Verweis, unschuldige Menschenleben retten zu können, wird die Absolutheit des Folterverbots aufgebrochen und relativiert (Liese 2009, S. 24). In ZDT wird diese Figur zwar nicht 21 Dies ist der Anschlag der Saudi-Gruppe, den Dan und Maya verhindern wollen. Die Szene bezieht sich auf einen Anschlag am 29./30. Mai 2004. 22 Hierbei handelt es sich um einen Anschlag am 30. Dezember 2009, bei dem neben dem Attentäter Al-Bawari, einem jordanischen Arzt mit Verbindungen zu al-Qaida, neun CIA-Agent*innen sterben.

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so aggressiv wie in der TV-Serie 24 eingesetzt (van Veeren 2009, Gadinger 2018), bildet aber den Hintergrund der Rechtfertigung bzw. Duldung von Folter, um eben notwendige Informationen von ‚Terroristen‘ zu erzwingen. Besonders deutlich wird dies in einem Gespräch zwischen Dan und Joseph Bradley (Kyle Chandler), dem CIA-Standortleiter in Islamabad. Während Dan seine Frustration über den mäßigen Erfolg der Befragungen von Ammar äußert, macht Joseph Bradley ihm deutlich, dass er den Druck erhöhen muss, denn „he needs to give us the Saudi group now“ (eigene Herv.). Das Motiv der tickenden Bombe erreicht seinen Höhepunkt nachdem CIA-Agentin Jessica, eine Kollegin von Dan und Maya, bei einem Selbstmord-Attentat in Camp Chapman getötet wird und Joseph Bradley Maya anfaucht, „I don’t fucking care about bin Laden. I care about the next attack. You’re going to start to working on American Al Qaida cells. Protect the homeland“. In ZDT erscheint Folter schlussendlich als ein ambivalentes, gewalttätiges, aber notwendiges Instrument, um Informationen zu gewinnen und Terroristen zu bestrafen, auch wenn sich dadurch keine neuen Anschläge verhindern lassen.

4.5

‚Wir foltern nicht‘ (mehr)

Die Bush-Regierung, so Birdsall (2016, S. 177), habe das Folterverbot nicht einfach ignoriert, sondern sehr viel Arbeit darauf verwendet, die Verhörpraxis zu legalisieren, so dass eben kein Verstoß gegen internationales und nationales Recht vorlege. Solche Versuche der Rechtfertigung und Legalisierung von Folter bleiben in der Erzählung von ZDT weitestgehend unsichtbar. Folter wird hier vielmehr als eine normale und routinierte Verhörpraktik inszeniert. Die von Fall zu Fall notwendige ‚Autorisierung‘ von waterboarding, wie dies von an Verhören Beteiligten beschrieben wird, gibt es in ZDT nicht.23 Dass Folter jedoch politisch umstritten sind, wird deutlich, wenn Dan Maya erläutert, dass er ins CIA-Hauptquartier nach Washington D.C. zurückkehren wird. DANIEL: I’m fine. I’ve just seen too many guys naked. […]. I need to go do something normal for a while. […] You should come with me. […]. MAYA: I’m not going to find Abu Ahmed24 from D.C. […].

23 Siehe dazu die umstrittene Autobiographie von James E. Mitchell sowie die – ebenfalls umstrittene – Gegendarstellung des FBI-Agenten Ali Soufan. 24 Abu Ahmed ist der von bin Laden genutzte Kurier, den es zu finden gilt.

Un-/Sichtbare Folter

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DANIEL: Look Maya, you gotta be really careful with detainees now. The politics are changing and you don’t want to be the last one holding a dog collar when the oversight committee comes. MAYA: I know. Dans Hinweis auf einen Untersuchungsausschuss verdeutlicht ein gewisses Bewusstsein dafür, dass die Verhörpraxis eben nicht im Einklang mit geltenden Regeln stehe, wie dies interne Untersuchungsberichte des US-Militärs zu Folter und Missbrauch in Abu Ghraib und insbesondere der sog. Folterbericht des U.S. Senatsausschusses untersucht haben.25 Etwas später im Film, in einem Aufenthaltsraum der U.S.-Botschaft in Islamabad, sehen und hören die Zuschauer*innen einen kurzen Ausschnitt eines Interviews des gewählten (aber noch nicht vereidigten) Präsidenten Barak Obama mit dem Sender CBS. Obama beteuert „America doesn’t torture and I’m going to make sure that we don’t torture. Those are part and parcel of an effort to regain America’s moral stature in the world“. Diese viel zitierte Aussage von Obama unterbricht eine Unterhaltung zwischen Maya und zwei Kolleg*innen für einen kurzen Moment – die dann ihr Gespräch unbeachtet der Worte des Präsidenten fortsetzten als ob nichts gewesen wäre. Dieser kurze Moment und die Sprachlosigkeit der Charaktere in Bezug auf Obamas Aussagen illustrieren das fehlende Unrechtsbewusstsein der ‚Täter*innen‘ und symbolisieren die (weitgehende) Straflosigkeit von Folter im GWOT. Das fehlende Unrechtsbewusstsein wird auch deutlich, als George White (Mark Strong), Chef der CIA-Afghanistan-Pakistan Abteilung, vom Nationalen Sicherheitsberater gefragt wird, ob er bestätigen könne, dass die observierte Person in dem pakistanischen Anwesen bin Laden sei: GEORGE WHITE: You know we lost our ability to prove that when we gave up the detainee program. Who the hell am I supposed to ask? Some guy in Gitmo who is all lawyered up? He’ll just tell his lawyer to warn bin Laden. Die Relativierung von Menschenrechten und rechtstaatlichen Verfahren zeigte sich bereits als Journalist*innen der Washington Post 2002 das geheime CIA-Verhörpro25 Taguba report on Abu Ghraib (2004), Schlesinger report (2004), Fay report on Abu Ghraib (2004), Church report on Guantanamo Bay (2004), Schmidt report (2005), European Parliament report on black sites (2007), ICRC report (2007), Department of Justice / Office of Professional responsibility report (2009) and Senate Intelligence Committee report on CIA torture (2012). Eine Auswahl an Dokumenten ist unter https://www. therenditionproject.org.uk/documents/index.html verfügbar (abgerufen am 1. Oktober 2018).

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gramm aufdeckten. Ein Beteiligter erläuterte, „if you don’t violate someone’s human rights some of the time, you probably aren’t doing your job“.26 ZDT verdeutlicht uns hier die fehlende Validierung der Anti-Folter Norm auf der individuellen Ebene.

5

Schluss: Kontestation ‚made in Hollywood‘?

Die Zur-Schau-Stellung und Normalisierung von exzessiver Gewalt in und durch populärkulturelle Medien wie etwa Videospiele, TV-Serien oder Spielfilme ist alles andere als neu. ZDT macht jedoch deutlich, dass Folter dann zu einer normalen und alltäglichen Praxis werden kann, wenn die handelnden Akteure den normativen Kern des absoluten Verbots ausblenden und die Anwendung von Gewalt als effektives Mittel mystifiziert wird. Die Abwesenheit von jeglicher Form der (Selbst-) Reflektion der Charaktere in ZDT, dass Folter gegen nationales und internationales Recht verstößt und unter keinen Bedingungen rechtens ist, verdeutlicht sowohl die normative Leerstelle als auch den Mythos effektiver Folter. Für die politikwissenschaftliche Frage, unter welchen Bedingungen Folter möglich und das absolute Folterverbot kontestiert wird, ist das fehlende Unrechtsbewusstsein entscheidend. Denn nur wenn es Akteur*innen erlaubt ist (und bleibt), Normativität auszublenden, lässt sich Folter als eine normale und effektive Praxis im GWOT inszenieren. Während Alex Danchev bereits vor über 10 Jahren mutmaßte, dass „(t)he CAT may be the first casualty of the GWOT“ (Danchev 2006, S. 262), so scheinen die langfristigen Folgen der U.S.-amerikanischen Folterpraxis aus heutiger Sicht ambivalenter und beunruhigender denn je. Die politische und juristische Aufarbeitung begangener Verbrechen, so McCoy (2012), bestätige trotz journalistischer

26 Dana Priest and Barton Gellman (2002) U.S. Decries Abuse but Defends Interrogations ‘Stress and Duress’ Tactics Used on Terrorism Suspects Held in Secret Overseas Facilities, Washington Post, 26 December 2002.

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Enthüllungen, offizieller Untersuchungen27 sowie einzelner Gerichtsprozesse28 die fortdauernde Straflosigkeit der Verantwortlichen. Der temporären Sichtbarmachung von Folterskandalen folge unweigerlich die Rückkehr zu einer Praxis gewaltsamer Verhörmethoden im Verborgenen. Aktuelle Studien zeigen, dass gerade autoritäre Regime, mit denen die U.S.-amerikanische Regierung im GWOT kooperierte, internationalen Normen wie dem absoluten Folterverbot seit 2001 weniger Achtung schenken (Schmidt und Sikkink 2018). Auch für die USA sieht die Bilanz alles andere als rosig aus. Zwar hat eine von Präsident Obama 2009 ins Leben gerufene High Value Detainee Interrogation Group, zusammengesetzt aus Vertreter*innen des Außen- und Verteidigungsministeriums, der CIA und dem FBI im August 2016 best-practice Richtlinien für Befragungen und Verhöre veröffentlicht.29 Gleichzeitig sicherte der Präsident Mitarbeiter*innen, die in das CIA-Programm involvierten waren, Straffreiheit zu. Mit Präsident Donald Trump, der bereits während des Wahlkampfs im Februar 2016 drohte, „I’d bring back a hell of a lot worse than waterboarding“, hat sich die Lage deutlich verschlechtert.30 Wenn es stimmen sollte, dass der derzeitige U.S.-amerikanische Präsident an die Notwendigkeit und Effektivität von Folter glaubt, sind öffentliche Bilder von exzessiver Gewalt wichtiger denn je. Weil Populärkultur eben auch ein Ort ist, an dem die Bedeutung und Geltung von Normen validiert oder in Frage gestellt wird, sollten Forscher*innen nicht nur (digitale) Archive 27 Committee Study of the Central Intelligence Agency’s Detention and Interrogation Program (2012), declassification revisions 3 December 2014; Taguba-Bericht (2004), Schlesinger-Bericht (2004) und Fay-Bericht (2004) zur Untersuchung des Missbrauchs von Häftlingen in Abu Ghraib sowie Church-Bericht (2004) zur Haftsituation in Guantánamo Bay; siehe zahlreiche Berichte von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International and Human Rights Watch sowie dem Internationalen Komitee des Roten Kreuz zu diesen Themen. Zur Rolle der EU-Staaten gab es eine eigene Untersuchung, siehe Fava- und Marty-Bericht. 28 Eine Übersicht juristischer Verfahren in den U.S. findet sich auf den Seiten der American Civil Liberties Union (https://www.aclu.org, abgerufen am 1. Oktober 2018). Für einen Überblick zu vergangenen und laufenden Verfahren basierend auf dem Weltrechtsprinzip, siehe Gallagher (2009) sowie Informationen auf den Seiten des Centre for Constitutional Rights (https://ccrjustice.org, abgerufen am 1. Oktober 2018). Derzeit steht eine Entscheidung am International Strafgerichtshof aus, ob Untersuchungen zu Kriegsverbrechen in Afghanistan eingeleitet werden, wovon sicherlich auch U.S-amerikanische Soldat*innen und Geheimdienstmitarbeiter*innen betroffen wären. 29 Siehe https://www.fbi.gov/file-repository/hig-report-august-2016.pdf/view, abgerufen am 1. Oktober 2018. 30 Siehe https://www.washingtonpost.com/politics/trump-says-torture-works-backs-waterboarding-and-much-worse/2016/02/17/4c9277be-d59c-11e5-b195-2e29a4e13425_story. html?utm_term=.63024d214a7f, abgerufen am 1. Oktober 2018.

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sichten und Daten statistisch auswerten, sondern mal ins Kino gehen oder einen Polit-Thriller lesen. Denn nur so können wir besser verstehen, wie es sein kann, dass Menschen weiterhin daran glauben, die Folterung von Gefangenen sei eine effektive, notwendige und entschuldbare Praxis.

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Umstrittene Legitimität Das Internationale Straftribunal für Ex-Jugoslawien (ICTY) als „Stimme der Menschheit“ und als „politisches Gericht“ Anna Geis und Katarina Ristić

Zusammenfassung

Internationale Straftribunale agieren in einem globalen Kontext einer zunehmenden Politisierung von internationalen Organisationen. Daraus folgt, dass sie – ähnlich wie andere internationale Organisationen – durch eigene Anstrengungen permanent um die Legitimation durch verschiedene Adressatengruppen werben müssen. Auch Gerichtshöfe, die durch Verträge von Staaten oder durch UN-Resolutionen entstanden sind und eigentlich vor allem durch ihre Gerichtsurteile – idealerweise die Implementation der universell geteilten Norm eines Endes der Straflosigkeit – für sich sprechen möchten, sehen sich inzwischen gezwungen, ihrerseits Legitimitätspolitik zu betreiben. Der vorliegende Beitrag untersucht am Beispiel des Internationalen Straftribunals für Ex-Jugoslawien (ICTY), wie der Gerichtshof seine Legitimation durch unterschiedliche globale und lokale Adressaten mit visuell-sprachlichen Selbstdarstellungen zu fördern versucht (Selbstlegitimation/Outreach), und inwieweit diese normativen Selbstbeschreibungen in der lokalen Medienberichterstattung über Strafprozesse bestätigt, verhandelt oder abgelehnt werden. Der ICTY inszeniert sich als überparteiliche „Stimme der Menschheit“, die den Opfern der Jugoslawien-Kriegen zu ihrem Recht verhelfen möchte, hochrangige Täter bestraft und historische Wahrheiten etabliert. Wie wird dieses Legitimationsnarrativ des justice being done von unterschiedlichen Adressatenkreisen aufgenommen? Diese Frage wird exemplarisch anhand des im März 2016 verkündeten Urteils über einen der prominentesten Angeklagten des ICTY, den früheren bosnischen Serbenführer Radovan Karadžić, untersucht. Das untersuchte Material umfasst selbst produzierte Dokumentarfilme des ICTY und Abendnachrichten

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Schlag und A. Heck (Hrsg.), Visualität und Weltpolitik, Horizonte der Internationalen Beziehungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29971-2_4

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bosnischer und serbischer TV-Sender. Scharfe Kritik am ICTY stellt diesen als illegitimes „politisches“ Tribunal dar, das vor allem Serben anprangere und unfaire Urteile verhänge. Der Beitrag schließt konzeptionell an Arbeiten an, die sich der empirischen Erforschung von „Legitimationsgeschehen“ im Kontext internationaler Institutionen widmen. Die Legitimität einer Ordnung oder einer Institution ist nicht einfach gegeben, sondern muss durch diskursive Prozesse permanent hergestellt werden. Solche Legitimationsdiskurse sind multimodal, d. h. sie rekurrieren u. a. auf sprachliche und visuelle Modi. Institutionen der internationalen Strafjustiz greifen in besonderem Maße auf Bildmaterial zurück, um ihre Arbeit zu legitimieren: im Gerichtssaal, um visuelle Beweise von Verbrechen zu zeigen; außerhalb des Gerichtssaals, um die Kernbotschaft des justice being done zu untermauern, auch unter Rückgriff auf Pathos und fragwürdige Stereotypisierungen von Opferbildern. Anhand von zwei ausgewählten ikonischen Bildern aus dem Bosnien-Krieg (welche die Opfer Ramo Osmanović und Fikret Alić zeigen), die sowohl in ICTY-Dokumentarfilmen als auch bosnischen Medien wiederholt verwendet wurden, wird exemplarisch aufgezeigt, wie Bedeutung im Kontext von Kriegsverbrechen hergestellt wird. Schlüsselbegriffe

ICTY, Dokumentarfilme, Bosnien-Krieg, Radovan Karadžić, Legitimität, Medien

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Einleitung: die umstrittene Legitimität von Kriegsverbrechertribunalen

Die Kriege im früheren Jugoslawien in den 1990er Jahren sind keineswegs Ereignisse der Vergangenheit. Sie prägen bis heute die Gesellschaften der daraus hervor gegangenen Staaten, von denen einige inzwischen Mitglieder der Europäischen Union geworden sind. Auch die Aufarbeitung der Kriegsverbrechen ist alles andere als abgeschlossen. Zum einen gibt es in einigen der Staaten lokale Kriegsverbrecherprozesse, zum anderen hat das in Den Haag angesiedelte Internationale Straftribunal für Ex-Jugoslawien (ICTY) zwar seine Arbeit beendet. Allerdings wurde 2017 in Den Haag ein neues Tribunal eingerichtet, die Kosovo Specialist Chambers, welche die Verbrechen der „Befreiungsarmee des Kosovo“ (UÇK) zwischen 1998 und 2000 untersuchen soll.

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In den letzten Wochen des Bestehens des ICTY kam es zu einer dramatischen Szene im Gerichtssaal, als die Berufungskammer am 29. November 2017 die Verurteilung von Slobodan Praljak und das Strafmaß von 20 Jahren Haft bestätigte. Der 72 Jahre alte frühere bosnisch-kroatische General war einer der sechs Personen im Prlić et al.-Strafprozess. Ihnen wurde zur Last gelegt, dass sie ein kroatisches Staatsgebilde in Bosnien-Herzegowina schaffen wollten, das die „Wiedervereinigung des kroatischen Volkes“ erleichtern und dabei einen „gemein-schaftlichen kriminellen Zweck“ verfolgen sollte: die Vorherrschaft der Kroaten durch „ethnische Säuberung“ der muslimischen Bevölkerung zu sichern.1 In unmittelbarer Reaktion auf das Urteil erklärte Praljak im Gerichtssaal, dass er kein Kriegsverbrecher sei und das Urteil ablehne. Vor laufender Kamera trank er sodann eine Flüssigkeit, von der vermutet wurde, dass sie Gift sei. Praljak starb wenige Stunden später im Krankenhaus. Als Todesursache wurde Selbstmord bestätigt. Dieses dramatische Ereignis rief in den Staaten des Westbalkans ein stark polarisiertes Echo hervor – wie auch schon eine Reihe anderer Verurteilungen oder Freisprüche hochrangiger Angeklagter, die das Gericht in den 24 Jahren seiner Existenz hervorgebracht hat. Die Urteile des ICTY wurden in der Regel nur dann in einem bestimmten Staat des früheren Jugoslawiens akzeptiert, wenn sich dieses in die bis heute dominanten „nationalistischen“ Narrative über die Interpretation der Vergangenheit, über Täter- und Opferzuschreibungen einfügen ließ (Ristić 2014).2 Allerdings rief die öffentliche Inszenierung des Selbstmords von Praljak, gleichsam als Schlussakt des ICTY-Dramas von den Kameras des Tribunals ‚live‘ in alle Welt gesendet, besondere Reaktionen hervor, so etwa die Zuschreibung eines „Märtyrer“-Status in Kroatien. Einmal mehr wurde die Legitimität des „Haager Tribunals“ dadurch bestritten. Diese Episode stellt nur ein besonders eindrückliches Element aus der kontroversen Rezeption des ICTY dar. Einerseits gilt das 1993 – mitten im jugoslawischen Zerfallskrieg – gegründete internationale Straftribunal nach den sehr lange zurück liegenden Tribunalen des Zweiten Weltkriegs in Nürnberg und Tokio als „Pionier“ der internationalen Strafjustiz und wurde international geradezu gefeiert als leuchtendes Beispiel dafür, dass Kriegsverbrechen nicht mehr ungesühnt bleiben. Andererseits wird der ICTY in den lokalen „Zielgesellschaften“, in die das Gericht mit seinen Prozessen hineinwirken will, sehr kontrovers wahrgenommen. 1

Siehe Seite 1 der Urteilszusammenfassung unter http://www.icty.org/x/cases/prlic/acjug/ en/171129-judgement-summary.pdf (abgerufen am 1. Oktober 2019). 2 Siehe auch http://www.spiegel.de/politik/ausland/slobodan-praljak-kroatien-wuerdigt-den-kriegsverbrecher-nach-selbstmord-a-1181117.html (abgerufen am 1. Oktober 2019).

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Auch hier fanden sich zahlreiche Befürworter eines solchen Tribunals, etwa unter Menschenrechts-Organisationen; jedoch gibt es auch eine massive Ablehnung des Gerichts, insbesondere in Serbien. Seit der Einrichtung des ICTY gab es eine ganze Reihe weiterer Tribunale, so das ebenfalls viel beachtete Tribunal für Ruanda (ICTR, 1995) und die Tribunale für Timor-Leste (2000), Sierra Leone (2000), Kambodscha (2003) und Libanon (2007). Als „historischer Durchbruch“ galt der 2002 in Den Haag etablierte permanente Internationale Strafgerichtshof (IStGH). Der ICTY war wie einige andere der genannten Tribunale außerhalb der Landesgrenzen der Gewaltkonflikte angesiedelt. Der territoriale Sitz des ICTY, seine rechtlich-politische Entstehung auf Basis einer UN-Sicherheitsratsresolution und die Art seiner weiteren Kommunikation über seine Strafprozesse verdeutlicht, dass er unterschiedliche Adressat*innen hat, die ihm Legitimation zusprechen oder absprechen können. Er „spricht“ einerseits zu einer globalen Gemeinschaft derer, die sich für den Schutz und die Durchsetzung von Menschenrechten engagieren, und andererseits „spricht“ er zu den lokalen/ regionalen Öffentlichkeiten, in dem Falle den Postkonfliktgesellschaften Ex-Jugoslawiens. In diesem Beitrag untersuchen wir am Beispiel des ICTY, wie genau diese internationale Organisation ihre Legitimation durch unterschiedliche globale und lokale Adressaten mit visuell-sprachlichen Selbstdarstellungen zu fördern versucht (Selbstlegitimation/Outreach), und inwieweit diese normativen Selbstbeschreibungen in der lokalen Medienberichterstattung über Strafprozesse bestätigt, verhandelt oder abgelehnt werden. Der ICTY inszeniert sich als überparteiliche „Stimme der Menschheit“, die den Opfern der Jugoslawien-Kriegen zu ihrem Recht verhelfen möchte, hochrangige Täter bestraft und historische Wahrheiten etabliert. Wie wird dieses Legitimationsnarrativ des justice being done von unterschiedlichen Adressatenkreisen aufgenommen? Diese Frage wird exemplarisch anhand des im März 2016 verkündeten Urteils über einen der prominentesten Angeklagten des ICTY, den früheren bosnischen Serbenführer Radovan Karadžić, untersucht. Im folgenden Kapitel zwei wird zunächst erläutert, warum der ICTY ähnlich wie andere politisierte Institutionen „Legitimitätspolitik“ betreibt. Im dritten Kapitel werden die Methoden und das untersuchte Videomaterial (Dokumentarfilme, TV-Nachrichten aus bosnischen und serbischen Medien) erläutert; hier wird insbesondere auf die Rolle von ikonischen Bildern eingegangen sowie auf zwei konzeptionelle Vorschläge von Barbie Zelizer und Stuart Hall zur Interpretation von Bildern, die dann in den folgenden Analysen von Bildmaterial kursorisch genutzt werden. Im vierten Kapitel sind die sprachlich-visuellen Strategien der Selbstlegitimation des Tribunals in seinen Dokumentarfilmen darzulegen. Im fünften Kapitel wird

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anhand der Rezeption des Karadžić-Urteils aufgezeigt, inwiefern lokale Medien die angebotenen Legitimationsnarrative des ICTY aufgreifen bzw. bestreiten.

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Der ICTY als legitimationsbedürftige internationale Organisation

Wie Gesellschaften mit der Aufarbeitung kollektiven Unrechts nach Diktaturen und Gewaltkonflikten umgehen, wird in der inzwischen sehr umfangreichen Fachliteratur über Transitional Justice untersucht (Mihr et al. 2018). Die Instrumente sind dabei breit gefächert und umfassen u. a. Amnestien, kollektive „Amnesie“, Denkmäler, Entschuldigungen, Lustration, Reparationen, Straftribunale und Wahrheitskommissionen (Buckley-Zistel/Oettler 2011; Engert/Jetschke 2011). Die Kernfunktion von Straftribunalen besteht darin, Kriegsverbrechen und schwerste Menschenrechtsverletzungen zu bestrafen und somit die Norm eines „Endes der Straflosigkeit“ (end of impunity) zu implementieren. Individuellen Angeklagten soll nachgewiesen werden, dass sie für bestimmte Kriegsverbrechen verantwortlich sind. Die ersten bedeutsamen Institutionalisierungen der internationalen Strafjustiz sind die Kriegsverbrechertribunale von Tokio und Nürnberg nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Kalten Krieg gab es wenig Impulse für den Ausbau einer internationalen Strafgerichtsbarkeit; erst nach 1990 gab es neue und folgenreiche Schübe, wie die in der Einleitung genannten Tribunale und insbesondere die Errichtung des permanenten Strafgerichtshofs (Deitelhoff 2006; Kaleck 2013, S. 7–34). Diese Institutionen indizieren einen fortschreitenden Ausbau der internationalen Strafjustiz, der oft positiv im Rahmen eines liberalen Fortschrittsnarrativs gedeutet wurde. Allerdings ist die Akzeptanz, d. h. die empirisch messbare Legitimität, dieser Gerichtshöfe durchaus sehr unterschiedlich in den Gesellschaften, deren Gewaltkonflikte bzw. Angeklagte jeweils im Fokus stehen (Buckley-Zistel et al. 2016). Inwieweit eine mäßige Akzeptanz auf eine mangelnde kommunikative Vermittlung der Arbeit der Tribunale in die oft weit entfernten Zielgesellschaften zurückzuführen ist oder auf eine stark verzerrte Darstellung in den lokalen Medien oder ganz andere Ursachen hat, ist eine empirische Frage. Entscheidend ist hier, dass Tribunale nicht einfach eine Legitimitätsvermutung im Sinne einer normativen Anerkennungswürdigkeit für sich beanspruchen können, die sich aus ihrem universellen Anspruch eines justice being done gleichsam natürlich entfaltet. Wir gehen in unserem Beitrag davon aus, dass auch internationale Straftribunale in einem globalen Kontext einer zunehmenden Politisierung von internationalen Organisationen agieren (Geis 2017; Zürn 2018, S. 137–169) und sich dessen auch

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bewusst sind. Daraus folgt, dass sie – ähnlich wie andere internationale Organisationen – durch eigene Anstrengungen permanent um die Legitimation durch verschiedene Adressatengruppen werben müssen. Auch Gerichtshöfe, die durch Verträge von Staaten oder durch UN-Resolutionen entstanden sind und ‚eigentlich‘ vor allem durch ihre Gerichtsurteile – idealerweise die Implementation der universell geteilten Norm eines Endes der Straflosigkeit – für sich sprechen möchten, sehen sich inzwischen gezwungen, ihrerseits Legitimitätspolitik zu betreiben: „Legitimitätspolitik bezeichnet alle Anstrengungen, die normative Anerkennungswürdigkeit einer Ordnung, einer Entscheidung oder eines Akteurs zu erzeugen, zu sichern, zu kritisieren oder zu zerstören“ (Nullmeier et al. 2012, S. 24). Dieser Beitrag schließt konzeptionell an Arbeiten an, die sich der empirischen Erforschung von „Legitimationsgeschehen“ im Kontext internationaler Institutionen widmen (Nullmeier et al. 2010; Biegon/Gronau 2012; Gronau 2015). Die Legitimität einer Ordnung oder einer Institution ist nicht einfach ‚gegeben‘, sondern muss durch kommunikative bzw. diskursive Prozesse permanent hergestellt werden. Solche Legitimationsdiskurse sind multimodal, d. h. sie rekurrieren u. a. auf sprachliche und visuelle Modi (siehe auch Kapitel drei). Im Rückgriff auf Max Webers Herrschaftssoziologie kann man hier die Konzepte Legitimitätsanspruch, der durch die Herrschenden oder Repräsentanten einer Institution vertreten wird, und Legitimitätsglaube der Herrschaftsunterworfenen fruchtbar machen. Beide zusammen bilden das Legitimationsgeschehen, das aktiv und gezielt beeinflusst werden kann (Biegon/Gronau 2012, S. 173). Legitimität wird so zum relationalen Konzept: „Regierende formulieren Legitimitätsansprüche, deren gesellschaftliche Anerkennung stets auf Neue durch (Selbst-)Legitimationspraktiken zu sichern ist“ (Schmidtke/Schneider 2012, S. 228). Selbstlegitimationen umfassen „Praktiken, mittels derer politische Eliten versuchen, Legitimität herzustellen“ (Biegon/Gronau 2012, S. 175; Herv. i. O.). Das Prekär-Sein von Legitimität von internationalen Straftribunalen wird im vorliegenden Beitrag am Beispiel des Internationalen Straftribunals für Ex-Jugoslawien näher beleuchtet. Zweifel an der Legitimität solcher Tribunale finden sich eher selten in der anfänglichen weitverbreiteten Euphorie über das „Ende der Straflosigkeit“ in den 1990er Jahren. Insbesondere der ICTY und der ICTR wurden als die ersten Tribunale nach dem Ende des Kalten Kriegs mit Erwartungen überfrachtet. So sollten sie nicht nur zur justiziellen Aufarbeitung der größten Verbrechen beitragen, Hauptschuldige aus der politisch-zivilen und militärischen Elite bestrafen, sondern auch zur Versöhnung der Zielgesellschaften beitragen, durch Etablierung autoritativer historischer Narrative und Fakten die innergesellschaftliche Aufarbeitung fördern sowie zum Aufbau lokaler Gerichtsbarkeit beitragen.

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Der normative Referenzrahmen für die zunehmende Institutionalisierung der internationalen Strafjustiz und auch der nationalen Mechanismen von Transitional Justice ist in internationalen Menschenrechtsnormen verankert. Eine markante Entwicklung in Theorie und Praxis von Transitional Justice ist die starke Hinwendung zu den Opfern von Gewalt. Dieser sog. „victims’ turn“, der seit Mitte der 2000er Jahre die Bedürfnisse und Rechte von Opfern stärker in den Mittelpunkt rückt, wurde in den letzten Jahren stark diskutiert (Bonacker/Safferling 2013; van Boven 2013; García-Godos 2016, S. 350). In der einschlägigen Literatur wurden Opfer lange als passiv dargestellt, ohne eigene Subjektpositionen und Akteursqualitäten. Auch ihre visuelle Repräsentation im Kontext der internationalen Strafjustiz reproduziert dieses Bild (Schwöbel-Patel 2016, S. 250). Opfer haben demnach viel Leid erfahren, aber sind selbst nicht in der Lage, ihre Rechte selbst durchzusetzen (García-Godos 2016, S. 357–358). Die Institutionalisierung der internationalen Strafjustiz und die Professionalisierung der Transitional Justice führten zu einer zunehmenden Anerkennung des Opferstatus, sodass Beteiligungsrechte in Strafprozessen und Reparationsansprüche eine größere Legitimität erhielten. Die Generalversammlung der UNO und die UNO-Menschenrechtskommission verabschiedeten 2005 verschiedene Dokumente über die Entschädigung und das Ende der Straflosigkeit, die besondere Rechte für Opfer von Gewaltkonflikten vorsehen, wie etwa „the right to know, the right to justice and the right to reparation as well as guarantees of non-recurrence“ (van Boven 2013, S. 21). Dieser normative Trend sieht allerdings in den Dokumenten deutlich beeindruckender aus, als es die tatsächlichen Verhältnisse sind. Die Anerkennung individueller Rechte und eines Opferstatus sind wichtige Elemente der Anerkennung des Leids der Betroffenen. Opfer von Kriegsverbrechen kämpfen in der Regel auch darum, ihre Würde als menschliche Wesen wiederzugewinnen – die Würde, die ihnen im Gewaltkonflikt gerade vollständig abgesprochen wurde (Haldemann 2009, S. 679). Opfer sollten daher die Gelegenheit erhalten, ihre individuellen Geschichten erzählen zu können und ihre Erfahrungen in einer Postkonfliktgesellschaft sichtbar zu machen. Kritische Studien über Transitional Justice haben allerdings auch gezeigt, dass hier starke normative Ambivalenzen auftreten: So können die binären Dichotomien zwischen „Opfern“ und „Täter*innen“ zu essentialistischen, ordnungsstiftenden Labels werden, die Versöhnungsbemühungen auch behindern können (Renner 2013). Ungeachtet solcher Ambivalenzen spielt der Anspruch von Tribunalen, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen (indem die Täter bestraft werden), eine zentrale Rolle in den Selbstlegitimationsnarrativen. Dies wird im Folgenden anhand des ICTY erläutert.

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24 Jahre ICTY: große Erwartungen an das PionierTribunal

Der ICTY wurde 1993 mitten im jugoslawischen Zerfallskrieg durch die UN-Resolution 827 geschaffen. Diese Resolution schrieb dem Tribunal umfassende Aufgaben zu, um seine Etablierung unter Kapitel VII der UN-Charta zu legitimieren: Es sollte dazu beitragen, die Gewalttaten zu beenden, die Täter zur Verantwortung zu ziehen und den Frieden wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten (Kerr 2004). Aus diesem Gründungsdokument leiteten auch zahlreiche Wissenschaftler und Aktivisten die hohen Erwartungen ab, anhand derer Erfolg und Scheitern des ICTY (nicht nur) in seiner Anfangszeit bemessen wurden: Das Tribunal sollte die Straflosigkeit beenden und das Verüben weiterer Gräueltaten abschrecken, es sollte Gerechtigkeit und Versöhnung bringen (Orentlicher 2008; Subotić 2009; Gordy 2013; Ristić 2014). Auch der Gerichtshof selbst förderte solche hohen Erwartungen durch seine eigene Rollenbeschreibung: „to deter future crimes and render justice to thousands of victims and their families, thus contributing to a lasting peace in the former Yugoslavia“.3 Seine selbstperzipierte Legitimität bezieht das Tribunal schließlich aus seiner Leistung als erfolgreiches Pioniertribunal, das nach dem Ende des Kalten Krieges durch die Anklage von über 160 Personen aus unterschiedlichen ethnischen Gruppen Rechtsgeschichte geschrieben hat. In der globalen Perspektive der Strafjustizentwicklung wird dieses Selbstbild gestützt. Die Einrichtung des ICTY wird als Element einer „judiciary revolution“ betrachtet, die einen neuen Souverän in den internationalen Beziehungen hervorgebracht habe: die Menschheit (Mazlish 2009). In der lokalen Perspektive wird die Legitimität des ICTY dagegen aus unterschiedlichen Gründen bestritten. Einige Kritiker*innen sehen das Tribunal als illegale Institution (Čavoški 2000), als eine illegitime ‚Kreatur‘, die Gerechtigkeit nur vortäusche (Fila 2015), oder als Bedrohung für die nationalen Interessen neuer Staaten (Pavlaković 2008; Subotić 2009). Auch Umfragen zeigten, dass der ICTY in diesem Misstrauensklima bei Bürger*innen eher geringe Unterstützung fand. Eine übliche Reaktion war daher, sich mit den Angeklagten der eigenen ethnischen Gruppe zu solidarisieren (Simić 2011; Pavlaković 2010; Ristić 2018). Die Anfechtung des ICTY durch lokale politische Eliten und Medien (Ristić 2014) führte schließlich zu einer ganz anderen Wahrnehmung des Tribunals, als es die enthusiastischen Befürworter*innen des ICTY erwartet hatten (Clark 2009a). Das Straftribunal für Ex-Jugoslawien hat zahlreiche sehr hochrangige Militärangehörige und Politiker*innen angeklagt, eine Mehrheit davon Serb*innen. Der 3 Siehe http://www.icty.org/en/about (abgerufen am 1. Oktober 2019).

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prominenteste Angeklagte war der frühere Präsident der Bundesrepublik Jugoslawien, Slobodan Milošević, der im März 2006 – kurz bevor die Urteilsverkündung angesetzt war – in der Haftanstalt in Den Haag starb. In den letzten beiden Jahren des ICTY folgten weitere Urteile über sehr prominente Angeklagte: Am 24.3.2016 wurde Radovan Karadžić schuldig gesprochen und zu 40 Jahren Haft verurteilt (siehe ausführlich unten, Kapitel fünf). Eine Woche später wurde Vojislav Šešelj freigesprochen, der in den 1990er Jahren „als einer der schlimmsten Kriegstreiber auf dem Balkan“ galt4 und heute Vorsitzender der ultranationalistischen Serbischen Radikalen Partei ist. Am 22.11.2017 wurde schließlich der frühere Befehlshaber der bosnisch-serbischen Armee, Ex-General Ratko Mladić, zu lebenslänglicher Haft verurteilt; er wurde u. a. des Völkermordes (in Srebrenica) und Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gesprochen.

2.2

Die Selbstlegitimation des Strafgerichtshofs: das Outreach-Programm

Der ICTY kann nicht nur als Pionier im Bereich der internationalen Strafjustiz betrachtet werden, sondern in politikwissenschaftlicher Hinsicht auch als eine „politisierte“ internationale Organisation, deren Legitimität dauerhaft umstritten ist und die daher mit dem sog. Outreach-Programm auch gezielte Strategien der Selbstlegitimation verfolgt. Auch nachfolgende Straftribunale investieren in Outreach (u. a. in Form von Informationsmaterial auf Webseiten, Medienarbeit, Videos, Informationsveranstaltungen und lokalen Büros vor Ort). Interessanterweise werden internationale Gerichtshöfe in der Forschung zur Selbstlegitimation von Organisationen bisher nicht untersucht, obwohl die Outreach-Programme der größeren Straftribunale unschwer als Ausdruck von Legitimitätspolitik zu deuten sind. Gerichtsurteile über 1000 Seiten sind kein Genre, das ein breites Publikum anspricht. Gerichtsprozesse, die sich über viele Jahre erstrecken, haben einen geringen Nachrichtenwert. Mit Outreach-Maßnahmen versuchen die Tribunale gerade den lokalen „Zielgesellschaften“ auf einfachere Weise zu verdeutlichen, was ihre Aufgabe ist, was sie leisten, wie sie „Gerechtigkeit“, „Frieden“ und „Versöhnung“ fördern (Clark 2009b). 4 Siehe https://www.dw.com/de/vojislav-seselj-ist-schuldig-muss-aber-nicht-in-haft-untribunal-balkan/a-43346577 (abgerufen 1. Oktober 2019). In einem Urteil der Berufungskammer des International Residual Mechanism for Criminal Tribunals im April 2018 wurde Vojislav Šešelj zu zehn Jahren Haft verurteilt, die allerdings durch seine vorherige Zeit in Untersuchungshaft abgegolten war. Siehe https://www.irmct.org/en/ cases/mict-16-99 (abgerufen 1. Oktober 2019).

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Dem ICTY wird vorgeworfen, mit seinem Outreach-Programm zu spät begonnen und auch zu wenig gemacht zu haben – allerdings ist es auch alles andere als selbstverständlich, dass Gerichtshöfe sich in dieser Art Legitimitätspolitik überhaupt engagieren. Auch im ICTY gab es Vorbehalte gegen das Programm. Das Gericht musste in den 1990er Jahren mit der zeitaufwändigen Vorbereitung der Strafprozesse zunächst andere Prioritäten setzen; zudem waren die meisten Richter der Ansicht, dass ihre Urteile dann „für sich sprechen“ würden.5 Durch die Distanz zu den lokalen Adressat*innen im früheren Jugoslawien und den teils nahezu feindlich gesinnten Medien sah sich der Gerichtshof schließlich doch genötigt, eine Art öffentlicher Stimme zu entwickeln. 1999 wurde das Outreach-Programm6 initiiert – zu einer Zeit, in der der ICTY auch begann, Urteile in Bosnisch-Kroatisch-Serbisch zu übersetzen und Pressemitteilungen zu verfassen (Orentlicher 2008, S. 65). Für den vorliegenden Beitrag wollen wir ein Element des Outreach-Programms näher betrachten: die selbstproduzierten Dokumentarfilme des ICTY. Nachdem das Outreach-Programm etabliert wurde, dauerte es ein weiteres Jahrzehnt, bis die Produktion der Filme begann. Zuvor war die (sehr kleine) Outreach-Abteilung ausgelastet mit der Kommunikation mit den Medien, der Organisation von Konferenzen und der Einrichtung lokaler Büros in Belgrad, Sarajevo und Zagreb. Der ICTY beschreibt das Ziel der Dokumentarfilme wie folgt: “The series of documentaries produced by the Outreach Programme aims at making the ICTY’s work more visible and comprehensible. The movies focus on key jurisprudence and some of the milestone cases that shaped the history of international criminal justice. The films were presented and distributed both in the former Yugoslavia and internationally to a wide range of audiences. They were acclaimed by victim groups, academics, civil society and students, and recognised as powerful educational tools.”7

Das ICTY Outreach-Team produzierte sieben lange Dokumentarfilme und ein kürzeres Video über seine Outreach-Aktivitäten8: Fünf der acht Filme beleuchten 5 Dieser Aspekt wurde bei Interviews, welche die Autorinnen im September 2015 und Februar 2016 mit Mitarbeitern des ICTY in Den Haag geführt haben, mehrfach betont. Siehe Geis et al. (2019). 6 Die gesamten Outreach-Aktivitäten können hier nicht betrachtet werden. Siehe dazu die ausführliche Darstellung auf der ICTY-Webseite unter http://www.icty.org/en/outreach/ outreach-programme (abgerufen am 1. Oktober 2019). 7 Siehe http://www.icty.org/en/outreach/documentaries (abgerufen am 1. Oktober 2019). 8 „Sexual violence and the triumph of justice“, 2011; „Crimes before the ICTY: Prijedor“, 2013; „Through Their Eyes: Witnesses to Justice“, 2013; „Crimes before the ICTY: Central Bosnia“, 2014; „Crimes before the ICTY: Visegrad“, 2016; „Dubrovnik and Crimes against Cultural Heritage“, 2016; „Srebrenica Genocide: no Room for Denial“, 2017; das

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unterschiedliche Gewalttaten in Bosnien-Prijedor, Zentralbosnien, Visegrad, Dubrovnik und Srebrenica, die im Zusammenhang mit den Strafprozessen standen. Drei Filme handeln vom Tribunal im Allgemeinen: von den Zeugen in den Verfahren, der Errichtung des ICTY und schließlich dem Outreach-Programm. Die Dokumentarfilme, frei abrufbar auf der Webseite, mit einer englischsprachigen Erzählstimme und mit Untertiteln in unterschiedlichen Sprachen verfügbar, werden von ICTY-Akteur*innen nicht nur als dauerhaftes „Vermächtnis“ gesehen, sondern stellen auch ein Mittel der politischen Bildung für die Gesellschaften in der Region dar. Sie sollen diese über die Kriegsverbrechen der 1990er Jahre aufklären, transportieren jedoch auch ganz bestimmte Geschichts- und Gegenwartsdeutungen, die durch den ICTY ohne jegliche kritische Selbstreflexion verbreitet werden (Atanasoski 2018). In typologischer Hinsicht können die ICTY-Dokumentarfilme als „expositorische Dokumentarfilme“ eingestuft werden – ein Genre, das üblich ist im Kontext internationaler Gerichtshöfe und einen „erzieherischen“ Auftrag verfolgt. Dieser Typ Dokumentarfilm ist “organized around explicitly formulated arguments and forms of knowledge, ‚which fit categories and concepts accepted as given or true in specific time and place, or with a dominant ideology of common sense‘“ (Werner 2016, S. 1050, Nichols 1991, S. 35 zitierend; vgl. Nichols 2010). Diese Filme zeigen Repräsentationen der Welt, um ein zentrales Argument zu bestätigen und zu veranschaulichen und privilegieren dabei den gesprochenen Text gegenüber dem visuell Gezeigten. „Expository documentaries send the audience home with a clear message, underpinned by sounds and images that mobilize ethos, pathos, and logos at the same time“ (Werner 2016, S. 1051). Am Beispiel der internationalen Strafjustiz lassen sich auch die fragwürdigen Effekte expositorischer Dokumentarfilme illustrieren: Sie reduzieren Opfer auf leidende Körper, die wenig Autonomie oder Handlungsfähigkeit besitzen. Zudem können sie das Leid von Individuen verschleiern, indem sie mit generalisierenden Aussagen eher auf eine globale „Menschheit“ abzielen. Insgesamt versuchen diese Dokumentarfilme die Vision einer kosmopolitischen Gemeinschaft mit universell geteilten Werten zu befördern. Kritik an den Gerichtshöfen wird nicht geäußert, stattdessen sollen sich die Zuschauer*innen mit den breiten normativen Zielen der Tribunale identifizieren (Werner 2016; Atanasoski 2018).

kurze Video über „15 Years of Outreach, Justice at work“ wurde 2016 veröffentlicht. Nerma Jelačić, Petar Finci und Steve Coulson bildeten das ICTY-Team (Produktion, Regie, Drehbuch).

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Methoden und untersuchtes Videomaterial

In diesem Beitrag gehen wir davon aus, dass die Legitimität von Institutionen von einem permanenten diskursiven Legitimationsgeschehen (siehe oben, Kapitel zwei) abhängig ist, d. h. gesellschaftlich ‚verhandelt‘ wird. Es gibt bekanntlich zahlreiche Diskursverständnisse in den Sozialwissenschaften. Jørgensen und Phillips (2002, S. 1) definieren Diskurse eher unspezifisch als „particular way of talking about and understanding the world (or an aspect of world)“. Ein an Foucault angelehntes komplexeres Diskursverständnis konzeptualisiert diese als regelgeleitete soziale Praktiken. Diskurs und Macht bilden eine unauflösliche Einheit: „Diskurse entfalten ebenso eigenständige Machtwirkungen wie umgekehrt die Ausübung von Macht mit einer Produktion von Diskursen einhergeht“ (Schwab-Trapp 2002, S. 32). Diskurse spiegeln nicht nur Machtbeziehungen und -kämpfe wider, sondern konstruieren diese, indem spezifische Behauptungen über Subjekte, Realität, Wahrheit, Werte und Normen produziert und in größeren Diskursformationen miteinander verknüpft werden. Durch Diskurse können Machtpositionen verändert oder aufrechterhalten werden (Wodak et al. 2009). Diskursanalysen, insbesondere in der Politikwissenschaft, beschränken sich meist auf sprachliche Äußerungen. Im Zuge des sog. „pictorial turn“ (Jay 2002; Mitchell 2005) wurde jedoch auch die Rolle von Bildern in der Wissensproduktion zunehmend thematisiert (Rose 2001). Einige Kommunikationstheorien, wie die multimodale Sozialsemiotik, gehen grundsätzlich von der multimodalen Natur jeglicher Kommunikation aus, die u. a. die Modi gesprochenes und geschriebenes Wort, Bilder, Musik, Gestik beinhaltet (Kress 2009; Jewitt 2011; Van Leeuwen 2011). In Analogie zur Sprache, wo der Rekurs auf Stimme und Buchstaben den Modus „Sprache“ bildet, gibt es zahlreiche unterschiedliche Ressourcen, die für die Herstellung von Bedeutung genutzt werden können. In der Definition von Gunther Kress (2011, S. 54) sind Modi „socially shaped and culturally given resources for making meaning“, die unterschiedliche ‚Materialien‘ wie Bilder, Schrift, Layout, Musik, Ton, Gestik oder Sprache in unterschiedlichen Kombinationen verwenden können. Sprache ist demnach nur ein Kommunikationsmodus unter vielen. Bezogen auf das Untersuchungsfeld des vorliegenden Beitrags sollte berücksichtigt werden, dass die lokalen Mediendiskurse und die durch die ICTY-Dokumentarfilme erzeugten Diskurse unterschiedlichen Diskursordnungen zugehören – verstanden als strukturierte, ideologisch geprägte „relationships of power in particular social institutions, and in the society as a whole“ (Fairclough 1989, S. 31). Es ist daher zu erwarten, dass Machtunterschiede, unterschiedliche soziale Kontexte und Adressatenkreise, die angesprochen werden, auch Unterschiede in den Erklärungen, Bewertungen und Rechtfertigungen des Tribunals hervorbringen.

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In diesem Beitrag soll der Fokus auf der Analyse von ausgewählten Bildern liegen, die in den Legitimationsdiskursen über das Tribunal verwendet wurden und aus dokumentarischem Filmmaterial und lokalen Medien stammen. Zunächst identifizierten wir, welche „ikonischen“ Bilder in unseren Quellen wiederholt genutzt wurden. Solche ikonischen Bilder stellen zentrale Elemente des kollektiven Gedächtnisses einer Gemeinschaft dar (Brink 2000, S. 135), sind jedoch auch als für den Medienkonsum ‚hergestellte‘ Produkte zu betrachten (Perlmutter/Wagner 2004, S. 95). Um die Bilder zu analysieren, die im Bosnien-Krieg ikonischen Status erlangten, soll hier auf Barbie Zelizers (2004) Konzept der „konjunktivischen Stimme“ rekurriert werden. Mit dem Konzept der „konjunktivischen Stimme“, die an die grammatikalische „Möglichkeitsform“ (Konjunktiv) anschließt, lenkt Zelizer die Aufmerksamkeit auf die Beziehung zwischen Bild und Betrachter*in, und die Aspekte, welche diese ermöglichen (Zelizer 2004, S. 162–164). Die konjunktivische Stimme ist mit drei zentralen Eigenschaften verknüpft: Kontingenz, Vorstellungskraft und Emotionen. Kontingenz beinhaltet das Auch-anders-möglich-sein-Können und das Ungewisse; die Vorstellungskraft nimmt den/die Betrachter*in in die Welt des Unlogischen oder Unwirklichen; Emotionen werden entsprechend der subjektiven Interpretation des Dargestellten aufgerufen. Bilder können so als Einladung verstanden werden, sich einzulassen – für die Bedeutungszuschreibung sind jedoch die individuellen Interpretationsleistungen der Betrachter entscheidend. Zelizer schließt mit ihrer „konjunktivischen Stimme“ an die linguistisch inspirierte Idee einer sog. konnotativen Wirkungskraft von Bildern an (im Gegensatz zur denotativen Wirkungskraft), die auf das Assoziative, das Auch-anders-möglich-seinKönnen verweist. Für unseren Beitrag ist daher die Zirkulation von Bildern in unterschiedlichen Kontexten wichtig – welche assoziativen und symbolischen Bedeutungen sie in unterschiedlichen Medien erlangen und welche Funktionen sie in Legitimitätsbehauptungen einnehmen. Hier ist zu untersuchen, wie die übergreifende Hauptbotschaft der Dokumentarfilme oder der TV-Nachrichten sich zur Verwendung der ikonischen Bilder verhält, d. h. ob die Bilder genutzt werden, um ein Argument zu stützen, das Verbrechen zu veranschaulichen, eine Botschaft zu betonen, die Kontingenz zu vergrößern und starke Emotionen hervorrufen, oder ob die Bedeutungszuschreibung durch starke Assoziationen mit anderen, älteren ikonischen Bildern erzeugt wird. Im vorliegenden Beitrag ist also insgesamt zu untersuchen, wie sprachliche und visuelle Modi genutzt werden, um den ICTY und das Karadžić-Urteil zu bewerten. Welche Argumentationsschemata, visuelle und sprachliche, werden in den Legitimationsdiskursen wiederholt eingesetzt? Während das Outreach-Material des ICTY dessen bevorzugtes Selbstbild transportiert, entwickeln die lokalen Medien

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– die wir hier als eine wichtige Akteursgruppe von Adressaten behandeln – unterschiedlichen Lesarten, wie im fünften Kapitel zu zeigen ist. Diese sollen hier in Anlehnung an eine Begrifflichkeit von Stuart Hall (1973, S. 15–18) in ‚dominant‘, ‚verhandelt‘ und ‚oppositionell‘ unterschieden werden (siehe auch den Beitrag von Bogerts, in diesem Band): Die ‚dominante‘ Lesart bestätigt die Bedeutung, die vom Tribunal selbst bevorzugt wird; die ‚verhandelte‘ Lesart akzeptiert diese Bedeutung teilweise, zweifelt sie aber auch an; die ‚oppositionelle‘ Lesart weist die Gerechtigkeitsbehauptungen des ICTY zurück und bietet andere Interpretationen an. Das Bildmaterial der ICTY-Dokumentarfilme besteht hauptsächlich aus Archivbildern bzw. Videos aus der Kriegszeit sowie Aufnahmen von Opfern, die im Gerichtssaal als Zeug*innen aussagen; in den TV-Nachrichten wurden vor allem Bilder der Angeklagten im Gerichtssaal sowie Bilder von Kommentator*innen gezeigt (etwa Politiker*innen oder Opfer). In der Analyse ist dann die Beziehung zwischen Argumentationsschemata im sprachlichen Modus und deren visueller Präsentation zu identifizieren: Behauptungen über das Tribunal als fragwürdiges „politisches“ Gericht werden etwa durch das Nichtzeigen von Gewaltbildern ermöglicht, während Behauptungen über die Zufriedenheit der Opfer mit den Urteilen des ICTY durch Bilder untermauert werden, die das Leid der Opfer während des Krieges zeigen. Anhand von zwei ausgewählten ikonischen Bildern aus dem Bosnien-Krieg (welche die Opfer Ramo Osmanović und Fikret Alić zeigen), die sowohl in ICTY-Dokumentarfilmen als auch bosniakische Medien wiederholt verwendet wurden, zeigen wir dann in Kapitel vier exemplarisch auf, wie Bedeutung hergestellt wird.9 Wir haben vier Dokumentarfilme des ICTY analysiert, um die Selbstlegitimation des ICTY exemplarisch zu untersuchen: zwei Filme über das Tribunal („Through their Eyes: Witnesses to Justice“ und „15 Years of Outreach“) und zwei Filme, die sich mit den Radovan Karadžić zur Last gelegten Verbrechen befassen („Crimes before the ICTY: Prijedor“ und „Srebrenica Genocide“). Für die kontrastierende Analyse der lokal-regionalen Medienberichterstattung über das Karadžić-Urteil wurden sieben Berichte aus Nachrichtensendungen ausgewählt, die am Abend des Urteils, 24. März 2016, ausgestrahlt wurden. Die Medienlandschaften der Postkonfliktgesellschaften in Serbien und Bosnien-Herzegowina sind insgesamt charakterisiert durch eine schwache Regulierung, sehr schwierige ökonomische Bedingungen, prekäre journalistische Arbeit, einen schwachen Medienmarkt und einer großen Anfälligkeit für politische Einflussnahme (Jusić 2004; Vasić 2016). Die Analyse von Medienbeiträgen hat gezeigt, dass die Berichterstattung über 9

Die Geschichte ihrer weit verbreiteten Zirkulation, die den ikonischen Status der Bilder untermauert, kann in diesem Beitrag aus Platzgründen nicht rekonstruiert werden.

Umstrittene Legitimität

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die Kriegsverbrecher-Tribunale ethnisch fragmentiert, sensations-orientiert und oftmals oberflächig ist (Džihana and Volčič 2011; Ristić 2013). Für Serbien untersuchten wir Nachrichten aus zwei landesweiten Sendern – dem staatlichen Sender RTS sowie dem privaten Sender B92 – sowie aus dem regionalen Kanal TV Vojvodina. Aus den drei öffentlichen landesweiten Sendern in Bosnien-Herzegowina RTRS (Republika Srpska TV), Federalna Televizija (FTV) und BHTV konnten nur Nachrichten aus RTRS und FTV ausgewählt werden, da für BHTV die audio-visuellen Dateien nicht verfügbar waren. Hinzu kamen Nachrichten aus den zwei privaten Sendern BNTV der Republika Srpska und TV Hayat aus Sarajevo. Der in beiden Staaten beIiebte Sender TV Pink wurde nicht in die Analyse einbezogen, da er vorwiegend Unterhaltungsprogramm anbietet.10 Die Analyse des Videomaterials wurde mit Hilfe der Software MAXQDA durchgeführt, das Filmmaterial konnte so in Sequenzen von unbewegten Bildern unterteilt werden. Relevante Textteile wurden transkribiert.

4

Die Selbstlegitimation des ICTY durch seine Dokumentarfilme

Im Folgenden sollen zunächst die an ein globales Publikum adressierten Legitimationsbehauptungen in den ICTY-Dokumentarfilmen identifiziert werden, die sich mit der Rolle des Tribunals im Allgemeinen und seinen Leistungen im Kontext des Karadžić-Urteils im Besonderen befassen. Im zweiten Schritt ist zu untersuchen, inwiefern bosnische und serbische Medien in ihrer Berichterstattung über das Urteil solche Legitimationsbehauptungen bestätigt, ‚verhandelt‘ oder zurückgewiesen haben. Das folgende Schema soll die beiden Relevanzebenen, global und lokal-regional, verdeutlichen:

10 Die von uns untersuchten TV-Sender erzielen teils ebenfalls sehr hohe Zuschauerquoten: In Bosnien-Herzegowina hatte FTV im Jahr 2006 34 % der Zuschauer*innenanteile, während die regionalen Sender RTRS 7 % und Hayat 4,7 % hatten (SEEMO 2008, S. 291). In der Republika Srpska waren im März 2016 die Abendnachrichten von BNTV mit rund 32 % der Zuschauer*innen am populärsten, gefolgt von RTRS mit 28 % (https:// www.rtvbn.com/380411/Dnevnik-2-BN-TV-najgledaniji-u-Srpskoj). In Serbien hat der staatliche Sender die meisten Zuschauer*innen (http://www.rts.rs/page/stories/sr/story/125/drustvo/2779201/rts-najgledanija-televizija-uspeh-i-finansijski.html, abgerufen 1. Oktober 2019).

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Abb. 1

Unterschiedliche Interpretationen der Legitimierung des ICTY

4.1

Die Täter zur Rechenschaft ziehen, den Opfern Gerechtigkeit verschaffen

Die vier ausgewählten Dokumentarfilme des ICTY vermeiden weitgehend Referenzen auf die globale Bedeutung des Tribunals in der internationalen Strafjustiz und betonen stattdessen durch den oft wiederholten Verweis auf „bringing war criminals to justice and justice to victims“ die regionale ‚Leistung‘ des Gerichtshofs. Dieses Motto, das insgesamt im Outreach-Material, auf Webseiten und in Berichten permanent wiederholt wird, stellt auch die Kernbotschaft der vier Dokumentarfilme dar. Entsprechend wird die Legitimationsformel aus der UN-Resolution 827, zu Frieden und Versöhnung beizutragen, kaum noch aufgegriffen.11 Eine Ausnahme ist beispielsweise eine Aussage von Gabrielle Kirk McDonald, Richterin und frühere Präsidentin des ICTY, die gleich in der ersten Minute des Films „15 Years of Outreach“ gezeigt wird: “The outreach programme that we created was designed to bring the tribunal to the former Yugoslavia, was designed to let the people in the region know what we were doing and how we were doing it. If the decisions were not reached in a fair way, 11 Eine Erklärung hierfür könnte auch in dem Umstand liegen, dass die Outreach-Filme erst relativ spät, ab 2013, veröffentlicht wurden – zu einem Zeitpunkt, wo bereits eine gewisse Ernüchterung über die Arbeit des ICTY eingetreten ist und inzwischen auch eine Reihe anderer Strafgerichtshöfe etabliert worden war.

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then how could our decisions help to bring about a lasting peace and help to lay the groundwork for some reconciliation?”

In den ausgewählten Dokumentarfilmen geht es vor allem um die Auswirkungen des Tribunals auf Täter und Opfer, sodass die Pionierfunktion des ICTY für nachfolgende Strafgerichtshöfe in den Filmen nicht thematisiert wird. Auch das Vorgängertribunal von Nürnberg wird lediglich zweimal erwähnt. Der ICTY erscheint so in den Filmen als ahistorische Institution, die ausschließlich auf die Herstellung von Gerechtigkeit in der Region ausgerichtet ist. Neben der historischen Einbettung des Gerichtshofs fehlt auch die Einordung in den politischen Kontext der entstehenden neuen Weltordnung nach dem Kalten Krieg. Inwieweit die Errichtung des ICTY trotz Gründung durch eine UN-Resolution politisch umkämpft war, bleibt gänzlich unsichtbar. Die fehlende Problematisierung des politischen Hintergrunds des Tribunals stellt gleichzeitig eine Weigerung dar, sich mit der Kritik an dem ICTY als eines „politischen“ Gerichtshofs auseinanderzusetzen (Kriachko Røren 2017). Diese Kritik gibt es in allen Gesellschaften des früheren Jugoslawiens, besonders lautstark allerdings in Serbien. Von einigen prominenten Unterstützern des Gerichtshofs, wie der früheren UNO-Botschafterin und Außenministerin der USA, Madeleine Albright, sind lediglich vage Andeutungen der Umstrittenheit zu hören: Es habe Skepsis und Widerstand gegen den ICTY von Anfang an gegeben. Die legitimierende Kernbotschaft der Dokumentarfilme – die Täter zur Rechenschaft ziehen und den Opfern Gerechtigkeit bringen – wird durch Aufzeigen von zwei miteinander verbundenen Leistungen des ICTY untermauert: die Wahrheit über Kriegsverbrechen etabliert und Kriegsverbrechen bestraft zu haben.

4.2

Visuelle Beweise und das Einsetzen von ikonischen Bildern

Die ausgewählten Dokumentarfilme betonen allesamt, dass der ICTY in der Lage war, Beweise über das Kriegsgeschehen zu erbringen, die – gemäß der juristischen Standardformel – jenseits eines vernünftigen Zweifels liegen. Die Filme führen Details über grausame Verbrechen auf, zeigen Zeug*innenaussagen von Opfern vor dem Gericht, Bilder aus der Kriegszeit, Ausgrabungen von Massengräbern und andere materielle Beweise. Sie schließen jeweils mit dem Zeigen von Richter*innen, die die Verbrechen mit der Autorität ihrer Institution bilanzieren. In den Filmen sind zahlreiche Zeug*innenaussagen über ihre Leiderfahrungen im Krieg ausschnittsweise zu sehen – in dem Dokumentarfilm über Prijedor waren es 16 Zeug*innenaussagen. In den Dokumentarfilmen werden die Kameraaufnahmen

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des ICTY aus dem Gerichtssaal verwendet; zu sehen sind Zeug*innenaussagen von Menschen, die Opfer von sexualisierter Gewalt, Folter und Schlägen wurden oder die Massenhinrichtungen überlebt haben. Diese Zeug*innenaussagen werden mit audio-visuellen Archivaufnahmen aus der Kriegszeit verknüpft. Die Dokumentarfilme greifen auf bekannte Bilder von Gewaltverbrechen zurück, die in den Medien zirkulierten und zu „ikonischen“ Präsentationen des Bosnien-Kriegs geworden sind. Hierzu gehören das Bild von Fikret Alić hinter dem Stacheldraht im Trnopolje Lager (Prijedor-Dokumentarfilm) und das Filmmaterial über Ramo Osmanović in Srebrenica (Srebrenica- Dokumentarfilm). Durch die Nutzung von audio-visuellem Archivmaterial wird die Re-Inszenierung der Vergangenheit vor den Augen des Publikums möglich (Bruzzi 2015). Archivmaterial kann als „Beweis“ für vergangene Ereignisse betrachtet werden (Baron 2013, S. 1). Diese Videos scheinen, wie Jaimie Baron (2013, S. 1) es beschreibt, “to bring us into ‚contact‘ with the past, to offer us a glimpse of a world that existed but has been erased and overlaid (…). Indeed, the past seems to become not only knowable but also perceptible in these images. They offer us an experience of pastness, an experience that no written word can quite match.”

Im Dokumentarfilm über Prijedor wird dieses visuelle Narrativ erzeugt durch eine bearbeitete Bildsequenz aus den Omarska und Trnopolje Lagern, die durch Journalist*innen des Guardian und Independent Television News 1992 in Prijedor aufgenommen wurde. Karadžić hatte die Journalist*innen selbst eingeladen, die Lager zu besuchen, nachdem immer mehr Berichte über Massenmorde, Folter, Vergewaltigungen und Verstümmelungen durchdrangen. Karadžić stritt dies alles ab und forderte die Journalist*innen auf, sich selbst ein Bild zu machen (Vulliamy 2008). Die aufgenommenen Bilder zeigen Gefangene in den Lagern, ihre verängstigten Gesichter; wie sie für Essen anstehen und zum Laufen im Hof gezwungen werden, während jede ihrer Bewegungen von mit Gewehren bewaffneten Personen überwacht wird. Diese Bilder werden zusammengeschnitten mit Bildern von Ausgrabungen von Massengräbern, Nahaufnahmen von Totenschädeln und Knochen, um das Schicksal der Gefangenen zu bestätigen – misshandelt, geschlagen, ausgehungert und hingerichtet. Die Nahaufnahme von Fikret Alić im Trnopolje Lager verkörpert dann schließlich die individualisierte Dimension dieses Grauens. Eine einzelne Person steht nun für alle Opfer: sein ausgemergelter Körper, seine Augen direkt in die Kamera gerichtet, Stacheldraht zwischen der Kamera und dem Opfer. Die Kameraaufnahme bewegt sich langsam an seinem Körper aufwärts, zeigt seinen zerbrechlichen ausgehungerten Körper, bei dem die Rippen scharf unter der Haut hervortreten.

Umstrittene Legitimität

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Das Bild von Fikret Alić wurde zu einem ikonischen Bild unmittelbar nach seiner Veröffentlichung. Es wurde von zahlreichen westlichen Zeitungen nachgedruckt, u. a. von dem Time Magazin und dem Daily Mirror, der das Bild mit der Überschrift „Belsen 92“ und der Unterüberschrift „Horror of the new Holocaust“ abdruckte. Dass das Bild Erinnerungen an die Konzentrationslager des nationalsozialistischen Regimes zu wecken vermochte, war sicherlich ein Grund seiner weiten Verbreitung. Allerdings wurden solche Vergleiche teils auch vehement zurückgewiesen, da der Holocaust als ‚singuläres‘ Verbrechen gilt (Campbell 2002). Andere interpretierten das Bild als Beleg für den sog. „CNN-Effekt“, der nicht nur die Einrichtung des ICTY befördert habe, sondern auch die spätere NATO-Intervention in Bosnien (Michalski/Gow 2007, S. 207). Das Filmmaterial aus den Lagern wird in den Dokumentarfilmen mit Aufnahmen verknüpft, die lange nach dem Krieg gemacht wurden – Sequenzen von Exhumierungen zeigen das Ausmaß der Verbrechen, während menschliche Überreste auf dem Boden und ein aus mittlerer Entfernung aufgenommenes Bild von Alić hinter dem Stacheldraht gleichsam laut, aber schweigend, von den entsetzlichen Grausamkeiten Zeugnis ablegen, die stattgefunden haben. Den Opfern wird das Gesicht von einem der Gefangenen gegeben. Filmmaterial von den Exhumierungen, der Knochenanalyse, der Untersuchung von Blutflecken an Wänden, wo Folter, Schläge und Mord stattgefunden haben, wird eingesetzt, um die Zeugenaussagen von Opfern und Experten vor dem ICTY zu stützen.

Abb. 2 Fikret Alić, Trnopolje Lager, August 1992, Standbilder aus der Dokumentation „Crimes before the ICTY: Prijedor“

Das zweite ikonische Bildmaterial aus dem Bosnienkrieg ist eine Filmsequenz von Ramo Osmanović, der seinem Sohn Nermin am 13. Juli 1995 in Srebrenica zuruft, dass dieser sich den serbischen Kräften ergeben solle: „Ich bin hier. Komm runter. Du brauchst keine Angst zu haben.“ Dieses Filmmaterial wurde von einem serbischen Journalisten aufgenommen, der die Truppe der Republika Srpska dorthin begleitet hat. Vater und Sohn Osmanović wurden in Srebrenica getötet. Das Bildmaterial

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wurde in dem 1999 ausgestrahlten BBC-Dokumentarfilm „A Cry from the Grave“ verwendet. Es erlangte in Bosnien rasch ikonischen Status als Sinnbild für den Völkermord in Srebrenica. Dieses Bild stellt – in Barbie Zelizers Terminologie – eine „about to die“ bzw. „certain death“-Fotographie dar, die gerade in der Erinnerungspolitik häufig verwendet wird und Menschen in den Momenten vor ihrem Tod zeigen. Die späteren Betrachter*innen kennen in der Regel den Ausgang der Ereignisse; das Bild regt sie jedoch auch dazu an, sich ein anderes Ende zumindest vorzustellen (Zelizer 2004, S. 164–171; 2010, S. 173–210).

Abb. 3 Ramo Osmanović ruft seinem Sohn zu, Juli 1995, Srebrenica, Standbild aus der Dokumentation „Srebrenica Genocide: no Room for Denial“

Das Bild von Fikret Alić erlangte seine Prominenz durch die Assoziationen mit Konzentrationslagern der Nazis (die sog. konnotative Wirkungskraft von Bildern). Die Bedeutung des Bildmaterials über Ramo Osmanović’s ergibt sich dagegen eher aus der Verknüpfung von Kontextualisierung und Kontingenz des Bildes – der/ die Betrachter*in des Bildes kann sich zunächst noch einen anderen Ausgang der Geschichte von Vater und Sohn Osmanović vorstellen. Die Filmsequenz zeigt den Vater umgeben von serbischen Soldaten, die ihn auffordern, nach seinem Sohn zu rufen. Dies tut er auch. Zunächst sieht der/der Betrachter*in nur, dass Ramo Osmanović mehrere Male seinem Sohn Nermin zuruft, die Hände um seinen Mund gelegt und in Richtung der Wälder rufend. Erst wenn der/die Betrachter*in realisiert, dass alle von serbischen Kräften gefangen genommenen Bosniaken hingerichtet wurden, erkennt er das gezeigte Grauen. Der Vater schickt den Sohn durch seine Zurufe in den sicheren Tod.

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Wie Barbie Zelizer erläutert, erlangen Bilder von einem bevorstehenden oder gewissen Tod ihre Bedeutung erst in Beziehung zu einem Text: Die Interpretation der Bilder hängt von einer sprachlichen Information ab, die dem Publikum mitteilt, wie dieses Bild zu interpretieren ist. Erst nachdem der/die Betrachter*in über die Umstände der Bildproduktion informiert ist, wird das ganze Grauen für den/die Betrachter*in sichtbar (Zelizer 2010, S. 173). Dies gilt auch für das Bild von Ramo Osmanović: Erst das Gewahrwerden, dass es sich hier um ein Video handelt, welches eine Gräueltat zeigt – vermutlich nur wenige Stunden vor den Hinrichtungen aufgenommen –, verändert die emotionale Wahrnehmung, während man das verzweifelte Rufen des Vaters betrachtet. Berücksichtigt man schließlich noch den Kontext der öffentlichen Ausstrahlung über Fernsehen und dass Osmanovićs Ehefrau diese Bilder dort gesehen hat, steigert dies das Grauen, welches durch die Bildszenen vermittelt wird. Saliha Osmanović hat nie erfahren, ob sich ihr Sohn ergeben hat und wie die gezeigte Szene tatsächlich ausgeht. Sie wird mit der Ungewissheit auf ewig konfrontiert bleiben. Sie weiß lediglich, dass beide getötet wurden, da 2009 die Überreste ihres Mannes und ihres Sohnes gefunden wurden. Das Schicksal der Familie Osmanović wurde zum Symbol des Völkermords in Srebrenica. Für Ramo Osmanović wurde im Juli 2015 ein Denkmal in Sarajevo errichtet. Zahlreiche internationale und lokale Medien berichteten über Saliha Osmanović. In einem Artikel beschreibt Ahmed Hrustanović die Emotionalität der Szene wie folgt: „Stell Dir vor, Du lädst Deinen Sohn in ein Massengrab ein, und Deine Frau sieht Dir dabei zu. Wie groß muss dieses Herz sein, um diese Rufe zu überleben und nicht zu brechen?“ (Hrustanović, 2016; Übersetzung der Autorinnen). Die in den ICTY-Dokumentarfilmen verwendeten Archivbilder werden verknüpft mit detaillierten sprachlichen Schilderungen der Verbrechen durch die Zeug*innen im Gerichtssaal. Diese Schilderungen sind stets individuell und persönlich gehalten – niemand verweist auf Gesamtzahlen oder versucht das Leid zu verallgemeinern. Wenn Zeug*innen der Opferseite aussagen, werden Bilder eingeblendet von den Orten der Verbrechen, etwa deren Größe, die Wände und auf dem Boden sichtbares Blut. Diese Bilder sollen die sprachlichen Aussagen der Zeug*innen gleichsam visuell verifizieren und den/die Betrachter*in davon überzeugen, dass das Tribunal durch das Sammeln von Beweisen und durch Zeug*innenaussagen die Wahrheit über die Verbrechen erarbeitet. Die angebotenen Narrative verschleiern jedoch kritische Aspekte der juristischen Aufarbeitung durch den ICTY. So könnte es für Betrachter*innen der Dokumentarfilme eine überraschende Information sein, dass es immer noch Tausende Vermisste gibt, da ihre menschlichen Überreste nie gefunden wurden, oder dass nur ein Bruchteil der Täter zur Rechenschaft gezogen wurde. Der Anspruch, die Straflosigkeit zu beenden, konnte nur bedingt eingelöst werden. Der Dokumen-

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tarfilm über Prijedor zeigt beispielswiese, dass die Strafverfolgung zunächst mit den Wächtern in den Lagern begonnen hat, sich dann auf die untere und mittlere Ebene von Amtsinhabern ausdehnte und schließlich die militärische und politische Führungsebene erreichte (Mladić, Plavšić und Karadžić). So wird der Eindruck erweckt, dass alle Verantwortungsebenen zur Rechenschaft gezogen wurden, von den unmittelbaren Täter*innen bis hin zu den politischen Vordenker*innen des Krieges. Dass zahllose Täter*innen ohne Strafverfolgung bleiben, wird nicht erwähnt. Der Gerechtigkeit für die Opfer wird demnach durch das Etablieren der Wahrheit über die Kriegsverbrechen und das Bestrafen der Täter*innen genüge getan. Anstatt die Opfer direkt zu befragen, welche Vorstellungen von Gerechtigkeit sie haben, oder wie sie das Tribunal wahrnehmen, wird die legitimationsstiftende Kernbotschaft „justice being done“ durch die Darstellung von juristischen Beweisen und Urteilen repräsentiert. Da die Dokumentarfilme jegliche Kritik aus der allgemeinen Öffentlichkeit oder von Opfern ausblenden – etwa hinsichtlich der Selektivität der Strafverfolgung, der Zahl der Angeklagten oder milder Urteile –, erscheint der ICTY unzweifelhaft als erfolgreiche Institution (vgl. Kriachko Røren 2017). Diese unkritische Akzeptanz und wiederholte Betonung des Erfolgs des Tribunals (den Opfern Gerechtigkeit gebracht zu haben) zeigt, dass die ‚dominante‘ Lesart (im Sinne Stuart Halls) dieser Behauptungen den Dokumentarfilmen eingeschrieben ist. Als Kehrseite ist zu beobachten, dass die Zeug*innen der Opferseite durch die dargestellten Bilder und Aussagen in den Dokumentarfilmen letztlich zu Körpern reduziert werden, an denen Verbrechen verübt wurden. Sie werden nur gehört, wenn sie über das Erlittene berichten. Sie scheinen kein Leben vor oder nach der erlittenen Gewalt zu haben, keine politischen Überzeugungen oder Meinungen über den ICTY oder über Gerechtigkeit (Werner 2016, S. 1051). Sie werden in den Filmen auf ähnliche Weise vorgestellt wie in den Gerichtsverfahren: als diejenigen, die die Beweise erbringen; die als über-lebende Körper bezeugen können, dass schrecklichste Gewaltverbrechen stattgefunden haben.

5

Die Rezeption des Karadžić-Urteils in bosniakischen und serbischen TV-Nachrichten

Anhand der Berichterstattung über das Karadžić-Urteil in bosnischen und serbischen TV-Sendern wird in diesem Kapitel dargelegt, wie in den ‚Zielgesellschaften‘ der Selbstlegitimationsdiskurs des ICTY ‚verhandelt‘ bzw. abgelehnt wurde. Dieses Urteil wurde international und von dem Gerichtshof selbst als Paradebeispiel für die erfolgreiche Arbeit des ICTY gesehen. Der frühere bosnische Serbenführer wurde in

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fast allen Anklagepunkten für schuldig gesprochen, u. a. wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord (in Srebrenica), und zu 40 Jahren Haft verurteilt.12 Radovan Karadžić war in Kriegszeiten der Präsident der selbsternannten Republika Srpska (RS) in Bosnien-Herzegowina und Oberbefehlshaber ihrer Truppen. Erst im Jahr 2008 konnte er verhaftet werden, obwohl der internationale Haftbefehl bereits 1996 ausgestellt wurde. Bis dahin hatte der ICTY eine Reihe von Funktionsträgern des Militärs und der Polizei wegen Verbrechen in Bosnien angeklagt und verurteilt: Völkermord in Srebrenica, Scharfschützenangriffe während der Belagerung von Sarajevo, Massenvertreibungen, Lager und Morde in Ostbosnien im Jahr 1992. Der Strafprozess gegen Karadžić13 wurde daher als endgültige Bestätigung eines politischen Plans betrachtet, der hinter all diesen Gewalttaten stehe und der von General Ratko Mladić militärisch umgesetzt wurde. Nach dem Tod des serbischen Präsidenten Milošević waren Karadžić und Mladić die hochrangigsten Gefangenen des ICTY und das lokale und internationale Medieninteresse entsprechend enorm. Allerdings waren die Urteile gegen beide, 2016 bzw. 2017, letztlich nicht mehr überraschend. Unklar war lediglich, ob ein neuer Anklagepunkt über Völkermord in sieben Gemeinden (Bratunac, Foča, Ključ, Prijedor, Sanski Most, Vlasenica, Zvornik) im Jahre 1992 unterstützt und wie hoch die Haftstrafe ausfallen würde. Der ICTY präsentierte den Karadžić-Prozess und die Verurteilung zu 40 Jahren Haft als großen Erfolg der Institution. Opfer verfolgten die Urteilsverkündung in öffentlichen Live-Übertragungen in Bosnien-Herzegowina und in den Besucherräumen des ICTY. In einer Pressemitteilung brachte der Ankläger des ICTY, Serge Brammertz, seine Zufriedenheit über das Urteil zum Ausdruck: „We are satisfied that the Trial Chamber accepted the extensive evidence proving beyond reasonable doubt Karadžić’s individual criminal responsibility for a broad range of crimes.“ Brammertz wiederholte nach der Urteilsverkündung die Kernbotschaft, die dem ICTY seine Legitimität verleihen soll: “In 1993, the world decided that victims in the former Yugoslavia deserved justice. For two decades now, those victims have put their trust in us to deliver it. Thousands

12 Im März 2019 hat die Berufungskammer des International Residual Mechanism for Criminal Tribunals das Urteil revidiert und von 40 Jahren Haft auf lebenslänglich erhöht. Das Berufungsurteil lag jenseits unseres Analysezeitraums und kann daher nicht weiter berücksichtigt werden in diesem Beitrag. Siehe https://www.irmct.org/en/ cases/mict-13-55 (abgerufen am 1. Oktober 2019). 13 Für einen Überblick über die ihm zur Last gelegten Verbrechen siehe http://www.icty. org/case/karadzic/4 (abgerufen am 1. Oktober 2019).

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Anna Geis und Katarina Ristić came here to tell their stories and courageously confront their tormentors. Today, with this conviction, that trust has been honored. Justice has been done.”14

Wie in Kapitel vier dargelegt, verzichteten die ausgewählten Dokumentarfilme des ICTY darauf, die globale Relevanz (historisch, rechtlich, politisch) des Tribunals hervorzuheben und betonten die lokale Bedeutung des „bringing war criminals to justice and justice to victims“. Die bosniakischen Medien fokussierten ebenfalls auf die lokalen Wirkungen und boten – im Sinne von Stuart Halls (1973) Unterscheidung von dominanten, verhandelten und oppositionellen Lesarten – eine ‚verhandelte‘ Lesart dieser Behauptungen an: Sie akzeptierten nur teilweise, dass der Gerechtigkeit genüge getan worden sei, indem sie Opfer und ihre Bewertung des Karadžić-Urteils in den Vordergrund rückten. Serbische Medien (sowohl in der RS als auch in Serbien) haben sich mit der lokalen Bedeutung erst gar nicht befasst, sondern konzentrierten sich auf den politischen Hintergrund des Gerichtshofs. Die Legitimation des ICTY als revolutionärer Institution, welche die Straflosigkeit beendet und in Namen der Menschheit spricht, wird klar bestritten. Die Medien bieten eine „oppositionelle“ Lesart an: Das Tribunal sei ein „politisches“ Gericht, ein Instrument westlicher Mächte, dessen Ziel es sei, Serben zu bestrafen anstatt Gerechtigkeit zu bringen. In den folgenden Abschnitten wird näher erläutert, wie diese konträren Bedeutungen des Tribunals in den Medien durch sprachliche und visuelle Modi erzeugt wurden. In den TV-Nachrichten soll die jeweilige Perspektive identifiziert werden, d. h. wie Bilder genutzt wurden, um das Tribunal zu (de-) legitimieren, unter besonderer Berücksichtigung der Nutzung Archivbildmaterial aus Kriegszeiten.

5.1

Bosniakische Medien: die Gewaltopfer bewerten das Tribunal

Wie die ICTY-Dokumentarfilme stellen auch die analysierten bosniakischen Medien (Hayat TV und FTV) die Opfer in den Mittelpunkt – diesmal allerdings ist die Hauptaussage nicht, dass der Gerechtigkeit genüge getan wurde, sondern dass die Opfer unzufrieden sind mit dem Urteil und dass es ihnen schwerfällt, milde und symbolische Urteile zu verkraften. Opfer und Überlebende werden vor dem Gebäude des ICTY interviewt, zuhause in ihren eigenen Wohnungen, oder wäh-

14 Dieses und das vorstehende Zitat sind der Pressemitteilung vom 24.3.2016 entnommen, siehe http://www.icty.org/en/press/statement-of-the-office-of-the-prosecutor-on-the-conviction-of-radovan-Karad%C5%BEi%C4%87 (abgerufen 1. Oktober 2019).

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rend der öffentlichen Live-Übertragungen des Urteils. Jeder dieser Orte verleiht dem Sprechenden eine visuell besondere Bedeutung, und unterschiedliche visuelle Referenzen werden benutzt, um die symbolische Bedeutung des Ereignisses zu signalisieren. Die ikonischen Bilder aus dem Trnopolje Lager und das Filmmaterial über Ramo Osmanović werden nun in der Berichterstattung der bosniakischen Medien über das Karadžić-Urteil wieder gezeigt. Dieses Mal allerdings kommentieren Überlebende das Urteil und bewerten die Arbeit des ICTY anstatt ihre leidenden Körper als Beweise der Gewaltverbrechen zu zeigen.

Abb. 4 FTV Dnevnik 2, 24.03.2016: Fikret Alić, vor dem ICTY-Gebäude, hält das Time Magazin in seiner Hand

Fikret Alić war ebenfalls vor Ort im Gericht, als das Karadžić-Urteil verkündet wurde. Anschließend sprach er mit Medien vor dem Gerichtssaal, während er ein Exemplar des Time Magazins in der Hand hält. Interessanterweise nimmt er keinen direkten Bezug auf das Bild noch auf seine Erfahrungen – er erwähnt nicht einmal das Trnopolje Lager. Das Bild seines ausgehungerten Körpers auf der Titelseite des Magazins dient lediglich als Erinnerung; es signalisiert, was bereits bekannt ist. Stattdessen verleiht Alić seiner Enttäuschung über das Urteil Ausdruck. Es sei eine Schande, dass das Urteil Karadžić nicht des Genozids in Prijedor schuldig gesprochen habe, wenn man berücksichtige, was er (Alić) und andere Opfer dort im Krieg erlitten hätten (FTV, 7:25–7:38). Auch das Bildmaterial über Ramo Osmanović wurde in der Berichterstattung der FTV über das Karadžić Urteil wieder verwendet (FTV 13:38–13:45), vor dem Interview mit seiner Witwe Saliha, die die Urteilsverkündigung gemeinsam mit anderen „Müttern von Srebrenica“ verfolgt hat. Das Filmmaterial wird gezeigt, während ein Journalist sagt, „Karadžić wurde des Mordes an ihrem Sohn Nermin und Ehemann Ramo für schuldig gesprochen“, und erläutert, wann und wo sie

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gefangen genommen wurden. Das eingefügte Bildmaterial dauert lediglich sieben Sekunden, dann wird wieder zur öffentlichen Übertragung zurückgekehrt, wo Saliha Osmanović spricht: „Ich bin völlig unzufrieden mit dem Urteil“. Sie erklärt, dass sie zwei Söhne und ihren Ehemann verloren habe und dass nichts diese wieder zurückbringen könne (FTV, 13:45–13:58).

5.2

Serbische Medien: politisches Urteil eines „politischen“ Tribunals

In den ausgewählten serbischen Medien und in RTRS (Republika Srpska) wird das Urteil als eine politische Entscheidung eines „politischen“ Gerichts dargestellt. Es wird impliziert, dass die Serb*innen die ‚Sündenböcke‘ der globalen bzw. westlichen Politik seien. In dieser globalen Perspektive fehlt der lokal-regionale Fokus auf ‚Gerechtigkeit‘ völlig, wie er von den ICTY-Dokumentarfilmen eingenommen wird. Weder die Legitimationsformel der Bestrafung der Täter*innen noch die der Gerechtigkeit für die Opfer findet Eingang in die Berichterstattung, die stattdessen die Behauptung des „politischen“ Charakters des Tribunals in den Vordergrund rückt. Diese Behauptung wird durch verschiedene Repräsentationsstrategien betont: Wiederholung; Auswahl der Kommentatoren, Übereinstimmung zwischen allen Kommentatoren; die völlige Ausblendung von Verbrechen und Opfern; das Umkehren von Schuldzuweisungen; Argumentationen, dass das Urteil nicht auf Beweisen beruhe, sondern von politischen Interessen geleitet sei. Die Hauptnachrichten über das Karadžić-Urteil in RTRS haben eine Länge von 15:31 Minuten. In dieser Zeit wird der ICTY 24 mal von unterschiedlichen Akteuren als „politisches“ Tribunal bezeichnet, manchmal zweimal innerhalb einer Minute. Zudem wurden die Kommentator*innen aus unterschiedlichen Akteursgruppen ausgewählt – Anwält*innen, Expert*innen, Politiker*innen, Bürger*innen auf den Straßen unterschiedlicher Städte. Sie alle stimmen darin überein, dass das Urteil ein politischer Akt des illegitimen Gerichtshofs sei. In den Worten eines Passanten: „Wir erkennen das Urteil nicht an.“ Eine solche Bandbreite von Kommentator*innen soll die gleichförmige Wahrnehmung des Urteils in der politischen Gemeinschaft belegen, während die Anwält*innen der Verteidigung betonen, dass es keine Beweise für die Verbrechen gebe, und die Verteidigung sogar bewiesen habe, dass die Bosniak*innen für die Tötung ihrer eigenen Soldaten verantwortlich seien, um so die Unterstützung der NATO zu erhalten.

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Abb. 5 RTRS Dnevnik 2, 24.03.2016, Rede des serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić

Die wichtigste Strategie, um die delegitimierende Behauptung eines politischen Tribunals zu untermauern, liegt in der sprachlichen wie visuellen Ausblendung von Opfern, d. h. ihrer völligen Nichtthematisierung und ihrem Nichtzeigen. In keiner der Nachrichten der Sender RTS, RTRS, TV Vojvodina und B92 wird auch nur ein Opfer gezeigt. Stattdessen wird die Behauptung eines „politischen“ Gerichts durch das Zeigen politischer Kommentatoren des Urteils visuell geradezu demonstrativ untermauert – ob willentlich oder nicht. Es folgen aufeinander die Bilder des Präsidenten der Republika Srpska, Milorad Dodik, des Präsidenten Serbiens, Aleksandar Vučić, des russischen Botschafters in Bosnien-Herzegowina, Petar Ivancov, und des Vorsitzenden einer Veteranenorganisation, Milorad Savčić. Alle vier sagen aus, dass der ICTY eine illegitime politische Institution sei und dass diese die Gründung der Republika Srpska nicht in Frage stellen könne. Die erste Kommentatorin in den BNTV-Nachrichten ist Sonja Karadžić, die Tochter des Verurteilten – sie erklärt, dass die größte Leistung der Verteidigung im Strafprozess darin bestanden habe zu beweisen, dass die Republika Srpska nicht auf einem Völkermord gegründet worden sei (BN, 4:24–5:22). Da ein „politisches“ Gericht Urteile fällt, die politische Konsequenzen haben, wäre die Delegitimierung der Republika Srpska als eine auf Genozid gegründete Entität eine solche befürchtete Folge. Das Karadžić-Urteil wurde am 24. März 2016 verkündet, am Tag der 17. Wiederkehr des Beginns der NATO-Intervention im Kosovo. Dies gab den Präsidenten Serbiens und der RS, Vučić und Dodik, die Gelegenheit, während einer Gedenkfeier

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in Varvarin für die serbischen Opfer der NATO-Intervention zur Urteilsverkündigung Stellung zu nehmen. In seiner Rede wies Vučić vehement die Möglichkeit zurück, dass dieses Urteil in irgendeiner Weise den Status der Republika Srpska beeinflussen könnte. Serbien werde das Existenzrecht der bosnischen Serben verteidigen.15 Dodik spielte auf die (bittere) Ironie des Datums an: Absichtlich oder auch nicht habe jemand entschieden, das Urteil am Jahrestag der NATO-Intervention zu verkünden, mit der die NATO so großen Schaden angerichtet und so viele Menschen getötet habe wie zuvor in der Republika Srpska. Im Bosnien-Krieg habe die NATO den Ausgang des Krieges bestimmt, da sie sich auf eine Seite gestellt habe (RTRS 24.03.2016, 4:26–5:40).

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Schlussbetrachtung: der politisierte Gerichtshof

Wie in einigen jüngeren Studien herausgearbeitet wurde, greifen die Institutionen der internationalen Strafjustiz in besonderem Maße auf Bildmaterial zurück, um ihre Arbeit zu legitimieren: im Gerichtssaal, um visuelle Beweise von Verbrechen zu zeigen (Petrović 2014); außerhalb des Gerichtssaals, um die Kernbotschaft des justice being done zu untermauern, auch unter Rückgriff auf Pathos und fragwürdige Stereotypisierungen von Opferbildern (Schwöbel-Patel 2016; Werner 2016). Umso überraschender ist, dass bislang die Debatte in den Internationalen Beziehungen über die Politisierung von internationalen Institutionen die Straftribunale außer Acht gelassen hat. Unser Beitrag sollte gleichermaßen die Relevanz von visuellen Elementen in der Legitimitätspolitik wie auch des Konzepts der Legitimitätspolitik für Tribunale aufzeigen. Straftribunale verhandeln die Kernverbrechen des Völkerrechts, d. h. es geht um massenhafte Menschenrechtsverletzungen und Gräueltaten, die einzelnen Individuen zugerechnet werden sollen. (Ikonische) Bilder helfen einerseits dabei, die Erinnerung an solche „unspeakable crimes“ zu prägen: „how we remember through images remains powerfully different from how we might remember the same event were images not involved“ (Zelizer 2004, S. 158). Andererseits haben solche Bilder auch ambivalente Wirkungen im Legitimationsgeschehen, wie u. a.

15 Vučić vertrat „während des Krieges eine radikale politische Option und hat jahrelang die Ergebnisse des Strafgerichtshofs geleugnet und dieses Tribunal nur kritisiert. Täglich wiederholt er, dass man sich nicht auf die Vergangenheit beziehen sollte, sondern in die Zukunft schauen muss. Ihm antwortete ein Belgrader Journalist: ‚Wenn ich eine derartige Vergangenheit hätte, würde ich auch nur in die Zukunft schauen.‘“ (Stjepanović 2018).

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Werner (2016) und Schwöbel-Patel (2016) für den permanenten internationalen Strafgerichtshof belegen. Der 2017 geschlossene ICTY hinterlässt ein bilderreiches Vermächtnis, in dem seine wichtige Rolle in der internationalen Strafjustiz ohne jegliche Selbstkritik erzählt wird. Er scheint darin jeglichen politischen Kämpfen enthoben. Lokalen Akteur*innen in Medien und Politik ist es gelungen, teils ganz andere Deutungen des Gerichts in den regionalen Adressatenkreisen zu etablieren. Befürworter*innen des ICTY sehen dadurch die historische Leistung des Gerichtshofs gefährdet: „Was er aufdeckte, decken andere zu. Was er beleuchtete, wird von anderen verdunkelt. Sein klares Bild wird von anderen verzerrt“ (Stjepanović 2018). Was in den regionalen Diskursen gezeigt und was unsichtbar gemacht wird, ist auch stets Ausdruck politischer Machtkämpfe und Machtbeziehungen. „Versöhnung“ in den Staaten des früheren Jugoslawiens konnte durch den umstrittenen Gerichtshof nicht befördert werden. Dies liegt auch am Unwillen von weiten Teilen der regionalen Eliten, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, nicht zuletzt da einige von ihnen selbst höchst problematische Rollen in Kriegszeiten innehatten.

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Kriegsspiele Video-Games und Weltpolitik Axel Heck

Zusammenfassung

Dieser Beitrag richtet den Blick auf Videospiele, um die (welt-)politischen Dimensionen dieses gesellschaftlich weit verbreiteten Mediums auszuloten. Der Schwerpunkt der Betrachtung liegt vor allem auf der Frage, welches politikwissenschaftliche Erkenntnispotential in einer analytischen Auseinandersetzung mit Videospielen liegt, die Kriege und internationale Gewaltkonflikte thematisieren. Zudem wird diskutiert, wie Videospiele theoretisiert und methodisch geleitet untersucht werden können. Dies wird insbesondere dann wichtig, wenn die Forscher*innen keine Gaming-Experten sind und folglich auch nicht über eine ausgeprägte Spielpraxis oder die erforderlichen Fingerfertigkeiten verfügen. Zunächst verlangt die politikwissenschaftliche Betrachtung des Untersuchungsgegenstands eine Erläuterung. Sicherlich erscheint nicht allen Leser*innen direkt einleuchtend, weshalb diesem Medium ein eigener Beitrag gewidmet ist – die Vorbehalte gegenüber Videospielen sind nicht nur in der breiteren Gesellschaft sehr groß, sondern auch und gerade in der Wissenschaft, handelt es sich doch in erster Linie um Produkte der Unterhaltungsindustrie. Zudem werden insbesondere reaktionssensible Videospiele gerne auch als „E-Sport“ betrieben, was sich zu einem beträchtlichen internationalen Markt entwickelt hat. Die politische Dimension in Videospielen muss daher zunächst einmal freigelegt werden, wobei auch die Skepsis hinsichtlich der Erforschung von Videospielen einer Erörterung bedarf. Politisch relevant sind kulturelle Erzeugnisse wie Videospiele, Filme, Bücher, Theaterstücke etc. unter anderem auch, da durch die Re-mediatisierung und mediale Verankerung von Ereignissen kollektiv geteilte und sinnstiften-

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Schlag und A. Heck (Hrsg.), Visualität und Weltpolitik, Horizonte der Internationalen Beziehungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29971-2_5

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de Erinnerungsnarrative geprägt und stabilisiert, aber auch hinterfragt und gegebenenfalls umgeschrieben werden können. Die Erkenntnisse über die erinnerungskulturelle- und politische Dimension von Videospielen lassen sich etwa für die Friedens- und Konfliktforschung nutzen, wenn es um Fragen nach der Repräsentation und Aufarbeitung von Kriegserfahrungen und kollektiver Traumata geht. Schlüsselbegriffe

Videospiele, Krieg, kollektive Erinnerung, Militarisierung

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Videospiele als Untersuchungsobjekt: sozialwissenschaftliche Forschung zwischen Rechtfertigungszwang und Klischeevorstellungen

Dieser Beitrag richtet den Blick auf Videospiele, um die (welt-)politischen Dimensionen dieses gesellschaftlich weit verbreiteten Mediums auszuloten. Der Schwerpunkt der Betrachtung liegt vor allem auf der Frage, welches politikwissenschaftliche Erkenntnispotential in einer analytischen Auseinandersetzung mit Videospielen liegt, die Kriege und internationale Gewaltkonflikte thematisieren. Zudem wird diskutiert, wie Videospiele theoretisiert und methodisch geleitet untersucht werden können, insbesondere, wenn die Forscher*innen keine Gaming-Experten sind und folglich auch nicht über eine ausgeprägte Spielpraxis oder die erforderlichen Fingerfertigkeiten verfügen. Zunächst verlangt die politikwissenschaftliche Betrachtung des Untersuchungsgegenstands eine Erläuterung. Sicherlich erscheint nicht allen Leser*innen direkt einleuchtend, weshalb diesem Medium ein eigener Beitrag gewidmet ist – die Vorbehalte gegenüber Videospielen sind nicht nur in der breiteren Gesellschaft sehr groß, sondern auch und gerade in der Wissenschaft, handelt es sich doch in erster Linie um Produkte der Unterhaltungsindustrie. Zudem werden insbesondere reaktionssensible Videospiele gerne auch als „E-Sport“ betrieben, was sich zu einem beträchtlichen internationalen Markt entwickelt hat. Die politische Dimension in Videospielen muss daher zunächst einmal freigelegt werden, wobei auch die Skepsis hinsichtlich der Erforschung von Videospielen einer Erörterung bedarf. Politisch relevant sind kulturelle Erzeugnisse wie Videospiele, Filme, Bücher, Theaterstücke etc. unter anderem auch, da durch die Re-mediatisierung und

Kriegsspiele

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pluri-mediale (Erll und Wodianka 2008) Verankerung von Ereignissen kollektiv geteilte und sinnstiftende Erinnerungsnarrative geprägt und stabilisiert aber auch hinterfragt und gegebenenfalls umgeschrieben werden können (Kansteiner 2009, S. 30). Die Erkenntnisse über die erinnerungskulturelle- und politische Dimension von Videospielen lassen sich etwa für die Friedens- und Konfliktforschung nutzen, wenn es um Fragen nach Aussöhnung und der Aufarbeitung von Kriegsverbrechen und kollektiver Traumata geht (Smethurst und Craps 2014). Darüber hinaus bieten Videospiele als kulturelle Erzeugnisse einer bestimmten Epoche immer auch Einblicke in tief verwurzelte Glaubens-, Wissens und Wahrheitsregime, die als geradezu „natürlich“ gegeben betrachtet und oftmals nicht weiter hinterfragt werden. Gerade für eine kritische und post-strukturalistisch informierte Sozialforschung bieten Videospiele einen reichhaltigen Fundus, um der Macht gesellschaftlicher Normierung und Subjektivierung durch Erzeugnisse der Populärkultur und deren Aneignungen auf die Spur zu kommen (Baerg 2009; Mantello 2017). In diesem Beitrag werden aber auch weitergehende methodische Fragen thematisiert, die sich bei einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Videospielen stellen. Hier werden unterschiedliche Ansätze aufgezeigt, die bereits in der Literatur bestehen, aber auch darüberhinausgehende Überlegungen formuliert, da insbesondere Wissenschaftler*innen angesprochen werden sollen, die explizit keine oder nur eine geringe Spielerfahrung haben. Da der Großteil der Videospieleforschung in den IB primär an ein bereits stärker vorgeprägtes Publikum gerichtet ist (Robinson und Schulzke 2016), soll dieser Beitrag eher dazu dienen, das Feld für jene Forscher*innen zu öffnen, die mit dem Medium weniger vertraut sind. Die zentrale Herausforderung besteht folglich darin, actionbasierte und reaktionssensible Videospiele so als Forschungsgegenstand einzurichten, dass auch Politolog*innen einen Zugang finden, ohne sich zunächst wochenlang in der Steuerung der Figuren und Charaktere üben zu müssen – was ab einem gewissen Alter ohne langjährige Gaming-Kompetenz ohnehin unmöglich sein dürfte. Entsprechend muss eine Meta-Perspektive auf Videospiele entwickelt werden, um sie als gesellschaftliches und politisches Phänomen begreifen und einordnen zu können. In diesem Beitrag soll anhand des Spieles Call of Duty WWII ein möglicher Zugang aufgezeigt werden, der in erster Linie den Kontext des Spiels (Begleitmaterial, Webseite, Marketing) und dessen Rezeption (bspw. in Zeitschriften, auf Blogs und einschlägigen Foren) berücksichtigt, um den politischen Gehalt und die diskursive Bedeutung des Spieles zu erfassen. Das Spiel an sich und das Spielerlebnis selbst sollen hier nicht im Mittelpunkt stehen, gleichwohl eine tiefergehende Auseinandersetzung mit einem Videospiel natürlich nur möglich ist, wenn das Spiel auch selbst gespielt wurde. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass der Schwerpunkt der Analyse immer auf dem Spiel selbst liegen muss.

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Abschließend wird über weitere Anwendungsmöglichkeiten der Videospielanalyse reflektiert. Im Mittelpunkt dieser Überlegungen steht jedoch die Frage, inwiefern die IB von einer stärkeren Hinwendung zu Videospielen profitieren könnten und wo die Grenzen der Analyse von Videospielen liegen.

1.1

Was soll an einem Computerspiel schon „politisch“ sein?

Hakenkreuze und SS-Runen sucht man beispielsweise in der deutschen Version des 2017 erschienenen Computerspiels Call of Duty WWII vergeblich, denn sie sind verfassungsfeindlich und dürfen nur unter besonderen Umständen gezeigt werden. Hierzu zählen etwa künstlerische oder wissenschaftliche Arbeiten, bspw. wenn einschlägig vorbelastete Symbole zur Darstellung und Aufarbeitung zeithistorischen Geschehens notwendig sind. Call of Duty und andere Computerspiele wurden lange weder als künstlerische noch wissenschaftliche Medien verstanden. Doch das hat sich geändert. Mit Through the Darkest of Times ist beispielsweise ein Videospiel auf den Markt gekommen, das erstmals Nazisymbole zeigt und eine Altersfreigabe ab 12 Jahren erhalten hat, da es den Widerstand gegen das Regime thematisiert (Kreienbrink 2018). Seit Anfang 2018 können Computerspiele (ebenso wie Filme) mit verfassungsfeindlichen Symbolen auf ihre Sozialadäquanz hin geprüft werden und eine Freigabe erhalten. Laut USK bedeutet Sozialadäquanz: „dass Symbole verfassungsfeindlicher Organisationen in einem Titel verwendet werden können, sofern dies der Kunst oder der Wissenschaft, der Darstellung von Vorgängen des Zeitgeschehens oder der Geschichte dient“ (Secker und Hußmann 2018). Damit werden Videospiele als eine Mediengattung anerkannt, die einen aufklärerischen Anspruch verfolgen können. Die gesellschaftspolitische Dimension von Videospielen wird in den Sozialund Kulturwissenschaften seit geraumer Zeit untersucht. Die Forschung zu und über Videospiele (aber auch zu analogen Gesellschaftsspielen etc.) hat eine eigene Forschungsdisziplin hervorgebracht, die unter dem Label Game Studies unterschiedlichste wissenschaftliche Stränge vereint (Sachs-Hombach und Thon 2015). In der Politikwissenschaft ist die Beschäftigung mit solchen doch eher als profan und unpolitisch geltenden Objekten der Alltags- und Populärkultur nach wie vor verpönt (siehe auch den Beitrag von Schlag in diesem Band). Gerade in den Internationalen Beziehungen (IB) steht kaum ein Strang so unter Selbstrechtfertigungsdruck wie die Forschung über Produkte, die dem Bereich der Populärkultur zugerechnet werden (Grayson et al. 2009; Nexon und Neumann 2006; Weldes 2003; Weldes und Rowley 2015).

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In den IB findet seit einigen Jahren eine tiefergehende und auch weithin anerkannte Auseinandersetzung mit Filmen, Serien oder Dokumentationen statt (Engelkamp und Offermann 2012; Göler und Zech 2017; Heck 2017; Heck und Schlag 2015; Rowley 2007; van Munster und Sylvest 2015; Schlag 2019). Gerade die Erforschung politischer Kunst, kulturelle Aneignungen sowie die Ästhetisierung von Politik im Spannungsfeld zwischen Macht, Herrschaft und Widerstand konnten sich im Zuge des „aesthetic turn“ (Bleiker 2001) auch in der breiteren Politikwissenschaft etablieren (Beyme 1998; Bogerts 2018; Heck 2014). Forscher*innen, die sich jedoch aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive mit Videospielen beschäftigen, sehen sich hingegen oftmals gezwungen, die Relevanz und Ernsthaftigkeit ihres Untersuchungsgegenstands umfassend zu begründen (Bogost 2007; Power 2007; Shaw 2010; Stahl 2006). Was soll denn ein analytischer Blick auf Videospiele überhaupt bringen? Warum können und sollten Konsolen- und Computerspiele Gegenstand politikwissenschaftlicher Analysen sein?

1.2

Immer die Frage nach der Relevanz…

Videospiele sind während der letzten knapp 40 Jahre zu einer etablierten Unterhaltungs- und Freizeitbeschäftigung für Millionen Menschen weltweit geworden. Ein Blick auf die Struktur der einschlägigen Veröffentlichung in IB-nahen Journals über Videospiele zeigt, dass die Autor*innen jedoch in der Regel sehr darum bemüht sind, die Relevanz des Forschungsgegenstandes mit Blick auf die gesellschaftliche Verbreitung sowie die ökonomische Bedeutung dieser Erzeugnisse zu rechtfertigen (Power 2007, S. 273; Robinson 2012, S. 505). Weltweit belaufen sich die Umsätze der Branche auf über 30 Mrd. Euro (Tendenz steigend), in Deutschland setzten die Unternehmen rund 2,4 Mrd. Euro alleine im Jahr 2017 um, ohne den Verkauf von der dazugehörigen Hardware.1 Ein Blick auf die Nutzerstatistiken zeigt auch, dass Videospiele keineswegs nur eine Freizeitbeschäftigung für Jungen und männliche Jugendliche darstellen. 58 % der 34 Millionen Nutzer in Deutschland sind über 30 Jahre alt.2 Der Anteil an Gamerinnen beläuft sich mit knapp 16,2 Millionen insgesamt auf etwas weniger als 50 %. 1

Weitere Statistiken über den Video-Gaming Markt finden sich auf der Seite von Statista https://de.statista.com/themen/826/computer-und-videospiele/. Auf den weltweiten Trend des sogenannten E-Sports soll hier nicht weiter eingegangen werden. Hierzu sei auf einen Artikel in der New York Times verwiesen: https://www.nytimes.com/2018/05/02/style/ fortnite.html. 2 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/290890/umfrage/altersverteilung-von-computerspielern-in-deutschland/

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Skeptische Leser*innen sollen also mit der Macht der enormen Verkaufs- und Umsatzzahlen in der Branche von der Notwendigkeit überzeugt werden, diese einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Doch der Verweis auf ökonomische Kennzahlen und Alltagsverbreitung vermögen noch keine überzeugende Antwort auf die Frage zu liefern, warum sich nun ausgerechnet die Politikwissenschaft, insbesondere die IB, mit Videospielen befassen müsste. So stellt sich doch die offensichtliche Frage, was denn an einem Computerspiel politisch sein soll. Folgt man dem Argument der kritischen Spieleforschung, sollten auch die immanenten ideologischen Ansprüche, moralisch-ästhetischen Wertvorstellungen, Wissensregime und Bedeutungsstrukturen aufgedeckt werden, die in und durch Videospiele kommuniziert und verbreitet werden (Bogost 2007; Ciută 2015; Feige 2015; Huntemann und Payne 2009; Schulzke 2017b; Zamaróczy 2017). Politiktheoretisch etwas anspruchsvollere Leser*innen sollen daher mit dem Argument überzeugt werden, dass doch gerade die scheinbar trivialen und profanen Alltagsdinge unsere Vorstellungen von der Welt maßgeblich mitprägen, obwohl wir uns dessen oftmals kaum bewusst sind. Hierbei kommt es zu einer durchaus kontroversen Rezeption der Arbeiten des Soziologen Johan Huizinga und dessen Konzept des homo ludens. Huizinga schreibt dem „Spiel“ einen geradezu transzendentalen, dem Alltagsleben entrückten Charakter zu, das auf selbstgemachten Regeln sowie einer eigenen Ordnung basiere und keinen Nutzen verfolge außer dem Spiel selbst (Huizinga 2009 [1949], S. 10). Das Spiel, so Huizinga, sei von einem „magischen Kreis“ umgeben, der das „Spielfeld“ und seine spezifischen Bedingungen und Regeln als eigenständigen sozialen Kontext markiert und von der Alltagswelt abgrenzt. Im Spiel werden auf diese Weise Handlungen möglich, die „in echt“ nicht vorstellbar wären: „Inside the circle of the game the laws and customs of ordinary life no longer count. We are different and do things differently“ (Huizinga 2009 [1949], S. 12). Hinsichtlich der Videospiele mag die Annahme eines „magischen Kreises“ ebenfalls auf den ersten Blick einleuchten, da die Spieler*innen in die oftmals fantastische und virtuell erzeugte Welt des Videospiels eintauchen, in dem sie sich gedanklich sowie durch Steuerung der Avatare in die vorgefundene Geschichte vertiefen und sich in ihr nach den dort geltenden Regeln und Möglichkeiten bewegen. Die Spieler*innen verlassen den „magischen Kreis“, in dem sie das Programm beenden und hierdurch wieder in die reale Welt, also in das „echte Leben“, übertreten. Das „Spiel“ wäre demnach als eine von der Wirklichkeit unterscheid- und abgrenzbare Lebenssphäre zu begreifen, in die sich Menschen zumindest zeitweilig zurückziehen können. Dabei wird leicht übersehen, dass gerade Videospiele aufgrund ihrer technischen und ökonomischen Voraussetzungen sowie der Geschichten, die in und durch sie

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erzählt und erspielt werden, in erheblicher Weise von realweltlichen Bedingungen und Begebenheiten durchdrungen sind. Das Videospiel gleicht mitnichten einem Schach- oder Kartenspiel oder gar einer rein erdachten Spielsituation. Holger Zapf betrachtet Videospiele weniger als „Spiele“ im engeren Sinne, sondern als Unterhaltungsmedien, die ebenfalls zur Konstruktion von Wirklichkeit beitragen (Zapf 2007, S. 100). Folgt man dieser Argumentation, wäre einer strikten Trennung zwischen „Spiel“ und „Wirklichkeit“ hinsichtlich dieses Mediums eine klare Absage zu erteilen. Gerade einer kritischen sozialwissenschaftlichen Perspektive auf Videospiele und anderer sowohl technisch als auch kognitiv voraussetzungsreicher Erzeugnisse der Medien-, Kultur-, und Unterhaltungsindustrie geht es immer auch um die sozio­ ökonomischen Bedingungen und Funktionslogiken, die diese hervorbringen und sinnhaft erscheinen lassen – auch und gerade wenn es sich „nur“ um ein scheinbar spielerisches Freizeit- oder Sportvergnügen handeln mag. Die von Huizinga angenommenen Grenzen des „magischen Kreises“, der das „Spiel“ von der Wirklichkeit des „echten Lebens“ trennt, werden hier deutlich kritischer gesehen – wenngleich betont werden muss, dass auch Huizinga das Spiel soziologisch als eine durchaus ernste Angelegenheit und grundlegende kulturell-zivilisatorische Praktik betrachtet. „Spiel“ und „Wirklichkeit“ stehen also auch bei Huizinga in klarem Bezug aufeinander, schließlich wird durch das Spiel ein regelbasiertes Miteinander erlernt und von Kindesbeinen an eingeübt (Pötzsch und Hammond 2016; Rodriguez 2006).

1.3

Videospiele aus politik- und gesellschaftstheoretischer Perspektive

Folgt man also der Annahme, dass das Verhältnis zwischen „Spiel“ und „Wirklichkeit“ weitaus politischer ist als dies auf den ersten Blick erscheinen mag, dann rücken Videospiele als gesellschaftlich-kulturelles Phänomen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Dabei werden Videospiele durchaus unterschiedlich konzeptualisiert. Einerseits lassen sie sich als „Spiegel“ gesellschaftlicher Verhältnisse und Strukturen verstehen (etwa in Form realitätsnaher Strategie- und Simulationsspiele), sie gelten darüber hinaus aber auch als konstitutive Elemente sozialer Diskurse. Videospiele sind performativ, da sie – wie andere kulturelle Produkte auch – die Vorstellungswelten und das soziale Handlungsrepertoire der BenutzerInnen prägen können (Nexon und Neumann 2006). In der Forschungsliteratur zu Videospielen in den IB geht es vor allem um eine kritische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Militarisierung, die insbesondere durch Spiele gefördert werde, die in einem Kriegs- oder Gewaltkon-

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fliktsetting angesiedelt sind. In der neueren Videospielliteratur wird immer wieder auf den Begriff Militainment zurückgegriffen, der in den USA seit Beginn des 21. Jahrhunderts kritisch diskutiert wird (Payne 2014; Stahl 2009; Virchow und Thomas 2004). Militainment bezeichnet „Unterhaltungsprodukte mit thematischem Militärbezug, in denen das Pentagon positiv besetzt ist“ (Stahl 2009, S. 6 ,eigene Übersetzung). Stahl zeigt die ökonomischen und technologischen Verflechtungen zwischen Spiele- und Rüstungsindustrie auf und untersucht, wie videobasierte Kriegsspiele einen militarisierten Gesellschaftsdiskurs konstituieren und zu einer „Normalisierung“ beitragen, in dem militärische Technologie in der Alltagskultur verankert wird (Der Derian 2009; siehe auch Power 2007, S. 276; Stahl 2009, S. 22). Kriegsführung und -technologie werden durch die virtuelle und populärkulturelle Repräsentation zu einem selbstverständlichen Bestandteil des alltäglichen Lebens und sollen hierdurch die Akzeptanz des Militärischen in einer Gesellschaft erhöhen – so das Argument. Entgegen der Annahme, wonach Videospiele lediglich der Unterhaltung dienen und folglich entpolitisiert seien, geht Stahl davon aus, dass der virtuell geführte Krieg die konsumorientierten Bürger*innen anspricht und Spielsituationen erzeugt, in denen die bürgerliche Identität in der Funktionslogik der Rüstungs- und Unterhaltungsindustrie aufgeht (Stahl 2009, S. 16). Auch hinsichtlich der Stabilisierung einer spezifisch kapitalistisch-neoliberalen Weltordnung erscheinen Videospiele bedeutsam. Anknüpfend an die Theorie eines neoliberalen Empires im Sinne Hardt und Negris identifizieren Dyer-Whiteford und Peuter, etwa anhand von Vice City (2002), Videospiele als ein wirkmächtiges kulturelles Werkzeug, das ganz im Sinne des „kapitalistischen Projekts“ (Hardt und Negri 2003, S. 24) genutzt wird (Dyer-Witheford und Peuter 2009, S. 162). In theoretischer Anknüpfung an die Arbeiten von Huizinga, Stahl, Dyer-Whitefort und Peuter entwickelt Payne (2016) das Konzept des „ludic war“ sowie des „ludic soldiers“, das er empirisch anhand von videobasierten Kriegsspielen herausarbeitet: “In reconfiguring unforgettable and unalterable televisual images of terror into play prompts, and by transforming fear into fun, the military shooter is the perfect platform for post-9/11 military power fantasies” (Payne 2016).

Payne vertritt die These, dass in der spielerischen Verarbeitung des Krieges gegen Terror grundlegende politische Herausforderungen und moralische Dilemmata verhandelt werden. Darunter fallen etwa die Anwendung von Folter oder der Einsatz von Kampfdrohnen, die präventive Kriegsführung aber auch der Umgang mit den Folgen des Krieges, wie etwa post-traumatische Belastungsstörungen oder sogenannte „Kollateralschäden“ (Payne 2016). Payne sieht aber auch das Potential einer kritisch-reflektierten Auseinandersetzung mit dem Krieg gegen den Terror,

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etwa in dem Spiel Spec Ops: the line, das die moralisch-humanitäre Fragwürdigkeit vieler militärischer Maßnahmen vor Augen führt und offen thematisiert (für eine Fokusgruppenanalyse siehe Jørgensen 2016; siehe auch Morwood 2014; Payne 2014). In vielen Ländern werden Videospiele gezielt von Regierung und Armee zu Rekrutierungszwecken entwickelt und eingesetzt. Die scheinbar triviale Freizeitbeschäftigung mit einem „Ballerspiel“ erhält somit eine genuin politische Dimension, da durch Videospiele aktiv auf Einstellungen und Präferenzen der Bürger*innen eingewirkt werden soll, bis hin zu persönlich sehr weitreichenden Entscheidungen über eine mögliche Berufswahl.3 Obendrein werden Videospiele auch in der militärischen Ausbildung eingesetzt, sei es zur Simulation von Kampfeinsätzen oder zur Verarbeitung von Traumata (Derby 2016; Farocki 2014).4 Allerdings erscheint der Einsatz von Videospielen als Lernhilfe und -instrument äußerst ambivalent. Einerseits lehnt die Softwareindustrie jegliche Verantwortung hinsichtlich realweltlicher Vorgänge ab, die durch einen massenhaften Konsum von Videospielen hervorgerufen werden könnten, da keinerlei kausale Effekte zwischen Spielinhalten und Verhaltensweisen der User nachgewiesen werden könnten. Sicart geht davon aus, dass gerade erwachsene Spieler*innen sehr genau zwischen der virtuellen Realität des Spiels, in der oftmals ethisch höchst fragwürdige Verhaltensweisen verlangt oder ermöglicht werden, und der „realen“ Welt unterscheiden können und sich der Spielsituation im Sinne des „magischen Kreises“ bewusst seien. Eine Übertragung der virtuellen Verhaltensweisen in das realweltliche Leben sind daher nicht zu erwarten (Sicart 2011, S. 196). Sparrow et al. weisen unterdessen auf einen Widerspruch im Marketing der Videospiele hin, da gegenüber dem Militär sowie anderen Institutionen explizit damit geworben werde, dass durch Videospiele sehr wohl auf das Verhalten von Nutzern eingewirkt werden könne (Sparrow et al. 2015). Ganz so klar scheint der Grenzverlauf zwischen „Spiel“ auf der einen und „Wirklichkeit“ auf der anderen Seite also auch hier nicht zu sein. Videospiele werden darüber hinaus längst nicht nur von westlichen Staaten zur Rekrutierung, Ausbildungs- und Propagandazwecken genutzt, sondern auch von Terrorgruppen wie der Hezbollah oder dem Islamischen Staat (Al-Rawi 2016; Saber und Webber 2016). Hierbei werde allerdings, so das Argument von Saber und Webber, durch eine nur scheinbar subversive und gegen-hegemoniale Aneignung von 3

In diesem Zusammenhang wird immer wieder auf die USA verwiesen, da mit America’s Army ein shooter mit expliziter Rekrutierungsabsicht produziert und zur freien Nutzung im Internet angeboten wird. Jüngst wurde das Thema auch in Deutschland kontrovers diskutiert, da die Bundeswehr beispielsweise auf der Spielemesse „Gamescom 2018“ aktiv um Nachwuchskräfte geworben hat Weidemann (2018). 4 Siehe hierzu das Kunstprojekt „Ernste Spiele“ von Harun Farocki https://www.harunfarocki.de/de/installationen/2010er/2010/ernste-spiele-i-watson-ist-hin.html.

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Erzeugnissen der westlichen Konsum- und Unterhaltungsindustrie die bestehende politische Ordnung nur reproduziert, aber keine Möglichkeit der eigenständigen Veränderung aufgezeigt (Saber und Webber 2016). Grundsätzlich erfahren Videospiele gerade in den Post-Colonial Studies zunehmende Aufmerksamkeit (Harrer 2018; Mukherjee 2018; Murray 2017). Hierbei wird beispielsweise der Unterhaltungs- oder Sportfaktor hinterfragt, der Videospiele als entpolitisierte und harmlose Freizeitbeschäftigung erscheinen lasse, insbesondere wenn es um die vielen Spielen eingelagerten imperialistischen, neo-kolonialen oder sogar rassistischen Motive und Narrationen geht. Sabine Harrer kritisiert insbesondere die Vorstellung, wonach Videospiele zu Gunsten der Unterhaltung und des Spielspaßes von realweltlichen, historischen und politischen Bezügen entkoppelt werden könnten: “Once disconnected from history, the fun object can be celebrated as a commodity irrespective implications of race, gender and class. This allows designers, players and scholars to act without suspicions of racism or neo-colonialism: all they do is produce, consume and study objects of fun, after all.” (Harrer 2018, S. 3)

Relativierungsversuchen, wonach Videospiele ein politisch unverdächtiges Freizeitvergnügen oder lediglich ein Geschicklichkeitssport seien, wird hier energisch entgegengetreten, da sie als Deckmantel für rassistische und menschenverachtende Motive dienen können. Videospiele eignen sich auch als Gegenstand einer kritischen Gesellschaftsanalyse aus gendertheoretischer Perspektive, da viele Spiele hinsichtlich intersektionaler Repräsentationen von Geschlecht, Sexualität, ethnischer Zugehörigkeit oder sozialer Herkunft gesellschaftliche Stereotypen stabilisieren (Leonard 2003). Allerdings kommen mittlerweile vermehrt Spiele auf den Markt, die herrschende Strukturen grundsätzlich herausfordern und sich Stereotypisierungen verweigern (Murray 2017; Shaw 2009; Šisler 2008; Williams et al. 2009). Gerade die Sub-Genres der sogenannten „Serious Games“ sowie der „Critical Games“, die sich bewusst von den affirmativen „Baller- und Gewaltspielen“ absetzen und stattdessen einen pädagogischen oder gesellschaftskritischen Anspruch formulieren, sind diesbezüglich interessant und werden immer wieder für wissenschaftliche Analysen herangezogen (Carpenter et al. 2008; Crookall 2010). Auch hier zeigt sich die politische Dimension von Computerspielen, wenn etwa gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsstrukturen reproduziert, aber auch gesellschaftliche Diversität sichtbar gemacht werden. So offenbart sich hier die subversive Macht von Videospielen, da sie immer öfter genutzt werden, um etablierte Machtstrukturen zu hinterfragen oder Sichtbarkeit für marginalisierte Gruppen zu schaffen (Delabar 2013; Schulzke 2017b). Allerdings darf die Hybridität und Polysemie

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von Videospielen nicht übersehen werden, weshalb gerade die Aneignungspraxis durch die User politikwissenschaftlich mindestens ebenso relevant erscheint wie die Analyse konkreter Inhalte (Gagnon 2010; Schulzke 2017a; Šisler 2008). Grundsätzlich sind Videospiele gerade für diskurstheoretisch informierte Forscher*innen ein interessanter Gegenstand, da sie mögliche Textkorpora und Diskursarenen, die für eine Untersuchung zusammengestellt und in Betracht gezogen werden, um eine virtuelle Dimension bereichern. Videospiele sind selbst als Austragungsorte politischer Deutungskämpfe zu begreifen, in denen oftmals nur beiläufig und scheinbar spielerisch grundlegende Norm-, Werte- und Moralvorstellungen sichtbar, verhandelt und hinterfragt werden. Wie die Forschung zeigt, bieten Videospiele sowohl die Möglichkeit zur Visualisierung und Stabilisierung hegemonialer Diskurse als auch (teilweise geschützte) Räume zur Artikulation gegenhegemonialer Positionen (Morwood 2014). Dies bedeutet gerade nicht, dass Spieler*innen die dargebotenen Inhalte unkritisch übernehmen und sich in ihrem Alltag zwingend hiervon leiten lassen, weshalb kausalanalytische Zugänge, die individuelles oder kollektives Handeln ursächlich auf Videospiele zurückführen, mit Skepsis zu betrachten sind. Markus Schulzke weist darauf hin, dass Videospiele keine top-down Modelle politischer Kommunikation seien, die sich besonders eignen würden, um Ideologien und propagandistische Inhalte zu verbreiten. So besäßen die Produzent*innen zwar die Möglichkeit bestimmte Spielwelten, Storylines und Handlungsabfolgen vorzugeben, damit die Ziele des Spiels erreicht werden. Dennoch leben viele Spiele von der individuellen Aneignung durch die User, die der Kontrolle durch die Produzent*innen entzogen ist. Gerade in sogenannten nicht-linearen Spielen ergeben sich Handlungs- und Aktionsmöglichkeiten, die den intendierten Spielsinn unterlaufen können und geradezu konterkarieren (Morwood 2014; Power 2007, S. 282; Schulzke 2017b, S. 611). So ist die in und durch Videospiele erzeugte Sichtbarkeit gesellschaftlicher Diversität nicht mit der Akzeptanz durch die User zu verwechseln. Wie Carl Heinze unter Verweis auf ein Zitat von Ute Frevert und Anne Schmidt schreibt, wäre es sorglos, das Produkt und die Rezeption gleichzusetzen (Heinze 2014, S. 125). Dennoch leisten auch Videospiele durch ihre Visualität einen Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs und sind somit auch als politische Artikulationen zu verstehen. Die politische Dimension der Videospiele zeigt sich also in erster Linie darin, dass sicherlich nicht alle, aber sehr viele Videospiele zur Konstitution gesellschaftlicher und politischer Diskurse beitragen, da sie sowohl affirmative als auch alternative Denk-, Handlungs- und Artikulationsräume eröffnen und Subjektpositionen sichtbar machen. Anstatt jedoch in erster Linie die Inhalte und konkreten Spielszenarien einer qualitativen Analyse zu unterziehen, um sie den Kategorien „kritisch“

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oder „affirmativ“ zuzuweisen, sollten eben auch der Produktionskontext und das Marketing sowie die sozialen Aneignungspraktiken und der diskursive Gebrauch untersucht werden, um den politischen Gehalt und die diskursive Bedeutung von Videospielen auf die Spur zu kommen. Die Videospielforschung setzt eine inhaltliche Beschäftigung mit dem Gegenstand notwendigerweise voraus, gerade bei nicht-linearen Spielen, wo Handlungsmöglichkeiten kaum eingeschränkt sind. Allerdings ist eine analytische Auseinandersetzung mit Videospielen auch möglich, ohne dass Forscher*innen den Großteil ihrer Zeit damit verbringen, sich in der geschickten Steuerung der Avatare zu üben. Eine rein auf den Inhalt des Werks bezogene Analyse reicht folglich nicht aus, um den politischen Gehalt und die diskursive Bedeutung von Videospielen zu erfassen – das gilt ganz gewiss auch für andere Produkte aus der Medien-, Kultur- und Unterhaltungsindustrie.

1.4

Ignoranz und Vorurteil

Ungeachtet dieser unterschiedlichen und sicherlich auch kontroversen Argumente, die für eine Betrachtung von Videospielen in der Politikwissenschaft sprechen, sind die Vorbehalte gegenüber einem Medium, das doch in erster Linie der Unterhaltung dienen soll, nach wie vor sehr groß. Doch woher kommen die Skepsis und der daraus resultierende (Selbst-)Zwang zur Rechtfertigung der eigenen Forschung, der ja auch in diesem Beitrag offensichtlich ist? Auch wenn Videospiele einen militärischen Ursprung haben und die Nutzerzahlen zeigen, dass immer mehr ältere Spieler*innen zum Controller greifen, so bleiben sie ein mit der Jugendkultur eng verkoppeltes Phänomen (Huberts 2018). Ein Blick auf den täglichen Spielkonsum offenbart doch, dass Videospiele in erster Linie bei vielen Kindern und Jugendlichen ein äußerst beliebter Zeitvertreib sind, der von Eltern meist nur zähneknirschend geduldet wird, da negative Auswirkungen auf die emotionale Entwicklung oder schulische Leistungen befürchtet werden (Kutner et al. 2008; Nikken und Jansz 2006). Obendrein stehen viele Spiele auch noch unter kritisch-pädagogischer Beobachtung, da einige als gewaltverherrlichend gebrandmarkt und für die Verrohung von Jugendlichen verantwortlich gemacht werden (Gentile et al. 2004; Sherry 2001). Wenn nun Wissenschaftler*innen selbst zum Controller greifen und dabei Tage- und Nächtelang vor der Konsole oder dem PC verbringen, besteht sicherlich die Gefahr, dass sie von Kolleg*innen, die täglich mit dem eigenen Nachwuchs über die Einhaltung vereinbarter Medienzeitkontingente und Altersfreigaben feilschen, nicht ernst genommen werden. Rasch haftet den Wissenschaftler*innen, die sich professionell mit Computerspielen beschäftigen,

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die stigmatisierende Zuschreibung der „Berufsjugendlichkeit“ an, wodurch die wissenschaftliche Satisfaktionsfähigkeit erheblich beeinträchtigt wird. Ein weiterer Grund für eine eher skeptische Haltung könnte auch darin bestehen, dass Game-Wissenschaftler*innen unterstellt wird, sie machten schlicht ihr Hobby zum Beruf. Und da bietet es sich doch an, über das Spiel, mit dem man sich über Tage und vielleicht Wochen beschäftigt hat, gleich noch einen Aufsatz zu schreiben – das wäre dann eine äußerst effiziente Verkoppelung von Freizeitspaß mit dem beruflich bedingten Publikationsdruck. Ein ähnlicher Vorbehalt ist sicherlich auch schon jenen Kolleg*innen entgegengeschlagen, die sich mit Games of Thrones, Herr der Ringe oder House of Cards beschäftigen. Während sich „anständige“ Wissenschaftler*innen durch „ernsthafte“ Daten wie Parlamentsprotokolle, Statistiken, Interviews oder Medienberichte wühlen, sitzen die Gaming-Freaks einfach vor der Konsole und nennen das auch noch „empirische Forschung“. Kurzum, Videospiele gelten in der nicht-zockenden Mehrheitsgesellschaft ohnehin als umstrittene Freizeitgestaltung – auch für Erwachsene. Und trotz aller guten Argumente sind Videospiele ganz sicher kein prestigeträchtiges und der Karriere zuträgliches Forschungsfeld in den IB.

2

Krieg und internationale Gewaltkonflikte in Videospielen

Während die Frage nach der politischen Relevanz von Videospielen bereits behandelt wurde, geht es im folgenden Teil um Fragestellungen, die in der aktuellen Forschung zum Thema Videospiele auftauchen. Aufgrund der Fülle an Literatur, die es zu Video-Games in der Psychologie, der Kognitions- und Verhaltensforschung, in den Erziehungswissenschaften, in den Kultur-, Medien- und Kommunikationswissenschaften sowie der Soziologie schon gibt, wird sich der Beitrag vorwiegend auf die Publikationen beschränken, die dem weiteren Feld der Politikwissenschaft und Internationalen Beziehungen zugerechnet werden können (zur medienwissenschaftlichen Einordnung von Videospielen siehe Piasecki 2016). Der Fokus ist auf die Frage gerichtet, wie Videospiele als interaktives und multimodal kommunizierendes Medium theoretisch und methodisch erfasst und welche Bezüge zur Weltpolitik hergestellt werden können, wobei vornehmlich die Frage behandelt wird, wie insbesondere Krieg und militärische Gewaltkonflikte in Videospielen verarbeitet werden. Die Ebene der „Immersion“, also der emotionale und kognitive Prozess des sich in das Spiel Hineinvertiefens müssen dagegen weitgehend unberücksichtigt bleiben. Diesbezüglich sei auf einschlägige Untersuchungen in der

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Sozial- und Medienpsychologie sowie Verhaltensforschung verwiesen (Boot et al. 2011; Castel et al. 2005; Spence und Feng 2010; Wimmer 2017).

2.1

Feindbildkonstruktionen und Konfliktszenarien zwischen Virtualität und Realität

Die Frage nach der Konstruktion politischer Feindbilder ist untrennbar mit der Debatte über Identität in der konstruktivistischen und post-strukturalistischen IB-Forschung verknüpft. Wie ein gesellschaftlich-kollektives „Wir“ gegenüber einem signifikant „Anderen“ konstruiert und hierdurch Möglichkeitsbedingungen für politisches Handeln geschaffen werden, ist bereits seit den frühen 1990er Jahren Thema in den IB (Campbell 1992; Doty 1993; Hopf 2005). Der Blick der Forscher*innen richtet sich dabei aber vorwiegend auf Regierungshandeln, offizielle Dokumente, Sprechakte oder Symbole, in denen nationale Identität durch sprachlich erzeugte Differenz zwischen dem „Selbst“ und einem „Anderen“, einer oftmals zum „Feind“ erklärten Gruppe, zum Ausdruck gebracht wird, wodurch allerhand politische Maßnahmen bis hin zur militärischen Eskalation und Intervention sinnhaft anschlussfähig und gerechtfertigt erscheinen sollen. Jutta Weldes war eine der ersten Forscherinnen in den IB, die erkannte, dass gesellschaftliche Selbst- und Feindbilder nicht nur in politischen Dokumenten zu finden, sondern ganz offensichtlich auch in der Populärkultur (vor allem in der Science Fiction) verankert sind und als Referenzrahmen für politische Entscheidungen dienen (Weldes 1999). Weldes geht es dabei nicht um kausale Erklärungen, sondern um die allgemeinere Frage, wie und wo gesellschaftlich geteilte Vorstellungen über Politik, Diplomatie und Konflikte entstehen, die als Wissensressourcen mobilisiert werden können (Weldes und Rowley 2015). Obwohl sich die IB sowie die Friedens- und Konfliktforschung immer wieder mit Feindbildern und deren sozialer Konstruktion befassen, fanden Videospiele hierbei kaum Beachtung (Ottosen 2017). Im Forschungsfeld der sogenannten Popular Geopolitics (PG), ein Zweig der Critical Geopolitics, sieht dies dagegen völlig anders aus. Forscher*innen, die sich in den PG verorten, betrachten sämtliche Medien, künstlerische Arbeiten und andere Produkte vor dem Hintergrund der Frage, wie hier kulturell verankerte und geopolitisch geformte Vorstellungen und Konzeptionen von Raum, Ressourcen oder Identität entwickelt und verbreitet werden (Dittmer 2010; Dittmer und Gray 2010; Dodds 2005, 2008; Power und Crampton 2005; Shapiro 2008). Videospiele sind hier bereits seit Jahren Gegenstand der Forschung (Bos 2018; Salter 2011).

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Die ersten bekannteren Videospiele, die seit den 1970er Jahren auf dem damals noch eher kleinen Markt verfügbar waren, drehten sich um die großen Konflikte der Weltpolitik oder waren von militärischen Metaphern geprägt, wie etwa das berühmte Spiel Space Invaders (Edwards 1997, S. 327). Doch erst mit der Erfindung des Personal Computers (PC) in den frühen 1980er Jahren entwickelte sich ein breiter Markt für Videospiele, vor allem in den USA, in denen der Ost-West Konflikt als Setting und die Sowjetunion, wenig überraschend, als omnipräsentes Feindbild diente. Mit dem Ende des Ost-West Konfliktes veränderte sich auch dessen Rezeption in Videospielen. Wie David Hussey auf dem Blog Play the Past am Beispiel von Red Alert argumentiert, verändert sich der Umgang mit dem historischen Großkonflikt. Spieler können die Kampagnen nun auch in der Rolle der Sowjets spielen, der Feind ist nicht mehr die Sowjetunion als Staat, sondern Stalin als Person (Hussey 2013). Auch in neueren Spielen wie Call of Duty: Black Ops dient der „Kalte Krieg“ noch als Setting, das nun jedoch aus der historischen Perspektive nacherlebt wird. Auch hier leisten Videospiele ihren Teil, um ein Stück Zeitgeschichte in der kollektiven Erinnerung zu verankern, wobei mitunter auch alternative Erinnerungsnarrative angeboten und entwickelt werden. Videospiele, die nach 9/11 erschienen sind, werden in erster Linie vom Krieg gegen den Terror geprägt, was sich auch in den Feindbildern niederschlägt (Power 2007; Robinson 2014; Schulzke 2013, 2014; Wild 2014; Young 2015). Islamistische Terroristen tauchen als Feinde in Videospielen aber auch in vielen anderen Medien verstärkt auf (Steuter und Wills 2010), gleichwohl Valeriano und Habel zeigen, dass gerade Russland als Feindbild in Videospielen längst nicht ausgedient hat (Valeriano und Habel 2016, S. 476). Anhand der Forschung über Feindbildkonstruktionen in Videospielen lässt sich zeigen, wie der „magische Kreis“ des Computerspiels immer wieder durch realweltliche Ereignisse und politische Einflüsse durchdrungen wird. Viele Spiele werden erst durch die intertextuellen Referenzen zu vergangenen Ereignissen oder aktueller Konflikte sinnhaft und für die Spieler*innen interessant. Das zeigt sich vor allem in den Marketingstrategien der Softwareentwickler, die explizit auf das realweltliche Setting verweisen und die „realistischen“ Bedingungen betonen, die in einem Spiel simuliert werden. Viele Spielentwickler ziehen gerade bei großen Produktionen Expert*innen und Historiker*innen zurate, um Waffensysteme, Kampfszenarien und Spielnarrative mit historisch gesicherten Fakten abzugleichen. Auch wenn viele Spiele keinen direkten aufklärerischen Anspruch verfolgen, so scheint es gerade bei Kriegsspielen darum zu gehen, die Spielszenarien an reale politisch-militärische Ereignisse und Hintergründe anzupassen und die Kluft zwischen Virtualität und Realität zu verringern. Werden Videospiele gar als komplexe Zeichensystem im Sinne eines post-strukturalistischen Diskursver-

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ständnisses betrachtet, wird die Unterscheidung zwischen Virtualität und Realität ohnehin schwierig, da die Sinnkonstruktion eines Videospiels immer schon auf ein bereits vorhandenes Zeichensystem verweist und angewiesen ist, gleichzeitig die dargestellte Geschichte aber auch fortschreibt – wenn auch nur fiktional und mitunter kontrafaktisch.

2.2

Krieg virtuell: Historizität, Aktualität und kollektive Erinnerung in Videospielen

Kriege und Kriegsszenarien hatten und haben in Videospielen einen festen Platz. Vor allem die Videospielreihe Call of Duty ist dafür bekannt, Spieler*innen in unterschiedliche Kriegsszenarien zu versetzen. In der Forschung wurde dabei immer wieder die Frage diskutiert, wie „realistisch“ die Repräsentationen von Krieg und militärischen Gewaltkonflikten in Videospielen eigentlich sind (Galloway 2004). Hierbei geht es vor allem um Überlegungen, inwiefern wechselseitige Bezüge zwischen den Inhalten eines Videospiels und realweltlichen Ereignissen hergestellt werden können. Konkret bezieht sich dies auf die Frage, wie Kriegs- und Gewaltdarstellungen im Videospiel die realweltlich bezogene Vorstellungen der User prägen und affektives Verhalten hervorrufen, aber auch, wie realweltliche Ereignisse (9/11, Kalter Krieg, Krieg gegen den Terror etc.) in Videospielen dargestellt und verarbeitet werden (Galloway 2004). Dabei geht es, wie Galloway feststellt, nicht um die Frage, wie „realistisch“ die Bildwelten und visuellen Repräsentationen des Spieles gestaltet sind, um einen geradezu mimetischen Charakter anzunehmen – denn dann handle es sich weniger um ein Spiel als vielmehr um eine Simulation. Die Frage nach dem Realismus in einem Videospiel bemisst sich vielmehr an dessen Fähigkeit, Einzelheiten, Details und Alltäglichkeiten aufzugreifen und darzustellen (Galloway 2004). In der Geschichtswissenschaft und der kollektiven Erinnerungsforschung stellt die Auseinandersetzung mit Videospielen allenfalls ein Randphänomen dar. Wulf Kansteiner gilt als einer der profiliertesten Forscher auf diesem Gebiet. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit individueller und kollektiver Erinnerung ist in erster Linie durch Historiker*innen geprägt worden. Maßgeblich sind hier die Arbeiten von Aleida und Jan Assmann oder von Maurice Halbwachs, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit der Frage beschäftigt haben, wie Gesellschaften „ihre“ Geschichte(n) bewahren und an zukünftige Generationen weitergeben. Hierbei stellen sich allerlei Fragen nach der Materialität der Erinnerung (Erinnerungsartefakte), nach identitätsstiftenden Eigenschaften kollektiv geteilter Erfahrungen, die in Erinnerungsdiskursen amalgamieren oder danach, was überhaupt unter einem

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„kollektiven Gedächtnis“ verstanden und wie es untersucht werden kann. Aleida Assmann verweist in ihrem Buch Der lange Schatten der Vergangenheit auf die kritischen Positionen, die etwa von Reinhard Koselleck oder Rudolf Burger geäußert wurden, wonach es keine „kollektive Erinnerung“ geben könne (Assmann 2006, S. 29). Jan Assmann verwendet stattdessen den Begriff des „kulturellen Gedächtnisses“, das sich in Schriften, Texten, Bildern, aber auch in Filmen und audiovisuellen Artefakten und Performances (Theaterstücke, künstlerische Darbietungen etc.) manifestiert (Assmann 2007; Erll und Wodianka 2008; Welzer 2008). Während die Forschung über die Entstehung und Formation eines kollektiven Gedächtnisses oder kollektiv geteilter Erinnerungen in erster Linie Artefakte der Hochkultur oder außeralltägliche Rituale wie Erinnerungszeremonien in den Blick nimmt, finden kulturelle Erinnerungsrepräsentationen auf Trägermedien des Alltags meist kaum Beachtung. So wurden Videospiele bislang eher vereinzelt als Trägermedien kollektiver Erinnerung in Betracht gezogen, obwohl doch gerade hier immer wieder historische Themen aufgegriffen, verhandelt und re-mediatisiert werden (Kansteiner 2009; Pötzsch und Šisler 2016). Als ein neueres Beispiel für die Re-Mediatisierung kollektiver Erinnerung kann etwa das Video-Spiel Call of Duty WWII betrachtet werden. Im nun folgenden Teil soll gezeigt werden, wie dieses Spiel methodisch geleitet untersucht werden kann. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie durch das Spiel kollektive Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg fortgeschrieben wird. Dabei geht es weniger um konkrete Erinnerungsnarrative im Spiel selbst, sondern vielmehr darum, wie durch den Kontext des Spiels Deutungsansprüche erhoben und kommuniziert werden.

3

Methoden der Video-Games Analyse: Das Beispiel Call of Duty WWII

Wie bereits diskutiert wurde, lassen sich Videospiele kaum verstehen, ohne auch ihren Produktionshintergrund zu beleuchten. Das heißt, eine Analyse sollte auch darauf eingehen, wer hinter der Produktion eines Spieles steht, wer an der Produktion mitgewirkt hat und welche weiteren Aspekte hinsichtlich der Herstellung, Verbreitung und Vermarktung eines Spieles relevant erscheinen. So enthalten beispielsweise die meist eigens für die Videospiele erstellten Homepages allgemeine Informationen über das Spiel aber auch Selbstbeschreibungen sowie Einordnungen bezüglich des vom Produzenten erhobenen Anspruchs. Zudem lässt sich die vom Marketing angepeilte Zielgruppe identifizieren. Eine Untersuchung der Webseite

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sowie dazugehöriger Medienmaterialen wäre entsprechend ebenfalls Teil einer politikwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit einem Videospiel. Eine rein auf den Inhalt des Spiels gerichtete Analyse würde der politikwissenschaftlich informierten Fragestellung nach dem politischen Anspruch und seiner diskursiven Bedeutung nicht gerecht. Fragen nach der Rezeption des Spieles und der Umgang der User sind ebenfalls wichtig, wenn die politische mithin diskursive Dimension von Videospielen erfasst werden soll. Allerdings wird es hier weniger um eine Untersuchung der „Wirkung“ eines Spiels auf den individuellen User gehen, denn hierzu wäre ein völlig anderes Forschungsdesign erforderlich. Hingegen bietet sich die Möglichkeit, durch eine Auswertung von Reviews in Zeitungen und Internetforen, eine Analyse der Kommentare auf einschlägigen Blogs etc. die öffentliche Rezeption von Computerspielen zu berücksichtigen und einzubeziehen (Heinze 2014, S. 126). Zudem werden viele Spiele auf Internetplattformen gemeinsam gespielt und kommentiert, auch hierüber lässt sich die Rezeption und der Umgang mit Videospielen erfassen. Das größte methodische Problem bleibt jedoch die Erforschung des Spiels selbst, da hier individuelle Spielpraxis erforderlich wird. Videospiele sind nicht mit anderen Medien wie etwa Filmen, Büchern, Theateraufführungen, Zeitungen, Reportagen und Dokumentationen vergleichbar, da sie aktiv „erspielt“ werden müssen, was durchaus voraussetzungsreich sein kann. Insofern muss für Videospiele ein methodischer Umgang gefunden werden, der auch jenen Wissenschaftler*innen die Analyse erlaubt, die sich nicht wochenlang in ein Spiel vertiefen können, um wirklich jedes Geheimnis zu lüften und jede nur denkbare Handlungsmöglichkeit ausprobiert zu haben. Sicherlich setzt die Einbeziehung von Videospielen in ein Forschungsprojekt voraus, dass eine unmittelbare Auseinandersetzung mit dem Gegenstand stattfindet und die Forschenden selbst zum Controller greifen, um einen tieferen Eindruck von der Gestaltung des Spieles und seiner Ästhetik zu erlangen. Aber die Vorstellung, wonach die Spielerfahrung selbst der vorwiegende Teil einer politikwissenschaftlich informierten Forschung über Videospiele wäre, erscheint nicht überzeugend. Wenn die Forschungsfrage primär darauf ausgerichtet ist, den politischen Gehalt von Videospielen, deren Deutungsansprüche und diskursive Dimensionen herauszuarbeiten, dann bietet sich vielmehr ein Forschungsdesign an, das neben dem Spiel und seiner immanenten graphisch-visuellen sowie narrativen Eigenschaften weitere Dimensionen des Spiels, wie die Produktion und die Rezeption, berücksichtigt.

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Wie solch eine Analyse aussehen könnte, soll nun exemplarisch am 2017 erschienenen Spiel Call of Duty WWII skizziert werden.5

3.1 Kontextanalyse Call of Duty World War II wurde von der U.S.-Firma Sledgehammer entwickelt und weltweit von Activision in der berühmten Call of Duty-Reihe CoD vertrieben. Bei den Spielen der CoD-Reihe handelt es sich um first-person shooter in denen es meist darum geht, entweder alleine oder in einer Gruppe unterschiedliche (para-) militärische Missionen zu erfüllen. CoD bietet dabei unterschiedliche Settings für die Missionen an, neben dem Zweiten Weltkrieg gibt es auch Spiele, die in zeitgenössischen oder rein fiktionalen Konfliktszenarien angesiedelt sind, wobei der Reiz des Spiels auch durch Zusatzmodi erhalten werden soll. Bei CoD WWII wäre dies etwa die Ergänzung um einen „Zombie-Modus“. Es handelt sich um eine Videospiele-Reihe, in der vor allem Geschicklichkeit und Strategie gefragt sind. Bereits der erste Teil von Call of Duty (2003) spielte im Zweiten Weltkrieg, somit kehrt die Reihe mit dem 2017 erschienenen CoD WWII zu ihren „Wurzeln“ zurück.6 Die Webseite des Spiels enthält umfangreiche Informationen über das Spiel sowie die möglichen Missionen und Zusatzkampagnen, die für eine Analyse weniger bedeutsam sind. Allerdings wird ein Trailer zur Verfügung gestellt, der hinsichtlich 5

Hierzu möchte ich mir eine persönliche Bemerkung erlauben. Ich habe das Spiel Call of Duty WWII meinem 21-jährigen Neffen Lukas zu Weihnachten geschenkt, da er, im Gegensatz zum mir, in Sachen Videospiele eine gewisse Erfahrungskompetenz vorzuweisen hat. Nachdem das Spiel ausgepackt und angespielt wurde, regte sich im versammelten Familienkreis jedoch erheblicher Unmut, vor allem ob der gezeigten Brutalität. So geriet ich zunehmend in die Defensive und musste erklären, wie ich denn dazu käme, meinem „Patenkind“ solch einen Unfug zu schenken, der eigentlich „verboten“ gehöre. Mein Verweis auf ein wissenschaftliches Interesse vermochte die leicht erhitzten Gemüter nicht zu besänftigen. Als ich schließlich aufgefordert wurde, es nun selbst einmal zu versuchen, scheiterte das Experiment nach wenigen Sekunden unter großem Gelächter, da mein Avatar von mehreren Kugeln durchsiebt in sich zusammensackte, ehe ich überhaupt die Kontrolle über die Steuerung erlangen konnte. Auch weitere Versuche blieben erfolglos, sodass mir der Controller alsbald entrissen und ich für „komplett unfähig“ erklärt wurde. Stattdessen durfte ich zusehen, wie er sich das Spiel aneignet und scheinbar mühelos durch die einzelnen Episoden ballert. Ich habe das Spiel auch im Rahmen eines Masterseminars Seminars mit dem Titel „Media, Culture, and War“ behandelt, wo insbesondere eine Sequenz kritisch diskutiert wurde, die die Befreiung eines Konzentrationslagers durch US-Truppen zeigt. 6 https://www.callofduty.com/de/wwii

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des aufklärerischen und erinnerungspolitischen Anspruches sehr aufschlussreich und wohl wichtiger ist, als das eigentliche Spiel. Unter dem Titel „Bruderschaft von Helden“ findet sich ein kurzer Teaser zum Trailer, in dem erklärt wird, wie Sledgehammer all jenen Frauen und Männern Ehre erweist, die dem „Ruf der Geschichte“ gefolgt seien. Der Trailer zum Spiel ist in mehrere Sequenzen unterteilt, die sich am Verlauf des Kriegsgeschehens und der Spielkampagnen orientieren. Zunächst erklärt jedoch ein beratender Historiker Martin „Marty“ Morgan den erinnerungspolitischen Anspruch des Spiels Call of Duty WWII. Morgan zufolge sei der Zweite Weltkrieg immer noch in den Erzählungen der Veteranen und jener lebendig, die die Zeit persönlich erlebt hätten („living history“). Da die Erinnerungen jedoch verschwänden, sei es die Aufgabe einer neuen Generation die Erinnerungen sowie die Erfahrungen des Krieges („experience of fighting the war and surviving the war“) zu verstehen. Michael Condrey, Mitgründer und ein Leiter des Studios von Sledgehammer Games erklärt die Perspektive des Spiels Call of Duty WWII, demzufolge es sich um ein sehr persönliches Spiel handelt, das einen Wendepunkt der Geschichte des Krieges thematisiere. Glen Schofield, ebenfalls Mitgründer und Leiter des Studios von Sledgehammer reflektiert über den Respekt und die Ehre gegenüber den Menschen und Orten die es zu wahren gilt, wenn solch ein Spiel produziert wird. Entsprechend sei die Kooperation mit Marty Morgan wichtig gewesen, da er über historisches Detailwissen verfüge um die Geschichte möglichst genau zu erzählen. Marty Morgan beschreibt sich selbst als Historiker, der sein Leben dem Zweiten Weltkrieg gewidmet habe. Morgan spricht über die Opfer, die für eine größere Sache („big picture“) erbracht wurden und den größten Mut unter den schwierigsten Bedingungen. Auf der visuellen Ebene wird der Trailer immer wieder mit Originalaufnahmen, den Interviewsequenzen sowie animierten Szenen aus dem Spiel gestaltet, sodass eine visuelle Assemblage entsteht, in der Geschichte, Gegenwart und Fiktion verschwimmen. Sowohl durch die Ausführungen der Produzenten sowie des beratenden Historikers Marty Morgan wird einerseits Anspruch auf Authentizität und Genauigkeit in der Darstellung des Krieges erhoben. Andererseits sollen Spieler*innen durch die Verkörperung der Rolle des Soldaten Red Daniels auch einen Eindruck von der individuellen Seite des Krieges und des persönlichen Schicksals eines einfachen Soldaten erhalten. Art Director Joe Salud erklärt, dass es sich nicht um einen fiktionalen Krieg handle, weswegen es wichtig ist, den Spieler*innen zu erklären, was passiert sei („what happend“) und wie es damals gewesen sei („what the time was like“). Der stellenweise mit pathetischer Musik unterlegte Trailer stellt ein wichtiges Teildokument bei der Analyse des Videospiels CoD WWII dar, der nicht ignoriert werden sollte. Einerseits wird hierbei deutlich, dass es den Machern des Spieles nicht

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nur darum geht, ein leicht konsumierbares Unterhaltungsprodukt zu kreieren. Die hier auszugsweise dargestellten Aussagen der Produzenten offenbaren vielmehr, dass dieses Spiel dazu beitragen soll, die Geschichte des Zweiten Weltkrieges aus Sicht eines U.S.-Soldaten sowie, in einer Nebenmission, der französischen Widerstandskämpferin Rousseau zu erleben und hierdurch ein bestimmtes Erinnerungsnarrativ wach und lebendig zu halten, das in erster Linie die USA als heldenhafte Befreiungsmacht zeigt, unter deren Führung der Sieg über Deutschland im Zweiten Weltkrieg errungen wurde. Dieses Erinnerungsnarrativ ist intertextuell in einen vor allem in den USA und in anderen westlichen Ländern gefestigten Diskurs hinsichtlich der Rollenverteilung während des Zweiten Weltkrieges verankert.7 Durch Einbeziehung eines Historikers, dessen Kenntnis und Expertise über den Zweiten Weltkrieg zur Vermarktung des Spiels verwendet werden, entsteht in der Kommunikation mit den Usern jedoch eine mehr oder weniger auf Selbstzuschreibung basierende Wissenshierarchie, die auf das Spiel, seine immanente Erzählstruktur und hinsichtlich der gezeigten historischen Orte, Begebenheiten und Personen ausstrahlt. Das Spiel eignet sich somit ein historisches „Gütesiegel“ an und suggeriert, auf historisch gesicherten Fakten zu basieren. Um den Punkt noch einmal zu verdeutlichen sei gesagt, dass es hier nicht darum geht, die Expertise von Marty Morgan in Zweifel zu ziehen oder die Gewissenhaftigkeit, mit der historische Fakten geprüft wurden. Indessen stellt sich die Frage, wie das Auftreten eines Historikers im Rahmen eines Videospiels dessen politisch-historische Deutungsansprüche zum Ausdruck bringt und eine auf „Wissen“, „Expertise“ und „Fachkenntnis“ basierende Hierarchie in der Kommunikation mit den Usern erzeugt wird. In einem weiteren Schritt könnte es sicherlich hilfreich sein, die Produzenten des Spiels direkt anzusprechen, um, etwa im Rahmen eines Hintergrundinterviews, mehr über den Produktionskontext des Spiels, das Marketing etc. zu erfahren.

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Spielsequenzanalyse: D-Day

Der Kampagnenmodus des Spiels beginnt mit der Landung der Alliierten Truppen am 06. Juni 1944. Aus erinnerungskultureller Perspektive ist hier vor allem die 7

Dieses Narrativ wurde historisch immer wieder kritisiert, da der harte Kampf der Sowjet­ union gegen Nazideutschland, der der Landung in der Normandie vorausgegangen war, hier oftmals übersehen wird. Populärhistorisch wurde dieser Aspekt kürzlich in der von Oliver Stone produzierten Reihe The untold story of the United States hervorgehoben.

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Re-Mediatisierung des Ereignisses bemerkenswert. Das Spiel greift in seiner Ästhetik und Bildgestaltung auf Motive zurück, die jüngeren Spieler*innen sicher aus dem Film Saving Private Ryan von Steven Spielberg bekannt vorkommen dürften. Teilweise erscheinen Perspektive, Sound und Szenerie nahezu deckungsgleich. Auch auf narrativer Ebene finden sich Überschneidungen, etwa die Durchführung einer Sprengung mittels einer „Bangalore“. Auf ikonographischer Ebene verweist CoD WWII einerseits auf die weltbekannten Fotographien von Robert Capa, der die Landung in Omaha Beach begleitete. Mehr noch als auf die verwackelten und teils unscharfen Bilder Capas werden jedoch die Filmsequenzen von George Stevens und John Ford zitiert, die sich mit ihren Hollywood-Filmen zwar kulturell verewigt, mit ihren Filmaufnahmen der Landung in der Normandie jedoch zeithistorische Verdienste erworben haben. Wichtig ist zu beobachten, wie ein zeithistorisches Ereignis durch ein Computerspiel re-mediatisiert und hierdurch die dokumentarischen Bilder und Filmsequenzen eines Robert Capa, George Stevens oder John Ford aktualisiert werden. Im Falle des Spielberg-Filmes Saving Private Ryan, der das dokumentarische Material ebenfalls zitiert, könnte sogar von einer Überschreibung der Dokumentation durch die Fiktion gesprochen werden, da sein Film wohl ganz sicher als Erinnerungsfilm im Sinne Erlls et al. (Erll und Wodianka 2008) gelten kann. Dessen Inszenierung der Landung in der Normandie dürfte der Generation der Millennials wohl deutlich präsenter sein als die Dokumentation „D-Day: The Normandy Invasion“ des bekannten Regisseurs Frank Capra, für die er das Filmmaterial von Stevens und Ford verwendete. Insofern fügt sich auch das Spiel CoD WWII durch die vielfältigen ikonographischen, aber auch intertextuellen Verweise in eine pluri-mediale Konstellation ein, die den D-Day als historisches Ereignis für ein Publikum fortschreibt, das die Originalquellen vielleicht schon gar nicht mehr kennt. Nun stellt sich natürlich auch die Frage, welches politische Narrativ durch die Spielsequenz D-Day entwickelt wird. Hier bewegt sich das Spiel im Rahmen der allgemein überlieferten Erzählung des heldenhaften, aber verlustreichen Kampfes der Alliierten gegen die deutsche Besatzung. Gleichzeitig wird im Spiel, vor allem im weiteren Verlauf der Kampagnen, ein differenziertes Bild des deutschen Soldaten, aber auch von deutschen Zivilist*innen gezeigt. Dabei werde, so Glen Shoefeld in einem Interview darauf geachtet, nicht alle Deutschen als „Nazis“ darzustellen. Dabei geht er auch auf die schlechte Behandlung von jüdischen Soldaten in der US-Armee sowie auf sexistische oder rassistische Vorfälle ein, die es zu dieser Zeit gegeben habe. Zudem wird der Blick auf den Kampf der französischen Résistance gelenkt, wodurch bislang eher marginalisierte Akteure sichtbar werden. Auch hier leistet das Spiel, zumindest im Rahmen einer Sondermission, politische Aufklärungsarbeit. Da Spieler*innen in die Rolle der Resistancekämpferin Rousseau

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schlüpfen können, böte sich die Möglichkeit für eine weitere Auseinandersetzung aus gendertheoretischer und -historischer Perspektive. Insgesamt sind vor allem die Zwischensequenzen, die zur Entwicklung der Geschichte und der Charaktere dienen, eine gute Möglichkeit, um der herausfordernden und alles andere als trivialen Frage nachzugehen, inwiefern heutige Computerspiele historisch belegte, intersektional bedingte Ausgrenzungen und Stigmatisierungen thematisieren können ohne dabei die zugrundeliegenden Mechanismen der Herabwürdigung zu reproduzieren, sei es auf sprachlicher, visueller oder habitueller Ebene.

3.3 Rezeptionsanalyse Wie bereits erwähnt, soll in diesem Beitrag ein Weg aufgezeigt werden, der es erlaubt, Videospiele auch ohne intensiven Selbstversuch als Gegenstand politikwissenschaftlicher Analysen einzurichten. Für die Erfassung der Rezeption wurden unterschiedliche YouTube-Kanäle gesichtet, auf denen das Spiel vorgestellt wurde. Zusätzlich wurden Reviews in Online-Magazinen und auf Blogs einbezogen. COD WWII ist eines der meistverkauften Spiele des Jahres 2017 und hat laut Activision mehr als 1 Mrd. USD eingespielt. Der kommerzielle Erfolg des Spiels steht in deutlichem Kontrast zu den Reviews einschlägiger Spieletester*innen etwa auf YouTube, wo das Spiel praktisch durchweg negativ bewertet wird. Die Kritik der Spieleteste*innen richtet sich dabei vor allem auf spielimmanente Eigenschaften, etwa eine unrealistische Steuerung von Fahrzeugen oder der Einsatz sogenannter Lootboxen. Bemerkenswert ist auch zu sehen, auf welche Aspekte in den Kritiken eingegangen wird und wie die Kritiken jeweils in den Kommentaren bewertet werden. Angesichts der Fülle an negativen und teilweise vernichtenden Reviews und Videos soll hier eine positivere Kritik erwähnt werden, die explizit auf die politischen Dimensionen des Spiels eingeht. Der YouTube Kanal IGN, der sich auf Spieletests spezialisiert hat, veröffentlichte im November 2017 eine Kritik von Spieletesterin Miranda Sanchez, Executive Editor IGN, in der explizit auf Genderrepräsentationen eingegangen wird. In der Kommentarspalte zu dieser Kritik, die insgesamt eher positiv ausfällt, finden sich daraufhin zahlreiche „hates“ und weitere negative Bemerkungen über die Autorin.8 Auf dem Kanal Skill up wurde im November 2017 ein Video veröffentlicht, das sich explizit mit den negativen Bewertungen auseinandersetzt, die das Spiel auf YouTube erfahren hat, was in einem erheblichen Kontrast zum kommerziellen 8 https://www.youtube.com/watch?v=q-8u9T7eyTg

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Erfolg steht – denn ungeachtet der vernichtenden Bewertungen wurde das Spiel millionenfach verkauft. Der australische Spieletester erklärt den Erfolg des Spiels mit dessen Anspruch, eine breite Zielgruppe zu erreichen. Während das Spiel also bei Insidern eher durchgefallen ist, scheint es sich dennoch einer regen Nachfrage bei einem größeren Publikum zu erfreuen.

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Visualität, Virtualität und die Zukunft kollektiver Erinnerung

Blickt man auf die internationale Debatte im Bereich der IB, sind Videospiele als gesellschaftlich weit verbreitetes, politisiertes, aber auch politisierendes Medium bereits Gegenstand zahlreicher Analysen. Trotz der allgemeinen Skepsis, die bezüglich einer analytischen Auseinandersetzung mit Phänomenen der Populärkultur herrscht, konnte sich die Videospielforschung auch in den IB einen Platz erkämpfen. Die Vorbehalte gegenüber einem Medium, das bisweilen eher als Freizeitvergnügen für Kinder und Jugendliche betrachtet wird, sind allerdings nach wie vor so erheblich, dass Videospiele auch in absehbarer Zeit kein „Mainstreamthema“ der Politikwissenschaft werden dürften. Ungeachtet dessen soll dieser Beitrag theoretische Impulse liefern und methodische Wege aufzeigen, wie Videospiele analytisch betrachtet werden können, ohne dass die Forscher*innen einen Großteil ihrer Zeit vor der Konsole oder dem PC verbringen müssen. Das zentrale Argument des Beitrags besteht schließlich darin, Videospiele in ihrer Gesamtheit in den Blick zu nehmen und sich nicht nur auf die Ebene des eigentlichen Spiels zu konzentrieren, vor allem, wenn es darum geht, den politischen Gehalt und die diskursiven Eigenschaften eines Spiels zu untersuchen. Gleichwohl ist eine Beschäftigung mit dem Spiel erforderlich, da nur durch die eigene Spielerfahrung ein Verständnis für die narrative Struktur sowie die Ästhetik des Spiels entwickelt werden kann. Im vorliegenden Falle wurde in erster Linie auf Aspekte der Re-mediatisierung kollektiver Erinnerung eingegangen und am Beispiel von CoD WWII gezeigt, wie das Spiel einerseits dokumentarische Geschichtsbilder aktiviert, die im medialen Erinnerungsbewusstsein westlicher Gesellschaften eingelagert sind. Hierbei handelt es sich um dokumentarische Bilder und Filmaufnahmen aber auch um fiktionale Re-mediatisierungen, wie etwa die offensichtliche Referenz zu Steven Spielbergs Saving Private Ryan. Berechtigterweise könnte kritisiert werden, dass diese Beobachtungen zwar medienwissenschaftlich durchaus relevant erscheinen, aber politikwissenschaftlich doch eher bedeutungslos sind. Hierzu sei bemerkt, dass

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gerade in Re-Mediatisierungen eine enorme politische Macht liegt, da hierdurch zwar bestehende Erinnerungsnarrative fortgeschrieben und stabilisiert, aber auch verändert werden können. Daher erscheint es notwendig, den Kontext des Spieles zu betrachten, um die immanenten Deutungsansprüche bezüglich historischer Ereignisse zu erfassen. Folglich wurde insbesondere die Rolle von Marty Morgan kritisch hinterfragt, der für die historische Einbettung verantwortlich zeichnete und dem Spiel eine entsprechende Autorität verleihen soll. Wie in den Interviews mit dem Spieleentwicklern deutlich wird, geht es hier nicht nur um Entertainment, sondern um Geschichtsaufklärung im Gewand eines Unterhaltungsmediums. Folglich soll in erster Linie der Blick dafür geschärft werden, wo auch in der Unterhaltungskultur, oftmals nur beiläufig, grundlegende Deutungsansprüche über historische und politische Begebenheiten erhoben werden. Gerade für diskursanalytische Forschungsansätze könnten Videospiele eine informative Erweiterung des herkömmlichen Datenkorpus darstellen. Während der Blick in diesem Beitrag auf ein klassisches Videospiel gerichtet wurde, sollte zum Abschluss noch erwähnt werden, dass sich die Technologie in diesem Bereich gerade durch die sogenannte Virtual Reality dramatisch verändert. Wenngleich die Technik heute noch nicht so verbreitet ist, wie die klassische Konsole oder der PC, so dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis die VR-Brillen oder eine leichter zu tragende Folgetechnologie, in die Wohnzimmer einziehen und die Videospieleerfahrung im Alltag revolutionieren werden, was auch als eine Herausforderung für die Politikwissenschaft verstanden werden sollte.

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ISIS und die Inszenierung von Kulturgüterzerstörung für ein globales Publikum Hanna Pfeifer und Christoph Günther ISIS und die Inszenierung von Kulturgüterzerstörung …

Zusammenfassung

In diesem Beitrag analysieren wir Bilder und Videos von Kulturgüterzerstörung durch ISIS. Wir argumentieren, dass ISIS’ Bildsprache erst dadurch als Konfliktstrategie erfolgreich wird, dass sie sich einen globalen Kulturdiskurs aneignet und Reaktionen mächtiger Sprecher*innen antizipiert. Wir stellen zwei Inszenierungen von Kulturgüterzerstörung einander gegenüber und zeigen Unterschiede in der Visualisierungsstrategie sowie in den angezielten Diskursen auf und problematisieren diese im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Kultur, Sicherheit und Gewalthierarchien. Schlüsselbegriffe

Kulturgüterzerstörung, ISIS, Visualisierung von Gewalt, Hegemonie und Kultur, Konfliktstrategien nicht-staatlicher Gewaltakteure

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Schlag und A. Heck (Hrsg.), Visualität und Weltpolitik, Horizonte der Internationalen Beziehungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29971-2_6

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Hanna Pfeifer und Christoph Günther

1 Einleitung1 Spätestens seit ISIS2 im Juni 2014 ein Kalifat ausrief, verbreitet die Organisation Bilder ihrer Gewalttaten, aber auch des Lebens im sog. ‚Islamischen Staat‘ um die ganze Welt. Dabei handelt es sich oft um von unterschiedlichen ISIS-Medienagenturen kontrolliert herausgegebene und aufwändig produzierte Still- und Bewegtbilder in Form von Broschüren, Bilderreportagen und kurzen wie längeren Videos, die über soziale Medien und andere Internetplattformen geteilt werden. Bereits seit der Gründung als al-Tauhīd wa-l-Ǧihād (2003) und der späteren Weiterentwicklung zu Al-Qāʾida im Irak (2004) bildete ISIS ein spezifisches symbolisches Repertoire aus, das sich in den Gewaltakten und deren Mediatisierung bis heute fortsetzt. Dieses Repertoire rahmt die machtpolitischen Ansprüche des Islamischen Staates und der mit ihm alliierten Akteur*innen als Etablierung einer Ordnungssinngebung, die als dezidierte Alternative zu säkularen, pluralistischen und auf anderen Interpretationen des Islams beruhenden Gesellschaftsmodellen präsentiert wird. Zudem nutzen die Ideolog*innen, Funktionär*innen und Anhänger*innen des Islamischen Staates dieses Repertoire zur Bestimmung des Feldes symbolischer und tatsächlicher sozio-politischer und theologischer Konkurrenz mit seinen Opponent*innen, das nicht zuletzt durch die Anwendung gewaltvoller Mittel strukturiert wird. Diese sollen zu einer ‚Purifizierung‘ der Welt von allen Repräsentant*innen und materiellen Manifestationen der als ‚Unglauben‘ verstandenen Ordnungen beitragen. Damit besteht für den Islamischen Staat kein Unterschied zwischen den inszenierten (Teil-) Zerstörungen von Kulturgütern und der Tötung von Menschen. Diese Gleichsetzung besteht nicht nur auf ideologischer Ebene, sondern auch und gerade im Bereich der Konstruktion und Darstellung von Realität mittels bildlicher Medien. Innerhalb dieses Bereiches machten Kulturgutzerstörungen insbesondere zwischen 2014 und 2015 einen wichtigen Teil der von ISIS produzierten Bilder aus (Smith et al. 2016) und sorgten global für große Aufmerksamkeit, ja regelrechtes Entsetzen. Die Medienstrategie von ISIS und insbesondere die von ihm produzierten Videos sind in der Wissenschaft bereits vielfach analysiert worden, und zwar sowohl in den Feldern der Islamwissenschaft (Günther 2015), Sozialarchäologie (Harmanşah 2015; Flood 2016) sowie Kommunikations- und Medienwissenschaf1

Für hilfreiche Anregungen und Kommentare zu diesem Beitrag danken wir: Delf Rothe, Gabi Schlag und Axel Heck sowie den Mitglieder*innen des DFG Netzwerkes „Visualität und Weltpolitik“. 2 Der Islamische Staat / Staat des Kalifats änderte im Laufe seiner Evolution seit 2003 mehrfach seine Selbstbezeichnung. In vorliegendem Text bedienen wir uns der in der anglophonen Welt gebräuchlichen Bezeichnung „Islamischer Staat im Irak und (Groß)Syrien /al-Šām“ (ISIS).

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ten (Chouliaraki und Kissas 2018; Rossipal 2016; Allendorfer und Herring 2015; Dauber und Robinson 2015), der politischen Theorie (Euben 2017) als auch in den Internationalen Beziehungen (Friis 2015; 2018; Pfeifer und Reder 2017; Pfeifer und Spencer 2019; Heck 2017) und der Terrorismusforschung (Zelin 2015; Harmon und Bowdish 2018; Winter 2017). In diesem Beitrag möchten wir uns einer speziellen Art der Visualisierung von Gewalt widmen, und zwar Bildern und Videos von Kulturgüterzerstörung. Die Zerstörung und der Schutz von Kulturgütern hat nicht zuletzt durch ISIS und die Bedrohung von Weltkulturerbe in Syrien und im Irak ein neues Maß an internationaler politischer und daran anschließender akademischer Aufmerksamkeit erfahren (Bioly 2016; Brosché et al. 2016; Clapperton et al. 2017; Isakhan 2018). Für die Disziplin der Internationalen Beziehungen (IB) relevant sind zunächst Ansätze, die sich auf den*die Akteur*in konzentrieren und die Zerstörung von Kulturgütern als Konfliktstrategie analysieren (Brosché et al. 2016; Clapperton et al. 2017). Darüber hinaus sprechen Studien, die eine Versicherheitlichung von Kulturgütern konstatieren, ein weiteres zentrales Thema der IB an (Russo und Giusti 2017). Sie rücken globale Diskursstrukturen in den Mittelpunkt, um zu zeigen, wie Kulturgüter als bedroht konstruiert werden und so die Anwendung von außergewöhnlichen, insbesondere militärischen Mitteln zu deren Schutz rechtfertigbar wird. Der vorliegende Beitrag versucht, eine dritte Perspektive zu eröffnen, welche die Akteur*innen- mit der Strukturebene verbindet. Wir argumentieren, dass ISIS’ Bildsprache erst dadurch als Konfliktstrategie erfolgreich wird, dass sie sich einen globalen Kulturdiskurs aneignet und Reaktionen mächtiger Sprecher*innen antizipiert. Während ein als universell behauptetes Verständnis von schützenswerter ‚Hochkultur‘ in der Tat an eine Versicherheitlichungslogik geknüpft ist, wird lokalen kulturellen Artefakten und Praktiken eine geringere kulturelle Bedeutung zugeschrieben. Ein Angriff auf solche Kulturgüter wird damit nicht als sicherheitsrelevant eingestuft, obwohl diese für die Alltagspraktiken, Identitäten und Glaubensüberzeugungen, sprich: die Kultur der Menschen in Syrien und im Irak mindestens ebenso zentral sind. Diese Hierarchisierung von Gewalt und deren normativer Beurteilung, so argumentieren wir weiter, macht ISIS sich in seiner Bildsprache zu eigen und nutzt sie zu seinem strategischen Vorteil. Zwar richten sich seine Angriffe sowohl gegen Weltkulturerbe als auch gegen eher lokal bedeutsame Kulturgüter und beide Arten der ikonoklastischen Akte werden mit großem Aufwand mediatisiert. Allerdings unterscheiden sich die Mediatisierungsstrategien je nachdem, welche Adressat*innen angesprochen werden sollen und auf welche Diskurse die Visualisierung zielt. Wir stellen die Visualisierung zweier Kulturgüterzerstörungen einander gegenüber, die besonders deutlich miteinander kontrastieren. Wir argumentieren, dass sie zwei unterschiedliche Formen der visuellen Identitätsbildung repräsentieren: Die Abgrenzung gegen einen An-

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deren durch eine militarisierte Form der Feindbildkonstruktion innerhalb eines Sicherheitsdiskurses einerseits; die auf Purifizierung zielende Konstruktion eines Selbst innerhalb eines Religionsdiskurses andererseits. Beide Formen haben gemein, dass sie der Legitimation der von ISIS etablierten politischen Ordnung dienen. Der Beitrag geht in vier Schritten vor. In Teil 2 gehen wir auf die strategische und sicherheitspolitische Bedeutung von Kulturgütern in bewaffneten Konflikten im Allgemeinen und für ISIS im Speziellen ein, um unsere eigene theoretische Perspektive zu entwickeln. In Teil 3 ordnen wir die Visualisierung von Kulturgüterzerstörungen in den größeren Kontext der Bildsprache von ISIS ein. Dabei gehen wir insbesondere auf solche Ansätze ein, welche die Visualisierung als konstitutiven Teil einer strategischen Anwendung von Gewalt verstehen und welche die hierarchische Ordnung in der Wahrnehmung von solchen Visualisierungen betonen. In Teil 4 kontrastieren wir zwei Bildstrategien, die ISIS in Bezug auf Kulturgüterzerstörungen verfolgte. Die (Teil-) Zerstörung der antiken Tempelanlagen im syrischen Palmyra gilt als das Ereignis, das der Versicherheitlichung von Kulturgütern Vorschub leistete. Der Visualisierung dieser Gewaltakte stellen wir ein Video gegenüber, das die Zerstörung eines sog. ‚Moses-Baumes‘ im syrisch-irakischen Grenzgebiet inszeniert. In Teil 5 fassen wir unsere Analyseergebnisse zusammen und versuchen, daran anschließende, für die IB relevante Folgefragen zu skizzieren.

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Kulturgüter und ihre mediatisierte Zerstörung: Konfliktstrategie, Versicherheitlichung und die konstitutive Rolle des Publikums

Die Relevanz von Kulturgütern für die IB im Allgemeinen und Sicherheitsstudien im Besonderen ergibt sich aus zwei miteinander verbundenen Entwicklungen. Zum einen sind Angriffe auf Kulturgüter in den vergangenen knapp 20 Jahren zu einem immer häufiger genutzten Mittel in bewaffneten Konflikten geworden. Wir stellen daher zunächst den strategischen Wert ikonoklastischer Akte dar. Zum zweiten begegnete auch die internationale Gemeinschaft diesen Entwicklungen, indem sie zunächst Rechtsnormen zum Schutz von Kulturgütern aufstellte, in den vergangenen Jahren jedoch immer stärker auch harte Mittel des Völkerstrafrechts und sogar militärische Maßnahmen als adäquat ausweist. Dass Kulturgüter in gewalttätigen Konflikten regelmäßig in ‚Mitleidenschaft‘ gezogen werden, ist seit Langem und hinreichend dokumentiert. Dies gilt ebenso für die ‚kollaterale‘ Beschädigung von Kulturgütern wie für Fälle, in denen Kulturgüter von den Konfliktparteien als Teil des Konfliktes begriffen und also angegriffen

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werden. Bereits im Ausgang der Antike bedienten sich etwa Christ*innen ikonoklastischer Praktiken, und auch danach wurden Bilder, Statuen und Bauwerke im Zuge religiös begründeter Konflikte immer wieder angegriffen (Bredekamp 2016, S. 25–26; Elsner 2016; Bioly 2016, S. 15–16; van Asselt et al. 2007; Warnke 1988). Gleichzeitig lässt sich auch der Zusammenhang zwischen der Legitimation politischer Ordnungen durch das Mobilisieren einer bestimmten Identität und dem Festlegen dessen, was als das kulturelle Erbe gilt, historisch belegen. Insbesondere mit dem Aufstieg des Nationalstaates gewann das kulturelle Erbe eine neue Bedeutungsebene und es entstand ein Bewusstsein für ein „national ownership of cultural heritage“ (Sørensen und Viejo-Rose 2015, S. 4). Mit der Verbindung von kulturellem Erbe und nationaler Identität entwickelte sich auch das internationale Recht hinsichtlich des Schutzes von Kulturgütern in Konfliktphasen weiter. Als Kernstück dieses Rechts gilt heute die Hague Convention on the Protection of Cultural Property in the Event of Armed Conflict von 1954 und deren Zusatzprotokolle von 1999. Eine zentrale Unterscheidung im internationalen Recht ist die zwischen kollateralen und bewusst herbeigeführten Schäden an Kulturgütern in der Beurteilung der Gewaltakte (Sørensen und Viejo-Rose 2015, S. 4–5; Hausler 2015). So problematisch diese Unterscheidung gerade vor dem Hintergrund der Rede von Kollateralschäden in der westlichen Kriegsführung erscheint, so wichtig ist es doch anzuerkennen, dass das Attackieren von kulturellem Erbe ein wichtiges und eigenständiges Konfliktziel und -mittel sein kann, das von Konfliktparteien intentional eingesetzt wird und das oft sehr eng mit Kriegsverbrechen gegen bestimmte ethnische Gruppen verbunden ist (Smith et al. 2016, S. 182). Eine entscheidende Frage ist, warum Akteur*innen sich dazu entscheiden, kulturelles Erbe zu attackieren – statt ihre begrenzten Ressourcen beispielsweise dafür einzusetzen, ‚harte‘ militärische Ziele zu attackieren. In diesem Zusammenhang sind vier Grundmotive identifiziert worden (Brosché et al. 2016). Erstens spielen symbolische Motive eine Rolle. Der Angriff auf kulturelle oder religiöse Identitäten sowie das Zerstören von materiellen Repräsentationen dieser Identitäten ist damit selbst ein Konfliktziel. Dabei ist es zentral, dass das Attackieren von Kulturgütern sich gegen eine bestehende Gesellschaftsordnung richtet und gleichzeitig prospektiv die Möglichkeiten einer Post-Konfliktordnung einzugrenzen sucht. Zum zweiten kann der Angriff auf Kulturgüter strategisch-taktische Gründe haben. So kann sie etwa Rebell*innen dazu dienen, die Symbole des alten Regimes zu zerstören, so den Beginn einer neuen, zu etablierenden politischen Ordnung anzuzeigen und den Widerstand gegen selbige zu unterminieren. Darüber hinaus kann wiederum die symbolische Kraft von kulturell bedeutsamen Bauten und Werken

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gekapert werden, wenn deren Besetzung zur Demonstration von Macht sowie zu Zwecken der Werbung und Rekrutierung medienwirksam zur Schau gestellt wird. Drittens können Akteur*innen Stärke demonstrieren und Angst verbreiten, indem sie symbolträchtige Bauten und Werke attackieren, die – ähnliche wie Zivilist*innen – weiche und risikoarme Angriffsziele sind. Durch dieses signalling beweisen sie ihre Fähigkeiten gegenüber dem oder der Gegner*in, der lokalen Bevölkerung, aber auch einem globalen Publikum. Es kann sowohl den Versuch bezeichnen, durch Illusion die eigene Macht als größer und Schäden als weniger bedeutsam darzustellen, als sie tatsächlich sind, als auch eine shock-and-awe-Strategie, welche den lokalen und regionalen Widerstand brechen und den bzw. die Gegner*in provozieren soll (Smith et al. 2016; Hall und Noyes 2014). Schließlich spielen Kulturgüter in Konflikten auch eine ökonomische Rolle: Plünderung und Kunstschmuggel können zu einer wichtigen Einnahmequelle von Konfliktparteien werden. Gerade inszenierte und professionell mediatisierte Angriffe auf kulturelles Erbe präsentieren diese Gegenstände als hochgradig verletzbar. Diese Bilder können demnach als Werbung für rare Kunstgegenstände auf den globalen Schattenmärkten dienen und ihren Preis in die Höhe treiben (Smith et al. 2016). Alle vier Motive scheinen für ISIS eine Rolle zu spielen (Brosché et al. 2016); hier relevant sind jedoch die ersten drei Dimensionen, also das Negieren der alten und Antizipieren der neuen (1) sozialen und (2) politischen Ordnung sowie das (3) Vermitteln eines bestimmten Rollenbildes durch die Zerstörung von Kulturgütern. Dies erlaubt es uns, den Zusammenhang zwischen inszenierter Gewalt, sozio-politischer Ordnungsbildung und der Interaktion zwischen Konsument*innen und Produzent*innen von Bildern in den Blick zu nehmen. Anderen Autor*innen folgend (z. B. Clapperton et al. 2017; Friis 2018) wird mit dieser strategischen Interpretation der ikonoklastischen Akte von ISIS zwei Arten der Deutung widersprochen, die in der öffentlichen Wahrnehmung üblich sind, um die Gewaltakte von ISIS einzuordnen: Es handelt sich weder um zufällig entstandene Kollateralschäden noch um Akte der Barbarei, sondern um „a logical and instrumental means of employing violence to achieve political ends“ (Clapperton et al. 2017, S. 1205). Dabei verbindet ISIS pragmatische mit dogmatischen Zielen. So wurde in Bezug auf die Angriffe auf die antiken Stätten in Palmyra beispielsweise argumentiert, dass der strategische Wert gerade darin lag, sie nur teilweise und schrittweise zu zerstören, weil dies ein besonders hohes Maß an medialer Aufmerksamkeit garantierte. Dieses Vorgehen muss als pragmatisch gedeutet werden, weil das dogmatische Ziel einer Zerstörung all dessen, was als Polytheismus (širk) gilt, hinter strategische Erwägungen zurückgestellt wird. Umgekehrt gibt es jedoch auch Beispiele dafür, wie das Festhalten an militärischen Zielen aus dogmatischen Gründen zu strategischen Nachteilen für ISIS führte. So kündigte ISIS im Falle des

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schiitischen al-Askari-Schreins im Irak bereits kurz nach der Einnahme wichtiger Gebiete in Samarra an, dass dieser ein Zerstörungsziel mit höchster Priorität sei. Dies führte zu einer massiven Mobilisierung unter den irakischen Streitkräften und schiitischen Milizen, um so einen Angriff zu verhindern (Clapperton et al. 2017, S. 1224–1228; Isakhan 2018). Dass ISIS sowohl pragmatische als auch dogmatische Ziele mit seinem Ikonoklasmus verfolgt, spielt auch für unsere Analyse eine zentrale Rolle – und wird sogar noch deutlicher, wenn man sich auf die Visualisierung selbst konzentriert. Denn während die Mediatisierung ikonoklastischer Akte oft eher als ein im Nachhinein hinzugefügtes und damit nachgeordnetes Mittel erscheint, um den maximalen strategischen Ertrag aus der Zerstörung zu ziehen, begreifen wir diese selbst als eine Inszenierung, welche die Mediatisierung immer schon mitdenkt (ähnlich Bredekamp 2016). Erst dadurch, dass die Visualisierung selbst in den Fokus rückt, wird deutlich, dass die Erwartung an den globalen Diskurs eine zentrale Rolle für den strategischen Wert der Zerstörung unterschiedlicher Arten von Kulturgütern spielt. In dem Sinne haben ikonoklastische Akte nicht nur unterschiedliche Publika, sondern zielen auch auf unterschiedliche Diskurse und Reaktionen ab. Die strategische Inszenierung von Kulturgüterzerstörung unter dem Blickwinkel der vorweggenommenen Reaktionen der angezielten Adressat*innen zu analysieren, ist in mehrerlei Hinsicht relevant für die IB. Zum einen hilft es dabei, das Selbstbild zu verstehen, von dem ISIS sich erhofft, ein globales wie lokales Publikum möge es anerkennen. Dass unterschiedliche Zuhörerschaften überzeugt werden müssen, führt vielleicht zu Brüchen in diesem Bild, mindestens jedoch zu einer komplexen Vorstellung der eigenen Identität. Zum anderen reagiert die Welt auf die ihr angebotenen Deutungen – und dies potentiell wiederum gewaltförmig. Parallel zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit für die Zerstörung von Kulturgütern3 hat eine Verschiebung des globalen Diskurses stattgefunden, der diese Gewalttaten immer weniger als kriminelle Akte, sondern vielmehr als eine imminente Sicherheitsbedrohung begreift (Russo und Giusti 2017). Diese neue Aufmerksamkeit ist klar auf den Krieg in Syrien und im Irak zurückzuführen und insbesondere auf die ikonoklastischen Akte von ISIS. Die Vereinten Nationen und ihre Unterorganisationen, vor allem die UNESCO und ihre ehemalige Generaldirektorin, Irina Bokova, sowie einige europäische Staaten waren zentrale Akteur*innen in diesen Entwicklungen (Russo und Giusti 2017, S. 6–9). Die UNESCO entwickelte z. B. ein Public Awareness Program für den Schutz vor Kulturgüterzerstörung durch die

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Nur weil die Aufmerksamkeit für ein Phänomen zunimmt, bedeutet dies natürlich nicht, dass das Phänomen selbst häufiger geworden ist. Siehe dazu Teil 2.2. in diesem Beitrag.

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Unterbindung von illegalem Handel – in Kooperation u. a. mit Interpol.4 Im März 2014 begann das Emergency Safeguarding of the Syrian Heritage Project, finanziert von der EU und durchgeführt von UNESCO;5 ein Jahr später wurde im Irak die globale #unite4heritage Kampagne lanciert.6 Darüber hinaus gründete die UNESCO im Februar 2016 gemeinsam mit Italien eine Spezialeinheit ‚Kultur-Blauhelme‘, die aus 60 Polizeiexpert*innen, aber auch Historiker*innen und Restaurator*innen besteht und u. a. Plünderungen verhindern soll.7 Während des Blue-Helmet-BlueShield Forum in Österreich im März 2017 diskutierten Vertreter*innen von ICOM, UNIFIL, NATO und anderen Organisationen die Best Practices on Peace Keeping and Cultural Property Protection.8 Schließlich stellte der UN-Sicherheitsrat im selben Monat fest, dass „directing unlawful attacks against sites and buildings dedicated to religion, education, art, science or charitable purposes, or historic monuments may constitute, under certain circumstances and pursuant to international law, a war crime and that perpetrators of such attacks must be brought to justice“ (UNSR Res. 2347 2017, eigene Hervorhebung).9 Kulturgüter sind inzwischen also zu einem solchen Maße versicherheitlicht, dass die Entsendung von Polizei und militärische Instrumente zum Zwecke des Schutzes kulturellen Erbes vorgesehen sind; zudem wurden bereits institutionelle Realitäten geschaffen, etwa in Form der Blauhelme, und es werden spezialisierte Sicherheitsexpert*innen im Feld der Kulturgüter herangezogen. Die Einnahme der Stadt Palmyra war hierbei ein Wendepunkt im Diskurs über Kulturgüter. Insbesondere die daraus folgende „circulation of images and visual representations of the ruined site has facilitated the diffusion of a discourse of threat, danger and emergency, thus giving way to a process of securitisation“ (Russo und Giusti 2017, S. 6). Die Zirkulation von Bildern darf hierbei jedoch nicht als mehr oder minder zufälliger Prozess gedeutet werden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass technisch komplexe und ästhetisch ansprechende Bilder, wenn sie verstanden werden und bei den Rezipient*innen Resonanz erzeugen sollen, auf Produzent*innenseite auch ein Verständnis der

4 http://www.unesco.org/new/en/culture/themes/illicit-trafficking-of-cultural-property/ awareness-raising-initiatives/help-stop-the-destruction-of-cultural-heritage-in-­syriaand-iraq/, abgerufen am 16. Oktober 2019. 5 https://en.unesco.org/syrian-observatory/, abgerufen am 16. Oktober 2019. 6 http://www.unite4heritage.org, abgerufen am 16. Oktober 2019. 7 http://www.sueddeutsche.de/kultur/unesco-schafft-kultur-blauhelme-nach-palmyra-kultur-blauhelme-sollen-denkmaeler-schuetzen-1.2866688#redirectedFromLandingpage, abgerufen am 16. Oktober 2019. 8 http://whc.unesco.org/en/news/1646, abgerufen am 16. Oktober 2019. 9 http://undocs.org/S/RES/2347(2017), abgerufen am 16. Oktober 2019.

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Funktionen globaler Bildproduktionen und globaler Bilddiskurse voraussetzen. Es ist also nicht nur ein Wissen um die technische Herstellung bestimmter Bilder, sondern auch um die Logiken von Medienregimen und politischer Kommunikation im 21. Jahrhundert, das sich in den Produkten widerspiegelt: Bilder werden nicht nur produziert und (z. T. über renommierte internationale Medienagenturen) verbreitet, sondern die Produzent*innen antizipieren die öffentliche Reaktion der ‚Gegenseite‘ und lassen diese Erwartungen in die audiovisuellen Kommunikate einfließen. Im Falle des Sicherheitsdiskurses ist dies das Wissen darum, dass der Angriff auf bestimmte, durch autoritative Institutionen – etwa die UNESCO – als Hochkultur und damit universell wertvoll ausgewiesene Kulturgüter heftige Reaktionen provoziert, die über eine bloße Verurteilung hinausgehen. Dass ISIS derartige Reaktionen einkalkulieren konnte, lag nicht zuletzt an Präzedenzfällen, die in ähnlicher in Weise eine Hierarchie von zugeschriebener Wertigkeit sichtbar gemacht hatten, wie wir im folgenden Abschnitt zeigen. Die Zerstörung von Kulturgütern, so lässt sich aus der bisherigen Argumentation schließen, gewinnt erst durch ihre bewusste Inszenierung für ein bestimmtes Publikum ihren strategischen Wert. Damit ist die Visualisierung ein konstitutiver Teil ikonoklastischer Akte, wenn sie als Konfliktstrategie funktionieren sollen, und nicht eine zusätzliche, im Nachhinein gewonnene Verstärkung eines bereits bestehenden Effekts. Dies bedeutet, dass ein jeweils spezifisches Publikum miteinzukalkulieren ist, um die unterschiedlichen Ziele zu erreichen, welche die Zerstörung von Kulturgütern verfolgen kann – De- und Re-Legitimation von sozialer und politischer Ordnung sowie Vermarktung eines Selbstbildes. Deshalb sind die Adressat*innen sowie ihre erwarteten und tatsächlichen Reaktionen in der Analyse der Medienstrategie von ISIS stets mit zu berücksichtigen: Ohne über die beteiligten Personen zu spekulieren, kann mit Sicherheit gesagt werden, dass die Medienarbeit von ISIS auch von einem guten Verständnis vom Wesen der medialen Produkte geprägt ist und die Produzent*innen ein Bewusstsein davon haben, wie und mit welchen Mitteln was gesagt und gezeigt werden soll. Mehr noch: sie können auch davon ausgehen, dass einige Bilder in der globalen Aufmerksamkeitsökonomie ein hohes Maß an Sichtbarkeit erlangen werden, während andere nahezu unsichtbar bleiben und jenseits lokaler Kontexte kaum beachtet werden. Somit sind Annahmen über lokale wie globale Diskurse über Kultur ebenso bei der Interpretation zu reflektieren wie Erwartungen der die Bilder produzierenden Akteur*innen an politische (Nicht-) Reaktionen hegemonialer Mächte im internationalen System.

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Hanna Pfeifer und Christoph Günther

Inszenierungen von Zerstörung: Kultur- und Gewalthierarchien, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit

Während die Zerstörung von Kulturgütern, wie gezeigt, alles andere als neu ist, so hat sich ihr strategischer Wert dadurch verändert, dass sie im digitalen Zeitalter einem globalen Publikum vorgeführt werden kann. Damit kulturelles Erbe in Konflikten wirkungsvoll eingesetzt werden kann, muss es ein Wissen darüber geben, welcher Wert bestimmten Artefakten und Bildern zuschrieben wird, welche Identitäten und Narrative mit ihnen verbunden sind und welche Bedeutung ihre Zerstörung und Erhaltung für bestimmte Gemeinschaften hat. Kunst und Kulturgüter sind deshalb auch ein „Medium sozialer Konflikte“ (Bredekamp 1975). Ikonoklastische Akte sind damit auf bestimmte Diskurse angewiesen, um eine Wirkung entfalten zu können. Dabei sind sie nicht nur als Kommunikation in Konflikten anzusehen, sondern entfalten auch konstitutive Wirkung, indem sie das Fremde durch Zerstörung überhaupt erst benennen und dadurch ein Selbst schaffen und rechtfertigen. So sind Akte der Zerstörung immer auch gleichzeitig Akte der Herstellung (Flood 2002, S. 647). Und in einer globalisierten Welt, in der Inszenierungen von Gewalt quasi in Echtzeit jede*n mit Zugang zu einem Internetanschluss erreichen können, gilt, dass auch der Kommunikationszusammenhang, an den sich etwa die mediatisierte Zerstörung von kulturellem Erbe richtet, ein globaler ist. Diese Deutungsrahmen werden allerdings in der öffentlichen Debatte über ikonoklastische Akte selten mitbedacht. Den Pressebereichten sowie zahlreichen Think-Tank-Analysen zu den Zerstörungen von Kulturerbe durch ISIS wird in der Regel die Interpretation zu Grunde gelegt, es handele sich um theologisch motivierte Akte in der Tradition des islamischen Ikonoklasmus und Ausdruck eines Kampfes der Kulturen (De Cesari 2015, S. 23). Diese Deutung halten wir vor allem deshalb für problematisch, weil sie eine allzu verengte Perspektive auf die ikonoklastischen Akte des „Islamischen Staates“ sowie die Akteur*innen und ihre Ideen anlegt. Zum einen zeichnet sie ein essentialisierendes Bild des Islams, dessen Bilderstürme dann als überhistorische Praxis gegen die Moderne und einen als nicht-muslimisch identifizierten Anderen gerichtet gezeichnet werden (Flood 2002; Harmanşah 2015). Dadurch gerät zum anderen die politische Dimension von Zerstörungen kultureller Güter aus dem Blick. Stattdessen sollten ikonoklastische Momente als „a calculated engagement with a culturally specific discourse of images at a particular historical moment“ (Flood 2002, S. 642) gedeutet werden. Damit wäre Ikonoklasmus als diskursive Taktik zu verstehen, die den Bruch mit einer alten und die Institutionalisierung einer neuen politischen Ordnung und Zeitlichkeit signalisieren soll (Flood 2016, S. 120). Horst Bredekamp geht in seiner Charakterisierung der Logik der Bilderpolitik von ISIS sogar noch einen Schritt

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weiter: Die Bilder von getöteten Menschen und zerstörten Kulturgütern werden nicht nach den begangenen Gewalttaten als Propagandamittel benutzt, sondern „vielmehr wurden Personen gedemütigt oder getötet (und Kunstwerke zerstört), um zu Bildern zu werden“ (Bredekamp 2016, S. 23, eigene Hervorhebung). Die Produktion und Rezeption von Bildern lassen sich also nicht mehr voneinander und von den Gewaltakten selbst trennen: Beides ist Teil einer großen Inszenierung. „The main purpose is the production of the show: What happens in it is indeed real, although completely staged“ (Harmanşah 2015, S. 175). Die Politik des Ikonoklasmus ist daher eine der Logik einer globalisierten Moderne folgende Form der Kommunikation (Flood 2002, S. 654; Harmanşah 2015, S. 176; Pfeifer und Reder 2017). Diese zeichnet sich durch ihre hochtechnologisierte Form der Mediatisierung und konsumorientierte Produktion von Bildern aus. Die so entstehenden Bilder sollten daher auch nicht, wie in der Presse oft üblich, als Dokumentation von oder objektive Information über die Zerstörung von Kulturgütern hingenommen werden, sondern stattdessen auf ihre bewusste Inszenierung für ein lokales wie globales Publikum hin befragt werden. Damit ist auch eine ethische Dimension des Verbreitens und Betrachtens der Gewaltbilder angesprochen, denn „the full efficacy of iconoclastic spectacles occurs in symbiotic relation to practices of circulation and viewing that underwrite the ability of images of destruction to ‘go viral’“ (Flood 2016, S. 123, eigene Hervorhebung). Die Bilder wenden sich damit nicht nur, aber auch gegen den „westlichen Blick“ (Bredekamp 2016, S. 27), der vor die Wahl gestellt ist, zum Komplizen in einer Bildermaschinerie zu werden, die ohne sein Zutun nicht funktioniert, oder sich dem Vorwurf der Gleichgültigkeit auszusetzen angesichts des Schreckens, den diese Bilder bezeugen. In der Tat konzentriert sich die westliche Wahrnehmung von ISIS auf die von der Organisation selbst verbreiteten Gewaltdarstellungen, obwohl diese nur einen marginalen Anteil an ihrer Gesamtkommunikation ausmachen (Zelin 2015; Siegel und Tucker 2018). Dabei wird zudem nicht jeder gezeigte Schrecken gleichermaßen wahrgenommen; Gewalt gegen die lokale Bevölkerung bleibt weniger sichtbar als beispielsweise gegen westliche Journalist*innen oder Soldat*innen der internationalen Koalition. Auch wenn – oder gerade weil – nicht alle Medienprodukte gleichermaßen aufgegriffen werden, hat ISIS mit seiner Kommunikation so den globalen Bilderraum hegemonialisiert und seine corporate identity als „EvilTM“ vermarktet (Rogers 2018): „(The) Islamic State has captured the imagination of a global public and positioned itself at the centre of contemporary security debates“ (Friis 2018, S. 244). Seit 2014 haben innerhalb der Global Coalition against Daesh 74 Staaten ISIS mit militärischen (Operation Inherent Resolve) und nicht-militärischen Mitteln den Kampf angesagt. Die Rechtfertigung der der Anwendung militärischer Mittel wurde diskursiv da-

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durch vorbereitet, dass die Gewalt von ISIS in westlichen Debatte als „barbarisch“, „unmenschlich“, „alles Bekannte übertreffend“ ausgewiesen wurde (Friis 2015). Dabei, so Simone Molin Friis, handele es sich weder bei den spezifischen Formen von Gewalt noch grundsätzlich bei ihrer öffentlichen Zurschaustellung um ein Novum – beides ist aus der Geschichte bereits bekannt. Neu sind jedoch der Grad der öffentlichen Sichtbarkeit und das globale Spektakel, das ISIS zu inszenieren in der Lage war. Drei Faktoren trugen hierzu bei (Friis 2018). Erstens bieten die neuen Mittel der Technologie die Möglichkeit, die Verteilung von Bildern und Videos zu kontrollieren und so eine Gegenautorität zu klassischen Medien aufzubauen. Auch hinsichtlich der Produktion seiner Videos und Bilder macht ISIS sich neueste Technologie auf Industriestandard zunutze (Harmon und Bowdish 2018, S. 209–213). Die so ermöglichte komplexe Sequenzierung erlaubt es ISIS, seine visuellen Produkte in „a larger narrative and iconography“ (Friis 2018, S. 254) einzubetten. So werden Gewaltdarstellungen in den Kontext größerer, oft romantischer Erzählungen über das Kalifat gestellt, um dadurch die neue sozio-­ politische Ordnung zu legitimieren (Pfeifer und Spencer 2019). ISIS’ Visualisierungen von Gewalt sind daher zweitens immer auch als politische Akte zu verstehen (Friis 2015). Dabei spielt die Asymmetrie der Konfliktparteien der Kriege in Syrien und im Irak eine Rolle: ISIS ist militärisch in vielen Hinsichten dem Westen unterlegen, und auch dem syrischen Staat. Allerdings steht ihm die Möglichkeit zur Verfügung, diesen Nachteil durch inszenierte Gewaltakte auszugleichen, denn diese stellen die Macht der souveränen Staaten gleichermaßen in Frage, etwa wenn sie ihre eigenen Bürger*innen nicht davor schützen können, Teil der Gewaltinszenierungen zu werden. Damit greift ISIS die bestehende staatliche Ordnung an und inszeniert sich gleichzeitig als eine alternative, bereits im Kommen befindliche Ordnung, etwa wenn Enthauptungen vor einer Reihe von uniform gekleideten „Soldaten“ stattfinden und somit das Vorhandensein einer (Quasi-) Staatlichkeit suggerieren (Pfeifer und Reder 2017). Drittens überschreiten die Taten von ISIS bewusst das, was sie als für ein Zielpublikum mutmaßlich akzeptable Formen von Gewalt unterstellen. Diese Standards sind historisch kontingent: Zu unterschiedlichen Zeitpunkten – und in unterschiedlichen Kulturkreisen – herrschen verschiedene Gewaltordnungen und -diskurse, die bestimmte Formen der Gewalt als unmoralisch, barbarisch oder unmenschlich ausweisen, gleichzeitig jedoch die Legitimität anderer Arten der Gewaltanwendung betonen. ISIS macht sich dies zunutze: „[It] transgresses contemporary sensibilities and violates prevailing discourses of law and morality“ (Friis 2018, S. 256). Dies gilt für Gewalt gegen Menschen ebenso wie für die Zerstörung von Kulturgütern, wie wir unten argumentieren werden. Die ständige Wiederholung von Gewalt in den vorherigen Akt jeweils übertreffenden Formen

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führt in ein Anerkennungsspiel, in dem ISIS das Bild des absolut Bösen als Rolle anbietet und nur durch die Überschreitung immer neuer Grenzen aufrecht erhalten kann. Damit wird gleichsam westliche Gegengewalt legitimiert, erscheint die westlich geführte Koalition gegen ISIS doch als Allianz rechtschaffener Kämpfer*innen gegen dieses Böse (Rogers 2018). Die Rolle des ultimativen Schurken ist jedoch nicht die einzige, die ISIS anbietet, wenn sie auch im globalen Diskurs dominant ist. Die Welt ist klar antagonistisch organisiert: Es gibt legitime und abtrünnige Regime, Freund*innen und Feinde. Neben der Abgrenzung gegen den Anderen entwickelt ISIS auch eine positive Identität. Damit verbunden ist, dass ISIS zwar die Zustände als ungerecht denunziert, gleichzeitig jedoch Handlungsmacht betont und damit zu mobilisieren sucht. Die Organisation schürt Feindseligkeit, muss aber auch ein Zusammengehörigkeitsgefühl herstellen (Harmon und Bowdish 2018, S. 222). Die selektive Wahrnehmung der ISIS-Kommunikation im globalen Diskurs, welche sie auf Gewaltdarstellungen (nicht gegen die lokale Bevölkerung, sondern Externe) reduziert, macht andere Formen der Gewalt nahezu unsichtbar und etabliert eine Hierarchie unter ihnen. Neben den lokalen Opfern der Gewalt von ISIS, die eine deutlich geringere Aufmerksamkeit erfahren, zählen zu den weniger sichtbaren Täter*innen andere nicht-staatliche Akteur*innen, vor allem jedoch externe Intervent*innen. Insbesondere die an der Operation Inherent Resolve beteiligten Staaten werden kaum als Urheber von Zerstörung und Verantwortliche für Opfer gezeigt. Das Konzept von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit bedarf einer weiteren Klärung. Denn, so paradox es erscheinen mag, oftmals ist das Unsichtbare mächtiger als das Sichtbare, wie J. W. T. Mitchell argumentierte: „This is a principle well established in horror films, where it is crucial to withhold visual access to the monster, to keep it hidden in darkness for as long as possible, delaying its visible appearance for the right moment of shock and recognition“ (Mitchell 2011, S. 84). Indem es die Vorstellungskraft aktiviert, kann das Unsichtbare oder das Nicht-Zeigen also eine mächtige Praxis sein, die allerdings nur unter der Bedingung einer entsprechenden Sozialisation funktioniert (Andersen und Möller 2013, S. 206–207): Nur weil die Erwartungen und Ängste der Zuschauer*innen auf eine bestimmte Art strukturiert sind, kann das Unsichtbare seine Wirkung entfalten. Umgekehrt bedeutet dies, dass das gezielte Zeigen und Nicht-Zeigen z. B. von Gewalt erst dann strategischen Wert entfalten kann, wenn die Sehgewohnheiten des Zielpublikums eines Videos bekannt sind. Im folgenden Teil stellen wir zwei maximal kontrastierende, von ISIS produzierte und verteilte Gewaltinszenierungen gegen Kulturgüter einander gegenüber, um die Dynamiken von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit sowie Hierarchien von Gewalt und Kultur herauszuarbeiten, wie sie in den Visualisierungen angelegt sind.

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ISIS’ Kommunikation gewinnt ihren strategischen Wert erst dadurch, so zeigen wir, dass die Organisation geschickt das Zielpublikum und seine zu erwartenden Reaktionen analysiert. Im ersten Fall, der Teilzerstörung der antiken Stätten von Palmyra, war dies ein zunehmend eskalierender Sicherheitsdiskurs auf globaler Ebene, der die Anwendung militärischer Mittel zum Schutze von Hochkultur rechtfertigte. Im zweiten Fall, der vollständigen Zerstörung eines sog. ‚Moses-Baumes‘ im syrisch-irakischen Grenzgebiet, der in den religiösen Praktiken und im Alltag der Bevölkerung verankert war, gab es keine Reaktionen auf der globalen Ebene – und gerade dadurch entfaltete das aufwendig produzierte Video seine strategische Wirkung für ISIS. Zum zweiten tragen beide Formen der Kommunikation zur Konsolidierung eines Rollenbildes bei, das ISIS sowohl als mächtigen Gegner einer westlich dominierten Weltordnung stilisiert als auch als politische Alternative präsentiert, deren religiöser Puritanismus in eine bessere Ordnung führt.

4

ISIS’ Visualisierung von Kulturgüterzerstörungen und der (nicht immer) globale Bilddiskurs

Um ISIS’ Visualisierungsstrategien von Kulturgüterzerstörungen im Kontext eines globalen Kultur- und Sicherheitsdiskurses zu verstehen, ist eine Gegenüberstellung von sehr unterschiedlichen Fällen sinnvoll: Durch die maximalen Kontrastfälle wird das gesamte Spektrum visueller Strategien sichtbar, was die Interpretation für dritte Fälle verwertbar macht; gleichzeitig heben die Unterschiede zwischen den Fällen erst ihre Charakteristika hervor und erlauben so eine tiefergehende Analyse (Müller 2012). Die Fälle kontrastieren hinsichtlich mehrerer Dimensionen (Tabelle 1). Dies gilt zunächst in Bezug auf den dargestellten Inhalt, d. i. (1) die angegriffenen Kulturgüter und (2) die Art der Zerstörung. Aber auch hinsichtlich der (3) Art der Medien und deren (4) Visualisierungs- und Verbreitungsstrategie bestehen große Unterschiede. Schließlich sprechen die beiden Visualisierungen sowohl (5) unterschiedliche Diskurse als auch (6) Publika an. Die (7) Rezeption der beiden Inszenierungen divergiert ebenfalls stark.

ISIS und die Inszenierung von Kulturgüterzerstörung … Tab. 1

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Kontrastdimensionen der beiden Fälle Palmyra

Moses-Baum

(1) Dargestellte Artefakte

Tempelbauten, Statuen

(2) Art der Zerstörung

Sprengung, Bulldozern, Zerschlagen Serien von Fotos, schlechte Qualität, Darstellung abstrakt und unklar Zeigen/Nicht-Zeigen, Zerstörung in mehreren „Akten“, Fragmentierung (Hoch-) Kultur, Sicherheit, Universalismus Global

Baum mit angeknoteten Schleifen Verbrennen, Ausreißen, Zerschlagen Video, eher aufwändig hergestellt, Darstellung konkret und explizit Explizite Darstellung, einmaliges Ereignis, abgeschlossenes Video Natur, religiöse Identität, Partikularismus Lokal

Breit, global, regional und lokal

Gering, selbst durch lokale Medien

(3) Veröffentlichte Medien (4) Visualisierungsstrategie (5) Angesprochene Diskurse (6) Angezieltes Publikum (7) Rezeption

Entsprechend dieser Differenzen wurden beide Materialien auf unterschiedliche Weise analysiert. Weil für den Palmyra-Fall das Wechselspiel von Gezeigtem und Nicht-Gezeigtem sowie die Dynamik globaler Reaktionen zentral sind, rekonstruierten wir die Abfolge von Bildbeiträgen zu einem globalen Bilderdiskurs über Palmyra und dessen (potentielle) Zerstörung. Die in Palmyra über einen Zeitraum von mehreren Monaten im Jahr 2015 vorgenommenen Zerstörungen sind fest in das diskursive Zusammenspiel mehrerer Akteur*innen eingebettet und erfuhren einen starken Widerhall in internationalen Medien. Aus der Perspektive von ISIS folgt die Strategie der Logik des Nicht-Zeigens und des Schreckens des Unsichtbaren. Im Unterschied dazu ist die Zerstörung eines Baumes im syrisch-irakischen Grenzgebiet weitgehend unbeachtet geblieben und hat auch in lokalen Medien kaum Resonanz erzeugt. Im Gegensatz zum ersten Fall ist über den diskursiven Kontext des Videos wenig bekannt, d. h. weder über die Rezeption noch die mit dem Baum verbundenen sozialen Praktiken. Das Video ist jedoch aufwändig produziert und präsentiert ein kohärentes, abgeschlossenes Narrativ der Purifizierung, das unterschiedliche Tropen aufgreift. Als das einzige Artefakt dieser ikonoklastischen Aktion wird das Video daher mithilfe eines hermeneutisch-rekonstruktiven Verfahrens der Videoanalyse untersucht und insbesondere auf die symbolische Bedeutung der Darstellung fokussiert.

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4.1

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Palmyra – Sichtbares und Unsichtbares, Hochkultur und Sicherheit

Die Einnahme der Stadt Tadmur (arabischer Name der modernen Stadt neben den historischen Stätten Palmyras) im Mai 2015 versetzte die globale Medienwelt in einen Zustand der Aufregung.10 ISIS hatte zum ersten Mal eine größere Stadt in direkter Auseinandersetzung mit dem Militär des Assad-Regimes erobert, die zudem ein weithin bekanntes wie gefürchtetes Militärgefängnis für politische Gefangene beherbergte und deshalb ein Symbol des Regimes war. Neben dem wegen der sie umgebenden Gasfelder sowie ihrer Lage nicht zu unterschätzenden strategischen Wert der Stadt Tadmur (Clapperton et al. 2017) beherbergt Palmyra eine Vielzahl historischer Stätten, die 1980 in den Katalog des UNESCO Weltkulturerbes aufgenommen wurden. Im 1. Jahrhundert gelangte die Oasenstadt unter römische Herrschaft und entwickelte sich fortan zu einem wichtigen kulturellen Zentrum, das römisch-griechische Techniken mit lokalen und persischen Einflüssen in seiner Architektur und Kunst verband. Besondere Bekanntheit erlangte der Baal-Tempel aus dem 1. Jahrhundert.11 Bereits vor der Einnahme der Stadt durch ISIS gab es intensive, teils aufgewühlte Berichterstattung über die Gefechte um Tadmur. Es wurde angstvoll spekuliert, dass ISIS die Ruinen in ähnlicher Weise zerstören und dies für seine Propaganda nutzen würde, wie dies bereits zuvor mit antiken Stätten und Museen im Irak geschehen war.12 Allerdings bewahrheitete sich die Befürchtung nicht, „that Islamic State would upon capturing Palmyra simply flatten the city“ (Clapperton et al. 2017, S. 1217). Die antiken Stätten wurden zwar mit Minen ausgelegt, so dass ISIS sie jederzeit hätte sprengen können. Dies geschah jedoch zunächst nicht – und auch die visuelle Strategie von ISIS unterschied sich deutlich von dem, was Expert*innen auf Grund der Erfahrungen mit den Zerstörungsvideos aus dem Irak erwartet hatten. Am 21. Mai 2015 eroberte ISIS Palmyra. Sechs Tage später veröffentlichte die ISIS „Nachrichtenagentur“ Aʿmāq ein Video, welches über knapp eineinhalb Minuten unkommentiert unterschiedliche Aufnahmen der augenscheinlich intakten antiken 10 Aus Platzgründen gehen wir hier nur auf die erste Eroberung Palmyras ein. Im März 2016 gelang es der syrischen Armee mit russischer Unterstützung, Palmyra zurück zu erobern. Allerdings nahm ISIS die Stadt schon im Dezember 2016 wieder ein und zerstörte im Januar 2017 weitere wichtige Monumente, darunter Teile des Amphitheaters. 11 https://whc.unesco.org/en/list/23, abgerufen am 16. Oktober 2019. 12 http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-05/is-syrien-palmyra-weltkulturerbe; http:// www.zeit.de/politik/ausland/2015-05/islamischer-staat-eroberung-palmyra; https:// www.theguardian.com/world/2015/may/20/syrian-city-of-palmyra-falls-under-controlof-isis, abgerufen am 16. Oktober 2019.

ISIS und die Inszenierung von Kulturgüterzerstörung …

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Stätten zeigt (Bild 1 in Sequenz 1).13 Bereits am 2. Juli gab es Berichte über in Aleppo stattfindende Zerstörungen von Statuen aus Palmyra, die auf Grund der nahenden Einnahme der Stadt bereits in sicherere Gebiete transportiert werden sollten, sowie über beträchtliche Schäden an berühmten al-Lāt-Löwenstatue aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. am Eingang Palmyras.14 Die Zerstörung der aufgegriffenen Statuen in Aleppo wurde in einer Reihe von undeutlichen Fotos – die einzelnen Artefakte sind nicht zu erkennen – als eine Art Diashow montiert verbreitet.15 Am 5. Juli 2015 erschien ein Video in den sozialen Netzwerken, das die Hinrichtung von 25 Soldaten des Assad-Regimes zeigt. Die Standbilder dieser Szene sind berühmt geworden (Bredekamp 2016), auch weil sie nach wie vor verfügbar sind, während das brutale Tötungsvideo von den meisten Plattformen entfernt wurde (Bild 2 in Sequenz 1).16 ISIS nutzte das Amphitheater als Kulisse für seine Hinrichtungsinszenierungen; im Video wird deutlich, dass die Ränge mit Zuschauer*innen gefüllt sind. Etwa einen Monat später erschien ein weiteres Hinrichtungsvideo, in dem zwei deutschsprachige ISIS-Kämpfer, Muḥammad Maḥmūd und Yamīn Abū Zand, zwei weitere Männer, vorgeblich syrische Soldaten, vor den Ruinen Palmyras hinrichten.17 Am 18. August 2015 wurde Khālid al-Asaad, Chef-Archäologe der Stätten in Palmyra, getötet. Fünf Tage später gab es erste Zeugenberichte der Sprengung des Baal-Shamin-Tempels, den ISIS bereits im Juni vermint hatte.18 In unmittelbarer Reaktion auf die Berichte des Direktors der syrischen Antikenverwaltung Maʿmūn ʿAbdulkarīm, verurteilte Irina Bokova die Sprengung als „war crime“. Zudem wurden von unterschiedlichen Seiten Befürchtungen formuliert, der Baal-Tempel könnte das nächste Angriffsziel werden.19 Erst einen Tag später, also am 25. August 2015 erschienen in den sozialen Medien auch fünf von ISIS verbreitete Bilder (Bild 3 in 13 https://www.channel4.com/news/palmyra-islamic-state-video-ancient-city-ruins-damage; https://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/islamic-state/11631387/Isil-video-purportedly-shows-undamaged-historic-ruins-of-Palmyra.html, abgerufen am 16. Oktober 2019. 14 https://www.theguardian.com/world/2015/jul/02/isis-militants-destroy-palmyra-stone-lion-al-lat, abgerufen am 16. Oktober 2019. 15 https://www.channel4.com/news/palmyra-statues-destroyed-by-isis-militants, abgerufen am 16. Oktober 2019. 16 http://english.alarabiya.net/en/News/middle-east/2015/07/04/ISIS-teens-execute-25soldiers-in-Syria-s-Palmyra-.html, abgerufen am 16. Oktober 2019. 17 Wilayat Hims Medienbüro: Der Tourismus dieser Ummah 2015. 18 https://www.theguardian.com/world/2015/aug/23/isis-blows-up-temple-dating-backto-17ad-in-unesco-listed-syrian-city, abgerufen am 16. Oktober 2019. 19 https://www.theguardian.com/world/2015/aug/24/palmyra-destruction-ancient-temple-baal-shamin-war-crime-un-isis, abgerufen am 16. Oktober 2019.

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Sequenz 1). Diese zeigten (a) in einem Raum mit altem Mauerwerk angebrachte Sprengladungen, (b) Kämpfer, die Sprengladungen in diesen Raum tragen, (c) die Außenmauern des Baal-Shamin-Tempels mit bereits angebrachten Sprengladungen, (d) die mutmaßliche Sprengung selbst und (e) das Gelände nach der Sprengung.20 ISIS ließ hier eine Leerstelle, die nicht nur die Spekulationen und Schreckensgefühle vergrößerte. Sie provozierte auch die Produktion von Bildern durch andere Akteur*innen. Erst Aufnahmen von UNOSAT, dem Operational Satellite Applications Programme des Ausbildungs- und Forschungsinstituts der Vereinten Nationen, bestätigten die Sprengung des Baal-Shamin-Tempels.21 Am 1. September gingen auch Satellitenbilder des Baal-Tempel-Geländes um die Welt, die massive Schäden durch Sprengungen zeigten; die Satellitenbilder wurden zu den am weitesten verbreiteten Bildern der Zerstörung in den westlichen Medien (Bilder 4 und 5 in Sequenz 1).22 Am 9. September 2015 wurde die Ausgabe 11 des Magazins Dābiq veröffentlicht

Sequenz 1: (1) Ausschnitte aus dem ISIS-Video des intakten Baal-Tempels aus dem 1. Jahrhundert, (2) Standbild aus dem Video der Hinrichtung von 25 syrischen Soldaten im antiken Amphitheater von Palmyra, (3) Bild von angeblich in Palmyra angebrachten Sprengladungen, (4) Airbus Defense and Space Image Satellitenaufnahme der Ruinen des Baal-Shamin-Tempels, (5) UrtheCast Satellitenaufnahme der Ruinen des Baal-Tempels, (6)&(7) Doppelseite aus der Ausgabe 11 des Magazins Dābiq mit Bildern der Zerstörung des Baal-Shamin-Tempels und des Baal-Tempels. 20 Hier abgebildet ist lediglich Bild (b). https://www.theguardian.com/world/2015/aug/25/ islamic-state-images-destruction-palmyra-temple-baal-shamin-isis, abgerufen am 16. Oktober 2019. 21  http://2030agenda.unitar.org/unosat-confirms-destruction-palmyra-temples-syria, abgerufen am 16. Oktober 2019. 22 http://2030agenda.unitar.org/unosat-confirms-destruction-palmyra-temples-syria, abgerufen am 16. Oktober 2019.

ISIS und die Inszenierung von Kulturgüterzerstörung …

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und enthielt jeweils eine Seite von Aufnahmen der Zerstörung des Baal-Shamin-Tempels – teilweise mit denselben Bildern, die zuvor bereits zirkuliert worden waren – und des Baal-Tempels (Bilder 6 und 7 in Serie 1). Der Fokus beider Bilderserien lag auf dem – militärischen – Motiv der Sprengung. Was an der Visualisierung der (Teil-) Zerstörung durch ISIS auffällt, ist, dass relativ wenig und qualitativ eher einfaches Material veröffentlicht wurde. Es gab keine „Hollywood-Inszenierungen“ (Dauber und Robinson 2015) der Zerstörungen, wie sie sonst so typisch für ISIS sind, wenn es um Videos geht, die an ein globales Publikum gerichtet sind. Die Wahl einer anderen Mediatisierungsstrategie ist deutungswürdig, nicht zuletzt weil gerade der Angriff von Stätten wie Palmyra besonders gut hätte ausgenutzt werden können: Ein Überfall auf Weltkulturerbe wird gleichsam als Attacke gegen universalisierte Wertvorstellungen gedeutet. Paradoxerweise kann gerade der Status des Weltkulturerbes fatale Konsequenzen für das zu schützende Objekt nach sich ziehen, erhöht er doch die Sichtbarkeit, das Potential, internationale Aufmerksamkeit zu erregen, und den ökonomischen wie symbolischen Wert eines Kulturgutes (Flood 2016, S. 122). Die Medien, aber auch Politiker*innen und Wissenschaftler*innen, betonten, dass der Bildersturm von ISIS und mehr als alles andere die Teilzerstörung der antiken Stätten von Palmyra als Bekämpfung der Idee von Toleranz und kultureller Diversität zu verstehen sei (Bredekamp 2016, S. 17–18; Russo und Giusti 2017, S. 6). Warum also die Zurückhaltung in der Bildsprache, wenn in ihr so viel Macht liegt, den Anderen zu demontieren? Die Medienberichterstattung bereits während des Vormarsches von ISIS auf eine Stätte des kulturellen Erbes erhöhte nicht nur Alarmbereitschaft bei internationalen Akteur*innen, sondern auch die Anreize, der Stätte tatsächlich Schaden zuzufügen: Die ganze Welt blickte bereits in schreckender Erwartung auf den Ort des Geschehens und der Werbeeffekt einer (Teil-) Zerstörung war somit abgesichert (Flood 2016, S. 123). Im Fall von Palmyra ging dies so weit, dass die Medien und die internationale Gemeinschaft geradezu antizipierten, welcher Angriff als nächstes erfolgen würde. Gleichzeitig jedoch gab es keine gesicherten Informationen dazu, was nun wirklich zerstört worden war: ISIS ließ die Welt in Unsicherheit darüber, was tatsächlich geschehen war – und entsprechend viel Raum für Phantasie. In einer Situation, in der entscheidende Akteur*innen bereits securitising moves vollzogen hatten und der Diskurs sich immer mehr in Richtung Versicherheitlichung entwickelte, hatte das Nicht-Zeigen vielleicht sogar größere Effekte als explizite Videos, welche die Zerstörung „dokumentiert“ hätten. Der oben beschriebene „Horrorfilm-Effekt“ konnte hier zum Tragen kommen, hatte ISIS doch selbst die Weltgemeinschaft in eine Erwartungshaltung hineinsozialisiert: Auf Grund der Präzedenzfälle – etwa der Zerstörung des irakischen Nationalmuseums in Mossul – rechneten Beobachter*innen

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damit, dass jederzeit Inszenierungen der Zerstörung Palmyras auftauchen würden. Die wenigen Bilder, die ISIS selbst verbreitete, gaben jedoch keinerlei Aufschluss über das Ausmaß der Zerstörung und die genauen Schäden an Bauten und Objekten – allerdings zielten sie mit der Darstellung von Sprengungen und Verminungen auf eine Sicherheitslogik (Clapperton et al. 2017). Erst die Satellitenbilder von UNOSAT und später fact finding missions der UNESCO gaben letztlich Aufschluss darüber. Das Nicht-Zeigen, so könnte man schließen, ist Teil einer Bildstrategie, die für den Fall Palmyra auf einen globalen Diskurs von Hochkultur setzt: Das Interesse am Weltkulturerbe ist groß genug, dass die Weltgemeinschaft sich die „Dokumentation“ des Geschehenen selbst besorgt und die Lücken füllt. Dass diese (bewusste) Leerstelle in der visuellen Kommunikation von ISIS weiter zur Versicherheitlichung von Kulturgütern beitrug, hat zwei paradoxe Effekte. Erstens führt der Sicherheitsdiskurs tendenziell zu einer weiteren Militarisierung des Konfliktes und damit potenziell zu mehr Kollateralschäden. So ist Palmyra ein solch symbolischer Ort, dass sowohl die Weltgemeinschaft als auch das syrische Regime mit seinen Alliierten, insbesondere Russland, ein hohes Interesse an seiner „Befreiung“ hatten. Dies führte zu einer weiteren Eskalation der Kämpfe um Palmyra und zu weiteren Schäden, die im Zuge dessen – gerade durch russische Luftschläge – den Stätten zugefügt wurden (Russo und Giusti 2017). Zweitens muss die globale Aufregung um Palmyra in den Augen der Bevölkerung, die Opfer des Kriegsgeschehens geworden ist, in einigen Hinsichten zynisch wirken. ISIS spielt bewusst mit dem universalen Anspruch des „Weltkulturerbes“ – aber auch der Menschenrechte – einerseits und einer offensichtlich ambivalenten bis heuchlerischen Praxis der „besorgten“ Weltgemeinschaft andererseits. Wie Finbarr Barry Flood bereits für die Zerstörung der Statuen von Bamiyan konstatierte, ist es gerade der globale Aufschrei über die Zerstörung bestimmte Kulturgüter, der vor dem Hintergrund menschlichen Leidens und dessen Nichtverhinderung bei der lokalen Bevölkerung als zynisch erscheinen muss (Flood 2002, S. 653). Ähnlich gut ideologisch genutzt werden kann die Doppelzüngigkeit westlicher Akteur*innen, die mit Entsetzen auf die bebilderten Gräueltaten von ISIS reagieren, während ähnliche, für die globale Öffentlichkeit weithin unsichtbare, aber nicht unbekannte Praktiken, die sich im Irak, Syrien und bspw. Saudi-Arabien gegen lokal bedeutsame Kulturgüter richten, für weit weniger Gemütsregung sorgen. Dass ISIS die intakte Kulisse Palmyras für mehrfache Hinrichtungen – diese wiederum in höchster Qualität abgefilmt – nutzte, treibt diese Logik auf die Spitze: Dass es gerade die Teilzerstörungen der antiken Stätten sind, die Rufe nach Schutz und einem beherzteren Eingreifen globaler Sicherheitsakteur*innen lauter werden lassen, obwohl Zeugnisse einer kurz zuvor vollzogenen Massenhinrichtung an eben jenem Ort vorliegen, erscheint geradezu grotesk.

ISIS und die Inszenierung von Kulturgüterzerstörung …

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Zudem, und dies leitet über zum zweiten hier untersuchten Fall, wird am globalen (Bild-) Diskurs das Ungleichgewicht der Aufmerksamkeit für die unterschiedlichen Aspekte des Konfliktgeschehens deutlich. Ähnlich wie die meisten Opfer von ISIS Muslime aus der Region sind, diese jedoch individuell deutlich weniger mediale Aufmerksamkeit erfahren als westliche Opfer oder Anschlagsziele, ist auch die Mehrzahl der Zerstörungen gegen islamisches Kulturerbe gerichtet – trotzdem steht auf globaler Ebene die Zerstörung antiker Kulturgüter im Vordergrund (De Cesari 2015, S. 23). Gerade für lokale und regionale religiöse Praktiken sind jedoch die Zerstörungen von Moscheen, Gräbern und anderen Stätten mindestens ebenso entscheidend. Die implizite Hierarchie in der Bewertung von Gewalt gegen kulturelle Stätten macht bestimmte Formen der Zerstörung und gerade Angriffe gegen Weltkulturerbe über-sichtbar, während andere Gewaltakte tendenziell unsichtbar bleiben, so etwa die Zerstörung von Kulturgut als „Kollateralschäden“, über die so gut wie nie berichtet wird, oder Angriffe auf lokal bedeutsame Artefakte.

4.2

‚Moses-Baum‘ – globale Marginalität und lokale Zentralität, religiöse Purifizierung und staatliche Ordnungsbildung

Wenig Aufruhr hat beispielsweise die Veröffentlichung des Videos verursacht, das unseren zweiten Fall darstellt. Es kontrastiert stark mit den in Palmyra inszenierten Zerstörungen. Es handelt sich hier um die Fällung und teilweise Verbrennung eines Baumes, der von lokalen Bevölkerungen im Grenzgebiet zwischen Syrien und Irak für religiöse Praktiken genutzt wurde (Sequenz 2).

Sequenz 2: Screenshots aus Video Izāla shajara al-Mūsā

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Das Video, das eine Spielzeit von 03:42 Minuten hat und im August 2015 veröffentlicht wurde, trägt den Titel „Beseitigung des Moses-Baums (ein polytheistischer Schrein)“ [izāla šaǧara al-Mūsā (mazār širkī)].23 Die Anfangssequenz des Videos kompiliert in einer Art Vorschau auf das später Gezeigte: Aufnahmen verschiedener farbiger Stoffbändchen, die an die Äste des Baumes geknotet sind, sowie Aufnahmen eines Mannes in einer Interviewsituation und eine kurze Einblendung der Schaufel eines fahrenden Radladers. Unterlegt werden diese Kameraeinstellungen von der ersten Strophe eines Acapella-Gesangs (našīd), der in verschiedenen Videos von ISIS zur Untermalung der Zerstörung materieller Manifestationen devianter religiöser Praktiken eingesetzt wird: Geebnet ist der Weg und nicht mehr geächtet Drum wähle nun, was strahlend Du erblickst Geebnet ist der Weg und nicht mehr geächtet Drum wähle nun, was strahlend Du erblickst Was mich angeht, so stütze ich mich auf einen Staat, der für uns ein Licht in der Finsternis erweckt hat24 In der zweiten Sequenz fokussiert die Kamera auf einen Sprecher mit Mikrofon, der im Schatten des Baumes steht und von einer kleinen Gruppe von Männern unterschiedlichen Alters eingerahmt ist. Der Sprecher wendet sich an das anwesende Publikum und blickt nicht direkt in die Kamera. Er zitiert zwei Verse aus dem Koran25 und belehrt dann das anwesende (und medial vermittelte) Publikum darüber, dass man sich nur zu einem, im weiteren Verlauf des Videos zu konkretisierenden Zweck an diesem Ort versammelt habe. Darauf folgt ein Schnitt und die Kamera nimmt wiederum ein schwarzes Stoffbändchen in den Blick, das an einem Zweig des Baums festgeknotet wurde. Im ‚off‘ wird bereits die Tonspur der oben bereits angedeuteten Interviewsituation eingespielt und diese dann auch für die Zuschauer*innen sichtbar gemacht. Der Interviewte gibt ebenso wie ein zweiter Mann Auskunft darüber, dass die Stoffbänder zur Erfüllung von Wünschen an den Baum angebracht wurden.26

23 Al-Furāt Media, 2015, Izāla šajǧra al-Mūsā (mazār širkī). 24 Übers. d. Aut. 25 {Dient Gott, und gesellt ihm nichts bei!} (4:36); {Ich schuf die Dschinne und die Menschen nur, damit sie mir dienen} (51:56). 26 Zu dieser alten, in der Region vereinzelt vorfindlichen Praxis siehe Grehan (2014, S. 134–138).

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In der folgenden Sequenz ist wiederum die erste Strophe des o. g. našīd zu hören, während der Radlader dabei gezeigt wird, wie er mit seiner Schaufel die Wurzeln des Baums aus der Erde reißt und diesen damit zu Fall bringt. Der gefällte Baum wird sodann von mehreren maskierten Männern entastet. Wir können aus der Darstellung des Baums im Video wenige Rückschlüsse auf die konkrete religiöse Praxis ziehen. Die Zuschauer*innen bekommen jedoch durch den Fokus der Kamera auf die an die Äste des Baums gehängten Stofffetzen sowie die Erklärung eines ‚Zuschauers‘, dass diese zur Erfüllung von Wünschen in den Baum gehängt worden seien, Hinweise auf die Art und den Charakter der religiösen Praxis. An erster Stelle steht hier die Stätte der religiösen Praxis: Bäume besitzen ohne Zweifel auf der gesamten Welt eine hohe religiöse Symbolkraft. Sie unterstreichen den heiligen Charakter bestimmter Plätze durch ihre lebensbekräftigende Ausstrahlung, werden als Teile von Heiligengräbern angesehen (Grehan 2014, S. 134–138) oder sind selbst Objekte der Verehrung. Bäume sind gerade in ariden Landschaften häufig über weite Entfernungen hin sichtbar und dienen damit auch als geographische Orientierungspunkte. Ein einzelnstehender Baum erfüllt somit nicht nur gemeinschaftserhaltende Funktionen für die in direkter Nähe lebenden Menschen, da er schattenspendender Ort für Versammlungen, Streitschlichtungen und andere gemeinschaftlich relevante Aktivitäten ist. Er kann durch seine in der Landschaft herausgehobene Position in besonderer Weise zum Kristallisationspunkt von Erwartungen werden, die religiöse Rituale mit der Lösung von alltäglichen Problemen verknüpfen. Die Praxis, Stoffbänder an Bäumen anzubringen, ist keineswegs auf solch einzelnstehende Bäume beschränkt, mag jedoch gerade hier eine besondere Anziehungskraft symbolisieren, besonders wenn ein solcher Baum als Pilgerstätte von Menschen aus umliegenden Gemeinden aufgesucht wird. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die genannte Praxis in sehr vielen Kulturkreisen zu beobachten und in mannigfaltige Formen religiöser Rituale eingebettet ist. Mit Blick auf die Aussagen der ‚Zeugen‘ im Video, dass die Stoffbänder zur Erfüllung von Wünschen in den gezeigten Baum gehängt worden seien, kann man vermuten, dass die Gläubigen durch das ‚Opfern‘ eines Teils ihrer Kleidung eine enge Verbindung mit dem besagten Objekt und/oder Gott herstellen wollten (Dafni 2002). Während diese Aufnahme verschwimmt, wird der Text eines ḥadīth eingeblendet und von einem Sprecher aus dem ‚off‘ verlesen: „Von Abū Wāqid al-Layṭī (r.a.a.) ist folgendes überliefert: Sie [die ṣaḥāba] zogen mit dem Gesandten (s.a.s.) von Mekka in Richtung Ḥunayn. (Auf dem Weg sahen wir, dass) die Ungläubigen einen Zürgel-/Lotosbaum (sidra) hatten, genannt Dhāt (al-) Anwāṭ (der von den herabhängenden Dingen), unter dem sie rasteten und an den sie ihre Waffen hängten. Als wir daran vorbeikamen, sagten wir ‚Oh Gesandter Gottes,

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mach uns einen Dhāt (al-) Anwāṭ wie sie einen haben.‘ Der Gesandte Gottes (s.a.s.) antwortete ‚Bei demjenigen, in dessen Hand meine Seele ist! Ihr habt gesprochen wie das Volk (die Stämme Israel) zu Moses sprachen: ‚Mach uns einen Gott (einen Anzubetenden), so wie sie Götter haben.‘ Er antwortete: ‚Wahrlich, Ihr seid ignorantes (taǧhalūn) Volk‘‘ (7:138).“

Daraufhin wird die Kameraperspektive wieder scharf gestellt und die zweite Strophe des našīd ist zu hören, während die Männer mit Kanistern am Baum hantieren. In der folgenden Sequenz zeigt die Kamera die ausgerissenen Wurzeln des Baums und das Anzünden desselben, während aus dem ‚off‘ ein Zusammenschnitt aus einer Rede des mittlerweile getöteten offiziellen Sprechers des Islamischen Staates, Abū Muḥammad al-ʿAdnānī aus dem März 2015 zu hören ist, in der dieser für das ISIS-Kalifat in Anspruch nimmt, dass es auf dessen Boden keinen Götzendienst und keine Götzen gebe.27 Abschließend bezeugen zwei weitere männliche Personen die Bedeutung des Baumes als Stätte heterodoxer religiöser Praktiken, bevor die Verbrennung des Baumes in einer längeren Sequenz gezeigt wird – abermals untermalt vom o. g. našīd. Im Gegensatz zu der Bildsprache im Fall Palmyra handelt es sich hier um eine ganz klare und explizite Darstellung der Zerstörung eines mit konkreten kulturellen Praktiken verbundenen und damit zum Artefakt gewordenen Baumes. ISIS tritt so als Lehrmeister in Erscheinung, der die moralische und religiöse Ordnung im neu geschaffenen Staat herstellt und absichert. Zwar ist klar, dass die ISIS-Vertreter die anwesende Bevölkerung belehren, jedoch erscheinen sie gleichzeitig als Teil derselben; sie stehen unter ihnen und erläutern, was geschehen wird. Und die Anwesenden lassen sich willig „bekehren“; sie sind einsichtig und werden so zum Teil der neuen Ordnung. Der strategische Wert der Zerstörung für ISIS leitet sich also aus der Bedeutung des konkreten Artefakts für die lokale Gemeinschaft ab. Dass das Video für die Zerstörung eines lokal bedeutsamen Baumes mit einem derartigen Aufwand hergestellt wurde, ist eine deutliche Anerkennung der Relevanz des Lokalen: Nicht nur die Symbole des westlichen Feindes müssen beseitigt werden, sondern auch und vor allem die in alltägliche Praktiken eingebundenen Kulturgüter. Diese Form der Mediatisierung vermittelt dem Anliegen der religiösen Purifizierung deshalb ein hohes Maß an Seriosität und Glaubwürdigkeit und nimmt gleichzeitig die lokale Bevölkerung ernst. Dies stellt den Kontrast zu der einseitigen globalen Aufmerksamkeit für nach westlichen Maßstäben als Hochkultur bewerteten Stätten besonders deutlich heraus: Niemand berichtete über das Video der Zerstörung des sog. ‚Moses-Baumes‘. Die Zerstörung eines solchen Kulturgutes zielt nicht nur auf die ‚Reinigung‘ des sozialen Gefüges von Praktiken, 27 Abū Muḥammad al-ʿAdnānī, 2015, Fa-yaqtulūna wa-yuqtalūna.

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die gegenüber den von ISIS vertretenen Dogmen als nonkonform gebrandmarkt werden. Vielmehr sollen durch die materielle Vernichtung dieser Kulturgüter diese sozialen Praktiken und die um sie entstehenden Infrastrukturen endgültig als Bezugspunkte von Identitätsbildungen beseitigt werden. Die Art und Weise der Vernichtung dieses Baumes hat dabei eine hohe symbolische Relevanz, da die Pflanze als Symbol der Lebenskraft sowie als Ort der Gemeinschaftsbildung nicht nur entwurzelt wird. Sie wird nicht nur wie steinerne Monumente ‚dem Erdboden gleich‘ gemacht, sondern ihre Verbindungen mit der lokalen Gemeinschaft werden tatsächlich gekappt. Weithin sichtbar steht nun anstatt des lebendigen Baumes die schwarze Rauchsäule der brennenden Äste in der Landschaft. Obwohl der Verlust also so deutlich sichtbar ist und durch die Videoinszenierung von ISIS einem potentiell globalen Publikum zugänglich gemacht wird, bleibt die Zerstörung des sog. ‚Moses-Baumes‘ in diesem Diskurs unsichtbar. Er gehört nicht zu einem als universell ausgewiesenen, kulturellen Erbe, sondern ist „lediglich“ ein Teil der „natürlichen“ Umgebung der Einheimischen, die ihn für ihre partikularen Praktiken nutzen. Für die Konsolidierung des Selbstbildes von ISIS als Treiber einer Transformation, die durch das Ausradieren der alten das Etablieren einer neuen politischen und sozialen Ordnung ermöglicht, sind derartige Inszenierungen jedoch entscheidend. Das Video gibt der Zerstörung nicht nur eine gesteigerte Bedeutung, sondern macht den Moment der „Purifizierung“ potentiell unendlich wiederholbar.

5 Fazit Der vorliegende Beitrag widmete sich der Frage, unter welchen Bedingungen die Inszenierung von Kulturgüterzerstörungen durch ISIS als Konfliktstrategie erfolgreich sein kann. Frühere Studien zeigten, dass Kulturgüterzerstörung ein wesentliches Mittel der Ordnungszerstörung und -neubildung ist, zur Identitätsbildung des zerstörenden Akteurs oder der zerstörenden Akteurin und Abgrenzung von Anderen dient und durch die Herausforderung der globalen Gemeinschaft einer Versicherheitlichung des Kulturgüterschutzes und damit potentiellen Konflikteskalation Vorschub leisten kann. Wir untersuchten, wie, d. h. unter welchen Voraussetzungen eines global operierenden Bilder-, Kultur- und Sicherheitsdiskurses, die Anwendung der Strategie erfolgreich sein kann. Wir argumentierten, dass erst die Inszenierung von Gewaltakten gegen Kulturgüter diese zu einem effektiven Konfliktmittel macht – die Visualisierung ist konstitutiv für ikonoklastische Akte als Konfliktstrategie und damit nicht nachgeordnet. Dies hat zur Konsequenz, dass auch die Adressat*innen als in die Insze-

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nierung einkalkulierter Faktor begriffen werden müssen: Die – mehr oder weniger berechtigten – Erwartungen eines Gewaltakteurs oder einer Gewaltakteurin an ein angezieltes Publikum und wie diese innerhalb der Visualisierung berücksichtigt oder bedient werden, ist deshalb ein wichtiger Teil der Analyse. Wir zeigten, dass es eine Aufmerksamkeitsökonomie hinsichtlich von ISIS zirkulierten Medien gibt, die Gewalt gegen Dritte stärker wahrnimmt als gegen die lokale Bevölkerung und Gewalt insgesamt gegenüber anderen Themen – wie Beschreibungen des Lebens im „Kalifat“ oder religiösen Botschaften – überbetönt. Dies trägt zu ISIS’ Ziel bei, das Selbstbild als das Böse und der Feind einer westlich dominierten Weltordnung zu konsolidieren. Die selektive Wahrnehmung von ISIS’ Kommunikation führt nicht nur dazu, dass die politische Dimension seiner Gewalt hinter die schiere Brutalität von Gewaltdarstellungen zurücktritt, sondern auch zu einer Unsichtbarkeit von anderen Täter*innen und Opfern von Gewalt. Die Dynamiken zwischen Zeigen und Nicht-Zeigen, Sehen- und Nicht-Sehen verschärfen, so unsere These, bestehende Hierarchien zwischen (universeller) Hochkultur und (partikularer) „lokaler“ Kultur, Abstufungen des Schützenswerten und damit potentiell auch ein antagonistisches Verständnis zwischen den Opfern von Gewalt in Syrien und im Irak einerseits und Vertreter*innen einer westlich geprägten Weltgemeinschaft andererseits. Dies demonstrierten wir anhand der Analyse der zwei sehr gegensätzlichen Fälle der (Teil-) Zerstörung der antiken Stätten von Palmyra und eines sog. ‚Moses-­ Baumes‘ im syrisch-irakischen Grenzgebiet. Während im ersten Fall ein globaler Bilddiskurs die Wirkung des inszenierten Ikonoklasmus bestimmte und Dynamiken des Zeigens, Nicht-Zeigens, Ergänzens durch Dritte für den Erfolg von ISIS’ Kommunikationsstrategie zentral waren, ist im zweiten Fall gerade entscheidend, dass gezeigt, aber jenseits der lokalen Ebene nicht gesehen wurde. Beide Fälle zeigen also, dass die Weltöffentlichkeit sich durch ihre Wahrnehmungsstrukturen zur Komplizin von ISIS’ Bildstrategie machen kann: Globale Reaktionsmuster auf Gewaltbilder erlauben es Akteur*innen, diese zu antizipieren und für ihre Konfliktstrategie zu nutzen. Zudem kann der allzu laute Aufschrei über die Zerstörung einer als Weltkulturerbe ausgewiesenen Stätte als Ausdruck eines Zynismus der Weltgemeinschaft gegenüber den menschlichen Opfern der Gewalt diverser Akteur*innen erscheinen. Der Eindruck, dass nicht viel auf das gegeben wird, was die Bevölkerung im Konfliktgebiet in ihrem Alltag als wichtig erachtet, wird durch das Ignorieren der Zerstörung solcher Kulturgüter wie des sog. ‚Moses-Baumes‘ verstärkt. Dies bedeutet nicht zu behaupten, dass dieser für Syrer*innen und Iraker*innen wichtiger wäre als die antiken Stätten von Palmyra – beide können gleich wichtig sein, und hierzu wollen wir in diesem Beitrag keine Aussage treffen. Allerdings steht das drastische

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Missverhältnis in der Wahrnehmung beider Zerstörungen im globalen Diskurs in scharfem Kontrast zu ISIS’ Gleichbehandlung beider Kulturgüter als širk und damit auch als Ziele seiner „purifizierenden“ Zerstörung: ISIS kümmert sich darum, alle Menschen „zurück zum wahren Islam“ zu führen, und konzentriert sich eben nicht nur auf Stätten wie Palmyra. Zwei wichtige Fragen lassen sich daraus für die IB ableiten. Erstens wären aus einer ethischen Perspektive Praktiken der Verteilung, Rezeption und Reproduktion von Gewaltvisualisierungen kritisch zu hinterfragen, wie diese gleichermaßen von Medien, staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, aber zunehmend auch durch Privatpersonen über die sozialen Medien vollzogen werden. Am problematischsten erscheint aus unserer Sicht die Selektivität, welche sowohl bestimmte Täter*innen als auch bestimmte Opfergruppen über andere favorisiert. Eine alternative Praxis bestünde beispielsweise darin, Gegenbilder von im Diskurs marginalisierten Gewaltakten sichtbarer zu machen (siehe Beitrag von Lisa Bogert in diesem Band). Zweitens deutet unser Beitrag darauf hin, dass die Beurteilung der Wertigkeit von Kulturgütern eine wichtige Rolle dafür spielt, wie die internationale Gemeinschaft auf deren Zerstörung reagiert. Unsere Analyse suggeriert, dass nur die Bedrohung solcher Kulturgüter, deren Wert als universell ausgewiesen wird, d. h. die etwa vom Rang eines UNESCO-Weltkulturerbes sind, einen Sicherheitsdiskurs triggert. Einerseits kann die Versicherheitlichung des Kulturgüterschutzes paradoxerweise – wie im Falle Palmyras – dazu führen, dass eine Stätte ein umso attraktiverer Konfliktgegenstand und damit Austragungsort von noch mehr Gewalt wird (Russo und Giusti 2017). Andererseits argumentieren einige Vertreter*innen des Versicherheitlichungsansatzes, dass ein Sicherheitsdiskurs dazu in der Lage ist, bestimmte Themen auf die politische Agenda zu setzen und so deren Behandlung sicherzustellen (für einen Überblick siehe Balzacq et al. 2016). Wenn dem so wäre, dann wäre kritisch danach zu fragen, unter welchen Bedingungen der Schutz welcher Art von Kulturgütern Priorität erlangt, welche Kulturverständnisse dem zu Grunde liegen und welche kulturellen Güter und Praktiken dadurch aus dem Blick geraten. Auf einem höheren Abstraktionslevel wäre daher auch der Zusammenhang von Sicherheitsdiskursen und -praktiken und einem hierarchischen, evtl. postkolonialen Verständnis von Kultur und Zivilisation zu analysieren.

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Europas Blick auf die Erde EU Copernicus und die visuelle Versicherheitlichung von Umwelt*1 Delf Rothe

Zusammenfassung

Der Beitrag untersucht die Rolle visueller Technologien und Artefakte in der Versicherheitlichung von Umweltproblemen. Am Beispiel des Europäischen Erdbeobachtungsprogramms EU Copernicus zeigt der Beitrag, dass visuelle Technologien – wie Satellitenfernerkundung – Umweltprobleme sichtbar und damit politisch bearbeitbar machen. Gleichzeitig beeinflusst die Art und Weise der visuellen Darstellung von Umweltproblemen die Möglichkeiten ihrer politischen Bearbeitung. Methodisch zeigt der Beitrag, wie die audio-visuelle Analyse von Videomaterial für die Untersuchung von Sicherheitsdiskursen fruchtbar gemacht werden kann. Schlüsselbegriffe

Europäische Union, Klimawandel, Umweltsicherheit, Überwachung, Videoanalyse

*

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG): Projektnummer 335616337.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Schlag und A. Heck (Hrsg.), Visualität und Weltpolitik, Horizonte der Internationalen Beziehungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29971-2_7

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Delf Rothe

1 Einleitung Im Sommer 2018 scheint die Welt aus den Fugen zu geraten. Eine mehrere Monate andauernde Dürre hat die gesamte nördliche Erdhalbkugel erfasst. Pflanzen in Gärten und auf Feldern verdorren. Menschen in Millionenstädten wie New York City, London oder Tokio leiden unter lebensgefährlicher Hitze. Japan und Indien werden von verheerenden Regenfällen und Überflutungen heimgesucht. In Europa und Nordamerika wüten schwere Waldbrände, bei denen zahlreiche Menschen ums Leben kommen und noch mehr ihr zuhause verlieren. Die Medien berichten von steigenden Meeresspiegeln, klimabedingter Migration und der Gefahr für den Menschen, durch sein Tun die Erde in eine jahrtausendlange „Heißzeit“ zu stoßen (Steffen et al. 2018). Für viele Expert*innen ist klar: der Sommer 2018 bietet uns eine Vorschau auf das was kommt – auf eine drohende Klimakatastrophe, in der Extremwetterereignisse zur neuen Normalität werden. In dieser neuen Normalität drohten Konflikte und massenhafte Migrationsbewegungen. Ganze Länder und Regionen würden unbewohnbar oder vom ansteigenden Meeresspiegel verschlungen. Mit diesen Bildern knüpft die öffentliche Debatte an einen Diskurs an, der in akademischen und politischen Kreisen bereits seit den 1980er Jahren geführt wird: der Diskurs über die Sicherheitsimplikationen globaler Umweltveränderungen. Seit mehr als dreißig Jahren diskutieren Expert*innen, ob und wie der Klimawandel und andere globale Umweltveränderungen die Sicherheit von Staaten oder gar der internationalen Gemeinschaft bedrohen. Der Mitglieder des UN Sicherheitsrats haben sich ebenso mit dieser Frage beschäftigt wie die Mitarbeiter*innen des US Verteidigungsministeriums, der NATO-Generalsekretär oder die hohe Vertreterin der Europäischen Union (EU) für Außen- und Sicherheitspolitik. Autor*innen in den Internationalen Beziehungen (IB) und den kritischen Sicherheitsstudien haben den Diskurs über Umweltsicherheit häufig kritisiert. Dabei stützten sie sich auf die Annahme der so-genannten Kopenhagener Schule der Versicherheitlichung. Demnach existieren Umweltgefahren nicht einfach objektiv, sondern werden durch die Diskurse und Praktiken bestimmter autorisierter Akteur*innen – etwa politische Entscheidungsträger*innen oder Wissenschaftler*innen – erst hervorgebracht. Die politisch legitimen und öffentlich akzeptierten Lösungsmöglichkeiten von Problemen wie dem Klimawandel hängen demnach von der spezifischen diskursiven Rahmung des Problems ab. Eine diskursive Rahmung von Umweltproblemen als Sicherheitsgefahr riskiere dabei eine Militarisierung von Umweltthemen oder gar die Ergreifung von Extremmaßnahmen – etwa eine Abschottungspolitik gegenüber Klimamigrant*innen oder riskante Eingriffe in das Klimasystem durch Techniken des Geoengineerings (Oels & von Lucke 2015; Rothe 2016).

Europas Blick auf die Erde

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In diesem Beitrag stütze ich mich auf die Literatur über die Folgen einer Versicherheitlichung von Umweltproblemen und erweitere die Debatte um die Perspektive der Visualität. Hierfür gehe ich folgender zentraler Forschungsfrage nach: Welche Rolle spielen visuelle Technologien (wie Satellitenfernerkundung) und visuelle Artefakte (wie Bilder, Karten oder Diagramme) in Diskursen und Praktiken der Umweltsicherheit? Praktiken des Sehens und Zeigens spielen insbesondere für solche Bedrohungen, die für das bloße menschliche Auge unsichtbar sind und/oder in der Zukunft liegen, eine wichtige Rolle. Beides trifft für die Bedrohung durch den Klimawandel zu (Methmann & Rothe 2012, S. 162). Visuelle Technologien und Praktiken helfen, abstrakte Phänomene wie den Klimawandel für die Menschen begreifbar zu machen. So hat die existierende Literatur gezeigt, wie Computermodellierung und Satellitentechnologien, Fotographien oder Comics abstrakte Phänomene wie Umweltmigration, Ressourcenkonflikte oder Naturkatastrophen begreifbar und sichtbar machen (Manzo 2012; Methmann 2014; Rothe & Shim 2018). Dabei bilden visuelle Technologien die beschriebenen Phänomene nicht objektiv ab, sondern ‚rahmen‘ diese in einer bestimmten Art und Weise und präsentieren politische Bearbeitungsmöglichkeiten. In meinem Beitrag gehe ich von der Annahme aus, dass visuelle Technologien und Artefakte sowohl für die Konstruktion von Umweltsicherheitsgefahren (d. h. für den Bedrohungsdiskurs) als auch für die politische Bearbeitung der identifizierten Gefahren (d. h. für den Lösungsdiskurs) zentral sind. Diese These wird im Beitrag am Beispiel des Europäischen Erdbeobachtungsprogramms EU Copernicus überprüft. EU Copernicus ist das ambitionierteste öffentliche Erdbeobachtungsprogramm weltweit. 2014 mit einem Gesamtvolumen von über vier Milliarden Euro bis 2020 von der EU verabschiedet, verfolgt Copernicus das Ziel, eine eigenständige Europäische Quelle für satellitengestützte Geoinformationen aufzubauen. Copernicus bietet Dienstleistungen in Bereichen wie Umwelt- und Meeresmonitoring, Katastrophenschutz oder die Grenzsicherheit. Dabei war Umweltsicherheit – d. h. der Schutz der EU vor potentiellen Gefahren durch Ressourcenkonflikte, Umweltmigration oder Naturkatastrophen – von Beginn an ein zentrales Motiv für die Etablierung von Copernicus. Die zentrale empirische Grundlage meiner Untersuchung bildet der offizielle Copernicus Imagefilm der Europäischen Kommission.1 Anhand dieses audio-visuellen Datums untersuche ich, wie Copernicus mithilfe von visuellen Technologien wie Satellitenfernerkundung, Umweltrisiken sichtbar und begreifbar macht. Ich zeige, wie in dem Video die verschiedenen sichtbaren Zeichen von Umweltveränderungen zu einem umfassenden Bedrohungsdiskurs verdichtet werden. Schließlich analysiere ich den im Video erzählten Lösungsdiskurs, der Copernicus 1 https://www.youtube.com/watch?v=MGJss4lDaBo, abgerufen am 24. Oktober 2018.

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Delf Rothe

als eine universelle Waffe im Kampf der Menschheit gegen einen Planeten außer Kontrolle darstellt. Mithilfe von Copernicus, so die Moral des Narrativs, wird der Einfluss des Menschen auf den Planeten sichtbar und damit kontrollierbar. Das Kapitel ist wie folgt strukturiert. Teil 2 des Kapitels gibt einen kurzen Überblick über den Stand der Forschung zu Umweltsicherheit und Versicherheitlichung in den IB und führt anschließend in die Debatte um die visuelle Konstruktion von Umweltveränderungen ein. Schließlich wird ein Verständnis von Versicherheitlichung als Teil einer Bildpolitik des Klimawandels entwickelt. In Teil 3 des Kapitels wird kurz die Methodik der interpretativen Videoanalyse und deren praktische Umsetzung in der vorliegenden Untersuchung vorgestellt. Die Auswahl des empirischen Materials wird begründet und erläutert. Der vierte Teil präsentiert die Ergebnisse der Videoanalyse des Copernicus Imagefilms. Zunächst wird die Grundstruktur des Videos als Ergebnis einer Grobanalyse kurz dargestellt. Schließlich durchleuchte ich den Problem- bzw. Bedrohungsdiskurs, den Lösungsdiskurs sowie die politische Moral des filmischen Narrativs.

2

Umwelt und kritische Sicherheitsstudien

Bereits seit den 1980er Jahren diskutieren Wissenschaftler*innen und Politiker*innen, ob und auf welche Weise globale Umweltveränderungen eine Bedrohung für die (inter)nationale Sicherheit darstellen (Barnett 2001). In den 1980er und 1990er Jahren war diese Debatte über Umweltsicherheit stark wissenschaftlich geprägt. Im Verlauf der 2000er Jahre griffen jedoch im Zuge eines verstärkten öffentlichen Bewusstseins für den globalen Klimawandel zunehmend Medien und politische Akteur*innen die Frage der Sicherheitsimplikationen von Umweltproblemen auf. Spätestens seit der Verleihung des Friedensnobelpreises an Al Gore und das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) 2007 und der ersten UN-Sicherheitsratsdebatte zum Thema Klimawandel im selben Jahr ist das Thema der Umweltsicherheit in öffentlichen und politischen Diskursen präsent (Rothe, 2016).

2.1

Die Versicherheitlichung der Umwelt

Auch für die Entwicklung der kritischen Sicherheitsstudien in den IB spielte der Diskurs der Umweltsicherheit eine zentrale Rolle. Die sogenannte Kopenhagener Schule der Versicherheitlichung widmete dem Umweltsektor in ihrem Standardwerk „Security: A Framework for Analysis“ (Buzan, Wæver, & De Wilde 1998) etwa ein

Europas Blick auf die Erde

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eigenes Kapitel. Die zentrale Annahme der Kopenhagener Schule war dabei, dass Sicherheitsbedrohungen nicht einfach objektiv gegeben sind. Vielmehr werden sie nach dieser Lesart erst durch die Sprechakte und Diskurse einflussreicher Akteur*innen – wie Politiker*innen oder Wissenschaftler*innen – hervorgebracht. Im Bereich der Umwelt würden solche Versicherheitlichungsdiskurse zum Beispiel Phänomene wie umweltbedingte Migration oder knappheitsbedingte Konflikte in Entwicklungsländern als externe Bedrohung für ein schützenswertes Referenzobjekt (etwa die Bundesrepublik Deutschland oder die Europäische Union) konstruieren (Oels & von Lucke 2015). Nach Ansicht vieler Autor*innen in den kritischen Sicherheitsstudien hat eine solche Versicherheitlichung von Umweltthemen negative politische Folgen. Dies sei etwa der Fall, wenn die Angst vor Klimageflüchteten eine verstärkte Abschottungspolitik der EU fördere oder wenn westliche Militärs die Notwendigkeit einer verstärkten Präsenz in globalen Krisenregionen mit dem Verweis auf den Klimawandel rechtfertigten. Einige Autor*innen, wie etwa Rita Floyd (Floyd 2010), haben jedoch auch auf eine mögliche positive Wirkung einer Versicherheitlichung der Umwelt verwiesen. So könnten Sicherheitsbedenken das politische Gewicht von Problemen wie dem Klimawandel erhöhen und konservative Akteur*innen (etwa in den USA) von der Notwendigkeit eines verstärkten Engagements in der Umweltpolitik überzeugen. Andere Autor*innen haben aufgezeigt, dass die politischen Folgen einer Versicherheitlichung von der jeweils spezifischen diskursiven Rahmung von Umweltproblemen abhängen (McDonald 2013; von Lucke, Wellmann, & Diez 2014). So ließe sich ein enger Sicherheitsdiskurs mit dem Fokus auf nationale Sicherheit, Konflikte und Migration unterscheiden von Umweltdiskursen, die den Schwerpunkt auf die menschliche Sicherheit und Resilienz, das heißt Anpassungsfähigkeit, von bedrohten Regionen und Gemeinschaften im globalen Süden legen (Corry 2014). Welcher dieser Diskurse politisch wirkmächtig werde, sei das Ergebnis von diskursiven Kämpfen und politischen Aushandlungsprozessen und mithin historisch kontingent (Detraz & Betsill 2009; Trombetta 2008).

2.2

Die Macht der Bilder: visuelle Konstruktion von Umweltgefahren

Bilder und andere visuelle Artefakte sind für die diskursive Rahmung von Umweltproblemen wie dem Klimawandel zentral. Der Klimawandel und andere langwierige Umweltveränderungen sind für das menschliche Auge selbst unsichtbar. Für den Menschen direkt wahrnehmbar sind nur Wetterphänomene, Stürme oder Hitzeperioden, die durch den Klimawandel beeinflusst werden. Der Klimawandel hingegen

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Delf Rothe

ist ein langfristiger Prozess, der sich über mehrere Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg global vollzieht (Morton 2013). Um dieses Phänomenon sichtbar und für den Menschen begreifbar zu machen, sind mithin verschiedene Techniken und Methoden der Visualisierung erforderlich (Schneider 2018). Mithilfe von Schaubildern und Diagrammen übersetzen Forscher*innen historische Wetterdaten in sichtbare Klimatrends. Computermodelle entwerfen verschiedene Zukunftsszenarien, die mithilfe von Visualisierungstechniken veranschaulicht werden und in kulturellen Artefakten – etwa Filmen oder Kunstinstallationen – aufgegriffen werden. Medien und Think-tanks bebildern ihre Berichte über die Klimakatastrophe mit ‚Stellvertreterbildern‘ von einzelnen Naturkatastrophen wie Sturmfluten oder Dürren. Diese Bilder zeigen nicht den Klimawandel selbst, sondern dessen sichtbare Folgen. Insbesondere Bilder von (scheinbaren) Klimamigrant*innen dienen in medialen Darstellungen häufig dazu, dem Klimawandel ein menschliches Gesicht zu geben (Methmann 2014; Methmann und Rothe 2014). Diese Bilder und visuelle Artefakte bilden den Klimawandel und andere Umweltveränderungen nicht einfach neutral ab, sondern konstruieren oder ‚rahmen‘ diese in einer bestimmten Art und Weise. Wenn wir mit Roland Bleiker (2015) annehmen, dass Bilder beeinflussen, was wir über ein bestimmtes Thema sehen, denken und sagen können, dann ist die visuelle Darstellung des Klimawandels dabei ein genuin politischer Prozess. Der diskursive Kampf um die Bedeutung des Klimawandels ist mithin immer auch ein Kampf der Bilder (Schneider & Nocke 2014). Die Klimabilder, die wir aus Medien, politischem Diskurs und Populärkultur kennen, sind das Ergebnis einer ‚Bildpolitik des Klimawandels‘. Bestimmte Formen der Sichtbarkeit und Visualisierung werden dominant – wie das ikonische Bild des abgemagerten Eisbären – während andere visuelle Repräsentationen des Klimawandels ausgeblendet werden. Bilder geben darüber hinaus dem Diskurs über den Klimawandel als Sicherheitsbedrohung eine besondere Kraft. So sind Bilder anders als andere diskursive Medien in der Lage, Emotionen zu transportieren (man denke an das bereits erwähnte Bild des abgemagerten Eisbären oder an Bilder von Kindern in Katastrophensituationen). Diese Fähigkeit ist für Sicherheitsdiskurse zentral: Die Konstruktion von Sicherheitsbedrohungen (etwa klimabedingte Migration) funktioniert immer über das Anrufen gesellschaftlicher – und oftmals diffuser – Ängste. Verschiedene Arbeiten haben zum Beispiel herausgearbeitet, wie durch den Einsatz von Farben in Klimadiagrammen (etwa im bekannten „burning ambers“ Diagramm des IPPC) ein Gefühl der Bedrohung erzeugt wird (Liverman 2009; Mahony und Hulme 2014). Apokalyptische Darstellungen des Klimawandels, wie wir sie zum Beispiel aus Hollywoodfilmen wie Roland Emmerichs The Day after Tomorrow kennen, verleihen diffusen gesellschaftlichen Ängsten vor einem ökologischen Kollaps Ausdruck und übersetzen diese in ein politisches Erlösungs- bzw. Heldennarrativ

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(de Goede und Randalls 2009; Methmann und Rothe 2012). Eine zweite wichtige Eigenschaft von Bildern für die Konstruktion von Umweltsicherheit ist ihr Anspruch auf Objektivität. Fotografien und Satellitenaufnahmen, erwecken den Anschein, die abgebildete Realität direkt und neutral wiederzugeben (Rothe und Shim 2018, S. 420; Shim 2014, S. 156). Der bekannte Ausspruch ‚seeing is believing‘ gilt auch für den Bereich der Umweltsicherheit: wenn Karten, Satellitenbilder oder Grafiken einem scheinbar direkt und unmittelbar vor Augen führen, dass Klimawandel in Entwicklungsländern zu neuen Konflikten führt, tritt der wissenschaftliche Dissens über den Zusammenhang von Klimawandel und Konflikten in den Hintergrund (Rothe 2015). Insbesondere wenn es um Zukunftsrisiken, das heißt um Sicherheitsbedrohungen, deren tatsächliches Eintreten ungewiss ist, geht, nehmen visuelle Artefakte wie Karten, die das zukünftige Risiko in der Gegenwart visuell und haptisch wahrnehmbar machen, eine zentrale Rolle in Prozessen der Versicherheitlichung ein. Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Annahmen können wir Versicherheitlichung als eine visuelle Rahmung des Klimawandels unter anderen und als Produkt einer globalen Bildpolitik des Klimawandels begreifen.

3 Methodik In diesem Beitrag schlage ich vor, die Analyse einer visuellen Konstruktion von Umweltsicherheitsgefahren um das Verfahren der interpretativen Videoanalyse (Moritz 2018) zu erweitern. Dabei stütze ich mich auf die Analyse des offiziellen Copernicus Imagefilms. Der Film wurde im Auftrag von Copernicus von einer nicht öffentlich genannten Produktionsfirma produziert und am 1. Juli 2016 veröffentlicht. Audio-visuelle Artefakte wie der untersuchte Imagefilm sind durch die Kombination von Bild, Ton und Schrift und noch stärker als unbewegte Bilder oder Texte in der Lage, Emotionen bei der Betrachterin hervorzurufen. Narrative und Diskurse können über eine Abfolge aufeinander folgender Szenen und Episoden aufgebaut werden und mithilfe von Schnitttechniken, Kameraperspektiven, Schwenks, etc. verstärkt werden (Raab und Stanisavljevic 2018, S. 58). Audiokommentare, Untertitel und Sprecher*innen transportieren Deutungen und Interpretationen der gezeigten Bilder. Als audio-visuelles Medium hat der Imagefilm zunächst einmal die Funktion, durch den Einsatz verschiedener technischer und ästhetischer Mittel, bestimmte politische Narrative über Copernicus zu erzeugen und zu verbreiten. Anders als textuelle Repräsentationen von Copernicus – etwa die Copernicus Internetpräsenz,

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Zeitungsberichte oder EU-Dokumente, erklärt der Imagefilm das EU Erdbeobachtungsprogramm Copernicus nicht lediglich, sondern zeigt es und führt es vor. Dabei stützt sich das Video auf die von Copernicus produzierten visuellen Artefakte – wie Satellitenbilder, digitale Karten oder Infografiken – und bettet diese in ein breiteres Narrativ der Umweltsicherheit ein. Um dieses Narrativ zu transportieren kombiniert das Video die visuellen Produkte von Copernicus (z. B. Satellitenbilder) mit künstlerischen Effekten wie Computeranimationen oder Soundeffekte. Eine Analyse des Copernicus Imagefilms erlaubt es daher, die tieferliegenden visuellen Technologien, Artefakte und Diskurse zu analysieren. Dabei gehe ich von der Annahme aus, dass visuelle Muster, Praktiken, Technologien, Rationalitäten und Diskurse des EU Erdbeobachtungsprogramms Copernicus in dem Imagefilm in besonders verdichteter Form vorliegen. Um diese Elemente zu identifizieren und aufzuschlüsseln, stütze ich mich auf Ansätze der interpretativen Videoanalyse.

3.1

Passung zwischen Theorie und Methode

Um eine interpretative Videoanalyse für die Analyse von Umweltsicherheit fruchtbar zu machen, ist zunächst die Herstellung einer Passung zwischen Theorie und Methode notwendig (Diaz-Bone 2006). Die theoretische Grundlage für die interpretative Videoanalyse, wie sie etwa in der visuellen Soziologie praktiziert wird, bildet ein kommunikativer Konstruktivismus, der die Konstruktion gesellschaftlichen Sinns mittels kommunikativer Praktiken in den Blick nimmt (Schnettler und Knoblauch 2009, S. 282). Die interpretative Videoanalyse begreift Videos in diesem Sinne als kommunikative (audiovisuelle) Medien und verfolgt das Ziel, den intersubjektiven Sinn der in diesen dargestellten Handlungen zu rekonstruieren (Raab und Stanisavljevic 2018). In diesem Beitrag interessiere ich mich hingegen nicht für kommunikative Praktiken, sondern für strukturelle (materiell/visuell/diskursive) Muster. Das Video betrachte ich nicht als kommunikatives Medium sondern als diskursives/visuelles Artefakt. Mein Zugang ist nicht sozialkonstruktivistisch, sondern poststrukturalistisch. Ich verwende die interpretative Videoanalyse daher weniger als Mittel zur Rekonstruktion kommunikativer Praktiken denn als Technik, den analytischen Blick für (unerwartete) Details zu schärfen und die in den IB bislang häufig unsystematisch praktizierte Analyse politischer Videos zu strukturieren (siehe auch Heck und Schlag 2015). Mithilfe der Videoanalyse untersuche ich, wie in dem analysierten Artefakt ganz unterschiedliche Elemente – bewegte Bilder, Töne, Dialoge, Stilmittel, etc. – zu größeren bedeutungstragenden Strukturen (Narrativen bzw. Diskursen) verdichtet werden. Die interpretative Videoanalyse hilft mir dabei, mich audio-visuellen Daten methodisch kontrolliert zu nähern:

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„Dabei meint ‚methodisch kontrolliert‘. dass die Interpretation die Regeln ihres methodischen Vorgehens in jedem konkreten Auslegungsschritt reflektiert und systematisch überprüft (Raab und Stanisavljevic 2018, S. 58).

3.2

Praktische Umsetzung

Im konkreten Analyseprozess habe ich mich am Kriterium der Sequentialität orientiert. Mit anderen Worten: ich habe das untersuchte audio-visuelle Datum entlang seines eigenen temporalen Aufbaus – Szene für Szene, Episode für Episode – analysiert. Dabei lassen sich zwei grundlegende Analyseebenen unterscheiden: die Ebene der Grobanalyse und die Ebene der Feinanalyse (Schnettler und Knoblauch 2009). Mithilfe einer ersten Grobanalyse habe ich zunächst das untersuchte Datum im Ganzen durchgesehen und in der Folge beschrieben (Raab und Stanisavljevic 2018, S. 62). Zu diesem Schritt zählten die Identifizierung des Genres/Videotyps, der Verbreitungsart/Plattform, des narrativen Aufbaus/Plot, der Erzählperspektive. In einem weiteren Schritt der Grobanalyse habe ich den untersuchten Film in einzelne Episoden, (Schlüssel-)Szenen, Szenen und Einstellungen unterteilt. In der anschließenden Feinanalyse habe ich insgesamt 26 Szenen, die teilweise aus mehreren Einstellungen und teilweise aus einer einzelnen Einstellung bestehen, im feinsten Detailgrad analysiert. Konkret umgesetzt habe ich diesen Analyseschritt durch die Erstellung einer Feldpartitur (Moritz 2018, S. 12). Die Feldpartitur ist eine tabellarische Verschriftlichung der Analyseergebnisse bei der verschiedene „Analyseund Interpretationsdaten auf einer horizontalen Ebene entlang eines Zeitkontinuums (Timecode) in ihrer Gleichzeitigkeit“ (Moritz 2018, S. 14) erfasst werden. Jede Szene wird Schritt für Schritt, teilweise Standbild für Standbild, hinsichtlich verschiedener Analysekategorien untersucht. Die analysierten und verschriftlichten Elemente umfassten Handlung/Plot inklusive Aktanten, Perspektive und Bildkomposition, Dialog, Text, Spezialeffekte und Ton. Die Feldpartitur vereint somit deskriptive Elemente – etwa die Transkription des gesprochenen Texts sowie die Erfassung von Untertiteln – mit interpretativen Elementen wie der Verbalumschreibung von Ereignissen und Handlungen sowie deren Interpretation. Die Feldpartitur erfüllte in meinem Forschungsprozess vor allem zwei Funktionen. Zum einen hatte sie für mich eine heuristische Funktion (Moritz 2018), indem sie mir geholfen hat, den analytischen Blick für Details zu sensibilisieren und die Analyseperspektive zu strukturieren. Zum anderen erfüllte sie eine dokumentarische Funktion und diente dabei der Herstellung von Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Analyseergebnisse (Moritz 2018).

190

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In einem letzten Analyseschritt habe ich die Ergebnisse der Grob- und Feinanalyse vor dem Hintergrund der oben dargestellten theoretischen Perspektive ausgewertet und interpretiert. In mehreren Analysezyklen habe ich dabei größere diskursive Muster bzw. Narrative identifiziert. Iterativ wurden weitere Materialien und Quellen (EU-Dokumente, Policy-Berichte, Sekundärliteratur) herangezogen, um diese Ergebnisse zu überprüfen und zu vertiefen (Schnettler und Knoblauch 2009, S. 283).

4

Das Europäische Erdbeobachtungsprogramm Copernicus

EU Copernicus, im Jahr 2014 mit einem Gesamtbudget von 4,29 Milliarden Euro bis 2020 von der EU bewilligt, ist das ambitionierteste öffentliche Erdbeobachtungsprogramm weltweit. Copernicus verfolgt das Ziel, die bestehenden Kapazitäten der EU Mitgliedstaaten im Bereich der satellitengestützten Erdbeobachtung zu verknüpfen und diese durch sechs EU-eigene Satellitenmissionen – den sogenannten „Sentinels“ – zu erweitern (European Parliament und European Council 2014, Art. 4 und 8). Die von den Sentinels gelieferten Satellitendaten werden mit Satellitendaten anderer öffentlicher sowie kommerzieller Anbieter und mit den Daten von weiteren boden-, schiff- und flugzeuggestützten Sensoren kombiniert. Copernicus sammelt diese Daten und stellt sie in aufbereiteter Form als Analyseund Datenprodukte einer ganzen Reihe an verschiedenen Endnutzer*innen zur Verfügung. Die von Copernicus entwickelten Geoinformationsprodukte sind in sechs thematische Dienste unterteilt: Landüberwachung, Meere, Atmosphäre, Klimawandel, Katastrophenschutz und Sicherheit (BMVI 2017). Für die vorliegende Untersuchung sind insbesondere die beiden letztgenannten Dienste in den Bereichen Katastrophenschutz und Sicherheit relevant. Die von Copernicus in diesen Feldern angebotenen Satellitendaten und Geoinformationsprodukte widmen sich zum Beispiel der Überwachung von internationaler Migration, Binnengeflüchteten sowie der externen Grenzen der EU, der Vorsorge von Naturkatastrophen oder der Erhöhung maritimer Sicherheit durch die Kontrolle von illegaler Meeresverschmutzung, Überfischung oder Menschenhandel (Rothe 2017b, S. 345).

Europas Blick auf die Erde

4.1

191

Genese von EU Copernicus

Obwohl das Europäische Erdbeobachtungsprogramm unter dem Namen Copernicus offiziell erst seit 2014 von existiert, hat es eine lange Geschichte, die bis in die späten 1990er Jahre zurückreicht (European Parliament und European Council 2014). Mit dem so-genannten Baveno Manifest wurde bereits 1998 die Etablierung eines eigenen Erdbeobachtungsprogramms beschlossen. Von Beginn an war die Idee eines eigenen Europäischen Erdbeobachtungsprogramms vom Diskurs der Umweltsicherheit beeinflusst. So trug das Programm im ersten Entwurf des Baveno Manifests noch den Namen Global Monitoring for Environmental Security (Danjean 2014). Obwohl das Programm nur ein Jahr später in Global Monitoring for Environment and Security (GMES) umbenannt wurde, blieb die Überwachung von Umweltrisiken und Sicherheitsgefahren auch in der Folge ein zentrales Motiv für die Entwicklung von Copernicus (GMES Working Group on Security 2003). Diese zentrale Bedeutung von Umweltsicherheit blieb auch nach der erneuten Namensänderung in EU Copernicus 2014 weiter bestehen. In der Copernicus Strategie der Bundesregierung von 2017 (BMVI 2017, S. 5) heißt es etwa: „Copernicus ist ein wichtiges Werkzeug zur Bewältigung globaler und europäischer Herausforderungen wie die Auswirkungen des Klimawandels, die Folgen von Naturkatastrophen, dem Erhalt der Artenvielfalt, dem Verkehr und der Urbanisierung, dem Druck der wachsenden Weltbevölkerung auf begrenzte natürliche Ressource sowie dem Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen.“

Copernicus kann mithin als paradigmatisches Beispiel für die enge Verflechtung von Diskursen der Umweltsicherheit einerseits und der Entwicklung von Fernerkundungstechnologien angesehen werden.

4.2

Kontext des untersuchten Videos

Die Copernicus Dienste richten sich an einen weiten Nutzer*innenkreis: an Forscher*innen, Landwirte und Unternehmen, nationale oder lokale Behörden. Die von den Sentinels produzierten Bilder sind kostenlos und frei im Internet verfügbar. Gleichzeitig ist in der Europäischen Öffentlichkeit nur wenig über das Europäische Erdbeobachtungsprogramm bekannt. Um die Öffentlichkeit auf EU Copernicus aufmerksam zu machen und für die Möglichkeiten der satellitengestützten Erdbeobachtung zu sensibilisieren, betreibt das Programm eine ganze Reihe an Aktivitäten in der Öffentlichkeitsarbeit. Hierzu zählt eine Social-Media-Strategie mit einem Projekteigenen YouTube Kanal und Twitter-Account, die Live-Übertragung der

192

Delf Rothe

Starts von Sentinel Trägerraketen, den wöchentlichen Earth from Space-Broadcasts sowie der eigene Web TV Kanal der Europäischen Weltraumagentur ESA2. Die Öffentlichkeitskampagne von Copernicus ist dabei auch Teil eines (Selbst-) Legitimierungsdiskurses (siehe den Beitrag von Geis und Ristic in diesem Band) – schließlich werden für das Erdbeobachtungsprogramm öffentliche Mittel in Milliardenhöhe ausgegeben, ohne dass die breitere Öffentlichkeit über das Programm und dessen potentiellen politischen Nutzen informiert wäre. Der Copernicus Imagefilm What is the Copernicus Programme, der die empirische Grundlage dieses Beitrags darstellt, ist ein zentraler Bestandteil dieser Öffentlichkeits- und Legitimierungskampagne. Das 5.34 Minuten lange Online-Video ist auf der Startseite der Copernicus Webpräsenz (http://www.copernicus.eu/) eingebettet und zudem in sechs verschiedenen Sprachen auf dem eigenen YouTube-Kanal von EU Copernicus verfügbar.3

5

Der Copernicus Imagefilm: Umweltsicherheit im Zeitalter des Anthropozäns

Der Imagefilm wird von einer weiblichen Sprecherin aus einer neutralen Perspektive kommentiert. Der Online-Film basiert zu einem wesentlichen Teil auf Computeranimationen, die mit Naturaufnahmen in Panorama- und Vogelperspektive sowie Aufnahmen menschlicher Akteur*innen in der Totale und in Nahaufnahmen kombiniert werden. Insgesamt zeichnet sich der Film durch einen hohen Einsatz von Ton- und Bildeffekten – etwa computersimulierte Kamerafahrten und Schwenks, Bildmontagen, Blendeeffekte und digitale Soundeffekte – aus. Durch diese Effekte und den Weltraumblick auf die Erde bekommt das Video einen futuristischen Charakter mit starken Anleihen beim Science-Fiction Genre. Der Plot des Imagefilms wird in insgesamt vier Episoden mit unterschiedlicher Länge erzählt, die unten in Tabelle 1 durch die verschiedenen Farbtöne dargestellt werden (siehe Tabelle 1). Die erste Episode (00:05 – 00:48) dient als Einführung. In dieser wird mit dem Szenario einer planetaren ökologischen Krise der Problemkontext des filmischen Narrativs eingeführt und beschrieben. Am Ende der ersten Episode wird das Europäische Erdbeobachtungsprogramm als eine der Hauptfiguren des filmischen Narrativs vorgestellt. Die zweite Episode erklärt Copernicus und zeigt die 2 https://www.esa.int/ESA_Multimedia/Videos, abgerufen am 24. Oktober 2019. 3 https://www.youtube.com/channel/UCpuwnbuwGG20enAdE50g6TA, abgerufen am 21 Oktober 2019.

Europas Blick auf die Erde

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wichtigsten Charakteristika und Eigenschaften des Erdbeobachtungsprogramms. Die dritte Episode stellt die verschiedenen Dienste von Copernicus vor und liefert konkrete Anwendungsbeispiele aus den Bereichen Umwelt, Grenzüberwachung, Ozeanmonitoring und Entwicklungspolitik. Die finale Episode präsentiert die Moral des filmischen Narrativs und stellt Copernicus als zentrales Werkzeug der EU zum Umgang mit der sich entwickelnden planetaren Krise dar.

Tab. 1 Plot What ist the Copernicus Programme (eigene Darstellung) Episoden Planetare Krise Timecode (TC) 0:05–0:35

TC 00:36–00:48

TC 00:48–01:05

Problemdefinition

Copernicus wird vorgestellt

Was ist Copernicus und was will es?

Potentielle Nutzerinnen/ Transparenz

Die sechs Copernicus Services

TC 01:06–1:53

TC 01:54–02:13

TC 02:14–02:36

Wie funktioniert Copernicus?

Für wen ist Copernicus?

Anwendungen: Umwelt

Anwendungen: Grenzüberwachung

Anwendungen: Ozean Monitoring

TC 02:36–03:09

TC 03:10–03:42

TC 03:43–03:50

Was trägt Copernicus zur Bearbeitung von Umweltproblemen bei?

Was trägt Copernicus Was trägt Copernicus zu Marine Governance zur Grenzsicherheit bei? bei?

Anwendungen: Entwicklungspolitik

Anwendungen: Weitere Bereiche

Politische Moral „An incredible tool“

TC 03:51–04:17

TC 04:17–04:25

TC 04:26–05:30

Was trägt Copernicus zur EU Entwicklungskooperation bei?

Welche weiteren Anwendungsbereiche gibt es?

Zusammenfassung; Moral; „lessons learned“

Episoden Erklärung

Episoden

Episoden

Einführung Copernicus Erläuterung Copernicus

Welche Policybereiche?

194

5.1

Delf Rothe

Bedrohungsdiskurs: Umweltsicherheit im Zeitalter des Anthropozäns

Die erste Episode des untersuchten Films, die sich über neun kürzere Szenen erstreckt (TC 00:01–00:48), führt das übergeordnete Problemnarrativ des Films ein. Die Episode erzählt das Szenario einer globalen ökologischen Krise, mit der sich die Menschheit im Allgemeinen und die EU im Speziellen konfrontiert sieht. Dabei werden verschiedene Motive und Annahmen aus dem Umweltsicherheitsdiskurs aufgegriffen und in das filmische Narrativ integriert. Das resultierende Bedrohungsszenario lässt sich gleichzeitig als Problem- und als Rechtfertigungsdiskurs verstehen. Zum einen wird dem*r Betrachter*in das Ausmaß und die Komplexität der ökologischen Krise vor Augen geführt. Zum anderen erklärt und begründet diese außergewöhnliche Bedrohungssituation innerhalb der filmischen Erzählstruktur die Notwendigkeit eines Europäischen Erdbeobachtungsprogramms. Das beschriebene Problemnarrativ wird in der Episode auf verschiedenen Ebenen realisiert. Eine erste Ebene ist die der gesprochenen und geschriebenen Sprache. Ab Sekunde fünf setzt die Stimme einer weiblichen Erzählerin ein, die simultan untertitelt wird. Ergänzt wird die Erzählstimme von vereinzelt eingeblendeten, animierten Schriftzügen mit Schlüsselbegriffen des Problemdiskurses. Gleich in ihrem ersten Satz beschreibt die Erzählerin den Kern des Problemnarrativs: „We live in a world charaterised by overwhelming environmental challenges“ (00:05). Die Menschheit wird universelles kollektives Subjekt, als singuläre Akteurin, konstruiert. Das Bild der Menschheit als kollektiver Akteur, der von der Natur/ Welt herausgefordert wird, ist ein weit verbreitetes Motiv im Umweltsicherheitsdiskurs (Rothe 2016). Es basiert im Kern auf einem Held*innennarrativ, in dem die Hauptfigur eine Reihe von Herausforderungen meistern muss, um ein bestimmtes Ziel – hier etwa die Rettung der Menschheit – zu erreichen. Die anschließenden Szenen im Copernicus Imagefilm spezifizieren diese Herausforderungen für die Menschheit: Die Sprecherin stellt eine Reihe rhetorischer Fragen: „How can we best manage our consumption … and utilization of our Earth’s natiral resources … and protect our environment“ (00:30, eigene Hervorhebung)? Ebenso wichtig für die Konstruktion des zentralen Bedrohungsnarrativs wie die sprachliche Ebene ist die visuelle Ebene. Visuell ist die Eröffnungsepisode dominiert durch die sogenannte ‚planetary gaze‘: den Blick auf die Erde von außen aus dem Weltall (Rothe 2017b, S. 340). Verschiedene Autor*innen in den Kulturwissenschaften und der Geographie haben die Wirkung eines planetaren Blicks, bzw. Satellitenblicks beschrieben (DeLoughrey 2014; Jasanoff 2004). Bilder wie das Earthrise-Foto, das vom U.S.-amerikanischen Astronauten William Anders während der Apollo 8 Mission 1986 aufgenommen wurde, oder NASAs Blue

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Marble-Bild von 1972 wurden zu ikonischen Darstellungen unseres Planeten, die ein Verständnis der Erde als ein singuläres zusammenhängendes Objekt (die ‚blaue Murmel‘) förderten. Der planetare Blick und die ikonischen Bilder, die er hervorbrachte, wurden zu zentralen Motiven in der entstehenden Umweltbewegung der 1970er Jahre – etwa der kalifornischen Whole Earth-Bewegung um Stuart Brand (Cosgrove 1994). Gleichzeitig war der planetare Blick auch für die Entwicklung eines Umweltsicherheitsdiskurses zentral. So machte der planetare Blick nicht nur die Schönheit, sondern auch die Fragilität und Verwundbarkeit unseres Heimatplaneten sichtbar. Die Erde erschien als kleine ‚Murmel‘, die mit nur einem Meteoriteneinschlag, durch einen Atomkrieg oder eine ökologische Krise zerstört werden könnte. Der Satellitenblick von außen förderte „apocalyptic fears about the end of the earth“ (DeLoughrey 2014).

Abb. 1

‚Copernicus Logo und planetarer Blick (Filmstill). Quelle und Bildrechte: Europäische Kommission

Im untersuchten Video wird die planetare Perspektive bereits in der ersten Einstellung eingenommen (siehe Abbildung 1) und durch den Untertitel des Copernicus Programms „Europe’s Eyes on Earth“ unterstrichen. Auch in den folgenden Episoden kehrt das Video immer wieder zu der planetaren Perspektive zurück. Unterlegt ist das Video mit einem sich stetig aufbauenden, instrumentalen Electro-Pop Song.

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Delf Rothe

Streicher und Chor in der Eröffnungssequenz erzeugen eine epische Stimmung, die die planetare Perspektive ergänzt und die Dramatik des Krisendiskurses unterstützt. Zusammenfassend zeichnet die Eröffnungsepisode das Bild einer umfassenden planetaren Krise. Dieser planetare Sicherheitsdiskurs (von Lucke et al. 2014) konstruiert den Planeten Erde (die wunderschöne, aber fragile blaue Murmel) als schützenswertes Referenzobjekt. Bei diesem Bild eines bedrohten Planeten bedient sich der Film zentraler Storylines, Metaphern und Motive aus dem Diskurs über das Anthropozän. Der Begriff des Anthropozäns, den der Geochemiker und Nobelpreisträger Paul Crutzen im Jahr 2000 das erste Mal verwendet hat, bezeichnet eine neue geologische Epoche, die durch menschlichen Einfluss auf den Planeten geprägt ist (Crutzen 2002; Steffen, Crutzen, & McNeill 2007). Nach den Vertreter*innen der Anthropozän-These ist die Menschheit zu einer tellurischen Kraft geworden, die, wie tektonische Plattenbewegungen oder Vulkane, unseren Planeten forme und verändere. Die vom Menschen verursachten Veränderungen des Erdsystems seien dabei so massiv, dass sie noch in hunderten von Millionen Jahren in Sedimentschichten nachweisbar wären. Wie der Diskurs über das Anthropozän erzählt der Copernicus Imagefilm die Geschichte von der Menschheit als eine kollektive, universelle Akteurin, die durch ihr Handeln das Erdsystem aus dem Gleichgewicht gebracht und damit den Planeten an den Rand einer existentiellen Katastrophe gebracht hat.

Patientin Erde Neben dem planetaren Blick und der Darstellung der Menschheit als universelles Subjekt greift der Imagefilm auf ein weiteres zentrales Motiv aus dem Anthropozän-Diskurs zurück. Dieser begreift die Erde als einen lebendigen, sich-selbst-regulierenden Organismus, der durch den Einfluss des Menschen aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Die Vorstellung von der Erde als lebender Organismus geht zurück auf die Gaia-These von James Lovelock und Lynn Margulis (J. E. Lovelock & Margulis 1974). Die Erdsystemwissenschaft, die die Erde als komplexes, interdependentes System untersucht, ist die wissenschaftliche Fortschreibung dieser These. Die Rolle und der Platz des Menschen im Gaia-Diskurs ist ambivalent. Für einige Autor*innen bringt die Gaia-These die unbequeme Erkenntnis mit sich, dass der Planet der Existenz des Menschen gegenüber indifferent ist. In dem Maße, in dem der Mensch für den planetaren Organismus zum Problem werde, nehme dieser gar eine feindliche Einstellung dem Menschen gegenüber ein (J. Lovelock 2006). Für andere Wissenschaftler*innen – etwa für die Erdsystemwissenschaft – hat der Mensch aufgrund seines Einflusses auf den Planeten hingegen eine Verpflichtung für die Pflege des Erdsystems (Biermann 2014). Im Rahmen der Gesundheitsmetaphorik tritt der Mensch mithin auf der einen Seite als Plage oder Krankheit des

Europas Blick auf die Erde

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Planeten auf, was über Metaphernkonzepte wie ‚der Klimawandel als planetares Fieber‘ verbildlicht wird (Rothe 2016). Dem gegenüber steht die Metapher vom Menschen als Arzt, der mithilfe technischer Instrumente den Gesundheitszustand des Planeten kontrolliert und reguliert. In Szene sieben, die ich ‚Patientin Erde‘ taufen würde, greift der Copernicus Imagefi lm genau dieses Bild vom kränkelnden Planeten auf. Die Sprecherin spricht den Satz „we constantly need to be aware of the state and the health of our planet“ (00:36). Gleichzeitig sieht die Betrachterin ein von unten einfliegendes weißes Herz vor einer kreisförmig eingeblendeten blautransparenten Kreisform (siehe Abbildung 2). Der Hintergrund ist schwarz mit einigen weißen Lichtern (was den Weltraum darstellen soll). Das Herz mit der Kreisform symbolisiert mithin den Gesundheitszustand des Planeten Erde. Gleichzeitig hat sie die Form eines Kreisdiagramms und steht damit für eine Übersetzung des Erdsystems in eine Datenform (und deren Visualisierung). Zur Unterstützung der Gesundheitsmetaphorik setzt die Hintergrundmusik im Moment, in dem das Herzsymbol erscheint, aus. Zu hören ist ein pulsierender Herzschlag. Die Überwachung des Erdsystems wird hier metaphorisch als planetares Gesundheitsscreening umgeschrieben. Die Erdbeobachtungssatelliten von Copernicus werden im Rahmen dieses Narrativs zu medizinischen Instrumenten, die den Planeten auf mögliche ‚Krankheitssymptome‘ scannen.

Abb. 2

Patientin Erde (Filmstill). Quelle und Bildreche: Europäische Kommission

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Delf Rothe

Opfer des Anthropozäns Neben der Darstellung des Menschen als Weltendoktor, findet sich im Narrativ des Copernicus Films auch das Motiv der Menschheit als Plage für den Planeten. In Szene drei und vier werden die Ursachen der planetaren Krise näher beleuchtet. Die Sprecherin sagt „We must tackle the effects of global warming; the problems created by both overpopulation and overconsumption … and the depletion of natural resources“ (00:10, eigene Hervorhebung). Zum ersten Mal im Video wird hier die Ebene des anonymen Satellitenblicks verlassen. Stattdessen sehen wir Nahaufnahmen von zwei Personen – einem Mann und einer Frau – aus seitlicher Perspektive mit leichtem Unterblick. Die erste Person, die wir in dem Video sehen, ist in Szene drei (00:10–00:14) ein Mann mit dunkler Hautfarbe und schwarzen Haaren, der zunächst mit ausdrucklosem Blick nach unten blickt und den Kopf anschließend langsam nach rechts oben hebt (siehe Abbildung 3). Über das Bild des Mannes ist ein zweites Video gelegt, das einen brennenden Wald zeigt. Das Video hat eine hohe Transparenz und ist mit Ausnahme des Gesichtsbereichs des Mannes in Blautönen eingefärbt. Im Kopfbereich des Mannes ist das Video hingegen in Originalfarbe zu sehen und es sind deutlich die Flammen des Waldbrandes erkennbar (zunächst in violett und schließlich in orange). Mittig rechts von dem Kopf erscheint der Schriftzug „Global Warming“ in Fettschrift. In der anschließenden Szene vier (00:15–0018) ist eine Frau mit heller Hautfarbe und schwarzen, zum Zopf gebundenen Haaren aus der gleichen Seitenperspektive zu sehen (siehe Abbildung 4). Die Frau blickt ausdruckslos nach unten, schließt kurz die Augen, öffnet sie wieder und blick auf den animierten Schriftzug „OVER population“ und „OVER consumption“. Über die gesamte linke Gesichtshälfte, Schulter und Teile der Brust der Frau ist ein Video eines Autobahnkreuzes aus der Vogelperspektive geblendet. Beide Szenen entfalten eine starke affektive Wirkung: Szene drei erzeugt durch die violett-orangen Flammen in Kombination mit dem ausdruckslosen Gesicht des Mannes ein Gefühl der Angst/Beklemmung. Die Szene vier erzeugt dagegen durch die unnatürlichen Formen auf Gesicht und Hals der Frau und die wie Schädlinge wirkenden Fahrzeuge ein Gefühl von Ekel. Die gewählte Darstellung der Ursachen einer globalen Umweltkrise ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Auf der einen Seite wird der Mensch klar als Verursacher globaler Umweltprobleme in den Fokus gerückt – etwa durch die gewählte Nahaufnahme von zwei Personen in der Kombination mit Schriftzügen wie „Global Warming“. Auf der anderen Seite wird keine der beiden Menschen als handelndes Subjekt dargestellt. Die menschlichen Körper sind hier lediglich die Projektionsfläche für Naturgewalt und Technik. Beide Personen sind fast regungslos und agieren passiv. Nicht der Mensch scheint zu handeln, sondern die von ihm entfesselte Technik und die daraus resultierende Katastrophe. Die Hautfarbe des

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Abb. 3 & 4

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‚Wald-Mann‘ und ‚Autobahn-Frau‘ (Filmstills). Quelle und Bildrechte: Europäische Kommission

Mannes und das Geschlecht der Frau sind dabei nicht zufällig gewählt. Vielmehr greift das fi lmische Narrativ hier auf im Umweltsicherheitsdiskurs verbreitete

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visuelle Muster zurück, die BIPOC (Black/Indigenous/People of color) Menschen im globalen Süden sowie Frauen als Opfer von Umweltveränderungen darstellen (C. Methmann 2014). In diesen Diskursen schwingen subtile rassistische und sexistische Stereotype mit. So werden Frauen aufgrund ihrer angenommenen körperlichen Schwäche häufig auf eine rein passive Opferrolle reduziert, während lokale Bevölkerungen im globalen Süden häufig pauschal eine besondere Naturnähe bzw. Naturverbundenheit nachgesagt wird (Rothe 2017a). Hier greift der Imagefilm auf ein zentrales Motiv aus dem Diskurs um das Anthropozän zurück – die Annahme, das Anthropozän stelle die für die westliche Moderne grundlegende Trennung zwischen Mensch und Umwelt bzw. Kultur und Natur infrage (C. Hamilton et al. 2015, S. 8). Anstelle eines aktiven Menschen, der über die passive Natur verfüge, träten im Anthropozän hybride Akteure, bei denen die Grenze des Menschlichen/Nichtmenschlichen zunehmend verwische, in Erscheinung. Der dargestellte ‚Wald-Mann‘ in Szene drei und die ‚Autobahn-Frau‘ in Szene vier sind ebensolche Mensch-Technik bzw. Mensch-Natur Hybride. Wie Scott Hamilton in dem Aufsatz mit dem treffenden Titel „Securing ourselves from ourselves“ (S. Hamilton 2017) argumentiert, ist der Diskurs um Umweltsicherheit im Zeitalter des Anthropozäns mithin von einem Paradoxon geprägt. Da eine externe Umwelt des Menschen nicht mehr existiere, Umweltgefahren vielmehr immer bereits menschlich überformt seien, wird der Mensch im Anthropozän zu seiner eigenen Bedrohung. Genau dieses Paradoxon spiegelt sich in den beiden beschriebenen Szenen. Die Flammen des brennenden Waldes scheinen sich in das Gesicht des „Wald-Mannes“ in Szene drei zu brennen – doch er selbst hat diese Flammen entfacht. Die Frau in Szene vier scheint hingegen von einer Krankheit befallen – einer Krankheit, die ihre Haut entstellt und bei der ihr kleine Fahrzeuge wie Schädlinge über den Körper huschen. Der Mensch wird zum Opfer seiner selbst; er ist, mit der Kopenhagener Schule gesprochen, gleichzeitig Bedrohung und schützenswertes Referenzobjekt.

5.2

Lösungsdiskurs: Copernicus als Prothesengott

Das Europäische Erdbeobachtungsprojekt tritt im Copernicus Imagefilm als eigenständiger Aktant in Szene 13 in Erscheinung. Dabei wird es mithilfe verschiedener diskursiver und visueller Mittel – etwa durch den Personennamen ‚Copernicus‘ – personifiziert. In der besagten Szene hört man die Sprecherin sagen „Copernicus contributes not only to European scientific and technical excellence, but is part of a public service framework“. Der gesprochene Text ist hier jedoch nicht das alleinige bedeutungskonstituierende Moment. Entscheidender ist die visuelle Darstellung von Copernicus. So ist in der besagten Szene ein heller wolkenverhangener Himmel zu

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201

sehen. Auf der linken Bildseite wird langsam der Körper eines Mannes, mittleren Alters, mit heller Hautfarbe und mit weißem Hemd und Jackett gekleidet, eingeblendet. Der*die Betrachter*in sieht den Oberkörper, Arme und das Gesicht des Mannes bis hin zum Mund. Durch die Wolken hinter dem Mann bricht helles Licht, das den Mann erstrahlen lässt. Der linke Arm des Mannes bildet eine senkrechte Linie, die das Bild mittig teilt. Auf den Arm ist eine um 90 Grad gedrehte Aufnahme einer Satelliten-Bodenstation projiziert. In der rechten Bildschirmhälfte erscheint mittig der animierte Schriftzug „Scientific and Technical EXCELLENCE“, bei dem das Wort „Excellence“ durch Fettschrift hervorgehoben ist. Es handelt sich bei der beschriebenen Darstellung in meinen Augen um eine visuelle Personifizierungsmetapher (siehe auch den Beitrag von Engelkamp et al. in diesem Band). Der Mann repräsentiert das Europäische Erdbeobachtungsprogramm Copernicus und tritt dabei als Gegenspieler zu den oben beschriebenen hybriden Akteuren – dem Wald-Mann und der Autobahn-Frau – aus dem Problemdiskurs auf. Genau wie bei den beiden anderen beschriebenen Aktanten handelt es sich um eine Videomontage, mit deren Hilfe ein hybrider Akteur (Mensch-Technik) dargestellt wird. Allerdings gibt es wichtige Unterschiede: anstelle des Gesichts in Nahaufnahme ist in dieser Szene ein Männerkörper in halbnaher Einstellung zu sehen. Durch den leichten Unterblick und den Himmel im Hintergrund erscheint

Abb. 5

Copernicus als ‚Prothesengott‘ (Filmstill). Quelle und Bildrechte Europäische Kommission

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der Männerkörper überdimensional groß. Da er gleichzeitig durch das durch die Wolken brechende Licht angestrahlt wird, nimmt der Mann eine gleichsam göttliche Gestalt an. Anders als die beiden anderen Hybrid-Akteure hat er die Technik nicht auf Gesicht und Körper projiziert, sondern trägt die Technik lediglich an seinem linken Arm. Dies symbolisiert menschliche Kontrolle über die Technik. Das helle Licht im Hintergrund symbolisiert Wissen und Erkenntnis, was den eingeblendeten Schriftzug „scientific and technical Excellence“ unterstützt. Die visuelle Darstellung des Erdbeobachtungsprogramms lässt zwei Interpretationen zu, die jeweils kohärent mit den vorher beschriebenen Problemnarrativen im untersuchten Film sind. Zum einen ließe sich der dargestellte Akteur als Figur des ‚Prothesengottes‘ interpretieren. Siegmund Freud beschrieb mit dem Begriff des Prothesengottes in seinem 1930 erschienenen Aufsatz Das Unbehagen in der Kultur (Freud 1974 (1930)) das Streben des Menschen, seine biologischen Beschränkungen durch technologische Entwicklungen zu überwinden. Das moderne Versprechen der Naturbeherrschung finde im technisch optimierten Menschen seine Vollendung: „Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen“ (Freud, 1974 (1930)). Satellitentechnologie, deren Entwicklung Freud 1930 freilich noch nicht absehen konnte, steht dabei in paradigmatischer Weise für eine prothetische Erweiterung des menschlichen Körpers. In den Worten Elams (Elam 1999, S. 104): „Space-based remote sensing offers us the advantages of prosthetic vision and the chance to use radiant energy from the hidden regions of the electromagnetic spectrum to revolutionize our understanding of the shifting realities of life and existence on planet Earth“. In dieser Lesart erscheint Copernicus als prothetische Erweiterung des menschlichen Sehsinns, die eine komplett neue Perspektive auf den Planeten ermöglicht. Copernicus erlaubt es innerhalb dieses Lösungsnarrativs dem Menschen, die Auswirkungen seines Handelns auf den Planeten zu sehen und zu begreifen. Mithilfe von Copernicus wandelt sich die Menschheit von einem tragischen Helden, der den Auswüchsen seines eigenen Handelns hilflos ausgeliefert ist – symbolisiert durch den ‚Wald-Mann‘ und die ‚Autobahn-Frau‘ in den vorigen Szenen – zu einem gotthaften Helden. Zum anderen lässt sich die in der Szene abgebildete Person auch als ein Arzt bzw. ‚Halbgott in Weiß‘ interpretieren. Die Szene stellt in dieser Lesart eine konsequente Fortschreibung der Gesundheitsmetaphorik in den vorangegangenen Szenen rund um das Bild von der ‚Patientin Erde‘ dar. Wie oben beschrieben wird die Erde im filmischen Narrativ als eine kränkelnde Patientin dargestellt. Erdbeobachtung ist innerhalb dieser Storyline eine Art ‚planetares Vorsorgescreening‘. Der Aktant in Szene 13 ließe sich mithin als eine Art planetarer Arzt interpretieren. Die Erdbe-

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obachtungssatelliten von Copernicus werden im Rahmen dieses metaphorischen Konzepts zu medizinischen Instrumenten, die den Planeten auf mögliche ‚Krankheitssymptome‘ hin durchleuchten.

Copernicus als präventive Sicherheitspolitik Durch ein globales Monitoring, das innerhalb der filmischen Metaphorik als planetares Vorsorge-Screening gerahmt wird, verspricht EU Copernicus komplett neue Einsichten in das Erdsystem und Lösungen für eine ganze Reihe an Umweltproblemen und resultierenden Sicherheitsrisiken. Dieses Problemlösungspotential von Copernicus wird in der dritten Episode von Copernicus filmisch dargestellt. In der ersten Szene dieser Episode (02:14–02:36) werden zunächst die sechs Copernicus Dienste aufgelistet. In den anschließenden Szenen werden sie anhand verschiedener Anwendungsbeispiele demonstriert. Ein erstes Anwendungsbeispiel, Umwelt- und Küstenmonitoring, wird in den Szenen 16 und 17 vorgestellt (02:37–03:09). Die Sprecherin zählt einige der Dienste in diesem Bereich auf. So überwache Copernicus die Zusammensetzung der Atmosphäre ebenso wie das Abschmelzen des Polareises in der Arktis. Es kontrolliere die Luftqualität, die unsere Gesundheit bedrohe. Und schließlich überwache es Küstenregionen und Waldgebiete, um Risiken vor Sturmfluten oder Waldbränden zu minimieren. Im Energiebereich helfe Copernicus darüber hinaus der EU dabei, den Ausbau von erneuerbaren Energien zu fördern und dadurch ihre Ziele für die Energiewende zu erreichen (03:10–03:27). Nach einer Blende folgt in der Szene 18 (03:28–03:41) ein thematischer Wechsel zu den Sicherheitsdiensten von Copernicus. So unterstütze Copernicus die EU bei der Überwachung ihrer Außengrenzen, indem es Satellitendaten mit anderen Datenbanken kombiniere und zu einem umfassenden Lagebild zusammensetze. Neben der Verhinderung von Menschenhandel diene die Überwachung der Meere weiterhin dazu, Meeresverschmutzung und Überfischung zu verhindern (03:42–03:50). Schließlich unterstütze Copernicus die EU bei der Entwicklungszusammenarbeit (03:50–04:17). So warne Copernicus bei frühen Anzeichen von Desertifikation, Entwaldung oder Wasserknappheit. Es überwache die Bewässerung von Feldern und den Zustand der Vegetation in Entwicklungsländern als Frühzeichen von Nahrungskrisen. Sogar der Ausbruch von Krankheiten wie Ebola ließe sich mit Copernicus verfolgen. In all diesen Anwendungsgebieten verspricht Copernicus nicht nur vergangene und gegenwärtige Entwicklungen zu erfassen, sondern auch zukünftige Trends vorherzusagen. Copernicus ist damit Teil einer präventiven Sicherheitspolitik der EU, die durch die Vorhersage und Antizipation von zukünftigen Trends, Risiken und Bedrohungen bereits einhegt bevor sie manifest werden (Anderson 2010; de Goede und Randalls 2009). Die Copernicus zugrunde liegende politische Rationalität

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Delf Rothe

lässt sich dabei als Geospatial Big Data beschreiben. Geospatial Big Data bezeichnet im Kern die Kombination von zwei prothetischen Technologien: Satellitenfernerkundung als technische Erweiterung des biologisch limitierten Sehsinns und Big Data – das heißt die massenhafte Sammlung und automatisierte Auswertung von Daten – als technische Erweiterung des Gehirns (als menschlicher Datenspeicher). Ziel von Geospatial Big Data ist dabei zum einen, durch die massenhafte Sammlung und Auswertung von Geodaten bislang unbemerkte Muster, Trends oder Irregularitäten zu identifizieren, zum anderen zukünftige Entwicklungen aus den festgestellten gegenwärtigen Trends zu extrapolieren (Rothe 2017b, S. 348). Die Szenen 11 und 12 des Copernicus Imagefilms (01:04–01:28) fassen die Logik von Geospatial Big Data hinter Copernicus anschaulich zusammen. Szene 11 beginnt mit einem Blick auf den Planeten Erde aus Perspektive des Satellitenblicks (der oben beschriebenen ‚planetary gaze‘). Um die Erde im Bildmittelpunkt herum erscheinen nacheinander sechs Fernerkundungssatelliten, die Copernicus’ Sentinels darstellen. Die Sentinels werden mit weißen Linien zu einem Netzwerk verknüpft. Die Sprecherin erklärt: „Copernicus information services are based on data from a constellation of 6 families of satellites, known as the ‘Sentinels’“ (01:12) and dozens of third-party satellites known as contributing space missions (01:18). Die Kamera zoomt auf den obersten der Satelliten heran. Der Satellit – nun in der Nahaufnahme – wird mit einer transparent-blauen Kreisform hinterlegt, was symbolisch für die Übersetzung der Satellitenaufnahmen in Daten steht. Von der Kreisform fließen nun weiße Linien zu drei weiteren Kreisformen mit Icons, die drei unterschiedliche Arten von Sensorarten (Land, See, Luft) symbolisieren. Die Sprecherin erläutert: „These measuring devices in orbit sometimes operate alone and sometimes combined with sensors placed on the seas, land or in the air“ (01:23). Die Kamera schwenkt nach rechts und zoomt heraus. Anschließend erscheinen weitere weiße Linien, die den Satelliten und den Sensoren mit einem ganzen Netzwerk an weiteren Kreisformen (Knotenpunkten) verknüpft. Der Sentinel Satellit wird zu einer Datenquelle unter anderen in einem breiten Netzwerk (siehe Abbildung 6). Die Sprecherin fährt fort: „Copernicus then stores the data; and helps to provide a large amount of reliable and up-to-date information on the status of our planet“ (01:28; eigene Hervorhebung). Während dieser Worte erscheinen in den Kreisformen des Netzwerkes Icons, die die ganze Brandbreite an Verwendungsformen für Copernicus Daten symbolisieren sollen – darunter etwa Symbole für Feuer, Bäume, Regen, Wachstum oder ein Zielkreuz (siehe Abbildung 6). Nach einem weiteren simulierten Kameraschwenk erscheint eine Rechteck-Form, in der ein koloriertes Liniendiagramm von unten einfliegt. Nacheinander erscheinen verschiedene Visualisierungsformen von Satellitendaten: eine topographische Karte, bei der drei Karten desselben Territoriums in unterschiedlicher Farbstärke

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übereinandergelegt werden (Abbildung 7) sowie zwei unterschiedlich große Kreisdiagramme (eins in Grün- und eins in Blautönen), die sich keilförmig auszudehnen scheinen (Abbildung 8). Die Sprecherin erklärt hierzu: „This data can be used to create different kinds of products; such as statistics and topographic maps. The data is analysed in a way that generates indicators useful for researchers and end users (01:50) providing information on past, present and future trends“ (01:45–01:50, eigene Hervorhebung).

Abb. 6

Das Datennetzwerk von Copernicus (Filmstill). Quelle und Bildrechte Europäische Kommission

Die Szenen 11 und 12 beschreiben einen Übersetzungsprozess, durch den am Ende einer langen Kette der Übersetzungen (Callon, 2006) aus elektromagnetischer Strahlung eine Reihe an Vorhersageprodukten wird. In einem ersten Schritt wird von der Erdoberfläche reflektierte elektromagnetische Strahlung (Licht) von Satellitensensoren in numerische Daten (sogenannte Grauwerte) übersetzt. Diese Daten werden digitalisiert und durch die Harmonisierung mit weiteren Datenquellen zu umfangreichen digitalen Datensätzen kompiliert. Als binärer Code lassen sich diese Geodaten als Datenschichten in GIS (Geographic Information Systems)-Anwendungen einspeisen, sie können als Infografi ken oder Diagramme visualisiert

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Abb. 7 & 8

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Von Satellitenaufnahmen zu Datenvisualisierungen (Filmstills). Quelle und Bildrechte Europäische Kommission

oder in statistische Modelle integriert werden. Verschiedene visuelle Technologien – Satellitensensoren, digitale Karten, Computermodelle – werden kombiniert und

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erzeugen zusammen ein ‚digitales Datendouble‘ des Planeten Erde (Brannon, 2013). Phänomene und Ereignisse auf der Erdoberfläche werden mithilfe dieser visuellen Technologien ‚flach gemacht‘ (Latour, 2006) und zirkulieren als digitale Ströme, Karten oder Statistiken in einem breiten Netzwerk von Nutzer*innen. Der Maßstab des digitalen Doubles des Planeten kann beliebig manipuliert werden. Die Realität lässt sich in einzelne Datenlayer – etwa Bevölkerung, Infrastruktur, Vegetation, Landnutzung – aufgliedern, nur um diese Datenlayer anschließend in digitalen Karten neu zu kombinieren (Rothe 2017b, S. 345–348). Die Fähigkeiten von Geospatial Big Data und der beteiligten Inskriptionsinstrumente stellt der Copernicus Imagefilm mit verschiedenen audio-visuellen Mitteln dar. So vermitteln die zahlreichen computeranimierten Zooms und Kamerafahrten das Bild einer im Maßstab manipulierbaren, jederzeit und überall einsehbaren Erde. Licht- und Farbeffekte wie das Einfärben oder Aufblitzen bestimmter Landschaftsmerkmale symbolisieren die Fähigkeit des Satellitenblicks, Phänomene wie Dürren oder Überflutungen sichtbar zu machen. Digitale Toneffekte, wie ‚blips‘, ‚swirls‘ und ‚swooshs‘, die aus Videospielen oder Science-Fiction Filmen bekannt sind, unterstützen die verwendeten Bildeffekte und geben dem Video einen technisch-futuristischen Charakter. In den Szenen 16 bis 21, in denen verschiedene Anwendungsbeispiele vorgestellt werden, wechselt die Perspektive durch simulierte Schwenks und Zooms ständig zwischen dem synoptischen Satellitenblick und Detailaufnahmen einzelner Weltregionen. Die beschriebenen filmischen Mittel drücken in paradigmatischer Weise die Logik hinter Geospatial Big Data aus – nämlich „[…] to manipulate the ‚digital globe’, scrolling and zooming in and out and integrating satellite-image composites with other „street views“, digital maps, and information layers“ (Brannon, 2013 S. 274). Innerhalb des filmischen Narrativs erzeugt Copernicus ein allzeit und überall einsehbares Datendouble des Planeten Erde. Die massenhafte Kombination von Daten erlaubt es, Frühwarnzeichen gefährlicher Entwicklungen wie zum Beispiel Dürren und resultierenden Nahrungsunsicherheiten, zu entdecken und damit präventiv einzugreifen.

5.3

Und die Moral von der Geschichte…

Innerhalb des filmischen Narrativs wird aus der Menschheit als tragischer Heldin, die ungewollt den Planeten zerstört, eine Heldin. Mithilfe von Geospatial Big Data überwindet die Menschheit ihren begrenzten Sehsinn und die eingeschränkte Fähigkeit zur Speicherung und Verarbeitung großer Mengen an Daten. Diskurstheoretisch gesprochen wird die Forderung nach einem Europäischen Erdbeobachtungsprogramm dadurch zu einer universellen Forderung für die gesamte

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Menschheit. Copernicus und Geospatial Big Data werden zu Signifikanten für eine ganze Reihe an politischen Versprechen (Sicherheit, wirtschaftliche Entwicklung, Umweltschutz, usw.). Ein gleichermaßen universelles Bedrohungsszenario einer planetaren Krise begründet diese Forderungen. Der universelle Anspruch von Copernicus wird insbesondere in Szene zehn des Videos deutlich. In dieser Szene sieht der*die Betrachter*in eine transparente Kugel, die den Planeten Erde symbolisiert (siehe Abbildung 9). Innerhalb der transparenten Kugel ist ein Laubbaum auf einer grünen, gesunden Wiese vor einem Feld mit gelben Pflanzen – als Symbol für eine unberührte, schützenswerte Natur – zu sehen. Sechs Erdbeobachtungssatelliten umkreisen und scannen die Oberfläche der Kugel (symbolisiert durch die transparenten Kegelformen unterhalb der Satelliten). Durch Copernicus’ Erdbeobachtungssatelliten wird die Erde transparent und ihr innerster Kern – die unberührte Natur – wird sichtbar. Eine menschliche Hand hält die Kugel halb umschlossen. Oberhalb der Kugel und den um sie herum kreisenden Satelliten wird von links nach rechts ein Halbkreis eingeblendet. Außerhalb dieses Kreises erscheinen links unten und rechts oben im Bild zwei Schriftzüge mit den Worten „Disasters“ und „Crises“. Simultan mit der Animation der Schriftzüge sind zwei Explosionsgeräusche bzw. dumpfe Knalleffekte zu hören. Mithilfe von Copernicus ist die Menschheit innerhalb des filmischen Narrativs in der Lage, eine Schutzfunktion für den Planeten zu übernehmen. So hält die Menschheit den Planeten schützend in der (halbumschlossenen) Hand. Diese halbumschlossene Hand wird symbolisch fortgesetzt durch den technischen Schutzschild, der durch die Satelliten und den Halbkreis gebildet wird (als technische Prothese des menschlichen Armes). Die Satelliten selbst tragen den Namen „Sentinels“, also Wachen oder Wachposten. Die anonymen Bedrohungen – Krisen und Katastrophen – werden so von der Erde abgeschirmt. Dazu sagt die Sprecherin die Worte: „Copernicus monitors our planet and its many ecosystems, while ensuring that its inhabitants are prepared for, and (01:01) protected against crises and natural or man-made disasters“ (00:53). Copernicus ist demnach nicht lediglich ein Europäisches Erdbeobachtungsprogramm zur Verfolgung Europäischer Partikularinteressen – etwa dem Schutz der EU Außengrenzen. Vielmehr erscheint Copernicus als ein planetarer Schutzschild und Werkzeug zum Wohle der gesamten Menschheit. In der letzten Episode des Films wird die politische Moral des filmischen Narrativs präsentiert. Die Sprecherin erklärt: „It is an incredible tool: efficient, constantly evolving, open to all, and free of charge“ (04:27). Zu sehen ist dabei ein Strom von Menschen, die zügig in zwei Richtungen auf die Kamera zu und von der Kamera weglaufen. Copernicus wird damit als ein universelles Werkzeug für die Massen dargestellt. Gleichzeitig signalisiert das zügige Laufen der Menschen, die sich auf

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Abb. 9

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EU Copernicus als planetarer Schutzschild (Filmstill). Quelle und Bildrechte: Europäische Kommission

dem Weg zur Arbeit zu befinden scheinen, Aktivität und Dynamik. Dieses Bild der Dynamik wird in den folgenden Einstellungen weiter ausgeführt. Diese zeigen einen idealtypischen Nutzer von Copernicus, der in einer ersten Szene in einem Seminar- bzw. Besprechungsraum seitlich neben Leinwand steht. Der Mann hat eine weiße Haut- und dunkle Haarfarbe, einen gepflegten Dreitagebart und trägt ein T-Shirt mit Jackett und nach hinten gestylten Haaren (04:54). Der Mann ist offensichtlich ein Dozent, der vor zwei Männern und zwei Frauen, allesamt in Businesskleidung, vorträgt. Der Mann hebt seine Hand und deutet auf die Präsentation, in der ein Satellitenbild, ein Textfeld mit nicht erkennbarem Inhalt sowie das Logo der EU Kommission zu sehen sind. In der nächsten Szene (05:00–05:05) sieht man denselben Mann, diesmal mit Parka und Umhängetasche bekleidet, auf einem Feld mit landwirtschaft lichen Nutzfahrzeugen neben zwei weiteren Männern, die mit Gummistiefeln, Baseballkappe bzw. Baskenmütze und Kapuzenpullover, sichtbar anders gekleidet sind. Der Copernicus Nutzer hält ein Tablet in der Hand und zeigt den beiden anderen Männern etwas auf dem Bildschirm. Nach einer Blende wird sichtbar, dass es sich um ein Satellitenbild handelt, das mit Kommentaren wie „Fields“ oder „Irrigation“ versehen ist. In einer dritten Szene steht derselbe Mann schließlich auf einer Bühne vor einem größeren Publikum. Er trägt einen

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Anzug und hält offensichtlich einen Vortrag. Hinter der Bühne ist der Schriftzug „TEDx Brussels“ zu erkennen (05:07). Im Hintergrund ist ein Video, das einen von Dürre ausgetrockneten Boden zeigt, zu sehen. Der in den Szenen 24–26 dargestellte idealtypische Copernicus Nutzer wird als aktiv, erfolgreich und einflussreich dargestellt. In allen drei Szenen redet er vor bzw. mit Menschen, die ihm zuhören. In allen drei Szenen stützt er sich dabei auf die Datenprodukte von EU Copernicus. Der idealtypische Nutzer von Copernicus, der in der Schlussepisode gezeichnet wird, ist europäisch, weiß und männlich. In dieser Episode, in der die Moral des Narrativs präsentiert wird, bricht der Imagefilm mit der vorher konstruierten Aktantenstruktur. Copernicus ist hier weniger ein universelles Werkzeug zum Schutz des Planeten als eine Geschäftsmöglichkeit eines privilegierten Europäers. Während ‚weiblich‘ und ‚schwarz‘-codierte Aktanten – als idealtypische Opfer der planetaren Krise – Teil des Problemnarrativs sind, wird der idealtypische Copernicus-Nutzer als weiß, männlich und aktiv codiert. Hier zeigt sich, dass das universelle Versprechen von Copernicus, Satellitendaten für die Masse zu öffnen, nur schwer eingehalten werden kann. Auch wenn Copernicus’ Satellitendaten frei im Internet abrufbar sind, so verfügen nur wenige Unternehmen und Forscherinnen über das Knowhow und die Technikkenntnisse, diese Daten auch zu nutzen. In den Bereichen Sicherheit und Katastrophenschutz bleiben Copernicus’ Datenprodukte zudem einigen wenigen Aktanten aus dem Sicherheitsfeld – wie FRONTEX oder dem EAD – vorbehalten.

6

Fazit

In diesem Beitrag bin ich der Frage nachgegangen, welche Rolle visuelle Technologien und visuelle Artefakte in Praktiken und Diskursen der Umweltsicherheit spielen. Auch wenn die vorliegende Untersuchung explorativ und damit lediglich ein erster Schritt zur Beantwortung dieser Frage war, so hat sie dennoch bereits einige interessante Erkenntnisse hervorgebracht. Auf theoretischer Ebene halte ich zwei Erkenntnisse dieser Arbeit für relevant. Zum einen konnte ich durch den Rückgriff auf die Literatur zur visuellen Politik und visuellen Versicherheitlichung in den IB zeigen, wie Praktiken des Zeigens und Sehens die Wahrnehmung von Umweltproblemen als Sicherheitsgefahren beeinflussen. Über den Einsatz emotionaler Icons, visueller Metaphern, kollektiver Symbole, anschaulicher Diagramme usw. geben Bilder einem abstrakten Phänomen wie dem Klimawandel eine konkrete Gestalt. Die Rahmung des Klimawandels als Sicherheitsgefahr ist eine solche Gestalt und anderen. Zum anderen habe ich gezeigt, dass visuelle Technologien nicht nur für

Europas Blick auf die Erde

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die Konstruktion, sondern auch für die Bearbeitung von Umweltsicherheitsgefahren relevant sind. Digitale Karten, Computermodelle oder Satellitenbilder versprechen, gegenwärtige und zukünftige Umweltrisiken sichtbar und damit beherrschbar zu machen. Diese zwei Erkenntnisse sind für eine Theorie der Versicherheitlichung von zentraler Bedeutung. So zeigen sie, dass sich ein Modell der Versicherheitlichung, bei der das Moment der Bedrohungskonstruktion von der Problembearbeitung (Ergreifen von Ausnahmemaßnahmen) zeitlich klar voneinander getrennt ist, nicht aufrechterhalten lässt. Im untersuchten Fall der satellitengestützten Erdbeobachtung ist die visuelle Rahmung von Umweltrisiken immer bereits Teil ihrer politischen Bearbeitung. Auf methodischer Ebene konnte ich den Mehrwert einer interpretativen Videoanalyse für die Untersuchung von Umweltsicherheitsdiskursen aufzeigen und damit hoffentlich zu einer weiteren Verbreitung multimodaler Ansätze in den kritischen Sicherheitsstudien beitragen. Wichtig ist, so eine wichtige Erkenntnis dieser Arbeit, die Herstellung einer Passung zwischen Theorie und Methode. Qualitative Forschungsmethoden sind keine neutralen Instrumente, die sich mit jeder Theorie kombinieren und auf jeden Untersuchungsgegenstand anwenden ließen. In dem konkreten Fall bedeutete dies, eine interpretative Videoanalyse von den Vorannahmen eines Sozialkonstruktivismus zu befreien und für stärker strukturalistische Analysekategorien – visuelle Muster, Narrative, Metaphernkonzepte – zu öffnen. Im Hinblick auf die empirische Untersuchung von Copernicus möchte ich drei relevante Ergebnisse hervorheben. Erstens lässt sich festhalten, dass EU Copernicus über einen Umweltsicherheitsdiskurs legitimiert wird, der das Szenario einer existentiellen ökologischen Krise aufspannt. Copernicus erscheint in diesem Legitimierungsdiskurs als wichtigstes Werkzeug zur Bewältigung der planetaren Krise. Zweitens lässt sich Copernicus als Teil einer präventiven Sicherheitspolitik verstehen. Einer Logik von Geospatial Big Data folgend verspricht Copernicus, Anzeichen gefährlicher Entwicklungen oder Ereignisse (etwa Dürren oder Sturmfluten) bereits sichtbar zu machen bevor diese entstehen. Copernicus wird zusammenfassend innerhalb des filmischen Narrativs des Imagefilmes als planetares Gesundheitsscreening dargestellt. Satellitensensoren und andere Inskriptionsinstrumente wie GIS-Software fungieren in dieser Logik analog zu medizinischen Instrumenten in der Gesundheitsvorsorge. Drittens würde ich behaupten, dass sich der universelle Anspruch von Copernicus, der im Film ebenso wie im weiteren Copernicus Diskurs formuliert wird, nicht einhalten lässt. Dies zeigt sich bereits innerhalb des filmischen Narrativs. Die letzte Episode des Videos, die die Moral der Geschichte präsentiert, weicht von der vorherigen Aktantenstruktur ab, in der die Menschheit als universelles Subjekt dargestellt wurde. In der letzten Episode hingegen wird der idealtypische Copernicus Nutzer gezeigt – und dieser ist weiß,

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männlich und europäisch. EU Copernicus ist – so würde ich behaupten – mitnichten ein universelles politisches Projekt zum Wohle der gesamten Menschheit. In erster Linie ist EU Copernicus ein europäisches Projekt zur Wahrung europäischer Partikularinteressen wie der Sicherung der EU Außengrenzen, der Europäischen Landwirtschaft oder der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit.

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Bilder des Friedens? Die metaphorische Visualisierung von Frieden im Film Stephan Engelkamp, Kristina Roepstorff und Alexander Spencer

Zusammenfassung

Der Beitrag formuliert eine interpretative Methode der Visuelle Metaphernanalyse (VMA). Er argumentiert, dass Metaphern die Lücke zwischen Text und visuellen Repräsentation füllen, in dem sie als linguistisches Mittel verstanden werden können welches von Natur aus Text kognitiv visualisiert. Metaphern sind Bilder. Bezugnehmend auf Erkenntnisse der kognitiven Linguistik stellt dieses Kapitel die ‚Visuelle Metaphernanalyse‘ als eine Methode zur Untersuchung eines Prozesses doppelter Visualisierung in Filmen vor. Auf der ersten Ebene beinhaltet dies die Veranschaulichung von Phänomenen im Film selbst – die Bilder, die wir auf dem Bildschirm sehen. Dies kann verglichen werden mit dem, was in der Literatur als metaphorischer Ausdruck bezeichnet wird. Auf der zweiten Ebene umfasst dies die Visualisierung des zugrundeliegenden metaphorischen Themas selbst. Diese konzeptionellen Metaphern sind nicht notwendigerweise eindeutig, aber wichtig, um das in der Erzählung des Films offengelegte Narrativ zu verstehen. Um die vorgeschlagene Methode zu illustrieren untersucht das Kapitel Metaphern für Frieden in dem Spielfilm Mango Dreams, der eine Geschichte des Überwindens schmerzlicher Erinnerungen an Trennung und Leid infolge der Teilung Indiens und Pakistans erzählt. Hierbei werden drei fundamentale Friedensmetaphern identifiziert, welche das Phänomen konzeptuell als HEIMAT, REISE und BRÜCKE bezeichnen. Die Analyse zeigt, dass im Gegensatz zu dem größten Teil der Forschung über Visualisierungen von Frieden, welche sich überwiegend auf die Darstellung von negativem Frieden fokussiert, eine ganzheitlichere Konzeptualisierung von Frieden im Film durch das Einbeziehen von visuellen Metaphern möglich ist.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Schlag und A. Heck (Hrsg.), Visualität und Weltpolitik, Horizonte der Internationalen Beziehungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29971-2_8

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Stephan Engelkamp, Kristina Roepstorff und Alexander Spencer

Schlüsselbegriffe

Metaphern; Frieden; Popkultur; Film; visuelle Diskursanalyse

1 Einleitung Die Debatte über die Nutzung spezifischer Methoden zum Analysieren von visuellem Material und Filmen hat in den Internationalen Beziehungen (IB) einen großen Aufschwung erlebt (z. B. Bleiker 2015; Nexon und Neumann 2006; Heck und Schlag 2015; Heck 2017).1 In diesem Kapitel wird eine interpretative Methode vorgeschlagen, die bisher nur wenig Aufmerksamkeit erhielt, die ‚Visuelle Metaphernanalyse‘ (VMA). Als linguistische Mittel visualisieren Metaphern Texte. Sie füllen dabei die Lücke zwischen Texten und visuellen Repräsentationen. Während die Metaphernanalyse zu einer der meist genutzten textbasierten Methoden für Diskursanalysen in den IB geworden ist (Milliken 1996; Campbell 1998; Hülsse 2003; Beer und De Landtsheer 2004a, 2004b; Little 2007; Kornprobst et al. 2008; Carver und Pikalo 2008; Hülsse und Spencer 2008; Spencer 2011), wurde dem Potenzial eben dieser Methode zur Analyse von visuellem Material wie Filmen bisher wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Bezugnehmend auf Erkenntnisse der kognitiven Linguistik stellt dieses Kapitel die Visuelle Metaphernanalyse als eine Methode zur Untersuchung eines Prozesses doppelter Visualisierung in Filmen vor. Auf der ersten Ebene beinhaltet dies die Veranschaulichung von Phänomenen im Film selbst – die Bilder, die wir auf dem Bildschirm sehen. Dies kann verglichen werden mit dem, was in der Literatur als metaphorischer Ausdruck bezeichnet wird. Auf der zweiten Ebene umfasst dies die Visualisierung des zugrundeliegenden metaphorischen Themas selbst. Diese konzeptionellen Metaphern sind nicht notwendigerweise eindeutig, aber wichtig, um das in der Erzählung des Films offengelegte Narrativ zu verstehen. Um eine Methodik für die Visuelle Metaphernanalyse (VMA) zu entwickeln, untersucht dieses Kapitel Metaphern für Frieden in dem unabhängigen Spielfilm Mango Dreams (2016; R: John Upchurch), der eine Geschichte des Überwindens schmerzlicher Erinnerungen an Trennung und Leid infolge der Teilung Indiens und Pakistans erzählt. 1

Die Forschungsergebnisse in diesem Kapitel basieren auf den Einsichten aus dem Special Issue „Visualization of Peace“ in Peace & Change (Engelkamp et al. 2020a; 2020b).

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Das Kapitel ist folgendermaßen aufgebaut: Der erste Abschnitt gibt einen Überblick über die Forschung zur Visualisierung von Frieden und Konflikt. Im zweiten Abschnitt stellen wir die Methode der VMA vor, indem wir Erkenntnisse aus der kognitiven Linguistik mit Erkenntnissen aus den Filmwissenschaften kombinieren. Im letzten Abschnitt wenden wir die Methode auf den Film Mango Dreams an und identifizieren drei fundamentale Friedensmetaphern, welche das Phänomen konzeptuell als HEIMAT, REISE und BRÜCKE bezeichnen. Die Analyse zeigt, dass im Gegensatz zu dem größten Teil der Forschung über Visualisierungen von Frieden, welche sich überwiegend auf die Darstellung von negativem Frieden fokussiert, eine ganzheitlichere Konzeptualisierung von Frieden im Film durch das Einbeziehen von visuellen Metaphern möglich ist. Im Schlussabschnitt diskutieren wir methodische und theoretische Implikationen für die IB und die Friedens- und Konfliktforschung.

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Die Visualisierung von Frieden und Krieg

Bevor wir uns der Visualisierung von Frieden zuwenden, diskutieren wir zunächst politikwissenschaftliche Konzeptualisierungen des Friedensbegriffs. Die Debatte über das Konzept und die Bedeutung von Frieden ist umfangreich und es ist uns an dieser Stelle nicht möglich, alle Aspekte einer Debatte, die so alt ist wie die Disziplin selbst, zu betrachten. Zwei zentrale Fragen in der laufenden Debatte über die Bedeutung von Frieden sollen jedoch hervorgehoben werden: erstens, ob Frieden mehr ist als die bloße Abwesenheit von Krieg; und zweitens, ob Frieden als ein nie vollständig zu erreichender (Ideal)zustand oder als ein Prozess verstanden werden kann. Zudem ist die Unterscheidung zwischen positivem und negativem Frieden in der Debatte zentral. Der norwegische Friedensforscher Johan Galtung führte diese Unterscheidung in der Gründungsausgabe des Journal of Peace Research (Galtung 1964) ein, der damit eine Verbindung zu seiner Gewalttypologie herstellt. Er argumentiert, dass ein erweitertes Konzept von Gewalt, welches strukturelle und kulturelle Dimensionen einbezieht, zu einem erweiterten Friedensbegriff führt (Galtung 1969, S. 183). In dieser Lesart bezieht sich negativer Frieden auf die Abwesenheit von direkter, physischer Gewalt. Positiver Frieden hingegen benötigt die Abwesenheit von struktureller und kultureller Gewalt, welche sich in ausbeuterischen und repressiven ökonomischen und politischen Strukturen und der (kulturellen und normativen) Legitimierung von direkter und/oder struktureller Gewalt manifestiert. Während diese Unterteilung weit verbreitet ist, bleibt die Frage offen, ob Frieden als ein Zustand oder ein Prozess zu verstehen ist (Meyers 2011,

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S. 41) – oder beides, wie Brock (1990) argumentiert. Czempiels (2002) prozeduralem Verständnis folgend ist Frieden durch abnehmende Ebenen von Gewalt mit einem gleichzeitigen Anstieg an Gerechtigkeit gekennzeichnet. Ein anderes Verständnis von Frieden als Prozess präsentiert Senghaas in seinem zivilisatorischen Hexagon, in welchem er sechs Elemente einer friedlichen Gesellschaft identifiziert: ein Gewaltmonopol, Rechtsstaatlichkeit, Mitbestimmung, soziale Gerechtigkeit, eine Kultur der konstruktiven Konfliktlösung und Unabhängigkeit sowie emotionale Selbstkontrolle der Mitglieder. Frieden ist seiner Ansicht nach im Wesentlichen ein zivilisatorischer Prozess (Senghaas 1995). Eine ähnliche Konzeptualisierung von Frieden kann auf soziale Vertragstheorien zurückgeführt werden. Diese verbinden Frieden mit einer Idee von Staatlichkeit, demokratischem Regieren und gewaltfreien Formen von Konfliktlösung, wie es sich im vorherrschenden liberalen Friedensparadigma widerspiegelt (Bonacker und Imbusch 2006, S. 128; Richmond 2006). Im Gegensatz dazu verstehen viele religiöse Traditionen Frieden als einen Geisteszustand, der nur im Leben nach dem Tod erreicht werden könne (Bonacker und Imbusch 2006, S. 128). Aber auch in dieser Welt kann Frieden auf einer individuellen, gemeinschaftlichen, nationalen und globalen Ebene in Form von sozialer und kommunaler Harmonie in pluralen Gesellschaften erreicht werden – ein vorherrschendes Thema in asiatischen und afrikanischen Diskursen über Frieden. Diese vielfältigen Konzeptualisierungen von Frieden sind keineswegs unangefochten und haben Debatten darüber ausgelöst, ob Frieden in der Tat lediglich die Abwesenheit von Krieg bedeutet oder als mehr als das repräsentiert werden sollte; und ob er in seiner positiven Form dazu verdammt ist, eine unerreichbare Utopie zu bleiben. Diese verschiedenen Verständnisse und Konzeptualisierungen von Frieden prägen auch die Repräsentation von Frieden in visuellen Artefakten. Während die Repräsentation von Krieg und Frieden in Filmen zu einem beliebten Forschungsgegenstand in den IB wurde, lag der Fokus dabei bislang eher auf der Visualisierung von Gewalt und Krieg als auf Frieden. Infolge des sogenannten aesthetic turn (Bleiker 2001; 2009; 2017) konzentrieren sich Untersuchungen neuerdings auf die Lücke zwischen der Repräsentation und dem Repräsentierten als Produkt von Machtbeziehungen. So lassen sich sehr ähnliche eindeutig guten und bösen Protagonisten zugeschriebene Rollen finden, ebenso wie narrative Strukturen und emotionale Effekte, die bewirken, dass eine bestimmte moralische Ordnung über das Management von Krieg, ungeachtet der kulturellen Ursprünge des Films, aufrechterhalten wird (de Carvalho 2006; Dodds 2008; Weber 2006; Engelkamp und Offermann 2012). Das beinhaltet zum Beispiel einen Fokus auf Technologien in Kriegsfilmen, insbesondere auf moderne Waffensysteme und Informationstech-

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nologien, und suggeriert ein Verständnis von Krieg als technisches Problem oder als (Computer-)Spiel (Der Derian 2001; Lacy 2003, S. 615). Jenseits der Visualisierung von Krieg und Konflikt hat die Visualisierung von Frieden viel weniger Aufmerksamkeit erhalten. Nur eine Handvoll Studien in verschiedenen Disziplinen wie Geschichte, Politikwissenschaft, Medienwissenschaften oder Psychologie hat sich bisher mit der Erforschung der Visualisierung von Frieden in einer Reihe von Medien wie Malerei, Zeichnungen, politischen Postern und Fotografie auseinandergesetzt (Díez Jorge und Muñoz Muñoz 2016; Möller und Shim 2019). Thomas Hippler (2013) untersucht zum Beispiel Darstellungen von Frieden und politischer Ikonographie in Zeichnungen aus dem Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert und zeigt auf, wie Repräsentationen von Frieden sich, abhängig vom Kontext und der zugrundeliegenden Konzeptualisierungen von Frieden, über die Zeit verändern. Während er die Visualisierung von einigen positiven Auswirkungen auf Frieden betont, wie etwa in Ambrogio Lorenzetti’s Fresco The Good and the Bad Government (soziale Beziehungen, Freude und Wohlstand), argumentiert er, dass diese positiven, normativen Aspekte in Hobbes’ Leviathan, in dem Frieden ausschließlich als Schutz und Sicherheit dargestellt wird, verschwinden. Wendet man sich der Darstellung des Westfälischen Friedens in Münster im Jahr 1648 durch Ter Borch zu, welche das Friedensabkommen im Historischen Rathaus von Münster zwischen den Vereinigten Niederlanden und der Spanischen Krone zeigt, stellt Hippler fest, dass es dort keine mythologische, idealisierte oder personalisierte Darstellung von Frieden gibt. Stattdessen porträtiert die Zeichnung den Akt des Unterschreibens des Vertrages, welcher symbolisch eher auf gegenseitiger Anerkennung und Symmetrie als auf Hierarchie zwischen den Konfliktbeteiligten beruht (Hippler 2013, S. 59). Im Gegensatz zu Zeichnungen hat Benjamin Ziemann (2008) die Ikonographie von Frieden anhand von Postern von Friedensbewegungen im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg untersucht. Er behauptet, dass in der vormodernen Kunst Frieden für gewöhnlich durch „one of three iconographic traditions [genutzt wurde]: the glorification of the peaceable ruler; the combination of positive virtues in portrayals of good government; and, in connection with figures from classical mythology such as Mars or Minerva“ (Ziemann 2008, S. 240). Im Gegensatz dazu waren Repräsentationen von Frieden auf Postern von Friedensbewegungen unfähig, eine positive Vision von Frieden auszudrücken. Eher waren die Poster dazu imstande, Frieden durch die Negation des binären Opponenten von Gewalt, Konflikt und Krieg oder durch gegensätzliche metaphorische Bilder zu visualisieren. In den 1960er Jahren schloss dies Krieg und Konflikt als eine Gefahr für die Sicherheit des Familienlebens ein, gewöhnlich dargestellt durch Mutter und Kind, beide stereotypische Symbole für Frieden und Unschuld. Dies veränderte sich wieder in

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den 1970er und 1980er Jahren, als man begann, auf Postern Friedensbewegungen durch das Zeigen von Menschenmengen in kollektiven Aktionen und friedvoller Koexistenz darzustellen, was vage erkennen ließ, wie Frieden aussehen könnte, sobald er erreicht wäre (Ziemann 2008, S. 256). Dies schloss häufig „colourful images of peace and harmony“ mit ein, wie etwa Darstellungen von Wildblumenwiesen, Bäumen, Spielplätzen oder das Tauben- und Olivenzweigsymbol (Ziemann 2008, S. 257; Rosenthal 1994). Nichtsdestotrotz scheitern die Poster daran, konkretes visuelles Material für einen positiven Frieden zu bieten, da sie „a vision of peace implicitly or negatively, through the negation of a threatening danger“ artikulieren (Ziemann 2008, S. 259). Frank Möller und David Shim stellen zum Problem der Visualisierung von Frieden in der Fotografie (Möller 2010; 2013; 2017; Möller und Shim 2019) fest, dass sich Frieden entweder durch seine Abwesenheit oder durch seinen Überfluss auszeichnet. Auf der einen Seite wird negativer Frieden als die Abwesenheit von jeglicher Form von Gewalt betrachtet. Jedoch wird Visualisierung dann zu einer vergeblichen Aufgabe, da es unmöglich sei, eine Leere ohne Bezug auf einen existierenden binären Gegensatz zu visualisieren. Auf der anderen Seite kann man festhalten, dass alles, was nicht Gewalt darstellt, faktisch Frieden repräsentiert. Dennoch: “[i]f peace is understood as absence of direct, physical violence, then peace photographs are redundant, threatened by irrelevance. This is the case because the vast majority of images, including the most trivial ones, do not depict violence and would thus qualify as peace photographs” (Möller 2018, S. 221).

Mehrere Studien in der Friedenspsychologie haben untersucht, wie Kinder Krieg und Frieden in unterschiedlichen Kontexten visualisieren (Walker et al. 2003; 2008; Fargas-Malet und Dillenburger 2014). Interessanterweise deuten viele der Ergebnisse, trotz der unterschiedlichen Kulturen und der variierenden Nähe zu aktuellen Konflikten, auf eine gemeinsame Form der Visualisierung von Frieden hin (Walker et al. 2003, S. 191). Ähnlich wie bei der oben genannten Schwierigkeit, Frieden im Gegensatz zu Krieg zu visualisieren, finden die Untersuchungen, dass Kinder besser in der Lage zu sein scheinen, detailliertere und konkretere Bilder von Konflikten als von Frieden zu malen, denn „children’s understanding of war precedes their understanding of peace“ (Walker et al. 2003, S. 192). Viele der Friedensbilder in Zeichnungen entsprechen dem Standard metaphorischer Symbole und Bilder, wie Tauben, Schmetterlinge, Herzen, Pflanzen, die Umwelt, die Sonne, der Frühling und Olivenzweige, genauso wie die Farben Blau und Grün, auf die man auch in anderen Medien stößt (Vuori et. al. 2020). Wissenschaftler*innen haben aufgezeigt, dass Kinder neben der Nutzung dieser Symbole

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Frieden zusätzlich visualisieren, indem sie zwischenmenschliche Beziehungen und Interaktionen in Familien und Freundschaften sowie Alltagshandlungen darstellen, wie nett sein, teilen, Spiele spielen oder Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe, die Hände halten (Myers-Bowman et. al. 2005; Aradau und Hill 2013; Aktas 2015; Cengelci Köse und Gurdogan Bayir 2016). Im Gegensatz dazu wurde Krieg in weniger metaphorischen und eher konkreteren Weisen durch das Darstellen von militärischen Waffen, Kämpfen oder Farben wie Rot, Grau und Schwarz gezeichnet. Insgesamt betrachtet nehmen „children […] significantly more objects and more figures in their war drawings than in their peace drawings“ mit auf (Walker et. al. 2003, S. 191). Bewegt man sich weg von zwischenmenschlichen Beziehungen und Interaktionen, die Kinder in ihrem alltäglichen Leben erfahren haben, wurde Krieg häufig als ein Gruppenkonflikt mit mehr visualisierten Teilnehmer*innen veranschaulicht als in den Darstellungen von Frieden (Walker et. al. 2003, S. 195). Besonders interessant ist auch, dass Kinder Frieden hauptsächlich als negativen Frieden verstehen „associating peace with issues such as the absence of war, the absence of war activities, or with a state of stillness“ (Hakvoort and Oppenheimer 1993, zitiert in Walker et. al. 2003, S. 192; Cengelci Köse und Gurdogan Bayir 2016, S. 192). Ähnlich zu der oben erläuterten Friedensfotografie scheinen Kinder Frieden als das Ende von Krieg oder der Abwesenheit von Konflikt zu visualisieren. So argumentieren Walker et al. (2003, S. 194), dass Kinder Frieden als Inaktivität zeichneten, als würde nichts passieren: „They often drew one or two inactive figures standing side by side.“ Insgesamt finden wir also eine Lücke in der bestehenden Forschung, wie eine positive Interpretation von Frieden artikuliert und untersucht werden kann. Hierzu entwickeln wir im folgenden Abschnitt eine Methode, um visuelle Repräsentationen im Rahmen der Metaphernanalyse in den Blick zu nehmen.

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Visuelle Metaphernanalyse als Methode

Die Metaphernanalyse ist als diskursanalytische Methode in den IB fest etabliert und hat sich zu einer der meist verwendeten Methoden zur Untersuchung von geschriebenem oder gesprochenem Text entwickelt (Milliken 1996; Campbell 1998; Beer und De Landtsheer 2004a; Little 2007; Kornprobst et al. 2008; Carver und Pikalo 2008, Spencer 2010). Forscher*innen haben die Metaphernanalyse auf Aspekte der internationalen Politik wie der Europäischen Integration (Chilton und Ilyin 1993; Drulák 2006; Luoma-aho 2004), Zuwanderungspolitik (Santa Ana 1999; Musolff 2000; Charteris-Black 2006) oder auf Außen- und Sicherheitspolitik

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(Chilton 1996; Chilton und Lakoff 1999; Thornborrow 1993; Hartmann-Mahmud 2002; Oppermann und Spencer 2013) angewendet. So zeigt Petr Drulák (2006, S. 500) auf, dass die „analysis of metaphors has greatly enriched our understanding of international relations.“ Metaphern werden hier als eine Transferenz betrachtet, die ein Thema oder einen Gegenstand in Bezug auf etwas anderes benennt (Jordan 1974; Mahon 1999). Folglich beschreibt Susan Sontag (1989, S. 93) Metaphern als „saying a thing is or is like something-it-is not“, während Paul Ricoeur (1978, S. 80) behauptet, dass eine „metaphor holds together within one simple meaning two different missing parts of different contexts of this meaning“. Jonathan Charteris-Black (2004, S. 21) hat den Begriff der Metapher wie folgt definiert: “a linguistic representation that results from the shift in the use of a word or phrase from the context or domain in which it is expected to occur to another context or domain where it is not expected to occur, thereby causing semantic tension.”

Metaphern ersetzen nicht einfach nur einen Begriff durch einen anderen, sondern erschaffen eine starke Wahrnehmungsverbindung zwischen zwei Dingen (Bates 2004). Vertreter*innen der kognitiven Linguistik wie Lakoff und Johnson (1980) zeigen auf, dass eine Metapher nicht bloß ein „superficial stylistic accessory“ (Beer und De Landtsheer 2004b: 5) ist, sie beeinflusst unser Einvernehmen über die Welt. „Metaphors […] are devices for simplifying and giving meaning to complex and bewildering sets of observations that evoke concern“ (Edelman 1971, S. 65). Lakoff und Johnson (1980, S. 5) argumentieren weiter, dass Metaphern die Art und Weise strukturieren, wie Menschen denken: Das menschliche Begriffssystem als solches ist fundamental metaphorisch (Lakoff and Johnson 1980, S. 297). Zudem glauben sie, dass Metaphern es Menschen ermöglichen, einen begrifflichen Bereich von Erfahrungen in der Form eines anderen zu verstehen, indem Wissen über den erst familiären Bereich auf die zweite, abstraktere und komplexe Domäne vermittelt wird. Die zentrale Idee dabei ist, dass Metaphern einen Ursprungsbereich, zum Beispiel PFLANZE auf einen Zielbereich, zum Beispiel FRIEDEN, projizieren und dabei den Zielbereich in einem neuen Licht erscheinen lassen. Eine Metapher, so Lakoff und Johnson (1980, S. 6), bezieht sich immer auf ein metaphorisches Konzept. Diese Idee ist für gewöhnlich folgender Weise festgehalten: ZIELBEREICH (A) IST URSPRUNGSBEREICH (B) FRIEDEN (A) IST PFLANZE (B)

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An dieser Stelle unterscheidet die Literatur zwischen zwei Arten von Metaphern: der metaphorische Ausdruck und die Konzeptmetapher. Die Konzeptmetapher beinhaltet die abstrakte Verbindung zwischen einer „Konzeptdomäne“ (Lakoff 1993, S. 208–209) zu einer anderen durch das Verknüpfen eines Herkunftsbereiches (PFLANZE) und eines Zielbereiches (FRIEDEN). Das Verknüpfen bezieht sich hier auf „a set of systematic correspondences between the source and the target in the sense that constituent conceptual elements of B correspond to constituent elements of A“ (Kövecses 2002, S. 6; vlg. auch Drulák 2005, S. 3). Konzeptmetaphern müssen im Diskurs nicht explizit sichtbar sein. Metaphorische Ausdrücke sind hingegen direkt sichtbar und repräsentieren die spezifischen Aussagen im Text, dem sich die konzeptuelle Metapher bedient, zum Beispiel: Die Saat des Friedens wurde von Graßwurzelaktivisten gesäht. Frieden muss von beiden Seiten kultiviert werden. Die Metaphern Saat des Friedens und kultiviert sind zwei verschiedene metaphorische Ausdrücke, welche sich beide derselben konzeptuellen Metapher bedienen: FRIEDEN IST PFLANZE. Die konzeptuelle Metapher FRIEDEN IST PFLANZE bezieht sich auf metaphorische Subkategorien wie SAAT, WACHSTUM, WURZELN, welche verschiedene metaphorische Ausdrücke in der Sprache zu einem kohärenten, konzeptuellen System verbinden. Das System verweist auf eine spezifische Bedeutung von Frieden: gedacht als natürliches, organisches Dasein, das kultiviert werden muss, fragil sein und Bedürfnisse haben kann, es kann Leben aufrechterhalten oder aber sterben. Mit anderen Worten: „[t]he conceptual metaphor represents the conceptual basis, idea or image that underlies a set of metaphors“ (Charteris-Black 2004, S. 9). Das Verknüpfen zweier Bereiche ist immer nur einseitig, da nicht alle Merkmale des Konzepts A auf das Konzept B transferiert werden. Vielmehr wird üblicherweise im Bereich der Metaphernanalyse akzeptiert, dass durch das Nutzen einer Metapher „people make selective distinctions that, by highlighting some aspect of the phenomenon, downplay and hide other features that could give a different stance“ (Milliken 1996, S. 221). Metaphern ziehen Aufmerksamkeit auf bestimmte Aspekte eines Phänomens und laden der*die Zuschauer*in, Zuhörer*in oder Leser*in dazu ein, über eine Sache im Licht einer anderen nachzudenken. Metaphern „limit what we notice, highlight what we do see, and provide part of the inferential structure that we reason with“ (Lakoff 1993, S. 481). Wie Chilton und Lakoff (1999, S. 56) aufzeigen, sind Metaphern „concepts that can be and often are acted upon. As such, they define in significant part what one takes as ‘reality’, and thus form the basis and the justification for the formulation of policy and its potential exe-

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cution.“ Metaphern bestimmen die Art und Weise, wie Menschen ein Phänomen definieren und beeinflussen dabei, wie sie darauf reagieren: Sie begrenzen unsere wahrgenommenen Handlungsmöglichkeiten und stellen sie einseitig dar, da sie grundlegende Annahmen und Einstellungen determinieren (vgl. Milliken 1996; Chilton 1996; Mio 1997). Diese konzeptuellen Handlungen der metaphorischen Definition und der Determination folgen nicht starren oder notwendigen Regeln, sie resultieren vielmehr aus verkörperten Erfahrungen in der Sprache und Praxis und sind deshalb veränderbar und ergebnisoffen (Lakoff und Johnson 1980, S. 125; Coëgnarts und Kravanja 2014). Während sich die ersten Wissenschaftler*innen, die sich für Metaphern interessierten, hauptsächlich auf Texte fokussierten, hat sich die Analyse von Metaphern auf den visuellen Bereich ausgeweitet. So ist die Untersuchung von visuellen oder bildhaften Metaphern in den Gebieten Film (Carroll 1996; Whittock 1990; Coëgnarts and Kravanja 2014; Koetsia and Forceville 2014), Werbung (Forceville 1994; 1996) oder Cartoons (Morris 1993; El Refaie 2003) mittlerweile fest etabliert. Das bedeutet jedoch nicht, dass es eine Übereinstimmung über das gäbe, was eine visuelle Metapher konstituiert. Manche Autor*innen wie Noël Carroll (1996, S. 814) haben eine enge Sichtweise auf visuelle Metaphern und behaupten, dass man nur in Einzelfällen von visuellen Metaphern sprechen kann, wenn „physically noncompossible elements co-habitate a homospatially unified figure which, in turn, encourages viewers to explore mappings between the relevant constituent elements and/or the categories or concepts to which the constituent elements allude.“ Das bedeutet, dass durch die Verschmelzung sowohl Ursprungs- als auch Zielbereich beide in dem gleichen ‚Akteur/Objekt/Ereignis‘ zur selben Zeit in einer Art und Weise sichtbar sein müssen, die nicht in der realen Welt vorkommt. Dies wäre etwa der Fall, wenn ein Soldat (Ziel) mit dem Gesicht eines Wolfes (Ursprung) gezeigt wird. Weiterhin hält Carroll (1996) fest, dass die Erschaffung einer Metapher absichtlich und der*die Zuschauer*in sich dieser Absicht bewusst sein muss. Im Gegensatz dazu betrachtet Charles Forceville (1996) visuelle, oder, wie er sie bezeichnet, bildhafte Metaphern als ein Abbild, bei dem ein erwartetes visuelles Element durch ein anderes, unerwartetes Element ersetzt wird. Dadurch wird etwas Unkonventionelles erschaffen. Um etwas als eine bildhafte Metapher zu bewerten, sollte man fähig sein, drei Fragen zu beantworten: (1) Was sind ihre zwei Bereiche? (2) Was ist der Zielbereich, was ist der Ursprungsbereich? (3) Welche Merkmale können oder müssen vom Ursprung bis zum Ziel verknüpft werden? (Forceville 1996, S. 108). Jenseits solcher formalen Kriterien zeigen andere Forscher*innen auf, dass jedes visuelle Bild als eine Metapher betrachtet werden kann, „provided that its use is intended to occasion a metaphoric thought“ (Kennedy et al. 1993, S. 244). Wir würden darüber hinaus gehen und festhalten, dass im Gegensatz zu textbasierten

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Metaphern visuelle Metaphern vollständig im metaphorischen Auge des Betrachters liegen. Das essenzielle Element einer Metapher ist, dass es uns dazu bringt, ein Konzept (Ziel) mit der Hilfe eines anderen (Ursprung) zu verstehen und dabei unser Verständnis des Ziels beeinflusst. Ob dies an den Absichten des Autors oder der Autorin des (metaphorischen) Bildes liegt oder nicht, ist irrelevant, wenn der Prozess der Übertragung plausibel ist und dem Zweck dient, Bedeutung zu konstruieren. Der*die Leser*in versteht den Sinn der Metapher durch sein*ihr Lesen eines Bildes als Metapher, die plausibel für das Publikum ist. Als essenziell für eine visuelle Metapher betrachten wir den Prozess der doppelten Visualisierung. Dieser umfasst die explizite Visualisierung, auf welche sich Lakoff und Johnson (1980) als metaphorischen Ausdruck im Film beziehen, genauso wie die (oft implizierte) Visualisierung der Konzeptmetapher in der Interpretation der*des Zuschauenden. Um unseren Standpunkt zu veranschaulichen, wenden wir die konzeptuelle Unterscheidung zwischen metaphorischem Ausdruck und konzeptueller Metapher auf den visuellen Bereich an. Den Film Mango Dreams als Beispiel nutzend werden wir uns auf drei konzeptuelle Metaphern als Ausdruck des Zielbereichs Frieden fokussieren.

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Metaphern von Frieden in Mango Dreams

Dieser Abschnitt wird zunächst den Konflikt, der in Mango Dreams präsentiert wird, kontextualisieren und die Handlung zusammenfassen (4.1). Anschließend wird eine Analyse der drei wichtigsten konzeptuellen Metaphern, HEIMAT (4.2), REISE (4.3) und BRÜCKE (4.4), erfolgen.

4.1

Teilung, interkommunale Gewalt und die Suche nach Frieden

Im August 2017 haben sowohl Indien als auch Pakistan das 70. Jubiläum ihrer Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft gefeiert. Die Feierlichkeiten waren eine Darstellung von Nationalstolz und Identität. Was bemerkenswerterweise fehlte, war eine Gedenkfeier für die Gefallenen und das Leid, die die Unabhängigkeit mit sich brachte. So beobachten Bajpaj und Framke (2017, S. 1): “The date simultaneously marked the 70th anniversary of the gory, violent and tragic experiences of Partition. Notably, the episodes and events of Partition failed

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to find any mention in the addresses of either Shahid Khaqan Abbasi or Narendra Damodar Modi, the political heads of the two states. No official obituaries for those who were killed in the (religious) riots or the innumerable women who were raped and abducted, nor any moments of silence for the strife of those who were displaced and have led partitioned lives.”

Die Hinterlassenschaften der blutigen und gewaltsamen Ereignisse, die die Teilung (und Unabhängigkeit) begleiteten, haben das Leben der betroffenen Bevölkerung, interkommunale Beziehungen und die Politik auf dem Subkontinent geprägt. Das Ziehen neuer politischer Grenzen und die Schaffung zweier unabhängiger Staaten führte zu weit verbreiteter interkommunaler Gewalt, Massenvertreibungen und einer hohen Zahl von Opfern (Khan, 2007; Talbot und Singh 2009). Es wird geschätzt, dass 12 Millionen Menschen in der nördlichen (und zu teilenden) Region Punjab und bis zu 20 Millionen auf dem gesamten Subkontinent vertrieben wurden; etwa eine Million Menschen wurden bei den Ereignissen von 1947 getötet (Zamindar 2013). Diese blutigen Ereignisse, das daraus resultierende Trauma und die nachhaltigen Auswirkungen auf Familien, die geteilt wurden und ein entwurzeltes Leben führten haben, sind bis heute in nationalen Narrativen, persönlichen Lebensgeschichten und der regionalen Politik präsent. Seit der Teilung Britisch-Indiens 1947 in die beiden Staaten Indien und Pakistan im Zuge der Unabhängigkeit von der Kolonialherrschaft haben die beiden Länder eine Reihe von Kriegen geführt (Ganguly 2001; Dixit 2002; Paul 2005). Die Gefahr einer militärischen Konfrontation zwischen den beiden Atommächten ist nach wie vor hoch und stellt eine ernste Gefahr für die internationale und regionale Sicherheit dar. Im Zentrum des Konflikts steht die ungelöste Kaschmir-Frage, die ein Erbe der Teilung ist (Raghavan 2010, S. 106ff.; Debergh-Robinson 2010; Bose 2007, S. 163), ebenso wie der Indisch-Pakistanische Krieg von 1971 um den damaligen Osten Pakistans (das heutige Bangladesch). Auf nationaler Ebene sind wiederkehrende Ereignisse interkommunaler und interreligiöser Gewalt und Unruhen (Rinker 2016; Das 1995; Brass 2003; Varshney 2003; Engineer 1997; Ghassem-Fachandi 2012) und der Aufstieg des Hindu-Nationalismus und der Hindutva-Ideologie in Indien (Akhtar 2016) nur im historischen Kontext der Teilung und der Ereignisse zu verstehen, die zur Unabhängigkeit und Gründung der beiden Nationalstaaten führten. Die Unruhen im Jahr 2002, bei denen im Staat Gujarat und in der Stadt Ahmedabad bis zu 2.000 Menschen getötet und 150.000 vertrieben wurden, waren eines der brutalsten Ereignisse interkommunaler Gewalt in Indien nach der Unabhängigkeit (Ghassem-Fachandi 2012; Spodek 2010). Obwohl die traumatische Geschichte der Teilung durch offizielle Erzählungen weitgehend zum Schweigen gebracht (Yusin 2009; Bajpai und Framke 2017; Daiya 2008) und von nationalistischen Diskursen und „a cyclical, ritualised remembrance

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of the nationalist movement(s) for independence from colonial rule“ (Bajpai und Framke 2017): 1) überschattet wurde, wurden Erinnerungen und die Anerkennung der gelebten Erfahrungen der Teilung und ihrer Auswirkungen auf das Leben der Menschen durch mündliche Überlieferungen, Alltagskultur und zivilgesellschaftliche Initiativen zurück ins kollektive Gedächtnis gerufen (Bajpai und Framke 2017, S. 10). Romane, Comics, Kunst und Film sind einige der Mittel, durch die die traumatische Geschichte auf neue Weise erzählt wird – die Sammlung grafischer Narrative über die Teilung mit dem Titel This Side, That Side: Restorying Partition, herausgegeben von Vishwajyoti Ghosh und veröffentlicht im Jahr 2013, ist nur ein Beispiel dafür. Das Kino ist eine besonders einflussreiche Form der populären Kulturproduktion für Menschen in Indien und Pakistan (Viswanath und Malik 2009). Studien über das Kino in Indien sind umfangreich und der Einfluss des indischen Kinos auf die Konstruktion der nationalen Identität gut erforscht (Chakravarty 2011, Ahmed 1992). Das Kino erzählt Geschichten von Teilung und Vertreibung, Leid und Verlust von Menschenleben und „undertakes the representation of trauma and task of mourning in ways distinct from, say, literature, oral history, or truth commission testimonials“ (Sarkar 2009, S. 19). Viele populäre Filme, darunter Garm Hava (1973), Tamas (1988), Earth (1998), Train to Pakistan (1998) und Partition (2007) thematisieren die Teilung.2 Diese Nacherzählungen der Ereignisse stellen Erfahrungen von Gewalt, Leid und Verlust dar. Die Metapher der Bewegung und einer Yatra (Reise) (Datta 2017, zitiert in Bajpai und Framke 2017, S. 7) und die durch die Teilung geschaffene Grenze „becomes the geographical inscription of the meaning and impact of history upon identity – both collective and individual“ (Yusin 2009, S. 453). Der englischsprachige Film Mango Dreams (2016) des US-amerikanischen Regisseurs John Upchurch erzählt eine Geschichte der Überwindung von Trauma, von Vergebung und Versöhnung in Indien. Der mehrfach ausgezeichnete Film, der beim Peace on Earth Festival 2017 als bester narrativer Spielfilm ausgezeichnet wurde und beim Arizona International Film Festival den Special Jury Award for Bridging Cultures gewann, ist für die Analyse der Visualisierung von Frieden von Interesse. In seinem ersten Spielfilm erzählt Upchurch eine Geschichte von interkommunaler und interreligiöser Gewalt, Teilung und Vertreibung, aber auch der Suche nach Frieden. Obwohl es sich um einen englischsprachigen, US-amerikanischen Film handelt, richtet er sich an das indische und pakistanische Publikum (Upchurch 2017). Der Film stieß in Indien auf positive Resonanz, erreichte jedoch nur ein kleines Publikum in den Vereinigten Staaten, während er in Pakistan bislang nicht 2 Für eine kurze Zusammenfassung dieser Filme: http://lwlies.com/articles/films-aboutthe-partition-of-india/, abgerufen am 20. März 2018.

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gezeigt wurde. Die Hauptvertriebskanäle bleiben Filmfestivals, da die indische Zensurbehörde den Film noch nicht überprüft hat und er nicht für den Verleih ausgewählt wurde (ebd.). Mango Dreams versucht religiöse Toleranz zu fördern, religiöse und territoriale Spaltungen zu überwinden und eine Botschaft der Vergebung und des Friedens zu verbreiten (ebd.). Der Film behandelt zwei blutige Ereignisse in der indischen Geschichte und ihre verheerenden Auswirkungen auf einzelne Leben und interkommunale Beziehungen: die Gewalt und Entwurzelung, die die Teilung begleiteten und die Unruhen in Gujarat 2002. Obwohl die Teilung der vorherrschende Bezugspunkt im Film ist, ist der gewählte Ort Ahmedabad – die Hauptstadt des Staates Gujarat – ein impliziter Verweis auf die Unruhen von 2002. Die beiden Ereignisse sind in den zwei Hauptfiguren und ihren Lebensgeschichten verkörpert, die sich durch den Film hindurch entfalten. Die beiden Protagonisten – Dr. Amit Singh (Ram Gopal Bajaj) und Salim (Pankaj Tripathi) – begeben sich auf eine Reise, die sie mit den traumatischen Ereignissen ihrer Vergangenheit konfrontieren wird. Amit Singh ist ein Sikh, der während der Teilung noch als Kind aus dem heutigen Pakistan nach Indien vertrieben wurde. Der Film erzählt die Geschichte seiner persönlichen Erfahrungen, die er als Kind mit der Teilung machte. Da seine Familie in Folge der interkommunalen Gewalt, die nach der Teilung ausbrach, von Muslimen ermordet wurde, wird sein Leben als permanente Flucht dargestellt. Konfrontiert mit der Diagnose Demenz und der Erkenntnis, dass er schließlich sein Gedächtnis verlieren wird, beschließt Amit, in sein Elternhaus zurückzukehren, das „woanders“ (Bajpai und Framke 2017, S. 2) liegt, um mit seiner Vergangenheit Frieden zu schließen. Sein Sohn Abhi (Samir Kochhar), dargestellt als ein in den USA lebender Inder, der die Teilung selbst nicht erlebt hat, zeigt wenig Verständnis und möchte seinen Vater in einem Altersheim unterbringen. Amit läuft davon und begibt sich auf eine Reise in seine Vergangenheit. Er begegnet Salim, der anderen Hauptfigur, einem muslimischen Auto-Rikschafahrer. Salim hat ebenfalls eine traumatische Geschichte: seine Frau wurde von Hindus während der Unruhen 2002 in Gujarat vergewaltigt und verbrannt. Amit, der Arzt war, rettete Salims Sohn das Leben, daher stimmt Salim zu, Amit „überall“ hinzufahren – ohne den Zweck der Reise zu kennen. Amit sagt, er will „nach Hause“ gebracht werden, was (zu Salims Überraschung) die beiden Protagonisten schließlich an die indisch-pakistanische Grenze führen wird. Während ihrer Reise werden sie zu Freunden, helfen sich gegenseitig bei der Bewältigung ihrer schweren Vergangenheit und finden schließlich Frieden.

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4.2

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FRIEDEN IST HEIMAT

Die Eröffnungssequenz von Mango Dreams kreiert HEIMAT als Konzeptmetapher für etwas Verlorenes und als begehrenswertes Ziel der Reise der Protagonisten. Der Film beginnt mit der Darstellung von Amit Singh, der durch Reisfelder spaziert und verschwimmt zu einem Rückblick auf Amits Kindheit. Der junge Amit (Parminder Singh) bringt seinen Bruder Abhay (Sukirat Singh) durch eine Täuschung dazu, ihm sein Spielzeug, einen Kreisel, zu geben. Als sich die Jungen nach einem Streit um eine Mango trennen, werden sie sich jahrzehntelang nicht mehr wiedersehen. Das Bild wechselt zu kurzen Ausschnitten von Nachrichtenclips über die Unabhängigkeit und die Teilung. Man sieht Bilder von Flüchtlingen und Gewalt, die auf ein schreckliches Ereignis in Amits Familie hindeuten. Diese Sequenzen werden mit dramatischer Musik und Amits Rufen nach seinem Bruder überspielt. Anschließend sehen wir den erwachsenen Amit, wie er rennt und verzweifelt nach seinem Bruder ruft. Später im Film erscheint die Metapher von HEIMAT erneut, wiederum als Ort einer Familientrennung. 65 Jahre nach der ersten Trennung ist Amit ein erfolgreicher Mediziner, der feststellt, dass er möglicherweise an Demenz leidet. Seine Frau ist vor einiger Zeit an einer Krankheit verstorben, die er nicht heilen konnte. Amit befindet sich in seinem Haus in Ahmedabad, als ihm sein erwachsener Sohn Abhi einen Überraschungsbesuch abstattet. Abhi weiß von der fortschreitenden Krankheit seines Vaters und schlägt vor, ihn in eine Pflegeeinrichtung zu bringen, bis er die Einreise von Amit in die Vereinigten Staaten arrangieren kann, um mit ihm und seiner US-amerikanischen Ehefrau (Audrey Wagner) zusammenzuwohnen. Amit lehnt das Angebot seines Sohnes ab, da er nicht in „ein Gefängnis“ gesteckt werden will (Mango Dreams 0:21:07). Ironischerweise beobachtet der Betrachter das Gespräch durch das vergitterte Fenster von Amits Haus, was den visuellen Eindruck erweckt, dass er seit jeher im Gefängnis gelebt hat. Der Film stellt HEIMAT als einen Ort dar, der eng mit der Familie verbunden ist, zugleich aber auch als einen Ort des Konflikts, der metaphorisch mit der Trennung von Familien in Vergangenheit und Gegenwart ausgedrückt wird. Im selben Moment ist HEIMAT ein Zielort, an welchem Amit sich erhofft, Frieden zu finden. Amits Reise ist also im doppelten Sinne mit HEIMAT verbunden: er muss Ahmedabad verlassen, genauer gesagt vor seinem eigenen Sohn beziehungsweise seiner eigenen Familie weglaufen, um an seinen Geburtsort zurückzukehren. An diesem Ursprungsort hofft Amit, sich wieder mit seinem Bruder und seiner Familie zu vereinen und sich so mit seinen „Wurzeln“ zu verbinden, wo „meine Eltern – meine Vorfahren

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– gepflügt haben“ (Mango Dreams: 1:16:50).3 Zugleich ist es der Ort, an dem er auf seine frühesten und schmerzhaftesten Erinnerungen stößt, der Ort, an dem seine Familie bei interkommunalen Unruhen ums Leben gekommen ist. Unserer Deutung zufolge repräsentiert Mango Dreams die Zieldomäne FRIEDEN durch die räumliche Metapher HEIMAT als einen geografischen Ort. Zu Beginn des Films wissen wir noch nicht, wo sich dieser Ort befindet. Alles was die Handlung bis zum Ende der Geschichte offenbart, ist, dass HEIMAT durch soziale Beziehungen bedeutsam ist: die Bindung des Protagonisten zu seiner Familie. Diese konzeptuelle Metapher wird durch Bilder von historischen Medienberichten über Unabhängigkeit und Teilung kontrastiert. In diesen Ausschnitten lassen sich klare geografische Bezüge und Bezeichnungen von Städten, Grenzen und Orten des Kampfes und der Gewalt finden. Man sieht Menschen, die Fahnen schwenken und politische Landkarten, in denen die Grenze zwischen Indien und Pakistan gezogen wird. Die konzeptuelle Metapher HEIMAT bildet den Anfangs- und Endpunkt von Amits und Salims REISE, was die zweite konzeptuelle Metapher von FRIEDEN in Mango Dreams darstellt.

4.3

FRIEDEN IST EINE REISE

Mango Dreams konzentriert sich hauptsächlich auf die Hauptfiguren und ihre Beziehungen. Dabei verwendet der Film die konzeptuelle Metapher REISE, die auf verschiedenen Ebenen funktioniert. Es ist eine Reise, die motiviert ist von einem Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Heimat, die „anderswo“ ist, und die moderne Staatsgrenzen überschreitet. Wie Bajpai und Framke (2017, S. 2) zur Kenntnis nehmen: „partitioning the territories has not completely curtailed them from speaking about a past that used to be ‚elsewhere‘. Thus, memory itself cannot be territorially quarantined, given it spills over states’ boundaries both spatially and temporally“. Auf einer anderen Ebene ist die Reise ein üblicher bildlicher Ausdruck in Spielfilmen, um (Selbst-)Entdeckung oder eine Suche darzustellen, wobei „the end of the journey can be a physical, spiritual or psychological destination or may involve aspects of all three“ (Wright 2002, S. 62). Der Film folgt daher mit seiner narrativen Struktur, „an episodic journey through which characters can be involved in the process of self-discovery or learning about each other and/or themselves along the way“, dem Roadmovie-Genre (Wright 2002, S. 62). Die Reise der Protagonisten von Amits Haus in Indien zu seinem Heimatdorf in Pakistan zeigt Elemente einer Komödie, die daraus resultieren, dass Amit seinem Fahrer Salim zunächst nicht sagt, dass sie 3 Somit ist auch die Konzeptmetapher FRIEDEN IST PFLANZE sichtbar.

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sich auf eine Reise begeben, die sie durch ganz Indien führen wird. Noch wichtiger ist jedoch die Form dieser Reise, die einem Ritual ähnelt, in dem sowohl Amit als auch Salim sich den Erinnerungen an ihre schwierige Vergangenheit stellen werden. Am Ende ihrer spirituellen Reise werden die Protagonisten Frieden finden, indem sie sich mit ihren Gefühlen von Hass und Schuld versöhnen. Die REISE ist Teilaspekt der BEWEGUNGS-Metapher (Lakoff und Johnson 1980). Ein auffallendes Merkmal der in Mango Dreams dargestellten Reise ist ihre zeitliche Dimension, aufgezeigt durch einen fortschreitenden Prozess der Verlangsamung. Amit weigert sich, einen Bus oder einen Zug zu nehmen, stattdessen machen er und Salim sich mit einer Auto-Rikscha auf den Weg durch Indien. Während der gesamten Reise wird sich Amit weigern, schnellere oder bequemere Transportmittel zu nutzen. Ganz im Gegenteil, das Motiv der Verlangsamung wird noch wichtiger, als die Reisegruppe den letzten Teil ihrer Reise schließlich zu Fuß geht. Diese zeitliche Dimension der REISE-Metapher umfasst noch einen weiteren Aspekt. Amit erzählte einem alten Freund (S. M. Zaheer) zu Beginn der Handlung, dass er seine Erinnerungen in umgekehrter Reihenfolge vergessen wird. Ironischer und grausamer Weise wird seine Demenz ihn dazu zwingen, seine „best memories […] first“ zu verlieren (Mango Dreams: 0:15:46). Er wird seine Frau (Rohini Hattangadi) und seinen Sohn, seine erfolgreiche Karriere als Arzt und sein wohlhabendes Leben in Ahmedabad vergessen. Seine frühesten und schmerzhaftesten Erinnerungen, sagt Amit voraus, werden die letzten sein, denen er begegnen wird. Aus dieser Perspektive kann die Reise als eine aktive Entscheidung, sich der Vergangenheit von Amit zu stellen, gedeutet werden. Sie wird es ihm ermöglichen, sein Leben noch einmal zu durchleben und ihn schließlich zu seinem Heimatort führen. Amit wird seinen Erinnerungen in umgekehrter Reihenfolge begegnen, so bauen sie sich langsam in der Dramaturgie auf, um ihn schließlich darauf vorzubereiten, sich am Ende seiner Reise seiner schmerzhaften Vergangenheit zu stellen. Während die Demenz Amit dazu zwingt, diese Begegnung zu ertragen, macht seine Entscheidung, sich auf die Reise zu begeben, sein Schicksal zu einer aktiven Entscheidung. Während die Reise als eine transformierende Erfahrung, bei der die Begegnung mit schmerzhaften Erinnerungen die Protagonisten wieder mit der Vergangenheit verbindet, dargestellt wird, schafft sie es ebenso, Amit und Salim metaphorisch mit der Natur zu verbinden. In einem späteren Stadium ihrer Reise baut Amit das Dach der Rikscha ab, denn er „wanted to see the sky“ (Mango Dreams: 1:03:20). Dieses Motiv der Wiederverbundenheit mit der Natur taucht erneut auf, als die Reisenden den letzten Teil ihrer Reise zu Fuß antreten und sogar im Freien übernachten, was sie wortwörtlich auf die Erde zurückbringt. Während der gesamten Reise lässt sich beobachten, wie sich die beiden Protagonisten dadurch optisch verwandeln. Salim tauscht sein schäbiges Hemd gegen Markenkleidung, während Amit, der

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in einem westlichen Anzug gekleidet war, nun traditionelle Sikh-Kleidung trägt. Die Transformation der Reise ist auf die Körper der Protagonisten eingeschrieben. Die REISE bietet den Protagonisten viele Möglichkeiten, miteinander zu kommunizieren. Sie sprechen über alltägliche Themen wie Ernährung und verschiedene Essensvorlieben von Muslimen und Sikhs, aber auch über Religion, Politik, die Bedeutung von Familie und den Sinn des Lebens im Allgemeinen. Die REISE wird somit als Beitrag zum Aufbau neuer sozialer Beziehungen, kulturellen Verständnisses und als Gelegenheit dargestellt, schmerzhafte Erinnerungen mit neuen Bedeutungen zu versehen. Sowohl Amit als auch Salim erkennen, wie der andere unter Gewalt gelitten hat. Die Reise ermöglicht es beiden Protagonisten, ihren Erinnerungen zu begegnen, indem sie Orte besuchen, Menschen treffen, Essen teilen und Musik hören.4 Sie besuchen ikonische Orte „Indiens“ und der indischen Geschichte, einen hinduistischen Tempel, eine Moschee, in der sie einer muslimischen spirituellen Musikgruppe begegnen, aber auch ein Krankenhaus und eine verlassene Eisenbahnlinie, auf der Amit Zeuge eines Massakers wurde, bei dem Sikhs Muslime töteten. Mango Dreams stellt diese Orte als verkörperte Stätten der Erinnerung dar. Als sich herausstellt, dass beide ihre Angehörigen durch interkommunale Unruhen verloren haben, erkennen sie die Bedeutungslosigkeit vorherrschender Narrative, die Hindus, Sikhs oder Muslime für Gewalttaten verantwortlich machen. Was eigentlich zählt, ist, das Leiden des Einzelnen zu erkennen. So bemerkt Amit, “[t] he people who killed your wife, and the people who killed my family, are the same. God did not divide us, men did“ (Mango Dreams: 1:07:50). Die REISE bietet eine Möglichkeit zum Austausch zwischen den Protagonisten, was als soziale Voraussetzung für FRIEDEN dargestellt wird. Während es buchstäblich zu Austauschbeziehungen kommt, z. B. die Rückzahlung von Schulden, ist die Anerkennung einer gemeinsamen Sozialität zwischen den Reisenden als interagierende und voneinander abhängige soziale Akteur*innen, die mehr teilen als sie unterscheidet, noch elementarer. So stimmt Salim anfänglich aus Schuldgefühlen zu, Amit in sein Heimatdorf zu bringen, da dieser seinen Sohn kostenlos behandelte, als er an Dengue-Fieber litt. Amit verrät Salim später, dass er sich nicht aus Profitgründen dazu entschloss, Medizin zu praktizieren, sondern aus einer ethischen Berufung heraus, die besagt, dass „this body is meant to help others“ (Mango Dreams: 0:47:34). Eine Rückzahlung von Schulden ist daher nicht erfor-

4 Der Soundtrack des Films ist ein interessanter Aspekt, der an dieser Stelle nicht weiter analysiert werden kann. Es genügt zu sagen, dass die Texte das gesamte metaphorische Thema unterstreichen, indem sie die Straße als „road of life“ metaphorisch darstellen und betonen, dass „beauty is everywhere“.

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derlich. Dennoch wird Salim später ein Pfand auslösen, das für Amit eine wertvolle Erinnerung darstellt, nicht aus Schuldgefühl, sondern als ein Akt der Freundschaft. Die REISE-Metapher stellt FRIEDEN als multidimensionalen Prozess dar. Sie hat eine zeitliche Dimension, die mit der Verminderung der Geschwindigkeit beginnt, was durch sukzessive Aktionen der Verlangsamung visuell verstärkt wird. Gleichzeitig lässt die REISE Amit die Orte der wichtigsten Stationen seines Lebens, in umgekehrter Reihenfolge, wieder besuchen. Er begegnet zuerst den besten Erinnerungen seiner späteren Jahre, bevor er sich erfolgreich den schmerzhaftesten und verstörendsten Erinnerungen stellt. Der Weg zum Frieden ist, wie die Metapher andeutet, ein langsamer und schwieriger Prozess. Es erfordert die aktive Auseinandersetzung mit den eigenen schmerzhaften Erfahrungen, aber auch das Erkennen des Leidens des Anderen. Was diesen Prozess erleichtert oder überhaupt erst ermöglicht, ist Gesellschaft. Die Interaktion und gegenseitige Abhängigkeit zwischen Amit, dem Sikh Arzt, und Salim, dem muslimischen Rikscha-Fahrer, stellt die soziale Dimension von FRIEDEN als einen Prozess der Friedensförderung dar. Durch ihre Unterhaltungen verändern beide Protagonisten die Sichtweise auf den Anderen. In Salims Fall beinhaltet dies, Frieden zu schließen mit „den Hindus“, die seine Frau getötet haben und denen er schließlich vergeben kann. Für Amit bedeutet dies, sich mit seiner grauenhaften Vergangenheit auseinanderzusetzen und seinem Schuldgefühl zu begegnen, das er seinen Bruder in die Arme seiner vermeintlichen Mörder laufen ließ. Der soziale Austausch zwischen Amit und Salim funktioniert als metaphorischer Ausdruck, der ihnen hilft, das Narrativ interreligiöser Konflikte auf eine neue moralische Weise neu zu gestalten. Es hilft den Reisenden, den Orten, die sie besuchen, eine neue Bedeutung beizumessen, die in größerem Maßstab auch emblematische Orte und metaphorische Ausdrücke der Biographie der indischen Nation sind. Anstatt den Schmerz zu vergessen, geht es bei dieser Reise darum, ein neues Gleichgewicht in der Erkenntnis zu finden, dass Gewalt politisch ist und nicht ein essenzielles Merkmal einer bestimmten Gruppe oder Religion. Die REISE kann demnach als ein Akt der Befreiung aus dem metaphorischen Gefängnis individueller und kultureller Erinnerung gedeutet werden, die sich beispielsweise in einer nationalen Geschichte und einem nationalen Narrativ ausdrückt, welches die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft auf eine Weise miteinander verbindet, die epistemologisch gewalttätig sein kann, indem sie das Leiden anderer vernachlässigt oder gar auslöscht. Im Gegensatz dazu aktiviert die REISE als eine Konzeptmetapher eine mentale, körperliche und schließlich moralische Transformation des Individuums und möglicherweise der Nation als eine vorgestellte Gemeinschaft. Die REISE wird hier als eine Konzeptmetapher dargestellt, die solche sozialen Beziehungen ermöglicht, welche zu einem holis-

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tischen Verständnis von FRIEDEN führen können. Ein solches Verständnis, wie unsere Deutung von Mango Dreams suggeriert, könnte uns, dem Publikum, helfen zu erkennen, dass HEIMAT als eine Art Sehnsuchtsort nicht nur das Ziel am Ende der REISE ist: Sie kann überall sein. Um zu diesem Schluss zu gelangen, müssen wir FRIEDEN nicht nur als Ort (HEIMAT) oder Prozess (REISE), sondern auch als Praxis (BRÜCKE) begreifen.

4.4

FRIEDEN IST EINE BRÜCKE

Eine Schlüsseltrope in Mango Dreams, die auch im Partition Cinema in Indien, Pakistan und Bangladesch ein wiederkehrendes Thema ist, ist die Geschichte der verlorenen Brüder (hier als Symbol für Pakistan und Indien) und das Thema des Verlierens und Wiederfindens, das mit Erinnerungen an die Teilung des Subkontinents mitschwingt (Viswanath und Malik 2009, S. 62). Das Ende der Reise ist so gedacht, Frieden mit der Vergangenheit und der Gegenwart durch die Überwindung von Trennungen zu schließen: die Trennung zwischen den Protagonisten, die Trennung zwischen den Brüdern und die Trennung zwischen den beiden Ländern. Die Visualisierung von Frieden als eine Brücke, die Grenzen und Trennungen überwindet, zeigt sich besonders deutlich in der Schlussszene von Mango Dreams, die der Regisseur John Upchurch wie folgt beschreibt (2017): “I think the final scene visualizes not only peace but my main message. The final scene takes place at a remote border crossing between India and Pakistan. Fencing and barbed wire line both sides of the borders. There is a small bridge connecting the two sides. Halfway between India and Pakistan, there is a white line painted across the bridge. This is where two brothers meet after 65 years of separation. The brothers are divided by the white line and a small gate. The soldiers who guard the border, not the politicians, decide that the morally right thing to do is to let the brothers reunite. So, the final shot of the film is from above looking down at the border and we see all the structures (the walls, fences, and barbed wire) separating the two countries fade. And, finally, we see the thin white border line completely disappear. The disappearance of the border and the reunion of the two brothers was my visualization of peace.”

In Mango Dreams fungiert BRÜCKE als eine konzeptuelle Metapher, die die physische und politische Grenze zwischen Indien und Pakistan überschreitet und letztendlich bedeutungslos werden lässt. Als Amit und Salim, zu denen sich nun auch Amits Sohn Abhi und sein Fahrer gesellt haben, endlich das Ende ihrer Reise erreichen, stellt sich heraus, dass sich Amits Heimatdorf heute in Pakistan befindet. Sie erreichen einen abgelegenen Grenzposten, an dem eine Brücke beide Länder miteinander verbindet. Amit wird die Durchfahrt verweigert, da ihm die erforderlichen

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Dokumente fehlen. Als Amit schließlich die Brücke dennoch überquert, um mit seinem Bruder (Naseeruddin Shah) zusammenzuleben, verschwindet die Grenzlinie in der Schlussszene: Die metaphorische Bedeutung der Brücke wandelt sich visuell von einer trennenden in eine verbindende Technologie (siehe Abbildung 1 und 2).

Abb. 1 Der Grenzposten (Standbild Mango Dreams); Abdruck mit Genehmigung des Regisseurs

Das Bild der sich vereinigenden Brüder und die verschwindende Grenzlinie ist lediglich der offensichtlichste visuelle metaphorische Ausdruck von FRIEDEN in Mango Dreams. BRÜCKE fungiert noch viel grundlegender als eine konzeptuelle Metapher für FRIEDEN. Während ihrer Reise realisieren sowohl Amit als auch Salim, dass HEIMAT überall ist. Während Salim beispielsweise erklärt, dass seine Moschee von Hindus zerstört wurde, rollt er seinen Gebetsteppich nun einfach auf der Straße aus. Seine Moschee ist jetzt überall dort, wo er sich entscheidet zu beten. Das Thema ‚HEIMAT ist überall‘ zieht sich durch den ganzen Film und wird durch den Gesang im Soundtrack des Films verstärkt. BRÜCKEN und HEIMAT sind in Mango Dreams überall dort zu finden, wo soziale Beziehungen aufgebaut und die verkörperten Erfahrungen des Selbst und des Anderen erkannt werden.

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Abb. 2 Die verschwindende Grenze (Standbild Mango Dreams); Abdruck mit Genehmigung des Regisseurs

Die REISE-Metapher kann durch den Aufbau einer familiären Beziehung über Zeit und Raum ebenso als eine Überbrückung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gedeutet werden. Diese neue Art von Beziehungen wird durch die familiäre Wiedervereinigung zwischen Amit und seinem Bruder dargestellt, die Amits Erinnerungen an die Vergangenheit mit seiner neu entdeckten Familie im heutigen Pakistan verbindet und neugestaltet. Gleichzeitig entsteht eine neue Verbindung zwischen Amit und seinem Sohn, der schließlich die Reise seines Vaters akzeptiert, nachdem er etwas über seine Vergangenheit erfuhr. So verbindet Amit sein früheres Leben in Indien mit dem neuen Leben seines Sohnes in den Vereinigten Staaten und stellt es in einen neuen Kontext. Abhi verspricht seinem Vater, dass er bald Großvater sein wird, so dass es eine generationsübergreifende Verbindung zur Zukunft geben wird. Am Ende der REISE sind alle Risse in der Familie geheilt. Der Schmerz über die Vergangenheit ist nicht verschwunden, aber ein neues Gleichgewicht wurde hergestellt. Deutet man die REISE-Metapher aus der Sicht der konzeptuellen BRÜCKEN-Metapher, verändern sich die zeitlichen, räumlichen und moralischen Dimensionen der REISE von einer linearen hin zu einer zirkularen Logik. Anstatt sich zeitlich vorwärts oder rückwärts zu bewegen, wie es das lineare Konzept der REISE impliziert, bewegt sich die BRÜCKEN-Metapher weg von festen Erinnerungen, die mit einzelnen Orten und Menschen verbunden sind, hin zu einer verkörperten Praxis

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der Erinnerung, die Generationen und geographische Grenzen überschreitet. FRIEDEN, der durch einen Transformationsprozess erreicht wurde, ist nun keine feste Entität mehr, sondern eine holistische Praxis über religiöse, politische und soziokulturelle Grenzen, ja sogar über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg. Die BRÜCKEN-Metapher führt zu einer visuellen Aufhebung der Begrenzung selbst, was die Vorstellung eines Staates als festen Körper, als CONTAINER, überschreitet. Die Grenze hat sich in eine BRÜCKE verwandelt, die nun nicht nur Amit und seinen Bruder, sondern auch Indien und Pakistan miteinander verbindet. Durch das neugebildete Netzwerk der generationsüberschreitenden Familie reichen die sozialen Beziehungen sogar bis in die Vereinigten Staaten und konstruieren FRIEDEN als ein transnationales Phänomen. Die trennende, nationale Grenze ist sowohl visuell als auch metaphorisch überwunden. Die BRÜCKEN-Metapher fungiert nicht nur als konzeptuelle Metapher in Mango Dreams. Sie stellt eine übergreifende metaphorische Struktur dar, die HEIMAT und REISE in einen neuen räumlichen, zeitlichen und moralischen Rahmen einbindet. Zudem überschreitet sie die lineare Konzeption von FRIEDEN, die einen Ort A mit einem Ort B verbindet. FRIEDEN kann somit als holistische Praxis konzeptualisiert werden.

5 Schluss Dieses Kapitel hat eine interpretative Methode zur Untersuchung von positiven Friedensdarstellungen in visuellem Material wie Filmen vorgeschlagen: die Visuelle Metaphernanalyse. Ausgehend von Erkenntnissen der kognitiven Linguistik operationalisierten wir visuelle Metaphern, indem wir einen Prozess der doppelten Visualisierung in unserem Material untersuchten. Anhand unseres Beispiels, dem Roadmovie Mango Dreams, identifizierten wir metaphorische Ausdrücke des zugrundeliegenden metaphorischen Themas FRIEDEN und verknüpften diese mit drei Konzeptmetaphern – FRIEDEN IST HEIMAT, FRIEDEN IST EINE REISE und FRIEDEN IST EINE BRÜCKE – um zu verstehen, wie die Erzählung der Geschichte einen positiven Friedensbegriff darstellt. Während unsere Literaturrecherche zu Visualisierungen von Frieden und Konflikt in den IB in vielen Forschungsarbeiten zu dieser Thematik ein eklatantes Fehlen positiver Friedensrepräsentationen ergab, suggeriert unsere Visuelle Metaphernanalyse von Mango Dreams, dass dies grundsätzlich möglich ist. Zudem zeigt sie einen Weg auf, wie solche Repräsentationen methodisch untersucht werden können. Ein Fokus auf visuelle Metaphern kann helfen, eine holistischere Konzeptualisierung von Frieden zu identifizieren, die über die Repräsentation von Frieden als Abwesenheit von Krieg hinausgeht.

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Mango Dreams stützt sich dabei auch auf traditionellere Repräsentationen von Krieg und Konflikt. Diese fanden wir verstreut in Nachrichtenclips, sowohl in visueller als auch in akustischer Form, und in Szenen, die nationale Rituale darstellen, wie zum Beispiel in der Darstellung von Treueiden an die Nation in einer Schule. Dennoch ist Frieden nicht nur durch die bloße Abwesenheit von Gewalt dargestellt. In Mango Dreams ist Gewalt, die in den schmerzhaften Erinnerungen der Protagonisten und den Gefühlen von Hass und Schuld repräsentiert wird, ein Teil des Individuums und wird wahrscheinlich Teil der nationalen Narrative, Praktiken und ikonischen Stätten der Erinnerung bleiben. Frieden ist jedoch als eine holistische und verkörperte soziale Praktik konzeptualisiert, die es schaffen könnte, schmerzhafte Erinnerungen neu zu gestalten und Stereotype und Narrative zu destabilisieren. Wie die drei konzeptuellen Metaphern suggerieren, hat Frieden eine zeitliche, räumliche und moralische Dimension, die miteinander verbunden und wechselseitig konstitutiv sind. Mango Dreams drückt diese Dimensionen metaphorisch durch familiäre Beziehungen als einen diskursiven Platz der Zerrissenheit und Wiedervereinigung aus (siehe auch Engelkamp und Offermann 2012 für eine ähnliche Interpretation). Wir haben drei verschiedene, aber verwandte Konzeptualisierungen von Frieden gefunden. Erstens wird Frieden als ein möglicherweise utopischer Zielort, aber auch als umstrittener Ort der Auseinandersetzung gedacht– er ist sowohl ein Zustand als auch ein Prozess (Brock 1990). Hier wird Frieden als etwas Festes dargestellt, ein geografischer Ort mit emotionaler Bedeutung, der verloren wurde und wiedererlangt werden kann (HEIMAT). Zweitens wird der Versuch, Frieden zu erreichen, einen verlorenen Platz wiederzuerlangen, als ein Prozess imaginiert, der schmerzhaft und schwierig, aber auch erlösend sein kann. Die Bildung sozialer Beziehungen und das Erkennen des Leidens Anderer sind notwendige Voraussetzungen für den Erfolg dieses Prozesses. Der Aufbau oder Wiederaufbau sozialer Beziehungen ist notwendig, um Trennungen zu überwinden und sozialen Einklang herzustellen. Darüber hinaus wird dieser Prozess als eine transformierende Erfahrung des Körpers, sowohl des Individuums als auch des Kollektivs (REISE), dargestellt. Drittens können lineare und essentialisierte Vorstellungen von der Suche nach oder der Verwirklichung von Frieden überwunden werden, sobald Frieden nicht mehr als fester Endpunkt oder linearer Prozess verstanden, sondern als soziale und holistische Praktik erkannt wird (BRÜCKE). Was früher als fester Ort dargestellt wurde (HEIMAT), kann heute überall sein. Es gibt mehrere potenzielle Einsichten für die IB und insbesondere für die Friedensforschung. Unsere Analyse der visuellen Metaphern in Mango Dreams veranschaulicht ein holistischeres Verständnis von Frieden in Form eines Ortes, eines Prozesses und einer Praktik. Unserer Deutung folgend stellen diese räumlichen

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Metaphern eine metaphorische Alternative zu einer mehr oder weniger exklusiven Innen-/Außenlogik dar, wie sie beispielsweise in den Metaphern des Staates als Container zu finden ist. Anstatt starre Grenzen zu betonen, bietet Mango Dreams eine Möglichkeit, sich Friedenskonsolidierung als eine transzendierende Praxis vorzustellen, die Gruppen und Individuen miteinander verbindet. Darüber hinaus nimmt der Film verkörperte Praktiken und Erfahrungen von Individuen als seinen Ausgangspunkt – statt nationaler Biografien oder Narrative. Durch die Betonung der gemeinsamen Erfahrungen von Verlust und Leid bietet dies ein potenzielles Mittel für soziale Akteur*innen, Dichotomien des Eigenen und des Anderen zu verändern. Abschließend lässt sich erkennen, dass Mango Dreams eine utopische Sichtweise des positiven Wandels bietet und repräsentiert, die aufzeigt, wie ein positives Friedensverständnis durch Bilder wie die Freundschaft der Protagonisten, die wiedervereinigte Familie und das Bild der verschwindenden Grenzlinie am Ende der Handlung dargestellt werden kann. Der Film könnte somit als Quelle für lokale Aktivitäten der Friedenskonsolidierung, wie etwa in der Friedensdidaktik, genutzt werden. Mango Dreams ist kein authentisches (was immer das bedeuten mag) Beispiel des indischen Partition Cinema. Es ist ein unabhängiger Spielfilm, der von einem US-Amerikaner produziert, mit lokalen Hauptdarstellern besetzt und durch eine weltweite Crowdfunding-Kampagne finanziert wurde. Zur Schönheit von Mango Dreams gehört, dass der Film selbst feste Grenzen der Kategorisierung in Frage stellt. Deshalb zögern wir, unser Verständnis der holistischen Konzeption von Frieden einer irgendwie indischen und daher nicht-westlichen Konzeption von Frieden zuzuschreiben, wie es möglicherweise die den liberalen Konzepten von Frieden kritisch gegenüberstehende Literatur infolge des sogenannten ‚local turn on peacebuilding‘ vorschlagen würde. Nichtsdestotrotz ist unsere Analyse der visuellen Metaphern interpretativ und muss Sinn ergeben, um unsere Zielgruppe zu überzeugen. Das Erforschen visueller Metaphern im Film ist daher auch ein Beispiel für eine soziale Praxis.

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Was zieht junge Menschen in die Bundeswehr? Eine Gender-Analyse der YouTube-Serie „Die Rekruten“ Frank A. Stengel und David Shim

Zusammenfassung

Dieser Beitrag untersucht die diskursive Konstruktion militarisierter Maskulinität(en) in der von der Bundeswehr produzierten Webserie „Die Rekruten“ (DR). Insbesondere konzentriert er sich auf einen bestimmten Aspekt im Zusammenhang von Militärdienst und Nachwuchsgewinnung: was zieht junge Menschen in die Bundeswehr? In diesem Sinne fragt der Beitrag, welche Formen militarisierter Maskulinität(en) in DR produziert werden und wie dies zur Legitimität und Attraktivität der Bundeswehr als Arbeitgeber beiträgt. Der Beitrag argumentiert, dass die Konstruktion von Maskulinität(en) in DR nicht uniform, sondern ambivalent ist. Er versucht zu zeigen, dass diese ambivalente und gemäßigte Artikulation von militärischer Maskulinität es erst möglich macht, dass eine breite Gruppe von Subjekten sich mit der Bundeswehr bzw. dem Soldatentum identifizieren kann. Der Beitrag geht wie folgt vor: nach der Einleitung (Abschnitt 1) wird DR in der (überwiegend feministischen) Literatur zu Militarisierung, militarisierten Maskulinität(en) und militärischer Personalanwerbung (2) verortet. Hierbei konzentriert er sich insbesondere auf die Rolle, die Genderkonstruktionen bei der Anwerbung von Rekrut*innen im Besonderen und der Legitimierung von Streitkräften im Allgemeinen spielen. Darauf folgend stellt der Beitrag knapp methodologische Überlegungen vor (3), gefolgt von der empirischen Analyse (4). Der Schlussteil (5) fasst die Ergebnisse zusammen und diskutiert die Implikationen der Ergebnisse für die Forschung.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Schlag und A. Heck (Hrsg.), Visualität und Weltpolitik, Horizonte der Internationalen Beziehungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29971-2_9

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Schlüsselbegriffe

Bundeswehr, gender, Militarisierung, YouTube, Rekrutierung, Maskulinität

1 Einleitung1 Der vorliegende Beitrag untersucht die Konstruktion militarisierter Maskulinität(en) in der von der Bundeswehr produzierten Webserie „Die Rekruten“ (DR). DR wurde das erste Mal im November 2016 auf der Videoplattform YouTube ausgestrahlt und hat seitdem eine Debatte in Deutschland über die Selbstdarstellung der Bundeswehr ausgelöst (vgl. Hanfeld 2016). Nach Aussagen der Bundeswehr ist die YouTube-Serie erfolgreich. So wurde DR nicht nur mit Preisen prämiert (z. B. dem Deutschen Digital Award, Presse- und Informationszentrum Personal 2017a) oder dem Effie Award 2017 (Unckrich 2017), sondern erweist sich auch wirksam im Hinblick auf die Rekrutierung von Soldat*innen, dem zentralen Zweck der Serie (Presse- und Informationszentrum Personal 2017b).2 Der Erfolg von DR zeigt sich auch daran, dass mit „Mali“ (2017), „Die Springer“ (2018), „Biwak“ (2018), „Unbesiegt“ (2018), „KSK“ (2018), „Survival (2019) und „Die Rekrutinnen“ (2019) mehrere Nachfolgeserien über die Bundeswehr erschienen sind. Der Beitrag untersucht DR insbesondere im Hinblick auf die diskursive Produktion militarisierter Männlichkeit (siehe auch z. B. Belkin 2012; Hooper 2001; Higate 2003). Er erhebt also nicht den Anspruch, der Produktion von Bedeutung in der Webserie umfassend gerecht zu werden, sondern konzentriert sich auf einen besonderen Aspekt im Zusammenhang von Militärdienst und Nachwuchsge-

1 Eine vorherige Version dieses Papiers wurde auf diversen Workshops des DFG-Netzwerks „Visualität und Weltpolitik“ sowie auf der ISA-Jahrestagung 2018 diskutiert. Wir danken den Mitgliedern des Netzwerks sowie Benjamin Schrader und Kerrin Langer für hilfreiche Kommentare. Im Folgenden muss leider auf die Reproduktion von Screenshots verzichtet werden, da die Bundeswehr einem Abdruck von Screenshots nicht zugestimmt hat. Unter Verweis auf Persönlichkeitsrechte führt die Bundeswehr an, dass „nicht sichergestellt“ sei, „dass die Protagonisten der dann genutzten Screenshots mit der Veröffentlichung der durch die Autoren interpretierten Männlichkeitsvorstellung auf den Bildern einverstanden sind“ (E-Mail-Korrespondenz der Autoren mit der Bundeswehr, 4. September 2018). 2 Andere Meldungen sprechen jedoch von einem Rückgang der Bewerberzahlen für 2017 (z. B. Tagesspiegel 2017).

Was zieht junge Menschen in die Bundeswehr?

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winnung, d. h. der Frage danach, was junge Menschen in die Bundeswehr zieht. In diesem Sinne fragen wir, welche Form militarisierter Maskulinität in DR produziert wird und wie dies zur Legitimität und Attraktivität der Bundeswehr als Arbeitgeberin beiträgt. Dass Männlichkeitskonstruktionen in einem militärischen Kontext und im Zusammenhang mit militärischer Personalanwerbung eine bedeutende Rolle spielen, ist wenig überraschend. Schließlich haben zahlreiche feministische Studien (wenn auch zumeist nicht in Bezug auf Deutschland, vgl. aber Engelkamp und Offermann 2012; Shim und Stengel 2017) die engen Verbindungen zwischen Gender (insbesondere Maskulinität) auf der einen und Streitkräften und Militarisierung auf der anderen Seite herausgearbeitet (vgl. etwa Åhäll 2012; Basham 2016; Belkin 2012; Caso 2017; Crane-Seeber 2016; Eichler 2014; Enloe 2016; Goldstein 2001; Wibben 2018). Im Folgenden verstehen wir militärische Maskulinität(en) als Formen von Männlichkeit, die in einem militärischen Kontext produziert werden, im Gegensatz zu zivilen Formen von Maskulinität, wie sie etwa in Firmen (re-) produziert werden. Auch wenn die Literatur zu deutscher Außenpolitik umfangreich ist und kontinuierlich wächst, sind insbesondere drei Aspekte bislang nur am Rande beforscht worden: erstens Fragen der visuellen Repräsentation von Militäreinsätzen (vgl. allerdings Engelkamp und Offermann 2012; Heck 2017), zweitens die Aktivitäten von Streitkräften in sozialen Medien (Crilley 2016; Shim und Stengel 2017), drittens „military recruiting“, welches in der Literatur bisher hauptsächlich einen anglo-amerikanischen Bezug aufweist (Jester 2019; Rech 2014). Deutschland ist gerade im Spannungsfeld von antimilitaristischer Kultur (Berger 1998; Baumann und Hellmann 2001; Crossley-Frolick 2016; Duffield 1998; Maull 2015; kritisch Nonhoff und Stengel 2014; Geis und Pfeifer 2017) und veränderter „Einsatzrealität“ (Noetzel 2011) ein spannender (Spezial-)Fall für Studien an der Schnittstelle zu militarisierten Maskulinitäten, „military recruiting“ und deutscher Außenpolitik. Zudem lässt sich am deutschen Fall Connells (2005) Argument, dass Maskulinität(en) kontextabhängig und oft widersprüchlich sind, gut zeigen (Belkin 2012). Wir argumentieren im Folgenden, dass die Konstruktion von Maskulinität(en) in DR nicht uniform, sondern ambivalent ist, und dass gerade diese Ambivalenz die Attraktivität der Bundeswehr als Arbeitgeberin steigert. Einerseits findet sich auch in DR die zu erwartende Militarisierung der Rekrut*innen, verstanden als die Vermittlung von militärischen Werten wie Disziplin, Durchhaltefähigkeit, hierarchische Ordnung und/oder Stärke. Andererseits zeigt die Serie, in wiederkehrenden Szenen, dass Soldatsein in der Bundeswehr es (scheinbar zumindest) nicht erfordert, sich komplett und allzeit dem stereotypischen Ideal des hyper-maskulinen, stets disziplinierten „Soldaten“ unterzuordnen, sondern Platz für Individualität, Frei-

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raum und Vergnügen lässt. Wir argumentieren, dass diese gemäßigte, ambivalente Artikulation von militärischer Maskulinität, ihre Offenheit für unterschiedliche Interpretationen, es erst möglich macht, dass eine breite Gruppe von Subjekten sich mit der Bundeswehr bzw. dem Soldatentum identifizieren kann. Es ist also das Abweichen, Durchbrechen, ja teilweise sogar die Herausforderung und Dekonstruktion hegemonialer militarisierter Maskulinität, die DR so erfolgreich macht. Dadurch wird ein bestimmtes Bild der Bundeswehr als Arbeitgeberin produziert, das sie, so zumindest unsere Vermutung, auch attraktiv für ein Publikum macht, das vielleicht nicht für eine soldatische Laufbahn prädestiniert ist (Olsthoorn 2017; Miller und Morrison 1971). Wir gehen wie folgt vor: Zunächst (Abschnitt 2) verorten wir DR in der (überwiegend feministischen) Literatur zu Militarisierung, militarisierten Maskulinität(en) und militärischer Personalanwerbung. Darauf folgend stellen wir knapp methodologische Überlegungen vor (3), gefolgt von der empirischen Analyse (4). Der Schlussteil (5) fasst die Ergebnisse zusammen und diskutiert die Implikationen der Ergebnisse für die Forschung.

2

Maskulinität und militärische Personalgewinnung

2.1

Was ist Maskulinität?

Wir verstehen Maskulinität mit Connell als „configurations of practice structured by gender relations“ (Connell 2005: xviii), also als ein Konglomerat an diskursiv produzierten geschlechtsspezifischen Praktiken und Verhaltenserwartungen (Butler 1990, 1993). „Manliness […] is a package of ideas about how an authentic boy or a ‘real man’ should engage with others and with the world at large“ (Enloe 2016, S. 4). Sozialtheoretisch eingeordnet verstehen wir Maskulinität(en) und Gender allgemeiner als das kontingente, temporäre und kontextabhängige Ergebnis diskursiver Artikulationsprozesse, in denen verschiedene diskursive Elemente durch ein spezifisches differenzielles Arrangement eine bestimmte Bedeutung erhalten (Laclau und Mouffe 2001). Dieses Arrangement kann sprachlich zusammenkommen, umfasst im Grunde aber sämtliche, d. h. auch bildliche Zeichensysteme (Laclau 2006, S. 106). Folglich verstehen wir Maskulinität erstens primär als eine relationale und diskursiv übermittelte Kategorie. Was maskulin ist, ergibt sich primär durch eine artikulierte Abgrenzung davon, was feminin ist. Beispielsweise werden Männer in der Regel als aktiv, aggressiv, rational, stark, emotional abgeklärt sowie als Täter

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bzw. Beschützer artikuliert, während Frauen mit Emotionalität, Friedlichkeit, Irrationalität, Passivität und Schwäche assoziiert und als Opfer gesehen werden. Maskulinität(en) und Femininität(en) werden im Gender-Diskurs also klar hierarchisch geordnet, wobei Maskulinität stets bevorzugt wird (Hooper 2001; Masters 2008; Tickner 1992; zum Überblick Prügl und Tickner 2018; Sjoberg und Tickner 2013; Whitworth 2018). Zweitens ist Gender konstruiert und damit kontingent und kontextabhängig. Maskulinität(en) und Femininität(en) sind das Ergebnis von Maskulinisierung bzw. Feminisierung, als diskursive Artikulationsprozesse, die bestimmte Subjekte, Objekte oder Praktiken mit Männlichkeit bzw. Weiblichkeit verknüpfen. Dadurch entsteht der Eindruck, bestimmte Verhaltensweisen seien objektiv männlich oder weiblich (Enloe 2016). Wie genau verschiedene Maskulinitäten und Femininitäten allerdings in der Praxis konstruiert sind, ist kontextabhängig und über die Zeit veränderlich. Insofern ist es im Prinzip sinnvoller, von Maskulinitäten im Plural zu sprechen (Connell 2005). Ebenso wie Maskulinität und Femininität hierarchisch geordnet sind, so sind auch verschiedene – hegemoniale, untergeordnete oder marginalisierte – Formen von Maskulinität nicht gleichwertig (Connell 2005). Damit verbunden ist, drittens, dass Genderkonstruktionen aus intersektionaler Perspektive betrachtet werden sollten (vgl. Crenshaw 1989; für eine kritische Diskussion Kerner 2009). Konstruktionen von „Rasse“, „Ethnizität“, „Klasse“, „Sexualität“, „Behinderung“, „Religion“ usw. tragen nämlich dazu bei, wie Individuen im Spektrum hegemonialer und untergeordneter Maskulinitäten eingeordnet werden. Auch wenn sich Maskulinität als Gesamtheit geschlechtsspezifischer Erwartungen zunächst primär an Männer und Jungen richtet, geht ihre Bedeutung deutlich darüber hinaus. Gender-Diskurse sind nämlich nicht von anderen Diskursen abgeschottet, sondern mit ihnen verwoben. Thematische Diskurse sind i. d. R. gegendert, also von geschlechtsspezifischen Normen beeinflusst, was dazu führt, dass viele Verhaltensnormen in Bereichen, die nicht zuallererst mit Geschlecht zu tun haben (etwa Erwartungen an Professionalität im Beruf, an Entscheidungsträger*innen in der Politik usw.), durch maskuline Verhaltenserwartungen beeinflusst sind. Entscheidungsträger*innen etwa müssen entschlossen, rational, nicht emotional und stark sein, wollen sie nicht als inkompetent gesehen werden.

2.2

Militärische Maskulinität(en)

Maskulinität(en) und Prozesse der Maskulinisierung spielen insbesondere im Kontext von Prozessen militärischer Identitätskonstruktion, Sozialisation und Subjektivierung eine bedeutende Rolle. Zahlreiche Studien haben auf den engen

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Zusammenhang zwischen Maskulinität, Militär und Militarisierung hingewiesen (Eichler 2014). Eine detaillierte Diskussion würde den Rahmen dieses Aufsatzes übersteigen, aber insbesondere zwei Aspekte sind für unser Argument von Bedeutung. Erstens ist, wie Connell anmerkt, das Militär zentral für unsere Vorstellungen davon, was (hegemoniale) Männlichkeit ist: „no arena has been more important for the definition of hegemonic masculinity in European/American culture“ (Connell 2005, S. 212). Streitkräfte gelten gemeinhin als Verkörperung von Maskulinität. Dementsprechend kann davon ausgegangen werden, dass das Militär stärker von maskulinen Normen wie Aktivität, Handlungsfähigkeit, Kontrolle, Objektivität, Rationalität und/oder Stärke beeinflusst ist als andere gesellschaftliche Bereiche und dass maskuline Eigenschaften stärker aufgewertet werden (Eichler 2014; Goldstein 2001; Peterson 2010). Die Verknüpfung zwischen Militär und Maskulinität ist so eng, dass Assoziierung mit dem Militär den Anschein von Kompetenz vermitteln kann (Belkin 2012). Zudem ist die enge Verknüpfung von Maskulinität und Militär ein zentraler Aspekt, der Streitkräfte für Rekrut*innen und Soldat*innen allgemein attraktiv macht (Adelman 2007; Boyle 2011; Cockburn 2010; Crane Seeber 2016; Eichler 2014; Enloe 2016; Godfrey 2009; Peterson 2010). Kaum etwas stellt die eigene Männlichkeit (Mut, Härte usw.) so unter Beweis wie die Bereitschaft, in den Krieg zu ziehen (Belkin 2012; Boyle 2011). Somit tragen Maskulinitätsvorstellungen zentral zur Legitimität des Militärs bei (Goldstein 2001). Zweitens gibt es, das ist wenig überraschend, einen engen Zusammenhang zwischen Maskulinität/Maskulinisierung und Militarisierung. Wir verstehen letztere hier mit Enloe (2016, S. 18) als Prozess, in dem Individuen oder Gruppen bestimmte Werte wie der Glaube an Hierarchie, Gehorsam oder Gewaltanwendung annehmen, die als militaristisch bzw. militärisch beschrieben werden.3 Bei Militarisierung geht es also darum, dass Bereiche außerhalb der Streitkräfte durch militärische Normen beeinflusst werden. Beispiel dafür ist die weite Verbreitung militärischer Ästhetik und/oder Werten in Medien (z. B. soziale Medien), Mode (z. B. Kampfstiefel, Bekleidung in Camouflage-Muster, Pilotenbrille) und Unterhaltung (z. B. Fernsehen, Film, Musik) (Eichler 2014; Enloe 2016; Machin und Van Leeuwen 2009). Dementsprechend können wir auch zwischen militärischen und militarisierten Männlichkeiten unterscheiden: erstere bezeichnen Formen von Männlichkeit, die sich primär auf Soldat*innen beziehen, letztere auf Männlichkeitsvorstellungen von Zivilist*innen, die zunehmend militärisch geprägt sind. Auch wenn in der Literatur oftmals auf die zunehmende Beeinflussung nicht-militärischer Bereiche durch militärische Normen Bezug genommen wird, so lässt sich 3

Wir verwenden fortan „militärisch“ und „militarisiert“ und nicht „militaristisch“, was eine eher glorifizierende Überhöhung des Militärs umschreibt.

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auch militärische Subjektivierung (vgl. Foucault 1982) als Prozess der Militarisierung greifen, da dieser Prozess primär die Aneignung militärischer Werte und Normen durch (dann bald ehemalige) Zivilist*innen beschreibt, die dadurch zu Soldat*innen gemacht werden. Auch hier zeigt sich die enge Verknüpfung zwischen Militarisierung und Maskulinisierung. Da Streitkräfte stärker als andere gesellschaftliche Bereiche durch Maskulinität geprägt sind, beinhaltet militärische Subjektivierung auch Maskulinisierung, also die Aneignung maskuliner Eigenschaften wie etwa Stärke, Disziplin, Durchhaltevermögen. Wenig überraschend wird die militärische Ausbildung zumindest in Teilen der feministischen Literatur als ein Prozess des Austreibens vermeintlich femininer Attribute beschrieben: “combating traits associated with femininity has in many national contexts been central to the making of the masculinized warrior. Military training inculcates ‘exaggerated ideals of manhood’ that often rely on the devaluation of gendered others as well as those othered by race or sexuality” (Eichler 2014, S. 83).

Gleichzeitig darf militärische Maskulinisierung aber auch nicht als uniformer Prozess mit einheitlichem Endpunkt missverstanden werden, in dem Rekrut*innen unabhängig vom Kontext eine hypermaskuline Männlichkeit eingeimpft wird, die „Gewalt, Ordnung, maskulin kodierten Gehorsam und Herrschaft zelebriert“ (Stern und Zalewski 2009, S. 622, eigene Übersetzung; Chisholm und Tidy 2017; Kirby und Henry 2012). Vielmehr gilt auch im Militär das, was Connell generell in Bezug auf Maskulinität(en) feststellt, nämlich, dass sie kontingent, uneinheitlich und in hohem Maße kontextabhängig sind. Welche Eigenschaften gute Soldat*innen haben müssen, differiert u. a. von Land zu Land, zwischen Teilstreitkräften (Heer, Marine usw.), Truppengattungen (Luftwaffe, Sanitätstruppe usw.), Dienstgraden (Mannschaften, Unteroffiziere, Offiziere)4 und militärischen Verwendungen (z. B. Geschäftszimmersoldat*in versus Kommandosoldat*in). Im Gegensatz zur stark vereinfachenden Erwartung, dass militärische Sozialisation automatisch zur Ausprägung einer hypermaskulinen Männlichkeit führt, haben unterschiedliche Studien im Anschluss an Connell verschiedene Formen militarisierter Maskulinität in unterschiedlichen Kontexten herausgearbeitet (Woodward 2009). Einerseits wird militärische Maskulinität (und Identität insgesamt) innerhalb einer strikt hierarchisch geordneten Institution (re-)produziert und die Akzeptanz dieser hierarchischen Ordnung sowie der Notwendigkeit von Befehl und Gehorsam gehört zur Subjektivierung in militärischen Diskursen dazu (Atherton 2009). Andererseits unterscheiden sich verschiedene Formen militäri4 Genau genommen sind die Dienstgradgruppen spezifischer ausdifferenziert (Unteroffiziere mit und ohne Portepee, Leutnante usw.).

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scher Maskulinität bisweilen gravierend hinsichtlich der Eigenschaften, die als erstrebenswert konstruiert werden. Das dominante Modell militärischer Maskulinität ist der „warrior hero“ (Woodward 2009, S. 643), der heldenhafte Krieger. Der idealtypische, hypermaskuline Soldat zeichnet sich durch physische und mentale Stärke, Fitness, Durchhaltevermögen, (Selbst-)Disziplin, Emotionslosigkeit, Mut, Risikobereitschaft, Aggression, Kampfeslust, eine Präferenz für militärische/gewaltsame Problemlösungen und die problemlose Ein- und Unterordnung in die hierarchisch geordnete militärische „Bruderschaft“ aus (Atherton 2009, S. 824; Hutchings 2008; Hooper 2001; Maruska 2009; Peterson 2010; Rosen et al. 2003; Woodward 2009; kritisch dazu Titunik 2008).5 Andere Forscher*innen, u. a. aus der feministischen Literatur, ergänzen diesen Krieger-Typus („Rambo“) durch andere, z. B. weniger heroische und mehr rationale (vgl. Cohn 1993) militärische Formen von Männlichkeit. So spricht Laleh Khalili (2011) in ihrer Untersuchung zu den Strategien des US-Militärs zur Aufstandsbekämpfung in Afghanistan und im Irak von einem „humanitarian soldier-scholar“, bei dem nicht die Körperlichkeit des Soldatseins betont wird, sondern kommunikative Eigenschaften („deploy the language of ‘hearts and minds’“, S. 1487) im Vordergrund stehen. In ihrer Studie von der Friedensmission in Bosnien in den 1990er Jahren, findet Claire Duncanson (2009; 2013) Hinweise auf eine „peacekeeper masculinity“, welche sich, im Gegensatz zur traditionellen militärischen Maskulinität, durch Kompetenzen in Konfliktvermeidung und -lösung auszeichnet (Orford 2003; Whitworth 2004). Eine weitere Form der militarisierten Männlichkeit ist nach Julia Welland (2015a) der „liberal warrior“, die sowohl die Fähigkeit der Kriegführung als auch die Kompetenz der Nationenbildung beinhaltet (siehe auch Furneaux 2016). Natalie Jester (2019) argumentiert gar, dass sich die neueren Anwerbungsvideos der britischen und US-amerikanischen Streitkräfte durch eine Ablehnung der hegemonialen Form militarisierter Maskulinität auszeichnen. Ebenso herrscht i. d. R. auch innerhalb einer klar angebbaren Gruppe in einem spezifischen Kontext nicht eine einzige uniforme Männlichkeitsvorstellung vor, mit der sich alle Subjekte vollkommen identifizieren. Vielmehr kann man auch für einen militärischen Kontext feststellen, dass hegemoniale, untergeordnete und marginalisierte Maskulinitäten (und Femininitäten) existieren, mit denen sich Einzelne mehr oder weniger identifizieren. Wie diese sich hierarchisch ordnen, hängt dann ebenso wie außerhalb des Militärs von der intersektionalen Verschränkung von Gender mit Herkunft, Sexualität usw. ab. Der weiße, heterosexuelle Mann gilt auch hier i. d. R. als die Norm, und folglich ist es für nicht Weiße, Frauen (ganz zu 5 Hypermaskulinität als gegenderte Form der Männlichkeit ist geschlechtsunabhängig und ist daher auch anwendbar auf Soldatinnen.

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schweigen von trans people) oder Homosexuelle schwerer, dem Idealtypus militärischer Maskulinität zu entsprechen (Belkin 2012; Eichler 2014, S. 83). Wie wir weiter unten argumentieren werden, ist das Bild bei der Repräsentation der Bundeswehr in DR auch komplexer und ambivalenter als zu erwarten wäre, wenn man davon ausgeht, dass Streitkräfte eher traditionell maskulin geprägt sind (vgl. auch die eher theoretische Kritik von Stern und Zalewski 2009).

3

Methodologie: Analysemethoden

Wie oben angemerkt sind wir an der diskursiven Konstruktion militarisierter Männlichkeiten in DR interessiert. Da der Korpus der Webserie sehr umfangreich ist – er besteht aus 62 Folgen, die zwischen dreieinhalb und 13 Minuten lang sind und insgesamt 58 Tage der dreimonatigen Allgemeinen Grundausbildung (AGA) zeigen – beschränken wir uns auf die Untersuchung von Genderkonstruktionen in der Webserie.6 Ausgehend von der Annahme, dass Bedeutung und Subjektpositionen im Diskurs entstehen, arbeiten wir methodisch mit einem erweiterten Diskursbegriff. Diskurse (bspw. über Maskulinitäten), so kann man argumentieren, sind nicht nur text- oder sprachbasiert, sondern umfassen, wie im vorliegenden Fall, auch Bild und Ton. Diese eher multimodale Herangehensweise (Bild, Text, Ton) hat zum Zweck, dass, wie Reiner Keller (2016, S. 75) in seinem Plädoyer für die Öffnung des sozialwissenschaftlichen Methodenspektrums anmerkt, Diskursanalysen „sich der Komplexität diskursiver Prozesse mit analytischen Heuristiken ergebnisoffen […] nähern“. In diesem Sinne basieren wir unsere methodenplurale Diskursanalyse auf der visuellen Methodologie von Gillian Rose (2016). Während Rose (2016, S. 22) allgemein von den Bedingungen eines kritischen Ansatzes zu Bildern spricht, wirft sie auch methodische Fragen auf, die bei der Untersuchung von Bild- (aber auch Text- und Ton-) Material nützlich sind. Dazu führt sie mehrere Ebenen (Bildproduktion, das Bild selbst, die Verbreitung des Bildes sowie Zuschauer) und Modalitäten (technologisch, kompositionell, sozial) ein, die bei der visuellen Bedeutungskonstruktion und damit bei der Analyse eine Rolle spielen. Wichtig anzumerken ist, dass visuelle Methoden, wie z. B. die Inhaltsanalyse, Semiotik oder Publikumsforschung, nicht alle Verfahrensfragen umfassen (können), die Rose aufwirft. Mit anderen Worten,

6 Inzwischen ist auch eine Satireversion des Magazins Titanic erschienen: https://www. youtube.com/watch?v=x7U1EAn2ys4.

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die Methode (Diskursanalyse) hängt von der Forschungsfrage (militarisierte Maskulinitäten) ab und nicht umgekehrt.7 Daher beziehen wir uns in unserer Analyse von Genderkonstruktionen überwiegend auf die kompositionelle Ebene der Bildproduktion und des Bildes selbst und fragen zum Beispiel was im Hinblick auf militarisierte Maskulinitäten (nicht) gezeigt bzw. gesagt wird sowie wie etwas gesagt oder gezeigt wird. Dazu gehört, wie im empirischen Teil weiter unten gezeigt wird, der Einsatz von Musik, eine bestimmte Kameraperspektive und/oder Schnitte, um eine bestimmte Erzählweise zu erzeugen bzw. Darstellung zu inszenieren. Die Frage, ob die Inszenierungen zu einem bestimmten Genre gehören, ist insofern relevant, als damit ein bestimmter Wahrheitsanspruch verbunden ist. So lässt sich zunächst festhalten, dass die Webserie in Bezug auf Stil und Ästhetik ein Mischformat ist. Zwar orientiert sich DR grundsätzlich am Genre einer TV-Dokumentation, weicht aber in bestimmten Aspekten davon ab. Die Kamerateams begleiten zwölf Rekrut*innen in ihrer täglichen Ausbildung, wobei in der Regel der Tagesablauf einzelner Rekrut*innen in den Mittelpunkt gestellt wird. Dies wird kombiniert mit Interviews mit Ausbilder*innen und Rekrut*innen. Durch diese eher für Dokumentationen übliche Ästhetik entsteht der Eindruck, die Ausbildung ungefiltert beobachten zu können und einen Blick hinter die Kulissen zu erhalten. Allerdings fehlt die für Dokumentationen übliche Narration aus dem Off, die verschiedene Szenen erklärend verbindet. Diese wird einerseits ersetzt durch Interviews mit Ausbilder*innen, die die Abläufe erklären. Andererseits liefern eingeblendeter Text und Abbildungen zusätzliche Informationen. Eine weitere Abweichung sind Sequenzen, in denen sich einzelne Rekrut*innen (zumindest dem Anschein nach) selbst filmen, analog zu Video-Blogs, vermutlich das mit Abstand populärste Format der Zuschaueransprache auf YouTube. Zudem weicht DR insofern vom Genre der Dokumentation ab, als dass das eher neutrale Berichtsformat durch humoristische Manipulationen aufgelockert wird, etwa durch Einblendung von per Hand gezeichneten Elementen oder comicartiger Geräusche, um Aussagen von Rekrut*innen zu kommentieren. Zum Zwecke der Transparenz sei abschließend angemerkt, dass sich der Aufsatz für die Kontextualisierung auch auf die Erfahrungen eines der Autoren während seines eigenen Wehrdienstes stützt.

7

Zu den Grundsatzdebatten von „problem-driven“ vs. „method-driven research“ in den Sozialwissenschaften siehe Howarth (2005) sowie Shapiro (2002).

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4

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Die Rekruten: Analyse

Im Folgenden diskutiert der Beitrag zunächst die grundlegende Repräsentation der Grundausbildung in DR als Prozess der Maskulinisierung. Auch wenn dieser Teil für diejenigen Leser*innen, die mit der feministischen Literatur zu Militär und Militarisierung vertraut sind, wenig überraschend und möglicherweise repetitiv erscheinen mag, ist es dennoch notwendig, zumindest kurz auf diese Aspekte einzugehen. Denn dadurch, dass DR diese Militarisierungsprozesse, die sonst abgeschlossen von der Öffentlichkeit in Kasernen stattfinden, gegenüber einem breiten Publikum öffentlich macht, muss die Serie als Intervention in den gesellschaftlichen Diskurs gesehen werden, die zur Legitimierung und Normalisierung von Streitkräften und militärischer Gewalt beitragen kann. Dieser Punkt ist im deutschen Kontext bislang unzureichend diskutiert worden und ist gerade vor dem Hintergrund anhaltender Debatten über (den Wandel) Deutschlands antimilitaristische(r) Kultur von Bedeutung (Enskat und Masala 2015; Geis 2005; Geis und Pfeifer 2017; Nonhoff und Stengel 2014).

4.1

„Auf’s Beste reduziert“: Grundausbildung als Prozess individueller Militarisierung und Maskulinisierung

Wie eingangs erwähnt, präsentiert sich die Grundausbildung in DR grundsätzlich als ein Prozess, in dem aus zivilen Personen durch Militarisierung/Maskulinisierung Soldat*innen werden. Der Beitrag diskutiert diesen Prozess illustrativ anhand primär dreier Aspekte: (1) die Aneignung/Verstärkung maskuliner Attribute und die Konstruktion hierarchischer Maskulinitäten, (2) militärische Hierarchie, Befehl und Gehorsam und (3) – damit verbunden – die Konstruktion und hierarchische Ordnung verschiedener Männlichkeiten. Erstens ist grundsätzlich festzuhalten, dass die Bundeswehr als militärische Institution insgesamt und verglichen mit anderen Institutionen, überdurchschnittlich stark maskulin geprägt ist.8 Dies zeigt sich beispielsweise in zahlreichen Kommentaren der Ausbilder*innen (z. B. „Aufgeben könnt ihr bei der Post“ (Durchhaltevermögen),9 „Jammern Sie uns nicht die Ohren voll“ (Härte/Absage an 8 Schon im alltäglichen Sprachgebrauch spiegelt sich wieder, dass der Mann als die Norm gilt, beispielsweise durch die Verwendung von Diensträngen ausschließlich in der männlichen Form, unabhängig vom Geschlecht der/des jeweiligen Soldat*in (z. B. „Frau Obermaat“). 9 „BOCK = BETT | Tag 03“, 4:19–4:20.

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Emotionalität),10 „Nicht stöhnen, mit Freude dabei sein“11) ebenso wie in Aussagen seitens der Rekrut*innen, die die Attraktivität militarisierter Männlichkeit(en) und die Verknüpfung von Maskulinität und Militär reproduzieren, etwa wenn eine Rekrutin während der Einkleidung sagt, sie „steh’ auf Camouflage“, denn das „strahlt irgendwie Respekt aus“.12 Ebenso zeigt sich, dass die Rekrut*innen an sie gerichtete Erwartungen und militärische Werte (zumindest scheinbar) sich zu eigen machen, wenn Rekrut*innen ihren eigenen Unmut darüber äußern, dass das Marschieren im Gleichschritt noch nicht perfekt funktioniert oder dass Ausrüstungsgegenstände verloren gehen.13 Vor allem fällt bei der (Darstellung der) Grundausbildung in DR eine ausgeprägte Betonung von Disziplin und dem Bemühen, Kontrolle auszuüben, ins Auge.14 Disziplin zeigt sich vor allem beim Antreten und Formaldienst, innerhalb derer bestimmte Körperhaltungen (v. a. die Grundstellung) gehalten werden müssen. Die Anweisungen der Vorgesetzten verdeutlichen dies: „Da gibt’s kein Zucken, kein Wackeln, kein Grinsen, kein Husten, kein Garnix“ und „Sie fummeln sich nicht im Gesicht rum, hab’ ich doch vorhin schon gesagt“.15 Die Bemühungen der Ausbilder*innen, die Rekrut*innen zu disziplinieren als auch die Fähigkeit dieser, Kontrolle in ihrem Alltag auszuüben, wird besonders deutlich an den Themen Sauberkeit („Großreinschiff“) und Bock- und Spindbau (d. h. Bett und Schrank in ordentlichem Zustand zu halten). Dies sind stets wiederkehrende Themen,16 auf die seitens der Ausbilder*innen stark Wert gelegt wird, und bei denen Abweichungen in deutlichen Worten bemängelt werden: „Wenn ich mir Stube 23 anschaue, ja – ich hab’ noch nie so’n räudiges Pissoir gesehen. […] Der Zugführer hat fast das Kotzen gekriegt“.17 Das ist, um es noch einmal zu wiederholen, nicht überraschend, denn auch bei der Ausbildung in der Bundeswehr geht es primär um die Aneignung soldatischer (maskuliner) Tugenden wie Disziplin, Gehorsam und Durchhalte10 11 12 13 14

15 16 17

„Der 5 Kilometer MARSCH | TAG 10“, 1:10–1:12. „Waffenausbildung Teil 4 | TAG 42“, 1:56–1:59. „Die Einkleidung | Tag 01 Teil 3“, 1:20–1:22, 1:24–1:26. Bspw. „FORMALDIENST | TAG 33“, 5:20–5:42; „Die Vollständigkeitsmusterung | TAG 34“, 2:45–2:53. Das Bemühen darum, Kontrolle auszuüben wird in feministischen Studien, insbesondere Feminist Technoscience und feministische Sicherheitsstudien, als zentraler Bestandteil von Maskulinitätsvorstellungen betont (vgl. Shim und Stengel 2017 und weitere Verweise dort). „Der erste Morgen | WECKZEIT 4:50 Uhr | Tag 02“, 3:05–3:13. Vgl. etwa „GROSSREINSCHIFF | TAG 09“; „Täglich grüßt die BUNDESWEHR | TAG 11“. „Täglich grüßt die BUNDESWEHR | TAG 11“, 4:09–4:14, 5:09–5:11.

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vermögen, wodurch die Rekrut*innen, wie es die Webseite der Serie in Bezug auf einen Rekruten feststellt, „auf’s Beste reduziert“ werden.18 Am deutlichsten zeigt sich die Betonung und relative Aufwertung maskuliner Attribute im Kontext der praktischen Ausbildung, in denen Rekrut*innen Stärke, Disziplin, Durchhaltevermögen, Befehl und Gehorsam sowie Kameradschaft „eingeimpft“ werden. Im Einklang mit Studien, die die Bedeutung von Körperlichkeit im Kontext von Militär und Krieg betonen (Sylvester 2013; Wilcox 2015), spielt Körperlichkeit eine zentrale Rolle. Aussehen, Auftreten und Körperhaltung sind (v. a. beim Formaldienst) bei der Bundeswehr wie bei anderen Streitkräften streng geregelt.19 Im Gegensatz zu Normen hegemonialer Femininität, denen zufolge Frauen möglichst wenig Platz einnehmen und entsprechend ihrer untergeordneten gesellschaftlichen Position den Blick eher gesenkt halten sollen (Henley 1977; Crane 2012), ist die soldatische Körperhaltung („Brust leicht raus“, „Körperspannung aufbauen“) auf die Vermittlung von Dominanz angelegt und soll „Stolz ausstrahlen und Selbstbewusstsein“.20 Insbesondere körperliche Anstrengung ist von großer Bedeutung für die Produktion von Soldat*innen. Auch in DR präsentiert sich die Entwicklung zum/zur Soldat*in primär als ein körperlicher Prozess. Eine Reihe von Folgen ist verschiedenen Aspekten militärischer Fitness gewidmet – dem Basis Fitness Test,21 Märschen,22 der sogenannten „22 Pushup Challenge“,23 Schwimmen24 und der militärischen Fitness.25 Vor allem hier zeigt sich, dass maskuline Werte wie Stärke und Durchhaltevermögen als erstrebenswert dargestellt werden, etwa wenn sich Rekrut*innen beim Basis Fitness Test verausgaben, bei den militärischen Übungseinheiten mit jeder Liegestütze bzw. jedem Sit-up nach „Mehr!“ rufen oder beim Laufen Lieder 18 Offizielle Webseite der Webserie, https://www.bundeswehrkarriere.de/dierekruten/ rekruten/jerome-demelius 19 Das soldatische Aussehen und Auftreten ist in der Zentralen Dienstvorschrift zum äußeren Erscheinungsbild und der Zentralrichtlinie zur Formaldienstordnung (Bundeswehr 2015; BMVg 2015) strikt reguliert. Auch gibt es hier geschlechtsspezifische Unterschiede. So sind Frauen bspw. dezentes Make-Up, lange Haare sowie das Tragen von Schmuck als „besondere[r] Ausdruck ihrer Weiblichkeit [sic!]“ (Bundeswehr 2015a: 3–5) erlaubt. 20 „MARSCH, MARSCH | TAG 07“, 1:23–1:31, 2:42–2:44. 21 „Der BASIS FITNESS TEST | Tag 06“. 22 „MARSCH, MARSCH | Tag 07“; „Der 5 Kilometer MARSCH | Tag 10“; „Der NACHTMARSCH | Tag 14“. 23 „Die 22 PUSHUP CHALLENGE |Tag 12“. 24 „Das große Schwimmen | Tag 19“. 25 „Military Fitness: DIE HINDERNISBAHN | Tag 21“; „Military Fitness: TEAMBUILDING | Tag 22“.

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darüber singen, dass sie keine Schmerzen spüren können.26 Auch die Produktion von Kameradschaft ist eng mit körperlicher Anstrengung verknüpft. Die Aufnahme in die militärische „Bruderschaft“ läuft über die körperliche Demonstration (oder gemeinsame Erarbeitung) von Stärke und Durchhaltevermögen. So geht es in einigen der Übungen darum, durch gemeinsame Anstrengungen eine Aufgabe zu bewältigen, beispielsweise untergehakte Sit-ups zu machen. Dies wird noch verstärkt durch die Anweisungen der Ausbilder*innen, zusammenzuarbeiten („Ich will endlich ein Team sehen!“).27 Was die stilistische und ästhetische Produktion von Maskulinität (etwa durch mis-en-scène) betrifft, lässt sich nur sehr begrenzt eine Aussage treffen.28 Grundsätzlich wird die Hierarchie zwischen Rekrut*innen (d. h. noch zivilen Personen) und Ausbilder*innen (Berufs-Soldat*innen) zwar auch in Ansätzen stilistisch reproduziert, etwa dadurch, dass Ausbilder*innen bisweilen von unten gefilmt werden, vor allem beim Antreten,29 oder durch den Einsatz von Musik, um Femininisierung oder Maskulinisierung zu verstärken.30 Allerdings sind der visuellen – also stilistischen, vom Inhalt unabhängigen, etwa durch mis-en-scène – Produktion von Maskulinität durch das eng an das Format der TV-Reportage angelehnte Format der Serie Grenzen gesetzt. Das heißt, dass stilistische Elemente, die in der feministischen Filmwissenschaft als Ausdruck einer dezidiert maskulinen Ästhetik diskutiert werden, sich nur am Rande finden. Das einzige Beispiel, in dem tatsächlich von einer rein stilistischen Produktion maskuliner Ästhetik gesprochen werden kann, ist der Trailer der Serie, weil er zu einem gewissen Grad mit dem Format brechen

26 „Military Fitness: TEAMBUILDING | Tag 22“, 3:49–4:00; „FORMALDIENST | TAG 33“, 4:53–5:20; „Waffenausbildung Teil 4 | TAG 42“, 1:16–1:19. 27 „Military Fitness: TEAMBUILDING | Tag 22“, 3:24–3:47. 28 Allerdings ließe sich unter Bezug auf feministische Filmwissenschaft argumentieren, dass unterschiedliche Genres selbst maskulin (Action-Film) oder feminin (Soap Opera) kodiert sind. 29 Beispiele finden sich z. B. in den Episoden „Endlich WOCHENENDE | Tag 04 Teil 2“ und „MARSCH, MARSCH |Tag 07“. 30 Beispiele dafür sind traurige Geigenmusik, die die Enttäuschung einer Rekrutin, die feststellt, dass sie ihre Piercings rausnehmen muss, parodiert („Die REISE nach Parow | TAG 01 Teil 1“, 4:34–4:42), die musikalische Untermalung von Szenen auf der Hindernisbahn mit Heavy Metal („Military Fitness: DIE HINDERNISBAHN | TAG 21“, 2:37–2:55; die Musik endet auch prompt, als der erste Rekrut an der Holzwand scheitert; für masculinity and Heavy Metal, siehe Walser 1993) oder Marschtrommeln bei der Vereidigung („DIE VEREIDIGUNG | TAG 38 Teil 2“, 1:41–1:58).

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kann. So finden sich hier exakt solche Kameraschwenks, wie sie Bruzzi (2013) als zentral für die visuelle Produktion einer maskulinen Ästhetik herausgearbeitet hat.31 Zweitens werden – wie auch in anderen Streitkräften – Hierarchien sowie Befehl und Gehorsam als erstrebenswert bzw. normal produziert. Das zeigen etwa zahlreiche Bemerkungen der Ausbilder*innen, dass Rekrut*innen den Anweisungen der Vorgesetzten „einfach“ (also ohne sie zu hinterfragen) Folge leisten sollten. Beispiele sind die Ansage eines Vorgesetzten im Vorfeld der Einkleidung, dass im Falle der Nichtbefolgung von Anweisungen des zivilen Personals „gleich der erste Kopf ab“ sei32 oder der „Tipp“ einer Ausbilderin, die Rekrut*innen sollten „einfach nur das machen, was die Vorgesetzten einfach sagen“.33 Auch zeigt DR wie sich Rekrut*innen die hierarchische Ordnung zu eigen machen. Dies verdeutlichen Kommentare der Rekrut*innen selbst, etwa wenn festgestellt wird, Marschieren im Gleichschritt sei „nichts Weltbewegendes, das ist kein Hexenwerk“, man müsse „einfach nur das machen, watt die Ausbilder sagen, und dann hat man kein’ Stress“.34 Mit den vorangegangenen Punkten eng verbunden ist, drittens, die Konstruktion einer hierarchischen Ordnung zwischen verschiedenen Maskulinitäten und Femininitäten. Bedeutsam ist hier die hierarchische Anordnung von Ausbilder*innen, Rekrut*innen, zivilen Personen und denjenigen, die ihre AGA vorzeitig beenden. Zentral für die Webserie ist die Hierarchie zwischen Rekrut*innen und Ausbilder*innen. Die Ausbilder*innen verkörpern die hegemoniale Vorstellung von Maskulinität, die sich u. a. durch Disziplin, (Selbst-) Kontrolle, (v. a. physische) Stärke, Durchhaltevermögen, Kameradschaft bzw. Teamgeist und eine Verinnerlichung der hierarchischen Strukturen ausdrückt. Demgegenüber zeigt sich im Verlauf der Serie deutlich, dass die Rekrut*innen in zahlreichen Aspekten diesem Idealtypus deutscher Soldat*innen (noch) nicht entsprechen, etwa in Bezug auf Formaldienst (Marschieren, Grüßen etc.), Disziplin, Sauberkeit und Ordnung. Dies wird deutlich durch chaotische Zustände etwa bei Übungen,35 in Interviews, 31 Bruzzi diskutiert etwa einen Kameraschwenk, in dem sich die Kamera, von der Aufnahme durch das Fenster eines Gebäudes aus, hoch bewegt, um den Blick über das Dach des Gebäudes auf die dahinter liegende Siedlung freizugeben. Bruzzi argumentiert, dass genau solche Kameraschwenks eine dezidiert maskuline Ästhetik produzieren. Ein sehr ähnlicher Schwenk findet sich im Trailer von DR. Hier zeigt die Kamera zunächst einen Zug angetretener Soldat*innen, schwenkt dann schnell hoch, kombiniert mit einem Zoom heraus aus dem Bild, und endet mit einer Vogelperspektive auf das Kasernengelände. „DIE REKRUTEN | Offizieller Trailer“, 0:34–0:36. 32 „Die Einkleidung | Tag 01 Teil 3“, 0:33–0:35. 33 „Die Einkleidung | Tag 01 Teil 3“, 0:52–0:55. 34 „Die Generalprobe | Tag 36“, 4:52–4:59. 35 Vgl. etwa „PROBEALARM | Tag 08“.

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in denen Ausbilder*innen ihre Unzufriedenheit äußern,36 sowie bei Zurechtweisungen von Rekrut*innen seitens der Vorgesetzten.37 Ebenso wird der Eindruck durch wiederholte Kontrastierungen von Rekrut*innen und Ausbilder*innen erzeugt, insbesondere bei praktischen Übungen. In der Folge zum 5-Kilometer-Marsch etwa beklagt sich ein Rekrut über Schmerzen, Durst, Wärme und einen Mangel an Motivation. Dies ist direkt zusammengeschnitten mit einem Kommentar eines Ausbilders auf demselben Marsch, der (lächelnd und ohne Anzeichen körperlicher Anstrengung) feststellt: „Wir haben gute Laune, das ist das Wichtigste“.38 Ähnliche Beispiele finden sich etwa in den Folgen zur militärischen Fitness.39 Generell sind körperliche Anstrengung und Erschöpfung nur bei den Rekrut*innen zu sehen, während die Ausbilder*innen, so scheint es, nicht einmal zu schwitzen anfangen.40 Gleichzeitig ist auch hier eine gewisse Ambivalenz sichtbar, etwa wenn Rekrut*innen äußern, dass sie die Verausgabung als angenehm empfinden. Als Beispiel lässt sich hier ein Kommentar eines Rekruten anführen, der, erschöpft und verschwitzt, das Training dennoch kommentierte mit: „So will man’s haben“.41 Insofern zeigt auch DR, dass Machtverhältnisse nicht nur als Unterdrückung wahrgenommen werden müssen, sondern auch „productive and enjoyable“ (Crane-Seeber 2016, S. 44) sein können. Das ist auch ein wesentlicher, nicht zu unterschätzender Punkt, der zur Akzeptanz von Hierarchie durch militarisierte Subjekte beiträgt. Dieser Eindruck der Überlegenheit der Ausbilder*innen wird noch durch Kommentare von Ausbilder*innen verstärkt, die im Vorfeld des sogenannten Basis Fitness Tests deutlich machen, dass es dabei um die Prüfung der „Grundfitness“ ginge, „die jeder bringen sollte.“ Dass auch hier die gegenderte Hierarchie zwischen Rekrut*innen und Ausbilder*innen reproduziert wird, wird beim darauf folgenden Satz deutlich, in dem ein Ausbilder fortfährt: „Ich bin immer guter Dinge, auch wenn ich es nicht glaube“.42 In einer anderen Folge macht derselbe Ausbilder deutlich, dass „lumpige zehn Liegestütze“ nicht als außergewöhnliche Belastung

36 Z. B. in „Täglich grüßt die BUNDESWEHR | TAG 11“, 3:50–3:54; „Waffenausbildung Teil 4 | TAG 42“, 2:25–2:47. 37 Z. B. in „Täglich grüßt die BUNDESWEHR | TAG 11“, 4:09–4:14. 38 „Der 5 Kilometer MARSCH | TAG 10“, 2:16–2:28. 39 Beispielsweise überwindet der Zugführer mit Leichtigkeit die Holzwand, während einige Rekrut*innen wiederholt daran scheitern; „Military Fitness: DIE HINDERNISBAHN | Tag 21“. 40 Vgl. auch „FORMALDIENST | TAG 33“, 4:53–5:20. 41 „Der BASIS FITNESS TEST | Tag 06“, 0:07–0:09. 42 „Der BASIS FITNESS TEST | Tag 06“, 0:25–0:30.

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angesehen werden dürften.43 Generell werden die Rekrut*innen also im Vergleich mit den Ausbilder*innen als chaotisch, passiv, schwach, unsicher, undiszipliniert, weniger kompetent, hilfsbedürftig usw. dargestellt, die Ausbilder*innen dagegen als aktiv, selbstsicher, Herr der Lage, stark und professionell.44 Kurzum: erstere werden, um einen etablierten Begriff aus der Gendertheorie zu nutzen, feminisiert, letztere maskulinisiert.45 Ebenso sind Rekrut*innen und Ausbilder*innen zu sehr ungleichen Anteilen das Objekt von Humor. Ein wichtiges Element der Webserie ist, dass sie ab und zu mit dem insgesamt dokumentarischen Format bricht, insbesondere durch humoristische Szenen. Humor entsteht i. d. R. durch Überraschung und dadurch, dass nicht passende Elemente in einen Kontext eingeführt werden (Meyer 2000). Im Falle von DR wird Humor durch verschiedene Stilmittel erzeugt, u. a. den Einsatz von Musik,46 die teilweise Überblendung von Standfotos mit Comiczeichnungen oder die Einblendung von Texten, die bestimmte Aspekte der Szene hervorheben. Hier sind die Rekrut*innen oftmals das Objekt von (gemäßigter) Spöttelei. Eine Szene aus der zweiten Folge „Kulturschock“ zeigt einen Rekruten bei der Suche nach seiner Stube. Eingeblendet sieht man, wie oft der Rekrut während der Szene die Begriffe „Digger“ und „Alda“ verwendet. Hier wird der Rekrut also aufgrund seiner ausgeprägten Umgangssprache aufgezogen. Eine andere Einstellung zeigt einen Rekruten mit einem Bolzenschneider, der seinen Spindschlüssel vergessen hat. Ein anderer Rekrut hat gerade gemerkt, dass die Treppen nach dem Putzen so

43 „Das erste GEFECHT | TAG 04 Teil 1“, 5:01–5:03. 44 Die Undiszipliniertheit, Unsicherheit und Überforderung der Rekrut*innen ist insbesondere in den ersten Folgen deutlich zu sehen; vgl. „Die REISE nach Parow | Tag 01 Teil 1“ und „KULTURSCHOCK Bundeswehr | Tag 01 Teil 2“. 45 Um Missverständnisse zu vermeiden, sei hier darauf hingewiesen, dass dieser Eindruck nicht gezielt produziert wird, also etwa dadurch entsteht, dass Rekrut*innen offen gedemütigt werden oder ähnliches, wie dies aus einschlägigen Hollywood-Filmen (etwa Full Metal Jacket) bekannt ist. Es ist nur im Kontrast mit den Ausbilder*innen, dass deutlich wird, wie wenig die Rekrut*innen dem Ideal von Maskulinität entsprechen. Ebenso sollte das nicht überraschen, schließlich finden sich die wenigsten in einem neuen Kontext sofort zurecht, unabhängig davon, ob es sich dabei um einen militärischen handelt. Am Eindruck der Überlegenheit der Ausbilder*innen, den die Zuschauer*innen gewinnen, ändert das dennoch nichts. Dennoch lohnt es sich, zumindest knapp darauf aufmerksam zu machen, denn es ist eine Sache, ob militärische Maskulinität als Ideal allein im militärischen Kontext (d. h. hinter dem Kasernentor) produziert wird oder darüber hinaus (wie hier bei YouTube) Verbreitung findet. Letzteres gehört ist streng genommen schon in den Bereich von Militarisierungsprozessen und ist als solches diskussionswürdig. 46 „Der NACHTMARSCH | TAG 14“.

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sauber sind, dass man von ihr Essen kann (deshalb die Einblendung von Tellern und Kerzenhalter). Demgegenüber sind Ausbilder*innen in der Regel nur insofern das Objekt von Humor, als dass am Ende von einigen Folgen Versprecher gezeigt werden, einschließlich der Vorgesetzten.47 Es lässt sich jedoch argumentieren, dass solche im Grunde selbstironischen Szenen die Männlichkeit der Ausbilder*innen nicht im gleichen Maße in Frage stellen wie manche Szenen, in denen Rekrut*innen auf die Schippe genommen werden. Auch wenn dieser Punkt nicht explizit thematisiert wird, würden wir argumentieren, dass die hierarchische Ordnung zwischen Rekrut*innen und Ausbilder*innen automatisch auch eine Hierarchie zwischen (maskulinen) Soldat*innen und (femininen) zivilen Personen konstruiert. Denn der Grund für den Eindruck der Überlegenheit der Ausbilder*innen liegt darin, dass sie, im Gegensatz zu Rekrut*innen, deren militärische Ausbildung noch nicht beendet ist, schon echte Soldat*innen sind. Wenn Maskulinität aber erst durch die militärische Ausbildung produziert wird, dann impliziert das, dass zivile Personen auch als weniger männlich anzusehen sind. Zivilist*innen sind insofern mitgedacht, als sie, wie Rekrut*innen, im Transitionsprozess, aufgrund ihrer mangelnden militärischen Ausbildung zumindest implizit als feminin konstruiert werden. Zudem muss festgehalten werden, dass die Rekrut*innen, auch wenn sie gegenüber den Ausbilder*innen eine untergeordnete Position einnehmen, nicht komplett feminisiert werden. Erstens werden individuelle Rekrut*innen je nach ihren (zumeist physischen) Fähigkeiten unterschiedlich eingeordnet, und zweitens gibt es eine Gruppe, die in diesem Diskurs definitiv unter einfachen Rekrut*innen firmiert – die Aussteiger*innen. Wenig überraschend werden die Aussteiger*innen als feminin dargestellt. Wie ein Ausbilder kommentiert, sind die Gründe für den Abbruch der AGA „immer dieselben Themen: von Mutti weg, wenig Schlaf, zu stressig, und ‚Das habe ich mir nicht vorgestellt’“.48 Anstatt mögliche Argumente gegen Militärdienst ernst zu nehmen, die sich gerade aus feministischer Perspektive durchaus formulieren lassen, wird die Entscheidung, die AGA abzubrechen, etwas überspitzt formuliert, salopp abgetan als ein Problem mit ‚Muttersöhnchen’. Diese gegenderte Repräsentation ist, wie schon erwähnt, vor dem Hintergrund der feministischen Literatur zu Streitkräften und Militarisierung natürlich wenig überraschend. Dennoch lohnt es sich, zumindest kurz festzuhalten, dass die (audiovisuelle Repräsentation der) Grundausbildung in der Bundeswehr hier nicht vollkommen aus der Rolle fällt. Grundausbildung, und militärische Sozialisation 47 Z. B. „BOCK = BETT | Tag 03“, 4:19–4:27. 48 „Endlich WOCHENENDE | TAG 04 Teil 2“, 2:45–2:50.

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generell, bedeutet, dass Subjekte durch den militärischen Diskurs angerufen werden und sich, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, mit den ihnen angebotenen Subjektpositionen identifizieren (zu Subjektpositionen und Identifikation Laclau und Mouffe 2001).

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Moderat und ambivalent

Gleichzeitig zeigt auch DR, dass Maskulinisierung in der Bundeswehr möglicherweise Grenzen gesetzt sind. Zunächst ist festzuhalten, dass, auch wenn die Bundeswehr maskulin geprägt ist, die dort hegemoniale Vorstellung von Maskulinität (zumindest so, wie sie in DR repräsentiert wird) keine hypermaskuline Artikulation des heldenhaften Kriegers ist, der – überspitzt formuliert – darauf brennt, die Feinde seines Landes zu bekämpfen; also das, was bisweilen als „Macho-Heroismus“ (Andén-Papadopoulos 2009, S. 25) bezeichnet wird. Komplett abwesend sind Äußerungen, die darauf hinweisen, dass jemand Freude am Gedanken des Tötens oder auch nur eine Vorliebe für Waffen hat. Dass dies in einem militärischen Kontext nicht selbstverständlich ist, zeigen etwa die Äußerungen des ehemaligen Generals des U.S. Marine Corps und U.S.-Verteidigungsministers James „Mad Dog“ Mattis, dem zufolge es „a hell of a lot of fun“ sei, Taliban zu erschießen (zit. n. CNN 2005). Beispiele für die positive und teilweise humoristische Darstellung des Tötens im U.S.-Militär sind zahlreich (Andén-Papadopoulos 2009) und auch in der Grundausbildung in den USA wird das Töten viel expliziter thematisiert als in der Bundeswehr (Goldstein 2001). Dies lässt sich am besten bei der Waffenausbildung illustrieren. Einerseits nimmt die mit Musik unterlegte Waffenausbildung naturgemäß einen großen Teil ein und die Rekrut*innen betonen, dass ihnen die Waffenausbildung Spaß macht.49 Außerdem werden zu den Waffen (und nur zu den Waffen) technische Details eingeblendet, wie etwa Bauteile, Gewicht etc.50 Insofern werden Waffen und Waffenausbildung positiv dargestellt. Gleichzeitig ist der Diskurs um die Waffenausbildung von einem emotional distanzierten, technisch-neutralen Umgang mit der Waffe gekennzeichnet, etwa wenn statt von „Schießen“ vom „Abkrümmen“ des Fingers die Rede ist oder Ausbilder*innen die Waffe als „unser Handwerkszeug“ bezeichnen.51 Wie Cohn (1987, 1990; Thomas 2011) herausgearbeitet hat, wirkt technisch-neutrale Sprache 49 „Waffenausbildung Teil 2 | TAG 40“, 3:40–3:42; „Waffenausbildung Teil 3 | TAG 41“, 5:05–5:14, 8:50–8:58. 50 „Waffenausbildung Teil 3 | TAG 41“, 3:01; „Waffenausbildung Teil 4 | TAG 42“, 6:24. 51 „Waffenausbildung Teil 1 | TAG 39“, 2:40–2:41.

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säubernd, indem sie die mit Waffen und Krieg verbundene Gewalt versteckt. Sie trägt somit dazu bei, militärische Ausbildung akzeptabler zu machen, auch und gerade für ein Publikum (einschließlich der Rekrut*innen), das durch antimilitaristische Normen geprägt ist. Ebenso ist festzustellen, dass die Waffenausbildung nicht von Hypermaskulinität (bspw. Äußerungen, denen zufolge das Töten des Feindes ein Ausweis von Männlichkeit darstellt, Eisenhart 1975) geprägt ist. Vielmehr spielt der Begriff der Verantwortung eine zentrale Rolle wie Einblendungen auch visuell verdeutlichen. Einige Rekrut*innen betonen wörtlich die Notwendigkeit, „Verantwortung“ für „die Waffe und alles, was wir damit machen“ zu übernehmen,52 oder dass sich jede(r) „100 %ig“ bewusst sein sollte, „war er mit seiner [sic!] Waffe machen kann und wozu die, äh, da ist“.53 Auch die Kommentare der Rekrut*innen zum Konzentrationslager Sachsenhausen zeichnen ein deutlich reflektiertes Bild von (angehenden) Soldat*innen, die eher dem Ideal des „soldier-scholar“ entsprechen als dem des heldenhaften Kriegers.54 Die Abwesenheit hypermaskuliner Artikulationen ist aus unserer Sicht hauptsächlich dadurch zu erklären, dass der innermilitärische Diskurs (insbesondere dann, wenn er zu Rekrutierungszwecken einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird) an sedimentierte diskursive Praktiken anschlussfähig sein muss. Im Falle Deutschlands sind das vor allem Antimilitarismus bzw. ein gemäßigter Militarismus und das Leitbild des „Bürgers in Uniform“. Hypermaskuline Artikulationen eines heldenhaften Kriegers, für den das Töten des Feindes positiv besetzt ist, dürften nur schwer mit weit verbreiteten antimilitaristischen Normen vereinbar sein (Berger 1998; Maull 2001).55 Um glaubwürdig zu sein, also breite Akzeptanz zu finden, müssen Maskulinitätsvorstellungen kompatibel sein mit solchen weit verbreiteten sedimentierten Praktiken (Laclau 1990, S. 66). Für die Bundeswehrspiegeln sich diese hegemonialen Männlichkeitsvorstellungen am durch die Innere Führung geprägten Leitbild des „Bürgers in Uniform“ wider. Ein Kernziel der Inneren Führung war, eine Abkoppelung der Streitkräfte von demokratischem Rechtsstaat und pluralistischer Gesellschaft zu verhindern (von Bredow 2008; von Baudissin 2008). Im Gegensatz zum Soldaten der Wehrmacht soll die*der Bundeswehrsoldat*in als „Bürger in Uniform“, die*der sich den funda52 53 54 55

„Waffenausbildung Teil 1 | TAG 39“, 2:57–3:04. „Waffenausbildung Teil 1 | TAG 39“, 1:22–1:28. „Politische Bildung: Gedenkstätte Sachsenhausen | TAG 37“. Dabei gilt es allerdings zu berücksichtigen, dass sowohl Antimilitarismus als auch das Leitbild des „Bürgers in Uniform“ mit wachsenden Auslandseinsätzen Wandel unterworfen sind (Geis 2008; Mannitz 2007; Stahl 2017; Wiesendahl 2011).

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mentalen Werten des Grundgesetzes (allen voran der Menschenwürde) verpflichtet fühlt, Befehlen nicht blind zu folgen, sondern über ihren Gehalt zu reflektieren. Ohne die Innere Führung zu idealisieren, muss dennoch festgehalten werden, dass das durch sie vermittelte Bild von Soldat*innen als „Bürger in Uniform“ eine militarisierte Hypermaskulinität zu einem gewissen Grad einhegt, insbesondere in Kombination mit Deutschlands viel beschworener antimilitaristischer Kultur.56 Gleichzeitig ist DR auch ein Beispiel für den Wandel militarisierter Maskulinität(en). Einige Studien haben darauf hingewiesen, dass mit der Abschaffung der Wehrpflicht in zahlreichen Ländern auch ein Wandel militarisierter Maskulinität verknüpft ist. Militärische Maskulinität ist zunehmend weniger mit staatsbürgerlicher Pflichterfüllung und mehr mit Marktlogik verknüpft, die Soldat*innen als „enterprising soldier“ konstruiert (Strand und Berndtsson 2015; auch Eichler 2014). Diesem geht es mehr um Selbstverwirklichung als um Pflichterfüllung oder Militärdienst als Ausweis der eigenen Männlichkeit. Dies lässt sich auch in DR beobachten, da die Serie auch an solche eher neoliberalen Artikulationen von Männlichkeit anknüpft, indem der militärische Dienst als Chance konstruiert wird, über sich selbst hinaus zu wachsen bzw. sich selbst zu optimieren. Zudem sind Maskulinitätskonstruktionen auch in der Bundeswehr multipel, ambivalent, umkämpft und teilweise widersprüchlich. Dies lässt sich am deutlichsten an der Figur von Jerome Demelius festmachen, der hegemoniale Männlichkeit, wie sie sonst in DR artikuliert wird, auf vielfältige Weise herausfordert. Ganz banal lässt sich dies zunächst an Demelius’ Aussehen und Auftreten zu Beginn der Serie festmachen. So entspricht er mit Tunnel im Ohrläppchen, Tätowierungen und einem relativ ausgeprägten Hang zu Witzen und Albereien nicht dem Idealtypus konventioneller militarisierter Männlichkeit.57 Jenseits von Aussehen und allgemeinem Auftreten lässt sich jedoch auch an relativ konkreten Einzelbeispielen 56 Allerdings kann man auch hier davon ausgehen, dass innerhalb der Bundeswehr unterschiedliche Ausprägungen von Maskulinität existieren, die unterschiedliche Eigenschaften stärker betonen als andere. Beispielsweise dürfen sich Erwartungen an Härte, Mut, Heroismus usw. von Soldaten je nach Truppengattung unterscheiden – eine Fallschirmjägerin wird sicherlich mit anderen Erwartungen konfrontiert als ein Sanitäter. Dass verschiedene Truppengattungen u. a. in Bezug auf ihre Maskulinität hierarchisch angeordnet werden, lässt sich an einem Witz verdeutlichen, der zumindest in den 1990ern in der Truppe kursierte: „Woran erkennt man den schwulen Soldaten? Am blauen Barett.“ Gemeinhin ist damit die Waffenfarbe der Sanitätstruppe. 57 Wie der ideale Soldat aussieht, ist in der entsprechenden ZDv geregelt, in der Tätowierungen, Ohrtunnel und jegliche andere nicht dezente Modeentscheidungen oder Körpermodifikationen als Ausnahmen detailliert reguliert sind (Bundeswehr 2015; BMVg 2015). Generell wird ein dezentes und zurückhaltend-professionelles Auftreten betont.

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festmachen, wie Demelius hegemoniale Männlichkeitsvorstellungen teilweise bewusst durchbricht. Das erste, besonders augenfällige Beispiel hierfür sind Demelius’ wiederholte Präsentationen des „OOTD“, des „Outfit of the Day“, in denen er verschiedene Uniformen im Stil eines Mode-Bloggers als Tages-Outfit vorstellt.58 Diese Segmente orientieren sich an zahlreichen, weite Verbreitung findenden Video-Blogs auf YouTube, in denen User modische Kombiniermöglichkeiten vorstellen oder Make-Up-Tipps geben (vgl. Rocamora 2011). Zwar wird hier das Tragen von Uniformen positiv dargestellt und als modische Stilentscheidung präsentiert, obwohl für individuelle Entscheidungen als Rekrut*in, was die Uniform betrifft, kein Spielraum vorhanden ist (vgl. Bundeswehr 2015; BMVg 2015).59 Andererseits unterbricht die Einführung diskursiver Elemente, die eigentlich einem anderen, wie man argumentieren könnte, eher femininen, (Mode-) Diskurs zuzuordnen sind, die Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit hegemonialer Maskulinitätsvorstellungen. Durch diese mangelnde Passung entsteht auch das humoristische Element dieser Segmente. Ein zweites Beispiel für solche gegenhegemonialen Artikulationen zeigt sich in einer Szene, in der es um die Vollständigkeit der Ausrüstung geht. Ein Rekrut beschwert sich darüber, dass Kameraden seine Ausrüstungsgegenstände nehmen. Daraufhin nimmt Demelius ihn in den Arm (auf seine Aufforderung, die Redaktion solle „süße Musik einblenden“, wird die Szene mit akustischer Gitarrenmusik untermalt) und kommentiert das damit, man müsse „ja auch mal kameradschaftlich trösten“.60 Auch wenn Demelius’ Umarmung seines Kameraden etwas selbstironisch überspitzt ist, so drückt sie doch Mitgefühl aus. Mitgefühl ist durch das Bedürfnis motiviert, das Leiden eines anderen zu lindern, sie ist also eng mit einer „ethics of care“ verbunden, die, wie Welland (2015b) argumentiert, feminin kodiert ist. Sie steht also im Gegensatz zum Verständnis des maskulinen Subjekts als rational, autonom und primär logisch denkend (Welland 2015b) und fordert somit hegemoniale Artikulationen von Maskulinität heraus. Andere Beispiele für die (teilweise humoristische) Herausforderung von Hierarchien, Genderrollen und der Bundeswehr als Institution, sind Rekrut*innen, die

58 Z. B. „Das erste GEFECHT | TAG 04 Teil 1“, 2:43–3:30. 59 Die Besessenheit von Streitkräften mit einheitlichem Auftritt ist legendär. Zumindest während der Grundausbildung eines der Autoren war es üblich, den gesamten Zug (eine Teileinheit von ca. 40 Soldat*innen) zum Umziehen zu schicken, wenn ein Rekrut ein falsches Kleidungsstück angezogen hatte. 60 „Der Wehrrecht-Test | Tag 24“, 4:43-.

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in verschiedenen Situationen, etwa beim Antreten, herumalbern,61 meckern62 (in Abwesenheit von Vorgesetzten), den Sinn und Zweck bestimmter Anweisungen hinterfragen.63 Hier zeigt sich auch, wie Stil und Ästhetik der Serie inhaltliche Bedeutungen verstärken können. Dass hier militärische Normen durchbrochen werden, wird bildlich durch ein rot eingefärbtes Standbild verdeutlicht und durch ein akustisches Signal begleitet, wie es normalerweise für eine falsche Antwort in einer Quizshow eingesetzt wird.64 Nun ließe sich mit Butler (2004; vgl. auch Wotanis und McMillan 2014) argumentieren, dass solche alternativen Artikulationen von Maskulinität dazu beitragen können, hegemoniale militarisierte Männlichkeiten zu stören und aufzubrechen, und ihnen damit ein emanzipatives Moment innewohnt. Das Argument ist durchaus nicht vollkommen von der Hand zu weisen. Gleichzeitig würden wir jedoch auch argumentieren, dass die humoristische Herausforderung militarisierter Maskulinität dazu beiträgt, Militär für ein breiteres Publikum attraktiver zu machen. In der Tat suggerieren Szenen wie die rund um Demelius’ OOTD, dass in der Bundeswehr Platz für Heterogenität ist, d. h. dass Soldatentum in der Bundeswehr eben keine Aneignung militarisierter (Hyper-) Maskulinität erfordert. Durch die Art, wie die Serie gefilmt und produziert ist – im Stil einer Dokumentation, kombiniert mit Einspielungen, die die Rekrut*innen zumindest scheinbar ohne äußere Einflüsse selbst filmen – und dadurch, dass Albereien überhaupt gezeigt werden, entsteht der Eindruck, die Bundeswehr lasse den Rekrut*innen ein gehöriges Maß an Freiraum und Individualität. Dadurch, dass es den Rekrut*innen (zumindest scheinbar) möglich ist, herumzualbern oder sogar Vorgesetzte und die Bundeswehr als Institution zu kritisieren, wirken sie authentisch; sie sind glaubwürdige Fürsprecher*innen für die Bundeswehr. Auch Einspielungen mit Versprechern tragen dazu bei, ein ungeschminktes und alltagsnahes Bild von der Bundeswehr zu erzeugen.65 Dies ist ein nicht zu unterschätzender Bestandteil dessen, was die Serie insgesamt glaubwürdig macht. Und in der Tat behauptet die Bundeswehr ja selbst explizit, die Rekrut*innen seien „alle echt“ und es handele sich um „keine Schauspieler“, beansprucht Authentizität also explizit für sich.66 Wie Banet-Weiser (2012, S. 10) 61 Z. B. „Endlich WOCHENENDE | TAG 04 Teil 2“, 3:10–3:11; „Täglich grüßt die BUNDESWEHR | TAG 11“, 0:31–0:38. 62 „Der 5 Kilometer MARSCH | TAG 10“, 2:16–2:26. 63 Z. B. „Der erste Morgen | WECKZEIT 4:50 Uhr | Tag 02“, 3:52–3:55; „GROSSREINSCHIFF | TAG 09“, 2:26–2:33, 2:40–2:44; „Die Vollständigkeitsmusterung | TAG 34“. 64 „Täglich grüßt die BUNDESWEHR | TAG 11“, 0:36. 65 Vgl. etwa „Die 22 PUSHUP CHALLENGE | TAG 12“, 6:27–6:49. 66 https://www.youtube.com/channel/UCZPAni75bkLnjGO8yhuJpdw/about

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bemerkt, kommt Authentizität als Wert mit zunehmender Kommerzialisierung mehr Bedeutung zu: „in a culture that is increasingly understood and experienced through the logic and strategies of commercial branding, and in a culture characterized by the postmodern styles of irony, parody, and the superficial, the concept of authenticity seems to carry even more weight, not less“. Im Falle von DR ist dieser Eindruck von Authentizität zumindest in Teilen auch ein Ergebnis des spezifischen visuellen Stils der Webserie. Durch die Kombination verschiedener Elemente wirkt DR authentisch, ehrlich und weniger gesteuert und/oder kommerziell.67 Tatsächlich ist es jedoch fraglich, inwieweit gerade diejenigen Situationen, in denen etwa durch Parodie militarisierte Maskulinitäten in Frage gestellt werden, als repräsentativ für militärischen Alltag gelten können. Denn es ist schwer vorstellbar, dass Koketterie à la Demelius im Dienst, vor Vorgesetzten und in Abwesenheit von Kameras, also unter normalen Umständen während der Grundausbildung, auch nur im Ansatz geduldet würde, da sie dem kontrollierten, disziplinierten, dezenten Auftreten, das von Soldat*innen üblicherweise erwartet wird, ebenso widerspricht, wie dem Respekt vor der*dem Vorgesetzten (Bundeswehr 2015; BMVg 2015). Ebenso wenig ist es wahrscheinlich, dass Vorgesetzte Albernheiten während des Antretens erlauben würden. Streitkräfte lassen, wie Godfrey (2016) argumentiert hat, Humor nur begrenzt als kontrollierte Form von Widerstand zu, der letztlich der Organisationserhaltung dient. Insofern tragen auch diese Szenen, in denen militarisierte Männlichkeiten direkt humoristisch herausgefordert werden, dazu bei, ein positives (weil tolerantes, offenes) Bild der Streitkräfte zu produzieren. Sie wirken also, was Militarisierungsprozesse betrifft, eher förderlich.

5 Schluss Der Beitrag hat die Konstruktion militarisierter Männlichkeiten in der Bundeswehr-Webserie „Die Rekruten“ untersucht. Insbesondere waren wir daran interessiert, wie bestimmte Formen militarisierter Männlichkeiten zur Legitimität und Attraktivität der Bundeswehr beitragen. Im Gegensatz zu dem, was man von Streitkräften als traditionell eher hypermaskulinen Institutionen erwarten würde, ergibt die Analyse ein komplexeres Bild (vgl. allerdings auch etwa Belkin 2012). 67 Allerdings wird gerade die vermeintliche Realitätsnähe sowohl in den Kommentaren als auch in der Truppe selbst kontrovers diskutiert; vgl. etwa die Kommentare zu „Das Gelöbnis | Tag 36“. Für den Hinweis auf kritische Diskussionen in der Truppe danken wir Kerrin Langer.

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Einerseits bietet zwar auch DR ein Beispiel dafür, dass militärische Ausbildung oftmals den Auf-/Ausbau von maskulin konnotierten und die Verringerung feminin konnotierter Eigenschaften beinhaltet. Andererseits zeigt die Analyse jedoch ebenfalls, dass die Konstruktion militärisierter Männlichkeit in DR deutlich von Komplexität und Ambivalenzen gekennzeichnet ist. Auch wenn, ausgehend von der Annahme, dass Maskulinität eine zentrale Rolle bei der Legitimierung von Streitkräften spielt, zu erwarten wäre, dass Komplexität und Ambivalenz möglicherweise die Attraktivität der Bundeswehr schmälern könnten, argumentiert der Beitrag, dass gerade diese Offenheit es einem breiten Publikum erlaubt, sich mit seinen spezifischen Eigenarten und Wünschen darin wiederzufinden. Deutschland bietet gerade vor dem Hintergrund einer weit verbreiteten antimilitaristischen Haltung in Politik und Gesellschaft besondere Anknüpfungspunkte für die sog. Critical Military Studies. Dass DR nicht das einzige Beispiel von Militarisierung ist, zeigen auch die zahlreichen nachfolgenden Serien wie „Mali“ (2017), „Die Springer“ (2018), „Biwak“ (2018), „Unbesiegt“ (2018), „KSK“ (2018), „Survival (2019), „Die Rekrutinnen“ (2019). Während diese Formate, im Sinne zukünftiger Forschung, unter weiteren Gesichtspunkten wie „Militainment“ bzw. Mediatisierung des Krieges (Stahl 2010; Maltby 2012) oder Populärkultur in den IB (Caso und Hamilton 2015) untersucht werden können, so bleibt doch eine der zentralen Fragen die zunehmende Militarisierung. Denn wenn, so die Prämisse des Beitrags, DR als eine Intervention in den antimilitaristischen Diskurs verstanden wird, die den diskursiven Weg für weitere Formate wie „Mali“ und „Die Springer“ ebnet, so können Forscher*innen fragen, wie diese Formate und andere Aktivitäten der Bundeswehr in den sozialen Medien mitwirken, den antimilitaristischen Diskurs fortlaufend zu reartikulieren und somit zu einer erhöhten Akzeptanz von militärischen Werten, Inhalten oder gar Gewalt beitragen.

Literatur Adelman, R. (2007). Sold(i)ering masculinity. Men and Masculinities, 11, (S. 259–285). doi: 10.1177/1097184x06291886. Åhäll, L. (2012). The writing of heroines: Motherhood and female agency in political violence. Security Dialogue, 43, (S. 287–303). doi: 10.1177/0967010612450206. Andén-Papadopoulos, K. (2009). Body horror on the internet: US soldiers recording the war in Iraq and Afghanistan. Media, Culture & Society, 31, (S. 921–938).

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Sehen als Praxis Visuelle Strategien der Kritik und die Ausstellung „Terror Incognitus“ Frank Gadinger

Zusammenfassung

Sichtbarkeit wird gegenwärtig als nützliche analytische Kategorie in den Internationalen Beziehungen (IB) entdeckt. Im Feld der Critical Security Studies zeigte sich, dass moderne Herrschaftstechniken im Kontext des War on Terror im Spannungsfeld zwischen Sichtbarkeit vs. Unsichtbarkeit ausgeführt werden und anhand von visuellen Artefakten und Praktiken auch analysiert werden können. Allerdings verdeutlichte die Transformation des War on Terror hin zu einer unsichtbaren Form eines globalen Überwachungsregimes die Schwierigkeit öffentlicher Kritik, da die sichtbare Angriffsfläche verloren ging. In diesem Beitrag argumentiere ich am Beispiel der Ausstellung „Terror Incognitus“ von Edmund Clark, dass es insbesondere der Konzeptkunst gelingen kann, den versteckten War on Terror sowohl in einer aufklärerischen Tradition sichtbar zu machen als auch seine Einbettung in unserem Alltag spürbar werden zu lassen. Dabei schlage ich erstens einen praxistheoretischen Zugang vor, der die getrennten Sphären von Politik und Kunst überwindet und anhand der Ausstellung zeigt, dass „Sehen als Praxis“ eine aktive und emanzipatorische Wirkung entfalten kann. Zweitens zeige ich den methodischen Mehrwert von Bildanalysen anhand einiger exemplarischer Bilder Clarks, in denen menschenleere Orte die Imagination des Betrachters aktivieren und das unbehagliche Gefühl erzeugen, seit geraumer Zeit stiller Zeuge eines inhumanen politischen Unternehmens zu sein. Drittens wird bei Terror Incognitus im Anschluss an Überlegungen der Akteur-Netzwerk-Theorie deutlich, dass sich künstlerische Strategien der Kritik mit Recherche und Wissenschaft verbinden und erst die vielfältigen

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Schlag und A. Heck (Hrsg.), Visualität und Weltpolitik, Horizonte der Internationalen Beziehungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29971-2_10

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Frank Gadinger

Übersetzungen die materielle Logistik eines geheimnisumwobenen Krieges für den Betrachter vorstellbar werden lässt. Schlüsselbegriffe

Visualität, Photographie, Konzeptkunst, Kritik, Praxistheorie, War on Terror

„Armed with art, in other words, we are more alert and less deceived.“ Alex Danchev (2011, S. 4)

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Einleitung: If the light goes out1

Beim Betreten der Ausstellung „Terror Incognitus“2 des Künstlers Edmund Clark wird den Besucher*innen schnell bewusst, dass sie sich nicht in die passive und bequeme Rolle von Betrachter*innen zurückziehen können, sondern stattdessen ihre aktive Beteiligung gefordert ist. Im Einleitungstext der Ausstellung wird direkt darauf verwiesen, dass sich die Besucher*innen mit dem Handbuch vertraut machen sollten, um die Logik der Bilder und deren Komplexität besser verstehen zu können. Bevor ich den hellen Ausstellungsraum betrete, kann ich durch die Buchstabenlücken der abgeklebten Eingangstüren ein verwunderliches Bild von

1

Für hilfreiche Kommentare und Anregungen danke ich den beiden Herausgebern Axel Heck und Gabi Schlag sowie allen Mitgliedern des DFG-Forschungsnetzwerks „Visualität und Weltpolitik“. Zudem danke ich Anna Gadinger, Philipp Michaelis, Sabrina Pischer und Elena Simon, die den Text inhaltlich kommentiert und sprachlich korrigiert haben. Schließlich möchte ich mich in besonderer Weise bei Edmund Clark bedanken, der sich in einer persönlichen Korrespondenz nicht nur über die politikwissenschaftliche Beschäftigung mit seiner künstlerischen Arbeit erfreut zeigte, sondern darüber hinaus auch uneigennützig die visuelle Verwendung seiner Bilder für diesen Beitrag erlaubte. Alle abgedruckten Bilder in diesem Beitrag werden demnach mit ausdrücklichem Einverständnis des Künstlers Edmund Clark genutzt. 2 Die Ausstellung „Terror Incognitus“ fand vom 31.01. bis 03.07.2016 in Mannheim im Museum „Zephyr“ statt. Die Serie „Negative Publicity: Artefacts of Extraordinary Rendition“, die den zentralen Bestandteil der Ausstellung bildete, erschien auch als Ausstellungskatalog (Black/Clark 2016). Die thematisch verwandte Ausstellung „War of Terror“ fand vom 28.07.2016 bis 28.08.2017 im Imperial War Museum in London statt.

Sehen als Praxis

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ein paar Bäumen ausmachen, in dessen Zentrum irgendetwas unerkennbar verpixelt ist – aufgrund von juristischen Umständen, wie ich später in der Recherche erfahre. Dieser Einstieg in die Ausstellung ist exemplarisch und durchzieht das Konzept der Ausstellung, in der die Besucher*innen in ihrer Wahrnehmung herausgefordert werden. In präzisen und atmosphärischen Bildern berichtet Clark von den Folgen des War on Terror seit dem 11. September 2001 und den unsichtbaren Machtsystemen, unter denen wir in unserem Alltag leben, ohne es zu bemerken. Clark war der erste Künstler, der sich vor Ort mit dem Gefangenenlager von Guantánamo beschäftigte und das dortige Leben sowohl der Gefangenen als auch der stationierten Soldat*innen und Wachleute visuell greifbar werden lässt. Diese Bilder, die unter dem Titel „If the Light Goes Out“ (Clark 2010) entstanden sind und mit denen Clark in der öffentlichen Debatte bekannter wurde, bilden auch eine Rubrik der Mannheimer Ausstellung. In poetischen und einsamen Bildern werden Orte und Artefakte gezeigt, beispielsweise ein Aufenthaltsraum für Gefangene in einer klinischen Käfigatmosphäre, die nüchterne Aufnahme eines Stuhls auf dem Gefangene zwecks Zwangsernährung fixiert werden oder das unwirkliche Bild einer Strandbar mit Barhockern, an der die stationierten Wachleute ihren Feierabend verbringen. Die Bilder sind stets menschenleer und wirken manchmal wie friedliche Stillleben. Dies wirkt für die Betrachter*innen ungewohnt, da sich mit dem Begriff Guantánamo ikonografisch vor allem körperlich leidende Menschen in orangefarbenen Overalls verbinden. Das Grauen und die Entmenschlichung nicht direkt zu zeigen, ist ein konzeptionelles Motiv von Clark (2016), der damit die Würde dieser Menschen wiederherstellen will. Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt jedoch auf einer lange Zeit unbemerkten Praxis des War on Terror, die in der öffentlichen Diskussion kaum eine Rolle spielte: die geheimen Gefangenentransporte, die mit dem Begriff der „extraordinary renditions“ in der Sprache der Terrorbekämpfung verharmlosend „Überstellungen“ genannt wurden, bei denen es jedoch primär um Entführung, Folter und Inhaftierung in einem rechtsfreien Raum ging. Wir sehen beispielsweise ein verschwommenes Gebäude in einem idyllischen Waldgebiet, ein Hotelbett mit blauer Tagesdecke oder einen fast schon verwunschenen Hotelpool mit Gartenblick. Hier wird nun die Praxis des Sehens bei den Besucher*innen weitaus stärker herausgefordert. Der*die Betrachter*in vermutet natürlich, dass die Bilder zusammenhängen und letztlich auf konkrete Schicksale einzelner Personen verweisen, die sich in diesem unsichtbaren Krieg verfangen haben. Der Blick aus dem Hotelzimmer beispielsweise führt unweigerlich dazu, dass der*die Betrachter*in eine Verbindung mit dem Bild eingeht und den Gefühlen des hier 23 Tage festgehaltenen Khaled al-Masri nachspürt. Dies erschließt sich jedoch erst durch die zusätzlichen Informationen, die im Zusammenspiel mit den Fotografien die Geschichte dahinter freilegen. Clark

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(2016), ursprünglich Historiker, sieht sich einer „visuellen Geschichtsschreibung“ verpflichtet. Er nutzt die Bilder, um nachholende Beweisaufnahmen anzufertigen und die Verknüpfungen eines unbemerkten Machtsystems aufzuzeigen, die sich durch Spuren in unserem Alltagsleben wiederfinden. Der unsichtbare Krieg wird mit unserem verdrängten Bewusstsein konfrontiert. Er hat für das Projekt „Negative Publicity“ über mehrere Jahre mit dem investigativen Journalisten Crofton Black zusammengearbeitet und seine Arbeitsweise konzeptionell erweitert. Ging es bei Clarks konzeptionellem Motiv in den Bildern von Guantánamo vor allem um Imagination, geht es nun noch stärker darum, Spuren in unserem Alltag zu erkennen, die das scheinbar unsichtbare Gewebe des War on Terror in ihrer perfiden Logistik dennoch hinterlässt: in Hotelrechnungen, Gerichtsunterlagen, Spesenkosten, Flugplänen, Telefonrechnungen. Für Black und Clark bilden diese Artefakte Puzzleteile, die zunächst unbedeutend erscheinen, jedoch „die Achillesferse eines bürokratischen Systems“ (Clark 2016) bilden und dadurch zu Beweisen für die Existenz der Folter- und Verhörzentren werden, etwa Gerichtsdokumente, in denen eine private Fluglinie über nicht bezahlte Rechnungen für „Überstellungsflüge“ stritt, da ihr mehr Aufträge garantiert worden seien. Clarks politische Konzeptkunst, die auf eindringliche Weise die dunkle Seite der Erzählung eines sicherheitspolitisch notwendigen Krieges gegen den Terror hinterfragt, ist Teil einer breiteren Bewegung von Journalist*innen, Filmemacher*innen, Wissenschaftler*innen, Schriftsteller*innen und anderen Künstler*innen, die sich wechselseitig inspirieren und als kritische Akteur*innen internationaler Politik in der IB-Forschung bislang kaum beachtet werden. Laura Poitras drehte den Oscar-prämierten Dokumentarfilm Citizenfour3, in dem sie die Motive des Whistleblowers Edward Snowden veranschaulichte, arbeitete jedoch in der konzeptionellen Ausstellung Astro Noise (Poitras 2016) noch stärker mit der Frage, wie sich der War on Terror mit seinem Imperativ einer globalen Überwachung auf unser menschliches Dasein auswirkt.4 Trevor Paglen (2010) geht es in seinen Arbeiten auch darum, die globale Überwachung in unserem Alltag aufzuspüren und damit die Überwacher*innen ein Stück weit selbst zu entblößen. Er arbeitet hierbei – durchaus ähnlich zu Clark – einerseits mit poetischer Bildsprache, wenn beispielsweise eine Abhörstation der NSA in Frankfurt/Griesheim in warmem Licht sowohl friedlich

3 Der Film Citizenfour ist ein gutes Beispiel für eine subversive Erzählstrategie, wonach Snowden nicht in pathetischen Zügen als Held gezeichnet wird, sondern als unsicher agierender Jedermann, der dadurch beim Zuschauer Emotionen mobilisiert; siehe hierzu Yildiz/Gadinger/Smith (2018). 4 Die Ausstellung „Astro Noise“ fand vom 5. Februar bis 1. Mai 2016 im Whitney Museum of American Art in New York statt.

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als auch bedrohlich erscheint; andererseits zeigt Paglen auch materielle Artefakte der Überwachung, etwa eine scheinbar unbedeutende Boje in der Nordsee, die auf ein im Meeresboden liegenden Lichtwellenleiter (Glasfaserkabel) der NSA hinweist. Die künstlerischen Zugänge dieser Art sind politikwissenschaftlich in hohem Maße relevant. Sie sind seltene Beispiele dafür, sich aus gesellschaftskritischer Perspektive mit dem unsichtbar gewordenen War on Terror nicht stillschweigend abzufinden und gewöhnliche Bürger*innen, für deren Formen und Auswirkungen in unserem Alltag sensibilisieren zu wollen. Die visuellen Strategien der Kritik von Künstler*innen wie Clark, Paglen oder Poitras sind dementsprechend kreative Reaktionen auf die Transformation des War on Terror von seiner militärischen Sichtbarkeit auf Schlachtfeldern und in Gefängnissen (Abu Ghraib) hin zu seiner politisch gewollten Unsichtbarkeit. Ging es kritischen Journalist*innen wie Seymour Hersh (2004), Mark Danner (2006) oder Dexter Filkins (2008) in den ersten Jahren in einem rein dokumentarischen Ideal darum, die Schrecken und Grausamkeiten eines unmenschlichen Krieges zu zeigen und die Bevölkerung über die Schattenseite des War on Terror aufzuklären – exemplarisch im Folterskandal von Abu Ghraib – versuchen genannte Künstler*innen nicht nur moralische Empörung auszulösen, sondern den*die Beobachter*in als unbewussten Zeugen aufzurütteln. Im Gegensatz zu den Folter-Bildern von Abu Ghraib oder den internierten Häftlingen in Guantánamo, die aufgrund der Häufigkeit auch zu einem visuellen Gewöhnungseffekt führen, versucht die künstlerische Perspektive, die Abgründe des alltäglich gewordenen Krieges in Bildern und Artefakten zu zeigen und fordert den*die Betrachter*in aktiv dazu auf, die Absurdität und Unmenschlichkeit zu entdecken, die an der nächsten Straßenecke verborgen sein kann. Während Fotos von Abu Ghraib oder Gefängnissen in Afghanistan weit weg erscheinen und Bürger*innen in gewissem Maße von der Verantwortung entkoppeln, versucht der künstlerische Zugang die eigene Verstrickung in die zur Normalität gewordene Sicherheitspraxis kritisch zu hinterfragen. Die visuelle Strategie der Kritik von Clark – so die These des Beitrags – ist als Form der Kritik besonders wirkungsvoll, da sie dem*der Beobachter*in keinerlei Distanz lässt und in der aktiven Praxis des Sehens ein Gefühl des Unbehagens und der Mitverantwortung erzeugt, ein unmenschliches System grenzenloser Überwachung und paranoider Kontrolle stillschweigend zu billigen. Gerade der künstlerische Zugang, der sich einem dokumentarischen Wahrheitsideal verweigert, kann durch den Bedeutungsüberschuss eine emanzipatorische Wirkung bei den Betrachter*innen entfalten und arbeitet einer visuellen Abstumpfung durch Bilder explizit gezeigten menschlichen Leids entgegen. Der Beitrag möchte demnach die politikwissenschaftliche Forschung ermutigen, sich intensiver mit visuellen Strategien der Kritik aus der Konzeptkunst auseinanderzusetzen und Ausstellungen sowie damit verbundene Produkte (Bilder,

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Artefakte) als äußerst relevante Untersuchungsgegenstände der kulturellen Bedeutungsproduktion ernst zu nehmen, um moderne Herrschaftstechniken in der internationalen Politik analysieren zu können. Die Beschäftigung dieses Beitrags mit der Ausstellung „Terror Incognitus“ von Clark und der entsprechenden Analyse einiger Bilder und Artefakte schließt damit an jüngere Forschungsarbeiten im Feld der Internationalen Beziehungen (IB) an, die sich unter dem Begriff der „visuellen“ bzw. „ästhetischen Wende“ (Bleiker 2001) in ähnlicher Weise mit der Rolle und Funktion von Bildern, Filmen und anderen kulturellen Repräsentationen sowohl theoretisch als auch methodisch auseinandersetzen (u. a. Danchev und Lisle 2009; Shim 2017; Heck 2017; Schlag 2019). Der hier gewählte Zugang profitiert besonders von der gegenwärtigen Forschung im Umfeld der Critical Security Studies, in der das Spannungsverhältnis zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit als zentrale analytische Kategorie aufgegriffen und mit politikwissenschaftlichen Kernfragen zu Macht, Legitimität und Kritik verbunden wird (u. a. Campbell 2003; Brighenti 2007; Schlag und Geis 2017). Dies betrifft einerseits Studien, die sich in ähnlicher Form mit der konzeptionellen Arbeitsweise von Fotokunst und deren emanzipatorischen Auswirkungen beschäftigt haben, etwa zu den Fotos von Angus Bolton (Roberts 2009) und Paglen (Andersen und Möller 2013) oder zu anderen Ausstellungen im Kontext des War on Terror (Lisle 2007). Andererseits erweitert ein interdisziplinärer Zugang dieser Art auch das methodische Repertoire der IB-Forschung, in diesem Fall die Einbindung von Bildanalysen, deren Relevanz bereits demonstriert wurde (Heck und Schlag 2012; Hansen 2014). Schließlich versucht der Beitrag in praxistheoretischer Perspektive darauf hinzuweisen, dass sich die Praxis des Sehens aus einem komplexen Zusammenspiel von körperlicher Erfahrung, Artefakten und visueller Ordnung ergibt und stets in einem Spannungsfeld zwischen diskursiver Einschränkung und emanzipatorischen Möglichkeiten des Subjekts verortet ist (vgl. Prinz 2014). Die Praxis des eigenen Sehens in einen analytischen Zusammenhang zu bringen und reflexiv zu verorten, ist im gegenwärtigen Programm der internationalen Praxistheorie (Bueger und Gadinger 2018) bislang weitgehend unerforscht. Eine solche Perspektive knüpft jedoch an methodische Überlegungen an, die unter dem Begriff der Autoethnografie (Bleiker und Brigg 2010) geführt werden. Die unterschiedlichen Rollen von Forscher*in und Besucher*in der Ausstellung erfordern Selbstreflexion, um die persönlichen Eindrücke als kulturelle Erfahrungen zu verstehen und systematisch zu interpretieren. Das hier gewählte Beispiel der Ausstellung „Terror Incognitus“ unterstützt zudem Einsichten aus der Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour 2007), wonach materiellen Objekten und Artefakten eine zentrale Rolle in der Erzeugung von Performativität zugewiesen wird. Die Macht der Bilder ergibt sich erst aus der Verknüpfung und Übersetzung mit zusätzlichen Recherchen und wissenschaftlichen Informationen, die dann in

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ihrer Gesamtheit eine komplexe Geschichte des alltäglich stattfindenden War on Terror in unmittelbarer Nähe erzählen.

2

Sehen als Praxis: Theoretischer Hintergrund und methodologische Implikationen

Andrea Brighenti (2007, 2010) hat vorgeschlagen, Sichtbarkeit als zentrale analytische Kategorie in der sozialwissenschaftlichen Forschung zu entdecken. Für Brighenti (2007, S. 324) geht es einer sozialwissenschaftlichen Perspektive weniger darum, Visualität per se zu entdecken, da die visuelle Dimension unbestreitbar ein zentraler Aspekt unserer Kultur ist, sondern die symbolische Form zwischen den beiden Polen der Ästhetik (Beziehungen der Wahrnehmung) und der Politik (Machtbeziehungen) zu analysieren. Hierbei wird deutlich, dass sich aus dem Ringen um Sichtbarkeit ein ambivalentes Spannungsfeld zwischen Anerkennung und Kontrolle ergibt. Während die Suche nach sozialer Anerkennung unweigerlich damit verbunden ist, als Subjekt wahrgenommen und anerkannt zu werden, kann die ideale Form einer „fairen Sichtbarkeit“ auch stets in eine verzerrte Wahrnehmung und Überrepräsentation kippen, bis hin zur völligen Transparenz in einer Überwachungsgesellschaft. Gleichzeitig lässt sich die Machterweiterung nicht einzig auf eine Erhöhung der Sichtbarkeit zurückführen, sondern kann sich auch in der Aura der Unsichtbarkeit im arkanen Bereich abspielen, wie dies in einer kritischen Tradition problematisiert wird (Brighenti 2007, S. 336). Machtfülle ergibt sich in einer solchen Lesart dann aus dem asymmetrischen Verhältnis einer externen Sichtbarkeit, verbunden mit einer internen Unsichtbarkeit. Der Mächtige kann alles sehen, kann aber von einem*r normalen Beobachter*in nicht gesehen werden – der exemplarische Fall ist die grenzenlose Überwachungspolitik –, was jedoch unter demokratischen Bedingungen zu einem Verlust der Legitimität und der politischen Autorität führen kann. Genau diese Ambivalenz im Verhältnis von Macht und Sichtbarkeit macht die soziologische Betrachtung solcher politischen Prozesse relevant, wie Brighenti (2007, S. 340) abschließend argumentiert. Aus einer moralischen Bewertung ist eine fundamentale Spannung zwischen Anerkennung und Kontrolle entstanden, wobei beide Praktiken mit Formen von Sichtbarkeit verbunden sind und es keine eindeutige Zuschreibung in moralischen Kategorien geben kann. Aus Sichtbarkeit konstituiert sich demnach weder eine ausschließlich befreiende Form der Emanzipation noch ergibt sich zwangsläufig Kontrolle und Unterdrückung, was die Kategorie für die sozialwissenschaftliche Forschung produktiv erscheinen lässt. Wie sich hier bereits andeutet, und in den

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folgenden Ausführungen herausgestellt wird, eignet sich Sichtbarkeit und das Sehen als Aktivität in besondere Weise für einen praxistheoretischen Zugang, da in visuellen Praktiken (Sehen, Zeigen, Beobachten) bestehende Dichotomien von Subjekt und Objekt, Akteur*in und Struktur oder Materialität und Idealität überwunden werden.

2.1

Sehen als Praxis: ein praxistheoretischer Zugang im Umgang mit Bildern

Sophia Prinz (2014) hat den Versuch unternommen, die ‚Geschichte des Sehens‘ aus einer praxistheoretischen Lesart zu rekonstruieren und geht grundlegend davon aus, dass das Sichtbare einer Kultur wandelbar ist und von den inkorporierten Wahrnehmungsschemata abhängt, die das Subjekt in Auseinandersetzung mit den Gestalten seiner dinglichen Umwelt erworben hat. Einer praxeologischen Theoriebildung geht es demnach stets darum, wie die sinnliche Wahrnehmung kulturell überformt wird, ohne dabei dem Wechselverhältnis zwischen Akteur*in und Struktur einen analytisch höheren Stellenwert zuzuweisen. Für Prinz (2016, S. 182) weist die Topologie der materiellen und visuellen Kultur bestimmte Verteilungen, Häufungen und Muster auf, die von den Subjekten inkorporiert werden und zu einem dauerhaften, impliziten Wahrnehmungswissen ausgeformt werden. Erst durch die wiederholte Konfrontation mit den Gestalten ihrer Welt bilden die Subjekte eine spezifische Wahrnehmungskompetenz oder einen perzeptiven Sinn aus, der ihnen dazu verhilft, die Struktur einer räumlichen Situation oder die praktischen Anforderungen einzelner Artefakte spontan zu erfassen, wobei das Wahrnehmen immer auch ein Nicht-Wahrnehmen beinhaltet (Prinz 2016, S. 182). In ihrer Suche nach hilfreichen Konzepten verwirft Prinz (2014, S. 35) Bourdieus Ansatz, da er keine analytischen Ansatzpunkte bietet, um einer Praxis des Sehens näher zu kommen und sich nicht dafür interessiert, wie sich die Wahrnehmungskompetenz im praktischen Umgang mit Artefakten herausbildet, sondern davon ausgeht, dass das Vermögen ein Kunstwerk oder Bild zu betrachten in erster Linie dem inkorporierten kunsthistorischen Wissen der Akteur*innen geschuldet ist. Für Bourdieu macht es im Prinzip keinen Unterschied, wie Prinz (2014, S. 35–36) argumentiert, ob der*die Ausstellungsbesucher*innen ein impressionistisches Bild im Goldrahmen, eine künstlerische Performance oder eine Videoinstallation zu Gesicht bekommt, da es in allen Fällen lediglich darauf ankommt, ob er*sie die feldspezifischen Wissenscodes zur Anwendung bringen kann. Eine analytisch gewinnbringendere praxistheoretische Heuristik ergibt sich für Prinz zumindest ansatzweise aus Foucaults Theorie der historischen Bedingungen des

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Sichtbaren sowie in besonderer Weise aus der Phänomenologie der Wahrnehmung von Maurice Merleau-Ponty. Denn Foucault hat neben seiner Analyse des ‚Sagbaren‘ immer wieder Versuche unternommen, die historische Schicht des ‚Sichtbaren‘ freizulegen, der er eine Eigenlogik gegenüber dem Diskurs einräumte. Ähnlich seiner historischen Analyse des Denk- und Sagbaren verfolgt Foucault die analytische Strategie, nicht von einem apriorischen Erkenntnis- und Wahrnehmungsapparat auszugehen, sondern das Sehen genauso wie das Denken aus den Ordnungen der äußeren Welt abzuleiten, so dass zumindest potentiell die wahrnehmungs- und praxiskonstitutive Wirksamkeit der materiellen und visuellen Kultur berücksichtigt werden kann. Dennoch bleibt der Ansatz defizitär hinsichtlich der konstitutiven Wirkung alltäglicher Dingwelten auf das Subjekt und dessen implizites visuelles Praxiswissen (Prinz 2016, S. 37–38). Foucaults Genealogie betrachtet das Subjekt nicht als einen Leib, der aktiv wahrnimmt und handelt, sondern ausschließlich als einen Körper, der vom Blickregime unterworfen wird; exemplarisch in den Formen der Überwachung und Kontrolle in Feldern der Biopolitik. Im Gegensatz dazu bietet die Phänomenologie Merleau-Pontys den Vorteil, dass die ‚perzeptive Syntax‘, die dem erkennenden ‚Gestaltsehen‘ zugrunde liegt, nicht auf ein apriorisches Apperzeptionsvermögen zurückzuführen ist, sondern aus der vorprädikativen, leiblichen Interaktion des Subjekts mit seiner dinglich-materiellen Umwelt resultiert. Nach dieser praxistheoretischen Lesart ergeben sich aus den Regelmäßigkeiten der sichtbaren Welt die Bedingungen ihrer Wahrnehmung, so dass die Praxis der Wahrnehmungserfahrung eine zentrale Rolle einnimmt, in der das Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung kulturell ausgebildet wird und die Möglichkeit der Resistenz bzw. des Anders-Sehens beinhaltet (Prinz 2016, S. 39). Entscheidend ist nun, dass der menschliche Sinnesapparat gar nicht dazu in der Lage ist, zu den ‚Dingen-an-sich‘ vorzudringen, sondern dieser eher wie eine Art Filter funktioniert, der nur bestimmte Aspekte und Relationen des empirisch Gegebenen aufnimmt und zu kohärenten ‚Phänomenen‘ zusammensetzt. „Das Sehen ist somit kein rein passiver Vorgang“, wie Prinz (2016, S. 189) argumentiert, „durch den sich die Welt im Inneren des Auges eins-zu-eins abbildet, sondern muss als ein produktiver oder projektiver Akt verstanden werden, der das Wahrzunehmende stets in einer bestimmten Art und Weise in Erscheinung treten lässt“. Die Wahrnehmungskompetenz bzw. perzeptive Syntax bei Merleau-Ponty leitet sich also nicht aus den apriorischen Strukturen des Bewusstseins ab, sondern geht aus den konkreten Praxis- und Wahrnehmungserfahrungen hervor, die in der Situation an das Subjekt herangetragen werden, wobei „der Leib nach Maßgabe seines jeweiligen Körper- und Wahrnehmungsschemas stets über die ‚bedingte Freiheit‘ (Merleau-Ponty) verfügt, die ihn formende Welt ein Stück weit zu transformieren“ (Prinz 2016, S. 192–193).

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Aus diesen phänomenologischen Überlegungen ergeben sich drei miteinander verknüpfte Möglichkeitsbedingungen der Wahrnehmung (Prinz 2016, S. 195–196): Erstens hängt das Sehbare von den ‚objektiven‘ Formationen des jeweiligen Dispositivs ab, die entsprechende ‚Ansichten‘ nahelegen, etwa durch archetektonisch-räumliche Anordnungen, aber auch durch die körperlichen Praktiken anderer Subjekte, die anzeigen, welche Wahrnehmungs- und Verhaltensformen als angemessen gelten. In diesem Sinne lässt sich jede Art von ‚Display‘ – ob im Museum, in der Einkaufspassage oder im Wohnzimmer, als ein Dispositiv verstehen – das bestimmte Wahrnehmungserfahrungen eher wahrscheinlich macht als andere (Prinz 2016, S. 195). Zweitens, spielt das implizite Wahrnehmungswissen des Subjekts, das es in Auseinandersetzung mit den Formationen seiner ‚angestammten‘ Welt ausgebildet hat, eine entscheidende Rolle. Weicht die perzeptive Syntax von den sinnlichen Anforderungen des aktuellen Dispositivs erheblich ab, kommt es zu Irritationen, die sich unterschiedlich äußern können. Gerade dadurch wird deutlich, dass die Welt nicht von jedem zu jeder Zeit gleichermaßen erfahren wird. Drittens, ist das wahrnehmende Subjekt zwar als eine kulturell überformte, aber dennoch aktive Instanz zu verstehen, denn das inkorporierte Wahrnehmungswissen ist kein starres Raster, sondern hat eher den Charakter eines variablen Instrumentariums, das verschieden eingesetzt, kombiniert und transformiert werden kann (Prinz 2016, S. 196). Wie wir in der gegenwärtigen Forschung zu visuellen Praktiken im Kontext des War on Terror sehen, wird in vielen Fällen ein solch praxistheoretischer Zugang gewählt, der dem kritischen Subjekt zumindest einen gewissen Handlungsspielraum lässt und sich von einem Sichtbarkeits- und Kontrollregime nicht vollständig einschränken lässt.

2.2

Der War on Terror im Spannungsfeld von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit

In der visuellen IB-Forschung zum War on Terror ging es zunächst darum, zu demonstrieren, dass Bilder konstitutive Wirkungen in diskursiven Prozessen erzeugen können und demnach wirkungsmächtige Vehikel in der kulturellen Bedeutungsproduktion darstellen. Axel Heck und Gabi Schlag (2012) zeigen etwa am Beispiel eines TIME Covers, auf dem ein afghanisches Mädchen mit abgeschnittener Nase zu sehen ist, wie sich die affektive Wirkung des Bildes mit der Dimension der politischen Legitimation verbindet („What happens, if we leave Afghanistan“). Bilder sind in dieser Form wirkungsmächtige Instrumente für politische (De-) Legitimationsstrategien. In ähnlicher Weise argumentiert Frank Möller (2007), dass die Bilder der in die Türme des World Trade Center krachenden Flugzeuge

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sowohl als politische Legitimationsressource in Prozessen der Versicherheitlichung genutzt als auch zu einem visuellen Reservoir der kollektiven Erinnerung wurden. Gleichzeitig können visuelle Projekte, etwa in der Fotokunst, auch eine Form des Widerstands entfalten und die Rolle der Kritik stärken. Lene Hansen (2014) wiederum geht es vor allem um die Frage, wie und warum einzelne Bilder, in ihrem Fall der gefangene ‚Kapuzenmann‘ von Abu Ghraib, zum Symbol für eine größere politische Angelegenheit werden, ikonischen Status erhalten und Teil des visuellen Gedächtnisses werden. In diesen Studien geht es in erster Linie um dokumentarische Bilder in ihrer diskursiven Interventionsleistung, die entweder in der medialen Repräsentation moralisch aufgeladen werden (TIME Cover, 9/11 Fotos), oder durch Zirkulation auf globaler Ebene performative Wirkung entfalten. Im Gegensatz dazu entwickelte sich in der kritischen Auseinandersetzung mit dem War on Terror auch eine künstlerische Bewegung, die in kreativer Form visuelle Strategien der Kritik entworfen hat, um die Folgen dieses immer unsichtbarer gewordenen Machtsystems sichtbar zu machen. Dies muss keineswegs immer gelingen. Wie Debbie Lisle (2007) am Beispiel der Kunstausstellung „The American Effect“, die 2003 im Whitney Museum in New York stattfand, deutlich macht, kann die Auswahl ‚kritischer Stimmen‘ und das Konzept einer Ausstellung letztlich auch ein Beleg für die herrschenden Machtverhältnisse sein, die ursprünglich in Frage gestellt werden sollten. So verstärkte in diesem Fall gerade der pädagogische Anspruch, dass Künstler*innen aus aller Welt kritisch zu Wort kommen dürfen, um über die Rolle der USA als globale Supermacht nachzudenken, das Gefühl einer gütigen Hegemonie, die sich sogar Kritik gefallen lässt und erfahren möchte, warum die USA in anderen Teilen der Welt so verhasst sind (Lisle 2007). Museen sind demnach auch politische Orte, an denen Machtstrukturen zwischen Künstler*innen, Kurator*innen, Politiker*innen und Publikum sichtbar werden und der Anspruch der visuellen Kritik unter den in diesem Fall patriotischen Diskursen nicht eingelöst werden kann. Für meine Forschungsperspektive auf Clarks Konzeptkunst und die Ausstellung „Terror Incognitus“ besonders relevant ist die Arbeit von Rune Andersen und Frank Möller (2013), die sich mit dem kritischen Potenzial von Fotografie im Umgang mit visuellen Praktiken der Sicherheits- und Überwachungspolitik beschäftigen. Sie zeigen dies anhand von Bildern der Künstler Simon Norfolk und Trevor Paglen, die sich vergleichbar zu Clark zwischen Fotojournalismus und Konzeptkunst bewegen. Für Andersen und Möller (2013, S. 203) schafft es gerade diese Form der Fotokunst die unsichtbaren abstrakten Wirkungsweisen moderner Herrschaftssysteme in den Feldern von Sicherheit und Überwachung herauszufordern, da die Grenzen der Sichtbarkeit sowohl auf den Fotojournalismus als auch auf die Sicherheitsdimension übertragen werden. Dies gelingt

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dadurch, dass durch den kritischen Impuls, das Unsichtbare wieder sichtbar zu machen die Grenzen zwischen dem Gesehenen und Ungesehenen verschwimmen. Norfolk und Paglen widersetzen sich den bestehenden Mustern der visuellen Einordnung des Fotojournalismus und vermeiden dadurch, Teil des bestehenden diskursiv-repräsentativen Regimes zu werden. Schließlich geht es beiden darum, Strukturen und Institutionen zu visualisieren und nicht das Leid von Menschen in den Vordergrund zu rücken, wodurch ethische Dilemmata umgangen werden. Diese Arbeitsweise wird etwa in Norfolks Foto The BBC World Service Atlantic Relay Station at English Bay als Teil der Serie Ascension Island: The Panopticon deutlich. Der*die Betrachter*in sieht auf dem Bild ein Netz dünner Kabel, das fast unsichtbar wirkt vor dichten, grauen Wolken. Das Auge der Betrachter*innen muss sich anstrengen, die Kabel als hauchdünnes Spinnennetz visuell zu erfassen und in Beziehung zur Wolkenlandschaft zu setzen. Andersen und Möller (2013, S. 211) lesen dieses Bild in ihrer Interpretation symbolisch, wonach dies als visueller Anstoß auf die fast unsichtbar gewordenen Sicherheitspraktiken zu deuten ist, die in ihrer netzartigen Natur unsere modernen Gesellschaften vereinnahmen. Die Imagination der Betrachter*innen wird dazu aufgefordert, beim nächsten Blick aus dem Fenster in die grauen Wolken sich das ihn*sie umgebende Netz der Überwachungstechnologie vorzustellen. In Paglens Serie Chemical and Biological Weapons Proving Ground wird diese Arbeitsweise in noch radikalerer Form weitergeführt, da der Abstraktionsgrad der Bilder den*die Betrachter*in noch viel stärker herausfordert. In den Bildern hat Paglen mit einer hochauflösenden Teleskoplinse gearbeitet, um versteckte Militäreinrichtungen in den Wüstengebieten im Südwesten der USA zu fotografieren, die aufgrund des großen Radius als Sperrgebiet für den*die normale*n Bürger*in nicht einsehbar sind. Die von Andersen und Möller benutzten Fotografien sind aus einer Entfernung von 42 Meilen aufgenommen und folgen Paglens geographischem Ansatz, dass alles was passiert, an einem Ort geschehen muss und demnach auch das Unsichtbare in anderer Form wieder sichtbar wird. Obwohl die Fotos auch als abstrakte Kunst gesehen werden können, und demnach in den herkömmlichen Kriterien des Fotojournalismus als gescheiterter Versuch der Aufklärung, argumentieren Andersen und Möller (2013, S. 216), dass es Paglen nicht um Eindeutigkeit und die Herstellung einer klaren Bedeutung geht. Die Wirkung erzielen die Fotos gerade aus dieser Unmöglichkeit, womit sie uns daran erinnern, dass die Logik moderner Sicherheitspraxis in unseren Gesellschaften darauf ausgerichtet ist, verborgen und abstrakt zu bleiben und nie richtig greifbar zu sein. Da sich der Fokus – auch der konventionellen Sicherheitsstudien – auf die einsehbaren militärischen Schlachtfelder richtet, werden die gewöhnlichen und weniger spektakulären Formen moderner Militär- und Sicherheitslogistik weniger beachtet und schleichend unsichtbar,

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was jedoch ihre Machtdimension erst recht erweitert. Schließlich beanspruchen Bilder dieser Art ein Recht darauf, einen Einblick in den bestehenden Sicherheitsapparat zu erhalten und werden dann zu letzten Instanzen des Widerstands und der Beweisführung gegen die zunehmende Form unsichtbarer Sicherheitspolitik (Andersen und Möller 2013, S. 217).

3

Methodik: Die Verknüpfung von Bildanalyse mit der Akteur-Netzwerk-Theorie

Methodologisch schließt sich meine Analyse an die genannten Beispiele aus der gegenwärtigen IB-Forschung an, insbesondere an die vorgestellte und vergleichbare Studie von Andersen und Möller. Allerdings möchte ich versuchen, den methodischen Aspekt stärker zu berücksichtigen und die entsprechenden Fotos in meiner Auswahl mit den Mitteln der Bildanalyse eingehender zu studieren. Die unterschiedlichen Interpretationen zu Bildern von Angus Boulton und Suzanne Opton von Forschenden der IB (Roberts 2009) sind hierfür beispielhaft, da sich die Forscher*innen zunächst in die Rolle der Bildbetrachter*innen begeben und darauf konzentrieren, was sie sehen, bevor sie diese Wahrnehmungen emotional deuten und politisch einordnen. Die Studie von Heck und Schlag (2012) ist hierfür ebenso nützlich, da sie das dreistufige Interpretationsmodell von Erwin Panofskys ikonographischer Analyse auf Untersuchungsfelder der internationalen Politik übertragen haben. Im Zentrum steht bei der Analyse zunächst die vor-ikonografische Ebene, wonach auf einem Bild sichtbare Objekte, Phänomene und Gegenstände identifiziert werden. Erst auf der ikonografischen Ebene verknüpfen wir dann künstlerische Motive und Kombinationen künstlerischer Motive (Kompositionen) mit Themen und Konzepten aus bestehenden Wissensbeständen, wodurch etwa Narrationen identifiziert werden können (Bohnsack 2010, S. 158). Da sich dieser Beitrag jedoch nicht auf ein einzelnes Bild konzentrieren kann, da es in erster Linie um das Gesamtkonzept einer Ausstellung geht, wird die Bildanalyse der entsprechenden Fotos zwar grundlegend dem interpretativen Schema folgen, dies jedoch etwas pragmatischer gestalten. Wie bereits in der Einleitung erwähnt, ist die gewählte Ausstellung und die Arbeitsweise von Clark und Black stark darauf ausgerichtet, den War on Terror nicht im Gestus der Aufklärung zu enthüllen, sondern dessen Verwobenheit inmitten unserer Lebenswelt zu zeigen. Die poetisch wirkenden Bilder gewöhnlicher Artefakte als Spiegel dieser Lebenswelt entfalten dadurch ihre besondere emotionale Wirkung der Imagination. Die Ausstellung „Terror Incognitus“ ist damit Teil künstlerisch-­

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dokumentarischer Rechercheprojekte, die mit multimedialen, visuellen Präsentationsformen auf drängende zeithistorische Fragen als kritisches Korrektiv staatlicher Machtapparate fungieren, wie dies exemplarisch vom Kollektiv Forensic Architecture im Rahmen der Documenta 14 anhand der Rekonstruktion des NSU-Mordes in Kassel demonstriert wurde. Der Film „77sqm_9:26 min“ zeigt minutiös den Ablauf des Mordes an Halit Yozgat in einem Internet-Café in Kassel, wobei das Café detailgenau nachgebaut wurde und die Rolle des Verfassungsschützers Andreas Temme, der von dem Mord nichts mitbekommen haben will, überprüft wurde und klar wird, dass Temme gelogen haben muss.5 Diese These ergibt sich jedoch erst aus der Zusammenarbeit von Architekt*innen, Regisseur*innen, Künstler*innen und Wissenschaftler*innen, die ihre Expertise zu einem Kunstwerk bündeln. Der analytische Blick auf Projekte dieser Art folgt methodologisch Einsichten aus dem Umfeld der Akteur-Netzwerk-Theorie, in denen Bilder und mediale Visualisierungen nicht in einem repräsentativen Bildverständnis interpretiert werden, sondern als materielle Aktanten, die in einem größeren Artefakt-Praxis-Netzwerk eingebettet sind und erst durch Verknüpfungen und Übersetzungen ihre eigentliche Bedeutung und performative Wirkung entfalten. Dies bedeutet, dass der*die Betrachter*in bzw. der*die Forscher*in in seiner*ihrer autoethnografischen Wahrnehmungspraxis selbst gefordert ist, Zusammenhänge zwischen den Bildern, Filmen und Dokumenten herzustellen und dadurch Geschichten zum Vorschein zu bringen, die eigentlich verborgen bleiben sollten. In der Ausstellung ließ sich dies auch dadurch beobachten, dass sich die Besucher*innen beim Betrachten und Entschlüsseln wechselseitig unterstützten und auf entsprechende Übersetzungsketten hinwiesen. Latour (2007, S. 188) versteht das Konzept der Übersetzung als „eine Relation, die nicht Kausalität transportiert, sondern zwei Mittler dazu veranlasst zu koexistieren“. Forscher*innen, die ein Netzwerk aus Verknüpfungen und Übersetzungen skizzieren möchten, richten ihren Blick vor allem auf die Zwischenglieder oder Mittler, die zwar zunächst als Objekte oder Artefakte unbedeutend wirken können, aus denen sich jedoch erst aufzeichenbare Assoziationen generieren lassen. Das in der Akteur-Netzwerk-Theorie genutzte Konzept der Übersetzung, das darauf verweist, dass der Akt der Übersetzung nicht linear, sondern relational verläuft, lässt sich auch im Kontext der Ausstellung nutzen, um auf den ersten Blick seltsame Verknüpfungen aufmerksam zu verfolgen und verbindende Elemente im Spannungsfeld von Sichtbarkeit vs. Unsichtbarkeit zu erkennen, die meist um Geheimnisse der Staatsgewalt kreisen. Die Sammlung an Artefakten, die Clark und Black für die Ausstellung zusammengetragen haben, wie 5 Vgl. hierzu die Informationen zur Vorgehensweise auf der Webpage des Kollektivs: https://forensic-architecture.org/investigation/the-murder-of-halit-yozgat.

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Gerichtsdokumente, Spesenabrechnungen oder andere Beweismittel, bilden in der ANT-Lesart ‚Mittler‘, die in ihrem Zusammenspiel das Gewebe des War on Terror materialisieren. Die Ausstellung „Terror Incognitus“ bildet wiederum das ‚Netzwerk‘ als skizzenhaften Ausschnitt, den die Forschenden Clark und Black durch ihre mühsame und kleinteilige Arbeit identifizierten. Der interpretative ANT-Zugang in seinem Fokus auf Indizien banaler, menschlicher Aktivitäten bringt demnach das Konkrete und Materielle zurück ans Tageslicht, so dass erst wieder Möglichkeiten entstehen, politische Verantwortung für entsprechende Taten zuzuweisen.

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Die Ausstellung „Terror Incognitus“: Visuelle Strategien der Kritik

In den insgesamt sieben Kapiteln der Ausstellung enthüllt sich für den*die Besucher*in schrittweise das verworrene und oft undurchsichtige Netzwerk, das der War on Terror mittlerweile auf globaler Ebene spinnt. Obwohl der Schwerpunkt der Mannheimer Ausstellung auf dem jüngsten Projekt „Negative Publicity“ liegt, wurden auch einige frühere Arbeiten gezeigt, die Clarks künstlerische Arbeitsweise gleichermaßen verdeutlichen und sich thematisch in ähnlicher Form mit den verborgenen Machtsystemen im Schatten des War on Terror beschäftigen. In der konzeptionellen Anordnung der Bilder und Artefakte lebt die Ausstellung von dem Kontrast zwischen einzelnen, atmosphärisch, dichten poetischen Bildern, die für den*die Betrachter*in rätselhaft erscheinen und der Collage vieler kleiner Bilder, die einen Effekt der Überforderung in der Wahrnehmungspraxis erzeugen. In der folgenden Analyse werden drei unterschiedliche Beispiele herangezogen, um die eingangs formulierte These zu veranschaulichen, dass der*die Betrachter*in dieser Bilder und Artefakte in eine aktive Praxis des Sehens hineingezogen wird. Hierbei wird nicht nur die Imagination und moralische Empörung angeregt, sondern auch ein Gefühl der stillschweigenden Mittäterschaft erzeugt. Zunächst werden aus der Rubrik „If the Light Goes Out“ drei Bilder und ein Textdokument im Kontext von Guantánamo analysiert, die jeweils einen unterschiedlichen Einblick in die Lebenswelt der Personen geben und in ihrer Wirkung auf Betrachter*innen interpretiert. Im zweiten Schritt wird anhand der schicksalshaften Verwechslung von Khaled al-Masri als Terrorverdächtigen die Praxis und Konsequenzen der „außerordentlichen Überstellungen“ gezeigt, wobei hier Fotos als nachholende Beweisfotos im Mittelpunkt stehen, die eine magisch realistische Wirkung erzielen und ein Gefühl des Unbehagens auslösen. Im letzten Schritt steht die Spurensuche im kleinstädtischen Raum im Vordergrund, um anhand von Schwachstellen

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unternehmerischer Rechenschaftspflicht die Alltagspraxis eines unbemerkten Krieges zu ergründen. Fotos und andere Dokumente und Artefakte weben eine exemplarische Geschichte um die private Fluggesellschaft Richmor Aviation, die Flüge für das Überstellungsprogramm der CIA durchführte und letztlich Klage gegen den Vermittler Sportsflight Air einreichte, um einen rechtlichen Anspruch auf entgangene Einkünfte abzuleiten und damit den Prozess sogar gewann.

4.1

Das menschenleere Guantánamo und die Imagination des Betrachters

In Clarks Bildern von Guantánamo sind keine Menschen zu sehen. Dies liegt auch an rechtlichen Gründen, jedoch passt dies zu Clarks ethischen Prinzipien, dass er die Würde der hier inhaftierten Menschen wiederherstellen will. Wie Clark (2017, S. 9) erklärt, ging es ihm bei diesem Projekt darum, bei dem*der Betrachter*in ein Gefühl der Irritation und Desorientierung zu erzeugen, in einem übertragenen Sinn zu den Zielen der Verhör- und Foltertechniken. Der*die Betrachter*in erhält einen Einblick in verschiedene Lebenswelten der Inhaftierten, der Wachleute und des Militärpersonals sowie in das private Umfeld der fälschlicherweise inhaftierten Personen nach ihrer Rückkehr in die Heimat. Das Bild zeigt einen Aufenthaltsraum innerhalb des Gefängnisses. Metalltische sind eng arrangiert, mit dem Boden verschraubt und geben jeweils sechs Personen einen Sitzplatz. Die Sitzmöglichkeiten ergeben sich jedoch nicht aus frei beweglichen Stühlen, sondern aus Sitzflächen, die an den Tischen montiert sind. Der Raum ist komplett vergittert. Die Gitter reichen aus den Bildrändern heraus. Im Außenbereich sind nummerierte Türen zu sehen, die wahrscheinlich auf Zellentüren verweisen und äußerst eng angeordnet sind. Direktes Tageslicht ist nicht zu sehen, doch der Raum ist durch die Lichtquellen an der Decke und am Rand der Flure hell ausgeleuchtet. Die Räume hinter den Türen erscheinen in einem gleichmäßigen, gelben Licht, das durch die schmalen Glasscheiben fällt. Im Außenbereich des Raumes verbindet eine Metalltreppe das Erdgeschoss der Zellen mit dem ersten Geschoss. Ein Bildschirm überragt den Raum, jedoch ist dessen Funktion unklar. Zudem ist am Rand noch ein Waschbecken aus Metall ersichtlich. Der Raum ist zwar sauber, atmosphärisch jedoch extrem karg und nüchtern eingerichtet.

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Abb. 1 Edmund Clark, Plate 19: Camp 6, aus: Guantanamo – If the Light Goes Out (Dewi Lewis Publishing, 2010).

Der Raum wirkt auf den*die Betrachter*in äußerst beklemmend. Dies liegt zum einen an der Enge des Raumes, die es den inhaftierten Personen erschwert, sich frei und ungezwungen zu bewegen. Die Tischkonstellationen sind so arrangiert, dass sich niemand in diesem Raum zurückziehen kann. Zum anderen ist der Aufenthaltsraum im Mittelpunkt des Gefängnisses, so dass die Fläche von außen komplett einsehbar ist. Die Vorstellung von Foucaults Panopticon ist hier zwar nicht architektonisch umgesetzt, jedoch in seinem dahinterliegenden sozialen Konzept des Überwachungsdrucks. Foucault deutete Benthams architektonisches Prinzip als Symbol für das Ordnungsprinzip westlicher Gesellschaften, das die zunehmenden Überwachungs- und Kontrollmechanismen auf die Spitze treibt. Jede Form der Privatheit ist dadurch unterbunden. Den hier agierenden Personen wird in jedem Moment vor Augen geführt, dass sie unter Kontrolle stehen, jedoch nicht wissen, von wem oder von wo sie beobachtet werden (Foucault 1991). Der Raum zwingt zu extremer sozialer Konformität des Individuums. Die Idee eines Aufenthaltsraums als Ort der Begegnung wird so ad absurdum geführt und erfüllt in dieser Form nur

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gewisse Mindeststandards von Gefängnissen. Der soziale Austausch zwischen den Gefangenen wird durch die räumliche Enge erschwert und provoziert Konflikte, etwa durch die unwürdige Sitzposition an den Tischen. Die komplette Vergitterung und Ausleuchtung des Raumes vermittelt den Eindruck, dass kein Entkommen möglich ist. Der kahle, saubere Boden verbunden mit der kompletten Vergitterung erinnert an Raubtierkäfige in Zoos und verstärkt den Eindruck, dass menschliche Lebensbedingungen bewusst auf ein solches Minimum beschränkt werden, dass den Inhaftierten jegliches Selbstwertgefühl genommen werden soll und sich diese wie Tiere fühlen sollen.6 Auf einem weiteren Bild der Ausstellung ist ein Stuhl zu sehen, der den Betrachter*innen einige Rätsel aufgibt. Bei der Ausstellung wird deutlich, dass das Bild die Blicke der Besucher*innen anzieht und herausfordert, da sich der Zweck nicht sofort erschließt. Es ist ein Stuhl mit einigen Gurten und Schlaufen sowie technischen Vorrichtungen zu sehen. Gefangene werden offenbar daran festgegurtet. Die Schlaufen sind dann für die Extremitäten bestimmt. Zudem ist der Stuhl mobil, da zwei Räder an einer Achse angebracht sind. Die technische Konstruktion ähnelt einem elektrischen Stuhl, jedoch sind keine Drähte oder andere elektrische Details zu sehen. Eine Metallplatte vor der Sitzfläche des Stuhls ist offensichtlich zum Abstellen der Füße gedacht und verhindert den direkten Kontakt mit dem Boden. Auch hier sind Gurte zu sehen, die einen Körper in aufrecht sitzender Haltung, vermutlich ergonomisch korrekt fixieren können. Im Hintergrund wurde die Wand zu einem Drittel in strahlendem Weiß gestrichen; darüber sind das funktionale Mauerwerk und die karge Einrichtung zu sehen. Der Boden scheint aus pflegeleichtem, glattem Material zu bestehen. Ein Behälter aus Plastik, der an der Wand befestigt ist, vermittelt einen medizinischen Zweck. Die Legende und der Titel des Bildes „mobile force-feeding chair“ erklären nun den Zweck des Stuhls. Er dient der Zwangsernährung von Inhaftierten. Der*die Betrachter*in des Bildes kann sich nur vorstellen, was Menschen dazu bringt, sich in diese Situation zu begeben. Wer in diesem Stuhl sitzt, dem muss sein Leben unerträglich geworden sein. Allerdings verhindert die staatliche Gewalt, diese Beweggründe zuzulassen, sondern will die empfundene Unerträglichkeit mit aller 6 In der Serie „If the Light Goes Out“ sind auch Bilder zu sehen, die einen Einblick in die Lebensbedingungen der stationierten Wachleute geben, beispielsweise eine Strandbar, an der ein Bier zum Feierabend getrunken werden kann, sanitäre Anlagen oder ein Diner, in das der Clown aus der McDonalds Kampagne winkt. All diese Fotos sind in ähnlicher Weise trostlos. Zwar fehlt der menschenverachtende Charakter und es ist klar, dass die hier stationierten Personen im Vergleich zu den Gefangenen über völlig andere Privilegien verfügen. Jedoch verdeutlichen die Bilder, dass auch diese Personen Gefangene in einem technokratischen, unmenschlichen System sind.

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Abb. 2 Edmund Clark, Plate 61: Camp 6, mobile force-feeding chair, aus: Guantanamo – If the Light Goes Out (Dewi Lewis Publishing, 2010).

Macht und allen dazu notwendigen Instrumenten erhalten. Man kann diesen Stuhl also nicht anschauen, wie Thomas Steinfeld (2016) argumentiert, „ohne darin ein Instrument der Folter wahrzunehmen – einen Überschuss nicht nur an Gewalt, sondern auch an Bosheit“. Die Funktionalität des Stuhls, wie etwa die Metallplatte und die Fixierung der Füße, weist darauf hin, dass an jede Möglichkeit des Widerstands gedacht und mit technischer Optimierung reagiert wurde. Die Macht, die über Leben und Tod des im Stuhl Sitzenden verfügt, duldet keine Irritationen im Betriebsablauf. Schließlich zeigt sich hier die emotionale Wirkung in der konzeptionellen Arbeitsweise Clarks, keine Personen in seinen Fotos zu zeigen. Der*die Betrachter*in des Bildes wird gezwungen, sich das Martyrium solcher Abläufe, die in

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Guantanamo an der Tagesordnung sind, vorzustellen, wodurch die Unmenschlichkeit und das Wesen der Folter sehr viel stärker in das Bewusstsein rückt als dies durch die bekannten Fotografien von Menschen hinter Drahtzäunen vermitteln können.7 Das Foto könnte auch aus einem Katalog für medizinische Geräte oder Werkzeuge entstammen und erzeugt gerade durch die klinische Sterilität ein schauderhaftes Gefühl, dass die Maßnahmen der Terrorbekämpfung in einem rechtsstaatlichen Verständnis völlig aus dem Ruder gelaufen sind (vgl. hierzu umfassend Sands 2008).

Abb. 3 Edmund Clark, Plate 4: Home, aus: Guantanamo – If the Light Goes Out (Dewi Lewis Publishing, 2010).

7 In der Serie „If the Light goes out“ gibt es ein weiteres Bild, auf dem ausschließlich die Utensilien zu sehen sind, die für eine Zwangsernährung notwendig sind.

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Auch wenn Clark viel daran liegt, durch die menschenleeren Fotos das Leid der betroffenen Menschen nicht zu verstärken, will er den unschuldigen Opfern ihre Stimme wieder zurückgeben. Auf einem Bild ist der Ausschnitt eines privaten Zimmers zu sehen. Im Fokus steht ein Bett, das mit einer geblümten Tagesdecke bezogen ist. Über dem Kopfkissen ist ein größeres, grünes Kissen drapiert, auf dem in bunten Buchstaben „Welcome Home Omar“ steht. Die Buchstaben bestehen aus unterschiedlichen Mustern und Farben, wie dies bei Glückwünschen zu Geburtstagen üblich ist. Im Hintergrund auf einem Tisch sind ein paar private Utensilien sichtbar: ein kleiner Korbkasten, eine Tasche, einige Bücher. An der Wand in der Ecke hängt ein Bild, auf dem ein traditioneller oder religiöser Gegenstand zu sehen ist. Durch das Fenster fällt viel Tageslicht herein, trotz der hellen Gardine davor. Ein roter Vorhang ist zur Seite gezogen. Das Bild vermittelt eine private und warme Atmosphäre. Durch den Willkommensspruch auf dem Kissen wird klar, dass dies Omars Zimmer ist und sich die übrigen Besucher des Hauses freuen, dass er wieder hier ist und in seinem Bett schläft. Auch hier wird die Vorstellungskraft der Besucher*innen angeregt, in dem sie sich nur ausmalen können, wie die Angehörigen mit dem unklaren Schicksal von Omar umgegangen sind und mitgelitten haben. In der Ausstellung sieht der*die Betrachter*in Details von Bildern aus der Serie „Letters to Omar“, die das Martyrium des unschuldigen Omar Deghayes in Guantanamo näher erläutern und in visueller Form Teil des Films „One Day on a Saturday“ sind.8 Dies sind Karten und Briefe, die aus der gesamten Welt an einen Mann während seiner sechs Jahre dauernden Inhaftierung gesendet wurden. Auf einem Brief, der von einer Schülerin namens Sarah an Omar geschickt wurde und aufmunternde Botschaften enthält, sind viele Stellen geschwärzt, obwohl der*die Betrachter*in sich über die Beweggründe wundern muss.

8 Omar Deghayes verlor aufgrund der Folter in Guantanamo die Sehkraft eines seiner Augen.

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Abb. 4

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Edmund Clark, Letters to Omar, aus: Guantanamo – If the Light Goes Out (Dewi Lewis Publishing, 2010).

Der Brief enthält nur drei Sätze. Sarah schreibt, woher sie kommt, dass sie von seinem Schicksal erfahren hat und sie die Karte nutzen möchte, um ihr Mitgefühl

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auszudrücken. Im letzten Satz teilt sie ihre Hoffnung mit, der Brief möge Omar zeigen, dass ihn die Menschen nicht vergessen hätten. Es ist völlig unklar, warum der minimale Text in jedem Satz mehrfach geschwärzt wurde. Zwar bleibt die Botschaft erhalten, jedoch nur in kryptischer Form. Die paranoide Kontrolle wirkt demnach selbst bei einem harmlosen Brief der bloßen Aufmunterung. Jeder Lebensbereich dieses Mannes wurde kontrolliert, auch wann und ob er seine Post erhielt. Alle eingehende Post wurde verändert, sie wurde durch Scannen, Ausschwärzen, Archivieren und Stempeln in gewisser Weise entwürdigt, wie dies Clark (2016) im begleitenden Handbuch formuliert. Der Stempel der US-Streitkräfte, der die Bewilligung zertifiziert wirkt im Verhältnis zur Harmlosigkeit des Textinhalts kafkaesk. In der Vorstellung der Betrachter*innen tauchen stationierte Militärs auf, die vollkommen empathielos jeden Textschnipsel kontrollieren und zensieren; in einer maschinellen Funktionsweise. Will man daneben ein strategisches Kalkül erkennen, fällt einem erneut nur Bosheit und subtile Formen der Folter ein. Unterstützt wird diese Vorstellung in der Ausstellung durch den Audio-Einsatz von zwei Stimmen, die sich in Stereo überlappen. Die weibliche, amerikanische Stimme liest eine Liste mit Anweisungen an das Gefängnispersonal vor („Camp Delta Standard Operating Procedures Manual“), in denen es etwa um Techniken der Desorientierung oder der Fesselung geht. Die männliche, arabische Stimme liest Auszüge aus einem Zeugenbericht über die Erfahrungen eines Häftlings mit einer Vernehmungsbeamtin. In den zusätzlichen Informationen wird deutlich, dass die Vernehmungsbeamten stets situativ entschieden, ob der Inhaftierte seine Post bekommt. Das Bild des Zimmers in der vertrauten Heimat (Welcome Home Omar) bildet den maximalen Kontrast zu dieser Form des absoluten Kontrollprozesses und gibt die menschliche Würde wieder zu einem gewissen Grad zurück.

4.2

Spuren in unserem Alltag: „Außerordentliche Überstellungen“ und das Schicksal von Khaled al-Masri

Khaled al-Masri wurde wegen einer Namensverwechslung im Januar 2004 von örtlichen Sicherheitsbeamt*innen in Skopje, Mazedonien unter Terrorverdacht gestellt und verhaftet. Black und Clark rekonstruieren den Leidensweg von al-Masri und verknüpfen seinen verschlungenen Weg in ein Geheimgefängnis nach Kabul durch Hinweise, Orte und andere Recherchen. Gleichzeitig wird in diesem Beispiel durch die nachträglichen Fotos von Clark deutlich, wie der Künstler und der Investigativ-Profi zusammenarbeiten und die Rechercheergebnisse durch poetische Bilder aufladen werden, um die Geschichte al-Masris für den*die Betrachter*in stimmig zu erzählen.

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Abb. 5 Edmund Clark, Swimming pool in the Hotel Gran Meliá Victoria, Palma de Mallorca, aus: Negative Publicity: Artefacts of Extraordinary Rendition (Aperture/Magnum Foundation, 2016)

In einem ersten Bild sehen die Betrachter*innen einen Pool im Erdgeschoss eines Hotels. Die Ausmaße des Pools sind nicht klar zu erkennen, da der Blick um die Säule dem*der Betrachter*in verwehrt bleibt. Der Einstieg in den Pool führt über ein Geländer, davor liegt eine dreckig wirkende Badematte. Die Umrandung des Pools ist aus weißem Marmor, der einen luxuriösen Eindruck vermitteln soll. Obwohl die Poolanlage mit bodentiefen, weißen Fenstern umgeben ist, fällt wenig Licht herein, so dass eine düstere Grundstimmung entsteht. Außerhalb des Gebäudes sieht der*die Betrachter*in eine wilde, mediterrane Pflanzenlandschaft. Eine Bank steht in dieser Gartenanlage sowie eine Statue aus Marmor. Die Poolanlage vermittelt keineswegs einen freundlichen oder einladenden Eindruck. Obwohl der*die Betrachter*in durch die Einordnung des Bildes weiß, dass es sich hierbei um das 5-Sterne Hotel „Gran Melia Victoria“ in Palma de Mallorca handelt, vermittelt dies keinesfalls ein luxuriöses Urlaubsgefühl, sondern eine beklemmende Stimmung. Als Betrachter*in des Bildes verspürt man wenig Lust, in diesen Pool zu springen bzw. sich hier zu entspannen. Dies liegt vor allem

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daran, dass die Trennung zwischen dem privaten und öffentlichen Bereich unklar ist und zwischen Pool und Gartenanlage verschwimmt. Der*die Betrachter*in fühlt sich an einem verbotenen Ort, als ob man unbefugt in einen privaten Raum getreten ist und dies eigentlich gar nicht sehen sollte. Die schummrige Atmosphäre des Lichts ist von Clark bewusst eingesetzt. Die Kontextinformationen lassen diesen Ort noch unheimlicher werden. Es wird erläutert, dass Piloten der Firma Aero Contractors aus North Carolina mit der Boeing 737 Nummer N313P Khaled al-Masri nach Kabul ausflogen. Bei der Rückkehr spannten die Flugkapitäne und die Überstellungscrew in diesem Hotel aus. Sie checkten unter falschen Namen ein, telefonierten aber mit ihrem richtigen Zuhause, so dass Reporter*innen sie aufspüren konnten. So kam heraus, dass einer der Piloten in einem Waldstück irgendwo in der US-amerikanischen Provinz wohnt. Wo genau durfte Clark nicht zeigen, um die Sicherheit und Privatsphäre des Piloten zu wahren, so dass das aufgenommene Bild dieses Ortes verpixelt ist. Hotelunterlagen, die im Verlauf der Ermittlungen der spanischen Polizei sichergestellt wurden, zeigen, dass sie Shrimp-Cocktails und mehrere Flaschen teuren Wein bestellten.

Abb. 6 Edmund Clark, Room 11, Skopski Merak hotel, Skopje, Macedonia, aus: Negative Publicity: Artefacts of Extraordinary Rendition (Aperture/Magnum Foundation, 2016)

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Auf einem weiteren Bild sieht der*die Betrachter*in ein breites Hotelbett, das mit einer blauen, samtigen Tagesdecke bedeckt ist. Am Kopfende sind zwei weiße Kissen aufgestellt. Auf der Tagesdecke liegen zwei weiße Handtücher in drapierter Form, was die Nutzung als Hotelzimmer noch deutlicher macht. Auf der rechten Seite steht ein Telefon auf dem Nachttisch, auf der linken Seite steht eine Nachttischlampe. Die beigefarbene Tapete wird von Blumen geziert. Die Raumarchitektur macht einen verwinkelten Eindruck. Auf der rechten Seite ist ein Rollo am Fenster angebracht, der halb geschlossen ist und dadurch wenig Licht hineinlässt. Das Hotelzimmer hinterlässt zunächst einen Moment der Irritation. Wie ist dieses Zimmer in den Zusammenhang einer „Überstellung“ zu bringen? Die zusätzlichen Informationen erklären, dass Khaled al-Masri in diesem Raum 23 Tage von mazedonischen Sicherheitsbeamt*innen festgehalten wurde, bevor er der CIA übergeben und nach Afghanistan transportiert wurde. Der*die Betrachter*in wird herausgefordert, sich in die unklare und bedrohliche Situation des hier Festgehaltenen hineinzuversetzen. Ein anderes Bild zeigt den Blick aus dem Hotelzimmer. 23 Tage blickte al-Masri von diesem Hotelzimmer auf ein Wohngebiet, auf Zypressen und auf ein Kreuz auf einem nahe gelegenen Berg und war sich nicht bewusst, was ihn durch diese Verwechslung noch an leidvollen Erfahrungen erwarten würde. Zudem evoziert das Bild auch ein Gefühl der Verwunderung, dass ein Terrorverdächtiger über Wochen in einem Hotelzimmer festgehalten wird. Es wird durch solche Details deutlich, dass das System keineswegs perfekt durchorganisiert ist, sondern in vielen Fällen improvisiert wird und keine klaren Abläufe und Routinen feststehen. Auf einem weiteren Bild der Ausstellung ist eine Skizze des Zimmers im Hotel Skopski Merak zu sehen, die al-Masri angefertigt hat als Erinnerungsstütze und mögliches Beweismittel. Er verklagte den Chef der CIA, George Tenet, und machte ihn für seine Inhaftierung und Folter verantwortlich. Die Klage wurde abgewiesen, da die US-Regierung – wie meistens in solchen Fällen – ihr Privileg geltend machte, Staatsgeheimnisse nicht offen legen zu müssen.

4.3

Puzzleteile als Beweise eines verworrenen Netzwerks: Negative Publicity

Für Clark und Black bilden bürokratische Spuren Schwachstellen im geheimen System des War on Terror. Rückverfolgbare Rechnungen, Dokumente von Gesellschaftsgründungen oder Reisedaten werden zu nachträglichen Beweismitteln, die ein komplexes und meist kaum zu durchschauendes Netz bilden. Gleichzeitig tragen die Papiere und Artefakte Spuren des kleinstädtischen Amerika sowie von klein- und mittelständischen Unternehmen, die nach Gewinn streben, indem sie beispiels-

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weise ausgelagerte Gefangenentransporte durchführten. Der*die Besucher*in kann beispielsweise eine E-Mail-Korrespondenz lesen zwischen Mitarbeiter*innen der Computer Sciences Corporation (CSC) und der privaten Fluggesellschaft Richmor Aviation vom 24. Mai 2005. Nachdem bekannt wurde, dass der Gulfstream der Firma Richmor Aviation, N85VM, in die Entführung des ägyptischen Geistlichen Abu Omar aus Mailand durch die CIA verwickelt war, verzichtete CSC aufgrund der „Aufmerksamkeit durch die Medien“ auf die Verwendung dieser Flugzeuge für zukünftige Missionen. Überraschend ist der lapidare und offene Stil, mit dem die korrespondierenden Personen über die geschäftlichen Angelegenheiten der „Überstellungen“ schreiben, wenn die Änderung der Reiseroute für die Passagiere mit einem Smiley versehen ist („Just an itinerary change for the passengers. :-)“). Ab 2002 fanden Vermittler*innen im Auftrag der US-Regierung eine Gruppe von Flugzeugfirmen, die Missionen im Überstellungsprogramm der CIA ausführten. Eine dieser Firmen war nun Richmor Aviation. Im Rechtsstreit zwischen Richmor Aviation mit der Vermittlerfirma Sportsflight Air entfaltet sich diese naive Gier im kleinstädtischen Milieu, die jedoch Bestandteil eines vermeintlich verdeckt operierenden Systems ist. 1500 Seiten an Dokumenten bildeten den Kern des Rechtsstreits, die Black, der auch für Anwälte von ‚Verschickten‘ arbeitet, wiederum als Ausgangspunkt seiner Recherche nutzte. Die Klage basierte auf Richmors Argumentation, dass die Firma nach Kündigung des ursprünglich sechsmonatigen Vertrages über Flugdienstleitungen im Jahr 2002 weitere drei Jahre lang einen rechtlichen Anspruch auf ein Minimum an 50 Flugstunden pro Monat im Auftrag der US-Regierung hätte. Diese Forderungen lassen sich auch in typischen Briefwechseln zwischen mittelständischen Unternehmern nachverfolgen. Richmor argumentierte, dass ihnen zusätzlich zu den Missionen, die sie geflogen hatten (und für die sie schon bezahlt worden waren), das Geld für die nicht absolvierten Flugstunden bis zu diesem monatlichen Minimum zustünde. In einem dieser Briefe der Geltendmachung kann der*die Betrachter*in beispielsweise lesen, dass Mahlon W. Richards (President von Richmor) gegenüber Sportsflight Air stolz erklärt, dass ihnen wiederholt versichert wurde, dass sie einen fantastischen Job machen würden („We were repeatedly told we were doing a fantastic job“) und aufgrund dessen sein Unverständnis über den Abbruch der Geschäftsbeziehungen äußert. Sportsflights Anwalt hielt in diesem Disput entgegen, dass die Garantie von 50 Stunden im Monat zu Anfang des Jahres verfallen war und dass Richmors Geltendmachung von Ansprüchen von der Tatsache motiviert war, dass nach 2005 die Rolle der Firma in der Überstellung von Abu Omar eine Welle „negativer Publicity“ (dies erklärt den Titel der Ausstellung) für die Firma hervorgerufen hatte. Es wird deutlich, dass für die entsprechenden Akteure allein normative Maßstäbe einer wirtschaftlichen Geschäftslogik entscheidend sind und es keineswegs um den politischen Zweck

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der Aufträge geht. Ob bei den Flügen Pakete oder Menschen transportiert werden, scheint nicht relevant. Die Bilder und Dokumente innerhalb der Ausstellung bilden insoweit allesamt Puzzleteile, die die seltsame Verflechtung privater Mittelstandfirmen, Vermittler*innen und politischen Akteur*innen offenlegen sowie deren seltsame Distanzierung von jeglicher Verantwortung.

Abb. 7 Edmund Clark, Richmor Aviation’s office at Columbia County Airport, New York, from: Negative Publicity: Artefacts of Extraordinary Rendition (Aperture/Magnum Foundation, 2016)

Der*die Betrachter*in sieht den Firmensitz eines mittelständischen Unternehmens mit dem Namen „Richmor Aviation“. Unter dem Firmenschild steht der zusätzliche Hinweis Sales und Service. Das Gebäude ist in billiger Bauweise konstruiert und in blauer Farbe gehalten. Es wird klar, dass das Foto in der winterlichen Jahreszeit aufgenommen ist, da Schneereste zu sehen sind. Drei Büsche, drei schiefe Schilder und eine schiefe Sitzgarnitur vermitteln ein gewöhnliches Umfeld in einer industriellen Gegend im Nirgendwo. Links neben dem Gebäude verläuft ein Maschendrahtzaun, der eine geteerte Fläche abtrennt, die vielleicht eine Start- und Landebahn für Kleinflugzeuge ist.

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Das Bild des Firmensitzes vermittelt den Eindruck eines leicht abgewirtschafteten mittelständischen Unternehmens, wie es überall stehen und beispielsweise in Filmen der Coen-Brüder auftauchen könnte. Mit den zusätzlichen Informationen des Rechtsstreits kann der*die Besucher*in eine Vorstellung davon entwickeln, wie klein- und mittelstädtische Firmen, die stets um ihr Überleben kämpfen, aufgrund banaler Geschäftsinteressen und der Ausblendung jeglicher moralischer Erwägungen in politische Operationen verwickelt sind, die sie in ihrer Tragweite gar nicht mehr überschauen. Dies wird etwa in der Sorge des Präsidenten Mahlon W. Richards deutlich, der beklagt, dass Richmor Zielscheibe „negativer Publicity“ und HassMails geworden sei und der Name der Firma in Zukunft bei jeder Google-Suche damit verbunden werde. Die Gründe für diese kritische Berichterstattung werden völlig ausgeblendet, was in den Protokollen der Befragung noch deutlicher wird. Das hier abgedruckte Dokument ist ein Teil des Gerichtsprotokolls im Kontext des Kreuzverhörs von Mahlon Richards (Richmor Aviation) vor dem Obersten Gericht des Bundesstaates New York im Bezirk Columbia am 2. Juli 2009. In diesem Abschnitt beschreibt der Geschäftsführer von Richmor, dass eines der Flugzeuge, die er verwaltete, die N85VM, nach Italien, Afghanistan, Guantanmo Bay, letztlich „überallhin“ flog. Der jeweilige Zweck der Flüge war, „einen schlechten Kerl“ (bad guy) abzuholen. Der Gerichtsschreiber hat die akustisch falsch verstandene Bezeichnung „theorists“ im Protokoll in „terrorists“ umgeändert, was die Banalität in den bürokratischen Prozeduren im Spannungsverhältnis zur politischen Thematik auf die Spitze treibt. Der Richter ließ sich jedoch von diesem unwesentlichen Detail nicht beeindrucken und schloss sich Richmors Einschätzung an, dass die Umstände der Überstellungen für den Fall „irrelevant und nicht von Bedeutung“ seien. Sportsflight wurde dazu verurteilt, Richmor für die entgangenen Einkünfte zu entschädigen. Die zunächst unbedeutend wirkenden Dokumente und Artefakte legen als Mittler somit ein eigentümliches Netzwerk aus wirtschaftlichen und politischen Interessen verschiedener Akteure offen, die zwar meist in konträren Funktionslogiken operieren, jedoch gemeinsam haben, dass normative Kriterien entweder ausgeblendet werden oder anderen Maßstäben wie Effektivität und Profit folgen. Auch in der juristischen Logik sind die Gründe für die Überstellungen letztlich irrelevant und werden als geschäftliche Angelegenheit betrachtet. Die Stabilität des Netzwerks ergibt sich letztlich daraus, dass niemand das System radikal in Frage stellt. Der Schreibfehler des Gerichtsschreibers kann als Metapher dafür interpretiert werden, wie ‚gewöhnliche Akteur*innen‘ sinnentleert in bürokratischen Prozessen agieren, ohne die politischen Motive und Konsequenzen zu überschauen. Im Gegensatz dazu sind die politischen Akteure weitaus vorsichtiger darin, keine Spuren zu hinterlassen bzw. diese zu verwischen. Dies wird exemplarisch in einem Dokument sichtbar, das dem US-Außenministerium zugordnet werden konnte und das den Flugfirmen als

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Beleg einer vertraglich vereinbarten Beziehung diente. Diese Schreiben tragen den Briefkopf des Außenministeriums und wurden von Terry A. Hogan unterzeichnet. Nach den Recherchen von Black konnte kein*e Mitarbeiter*in des State Department identifiziert werden, der*die diesen Namen trägt. Die Unterschriften zwischen den Schreiben weisen zudem erhebliche Unterschiede auf, wodurch dennoch Praktiken der Geheimhaltung und Vertuschung offenkundig werden.

Abb. 8 Edmund Clark, Cross-examination of Mahlon Richards. Richmor Aviation, Inc. vs Sportsflight 9 Air, Inc., 2 July 2009, from: Negative Publicity: Artefacts of Extraordinary Rendition (Aperture/Magnum Foundation, 2016)

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5 Fazit Im einleitenden Zitat von Alex Danchev wird darauf hingewiesen, dass wir durch Kunst besser gewappnet sind, um uns nicht täuschen zu lassen und stattdessen alarmiert zu sein. Der globale War on Terror ist ein gutes Beispiel dafür, wie das öffentliche Interesse an der sich verändernden Praxis schwindet, da die politischen Maßnahmen und Operationen mittlerweile weniger sichtbar sind als dies noch in den Anfängen nach dem 11. September 2001 angelegt und auf militärischen Schlachtfeldern einsehbar war. Die hier vorgestellte Konzeptkunst von Edmund Clark ist eine der verbliebenen Möglichkeiten, dieser politisch gewollten Unsichtbarkeit wirkungsvoll zu begegnen. Clarks visuelle Strategien der Kritik zielen darauf ab, wieder ein öffentliches Bewusstsein für dieses perfide und menschenverachtende System herzustellen. Dabei geht es ihm gerade nicht darum, in einer aufklärerischen Tradition politisch Verantwortliche als Schuldige zu benennen, sondern unsere stille Teilhaber*innenschaft und Mitverantwortung aufzuzeigen. Der War on Terror ist keineswegs ein perfekt durchgeplantes Unternehmen von vermeintlichen Expert*innen, die in einer verborgenen Welt operieren, sondern findet in unserer unmittelbaren Nähe statt. Eine Besucherin bestätigte dies in den Worten, dass der Krieg gegen den Terror und seine Ausläufer für sie immer weit weg waren und die Arbeit Clarks sie diese Annahme überdenken lässt, dass nämlich der unbekannte Terror, der „leise selbst die gewöhnlichsten Orte streift“ überall vorkommen kann (Mawayoflife 2016). Der konzeptionelle Zugang, in den Bildern auf Menschen zu verzichten, wie dies exemplarisch in den Bildern des Gefangenenlagers Guantanamo gezeigt wurde, folgt nicht nur ethischen Erwägungen, den Leidtragenden ihre Würde zu bewahren, sondern verstärkt auch den emotionalen Effekt bei den Betrachtern, deren Imagination durch die menschenleeren und teils sogar poetischen Aufnahmen angeregt wird. Es geht darum, sich in die einzelnen Schicksale hineinzuversetzen und die Unmenschlichkeit zu erkennen, die häufig subtilere Formen annimmt als die direkte Gewaltanwendung durch physische Folter. Das Sehen und Betrachten der Bilder und der anderen Exponate der Ausstellung wird zu einer aktiven und emanzipatorischen Praxis, wodurch die bestehende perzeptive Syntax der Besucher*innen neu formatiert wird. Daneben hat der Beitrag versucht, durch die Kombination von Bildanalysen und Überlegungen der Akteur-Netzwerk-Theorie das methodische Repertoire der IB-Forschung zu erweitern, auf neue Untersuchungsfelder (Ausstellung) zu übertragen und deren politikwissenschaftliche Relevanz herauszuarbeiten. So zeigen die interpretativen Ergebnisse, dass sich das kritische Potenzial der Ausstellung gerade durch die Kombination von ästhetisch komponierten Bildern und akribischer Recherche ergibt. Clark (2016) erklärt hierzu im Ausstellungskatalog,

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dass die Dokumente und Fotos archäologisch zu verstehen sind: „Artefakte einer Recherche; von Menschen gemacht; ausgegraben, herausgeholt und freigelegt“. Als „Spuren der Abwesenheit“ sind sie Teil eines forensischen Prozesses, der die Vorgänge der sogenannten außerordentlichen Überstellungen nachträglich beweisen will, ohne dabei den Anspruch zu erheben, die „tatsächliche Geschichte“ vollständig erkannt zu haben. Dabei ist die Arbeit davon motiviert, dass das Werk Teil eines zukünftigen Diskurses und zukünftiger Geschichte werden kann, das die nicht vorhandene Öffentlichkeit verändert. Der bereits erwähnten, ähnlich arbeitenden Künstlergruppe Forensic Architecture, die den NSU-Mord in Kassel und die letzte halbe Stunde im Leben von Halil Yozgat rekonstruierte, gelang es, die Aussage des damaligen Mitarbeiters des hessischen Verfassungschutzes (Andreas Temme), den Mord nicht mitbekommen zu haben, als Lüge zu entlarven und durch das ungewohnte Kunstwerk erneuten politischen Rechtfertigungsdruck zu erzeugen. Der Film wurde auf Drängen der hessischen SPD im Wiesbadener NSU-Untersuchungsausschuss gezeigt. Diese Beispiele geben zumindest Hoffnung, dass in Zeiten, in denen auch in der Politikwissenschaft häufig über die erschwerten Bedingungen von Kritik geklagt wird, neue, kreative Möglichkeiten entstehen, die jedoch ein interdisziplinäres Forschungsinteresse erfordern. Die konzeptionellen und methodologischen Forschungsbemühungen stehen jedoch sicherlich erst am Anfang.

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Die Praxis der visuellen Analyse Ein Dialog Das Netzwerk

Visualität und das Visuelle Was bedeutet für Dich Visualität? Mit welchen Begriffen und Konzepten arbeitest Du? Axel Heck: Visualität ist für mich in Anschluss an Mirzoeff (Mirzoeff 2011) eine autoritative Praxis des Zeigens und Sehens. Das ist politisch extrem relevant, da durch Visualität diskursive Macht ausgeübt wird. Visualität kann die Möglichkeitsbedingungen für politisches Handeln prägen. Was und wie etwas gezeigt wird, aber auch ob und wie wir etwas sehen, ist durch unterschiedliche Institutionen (Medien, Politik etc.) definiert, aber auch gesellschaftlich normiert und reguliert. Die politikwissenschaftliche Herausforderung besteht darin, die Praxis des Zeigens und Sehens zu reflektieren und kritisch in die Analyse politischer Diskurse aufzunehmen. Visuelle Repräsentationen sind für mich performative Spuren diskursiver Aktivität. Sie sind keine bloßen Abbilder oder Spiegel der Realität, sondern sie sind vielmehr konstitutive Elemente gesellschaftlicher Diskurse. Unter visuellen Repräsentationen verstehe ich in erster Linie Artefakte, die nicht rein oder vorwiegend sprachlich verfasst wurden. D. h. visuelle Repräsentationen treten als stofflich-materielle, körperlich-räumliche oder ästhetisch-figurative Artefakte in Erscheinung, ohne dabei ausschließlich das spezifische Zeichensystem der Sprache zu verwenden. Die visuelle Eigenschaft beispielsweise eines Briefes wäre dann eben nicht der durch Sprache verfasste und erfassbare Inhalt, sondern die ästhetische Form des Schriftbildes oder des Papiers, auf dem er geschrieben wurde. Sprache ist wiederum erforderlich, um die visuellen Repräsentationen zu deuten, ihren Sinn zu erfassen und auszulegen. Bilder und andere visuelle Repräsentationen sind stets

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Schlag und A. Heck (Hrsg.), Visualität und Weltpolitik, Horizonte der Internationalen Beziehungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29971-2_11

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in inter-textuelle Kommunikation eingewoben, sie verweisen folglich auf bereits bestehende Zeichen, Texte und andere Bilder, die wiederum bei der Deutung und Interpretation des Bildes relevant werden können, in dem etwa assoziative Bezüge oder emotionale Reaktionen ausgelöst werden. Die analytische Herausforderung besteht also in einer interpretativen Übersetzungsleistung, durch die Sinn und Bedeutung des Gezeigten und Gesehenen in Sprache überführt werden. Gabi Schlag: Ich finde die Formulierung „Praxis des Zeigens und Sehens“ sehr passend. Oftmals herrscht begriffliche Unschärfe, wenn im Alltag und in der Wissenschaft vom Visuellen die Rede ist, d. h. von einem Kommunikationsmodus, der Praktiken und Artefakte des Zeigens und Sehens umschreibt. Ich persönlich finde diese Unschärfe auch nicht allzu tragisch, bemühe mich aber, unterschiedliche materielle, diskursive, epistemische und ästhetische Dimensionen von Sichtbarkeit/ Unsichtbarkeit zu unterscheiden. Hinzu kommt jedoch die Herausforderung, dass in unterschiedlichen Sprachen und Diskussionszusammenhängen verschiedene Konzepte und Begriffe verwendet werden bzw. dominieren. Hanna Pfeifer: Für mich ist Visualität ein möglicher Modus der Bedeutungsherstellung. Dies ist jedoch kein neutraler Prozess, sondern – wie Axel dies beschreibt und wie dies auch für andere Modi der Sinnkonstruktion der Fall ist – eine vermachtete Praxis. Mich interessiert vor allem, warum Akteur*innen sich „die Mühe machen“, (auch) visuell zu kommunizieren, was die diskursiven Voraussetzungen dieser Kommunikation sind und wie sie umgekehrt Strukturen verändert. Deshalb sehe ich Visualität und visuelle Analyse als eng mit anderen Modi der Herstellung von Sinn, insbesondere durch Text, und deren Untersuchung verbunden an. Vermutlich gehöre ich zu den wenigen in diesem Band, die sich damit schwertun, Visualität theoretisch als eigenständigen oder unabhängigen Modus zu begreifen. Dies scheint mir aus epistemologischen und methodisch-praktischen Gründen auch nahezu unmöglich: Wir gewinnen Erkenntnis nach wie vor durch einen sprachlichen Zugang zur und die textuelle Beschreibung von Wirklichkeit, und deshalb ist auch die Analyse von Visualität immer durch Sprache und Text vermittelt. Für mich bleibt deshalb (ein offener Begriff von) Diskurs ein zentrales Konzept. Gabi Schlag: Ich verstehe Hannas Position gut, dass Erkenntnis nach wie vor durch einen sprachlichen Zugang zur Wirklichkeit gewonnen wird, teile diese aber nicht. Dass nur die Sprache uns einen Zugang zur „Welt“ eröffne, schreibt aus meiner Sicht etablierte und hierarchisierende Dichotomien wie z. B. „rational/emotional“ oder „epistemisch/ästhetisch“ fort, die ich wenig gewinnbringend finde. Dass wir in einem visuellen Zeitalter leben, ist bereits seit den 1960er Jahren eine viel

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zitierte Diagnose. Für mich geht es darum, nicht Text und Bild gegeneinander zu sehen und zu lesen, sondern den Eigensinn aber auch die wechselseitige Beziehung dieser beiden Bedeutungsmodi (neben anderen Modi und Medien) zu verstehen. Katarina Ristić: Visualität ist für mich ein faszinierender Kommunikationsmodus, der zugleich komplett selbstverständlich und hoch ambivalent ist. Kein anderer Modus der Bedeutungsherstellung kann Realität so radikal und überzeugend abbilden, dass Machtbeziehungen hinter dem Diskurs verschleiert werden. Nur wenn wir die Frage nach den Elementen und Strukturen von Bildern und ihrer Beziehung zu Texten oder Diskursen stellen, werden die Annahmen sichtbar, die die Produktion, Veröffentlichung und Zirkulation von Bildern möglich machen. Die Unsichtbarkeit des Framings und der Objektivitätsanspruch von Bildern bestehen fort, obwohl die Sensibilität für Selektionsmechanismen zugenommen hat. Ich denke, dass jeder Versuch, „hinter“ die Bilder zu blicken, wichtig ist, um die vermeintliche oder tatsächliche Evidenz des Visuellen zu reflektieren. Frank Stengel: Ich schließe mich Axels Eingangsstatement an. Was insbesondere Fotografie und Filme so interessant macht, ist, dass sie zwar „nur eine“ Repräsentation der Realität darstellen, aber gleichzeitig aufgrund des weitverbreiteten Glaubens an den direkten, unverfälschten Blick auf die Realität, eine ungleich größere Deutungsmacht als traditionelle Texte im Diskurs besitzen können. Visualität lenkt unsere Aufmerksamkeit auf genau diese Prozesse, in denen beispielsweise in Fotografien Realität auf eine bestimmte Art produziert wird. Dazu zählt nicht nur die Entscheidung, was überhaupt im Rahmen (Frame) ist, sondern auch wie durch den Kamerawinkel, das Licht und die Ästhetik das Reale inszeniert wird. Delf Rothe: Ich denke, ein Bereich, der in den bisherigen Ausführungen ein wenig zu kurz kommt, ist die Frage nach dem ontologischen Spezifikum des Visuellen. Das heißt, wenn ich Visualität als ein bestimmtes Kommunikationsmedium unter anderen verstehe oder aber als Form diskursiver Repräsentation, was unterscheidet Visualität dann genau von anderen Diskurselementen? Für mich verweist der Begriff der Visualität in erster Linie auf eine verkörperte (embodied) Praxis. Ein Beispiel für eine solche verkörperte Praxis ist das Überwachen, also Praktiken des Sehens, die häufig über visuelle Technologien wie Videokameras, Drohnen oder Satellitensensoren vermittelt und die eine Machtwirkung auf (überwachte) menschliche Körper ausüben. Ein anderes Beispiel für eine visuelle Praxis ist das Entdecken, wenn durch visuelle Technologien, wie etwa das Mikroskop oder die Kartografie, ganz neue Dinge in die Welt treten, etwa Mikroben oder ein kompletter neuer Kontinent. Visualität als verkörperte Praxis des Sehens und Zeigens zu begreifen,

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bedeutet also konkret, neben der diskursiv-semiotischen Dimension von Visualität (der durch Bilder und andere visuelle Medien erzeugte gesellschaft liche Sinn) immer auch ihre materiell-physische Dimension mitzudenken, d. h. den physischen Raum, die Techniken, die wahrnehmenden und wahrgenommenen Körper. Ein entscheidendes theoretisches Konzept ist hier das des „enactment“ – verstanden als Konstruktion sozialer Realität durch Handlungen und Praktiken. Es geht mir also nicht so sehr darum, herauszufinden, wie eine bereits existierende Realität mithilfe von Bildern repräsentiert wird, sondern wie diese Realität durch visuelle Praktiken und Technologien selbst hervorgebracht wird.

Abb. 1

Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Um politische Entscheidungen herbeizuführen, müssen Anliegen, Forderungen oder Probleme sichtbar gemacht werden. Doch was wird gezeigt und was bleibt unsichtbar? Warum lösen manche Bilder mediale Aufmerksamkeit, Erregung und Empörung aus und andere nicht? Wer hat die Macht, Bilder zu erzeugen und zu entscheiden, was sichtbar wird und was nicht? Hier zeigt sich die Macht in den Praktiken des Zeigens und Sehens. (Illustration: Wael Toubaji / Konzept: Lisa Bogerts).

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Stephan Engelkamp: Ich schließe mich meinen Vorredner*innen an und glaube auch, dass aus diskursanalytischer Sicht der materielle Aspekt des Visuellen eine Möglichkeit bietet, über eine vorwiegend textbasierte Analyse von Repräsentationen von Wirklichkeit und diskursiver Macht hinauszugehen. Im Anschluss an Delf möchte ich hier gern auf Subjektivität verweisen. Die Interpretation von visuellen Artefakten ist kontingent, in hohem Maße subjektbezogen und Teil von sozialen, also vermachteten Beziehungen. Dies bietet der Forscherin die Gelegenheit, unterschiedliche Interpretationsmuster sichtbar zu machen, die wiederum auf unterschiedliche Bedeutungs- und Machtstrukturen hinweisen können. Insofern ist die Analyse des Visuellen ein besonders geeignetes Feld für kritische Analysen, um etwa Formen von Identitätsbildung, aber auch Praktiken der Ausschließung in den Blick zu nehmen. Ich denke hier insbesondere an die empirischen Beispiele in den Beiträgen von Lisa und Delf. Auf einer etwas abstrakten Ebene möchte ich gern auch noch einmal den meta-theoretischen Aspekt des Visuellen als Metapher für Erkenntnis per se aufgreifen, auf den auch Katarina verweist. Die kursiv gesetzten Begriffe in meiner Antwort verweisen alle auf die Metapher von wissenschaftlicher Praxis als SEHEN, also als Sichtbarmachung von Visualität. Die rein begriffliche Ebene wirkt also auch als konzeptionelle Metapher in den Forschungsprozess hinein, was ein besonderes Maß an Reflexivität erfordert, wenn wir uns mit Visualität als Forschungsgegenstand kritisch auseinandersetzen. Gabi Schlag: In der Tat, Er-kennen ist auch ein visueller Prozess. Umso mehr stellt sich dann aber die Frage, warum das Visuelle als eigenständiges Phänomen im Zentrum mancher Disziplinen und Fächer steht, in anderen aber eher eine marginale, wenn überhaupt illustrierende Funktion einnimmt. Vielleicht müssten wir dann auch mehr über Wissenschaft als vermachtete Praxis diskutieren und fragen, wie kreative Räume – Roland Bleiker spricht z. B. von „thinking space“ (Bleiker 2017) geöffnet werden können. Frank Gadinger: Ich finde die konzeptionelle Begriffsarbeit meiner Kolleg*innen produktiv und möchte letztlich nur zwei Aspekte betonen, die besonders Gabi und Delf aufgegriffen haben. Zum einen erscheint mir das Spannungsverhältnis zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit in seiner moralischen Ambivalenz von zentraler Bedeutung für die politikwissenschaftliche Analyse. Hier fokussiert man sich häufig, gerade in der kritischen Forschung zu Sicherheit, auf die einschränkende Dimension für das Individuum, beispielsweise in der Praxis des Überwachens, und die damit verbundenen Herrschaftseffekte. Dabei wird jedoch, wie Delf hinsichtlich der Praxis des Entdeckens betont, die kreative und

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ermöglichende Seite von Visualität häufig vernachlässigt. Persönlich fand ich die Arbeiten von Andrea Brighenti hilfreich, um dieses Spannungsverhältnis besser nachvollziehen zu können (Brighenti 2007, 2010). Für ihn ergibt sich das Ringen um Sichtbarkeit stets aus dem Spannungsverhältnis zwischen Anerkennung und Kontrolle. Während die Suche nach Anerkennung und Emanzipation, als politisches Subjekt wahrgenommen zu werden, unweigerlich mit Sichtbarmachung verbunden ist, kann dies in einer übertriebenen Repräsentation und Transparenz stets kippen und in einer Überwachungsgesellschaft enden. Gleichzeitig war Machterweiterung und Herrschaftsausübung häufig mit der Aura der Unsichtbarkeit verbunden. Aus den Kategorien Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit konstituiert sich demnach weder eine ausschließliche Form der Emanzipation noch ergibt sich zwangsläufig Kontrolle und Unterdrückung, was diese Konzepte für die gegenwärtig drängenden politischen Themen wie demokratische Repräsentation, populistische Regierungspraktiken oder moderne Kriegsführung unmittelbar relevant werden lässt. Zum anderen möchte ich Gabis Hinweis unterstützen, dass Text und Bild nicht als gegeneinanderstehende Pole zu sehen sind, sondern es gerade darum geht, wie sich politische Botschaften und Erzählungen aus dem Wechselspiel ergeben. In meiner eigenen Forschung habe ich zunächst mit der Narrativanalyse begonnen, die dann in der Verwendung des empirischen Materials (Bilder, Filme) immer visueller wurde. Mittlerweile versuche ich die Zugänge zu kombinieren und benutze den Begriff der visuellen Narrativanalyse. Aus meiner Sicht sind gerade die Gegenüberstellungen zur Diskursanalyse und die Frage nach dem Mehrwert von visuellen Analysen wenig gewinnbringend, da dies in der Forschungsarbeit kaum zu trennen ist. Allerdings möchte ich auch hier Gabi zustimmen, dass das Bild einen Eigensinn entwickelt, der nicht zwangsläufig auf die diskursive Einordnung angewiesen ist.

Die Macht und Ohnmacht der „Bilder“ Sind visuelle Repräsentationen (und andere Formen und Praktiken des Visuel­ len) mächtig? Warum und inwiefern? Lisa Bogerts: Im Kontext von Visualität wird Repräsentation (lat. vergegenwärtigen oder darstellen) oft ganz simpel als visuelle Darstellung bzw. Vertretung im Diskurs gemeint. Die Macht des Visuellen ist demnach ihre Möglichkeit, etwas oder jemanden (z. B. ein Problem, eine politische Forderung oder eine Personengruppe) sichtbar zu machen, wodurch dessen Existenz überhaupt greifbar wird. Wir glauben

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etwas oft erst, wenn wir es „mit eigenen Augen“ sehen können, so simpel das auch klingen mag. Für die Politikwissenschaft ist der Repräsentationsbegriff natürlich mindestens doppeldeutig. Denn hiermit ist nicht nur visuelle Repräsentation, sondern vor allem politische Repräsentation der Bevölkerung (etwa in demokratischen Entscheidungsorganen) gemeint. Beide Repräsentationsarten hängen meiner Meinung nach miteinander zusammen. Politische Macht und Teilhabe einer gesellschaftlichen Gruppe können davon beeinflusst sein, ob sie im öffentlichen Diskurs als politisch relevant dargestellt werden. Es ist also nicht nur wichtig, was repräsentiert (also: sichtbar gemacht) wird, sondern auch wie. Oft werden Sachverhalte verzerrt dargestellt und Menschen missrepräsentiert, z. B. in den Medien. Die feministische Filmtheorie hat schon sehr früh herausgearbeitet, dass Frauen in Hollywood-Filmen sehr stereotypisch dargestellt sind und restriktive Rollenzuschreibungen (Mutter oder Sexbombe, Vamp oder Unschuldslamm) die Norm des Frauenbildes prägen (Mulvey 1989). In Bezug auf die Weltpolitikforschung betonte Bleiker, dass (visuelle) Repräsentationen immer vom Repräsentierten abweichen, und dass Politik gerade in dieser Lücke stattfindet – und somit durch jene Akteur*innen beeinflusst wird, die die Macht haben, diese visuellen Repräsentationen zu gestalten (Bleiker 2001). Stephan Engelkamp: Bleikers Punkt ist für mich absolut zentral, wenn es um die Macht von visuellen Repräsentationen geht. „To represent something“ bedeutet, „to make it newly present“. Im Akt der Repräsentation findet also eine diskursive Verschiebung statt, und gerade nicht eine irgendwie objektive Wiedergabe. Selbst wenn dem so wäre, könnten wir diesen Prozess als Sozialwissenschaftler*innen, die Teil dieser Welt sind, nicht objektiv beweisen, da es nun mal keinen Blick von nirgendwo gibt. Es geht also darum, Machtprozesse zu untersuchen, die in dieser Lücke der Repräsentation stattfinden. Das einzelne visuelle Artefakt ist nicht aus sich heraus mächtig, sondern wird mächtig gemacht. Und dies bietet auch die Gelegenheit für die Ausübung von Gegenmacht, etwa durch die Offenlegung von Machtbeziehungen oder die Karikatur von dominanten Interpretationen. Axel Heck: Ich möchte hier gerne an Stephan anschließen. Wichtig erscheint mir, dass die politikwissenschaftliche Analyse visueller Repräsentationen nicht bei einer reinen Interpretation des Gezeigten oder Gesehenen stehen bleiben darf, sondern die sozialen und diskursiven Praktiken im Umgang mit visuellen Repräsentationen berücksichtigt. Es kann also niemals nur um eine rein werksseitige und auf das Werk gerichtete, selbst-referentielle Analyse gehen, um die Macht oder auch die Ohnmacht visueller Repräsentationen zu erforschen. Von einer Macht der Bilder zu sprechen bedeutet nicht, den politischen Einfluss zu messen oder gar der Versuch, Bilder und andere visuelle Artefakte als „Ursachen“

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für eine politische Entscheidung zu untersuchen. Das kann in sehr seltenen Fällen vorkommen, ist aber nicht das Erkenntnisinteresse einer diskursanalytischen, interpretativen Erforschung visueller Artefakte. Die Macht der Bilder ist vielmehr diskursiv zu verstehen. Die Macht visueller Repräsentationen zeigt sich in ihrer Fähigkeit, kollektiv geteilte und gesellschaftlich verankerte Vorstellungen, Identitäten und Überzeugungen durch die Praxis des Zeigens und Sehens zu prägen, zu stabilisieren oder herauszufordern. Dabei geht es weniger um die Macht eines einzelnen Bildes, sondern um Visualität im oben beschriebenen Sinne. Anna Geis: Die Sichtbarmachung von Personen, Ereignissen, Phänomenen ist in der Tat ganz wichtig, um ein Bewusstsein für die Existenz politisch und gesellschaftlich relevanter Akteur*innen, Strukturen, Prozesse und Probleme zu schaffen – aber natürlich umgekehrt ebenso die Unsichtbarmachung, durch welche Personen oder Phänomene exkludiert werden. Niemand ist einfach „unsichtbar“ im gesellschaftlichen Raum, sondern wird unsichtbar gemacht. Da stimme ich Stephan voll zu. Die visuelle Abwesenheit von Frauen (und anderen Personengruppen) in Dokumentationen, medialer Berichterstattung oder Werbematerial über bestimmte Arbeits- und Lebensbereiche ist nur eines von zahllosen Beispielen dafür, dass über die Auswahl von Bildmotiven gesellschaftliche Normen und Wertvorstellungen – wie unbewusst oder bewusst auch immer – permanent reproduziert werden. Werden Frauen dann dargestellt, lassen sich oft weiterhin fragwürdige Geschlechterrollenzuschreibungen in der Inszenierung der Bilder identifizieren. Über visuelle Darstellungen können gerade politische Eliten folgenreiche Prozesse von sozial-ökonomischer, politischer und kultureller Inklusion/Exklusion anstoßen bzw. reproduzieren und stabilisieren. Die politische Macht von Bildern, die bis zur Legitimierung der physischen Vernichtung des „Anderen“ führen kann, ist in der Erforschung von „Feindbildern“ eindrucksvoll gezeigt worden. Der „Abbau“ von Feindbildern zieht sich dann oft über Generationen hin, wenn er überhaupt gelingt. Katarina Ristić: Ich denke, dass die Unsichtbarkeit des Framings die „wahre“ Macht der Bilder konstituiert. Dennoch würde ich mit Axel darin übereinstimmen, dass es ein Irrweg ist, Bilder als Ursachen für politisches Handeln zu verstehen. Wenn wir beispielsweise über Bilder in den Medien sprechen, dann sind diese doch vielmehr „shortcuts“. Ähnlich wie Stereotype und sprachliche Analogien entfalten diese ihre Macht, weil sie Komplexität reduzieren und oft klare moralische Richtlinien für das Handeln anbieten. Deshalb geht es eigentlich nicht direkt um die Macht der Bilder, sondern um die Macht der menschlichen Natur.

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Christoph Günther: Ich stimme mit Katarina überein, dass bewegte und unbewegte Bilder ebenso wie andere visuelle Repräsentationen als Mittel politischer Kommunikation in vielen Fällen als Verkürzung potentiell komplexer Sinninhalte produziert werden. Ich stimme gleichzeitig mit Axel überein, dass visuelle Repräsentationen a priori keine Macht oder Ohnmacht innewohnt, sondern diese Fähigkeiten diskursiv hergestellt sind. Anders ausgedrückt: Diese Fähigkeiten haben Bilder nicht, sie

Abb. 2

Macht und Diskurs. Wir alle machen uns „ein Bild“ von der Welt, oft mals auch von Dingen, die wir nicht unmittelbar kennen, wissen oder täglich erfahren. Wir tragen mediatisierte Vorstellungen in uns, die durch öffentliche Diskurse erzeugt und geprägt werden. Die Frage nach den visuellen Praktiken, also ob, was und wie etwas gezeigt und gesehen wird ist genuin „politisch“, da hierdurch immer wieder die Grenzen und Möglichkeiten des Sag-, Sicht-, Denk- und schließlich auch Machbaren verhandelt und bestimmt werden. (Illustration: Wael Toubaji / Konzept: Lisa Bogerts).

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werden ihnen von Menschen zugeschrieben. Die Praxis des Sehens und Zeigens ist eine menschliche Praxis und deshalb sind es nicht visuelle Repräsentationen, die „kollektiv geteilte und gesellschaftlich verankerte Vorstellungen, Identitäten und Überzeugungen“ prägen, stabilisieren oder herausfordern. Meiner Ansicht nach sind es immer Menschen, die mit und durch visuelle Repräsentationen handeln. Damit sind Macht und Ohnmacht visueller Repräsentationen in hohem Maße abhängig von der Macht und Ohnmacht ihrer Produzent*innen und ihrer Publika. Frank Stengel: Auch wenn es Menschen sind, die Bilder produzieren, zeigen und sehen, so sollten wir doch nicht vergessen, dass der weit verbreitete Glauben daran, visuelle Repräsentation (durch v. a. Fotografie) würden einen ungefilterten Blick auf die Realität erlauben, Bildern ihre Macht verleiht (Pettersson 2011). Dieser Glauben selbst ist wiederum eine sedimentierte diskursive Praktik, also politisch produziert. David Shim: Hier kann man vielleicht die Machtdebatten in den IB und in der Politikwissenschaft zitieren (Barnett und Duvall 2005). Bilder helfen bei der Entscheidungsfindung in den internationalen Beziehungen (z. B. die Fernerkundung von mutmaßlichen Nukleareinrichtungen von Nordkorea oder dem Iran). Sie können bestimmte Themen auf die globale Agenda setzen (z. B. Flucht, Migration, Hunger) oder helfen, einen sozialen Konsens herzustellen, weil sie als evidente Fakten und Argumente gesehen werden. Bilder können aber auch bestimmte Subjektpositionen konstruieren und somit soziale Beziehungen definieren (z. B. Helfer/Opfer, Selbst/Andere). Gabi Schlag: Ich finde, der Macht-Begriff wird im Zusammenhang mit Bildern (und visuellen Praktiken und Artefakten) sehr undifferenziert verwendet. Lisa, Anna und David haben ein paar gute Hinweise gegeben, wie sich diese „Macht“ spezifizieren lässt. Sicherlich ist es meist schwierig, eine kausale Machtwirkung eines Bildes zu rekonstruieren – aber das ist ja ein generelles Problem. Ich denke schon, dass eine Reihe ikonischer Fotografien einen Unterschied gemacht und Politik verändert haben. Sicherlich sagt uns dies mehr über die besondere Kraft des Mediums Fotografie als über eine Machtwirkung des Visuellen im Generellen. Ich finde es daher hilfreich, wie andere hier auch, den performativen Aspekt in den Mittelpunkt zu rücken. Visuelle Praktiken und Artefakte erschaffen die Welt, wie „wir“ (wer auch immer dieses wir dann ist) sie sehen und sehen können. D. h. natürlich auch, dass wir die Schattenseiten der Macht (z. B. Exklusion, Kontrolle) sowie Formen des Widerstands immer mitdenken sollten.

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Abb. 3

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Visualität und Technologie. Politisches Handeln wird durch visuelle Techniken vermittelt, verbreitet und ermöglicht. Digitalisierung und moderneste Kommunikationstechnologie ermöglicht die Kontrolle jenseits nationaler Grenzen und über lange Distanzen, ermöglicht die Durchführung von Operationen in Echtzeit und verändert somit politische Handlungsräume. (Illustration: Wael Toubaji / Konzept: Lisa Bogerts)

Delf Rothe: Ich sehe die Machtwirkung von visuellen Artefakten und Technologien in ihrer Fähigkeit, affektive Beziehungen zwischen Dingen und Körpern herzustellen, begründet. Die Gesamtheit dieser affektiven Beziehungen zwischen heterogenen Elementen ließe sich als visuelle Assemblage beschreiben. Politisch relevant werden diese Erkenntnisse, da visuelle Assemblagen in der Lage sind, menschliches Verhalten zu beeinflussen. Nehmen wir etwa das Beispiel eines

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Flughafens, in dem ein komplexes Netzwerk von visuellen Technologien – etwa Bodyscanner, Überwachungskameras, Werbedisplays, Warnschilder – beeinflussen wie wir uns verhalten, was wir konsumieren, usw. Ich würde hier jedoch Katarina oder Christoph widersprechen und ganz klar behaupten, dass das Sehen keine genuin menschliche Praxis ist. Viele nichtmenschliche Tiere verfügen über einen Sehsinn (siehe das Beispiel des Pinguins, der sich in einen Comiccharakter verliebt weiter unten) und im Zeitalter von Überwachungstechnologien, Big Data und künstlicher Intelligenz wird die Sammlung, Verarbeitung, Interpretation und Analyse visueller Daten zunehmend von nichtmenschlichen Akteuren übernommen. Diese Erkenntnis ist für die Machtwirkung des Visuellen relevant, denn die beschriebenen Kapazitäten und Fähigkeiten sind global höchst ungleich verteilt. Frank Gadinger: Auch wenn es seltsam erscheint, dass man dies immer wieder betonen muss, möchte ich Axels und Gabis Appell bekräftigen, dass es bei der Macht der Bilder nicht um eine Messung gehen darf. Auch der Versuch, kommunikationswissenschaftlichen Rezeptionsanalysen nachzueifern, um die Wirkung von Bildern oder Filmen exakt zu bestimmen, ist aus meiner Sicht ein Irrweg für die Politikwissenschaft. Das Problem entsteht daraus, dass in Analysen häufig ikonische Bilder im Fokus stehen, etwa Brandts Kniefall in Warschau oder die Bilder gefolterter Häftlinge im Gefängnis von Abu Ghraib, die offensichtlich zu öffentlichen Kontroversen geführt haben. Viel interessanter ist doch, welch unterschwellige Macht Bilder ausüben, die auf den ersten Blick harmlos wirken. Ich denke, dass Politikwissenschaftler*innen hier von der Alltagssoziologie und Kulturanthropologie lernen können, wie sich das zwischenmenschliche Miteinander auch über visuelle Praktiken konstituiert, die zunächst wenig politisch erscheinen. Mit meiner Kollegin Katja Freistein habe ich beispielsweise gerade rechtspopulistische Wahlkampagnen untersucht, wobei wir feststellten, dass die Mobilisierung kollektiver Emotionen (Wut, Angst, Empörung) gerade nicht durch simple Botschaften geschieht, sondern in subtiler Form durch eine Verbindung aus metaphorischer Imagination und vielfältigen Erzählstoffen. So lässt sich mit einem auf den ersten Blick wenig greifbaren politischen Programm unterschwellig politische Botschaften in den Diskurs einspeisen, wie die Erneuerung des Patriachats, das letztlich extreme Formen von Identitätspolitik vorantreibt, ohne dass dies die Betrachter der Bilder direkt registrieren. Aus meiner Sicht entsteht die Macht der Bilder demnach gerade auf der affektiven Ebene, wie dies auch Delf betont, wobei die Erforschung dieser Phänomene zwischen Bilder, Emotionen und Botschaften sowohl konzeptionell als auch methodologisch keineswegs einfach ist.

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Die Politik des Visuellen Was ist politisch an Visualität? Unterscheiden sich visuelle Repräsentationen des Politischen und Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit als Politik? David Shim: Das Politische an Visualität und (Un-)Sichtbarkeitsverhältnissen ist, dass diese in einem Wettbewerb um Deutungshoheit bestimmter Ereignisse oder Geschehnisse eingebettet sind (und auch werden). Es gibt viele Arten der Interpretation von real-weltlichen Phänomenen. Visualität ist eine von mehreren Modalitäten, um eine bestimmte Sichtweise herzustellen, zu verbreiten und zu verankern (aber auch herauszufordern). Axel Heck: Visualität ist sowohl im Bereich des Politischen hoch relevant, wenn es um die Möglichkeit der Repräsentation und Teilnahme des Einzelnen oder einer Gruppe am politischen Diskurs geht, wie Lisa dies schon beschrieben hat, gerade wenn es um marginalisierte oder widerständige Gruppen geht, deren Teilnahme am Diskurs ausgeschlossen ist oder verhindert werden soll. Einerseits geht es hier um die Nicht-Repräsentation von Opfern politischer Gewalt als Folge des Nicht-Zeigens und Nicht-Sehens, bspw. durch staatliche Zensur, Unterdrückung der Pressefreiheit aber auch um soziale Dynamiken, die verhindern, dass Opfer aufgrund von Stigmatisierung und Ausgrenzung ihre Stimme erheben können und visuell repräsentiert werden. Visualität und die Praxis des Zeigens und Sehens bezieht sich also immer auch auf die Fähigkeit autoritativer Strukturen (Institutionen, gesellschaftliche Normen etc.), die visuelle Repräsentation zu verhindern. Visualität ist jedoch nicht nur im Bereich des Politischen, bezogen auf Möglichkeit und Teilnahme am politischen Diskurs, bedeutsam, sondern auch in der Politik, verstanden als der diskursiv-administrative Prozess zur Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen. Der Begriff der „Bildpolitik“ bezieht sich etwa auf die Einflussnahme auf die Möglichkeitsbedingungen politischen Handelns. Hier geht es mehr darum, wie politische Themen (Flüchtlinge, Klimawandel, soziale Ungleichheit, Krieg, Gewalt, Vertreibung etc.) visualisiert werden, um eine bestimmte politische Entscheidung diskursiv zu ermöglichen. Hier tritt insbesondere die Verbindung zwischen Visualität und der Theorie der Versicherheitlichung ins Auge, wenn es etwa um die Frage geht, wie ein schutzbedürftiges Referenzobjekt visualisiert oder wie eine existentielle Bedrohung visuell kommuniziert wird, um eine außergewöhnliche Maßnahme zu rechtfertigen. Lisa Bogerts: Ich denke, eine Perspektive des Sehens und Zeigens kann den IB dabei helfen, ihren oft noch sehr institutionenfixierten Politikbegriff zu erweitern

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und das (Welt-)Politische auch im Alltagserleben, den uns ständig umgebenden Medienbildern und in der Populärkultur zu sehen. Frank Gadinger: Für mich ist Lisas Punkt zentral, dass eine visuelle Perspektive sich stärker für das Alltagsleben interessiert und die Ränder des Diskurses, jenseits der Parlamente und Institutionen, die häufig im Mittelpunkt politikwissenschaftlicher Studien stehen. Wenn in der Politikwissenschaft von Populärkultur gesprochen wird, dann haftet diesem Verständnis meist etwas von Hobby und Freizeit an, als ob dies eine weniger relevante Ebene der Beobachtung wäre. Der häufig benutzte Begriff „Low Data“ unterstützt diese Wertung. Allerdings zeigt sich aus meiner Forschungserfahrung gerade in Serien, Filmen oder anderen visuellen Artefakten die umstrittene Deutung bestehender Legitimationsmuster für politisches Handeln. Ein Kriegsfilm kann in den seltensten Fällen eindeutig als Propaganda oder Anti-Kriegsfilm zugeordnet werden, sondern zeigt den permanenten Kampf um Deutungshoheit in politischen Diskursen, beispielsweise in der Rechtfertigung von Folter im „War on Terror“. Zudem zeigen sich gerade an den „Rändern“ visuelle Praktiken des Widerstands, wie in meinem Beitrag zur konzeptionellen Fotokunst. Die IB-Forschung öffnet sich gerade für diese Orte der Bedeutungsproduktion, wie Ausstellungen oder Protestaktionen, aber wir sind hier sicherlich erst am Anfang. Die Beschäftigung mit visueller Politik ist in meinen Augen auch stets von einem demokratischen und normativen Impuls getrieben, der Polyphonie in politischen Diskursen gerecht zu werden und marginalisierte bzw. wenig gehörte Stimmen in die Analyse miteinzubeziehen, auch wenn dies eine für viele Politikwissenschaftler*innen ungewohnte ethnographische Sensibilität erfordert. Anna Geis: Tatsächlich wissen wir ja aus der sozialkonstruktivistischen Forschung, dass Sprecher*innen in Diskursen möglichst „resonante“ Argumentationen, Metaphern, Narrative nutzen müssen, wenn die Kommunikationsinhalte von bestimmten Adressaten*innen akzeptiert werden sollen. Diese „Anschlussfähigkeit“ an bereits in der Gesellschaft vorhandene Normen, Ideen und Wertvorstellungen liegt auch in etablierten „Bilderwelten“ und „social imagineries“ begründet, die durch alle möglichen kulturellen Praktiken über die Zeit geschaffen worden und wandelbar sind. Der in den IB dominierende institutionenfixierte Politikbegriff greift daher in der Tat viel zu kurz. Christoph Günther: Axel spricht ja in seiner Antwort die diskursive Ermöglichung bestimmter politischer Entscheidungen mittels visueller Repräsentationen an. Ich möchte diesen mit Lisas Antwort verbinden. Politisches Handeln gesellschaftlicher Akteur*innen manifestiert sich auch in visuellen Repräsentationen. Das auf Plakaten,

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in Imagefilmen, Dokumentationen, Nachrichtensendungen, verschiedenen Formen von Satire und Parodie Dargestellte eröffnet, ebenso wie die Darstellungsweisen, Einblicke in kommunikative Verflechtungen zwischen ganz unterschiedlichen Akteur*innen, deren gemeinsamer Bezugspunkt das (im freisten Bourdieu’schen Sinne) politische Feld ist. So betrachtet, geraten die gegenseitigen (bild-)rhetorischen Bezugnahmen und Anfechtungen der unterschiedlichen Akteur*innen viel stärker in den Blick und lassen uns die Entwicklung des ‚politischen Klimas‘ in vielfältigen Artefakten nachvollziehen, die auf den ersten Blick nicht zu den konventionellen Ausdrucksformen des Politischen gehören. Frank Stengel: Im Anschluss an Laclau und Mouffe verstehe ich Politik als das Gesamtensemble von Entscheidungen auf einem unentscheidbaren Terrain. Was Fotografie politisch macht, ist, dass die Entscheidung, bestimmte Personen, Dinge usw. auf eine bestimmte und nicht auf eine andere Art zu zeigen, nicht vorgegeben, quasi natürlich ist. Es gibt nicht nur eine mögliche Art bestimmte Phänomene visuell zu repräsentieren, sondern unzählige, und jede Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Repräsentation hat einen Einfluss darauf, wie wir kollektiv bestimmte Phänomene verstehen und, darauf aufbauend, wie am besten mit ihnen umzugehen ist. Gleichzeitig werden Entscheidungen darüber, was gezeigt wird, durch sedimentierte Praktiken reguliert, die selbst nicht auf ein absolutes Fundament zurückzuführen sind, sondern in der Vergangenheit politisch produziert wurden. Beispiele sind ästhetische Standards oder das, was überhaupt als Zeigenswert verstanden wird. Delf Rothe: Ich denke, das Politische und das Visuelle sind untrennbar miteinander verbunden. Ein Thema kann erst dann zum Gegenstand politischer Auseinandersetzung werden, wenn es für eine politische Gemeinschaft sichtbar und wahrnehmbar ist. Dies gilt etwa für den globalen Klimawandel. Dieser ist aufgrund seiner räumlichen (global) und zeitlichen Ausdehnung (über mehrere Jahrzehnte bzw. Jahrhunderte) für das menschliche Auge unsichtbar. Erst durch verschiedene Formen der Visualisierung – durch Computermodelle, Grafiken oder visuelle Metaphern/Symbole – wird dieser sichtbar und damit politisch verhandelbar. Politik könnte man mithin auch als das Brechen mit etablierten Sichtbarkeitsregimen und Wahrnehmungsweisen verstehen. In diesem Sinne funktioniert unser gesellschaftlicher Alltag nur dadurch, dass wir bestimmte Konventionen des Sehens entwickeln, die (ver-)störende Probleme – Umweltzerstörung, Armut, Krankheit, Tod oder Terror – ausblenden und aus unserem Alltag fernhalten. Das Politische tritt nun in dem Moment auf, in dem das, was in diesem Sichtbarkeitsregime keinen Platz hatte, sichtbar wird – etwa in Form von Geflüchteten, Umweltkatastrophen

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oder Terroranschlägen. Mit anderen Worten: das Visuelle ist genuin politisch, da es (neue) Dinge in unsere Welt treten lässt und damit die Grenzen des Denk- und Sagbaren immer wieder neu verschiebt.

Abb. 4

Repräsentation und Verbreitung. Produktion und Verbreitung von Bildern sind hoch selektive und politische Prozesse. Was wird überhaupt fotografiert, gefi lmt und dokumentiert? Was gezeigt und gesehen wird, entspricht oft mals dominanten, tradierten und hegemonialen Mustern und (Seh-)Gewohnheiten. Aber visuelle Repräsentationen haben auch die Fähigkeit, die herrschenden Strukturen herauszufordern und etablierte Erzählungen zu durchbrechen, indem eine Gegen-Visualität erzeugt und ein alternativer Blick entwickelt wird (Illustration: Wael Toubaji / Konzept: Lisa Bogerts)

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Stephan Engelkamp: Christopher Möllers diskutiert Parallelen zwischen Normen als „positiv markierte Möglichkeiten“ und Kunst/Ästhetik, da beide mit einer Fiktion des moralisch Richtigen oder Schönen arbeiten (Möllers 2015). Ein Beispiel für eine Adaption dieses Gedankens in die politische Praxis liefert das Zentrum für Politische Schönheit, das einen ästhetischen Begriff von Schönheit für eine wertbasierte deutsche und europäische Politik fruchtbar macht. Entscheidend scheint mir hier, dass der von den Aktivisten vorgeschlagene utopische Politikbegriff der Politischen Schönheit notwendig visuell repräsentiert werden muss. Entsprechend spielen die Kampagnen des Netzwerks einerseits mit symbolischen und politisierten visuellen Artefakten, die z. T. buchstäblich Grenzen überschreiten, andererseits aber auch mit dem Verhältnis von Fakten und Fiktion, was wiederum auf das Problem der Repräsentation des Visuellen und seiner Interpretation in unterschiedlichen Kontexten verweist.

Die Ethik des Zeigens/nicht-Zeigens Darf und soll man normativ problematische visuelle Repräsentationen zeigen? Wie geht man als Forscher*in mit visuellen Repräsentationen von Gewalt um? Gabi Schlag: Sicherlich stellen sich uns – als Individuum, als Forscher*in und als Hochschullehrer*in – ethische und moralische Fragen besonders dann, wenn wir Gewalt thematisieren. Wer was wo und wie zeigen und sehen soll, ist jedoch generell ein wichtiges Thema, denn hier offenbaren sich ungleiche Machtverhältnisse in der Produktion und Distribution von Bildern ganz konkret, und Un-/Sichtbarkeitsregime ganz allgemein. Das „Recht am eigenen Bild“ zeigt für mich, dass normative Fragen immer eine Rolle spielen, wenn jemand oder etwas gezeigt und gesehen wird. Das Besondere an Gewaltdarstellung ist nun, dass durch und in der Darstellung und der wiederholten Ausstellung sich die Gewaltverhältnisse fortsetzen können. Im Extremfall – Tod – hat der/die/das Dargestellte keine Möglichkeit mehr, das „Recht am eigenen Bild“ einzufordern. Wir sollten aber darüber hinaus immer den Kontext, in dem etwas Gezeigt und Gesehen, und die Motivation mitbedenken, warum etwas Gezeigt und Gesehen wird. Axel Heck: Ethische Fragen stellen sich auch für mich vor allem in Bezug auf den Umgang mit visuellen Repräsentationen, die als Folge exzessiver Gewalteinwirkung oder die gezielte Tötung entstanden sind oder zu diesem Zwecke erstellt wurden. Persönlich wurde ich bei Recherchen über die Visualisierungsstrategien des Islamischen Staats mit ethischen Fragen konfrontiert, da davon auszugehen ist, dass

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Gewaltbilder gezielt als diskursives Mittel eingesetzt werden. Muss das Gezeigte auch gesehen werden? Inwiefern wird man als Forscher*in Erfüllungsgehilfe bei der Ausübung diskursiver Macht? Diese Fragen lassen sich nicht generell beantworten. Entscheidendes Kriterium war der Erkenntnisgewinn, der durch Betrachtung eines Gewaltbildes oder Videos erzielt wurde. Bei einigen Enthauptungsvideos ist die Betrachtung unter Verweis auf die wissenschaftliche Erkenntnis fragwürdig. Bei der Verbrennung des jordanischen Piloten Muʿādh al-Kasāsba ist das schon schwieriger, da die Gewalttat in ein audio-visuell gestaltetes Rechtfertigungsnarrativ eingebettet ist, das nur durch die Betrachtung des gesamten Videos erfasst werden kann. Hier muss der*die Forscher*in selbst entscheiden, wo die persönlichen Grenzen des Zumutbaren erreicht sind, denn vergessen wird man diese Bilder nie und auch hierdurch üben Akteur*innen wie der IS ihre Macht auch über uns als Forscher*innen aus. Sie zwingen den Betrachter*innen ihr skopisches Regime auf. Hanna Pfeifer: Ich möchte bei Axels Beispiel bleiben, allerdings eine andere ethische Perspektive einnehmen. Für mich ist die Frage, ob Gewaltbilder konsumiert werden sollten, nicht individualmoralisch zu beantworten. Dir*die Zuschauer*in und ihr Verhalten gegenüber der angebotenen Kommunikation wird von ISIS als konstitutiver Teil des Bildproduktes mitgedacht. Ein Video entfaltet nicht nur dadurch Wirkung, dass es konsumiert wird. Genauso trägt das explizite Nicht-Ansehen dazu bei, das von ISIS angezielte Selbstbild als Schreckensgestalt („EvilTM“) zu festigen. Problematisch ist also, dass uns die visuelle Kommunikation von ISIS dazu zwingt, uns in irgendeiner Form zu verhalten. Und dies ist das Ergebnis einer Aufmerksamkeitsökonomie, die strukturell mehr an (der Visualisierung von) bestimmten Gewalttaten als anderen interessiert ist. Andere Konflikte „bieten“ ebenso grausame Bilder und ebenso abscheuliche Gewalttaten; dasselbe gilt für andere am selben Konflikt beteiligte Akteur*innen. Deshalb ist die Frage eher: Warum gibt es eine (globale) Erwartungshaltung, die das nächste exzessive Gewaltvideo von ISIS regelrecht „herbeisehnt“, um dann dem Individuum die Verantwortung zu überlassen, sich für oder gegen den Konsum der Bilder zu entscheiden? Aus meiner Sicht übersteigt die Thematik also die Frage, was individuell richtiges oder gutes Verhalten ist. Indem wir Gewaltvideos von ISIS so viel Raum in der öffentlichen wie wissenschaftlichen Debatte geben, tragen wir dazu bei, dass (1) ein sehr einseitiges Bild von ISIS entsteht, (2) der*dem Akteur*in überproportional viel Bedeutung zugeschrieben und insbesondere ihr Gewaltpotential im Verhältnis zu anderen Akteur*innen überschätzt wird und (3) Konflikte, die ebenso gewaltsam sind, aus dem Blick geraten. Deshalb wäre für mich vor allem wichtig, zu reflektieren, wie wir strukturell verhindern können, dass wir uns überhaupt gegenüber solchen Videos positionieren müssen.

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David Shim: Eigentlich habe ich dazu eine klare Meinung: Ich finde, dass man Gewaltbilder, v. a. von geschändeten, entstellten und/oder entblößten toten Körpern, weder sehen noch zeigen muss. In der Regel reicht mir meine eigene Vorstellungskraft aus. Also, anstatt die Folgen von Gräueltaten zu sehen oder zu zeigen, genügt es mir, darüber zu lesen bzw. davon zu hören; von Zeugen zum Beispiel, was auch schon schwer erträglich sein kann. Während der IS ein „typisches“ Beispiel für Gewaltbilder ist (siehe Axel und Hanna), möchte ich ein anderes Ereignis nennen, das ich problematisch finde: das Pressefoto des Jahres von 2017. Das Foto zeigt den Moment (oder soll man sagen den Triumph), nachdem der türkische Attentäter Mevlüt Mert Altıntaş den russischen Botschafter in der Türkei, Andrei Karlow, bei einer Fotoausstellung in Ankara erschossen hat. Altıntaş steht vor seinem Opfer und streckt seinen linken Arm mit erhobenem Zeigefinger nach oben. Die Waffe, in seiner rechten Hand, zeigt auf den Boden. Nach Aussagen von Burhan Ozbilici, dem prämierten Fotografen, rief Altıntaş „Gott ist groß. Vergesst nicht Aleppo. Vergesst nicht Syrien“. Nach Henri Cartier-Bresson ist das wohl der entscheidende Moment, der ein gutes Foto ausmacht. Es gibt ja auch noch andere Fotos, die Ozbilici von dem Attentat gemacht hat, aber nur dieses Foto scheint die Essenz des Ereignisses einzufangen. Fotografisch gesehen kann man die Entscheidung der Jury also wohl nachvollziehen. Allerdings muss man dieses visuelle Ereignis in einen größeren, politischen Kontext setzen, der bekannt sein sollte: Krieg und Gewalt werden durch Bilder nicht nur kommuniziert, sondern auch legitimiert und verherrlicht. Akteure wie Altıntaş (oder der IS) folgen dieser Logik des Sehens und Zeigens. Das Prämieren des Fotos entspricht dieser Logik, da es nun in so etwas wie einer Strategie der visuellen Legitimation eingebettet wird. Damit meine ich z. B. die Reputation des Preises als eine der angesehensten und begehrtesten Auszeichnungen im Fotojournalismus, die Preiswürdigkeit des Bildmotivs, welches nicht von der Handlung getrennt werden kann, weil sie den Anlass zu diesem Motiv gab sowie die zusätzliche Verbreitung des Bildes als Resultat der Preisvergabe. Das also ein Foto prämiert wird, dass den Attentäter in einer Pose der Autorität und Kontrolle zeigt, finde ich daher bedenklich. Ich denke einfach, es bedarf eines sensibilisierten, visuellen Bewusstseins für diesen Krieg der Bilder. Gleichzeitig muss ich sagen, dass meine Meinung zu der Frage „Gewaltbilder sehen/zeigen?“ doch nicht so klar ist, wie oben angedeutet. Denn eigentlich gibt es noch eine weitere Perspektive zu dieser Thematik. Hier muss ich an den Holocaust denken und die Bilder, die um die Welt gingen. In diesem Kontext ist es fast unvermeidbar, den Gewaltbildern von vergasten, ausgehungerten oder zu Tode versklavten Körpern zu entgehen. Und, ich glaube, es ist nicht übertrieben zu sagen,

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dass diese Bilder einen großen Einfluss darauf (gehabt) haben, was Menschen über den Holocaust wissen und wie sie damit umgehen. Allgemein frage ich mich, ob die ethische Akzeptanz von Gewaltbildern von ganz bestimmten, sich überlappenden Faktoren abhängt. Etwa nach dem (zugegebenermaßen sehr vereinfachten) Motto: je weiter entfernt, z. B. von der Gegenwart, von der „westlichen“ Welt, von der farblichen Realität, desto akzeptabler das Bild. So erscheint ein Gewaltbild in schwarz und weiß akzeptabler als ein Bild in Farbe.

Abb. 5

Ethik und Bildakt. Wo liegen die ethischen Grenzen des Zeigens und Sehens? Was sollen wir sehen? Wann schlägt das Verlangen nach Bildern in Voyeurismus und Sensationsgier um? Wie werden Praktiken des Zeigens und Sehens zu Akten der Gewalt? Wann werden Betrachter zu Komplizen? (Illustration: Wael Toubaji / Konzept: Lisa Bogerts).

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Ähnlich scheint es mit Gewaltdarstellungen, die weit in der Vergangenheit liegen und denen ein eher zeitgeschichtlicher und somit mehr annehmbarer Dokumentationscharakter anhaftet. Ein Blick auf die prämierten Pressefotos der vergangenen 60 Jahre offenbart, dass Bilder von Gewalt und menschlichem Leid anscheinend „zeigbarer“ sind, wenn sie vom Globalen Süden stammen. So wurden in den Jahren 1973, 1984, 1985, 1986 und 2002 Fotos prämiert, die explizit tote oder leidende Kinder zeigen. Ob diese Fotos gewonnen hätten, wenn diese Kinder weiß und blond gewesen wären? Anna Geis: Die kontextabhängige Interpretation, das Zeigen und Sehen von Gewaltdarstellungen ist anhand der Bilder der IS-Videos und der Bilder von Opfern des Holocaust erläutert worden von David. Diese Bilder können dazu beitragen, das Unaussprechliche von Gewalttaten sichtbar zu machen und über das Erzeugen von Abscheu, Wut und Scham eine Wiederholung solcher Gewalttaten zu verhindern. Davids Überlegungen, welche Bilder „akzeptabler“ sein könnten, finde ich weniger überzeugend. Die Schwarz-Weiß-Bilder über den Holocaust sind inzwischen mehr als 70 Jahre alt – in welchem Sinne können wir hier von „akzeptabler geworden“ sprechen? Ich möchte an David anknüpfen, was die für den World Press Photo Award ausgewählten Bilder betrifft: In der engsten Auswahl für den Preis 2018 waren Fotos, die Leichen von Rohingya Flüchtlingen zeigen und durch Kriegsgewalt oder Mordanschlag verletzte und traumatisierte Menschen (die allerdings Trost und Hilfe bekommen, ebenfalls im Bild sichtbar). Prämiert wurde schließlich ein Foto, das den lichterloh brennenden Körper eines im scheinbar kraftvollen Lauf befindlichen Demonstranten bei den Protesten gegen den venezolanischen Präsidenten Maduro in Caracas zeigt. Die ausgewählten Fotos vermitteln eine Welt voller Gewalt, Terror, Krieg und Leid. So wichtig es ist, diese Welt zu zeigen – sind die Mittel und die Art und Weise der „ästhetisierenden“ Darstellung gerechtfertigt? Und besteht unsere Welt aus nichts Anderem? Die Grenze zwischen Wachrütteln durch bedrückende Fotographien und Voyeurismus und „Gewaltporn“ ist m. E. in den Fotos des World Press Award (nicht nur 2018) teils überschritten. Dieses Empfinden ist gewiss ein subjektives. Die Frage, ob wir uns die Hinrichtungs-Videos des IS anschauen sollten, stelle ich immer wieder in der Lehre. Das Meinungsbild der Studierenden (der Politikwissenschaft) ist gespalten. Während eine Reihe dies klar ablehnt, da man sich so durch Rezeption ihrer Propaganda zum Komplizen mache, argumentieren andere, dass zu viele Menschen in unserer Gesellschaft keine Vorstellung davon hätten, welche Ausmaße und Formen Gewalt in der Welt herrschten. Es diene dem Wachrütteln, sich diese Videos auch anzuschauen und auch zu verstehen, warum gegen den IS Krieg geführt werde, auch seitens „westlicher“ Staaten.

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Katarina Ristić: Durch meine Forschung zu internationalen Strafgerichten und -prozessen habe ich gemerkt, dass Bilder wie kaum ein anderes Medium dazu beitragen können, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen und die Verleugnung von Kriegsverbrechen unmöglich zu machen. Man könnte sich fragen, wie eine Erinnerung an den Holocaust ‚aussehe‘, wenn wir keine Bilder von Auschwitz und anderen Konzentrationslagern kennen würden. Im Falle der Kriege im ehemaligen Jugoslawien waren es beispielsweise die verstörenden Gewaltvideos, die den Mord an sechs bosnischen Gefangenen zeigen, die nach der Ausstrahlung im serbischen Fernsehen zumindest für einen Augenblick die Leugnung eines Völkermordes in Srebrenica in Frage stellten. In diesem Sinne verstehe ich die Zirkulation von Bildern, die „unserer Verbrechen“ zeigen, als eine Notwendigkeit, gerade in Post-Konflikt Gesellschaften, die sich auf einer politischen Ebene einer Aufarbeitung der Vergangenheit versuchen, zu entziehen. Zugleich möchte ich aber auch Hanna zustimmen, die von einer Hierarchie der Gewaltbilder spricht, welche durch Medien hergestellt wird, und in der Regel die dominante normative Ordnung bestätigt. Ich denke, dass sowohl für die Produzenten von Bildern als auch für den Zuschauer die entscheidende Frage sein sollte, ob die Bilder zu einer Viktimisierung der Gesellschaft beitragen. Wenn Bilder nur gezeigt werden, um die eigene Gruppe als unschuldige Opfer darzustellen, dienen diese dem dominanten Diskurs und bringen nichts Neues hervor. Gleichzeitig kann ein Bild in unterschiedlichen (Gebrauchs-)Kontexten eine andere Bedeutung entfalten und durch das Publikum angeeignet werden. Frank Stengel: Ich muss sagen, dass ich es sehr schwierig finde, diese Frage pauschal zu beantworten. Insbesondere Davids Beitrag zeigt für mich, dass sich diese Frage nur an konkreten Einzelfällen und im Kontext beantworten lässt. Selbst dabei ist es extrem schwierig, mögliche Folgen abzuschätzen, denn mögliche Effekte des Zeigens hängen ja nicht nur von der Entscheidung ab, ob man etwas zeigt oder auch nur in welchem Kontext (Zusammenspiel mit Text etc.), sondern auch davon, wie ein Bild möglicherweise in einem ganz anderen Kontext reproduziert wird, wodurch sich die Bedeutung komplett wandeln kann. Frank Gadinger: Ich finde die Debatte meiner Vorredner*innen äußerst produktiv und kann keinen wirklich neuen Punkt beitragen, da ich auch für meine eigenen Forschungsaktivitäten noch keine klare Antwort entwickelt habe. Ich habe mich mit Gewaltdarstellungen bisher nur in fiktiver Form auseinandergesetzt, etwa in Kriegsfilmen. Für mich bestand bei einer Szene des Waterboardings als Foltermethode beispielsweise immer eine klare Trennung zwischen einer fiktiven Darstellung in einem Hollywood-Film oder dokumentarischem Material. Allerdings habe ich in

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der Lehre festgestellt, dass Studierende völlig unterschiedliche Toleranzschwellen und Sensibilitäten in ihren Sehgewohnheiten haben und auch fiktive Darstellungen für manche unzumutbar sind. Meine Konsequenz ist, dass man sich als Forscher*in letztlich entscheiden muss, mit welchen Gegenständen man sich intensiv auseinandersetzen will und man dies auch aus guten Gründen ablehnen kann, wenn um extreme Formen und Darstellungen von Gewalt geht.

Bilder und Gefühle Wie geht man mit emotional bewegenden Bildern um? In welchem Zusammenhang stehen Gefühle und das Visuelle? Wie geht man mit den eigenen Gefühlen im Forschungsprozess um? Stephan Engelkamp: Ich möchte hier noch einmal auf das oben erwähnte Beispiel des Zentrums für politische Schönheit zurückkommen. Eine Kampagne lehnte sich an das historische Beispiel der britischen Kindertransporthilfe für jüdische Kinder in den 1930er Jahren an. Das Zentrum plante eine scheinbar von der Bundesregierung organisierte Aktion, wonach syrische Kinder für die Zeit des Bürgerkriegs in deutschen Familien untergebracht werden sollten. Da „wir aber nicht alle Kinder retten können“, solle nur eines aus einhundert nach Deutschland gebracht werden. Um diese Kinder auszuwählen, organisierte das Zentrum daraufhin eine Art Televoting-Prozess im X-Factor-Stil, mit Bildern von echten syrischen Kindern. Was zunächst zynisch erscheint, dient hier als subversive Aktion, um den Zynismus der deutschen und europäischen Asylpolitik aufzuzeigen. Nichtsdestotrotz finde ich den Gebrauch der Bilder in diesem Zusammenhang problematisch. Die Aktivisten argumentieren dagegen mit der Sichtbarkeit des Anderen in einem Kontext, in dem sich westliche Öffentlichkeiten durch die Flut von Bildern des Leids abstumpfen lassen, was letztlich zu politischer Apathie führen kann. Mein Punkt hier ist, dass – wie Frank richtig sagt – es in dieser Frage keine generelle Regel geben kann, sondern höchstens konkrete Einzelfallentscheidungen, die jedoch direkt die Normativität des jeweiligen politischen und ethischen Kontexts betreffen. Auch hier führt die Frage unweigerlich zur Notwendigkeit, die sozialen, symbolischen und ethischen Bedingungen von Forschung (oder Aktivismus) kritisch zu reflektieren.

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Lisa Bogerts: Wenn es um sensorische Phänomene des Sehens geht, erforschen wir auch sinnliches Erleben und ästhetische Zugänge zu Politik. Gerne wird daher behauptet, Bilder hätten per se eine emotionalere Wirkung und eigneten sich daher für Propaganda und Mobilisierung, etwa bei der Darstellung von körperlichem Leid und Gewalt in sogenannten visuellen Ungerechtigkeits-Frames. Allerdings lösen auch Wörter (oder andere sensorische Medien wie Musik) Emotionen aus, weshalb wir Bilder nicht auf ihre rein affektive Wirkung reduzieren dürfen. Vielmehr werden sowohl affektive als auch kognitive Prozesse angestoßen, über die unsere Bildwahrnehmung unser Weltbild prägt. Gleichzeitig dürfen wir nicht unterschätzen, wie (audio-)visuelle Darstellungen – von Kunst über Memes bis zur Netflix-Serie – unseren Zugang zu Politik (oft unbewusst) beeinflussen, nämlich eben eher affektiv. Katarina Ristić: Wie Lisa bereits geschrieben hat, werden Bilder oft im Zusammenhang mit Emotionen analysiert. Dabei vergessen wir aber, dass auch andere Modi der Bedeutungsgenerierung emotional sind. Dennoch denke ich, dass Bilder durch ihre spezielle Beziehung zur Realität ein besonderes emotionales Potential besitzen. Einige Wissenschaftler*innen haben darauf hingewiesen, dass das „re-enactment“ von Verbrechen durch das Zeigen dokumentarischen Materials dazu beitrage, Mitleid mit den Opfern oder Unverständnis gegenüber den Tätern zu empfinden. Man sollte aber vorsichtig sein und nicht eine automatisch emotionale Reaktion auf Bilder unterstellen. Denn auch Emotionen und individuelle Gefühle sind durch Medien vermittelt und können nicht generalisiert werden. Ein Beispiel aus den Sozialen Medien kann diesen Punkt illustrieren: Ein Pinguin aus dem Tobu Zoo in Saitama (Japan) machte weltweit Schlagzeilen, nachdem er sich in das Abbild eines Comic-Charakters verliebt hatte. Diese „Beziehung“ dauerte mehrere Jahre bis zum Tod des Pinguins. Seine Zuneigung für das Abbild berührte Millionen Menschen in den sozialen Medien und machte den Pinguin zu einer internationalen Berühmtheit. Der zentrale Punkt ist nicht, ob ein Pinguin (oder ein anderes Tier) sich in ein Bild verlieben kann, sondern dass wir alle schlussendlich immer nur das „Bild“ eines*einer Musiker*in, Schauspieler*in, einer Nation oder eines Gottes bewundern. Die Tatsache, dass wir überrascht sind, wenn jemand sich in das materielle Bild von jemandem verliebt, zeigt nur, wie unbewusst uns die imaginäre Natur unserer alltäglichen und emotionalen Beziehungen ist. Delf Rothe: Auch für die Relevanz von Technologien im Kontext von Emotionen und Affekten ist der von Katarina geschilderte Fall, in dem sich ein Pinguin aus dem Tobu Zoo in Saitama in einen aus Pappe ausgeschnittenen Comic-Charakter

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verliebt und dadurch weltweit zum Social-Media Star wird, interessant. Bereits der Zoo an sich ließe sich als eine visuelle Assemblage beschreiben, bei der durch die Praxis des Sehens – vermittelt durch eine bestimmte architektonische Gestaltung des Raumes und den Einsatz visueller Technologien (z. B. Displays) – bestimmte affektive Beziehungen zwischen Tieren und Menschen erzeugt werden. Im beschriebenen Fall kommen weitere Elemente zu der Assemblage hinzu – der Comic, der Pappausschnitt, digitale Aufnahmen des Pinguins, soziale Medien, die Infrastruktur des Internets – die es schließlich erlauben, dass Internetnutzer*innen in Deutschland Gefühle für einen Pinguin in Japan entwickeln. Anna Geis: Zum geradezu essentiellen Zusammenhang von Gefühlen und Bildern kennen wir ja auch genügend Beispiele aus dem privaten Bereich: Warum stellen sich manche Menschen Fotographien ihrer Partner*innen, Familie oder Freunde*innen auf den Schreibtisch oder hängen diese an Wände? In mobilen Endgeräten dienen diese gerne als Hintergrundfotos. Oder denken wir an das Ende des Lebens: In vielen Trauerkontexten (Beerdigungen, Traueranzeigen) werden Bilder der Verstorbenen aufgestellt, auf denen die Person zu Lebzeiten zu sehen ist, manchmal in jüngeren Jahren, manchmal in älteren Jahren, oft als Einzelportrait. Warum tun wir das? Macht es einen Unterschied, in der Trauerhalle neben einem Sarg oder einer Urne ein großes Foto des Verstorbenen zu sehen? Vermutlich. Von einem interessanten Experiment, das ein Kollege in der Kunstgeschichte praktizierte, berichtet W. J. T. Mitchell (Mitchell 2008): Wenn sich Studierende über die Idee einer „magischen Beziehung zwischen einem Bild und dem, was es darstellt“, lustig machten, dann bittet man die Studierenden, einer Fotographie ihrer Mutter die Augen auszuschneiden. In dem Kapitel „Anstößige Bilder“ beschreibt Mitchell im selben Buch zudem eindrücklich, warum Menschen gegen Bilder „vorgehen“, sie also etwa zerstören, beschädigen oder dem Blick entziehen. Zwei Überzeugungen seien dort im Spiel: „Die erste rührt daher, dass das Bild offensichtlich und unmittelbar mit dem in Verbindung gebracht wird, was es darstellt. Was auch immer dem Bild angetan wird, wird in gewisser Weise auch dem angetan, für das es steht. Die zweite hat damit zu tun, dass das Bild einen gewissen vitalen, lebendigen Charakter besitzt, der es dazu befähigt, das zu fühlen, was ihm zugefügt wird.“ (Mitchell 2008, S. 107–108)

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Abb. 6

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Rezeption und Interpretation. Die Wahrnehmung eines Bildes und seiner Interpretation ist hoch subjektiv, erfahrungsabhängig und kontextgebunden. Wie gehen wir als Forscher*innen damit um? Wie können aus individuellen Interpretationen inter-subjektiv geteilte Deutungen werden? Wer hat die Macht zur dominanten Deutung? (Illustration: Wael Toubaji / Konzept: Lisa Bogerts).

Gabi Schlag: Die Anekdote von Mitchell finde ich sehr bezeichnend. Auch mir fällt als erstes die besondere Bedeutung von Portraitfotografien ein, die den Spiegel- und Abbild-Charakter betonen. Das Gesicht wurde ja schon von anderen Autor*innen als ethischer und emotionaler Ausdruck sozialer Beziehungen gedeutet (Belting 2013; Edkins 2015). Dann gibt es natürlich noch die Geschichte der Verehrung von religiösen und säkularen Bildern – und damit verbunden eben auch die Schädigung und Zerstörung dieser.

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Die Methoden und Methodik Welche Methode/Methoden eignet/eignen sich für die Analyse von Visualität? Welche Rolle spielt der*die Forscher*in im Prozesse der Analyse? Welche Techniken sind hilfreich? Wie macht man den Forschungsprozess für Dritte nachvollziehbar? Hanna Pfeifer: Die Wahl der Methode sollte sich wie in allen wissenschaftlichen Analysen an der Forschungsfrage orientieren. Dabei kann es große Unterschiede darin geben, wie wichtig Visualität als sich von anderen Modi der sozialen Herstellung von Sinn unterscheidender Modus genommen wird. Während einige Ansätze ein spezifisches Instrumentarium zur Analyse visueller Daten entwickeln, bedienen sich andere eher solcher Techniken, die auch aus der Textanalyse bekannt sind. Ich bin selbst hin und her gerissen bei der Frage, ob man dem Analysegegenstand noch gerecht wird, wenn man bspw. ein Video inhalts- oder narrativanalytisch auswertet, ohne explizit systematisch und von der Textanalyse gesondert eine visuelle Analyse durchzuführen. Hätte man dann nicht ebenso gut einen Textbeitrag analysieren können? Aber warum sollte man nicht auch Videos als Diskursbeiträge untersuchen, ohne eine kleinteilige Untersuchung etwa von Kameraführung, Belichtung, Farbgebung etc. durchzuführen? Mir scheint, dass auch hier entscheidend ist, wie viel Bedeutung man den visuellen Aspekten des Untersuchungsgegenstandes im Hinblick auf die Forschungsfrage zuschreibt – auch wenn diese Antwort im Letzten unbefriedigend bleiben mag, weil sie kein eindeutiges, in allen Fällen anwendbares Rezept liefert, sondern für die Einzelfallentscheidungen plädiert. Unumgänglich ist aus meiner Sicht jedoch, dass der*die Forscher*in stets offenlegt, was er*sie (nicht) getan hat, zu welchem Erkenntniszweck und auf Grund von welchen Annahmen. Gabi Schlag: Ich finde, dass Methodendiskussionen oft eskalieren und sich zu sehr um die Frage drehen, ob man seine Fälle und Daten „sauber“ selektiert und dann die „richtigen“ Methoden angewendet hat. Methoden dienen dann oft der Kontrolle der Widerspenstigkeit der Wirklichkeit. „Empirie“ und „Theorie“ stehen doch vielmehr in einem ständigen Dialog wie der Soziologe Hirschauer schreibt, indem Methoden „Instrumente“ (tools) sind, um das eine mit dem anderen zu verbinden (Hirschauer 2008). Methoden sind aber keine neutralen und objektiven Instrumente. Um einen Nagel in die Wand zu hauen, braucht man einen Hammer. Aber eine Eisenpfanne eignet sich auch, obwohl Nägel-in-die-Wand-hauen nicht ihre zentrale Funktion ist. Doch leider ist es eben so, dass wir nur noch Nägel sehen, wenn wir einen Hammer halten. Methoden sollten indessen kreativ, pragmatisch

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und dem Gegenstand angemessen eingesetzt werden und nicht umgekehrt, was bedeuten kann, dass man einen neuen Werkzeugkasten braucht. Gerade für methodische Fragen finde ich einen Blick in andere Fächer und Disziplinen wichtig, die ein vielfältiges Repertoire an Methoden anbieten. Gleichzeitig erfordert dies natürlich auch eine Übersetzungsleistung, d. h. eine Anpassung der Instrumente an die Fragen die mich interessieren. Lisa Bogerts: Ich finde die Argumente von Gabi sehr wichtig. Die Methoden variieren je nachdem, auf welche Dimension von Visualität man sich fokussiert. Wer sich auf die Bildwirkung konzertiert, findet in den Audience Studies und der Medienwirkungsforschung verschiedene Instrumente zur Wahrnehmung der Bildbetrachter*innen. Ist man eher an den Bildinhalten interessiert, eignen sich zum einen (eher quantitative) Inhaltsanalysen mithilfe von Soft ware wie MAXQDA, die relative Häufigkeiten von Codes in einem bestimmten Datenkorpus zählen. Damit kann man etwa zählen, wie oft und in welcher Weise eine bestimmte Personengruppe (z. B. Geflüchtete) im Mediendiskurs (z. B. Fotos in einer bestimmten Online-Zeitung) in welcher Weise (z. B. als Bedrohung) dargestellt sind. Zum anderen kann man den qualitativen Aspekt in visuellen Diskursanalysen ausbauen, indem man näher untersucht, wie bestimmte visuelle Narrative miteinander zusammenhängen und durch welche Strategien sie Wahrheits- und Überzeugungsansprüche konstruieren.

Abb. 7

Screenshot eines codierten Bildes mit MAXQDA (von Lisa Bogerts)

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Katarina Ristić: Für jeden, der keine methodische Ausbildung für die Analyse von visuellen Daten erhalten hat, kann die Suche nach passenden Methoden ein Alptraum werden. Denn diese Suche erfordert die Auseinandersetzung mit unbekannten Forschungsfeldern, mit neuen theoretischen und epistemologischen Perspektiven, mit Autoren, die zwar ähnliche Begrifflichkeiten verwenden, aber nicht immer das gleiche meinen. Hinzu kommt noch die Übersetzung von einer Sprache in eine andere, z. B. englisch-deutsch, aber auch die Übersetzbarkeit disziplinärer Fachvokabeln. Die Spezialisierung visueller Methoden mag sicherlich einer der Gründe sein, warum viele Wissenschaftler*innen sich nicht mit Bildern beschäftigen, obwohl das visuelle heutzutage so ein zentraler Bestandteil von Kommunikation ist. Ich finde, dass die multimodale Semiotik ein guter Startpunkt ist, weil alle Modi der Kommunikation hier thematisiert werden. Multimodale Ansätze liefern eine Reihe klarer Methoden und Vorgehensweisen zur Analyse visueller Daten. Aber um wirklich verschieden Modi der Kommunikation in einem Medium analysieren zu können, benötigt man entweder ein Team erfahrener Forscher*innen oder viel Zeit und Muße. Ich denke, dass wir noch weit davon entfernt sind, verschiedene Kommunikationsmodi zu analysieren (z. B. Bild, Text, Stimme, Sound, Gesichtsausdruck, Körpersprache). Wir können nur daran arbeiten, schrittweise ein weiteres Element zu verstehen und auch in der Lehre eine fundierte Methodenausbildung voranzutreiben. Frank Stengel: Zu Methode ist schon einiges gesagt worden, wobei ich mich nur anschließen kann. Deshalb gehe ich kurz auf die Rolle des*der Forscher*in im Prozess ein. Ich denke, bei einer visuellen Diskursanalyse gilt hier das gleiche wie bei anderen Formen interpretativer Analyse auch, nämlich dass der*die Forscher*in nicht aus dem Forschungsprozess herauszuhalten ist, weil Interpretationen unweigerlich anders ausfallen, abhängig davon, wer kodiert, weil jedes researching subject in jeweils anderen Diskursen eingebettet ist, in denen dieselben „Daten“ unterschiedlich artikuliert und mit Bedeutung versehen werden. Ebenso können Methoden oder Instrumente wie MAXQDA meiner Ansicht nach nicht dazu dienen, den*die Forschende*n aus dem Prozess herauszuhalten und „objektivere“ Ergebnisse zu produzieren, sondern werden eingesetzt, um die Transparenz zu erhöhen. Dabei ist wichtig, nicht aus den Augen zu verlieren, dass auch Methoden performativ und Forschungsergebnisse generell (auch) politisch sind. Zur Transparenz gehört meiner Ansicht nach auch eine Reflexion darüber, welche Vorannahmen (z. B. politisch, theoretisch) man mitbringt, die die Analyse beeinflussen können. Christoph Günther: Als Ergänzung zu Hannas, Lisas, Katarinas und Franks Ausführungen, die ich uneingeschränkt teile, möchte ich zunächst kollaborative Analysemethoden ins Spiel bringen. Ohne Frage werden sich die meisten Forscher*innen

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in ihrer täglichen Arbeit zumeist allein darüber Gedanken machen, welche Daten sie erheben und auswerten wollen und wie sie die Daten speichern. Ich erachte es als Bereicherung, diesen Prozess in einer Gruppe zu planen und durchzuführen. Die kollaborative, qualitative Analyse visueller Repräsentationen in einer Forscher*innengruppe bedarf sicherlich eines gewissen kommunikativen Aufwands. Dieser wird jedoch durch die Dynamiken, die sich bei der Analyse innerhalb der Gruppe zeigen, deutlich aufgewogen. Obwohl man sich vielleicht manchmal in Details verbeißt, bin ich überzeugt, dass man in einer solchen Gruppenarbeit mehr sieht als allein. Eine Gruppe, die theoriegeleitet und fragestellungsbasiert an (audio-)visuelle Daten herantritt, kann diese m. E. in ihrer Komplexität umfassender bearbeiten als ein*eine einzelne*r Forscher*in. Technische Unterstützungsmittel sind dabei unheimlich wertvoll. Lisa hat ja bereits Soft warelösungen erwähnt, die sozialwissenschaft lich arbeitende Forscher*innen für ihre Arbeit mit (audio-)visuellen Daten nutzen. Unbewegte Bilder sind dabei für technische Lösungen grundsätzlich leichter handhabbar als bewegte Bilder, da hier zur Raum- auch die Zeitdimension kommt und damit die Anforderungen an die Tools entsprechend steigen. Timelinebasierte Annotationstools sind in der Film- und Medienwissenschaft weit verbreitet und sehr gut anwendbar. Tools, mit denen man im bewegten Bild selbst annotieren kann, sind hingegen bisher nicht auf dem Markt. Ich habe das große Glück, an der Entwicklung eines solchen Tools beteiligt zu sein, das, wie im Screenshot angedeutet, z. B. die Möglichkeit bieten wird, je nach Fragestellung unterschiedliche Objekte in Videos über eine gewisse Zeit zu markieren und diese Annotate zusätzlich zu codieren.

Abb. 8

Screenshot eines codierten Videos basierend auf einem Produkt der bitGilde Solutions AG (von Christoph Günther)

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Anna Geis: Eine andere Form, wie man gemeinsam visuelle „Daten“ interpretieren kann, sind Fokusgruppeninterviews, die man danach transkribiert und strukturiert auswertet (mit inhaltsanalytischen Verfahren). In unseren Kontexten wählt man Fokusgruppen gerne aus Studierenden oder Schüler*innen aus, aber wohl auch nur, weil der Zugang v. a. zu Studierenden natürlich leichter für uns ist. Die Fokusgruppen sollten nicht mehr als fünf bis sieben Personen beinhalten, damit möglichst alle zu Wort kommen können. Die über Vorgespräche strukturierten oder eher „zufällig“ zusammengestellten Gruppen sollten bezüglich sozialer Herkunft, Alter, Geschlecht, Meinungen und Vorkenntnissen etc. möglichst etwas heterogener sein, aber auch nicht zu heterogen. Als Forscher*innen können wir Fokusgruppen z. B. einzelne Fotographien als „Stimulus“ vorlegen und dazu eine Diskussion anregen (z. B. Werbeplakate der Bundeswehr und ihre Wirkung) oder zunächst gemeinsam einen Film anschauen und danach über das Gesehene eine Diskussion führen, ggf. auch durch Wiederholen bestimmter Filmsequenzen (etwa Dokumentarfilme, Werbevideos oder Spielfilme, die z. B. historische oder aktuelle politische Inhalte transportieren, z. B. der viel diskutierte deutsche dreiteilige Fernsehfilm „Unsere Mütter, unsere Väter“). Welche Vorinformationen den Fokusgruppen gegeben werden, sollte fallweise entschieden werden; es sollte jedoch möglichst wenig Einfluss auf die Rezeption und Meinungsbildung genommen werden. Fokusgruppeninterviews können auch nach Besuch von Kunstausstellungen oder Gedenkstätten sehr produktiv eingesetzt werden, um die Wahrnehmungen, Gefühle und Reflexionen der Besucher*innen in Erfahrung bringen zu können. Delf Rothe: In der Vergangenheit habe ich mich Bildmaterial häufig mit diskursanalytischen Methoden genähert. Anknüpfend an das Verständnis von Visualität als verkörperlichte Praxis bin ich augenblicklich jedoch stärker an (auto-)ethnographischen Ansätzen interessiert. Nehmen wir das oben geschilderte Beispiel eines Flughafens als visuelle Assemblage. Um die disziplinierenden Machtwirkungen visueller Technologien an Flughäfen zu untersuchen, sind viele diskursanalytische Zugänge wenig geeignet. In solch einem Fall scheinen etwa (auto-)ethnographische Ansätzen fruchtbar. Ich denke, gerade im Bereich der visuellen Anthropologie gibt es spannende Ansätze, wie etwa den Einsatz von Film für die Durchführung und Dokumentation von teilnehmender Beobachtung (Videographie), mit denen verkörperlichte Praktiken des Sehens und Zeigens dokumentiert und analysiert werden können. Solche Methoden sollten jedoch niemals Selbstzweck sein, d. h. zentral ist die Herstellung einer Passung (Diaz-Bone) zwischen untersuchter Fragestellung, theoretischem Ansatz und Methoden.

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Stephan Engelkamp: Die Frage der passenden Methode sollte sich an der Forschungsfrage orientieren, da gehe ich völlig mit. Ich habe schon mehrfach auf die Notwendigkeit von expliziter Reflexivität hingewiesen, allerdings frage ich mich auch, ob eine gewählte (interpretative) Methode oder eine bestimmte Lesart schlicht „falsch“ sein können. Ich glaube, ja. Etwa, wenn empirische Beispiele selektiv ausgewählt, Konzepte unangemessen gedehnt oder der weitere Kontext einer Fragestellung nicht angemessen berücksichtigt werden. Hier stellen sich in Bezug auf Nachvollziehbarkeit, Transparenz und Intersubjektivität dieselben Probleme wie bei allen empirischen Methoden in den Sozialwissenschaften, egal ob es sich dabei um qualitative oder quantitative, positivistische oder interpretative Ansätze handelt. Frank Gadinger: Im praxistheoretischen Programm der IB werden derzeit eine ganze Reihe von Methoden erfolgreich angewendet, wie die teilnehmende Beobachtung, die lange Zeit in der Politikwissenschaft kaum benutzt bzw. für methodisch legitim gehalten wurden. Auch das methodologische Verständnis, das sich das konzeptionelle Vokabular in der empirischen Forschung verändert und demnach Theorie und Empirie in einem dynamischen Wechselverhältnis stehen, ist mittlerweile anschlussfähiger geworden an die Debatten des Mainstreams. Ich sehe diese Entwicklung ähnlich in der visuellen Politikforschung, die methodisch auch neue, kreative Wege gehen muss und als interdisziplinäres Programm zu verstehen ist. Persönlich sehe ich die Forschungsperspektive stärker in einer hermeneutischen Tradition und stehe den schon erwähnten Rezeptionsanalysen oder ähnlichen messorientierten Methoden skeptisch gegenüber. In meiner eigenen Forschung habe ich versucht, eine Methodik wie die Narrativanalyse an unterschiedlichen Gegenständen zu „testen“ und diese dadurch schrittweise zu verbessern. Hierbei hat sich auch ergeben, dass verschiedene Methoden, wie die Bild- oder Filmanalyse, kombiniert werden können. Zwar begegnet man in manchen Diskussionen den typischen Einwänden, dass wir dies doch den Kunsthistoriker*innen oder Filmwissenschaftler*innen überlassen sollten, was für mich aus einem interdisziplinären Forschungsinteresse wenig überzeugend ist. Jedoch ist eine gewisse Neugier für andere Forschungsfelder und Methoden notwendig, wenn man sich mit visuellen Artefakten und Praktiken beschäftigt. Es kann jedoch gut sein, dass in einigen Jahren die visuelle Wende auch zum festen Bestandteil des IB-Kanons wird und sich dadurch die Wahl bestimmter Methoden etabliert bzw. festgelegt wird, was auch eine Beschränkung kreativer Forschung sein kann.

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Visualisieren als (wissenschaftliche) Methode Wie nutzen wir visuelle Artefakte und Praktiken in unseren wissenschaftlichen Publikationen und in der Lehre? Können wir „Bilder“ in „Text“ übersetzen? Was geht dabei verloren? Welche anderen ästhetischen Formen lassen sich wie wissenschaftliche nutzen? Lisa Bogerts: Forschende verwenden Bilder in ihren Vorträgen oder Publikationen oft rein illustrativ und unterschätzen damit ihre Eigenwirkung. Es macht aber einen Unterschied, ob wir zum Beispiel bei der Diskussion über Sinn und Unsinn von Entwicklungspolitik hilflose Kinder in afrikanischen Dörfern zeigen oder selbstbewusst auftretende Erwachsene in städtischer Business-Kleidung, die ihre Rechte fordern. Wir tendieren unbewusst dazu, mit unseren Illustrationen unsere wissenschaftlichen Argumente zu untermauern, ohne dass wir das transparent machen würden. Somit reproduzieren auch IBler*innen Stereotype. Beispielsweise stärken bestimmte Weltkarten das Narrativ eines „funktionierenden“ und starken Nordens (etwa durch grüne oder blaue Färbung) und eines konflikterfüllten und daher zu pathologisierenden Südens (etwa durch rote und orange Färbung). Wollen wir Bilder als Träger von Wissen und Deutungen ernst nehmen, ist daher auch der Umgang mit Bildern in der eigenen Forschung unbedingt zu reflektieren. Zur Frage des Verhältnisses von Bild und Text in der Wissenschaft zeigte John Berger in seinen „Ways of Seeing“-Videos und -Essays schon sehr früh, dass wir auch allein durch Bilder ein erforschtes Phänomen darstellen können (Berger [1972] 2008). Allerdings werden Aussagen durch begleitende Wörter meist konkreter und eindeutiger, weil ihre Aneinanderreihung weniger assoziativen Spielraum für Deutungen lässt. Daher ist in der wissenschaftlichen Arbeit beides notwendig. In sogenannten Foto-Erhebungen (Photo-elicitations) werden die teilnehmenden Personen daher nicht nur gebeten, ein bestimmtes politisches Phänomen aus ihrer eigenen Sicht fotografisch festzuhalten, sondern es werden auch ihre Bedeutungen und Interpretationen abgefragt. David Shim: In der Lehre verwende ich Bilder sowohl illustrativ als auch als eigenen Forschungsgegenstand. Beide Herangehensweisen müssen sich nicht zwangsläufig ausschließen. In meiner Vorlesung zum Postkolonialismus etwa verwende ich populäre Filme oder Serien wie Avatar oder Game of Thrones, um bestimmte Konzepte, die im Postkolonialismus zentral sind (z. B. Orientalismus, Unabhängigkeit oder Selbstbestimmung) zu erklären. Diesen „klassischen“ Ansatz, wonach Populärkultur Fachbegriffe oder theoretische Zusammenhänge veranschaulicht, hat beispielsweise Cynthia Weber popularisiert (Weber 2001). Gleichzeitig versuche ich aber auch,

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am Bild bzw. Film selbst zu arbeiten, um dessen koloniale oder orientalistische Logik zu diskutieren. So ist zum Beispiel Avatar auf dem ersten Blick postkolonial (aber auch kapitalismuskritisch, pro-ökologisch sowie inklusiv im Hinblick auf Menschen mit Behinderung), d. h. Anliegen postkolonialer Ansätze wie Selbstbestimmung und Unabhängigkeit werden nicht nur aufgegriffen, sondern auch positiv konnotiert (inklusive Recht auf gewaltsamen Widerstand à la Frantz Fanon). Auf dem zweiten Blick jedoch artikuliert der Film eine klassische, koloniale Politik, die IBler*innen bekannt sein dürfte: die Notwendigkeit von außen zu intervenieren, in Form weißer, männlicher, rationaler Subjektivität, weil es die „Einheimischen“, in Form nicht-weißer, romantisierter, emotionaler Subjektivität, nicht hinbekommen; also den Kampf für die Freiheit, das Recht auf Selbstbestimmung, Gerechtigkeit etc. Volle Subjektivität der „Einheimischen“, d. h., frei und unabhängig zu sein, ist also nur unter Bedingungen weißer/männlicher/externer Intervention möglich. Weitere Beispiele sind Der mit dem Wolf tanzt (1990) oder Last Samurai (2003). Was die ästhetischen Formen angeht, die sich wissenschaftlich nutzen lassen, so hat eine Reihe von IBler*innen gezeigt, in welche Richtung die Forschungspraxis gehen kann. Pionierarbeit in unserem Feld haben hier wohl Cynthia Weber und James Der Derian geleistet, die mit ihren Dokumentationsfilmen Themen wie die Anschläge vom 11. September oder die Arbeitsweisen des US-Militärs bearbeitet haben (Der Derian et al. 2010; Weber 2011). Ich denke, der Vorteil von solchen ästhetischen Formen (Filme, Fotoessays, Ausstellungen) ist der Zugang zu einem breiteren, interessierten Publikum, das über die eigene Peer Group hinausreicht. Es ist ja bekannt, dass die Leserschaft von wissenschaftlichen Texten in Zeitschriften oder Sammelbänden wie diesen begrenzt ist und „wir“, wenn man es etwas schärfer ausdrückt, Wissen für uns selbst, die Peers, produzieren. Daher denke ich, dass Forschende durchaus andere Wege der Wissensproduktion und –verbreitung gehen sollten. Anna Geis: Ich setze Bilder ebenfalls gerne in der Lehre ein, in der Regel durch Beamer-Projektion-Zeigen von Fotographien, meist zu Beginn einer Veranstaltung oder eines kurzen Videos, um die praktische Relevanz der danach behandelten Analysekonzepte und Theorien greifbarer zu machen. Fotographien und Videos als Einstiegsimpuls regen Studierende erfahrungsgemäß oft zu sehr interessanten Kommentaren und Fragen an. Teilweise nehmen Studierende auch später nochmals Bezug auf die gezeigten Bilder – was unterstreicht, wie stark sich Bilder im Gedächtnis verankern können. Da die heutigen Studierenden oft über die technischen Voraussetzungen und das Interesse verfügen, selbst Bilder zu produzieren, würde ich die „produktive“ Seite ebenfalls gerne in der Lehre nutzen. Die Idee von Foto-Essays finde ich besonders

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reizvoll. Allerdings sehe ich Schwierigkeiten, diese transparent und nachvollziehbar bewerten zu können. Und nicht jede*jeder Student*in wird sich für dieses sehr kreative Format begeistern können. Für unbenotete Projektarbeiten wären solche Essays jedoch sicherlich sehr spannend. Was die Forschung anbelangt, so sehe ich hier in der Tat ein großes Problem darin, dass sich die genuine „Macht“ oder „Kraft“ und der „Eigensinn“ von Bildern nicht in Worte übersetzen lassen. Man kann ein Bild noch so gut, ausführlich und fantasievoll beschreiben – bekommt man dies dann vorgelegt, sieht jeder Betrachter/ jede Betrachterin doch noch etwas anderes darin. Zudem ist es für Leser*innen oft langweilig, seitenweise ein Bild beschrieben zu bekommen – besonders, wenn man es gar nicht sehen kann. Hinzu kommen die Beschränkungen unseres Wissenschaftssystems. Sozialwissenschaftliche Fachartikel übersteigen selten eine Länge von 20–30 Druckseiten. Erfahrungsgemäß viel zu wenig, um Bildanalysen wirklich gerecht werden zu können. So bleibt oft nur die Möglichkeit, wenige Bilder sehr detailliert zu analysieren – wie repräsentativ und aussagefähig dies dann für was genau sein soll, ist dann aber das nächste Problem. Wir haben im Kontext der Bilder über den Holocaust und auch der Hinrichtungs-Videos des IS schließlich noch einen wichtigen Punkt angesprochen: Die visuelle Darstellung von „unaussprechlichen“ Gewaltverbrechen („unspeakable crimes“, wie es auch in Strafprozessen oft heißt) kann gegenüber rein verbalen Schilderungen eine derart nachhaltige Kraft entfalten, dass man – als Individuum, als Gesellschaft, als „Menschheit“ – diese Bilder niemals vergisst. Fotographien oder Videos, die Gewalttaten oder ihre Folgen zeigen, werden neben rein verbalen Zeugenaussagen oder anderen verbalisierten Dokumenten auch in Straftribunalen genutzt, um sie als Beweise für die den Anklagten zur Last gelegten Verbrechen zu nutzen. Katarina hat weiter oben schon auf ein berühmtes Beispiel aus dem Straftribunal für das frühere Jugoslawien verwiesen. Auch in den Nürnberger Prozessen wurden 1945 visuelle Darstellungen („atrocity films“), die die Alliierten in den Konzentrationslagern gemacht hatten, zur Vorführung im Gerichtssaal gebracht. Welche emotionalen Reaktionen die hochrangigen Angeklagten des NS-Regimes bei der Vorführung zeigten, wurde akribisch beobachtet, nicht nur von internationalen Medienvertretern. Inwieweit die gezeigten Reaktionen authentisch und wie diese zu deuten waren, lässt sich schwer sagen. „In Nürnberg hofften offenbar viele, die Angeklagten könnten beschämt werden, und kamen entweder – überwiegend – zu dem Schluss, dies sei durch Nazi Concentration Camps in der Tat gelungen, oder aber – selten – die Angeklagten seien noch skrupelloser und dickhäutiger als gedacht.“ (Weckel 2014, S. 17)

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Delf Rothe: Ich würde mich David anschließen und denke, wir sollten uns nicht nur in der Wissensvermittlung, sondern auch in der Wissensproduktion noch stärker visueller Methoden bedienen. Ich denke, die Politikwissenschaft könnte hier noch viel von anderen Disziplinen wie der Kulturgeographie lernen, in der Forscher*innen zunehmend mit kreativen und künstlerischen Methoden, wie Photo-Essays, Videoproduktion, Theater, die Entwicklung von Apps, Kunst und Poesie, experimentieren (Hawkins et al. 2015). Frank Gadinger: Ich kann mich auch nur David und Delf anschließen, dass wir uns noch weitaus stärker visueller Methoden bedienen sollten. Ich habe bei Konferenzen auch schon Videopräsentationen eigener Filme gesehen, beispielsweise von Cynthia Weber zu den Occupy Protesten, die mich überzeugten und die gängigen Diskussionen im Raum völlig veränderten. Auch Ausstellungen, die wie in meinem Fall an der Schnittstelle zwischen Kunst und wissenschaftlicher Recherche operieren, verändern sich. Ich könnte mir vorstellen, dass die derzeit noch radikal neue Arbeitsweise von „Forensic Architecture“, die gerade alle begeistert, auch mich, viele Nachahmer finden wird und übliche Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst verändert. In der Lehre verwende ich Bilder weniger zu illustrativen Zwecken, sondern arbeite stärker mit dem Ansatz, dass die eigenständige Analyse von Bildern, Filmen etc. im Vordergrund stehen sollte und diese vor allem als Untersuchungsobjekte zu verstehen sind. Den pädagogischen Ansatz, durch Filme Theorien nahe zu bringen, finde ich etwas ermüdend. Gabi Schlag: Sicherlich verwenden viele von uns Bilder in Präsentationen, illustrativ oder eben auch als eigenständig gestalterisches Element. In Publikationen ist dies ja oft etwas schwieriger, insbesondere wenn es um den Abdruck eines urheberrechtlich geschützten Bildes geht. Relativ wenig Beachtung haben aus meiner Sicht bisher Grafiken, Schaubilder usw. in wissenschaftlichen Publikationen erfahren, d. h. wie Wissenschaftler*innen ihre Theorien, Forschungsdesigns, Ergebnisse visualisieren oder visuelle Daten wie etwa Balken- oder Tortendiagramme als Argumente verwenden. Ich finde es interessant, dass einige Wissenschaftler*innen auch selber Filme und Fotos produzieren und diese als Teil ihrer Forschung verstehen, wie David schon beschrieben hat. Neben der Herausforderung, entsprechende technische und ästhetische Fähigkeiten zu erlernen, sehe ich aber zwei Probleme. Anna hat bereits angesprochen, dass die Beurteilung von Studienleistungen umso schwieriger wird, wenn Student*innen z. B. ein Poster gestalten sollen. Aus Fairness-Gründen benötigt man hier Kriterien und ich denke, dass ist machbar. Bei wissenschaftlichen Publikationen, die einem Peer-Review Verfahren unterliegen, scheint mir das aber

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schwieriger zu sein. Entweder ist die Publikation dann eben doch wieder ein Text, der beschreibt und erklärt – oder eine ästhetische Praxis soll mit Kriterien beurteilt werden, die für wissenschaftliche Texte gemacht sind. Das ergibt für mich wenig Sinn. Die Herausforderung scheint mir dann eher zu sein, neue Formate zu schaffen, die eben nicht rein textbezogen sind wie das uns bekannte Zeitschriften-Geschäft.

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