"Mein Leben zu erleben wie ein Buch": Hermeneutik des Erinnerns bei Hugo von Hofmannsthal 978-3-8260-2494-8

Das kulturelle Gedächtnis stellt eine Bedrohung und Chance zugleich für die Identität und Kreativität des sich im histor

613 29 18MB

German Pages 340 Year 2003

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

"Mein Leben zu erleben wie ein Buch": Hermeneutik des Erinnerns bei Hugo von Hofmannsthal
 978-3-8260-2494-8

Citation preview

Heike Grundmann

„Mein Leben zu erleben wie ein Buch “ Hermeneutik des Erinnerns bei Hugo von Hofmannsthal Königshausen & Neumann

Digitized by the Internet Archive in 2019 with funding from Kahle/Austin Foundation

https://archive.org/details/meinlebenzuerlebOOOOgrun

Grundmann

„Mein Leben zu erleben wie ein Buch“

EPISTEMATA WÜRZBURGER WISSENSCHAFTLICHE SCHRIFTEN Reihe Literaturwissenschaft

Band 447 — 2003

Heike Grundmann

„Mein Leben zu erleben wie ein Buch“ Hermeneutik des Erinnerns bei Hugo von Hofmannsthal

Königshausen & Neumann

G üNs VERS/TY itüBOROllCH, ONTARIO

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs¬ und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT

Für meine Eltern und Laurie

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

D 16

© Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2003 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Umschlag: Hummel / Lang, Würzburg Bindung: Buchbinderei Diehl + Co.GmbH, Wiesbaden Alle Rechte Vorbehalten Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

ISBN 3-8260-2494-X www.koenigshausen-neumann.de www.buchhandel.de

Inhalt

1.

Einleitung: Präsenz und Abwesenheit/Erinnem und Vergessen

7

1.1

Der Ermnerungsdiskurs der Jahrhundertwende

22

1.2

Die Gegenwart der Vergangenheit — Henn Bergson

32

1.3

Phänomenologie der Erinnerung - Edmund Husserl

38

1.4

Erinnerung als Archäologie des Verdrängten - Sigmund Freud

45

2.

The Artist as Critic- Fragmente und Lektüren

51

2.1

Der Geiger vom Traunsee (1889) - Traumvision und Entzifferung

65

2.2

Englischer Stil (1896) - „Augen, die uns Springbrunnen vorlügen“

72

2.3

Der Tor und der Tod (1893) - „Mein Leben zu erleben wie ein Buch“

81

2.4

Das Glück am Weg (1893) — Allegorische Lektüren

92

3.

Der „Zusammenhang von Bild, Wort und Schrift“ — Dichten als Mnemotechnik

3.1

Überindividuelle Erinnerung — Ansprache gehalten am Abend des 10. Mai 1902 im Hause des Grafen Karl Eanckorohski (1902)

3.2

100

116

„In ihm oder nirgends ist Gegenwart“ - Der Dichter und diese Zeit (1906)

125

3.3

Mythos und Metapher - Das Gespräch über Gedichte (1903)

136

3.4

Intertexmelle Beziiglichkeit - Der Tisch mit den Büchern (1905)/ Unterhaltungen über ein neues Buch (1906)

149

4.

„Kunst des Nicht-lesens“-Tanz, Pantomime und Kino

156

4.1

Spurenlesen in Die Wege und die Begegnungen (1907)

171

4.2

Mythische Zeit in Ballett und Pantomime: Der Triumph der Zeit (1900/01)

4.3

4.4

181

„Fortwährende Gegenwart“ - Presence absente in Der Ersatz für die Träume (1921)

198

Unsagbarkeit „an der Grenze des Leibes“ - Furcht (1907)

215

5.

„Eine Art von Reproduktion“ Landschaften als Chronotopoi in den Reiseberichten

5.1

„Fern und nah, dies selige Spiegeln“ - Topographien des Erinnerns in Sommerreise (1903)

5.2

265

„Ein zerspaltenes Gefühl von der Gegenwart“ - Kulturelle Identität und Altentät in den Briefen des Zurückgekehrten (1907)

5.4

242

„Sichhaben und Sichnichthaben“ - Erinnerung schöner Tage (Erstdruck 1908)

5.3

232

278

Von der Lektüre zur Traumvision Mnemotechnik in den Augenblicken in Griechenland (1908-1914)

Literaturverzeichnis

295

320

7 Unser Dasein starrt von Büchern. (RA I 337)

1. Einleitung: Präsenz und Abwesenheit/Erinnern und Vergessen „Erinnerung — Er-innerung, Hmeingehen in sich selber, Commumon mit jener eigenen immer da-bleibenden tiefsten Welt“.1 Mit diesen Worten umschreibt Hofmannsthal die Wiedergewinnung von Vergangenem als introspektives Geschehen: der Prozeß des Ennnerns von (äußeren) Ereignissen läuft über subjekdvierende Verinnerlichung, und zwar im Eingehen in eine Tiefenschicht des Bewußtseins, die in eben diesem Akt der

memoria erst aktiviert und an die Oberfläche gehoben wird. ‘Commumon’ bedeutet dabei nicht nur die Vermittlung von Außen und Innen, sondern zugleich die Verbindung von Unbewußtem oder Vergessenem mit dem gegenwärtigen Zustand des Ich. Die erinnernde ‘Archäologie der Seele’ wird so — wie in Freuds Traumdeutung— zu einem Vorgang, bei dem Vergessenes

wie

Verdrängtes

m

Wechselwirkung

mit

Gegenwärtigem

zu

einem

hermeneutischen Zirkel verbunden wird, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umschließt und in sinnvolle Relation zuemander zu bangen versucht. Zu klären wäre, was Hofmannsthal mit „jener eigenen, immer da-bleibenden tiefsten Welt“ meint: handelt es sich dabei um eine rein individuelle Tiefenschicht persönlicher Erinnerung, um kollektive Ennnerungsspuren archetypischer Natur, oder aber um den gleichfalls ubermdividuellen Horizont emer kulturellen Tradition? Als bedeutsam für Hofmannsthals Auffassung von der Wirkungsweise seiner schöpfenschen Phantasie erscheint die Tatsache, daß ‘Erinnerung’ sich nach seiner Definition keineswegs im rückwärtsgewandten Blick auf die Rumpelkammer toter Relikte emes hermetisch versiegelten Gedächtnisraumes erschöpft, sondern radikal bezogen ist auf die Gewinnung von Gegenwart, emer Gegenwart, die für ihn beständig bedroht ist von überbordender Vergangenheit und verzehrender Zukünftigkeit. Bereits in einem frühen Bnef an seinen Vater stellt der junge Autor die Reflexion des Vergangenen als einen Versuch der ‘Bemächtigung’ von Gegenwart dar: [...] ich habe ein ungeheures Bestreben, mich der Gegenwart zu bemächtigen; nach meiner Anschauung liegt im Ausüben der Künste nichts anders als das Bestreben, sich die Gegenwart zu multiplizieren, dadurch, daß man sich fremdes Leben aneignet und die eigene Gegenwart durch Reflexion ganz auslebt, die Ent¬ schwundenes wieder hervorruft? Für eine übermäßige Beschäftigung mit Vergangenheit, wie sie nicht nur von Nietzsche immer wieder als gefährlich herausgestellt worden ist, mußte Hofmannsthal freilich schon als Gymnasiast als besonders bedrohter Kandidat gelten; hatte er doch schon als Sechzehnjähriger ‘fast alles’ gelesen, was die Weltliteratur ihm bot, und sich in seinen literarischen Anfängen in den 1890er Jahren vor den Gefahren des epigonalen Schreibens

1 So Hofmannsthal im März 1926 an Thomas Mann. Zit. nach Richard Exner: “Gewagtes Unternehmen“ und ‘A’öllige Erhellung“. Zur autobiographischen Prosadichtung Hugo von Hofmannsthals, ln: NZZ 3.2.1974, Nr. 55 (Femausgabe Nr. 33), S. 51. : Brief an den Vater, Sonntag früh, 6. Juli. Zit. nach Hugo von Hofmannsthal: Briefe 1890-1901. Berlin 1935. Im weiteren als B lim Text zitiert, die Briefe Hofmannsthals 1900-1909. Wien 1937 als B II.

Einleitung

8

zu bewahren versucht.3 Die beständige Bedrohung der Gegenwart durch eine übertriebene Beschäftigung mit der Geschichte brauchte ihm nicht erst durch die Lektüre von Nietzsches ‘Histonenschnft’ bewußt gemacht zu werden, wo die Problematik der Schriftstellergeneration am fin de siede jedoch besonders klar auf den Punkt gebracht wird: Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend, niederlassen kann, wer nicht auf einem Punkte, wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu stehen vermag, der wird nie wissen, was Glück ist und noch schlimmer: er wird nie etwas thun, was andere glücklich macht. Denkt euch das äusserste Beispiel, einen Menschen, der die Kraft zu vergessen gar nicht besässe, der verurteilt wäre, überall ein Werden zu sehen: ein Solcher glaubt nicht mehr an sein eigenes S ein, glaubt nicht mehr an sich, sieht alles in bewegte Punkte ausetnanderfliessen und verliert sich in diesem Strome des Werdens: er wird wie der rechte Schüler des Heraklits zuletzt kaum mehr wagen, den Finger zu heben. Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört.4 *

Der Übermacht des angesammelten Wissens auf der einen korrespondieren angesichts neuer technischer Entwicklungen Beschleunigungsszenanen des Alltags auf der anderen Seite; der historistischen Versenkung m die Vergangenheit entspricht eme Auflösung der Gegenwart in Punkte emer immer schon gewesenen und immer schon zukünftigen Zeitreihe. Die Hypertrophie des allgemeinen kulturellen Gedächtnisses läßt die Grenzen zwischen der eigenen Gegenwart und der übermächtig gewordenen Fülle des Vergange¬ nen verschwimmen und untergräbt so die Handlungsfähigkeit und Kreativität des Menschen, der nicht vergessen kann. Dieser negativen Sicht eines alles konservierenden histonstischen Bewußtseins setzt Hofmannsthal jedoch eme eigene, sich von Nietzsche absetzende Bewertung der Funktion von Geschichte entgegen. Bewußtsein von der eigenen Historizität ist nicht, wie noch im frühen, stark von Nietzsche beeinflußten Gedicht Gedankenspuk, der Tod des eigenen Präsenzgefühls, das Ende eigener Kreativität, sondern deren Grundvoraussetzung.’ Mit dem Rückgriff auf eine andere Epoche wird das gegenwärtige Leben nicht notwendig erstickt, sondern die Aneignung fremden und vergangenen Lebens dient der Steigerung der eigenen Existenz, die sich als Summation und ‘Emanation’ von Vergangenem erweist. Weniger als Zeitbürger denn als Teilhaber an emer „planetanschen Kontemporaneität“ (RA II 289)6 fühlt sich Hofmannsthal, der schon 1894 von einer ewigen ,,physische[n] Kontinuität“ (RA III 376) spricht, die die Gegenwart des Ich zwar emerseits zu einem verschwindenden Punkt auf der Zeitlmie werden läßt, sie zum anderen aber immer auch

3 „Von Alfred Kerr bis Anton Kuh äußert sich immer wieder mokante Bewunderung für den ‘Antiquar’ Hofmannsthal, der sein Werk zum ‘Hort für fremde Stile - neben dem eigenen’ machte, oder den ‘Meister der Lektüre-Wiedergabe’: ‘So tief er in seinen Seele hinabtauchte’, schreibt Kuh, ‘er fand nur Stoffe der Weltliteratur. Er war so gründlich von ihr bearbeitet, daß er erst zu sich kam, wenn er sie bearbeitete.’“ Zit. nach Peter Matussek:

Intertextueller Totentanz. Die Reanimation des Gedächtnisraums in

Hofmannsthals Drama Der Tor und der Tod. ln: Hofmannsthal-Jahrbuch 1995. S. 199-231, S. 211. 4 KSA I, S. 250. Hervorhebung von mir. ’ Der einseitigen Betonung der Zweiten unzeitgemäßen Betrachtungin der Forschungsliteratur zu Hofmannsthal hat bereits Meyer-Wendt widersprochen. Zur Rezeption Nietzsches bei Hofmannsthal vgl. H. Jürgen Meyer-Wendt: Der frühe Hofmannsthal und die Gedankenwelt Nietzsches. Heidelberg 1973. 6 Zit. wird nach Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze II. 1914-1924. Aufzeichnungen 1889-1929. Hrsg, von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a.M. 1980. Nachweise künftig tm Text unter der Sigle RA II. Die Sigle RA III steht für Reden und Aufsätze 1925-1929, die Sigle RA I für Reden und Aufsätze 1891-1913.

Präsenz und Abwesenheit/Erinnern und Vergessen

9

die Ganzheit von Vergangenheit (und Zukunft) in sich umschließen läßt. Bevorzugtes Bild für diese Vorstellung ist em längst erloschener Stern, der gleichwohl sein Licht nach unvorstellbarer Verzögerung auf die Erde treffen läßt: Es muß einen Stern geben, auf dem das vor einem Jahr Vergangene Gegenwart ist, auf einem das vor einem Jahrhundert Vergangene, auf einem die Zeit der Kreuzzüge und so fort, alles in einer lückenlosen Kette, so steht dann vor dem Auge der Ewigkeit alles nebeneinander, wie die Blumen in einem Garten. (RA III 262)

In dieser Phantasie wird die histonsche Sukzession von Ereignissen in die Simultaneität der „nebeneinander“ stehenden Blumen in einem Garten übersetzt. Die Folge der Zeiten ist niemals absolut, sondern kann in jenem „Auge der Ewigkeit“, dem allesumfassenden Bewußtsein eines göttlichen Blickes, die Geschehnisse der unterschiedlichsten Epochen in der Gleichzeitigkeit emes Tableaus versammeln. Von ungleich größerem Einfluß auf Hofmannsthal scheint Nietzsche somit da, wo er selbst die Notwendigkeit der Geschichte herausstellt: „Wir brauchen Geschichte, denn die Vergangenheit strömt in hundert Wellen m uns fort,“ sagt er selbst in Menschliches All^umenschliches.7 8 Das heißt für ihn, die „Kulturfärbungen und Strahlenbrechungen“ der letzten Jahrhunderte m der eigenen Gegenwart zu finden: „sie wollen nur entdeckt werden“. Im selben Aphorismus beschreibt er, wie man sein Ego überall hinbegleiten kann, um es als verwandeltes Ego wieder zu entdecken: „So wird die Selbst-Erkenntnis zur All-Erkenntnis in Hinsicht auf alles Vergangene“.9 10 Beschäftigung mit vergangenen kulturellen Zeugnissen wird zum hermeneutischen Instrument, das dazu dient, die eigene Position m der Gegenwart auszuloten. Für Hofmannsthal verläuft diese Aneignung fremden, vergangenen Lebens vornehmlich über die Lektüre von Büchern, daneben spielt jedoch die Beschäftigung mit der bildenden Kunst, mit Bauwerken aus Antike und Renaissance, sowie mit Tanzritualen eine zunehmend größere Rolle — und um diese Versuche einer ‘hermeneutischen’ Verschmelzung des Früheren mit dem Späteren, des Fremden mit dem Eigenen, soll es in dieser Arbeit gehen. „Die Geste unserer Zeit“, schreibt Hofmannsthal, ist „der Mensch mit dem Buch in der Hand“ (RA III 447) und fügt hinzu: „Sie suchen von Buch zu Buch, was der Inhalt kemer ihrer tausend Bücher geben kann“ (RA III 447). Lektüren werden zu Versuchen, Gegenwart als ‘Gewordenes’ aus der Beschäftigung mit dem, was ihr vorausgegangen ist, zu gewinnen; die Hmwendung zur kulturellen Tradition Europas ist interpretatonsches Medium zur Bestimmung des Jetzt-Zustandes. Während der junge Hofmannsthal als genialer Assimilator seme Texte gleichsam ganz aus Zitaten zusammensetzt, prangert er mit dem Chandos-Brief die Fragwüirdigkeit, ja das Versagen emes solchen Verfahrens im Verlust der Worte, die ihm „wie modrige Pilze“ zerfallen (EGB 456),H an, um es durch die Wiederbelebung der poetischen Sprache aus der traumhaften „Bilderflucht einer

7 Vgl. dazu Ulrike Stamm: „Ein Kritiker aus dem Willen der Natur.“ Hugo von Hofmannsthal und das Werk Walter Paters. Würzburg 1997, S. 53: „Der zeitliche Verlauf wird hier von Hofmannsthal in ein räumliches Nebeneinander übersetzt. Die Gesamtheit der Zeit soll also in einer gleichsam kosmologischen Dimension aufbewahrt sein, in der eine Simultaneität alles Vergangenen herrscht.“ 8 KSA I, S. 823, 223. 0 KSA I, S. 824. 10 Zit. wird nach Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke. Erzählungen, erfundene Gespräche und Briefe, Reisen. Hrsg, von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a.M. 1979. Nachweis künftig im Text unter der Sigle EGB. Zu den weiteren Siglen siehe das Literaturverzeichnis.

Einleitung

10

visionären Psyche-Memona“ zu ersetzen." Dichtungstheoretisch bedeutet dies eine noch entschiedenere Verwischung der Grenze zwischen fremdem und eigenem Text, eine den Gesetzen des Traumes (Verdichtung und Verschiebung) analog verfahrende tiefenhermeneutische ‘Traumarbeit’, die den Prätext in die eigene literarische Arbeit so inkorporiert, daß er zum Teil des eigenen Bewußtseins wird. An die Stelle einer imitativ verfahrenden, Vorbilder reproduzierenden Mimesis tritt die zur Eigentlichkeit verfremdende Prozessualität des memonerenden Aktes selbst. Die auf den Schultern emes jeden Autors lastende abendländische Bildungstradition wird durch einen doppelten Akt des Vergessens einerseits, der gleichsam psychoanalytischen Wiedergewinnung dieser ins Unbewußte abgesunkenen Erinnerung andererseits, zu einem Freiraum, in dem sich das eigene kreative Potential zu entfalten vermag. Dieser zweifache Akt des „Erinnerns als Vergessen“ und „Vergessens als Erinnern“ bildet die Grundlage emes Kreativitäts-Modells, das sich von Hofmannsthals frühesten Texten bis hin zum Spätwerk in Modifikationen immer wieder nachweisen läßt. Durch das ATergessen’ des Prätextes befreit sich der Autor von diesem, indem er ihn dem eigenen Unbewußten einverleibt, durch die Ennnerungsarbeit wird dieser fremde Text den eigenen psychischen Bedürfnissen so angepaßt, daß er zum ‘eigenen’ Text wird.12 Schlaf und Traum werden dabei zu Orten der Umwandlung des Fremden in Eigenes, da hier das Bewußtsein mit Unterbewußtem verschmilzt und die Sequenz der Worte durch die assoziative Folge von Bildern ersetzt wird: Eine der beglückendsten Erfahrungen sei für ihn immer, wenn sich ihm im Halbschlaf Bild an Bild, Wort an Wort reihten mit einer zauberhaften Deutlichkeit und Leichtigkeit, von der ein Andrer als ein Dichter garkeinen Begriff haben könne, wie in einer erhöhten Existenz, viel schöner, als es je in einer Dichtung gelingen könne.11

‘Hermeneutik des Erinnerns’ bezeichnet somit diesen Vorgang einer Aneignung des Vorgänger-Textes über dessen umdeutende Reproduktion, die nur möglich ist auf der Basis emes ihr vorausgegangenen Vergessens des Rezipierten. Dabei kommt Hofmannsthals poetologischen Aussagen um 1907 eme herausragende Rolle zu: hier kündigt sich die ‘Wende’ an von einer noch stärker resignativen Position der

" Vgl. Gerhard Neumann: Kulturkonzept und Poetologie. Hugo von Hofmannsthals Text Die Wege und die Begegnungen und die Bremer Presse. In: Hofmannsthal-Blätter 40/1990. S. 30-72. S. 52f. Ebenfalls Gerhard Neumann: Die Wege und die Begegnungen. Hofmannsthals Poetik des Visionären. In: Freiburger Universitätsblätter 30/1991. S. 61-75. S. 65f. l: Präzise faßt Gabriele Brandstetter diesen Mechanismus zusammen: „Zum einen entwirft Hofmannsthal ein

gleichsam

psvcho-analytisches

Modell,

in

dem

das

Wissen,

die

Last der abendländischen

Bildungstradition durch Vergessen abgeworfen und gelöscht wird, so daß an ihrer Stelle in Traum und Phantasma das ins Vergessen abgesunkene Wissen aus einer gewissermaßen unbewußten Erinnerung emporsteigend als das Eigene, Schöpferische sich zu entfalten vermag, wie in dem Text Die Wege und die Begegnungen. Zum anderen entwickelt Hofmannsthal - im Gegensatz zum Traum-Modell des „Erinnerns als Vergessen“ - eine Ästhetik des Schöpferischen, die jenseits des Universums der Bücher angesiedelt ist, den Bannkreis der Wortkunst transzendierend: das Modell des Tanzes, als Kunst aus dem Körper, deren Schöpferisches als das andere. Gegenläufige zur abendländischen Schrifttradition sich darstellt.“ G.B.: Der Traum vom anderen Tanz. Hofmannsthals Ästhetik des Schöpferischen im Dialog „Furcht“. In: Freiburger Universitätsblätter 30/1991, S. 37-58. S. 38. " Zit. nach Werner Volke: Unterwegs mit Hofmannsthal. Berlin - Griechenland - Venedig. Aus HarnGraf Kesslers Tagebüchern und aus Bnefen Kesslers und Hofmannsthals. In: Hofmannsthal-Blätter 35/36,1987, S. 50-104., S. 74

11

Präsenz und Abwesenheit/Erinnern und Vergessen

Frühzeit, die daran verzweifelte, daß alles schon gesagt worden war, hin zu einer Poetik der Re-Lektüren, die durch Überführung des Überlieferten in Traum-Prozesse dies für die eigene Arbeit schöpferisch fruchtbar macht, statt davor zu kapitulieren.14 In dem großen ^ ortrag Der Dichter und diese "Zeit stellt der Autor die Frage, ob ,,in einer Welt der Zitate und uneigentlichen Äußerungen, in einer Welt der Lektüren und Diskurse, die jede Regung präformieren, ehe sie noch geäußert ist, das Schöpfensche - das aus dem Innersten des Subjekts hervortntt - überhaupt noch eine Chance besitzt.“15 Nur selten mit den Mitteln der Ironie oder Parodie versucht Hofmannsthal einer Welt aus Zitaten spielerisch zu begegnen, vielmehr hofft er, auf dem Weg in das Innere der Psyche und in der schöpferischen Restitution vergangener kultureller Muster diese für die Wahrnehmung der eigenen Gegenwart und als Ordnungsstifter für eme sich in Chaos auflösende Welt zu erhalten. Denn eben um die Bewältigung einer sämtliche Gesellschaftsbereiche umfassenden semiotischen Krise scheint es Hofmannsthal mit seinem Modell schöpferischer Kreativität zu gehen, wie seine Rede Vom dichterischen Dasein (1907) bezeugt: Es sitzt unter Ihnen der Beamte, an dem die Unabsehbarkeit unserer Betriebe nichts als den tabellarischen Verstand, nichts als die mechanische Fähigkeit übrig läßt, daß er darüber sich zur Maschine werden fühlt und krank werden möchte über sich selber; es sitzt unter Ihnen der Geschäftsmann, dessen ganze Kräfte dem Wirbel des schrankenlo¬ sen Geldwesens hingegeben, mitwirken, eine inkalkulable Welt auf kalkulable Werte zu reduzieren und würde ihr Kreislauf drüber zum

Hirn-verzehrenden wesenlosen

Larventanz, der Mann der Wissenschaft, dem in einer Welt, in der alle Begriffe sich in unendliche Relativitäten auflösen, sein Hirn zu schwimmen beginnt und der mit gebanntem Blick auf ein armseliges Teilresultat starrt, wie der Seekranke auf die eine Schraube an der Wand seiner Koje, die allein vor seinen schwindelnden Augen nicht zu kreisen scheint; es sitzt unter Ihnen der Journalist, dessen Einbildungskraft zum Bersten überfüllt ist mit den Worten einer überreifen Begriffskultur, von dem die Stunde verlangt, daß er wirke, indes in seinem Inneren jedes sichere Gefühl, auf dem Gesinnung ruhen könnte, aufgelöst ist, aufgelöst gerade in den Klügsten, durch ein unabsehbares Hereinströmen der Vergangenheit, unabsehbares Hereinströmen der inkongruenten ungeheuren Gegenwart selbst das bare Zeitgefühl, aufgelöst, wie die geistigen Welten unheimlich ineinanderstürzen, selbst das Gefühl seines Europäertums [...] (RA I 86)

Diese beeindruckende (und daher ausführlich zitierte) Diagnose einer sich der mensch¬ lichen Fassungskraft zunehmend entziehenden, überkomplex gewordenen Wirklichkeit ist Zeugnis jener oft beschriebenen Zeichen- und Wahrnehmungsknse der Moderne, die in der Wissenschaft zur Aufspaltung in immer mehr Spezialdisziplmen führen sollte, die auf dem Gebiet der Malerei zur Abstraktion oder aber zum impressionistischen, wenn nicht pointilistischen ‘Zerfall’ der Vision führte, die schließlich bei Saussure zur Aufkündigung einer ontologischen Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem führte und die im literarischen Bereich jenen Feuilletonismus zur Folge hatte, der für Hofmanns¬ thal wie für Benjamin Signum einer Zeit war, die unfähig geworden war zu ganzheitlichen

14 Es ist Gerhard Neumann und seinem ‘Schülerkreis’ zu verdanken, daß diese Wende (statt einer um 1902 mit dem Chandos-Bnef anzusetzenden) verstärkt ins Bewußtsein getreten ist. Vgl. dazu die in Anm. 11 und 12 genannten Aufsätze Neumanns und Brandstetters, sowie Matala de Mazzas Arbeit: Dichtung als Schau-Spiel. Zur Poetologie des (ungen Hugo von Hofmannsthal. Frankfurt a.M. u.a. 1994. 15 Gabriele Brandstetter/Gerhard Neumann: Hofmannsthal 1907. Schrift und Lektüre „an der Grenze des Leibes“. In: Freiburger Universitätsblätter: Hugo von Hofmannsthal: Dichtung als Vermittlung der Künste. 112/1991. S. 33-35. S. 33.

Einleitung

12

Entwürfen von Wirklichkeit und sich daher auf Fragmente beschränken mußte. Wie im Fall des Lord Chandos verliert sich das Bewußtsein m ‘Wirbeln’, und als Ursache wird auch hier die ‘Auflösung’ jedes ‘sicheren Gefühls’ angegeben, nämlich der Verlust der Sicherheit der eigenen Position. Das Gegenwarts-Bewußtsein des Ich ‘ertrinkt’ gleichsam im Strom der inkohärenten und inkongruenten Data aus Vergangenheit und Gegenwart, die es nicht mehr zu einer sinnvollen Einheit zu verbinden vermag. Für den Schriftsteller ist diese Zeichenkrise existenzbedrohend, insofern auch die Literatur im Zeitalter der sich jagenden Fülle an Informationen in den Sog einer Flüchtigkeit und ‘Arbitrarisierung’ gerät, dem sie angesichts der immer nur sukzessiven Folge ihres semiotischen Mediums - der Schrift — ohnehin schon in ganz besonderem Maße unterhegt. Im Prozeß der Fixierung von Gedanken in Wort, Bild oder Ton entsteht durch eben diesen Akt der Repräsentation em Bruch zwischen der vorherigen Gegenwart der Anschauung und dem Verlust der unmittelbaren Präsenz in der Bannung in ein stabiles Medium10 - der immer weniger möglichen ‘Lesbarkeit’ der Welt tritt somit die Unmöglichkeit ihrer ‘Schreibbarkeit’ zur Seite. Wenn aber das Buch als eigentlicher Ort Literarischer Äußerung in einer Zeit beschleunigter Bilderfluchten und um sich greifenden Sinnverfalls zu einem inadäquaten Medium wird, so steht auch Hofmannsthal vor der Entscheidung, entweder auf der Moderne eher angemessene Medien zurückzugreifen, oder aber sich konservierend auf das zu beschränken, was die Tradition ihm an Festigkeit bietet. Experimente mit Film und Musiktheater stehen somit der Hinwendung zum Historismus emer ‘Konservativen Revolution’ gegenüber. Auch Hofmannsthal sagt über den Lesenden, daß er die Folge der Zeiten überwinde: und da er sich bewußt ist, die Zeit in sich zu tragen, einer zu sein wie alle, einer für alle, ein Mensch, ein einzelner und ein Symbol zugleich, so dünkt ihm, daß, wo er trinkt, auch das Dürsten der Zeit sich stillen muß. Ja, indem er der Vision sich hingibt und zu glauben vermag an das, was ein Dichter ihn schauen läßt [...], indem er symbolhaft zu erleben vermag die geheimnisvolle Ausgeburt der Zeit, [...] indem er es erlebt, das Gedicht [...]: indem er an solchem innersten Gebilde der Zeit die Beglückung erlebt, sein Ich sich selber gleich zu fühlen und sicher zu schweben im

Sturz des Daseins entschwindet ihm der Begriff der Zeit und Zukunft geht ihm wie Vergangenheit in einzige Gegenwart über. (K\ I 80f, Hervorhebung von mir)

Für Hofmannsthal bedeutet diese ‘Verfügbarkeit’ der Historie letztlich die Relativierung der Gegenwart, die als Kreuzweg von lebendiger Vergangenheit und antizipierter Zukunft den Horizont der Zeitgenossenschaft ms Unbegrenzte öffnet. Zugleich vermag der Leser jedoch als Individuum zum ‘Symbol’ zu werden, insofern m ihm das persönliche Erlebnis der Rezeption von Dichtung zu emer kollektiven, zeitübergreifenden Epiphanie ausgeweitet wird. Die Klage des ‘Toren’ Claudio aus Der Tor und der Tod soll vor diesem Hintergrund einer Umwertung unterzogen werden:

16 Derridas Grammatologie faßt eine Erkenntnis zusammen, die nicht erst die Postmodeme entdecken mußte: „Durch die Bewegung ihres Abweichens begründet die Emanzipation des Zeichens rückwirkend den Wunsch nach der Präsenz.“ Dernda: Grammatologie. Frankfurt a.M. 1983. S. 120. Vgl. Uwe C. Steiner: Die Zeit der Schrift. Die Krise der Schnft und die Vergänglichkeit der Gleichnisse bei Hofmannsthal und Rilke. München 1996. S. 53.

Präsenz und Abwesenheit/Erinnern und Vergessen

13

Mein Leben zu erleben wie ein Buch Das man zur Hälft noch nicht und halb nicht mehr begreift. Und hinter dem der Sinn erst nach Lebendgem schweift — (GD I 284f)

Nicht um die Lebensunfähigkeit eines übersättigten Ästheten und Dilettanten, der Leben nur noch als kunstvolles Arrangement nach Maßgabe vorgeprägter literarischer Muster begreift, sondern um die Frage nach der Yerstehbarkeit der eigenen Existenz geht es hier, um die Schließung des hermeneudschen Zirkels durch die Antizipation des eigenen Todes, der erst die Totalität des Lebens und damit dessen ‘Verständlichkeit’ verbürgt. Der Unverständlichkeitstopos des nur halbverstandenen Buches, dessen Sinn sich erst nach vollständiger Lektüre erschließt, kann in zweifacher Hinsicht verstanden werden: zum einen als Titerarisierung’ von Wirklichkeit, als Erfassung von Welt nach ästhetischen Mustern und Yorprägungen; zum anderen aber drückt sich darin eine grundlegend hermeneutische Einstellung zur Welt aus, die dieser (wider besseres Wissen) eine sinnvolle Struktur unterstellt, die allerdings nur bei einem vollständigen Erfassen einsichtig gemacht werden kann.'

‘Hintergrundmetaphern’ von Schrift, Brief und Buch durchziehen

Hofmannsthals Werk, wobei jedoch die Bewertung dieses Apperzeptionsmodells eine Wandlung durchläuft: Von der Ästhetizismus- und Dilettantismuskritik hin zu einer nicht resignativen, sondern affirmativen Erkenntnis der Unmöglichkeit der Hintergehbarkeit des Gelesenen und einer positiven Sicht der Möglichkeit, eine ‘Ordnung der Dinge’ aus einer hermeneutischen Grundeinstellung zurückzugewinnen, die die Gegenwart von ihrem Gewordensem her begreift. Hans Blumenberg faßt diese Wende wie folgt: Die Abkehr vom sensualistischen Atomismus in der Wahrnehmungstheorie des vongen Jahrhunderts durch Gestaltpsychologie und Phänomenologie hat an die Stelle der assoziativen und dissoziativen Mechanismen eine ganz andersartige Gegebenheitsstruktur

unserer

Wahrnehmung

gesetzt.

Wer

diese

Änderung

beschreiben will, verfällt fast zwangsläufig in die Metaphorik der Sprache und des Lesens. Der Aufbau unserer Erfahrungswelt vollzieht sich in der Sättigung der Inhalte mit Sinnfunktionen, die systematische Verbund- und Verweisungsstrukturen tragen. Durch sie wird das Bewußtsein instand gesetzt, Erscheinungen %u buchstabieren,

um sie als Erfahrungen lesen %u können.'8

Hermeneutik geht auf das, was nicht nur je einen Sinn haben und für alle Zeiten behalten kann, sondern was gerade wegen semer Vieldeutigkeit sämtliche Auslegungen in seine Bedeutung aufnimmt - und insofern für eine sich entziehende Wirklichkeit der angemessene Modus der Bewältigung ist. Sie unterstellt ihrem Gegenstand, sich durch ständig neue Auslegung anzureichern, so daß dieser seine geschichtliche Wirklichkeit geradezu dann hat, neue Lesarten anzunehmen, neue Interpretationen zu tragen. Nur durch die Zeit und m geschichtlichen Horizonten wird realisiert, was niemals als Ursprüngliches’ erfahren werden kann, ja als solches gar nicht existiert.19 Das Buch als

17 Zu dem Komplex der ‘Lesbarkeit’ vgl. vor allem Hans Blumenberg Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a.M. 1981, S. 17: „Dabei erweist sich die immense Schriftkultur der Neuzeit als Problem: Zwischen den Büchern und der Wirklichkeit ist eine alte Feindschaft gesetzt. Das Geschnebene schob sich an die Stelle der Wirklichkeit, in der Funktion, sie als das endgültig Rubnzierte und Gesicherte überflüssig zu machen. Die geschriebene und schließlich gedruckte Tradition ist immer wieder zur Schwächung von Authentizität der Erfahrung geworden.“ 18 Ebenda, S. 19. 19 Vgl. ebenda, S. 21.

Einleitung

14

Metapher einer Schnftkultur eröffnet dabei die Differenz von Gedächtnis und Erinnerung. Ms Inbegriff des fixierten Gedankens fungiert das Buch als Speicher, der dem drohenden Vergessen entgegenwirkt, zugleich aber schwillt mit der Auslagerung des Gedächtnisses der kollektive Speicher an und die akkumulierte Vergangenheit bringt die Endlichkeit des individuellen Erinnerungsvermögens erst recht zur Geltung. Daher rührt die melancholische Befindlichkeit des Ästheten, der sich der Enge seiner Erlebnis¬ gegenwart durch die Fülle vergangenen Seins bewußt wird.2" Die von Hofmannsthal zeitlebens angestrebte „Überwindung der Zeit“21 gewinnt vor diesem Hintergrund einen doppelten Sinn. Nicht nur die Inkorporation und das ^Vergessen’ aller vorangegangenen Texte und kulturellen Zeugnisse muß vom Dichter geleistet werden, der sich nicht in der epigonalen Repetition erschöpfen will; neben diese mtertextuelle Aufgabe tritt das mtratextuelle Bestreben nach Aufhebung der Sukzessivität der Zeichen durch die Simultaneität der Elemente in ihrer Verdichtung im poetischen Bild.22 In den Briefen eines Zurückgekehrten heißt es, daß die „Begriffe [...] über dem wirklichen Ansehen verlorengengangen sind“, daß Wirklichkeit und begriffliche Bezeichnung nicht mehr konvergieren, sondern „ein zerspaltenes Gefühl von der Gegenwart, eine zerstreute Benommenheit, eine innere Unordnung“ im Bewußtsein herrschen (EGB 544). Mit der Schriftlichkeit geht offenbar das Bewußtsein der fundamentalen Inadäquatheit von bezeichnender Repräsentation für die komplexe Fülle der Anschauung einher. Wie jenes totale Bewußtsein die auf den Sternen bewahrten unterschiedlichen Epochen m der Gleichzeitigkeit eines allumfassenden Blickes zu versammeln schien, ist eben dies aber die Aufgabe des Dichters, präsent zu machen, was sich als solches, im Werden begriffenes Sein gar nicht abbilden läßt und deshalb - als immer schon Vergangenes - nur schembar als gegenwärüg re-präsentiert werden kann: Es ist als hätten seine Augen keine Lider. Keinen Gedanken, der sich an ihn drängt, darf er von sich scheuchen, als sei er aus einer anderen Ordnung der Dinge. Denn in seine Ordnung der Dinge muß jedes Ding hineinpassen. In ihm muß und will alles Zusammenkommen. Er ist es, der in sich die Elemente der Zeit verknüpft. In ihm oder

nirgends ist Gegenwart. Aber die Gewebe sind durchsetzt mit noch feineren Fäden, und wenn kein Auge sie wahrnimmt, sein Auge darf sie nie verleugnen. Ihm ist die Gegenwart in einer

unbeschreiblichen Weise durchwoben mit Vergangenheit, in den Poren seines Leibes spürt er das Herübergelebte von vergangenen Tagen, von fernen nie gekannten Vätern und Urvätern, verschwundenen Völkern, abgelebten Zeiten; sein Auge, wenn sonst keines, trifft noch - wie könnte er es wehren? - das lebendige Feuer von Sternen, die längst der eisige Raum hinweggezehrt hat. (RA I 67f, Hervorhebung von mir)

Wie der von Keats beschriebene Chamäleon-Dichter ist auch Hofmannsthals Poet ‘omniperzeptiv’, kann sich keines der auf ihn einströmenden Einflüsse erwehren, ja ist dazu verpflichtet, das Chaos all jener flüchtigen und unzusammenhängenden Sinnesdata kraft seines poetischen Vermögens in die Totalität zu überführen - eine Ganzheit, die auch hier wieder die Zeitekstasen umfaßt, überzeitlich gedacht ist. Dichtung gewinnt somit

Vgl. Steiner: Die Zeit der Schnft. S. 9. 21 Andreas, SW XXX 111. Noch am 29. November 1927 schreibt er an Carl J. Burckhardt: „[...] denn ich habe mich lebenslang mit dem, was man ‘Zeit’ nennt, (in den mehrfachen Bedeutungen des Wortes) herumgeschlagen,

und

möchte

nicht

sterben,

ohne

diesem

Gegner,

der etwas

schlangenartig

Umschlingendes hat, noch mehr ins Gesicht gesehen zu haben.“ BW' Burckhardt, S. 248. ~ Steiner spricht von „der selbstreferentiellen Geschlossenheit aufeinander verweisender Zeichen“. S. 24.

Präsenz und Abwesenheit/Erinnern und Vergessen

15

in einem Zeitalter der Beschleunigung und ,Auflösung der Seele in tausend Einzelnsensationen“ (RA III 379) eine ‘therapeutische’ Funktion, insofern sie der Temporalisierung von Ich und Welt im Kunstwerk zumindest augenblickshaft Einhalt zu gebieten vermag.23 Nur eme vom Dichter geschaffene „Welt der Bezüge“ (RA I 68) überwindet die Sukzession der Zeichen wie der Zeiten und verwandelt eme Welt, „in welcher aber keinem wohl sein kann, als wer die unheimliche Kraft hätte, das ganze Weltbild sich aufzulösen in Beziehungen und mit dem Begnff, daß alles schwebe und schwebend sich trage, hauszuhalten“ (RA I 87). Gegenwart wird mit der zeitübergreifenden Einheit des ‘Ewigen’ in untrennbarer Einheit verbunden gedacht: Es ist der Zustand furchtbarer sinnlicher Gebundenheit, in welchen das neunzehnte Jahrhundert uns hineingeführt, woraus nun dieses Götzenbild „Gegenwart“ hervorsteigt. Nur den ans Sinnliche völlig Hingegebenen, der sich aller Machtmittel des Geistes entäußert hat, bannt das Scheinbild des Augenblicks.

[...] Dem

Denkenden ist, nach Kierkegaards Wort, das Gegenwärtige das Ewige — oder besser: das Ewige ist das Gegenwärtige und dieses ist das Inhaltvolle. (RA III 131 f.)

Eme Erfassung der sinnlichen Gegenwart ist unmöglich: „über den Begnff der Gegenwart smd war jeder Verständigung enthoben“ (RA I 55). Wer versucht, die Gegenwart zu bezeichnen, „erzeugt dadurch die Differenz von bezeichnender und bezeichneter Gegenwart, die, weil sie nicht konvergieren können, Zeit erzeugen.“24 Wirklichkeit kann nicht als gegenwärtig erfaßt werden, sondern nur m der Abwesenheit emes Geisterraumes (‘des Ewigen’) liegen, der nur erahnt werden kann und im Paradoxon der ‘Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen’ als „Medium der Präsenzkonstitution“ fungieren soll.23 Wie aber kann das im Gedächtmsraum der toten Schrift Gespeicherte m emen lebendigen, gegenwärtigen Bewußtseinszusammenhang emgehen? Uwe Steiner antwortet treffend: „Erinnerung und Einbildungskraft heißen die psychischen Funktionen zur Verräumlichung von Zeit.“26 Konstituüon von Präsenz läuft somit über ein Sich-Bewußtwerden der Unhmtergehbarkeit des Vergangenseins

alles Wahrgenommenen,

schnftliche

Re¬

präsentation muß sich dieser ‘Nachträglichkeit’ ihres Mediums bewußt sem, um ‘Gegenwart’ m der Simultaneität verschiedener Zeitstufen aufheben zu können. Darm bezeugt sich die Einsicht in die grundlegende Medialität des Gedächtnisses und die Unmöglichkeit, Erinnerung als unvermittelte Präsentation von Vergangenem zu begreifen: das, was erinnert wird, entsteht erst im Prozeß semer Erinnerung und ist nicht emfach ‘da’, objektiv gegeben:27 Diese Gleichzeidgkeit des Ungleichzeiügen ist dabei literansch gesehen zu realisieren m der epiphamschen Vision, in der Vergangenes im Gegenwärtigen ‘aufschemt’, in emer bewußten mtertextuellen Vernetzung des Früheren mit dem Späteren, oder aber m topographischen Gedächtnisräumen, die durch Übertragung der ‘Schrift’ in andere ‘plastische’ Medien die Differenz zwischen Bild und Bedeutung aufheben. Moderne Ennnerungstheonen konzentneren sich auf diesen ‘schriftlichen’ Aspekt, nämlich die Funktion von Literatur bei der Rezeption und Speicherung von Vergangenem,

23 Vgl. Steiner S. 59. 24 Steiner, S. 250. "3 Ebenda, S. 251. 26 Vgl. ebenda, S. 264f. 27 Zum Komplex der ‘Medialität des Gedächtnisses’ vgl. Pethes, S. 8.

16

Einleitung

speziell der ihr vorausgehenden Literatur. Dichtung ist ‘Palimpsest der Mnemotechnik’-8, insofern Literatur strukturell ein Erinnerungsvermögen besitzt: sie ist nicht nur „das Lesen einer vergangenen Schrift durch eine gegenwärtige hindurch“, sondern spiegelt auch zugleich „die Struktur des Gedächtnisses“ als emes Verweisungsgeflechtes mehrerer Einschreibungen, die sich überlagern, wider. Der Wahrnehmung der Gegenwart liegt (bei Freud wie bei Bergson) die Vergangenheit, wenn auch unverfügbar, als zweiter Code zugrunde, sie stellt eine ‘Doppelcodierung’ im Sinne Michail Bachtins dar, für den jedes Sprachhandeln palimpsestartig ist, insofern jedes Wort alle Kontexte in sich trägt, in denen es schon einmal gebraucht worden ist.29 Julia Kristeva hat bekanntlich den Begriff der Dialogizität bei Bachtin zu einem umfassenden Konzept der Intertextalität ausgearbeitet, demgemäß jeder Text m einem Geflecht von Beeinflussungen durch andere Texte steht: „jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes.“30 Texte sind somit zu denken als Intertexte, nämlich als Orte der Wiederholung von Zitaten oder auch Strukturen, sie können nur aus der Rezeption anderer Texte heraus geschrieben werden: „Das Gedächtms des Textes ist seine Intertextualität.“31 Dabei wird durch die Interaktion von neugeschaffenem Text und Bezugstext ein Spiel der Referenzen eröffnet, das den Vorgängertext gerade nicht identisch speichert, sondern dessen Identität abwandelt und verwischt. Dieses “Vergessen’ ist konsumtiv für jeden Gebrauch von Sprache, da alles Gesagte sich emes Sprachsystems bedienen muß, dessen Elemente durch unendlich vielfache Verwendung bei jeder weiteren Verwendung zum ‘Zitat’ werden. „Die Palimpseststruktur der Literatur ist einerseits ennnerungskonstruktiv, da em Text unabhängig von Autonntentionen vergangene Texte aufbewahrt, anderseits erinnerungsdestruktiv, da sie die Texte auflöst, verstellt und den eben erst geretteten Sinn unlesbar macht.“32 Ein Text bewahrt zudem nicht nur den Kanon einer offiziellen Kultur in sich, sondern auch das Ausgegrenzte und Verdrängte.33 Diese „über Distanz, Souveränität und zugleich usurpierende Gesten sich vollziehende Aneignung des fremden Textes, die diesen verbirgt, verschleiert, mit ihm spielt, durch

Dies ist der Terminus von Patnck H. Hutton: „The Art of Memory Reconceived: From Rhetonc to Psychoanalysis.“ ln: Journal of the History of Ideas XLYIII/1987, S. 371-392, S. 378.

^ Michail Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt a.M. 1990, S. 130. Vgl. hierzu Nicolas Pethes: Mnemographie. Poetiken der Erinnerung und Dekonstruktion nach Walter Benjamin. Tübingen 1999 S. 59. 30 Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, ln: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Bd. III. Frankfurt a.M. 1972. S. 344-375. 31 Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a.M. 1990. S. 35. Lachmann differenziert zwischen ‘affirmativer Partizipation’, ‘widerschreibender’ Tropik und verstellender Transformation. „Ihr Ausgangspunkt ist die Feststellung einer latenten Kontinuität zwischen den Gedächtnisarchitekturen der antiken Mnemotechnik mit ihrem Prinzip der loci et imagines und der Struktur literarischer Texte: ‘So wie der Text in das Gedächtnistheater der Kultur als in einen Außenraum ein tritt, entwirft er dieses Theater noch einmal, indem er die anderen Texte in seinen Innenraum hereinholt.’ [...] In diesem Spannungsfeld, im ‘Raum zwischen den Texten’, entfaltet sich nach Lachmann, der ‘eigentliche Gedächtnisraum der Literatur’ [...].“ Peter Matussek: Intertextueller Totentanz, S. 217. 3: Pethes,. S. 61. 13 Pethes, S. 25. Für Foucault ergibt sich so die Möglichkeit eines Gegendiskurses der Literatur: „Es geht darum, aus der Historie em Gegengedächtnis zu machen und in ihr eine ganz andere Form der Zeit zu entfalten. Die Historie als Parodie und Possenspiel.“ M.F.: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: Ders.: Von der Subversion des Wissens. Frankfurt a.M. 1987. S. 69-90.

Präsenz und Abwesenheit/Erinnern und Vergessen

17

komplizierte Verfahren unkenntlich macht, respektlos umpolt, viele Texte mischt“34, ist Kennzeichen emer nicht mehr mimetisch, sondern intertexmell verfahrenden Literatur. Ein solcher Intertextualitäts-Begnff erweist sich im Kontext von Hofmannsthals frühen Arbeiten als hilfreich, da diese auf jener eingangs beschriebenen Technik eines Vergessens des Vorgängertextes einerseits und dessen reproduktiver Wiedererschaffung andererseits beruhen. Neben dieses Kreativitätsmodell muß jedoch auch die wei¬ tergehende Frage nach der Situierung des schreibenden Subjekts m einer von ihm selbst zu erringenden ‘Gegenwart’ gestellt werden. Geht es Hofmannsthal doch nicht nur um die Umschreibung und Neuschreibung eines Universums von Texten, in die er seinen eigenen Text gleichsam nur ‘hineinverwebt’, sondern um die Gewinnung von Gegenwart, die Erlangung eines Gefühls der eigenen Präsenz, das ein Intertextualitätsmodell allem nicht zu befriedigen vermag, in dem der Autor als eigenständiges Subjekt ausgelöscht wird. Paul Ricoeur hat dieses Problem der Wiederholung narratologisch gewendet und im Moment der Selektion die Gewinnung emer eigenen Identität situiert. Erst im Erzählen werde eine Identität des Handelnden gestiftet, msofern sie selegiere, ordne und die Einzelelemente zu einem sinnvollen Ganzen verbmde. Zeitlichkeit ist die Struktur der Existenz, die sich in Narrativität versprachlicht, wobei Narrativität sich durch die Struktur der Sprache ihrerseits auf Zeitlichkeit bezieht. Im Erzählen wird nur ein Teil aus dem Archiv der Vergangenheit ausgewählt und der Rest ans Vergessen verwiesen. Ricoeurs Begriff emer „narrativen Identität“ hebt darauf ab, daß Identität erst im Erzählen rekonstruierbar ist und somit abhängt von der Ganzheit dieser Geschichte. „Nur die Antizipation des Endes der Geschichte (im Sinne von Heideggers ‘Vorlaufen zum Tode’) wie die Rückkehr an ihre Anfänge garantieren diese Vollständigkeit des narrativen Ich. Identität konstituiert sich ex post, wenn das Ganze eines Lebens m wiederholender Erinnerung erzählend eingeholt wird. Das Verstehen des ‘Ich’ ist gebunden an das Erzählen der Erinnerung.“33 Erinnerung ist ein hermeneuüscher Prozeß, der die überlieferten Daten zu einem in sich

sinnvoll

strukturierten Text versammelt, wobei zwecks

Kontinuierung der

Subjektgeschichte Abweichendes vergessen werden und Vergessenes restituiert werden muß, sei es in teleologischer Selektion oder aber m der Evokation des Verdrängten.36 Erinnerung ist somit nichts, das zum Leben hmzugefügt würde, sondern ist erst eigentlich die Konstitution von Leben und Persönlichkeit. Dabei erweisen sich Derridas Begriffe des ‘gefährlichen’ Supplements und der ‘Iterabilität’ als hilfreich, msofern sie diese Nachträglich¬ keit des Lebens gegenüber der Erinnerung gut beschreiben: „Die erinnernd intendierte vergangene Gegenwart ist, obgleich mit dem Anspruch voller Präsenz auftretend, von emem Mangel gekennzeichnet, der eben im Wesentlichen des Gegenwärtigen beschlossen hegt: zu vergehen. Der ‘Ursprung’, auf den sich Erinnerung bezieht, ist demnach nicht

34 Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Frankfurt a.M. 1990. S. 39. Dazu auch Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt a.M. 1978. 35 Vgl. Pethes, S. 81 f. Vgl. dazu Paul Ricoeur: Narrative Funktion und menschliche Zeiterfahrung. In: Volker Bohn (Hg.): Romantik. Literatur und Philosophie. Frankfurt a.M. 1987. S. 45-79. S. 75: „Die einzige Ausrichtung des Handelns besteht darin, in Erzählungen aufgenommen zu werden, deren Funktion es ist, dem Handelnden eine Identität zu verschaffen, eine Identität die somit zur narrativen

Identität wird.“ 36 Vgl. Pethes, S. 34: .Alfred Adler glaubt, daß ein auf Kontinuität abzielendes Persönüchkeitskonzept gezwungen sei, Erinnerungen teleologisch zu selektieren. Die Herausforderung Freuds liegt dagegen darin. Verdrängtes zu evozieren und in ihm die subjektkonstituierenden Spuren zu lesen.“

Einleitung

18

vollständig. Er bedarf einer Ergänzung, die scheinbar akzidentell, wie im Falle der Erinnerung aber zu sehen sein wird, konstitutiv ist. Weil das Vergangene nur in der medial anderen Form verfügbar ist, beeinflußt diese das ‘authentische’, ‘ursprüngliche’ Erlebnis Das zu erinnernde ‘Ursprungsereignis’ ist nicht T>ei sich’, sondern ein ‘aufgeschobener’ Ursprung (differance) und wird nur m seiner Iterierung erkennbar, die es aber gleichzeitig als einzigartiges Original zerstört, weil vervielfältigt.“3 Was Derrida ausführt, ist bei Kierkegaard bereits vorgedacht: Was sich wiederholt, ist gewesen, sonst könnte es sich nicht wiederholen; aber eben dies, daß es gewesen ist, macht die Wiederholung zu dem Neuen. Wenn die Griechen sagten, daß alles Erkennen ein sich Erinnern ist, so sagten sie: das ganze Dasein, welches da ist, ist da gewesen; wenn man sagt, daß das Leben eine Wiederholung ist, so sagt man: das Dasein, welches da gewesen ist, tritt jetzt ins Dasein.38

Die Iterabilität „schreibt so die Möglichkeit der Wiederholung in das Herz des Ursprünglichen ein; im Herzen des Ursprünglichen ist sie die Inschrift dieser Möglichkeit“39 Das Zurückkommen auf Seinsmöglichkelten verleiht im Gestus des erzählenden Ennnems diesem Sein seine Vollständigkeit, Erzählen bildet die Ordnung der Erinnerung. Dem ursprünglichen Lebensvollzug ist also seine Wiederholbarkeit als Ausrichtung auf Erzählbarkeit bereits eingeschrieben: „Man lebt immer auf die Erzählung des Lebens hin, das sich erst m der erinnernden Wiederholung konstituiert und den Effekt einer beisichseienden Vollständigkeit erzeugt.“40 Hermeneutische Konzepte wie die Heideggers und Ricceurs bilden das Fundament eines jeden Erzählens, denn alle Erinnerung ist schriftlich und textuell, weil sie das Leben narrativ struktunert.41 In ihrem wiederholenden Gestus überschreibt Erinnerung demnach ihr Erinnertes, mcht reine Repräsentation, sondern die Differenz in der Wiederholung markiert den Akt des Erinnerns: „Und das heißt, das Wiederholung niemals Wiederholung des ‘Selben’, sondern stets des Differenten als solchen ist [...j.“42 Archäologie des Vergangenen wird somit zur Selbsterkundung, da Vergangenes wie Gegenwärtiges, Fremdes und Eigenes ein „Irgendwie-Eins-Sein“ bedeutet, das im Tod’ zumindest den Anschem seiner Vollendung, semer Totalität erweckt: Was uns zur Betrachtung des Vergangenen treibt, ist die Ähnlichkeit des Gewesenen mit unserem Leben, welche ein Irgend-wie-Eins-Sein ist. Durch Erfassung dieser Identität können wir uns selbst in die reinste Region, den Tod, versetzen. (K\ III 581)

37 Pethes, S. 73. 38 Soren Kierkegaard: Die Wiederholung. Übs. von Emanuel Hirsch, Düsseldorf 1955, S. 22. Auch Entweder/Oder Bd. II, S. 32, Der Begriff Angst, S. 14. 39 Jacques Derrida: Ellipse, In: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.Nl. 1972, S. 445. 40 Pethes, S. 74. 41 Pethes, S. 74f.: „Genau weil Erinnerung als wesentliche Struktur des Lebens zu sehen ist, wird das Leben zu einem Text’ und schreibt so in sich selbst eine Differenz zu sich ‘selbst’ ein, dergestalt, daß es einzig als erinnertes erzählbar und in dieser einzigen Form je schon von sich differiert ist.“ 42 Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung. München 1992, S. 322. Mnemosyne wird zum Aspekt einer zweiten, differenzierten Wiederholung erklärt. Vgl. S. 356f.

Präsenz und Abwesenheit/Ennnem und Vergessen

19

Dernda propagiert ein Gedächtnis, das sich aller Anmaßungen einer vorgängigen Präsenz enthält, es gibt nur „Spuren einer Vergangenheit, die niemals gegenwärtig gewesen ist“.43 Mit der Vorstellung von einem „Gedächtnis der Gegenwart“ wird Gegenwart durch die Eröffnung der Verpflichtung zu gedenken, in sich gespalten, wird jegliche Gegenwärtigkeit als differiert gelesen. Bei Dernda eröffnet sich Zeitlichkeit durch das Einschreiben der Differenz in die Präsenz selbst; für Hofmannsthal werden Versuche des Erinnerns zu emem infiniten Regreß: „Ich versuchte mich zu erinnern, aber ich erinnerte mich nur an Erinnerungen“ (EGB 618). Jedes gegenwärtige Ereignis referiert auf etwas NichtGegenwärtiges, und diese Taradoxie der Zeit’ als Gleichzeitigkeit von An- und Abwesen¬ heit läßt eme Hermeneutik der Gegenwart notwendig werden, msofern in jedem Zeitpunkt sein Nichtsein schon mitgedacht werden muß:44 „Es gibt keine gegenwärtige Zeit. Es gibt eine von der Zukunft bedrängte Vergangenheit und eine von der Vergangenheit zerrissene Zukunft. Die Gegenwart ist die Zeit des Schreibens; Besessenheit und, zugleich, Beschneidung einer lebenssatten Außer-Zeit.“43 Für den Zusammenhang der Arbeit sollen dabei die Thesen Husserls, Bergsons und Freuds bezüglich der Erinnerung in den Vordergrund gerückt werden.46 Sie zeichnen sich aus durch die für moderne Ennnerungstheonen gar nicht zu überschätzende Aufhebung emes linearen Zeitbegnffs zugunsten von ‘Räumen’ der Erinnerung oder des Gedächt¬ nisses. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stehen ‘nebeneinander’, jede der Zeitphasen scheint in der anderen auf, Simultaneität überlagert die Sukzession. Bergson hat mit ‘simultaneite’ die schlechte Verräumlichung der Zeit gemeint, zugleich aber auch für die ‘duree’ die Idee einer Gleichzeitigkeit verschiedener Zeitebenen bewahrt; für Husserl gibt es Präsenz nur in der Selbstgegenwart des lebendig strömenden Bewußtseins, als Kontinuum von Urimpressionen und ihren retentional und protenüonal sich abschattenden Modifikationen; Freud konstituiert Bewußtsein vor dem Hintergrund der ins Unbewußte verschobenen verdrängten Erlebnisse und Wünsche. Für alle drei Ansätze gilt, daß das Aufeinanderfolgen verschiedener Momente im Bewußtsein nicht lediglich einen Aspekt an den nächsten addiert, sondern die Totalität des Früheren und Späteren verändert-was den Regeln der Hermeneutik entspncht, wo jede neue Interpretation alle früheren (und alle späteren) Interpretationen affiziert. Die Abfolge bedeutet immer qualitative Veränderung der Totalität, die als Kontinuum, nicht als Linie von Zeit-Punkten zu verstehen ist: „Sukzession, aber nicht als Verfließen, sondern als sukzessives Aufbauen einer Qualität innerhalb einer Präsenz, m der zwar Folgen statthaben, aber kein Früher oder Später unterscheidbar ist. Diese Sukzession ist zugleich aufgehoben in einer Simultaneität.“47

43 Derrida: Memoires. Für Paul de Man. Wien 1988, S. 82. 44 Vgl. hierzu Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt a.M. 1983, S. 130. Siehe auch Jacques Dernda: Edmond Jabes und die Frage nach dem Buch. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M. 1972. S. 302-350. Vgl. auch Uwe C. Steiner, S. 47: „Die Gegenwart wird also als Referenz reklamiert, und ruht dabei einer uneinholbaren (aber eben nicht: unvordenklichen) Performanz auf, die sie erst hervorbringt und der sie sich unweigerlich entzieht.“ 45 Jacques Derrida: Edmond Jabes. An der Schwelle zum Buch, S. 221. 44 Während Hofmannsthals Beziehung zu Freud Gegenstand zahlreicher Untersuchungen ist, finden Bezüge zu Husserl und Bergson eher am Rande Erwähnung. Ulrike Stamm geht in einem Exkurs auf die Beziehung Hofmannsthals zu Husserl ein, und Uwe Steiner verweist mehrfach auf Zusammenhänge, die freilich auch mit der starken Abhängigkeit Derridas von Husserl zu tun haben. Manfred Koch verweist mehrfach in Fußnoten auf Ähnlichkeiten zu Bergsons Zeitauffassung und mit Konitzers Studie liegt ein Versuch vor, die Sprachproblematik bei Hofmannsthal mit Husserl und Bergson in Beziehung zu setzen. 47 Friedrich Kümmel: Über den Begriff der Zeit. Tübingen 1962. S. 17.

Einleitung

20

Die Gewinnung von Präsenz, von Gegenwart steht im Zentrum der ästhetischen Bemühungen Hofmannsthals, und der von ihm beschrittene Weg ist die erinnernde Vermitdung des Vergangenen mit dem Gegenwärtigen. Untersucht werden sollen dabei die verschiedenen Annäherungen an dasselbe Problem. Bei einem einleitenden Überblick über Bergsons, Husserls und Freuds Aufhebung des linearen Zeitbegriffs zugunsten eines Kontinuums von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft soll es nicht darum gehen, eine direkte Beeinflussung Hofmannsthals nachzuvollziehen, sondern vielmehr darum, Analogien zwischen zeitgenössischen philosophischen und psychologischen Erklärungs¬ modellen und seinen eigenen literarischen Texten aufzuzeigen. Im zweiten Kapitel werden die Versuche des jungen Hofmannsthal behandelt, in der Inkorporation der literanschen Tradition und m einer ins Extrem getriebenen Intertextualität seiner Texte die PalimpsestStruktur alles Literarischen zugleich zu bestätigen und in traumhafter Verzerrung aufzuheben. Dabei wird sich zeigen, daß in diesen frühen Texten die Differenz zwischen inkorporierter Tradition und eigenem Text unüberbrückbar bleibt und es zu Dissoziationen der Autoridentität kommt. In einem dritten Kapitel werden die großen dichtungstheoretischen Texte Hofimannsthals unter dem Gesichtspunkt eines „Zusammenhang^] von Bild Wort und Schrift“ (RA III 620) untersucht. In ihnen wird paradigmatisch die Frage gestellt, wie denn die Zeitlichkeit psychischer Prozessualität verräumlicht und somit der Auflösung des Subjekts in den Diskontinuitäten der Zeitreihe begegnet werden kann. Hierbei werden nicht nur die bildenden Künste, speziell die Malerei zum Vorbild des Schreibens, sondern auch die genuin ‘dichterischen’ Mittel der Metapher und des Symbols, die Hofmannsthal nach der Chandos-Khse als authentische Verfahrensweisen des poetischen Geistes propagiert. Das Symbol vermag in einem erfüllten Moment die „Landschaften der Seele“ (EGB 509) in ein Bild zu bannen, indem es psychische Prozessualität und das in ihr liegende Vergessen verräumlicht.48 Der Wunsch, ‘reine Gegenwart’ an die Stelle eines überstarken Zeitbewußtseins zu setzen, motiviert Hofmannsthals Bemühungen um Ballett, Pantomime wie auch den Film, und dieser Suche nach einer „Kunst des Nicht-Lesens“ ist das vierte Kapitel gewidmet. Dem Bestreben einerseits, jegliche Sukzessivität von Zeichen und Bedeutung in der Evidenz im Sinnbild aufzuheben, andererseits jedoch der Hingabe an die unabänderliche Abwesenheit von Sinn entspricht die Wahl visueller aber wortloser Medien, die die Präsenz von Bedeutung vergegenwärtigen sollen, zugleich aber auch der Flucht der Bilder und Zeichen unterworfen sind. Im Kino-Aufsatz Der Ersatz für die Träume wird die von Chandos ersehnte „Sprache, in welcher die stummen Dinge [...]“ (EGB 472) sprechen, zu der des Kinos, auf dessen Leinwand in einzelnen Momenten das Symbol als authentische ‘Schreibweise’ im Bild erscheint. Präsenz auf der Kinoleinwand ist jedoch permanente Absenz in der Flucht diskontinuierlicher Bilder, die nur aufgrund der Trägheit des Wahrnehmungsapparates in einer Kontinuität erscheinen. Der ‘dionysischen’ Bilderflucht, in der die Präsenz von Sinn nur m emer Kette von supplementären Bildern erscheint, steht dabei die unmittelbare ‘körperliche’ Präsenz von Sinn im ntuellen Tanz gegenüber, welcher der Dialog Furcht gewidmet ist.

48 Chandos bezeugt die Sehnsucht, in einer hieroglyphischen Zeichenwelt Bild und Bedeutung wieder in unmittelbarer Evidenz miteinander zu vereinigen und dem sinnlich Gegebenen einen Sinn zuzuweisen, wobei Anschauung und Begriff jedoch nur unter Herabsetzung des rationalen Moments, einer „Depotenzierung von Bewußtsein“ konvergieren können. Vgl. dazu Steiner, S. 62.

Präsenz und Abwesenheit/Erinnem und Vergessen

21

Im fünften Kapitel soll anhand der Reiseessays und -erzählungen die Entwicklung von Gedächtnistopographien aufgezeigt werden, die der Wiedergewinnung einer Struktur der Gegenwart, einer Ordnung der Dinge’ dienen. Landschaften und Architekturen werden zu literarisch präforrmerten und durch die Tradition vorgegebenen Rezeptions-Mustern, die dem in die Krise geratenen Subjekt zur Selbstvergewisserung dienen.49 Reisen wird zu einer ‘Mnemotechnik’, die m der Erfahrung des Fremden mit Hilfe emer durch Bilder und Bücher vorgegebenen Tradition das Eigene in semem überzeitlichen transkulturellen Sem erkennt. Sukzessivität der Kulturen wird m der Simultaneität versammelt — was jedoch nur im Bewußtsein der unhintergehbaren ‘Nachträglichkeit’ des eigenen Erlebnisses möglich ist.50 ‘Hermeneutik des Ennnerns’ bedeutet somit einerseits die archäologische Restituierung des vergessenen oder verdrängten Anteils der Subjektgeschichte, zum anderen aber auch die Verraumlichung der übenndividuellen Historie und Kulturtradition in einer präsentischen Totalität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dieser Prozeß geht nicht nur von der Lektüre von Büchern (und anderen Kunstwerken) aus, sondern verwandelt zugleich den Prozeß der Rezeption in den Beginn der eigenen Produktion: Aisthesis wird unmittelbar zur Poiesis, „die künsderische Produktion ist [...] schöpfensche Aneignung und Transformation des Wahrgenommenen nach Maßgabe des Traums.‘o1 Die Sukzessivität der Wahrnehmung geht über das Zwischenstadium des Traumes in die Simultaneität des Kunstschaffens über, bei dem Bewußtes und Unbewußtes, sowie die verschiedenen Ebenen der Zeitreihe zu emer Totalität verschmelzen. Dem Chaos emer fragmentierten Wirklichkeit wird so über emen den Regeln des Traums folgenden Schaffensprozeß eine sinnvolle Struktur auferlegt. Zugleich ist dies ein Prozeß, der im Erinnern em Vergessen praktiziert, Überwindung der Macht der Tradition und Identitäts¬ gewinn durch die Yer-Innerlichung dieser Tradition zugleich bedeutet.32

40 Vgl. Steiner, S. 265: „Anhand von imaginären Räumen und Gebilden kann das temporalisierte System Bewußtsein semem Dauerzerfall ‘entgegenwirken’ und Struktur gewinnen. Räume, Architekturen und Landschaften stellen Formen und Modelle der Verknüpfung, der Synthesis zuvor schon seligierter Elemente bereit, in deren imaginärer Repräsentation psychische Zeit Komplexität aufzubauen vermag. Prousts monumentaler Erinnerungsroman soll wie eine Kathedrale konstruiert sein, und gleich sein Eingangskapitel führt em ums andere Mal die Mnemotechnik der Architekturen und Landschaften vor.“ 50 Vgl. Steiner, S. 266: „Darum wird die Kategorie der Nachträglichkeit die des Augenblicks, in dem die Fülle der Zeit sich versammelt, unterminieren.“ Hofmannsthal selbst faßt diese ‘Überzeitlichkeit’ des eigenen Erlebens wie folgt: „Wie nah! wie weit! - bis man sich soweit bändigt, jenes Gewesene weder im Nahen noch im Weiten, sondern im Beharrenden und Nirgend-hausenden zu fixieren. BW Borchardt, S. 102. 51 Ulrike Stamm: „Ein Kritiker aus dem Willen der Natur“ Hugo von Hofmannsthal und das Werk Walter Paters. Würzburg 1995, S. 384f. 52 Ihre grundlegende Anregung verdankt diese Arbeit Uwe C. Stemers bereits mehrfach zitierter Dissertation, in der erstmals versucht wird, das Problem der Zeit bei Hofmannsthal als ein Problem der ‘Schrift’ zu deuten. Steiners stark Derrida und der Systemtheorie verpflichtete Arbeit zeichnet den Weg Hofmannsthals von der Struktur des Allegorischen hin zu der des Symbolischen nach, die sich mit der hier verfolgten Umwandlung des Sukzessiven in eine räumliche Simultaneität überschneidet. Stark verpflichtet bin ich ferner der von Gerhard Neumann und seinem ‘Schülerkreis’ mehrfach überzeugend vorgetragenen These von einer um 1907 einsetzenden Suche nach einem Ausweg aus der Krise der Zeichen durch die Wahl der Medien des Traums, des Tanzes, sowie der bildenden Kunst. Von der Gründlichkeit der Einzelanalysen hervorzuheben sind dabei die Arbeiten von Ursula Renner, zuletzt: „Die Zauberschrift der Bilder“. Bildende Kunst in Hofmannsthals Texten. Freiburg im Brsg. 2000, sowie die genannten Arbeiten von Gabriele Brandstetter und Ethel Matala de Mazza (Anm. 12,14). Manfred Koch: „Mnemotechnik des Schönen“. Studien zur poetischen Erinnerung in Romantik und Symbolismus.

22

1.1 Der Erinnerungsdiskurs der Jahrhundertwende Der Themenkomplex ‘Erinnerung und Gedächtnis’ hat derzeit Konjunktur und das nicht nur im Bereich der Kulturwissenschaften und der Literaturtheorie, sondern auch in seiner philosophisch-dekonstruktivistischen Komponente.54 Häufig fehlt es dabei jedoch an einer echten Verbindung zwischen diesen theoretischen Ansätzen und ihrer Nutzung für die Interpretation literanscher Texte. Eine Toetik der Erinnerung’ nämlich, verstanden als „Ordnung literarischer Erinnerung m Texten“, ließe sich für zahlreiche Autoren der Jahrhundertwende erarbeiten und steht auch im Falle Hofmannsthals noch aus.” Nicht nur das gegenwärtige, sondern auch das vorherige Fin de Siecle war „geprägt von einer Rückwendung des theoretischen Interesses auf Gedächtnis fragen - Ebbmghaus, Bergson, Freud, Proust, Husserl und [...] Benjamin, um nur einige zu nennen.“56 Das Streben nach Erinnerung am Ende eines Jahrhunderts ist Knsenreaktion, die alternativ zu jener meist in den Vordergrund gestellten Brucherfahrung der Moderne, ihrer Beschreibung als von Fragmentarisierung und Diskontinuität geprägter Diskursformation tntt und den Anspruch stellt, eine nur noch als zernssen erfahrene Konstellation von Ich und Welt durch Reintegration in einen historischen Kontext vermitteln zu können. Dabei lassen sich mediale, metaphorische und rhetorische, aber auch psychoanalytische und physikalisch¬ philosophische Aspekte benennen: Geschichtswissenschaft, Psychologie, Sprachphi¬ losophie, Poetik aber auch Physik versuchen gleichermaßen die Kohärenz von Früherem und Späterem aufzuzeigen, reiner Sukzessivität von ‘Atomen’ emen übergreifenden Sinn beizulegen. Dabei gilt es immer wieder, mit dem Paradox der zu schaffenden Präsenz emes eigentlich Absenten fertig zu werden: Das Vergangene bleibt nicht selbst gegenwärtig,

Tübingen 1988 unternimmt eine Analyse der Ennnerungsthematik, bleibt jedoch vornehmlich bei der Analyse der YamtasMotivik und des Ästhetizismus beim frühen Hofmannsthal stehen. Ulrike Stamms ausgezeichneter Arbeit „Ein Kritiker aus dem Willen der Natur.“ Hugo von Hofmannsthal und das Werk Walter Paters. Würzburg 1997, bietet sehr erhellende Analysen der Zeitauffassung beider Autoren, speziell der Vorstellung von Simultaneität. Sebastian Schmitten Basis, Wahrnehmung und Konsequenz. Zur literarischen Präsenz des Melancholischen in den Schriften von Hugo von Hofmannsthal und Robert Musil. Würzburg 2000 unternimmt eine Analyse der Ennnerungsthematik im Hinblick auf die melancholische Befindlichkeit des Ästheten und gibt wertvolle Einzelanalysen von Der Tor und der Tod sowie einigen Gedichten. 54 Siehe dazu zuletzt DVjs, 72/1998, Sonderheft: Medien des Gedächtnisses. Ferner den Sammelband von Assmann, Aleida/Harth, Dietrich (Hg.):

Mnemosyne.

Formen

und

Funktionen der kulturellen

Erinnerung. Frankfurt a.M. 1991. Ferner Haverkamp, Anselm/Lachmann, Renate (Hg.): Gedächtniskunst. Raum - Bild - Schrift. Studien zur Mnemotechnik. Frankfurt a.M. 1991, sowie Dies.: Memona. Vergessen und Erinnern. München 1993. (Poetik und Hermeneutik Band JCS7). ” David Krells außerordentliche Leistung einer Traditionsgeschichte der Erinnerungsdiskurse als Schriffdiskurse

in

Of Memoq: Reminiscence and Writing läßt sich gerade aufgrund ihres hohen

Abstraktionsgrades kaum sinnvoll für die Textinterpretation verwenden. Jan Assmanns grundlegende Arbeit, Das kulturelle Gedächtnis, ist für die Epoche der Moderne nur bedingt verwendbar, Renate Lachmann konzentriert sich in Gedächtnis und Literatur auf den Kontext der russischen Literatur, was die Übertragbarkeit ihrer Ergebnisse begrenzt. Vgl. Pethes, S. 6. 56 Pethes, S. 6. Pethes erarbeitet eben eine solche ‘Poetik der Erinnerung’ an den ‘literarischen’ Texten Walter Benjamins und seine beeindruckende Dissertation scheint mir der bislang umfassendste und überzeugendste Versuch einer Erforschung des gesamten Umfeldes von ‘Erinnerung’ in bezug auf einen Autor zu sein.

Der Erinnerungsdiskurs der Jahrhundertwende

23

hinterläßt aber eine ‘Spur’, von der aus die Erinnerung ein Vergangenes, das aber mit dem ursprünglichen Vergangenen gerade nicht identisch ist, rekonstruiert.37 Da Erinnerung aber per definitionem niemals Präsenz des Wissens ist, sondern sich immer aus dessen Abwesenheit erst als notwendig erweist, „bedarf sie eines ‘Mittlers’, der als Träger der Informationen zum einen das Aufschubmoment der Repräsentation kennzeichnet, zum andern - analog zur essentialisierenden Metapher - ihre Inhalte modifiziert.“58 Von Aleida und Jan Assmann sind die Aspekte dieser Medialität ausdifferenziert worden: Das Gedächtnis bedürfe emes semiotaschen Mediums, um Erinnerung zu codieren, eines technischen Mediums, um sie zu speichern und emes sozialen Mediums, um deren Verbreitung zu ermöglichen.39 Dabei ist der Übergang von einer oralen zu emer literalen Kulturvermittlung entscheidend, da erst die Schrift eine unendliche und situations¬ unabhängige Speicherung erlaubte, zugleich damit aber auch die Notwendigkeit und Möglichkeit emer hermeneutischen Disziplin hervorrief, da mit der Verschriftlichung ja erst die Veränderung des Tradierten m semen Spuren erfaßbar wurde.60 Durch die Erfindung neuer Medien — zu denken wäre an Photographie, Kinematographie und Grammophon (allesamt von der Metaphorik der Schnft, der graphe geprägt) — verändern sich Gedächt¬ niskonzepte; wie schon m Platons Phaidros bedrohen immer mehr Möglichkeiten der technischen Speicherung durch die Steigerung der Informationsfluten das Gedächtnis derart, daß schließlich „der letzte Rest des Geschichtsbewußtseins verschwinden“ wird, wie Vilem Flusser prophezeit.61 Die Zunahme an Speichermöglichkelten erzeugt rückwirkend eine Zunahme an zu speicherndem Material, das die menschliche Erinnerungsfähigkeit m emem immer höheren Grade zu übersteigen beginnt und so tatsächlich zum immer umfassender werdenden Vergessen führt, da Struktunerungsfähigkeit und Speicherfähigkeit des menschlichen Geistes der Informationsflut nicht mehr gewachsen smd: das Zuviel an (veräußerlichter) Erinnerung muß so m em Vergessen Umschlägen. Die zeitgenössische Erinnerung wird m den hochgradig reflektierten Texten nicht nur der Postmoderne, sondern bereits der Moderne zu emer Metainstanz, die als Erinnerung der Erinnerung auch immer schon „die Tradition ihrer Strukturierung mitennnern“ und damit kritisch reflektieren kann.62 Auf der Basis emes mtertextuell begriffenen Zusammenhangs aller Formationen von Erinnerung

57 Pethes verweist hierbei auf die ‘syllogistasche’ Rückbezüglichkeit auf ein Vergangenes bei Aristoteles, sowie Platons Theorie der Anamnesis, welche am Anfang der abendländischen Erinnerungstheorie steht. Das in der Welt der Ideen durch die Seele vor ihrer Geburt Erblickte kann im Leben wiedererkannt werden. Lernen ist letztlich nur ein Wiederennnem des in der Präexistenz bereits Geschauten. Menon, 81 d. Im Theaitetos wird Wiedererkennen mit der Notwendigkeit einer Selektion aus der Fülle der Wahrnehmungen verbunden; nur wenn der ‘Wachsabdruck’ des vorhandenen Wissens mit dem aktuellen Eindruck kongruiert, stellt sich Erinnerung ein. Theaitetos, 191 e-d. Im Phaidros werden Erinnerungen als „Ypotipogevon; ev vgu%f|“, eingeschrieben in die Seele, bezeichnet. Phaidros, 278a. Vgl. Pethes, S. 35f. ’8 Pethes, S. 43. ‘ 59 A. und J. Assmann: Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis. In: Funkkolleg Medien und Kommunikation. Studieneinheit 11. Studienbuch 5. Weinheim 1990. S. 41-82. 60 A. und J. Assmann, S. 277ff. 61 Vilem Flusser: Die Schrift. Frankfurt a.M. 1992. S. 100-104. Vgl. Pethes, S. 44f: „Die automatisierte Mnemotechnik der Film- und Tonspeicherung tilgt durch die gleichförmige Informationsübermittlung die Differenz des Vergessens und erzeugt dadurch ein anderes Vergessen: nicht länger als Evokation von Erinnerungen, sondern als Unmöglichkeit der Strukturierung der Flut von Informationen.“ 6: Pethes, S. 9. Pethes spricht von der „Konzeption eines mtertextuellen Gedächtnisses“, das es erlaube, Erinnerungen „auch unabhängig von erinnernden Subjekten zu verorten“.

24

Kapitel 1.1

wird der Prozeß des Erinnerns zu einer „Wiederholung von Texten“, wobei Iteration hier im Sinne Derridas immer auch Dissemination, also eine „Dispersion des einheitlichen Textsinns“ bedeutet.63 Rückbezüglichkeit auf einen Vorgängertext ist somit immer von der Doppelbewegung des Erinnerns als Vergessen geprägt, im Akt der Memoria wird die Referenz selbst verwandelt, ja teilweise sogar destruiert. Die Absage an die Möglichkeit selbstidentischer Referenz auf der einen, das Bedürfnis nach kontinuitätsstiftendem Erinnern auf der anderen Seite, bestimmen die Suche nach einer Überwindung des arbiträren, nur mimetischen Zeichencharakters der Schrift durch Formen von un¬ mittelbaren, körperlichen, mit sich selbst identischen Zeichen einer nicht schnftkonditionierten Sprache. Verstehen wir das Gedächtnis als Archiv, das durch ein gewähltes Medium (Schnft, Bild) hindurch die Aktivierung des Wissens in der Erinnerung ermöglicht, so wird der erinnernde Entwurf eines Vergangenen dabei zum Text, der als in dieses Archiv Versinkendes selbst wieder emer erinnernden Reproduktion unterworfen ist. So bleibt Erinnerung stets an ihr Gegenteil, das kontinuitätsbedrohende Vergessen, gebunden, sei es im Kontext eines Kollektivs, das sich seiner überzeitlichen Identität durch die Wiederholung von Ritualen immer neu versichern muß, oder aber eines Individuums, das die eigene Vergangenheit durch die Konstruktion einer zusammenhängenden Autobiogra¬ phie zu bewahren sucht.64 Stets muß im Akt des Erinnerns, die Differenz des Erinnerten von dem ursprünglich im Archiv des Gedächtnisses gelagerten vergangenen Moment berücksichtigt werden.63 Aus diesem Grund ist „Erinnerung erst auf dem Grunde des Vergessens“ möglich.66 Wäre es dem Menschen möglich, über jenes eingangs geschilderte, alle histonschen Epochen umfassende, Bewußtsein zu verfügen, wäre Erinnerung nicht notwendig, da alles immer gleichzeitig präsent bliebe. Da jedoch der menschliche Geist der Zeitlichkeit unterworfen ist, ohne über einen derart umfassenden Gedächtmsspeicher zu verfügen, verwandelt sich ihm in jedem Moment die Präsenz der Gegenwart m Absenz, eine Abwesenheit, die nur über Erinnerung wieder m die Gegenwart zurückgeholt werden kann, wobei dieses Zurückholen immer vom Vergessen bedroht, ja geprägt bleibt. Dabei gerät der Erinnerungsbegriff in der Moderne zunehmend in Opposition zu einem mimetischen Modell, das auf der vorgeblichen Identität von Vorbild und Abbild beruhte. Wenn Baudelaire im Salon 1846 schreibt, die Kunst sei eine „Mnemotechnik des Schönen“, so bedeutet dies gerade nicht, daß sie eine onginalgetreue Kopie der Natur zu geben habe: „Ich habe schon bemerkt, daß die Erinnerung das große Kriterium der Kunst ist; die Kunst ist eine Mnemotechnik des Schönen: und die exakte Nachahmung beeinträchtigt die Erinnerung.“67 Zum emen bedeutet dies die Absage an eine Überzeitlich¬ keit des Kunstwerkes, eine Ästhetik des Transitorischen’, zum anderen aber die Integration eines prozessualen Moments in den künstlerischen Akt der Fixierung.68 Während Mimesis

63 Pethes, S. 10. 64 Jan Assmann beschreibt das ‘kollektive’ und ‘kulturelle’ Gedächtnis als semiotischen Bezugsrahmen einer Gemeinschaft. In: J.A.: Das kulturelle Gedächtnis. S. 34ff. 65 Vgl. Krell: Of Memory.- Rtminiscenct and Writing. S. 14f.: „Ein in der Gegenwart Abwesendes soll als Vergangenes zum mental Anwesenden gemacht werden.“ 66 Heidegger: Sein und Zeit. S. 339. 67 Baudelaire: Der Salon 1846. Dt. in ders.: Sämtliche Werke/Bnefe. München/Wien 1977. Bd. I, S. 193283. S. 238. In Lepeintn de la me moderne von 1863 überschreibt er ein Kapitel L'art mnemonique. Vgl. Pethes S. 24. 68 Vgl. Pethes, S. 24.

Der Erinnerungsdiskurs der Jahrhundertwende

25

nur einen Punkt in der Entwicklung dessen, was sie abzubilden sich vornahm, festhalten konnte, wird Ennnerungskunst hier zu einem dynamischen, sich in lebendige Beziehung zum Abgebildeten versetzenden Prinzip. Dies verbildlicht Baudelaire an der Geste des Schreibens selbst: „zum anderen ein Feuer, eine Trunkenheit des Stiftes, des Pinsels, die fast einer Raserei gleichkommen. Das ist die Angst, nicht rasch genug zu sein, das Phantom entwischen zu lassen, bevor das Wesentliche herausgeholt und ergnffen wurde 69 Die Intensität des Schreibaktes selbst tntt an die Stelle der Extensität einer umfassenden Beschreibung, welche hier angesichts der Transitonk aller Erscheinungen ad absurdum geführt wird: „Durch diese Opposition präfigunert das Szenano den elan «WBergsons: Im überschießenden Schwung der Bewegung ist ‘das Wesentliche’ ganzheitlich und nicht mehr m seme Details dividierbar aufgehoben.“70 Nur augenblickshaft ist die Vergegenwärtigung des Vergessenen möglich und bleibt stets an die eigene Transitonk angebunden. Erinnerung ist nur möglich durch die Abweichung von dem, was erinnert wird, erinnert wird deshalb immer im Bewußtsein des halb-fiktiven Charakters des Erinnerten. Bei Marcel Proust schließlich wird dieses Baudeiairesche Modell eines nur transitonsch zu denkenden Gedächtnisses zur Basis der Entwicklung seines monumentalen Werkes aus den Momenten der memoire involontaire. Proust stellt das Scheitern einer forcierten, bewußten Erinnerung dem Gelingen der unwillkürlichen, unbewußten Erinnerung gegenüber, em Konzept, das sich als Analogie zu Baudelaires Differenzierung zwischen Mimesis und Memona betrachten ließe. 1 Der berühmte Erzähleinsatz dieses Werkes schlägt dabei mit der Beschreibung des Aufsteigens der Vergangenheit, hervorgerufen durch Assoziationen mit Tee und Madeleine, das Grundthema an, um dann im letzten Band den gescheiterten Schnftsteller durch eben eine solche „Kettenreaktion unwillkürlicher Erinnerungen“ recht eigentlich zum Schriftsteller werden zu lassen.72 Dabei verfällt diese Kette von Erinnerungen jedoch der Dissoziation, läßt sich nicht mehr zu einer Totalität synthetisieren: „Nicht allein Albertine war eme Aufeinanderfolge von Augenblicken, sondern auch ich selbst. [...] Ich war nicht em einziger Mensch, eine ganze Schar vielmehr, eme Armee, die aus vielen Wesen bestand [...].73 Das Proustsche Ennnerungskonzept ist somit das genaue Gegenteil eines Versuches der Vermitdung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; jedes Moment der Erinnerung bleibt für sich allem, und die Identität des Individuums wird in eine Masse unverbundener, ja ‘mona-

69 Baudelaire: Der Maler des modernen Lebens. Dt. in ders.: Sämtliche Werke/Briefe, München/Wien 1977. Bd. V. S. 213-258. S. 230f. Vgl. auch Hans-Jost Frey: Über die Erinnerung bei Baudelaire. In: Symposion 33/1979, S. 312-330. S. 317: „Die Bewegung des Stifts eilt auf das Ganze zu, das im Gedächtnis als Fehlendes erinnert wird.“ Lothar Müller hebt das moderne Konzept des Aktuellen hervor, Baudelaires Gegenwart sei „Zeit der Flüchtigkeit und des Vorübergehenden, ist beschleunigte Zeit, die im immer schnelleren Veralten des Vergangenen und in der gestiegenen Produktion immer neuer Gegenwarten das Element des Transitorischen privilegiert. So ist die flüchtige Gegenwart, der Baudelaire ästhetische Produknvität zuschreibt, nicht nur der immer schmale Grat zwischen Vergangenheit und Zukunft, sondern Gegenwart im modernen Sinn des ‘Aktuellen’.“ L.M.: Impressionistische Kultur. Zur Ästhetik von Moderne und Großstadt um 1900. In: Thomas Steinfeld/Heidrun Suhr (Hg.): In der großen Stadt. Die Metropole als kulturtheoretische Kategorie. Frankfurt a.M. 1990. S. 41-70. S. 43. 70 Pethes, S. 25. 71 Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd. 1, S. 62, 68. Bd. VII, S. 264. Vgl. auch Hans-Robert Jauss: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts A La Recherche du tempsperdu. Ein Beitrag zur Theorie des Romans. Heidelberg, 2. Auflage 1970. Siehe auch Pethes, S. 27. 72 Ebenda, Bd. VII, S. 302. 73 Ebenda, Bd. VI, S. 103. Erst in Die medergefundene Zeit (Bd. VII) wird ansatzweise versucht, Vergangenheit und Gegenwart zu synthetisieren. S. 265f.

Kapitel 1.1

26

discher’ EinzelaugenbHcke zersetzt. „Worin besteht die Einheit von A la recherche du temps perdu“ fragt Gilles Deleuze demgemäß und antwortet: „Zumindest wissen wir, worm sie nicht besteht. Nicht im Gedächtnis, nicht m der Erinnerung, und sei es die unwillkürliche.“74 Auch schon im „Antt-Oedipe“ kritisieren Deleuze/Guattan Versuche einer Fixierung des Lebensstromes durch dessen Rückbindung an eigene Kmdheitsennnerungen und stellen dem ein schöpferisches Ennnerungskonzept gegenüber, das auf der völligen Auflösung des Erinnerten in Kunst beruht: „sich wiederennnern ist schaffen“.'1 In der Kette der memoires involontaires wird jedem Moment der Erinnerung monadisch das jeweils entsprechende Ich zugeordnet. So wirkt Erinnerung nicht mehr länger subjektversichernd, sondern dividiert das In-dividuum durch die Anzahl der erinnerten Augenblicke — eben dadurch öffnet es sich jedoch auf emen Schreibprozeß hm. Wie schon bei Nietzsche hat Erinnerung nur da eine produktive Funktion, wo sie völlig zukunftsgenchtet ist auf die Schaffung emes Kunstwerkes hm: „In solchen Wirkungen ist der Historie die Kunst entgegengesetzt: und nur wenn die Historie es erträgt, zum

Kunstwerk umgebildet, also remes Kunstgebilde zu werden, kann sie vielleicht Instmcte erhalten und sogar wecken.“76 * * * * Auch m Prousts Roman wird der Ennnerungsproze schließlich m emen Schreibprozeß münden, Leben und Schreiben, bzw. Lesen, werden austauschbar, da sie emen Akt der Hermeneutik darstellen: Was das aus unbekannten Zeichen [...] bestehende Buch in meinem Innern betraf, dieses Buch, bei dessen Lektüre niemand mir mit irgendeiner Regel beispringen konnte, so stellte eben dieses Lesen in ihm einen Schöpfungsakt dar [...]. Das wahre Leben [...] ist die Literatur.

Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Wahrung des prozessualen Charakters der Phänomene; das Schreiben der Erinnerung wird im Moment semes Werdens m die Niederschrift übertragen, anstelle mimetischer Repräsentation emes fixen Momentes m emer Reihe von Wahrnehmungen wird versucht, die Geste des Aufschreibens selbst m ihrem Schwung des zukunftsgenchteten Werdens zu fassen. 8 Mnemomsche Tradition existiert nur mehr im transitonschen Augenblick und eben nicht mehr im Modus statischer Dauer. Das notwendig immer nur nachzeitige Erfassen dessen, was medergeschrieben werden soll, wird dabei zu emem Moment der Produktivität selbst, msofern sich diese vorwärts auf etwas sich Entziehendes ausrichtet. 9 Dabei ist der Text nicht mehr nur Aufbewahrungsort des Vergangenen, sondern definiert selbst Erinnerung immer wieder neu, konstituiert jene kulturellen Codes, die Wahrnehmung organisieren und wirkt so zurück auf die Grundbedingungen emes jeden Ennnerns.80 Nicolas Pethes faßt diese

74 Gilles Deleuze: Proust und die Zeichen. Berlin 1993. Einleitung und S. 89 und S. 92: „So ist es bei Proust immer, und seine gänzlich neue oder moderne Konzeption der Erinnerung besteht dann: eine beteroklite Assoyationskette wird nur durch eine schöpferische Perspektive vereinheit/icht. die selbst die Rolle eines heterokliten Teils im Gesamten spielt.“ lr' Deleuze: Proust und die Zeichen. S. 89. 76 Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Histone für den Menschen. (Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück). KSA, S. 292. '7 Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd. VII, S. 274f, 297. 78 Vgl. Pethes, S. 29. 7 Vgl- dazu Deleuze’ Verbindung von Mnemosyne und Eros in: Differenz und Wiederholung, S. 80f, 137. 8" Foucaults

Begnff der ‘Ordnung’

bezeichnet genau diese |eder Wahrnehmung vorgeordnete

Diskursformation, die die Voraussetzung für eine jede Korrelation von Worten und Dingen darstellt. M.F.: Die Ordnung der Dinge. S. 22-24. Pethes, S. 30.

Der Ennnerungsdiskurs der Jahrhundertwende

27

Zusammenhänge zwischen Löschen und Bewahren, Erinnern und Vergessen pointiert zusammen: Gedächtnis und Ennnerung sind, da sie als Repräsentation in Differenz fungieren, selbst nicht als sie selbst repräsentierbar, sondern kontaminiert vom Vergessen. Anstelle dieser direkten Repräsentation eröffnet sich die Metaphorologie des Gedächtnisses (Archiv, Magazin, Bibliothek) wie der Ennnerung (Wachstafel, Buch und ganz allgemein: Schnft). Wenn die derart metaphorisierten Gegenstände sich aber als sie selbst entziehen, dann sind einzig ihre Bilder wahrnehmungskonstitutiv: räumliche An-Ordnungen und schriftliche Einprägungen sind vorstellungsbildend für jedwede Kontinuitätsstiftung.8'

‘Schrift’ wird somit zur zentralen Metapher emer immer nur metaphorisch möglichen Repräsentation von Ennnerung, die sich aus dem unaufhebbaren Widerspruch von sich entziehender Vergangenheit und dem Bedürfnis nach Fixation konsütutiert. ‘Hermeneutik des Ennnems’ bedeutet somit zum emen die nur in ihrer Textualisierung - „räumliche Anordnungen und schnftliche Einprägungen“ — lesbar werdende Ennnerung, zum anderen aber die mtertextuelle Synthesis emer ganzen Tradition: „Teilen Ennnerung und Schrift bestimmte ‘textuelle’ Strukturen, so wird das Lesen emes solchen Textes im gelingenden Szenano der Ennnerung zur Hermeneutik im doppelten Sinne. Nicht nur schemt Ennnerung im Text als sie selbst aufbewahrt und lesbar, metahermeneutisch ist der Text in eben dieser Funktion Organ der von Gadamer postulierten Schließung des Traditions¬ zusammenhangs. Ennnerung ist als kultureller Prozeß ein hermeneutischer, der die überlieferten Daten zu einem Text versammelt.“82 Nicht nur gilt es, die Fragmente von Geschichte und Literaturgeschichte zu einem kohärenten Text’ zu versammeln, Hermeneutik bedeutet zudem auf die Subjektgeschichte bezogen die Synthesis und Selektion zugunsten emes nicht mehr dissoziativen, sondern kontinuierlichen Bildes des Individuums. Während Alfred Adler jedoch eme Vereinheitli¬ chung des Persönlichkeitskonzeptes m der teleologischen Selektion der Erinnerungen sucht, geht Freud den entgegengesetzen Weg emer archäologischen Rückgewinnung des Verdrängten und einer Konstitution des Individuums aus den Spuren dessen, was von der bewußten Selbstdefmition gerade abweicht.83 Ennnerung wird somit auf der Ebene des Textes zum emen zur bewußten Inszenierung aus dem Willen emer Kontmuitätsgewinnung heraus, zum anderen zu emer memoria, die sich dem Text selbst emschreibt und vergessene oder verdrängte Elemente an die Oberfläche trägt. Dissoziation von Ich und Welt und Kontinuität von Identität nur als rem matenelles Fortbestehen von Atomen, die sich zu immer neuen Konstellationen verdichten, stellen die Grundgedanken der m Nachfolge von Franz Brentano entwickelten Machschen Psychophysik dar. Für die frühe Beeinflussung Hofmannsthals durch Mach sprechen zahlreiche seiner im Nachlaß überlieferten Notizen: Wir haben kein Bewußtsein über den Augenblick hinaus, weil jede unsrer Seelen nur einen Augenblick lebt. Das Gedächtnis gehört nur dem Körper: er reproduziert

81 Pethes, S. 32. David Krell fragt „whether wnting ist a metaphor for memory or memory a metaphor for writing“. Krell: Of Memory, Reminiscence and Writing. S. 4. 83 Pethes, S. 33. 83 Pethes, S. 34. „Nur in der Vermittlung semantischer Kontinuitäten durch die Zeit - für das Subjekt, für die Interaktion zwischen Sub)ekten und für Texte - ist der philosophische Diskurs und seine Tradition überhaupt denkbar. Und doch hat das Denken als Erinnerung seine Basis vergessen.“

Kapitel 1.1

28

scheinbar das Vergangene, d.h. er erzeugt ein ähnliches Neues in der Stimmung: Mein Ich von gestern geht mich so wenig an wie das Ich Napoleons oder Goethes. (Aufzeichnung von 1890, RA III 333)

Identität wird zu einer nur imaginierten Einheit, derer man sich durch die fortwährende Existenz (das ‘Gedächtnis’) des eigenen Körpers versichert; das Bewußtsein hingegen offenbart sich nur als Addition von Augenblicks-Monaden, ohne Kohärenz von einem Entwicklungsmoment zum nächsten. Dieser Gedanke einer Auflösung des Ich in „Einzel¬ sensationen“ bezeugt Hofmannsthals Affinität zur gedanklichen Strömung des “Empiriokriti¬ zismus’ in Form der Philosophie Ernst Machs, die bekanntlich von Hermann Bahr populär gemacht wurde unter dem Stichwort „das Ich ist unrettbar“.w Vornehmlich drei Aspekte seines Hauptwerkes, der Beitrage yur Analyse der Empfindungen (1886) sind für Hofmannsthal von Bedeutung und tragen zum besserem Verständnis speziell seiner Auffassung von Erinnerung als Moment der Konsumtion von Identität bei. Grundlegend, da von weitreichender Wirkung auf die Literatur des Jungen Wien (besonders auf Musil, der über Mach promoviert wurde, aber auch auf Schnitzler, BeerHofmann und Andnan) ist die von Bahr betonte Erklärung des Subjektbegnffs zu emer

Illusion von Ganzheit: „Es ist nur em Name. Es ist nur eine Illusion. Es ist nur em Behelf, den wir praktisch brauchen, um unsere Vorstellungen zu ordnen.“ Das Schlagwort vom ‘unrettbaren Ich’ faßt in der Tat Machs grundlegende Überzeugung zusammen, daß das Ich lediglich eine „ideelle, denkökonomische, keine reelle Einheit“ darstelle.83 Für Mach besteht kein Unterschied zwischen Ich und Welt, da er alles Existierende nur als ‘Körper’ von unterschiedlich starker Kohäsion untereinander auffaßt, deren Konturen beweglich sind und die sich ständig wandeln und neue Verbindungen emgehen: „Das Ich ist so wenig absolut beständig als die Körper. Was wir am Tode so sehr fürchten, die Vernichtung der Beständigkeit, das tritt im Leben schon in reichlichem Maße ein.“86 .Alles, was existiert, ist nichts als „verschiedene Zusammenhänge der Elemente“87, die sich beständig zu neuen Konstellationen anordnen. Statt eines m sich beständigen Ichs, das verschiedene Eigenschaften oder Empfindungen annehmen kann, ist es für Mach nichts als diese Elemente in wandelnder Anordnung.88 Das Ich ist nichts als die Summe der emander ablösenden Sensationen des Körpers, und besitzt von daher keine geistige oder sonstwie metaphysische Einheit: „Es gibt keine Kluft zwischen Psychischem und Physischem, kein

Drinnen und Draußen, keine Empfindung, der ein äußeres von ihr verschiedenes Ding

84 Obwohl eine direkte Beeinflussung durch Mach erst mit dem Jahre 1897 angesetzt werden kann, als Hofmannsthal dessen Vorlesungen besuchte, ist die Kenntnis von dessen Grundthesen auch zuvor mit großer Sicherheit anzunehmen, zumal nicht lediglich von einer einseitigen Beeinflussung der Jung-Wiener durch Mach die Rede sein kann, sondern vielmehr von einem Wiederfinden des selbst schon Gedachten, ja ‘in der Luft’ Liegenden in den von ihm formulierten Thesen. Hermann Bahr: Dialog vom Tragischen. Berlin 1904. S. 79-101 über „Das unrettbare Ich“. Zitiert nach Gotthart Wunberg: Die Wiener Moderne. Literatur; Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Stuttgart 1981. S.147f. Dazu auch G.W.: Der frühe Hofmannsthal. Schizophrenie als dichterische Struktur. Stuttgart 1965. 85 Emst Mach: Beiträge zur Analyse der Empfindungen. Jena 1886. S. 18. 86 Mach zit. nach Wunberg, S. 138. 87 Ebenda, S. 139. 88 „Nicht das Ich ist das Primäre, sondern die Elemente (Empfindungen). [...] Die Elemente bilden das Ich. [...] Das Ich ist kerne unveränderliche, bestimmte scharf begrenzte Einheit.“Mach, S. 141, sowie „Nicht die Körper erzeugen Empfindungen, sondern Elementenkomplexe (Empfindungs-komplexe) bilden die Körper.“ Ebenda, S. 145.

Der Erinnerungsdiskurs der Jahrhundertwende

29

entspräche. Es gibt nur einerlei Elemente“.8° Da Geistiges und Körperliches im Begriff des ‘Empfindungskomplexes’ identisch werden, reduziert Mach zugleich die Differenz zwischen Schern und Wirklichkeit, Lüge und Wahrheit auf Null: „Es hat nur einen praktischen, aber keinen wissenschaftlichen Sinn, in diesen Fällen von Schein zu sprechen. Ebenso hat die oft gestellte Frage, ob die Welt wirklich ist, oder ob wir sie bloß träumen, gar keinen wissenschaftlichen Sinn. Auch der wüsteste Traum ist eine Tatsache, so gut wie jede andere.Sehern und Wirklichkeit fallen zusammen, wenn es keme platonischen Ideen und kein Kantisches Ding an sich mehr gibt, sondern nur noch subjektive Impressionen von Dingen - eine Erkenntnis, die Hofmannsthal selbst im Schlußvers des dritten Teils semer Jeronen zum Ausdruck zu bringen schemt: „Und drei sind Ems: ein Mensch, ein Ding, ein Traum“ (GLD 18). „.Agnostizismus, Skeptizismus und Relativismus sind letzte Konsequenzen des positivistischen Subjektivismus.“91 In einer Welt aus beweglichen Elementen, die sich beständig in neuen Konstellationen anordnen, ist objektive Wahrheit wie subjektive Identität somit eine Illusion, letztere schemt für Mach nur noch möglich durch die Kontinuität der Veränderungen und Konstellationen: Wichtig ist nur die Kontinuität. [...] Die Kontinuität ist aber nur ein Mittel, den Inhalt des Ich vorzubereiten und zu sichern. Dieser Inhalt und nicht das Ich ist die Hauptsache. Dieser ist aber nicht auf das Individuum beschränkt. Bis auf geringfügige wertlose persönliche Erinnerungen bleibt er auch nach dem Tode des Individuums in andern erhalten. (141)

Lediglich die Kontinuität des Wandels versichert einen gewissen Zusammenhalt der Bewußtseinselemente des Ich, wobei die Unterschiede zwischen Ich und Nicht-Ich nur graduell, nur m der Festigkeit des Zusammenhaltes bestehen. Vor diesem Hintergrund wird die Angst der frühen Dichtungen Hofmannsthals vor Zeit und Vergänglichkeit in ihrer nicht nur existentiellen, sondern auch epistemologischen Tendenz verständlich. Em Ich, das als nichts als ein nur geringfügig fester mit seiner Umwelt in sich zusammenhängendes Sammelsurium von Sensationen gedacht wird, ist beständig der Drohung des SichAuflösens ausgesetzt. Ferner stehen ihm keinerlei metaphysische Gewißheiten zu Gebote, da auch die Welt schrumpft zu emer Addition von Empfindungskomplexen, die niemals ‘objektiv’ bestimmt werden können. Die nur relative Einheit des Ich wird nur ansatzweise gesichert durch m Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu beobachtende gewisse physikalische Kontinuitäten, nicht aber Identität des ‘Ichs von gestern’ mit dem ‘Ich von heute’. Ganz in Überemstimmung mit Machs Aufkündigung der Illusion von über das Bewußtsein vermittelter Identität befindet sich Hofmannsthals folgende Äußerung: Wir sind mit unserem Ich von Vor-zehn-Jahren nicht näher, unmittelbarer eins als mit dem Leib unserer Mutter. Ewige physische Kontinuität. (RA III 376, Auf¬ zeichnung vom 4. Januar 1894)

Mit dem Begriff der körperlichen Kontinuität ist hier, wie bei Mach, em Gegengewicht gegen die völlige Relativierung von Identität in der Sukzession von - hier freilich als durchlässig gedachten - ‘Ich-Monaden’ gegeben; das Fortbestehen emer biologischen ‘Substanz’, nämlich des eigenen Körpers, wird hier zu einer Versicherung des eigenen Seins.

89 Ebenda, S. 141. 90 Ebenda, S. 140. 91 Manfred Diersch: Empiriokritizismus und Impressionismus. Berlin 1973. S. 43.

Kapitel 1-1

30

Gedanken über die Funktion und Arbeitsweise des Gedächtnisses, den Zu¬ sammenhang von Erinnerung und Identität in einem körperlich begriffenen ‘Kontinuitäts¬ bewußtsein’ lassen sich offenkundig von Anfang an in Hofmannsthals gedanklichem Kosmos finden. Dabei schemt zunächst eine negative Sichtweise der Möglichkeit von Identität vorzuherrschen. Betrachtet man einen aktuellen Bewußtseinszustand, so zerfallt er m ein Geflecht von sinnlichen Sensationen, undeutlichen Gefühlen und Gedanken, das im nächsten Augenblick in seiner Zusammensetzung völlig verändert sein kann.92 Auch der frühe Hofmannsthal bestreitet allerdings nicht die Existenz emes Gedächtnisses und einer Kontinuität im seelischen Leben, diese konstituiert sich allerdings über eine Fiktion des Bewußtseins: Stimmung, das organische physiologische Ebben und Fluten der einzige Regulator der etats d’äme, die sich selbst zusammenhängend und logisch interpretieren, insofern diese Menschdarstellung erdennäher als die, wo der logische Lebenslauf an und für sich gesetzt wird. (RA III 368)

Da kem konstantes Ich vorliegt, ist die Fähigkeit, eine vergangene Stimmung, die meinem persistenten Bewußtsein angehört, wieder hervorzurufen, eine ‘logische’ Interpretation, ja eme Fiktion von Kohärenz, gerade wenn es nicht mehr möglich ist, emen “logischen Lebenslauf an sich zu setzen.9' Den etats d’äme — die hier als die Machschen Empfindungs¬ komplexe gedacht werden können — wird dabei eme problematische Selbstbezüglichkeit zugesprochen: sie erinnern, grundsätzlich verschieden wie sie sind, doch durch „Ähnlichkeit“ anemander und erzeugen so den Schern der Reproduktion emes Vergange¬ nen durch em übergeordnetes Bewußtsein m der ‘Stimmung’, die der einzige Vermittler von Kohärenz zwischen den einzelnen Ich-Momenten ist: „Das Gedächtnis gehört nur dem Körper: er reproduziert schembar das Vergangene, d.h. er erzeugt em ähnliches Neues m der Stimmung“ (RA III 333). Die ‘Stimmung’ „steht somit m der Mitte zwischen dem dem Körper zugehörigen Gedächtms und dem Bewußtsein und hat an beiden Anteil: sie ist ebenso an den Augenblick gebunden wie das Bewußtsein, besitzt aber, da sie vom Körper erzeugt wird, eme über den Augenblick hmausgehende Dauer; zwar ist auch die Stimmung flüchtig, doch nicht so flüchtig wie das Bewußtsein, das kerne Erinnerung kennt.“94 Dabei wird der Poesie die Funktion zugeschneben, solche Stimmung zu schaffen als Erinnerung an sinnlich Erfahrenes und so dieses Erfahrene neu mit der Gegenwart des Individuums zu vermitteln: [...] daß ein Gedicht ein gewichdoses Gewebe aus Worten ist, die durch ihre Anordnung, ihren Klang und ihren Inhalt, indem sie die Erinnening an Sichtbares und die Erinnerung an Hörbares mit dem Element der Bewegung verbinden, einen genau umschriebenen, traumhaft deutlichen, flüchtigen Seelenzustand hervorrufen, den wir Stimmung nennen. (RA I 15f)

Die Konstellation der Worte im Gedicht bewirkt im .Akt des Schreibens oder Rezipierens jenen zugleich flüchtigen und deutlichen Seelenzustand namens ‘Stimmung’, der das vergangene Ich an das gegenwärtige anzubinden vermag. Mach habe „noch vor Dilthey und Husserl, diese Ebene phänomenologischer Fragestellung erreicht“, argumentiert Lübbe mit Bezug auf dessen Beschreibung des Verhältnisses von Wahrnehmung und

02 Vgl. Koch, S. 152. 93 Vgl. Koch, S. 151f. 94 Stamm, S. 79.

Der Erinnerungsdiskurs der Jahrhundertwende

31

Gegenstand. Machs Analyse der Empfindungen sei „im Kern nichts anderes als die Analyse dessen, wie in der Erfahrung der doppelten Abhängigkeit unserer sinnlichen Erfahrung von uns selbst und von dem, was erfahren wird, sich uns das Bewußtsein dieses Selbst und seines Daseins im phänomenalen Ganzen der Wirklichkeit bildet.“93 Die Aufhebung der Differenz zwischen Innen und Außen, Subjekt und Objekt, die bei Bergson und Mach angelegt ist, vollzieht ihr Schüler Husserl mit seiner phänomenologischen Methode endgültig.96 Hofmannsthals eigener Weg, die ‘Dissemination’ von Subjekt-Identität als Sukzession monadischer Atome in einer mythisch, beziehungsweise psychoanalytisch, vermittelten Kontinuität aufzuheben, soll in dieser Arbeit verfolgt werden.

95 Hermann Lübbe: Positivismus und Phänomenologie. Mach und Husserl. In: Ders.: Bewußtsein in Geschichten. Studien zur Phänomenologie der Subjektivität. Mach - Husserl - Schapp - Wittgenstein. Freiburg 1972. S. 33-62. S. 52 und 58. % Dazu auch Ursula Renner: „Die Zauberschnft der Bilder“ Büdende Kunst in Hofmannsthals Texten. Freiburg im Brsg. 2000, S. 412ff.

32

1.2 Die Gegenwart der Vergangenheit — Henri Bergson Hofmannsthals Überwindung einer atomistischen Zeitauffassung, wie sie durch den Einfluß von Franz Brentanos und Ernst Machs Psychophysik vor allem für sein Frühwerk prägend gewesen ist, weist frappierende Parallelen zu Gedanken Herrn Bergsons auf, die dieser vor allem in seinem ‘Hauptwerk’ Zeit und Freiheit (Essai sur les donnees immediates de b conscience) von 1888, sowie den späteren Schriften Materie und Gedächtnis (Mutiere et Memoire 1896) und Schöpferische Entwicklung (Evolution creatrice 1907) dargelegt hat. Die früheste Wirkung der Philosophie Henn Bergsons im deutschsprachigen Raum läßt sich mit dem Schülerkreis Rudolf Euckens in Jena (Max Scheler, Isaac Benrubi) und bei dem Berliner Soziologen und Philosophen Georg Simmel ansetzen, erreicht ihren vollen Umfang jedoch erst nach 1900, insbesondere mit dem 1908 auf deutsch erschienenen Werk Materie und Gedächtnis91 Auch der George-Kreis, vor allem Gundolf, Simmel und Scheler, ist im Umfeld einer Beeinflussung durch Bergson zu nennen, und eine Rezeption durch den eifrigen Simmel-Leser und Romanisten Hofmannsthal ist mit Sicherheit anzunehmen.98 Seit langem hat die Literaturwissenschaft versucht, die Zeit- und Ennnerungsphilosophie Bergsons mit Marcel Prousts Romanzyklus A b recherche du temps perdu in Beziehung zu setzen. Zugleich hat man versucht, Analogien zwischen Bergsons Begriff der simultaneite und dem Simultanstil der Expressionisten herzustellen.99 Bergson selbst scheint eine literarische Realisation seiner Zeitphilosophie durchaus im Blick gehabt zu haben: Wenn nun ein kühner Romandichter das geschickt gewobene Gewebe unsres konventionellen Ich zerreißt und uns unter jener scheinbaren Logik eine fun¬ damentale Absurdität, unter jener Aneinanderreihung einfacher Zustände eine unendliche Durchdringung von tausenden von verschiedenen Eindrücken sehen läßt, die im Augenblicke wo sie benannt werden, bereits zu sein aufgehört haben, dann spenden wir ihm Lob dafür, daß er uns besser kannte als wir selbst. So ist es indessen nicht; eben weil er unser Gefühl in eine homogene Zeit entfaltet und dessen Elemente in Worten ausdrückt, vermittelt er uns auch wieder einen Schatten davon; bloß hat er dies Schattenbild so entworfen, daß er uns dabei die besondere und unlogische Natur des Gegenstandes ahnen läßt, der es projiziert; er hat uns zur Reflexion aufgerufen, indem er in den äußeren Ausdruck etwas von jenem Widerspruch, jener gegenseitigen Durchdringung hineinlegte, die das Wesentliche der ausgedrückten Elemente ausmacht. Durch ihn ermutigt haben wir für einen

07 Vgl. hierzu Markus Fischer. Augenblicke um 1900. Literatur, Philosophie, Psychoanalyse und Lebenswelt zur Zeit der Jahrhundertwende. Frankfurt a.M. 1986. S. 97f. Dazu auch Rudolf W. Meyer Bergson in Deutschland. Unter besonderer Berücksichtigung seiner Zeitauffassung. In: Emst Wolfgang Orth (Hg.): Studien zum Zeltproblem in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Freiburg München 1982 S. 10-64. 98 Ausführlicher gehen Ulrike Stamm und Werner Konitzer auf diesen Zusammenhang ein. Vgl. W.K.: Sprachkrise und Verbildlichung. Würzburg 1995. 99 Peter Gorsen: Zur Phänomenologie des Bewußtseinsstromes. Bergson, Dilthey, Husserl, Simmel und die lebensphilosophischen Antinomien. Bonn 1966. S. 122. Siehe auch Arnold Hauser: Der Begriff der Zeit in der neueren Kunst und Wissenschaft. In: Merkur 9, 1955. S. 801-815, sowie Hans-Robert Jauss: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts A La recherche du temps perdu. Ein Beitrag zur Theorie des Romans. Heidelberg 2. Aufl. 1970.

Henri Bergson

33

Augenblick den Schleier gelüftet, den wir zwischen unserm Bewußtsein und uns gezogen hatten; er hat uns uns selbst wiedergegeben.Kl"

Der Dichter vermag die „Absurdität“ einer Vorstellung aufzudecken, die das Ich als Addition von Momentan-Ichs ohne Bezug auf ein vergangenes und zukünftiges Sein versteht, und zeigt die „unendliche Durchdringung“ aller dieser nur scheinbar unabhängig voneinander existierenden Stadien auf. Da literarisches Schreiben jedoch immer an ein linear, sukzessive fungierendes Medium gebunden bleibt, vermag es indes nur ein „Schattenbild dieser Durchdringung anzudeuten und fordert so aufgrund des immanenten Widerspruchs zwischen der Tiomogenen Zeit’ der Schrift und der ‘unlogischen Natur’ des Gegenstandes, der stets die Darstellung des Undarstellbaren, nämlich der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen erfordert, zur Reflexion auf. Es ist dieses Paradoxon, dem sich Bergson in Zeit und Freiheit widmet, wobei er sein Hauptaugenmerk auf die Widerlegung des Standpunkts emes mechanistischen Welt- und Menschenmodells legt, das dem Individuum keine Freiheit der Entscheidung zubilligen mag, da jeder seiner Zustände und alle Bewegungen durch die mechanische Abfolge von klar zu differenzierenden Antezedenzien determiniert sei. Der Vorstellung von einer quantitativen Anein¬ anderreihung von Reizen, die zu festgelegten Reaktionen führten, stellt Bergson einen Begriff der Qualität und Intensität gegenüber, der sich durch die Aufgabe einer von ihm als Grundirrtum beschriebenen Verräumlichung von Zeit ergibt: Wenn man sagt, ein Gegenstand nehme einen großen Raum in der Seele ein, oder sogar er nehme sie ganz und gar ein, so darf man darunter nur verstehen, daß sein Bild die Tönung tausender von Wahrnehmungen und Erinnerungen modifiziert hat und daß es sie in diesem Sinne durchdringt, ohne doch selber darin zum Vorschein zu kommen. Diese ganz dynamische Vorstellungsart aber widerstrebt dem reflektierenden Bewußtsein, weil dieses die scharfen Unterscheidungen, die sich ohne weiteres auf Worte bringen lassen, bevorzugt und die Dinge hebt, die bestimmte Umrisse haben, wie die die wir im Raume erblicken. Es wird daher annehmen, daß ein bestimmtes Begehren sukzessive Größengrade durchlaufen habe, während alles übrige gleichgeblieben sei: als könnte noch von Größe gesprochen werden, wo weder Mannigfaltigkeit ist noch Raum! (ZF 14)

In einer immer wieder anklingenden Sprachkritik verweist Bergson auf das menschliche Bedürfnis nach Fixierung, das es unmöglich mache, diesen dynamischen Charakter eines ständigen Ineinanderfließens von Wahrnehmung mit Erinnerung und die nicht lediglich additive Aneinanderreihung von Empfindungen, sondern deren Intensivierung und qualitative Verwandlung durch Verschmelzen früherer mit späteren Empfindungen zu erfassen. Statt des Schwungs der Bewegung, der etwa die Anmut emes Körpers ausmache, zwinge dieses Bedürfnis nach festen Größen, mit klaren Umrissen dazu „Teilpunkte in dem Intervall von zwei sukzessiven Formen“ (ZF 16) festzuhalten, statt die Ahnung des Kommenden im Früheren zu erfassen und die Erinnerung an das Vorhergegangene im Folgenden: Wenn ruckweise Bewegungen der Anmut entbehren, so erklärt sich dies daraus, daß jede sich hier selbst genügt und die folgenden nicht ankündigt. Wenn die Anmut die Kurven den gebrochenen Linien vorzieht, so kommt dies daher, daß die gekrümmte

,0° Henri Bergson: Zeit und Freiheit. Hamburg, 2. Auflage 1999, S. lOOf. Zitate ferner im Text unter der Sigle ZF und Angabe der Seitenzahl.

1.2 Die Gegenwart der Vergangenheit

34

Linie jeden Augenblick die Richtung ändert, wobei aber jede neu Richtung in der vorangehenden bereits angekündigt wird. (ZF 16)

Was Bergson hier für die Bewegungen des Körpers ausführt, gilt gleichermaßen für seine Anwendung des Begriffs der Dauer (duree) auf die Bewußtseinszustände, die er „nicht mehr isoliert voneinander betrachten, sondern in ihrer konkreten Mannigfaltigkeit“ (ZF 59) untersuchen will. Hierzu löst er zunächst den Begriff der Zeit von der Vorstellung des Raumes: nicht habe man sich Zeit als Addition von Punkten im Raum (etwa auf einer Linie) vorzustellen, „sondern vielmehr mit der dauernden Spur, die sie uns im Raum auf ihrem Wege durch ihn zurückgelassen zu haben scheinen“ (ZF 63). Am Beispiel der Perzeption von Glockenschlägen, die ja nacheinander in der Zeit ablaufen, verdeutlicht Bergson, daß Zeit als Qualität, nicht als Quantität aufzufassen ist: Sicherlich gelangen die Glockentöne nacheinander an mein Ohr; es ist aber von zwei Dingen nur eines möglich: entweder nämlich behalte ich jede einzelne dieser sukzessiven Empfindungen im Gedächtnis, um sie mit den andern in organische Verbindung zu bringen und eine Gruppe zu bilden, die mich an eine Melodie oder einen wohlbekannten Rhythmus gemahnt: in diesem Fall zähle ich die Töne nicht, ich beschränke mich vielmehr darauf, ihren sozusagen qualitativen Eindruck zu empfangen, den ihre Zahl auf mich macht. (ZF 68)

Mit immer neuen Beispielen legt Bergson dar, daß die „materiellen Dinge“ sehr wohl feste Umrisse besitzen und Intervalle zwischen sich und anderen Dingen hersteilen können, die Bewußtseinszustände hingegen „sich gegenseitig [durchdringen], sogar wenn sie sukzessiv sind“ (ZF 76). Bergson differenziert so zwei verschiedene Auffassungen von simultaneite, von denen die eine die irrtümliche Projektion von zeitlicher Sukzessivität in ein räumlich begriffenes Nacheinander darstellt, mithin eine verfehlte Vorstellung ist: „wir stellen unsere Bewußtseinsvorgänge so nebeneinander, daß wir sie simultan apperzipieren, und zwar mcht ineinander, sondern nebeneinander; kurz, wir projizieren die Zeit in den Raum, wir drücken die Dauer durch Ausgedehntes aus, und die Sukzession nimmt für uns die Form einer stetigen Linie oder einer Kette an, deren Teile sich berühren, ohne sich zu durchdringen“ (ZF 78). Die gegenseitige Durchdringung im Ineinander der qualitativen Momente einer Dauer macht es hingegen unmöglich, daß in ihr fest umgrenzte seelische Zustände abgesondert und ihre Dauer in bestimmte Abschnitte eingeteilt werden kann. „Es gibt für Bergson keine seelische Folge von Zuständen, sondern nur eine stetige Wandlung“.101 „In Wahrheit aber verändern wir uns ohne Unterlaß, und schon der Zustand selbst ist Veränderung“102 Die Verwendung des Begriffs der Sukzession im Kontext der duree verleiht diesem eine ungewöhnliche Bedeutung, insofern er nicht mehr einfach eine temporale Abfolge von Momenten beschreibt, sondern im Nacheinander eme ‘wirkliche’ Gleichzeitigkeit erzeugt. Bergson äußert immer wieder denselben Gedanken über das Bewußtsein, daß es sich über den Moment hinaus erstreckt, daß es dauert. Die Erfahrung der Dauer entsteht durch „die Fortsetzung eines Zustandes [durch] die Addition der Erinnerung der vergangenen Momente zur gegenwärtigen Erfahrung“(ZF 77). Sie ist „das fortlaufende Leben einer

101 Friedrich Kümmel: Über den Begriff der Zeit. Tübingen 1962. S. 18. Die Gestalt der Gegebenheiten der gewöhnlichen Wahrnehmung ergibt sich dadurch, daß das Innen (die Dauer, die Erinnerung, der Geist) und das Außen (die Materie, der Raum, die Bewegung) in ihr miteinander verzahnt gegeben sind. Vgl. Konitzer, S. 183. 102 Bergson: Schöpferische Entwicklung. Jena 1912, S. 9.

Henri Bergson

35

Erinnerung, welche die \ ergangenheit in die Gegenwart fortsetzt, mag die Gegenwart das unaufhörlich wechselnde Bild der 3 ergangenheit deutlich enthalten oder mag sie vielmehr durch ihren fortwährenden Qualitätswechsel von der immer schwerer werdenden Luft zeugen, die wir hinter uns herschleppen, und die in dem Maße zunimmt, in dem wir altern.“103 Daß das Bewußtsein dauert, heißt, daß es sich jeden Moment verändert. „Das Bewußtsein [...] wird mcht zwei aufeinanderfolgende Momente sich gleichbleiben können, weil der folgende Moment immer über den vongen hinaus die Erinnerung behält, die dieser ihm gelassen. Ein Bewußtsein, das zwei gleiche Momente hätte, wäre em Bewußtsein ohne Gedächtnis. 1 4 Die reine Zeit läßt somit Sukzession zu einem Miteinander werden, das das \ orher und Nachher undifferenziert läßt, ‘Simultaneität’ — im positiven Sinne emes 5 erschmelzens! — entstehen läßt. „Die Vergangenheit würde sich niemals konstituieren, wenn sie mcht schon mit der Gegenwart koexistierte, deren Vergangenheit sie ist. \ ergangenheit und Gegenwart bezeichnen mcht zwei aufeinanderfolgende Momente, sondern zwei koexistierende Sphären; die eine, die Gegenwart, die ständig vergeht; die andere, die Vergangenheit, die zu sem nicht aufhört, durch die aber jede Gegenwart hindurchgeht.“,(b Die ‘ganz reme Dauer’ ist durch die V erschmelzung’ der vorangegange¬ nen Zustände mit dem aktuellen Zustand ausgezeichnet, etwa wenn die Apperzeption einander folgender Töne ineinander, in gegenseitiger Durchdringung erfolgt: Die ganz reme Dauer ist die Form, die die Sukzession unsrer Bewußtseinsvorgänge annimmt, wenn unser Ich sich dem Leben überläßt, wenn es sich dessen enthält, zwischen dem gegenwärtigen und den vorhergehenden Zuständen eine Scheidung zu vollziehen. (ZF 77)

Hier ist der Punkt erreicht, an dem sich Bergsons Vorstellung der duree mit hermeneuti¬ schen Modellen in Beziehung setzen läßt: wie jede neu hinzugekommene Wahrnehmung (etwa emes Tones) stets zur Modifikation aller früheren Wahrnehmungen und hierdurch auch aller späteren Wahrnehmungen führen muß, befinden sich somit jegliche Elemente in einem hermeneutischen Zirkel zuemander: Späteres affiziert Früheres und umgekehrt, der Horizont des Gegenwärtigen ist von der ‘Totalität’ alles Früheren bestimmt, und Vergangenheit und Gegenwart bestimmen die Zukunft: Tatsächlich aber organisiert sich jedes Mehr an Reiz mit den vorangegangenen Reizen, und das Ganze macht auf uns den Eindruck einer musikalischen Phrase, die fortwährend im Begriffe steht aufzuhören und sich unausgesetzt in ihrer Totalität durch das Hinzukommen eines neuen Tons modifiziert. (ZF 81)

Mit dem Begriff der „Endosmose“ (ZF 83) versucht Bergson Vorstellungen einer ‘homogenen Zeit’ (die Raum ist) entgegenzuwirken. Benötigt unser Bewußtsein zwar oftmals ‘symbolische’ Vorstellungen von Zeit, die sich in räumlicher Bildlichkeit mederschlagen - etwa den Weg’, den em Uhrpendel zurücklegt so hat Zeit „doch außerhalb aller symbolischen Vorstellungswelse [...] für unser Bewußtsein niemals den Aspekt emes homogenen Mediums“ (ZF 93f) und stellt vielmehr eme Qualität dar, „deren heterogene Momente sich gegenseitig durchdnngen“ (ZF 97). Nur emen „Schatten des Ich“ erfassen wir, wenn wir versuchen, Stadien m der Entwicklung des Ich zu differenzie-

103 Bergson: Einführung in die Metaphysik. Jena 1920. S. 10. llU Bergson: Einführung in die Metaphysik, S. 9. 105 Gilles Deleuze: Bergson zur Einführung. Hamburg 1997, S. 78f.

1.2 Die Gegenwart der Vergangenheit

36

ren, die sich sprachlich veräußerlichen lassen: das „Bewußtsein steht im Zwange eines unersättlichen Unterscheidungsbedürfnisses und substituiert daher der Wirklichkeit ihr Symbol oder apperzipiert die Wirklichkeit nur durch das Symbol“ (ZF 97). Die Verworrenheit unserer Bewußtseinszustände als Durchdrungensein von Früherem und Späterem erzeugt rückwirkend das Bedürfnis nach festen, klaren Umrissen von einzelnen Zuständen und führt so zur Fixierung von Schatten-Ichs, die in ihrer Verfestigung von Momentanzuständen nichts mehr mit dem „fundamentalen Ich“ zu tun haben: Wir streben instinktiv danach, unsre Eindrücke zu verfestigen, um sie sprachlich ausdrücken zu können. Aus diesem Grunde lassen wir sogar das Gefühl, das in einem beständigen Werden besteht, in seinem permanenten äußeren Gegenstand und vor allem in dem den Gegenstand ausdrückenden Worte aufgehen. Wie die flüchtige Dauer unsres Ich durch die Projektion in den homogenen Raum in den Zustand einer Fixierung gerät, ebenso umklammem unsre unablässig wechselnden Eindrücke die sie veranlassenden äußeren Objekte und nehmen auf diese Weise deren genaue Umrisse und deren Starrheit an. (ZF 98)

Eine mechanistische Auffassung des Ich als Addition fixer Momente wird somit dem Dynamismus eines nietzscheanischen Werdens gegenübergestellt. Es wird unmöglich, „sie gegenseitig zu isolieren, auseinanderzuhalten und zu versuchen, sie zu zählen. Vielmehr sind alle diese einzelnen Momente der qualitativen Mannigfaltigkeit in stetem Wandel begriffen, untrennbar und in ihrer gegenseitigen Durchdringung unfixierbar. Es ist keine feste Ordnung feststellbar, kein Früher und Später einer Folge kann unterschieden werden, weil die Bestandteile des in sich vielfältigen Vorganges einander nicht äußerlich sind.“106 ‘Spontaneität’ versucht Bergson im abschließenden Teil von Zeit und Freiheit den Bewegungen und Taten des Individuums zurückzugeben, das mechanistische Modelle fast zu einem Automaten haben werden lassen. Eben weil jede Empfindung ihre „ganze Vergangenheit in sich“ aufnimmt (ZF 116), betrachtet Bergson die radikale Ver¬ schiedenheit von durch denselben Gegenstand bei verschiedenen Personen ausgelösten „Assoziationsreihen“ (ZF 118) als Beleg für die Freiheit des Individuellen; erneut sei es lediglich die Inkommensurabiliät des Gedankens mit der Sprache, der zu abstrakten, unpersönlichen Theorien der Assoziatiomsten geführt habe, die „ein Aggregat von Bewußtseinstatsachen“ allgemeiner Art betrachteten, das nur ein „Phantom Ich“, den „Schatten des Ich“ abbilden könne. Jedes Ich verfüge statt dessen über ein ganz individuelle Ansammlung von Bewußtseinszuständen, die aufhörten, „sich nebeneinander¬ zuordnen, um sich dafür gegenseitig zu durchdringen und ineinander zu verschmelzen, wobei die einzelnen die Färbung aller übrigen annehmen“ (ZF 124). Diese Totalität des Ich als Verschmelzung statt Addition von Momentanzuständen ermöglicht Freiheit: Der freie Entschluß nämlich entspringt aus der ganzen Seele und die Handlung wird um so freier sein, je mehr die dynamische Reihe, an die sie geknüpft ist, eins zu werden tendiert mit dem fundamentalen Ich. (ZF 126)

Eben weil jeder unsrer Bewußtseinszustände und jede unsrer Handlungen durch „das Ganze unsrer Vergangenheit“ (ZF 138) bestimmt ist, kann aufgrund der Unmöglichkeit, die Fülle dieser sich mischenden verworrenen Empfindungen und Erinnerungen zu bestimmen, niemals deterministisch eine Reihe von Antezedenzien für gewissen

106 Kümmel, S. 16.

Herrn Bergson

37

Entscheidungen bestimmt werden, die diese Entscheidungen als notwendig und nur so möglich erscheinen ließen. Bergson verwendet ferner den Begriff der „Spur“ (ZF 149) in einem ähnlichen Sinne, wie ihn Derrida dann zum Signum eines beständigen Abweichens von fixierten Zuständen und Bedeutungen machen wird: Rückbezüglichkeit auf kausale Zusammenhänge, die unser Handeln determinieren, ist eben deswegen unmöglich, weil sich keine Kausalketten von klar zu differenzierenden Einzelmotivationen erstellen lassen, sich vielmehr jedes Motiv wechselseitig von anderen Motiven modifizieren läßt und diese modifiziert. Eine Erschließung dessen, was Zeit ist, scheint so nur unter einem anthropologischen Gesichtspunkt sinnvoll, bezogen auf das menschliche Bewußtsein von Zeit, das diese je unterschiedlich — somit als Qualität — empfindet. Diese Auffassung ermöglicht die Überwindung eines Konzeptes, das Zeit im Sinne Zenons als in Unterabschnitte teilbare Lime auffaßt.10 Bergsons Definition der gegenwärtigen Wahrnehmung als Ausdehnung einer duree bezieht dieses subjektive Moment eines Sich-Erstreckens der Vergangenheit in die Gegenwart ein. Ms T)auer’ nehmen wir eine qualitativ einheitliche Bewegung wahr, die nicht quantitativ aufteilbar ist oder in räumlicher Ausdehnung besteht, sondern als ‘dynamischer Prozeß’ der Totalität einer Wahrnehmung. „Die Gegenwart der Wahr¬ nehmung ist als Dauer nicht statisches Sein, sondernjetzt des Werdens.“108 Bergson bricht mit der herkömmlichen Raummetaphorik der Zeit und kann so Zeit in ihrer Prozessualität und mcht mehr als fixiertes Bild einer Linie oder eines Kreises auffassen. Daher bietet sich sein Ansatz für eine Anwendung auf die zeitliche Verfaßtheit narrativer Fiktion an, da eine prozessuale Zeitauffassung um das Imaginäre der Konstitution von Sinn weiß.109 Für Hofmannsthal wird sich die Bedeutung Bergsons in mehrfacher Hinsicht erweisen: zum einen bildet sie den Hintergrund eines mtertextuellen Modells von Literaturgeschichte, bei dem jedes neu entstehende Werk sich als Verschmelzung, Assimilation und Adaptation aller früheren Werke darstellt, jedes Schreiben mithin seinen fluktuierenden Platz in einer duree von Büchern einnimmt. Zum anderen läßt sich die Bedeutung eines Erinnerungsaber auch Bewegungsmodells, das die Dynamik des ‘Schwungs’ über die statische, mechanische Addition von klar differenzierten Stadien stellt, für Hofmannsthals Beschäftigung mit dem Medium des Films und des freien Ausdruckstanzes gar nicht unterschätzen; die Ornamentik des ‘Jugendstils’ und der elan vital der Lebensphilosophie verbinden sich hier zu einem Modell, das Wahrnehmung und Erinnerung eins werden läßt und die Motorik von Körpern und Dingen in den Zusammenhang der Totalität des Individuums stellt, in dem sich die unterschiedlichsten Strömungen kreuzen. Die ‘Gegenwart’ des Bewußtseins ist nicht nur em Schnittpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft, sondern selbst Zeit, die sich von ihrem Inhalt her qualitativ bestimmt: „Die beiden Vorgänge, Wahrnehmung und Erinnerung durchdringen sich fortwährend und tauschen durch eine Art Endosmose etwas von ihren Substanzen aus.“"0

107 Vgl. Kümmel, S. 2. Vgl. dazu Bergsons ‘Lösung’ des Paradoxons von Achill und der Schildkröte, indem er die Vorstellung von Zeit als räumliche Addition von Schritten ad absurdum führt. ZF 86f. 1,18 Pethes, S. 70. 1115 Vgl. Pethes, S. 70. „Das erinnernde Schreiben bewirkt eine nicht einheitliche Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart, die den Einbruch der Vergangenheit in die Gegenwart des Schreibens erlaubt.“ S. 71. 110 Bergson: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Jena 1914. S. 55.

38

1.3 Phänomenologie der Erinnerung — Edmund Husserl Im Ansatz vergleichbar mit Bergsons Erinnerungstheorie ist Husserls Auffassung von Zeit und Bewußtsein; auch hier setzt sich das Bewußtsein aus einander folgenden Momenten und der diese verschmelzenden Erinnerung zusammen: „Darin unterscheidet sie sich nicht von Husseds Beschreibung. Der ‘Fluß des Bewußtseins’, den Hussed als Ineinanderschachtelung von Retentionen, als Kontinuum von Kontinua zu beschreiben versucht, ist dann mit Bergsons Dauer’ identisch.“111 .\ls Hofmannsthal im Dezember 1906 in Göttingen seinen Vortrag Der Dichter und diese Zeit hält, kommt es zu einem Besuch bei Edmund Husserl und dessen Frau, einer entfernten Verwandten seiner eigenen Frau Gerty. Es ist anzunehmen, daß Hussed Hofmannsthals Vortrag auch selbst besucht hat oder sich zumindest mit ihm darüber ausgetauscht hat. Einige Wochen später schickt Hofmannsthal ihm seine Kleinen Dramen, für die ihm Hussed in einem Antwortbdef vom 21. Januar 1907 dankt, wobei er die Gelegenheit nutzt, die ‘phänomenologische’ Position Hofmannsthals mit seiner eigenen zu vergleichen.112 In diesem Brief faßt Hussed die ‘phänomenologische Methode’ zusammen: Sie fordert eine von der ‘natürlichen’ wesentlich abweichende Stellungnahme zu aller Objectivität, die nahe verwandt ist derjenigen Stellung u. Haltung, in die uns Ihre Kunst als eine rein ästhetische hinsichtlich der dargestellten Objecte und der ganzen Umwelt versetzt. Die Anschauung eines rein ästhetischen Kunstwerkes vollzieht sich in strenger Ausschaltung jeder existenzialen Stellungnahme des Intellects und jeder Stellungnahme des Gefühls u. Willens, die solch eine existenziale Stellungnahme voraussetzt.113

Die epoche, die Aussetzung der ‘natürlichen’ Einstellung der Welt gegenüber, ein Weglassen aller Vorurteile und vorgefaßten Konstruktionen, mit denen wir gewöhnlich Realität zu erfassen suchen, ist Voraussetzung, um die Dinge in der Welt als Thänomene’ erfassen zu können. Husserls Ausführungen gemäß ermöglicht die Lektüre von Hofmannsthals Werken genau eine solche Haltung, bei der das im Kunstwerk Dargestellte „unter Ausschaltung aller existentialen Stellungnahmen als reines Phänomen betrachtet“ wird.114 So heißt es auch im Vortrag Der Dichter und diese Zeit „Denn ihm sind Menschen und Dinge und Gedanken und Träume völlig eins: er kennt nur Erscheinungen, die vor ihm auftauchen und an denen er leidet und leidend sich beglückt“ (RA I 67). Außen und Innen, Wirklichkeit und Traum werden unterschiedslos als Phänomene bezeichnet, erneut hegt somit eine Aufhebung der Subjekt-Objekt Dichotomie vor. ‘Reine’ Kunst entzieht sich nach Husserl jeder Tendenz’, schließt existenüale Stellungnahmen aus: „Das phänomeno-

111 Werner Konitzer: Sprachkrise und Verbildlichung. Würzburg 1992, S. 192. Rudolf Hirsch: Edmund Husserl und Hugo von Hofmannsthal. Eine Begegnung und ein Bnef. In: Rudolf Hirsch. Beiträge zum Verständnis Hugo von Hofmannsthals. S. 108. Auch Ferdinand Fellmann: Phänomenologie und Expressionismus. Freiburg, München 1982 geht auf den Bnefwechsel ein: „Husserl hat Hofmannsthals Beschreibung der exzentrischen Stellung des Dichters gegenüber der Welt als Pendant zur ekstatischen Bewußtseinsreinigung des Philosophen in der Reduktion gelesen“. S. 63. Ulrike Stamm diskutiert, inwiefern Hofmannsthal der Auffassung Husserls zugestimmt haben dürfte. Sie sieht dabei eine Übereinstimmung, was die Haltung des Künstlers betrifft, weniger aber beim Rezipienten. Vgl. S. 243-245. 113 Zit. nach Hirsch, S. 275f. 114 Vgl. Stamm, S. 244.

Edmund Hussed

39

logische Schauen ist also nahe verwandt dem ästhetischen Schauen in ‘reiner’ Kunst.“115 Der Künstler selbst wird zum phänomenologischen Philosophen: Ihm wird die Welt indem er sie betrachtet zum Phänomen, ihre Existenz ist ihm gleichgilüg, genau so wie dem Philosophen (in der Vemunftkritik). Nur daß er nicht darauf ausgeht, wie dieser den „Sinn“ des Weltphänomens zu ergründen und in Begriff zu fassen, sondern es sich intuitiv zuzueignen, um daraus Fülle der Gebilde, Materialien für schöpferische ästhetische Gestaltung zu sammeln.116

Gleichgültigkeit gegenüber der realen Welt ist Voraussetzung für die Tätigkeit des Künstlers, der präzise wie ein Seismograph die fernsten Erschütterungen aufnimmt. Auch die Skepsis emes Lord Chandos scheint sich hier wiederzufinden, dem eine ‘normale’ Haltung der Welt gegenüber, die eine Wertung und Beurteilung zuließe, unmöglich geworden ist, und der schließlich versucht, „zu den Sachen selbst“ zurückzukehren.117 Bewußtsein ist nach Husserl immer Bewußtsein von etwas, Subjekt und Objekt existieren nicht getrennt voneinander, sondern „sind derart miteinander verflochten, daß es weder ein gegenstandsloses Bewußtsein noch ein Ding an sich geben kann.“118 Die Phänomenologie Husserls kann als der letzte zusammenhängende Entwurf einer Bewußtseinsphilosophie betrachtet werden, die aber zugleich auch schon in Sprachphi¬ losophie übergeht. Die Eigenart von Husserls Philosophie, sofern sie noch Bewußtseinstheone ist, liegt in ihrer besonderen Weise der Beschreibung der Struktur des Bewußtseins mit Hilfe des Begriffes der Intentionalität. Von seinem Lehrer Brentano übernahm Husserl die Bestimmung, daß Bewußtseinsakte die Eigenart haben, sich auf Gegenstände zu beziehen. Brentano allerdings verstand diese „Richtung“ des Bewußtseins auf einen Gegenstand noch als eme Funküon des „Inhaltes“ des Bewußtseins; als ob es schon durch das Vorhandensein einer bestimmten Vorstellung (eines psychischen Inhaltes) gewährleistet sei, daß das Bewußtsein sich gewiß sei, welchen Gegenstand es je meme. Dagegen setzt Husserl, daß em und derselbe im Bewußtsein gegebene Inhalt ganz Verschiedenes memen kann, er beschreibt „Intentionalität“ nicht mehr als „Vorsteilen“ emes Gegenstandes, sondern als ein „Abzielen auf“, als ein entweder „bloßes“ oder „erfülltes“ Memen, je nachdem, ob der Gegenstand anschaulich gegeben oder nur durch Zeichen, Bilder oder Rudimente davon gedacht wird: „Sehr verschiedene Inhalte werden erlebt und doch wird derselbe Gegenstand wahrgenommen“ (Hua XIX/1 396). Außerdem setzt er nicht mehr implizit - wie Brentano es noch getan hatte - bei der Auslegung der Bezugnahmen auf Gegenstände -, also der Struktur des Bewußtseins (oder der Intentionalität überhaupt) den Begriff der Vorstellung voraus, sondern versucht umgekehrt, mit Hilfe des Begriffes der Intentionalität den hergebrachten Vorstellungsbegriff aufzuklären. So wird bei Husserl Intentionalität in emem neuen, für ihn spezifischen Sinn zu emer grundlegenden Kategone

113 Zit. nach Hirsch, S. 277. 116 Ebenda. 117 Stamm, S. 246. Siehe auch Fellmann: „Denn auch der Darstellung der neuen, angeblich authentischen Dingerfahrung eignet eine eigentümliche Künstlichkeit. Einen Hinweis darauf vermag die Vertauschbarkeit der kleinen und der morbiden Dinge zu geben, für die der Lord Chandos eine unübersehbare Vorliebe entwickelt.“ S. 60. 118 Stamm, S. 245: „Die Dingkonstitution ist damit ein dynamisches Geschehen, in dem ‘Gegebenheitsweisen’ des Gegenstandes sich als ‘Erfüllungsmöglichkeiten’ für die noch leere Intentionalität beschreiben lassen. Es läßt sich vermuten, daß Husserl das von Hofimannsthal beschriebene Hinüberfließen in die Gegenstände als einen dieser Intentionalität ähnlichen Vorgang aufgefaßt hat, da sich auch dann Subjekt und Objekt in gegenseitiger Abhängigkeit konstituieren.“

40

1.3 Phänomenologie der Erinnerung

für die Beschreibung des Bewußtseins.119 Brentanos psychisches Erlebnis wird somit durch einen ‘Akt’ oder ein intentionales Erlebnis ersetzt, der Akt ist intentional auf den Gegenstand gerichtet. Bewußtsein ist immer Bewußtsein von etwas, d.h. Bewußtseinsakte wie Wahrnehmen und Erinnern sind stets gegenständlich bezogen, wodurch sich ein Erlebnis in Hinblick auf ein Ich ergibt: „den Begriff des Ich als den der reinen Bewusst¬ seinseinheit, nämlich als der Einheit der Erlebnisse eines Individuums und im Gegensatz zur Mannigfaltigkeit wahrgenommener oder suppomerter äusserer Objekte“ (Hua XXIII

200). Husserl fragt danach, wie Bewußtseinserlebnisse an sich verfaßt sind und wie wir uns gemäß deren Verfassung auf die Gegenstände beziehen, wie ein Erlebnis intentional auf einen Gegenstand gerichtet ist. Die sich zeigenden Phänomene sind für Husserl die subjektiven Bewußtseinsakte, also zum Beispiel das Erinnerungsleben in seinem intentionalen Bezogensein auf die den Akten korrelativen Gegenstände.120 Durch die reflektive Einstellung des Phänomenologen soll das ansonsten Unthematische der Gegenstände zum Zeigen gebracht werden, wobei der Gegenstand ausschließlich in seinen Gegebenheitsweisen erfaßt werden muß. Dieses Freihalten des Bewußtseinsaktes von der natürlichen Einstellung nennt Husserl die phänomenologische epochi. Erst diese Enthaltung vermag die in der natürlichen Seinssetzung verhüllten Phänomene zum Sich-Zeigen zu bangen, wobei die Frage nach Existenz der Gegenstände außer acht gelassen wird. Zum phänomenologischen Sehen gehört das aufweisende Sehenlassen, bei dem sich das Sichzeigende so zeigen kann, wie es an sich selbst verfaßt ist, und das ausweisende Sehenlassen, das seine Herkunft erneut im Zurückgehen auf die Sache selbst ausweisen muß, worin sich die spätere Wendungins Hermeneutische bei Heidegger bereits ankündigt. Die Dinge so sprechen zu lassen, wie sie an sich sind, ist das Ziel. Wahrnehmung und Erinnerung sind dabei nicht voneinander geschieden: „Die Phänomenologie der Erinnerung bemüht sich um eine phänomenologische Wesenserkenntnis sowohl des erinnernden Bewußtseins-von wie des erinnerten Gegenstandes. Beide Seiten müssen in der phänomenologischen Analyse eidetisch bestimmt werden. Phänomenologische Wesenserkenntnis muß Korrelativerkenntnis sein, weil sie die intentionale Korrelation des erinnernden Bewußtseins und des darin erinnerten Gegenstandes wesensmäßig untersucht.“121 In der Frühzeit Husserls wird Erinnerung vornehmlich als Bildbewußtsein erfaßt, in der mittleren Zeit als reproduktive Vergegenwärtigung, später dann als historische Kollektiverinnerung.122 Dabei ist die Frage nach Erinnerung die Frage nach der Vergegenwärtigung von Vergangenem und damit ein Teil der gegenwärtigenden Wahrnehmung. Erinnerung als Bildbewußtsein hat Husserl vornehmlich in seinem Frühwerk den Logischen Untersuchungen herausgearbeitet, er wird sie später in der Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins jedoch einer Kritik unterziehen und aufgeben. Die Ausschaltung der objektiven Zeit, die er nun vollzieht, wird das innere Zeitbewußtsein zur Basis der phänomenologischen Beschreibung des Ennnerungsphänomens machen. Hier unterscheidet er die Retention als pnmäre Erinnerung und die Wiederennnerung als

119 Vgl. hierzu Konitzer, S. 15. 120 Vgl. Hong, S. 21. 121 Hong, S. 22. Relevant für diesen Zusammenhang sind zum einen die Logischen Untersuchungen (1900/01) und die frühen Texte des Bandes „Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung“ der Husserliana (Hua XXIII), in dem zwischen 1898 und 1925 entstandene Manuskripte aus dem Nachlaß gesammelt sind. 122 Diese Aufteilung bei Hong, S. 24.

Edmund Hussed

41

sekundäre Erinnerung. „Die Retention, die sich an die Utimpression als das Bewußtsein vom aktuellen Jetzt anschließt, gilt als ein bewußtseinsmäßiges Zurückhalten vor dem sofortigen Versinken in das Dunkel der Vergangenheit. Die retentional bewußte Vergangenheit im Sinne des Soeben-gewesenen sinkt stetig in die bewußtseinsmäßige Dunkelheit, aber sie kann durch einen selbständigen Wiedererinnerungsakt vergegenwärtigt werden.“123 Erinnerung und Wahrnehmung hängen aufs engste zusammen, da sie beide von Husserl als intentionale Erlebnisse bestimmt werden.124 Die Intentionalitätslehre Husserls ist dabei vor allem durch die phänomenologische Analyse des Zeitbewußtseins geprägt, seine Analysen von Wahrnehmung und Erinnerung basieren auf der Analyse der Zeit. Erinnerung wird auf dem Boden der Wahrnehmung vollzogen, Wahrnehmung ihrerseits durch Erinnerung ermöglicht. Die Analyse der Dingwahmehmung ist dabei mit der zeitlichen Konstitutionsanalyse des mannigfaltig Erscheinenden im zeitlichen Bewußtseins fluß verknüpft. „Wahrnehmung und Gegenstand sind innigst zusammenhän¬ gende Begriffe, die sich wechselseitig ihren Sinn anweisen, ihn miteinander erweitern und verengen“ (Hua XIX/2 666). Während sich die äußere Wahrnehmung auf äußere Dinge in ihren Abschattungen achtet und die Wahrnehmung eines Dinglichen und Gegenständli¬ chen besagt, ist die innere Wahrnehmung innere Reflexion, Wahrnehmung eines wahrnehmenden Ich und Edebmsses „das schlicht-bewußte Erleben der psychischen Akte, sie werden hier genommen als das, was sie sind, und nicht als das, als was sie aufgefaßt apperzipiert werden“ (Hua XIX/2 761 f). Da das Bewußtsein fließend ist, muß auch Wahrnehmung als fließender Akt verstanden werden: „Das der Wahrnehmung ‘Gegebene’ ist notwendig ein zeitlich Ausgedehntes, nicht ein bloß zeitlich Punktuelles“ (Hua X 168). Da ein Gegenstand mit einem Blick nicht vollständig wahrgenommen werden kann, können wir denselben Gegenstand nur in der Kontinuität des Wahrnehmungsvedaufes wahrnehmen. Innerhalb jeder einzelnen Wahrnehmungsphase läßt sich phänomenologisch eine Phase der Erscheinungsweise ausmachen. Während wir wahrnehmen, haben wir das Bewußtsein, daß es jeweils eine Fülle von Erscheinungsweisen gibt, die über die aktuelle Weise hinausgehen, und im Übergang von der einen zur anderen möglichen Erscheinungsweise tntt die gerade noch wahrgenommene in den Hintergrund der neuen. Dabei stellen wir fest, daß uns immer nur eine Seite des Gegenstandes gegeben ist, etwa die Vorderseite, und uns die anderen Seiten und auch innere Aspekte nicht vorliegen. Die Wahrnehmung des einheitlichen Ganzen muß somit von der Wahrnehmung der Teile geschieden werden, „weil die Wahrnehmung eines Ganzen nicht Wahrnehmung aller Teile und Bestimmtheiten impliziert“ (Hua X\T 49f). Die AArschmelzung’ verschiedener Wahrnehrnungsakte ist Voraussetzung für die Perzeption eines Ganzen:

123 Hong, S. 25. '-4 „In der Terminologie der Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins ausgedrückt, markiert Schrift die Diskontinuität zwischen den die Urimpressionen stetig verlängernden und kontinuierlich abschattenden Retentionen und der reproduktiven Wiedervergegenwärtigung. Indem der Schritt zur letzteren ein diskreter ist, zeigt sich die Notwendigkeit des Bewußtseins, aus der ‘Intimität [...] mit sich selbst’ herauszugehen, bzw. immer schon herausgegangen zu sein, Schiller hatte noch die Unmöglichkeit beklagt, die Seele zu versprachlichen, weil sie in dem Moment, wo sie spricht, schon nicht mehr Seele ist.“ Steiner, S. 317. Auch im Rosenkavalier treffen wir den Versuch an, den Augenblick in dem Zeit und Ewigkeit zusammen fallen durch die Erinnerung zu kontinuieren, was mit Zeitknappheit einhergeht: „Ist alles gleich - ist keine Zeit, dass ichs begreif / Ist Zeit und Ewigkeit zugleich bei mir in einem seligen seligen Augenblick/ den will ich nie vergessen bis an meinen Tod.“ (SW XXIII 315)

1.3 Phänomenologie der Erinnerung

42

Die einzelnen Wahrnehmungen des Verlaufs sind kontinuierlich einig. Diese Kontinuität meint nicht bloß die objektive Tatsache zeitlicher Angrenzung, vielmehr hat der Verlauf von Einzelakten den Charakter einer phänomenologischen Einheit, in welcher die einzelnen Akte verschmolzen sind. In dieser Einheit sind die vielen Akte nicht nur überhaupt zu einem phänomenologischen Ganzen verschmolzen, sondern zu einem Akt und, näher, zu einer Wahrnehmung. Im kontinuierlichen Ablauf der Einzelwahrnehmungen nehmen wir ja kontinuierlich diesen einen und selben Gegenstand wahr.“ (Hua XIX/2 678)

Obwohl der Gegenstand selbst nicht erlebt ist, ist er im Sinne der Intention bzw. in der zusammengesetzten Vorstellung oder in der Wahrnehmungsapperzeption gemeint.12:1 Im Gegensatz zur Perzeption als reinem Schauen konstituiert die Apperzeption das Selbst-da des Vermeinten. Das Vermeinen gehört dabei in den Erlebnisbereich des Subjekts, da es sich nicht direkt auf die dargestellten Seiten des Gegenstandes bezieht. -Also kann der erlebte Inhalt nicht als der gemeinte Gegenstand, sondern als das intentionale Erlebnis selbst beschrieben werden. Bei der Betrachtung eines Hauses ist dieses me von allen Seiten gegeben, dennoch bleibt es unthematisch immer als Ganzes bewußt und bleibt als identisches Objekt unverändert. „Derselbe unveränderte Gegenstand zeigt sich von verschiedenen Seiten, die schrittweise zu eigentlicher Erscheinung kommen innerhalb der mannigfaltig-einheitlichen Wahrnehmung“ (Hua XVI 95). Dieses Mitbewußthaben aller übrigen Seiten bezeichnet Husserl als Hon%ontbewußtsein — ein nicht zufällig von der Hermeneutik dankbar aufgenommener Terminus, der auf die unvermeidliche ‘Abschattierung’ jedes Erkenntnis¬ aktes durch sein (historisches) Umfeld verweist. Das Wahrnehmungsbewußtsein ist als Originalbewußtsein immer eine Einheit von diesem und dem uneigentlichen Mitbewußt¬ sein: ,„Alles eigentlich Erscheinende ist nur dadurch Dingerscheinendes, daß es umflochten und durchsetzt ist von einem intentionalen Leerhonzont, daß es umgeben ist von einem Hof erscheinungsmäßiger Leere. Es ist eine Leere, die nicht ein Nichts ist, sondern eine auszufullende Leere, es ist eine bestimmbare Unbestimmtheit“ (Hua XI 6). In der Freiheit des ‘ich kann’ inszeniert ein freies subjektives System die Wahrnehmung: „Das geregelte System der Wahrnehmungsreihen, durch die ein und derselbe Gegenstand allseitig gegeben werden, oder ein noch nicht gegebener Gegenstand zur Selbstgegebenheit gebracht werden kann, verweist intentional auf ein wahrnehmendes Ich, das sich selbst als ‘ich kann’ versteht.“126 Gegenwart ist somit räumlich gesehen das unmittelbare Wahrnehmungsfeld, als Umring des Mitbewußthabens, das Husserl als Mitgegenwärtiges bezeichnet: em dunkel bewußter Horizont einer unbestimmten Wirklichkeit.127 Das Gegenwartsjetzt ist kein stehendes Jetzt, kein nunc stans, sondern in unserem Wahrnehmungsbewußtsein ein zeitlich ausgebreiteter, sich allmählich und stetig entfaltender Akt, der immerfort Wahrnehmen ist, und dieser Akt hat einen immer neu und neuen Punkt des ‘Jetzt’, und in diesem Jetzt wird etwas als Jetzt gegenständlich (jetzt gehörter Ton), während zugleich ein Soeben-vergangen und wieder ein Noch-weiter-vergangen in einigen Gliedern gegenständlich ist. (Hua X 167f)

Beim Hören einer Melodie hören wir Töne oder .Akkorde in ihrer Abfolge, immer nur ein aktueller Moment ist als gegenwärtig gegeben, aber das wahrnehmungsmäßig Aufgefaßte

125 Vgl. Hong, S. 41. 1:6 B. Rang: Kausalität und Motivation. Den Haag 1973.S. 159. 127 Vgl. Hong, S. 50.

Edmund Husserl

43

ist dennoch kein verschwindend Punktuelles, sondern ein Feld, in welchem Jetzt, Vergangenheit und Zukunft durch eme Form umfaßt werden. Sofern sich Vergangenheit und Zukunft an dieser Jetztphase onentieren, differenziert sich diese Phase selbst m ein Noch-mcht-Jetzt und ein Nicht-mehr-Jetzt. Vergangenheit wird somit nicht als ein abgesunkenes punktuelles Nicht-mehr-jetzt betrachtet, sondern alle Nicht-mehr-Jetzte werden im Gedächtnis aufbewahrt, so daß sich eine Strecke der Vergangenheit bildet — die Ähnlichkeit dieser Vorstellung mit Bergsons duree ist unübersehbar. Nach Husserl ist das Vergangene „in Form einer adäquaten Erinnerung wahrgenommen: das ist ein Akt, der ein Jetzt ist, aber in seiner neuen Apperzeptionsweise das vergangene Objekt und den Zustand desselben adäquat wahrnimmt“ (Hua X 175). Gegenwart ist somit räumlich gesehen mit Vergangenheit verbunden, und Wiedererinnern ist verlebendigendes Eindringen in den Vergangenheitshonzont, der immer schon mit dem aktuellen Jetzt ermöglicht ist. Gleiches gilt für die Zukunft, der Zukunftshorizont ist uns bewußt als eme endlose Strecke von Noch-mcht-jetzt-Folgen. Die Melodie „besteht nicht aus den kontinuierlich aufeinander folgenden momenta¬ nen Jetztwahmehmungen, die ergeben jeweilig ihr Jetzt“ (Hua X 226). Eine Melodie als distnbuierter Gegenstand kann in einer momentanen Jetzt-Wahrnehmung nicht wahrgenommen werden. Husserl kritisiert diese aus Meinongs Theorie resultierende Unmöglichkeit der Wahrnehmung einer Bewegung und versucht darzulegen, wie im Wahrnehmungsprozeß die zeitlich ausgedehnten Gegenstände erfaßt werden können.128 Die Wahrnehmung eines Zeitobjekts beruht für ihn auf sogenannten Abschattungen dieses Objekts, die gegenwärtige Anschauung enthält jeweils die Abschattungen als mannigfaltige Gegebenheitsweisen in sich. In der Abschattung ist der Gegenstand in einer Seite wirklich anschaulich gegeben, hinsichtlich der anderen Seiten als Vermöglichkeit bewußt. Der Gegenstand existiert in der Zeit, indem er entsteht, sich bewegt und vergeht. Der Wahrnehmungsgegenstand selbst wird synthetisiert als die Einheit der vielen zeitlich aufeinanderfolgenden Erscheinungsweisen. Solche gegenständliche Einheit bleibt „als Substrat seiner stetigen Andersheiten, im anders und immer wieder anders Werden“ (Hua XI 26) bestehen. Wenn wir den Verlauf einer Melodie betrachten, können wir sagen, daß die Tonalität im Zeitfluß dauert und sich verändert. Obwohl die Tonalität sich ändert, ist sie uns als einheitliche in der kontinuierlichen Mannigfaltigkeit der Einzeltöne gegeben. Denn die Synthesis verknüpft sich kontinuierlich mit dem mannigfaltig Gegebenen, so daß die Tonfolge als Melodie bewußt ist. In unserem Bewußtsein tauchen sukzessiv neue Erscheinungen des Gegenstandes auf, und diese werden durch die Identifikationssynthese als ein Moment des Wahrnehmungsprozesses geeinigt. Wahrnehmungserscheinungen können wir, auch wenn sie mannigfaltig gegeben sind, in der Form des Zugleich apperzipieren. Wir können ein Wahrnehmungsobjekt zugleich sehen und hören, und wir verschmelzen die Empfindungen kontinuierlich in apperzeptiven Einheiten, so daß die Wahrnehmungsinhalte nicht nachemander, sondern gleichzeitig einen gegenständlichen Zusammenhang konstituieren: „die Apperzeption macht aus, was wir Erscheinen nennen, mag sie unrichtig sein oder nicht, mag sie sich getreu und adäquat an den Rahmen des unmittelbar Gegebenen halten, oder ihn, künftige Wahrnehmung gleichsam antizipierend, überschreiten“ (Hua XIX/2 762). Im Umfeld der Logischen Untersuchungen ist Husserls phänomenologische Analyse der Erinnerung vor allem mit dem Problem der Bildvorstellung verknüpft. Vergangenheit

128 Vgl. dazu Hong, S. 54.

44

1.3 Phänomenologie der Erinnerung

gelangt zur Bewußtseinsgegenwart, indem sie verbildlicht wird. Nach Husserl ist die gewöhnliche Erinnerung eine bildliche Apperzeption in bezug auf das Gewesene, aber die Wahrnehmung des Gewesenen als solches ist nicht möglich. Die Erinnerungserscheinung als ein Bild ist vom Blickfeld der Wahrnehmung diskontinuierlich getrennt, weil sie ihr eigenes Blickfeld hat. Also verhalten die beiden Felder sich nicht zueinander, daher können wir nicht zugleich daraufhinblicken. Das Wahrnehmungsobjekt ist uns aktuell gegenwärtig gegeben, aber in der Erinnerung erscheint der erinnerte Gegenstand als Nichtgegenwärti¬ ges bzw. Ye rgege nwä rügte s. Diese Synthesisleistung, die disparate Gegenstände und deren Verlaufs formen durch ein die verschiedenen Zeitstufen umfassendes ‘Horizontbewußtsein’ vereinigt, das Mitbewußt¬ haben der verschiedenen Seinsweisen des Wahrgenommenen (oder Erinnerten), welche nicht unmittelbar präsent sind, wird sich als zentral für Hofmannsthals Versuch einer Überwindung des Impressionismus und Atomismus seines Frühwerks erweisen. Die Grundfrage nach einer Aufhebung des Gegensatzes von Sem und Werden gewinnt so vor dem Hintergrund der Bemühungen Husserls um eine philosophische Erfassung dessen, was Bewegung ist, große Aktualität: nicht nur das Schreiben, sondern auch Film und Tanz werden so erst in ihrer Eigentlichkeit des beständigen Werdens, des Abweichens von einem niemals als isoliertes Moment zu fixierenden Zustand erkenntlich.

45

1.4 Erinnerung als Archäologie des Verdrängten - Sigmund Freud In der Gedächtnistheorie und Analysemethodik Freuds erreicht die Metaphorik der Erinnerung einen Höhepunkt: die Erinnerung ist Ursache und Therapie der traumatischen Krankheit zugleich.129 Die zentralen Kategonen der Freudschen Psychoanalyse — die Verdrängung, das Unbewußte, die Traumarbeit, der Wiederholungszwang — stehen ausnahmslos im Kontext einer ‘Hermeneutik des Ehnnerns’: eben weil der Mensch zentrale Informationen, Erlebnisse, Gedanken und Wünsche ständig vergißt, beziehungsweise schmerzhafte oder peinliche Teile seiner Geschichte verdrängt, besteht ja die Aufgabe des Analytikers wie des Analysanden im Heraufholen des ins Gedächtnisarchiv Verschobenen, im Zurückholen des Verdrängten ins Bewußtsein - das eben, und hier liegt die Pointe, als solches gar nicht erinnert werden kann, vielmehr im Prozeß semes Erinnertwerdens einer beständigen Um-Schreibung unterliegt. Während Bergson den Verlust der Erinnerung durch die Erfahrung eines Schocks annimmt, führt ein solcher Schock bei Freud zu traumatischen Verletzungen der Psyche, die zwar einerseits verdrängt werden, andererseits aber immer wieder durch einen ‘Wiederholungszwang’ an die Oberfläche gelangen. Um die psychische Verwundung nachträglich zu verarbeiten, muß der Traumatisierte eine ihm letztlich nicht mögliche Ennnerungsleistung absolvieren: „Der Kranke kann von dem in ihm Verdrängten nicht alles erinnern, vielleicht gerade das Wesentliche nicht, und erwirbt so keine Überzeugung von der Richtigkeit der ihm mitgeteilten Konstruktion. Er ist vielmehr genötigt, das Verdrängte als gegenwärtiges Erlebnis zu wiederholen, anstatt es, wie der Arzt es lieber sähe, als em Stück der Vergangenheit zu erinnern “li0 Weil bewußte Erinnerung scheitert, inszeniert sie sich als unbewußte immer aufs neue; die Aufgabe des Hermeneuten ist es nun, diese unbewußte Inszenierung zu einer bewußten Aufarbeitung zu machen und so das Trauma zu heilen. Dabei zeigt sich freilich, daß diese sprachlich heraufgeholten Erinnerungen „immer schon Umschriften“ sind, da der Erinnerungsprozeß dem Bedürfnis nach Verdrängung, der Zensur durch das Über-Ich, zuwidedäuft und es so zu einer beständigen Überschreibung, Löschung, Neuschreibung dessen kommt, was aus dem Gedächtnisarchiv ins Bewußtsein geholt werden soll - das Unbewußte ist eine ecnture sous rature, die sich im Prozeß ihrer Niederschrift ständig selbst auslöscht. Die starke Affinität der Analysemethodik und Interpretationskunst Freuds zum Bereich der Literatur und Literaturwissenschaft hat von Anfang an zu intensiven Wechselbeziehungen zwischen beiden Bereichen geführt.131 Der „Verwissenschaftlichung

129 So Pethes, S. 41. 130 Freud: Jenseits des Lustpnnzips, GW III, S. 228. Dieses Verhalten läßt sich bei Miranda im Weißen Fächer erkennen, die durch die Erstarrung ihrer äußeren Lebensverhältnisse und den stets wiederholten Gang an das Grab ihre verstorbenen Mannes dessen Tod ständig in die Gegenwart zurückzurufen sucht. 131 Literaturwissenschaftliche Untersuchungen einer Beeinflussung Hofmannsthals durch Freud konzentrieren sich vornehmlich auf die Gnechendramen und seine Behandlung des antiken Mythos. Vgl. dazu Bernd Urban: Hofmannsthal, Freud und die Psychoanalyse. Frankfurt a.M. 1978. Hofmannsthal selbst äußert sich in einem Brief vom Januar 1908 an Oscar A.H. Schmitz ungewöhnlich bissig: „Freud dessen Schriften ich sämtlich kenne, halte ich abgesehen von fachlicher Akribie (der scharfsinnige jüdische Arzt) für eine absolute Mediocrität voll bornierten, provinzmäßigen Eigendünkels [...].“ HB 1971, S. 74. 1930 gab Sigmund Freud in einem amerikanischen Interview zu Protokoll: „Thomas Mann and Hugo von Hofmannsthal owe muth to us. Schnitzler parallels to a large extent [...]“. Zit. nach Urban, S. 10. Michael Hamburger in Hofmannsthal: Three Essays. Princeton 1971 bezeugt die Existenz zahlreicher psychoanalytischer Werke in der Rodauner Bibliothek, darunter die für diesen Zusammenhang relevanten

1.4 Erinnerung als Archäologie des Verdrängten

46

der Poesie trat mit der Psychoanalyse eine Literarisierung der Psychiatrie gegenüber. Denn Freud mußte im Versuch, die Neurose (lebensgeschichtlich) zu verstehen, sich literarischhermeneudscher Formen bedienen, um seine Erkenntnisse sprachlich überhaupt fassen zu können.“132 So verwendet er zur Veranschaulichung von psychischen Formationen bekanntlich die Mythologie (Ödipus, Elektra, Hamlet), ja die antiken Mythen selbst werden zur Psychologie des Unbewußten, zum Medium der Selbstvergewisserung und Selbst¬ objektivierung der von ihm entworfenen psychischem Konstrukte.133 Zugleich war sich Freud des ‘literarischen’ Charakters seiner Krankengeschichten bewußt und schrieb bereits in den Hysterie-Studien: „und es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren.“134 Statt in einer hereditären Ursachenfindung im Falle von Hysterikern sah Freud in der lebensgeschichtlichen Analyse eine Heilungschance, seme Analyse ist „ein hermeneutischer Prozeß der Sinnfindung also, der m der weiteren Entwicklung der psychoanalytischen Praxis sich zu einem dialektischen Prozeß zwischen Analytiker und Analysand als methodisch in Gang gesetzter Selbst¬ reflexion konstituieren wird.“133 Dabei ist der Analytiker allem auf das Ennnerungsmatenal des Analysanden angewiesen, was die Analyse zu einem „gleichsam psychoarchäologischen Verfahren“136 macht. Bereits 1896 wird die Archäologie zur zentralen Metapher für die psychoanalytische Methode, insofern auch sie sich mit der Ausgrabung verschütteter Erinnerungen beschäftigt. Im Vortrag Zur Ätiologie der Hysterie von 1896 beschreibt Freud die hysterischen Symptome als „Etinnerungssymbole“ und vergleicht die Aufgabe, diese „wie alte Inschriften als Zeugen für die Entstehungsgeschichte der Krankheit zu entziffern, die oft Jahre zurückliegenden traumatisch wirkenden Ereignisse durch diese Zeugen in der Lebensgeschichte der Patienten freizulegen, mit der Vorgehensweise des Archäologen.“137 Im späten Werk Totem und Tabu schließlich wird die ‘Zeidosigkeit’ des Unbewußten dahin ausgeweitet, daß sich hier Individuelles und Universelles verschränken. Die Erinnerungs¬ schichten, die im Unbewußten unverloren übereinandetliegen, vergleicht Freud mit den archäologischen Schichten der Ewigen Stadt.138 Die Vorzeit, in welche die Trimmarbeit uns zurückführt, ist so eine zweifache: erstens die individuelle Vorzeit, die Kindheit, zweitens, insofern jedes Individuum in seiner Kindheit die ganze Entwicklung der Menschheit in Abbreviatur durchläuft, auch diese transindividuelle, phylogenetische Vergangenheit - die Jungsche Archetypenlehre ist hierin angedeutet.139 Dabei läßt sich von der Traumdeutung (1900), über Das Unbewußte (1915) und Jenseits des Lustprinyps (1920) hm zur Noti% über den Wunderblock’ (1925) eme zunehmende Hinwendung Freuds zu graphischen Metaphern bei der Beschreibung des Unbewußten

frühen Werke: J. Breuer/ S. Freud: Studien über Hystene, Wien 1895, Die Traumdeutung Leipzig/Wien 1900, Zur Psychopathologie des Alltagslebens, Berlin 1904. I3: Michael Worbs: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. Frankfurt a.M. 1988. S. 9. 133 Vgl. Worbs, S. 12. 134 GW I 227. 135 Worbs, S. 86. 136 Worbs, S. 87. 137 Worbs, S. 338. 138 Vgl. dazu Worbs, S. 340. 139 GW I 204.

Sigmund Freud

47

und der Erinnerungsarbeit bemerken. Das Unbewußte arbeitet, indem es seine Beset¬ zungen auf Assoziationswegen gleiten läßt. Verdichtung (Übergang von einer Besetzung zur anderen) und \/erschiebung (Konzentration mehrerer Besetzungen auf eine Vorstellung) machen die Niederschrift zu emem Prozeß steten Umschreibens, der die ungegliederten Vorstellungen des Unbewußten, die ja erst nach dem Ende des Traums und mit dem Erwachen in diskrete Wortvorstellungen übertragen werden, zu einem sinnvollen Ganzen ordnet.140 Das Gleiten und Flottieren der unbewußten und bloß metaphonschen Bilderfülle des Traumes wird jetzt in einer ganz konkreten Sprachmatenalität wiederholt - in einer Weise, die mit Lacan gelesen selbst die der Metapher (Verdichtung) und der Metonymie (Verschiebung) ist.141 „Wenn Freud die Arbeit des Unbewußten als ‘Verdichtung’ und ‘Verschiebung’ beschreibt und Lacan diese als Metapher und Metonymie liest, dann ist die Arbeit Erinnerung je schon rhetonsch verfaßt: als nachträgliche imaginäre Inszenierung einer Vergangenheit im Medium der Sprache.“142 Auch Freud arbeitet dabei mit der von Platon und Hegel bekannten Differenzierung in ein (bewußtes) Gedächtnis und (unbewußte) Etinnerungsspuren. Bei Platon ist es die Erfindung der Schrift, die diese Differenz allererst eröffnet, insofern die Externalisierung der Gedächtnisfunktion durch das eine Speicherung außerhalb des menschlichen Hirnes ermöglichende Medium der Schnft das Vergessen initiiert; in Freuds Metaphorik wird auf der Ebene des Unbewußten ‘geschrieben’. Im noch physiologisch bedingten Bild der ‘Bahnung’ faßt Freud die Einschreibung der Realität als Überwindung eines Widerstandes der Psi-Neuronen durch eine Erregung auf, die aufgrund des hierdurch verringerten Widerstands den Weg der Folgeerregungen vorprägt; Bewußtsein entsteht so gleichsam an der Stelle der Ennnerungsspur.143 In seinem Entwurf einer Psychologie versucht Freud über eine eigene Nerventheorie die Gedächtnisfunktion im menschlichen Hirn zu bestimmen: „Eine Haupteigenschaft des Nervengewebes ist (aber) das Gedächtnis, d.h. ganz allgemein die Fähigkeit, durch einmalige Vorgänge dauernd verändert zu werden.“144 Für dieses Paradoxon einer beständigen Einschreibung von Leben in die als Ort des Gedächtnisses fungierenden Nerven bei gleichzeitig weiterbestehender ‘Unberührtheit’ und unbegrenzter Aufnahme¬ fähigkeit derselben wird Freud erst mit seiner Notrf über den Wunderblock ’em angemessenes - freilich metaphonsches statt physiologisches Modell - finden, das beides - „unbegrenzte Aufnahmefähigkeit und Erhaltung von Dauerspuren“143 - m sich veremt. Da Freud die zeitgenössische Differenzierung von ‘Wahrnehmungszellen’ und ‘Erinnerungszellen’ ablehnt, versucht er, durch die Hypothese von ‘Kontaktschranken’ einerseits und ‘Bahnungen’ andererseits diese Doppelfünktion des Gedächtnisses als einer speichernden und zugleich löschenden Formation zu erklären. Während die Phi-Neuronen

>•» Vgl. Freud: Das Unbewußte, GW III 157f. Bei Schizophrenie jedoch kommt es zu einer Störung: „Worte werden hier demselben Prozeß unterzogen [...] den wir den psychischen Pnmärvorgang geheißen haben. Sie werden verdichtet und übertragen einander ihre Besetzungen restlos durch Verschiebung.“ i-» Derrida: Freud und der Schauplatz der Schrift. In: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M. 1972. S. 306, 316. u: pethes, S. 68. Freud beschreibt die Erinnerungsspuren im Unbewußten als unbestimmt, zeitlos und energetisch. Die Besetzungen flottieren ohne die Möglichkeit einer Kategorisierung und entsprechen derart den qualitativen Intensitäten, von denen auch Bergson ausgeht. Vgl. Pethes, 84f. 143 Vgl. Freud: Jenseits des Lustprinzips, GW III, S. 235f. Vgl. Pethes, S. 41. 144 Freud: Entwurf einer Psychologie. In: S.F.: Aus den Anfängen der Psychoanalyse. 1887-1902. Briefe an Wilhelm Fliess. Frankfurt a.M. 1962. S. 308. 145 GW XIV, S. 4.

1.4 Erinnerung als Archäologie des Verdrängten

48

durchlässig seien und deshalb keine Spur der empfangenen Eindrücke retenierten, setzten die Psi-Neuronen der von außen kommenden Erregungsquantität Kontaktschranken entgegen und bewahrten so eine eingedrückte Spur: „Das Gedächtms, d.h. die fort¬ wirkende Macht eines Erlebnisses [hängt] von einem Faktor ab, den man die Größe des Eindrucks nennt, und von der Häufigkeit der Wiederholung desselben Eindrucks.“146 Bahnungen entstehen da, wo ein äußerer Eindruck auf den Widerstand der Neuronen trifft; je häufiger ein Konflikt entsteht, desto tiefer sind die hinterlassenen Spuren. So hinterläßt „der Schmerz ganz besonders ausgiebige Bahnen.“147 Bedeutsam für ein Ennnerungsmodell, in dem das Leben den Nervenzellen sich gegen deren Widerstand einschreibt, ist eben diese Vorstellung einer dem Gedächtnis inhärenten Abwehrfunktion (gegen den Schmerz, gegen die Überfülle des Erlebten): „Das Leben schützt sich zweifellos mit Hilfe der Wiederholung, der Spur und des Aufschubs (differance).“148 Das Bild der Bahnungen und Spuren verweist zudem auf eine (topo)graphische Metaphorik des Gedächtnisses, den Versuch nämlich, „über das Psychische mit Hilfe der Verräumlichung, mit Hilfe einer Topographie der Spuren und einer Karte der Bahnungen Rechenschaft [zu] geben; ein Projekt, das das Bewußtsein oder die Qualität in einem Raum situieren will [.,.].“149 In einem Brief vom 6.12.1896 an Wilhelm Fliess greift Freud zur Beschreibung der neuronalen Gedächtnisfunktionen in auffallender Weise auf graphische Metaphern zurück: Du weißt, ich arbeite mit der Annahme, daß unser psychischer Mechanismus durch Aufeinanderschichtung entstanden ist, indem von Zeit zu Zeit das vorhandene Material von Erinnerungsspuren eine Umordnung nach neuen Beziehungen, eine Umschrift erfährt. Das wesentlich Neue an meiner Theorie ist also die Behauptung, daß das Gedächtnis nicht einfach, sondern mehrfach vorhanden ist, in ver¬ schiedenen Arten von Zeichen niedergelegt. [...] Wie viel solcher Niederschriften es gibt, weiß ich nicht.150

Dieses beständige Umschreiben geschieht bei jedem Neuronenträger in spezifischer Weise - Freud differenziert hier zwischen Wahrnehmungszeichen, Unbewußtsein und Vorbewußtsein; wichtig in diesem Zusammenhang ist, das die Umschrift des Vorbewußt¬ seins bereits an Wortvorstellungen gebunden ist und nachträglich abläuft.151 An der Traumdeutung (1900) ließe sich das Grundkonzept eines solchen Erinnerungsmodells aufweisen, das den hermeneutischen .Akt des Deutens vergessener oder verdrängter Anteile des subjektiven Bewußtseins in der Traumarbeit’ als ein nachträgliches Um-Schreiben, mit Derridas Worten: als Dissemination des ‘Eigentlichen’ (das immer schon ein Vergessenes, Verdrängtes ist) auffassen läßt: „Es gibt keinen präsenten Text im allgemeinen und selbst keinen gegenwärtig-vergangenen Text; ein vergangener Text, der gegenwärtig gewesen wäre. Der Text läßt sich nicht in der ursprünglichen oder in einer modifizierten Form der Präsenz denken. Der unbewußte Text ist schon aus reinen Spuren und Differenzen

146 Freud: Entwurf, S. 309. 147 Freud, Entwurf, S. 328. 14* Derrida: Freud und der Schauplatz der Schrift. S. 311. 149 Derrida: Freud und der Schauplatz der Schrift, S. 315. 150 Freuds Brief 52 vom 5.12.1896. 151 Vgl. ebenda, sowie Derrida: Freud und der Schauplatz der Schrift, S. 316.

Sigmund Freud

49

gewoben, in denen Sinn und Kraft sich vereinen; ein nirgendwo präsenter Text, der aus Archiven gebildet ist, die immer schon Umschriften sind.“132 Die Lektüre und Entzifferung von Trauminhalten, die ja nach alten Bahnungen ablaufen und bildlicher Verschlüsselung unterliegen, erfordert nach Freud freilich kein überzeitliches, statisches Dechiffriermodell, sondern eine individuelle Anpassung an den Träumenden, sowie eine Aufdeckung der Beziehungen der einzelnen Traumzeichen zueinander. Obgleich auch Freud von einer „Masse kodifizierter Elemente im Verlauf einer individuellen und kollektiven Geschichte“ ausgeht, steht das Moment des Individuellen im Vordergrund: „Der Träumer erfindet seine eigene Grammatik. Es gibt kein signifikantes Material und keinen vorgängigen Text, mit deren Verwendung er sich begnügte, selbst wenn er hierauf niemals verzichtet.“153 Freud betont explizit: „Mein Verfahren ist [...] nicht so bequem wie das der populären Chiffriermethode, welche den gegebenen Trauminhalt nach einem fixierten Schlüssel übersetzt; ich bin vielmehr gefaßt darauf, daß derselbe Trauminhalt bei verschiedenen Personen und in verschiedenem Zusammenhang auch emen anderen Sinn verbergen mag.“154 Wichtig zum Verständnis dieses Modells ist die korrekte Auffassung vom Übertragungsprozeß der unbewußten Inhalte ins Bewußtsein. Nicht kann diese gedacht werden als einfache Übersetzung von etwas Vorhandenem, wenn auch Verborgenem, sondern - mit Derridas Worten: „Es gibt keinen präsenten Text im allgeiAeinen und selbst keinen gegenwärtig-vergangenen Text“.133 Die Restitution verdrängter Anteile der Subjektgeschichte ist mithin kein Heraufholen von etwas Verschüttetem, aber immer schon Präsentem, sondern auf dem Wege der Versprachlichung und Bewußtwerdung kommt es recht eigentlich erst zur Schaffung desselben. Mit der Not:% über den Wunderblock 'wird Freud schließlich em ihn zufriedenstellendes metaphorisches Modell eines Ennnerungsapparates finden, das die einander übedagernden und zum Teil einander widersprechenden Funktionen des menschlichen Gedächtnisses abzubilden vermag. Von den Wahrnehmungen, die an uns herankommen, verbleibt in unserem psychischen Apparat eine Spur, die wir ‘Erinnerungsspur’ heißen können. Die Funktion, die sich auf diese Erinnerungsspur bezieht, heißen wir ja ‘Gedächtnis’. Wenn wir ernst mit dem Vorsatz machen, die psychischen Vorgänge an Systeme zu knüpfen, so kann die Erinnerungsspur nur bestehen in bleibenden Veränderungen an den Elementen der Systeme. Nun bringt es, wie schon von anderer Seite ausgefuhrt, offenbar Schwierigkeiten mit sich, wenn ein und dasselbe System an seinen Elementen Veränderungen getreu bewahren und doch neuen Anlässen zur Veränderung immer frisch und aufnahmefähig entgegentreten soll.156

Dieser kurze Text entwickelt anhand eines Spielzeugs eine Analogie zwischen Schreibgerät und menschlichem Wahmehmungsapparat. Der ‘Wunderblock’ ist eine Schreibtafel, die sich aus drei Schichten konstituiert: einer Tafel aus einer Harz- oder Wachsmasse, einem darüber gelegten durchsichtigen Zelluloidblatt, sowie emem zwischen Tafel und Zelluloid liegenden Wachspapier. Mit einem Stilus lassen sich nun Schriftzeichen anbringen: „Der Stilus drückt an den von ihm berührten Stellen die Unterfläche des Wachspapiers an die

,5- Derrida: Freud und der Schauplatz der Schrift. S. 323. 153 Derrida: Freud und der Schauplatz der Schrift. S. 320. 154 Freud: Traumdeutung, GW U/III 109. 155 Derrida: Freud und der Schauplatz der Schrift, S. 323. 156 GW II/III, S. 543.

50

1.4 Erinnerung als Archäologie des Verdrängten

Wachstafel an und diese Furchen werden an der sonst glatten weißlichgrauen Oberfläche des Zelluloids als dunkle Schrift sichtbar.“157 Zur Beseitigung der Schrift braucht man nur die beiden Deckblätter von der Tafel abzu2iehen und schon ist der Wunderblock „schriftfrei und bereit, neue Aufzeichnungen aufzunehmen.“15® Die Pointe dieser Beschreibung liegt jedoch im Zurückbleiben von Spuren in der darunterliegenden Wachstafel: „Es ist aber leicht festzustellen, daß die Dauerspur des Geschriebenen auf der Wachstafel selbst erhalten bleibt und bei geeigneter Belichtung lesbar ist.“159 Anhand dieses Paradoxons eines Löschens, das zugleich ein Bewahren von Spuren ist, gelingt es Freud, seine Konzeption des Gedächtnisses zu verdeutlichen. Während die oberste Schicht aus Zelluloid gewissermaßen als Reizschutz dient gegen Beschädigungen von außen, so stellt die Wachsschicht die reizaufnehmende Fläche des Wahmehmungsbewußtseins dar. Die Wachstafel, auf der gleichsam unbemerkt die Dauerspuren jener Oberflächenerscheinungen eingegraben sind, steht dabei für das Unbewußte. Der Erinnerungsapparat muß sich somit wie eine tabula rasa für immer neue Eindrücke freimachen, gleichzeitig aber in der Tiefe des Unbewußten die Spuren des Erlebten zurückbehalten: „Denkt man sich, daß, während eine Hand die Oberfläche des Wunder¬ blocks beschreibt, eine andere periodisch das Deckblatt desselben von der Wachstafel abhebt, so wäre das eine Yersinnlichung der Art, wie ich mir die Funktion unseres seelischen Wahrnehmungsapparates vorstellen wollte.“160 Lesbarkeit und Unlesbarkeit, Erinnern und Vergessen, stellen somit gleichermaßen die Bedingungen eines Gedächtnisses dar, das nicht als immer verfügbares Bilderreservoir aufgefaßt, sondern in einen Prozeß eingebunden wird, in dem die situativ gegebenen Wahrnehmungen mit den im Unbewußten gebildeten dauerhaften Ennnerungsspuren m einem dialektischen — oder hermeneutischen! — Austausch stehen. Für Hofmannsthal wird sich ein ganz ähnlich strukturiertes Erinnerungsmodell, das ein Vergessen an der Oberfläche mit einem ewigen Bewahren einer Tiefenstruktur und damit der beständigen Möglichkeit eines Hervorbrechens aus den Schichten des Unbewußten verbindet sowohl für seine Auffassung von Ich-Idendtät als auch von einer kunst- und literaturgeschicht¬ lichen Tradition zeigen lassen. Erinnerung als psychoanalytische Anamnese steht dabei immer vor dem Hintergrund einer ewigen ‘Matrix’ - dem ‘Engramm’ der mit unauslösch¬ lichen Spuren gravierten Wachstafel -, die rückwirkend die Prozesse des Erinnems und Vergessens und damit die der aktuellen Wahrnehmung beeinflußt. Schnftmodelle als Orte der Erinnerung stehen dabei in Opposition zu Versuchen einer visuellen Expressivität und einer körperlichen Unmittelbarkeit, die sich eben von der ‘Inschnft’ eines kulturellen Gedächtnisses zu befreien sucht. Gerade in Hofmannsthals Ansätzen, den Bahnen und Spuren des Unbewußten unmittelbar Ausdruck zu verleihen - in Film, Tanz und Pantomime -, wird sich die Palimpseststruktur menschlichen Bewußtseins als Ort einer beständigen Kreuzung und Überschreibung von Individuellem und Kollektivem erweisen.

157 158 159 160

Freud: Notiz, GW XIV 5. Freud: Notiz, GW XIV 6. Freud: Notiz, GW XIV 6. GW XIV 7.

51

Time past and time future What might have been and what has been Point to one end, which is always present. (T.S. Eliot, FourQuartets: Burnt Norton)

2. The Artist as Critic- Fragmente und Lektüren In dem späten, Erinnerung betitelten Trosagedicht’ von 1924' erinnert sich der fünfzigjährige Hofmannsthal seiner Initiation zum Dichter anläßlich eines Besuches im Burgtheater. Die Skizze ist geprägt von einer traumhaften Verräumlichung der Zeit, wo das Nachein¬ ander in ein simultanes Beieinander umgewandelt wird: Meine Gedanken schweifen nach jenenjugendtagen zurück; aber nichtwie vordem inneren Blick dessen, der vom Leben Abschied nimmt, erhebt sich auf fahlem Boden als ein starrendes Nebeneinander das vielfältig nacheinander Erlebte, sondern ich lande in einem geisterhaften Raum, in dessen dunkelglänzender Fülle die Seele badet. Der Raum ist mit der Kühnheit des Traumes herrlich gestaltet, ohne daß er irgendein Gerät enthielte; ja nur ungefähr sind seine Wände angedeutet als ein Etwas, das ein geräumiges Innen von einem mit düsterem Glanz hereindrohenden Außen trennt. (EGB 454)

Erinnerung ist nicht Erinnerung an etwas Statisches, Abgeschlossenes („ein starrendes Nebeneinander“), sondern wird ‘erlebt’, indem die Seele in einem „geisterhaften Raum [...] badet“ und die zunächst gegebene Differenz zwischen der Gegenwart dessen, der sich erinnert, und der Vergangenheit des Erinnerten aufgehoben wird. Der Raum der Erinnerung verschmilzt in traumhafter Weise zugleich mit dem äußerlich erlebten Raum des Wiener Burgtheaters, Innenwelt und Außenwelt korrespondieren einander oder, wie Exner es faßt, ist „alles im Dichter enthalten, es ist Seelenlandschaft, Traumlandschaft“.1 2 Mit dem Worten „ich lande“ wird aber zugleich angedeutet, daß es zum Sich-hineinYersetzen in den Raum der Erinnerung eines Sprunges, eines abrupten Wechsels bedarf. Vergangenes nicht emfach ein Kontinuum mit der Gegenwart bildet, sondern zunächst eine Distanz zu überwinden ist.3 Mit dem Sprung in die Traumwelt beginnen Gegensätze und Grenzen zu verschwimmen, Identitäten lösen sich auf, und die im Raum wahr¬ genommenen Menschen sind vielleicht nur eine „Menge des Traumes“, subjektive „Emanationen gleich abgelösten Spiegelbildern“ (EGB 454). Der Mikrokosmos des Ich

1 Es handelt sich um den Beitrag zu einer Festgabe für Anton Kippenberg. Vgl. zum Folgenden auch Ulrike Stamm, S. 222ff. - Richard Exner: Erinnerung - welch ein merkwürdiges Wort: Gedanken zur autobiographischen

Prosadichtung Hugo von Hofmannsthals. In: Modem Austrian Literature 7, 1974. S. 166. Zum Begriff des Gedächtnisraumes siehe Aleida Assmann: „Wo Gedächtnis im Horizont des Raumes konstituiert wird, steht die Persistenz und Kontinuität der Erinnerungen im Vordergrund; wo das Gedächtnis im Horizont der Zeit konstituiert wird, stehen Vergessen, Diskontinuität und Verfall im Vordergrund.“ A.A.: Zur Metaphorik der Erinnerung. In: A. Assmann, Dietrich Harth (Hgg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt a.M. 1991, S. 13-35, S. 22. 3 Vgl. Stamm S. 223. Auch Bergson betont die Notwendigkeit eines solchen Hineinspringens ins Vergangene. Der Ausdruck, man müsse sich ‘mit einem Schlag’ (d’emblee) in die Vergangenheit versetzen, wird in Kapitel I und II von Materie und Gedächtnis häutig gebraucht. Vgl. dazu Gilles Deleuze: Henri Bergson zur Einführung. Hamburg 1997. S. 75.

2. The Artist as Critic

52

enthält den Makrokosmos der Welt, und so weitet sich der Blick zu einer historisch und geographisch umfassenden Vision: Wie durch einen Wolkenschleier, der überall zu reißen begierig ist, blickt das Auge, wo es will, hinaus auf ein ungeheures Schauspiel. Die Länder und die Völker der Erde, die wimmelnden Mengen und die starrenden Einsamkeiten, die Heimlich¬ keiten der Zeit und des Raumes, alles steht da, geordnet zu Prozessionen, in einer ungeheuren Erwartung. (EGB 455)

In diesem Raum sind die Länder und die Menschen aller Zeiten versammelt, „es ist, als hätte dieser Morgen im voraus den Abend verzehrt; sein Glanz ist ahnungsvoll, und seine Schatten sind wissend“ — das Frühere und das Spätere bilden eine Einheit, der Morgen¬ glanz weiß bereits um sein zukünftiges Verzehrtwerden, die abendlichen Schatten verweisen zurück auf den Morgen. Die ‘ungeheure Erwartung’ der versammelten Zeiten und Menschen verdichtet sich zu einer Drohung: Die vage Drohung, mit der die Atmosphäre sich erfüllt hat, verdichtet sich; jeder fühlt sie scharf und hart werden und, wie die Spitze einer Lanze, sein Herz suchen. Aber indem sie dieses trifft, geht die Drohung jäh über in eine Erfüllung von fast unerträglicher Herrlichkeit, und wen sie, „Die scharfe Spitze der Unendlichkeit“, in diesem geisterhaften Morgenkampf getroffen hat, dem hat in dem langen Kampf, der nun anhebt, der Richter den höchsten Kranz weder zu geben noch zu weigern. Er trägt ihn. - Unverdient? - um welchen Blutpreis erkauft? — das ist sein Geheimnis. (EGB 455)

Der Moment der Auserwählung ist zugleich ein Moment der Gefahr, „die scharfe Spitze der Unendlichkeit“ trifft den zum Dichter Berufenen und bestimmt ihn dazu, den ‘Kranz’ zu tragen. Der Dichter gewinnt so die ‘Unendlichkeit’ (sei es seine eigene oder aber die der von ihm zu umfassenden Weltfülle), aber er zahlt einen ‘Blutpreis’ dafür. Wie Baudelaire in Le Confiteor de l’Artiste geht es auch Hofmannsthal um den Zusammenhang von „Bedrohung und gleichzeitiger Macht des künsderischen Subjekts als Bedingung poetischen Sprechens“.4 Was für ein Blutpreis aber zu zahlen ist für dieses Getroffenwer¬ den von der Unendlichkeit, ja welcher Bedrohung durch diese der Künsder ausgesetzt ist, ist Thema vieler der frühen Prosatexte und Dramen, die der Selbstvergewisserung des jungen Autors dienen. Nicht erst mit seinem ‘Chandos-Bnef hatte Hofmannsthal das Versagen aller totalisierenden Wahrnehmungsraster von Realität beklagt, vielmehr können Impressio¬ nismus und Feuilletonismus als künsderische Grundformen seiner frühen Texte gelten. Rekonstruktion von Wirklichkeit geschieht assoziativ aus Wahmehmungssplittern, Gesten, Einzelbeobachtungen und nur in immer erneuerter hermeneutischer Annäherung, die nie zu einem gültigen Ende kommen kann. Totalität kann nur die Versammlung möglichst vieler Perspektiven und Elemente bedeuten, niemals ihre Verknüpfung zu einem einheitlichen Ganzen, denn „Das Leben ist uns ein Gewirre zusammenhangsloser Erscheinungen“ {Maurice Barns, RA 1118) und „Alles fließt, nirgends hält sich ein starrer Block, weder im geistigen noch im äußeren Dasein“ {Über Balzac, RA I 392). Wenn Chandos von den Hieroglyphen vergangener Völker träumt (EGB 463), so sind ihm diese Inbegriff einer Zeit, in der das Zeichen und das Bezeichnete noch in einem ontologischen,

4 Stefan Nienhaus: Die ‘scharfe Spitze der Unendlichkeit’. Bedeutung eines Baudelaire-Zitats im Werk Hugo von Hofmannsthals. In: Poetica 21/1989. S. 84-98, S. 96.

Fragmente und Lektüren

53

nämlich unmittelbar abbildlichen Zusammenhang zueinander standen, der im Zeitalter emer von der ‘Schriftlichkeit’, also Arbitrantät, konditionierten Sprache verloren gegangen ist.3 Weniger in der lebendigen Sprache scheint die Angst Chandos’ beheimatet zu sein, als in der toten Schaft, die ihn aus seinen Traktaten „fremd und kalt anstarrt“, so daß er das Geschriebene „nicht als ein geläufiges Bild zusammengefaßter Worte sogleich auffassen, sondern nur Wort für Wort verstehen konnte“ (EGB 462). Sukzessivität statt Simultaneität im Auseinanderfallen von Signifikat und Signifikant prägt dabei nicht lediglich die Textgestalt - diese ist zugleich beheimatet m der Verfassung des Subjektes, dem es unmöglich geworden ist, von sich aus Einheit in den Text hineinzuprojizieren. Nietzsche hat diese Dissoziation des Ich auf eine sowohl sprachliche als auch wahrnehmungsspezi¬ fische Käse zurückge führt: [••■] wir sind ohne Bildung, noch mehr, wir sind zum Leben, zum richtigen und einfachen Sehen und Hören, zum glücklichen Ergreifen des Nächsten und Natürlichen verdorben und haben bis jetzt noch nicht einmal das Fundament einer Cultur [...]. Zerbröckelt und auseinandergefallen, im Ganzen in ein Inneres und ein Aeusseres halb mechanisch zerlegt, mit Begriffen wie mit Drachenzähnen übersäet, Begriffs-Drachen erzeugend, dazu an der Krankheit der Worte leidend und ohne Vertrauen zu jeder eignen Empfindung, die noch nicht mit Worten abgestempelt ist [~]5 6

Nur künstlich an die Empfindungen geheftete Worte, Begriffs-Drachen, die immer neue Begnffsdrachen erzeugen und eine unüberwindliche Kluft zwischen Innen und Außen lassen ein „einfaches Sehen und Hören“, mithin eine ganzheitliche Erfassung von Wirklichkeit, unmöglich werden. Zudem entzieht sich die in dynamischem Fluß befindliche Fülle der Erscheinungen dem ordnenden Zugriff des Subjekts, das Ttctvxa pei macht Fixation in Worten unmöglich. So kritisiert Hofmannsthal an d’Annunzio: „Es ist sehr sonderbar, wenn emer in so starren Dingen das Bild seiner Vision der Welt findet, wo doch im Dasein alles gleitet und fließt“ ((Gabriele D’Annutt^o, RA I 201). Nur in der Imagination des Subjektes scheint für Chandos eine Totalität der zusammenhanglosen All tags Wirklich¬ keit noch möglich, wodurch Realität aber gerade zum reinen Phantasma wird.7 Zu einer „Mikroskopwahrheit“ {Englisches Leben, RA I 135) wird für Chandos der Blick auf eine Wirklichkeit, die er gezwungen ist, aus unheimlicher Nähe zu sehen, im Blick auf den eigenen Körper offenbart sich seme spezifische Form der Entfremdung von der Realität: Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem solchen Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in einem Vergrößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Blachfeld mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und ihren Handlungen. Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. (EGB 466)

5 Schrift erscheint im Chandos-Bnef nicht zufällig als Bild, Chandos träumt von den Hieroglyphen vergangener Völker (EGB 463) und hängt somit „kompensatorisch dem emblematischen Ideal nach, dessen Verfehlen Das Glück am Weg ausgemalt hatte.“ Steiner, S. 123. 6 Nietzsche: Zweite Unzeitgemäße Betrachtung, KSA I 328f. 7 Vgl. de Mazza, S. 48.

2. The Artist as Critic

54

Der mikroskopische Blick macht eine 'Vereinfachung’, also eine komplexitätsreduzierende Wahrnehmung unmöglich, statt einer Ganzheit geraten nur noch Details ins Blickfeld.8 In dieser Atomisierung der Wirklichkeit in diskontinuierliche Elemente wird „diese nur mehr fragmentarisch und augenblickshaft, als beziehungsloses Nebeneinander isolierter Realitätspartikel wahrnehmbar“.9 Dem Verlust der Fähigkeit der Vereinfachung entspricht der Verlust „des perspektivischen Punktes, von dem aus Welt aufgenommen und organisiert werden kann“10 Ist auch die Fähigkeit verloren gegangen, in einem umfassenden Blick eine geschlossene, in sich kohärente Sicht auf die Dinge zu gewinnen, so wird Hofmannsthal doch versuchen, in der erinnernden Rückbezüglichkeit des Wahr¬ genommenen auf Früheres eine mtertextuell oder memorativ begründete imaginative Erlebnisgegenwart zu schaffen. ‘Gegenwart’ erlebt Chandos nur in einem Phantasma, in der inneren Visualisierung der Leiden der auf sein Geheiß vergifteten Ratten in seinem Keller, eine Szene, die in ihm die Analogie zu der von Livius geschilderten Zerstörung Alba Longa s wachruft: Aber was versuche ich wiederum Worte, die ich verschworen habe! Sie entsinnen sich, mein Freund, der wundervollen Schilderung von den Stunden, die der Zerstörung von Alba Longa vorhergehen, aus dem Livius? Wie sie die Straßen durchirren, die sie nie mehr sehen sollen ... wie sie von den Steinen des Bodens Abschied nehmen. Ich sage Ihnen, mein Freund, dieses trug ich in mir und das brennende Karthago Zugleich; aber es war mehr, es war göttlicher, tierischer; und es war Gegenwart, die vollste erhabenste Gegenwart. (EGB 468)

Statt einer eigenständigen Schilderung des Leidens der Ratten - welches ja auch nur m seiner Imagination existiert, und nicht aus der lebendigen Anschauung gewonnen ist — greift Chandos hier auf ein historisches Exempel zurück, das ihm die stumme Verzweiflung der gequälten Tiere treffend vorzustellen scheint. Das eigene Sprachversagen wird somit kompensiert durch den Rückgriff auf eine analoge, von einem anderen Autor gestaltete Situationsbeschreibung, die erst die „vollste erhabenste Gegenwart“ des rein imaginativ, aber gerade deswegen sehr heftig ‘Erlebten’ verbürgt. Für eine Welt, die sich als Chaos von ungeordneten Erscheinungen darbietet, erweist sich die Gattung des Essays, die in Verweigerung von kausallogischer Gesetzlichkeit die wechselnde Perspektive des Subjekts zur einzigen Autontät erhebt, als geeignete literarische Form, die Relativität aller Wahrnehmung abzubilden.11 Die Form des Essays ist der passende Darstellungsmodus für eine Erfahrung von Welt, die keine umfassende Zentralperspektive mehr ermöglicht, sondern die Zersplitterung in perspektivisch-

8 Auch bei Nietzsche findet sich die Formulierung „Mikroskopiker der Seele“. Vgl. Genealogie der Moral, KSA II, S. 772. Hofmannsthal will die Seele unter das Mikroskop legen, um ihre pathogenen Strukturen erkennen zu können: „Übrigens hab’ ich mir angewöhnt, die Zeit durchs Mikroskop anzusehen, der merkt man, wie der Begriff Ereignis lügt. (...) Ich möchte die Bakteriologie der Seele gründen.“ SW III 481 9 de Mazza, S. 47. Dabei wird nicht nur Vergangenes fragwürdig, auch die Zukunft löst sich auf in eine Vielzahl zu realisierender Möglichkeiten, der Mensch ist „bis zur Krankheit voll unrealisierter Möglichkeiten“ (RA I 57). 10 de Mazza, S. 48. De Mazza verweist zu Recht darauf, daß sich jener früher noch mögliche vereinfachende Blick der Gewohnheit jedoch auch negativ beschreiben ließe; nämlich als immer nur durch Simplifizierungen und Vergröberungen erkaufter Akt, der darin der wahrgenommenen Wirklichkeit genausowenig gerecht zu werden vermochte. 11 Vgl. de Mazza, S. 50.

Fragmente und Lektüren

55

relativierende Momentanwahmehmungen und Eindrücke authentisch wiederzugeben versucht. Ließe sich die von Hofmannsthal bevorzugte Form des Essays angesichts des Chandos-Briefes auch auf Bacon, einen der historischen Urväter zurückfuhren, so sind doch Walter Pater und Oscar Wilde gleichfalls als herausragende Vertreter einer betont subjektivistischen, die eigene, scheinbar beliebig wechselnde Perspektive in den Vordergrund rückenden Schreibweise zu nennen, von der sich Hofrnannsthal stark beeinflußt zeigte.'2 Die Frage nach der produktiven Rezeption von Vorläufer-Texten im Kontext des Impressionismus spielt m der Kunsttheorie beider Autoren eine wichtige Rolle, nämlich in Form der Vorstellung vom critic as artist, eines Künsders aus dem Geiste der Kntik. Kunst ist auch für Pater und Wilde nur in ‘erinnernder’ Rückbezüglichkeit auf frühere Kunstwerke denkbar. Beide betreiben in der Besprechung von Kunstwerken eine ‘impressionistische Kritik’, die gerade nicht darauf abzielt, einen im Kunstwerk an¬ zufindenden, ewigen, transzendenten Wahrheitswert herauszustellen, sondern die subjektive Rezeption und kreative Umdeutung desselben in den Vordergrund rückt: To the cntic the work of art is simply a Suggestion for a new work of his own, that need not necessarily bear any obvious resemblance to the thing it criticises. The one characteristic of a beautiful form is that one can put into it whatever one wishes, and see in it whatever one chooses to see; and the Beauty, that gives to creation ist universal and aesthetic element, makes the critic creator in his tum, and whispers of a thousand different things which were not present in the mind of him who carved the statue or painted the panel or graved the gern.13

Die schöpferische Kritik nimmt ein Kunstwerk nur als Anlaß („Suggestion“) für eine eigene Kreation, bei der der Prätext gleichsam nur als ‘schöne Form’ fungiert, die im Kritiker das Gefühl für Schönheit schärft und ihn so zu eigener schöpferischer Produktion anregt. „Wen aber kümmert es, ob Mr. Pater in das Bild der Mona Lisa etwas hineingelegt hat, von dem Leonardo mcht einmal träumte?“ fragt Wilde in The Critic as Artist bezüglich dessen Interpretation in Paters Renaissance-Thznd. Durch ein Netz von subjektiven Assoziationen wird das Eigentliche des Bildes gerade nicht aufgedeckt, sondern Kritik dient im Gegenteil dazu, „to deepen ist mystery“ (1032). Jener „Criticism of the highest kind“ (1030) nimmt das Kunstwerk einfach als Ausgangspunkt für eine neue Schöpfung, wie Gilbert es in Form einer Frage faßt: The highest Criticism, then, is more Creative than creation, and the primary aim of the critic is to see the object as in itself it really is not; that is your theory, I believe? (1030)

12 Vgl. hierzu de Mazza, S. 43. Zugleich ist Bacon aber (neben Montaigne) Mitbegründer der gerade an der natürlichen (und nicht wissenschaftlichen) Sprache orientierten Form des Essays, des sogenannten plain stylt. Es ist davon auszugehen, daß Hofrnannsthal Wildes Intentions bereits 1892 las. In einem Brief an Hermann Bahr von Ende 1892 dankt Hofrnannsthal ihm für ein nicht näher bestimmes Buch, das dieser ihm zugesandt hatte und von dem er sagt, daß er sich nach diesem „seit 15,5 Jahren unbewußt sehne“ (B I 69). Daß es sich dabei um Wildes Intentions handelte, läßt sich indirekt aus Anspielungen auf Wilde im Swinbume-Essay erschließen, zumal Hofrnannsthal im vorausgehenden Brief an Bahr schrieb, er kenne „gar nichts eigentlich Modernes in englischer Prosa“ (B I 59). Zur frühen Pater-Rezeption Hofmannsthals siehe ausführlich Stamm, S. 5-17. 13 Oscar Wilde: The Critic as Artist. Zit. nach: Complete Works of Oscar Wilde. With an Introduction by Vyvyan Holland. London and Glasgow 1848. Seitenzahlen werden in Klammem im Text angegeben.

56

2. The Artist as Critic

Nicht die vermeintliche Absicht des Künstlers soll aufgedeckt werden, sondern die im Betrachter vorhandene ‘Bedeutung’ des schönen Dinges steht im Vordergrund. Oberstes Ziel der Knük ist es, den Gegenstand zu sehen, „as in itself it really is not“, eine klar gegen den damaligen Literaturpapst Matthew Arnold gerichtete Forderung. Nur durch ein Verweben der eigenen Persönlichkeit mit dem Gegenstand, durch Intensivierung der eigenen Individualität, kann ein Verständnis für Person und Werk eines anderen erreicht werden: „it is an element of revelation. If you wish to understand others you must intensify your own individualism.“ (1033) Kunst kann angesichts der ‘Erschöpfung des Offensicht¬ lichen’ nur noch auf der Basis von Kntik entstehen: It is to criticism that the future belongs. The subject-matter at the disposal of creation becomes every day more limited in extent and variety. Providence and Mr. Walter Besant have exhausted the obvious. If creation is to last at all, it can only do so on the condition of becoming far more critical than it is at the present. (1054)

Auch Charles DuBos, den Hofmannsthal im Februar 1925 über die Vermittlung Rilkes kennenlernt, hebt die Bedeutung der rezeptiven Fähigkeiten des Dichters hervor. Dichter ist „celui qui re9oit, ou mieux, qui subit [...] son mode d’action est la reacüon.“14 Die rezeptive Haltung des Künstlers ist „immanenter Bestandteil des schöpferischen Prozesses.“13 Beide, Hofmannsthal wie Pater, sind nach du Bos in ihrem Schreiben durch die Erfahrung einer Abwesenheit, die in die Gegenwärtigkeit überführt werden soll, getrieben: Objet pour un Pater, pour un Hofmannsthal, pour tels autres, d’une inguerissable nostalgie, — sur ce cercle enchante, apres le coucher du soleil, est descendue une Absence contre laquelle cette fois rien desormais ne prevaut. Et c’est pourquoi dans l’art de Hofmannsthal, au sein de sa sourdre opulence, pese une tristesse saturee.16

Die ‘gesättigte Traurigkeit’ in Hofmannsthals Werk hänge mit dem Gefühl einer unüberwindlichen ‘Absence’ dessen zusammen, was er eigentlich in die Form des Kunstwerks zu fassen versuche. Der assimilatorische Gestus des Dichter-Chamäleons Hofmannsthal ist somit der Versuch, durch die kontinuierliche Anverwandlung des Gelesenen diese Abwesenheit von Sinn zu überwinden, wobei aber sein „Umgang mit der literarischen Tradition [...] von einem Prinzip der Aneignung bestimmt [ist], das das Gelesene und Rezipierte notwendig verändert.“17 In dem Aufsatz Über Moderne Englische Malerei wird die Kunst der Präraphaeliten als Wiederholung der Kunst der Renaissance interpretiert: In der Tat ist die Malerschule, die England seit vierzig Jahren beherrscht und deren Ausläufer Bume-Jones wir betrachten, eine von großen und fruchtbaren Kritikern durch die verführererischste und geistreichste Interpretation vergangener italie¬ nischer Kunst zu einer künstlichen Wiederholung der Renaissance hinauferzogene (RA I 548)

14 Avant-Propos pour les Berits enprost de Hugo von Hofmannsthal. In: Charles DuBos: Approximations III, Parts 1929. S. 294f. 15 Stamm, S. 4. 16 Charles du Bos, S. 311. 17 Stamm, S. 7. Alexander Stillmark: The Significance of Novalis for Hofimannsthal. In A.S. und Hanne Castein: Deutsche Romantik und das 20. Jahrhundert. Stuttgart 1986. S. 79: „In respect of his susceptibility to literary tnfluence, he is perhaps the most chameleon-like writer since Goethe.“

Fragmente und Lektüren

57

Kunst entsteht aus der Rezeption früherer Kunst und zwar - dies ist die Pointe - durch die Vermittlung der Kunst- (oder Literatur-)Kritik, in diesem Falle der RenaissanceInterpretationen Ruskins und Paters (wenngleich Pater für eine Beeinflussung der ersten Generation der Präraphaeliten nicht in Frage kommt, da die erste ‘Schule’ der PreRaphaelite-Brotherhood schon 1848 von Rossetti, Hunt, Mülais und Woolner gegründet wurde).18 Die meisten der frühen Essays Hofmannsthals sind geprägt durch die „Verbindung von kritischen und literarischen Elementen“; ein erster kntischer Teil fragt nach der Traditionsgebundenheit des besprochenen Kunstwerkes, ein zweiter Teil ergeht sich in „evokativen und assoziativen Bildbeschreibungen“19, jeder Text vollzieht somit den Umwandlungsprozeß, der den Prätext zur Vorlage eigener künstlerischer Gestaltung werden läßt. Gerade für die Rezeption Paters ist jedoch bezeichnend, daß Hofmannsthal die Zitate aus dessen Texten häufig nicht als solche kennzeichnet, sondern die Grenze zwischen dem eigenen und dem fremden Text verwischt - das Fremde wird so im Prozeß semes Um-Schreibens zu etwas Eigenem.20 Eine Kunst der Spätzeit, die nur durch die Nachahmung früherer Kunst möglich ist, ist dadurch aber nicht notwendig reine Artifizialität, wie sie etwa von Wilde angestrebt wurde, sondern ‘Essenz’ der Natur: „An Dante, Botticelli, Lionardo ist diese ganze Kunst heraufgewachsen, wie junge Reben, an alten Stecken“ (RA I 548). Künstlichkeit ist nicht rem negativ besetzt: „Kunst ist schließlich Natur auf Umwegen; Quellwasser auf dem Umweg zur Wurzel und Rebe heißt Wem und ist nicht schlimm“ (RA I 549). Kunst ist Konzentrat der Natur, der ‘Kritiker als Künstler’ verwandelt das Künstliche in ein Natürliches. Eben weil der Dichter sich „auch als reflektierender Betrachter nicht von der dichterischen Form der Welterfassung und der Gedankenverknüpfung befreien“21 kann, wird Kunstrezeption unmittelbar zu Kunstproduktion. Der durchweg mtertextuelle Charakter der Texte Hofmannsthals zeugt von dem Bemühen, in der Auseinandersetzung mit anderen Kunstwerken der Tradition selbst produktiv werden zu können und zugleich die Abwesenheit des Vergangenen durch die Inkorporation früherer Texte ‘aufzuheben’, indem es sie m die Präsenz des eigenen Textes verwandelt. Da Hofmannsthal aber den Werkbegnff ablehnt und das abgeschlossene Kunstwerk für ihn erstarrt und wirkungslos ist, wird die Kunst zum Medium emer Erinnerung, die notwendig Kntik ist, um zwischen dem vergangenen Kunstwerk und der Gegenwart, in der dieses Kunstwerk als tot erscheint, zu vermitteln:22 „Werke“ sind totes Gestein, dem tönenden Meißel entsprungen. Wenn am lebendigen Ich meißelnd der Meister erschuf.

18 Vgl. Stamm, S. 21. 19 Stamm, S. 19. In einem Brief an Schwarzkopf schreibt Hofmannsthal: „Ein gut Teil unserer poetischen Arbeit ist Auflösung erstarrter Mythen, vermenschlichter Natursymbole in ihre Bestandteile, eigentlich Analyse, also Kritikerarbeit. Sie haben wieder einmal ein Stück Dichterarbeit getan, verdichtet, gefaltet. B

117. ygj Stamm, S. 8: „Es ist nicht auszuschließen, daß ihm in Einzelfällen gar nicht mehr bewußt ist, daß er einen fremden Text zitiert oder auf einen fremden Text verweist. Auch an dieser Vorgehensweise, die das Zitat nicht mehr als ein Fremdes, sondern als ein Eigenes auffaßt und gebraucht, zeigt sich die

20

Hofmannsthalsche Weise der Anverwandlung des Gelesenen.“ 21 Emst-Otto Gerke: Der Essay als Kunstform bei Hugo von Hofmannsthal. Hamburg 1970, S. 40. — Vgl. Stamm, S. 282.

2. The Artist as Critic

58

„Werke“ verkünden den Geist, wie Puppen den Falter verkünden: „Sehet, er ließ mich zurück, leblos und flatterte fort.“ „Werke“, sie gleichen dem Schilf, dem flüsternden Schilfe des Midas, Streuen Geheimnisse aus, wenn sie schon längst nicht mehr wahr. (GD I 135)

Diese hohe Einschätzung der Kritik als einer ‘verlebendigenden’ Tätigkeit kann Hofmannsthal im Zusammenhang mit Pater entwickeln, weil dessen kritische Deutungen der Renaissance die Mitte halten zwischen Analyse und poetischer Annäherung an das Werk und so aus der Wiederbelebung des Toten neue Kunst schaffen.23 Auch Nietzsche kann als Zeuge für die Aufhebung der Differenz zwischen Rezeption und Produktion angeführt werden. Aus der Entgrenzung des ästhetischen Scherns ergeben sich für Nietzsches Ästhetik zwei wichtige Konsequenzen, die auf der Aufhebung der Differenz zwischen einer rezeptiven und einer produktiven Form der ästhetischen Einstellung beruhen: „Wenn ästhetischer Schein allein ein subjektiver Wahmehmungsmodus und dieser selbst schon eine schöpferische Tätigkeit ist, dann besteht kein qualitativer Unterschied mehr zwischen reiner Betrachtung und materieller Produktion. Zum anderen wird die Unterscheidung zwischen der ästhetischen Wahrnehmung von Kunstwerken und der ästhetischen Wahrnehmung des außerkünstlerischen Bereichs problematisch. Denn da allein die ästhetische Wahrnehmung das Wahrgenommene m symbolische Zeichen verwandelt und jeder Wahmehmungsakt in diesem Sinne eme Neuschöpfung ist, müssen auch Kunstwerke durch den ästhetischen Blick verwandelt und neugeschaffen werden.“24 Insofern jede ästhetische Wahrnehmungsleistung das Perzipierte subjektiver Formung unterwirft, ist Wahrgenommenes grundsätzlich fiktiv, ‘Sehern’, da es durch den schöpferi¬ schen Blick verwandelt wird. Kunst und Literatur aus dem Geist der Kntik werden zum Modell einer Kreativität, die sich ihrer ‘Nachträglichkeit’ nur zu bewußt ist, was von Hofmannsthal nicht durchweg positiv gesehen wird: Kritischer, nicht schöpferischer Geist dünkt sich künstlenscher als der könnende, göttlicher als Gott, der ja die Welt, ein Unvollkommenes zu schaffen sich entschloß; formloses Fluidum, der Gestaltung unfähig, dünkt sich eben darum aller Formen, der unendlichen Mannigfaltigkeit des Möglichen, voll und verachtet den gestalteten Marmor, weil jeder Meißelstoß ein Verzichtleisten, ein Einengen der Möglichkeiten, ein Unfreiwerden ist. (Das Tagebuch eines Willenskranken, R\ I 114)

Während die ästhetische Wahrnehmung zum einen die Möglichkeit bietet, auf der Grundlage vergangener Kunst etwas Eigenes zu schaffen, setzt sich der historisch bewußt arbeitende Künsder zum anderen der Gefahr des Dilettantismus aus. Literatur aus dem Geist der Kritik steht in Gefahr, sich in der Formlosigkeit zu verlieren, eben weil der Kritiker theoretisch über eme Unendlichkeit an Möglichkeiten verfügt. Da der kritische

11 Ulrike Stamm, S. 282: .Aufgrund dieser Perspektive entwickelt Hofmannsthal ein kritisches Deutungsmuster, das die gegenwärtige Kunst unter Rückbezug auf vergangene Kunst und folglich als neue Version überlieferter Formen versteht.“ Stamms Arbeit befaßt sich dementsprechend mit dem Schaffen literarischer Texte ‘aus dem Geist der Kritik’ heraus. 24 Gregor Streun: Das ‘Leben’ in der Kunst. Untersuchungen zur Ästhetik des jungen Hofmannsthal. Würzburg 1996, S. 81.

Fragmente und Lektüren

59

Geist die Tendenz besitzt, umfassend sein zu wollen, wo nur durch Selektion und Gestaltung etwas Bleibendes entstehen kann, verliert er sich in einem ‘formlosen Fluidum’ ohne klare Konturen. Nach Rudolph Borchardt liegt die Bedeutung Paters aber gerade dann, daß „durch ihn vor allem [...] unserem formflüchtigen Volk die Form wieder zu einer Ordnung des Innern geworden“ ist.25 Insbesondere Paters Essay Style und der Essay über Giorgtone sind als grundlegend für Hofmannsthals Behandlung des Zusammenhangs von Stoff und Form zu betrachten.“6 Form wird zum Gegenpol des Dilettantismus erklärt: Berufsdilettantismus: Vorliebe für das Werdende, Flutende, den anklingenden Ton, die kaum gefühlte Stimmung; Abneigung gegen Ansichten, Grundsätze, gegen eigentliche Kunst, überhaupt gegen alle Form; will göttlicher als Gott sein, der ja, indem er seinen Ideen in der Schöpfung feste Form gab, damit eigentlich in eine Lüge verfiel, denn jedes Gewordene, Feste ist eine Lüge. (RA III 321)

Wahrend diese Notiz zunächst allgemein die Hybns des Dilettanten beschreibt, der gegen jede Form und jedes Prinzip handle, ließe sich der Schlußsatz „denn jedes Gewordene, Feste ist eme Lüge“ durchaus auch als Stellungnahme Hofmannsthals selbst lesen. So ist der junge Autor gespalten zwischen dem Streben nach Festigkeit und der eigenen Neigung, das „Werdende, Flutende“ in semen Essays als solches zu repräsentieren. In den frühen Aufzeichnungen Hofmannsthals bezeugt die große Bedeutung, die er der Form zuschreibt, das Ziel, sich selbst vor der Gefahr eines Zerfließens zu bewahren und etwas Dauerhaftes zu schaffen: „Schönheit der Form bannt und erhält den Stimmungszauber wie das Gefäß den Wein: ein Aphonsma, einst lebhaft gefühlt, kann uns unverständlich werden; die abgeschlossene Form soll es organisch, lebensfähig machen“ (RA III 315). Im Unterschied zur ‘eigentlichen’ Kunst, die im Sinne Nietzsches die Bejahung des Scheincharakters der Welt voraussetzt, bezeichnet Dilettantismus eine impressionistische Haltung, die nur insofern ‘wahrer’ ist als die Kunst, als sie den Fluß der Wahrnehmungen nicht willkürlich anzuhalten versucht.27 Dennoch bereitet eme solche gleichsam seismographische Aufzeichnung des Lebensflusses Hofmannsthal Unbehagen. Die moderne psychologische und naturwissen¬ schaftliche Analyse von Wahrnehmung führte auf allen Gebieten zu einer Auflösung von Ganzheit in eme tendenziell unendliche Zahl von Einzelelementen, von ‘Mikroskopwahr¬ heiten’. Dem Zugewinn an Erkenntnis im Detail steht die Zeiterfahrung emer Auflösung des Festen und Bleibenden m einen stetigen Fluß kommender und gleich wieder vergehender Wahrnehmungen gegenüber, die den Verlust der Gegenwart bewirkt. Diesen Bewußtseinszustand erklärt Hofmannsthal m seiner Dilettantismus-Kritik mit der von Bourget und Nietzsche beschriebenen ‘Willenskrankheit’.28 Die Gefahr für den Dilettanten

25 Rudolf Borchardt: Walter Pater zu seinem hundertsten Geburtstag. S. 422. Über Hofmannsthal sagt er: „Der Wiederaufbau der deutschen Prosa durch Hofmannsthal ist ohne ihn nicht denkbar; seit den letzten Jahren des Jahrhunderts zieht in den Jugendschriften diese richtende Spur.“ Ebd. S. 421. 26 Vgl. dazu Gisa Briese-Neumann: Asthet-Dilettant-Narziß. Untersuchungen zur Reflexion der Fin de Siecle-Phänomene im Frühwerk Hofmannsthals. Frankfurt 1985. S. 111. Paters Überlegungen nehmen „in den grundlegenden Annahmen die im Chandos-Brief dargelegten Argumente eines aus sich selbst korrigierten Ästhetizismus“ vorweg. 27 Vgl. Streim, S. 88f. M Hierzu Streim, S. 90. Für Nietzsche ist der Künstler ein Schöpfer von Form und Festigkeit: „Denn wie die Natur des Philosophen bedarf, so bedarf sie des Künsders, zu einem metaphysischen Zweck, nämlich zu ihrer eigenen Aufklärung über sich selbst, damit ihr endlich einmal als reines und fertiges Gebilde entgegengestellt werde, was sie in der Unruhe ihres Werdens nie deutlich zu sehen bekommt - also zu ihrer

2. The Artist as Critic

60

besteht darin, daß er nicht nur eine Entfremdung von der Wirklichkeit erleidet, sondern auch seme Ich-Identität in Frage gestellt wird, da er angesichts eines permanenten Werdens und Vergehens von Impressionen keinen biographischen Zusammenhang mehr erstellen kann. Dieses Dilemma zwischen der erkannten Notwendigkeit von Form und der Erkenntnis, daß diese immer nur willkürlich einen bestimmten Entwicklungsstand festhalten kann, versucht Hofmannsthal über die erinnernde Vergegenwärtigung des Vorausgegangenen (und die Vorahnung des Zukünftigen) zu lösen. Der aktuelle Sinnesemdruck muß erst mit einer erinnerten Kunstform verbunden werden, um als schön empfunden werden zu können. „Schönheit - als ein Zustand momentaner ‘Vergessenheit’ — setzt so gesehen Abstraktion und Erinnerung voraus.“29 So schreibt Hofmannsthal in semem Essay über Swinburne m Anlehnung an das Diktum Wildes, daß dieser Künst¬ lertypus (Vertreter des l’art pour l’art) nicht mehr von der Natur zur Kunst fortschreite, sondern Kunst aus Kunst destilliere: Beim Anblick irgendeines jungen Mädchens werden sie an die schlanken, priesterlichen Gestalten einer griechischen Amphore denken und beim Anblick schönfliegender Störche an ein japanisches Zackornament.“ (RA I 143)

Das ästhetizistische Kunstedebnis vedäuft somit analog zu dem von Proust später dargestellten Erinnerungserlebms. Wie Hofmannsthalgeht es ihm um das Zusammenfallen eines augenblicklich empfangenen sinnlichen Eindrucks mit emem erinnerten Eindruck. Erst der Rückbezug der aktuellen Wahrnehmung auf die erinnerte Wahrnehmung ermöglicht es, jene aus ihrem Zusammenhang und ihren Sinnbezügen herauszulösen und auf ihren bloßen Formgehalt zu reduzieren, und hier wie dort verbürgt diese Reduktion auf die Form die Erfahrung von Unmittelbarkeit, die Erfahrung einer „essence des choses“. Beide Konzeptionen unterscheiden sich darin, daß es sich bei Proust um die Erinnerung an ein vergangenes individuelles Erlebnis handelt, während Hofmannsthal die in die Kunstwerke eingegangenen übenndividuellen Erlebniszustände wachzurufen sucht. Beiden Autoren geht es jedoch um die Aufhebung der Zeit und eine Spiritualisierung des sinnlichen Erlebnisses in der symbolhaften Belebung des einzelnen Bildes.30 Kunst aus dem Geist der Kritik bedeutet für Hofmannsthal einerseits die .Aktivierung des eigenen Schönheitsempfindens durch ein fremdes Kunstwerk, zum anderen aber auch die Möglichkeit, dem Fluß der Erscheinungen etwas Bleibendes entgegenzusetzen, das notwendig nur eine Fiktion von Ganzheit darstellt. Im März 1893 notiert er zum Begriff der ‘Grundstimmung’ einer künsderischen Individualität:

Selbsterkenntnis. Goethe war es, der mit einem übermütig tiefsinnigen Worte es merken ließ, wie der Natur alle ihre Versuche nur soviel gelten, damit endlich der Künsder ihr Stammeln errät, ihr auf halben Wege entgegenkommt und ausspncht, was sie mit ihren Versuchen eigentlich will.“ Nietzsche: Werke in drei Bänden, Hg. von Schlechta, Bd. I, S. 326. Hervorhebung von mir. 20 Streim, S. 102. „Daß es Zusammenstellungen von Worten gibt, aus welchen, wie der Funke aus dem geschlagenen dunklen Stein, die Landschaften der Seele hervorbrechen, die unermeßlich sind wie der gesamte Himmel, Landschaften, die sich ausdehnen in Raum und Zeit, und deren Anblick abzuweiden in uns ein Sinn lebendig wird, der über alle Sinne ist.“ (EGB 508f) 30 Vgl. Streim, S. 102. Zitat nach Marcel Proust: A la recherche du tempsperdu. S. 454. Siehe auch Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Zur Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989.

Fragmente und Lektüren

61

1. Was jeder ist, proji2iert er nach außen: Wille zur Erkenntnis, zum Leben, zur Macht etc. Was jeden am deutschesten beseelt, dünkt ihm, die Welt zu beseelen. 2. Kritik und Symbolik, die beiden sich ergänzenden Kugelschalen a) Kritik ist Ausdruck des Verständlichen, in abstracto Darstellbaren an der eigenen Indivi¬ dualität, insofern man nur diese inneren Besitztümer, wo sie sich an anderen finden, lebendig erfaßt und hervorhebt. b) Symbolik, der Rest, der nicht aufgeht, der Keimboden der reinen Subjektivität pflegt in Symbolen, Andeutungen [...] ausgedrückt zu werden, einer Art persönlicher Musik, eben der ‘Grundstimmung’. (RA I 357)

Kntik und Symbolik ergäben einander wie die platonischen Hälften einer Kugel: während Kntik es ermöglicht, im Fremden das Eigene zu entdecken und dieses abstrahierend zu veräußerlichen, steht Symbolik für den „Rest, der nicht aufgeht“, ist persönlicher Mythos, der die Individualität des Dichters ausdrückt und deshalb ‘unübersetzbar’ bleiben muß. ‘Stimmung’ wird zum Zentralbegnff einer ästhetischen und nicht rationalen Erfassung von Welt, bei der es zu einer Verschmelzung verschiedener Sinnesbereiche kommt: [...] daß das Material der Poesie die Worte sind, daß ein Gedicht ein gewichdoses Gewebe aus Worten ist, die durch ihre Anordnung, ihren Klang und ihren Inhalt, indem sie Erinnerung an Sichtbares und die Erinnerung an Hörbares mit dem Element der Bewegung verbinden, einen genau umschriebenen, traumhaft deutlichen, flüchtigen Seelenzustand hervorrufen, den wir Stimmung nennen. [...] Die Worte sind alles, die Worte, mit denen man Gesehenes und Gehörtes zu einem neuen Dasein hervorrufen und nach inspirierten Gesetzen als ein Bewegtes vorspiegeln kann. (RA I 15f)

Erinnerung wird hier mit synästhetischer Wahrnehmung verbunden, wobei wie im eingangs interpretierten Text Erinnerung erneut die Auflösung der Grenzen zwischen Subjekt und Objekt im Vordergrund steht. ‘Worte’ können durch „ihre Anordnung, ihren Klang, ihren Inhalt“ Erinnerungen wachrufen, die hier nicht als privates Heraufholen vergangener Erlebnisse des Ich zu verstehen sind, sondern als ein überindividuelles Zurückgehen in einen Zustand der „Ich-Dissoziadon, bei der die Grenzen zwischen innerer und äußerer Welt aufgehoben sind“.31 Nur durch die gelungene Anordnung der Worte kann das Kunstwerk Vergangenes („Gesehenes und Gehörtes“) lebendig werden lassen, „als ein Bewegtes vorspiegeln“. Das Bewußtsein der Fiktionalität des Geschaffenen steht somit auch hier nicht im Widerspruch zu einer verlebendigenden Wirkung von Kunst, die dem toten Charakter des abgeschlossenen Werks entgegengesetzt ist. ‘Erinnerung’ ist eben dieses m der Psyche des Rezipienten ausgelöste Zusammenspiel von an sich toter Vergangenheit mit einem „Element der Bewegung“, das das Abgestorbene in der eigenen Psyche in einem Zustand der Affizierung aller Sinne wieder zu etwas Lebendigem macht. Dabei tntt freilich in allen frühen Texten Hofmannsthals immer wieder das Problem eines nur durch die Kunstanschauung als lebendig erfahrenen Lebens auf. Die Schüler Tizians in Der Tod des Tizian (1892) erfahren Gefühle nur in ästhetischer Vermittlung, ihnen wird das Leben erst lebendig, wenn es durch die Kunst hindurchgegangen ist, ästhetisch transformiert worden ist durch Auflösung des Wahrgenomnienen in Einzelreize und deren

31 Streim, S. 131.

2. The Artist as Critic

62

Verbindung zu einem sinnvollen Ganzen nach Maßgabe der eigenen Psyche.32 Dem Maler Tizian wird dabei die Rolle eines Mittlers und Vermittlers - eines Hermeneuten also zugesprochen. Diese Rolle beschreibt Battista mit folgenden, vielzitierten Worten: Er hat den Wolken, die vorüberschweben. Den wesenlosen, einen Sinn gegeben Der blassen weißen schleierhaftes Dehnen Gedeutet in ein blasses süßes Sehnen. (GD I 255)

Phänomene der Natur werden anthropomorphisiert und so der eigenen, menschlichen Welt zugeordnet. Die Einheit des Subjektes — nicht erst durch die Skepsis Ernst Machs als subjektive Fiktion erkannt — wird in eme Folge von atomisierten Stimmungen zerlegt und kann nur noch im augenblickshaft den Wandel arretierenden symbolischen Bild Festigkeit erhalten. Während Tizian als ‘echter’ Künsder repräsentiert wird, der m direkter Anschauung des Lebens Kunst erschafft, bleiben seine Jünger anscheinend bei einem derivativen Ästhetentum stehen, nämlich bei der Rezeption der von Tizian geschaffenen Kunstwerke. Schon dieses frühe lyrische Drama unterscheidet allerdings nicht zwischen einer rezeptiven und einer produktiven Haltung, und der ‘Fehler’ der Jünger liegt weniger in ihrer Abhängigkeit von Tizians Kunst als vielmehr m einer rationalen Grundhaltung.33 Zu differenzieren ist ferner zwischen Gianinos Wahrnehmung der ‘Natur’ und der der anderen ‘Jünger’. Auch Gianino nimmt den ihn umgebenden Garten nach Maßgabe der Kunst wahr, er vermag jedoch von der impressionistischen Auflösung hin zu einer synästhetischen Korrespondenzbildung fortzuschreiten, die ihm ein ‘Erlebnis’ des Gesehenen ermöglicht.34 Gianino vermag die Fülle der Eindrücke nicht mehr kraft seiner Persönlichkeit in der Erinnerung zu einem geformten Ganzen zu fassen: Und auf dem Teiche lag ein weißer Glanz Und plätscherte und blinkte auf und nieder. Ich weiß es heute nicht, obs die Schwäne waren, Ob badender Najaden weiße Glieder, Und wie ein süßer Duft von Frauenhaaren Vermischte sich dem Duft der Aloe ... Das rosenrote Tönen wie von Geigen, Gewoben aus der Sehnsucht und dem Schweigen, Der Brunnen Plätschern und der Blüten Schnee, Den die Akazien leise niedergossen, Und was da war, ist mir in eins verflossen: In eine überstarke, schwere Pracht, Die Sinne stumm und Worte sinnlos macht. (GD I 252)

52 Sowohl die Bilder des Tizian als auch Gianinos Naturbeschreibungen sind Versuche, die Naturerscheinungen in Korrespondenz zur eigenen Seele zu deuten. Vgl. zu diesen ‘Landschaften der Seele’Jürgen Sandhop, S. 60f. 33 Hierfür argumentiert überzeugend Streim, S. 142f.: „Tizians Künstlertum wird in erster Linie als psychische Disposition und als künstlerische Wahmehmungsweise, als Blick, und weniger als tatsächliches Produzieren beschrieben. Auch eine Unterscheidung von unmittelbarer und ästhetischer Wahmehmungs¬ weise kommt im Text nicht vor.“ 34 Vgl. Streim, S. 149.

Fragmente und Lektüren

63

In dieser Schilderung vermag Giamno nicht mehr zu differenzieren zwischen den einzelnen visuellen, akustischen und olfaktorischen Impressionen, die synästhetische Empfindung überwiegt und macht eine sprachliche Differenzierung unmöglich. So steht das \ erstummen am Ende der starken Gefühle, die keiner abstrahierenden, formgebenden Reflexion mehr unterworfen sind. Im Gegensatz dazu fehlt es den anderenjüngem Tizians jedoch gerade an dieser Gefühlstiefe, für sie ist jede Wahrnehmung der Natur eine vermittelte, nur bezogen auf deren künstlensche Interpretaüon durch Tizian. Dabei gelingt es ihnen gerade nicht, der Fülle der Erscheinungen eine sinnvolle Struktuhertheit zu unterlegen, diese bleibt in additiver Reihung letztlich sinn- und bezuglos, wie aus Paris’ Worten hervorgeht: Er hat uns aufgeweckt aus halber Nacht Und unsre Seelen licht und rein gemacht Und uns gewiesen, jeden Tages Fließen Und Fluten als ein Schauspiel zu genießen. Die Schönheit aller Formen zu verstehen Und unsrem eignen Leben zuzusehen. Die Frauen und die Blumen und die Wellen Und Seide, Gold und bunter Steine Strahl Und hohe Brücken und das Frühlingstal Mit blonden Nymphen an kristallnen Quellen, Und was ein jeder nur zu träumen liebt Und was uns wachend Herrliches umgibt: Hat seine Schönheit erst empfangen. Seit es durch seine Seele durchgegangen. (GD I 256)

Versatzstucke einer schönen Natur werden hier einfach durch polysyndetisches ‘und’ aneinandergereiht, Paris spricht davon, Tizian habe sie gelehrt, „die Schönheit aller Formen zu verstehen“, was eine eben nicht gefühlsmäßige, sondern eher rationale Erfassung von Schönheit bezeichnet. „Ehe Wahrnehmung der Dmge als schöne Formen, d.h. die Asthedsierung des Wahrgenommenen, vollzieht sich durch den erinnernden Rückbezug auf Präfigurationen in Tizians Bildern. Schönheit bezeichnet hierbei aber nicht die Empfindung des in der Form verborgenen “Lebens’, sondern die Wahrnehmung unverbundener Reize.“33 Während Giamno somit durch die Überfülle seines Gefühls zu emer künstlerischen Formung unfähig wird (wenn man von der Sprachgewalt seines Autors einmal absieht), so sind die anderen Jünger aufgrund ihres nur analytischen Zugangs zur

Schönheit zu eigenem künsdenschen Schaffen unfähig. Für beide ist die Wahrnehmung der Natur jedoch durch die Kunst präfiguriert, und es ist Tizian, der kraft der inneren Landschaft seiner Seele durch Korrespondenzbildung die äußere Wirklichkeit zu einem Kunstwerk macht.36 Gianino erliegt einem Übermaß an Gefühl, während die anderen Jünger durch eine analytische Grundhaltung versagen. Hermeneutische Entzifferung von Welt ist für den Künsder stets gegründet in der Rezeption von Kunst. Das Bewußtsein des Dichters von der “Nachträglichkeit’ seiner Wahrnehmung kann dabei zur Unfähigkeit zu jeglicher Kreativität wie im Falle der Jünger

35 Streim, S. 157. 36 Während zuvor die Introspektion abgelehnt wurde wird jetzt die innere Landschaft der Seele sogar über die äußere gestellt. Steiner sprich hier von einem ‘Gelingen’ des Symbols, die Seele findet sich im Draußen. Vgl. Steiner, S. 229f.

64

2. The Artist as Critic

Tizians fuhren, oder aber in der transformierenden Nachschaffung gerade seine Chance für eigene schöpferische Leistung erkennen. Es gilt, den mtertextueUen Charakter der frühen Texte Hofmannsthals daraufhin zu betrachten, ob der junge Autor hier von der Rezeption bereits erfolgreich zu eigener Produktion fortschreitet, oder aber wie die Jünger Tizians am eigenen Anspruch der assimilierenden Anverwandlung und subjektiven Umwandlung der künsderischen Vorbilder scheitert.

65

2.1 Der Geiger vom Traunsee (1889) — Traumvision und Entzifferung In Hofmannsthals literarischem Debüt ist in nuce bereits die Technik einer sich in artistische Traumvision verwandelnden Lektüre-Erinnerung enthalten. Die erste Prosaerzählung des gerade fünfzehnjährigen Gymnasiasten, Der Geiger vom Traunsee. Vision pum StMagdalenentag von 1898,37 ist paradigmatisch für ein mtertextuell begründetes Kreativitäts-Modell, das hier alle wesentlichen Züge einer ‘Hermeneutik des Erinnerns’ aufweist. Die Thematik der Erinnerung wird explizit gemacht, und die dionysische Schöpfungsekstase, in der die Erzählung gipfelt, wird ausgelöst durch das Entziffern eines fragmentarischen Textes und dessen visionär-traumhafte Umsetzung. Bilder und Landschaften werden evoziert, die für verschiedene Epochen, Stile der literarischen Entwicklung des vorangegangenen Jahrhunderts stehen und die das Bestreben des jungen Autors nach Positionierung in, zugleich aber auch jenseits der ihm vertrauten Tradition bezeugen. Goethes lyrischem Ich in Auf dem See vergleichbar befindet sich der Erzähler zu Beginn in einem Kahn auf dem Traunsee und versucht, der sengenden Julisonne durch Landung im Schatten zu entgehen. Seine Wahrnehmung der ihn umgebenden Landschaft erschemt dabei durch literansche Muster präfigunert, es bietet sich dem Erzähler [...] ein wechselnd bewegtes Bild, das Bild friedlicher Ruhe, sorgloser Geborgenheit doppelt wohltuend nach dem furchtbar großartigen Bilde der wild-abstürzenden Felswand, der schroff aufragenden Klippen an der Stirnseite des Traunstein. (EGB 13)

Locus amoenus auf der einen, locus terribilis auf der anderen Seite, das pastorale und das sublime Element der Literatur werden hier geradezu holzschnittartig emander gegen¬ übergestellt. Ern Bächlein, schattenspendende Bäume und ein „schwellende [r] Moos¬ teppich“ (EGB 13) werden am vor der Hitze rettenden Ufer zum lieblichen’ Ort der üppigen Fruchtbarkeit und spneßenden Vegetation: alles „da draußen was keimt und blüht, was sproßt und gedeiht“ scheint sich hierher zurückgezogen zu haben, um dem „unfruchtbaren Geschiebe des Ufers“ zu entkommen.38 Diese Hinwendung von der Sterilität des ‘Außen’ in die Treibhausatmosphäre des ‘Innen’ bildet den Auftakt für einen stark erotisch-sexuell aufgeladenen kreativen Akt, der im Zentrum dieser Erzählung steht. Zunächst erfolgt jedoch die Hinwendung zur Histone, die zugleich Entzifferung, Interpretation eines auf einem Brett gelesenen Textes darstellt: „Magda - Ruhe - 39“ (EGB 14): Wer mag die Magda gewesen sein, die sich ein halbes Jahrhundert vor mir dies Lieblingsplätzchen erlesen; die hier gesessen in der Tracht unsrer Großmütter, den schlanken Hals mit dem vormärzlichen Seidentuch umwunden, den zierlichen Fuß in winzige französische Seidenschuhe gepreßt? war sie hierhergekommen mit Claurens Mimili dem empfindsamen Geläute heimkehrender Herde zu lauschen, eine bleiche, geheimnisvolle Liebe im Herzen, hatte sie sich hierhergeflüchtet um mit

37 Erstveröffentlichung aus dem Nachlaß 1978. 38 Jürgen Sandhop arbeitet dies heraus. Vgl. J.S.: Die Seele und ihr BUd. Studien zum Frühwerk Hugo von Hofmannsthals. Frankfurt a.M. 1998, S.. Vgl. auch Dirk Niefanger: Produktiver Historismus. Raum und Landschaft in der Wiener Moderne. Tübingen 1993. Niefanger arbeitet den Zusammenhang zwischen Wahmehmungsmodi der Moderne heraus und deutet jenes „wechselnd bewegte Bild“ analog zur Bewegung einer Kamera als description en mouiument. S. 61.

66

2.1 Der Geiger vom Traunsee (1889)

Jean Paul in wehmütigem Genuß seliger Beschränktheit zu schwelgen oder um sich dem bestrickenden Zauber romantischer Waldeinsamkeit hinzugebenr' (EGB 13f)

An diesem Versuch einer Rekonstruktion von Zeit und Person, die diese Inschrift hinterlassen hat, fällt auf, daß hier nicht nur die geschichtliche Erinnerung des Erzählers stark literarisch, ja sentimental ist, sondern daß auch die von ihm unterstellte Lebens¬ wirklichkeit und Erlebmsintensität jener Magda von Lektüremustern geprägt ist, statt ‘realistisch’ oder individuell zu sein. Alles an dieser Schilderung ist klischeehaft, die stilisiert biedermeierliche Bekleidung der jungen Frau, sowie das Genrebild der Verliebten, die beim Geläut der Kuhglocken den kitschigen Trivialroman Mimili (1816) von Heinrich Clauren konsumiert oder aber Natur, die ‘Waldeinsamkeit’, nach von der romantischen Literatur vorgeprägten Mustern genießt. Der naheliegende Schluß, daß es sich hierbei aber um Ironiesignale handelt, wud dadurch in Frage gestellt, daß Hofmannsthal auch später immer wieder seine Vorliebe für die gedämpfte, verträumte Atmosphäre des Biedermeier bezeugt hat und beispielsweise in einer Rezension von Ferdinand von Saars Novelle Schloß Kostenit^ (1892), die eben diese Epoche Wiederaufleben läßt, betont: „Es ist die schönste Idylle, die wahrste, die nächstverwandte. Wir sehnen uns immer nach ihr“ (RA I 141). Allein, dies klärt mcht die Frage, welche Funktion eine solche naive, idyllische (wenn auch m der Vorstellung der „alten, korpulenten Beamtenwitwe“, zu der das junge romantische Fräulein sich nun gewandelt haben mag, ironisch gebrochene) Schilderung hat, wenn man sie mcht auf die Unreife des jugendlichen Autors Zurückzufuhren gewillt ist. Und auch hier ist es erhellend, auf Hofmannsthals Auseinandersetzung mit dem Biedermeier in der erwähnten Rezension zurückzugreifen, da er hier neben das Ideal jener „unverstörten, stillen LebenskreiseP“ (RA I 140) em dionysisches Moment stellt, das die Sicherheit der Idylle von Innen her bedroht: [...] sie haben eine unbestimmte Angst vor dem Leben, das töten kann, und vor sich selbst, vor den unbewußten, dämonischen Tiefen ihrer Seele. Sie weben in leiser, aufgelöster Musik, aber es gibt Musik, die sie furchten, weil sie in gefährlichen Tiefen wühlt. Ihr Leitmotiv ist ein graziöses Tanzlied, ein Menuett der Resignation und Beschaulichkeit. Mozart entspricht ihren klargestimmten und schönen Seelen, Beethoven schon ängstigt und verwirrt sie manchmal. Es ist der alte Gegensatz zwischen Musik des Apollo und Musik des Dionysos, zwischen den heiligen Akkorden der Lyra und dem unheiligen Getön der Flöten und Becken. (RA I 140)

Die apollinisch-ruhige Oberfläche wird somit in ihrer unterschwelligen Bedrohung durch die gefährlichen Tiefen des Dionysischen gesehen, die hier vor allem als Furcht vor den destruktiven Kräften der eigenen Sexualität betrachtet werden muß.39 Und auch in Hofmannsthals Erzählung bildet die aus der Erinnerung gewonnene Idylle nur den Hintergrund für eine stark sexuell geprägte Phantasie, die auch hier von einer dionysischen Musik begleitet ist; das biedermeierlich-spätromantische Idyll bietet nur die Rahmen¬ erzählung für eine dionysische Traumvision. Schwüle Julihitze jenes 22. Juli 1889, Mittag - die Zeit des Pan - und üppige Vegetation („schwellende Moospolster“) sind Anzeichen einer erotisch geladenen Atmosphäre, die sich in zahlreichen Bildelementen findet. Der im Einschlafen begriffene Erzähler zerknickt gedankenlos „eine dunkle Orchis, die im Bereich

39 Vgl. dazu Sandhops Zusammenfassung der Handlung. S. 20f. Zur Verwendung des Terminus ‘dionysisch’ (im Kontext der Musik Beethovens) bei Lenau und einer möglichen Beeinflussung Nietzsches siehe Martin Stern: Der Geiger vom Traunsee. Hofmannsthals früheste Prosaerzählung, ln: Karl Pestalozzi/Martin Stern: Basler Hofmannsthal-Beiträge. Würzburg 1991. S. 95-107. S. 99f.

Traumvision und Entzifferung

67

meiner Finger stand.“ (EGB 15) Die Knollen der Orchidee (gr. orchis — der Hoden) waren in der Antike als Aphrodisiakum verbreitet und „galten als Speise der Satyrn, jener lüsternen Gesellen im Gefolge des Dionysos, deren sinnlich-aufdnngliche Angriffslust den Nymphen gilt. Darüber hinaus war die Orchidee als Marienpflanze bekannt, womit jener Zusammenhang von Sexualität und Sakralisierung vorgegeben wird, der mit der Figur Maria Magdalenas verknüpft ist.“411 In der Traumvision ergänzt sich dieser Eindruck noch durch orgiasusche Metaphern: „stöhnend hob und senkte sich der Wald“ (SW XXIX 11), der Schluß der Erzählung schließlich erinnert an den Zustand der Ernüchterung nach dem sexuellen Höhepunkt: „Als ich erwachte, war ich durchnäßt und rings um mich trieften die Bäume“ (EGB 18). Der Lektüreversuch, der die Inschrift durch eine in die Biedermeierzeit zurückführen¬ de Phantasie zu entziffern suchte, wird fortgesetzt, als der Erzähler auch auf der Rückseite des Brettes ein Fragment, nämlich das eines Gedichtes von Nikolaus Lenau, entdeckt: Eine Flechte bedeckte die letzten Zeilen, vorsichtig hob ich sie mit dem Taschen¬ messer ab. Am St. Magdalenentage 1839. Nik. Lenau. Dieser Name warf wie ein Blitz sein Licht in mein Gedächtnis. Ja das waren die Züge, in die ich mich mit wehmütigen Seligkeiten vertieft hatte, sooft mir mein Schurz 2 Blicke in die reiche handschriftliche Hinterlassenschaft seines Schwagers gewährt hatte. (EGB 14)

‘Archäologische’ Bemühungen müssen die verdeckte Schrift erst wieder sichtbar machen, und es ist die Handschrift selbst, die den Erzähler blitzartig an Texte Lenaus erinnert (die er im von Lenaus Schwager Schurz verwalteten Nachlaß einsehen konnte), aber auch dessen dort untergebrachtes Porträt evoziert. Die Blitz- und Lichtmetaphorik verdeutlicht dabei die im Akt der Erinnerung erfolgende plötzliche ‘Hebung’ von „im Dunkeln des Unbewußten“ versunkenen Elementen des Gedächtnisspeichers.41 Dem Erzähler gelingt es offenbar nicht, „den Sinn des Gedichtes zu erschließen“ (EGB 14), es können nur „einige Zeilen zu verständlichen Sätzen“ kombiniert werden. Der rekonstruierte Text bezieht sich auf die Geschichte der reuigen Sünderin Mana Magdalena aus dem Neuen Testament, die exemplarisch für die Verbindung von Erotik und Frömmigkeit im Katholizismus steht. Dementsprechend ruft das Gedicht im Erzähler eine sinnliche Vision der „schöne[n] Büßenn im Schmuck des mederwallenden Haares“ (EGB 15) sowie von Lenau selbst, jenem bleichen „Mann mit der Rätselfremde im sehnenden Aug und dem halb traurigen halb spöttischen Zug um die vollen Lippen [...]“ (EGB 15): Du fielst, ein Weib, wie tausend Weiber sanken, Dein Heiland hörte deines Herzens Stöhnen Die Reu, wie das Vergehen, ohne Schranken Mein Wollustmeer ist eine Welt von Tönen Und Zechgenossen sind mir die Gedanken Du warst ein Weib wohl dir du konntest weinen Und heute preisen. Heil’ge dich Legenden Dein Platz ist bei den Makellosen Reinen

40 So Sandhop. S. 24. Zur Bedeutung des gewählten Magdalenentags, der als „Zeichen einer ambivalenten, ‘kritischen’ Situation“ galt, vgl. Mathias Mayer: Hugo von Hofimannsthal, S. 129. 41 Sandhop, S. 26.

2.1 Der Geiger vom Traunsee (1889)

68

Wann wird die Qual wann die Verfolgung enden? (EGB 15)42

Das Gedicht selbst stellt die Motive der freien Sinnlichkeit („Wollustmeer“) und der Heiligkeit unvermittelt nebeneinander, wobei der Dichter selbst fast neidisch darauf zu verweisen scheint, daß es für die Frau fast leichter sei, sich von der „Verfolgung“ durch die eigene Triebhaftigkeit zu befreien und im „Weinen“ die Vergebung Gottes zu erlangen, als für ihn selbst als Mann. Diese Imagination geht jedoch über in emen Traum, der die eigentliche Verarbeitung und Interpretation des Gedichtfragmentes darstellt und so den Rezeptionsakt zu einem Schöpfungsakt werden läßt, welcher hier allerdings—wie zu zeigen ist - letztlich scheitert. Der Erzähler versinkt im Halbschlaf und wird von einer Traumvision heimgesucht, in der Lenau als dämonische Verführergestalt, als Psychagoge in gefährliche Regionen auftritt. Musik ist es zunächst, die den Übergang vom wachen Bewußtsein ins Unterbewußte einleitet: Da mischte sich in das Plaudern u. Murmeln der Wellen ein seltsames Klingen, wie ferner Geigenton. Leise und doch vernehmlich klang es aus der Tiefe, als schlängen Nixen ihren Reihen durch die feuchten Bogen und Hallen der versunkenen Stadt. (EGB 15f)

Die Metaphorik ist auch hier klar erotisch, Nixen (man denke an Melusine oder Undine) sind dem Element des Wassers (= des Weiblichen) zugehörige Verführerinnen dämo¬ nischer Natur, deren unwiderstehliche (sexuelle) Anziehungskraft den Mann in den Abgrund zu ziehen droht - einen Abgrund, der hier zudem mit dem Mythos des versunkenen Atlantis zu einem archaischen Motivkomplex verbunden wird. Der Geiger selbst ist zwar einerseits von biedermeierlicher Strenge geprägt, „ein ernster, bleicher Mann, in der förmlichen, spießbürgerlichen Tracht unsrer Vorfahren“ (EGB 16), andererseits jedoch wie das wallende Haar Magdalenas von freier Ungebundenheit, wie sein Vorbild Lenau: [...] er liebte es, was ihm Herz und Sinn durchstürmte, frei entströmen zu lassen wie die ungebundenen Tonfluten seiner Geige, nicht es zu feilen und zusammen¬ zupressen in die enge Schranke der kunstvoll verschlungenen 14 Zeilen. (EGB 15)

Der fragmentarische Charakter des vom Erzähler entzifferten Sonetts scheint so den Intentionen Lenaus eher zu entsprechen als die vollkommene Form; die Musik schließlich wird zum eigentlichen Gipfel einer Kunst der Unmittelbarkeit. Um sich zu dieser hin zu befreien muß der Erzähler jedoch zunächst durch den Schlaf von der Überwachung des Bewußtseins erlöst werden und sich im Traum der Sphäre des Dionysischen annähern, das archivalisch-archäologische Bemühen um die Hermeneutik des Textes auf die unbewußte Traumarbeit der eigenen Psyche verlagern.43 Der Weg in der Nachfolge des Geigers wird

4: Das Gedicht läßt sich in Lenaus Werk nicht nachweisen und ist vermutlich von Hofmannsthal selbst verfaßt. 43 Wertvoll sind in diesem Zusammenhang die Hinweise Sandhops auf Lenaus siebtes Waldlied das nicht nur zahlreiche Motive von Hofmannsthals Text vorwegnimmt, sondern im Bild des Schlafes bereits die Metaphorik der Psychoanalyse vorwegzunehmen scheint: „Daß die Seele, rings nach außen vergessend/ Sich in ihre Tiefen hienein ennn’re./ Preisen will ich den Schlummer, bis er leise/ Naht in diesem Dunkel und mir das Aug’ schließt“ (Nikolaus Lenau, Waldlieder VII. In: Nicolaus Lenaus’s sämmtliche Werke in einem Bande. S. 249). Analog zu Hofmannsthals Vorstellungen öffnet der Schlaf den „Zugang zu seelischen Tiefenschichten“, die aber zugleich Hinwendung zur eigenen Vergangenheit

Traumvision und Entzifferung

69

im Durchschreiten von literarischen Epochen und Stilen für den jungen Dichter zu einer „Art geträumte[n] Imtiauonsntualjs]“.44 Auf den Tag genau fünfzig Jahre nach der Anwesenheit des dichterischen Vorbildes am selben Ort will der junge Dichter angesichts der mystischen Koinzidenz der Daten durch die im Gedicht verbürgte Präsenz Lenaus selbst in dessen Fußstapfen treten. Der Weg führt von der idyllischen Natur am Ufer des Sees durch „dunklen hohen Wald“ bergan, daraufhin wird der Pfad „eng und schwindlich“, überall sind „schroffe Abstürze, von phantastischen Klippen und Zacken unterbrochen“ und das Wetter ändert sich, es beginnt zu regnen, Sturm kommt auf (EGB 17). Die erhabene Natur löst die Idylle ab, der Absturz wird bereits warnend vorweggenommen: „Kaum hie und da gewährte die Wurzel einer verkrüppelten Föhre dem Fuß einen sicheren Anhaltspunkt“ (EGB 17). Analog zur sich wandelnden Natur beim Aufstieg auf den Traunstein macht auch die vom Geiger gespielte Musik einen Wandel durch. Während im Wald Kinderlieder und Liebeslieder erklingen, die so zart sind, „wie wenn im silbernen Mondstrahl Elfenreigen um Moor und Halde schweben“ (EGB 16), wandelt sich der Ton mit dem Hinaustreten aus dem Wald. Obwohl die Geige im Gegensatz zu Blasinstrumen¬ ten wie der Panflöte an sich kem dionysisches Instrument ist, ist die von ihr erzeugte Musik ganz gewiß nicht als apollinisch zu bezeichnen: Dann schmetterten wilde kriegensche Töne durch den horchenden Wald, wie die empörten Wogen eines Gießbaches schwollen die Töne an, klirrend stießen sie aneinander, die Erde erdröhnte vom wütenden Anprall; endlich floß allesbrausender Siegesruf, der Schrei der Verzweiflung, ohnmächtiges Stöhnen in einen brausenden Chorgesang zusammen, fessellos und unergründlich wie das tobende Meer. (EGB 16)

Dieser Wechsel der Musik vom genus humile zum genus sublime bleibt nicht ohne erhebliche Wirkung auf den Erzähler: „Alles was in meinem Herzen übng geblieben von flammender Begeisterung heißem Ringen der Jugend schlug noch einmal lodernd auf“ (EGB 16). Mit zunehmender Annäherung an den Gipfel wird die Musik des Geigers nicht nur immer heftiger und leidenschaftlicher, sondern überschreitet schließlich sogar die Grenzen des Schönen, indem die Geige nur noch „kreischende Töne“ (EGB 16), also Häßlichkeit erzeugt. Die Entwicklung steuert unaufhaltsam auf einen Höhepunkt zu („Immer heißer, unstäter scholl sein Spiel“; EGB 17), der mit dem Absturz enden wird: Wie ich schaudernd über den Abgrund hinab blickte [...] war mir als stünde ich vor dem großen Rätselhaften, das ein Menschengemüt bewegt. (EGB 17)

Zu fragen ist, weshalb der Erzähler abstürzt und ob es sich dabei um eine notwendige Abwärtsbewegung nach dem Aufschwung handelt, oder aber darin ein Scheitern seines

bedeuten: „Der Schlafende wird mit dem eigenen Unbewußten und den dunklen, unbekannten Seiten seiner selbst bekannt gemacht. Die Wendung nach innen bedeutet zugleich einen Akt der Erinnerung an weit- und menschheitsgeschichtliche Ursprünge, denn in einem weiteren Gedanken berichtet das lyrische Ich davon, daß es im Traum gelegentlich Flötenmusik vernommen hat, die es als ‘Gesang der Urwelt’ und ‘Ruf der Heimat’ bezeichnet.“ Sandhop, S. 32. 44 So Martin Stern, der Initiation hier nicht als Mannwerdung, sondern als Beginn des Daseins als Künstler begreift: „Wie Dante von seinem Yergil, so werden hier dem hingerissenen Lauschenden höchste Höhen und tiefste Tiefen der Kunst gezeigt.“ S. 103.

70

2.1 Der Geiger vom Traunsee (1889)

(künstlerischen) Strebens sich bezeugt.43 Bereits beim Aufstieg zeigt er sich als wenig geschickter Nachfolger des sich mit schwereloser Leichtigkeit fortbewegenden Geigers: „keuchend, mit bluffenden] Händen jede Zacke, jeden Ast benutzend“ (EGB 17), arbeitet er sich mühsam vorwärts. Die Verfolgung des wahnsinnigen Geigers ist von einer AngstLust beherrscht, von Faszination durch und Furcht vor den Höhen dieser Kunst, schließlich verliert er jedoch den Anschluß, was merkwürdigerweise Verzweiflung im Verfolgten statt im Verfolger auslöst: Er war schon weit, weit von mir, und mir war, als sähe er sich nach mir um mit dem stummen, hilflosen herzzerreißenden Blick der Verzweiflung. (EGB 18)

Ein aufziehender Sturm führt schließlich zum Absturz des erzählenden Ich: „noch hänge ich mit beiden Händen an der Wurzel; eine schwache Wurzel emer Zwergfichte; ich fühle, wie sie meinem Gewicht nachgibt, ihre Fasern lösen, und ich stürze“ (EGB 18). Ist dieser ‘Absturz’ vom Felsen nun aber Sinnbild für „die dionysische Einheit von Eros und Thanatos, von Orgasmus und Tod“46, also Gipfelpunkt und Ende des kreativen Zustandes zugleich? Oder aber zeigt sich dann ein Zurückbleiben hinter den Erwartungen, ein Scheitern an zu hohen Ansprüchen, die die Nachfolge Lenaus stellt? Relativiert wird das Erlebnis freilich dadurch, daß es sich um einen Traum handelt, wie gleich zu Beginn deutlich gemacht wird: „Fester schloß ich die Augen, denn ich fürchtete zu erwachen, und die süßen Klänge zu verscheuchen“ (EGB 16). Das „Übermaß geträumten Fühlens“4 oder aber die äußeren Witterungsverhältnisse, die den realen Sturm und Regen in den Traum hineinwirken lassen, bewirken das Erwachen des Ich: „Als ich erwachte, war ich durchnäßt, und rings um mich trieften die Bäume“ (EGB 18).48 Ließe sich das Erwachen aber als Aufhebung des Traumprozesses verstehen, oder ist dies nur der geradezu klischeehaft genretypische Schluß, der am Ende einer schauerlichen Alptraumgeschichte zu erwarten ist? Ern Erwachen als ernüchterte Rückkehr aus den Untiefen der dionysischen Vision ließe sich möglicherweise als die Vorwegnahme einer Emanzipation von einem Dichter, der die „dekadente Sehnsucht nach tödlicher Schönheit oder schönem Tod“ vertrat, lesen und wäre somit die vorweggenommene Abkehr vom ‘Ästhetizismus’ Lenaus und der Doppelnatur des Biedermeierlichen.49

43 Sandhop verweist auf die Metaphorik des Schwindels und des Abstürzens in Ibsens Baumeister So/neß, wo der Aufstieg aufs Baugerüst für die Sehnsucht nach Leben,Jugend, Glück (in Gestalt der jungen Frau Hilde) steht, der Schwindel hingegen, der zum Absturz führt, eben die Angst vor dem sosehr Ersehnten zeigt. Siehe dazu auch Hofmannsthals Interpretation in seinem Aufsatz Die Menschen in Ibsens Dramen (1892) in RA I 158f. In einer Tagebuchaufzeichnung, die die Skizze eines Briefes an George darstellt, schreibt Hofmannsthal im Januar 1892: „Ich hätte Sie gern gestützt, Ihnen zu danken, daß sie mir Tiefen gezeigt haben; aber Sie stehen gern, wo Ihnen schwindelt, und lieben stolz das Grausen vor inneren Abgründen, die nur wenige sehen können“ (RA II 342). 46 Stern, S. 106. 47 Wenn einer träumt, so kann ein Übermaß/ Geträumten Fühlens ihn erwachen machen“ (GD I 297). 48 Auch Michaela Perlmann interpretiert dieses Moment vor dem Hintergrund zeitgenössischer Traumtheonen, die äußerlich oder innerlich verursachte Nervenreize für den Auslöser von Traumerlebnissen hielten. Vgl. M L. Perlmann: Der Traum in der literarischen Moderne. Zum Werk Arthur Schnitzlers. München 1987. S. 68. 47 Vgl. Stern, S. 106: „Die dionysische Botschaft einer Entrückung und Befreiung von der Historie durch die Kunst, die er bei Lenau vernahm und die ihn als halbes Kind schon für Nietzsches ‘Artistenevangelium’ empfänglich machte, wurde ihm immer zweifelhafter.“

Traumvision und Entzifferung

71

Gerade angesichts eines derart ‘aufdringlich’ deutlichen Schlusses ließe sich aber auch argumentieren, daß Hofmannsthal hier vielmehr am Anspruch scheitert, Literatur im Prozeß traumhaften Erinnerns der eigenen Psyche so anzuverwandeln, daß die Differenz zwischen dem fragmentarischen Text Lenaus und dem eigenen Text aufgehoben wäre. Die mühsame Nachfolge und der schließliche Absturz bezeugen hingegen ein Einbrechen von Furcht in den Prozeß der Anverwandlung, das diesen unvollendet abbrechen läßt, indem es zum ‘Erwachen’ führt. Während im Traum die Simultaneität von Vergangenheit und Gegenwart zumindest als Möglichkeit aufscheint, ist das Wachsein von der unüberwindli¬ chen Differenz der Zeitstufen geprägt. Der Text als jugendliche ‘Stilübung’ bleibt m der Nachfolge Lenaus gewissermaßen auf halbem Wege stehen, wagt nicht, dessen dionysische Untiefen und Einsicht in das ‘Rätsel des Menschengemüts’ vollends auszuloten, und führt in der Erkenntnis der Unerreichbarkeit einer Identität mit dem Vorläufertext zu einer Angst, die das Ich wieder in den Schoß des ‘Realitätspnnzips’ zurückfliehen läßt.

72

2.2 Englischer Stil {1896)- „Augen, die uns Springbrunnen vorlügen“ Die frühen Essays Hofmannsthals scheinen mit der Problematik einer über Traumprozesse laufenden Anverwandlung der Tradition zunächst gar nichts gemein zu haben und auch Erinnerung als konstituierendes Moment von Identität und einer Ordnung der Dinge gerade auszuschließen. „Gruppen zu schaffen, denen mchts Wirkliches zugrunde liegt“ (RA I 572) ist erklärtermaßen das Thema der Studie Englischer Stil von 1896. ’’° Hier wird der Impressionismus zum Prinzip erhoben und die essayistische Annäherung an ein Thema von verschiedenen Seiten reflektiert das eigene Verfahren der artifiziellen, bewußt subjektiven Zusammenstellung von Elementen. Dabei macht gerade die Unfaßlichkeit des Phänomens - denn wie ließe sich der ‘Stil’ einer ganzen Nation bestimmen? - den Reiz des Unterfangens aus und ermöglicht Hofmannsthal nicht nur die scheinbar gänzlich willkürliche, frei assoziativ verfahrende Um-Schreibung dessen, was sich dem fixierenden Zugriff notwendig entziehen muß, sondern zugleich auch die theoretische Hinterfragung dieser Technik der Approximation. Indem hier die Vorstellung von dem, was gemeinhin als ‘englischer Stil’ bezeichnet wird, als „artifizielles Produkt subjektiver Stilisierung“31 vorgeführt wird, wird Repräsentation von ‘Wirklichkeit’ grundsätzlich als subjektives Konstrukt - als ‘Schein’ - entlarvt. Künstlichkeit ist nicht zufällig das zentrale Thema dieser Studie und wird gleich im Einleitungssatz in der scheinbar gänzlich willkürlichen Addition von Elementen angedeutet: Eine ganz bestimmte Seite von englischem Stil, oder wenigstens die traumhafte Evokation davon für kontinentale Menschen, liegt in den Dingen, die England in diesem Jahrzehnt herüberstreut: cafe-concert-Mädeln wie die Barnsons, Bilderbü¬ chern für kleine Kinder wie die von Walter Crane, Vorlagen für Tennisanzüge, und Chippendale-Möbeln. Alle diese Dinge sind sehr englisch und sehr 1890. (RA I 565)

Das feuilletonistische ‘Streuen’ von Assoziationen läßt die Disparatheit der hier miteinander in Korrelation (oder zumindest Kontiguität) gebrachten Dinge deutlich hervortreten, zugleich wird durch die asyndetische Reihung das nicht Zusammengehörige zu einer als ‘traumhafte Evokation’ bezeichneten - also den Regeln der Realität mcht unterworfenen - bewußt irrational verfahrenden Zusammenstellung. Die Bestimmung einer so vagen Erscheinung wie der des ‘Stils’ einer ganzen Nation versucht Hofmannsthal somit zu leisten, indem er gerade auf‘präzise’ Beschreibungen verzichtet und statt dessen frei assoziierte Elemente des ‘Englischen’ mit ihrer (kunst)histonschen Verwandlung konfrontiert. Die Fixierung des Unfixierbaren wird im Nachvollziehen des histonschen Gewordenseins (Miranda und Imogen als Vorläufer der Barrison-Sisters) und über die Vergleichung des anscheinend Inkommensurablen versucht (Möbel und Menschen), eine Technik, die Hofmannsthal in Vorwegnahme der Kritik seiner Leser explizit macht: Es wird sicher einige Leute geben, welche mit allen diesen Gedanken sehr unzufrieden sind. Sie werden sagen, daß ich Dinge durcheinanderwerfe, die miteinander nichts zu tun haben. Sie werden sagen, daß die Barnsons gar keine

30 Veröffentlicht am 3.4.1896 in der Frankfurter Zeitung. 11 de Mazza, S. 63. In den Notizen zu einem Aufsatz über Puvis de Chavannes schreibt Hofmannsthal: „sein Thema: la Manifestation d’ame d’une collectivite wie unser Begriff: englisches Wesen ital Wesen“ (RA I 573).

„Augen, die uns Springbrunnen vorlügen'

73

Engländerinnen sind, sondern Amerikanerinnen, und die englischen Empiremöbel nicht sehr verschieden sind von den französischen; daß ich von lebendigen Artistinnen geredet habe, als ob es wertvolle Kunstgegenstände wären, und von Stühlen, als ob es Menschen wären; daß alle diese Dinge nicht zusammengehören, daß aus dieser ganzen Konfusion nichts weiter folgt und daß es nichts Willkürli¬ cheres und Anmaßenderes gibt, als solche Gruppen zu schaffen, denen nichts Wirkliches zugrundehegt. (RA I 571 f)

Wahrnehmung einer kohärenten Wirklichkeit ist immer nur Fiktion und darin Nietzsches ästhetischem ‘Schein’ vergleichbar. Daher kann sich der Schreibende nur noch auf die Position des Feuilletomsten zurückziehen und Authentizität fingieren in der facettenhaften, immer mehrere Perspektiven miteinander verschränkenden Repräsentation von offen als subjektiv gewählten Realitätsausschnitten aus dem Strom sich wandelnder Wirklichkeiten.32 Statt die subjektive Synthetisierung von Bruchstücken jedoch als wahr auszugeben, bemüht sich Hofmannsthal stets darum, die Artifizialität der eigenen Konstrukte in einem dialektischen Wechselspiel von Authentizitätsbeglaubigung und deren Unterhöhlung deutlich zu machen.’3 Das androgyn-hermaphroditische Moment der fünf Barnson-Sisters (die ja eigentlich Amerikanerinnen sind, sich aber gerade deswegen als Projektionsfiguren des Ur-Englischen besonders eignen) wird mit der Kunst der Präraphaeliten in Verbindung gebracht und m seiner fast parodistisch-überdeutlichen ‘Inszeniertheit’ als besonders ‘wahrer’ Ausdruck von etwas ‘typisch’ Englischem interpretiert. Ihre knabenhafte Mädchenhaftigkeit wird so zu einer „Künstlichkeit höherer Ordnung: als gewollter Effekt geschickter Inszenierung nämlich hinter der Maske der kindlichen Ahnungslosigkeit“34 Hofmannsthal zeichnet die komplexe Entstehungsgeschichte eines spezifisch ‘englischen’ Mädchentypus nach, indem er diesen als literarisch und kunsthistorisch vermittelt und ‘geworden’ repräsentiert: und der Reiz, der von den Barrisons ausgeht, ist unendlich kompliziert. Immerhin ist irgend etwas von der Miranda und der Imogen darin. Miranda und Imogen sind nämlich etwas anderes geworden, als sie ursprünglich waren. Sie sind so oft gemalt worden, haben sich in so vielen Teichen gespiegelt! Heute existiert von ihren Spiegelbildern fast nur mehr das, welches uns die Romantik überliefert hat. Shelley, Keats, Charles Lamb: [...] (RA I 566)

Androgymtät als grundlegender Bestandteil der englischen Komödie wird auf die Aufführungspraxis und Traditionen des Theaters Shakespeares, Fletchers und Fords zurückgeführt, wo theaterwirksame Verwechslungen eben auf der Ähnlichkeit von

52 Vgl. auch Roswitha Lindemann: Der junge Hofmannsthal. Sprachtheorie und Dichtungstheorie. In: Semiotische Versuche zu literanschen Strukturen. Hg. v. Walter A. Koch. Hildesheim, New York 1979, S. 143-279: „So müssen wir im Grunde zwischen zwei Welten unterscheiden: derjenigen, die der Dichter in unzähligen Details vorfindet, die ihn, wie einen Seismographen, in Schwingungen versetzt, und derjenigen subjektiven Welt des Dichters, die er sich durch Transformation, Kombination, Hierarchisierung von Sinneseindrücken (und Gedanken, Theorien’) geschaffen hat.“ S. 215. 53 Roswitha Lindemann spricht hierbei von einem „Schwanken zwischen Unifizierung und Atomisierung.“ S. 215. 54 de Mazza, S. 67. Die Technik eines Zurückverfolgens der Entwicklungsstadien einer Erscheinung beschreibt Hofmannsthal wie folgt: „Die Idee, daß nichts Schönes tot sein und verloren gehen könne. Die Idee: il faut glisser ne pas appuver. Leben und Traum (Kunstwerk) gegeneinander abgewogen. Eine Tendenz: jedes Geschöpf in die Zeit zurückverfolgen, wo es lebendig war: beim Bernstein zu bedenken, wie er als Harz von einem grünenden Baum geträufelt ist.“ (RA III 392)

2.2

74

Englischer Stil (1896)

Zwillingspaaren beruhten (RA I 565); zugleich bemüht sich Hofmannsthal aber, „den komplizierten Reiz dieser merkwürdigen Kindlichkeit“ auch an außerenglischen Einflüssen und Wirkungen festzumachen. Insofern das englische junge Mädchen ein „Produkt halb des Lebens, halb der poetischen Tradition“ ist, ist es als mszenatorische Fiktion auch das Ergebnis der italienischen Kunst: „Das englische junge Mädchen ging durch das Medium von Dante und Giotto“ (RA I 567) - eine freilich nur auf der Grundlage einer durch die Kunst der Präraphaeüten geprägten Rezeption englischer Mädchendarstellungen mögliche Behauptung. Von diesen zahllosen „Spiegelbildern“ existiere nun heute vornehmlich eine von der Romantik geprägte Tendenz zum „Yerkindlichen und Vergeistigen“ (RA I 566), ein mädchenhaftes Frauenbild, das die Romantiker zugleich mit den Malern des Trecento verbinde. Ms ein "Produkt’, mithin das Ergebnis einer bewußten Marktstrategie, die das "Englischsein’ der Barrison-Sisters zu verkaufen gedenkt, werden diese schließlich zur wenngleich verkitschten - Essenz, an der sich der ‘englische Stil’ gerade aufgrund der bewußt gewählten Kombination typischer Momente besonders klar ablesen läßt: Das konnte irgend jemand finden, genau mit demselben kombinierenden Sinn, wie man eine neue Mischung von Parfüms findet: er hat die Barrisons erfunden. Er hat fünf oder sieben solcher stilisierter Puppen, die irgendwie an präraphaelitische Engel erinnern und irgendwie an hundert andere fremdartige Wesen, auf die Bühne einer Singspielhalle oder eines Wintergartens gestellt, in das brutalste grelle Licht, in die mit der vielfältigen bösen Schwere des Lebens angefüllte, von Lärm und Unruhe bebende Atmosphäre. (RA I 567f)

Das Element des "Puppenhaften’, wie es in englischen "Bilderbüchern’ begegnet, trifft nun - eine erneute Modifikation des zuvor Behaupteten - mit dem ätherisch-präraphaelitischen zusammen. Hofmannsthal geht aber in seiner Vermischung von Dingen, „die miteinander nichts zu tun haben“ (RA I 571), noch weiter, indem er diese Mädchenhaftigkeit auch in den englischen Möbeln wiederzufinden meint. -Alle Veränderungen, „die dem alten spanisch-französischen zeremoniösen Tanz widerfahren, wenn ihn diese schlanken englischen Mädchen mit flutenden weißen Kleidern und offenen hellen Haaren tanzen“, fänden sich auch „in der Entwicklung wieder, welche der aus Frankreich eingeführte Möbelstil in England jedesmal durchgemacht hat, um englischer Möbelstil zu werden, sei es Louis-Seize, sei es Empirestil.“ Dieser Stil sei „undefinierbar jugendlicher, sozusagen mädchenhafter“(RA I 570). Anthropomorphe Qualitäten werden hier auf Gegenstände übertragen, zugleich bestätigt der Charakter der Möbel die Grundthese über den herb¬ jungenhaften Charakter englischer junger Mädchen - Hofmannsthal redet in der Tat „von lebendigen Altistinnen [...], als ob es wertvolle Kunstgegenstände wären, und von Stühlen, als ob es Menschen wären“ (RA I 572). Eben dann ist aber nicht nur ein Stilpnnzip, sondern auch ein Erkenntnisprinzip zu sehen, eine Absage an die Möglichkeit einer umfassenden Beschreibung von "Wirklichkeit’. Hofmannsthals in vielfachen Variationen wiederholte Überzeugung „II faut glisser la vie, ne pas l’appuyer“” bildet die Grundlage einer Technik des Schreibens, die versucht, im Vorgang der Fixierung in Worte Bedeutungen weiter offen zu halten, indem es sie in em Geflecht von Andeutungen, assoziativen Verbindungen und scheinbar willkürlichen Nebensächlichkeiten stellt - em beständiges Kreisen um ein absentes, sich dem Zugriff verweigerndes ‘Zentrum’ von Sinn. Sich dem Gleiten hinzugeben, bedeutet die Aufgabe

” B I 148. Vgl. dazu Joelle Stoupy: „II faut glisser la vie ...“. Ein Zitat und seine Wandlungen im Werk Hugo von Hofmannsthals. HB 39/ 1989. S. 9-43.

„Augen, die uns Springbrunnen vorlügen“

75

eines verfestigten Standpunktes und die Bejahung der beständigen Veränderung im Übergang von einem defimtorischen Versuch zum nächsten — wodurch paradoxerweise dennoch eme lebhafte und starke Vorstellung des scheinbar nur vage Umschriebenen erlangt wird.’6 Präzision’ der Beschreibung kann nicht das Ziel sein in emer Welt, die sich dem abstrahierenden und ordnenden Zugriff des Bewußtseins entzieht: Aber das Wesen unserer Epoche ist Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit. Sie kann nur auf Gleitendem ausruhen und ist sich bewußt, daß es Gleitendes ist, wo andere Generationen an das Feste glaubten. (RA I 60)

Diese Technik einer bewußt gewühlten ‘Unschärferelation’ zum behandelten Gegenstand, ja eme geradezu aufdringlich betonte Ungenauigkeit und Hilflosigkeit der Beschreibung zeigt sich auch paradigmatisch in der Rezension eines Buches von Peter Altenberg. Ein neues W lener Buch (1896)'' treibt die Manienertheit und Willkür anscheinend auf die Spitze: Da ist ein neues Buch, eme Art von Buch. Ich weiß nicht recht, von welcher Art dieses Buch ist. Es ist ganz angefullt mit kleinen Geschichten, wie ein Obstkorb. Es sind vielleicht hundert kleine Geschichten darin. Ich kann schwer sagen, was für kleine Geschichten. (RA I 222)

Es fällt schwer, sich einen derartigen Beginn einer Rezension in irgendeiner angesehenen Zeitung vorzustellen: Der Rezensent ‘fingiert’ (?) nicht nur seine eigene Ahnungslosigkeit, auch bleibt der Autor des Buches im Text unerwähnt und dessen Titel Wie ich es sehe wird erst nach zwei Seiten Text genannt. Statt ‘über’ dieses Buch zu verhandeln, ließe sich das Bestreben Hofmannsthals gerade darin sehen, daß er in der kongenialen stilistischen Annäherung an dieses dessen spezifischen Charakter indirekt und ohne Rückgriff auf abstrakte Kategonen unmittelbar zu vergegenwärtigen sucht.’8 Wie Altenbergs kleine Miniaturen Momenteindrücke festzuhalten versuchen, wird Hofmannsthals Rezension zu emer dessen Stil und Gestus nachahmenden Stil-Studie, und die Rezeption des anderen Textes verwandelt sich in eigene künstlerische Produktion: „Ein neues Wiener Buch becomes imaginative literature first and literary criticism only secondanly.“’9 Der schembar freien Assoziation über Altenbergs Buch unterliegt zugleich ein Beziehungsgeflecht von mehreren klar abzugrenzenden Bildbereichen (Musik, Theater, Schauspiel, Garten), die in der „raffinierten Vernetzung dieser Bilder, eben jenes Maß an Komposition und künst¬ lerischem Arrangement“ [...] „in emem Akt der Selbstanwendung die poetische ‘Rezeptur’“ .Altenbergs selbst erproben.60 Die scheinbar so wenig gedanklich durchgeformte Flut von Assoziationen ist ein kunstvoll komponiertes Gefüge: auf die simultane Introduktion der vier Themen folgte deren alternierende Durchführung, was Rudolf Borchardt nicht zufällig zu emem Vergleich mit der Sonatenform veranlaßte: „Der Aufsatz über das neue Wiener Buch, wirkend wie eme kühl und selig hervorgesprudelte Emgebung aus musikalischem

56 Vgl. Stamm, S. 83. 57 Zuerst abgedruckt in der Zeitschnft Die Zukunft am 5.9.1896, in der Ausgabe der Prosaischen Schriften. Zweiter Band. Berlin 1907 dann unter dem geänderten Titel Das Buch von Peter Altenberg. 58 Vgl. E.F. Block: Hofmannsthal’s „Ein neues Wiener Buch“ reconsidered. In: The Germanic Review 52, 1977, S. 194-204.: „We may read it as an evocative visual presentation of a book.“ S. 203. 59 E.F. Block, S. 196. Block kommt zu dem Schluß: ,Ahenberg’s book has less importance. The book, the ‘real object’ behind the essay, is remote. Besides, our interest is the author’s artistry and the poetic insights which he expresses.“ S. 204. 60 de Mazza, S. 78f.

76

2.2 'Englischer Stil (1896)

Scherz, Neckerei, durchdringender Ahnung und plötzlichen Ernste^eine Suite in Prosa und wie eine Sonate gebaut, hat ihn während der sechs Wochen einer Waffenübung unablässig beansprucht.“61 Hofmannsthal vermeidet bewußt den Rückgriff auf die abstrahierende Metasprache der Kritik und versucht statt dessen, in immer neuen Bildern das Eigentliche des Altenbergschen Sols einzufangen.62 Nicht zufällig greift Hofmannsthal das eingangs verwendete Bild des Obstkorbes im Verlauf des Essays wieder auf: bildhaft verweist die satura lanx auf die Gleichzeitigkeit des Ungleichen in einer bunten aber zugleich stilisierten Mischung.63 Das Nebeneinander des Diversen wird hier zum Signum von Authentizität: Vielmehr: man will mit dem Gegebenen, Gegenwärtigen, als mit einem Natürlichen, Menschlichen, rechnen. Nichts wird geschichtlich erfaßt und kein starres Wort ist am Platz. Jedes vorgefaßte Urteil über die Gegenwart wird abgewiesen. Man ist einmal da, wie die Kinder da sind. Ja, es ist eine sehnsüchtige Anbetung der kleinen Kinder über diese Kultur ausgegossen: es ist, als ob es die Vornehmen immer mehr und mehr nach Kindlichkeit verlangte. Und es ist auch niemand vornehmer, niemand anmutiger als die, die noch kein Gedächtnis haben und ganz von der Wahrheit bewegt werden. In künstlichen, an Erinnerung reichen Zeiten sammeln sich die Lebendigen an den Altären der ländlichen Götter. (RA I 228)

Unvermittelte Mimesis dessen, was ‘da’ ist, ohne vermittelnden Rückgriff auf histonsches Vorwissen, ja Gedächtnislosigkeit eines Kindes - hierin sieht Hofmannsthal die Leistung Altenbergs und versucht diese durch den gleichermaßen nur ‘traumhaft-evokativen’ Charakter seines Textes ‘unmittelbar’ wiederzugeben.64 Kein „starres Wort ist am Platz“, sondern die einander modifizierenden Einzelgeschichten gewinnen ‘Realität’ jeweils einen neuen Aspekt ab, sind „Bruchstücke“ (RA I 224) von Erkenntnissen: „Ich finde in seinem Buch verstreut eine ganze Abhandlung über die Kunst des Badens. Und eine gleiche über die Kunst des Schlafens, des Schlafens, um heiter und frei aufzuwachen. Und kleine Abhandlungen über Erhitzen und Erkälten, über schönen Teint, über gute und schlechte Ermüdung, über Essen [...] (RA I 224). ‘Kindlichkeit’ wird zum Paradigma emer ennnerungslosen Kultur, die den kleinen Dingen des .Alltags ihre ungeteilte Aufmerksam¬ keit widmet, da sie unbelastet ist von dem Bedürfnis der „an Erinnerung reichen Zeiten“ nach Analogisierung. „Kein Gedächtnis“ zu haben wird zum erstrebenswerten Zustand der Unschuld, zur Befreiung vom Historismus. In dieser Ablehnung des ‘Starren’ treffen die beiden besprochenen Essays zusammen: nur umschreibende Annäherung, nicht fixierende Definition kann ‘Wahrheit’ verbürgen. Im letzten Abschnitt des Essays Englischer S/z/gibt Hofmannsthal auf einer reflektierenden Metaebene die erkenntnistheoretische Begründung für seine eigene Technik:

61 Rudolf Borchardt: Hofmannsthals Lehrjahre. In: Gesammelte Schriften in Einzelbänden. Prosa I. Stuttgart 1957, S. 136-162. S. 159. 63 Vgl. de Mazza, S. 74: „Die Nullstellen der vergeblich gesuchten Begriffe werden im Fortgang der Besprechung zunehmend mit Bildern und Vergleichen aufgefüllt, die der Autor den verschiedensten Bereichen entlehnt, und so setzt ein regelrechter Bilderschub ein, der aus einem scheinbar überquellenden Ideenreservoir heraus immer neue sinnlich-opulente Szenanen entwirft, um der Fülle und Vielgesichtigkeit der Altenbergschen Miniaturen Rechnung zu tragen.“ 63 Vgl. Arno Scholl: Hofmannsthals essayistische Prosa, S. 81. 64 de Mazza verweist hierbei zu Recht auf einen inneren Widerspruch zwischen der Dialektik von Artifizialität und Kindlichkeit - eben dem was Hofmannsthal selbst als „manieriert kindlich“ bezeichnet S. 76ff.

„Augen, die uns Springbrunnen vorlügen“

77

Ja, es gehört wirklich nichts zusammen. Nichts umgibt uns als das Schwebende, \ ielnamige. Wesenlose, und dahinter hegen die ungeheuren Abgründe des Daseins. Wer das Starre sucht und das Gegebene, wird immer ins Leere greifen. Alles ist in fortwährender Bewegung, ja alles ist so wenig wirklich als der bleibende Strahl des Springbrunnens, dem Myriaden Tropfen unaufhörlich entsinken, Myriaden neuer unaufhörlich Zuströmen. Mit den Augen, die uns Springbrunnen vorlügen, müssen wird das Leben der Menschen anschauen: denn die Schönheit ihrer Gebärden und ihrer Taten ist nichts anderes als das Zusammenkommen von Myriaden Schwingun¬ gen in einem Augenblick. (RA I 572)

Eben weil ‘alles im Fluß’ ist, muß die Suche nach Festigkeit fehlgehen. Gerade im flüchtigen Sich-Yerschwenden des Wassers entsteht das, was den Strahl des Spring¬ brunnens ausmacht: rasdose Bewegung der einzelnen Wassertropfen und zugleich Konstanz, scheinbare Bewegungslosigkeit der Form des Strahls. Mit den Worten C.F. Meyers „strömt und ruht“ der Wasserstrahl, bildet ein Paradoxon von Bewegung und Stillstand, das durch die menschliche Wahrnehmung erzeugt wird: es sind unsere Augen, „die uns Springbrunnen vorlügen“. Die Gegenwart des Strahls ist an sich bloßes Durchgangsmoment der zeitlichen Bewegung der fließenden Wassertropfen, diese bleiben aber als Bewußtseinsphänomen immer bezogen auf Vergangenheit und Zukunft und erzeugen so die Illusion einer Kontinuität: letztlich ist es die Trägheit unseres Wahr¬ nehmungsapparates, die uns den Wasserstrahl als einheitlichen, gleichsam m der Luft ‘erstarrten’ Bogen sehen läßt, statt als Sturz von schnell bewegten „Mynaden Tropfen“. Bergsons Definition der gegenwärtigen Wahrnehmung als Ausdehnung emer duree bezieht dieses subjektive Momente eines-Sich-Erstreckens der Vergangenheit m die Gegenwart ein. Ms T)auer’ nehmen wir eine qualitativ einheitliche Bewegung wahr, die nicht quantitativ aufteilbar ist oder in räumlicher Ausdehnung besteht, sondern als ‘dynamischer Prozeß’ die Totalität emer Wahrnehmung bildet. Das „Bild der reinen Dauer“ ist „eine ununterschiedene oder qualitative Mannigfaltigkeit“.63 Die zeitliche Sukzession wird von emem Bewußtsein, das eine vergangene Zeit erinnert und in deren Beziehung auf die aktuelle Gegenwart zugleich das Verfließen wie die Dauer der Zeit erfährt, verräumlicht. „Dauer“ ist dann Sukzession, aber nicht als Verfließen, sondern als sukzessives Aufbauen einer Qualität innerhalb emer Präsenz, m der zwar Folgen statthaben, aber bei der kein Früher oder Später unterscheidbar ist. Die Sukzession ist zugleich aufgehoben m emer Simultaneität - „‘Dauer’ ist so wesentlich gegenwärtige Dauer.“ Es gibt für Bergson kerne seelische Folge von Zuständen, sondern nur eme stetige Wandlung.66 In Zeit und Freiheit spncht Bergson davon, daß die Dinge der Außenwelt an sich nicht bewegt seien, sondern wir sie nur als m der Zeit kontinuierlich bewegt ansehen. Grundlage der gewöhnlichen Form der Wahrnehmung sind unsere Erfahrung von Bewegung und die damit zusammenhängende Konstruktion der objektiven Zeit. Wir sagen: das Pendel der Uhr bewegt sich hin und her. Nach Auffassung Bergsons würde sich jedoch nicht das Pendel durch den Raum bewegen, sondern wir sehen verschiedene Lagen des Pendels, die wir aufgrund unserer Fähigkeit, Vergangenes mitzusehen, als Bewegung verstehen. Denn eigentlich gibt es nur immer eine Lage des Pendels „von den vergangenen Lagen bleibt ja nichts erhalten“.67 Aber im Innern des Betrachters „vollzieht sich em gegenseitiger Durchdnngungsprozeß der Bewußtsems-

65 Herrn Bergson: Zeit und Freiheit, S. 93 und 81. Vgl. Pethes, S. 70. 66 Friedrich Kümmel: Über den Begriff der Zeit. Tübingen 1962, S. 18. 67 ZF, S. 83.

2.2 Englischer Stil (1896)

78

Vorgänge, der die wahre Dauer ausmacht.“68 Er behält die vergangenen Positionen des Pendels in Erinnerung und sieht dessen gegenwärtige Stellung vor dem Hintergrund des Bewußtseins aller früheren. Es gibt also auf der Seite des Wahrgenommenen „einen realen Raum ohne Dauer“, in dem „Phänomene simultan mit unseren Bewußtseinszuständen auftreten und verschwinden und auf der Seite des Bewußtseins „eine wirkliche Dauer, deren heterogene Momente sich gegenseitig durchdnngen [,..].“69 Man faßt als Bewegung eines Gegenstandes auf, was in Wirklichkeit die Abfolge mehrerer verschiedener Lagen bedeutet - umgekehrt ist die scheinbare ‘Ruhe’ des Wasserstrahls nur die simultan erfaßte Fülle an Bewegung. Im kontinuierlichen Strom des Lebens smd Vergangenheit und Gegenwart meins gefaßt. Wenn Dauer’ als qualitative Zeit von ihrem Inhalt unabtrennbar ist, dann ist die Vergangenheit als bedingender Grund der Gegenwart unablösbar, insofern sie als Vergangenheit des Lebens sich von selbst erhält und weitergibt.70 Auch für Husserl gilt: „Das der Wahrnehmung ‘Gegebene’ ist notwendig ein zeitlich Ausgedehntes, nicht ein bloß zeitlich Punkmelles“ (Hua X 168). Da em Gegenstand mit emem Blick nicht vollständig wahrgenommen werden kann, können wir denselben Gegenstand nur in der Kontinuität des Wahrnehmungsverlaufes wahmehmen. Innerhalb jeder einzelnen Wahrnehmungsphase läßt sich phänomenologisch eme Phase der Erscheinungsweise ausmachen. Während wir wahrnehmen, haben wir das Bewußtsein, daß es jeweils eine Fülle von Erscheinungsweisen gibt, die über die aktuelle Weise hinausgehen. Im Übergang von der einen zur anderen Erscheinungsweise tritt die gerade noch wahrgenommene in den Hintergrund der neuen. In der zeitlichen Folge von Wahr¬ nehmungserlebnissen erscheint der Gegenstand jeweils einseitig leibhaftig, wie erfassen wir ihn aber dennoch als Einheit? „Sehr verschiedene Inhalte werden erlebt und doch wird derselbe Gegenstand wahrgenommen“ (Hua XIX/1 396), betont Husserl. Obwohl der Gegenstand selbst nicht erlebt ist, ist er im Sinne der Intention bzw. in der zusammengesetzten Vorstellung oder in der Wahrnehmungsapperzeption ‘gemeint’.71 Bei der Betrachtung eines Hauses ist dieses me von allen Seiten gegeben, dennoch bleibt es unthematisch immer als Ganzes bewußt und bleibt als identisches Objekt unverändert. „Derselbe unveränderte Gegenstand zeigt sich von verschiedenen Seiten, die schrittweise zu eigentlicher Erscheinung kommen innerhalb der mannigfaltig-einheitlichen Wahr¬ nehmung“ (Hua XVI 95). Dieses Mitbewußthaben aller übrigen Seiten bezeichnet Husserl als ‘Horizontbewußtsein’. Das Wahrnehmungsbewußtsein ist als Onginalbewußtsein immer eme Einheit von diesem und dem uneigentlichen Mitbewußtsein. „Alles eigentlich Erscheinende ist nur dadurch Dingerscheinendes, daß es umflochten und durchsetzt ist von einem intentionalen Leerhorizont, daß es umgeben ist von einem Hof erscheinungs¬ mäßiger Leere. Es ist eine Leere, die nicht ein Nichts ist, sondern eine auszufüllende Leere, es ist eine bestimmbare Unbestimmtheit“ (Hua XI 6). Gegenwart ist somit räumlich gesehen das unmittelbare Wahrnehmungsfeld, als Umring des Mitbewußthabens, das Husserl als Mitgegenwärtiges bezeichnet und als dunkel bewußten Horizont einer unbestimmten Wirklichkeit.72 Das Gegenwartsjetzt ist kem stehendes Jetzt, sondern „em zeitlich ausgebreiteter, sich allmählich und stetig entfaltender Akt, der immerfort Wahrnehmen ist, und dieser Akt hat emen immer neu und neuen Punkt des ‘Jetzt’, und in

68 69 70 71 72

ZF, S. 83. Zitate aus ZF, S. 84. Kümmel, S. 18. Vgl. Hong, S. 41. Vgl. Hong, S. 50.

„Augen, die uns Springbrunnen vorlügen'

79

diesem Jetzt wird etwas als Jetzt gegenständlich (jetzt gehörter Ton), während zugleich ein Soeben-vergangen und wieder ein Noch-weiter-vergangen m einigen Gliedern gegen¬ ständlich ist“ (Hua X 167f). Beim Hören einer Melodie hören wir Töne oder Akkorde in ihrer Abfolge, immer nur eine aktuelle Phase ist als gegenwärtig gegeben, aber das wahrnehmungsmäßig Aufgefaßte ist dennoch kem verschwindend Punktuelles, sondern ein Feld, in welchem Jetzt, Vergangenheit und Zukunft durch eine Form umfaßt werden.73 Sofern sich Vergangenheit und Zukunft an dieser Jetztphase orientieren, differenziert sich diese Phase selbst in ein Noch-mcht-Jetzt und ein Nicht-mehr-Jetzt. „Jetzt ist das Jetzt zuvor nicht mehr und das bevorstehende J etzt noch nicht. Jedes Jetzt hebt sich heraus zwischen dem Nicht-mehr und dem Noch-mcht. Ebenso wie das Jetzt fassen wir auch das Nicht-mehr-Jetzt und das Noch-mcht-Jetzt nicht als formalisierten Jetztpunkt auf, sondern suchen ihren weltweiten Charakter aufzuweisen.“74 Vergangenheit wird somit nicht als ein abgesunkenes punktuelles Nicht-mehr-Jetzt betrachtet, sondern alle Nicht-mehr-Jetzte werden gedächtnismäßig aufbewahrt, so daß sich eine Strecke der Vergangenheit bildet.73 Nach Hussed ist das Vergangene „in Form einer adäquaten Erinnerung wahrgenommen: das ist ein Akt, der em Jetzt ist, aber in seiner neuen Apperzeptionsweise das vergangene Objekt und den Zustand desselben adäquat wahrnimmt“ (Hua X 175). Gegenwart ist somit räumlich gesehen mit Vergangenheit verbunden, und Wiederennnern ist verlebendigendes Eindringen in den Vergangenheitshonzont, der immer schon mit dem aktuellen Jetzt ermöglicht ist. Gleiches gilt für die Zukunft: der Zukunftshorizont ist uns bewußt als eine endlose Strecke von Noch-mcht-jetzt-Folgen. Die Wahrnehmung einer sukzessiven Folge von Bildern — seien es die eines Filmes oder auch strömender Wassertropfen - findet somit immer in emem Teld’ von Nicht-mehr und Noch-mcht Gegenwärtigem statt: das aktuelle Wahrnehmungs¬ moment als statische Momentaufnahme vollzieht sich somit stets im ‘Horizont’ seiner Vorbzw. Rückbezüglichkeit, als gewordenes Nicht-mehr und werdendes Noch-mcht. „Mit den Augen, die uns Springbrunnen vorlügen, müssen wir das Leben der Menschen anschauen“ - dieses Credo Hofmannsthals erinnert an Nietzsches Befür¬ wortung eines ‘ästhetischen Scherns’, der zwar eine ‘Lüge’ darstellt, ohne den das Leben aber unerträglich wäre. Nur die Synthesisleistung unseres Wahrnehmungsapparates kann uns noch Fiktionen von Ganzheit vermitteln, „denn die Schönheit ihrer Gebärden und ihrer Taten ist mchts anderes als das Zusammenkommen von Myriaden Schwingungen in einem Augenblick“ (RA I 572). Statik und Dynamik, Präsenz und Abwesenheit kommen zusammen in der vom Auge synthetisierten Vorstellung des Wasserstrahls. Ebenso wie dieser niemals m seinen einzelnen Momenten des Werdens, sondern nur als zugleich bewegte und statische Einheit perzipiert werden kann, kann Präsenz nur m ihrem Bezug auf em Abwesendes erlebt und wahrgenommen werden. Diskursive, fixierende Erörterung in Hofmannsthals kritischen Texten weicht somit der musikalischen Gleichzeitigkeit und Überschneidung bei der Entfaltung von Themen. Synthesis und Synopsis statt sukzessiver Darlegung bezeugen Hofmannsthals Bestreben, eine an der „Wahrnehmungsstruktur des Blickes“76 orientierte Abspiegelung von Realität zu geben, die gerade durch ihre Unschärfe

73 Vgl. Hong, S. 51. 74 F.-W. von Hermann: Bewußtsein, Zeit und Weltverständnis. Frankfurt a.M. 1971, S. 48. 75 Vgl. Hong, S. 52. Die Welt der Worte eine Scheinwelt, in sich geschlossen, wie die der Farben, und der Welt der Phänomene koordiniert. Daher keine ‘Unzulänglichkeit’ des Ausdrucks denkbar, es handelt sich um em Transponieren“ (Aufzeichnung von 1895, RA III 400) 76 de Mazza, S. 79.

80

2.2 Englischer Stil (1896)

an Authentizität gewinnt, da sie das Moment der Veränderlichkeit integriert. Die essayistische Form erfüllt zugleich das Bedürfnis nach „momenthafter Verdichtung“ 7, gibt den bruchstückhaften Charakter der Wahrnehmung unmittelbar wieder und versucht dennoch, im Strudel der Wahrnehmungsmomente ein Zentrum der Ruhe zu etablieren. Das Gefälle zwischen der Komplexität des angesammelten Wissens und des notwendig fragmentansch bleibenden Ausschnittes, den das schreibende Subjekt zu aktualisieren vermag, wird so mit emer auf Erinnerung basierenden Kontinuitätsleistung des menschlichen Bewußtseins in Verbindung gebracht. Die Kopräsenz des ins Vergessen Absinkenden mit dem Aktuellen ist Grundlage für ein Verständnis der Gegenwart: seien es die kunsthistorischen Assoziationen zu emer Bestimmung des Charakters jener androgynen ‘englischen’ Feminimtät der Barrison-Sisters, sei es das ‘Mitbewußthaben’ aller früheren und späteren Wassertropfen, aus denen sich der an sich ja gar nicht existente Wasserstrahl zusammensetzt — Gegenwart ist immer nur verständlich durch das simultane Bewußthaben des Vergangenen und seine In-Bezug-Setzung mit dem Gegenwärtigen.

77 de Mazza, S. 80.

81

2.3 Der Tor und der Tod (1893) — „Mein Leben zu erleben wie ein Buch“ Erinnernde Traumvision aus der bruchstückhaften Lektüre von überlieferter Literatur und essayistische Annäherung an einen fremden Text, die diesen zur Vorlage für eigene Dichtung macht, sind zwei Versuche des jungen Autors, eine eigene Position im literarischen Gedächtnis-Raum zu finden. Wahmehmungstheoretisch bezeugt sich darin zugleich die Hoffnung, eine sich entziehende Gegenwart in ihrer Bezogenheit auf \ ergangenheit und Zukunft zu erfassen, sei es durch ‘Verinnerlichung’ von Vorgänger¬ texten, oder durch deren immerend-verfremdende Nachschöpfung. Dabei macht der junge Autor jedoch in beiden Fällen die Erfahrung, daß sich ihm das ‘Eigentliche’ entzieht: sei es in Form des uneinholbar davoneilenden Geigers am Traunsee, sei es in der Unmöglich¬ keit emer Fixierung dessen, was den ‘englischen Stil’ oder den Charakter von Altenbergs Buch ausmacht. Mit dem wohl berühmtesten seiner frühen lyrischen Dramen, Der Tor und der Tod, tritt eine weitere Form der Aneignung des Vergangenen und der Positionierung des Eigenen in Bezogenheit auf‘Fremdes’ zu den bereits behandelten hinzu, welche von Peter Matussek treffend als „Reanimation des abgestorbenen Gedächtnisraums [m] Dynamik mtertextueller Reminiszenzen“78 beschneben wird. Die Wiedergewinnung eines (europäischen) ‘Gedächtnisraumes’ propagiert Hofmannsthal bekanntlich m seiner Schnfttumsrede von 1927. Die verlorene Ganzheit von Kunst, Kultur, Wissenschaft, ja auch von Wirtschaft und Politik soll durch einen - sicherlich von Hegels Weltgeist inspirierten - ‘Geistraum’, der nicht durch „Wohnen auf dem Heimatboden“ bestimmt ist, sondern übernational und überzeitlich gedacht ist, wiedergewonnen werden.79 Wenn man den durch die ‘konservative Revolution’ wiederzuerlangenden ‘Raum’ dabei unbeschadet des Mißbrauchs, den dieser Begnff durch die nationalsozialistische Ideologie erfahren hat, auf der Grundlage eines Intertextualitätsmodells und im Sinne mnemotechnischer Raumvorstellungen interpretiert, kann daraus ein hilfreiches Instrumentarium zur Analyse der kulturellen Krise der Jahrhundertwende und ihrer Überwindung gewonnen werden. Im Blick gerade auf einen frühen Text wie Der Tor und der Tod (1893) gewinnt der Begriff des ‘Geistraumes’ eine Bedeutung, die von der emer Blut-und-Boden-Ideologie entscheidend zu differenzieren ist und zudem die durchgängige Bedeutung dieses Konzeptes für Hofmannsthals Werk bezeugt.80 So scheint Claudios ‘Problem’ zunächst gerade m der Übermacht eines solchen kulturellen Geistraumes zu bestehen - ist er doch von Generationen von Interpreten zum Inbegriff des ‘ästhetischen Menschen’ erklärt worden, der ‘Leben’ nur im Wahrnehmungsmodus der Kunst rezipiert und dadurch seine soziale Integration, ja sein eigentliches Menschsein (und damit wohl auch ein echtes Künsdertum) verfehlt habe.81

78 Peter Matussek: Intertextueller Totentanz. Die Reanimation des Gedächtnisraums in Hofmannsthals Drama Der Tor und der Tod. ln: Hofmannsthal-Jahrbuch 1995, S. 199-230. S. 202. 79 „Der literarische Gedächtnisraum, von dem Hofmannsthal redet, ist als übernationaler und atopischer ein Gegenmodell zu dem des neunzehnten Jahrhunderts, der in der Errichtung von Nationalmuseen und Archiven seine monumentalistische Manifestation hatte [...].“ Matussek, S. 200. 80 So auch Matussek, S. 202. 81 Als grundlegend ist hier die Interpretation Richard Alewyns zu nennen (R.A.: Über Hugo von Hofmannsthal.. 4. verm. Auflage. Göttingen 1967), die ganz ähnlich bei Peter Szondi wiederkehrt. Siehe P S.: Das lyrische Drama des fin de siede. Frankfurt a.M. 1975. Auch Hinrich C. Seeba spricht davon, daß

2.3 Der Tor und der Tod (1893)

82

Claudio ist jemand, der sich dem 'Leben’ gegenüber ‘abschließt, in seinem nach „Empiregeschmack“ eingerichteten „Studierzimmer“ sem eigenes Museum besitzt, wie die Regieanweisungen sich zu verdeutlichen bemühen: „An den Pfeilern Glaskasten mit Altertümern. An der Wand rechts eine gotische, dunkle, geschnitzte Truhe; darüber altertümliche Musikinstrumente. Em fast schwarzgedunkeltes Bild eines italienischen Meisters.“ (GD I 281) Daß er dieser Ansammlung historischen Bildungsgutes jedoch bereits überdrüssig ist, sagt er selbst: „Ich hab mich so an Künstliches verloren“ (GD I 284) und spricht von einer „Rumpelkammer voller totem Tand“ (GD I 283). Kunst wie Natur sind für ihn nicht mehr individuell wahrnehmbar, sondern stets vorgeprägt, ja durchdrungen mit literar- wie kunsthistonschen Reminiszenzen: Die letzten Berge liegen nun im Glanz, In feuchten Schmelz durchsonnter Luft gewandet, Es schwebt ein Alabasterwolkenkranz Zuhöchst, mit grauen Schatten, goldumrandet: So malen Meister von den frühen Tagen Die Wolken, welche die Madonna tragen. Am Abhang liegen blaue Wolkenschatten, Der Bergesschatten füllt das weite Tal Und dämpft zu grauem Grün und Glanz der Matten; Der Gipfel glänzt im vollen letzten Strahl. Wie nah sind meiner Sehnsucht die gerückt, Die dort auf weiten Halden einsam wohnen Und denen Güter, mit der Hand gepflückt. Die gute Mattigkeit der Glieder lohnen. (GD I 281)

Claudio steht am Fenster und erblickt durch den ‘Rahmen’ desselben eine ästhetisch stilisierte, durch Literatur und bildende Kunst präfigurierte Natur. „Das Gemälde der Gioconda sieht er durch die Brille der Leonardo-Interpretation Walter Paters, und selbst beim Ausblick auf den Sonnenuntergang kann er sich von kunsthistorischen und literarischen Assoziationen nicht freimachen: Der ‘.Alabasterwolkenkranz’ erinnert ihn an Madonnenbilder der ‘Meister von frühen Tagen’ (GD I 281), der Glanz der Berge setzt sich aus Aversen Nikolaus Lenaus und Goethes zusammen, die Farben der Landschaft stammen von Claude Lorrain und die Schilderung der Atmosphäre kulminiert in einem Hölderlin-Zitat.“83 Während er sich aber zunächst den einsamen Hügelbewohnern „nah“ fühlt, wird ihm durch die eingehendere Betrachtung seine Feme von diesen erst richtig bewußt, Nähe kann nur imaginativ existieren, ja Wirkhchkeitswahrnehmung immer nur Fiktion sein:

der „moralisch indifferente Mensch Claudio“ die ,,soziale|] Integration“ verfehle. Siehe H.C.S.: Kritik des ästhetischen Menschen. Hermeneutik und Moral in Hofmannsthals DerTorundderTod. Bad Homburg u.a. 1970. S. 117. G. Pickerodt: (G.P.: Hofmannsthals Dramen. Kritik ihres historischen Gehalts. Stuttgart 1968) betrachtet den Schluß des Dramas zudem als Rückfall in den Ästhetizismus. Gregor Streim argumentiert, daß Claudio von einer „Stilisierung des aktuell Wahrgenommenen nach den tradierten Präfigurationen“ hin zu einer „ästhetischefn] Vergegenwärtigung der eigenen Vergangenheit“ in der Begegnung mit dem Tod geführt werde - eine Interpretation, der ich mich anschließe. Siehe Streim, S. 167. 8: Zur Herleitung seines Namens vom Verb claudert vgl. RA III 600. 83 Matussek, S. 203f.

„Mein Leben zu erleben wie ein Buch“

83

Und starre voller Sehnsucht stets hinüber, Doch wie mein Blick dem Nahen näher gleitet, Wird alles öd, verletzender und trüber; (GD I 282)

Claudio ist der Prototyp des Fin-de-siecle-Astheten, der nurmehr in der Lage ist, sein „Leben zu erleben wie ein Buch“ (GD I 284), da ihm der ‘natürliche’ Weltzugang durch die \ lelzahl des Gelesenen verstellt ist. Zwischen die individuelle Erfahrung und deren Wahrnehmung schieben sich Lektüre- und Kunstedebnisse, die das ‘wirkliche’ Leben zu etwas immer schon Präformiertem und damit immer nur nachträglich Erfahrbarem machen. Soziale Unfähigkeit resultiert aus dieser Rückbezüglichkeit auf kulturell-historisch Gegebenes: statt daß individuell erlebt wird, wird auf Allgemeines referiert.84 Nur scheinbar hat Claudio im Menschenleben „dnn gestanden“: Aber ich habe es höchstens verstanden, Konnte mich nie darein verweben. (GD I 282)

Schon Faust, der Vorfahre Claudios, steht für den Antagonismus von Leben und Lesen, Synthese („verweben“) und Analyse („verstehen“).83 In der Geburt der Tragödie ist Faust der „mit höchsten Erkenntniskräften ausgerüstete, im Dienste der Wissenschaft arbeitende theoretische Mensch“ (KSA I 116), der jedoch auch bei Nietzsche „die Grenzen jener sokratischen Erkenntnislust zu ahnen beginnt“ (KSA I 116).86 Claudio sucht die Absicherung gegen eine sich ‘chaotisch’ und ungeordnet gebärdende Realität durch die kunstvolle Akkumulation von Gegenständen in seinem Zimmer; die sinnliche Welt soll im hermetisch abgeschlossenen Kunstwerk der Perfektion angenähert werden. Dabei mißlingt ihm der „hermeneutische Sprung aus dem Studierzimmer ins Leben“87, indem sich für ihn das Leben selbst zu einer Sammlung von Gegenständen (Bildern, Büchern, Briefen) entleert - Erinnerung an Vergangenes also, das gefangen bleibt in der Fremdheit des nur auf ein Abwesendes Referierenden: Stets schleppte ich den rätselhaften Fluch Nie ganz bewußt, me völlig unbewußt Mit kleinem Leid und schaler Lust Mein Leben zu erleben wie ein Buch, Das man zur Hälft noch nicht und halb nicht mehr begreift. Und hinter dem erst der Sinn nach Lebendgem schweift Mir war, als ob es nie sich selbst bedeute.

84 So auch Gregor Streim, S. 167. In einem Essay über Paters lmaginaty Portraits gibt Hofmannsthal eine Definition des Ästhetizismus, die eben diese ständige Bezogenheit auf eine „durch das Medium der Künste angeschaute, stilisierte Vergangenheit“ betont: „In diesen imaginären Porträts ist etwas zur Vollendung getrieben, womit wir alle uns in einer fast ungesunden Weise häufig im kleinen abgeben: aus den hinterlassenen Kunstwerken einer Epoche ihr Seelenleben bis zum Spüren deutlich zu erraten. Wir sind fast alle in der einen oder anderen Weise in eine durch das Medium der Künste angeschaute, stilisierte Vergangenheit verliebt. Es ist dies sozusagen unsere Art, in ideales, wenigstens in idealisiertes Leben verliebt zu sein. Das ist Ästhetismus“ (RA I 195f). 83 Vgl. dazu Alewyn, S. 70. Siehe auch SW III 465, 480, 482. 86 KSA I 116. Vgl. auch Streim, S. 169. 87 Steiner, S. 90.

2.3 Der Tor und der Tod (1893)

84

Nein, künftgen Lebens vorgeliehnen Schein Und hohles Bild von einem vollem Sein (GD I 284f)

Lebensferne wird hier durch die ‘Fremdreferentialität’ der Zeichen begründet: Gegenwart kann nicht erlebt werden aufgrund des durch die analytische Haltung begründeten Bedürfnisses, alles im Rahmen früherer, wie späterer Zeichen zu sehen - eines hermeneuti¬ schen Zirkels also, der sich niemals schließen kann und der die Abweichung eines jeden Zeichens von dessen selbstpräsenter Bedeutung bewirkt.88 Nichts bedeutet „sich selbst“, worin sich das grundlegende Problem einer adäquaten Repräsentation von Realität zeigt: die Komplexität der Welt überfordert das linear schematisierende Bewußtsein und überführt die Vielfalt des Lebens entweder in die artifizielle Starre einer künstlich geformten Welt oder aber verschiebt die Bezeichnung auf eine Folge von Zeichen, so daß es niemals zu einer abschließenden Fixation kommen kann.89 Authentische Erfahrung von Gegenwart ist emem von Vergangenem strukturierten Bewußtsein unmöglich, da sich zwischen Erfahrung und Ich das Bedürfnis nach Analogisierung schiebt und das Ich sich emgespannt sieht in eine unendliche Kette von Verweisungen, ohne selbst den Fluß von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft arretieren zu können.90 Das ‘Buch’ wird zum Inbegriff eines sukzessiv dahinfließenden Lebens, dessen einzelne Momente nicht mehr (oder: noch nicht) zu einer sinnvollen Ganzheit zusammengefaßt werden können:

Wenn ich von guten Gaben der Natur Je eine Regung, einen Hauch erfuhr, So nannte ihn mein überwacher Sinn Unfähig des Vergessens, grell beim Namen. Und wie dann tausend Vergleiche kamen. War das Vertrauen, war das Glück dahin. Und auch das Leid! zerfasert und zerfressen Vom Denken, abgeblaßt und ausgelaugt! (GD I 283)

Hier zeigen sich die grundlegenden Elemente einer zeitgenössischen, vor allem von Nietzsche herrührenden Kulturkritik: „die Überdeterminierung des extemalisierten Gedächtnisses, das die Erfahrung des Erinnerns enteignet, im toten Speicherwissen untergehen läßt.“91 Tausend Vergleiche’ treten an die Stelle der Erfahrung des eigenen, inneren Gefühlserlebnisses, überlagern und ersetzen dieses. Man vermeint hier Hegels in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie geäußerte Kndk an den klassischen Formen der ars memoria zu vernehmen, jener rem akkumulierenden Gedächtniskunst, die willkürlich alles speichert und so zu „heillosen Kombinationen“ führen kann. Gegen diese

88 Vgl. Gregor Streim: „Claudio selbst deutet die Feme des ‘Lebens’ als Effekt der sprachlichen Referentialität, das ‘vollere Sein’ dagegen als Selbstreferentialität des wahrgenommenen Zeichens. Das Verweben mit dem ‘Leben’ wäre somit an einen Wahmehmungsmodus gebunden, der den Gegenstand nicht als sprachliches Zeichen, sondern als ästhetisches Phänomen wahmimmt. ‘Hohl’ erscheint das Wahrgenommene, weil es nur als Zeichen und nicht als Form gefaßt wird. Dem Gegensatz von Benennung und Formwahmehmung entsprechen verschiedene Modi der Zeiterfahrung.“ S. 169f. 89 Vgl. Steiner, S. 91 90 Steiner bezeichnet dies als ‘temporale Dissemination’ (S. 96) und spricht davon, daß das Subjekt zur Funktion seiner Umwelt wird, was der symbolistischen Technik nahesteht. S. 99. 91 Matussek, S. 205.

„Mein Leben zu erleben wie ein Buch“

85

setzt Hegel die Erinnerung als „Sich-innerlich-machen, Insichgehen“ ab, wobei die selektive Funktion das Vergessen mit einschließt.92 Nicht ein „Beinhaus der Wirklich¬ keiten“93, also jene „Rumpelkammer voller totem Tand“, die in rein arbiträrem Bezug zum memorierenden Ich steht, sondern Er-Innern als „Hineingehen in sich selber“, Anamnesis der eigenen Existenz muß Claudio leisten, um sich der erstickenden Enge des topischmnemonischen Gedächtnisraums entziehen zu können.94 Das richtige Erinnern bedeutet zugleich ein selegierendes ‘Vergessen’, um die Ver-Innerlichung—nämlich Inbezugsetzung des Allgemeinen mit dem Individuellen - leisten zu können. Claudios ‘überwacher Sinn’ macht ihm durch die ständige Suche nach Analogien im Vergangenen und möglichen Antizipationen im Zukünftigen die Erfahrung des realen Gegenübers unmöglich, und erst angesichts des Todes wird er begreifen, daß das Leben gerade in der subjektiven Vernetzung, in den — freilich immer nur arbiträren — Bezügen der Dinge untereinander zu finden ist. Ästhetizismus wird somit zu einer spezifischen Variante des Historismus, eines mehr oder minder produktiven Verhältnisses zu den kulturellen Zeugnissen vergangener Epochen.93 Hinnch C. Seeba hat die Gefahr einer Verwechslung des Gegenwärtigen mit Vergangenem auf die neuen Reproduktionsmedien zurückgeführt: „Das problematische Verhältnis von Realität und Fiktion begegnet hier als das von realer Gegenwart und bildlicher Gleichzeitigkeit: Historisches erscheint, wenn es mit der Gegenwart des Zuschauers gleichzeitig wird, als gegenwärtig; und Gegenwärtiges, das den Menschen beträfe, wenn er ihm unmittelbar begegnen könnte, erscheint ihm m der Unverbindlichkeit des gleichzeitigen Bildes. Die bildliche Synchronisierung bedeutet zugleich eine Minderung des historischen Bewußtseins und einen Verlust an konkreter Gegenwart, weil diese hinter ihren Abbildern, zeitlich gesehen: hinter ihren Nach-Bildern verschwindet.“96 Im Zeitalter mcht nur der ‘technischen Reproduzierbarkeit’, sondern auch eines überhandnehmenden Buchwissens wird jeder Mythos von Authentizität und Ursprünglichkeit ad absurdum geführt und kann Gegenwart nur als Abbild oder TMach-Bild’ von etwas Früherem wahrgenommen werden. Wie Hofmannsthal selbst in der Erzählung Age oflntiocence sagt, werden „Wert und Reiz der Gegenwart erst von der Vergangenheit gewordenen [Gegenwart]“ (EGB 23) erwartet, Erleben ist immer nur ein Nach-Erleben. Sein ist für Claudio immer nur Vorahnung oder Erinnerung, nie in sich selbst erfüllte Gegenwart: Warum bemächtigt sich des Kindersinns So hohe Ahnung von den Lebensdingen, Daß dann die Dinge, wenn sie wirklich sind,

92 Georg Wilhelm Fnednch Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II In: Werke in zwanzig Bänden. Frankfurt a.M. 1995. Bd. 19. S. 44. Matussek verweist zudem auf Kierkegaards an Hegel anschließende Gegenüberstellung von Gedächtnis und Erinnerung, die die Antithese zwischen Erinnern und Vergessen aufhebt. S. 206f. 93 Der Geist des Christentums und sein Schicksal. In: G.W.F. Hegel: Frühe Schriften. Bd. 1, S. 346. 94 Matussek, S. 207. „Hofmannsthal beglaubigt den Ennnerungsprozeß Claudios durch die Poetik einer transformatonschen Intertextualität, die den zum Zitat geronnenen Phänotext durch Rückverweis auf seinen latenten Genotext reanimiert.“ S. 216. 93 Vgl. Stamm, S. 45. 96 Seeba, S. 20. Derselbe S. 9: „Diese Korrespondenz zwischen literarischer Fiktion und erlebter Realität hat im leben des ästhetischen Menschen eine hermeneutische Funktion: Das Unbekannte, das Eigene wird in eine überschaubare Distanz gerückt, zum besseren \ erständms einem bereits bekannten Zusammenhang ästhetisch integriert.“

2.3 Der Tor und der Tod (1893)

86

Nur schale Schauer des Erinnems bringen? (GD I 297)

„Mein Leben zu erleben wie ein Buch,/Das man zur Hälft noch nicht und halb nicht mehr begreift,“ bezeichnet eine strukturelle Identität von Leben und Lesen, insofern beides aus der Differenz von Gleichzeitigkeit und Sequenz entsteht: Gleichzeitig existiert die Fülle an unrealisierten Möglichkeiten, die nur selektiv und damit in zeitlicher Abfolge realisiert werden können, dadurch aber jene ‘hohe Ahnung’ immer unerfüllt lassen. Sukzessive präsentieren sich Ich und Gegenstandswelt, einer Temporalisierung unterworfen, die ihre ‘Lesbarkeit’ verhindert, da beide sich nur aus einer Folge von Momentanwahrheiten zusammensetzen, die - und hier liegt die Pointe des Stücks — erst mit dem Tod ihren Abschluß und damit ihre Deutbarkeit erhalten. Sem „Leben zu erleben wie ein Buch“ (GD I 284) heißt somit nicht nur, im Bewußtsein der Unverstehbarkeit des eigenen Lebens zu existieren, sondern auch, Welt und Ich gleichermaßen aufzufassen als Fiktion des eigenen Bewußtseins. Das Buch wird zum Modell des Lebens und die Regeln, nach denen Texte dekodiert werden, werden zu Schematismen der Wirklichkeitskonstruktion.9 Da Leben nur reflexiv — als selbstgeschaffener fiktiver Text — vergegenwärtigt werden kann, wird es aber immer nur in seiner Abwesenheit erfahren, als Erinnerung oder als antizipierte Möglichkeit. Die ekstatische Momentanerfahrung, das „Fühlensübermaß“ (GD I 297), ausgelöst durch die dionysische Musik des nach Böcklmscher Manier gestalteten Todes98, ist Moment der höchsten Individuation - „Erst da ich sterbe, spür ich, daß ich bin“ (GD I 297) - und hebt zugleich die Aufspaltung in Subjekt und Objekt auf. In der dionysischen Entgrenzung scheint erstmals Präsenz von “Bedeutung’ möglich, da der Tod die Vollständigkeit der Data verbürgt und der hermeneutische Zirkel sich mit ihm schließt.99 Während Unverbindlich¬ keit und soziale Gleichgültigkeit die Folge einer Literarisierung und Fiküonalisierung des Lebens waren, geht es nun darum, den „hermeneudschen Zusammenhang von literarischer Fiktion und edebter Realität“ zu klären.190 Erst in der Konfrontation mit dem Tod treten individuelle und mit persönlichem Schmerz verbundene Erinnerungen an die eigene Vergangenheit an die Stelle einer durch Kunst vermittelten kollektiven Memoria; im Totentanz erscheinen Claudio die Geister von drei Verstorbenen, an deren Tod er nicht unschuldig ist: seine vernachlässigte Mutter, die vedassene Geliebte und der als ‘Spielzeug’ behandelte Freund. Wichtiger als Claudios erstmals erwachtes Empfinden für andere Menschen (ein Empfinden, das sich freilich auch nur auf längst Vergangenes zurückbe¬ zieht) erscheint für den Zusammenhang einer ‘Hermeneutik des Erinnerns’ seine Umdeutung der Termini “Leben’ und Tod’:

97 Vgl. Steiner, S. 88.„Der Weg zum Sozialen als Weg zum höheren Selbst“ (RA III 602) ist somit nicht einfach die Aufgabe narzistischer Selbstbespiegelung im anderen, sondern gerade die Selbstreferenz in der Fremdreferenz auf ein außer dem Subjekt Liegendes. In der Distanz zu sich selbst, kann das Subjekt Subjekt werden, Identität als Erkenntnis des Unterschieds an sich selbst, zu-sich-kommen erst durch Selbstreflexion im anderen. Vgl. Steiner, S. 117f. 98 Vgl. dazu Gregor Streim, S. 170. 99 Erwin Kobel deutet die Rückbezüglichkeit der Wahrnehmung Claudios platonisch: „Es geht Claudio darum, sich im Erinnern mit dem Ursprünglichen, mit den Urbildern, mit dem vor aller Zeit und Erfahrung Wesenden in Bezug zu setzen.“ E.K: Hugo von Hofmannsthal. Berlin 1970.S. 29. Dies ist die Argumentation Hinnch C. Seebas, S. 10 und 12. Seeba spricht von einer „Spannung von Spontaneität und Rezeptivität“ (S. 14) und bezeichnet die ‘Rolle’ als das „hermeneutische Medium seines Selbstverständnisses“. S. 15.

„Mein Leben zu erleben wie ein Buch“

87

Ich kanns! Gewähre, was du mir gedroht: Da tot mein Leben war, sei du mein Leben, Tod! Was zwingt mich, der ich beides nicht erkenne, Daß ich dich Tod und jenes Leben nenne? (GD I 297)

Die plötzliche Todesbereitschaft Claudios, die vor dem Totenreigen noch Bereitschaft zum Leben war („Jetzt fühl ich - laß mich — daß ich leben kann!“ GD I 290), wirft Fragen auf: Bekundet sich hier eine echte Absage an die Lebensferne reinen Ästhetentums in der Erkenntnis der Übermacht der eigenen Kreatürlichkeit, oder erreicht Claudio nicht vielleicht gerade hier den Gipfel der Willkür in der fiktionalen Setzung von Welt? Ist das Paradoxon einer Identität von Leben und Tod die Ineinssetzung von Ästhetizismus und Wirklichkeit, oder endet das Drama mit dem ‘Sieg’ des Todes über Claudios Ästhetizismus? Artifizialität und Arbitrarität jeglicher Setzung von Bedeutung scheinen das Erkenntnis¬ ergebnis Claudios zu sem, ja das Drama selbst agiert scheinbar, um seine eigene Künstlichkeit herauszustellen: „Das artifizielle Sprechen, das die zitathaft erstarrten Formen der Prätexte nicht scheut, sondern verstärkt in sich aufnimmt, bis es im Übermaß der Assoziationen, Anspielungen und Verweise auf Vergangenes den toten Gedächt¬ nisraum des literanschen Kanons von innen her aufsprengt und die darin gebundenen Gefühlsenergien freisetzt - diese Todesbegegnung des artifiziellen Sprechens ist das poetische Pendant zu Claudios Erinnerungsprozeß, der im Sterben sein Leben zurückge¬ winnt.“101 Matussek argumentiert, daß eben die in der Sprache Claudios sich häufenden literarischen Anspielungen, die die fulminante Belesenheit seines Autors widerspiegelten, Claudios Erinnerung schließlich zu einer lebendigen werden ließen - die Überwindung des Ästhetizismus somit nur möglich sei durch das „Hervorkehren semer Künstlichkeit“, nicht in einer Rückkehr zum ‘wirklichen’ Leben.102 Parodistische Übertreibung des Anspielungs¬ reichtums hatte schon .Alfred Kerr diesem Stück attestiert, und Hofmannsthal selbst spricht von einem „Hauch von jugendlicher Selbstironie“, der darüber liege.103 Rudolf Borcliardt hingegen faßt das Verhältnis Hofmannsthals zu seinem Prätext - Goethes Faust - als produktive Rezeption, das Drama sei niemals „der Versuchung ausgesetzt [...], dem Tone, den es umbildet, zu erliegen, so wenig es durch das Goethesche Mittel hindurch auch noch hanssächsisch zu werden m Gefahr ist.“104 Nicht der Weg in die Natur stehe Claudio somit offen, sondern nur der Weg in die Vergangenheit eines literarischen Gedächtnisraumes, die er im Totentanz ennnert - die Nachahmung des Goetheschen Prätextes werde dabei

10' Matussek, S. 209. Zu den Anspielungen auf Goethes Faust, Maeterlincks L'Intrust etc. vergleiche ebenda. „Die Sprachform des Dramas läßt die Reden seines Personals nicht als authentischen Selbstausdruck erscheinen, sondern montiert sie in wechselnden Konstellationen aus tradierten Schriftpartikeln nach Art eines kombinatorischen Gedächtnistheaters.“ i"2 ygl MatuSsek, S. 211. Hofmannsthal selbst habe sich gewehrt gegen die RezepaortMieses Dramas als „Selbstvorwurf der dürftigen Natur“, und dieses sei vielmehr „aus einer inneren Herrlichkeit und Fülle hervorgegangen.“ Brief vom 22.9. 1920 an Felix Braun. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1968, S. 416. Zur Kritik am Anspielungsreichtum siehe Gotthart Wunberg: Der frühe Hofmannsthal. Schizophrenie und dichterische Struktur. Stuttgart 1965. S. 103. Anm. 52: „Auf die Verwandtschaft mit Goethes Faust ist vor allem im Zusammenhang mit DtrTor und dtrTod immer wieder hingewiesen worden. Schon eine halbe Generation später empfand man das als unangenehm.“ 103 Alfred Kerr: Hugo von Hofmannsthal [1900]. In: Gesammelte Schriften. Berlin 1917. R. 1. Bd. 1, S. 153. ,IM Rudolph Borchardt: Rede über Hofmannsthal. In. Ders.: Reden. Stuttgart 1955. S. 45-103, hier S. 94.

88

2.3 Der Tor und der Tod (1893)

zu einer „intertextuellen Transformation des mnemomschen Gedächtnisraums.“103 Die Aneignung des Prätextes vollzieht sich über dessen “Vergessen’, ein nur implizites Zitieren, das ihn dem eigenen Text anverwandelt. Claudio steht zunächst zwischen den Polen eines unbegrenzten Zitatenschatzes und der Begrenzung der eigenen Erfahrung durch eben diese vorgeprägten Muster. Seine Befreiungsbewegung muß daher zwischen diesen beiden Optionen verlaufen, und sie tut dies in der Rückwendung zur eigenen Vergangenheit, die als immer nur erinnerte, ebensosehr fiktiv wie real, individuell wie überzeitlich ist und deshalb den toten Gedächtnisspeicher entfremdeter Erfahrung zur lebendigen Erinnerung werden lassen kann.106 Der Text wird zum Palimpsest, indirekte Zitation zum Auslöser der Imagination, und „mit der Abnahme der expliziten Vorgaben steigert sich der Eigenanteil assoziativen Erinnerns, das auf immer Vorläufigeres rekumert, letztlich die Ahnung eines präexistenten Sinns.“107 Wie Faust erst in der Konfrontation mit dem Tod (in seinem Griff zur Giftphiole), durch das Läuten der Glocken und die dadurch erweckten Kindheitsreminiszenzen „zurück [...] in das Leben“ (Faust I 770) findet, so wird für Claudio die Einreihung in den Totentanz aller einstmals geliebten Menschen der eigentliche Neubeginn seines Lebens.108 So sehr dieser Beschreibung der intertexmellen Verfahrensweise Hofmannsthals zuzustimmen ist, so sehr muß doch bezweifelt werden, daß Claudio gerade durch die exzessive Inkorporation von Zitaten, Formulierungen, Gedanken aus der gesamten Weltliteratur einen Zugang zum “Leben’ zurückgewinnt. In der Vergegenwärtigung der Historie und der Stilisierung des aktuell Wahrgenommenen nach den tradierten Präfigurationen erahnt er nur em fremdes Leben, das die vergangenen Kulturepochen und Kunstwerke hervorbrachte, nach denen er sich sehnt.109 Kunst muß als Bindung intensiver Gefühlszustände in einer festen Form aufgefaßt werden, deren Schaffung vom Rezipienten im Wahrnehmungsvorgang wiederholt werden muß. Erst wenn das wahrgenommene Kunstwerk als Ausdrucksform des eigenen Erlebens empfunden wird, erhält es “Leben’ und ‘Sinn’.110 Eine ‘mnemonische’ Vermittlung des Überzeitlichen mit dem Individuellen ist im Totentanz erreicht, der zugleich archaisch-mittelalterliche Allegone und Pri¬ vaterlebnis ist, in Frage steht aber nach wie vor die Deutung des Geschehens durch den Protagonisten selbst. Fragen nach der Deutbarkeit von Welt, nach der Legitimität jeglicher Interpretation prägen den Charakter des Dramas, ja der Tod sagt angesichts der Deutungsversuche Claudios:

105 Matussek, S. 217. „Gestik des historischen Rückverweisens“ S. 219. 106 Ähnlich argumentiert Matussek: „Die doppelte Abstoßungsbewegung führt ihn zu einem anderen Raumerleben, das weder topisch noch utopisch, sondern atopisch ist - das Erleben eines Gefuhlsraums, der sich im Eingedenken der eigenen Vergänglichkeit offenbart. Dem entspricht auf der Ebene der poetischen Sprache der nicht verortbare Raum intertextueller Verweise, die Reminiszenzen an Vergangene wecken, ohne sie auf bestimmte Bedeutungen festzulegen.“ S. 218. 107 Matussek, S. 227. „Doch gerade in der Vagheit solcher Bezüge [...] besteht ihre Prägnanz. Die Intensität des Erinnerns steigert sich mit der Feme des Erinnerungsobjekts.“ S. 229. 1118 Matussek, S. 221. Der bislang „zum Zitat erstarrte Gedächtnisraum“ wird durch die „Tiefenschichtung des sprachlichen Materials“, das mit einer Anspielung die Erinnerung an frühere, ihr zugrundeliegende Reminiszenzen weckt und so den toten Schriftraum zu einem lebendigen intertextuellen Spielfeld werden läßt, das geprägt ist von der „temporalen Dynamik der geistigen Bewegung, die aus den transformatorischen Vollzügen der Lektüre hervorgeht.“ S. 226. 100 Vgl. Streun, S. 167. 1111 Vgl. Streim, S. 171. Im Totentanz ist mit der Einheit von Wort und Bild das Gegenmodell zur sprachlichen Entfremdung der Moderne bereits in der Form gegeben.

„Mein Leben zu erleben wie ein Buch“

89

Im Innern quillt euch allen treu ein Geist, Der diesem Chaos toter Sachen Beziehung einzuhauchen heißt (GD I 290)

Für Claudio bedeutet diese Suche nach ‘Beziehung’ die von ihm zeitlebens vernachlässigte Bereitschaft zu menschlichen Bmdungen, zur ‘Treue’, um die Vokabel aus Ad me ipsum aufzugreifen — bedeutsam ist jedoch, daß dieses Streben auch als Suche nach einer Einheit von Zeichen und Bedeutung begriffen werden muß, welches vom Tod abschließend ironisiert und ad absurdum geführt wird:

Wie wundervoll sind diese Wesen, Die, was nicht deutbar, dennoch deuten, Was nie geschneben wurde, lesen, Verworrenes beherrschend binden Und Wege noch im Ewig-Dunkeln finden. (GD I 297f)

Claudios aggressive Abwehr des Todes („Was zwingt mich, der ich beides nicht erkenne,/Daß ich dich Tod und jenes Leben nenne?“ GD I 297) scheint somit vielmehr die Affirmation einer Arbitrantät, einer Freiheit in Benennung und Interpretation zu sein, die gerade nicht auf emem ‘Erkennen’, sondern auf der Undurchschaubarkeit allen Seins beruht.'" Das Paradoxon, das Tod und Leben ineins setzt, zeigt so die Unmöglichkeit adäquater Repräsentation auf und macht diese zugleich zum zentralen Umschlagpunkt, der Claudio sein Schicksal akzeptieren läßt."2 Sowie em „Übermaß/ Geträumten Fühlens [...] erwachen machen“ (GD I 297) kann, Traum und Wachsein dialektisch aneinander gebunden sind, so ermöglicht der Tod als unhintergehbare Abwesenheit gerade die höchste Erfahrung von Anwesenheit, von Fülle und ‘Leben’. Präsenz ist für Claudio nur möglich vor dem Hintergrund der vom Tod repräsentierten transzendentalen Abwesenheit.'13 Das letzte Wort behält aber der Tod, der auch diesen Versuch Claudios, dem Nicht-Deutbaren einen Sinn zu unterstellen, leugnet und somit auch als Warnung an den Interpreten verstanden werden muß, willkürlich den Prozeß der Generierung von Bedeutung anzuhalten und die — ohnehin durch ein tentaüves „wohl“ relativierten — Deutungsversu¬ che Claudios überzubewerten: Wenn einer träumt, so kann ein Übermaß Geträumten Fühlens ihn erwachen machen. So wach ich jetzt, im Fühlensübermaß, Vom Lebenstraum wohl auf im Todeswachen. (GD I 297)

111 Yg[ Steiner, S. 108. In der Paradoxierung kommt es zu einer Oszillation von Sinn, die Gleichzeitigkeit erzeugt. Die Performanz der Sinnproduktion wird offengelegt und verweist damit auf sich selbst. Steiner argumentiert, daß der Tod .Allegorie der Allegorie“ sei, insofern eine Allegorie immer auf ein Abwesendes verweise, der Tod jedoch per se Abwesenheit sei. Sie sei hier (anders als im Glück am Weg) jedoch nicht sukzessiv, sondern im Modus der Plötzlichkeit gehalten und entspreche somit Hofmanns thals Symbolbegriff. Vgl. S. 109. 1,2 Vgl. Steiner, S. 110. "3 Vgl. Steiner, S. 218.

2.3 Der Tor und der Tod (1893)

90

Eben weil die Menschen „was nicht deutbar,/dennoch deuten“ (GD I 297), ja deuten müssen, da Leben Verstehen heißt, setzt sich die Sukzession von Be-Deutungen auch über den Auftritt des Todes hinaus fort. Die Sukzessivität von Sinngebungsversuchen wird scheinbar gestoppt mit dem Emtreten des Todes, sein „Kommen [...] hat stets nur einen Sinn!“ (GD I 289), dieser feste Ausgangs- und Haltepunkt ermöglicht aber paradoxerweise gerade die Einsicht in die alles beherrschende Arbitrarität von Signifikat und Signifikant. Das Problem der „Verknüpfung mit dem Leben [als] Durchdringung zum Sein“ (RA III 610) erweist sich somit auch als em Problem der „Vertextung von Text und Welt“"4, bei der Welt nicht nur auf em hermeneudsches Spielfeld der interpretatorischen Instrumente des Philologen reduziert wird. Welt stellt für Claudio einen Text unter anderen dar und verliert damit jeglichen Realitätscharakter, wird zum Produkt der Phantasie dessen, der m diesem ‘Buch’ liest. Claudios abschließende Affirmation des Todesmomentes als Epiphanie der Lebensfülle ist somit nicht die Wende vom Ästheten zum Moralisten, sondern bezeugt letztlich nur die Unzulänglichkeit jeglicher menschlicher Deutungsversuche, die nur momentan den Anschein eines Zusammenfallens von An- und Abwesenheit erwecken. Die ‘Wahrheit’ dieser selbstreferentiellen Affirmation der eigenen Lektüre liegt eben nur in ihrem Geglaubtwerden durch Claudio. Mit Heidegger ließe sich die von Claudio vollzogene Bewegung von der Rückwen¬ dung in der Erinnerung hin zum im Tod erkannnten Leben als jenes ‘Vorlaufen zum Tode’ auffassen, welches m Sein und Zeit die zentrale Struktur ursprünglicher Zeitlichkeit darstellt."3 Vom Sein zum Tode leitet Heidegger die ‘eigentliche’ Zeitlichkeit des Augenblickes ab, wobei er sich auf Kierkegaard bezieht, dessen Schäften Hofmannsthal bereits 1896 kennengelernt hatte. Heideggers Kritik an emem ‘vulgären Zeitbegnff setzt ‘eigentliche Zeitlichkeit’ als Fundament der Struktur der lebensbestimmenden ‘Sorge’ des menschlichen Daseins an, die sich jeder Objektivierung entzieht und statt dessen im ‘besorgenden Umgang’ des Daseins, dem vor- und rückgreifenden Lebensvollzug des Menschen als Interaktion mit der Welt die Traxls’ eines stets auf Verwendbarkeiten verweisenden Bezugsganzen impliziert. Die Struktur der Sorge umfaßt dabei alle drei Ekstasen der Zeit (Sich-vorweg, Gewesenheit des Schon-Sein und Gegenwärtigkeit als Sem)."6 ‘Eigentlich’ ist das Dasein im Sinne Heideggers nur, wenn es im Blick auf seine Ganzheit dieses ‘Vorlaufen zum Tode’ vollzieht. Diese Entschlossenheit zur Ganzheitlichkeit verlangt zugleich jedoch eine Rückkehr auf bereits gelebtes Sein: Wohl aber liegt in der Zeitlichkeit des Daseins und nur in ihr die Möglichkeit, das existentielle Seinkönnen, darauf es sich entwirft, ausdrücklich aus dem überlieferten Daseinsverständnis zu holen. Die auf sich zurückkommende, sich überliefernde Entschlossenheit wird dann zur Wiederholung einer überkommenden Existenz¬ möglichkeit. Die Wiederholung ist die ausdrückliche Überlieferung, das heißt der Rückgang in Möglichkeiten des dagewesenen Daseins.117

114 Steiner, S. 87. Vgl- Kobel, S. 38. Im „Versuch diesen erhöhten Zustand zu wahren durch Supposition des quasiGestorbenseins“ (RA III 605) zeigt sich das Streben nach Verlängerung des ephiphanischen Moments, das aber eben gerade zu dessen Verzeitlichung, durch eine in die Zukunft gerichtete Antizipation führt - jenes Moment, das ein Erleben der Gegenwart zuvor gerade verhindert hatte. Vgl. auch Steiner, S. 114. 116 Heidegger: Sein und Zeit, S. 326ff. Vgl auch S. 350: „Die Zeitlichkeit zeitigt sich in jeder Ekstase ganz, das heißt in der ekstatischen Einheit der jeweiligen vollen Zeitigung der Zeitlichkeit gründet die Ganzheit des Strukturganzen von Existenz, Faktizität und Verfallen, das ist die Einheit der Sorgestruktur.“ 117 Heidegger: Sein und Zeit, S. 385.

„Mein Leben zu erleben wie ein Buch“

91

Claudio, der Hermeneut seines eigenen Lebens, vollzieht diese ganzheitliche Vor- und Rückschau über sein eigenes Leben im Moment des Todes. Fraglich bleibt jedoch seine defimtonsche Umetikettierung von Leben und Tod auf der Basis einer grundlegenden Arbitrantät von Zeichen und Bedeutung. Die Unhintergehbarkeit, das Flottieren von Bedeutung, zeigt sich gerade im menschlichen Bemühen, das „was me geschneben wurde,/ [zu] lesen“ (GD I 298), willkürlich Bedeutung zu fixieren, wo diese sich dem Zugriff des Subjekts schon längst wieder entzogen hat. Denn es ist der Tod, der ‘das letzte Wort’ behält, also die ‘Leerstelle’, die Abwesenheit schlechthin, und es ist sem stummes Geigenspiel, das die Wortkaskaden Claudios ablöst.

92

2.4 Das Glück am Weg (1893) - Allegorische Lektüren In der ,,allegonsche[n] Novelette“118 Das Glück am Weg, die auf Hofmannsthals Reiseta¬ gebuch Südfranyösische Eindrücke von 1892 zurückgeht, tritt der Bruch zwischen dem hermeneutischen Bedürfnis einer Vermittlung von Sinn und der “Unlesbarkeit’ des Lebens offen zutage. Der Text kreist um ein Seherlebnis, das jedoch in Wirklichkeit ein Ennnerungserlebnis darstellt: positivistische Aufnahme von Sinnesdata durch das technische Hilfsmittel des Fernrohrs tritt einer imaginativen, fiktiven Kette von durch die Wahrnehmung ausgelösten Reminiszenzen gegenüber, die das Wahrgenommene gleichsam ‘überwuchern’ und mit Bedeutungen aufladen, die diesem an sich nicht eigen sind. Eine emblematische Struktur prägt die Erzählung, insofern die verfehlte, nur imaginierte erotische Begegnung mit der fremden Frau durch ihre “Übersetzung’ als Schicksal (La Fortune) scheinbar einen definitiven Sinn zugesprochen bekommt."9 Aufgebrochen wird die einfache Abfolge von Inscriptio (Das Glück am Weg), Imago (die Frau auf dem vorbeifahrenden Schiff)und Subscriptio (La Fortune) jedoch durch die Folge von erinnerten (oder imaginierten) Bildern, die Bedeutung zu generieren versuchen, ohne diese wirklich fassen zu können - die allegorisch-emblematische Oberflächenstruktur wird durch die memorierende Tiefenstruktur konterkanert: _ Ich atme den Duft einer Rose ein und alsbald kommen mir verworrene Er¬ innerungen aus meinen Kinderjahren ins Gedächtnis. In Wahrheit sind diese Erinnerungen nicht durch den Rosengeruch erst wachgerufen worden; ich atme sie im Dufte selbst mit ein; er ist mir dies alles. Andere werden ihn anders empfinden.1211

Die Erzählung setzt ein mit einem ‘Blick zurück’, und diese Nachträglichkeit beherrscht ihre gesamte Struktur. Der Ich-Erzähler schaut vom fahrenden Schiff zurück auf die französische Riviera und glaubt, den Duft des Strandes und der dort blühenden Rosen zu riechen, obwohl der Wind vom Meer her weht. Dabei räumt der Erzähler selbst ein, es könne sich „wohl“ um eine Täuschung handeln, Imagination schemt jedoch höheren Wert für ihn zu besitzen als die Wahrheit des Faktischen: Das alles sah ich jetzt scharf und springend, weil es verschwunden war, und glaubte den feinen Duft zu spüren, den doppelten Duft der süßen Rosen und des sandigen, salzigen Strandes. Aber der Wind ging ja landwärts, schwärzlich neselnd lief er über die glatte, weinfarbene Fläche landwärts. So war es wohl nur Täuschung, daß ich den Duft zu spüren glaubte. (EGB 33)

Wie Claudio ist der Protagonist auch in dieser Erzählung gefangen zwischen Retrospektion und Antizipation, ohne den eigentlichen Glücksmoment in seiner Präsenz wirklich zu erleben.121 Erst nach Verschwinden der sinnlichen Gegenwart kann in der künstlerischen Imagination em Bild heraufbeschworen werden, das ‘scharf ist, denn es folgen „die Bilder des Lebens [...] ohne inneren Zusammenhang aufeinander und ermangeln gänzlich der

118 So Hofmannsthal am 12. Juli 1893. Bnefe an Marie Herzfeld, S. 37. Zweifel am Wert der Erzählung äußert Hofmanns thal Beer-Hofmann gegenüber, der Text habe ihm im Druck „einen peinlichen Eindruck gemacht, so schattenhaft, unkörperlich, safdos, leblos.“ BW Beer-Hofmann, S. 19. 1,9 Vgl. Renner, S. 95. 120 Bergson: Zeit und Freiheit, S. 122. 121 Vgl. Steiner, S. 72.

Allegorische Lektüren

93

effektvollen Komposition“ (EGB 589), wie Hofmannsthal in den Südfran^ösuchen Eindrücken sagt. Eine solche kunstvolle Komposition, die Sinn verbürgen soll, wird in dieser Erzählung durch eine imaginative und mythische Ennnerungsleistung zu schaffen gesucht, die imaginative Erfassung von Welt weicht jedoch schließlich der emblematischen Suprastruktur, die einen finalen Sinn verbürgen soll. Während bei Prousts später ausgebildeter Konzeption der memoire involontaire em zufälliger Sinnesemdruck eme Kette von Erinnerungen hervorrufen kann, so besitzt hier die rem selbsttätige Konstruktion von Erinnerung das Primat über die Sinnlichkeit, der olfaktonsche Eindruck ist rem imaginativ, anscheinend geschaffen um der Stimmigkeit des Bildes willen und der ihn auslösende Eindruck offenbar gänzlich vergangen.122 Kann bei Proust die Abwesenheit der Vergangenheit wiedergewonnen werden in der sinnlichen Korrespondenz, bei der sinnlicher Eindruck und Erinnerung zusammenfallen, so treten hier die sinnliche und gerade vergangene Gegenwart und deren nur imagmierte Wiedergewinnung zeitlich ausemander. Bereits der Versuch, Präsenz zu denken, läßt diese entschwinden, ihre sinnliche Präsenz verlieren, jeder „Präsenz [ist] die Abwesenheit als Gegenwartsdefizit emge sc hneben“.'23 Mit dem Auftauchen von drei Delphinen, die aus dem weinfarbenen Meer aufspnngen, wird ein Realitätsmoment gegeben, das aber sofort wieder Leere hinterläßt: „Leer lag der Fleck und wurde wieder glatt und blinkte“ - eme Leere, die als Projektions¬ fläche den imaginativen Prozeß erst recht m Gang zu setzen beginnt: Jetzt hätte es dort aufrauschen müssen, [...] hätten sich die triefenden Mähnen und rosigen Nüstern der scheckigen Pferde herausheben müssen, und die weißen Hände, Arme und Schultern der Nereiden, ihr flutendes Haar und die zackigen, dröhnenden Hörner der Tritonen. (EGB 33)

Konjunktivisch wird das Auftauchen Neptuns beschworen und dies in Bildern, die unschwer an einschlägige bildliche Darstellungen von Meeresgeschöpfen bei Arnold Böcklin erinnern. Neptun ist hier „kein langweiliger, schwarzbärtiger Gott, wie sie ihn zu Meißen aus Porzellan machen, sondern unheimlich und reizend, wie das Meer selbst, mit reicher Anmut, frauenhaften Zügen und Lippen, rot wie eine giftige rote Blume ...“ (EGB 33). Antizipatonsch versucht das erzählende Ich etwas einzuholen, was sich ihm entzieht, und greift dazu auf mythische Urbilder zurück, welche zugleich durch zeitgenössische Bilddarstellungen, die Neptun als dionysisch-erotisches Meerwesen zeigen, geprägt sind.124 Der mythisierten Natur wird mit dem Auftauchen einer Yacht wieder ein scheinbar ‘reales’ Moment entgegengesetzt, das sich erst im weiteren Verlauf als weitere stark erotisch chargierte Projektion erweisen wird. Die Wahrnehmung des sich nähernden Schiffes ist zunächst ‘natürlichen’ Regeln der Perzeption unterworfen: das andere Schiff präsentiert sich zunächst nur als „schwarzer Fleck“ m der Ferne, um dann so nah heranzukommen, daß mit guten Augen „die Maste und Rahen, ja sogar die Vergoldung, dort, wo der Name des Schiffes stand“, erkennbar werden. Mit dem Gnff zum technischen Hilfsmittel des

122 Vgl. Steiner, S. 73. Ebenfalls Renner, S. 88. 123 Steiner, S. 73. Vgl. auch Hofmannsthal: „[...] erst die Vergangenheit verklärt mir die Dinge und gibt ihnen Farbe und Duft.“ BW Edgar Karg von Bebenburg, S. 19. 124 Vgl. dazu Ursula Renner: Das Erlebnis des Sehens. S. 289f. Steiner meint, der bildliche Überlieferungskontext „belegt eine Überdetermination des Weltkontakts durch die lektüregeschulte Einbildungskraft, hinter deren Gebüden die Welt zurückbleibt, ja, wie eine gelesene Vorstellung in den Nebel des Vergessens versinkt.“. S. 74.

2.4 Das Glück am Weg (1893)

94

Fernglases setzt jedoch durch die Verzerrung der Differenzen von nah und fern die Fiktionalisierung und Stilisierung des Wahrgenommenen ein: Es war ein sehr gutes Glas. Es brachte mir einen bestimmten runden Fleck des fremden Schiffes ganz nahe, fast unheimlich nahe. [...] Den runden Fleck in meinem Glas begrenzte schwarzes Tauwerk, messingeingefaßte Planken, dahinter der tiefblaue Himmel. In der Mitte stand eine Art Feldsessel, auf dem lag, mit geschlossenen Augen, eine blonde, junge Dame. Ich sah alles ganz deutlich: den dunklen Polster, in den sich die Absätze der kleinen lichten Halbschuhe einbohrten, den moosgrünen breiten Gürtel, in dem ein paar halboffener Rosen steckten, La France-Rosen ... (EGB 34)

Begrenzt und eingerahmt wie in einem Bild, nimmt der fast schon als voyeuristisch zu bezeichnende Erzähler die Frau auf dem anderen Schiff wahr, vermeint Details („La France-Rosen“) zu erkennen, die möglicherweise auch nur seiner Phantasie entstammen.12’ Nähe und Ferne werden hier austauschbar, der Erzähler erschrickt, als er die Frau aufblicken sieht, da er sich ertappt fühlt, nur um sich bewußt zu werden, daß nur er selbst mithilfe seines Fernglases sie in solcher Nähe sehen kann. ‘Realität’ wird somit zu etwas immer nur relativ Erfahrbarem, stets mit fiktiven Elementen Vermischtem: Während es zunächst die erinnernde Vergegenwärtigung von visuellen Eindrücken und Gerüchen des Festlandes ist, die das erzählende Ich „scharf und springend“ wahrzunehmen glaubt, „weil es verschwunden war“, Realität somit zur subjektiven Erinnerung schrumpft, rückt mit der zurückbleibenden Leere nach dem Auftauchen der Delphine deren mythische Einbettung in den Vordergrund: „So tanzen vor einem feierlichen Festzug radschlagende Gaukler und Lustigmacher, so liefen trunkene, bocksfüßige Faune vor dem Wagen des Bakchos umher ...“ (EGB 33) - das Seherlebnis wird (gleichfalls nach dessen Abschluß) zum Auslöser kulturell-mythischer Reminiszenzen, die an die Stelle des eigentlichen Erlebmsses (der springenden Delphine) eine supplementäre Kette von stark von derfin-de-si'ecle-Autfassung antiker Mythen geprägten Bildern setzen. Mit dem Griff zum Fernglas erreicht die perspektivische Verzerrung (Anamorphose) von objektiver Realität ihren Höhepunkt, wobei paradoxerweise der Gipfel der subjektiven Fiktion mit dem scheinbar objektiv-positivistischen ‘Mikroskopblick’ aufs Detail zusammenfällt. Wie Chandos die Haut seines Fingers durch sein Mikroskop erscheint dem Erzähler die fremde Frau durchs Fernglas „unsäglich nahe“ (EGB 34). Statt jedoch bei der präzisen Beschreibung wahrgenommener Details stehen zu bleiben, wird auch dieses Seherlebnis nur Auslöser für ein Phantasma, die - vermutlich eingebildete - Erinnerung einer früheren persönlichen Beziehung zu der fremden Frau: In dem Augenblick wußte ich zwei Dinge: daß sie sehr schön war, und daß ich sie kannte. Aber woher? Es quoll in mir auf, wie etwas Unbestimmtes, Süßes, Liebes und Vergangenes. (EGB 35)

Renner nennt in ‘Die Zauberschrift der Bilder’ mögliche Vorbilder aus der bildenden Kunst, etwa Manets Olympia und die Salonmalerei der Zeit, wo häufig junge Frauen mit Buch dargestellt wurden. Vgl. S. 90. In einem früheren Aufsatz verweist Renner zudem auf literarische Reminiszenzen, die um che Thematik einer Frau ‘auf Distanz’ kreisen, etwa Stendhals De L’amour, Schopenhauers Transcendente Speculation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen, Baudelaires Prosagedicht A une passante oder Nietzsches Aphorismus Die Frauen und ihre Wirkung in die Feme aus dem zweiten Buch der Fröhlichen Wissenschaft. U.R.: Allegorisierung als Verfahren der Moderne in Hofmannsthals Glück am Weg. In: Austriaca 37/1993, S. 253-265.

Allegorische Lektüren

95

In dem Bedürfnis, der Kontingenz dieser zufälligen Begegnung einen tieferen Sinn beizulegen, glaubt er, die Frau zu kennen, sie scheint zu etwas "Vergangenem’ in ihm zu gehören, wodurch eine ganze Kette von Erinnerungsbildern ausgelöst wird: Ich versuchte es, schärfer zu denken: ein gewisser kleiner Garten, wo ich als Kind gespielt hatte, [...] ein Theater, eine Loge mit einer alten Frau und zwei Mäd¬ chenköpfe, wie biegsame lichte Blumenköpfe hinter dem Zaun ... ein Wagen, im Prater, an einem Frühlingsmorgen ... oder Reiter? ... Und der starke Geruch der taufeuchten Lohe und Kastanienblütenduft und ein gewisses helles Lachen ... aber das war ja jemand Anderes Lachen... ein gewisses Boudoir mit einem kleinen Kamin und einem gewissen hohen Louis-Quinze-Feuerschirm. (EGB 35)

Im Sinne Prousts scheinen dies memoires involontaires zu sein, die unvermittelt auftauchen und (durch Punkte markiert) abrupt von einem Bildfeld ms nächste wechseln. Dabei gelingt es dem Erzähler offenbar gerade nicht, „schärfer zu denken“, sondern er verliert das Objekt aus den Augen: „Aber in keinem der Bilder blieb sie stehen, sie zerrann immer wieder, und das vergebliche Suchen wurde unerträglich“ (EGB 35). Supplemente reihen sich aneinander und treten an die Stelle des Eigentlichen, das nicht zu fixieren ist. Diese Metareferenz auf die eigene Beobachtung ist es dabei aber offenbar selbst, die das ‘Glück’ dieses Erlebnisses zerstört, da sie nicht gegenwartsbezogen sein kann, sondern auf ein Zukünftiges ausgenchtet ist. Erneut tritt ein „Gefühl von Enttäuschung und innerer Leere“ (EGB 35) an die Stelle der Ennnerungsfülle, und der Erzähler kommt zu dem Schluß: „Ich kannte sie also nicht“ (EGB 35), nur um sich kurz darauf des Gegenteils zu besinnen: Dann fiel mir ein: Ja, ich kannte sie, das heißt, nicht wie man gewöhnlich Menschen kennt, aber gleichviel, ich hatte hundertmal an sie gedacht, hunderte von Malen, Jahre und Jahre hindurch. (EGB 35)

Dieses Paradoxon eines ‘Kennens’, das zugleich ein ‘Nicht-Kennen’ ist, wird erneut in einer Flucht von Bildern und Assoziationen einzuholen versucht, die die fremde Frau zum Inbegnff, ja zur symbolischen Verdichtung all dessen, was Kunst, Liebe, Glück für den Erzähler ausmachen, werden lassen und was er mit speziellen Beispielen von Musik, Abendstunden, Blumen, Gedichten zu fassen sucht. Begreifen, um wen öder was es sich bei dieser Frau handelt, kann nicht durch rationale Erfassung, sondern nur in emer Art von Epiphanie gelingen: Und alle meine heimlichen Wünsche hatten sie zum heimlichen Ziel gehabt: in ihrer Gegenwart lag etwas, das allem einen Sinn gab, etwas unsäglich Beruhigendes, Befnedigendes, Krönendes. Solche Dinge begreift man nicht: man weiß sie plötzlich.“ (EGB 36)

Das „Phantasma ihres Wesens“ (EGB 35) verleiht nicht nur allem einen Sinn, sondern wird schließlich sogar zu einer Art von Muse. Der Erzähler stellt sich vor, wie er in Zukunft in einer „besonderen Sprache“ mit ihr reden würde - was an die Sehnsucht des Lord Chandos nach emer anderen „Sprache, in welcher die stummen Dinge zu [ihm] sprechen“, erinnert. Dabei läßt diese Vision es jedoch an nötiger Klarheit vermissen: „-Alle diese Dinge dachte ich nicht deutlich, ich schaute sie in emer fliegenden, vagen Bildersprache“ (EGB 36). Schließlich geht er sogar so weit, sich ein gemeinsames Leben mit ihr vorzustellen: „(und mir war, als wüßte ich ganz genau, das würde hundertmal geschehen, ja beinahe, als wäre es schon geschehen)“ (EGB 36). In traumhafter ATerwechslung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Irrealis und Konjunktiv verschmelzen Realität und Phantasie

2.4 Das Glück am Weg (1893)

96

gänzlich, eine nur imagimerte Geste der Frau (das Hochziehen der Schultern) wird zum Auslöser der Bekundung: „und vor allem mein Glück lag dann ausgedrückt, die Bürgschaft meines tiefen, stillen, fraglosen Glückes“ (EGB 36). Wie für Chandos scheint Glück dabei zugleich m der unmittelbar einsehbaren, gleichsam ikonischen Einheit von Zeichen und Bezeichnetem - hier von körperlicher Geste und Bedeutung - zu liegen, eine Einheit, die hier aber nur im Als-ob-Modus als möglich angedeutet wird. Körpersprache als von der Sukzessivität der Schnft befreites Zeichensystem kann momenthaft, abbildlich eine Fülle von Bedeutungen gleichzeitig vermitteln. In der Geste, die Bild und Bedeutung vereinigt, liegt somit das Glück - nicht vergessen werden darf jedoch, daß auch diese Bewegung der Frau nur imaginiert ist.126 Mit dem Auseinandergleiten der Schiffe bleibt von dieser Phantasie nur eine „unendliche, blöde Leere“ zurück, worin sich die „Angst vor dem Versäumen des Schicksals“ {Ad me ipsum, RA III 607) bekundet. Der Erzähler selbst gibt die allegorische Ausdeutung des Auseinandergleitens der beiden Schiffe: [...] es war einfach, als glitte dort mein Leben selbst weg, alles Sein und alle Erinnerung, und zöge langsam, laudos gleitend, seine tiefen langen Wurzeln aus meiner schwindelnden Seele, nichts zurücklassend als unendliche, blöde Leere. (EGB 37)

Mit dem Schlußsatz, der den Namen des Schiffes als Ta Fortune’ lesbar macht, wird den gehäuften Deutungsversuchen eine endgültige Interpretation aufgesetzt, die Erzählung zur Allegone des sich dem Menschen immer nur entziehenden Glücks, das er begehrt, aber nicht zu ergreifen vermag. Der momentanen Erkenntnis, daß diese Frau sein ‘Glück’ verkörpert (hätte), kontrastiert die Gespaltenheit des Gegenwartserlebnisses in die Momente des unwillkürlichen Ennnerns und der anüzipatorischen Zukunftsvision. Die rhetorische Struktur des Textes selbst ist es dabei, die eine Differenz eröffnet, die sich als ‘Gedächtnis der Gegenwart’ bezeichnen ließe. Während das Symbol die zeidose, imaginäre Identität von Zeichen und Bezeichnetem beansprucht, betont die Allegone gerade die Differenz zwischen beiden. „Erinnerung ist rhetorisch, weil sie ihren eigenen Ursprung, die Identifikation mit der Vergangenheit durch ihre textuelle Struktur, verunmöglicht. So, wie die diachrone Allegorie als Zeitlichkeit ohne Gegenwart die Selbstidendfikation des Subjekts verhindert, übersetzt die synchrone Ironie als Gegenwart ohne Vergangenheit und Zukunft das Subjekt in ein nur sprachliches Subjekt ohne Synthese der einzelnen Bewußtseinsakte.“127 Auch Hofmannsthals Text basiert auf dieser Uneinholbarkeit des Erinnerten, eines Erlebnisses, das gar keine Präsenz besitzt, insofern es sich nur imaginativ selbst inszeniert, zugleich aber auch über Ennnerungsströme nicht eingeholt werden kann und so einer allegorischen Suprastruktur unterworfen werden muß, um ‘Sinn’ zu erhalten. Zugleich brechen aber paradoxale Formulierungen wie, daß er die Frau ‘kannte und nicht kannte’, die allegorische Zuordnung auf, die Flut der um die Themen von Kunst und Liebe kreisenden Erinnerungen machen gerade jenes ‘mehr’ an Bedeutung aus, das sich der allegonschen ‘Einrahmung’ entzieht.128 Die mnemonisch fungierenden Mechanismen des

126 Hofmannsthal betont gewöhnlich die Gegenwartsbezogenheit des Glücklichen: „Der Glückliche kennt keine Hoffnung“ {Furcht. 1907) und „Nichts erweckt Sehnsucht, alles ist Gegenwart“ (RA III 496). 127 Pethes, S. 77. Renner spricht von „Inszenierungen des Begehrens“, die kulturellen Codes folgten. TDie Zauberschrift der Bilder’, S. 95. 128 Der Text ließe sich somit lesen als die Geschichte der Entstehung eines künsderischen Werks „aus einem Mangel, der sich in Blick, Erinnerung oder Wunsch artikuliert, und deren Transfiguration durch die bedeutungsstiftenden Setzungen des Künsders (also den ‘Praetext’ der Allegorie), welche beinahe

Allegorische Lektüren

97

Unbewußten werden dabei gerade nicht als hermeneutisch deutbar verstanden, sondern das „Gleiten der Signifikanten“ erweist sich gerade durch den Versuch, sie in der allegorischen Schlußdeutung (La Fortune) zu arretieren, als alle Sinngebungsversuche übersteigend. 129 Zur rhetonschen Grundstruktur tritt die Leitthematik des ‘Lesens’ hinzu, der Protagonist liest ein Buch, bevor er sich der sinnlichen Gegenwart zuwendet: Mit guten Augen unterschied man schon recht deutlich die Maste und Rahen, ja sogar die \ ergoldung, dort, wo der Name des Schiffes stand. Ich wechselte meinen Platz, trug meinen englischen Roman ins Lesezimmer zurück und holte mein Fernglas. (EGB 34)

Auffallend ist hierbei, daß die eine Lektüre nur durch eine andere Lektüre abgelöst wird; m der Absicht, genau zu erkennen, wird das Fernglas zum Medium, zur Brille, die genaues Entziffern des sich darbietenden Bildes - und das heißt speziell, des Namens des Schiffes - ermöglicht. Auch die observierte Frau ist im Medium des Buches gefangen: „Sie schlug die Augen auf und bückte sich um ein heruntergefallenes Buch“ (EGB 34) — für beide Seiten gibt es somit nur die Medialität, keine Unmittelbarkeit, was sich auch durch den immer bestehenbleibenden Abstand der beiden Schiffe auf dem Wassers zeigt. Das Erblicken der Frau im Kreuzen der beiden Schiffe wird „als Allegone der erotisierten Lektüreanschauung entzifferbar, oder vielmehr: als das ins Leben eingetretene Gelesene.“110 Nicht nur, daß der Held ohnehin ein Buch bei sich führt, mit dessen Beiseitelegen erscheint auch das Bild der Frau als Bild einer erotisch aufgeladenen Lektüre und auch im jenseits des Textes’ scheint es nur eine Buchwirklichkeit zu geben, insofern die Frau nach einem Buch greift.131 Die - möglicherweise ironisch aufzufassende Wendung des Schlusses, die als emblematische Bildunterschrift den Lektürevorgang vereindeutigt, laßt den Gegensatz zwischen Nähe und Feme, Wissen und Nichtwissen aber gerade wieder aufbrechen. Der von Imagination geleitete Lektürevorgang, der sich um eine ‘effektvolle Komposition’ bemüht, die seiner subjektiven Interpretation des Geschehens entspräche, fuhrt ja gerade zum Verfehlen des Kairos; die an die Stelle einer realen Begegnung getretenen Wunschphantasien und unwillkürlichen Ennnerungsströme vom Glück mit dieser Frau machen eine wirkliche Erfahrung des Gegenübers unmöglich. So erweist sich die Erzählung als Allegorie des Verfehlens der Gegenwart gerade aufgrund des Versuches, durch das Medium (des Fernglases, des Buches) Realität so nah wie möglich an sich herankommen zu lassen.

zwangsläufig verbunden sind mit der Einschreibung in intertextuelle Bezüge.“ Renner: Allegorisierung als Verfahren der Moderne in Hofmannsthals Glück am IFtg, S. 257. 129 „[...] das Unbewußte wird - wie irrFreuds Psychoanalyse - zur Suchformel einer hermeneutischen Technik, deren Entschlüsselungsprosa Hofmannsthal nur mit großen Vorbehalten anerkennen kann. Denn der Diskurs der klinisch-pathologischen Diagnose zerstört die Magie der Bilder, arretiert das Gleiten der Signifikanten, stellt mithin Semiose als kreatives Verhalten zur Welt still.“ Renner: ‘Die Zauberschrift der Bilder’, S. 111. 130 Vgl. Steiner, S. 75f. 131 Blick und Geste treten beispielsweise im „Weißen Fächer“ an die Stelle von Sprache: „Es gibt Augenblicke, die einen um ein großes Stück weiterbringen, Augenblicke, in denen sich sehr viel zusammendrängt. [...] Während ich las, fühlte ich seine Augen auf mir und fühlte, daß er etwas sagen wollte.[...] Ich fühlte, daß ich ihn mit einem Zucken meiner Augenlider in einen Abgrund werfen konnte [...].“ (GD I 466f). Vgl. dazu Steiner, S. 121.

2.4

98

Das Glück am Weg (1893)

Zwischen Retrospektion und Antizipation verkürzt sich die Gegenwart ins Nichts.13' Erst nachträglich, wenn der unmittelbare Sinneneindruck verschwunden ist, kann sich eine Vorstellung kontuneren, die aber stets imaginär bleibt und bei der sich die Abwesenheit des Vergangenen zwar m Anwesenheit verwandeln läßt, „aber in der Weise, daß jeder Präsenz die Abwesenheit als Gegenwartsdefizit eingeschrieben ist.“133 Die zahlreichen konjunktivischen Formulierungen („Jetzt hätte es ...“) und als-ob-Strukturen des Textes verdeutlichen dieses Bewußtsein des hochreflexiven Erzählers um die Irrealität seiner Erinnerungsbemühungen und Zukunftsträume. ‘Glück’ wird so zu etwas nicht Gelebtem, sondern immer schon in die Nachträglichkeit Verschobenem, wobei sich kulturelle Topoi und Klischees als Bilderreservoir zwischen das authentische Erlebnis und dessen erinnernde Vergegenwärtigung schieben: Was man also den Lebensweg nennt, ist kein wirklicher Weg mit Anfang und Ziel, sondern er hat viele Kreuzwege, ja er besteht wohl eigentlich nur aus Kreuzwegen, und jeder Punkt ist der mögliche Ausgangspunkt zu unendlichen Möglichkeiten; und das Schicksal nannten darum die Griechen sehr geistreich Tyche’, das ZufälligZugefallene. Es geht immerfort die Wahrheit an uns vorbei, die wir vielleicht hätten verstehen können, und die Frau, die wir vielleicht hätten lieben können ... ... car j’ignore oü tu fuis, tu ne sais oü je vais 6 toi que je’eusse aimee, ö toi qui le savais ... Das ist beinahe traurig, aber es ist für mich erlebte Erfahrung [...] ich erinnere mich so genau, ich könnte das Ganze in ein Tagebuch bringen: ein nachträgliches Tagebuch. Das wäre wenigstens ein Tagebuch ohne Pathos, mit den graziösen unaufdringlichen Dimensionen des Entrückten und dem kühlen reservierten Ton des nicht mehr Wirklichen. (Age

Kreuzwege,

oflnnocence,

EGB 25)

Ein „nachträgliches Tagebuch“ könne erlebte Erfahrung so entrücken und zu einer „nicht mehr wirklichen“ machen, was eine größere Nüchternheit bewirken würde. Begegnung wird zur Nicht-Begegnung, die Fülle an potentiellen Möglichkeiten zur Unmöglichkeit, irgendeine von ihnen zu realisieren und an die Stelle eigener Erfahrungen schieben sich Lektürereminiszenzen, wie hier aus Baudelaires Gedicht A une passanle,134 Mit dem Verlassen des Decks entzieht sich die Frau dem männlichen Blick durch das Fernglas und damit seinen Projektionen, das Realitätspnnzip zerstört das Phantasma und hinterläßt erneut eine ‘Leere’.13’ Die Frau wird so als schöpferisches Produkt der dichtenschen Imagination erkennbar, und die gesamte Schiffsreise ließe sich lesen als eine „Allegone des poetischen Prozesses“, bei dem Versuche, der Sukzessivität der Allegone durch das Symbol (der Frau), in dem sich aller Sinn zusammenballt, zu entkommen, scheitern.136 Das Glück am Weg wird so zu einem Text, der zwischen „unwillkürlich aufscheinenden lebensgeschichtlichen Erinnerungen, einer memoire involontaire, wie es bei

133 „Präsenz gibt es nur um den Preis ihres Verschwindens.“ Steiner, S. 73. 133 Steiner, S. 73. 134 Vgl- Renner: ‘Die Zauberschrift der Bilder’, S. 109f. 133 Vgl. Renner: ‘Die Zauberschnft der Bilder’, S. 105f: „Das unhintergehbare Wirklichkeitsdiktat der linear ablaufenden Zeit bestätigt diesen Einbruch des Realitätsprinzips: die Schiffe gleiten auseinander und heben die (simulierte) Nähe auch räumlich auf. Die ‘Realität’, determiniert durch Raum, Zeit und Handlung, verweist das Gesehene als Konstrukt der Imagination ins Reich der Wünsche oder der Fiktion.“ 136 Vgl. Steiner, S. 76.

Allegorische Lektüren

99

Proust heißen wird, und einem kulturellen (Bild)Gedächtnis, das der memoire einen Sinn zuschreiben will“, oszilliert.1,7 Während die allegorische Oberflächenstruktur vorgibt, daß eine ordnende Deutung des imaginativ Erlebten und der aus dem Unterbewußten hervorbrechenden Erinnerungsphantasien möglich sei, entfalten diese in ihrer Fülle jedoch eine Eigendynamik, die ihrer Einrahmung durch Inscnptio und Subscriptio spottet. Bedeutungsfixierung im Anhalten der Bewegung der mnemonisch funktionierenden Semiose erweist sich als unmöglich, und allegorische Stillegungsversuche sind letztlich nur der hilflose Versuch eines kulturellen Gedächtnisses, die Untiefen der individuellen Erinnerung durch ihre Verallgemeinerung aufzuheben.

137 Renner: Allegorisierung als Verfahren, S. 260.

100

Ich bin ein Dichter, weil ich bildlich erlebe. (RA III 382)

3. Der „Zusammenhang von Bild Wort und Schrift“ - Dichtung als Mnemotechnik Die Erlangung von Simultaneität kann als gemeinsames Ziel nicht nur verschiedener literarischer Bewegungen, sondern auch der bildenden Kunst zu Beginn des letzten J ahrhunderts betrachtet werden. Symbolismus, Futurismus und Dadaismus sind zudem gekennzeichnet durch die Wechselwirkung zwischen poetischer Theorie und ihrer plastischen oder bildlichen Realisierung; und die theoretischen Grundlagen des Kubismus und Impressionismus wie auch des Surrealismus entfalteten ihre Wirkung nicht zuletzt bei der Gestaltung literarischer Texte. Rilkes Versuche, eine ganze Dichtungstheorie auf die bildhauerischen Bemühungen Rodins zu stützen, oder der Yortizismus/Imagismus Ezra Pounds, der für Dichtung wie bildende Kunst em neues nicht-impressionistisches Verhältnis zum Vergehen der Zeit und der Wahrnehmungen zu erlangen suchte, bestätigen diesen Zusammenhang. Dabei sind es fast durchweg erkenntmstheoretische Neuerungen, die zu strukturellen Veränderungen führen, die sich quer durch alle Kunstgattungen beobachten lassen. Hofften die Kubisten in der Rückführung der Wirklichkeit auf einfache geometrische Formen und der simultanen Vergegenwärtigung verschiedener Seiten desselben Objektes eine ‘wirklichere Wirklichkeit’ zu schaffen, so waren Impressionismus und Pointillismus Versuche, visuelle Eindrücke in ihrem ‘unmittelbaren’ Auftreffen auf die Netzhaut szientifisch genau zu repräsentieren.1 In der französischen Avantgarde wird die Materialität der Sprache selbst benutzt, um sie dem Medium der bildenden Kunst anzuverwandeln. Stephane Mallarme ‘reduziert’ die dichterische Intention emes Autors auf die Arbitrarität eines Würfelwurfes (Un coup de des), der vom Leser nur durch Kombination des visuell gleichzeitig Erfaßten zu einem Sinn ergebenden Ganzen zusammengefügt werden kann. Die .Ambiguität der Worte resultiert dabei aus der übereinander ge¬ schichteten

Bedeutungsvielfalt,

die

unterschiedliche

syntagmadsche

Zuordnungen

ermöglicht, worin eine Annäherung an das von Mallarme angestrebte Lesen gegen die lineare Zeit zumindest annäherungsweise möglich wird.2 Aufhebung der Linearität der Schrift im Simultanstil der Expressionisten, Einbeziehen des Unbewußten im stream of consciousness bei Joyce und endloser Fluß der Zeichen beim automatic writing simultane

1 Zu diesen Zusammenhängen vgl. Peter Nicholls: Modemisms. A laterary Guide. Berkeley, Los Angeles, California 1995. Siehe auch Markus Fischer: Augenblicke um 1900. Literatur, Psychoanalyse und Lebenswelt zur Zeit derjahrhundertwende. Frankfurt a.M. 1986. Fischer bezieht dabei Bergsons Begriff der simultaneite in die Interpretation ein. 2 Vgl. hierzu die exzellente Arbeit von Hanno Möbius: Montage und Collage. Literatur, bildende Künste, Film Fotografie, Musik, Theater bis 1933. München 2000. S. 134f. Die Mehrdimensionalität von Mallarmes Text ist auch für Derrida in Die Schrift und die Differenz immer wieder herangezogenes Beispiel für unabschließbare Mehrdeutigkeit: „eine gewisse reine und unendliche Mehrdeutigkeit [...], die dem bezeichnten Sinn keinen Aufschub und keine Ruhe läßt.“ Die Schrift und die Differenz Frankfurt a.M. 1976. S. 44f. Vgl. auch Wolfgang Max Faust: Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von bildender Kunst und Literatur im 20. Jahrhundert oder vom Anfang der Kunst im Ende der Künste. München 1977.

Dichtung als Mnemotechnik

101

Vergegenwärtigung verschiedener Seiten der Objekte in den Porträts Picassos und Braques, Darstellung von Verlaufserscheinungen in den Skulpturen und Bildern des Futurismus und mythische Vertiefung der entzauberten Alltagswelt von Stadtneurotikern im Frühwerk T.S. Eliots — alle diese Bemühungen lassen sich charakterisieren durch das Ziel, die Grenzen zwischen bildender und literarischer Kunst durchlässig werden zu lassen und eine Gleichzeitigkeit nicht nur verschiedener Verlaufsstufen von Objekten, sondern auch von Bewußtseinsstufen und historischen Entwicklungsabschnitten zu erlangen. Das Bewußtsein einer ganzen schreibenden Generation von der Unzulänglichkeit ihres eigenen Mediums initiierte eine Vielzahl von Bemühungen, die eng gesetzten Grenzen des Literarischen durch Rückgriff auf die Vorteile der bildenden Künste auszugleichen und auf eme die visuellen und mentalen Fähigkeiten des Rezipienten beanspruchende ‘Multimedialität’ hm zu überschreiten. In diesen Zusammenhang gehören zweifellos Hofmannsthals Bemühungen um den Film und die Oper, beides Medien, die sich durch die simultane Überlagerung verschiedener Elemente auszeichnen: sei es die Relation von Musik und Bild im Stummfilm (und damit die Überwindung der Linearität der Schrift) oder die Verbindung von Musik und Gestik im Bereich der Pantomime oder des Tanzes (womit sich Kapitel 4 befassen wird). Hier soll es zunächst um die literaturimmanenten Bemühungen Hofmannsthals, um eme Integration der Qualitäten der bildenden Kunst in seme eigenen dichtenschen Werke gehen und weniger um die Aufnahme von Bildern (etwa Arnold Böcklins) m die Gestaltung von Schauplätzen und Landschaften seiner Dramen und Erzählungen.* * 3 Fin Ausbruch aus dem Gefängnis der Bücher wird von Hofmannsthal von Anbeginn über die Affinität der Wortkunst zu anderen Medien künsderischen Ausdrucks versucht. Die Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst nimmt dabei bereits früh einen herausragenden Stellenwert em und erfährt nicht zuletzt durch die Begegnung mit Paters Thesen über em Streben der Künste zueinander eine Bekräftigung. Das ‘Anders-streben’ der Künste, Paters Ausdruck für die Tendenz aller Künste, die Grenzen der eigenen Gattung zu überschreiten und sich einer anderen Gattung anzunähem, war für Hofmanns¬ thals Verständnis Paters die zentrale Kategorie.4 5 Im Falle Hofmannsthals ist diese Rezeption bildender Kunst auch vermittelt durch Lektüre, durch die Beschäftigung mit der Tradition kunstgeschichtlicher Theonen und Werke.3 Neben dem Besuch von Ausstel-

’ Nachdem über Jahrzehnte hinweg zu Hofmannsthals Rezeption der bildenden Kunst neben einigen Aufsätzen nur Carlpeter Braeggers Dissertation: Das Visuelle und das Plastische. Hugo von Hofmannsthal und die bildende Kunst. Bem/München 1979 zur Verfügung stand, ist diese empfindliche Lücke nunmehr mit

Ursula

Renners

umfassender

Habilitationsschrift

geschlossen,

die

in

vorbildlicher

Weise

Hofmannsthals Rezeption zeitgenössischer Kunst mit der Interpretation von durch diese beeinflußten Texten verbindet. Vgl. Ursula Renner: ‘Die Zauberschnft der Bilder’. 4 Vgl. Stamm, S. 97. 5 So hat Hofmannsthal folgende Werke immer wieder gelesen: Jacob Burckhardts Du Kultur der Renaissance in Italien, Carl Neumanns Rw^ra/iA-Monographie, John Ruskins Enzyklopädie Modem Painters, Walter Paters Renaissance. Studies in Art and Poetry, sowie Johann Joachim Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums. Von daher läßt sich auch Hofmannsthals Ablehnung der genannten Kunstrichtungen erklären. Vgl. seinen Brief an Eberhard von Bodenhausen 10.7.1917, Briefe der Freundschaft, 237. Siehe dazu de Mazza, S. 86f. In diesem Zusammenhang zu erwähnen sind auch Hofmannsthals Freundschaften und Beziehungen zu Malern wie Hans Schlesinger, Kunstinteressierten wie Richard Beer-Hofmann und Hermann Bahr, zu Sammlern wie Harrt’ Graf Kessler, Eberhard von Bodenhausen, Alfred Walter Heymel sowie dem Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe oder Benno Geiger. Vgl. Renner: ‘Die Zauberschnft der Bilder’, S. 14ff.

3. Der „Zusammenhang von Bild Wort und Schrift“

102

lungen und deren Kommentierung in zahlreichen Aufsätzen steht von Anbeginn die kunsttheoretische Auseinandersetzung mit der Malerei, und kunsttheoretische Termini prägen Hofmannsthals poetisches Begnffsinventar.6 Dabei ist es jedoch nicht lediglich ein universalistisches Bildungsstreben, sondern auch ein genuines Bedürfnis nach einer Ausdruckskunst jenseits der Sprache, was Hofmannsthal immer wieder zur bildenden Kunst - und in Analogie dazu zur Annäherung der Wortkunst an die Bildkunst - als Rettungsanker greifen läßt: Die Sprache (sowohl die gesprochene als die gedachte, denn wir denken heute schon fast mehr in Worten und algebraischen Formeln als in Bildern und Empfindungen) lehrt uns, aus der Alleinheit der Erscheinungen einzelnes herauszuheben, zu sondern; durch diese willkürlichen T rennungen entsteht in uns der Begriff wirklicher Verschiedenheit und es kostet uns Mühe, zur Verwischung dieser Klassifikationen zurückzufinden und uns zu erinnern, daß gut und böse, Licht und Dunkel, Tier und Pflanze nichts von der Natur Gegebenes, sondern etwas willkürlich Herausge¬ schiedenes sind. (RA III 324)

In der Suche nach einem Ausweg aus der Linearität und Diskursivität einer klassifikatonsch verfahrenden Sprache gewinnen Bild, Metapher und Symbol — Hofmannsthal differenziert zwischen diesen Termini zumeist nicht — den Status ‘wahrer’ Repräsentation von Wirklichkeit, da diese Medien, statt zu zergliedern, das, was immer nur als chaotisches Mischgefüge perzipiert werden kann, als solches analog-synthetisch wiederzugeben vermögen. Hofmannsthal scheint somit hinter die modernen Errungenschaften von Expressionismus, Kubismus und Futurismus zurückzufallen, insofern er eine mimetische Auffassung von Kunst zum Authentizitätsparadigma erhebt - bedacht werden muß jedoch seine klare Ablehnung einer ‘photographischen’ Abbildlichkeit. Die Komplexität der Wirklichkeit bestimmt die Wahl der ästhetischen Mittel bei ihrer Wiedergabe, und der Künsder steht immer zwischen der Wahl, diese Komplexität zu reduzieren oder aber das Chaos der sinnlichen Welt ungefiltert in sein Werk eingehen zu lassen. In seinem Aufsatz Die Malerei in Wien verklärt Hofmannsthal Malerei zur „Zauberschrift“ (RA I 526) und verwahrt sich in zwei Aufzeichnungen aus dem Nachlaß von 1895 gegen einen falsch verstandenen ‘photographischen’ Realismus: Die Welt der Worte eine Scheinwelt, in sich geschlossen, wie die der Farben, und der Welt der Phänomene koordiniert. Daher keine „Unzulänglichkeit“ des Ausdrucks denkbar, es handelt sich um ein Transponieren. 28. V — Poesie (Malerei): mit Worten (Farben) ausdrücken, was sich im Leben in tausend anderen Medien komplex äußert. Das Leben transponieren. Daher der photographierte Dialog so falsch wie in ein Bild eingesetzte Edelsteine. (RA III 400)

Um wie die Malerei funktionieren zu können, muß Dichtung die sukzessive Diskursivität der Schrift in die Simultaneität metaphorischen Sprechens umsetzen, muß das Leben gewissermaßen in eine andere Tonart ‘transponieren’. Mythos und Metapher stehen dabei in einem engen Bezug, ja Hofmannsthal versucht, sprachliche Bilder an einen mythischen Urgrund zurückzubinden, um sich so gegen den Vorwurf einer nur arbiträren Zusammen¬ stellung von Zeichen und Bedeutung zu verwahren. Grundsätzlich basiert für ihn die Bildlichkeit der Dichtung auf dem Prinzip der Ähnlichkeit, dem Ikonismus, dabei werden

6 Vgl. de Mazza, S. 89.

Dichtung als Mnemotechnik

103

jedoch eigentliches und uneigentliches Sprechen, Metapher und Begriff, wie zu zeigen ist, in ihrer Wertigkeit vertauscht. Während der Wahrnehmungsmodus des Dilettanten einen kontinuierlichen Fluß der Impressionen und eine ständige Verwandlung des Gegenwärti¬ gen in Vergangenheit bedeutet, bedingt das künstlerische Erlebnis eme momentane IchDissoziadon und damit eme begrenzte Aufhebung des Zeitflusses - statt einer imitativen Wiedergabe einer an sich unstruktunerten sinnlosen Welt besitzt Kunst somit die Funktion, das an sich Chaotische zu einem ‘harmonischen’ Ganzen zu verbinden, statt Realität (wie im Kubismus oder Impressionismus) noch weiter zu atomisieren.7 Das ‘Erlebnis’ von Symbol und Metapher wird so zu einer epiphanischen Erfahrung der Sinnfulle, die die Zeit aufhebt, da das sprachliche Bild aufgrund semer nicht-arbiträren Zusammenbindung eines Zeichens mit semer Bedeutung die Kluft zwischen emer sinnlos und chaotisch empfunde¬ nen Welt und emer verlorenen Welt des Fleiligen, Transzendenten momentan zu schließen vermag. Lord Chandos versucht, emer in Teile zerfallenden Welt auf verschiedenen Wegen zu begegnen. Zunächst im „Versuch, mich aus diesem Zustand m die geistige Welt der Alten hmüberzuretten. Platon vermied ich, denn mir grauste vor der Gefährlichkeit semes bildlichen Fluges“ (RA 1466). Statt der stark metaphorischen Sprache Platons will Chandos sich an die „Harmonie begrenzter und geordneter Begriffe“ Senecas und Ciceros halten. Doch auch diese Flucht in die Vergangenheit ist nutzlos, obgleich er ihre „Begriffe“ wohl versteht, bleibt er doch „von ihrem Reigen ausgeschlossen“ (RA I 466), kann kernen inneren Bezug entwickeln, flüchtet sich vor den Büchern der klassischen Antike „ins Freie“ (RA I 647). Umso überraschender erschemt dabei, daß diese Flucht aus der Bibliothek nach draußen, ms ‘Leben’, zu emer Existenz führt, die Chandos zwar selbst als „so geistlos, so gedankenlos“ bezeichnet, die aber gleichwohl nicht ohne Glücksmomente ist: Denn es ist ja etwas völlig Unbenanntes und auch wohl kaum Benennbares, das in solchen Augenblicken, irgendeine Erscheinung meiner alltäglichen Umgebung mit einer überschwellenden Flut höheren Lebens wie ein Gefäß erfüllend, mir sich ankündet. Ich kann nicht erwarten, daß Sie mich ohne Beispiel verstehen, und ich muß Sie um Nachsicht für die Albernheit meiner Beispiele bitten. Eine Gießkanne, eine auf dem Felde verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus, alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung werden. (RA I 467)

„Vollste erhabenste Gegenwart“ erlebt Chandos m der Imagination der vergifteten Ratten im Keller, aber auch im Anblick solider, emfacher Gegenstände des täglichen Gebrauchs, ja „wenn diese Zusammensetzung von Nichtigkeiten mich mit einer solchen Gegenwart des Unendlichen durchschauert“ (RA 1469), erlebt er eme „Bezauberung“, durch die auch der eigene Körper zu „lauter Chiffern“ wird und eme Harmonie zwischen den Dmgen draußen und dem eigenen Ich herrscht. Man fühlt sich an Stifters liebevolle Schilderung der Details des alltäglichen Gerätes für die Landarbeit und das Haus erinnert, oder aber an Heideggers Begriff von ‘Zeug’, der gleichfalls Dinge in ihrem auf praktischen Nutzen gerichteten Bezug bezeichnet. Denn eben die Einfachheit dieser Dinge schemt es zu sein, die ihre beruhigende Wirkung auf einen durch zuviele abstrakte Begriffe zerrütteten Geist entfaltet:

7 Vgl. Streim, S. 158.

3. Der „Zusammenhang von Bild Wort und Schrift“

104

Diese stummen und manchmal unbelebten Kreaturen heben sich mir mit einer solchen Fülle, einer solchen Gegenwart der Liebe entgegen, daß mein beglücktes Auge auch ringsum auf keinen toten Fleck zu fallen vermag. (RA I 469)

Die Hinwendung Lord Chandos’ zu einfachen Gegenständen des .Alltags, die sich mit einem Wort (Gießkanne, Bauernhaus, Egge) bezeichnen lassen, ohne einen Abgrund zwischen der Bezeichnung und der unmittelbaren Gegenwart des Bezeichneten aufzureißen, läßt die Sehnsucht nach einer nicht arbiträren Ur-Sprache erkennen, die hier nicht zufällig idyllische Miniaturszenen (Hund in der Sonne, ärmlicher Kirchhof) einer noch nicht entfremdeten bäuerlichen Welt mehr evoziert als bezeichnet. Denken m „Bildern und Empfindungen“ statt in „Worten und algebraischen Formeln“ stellt somit bereits für Chandos einen momentanen Ausweg aus der Entfremdung einer abstrakten Begriffssprache dar, auch wenn er sich der Begrenztheit ihres Zuständigkeitsbereiches bewußt bleibt. Während es Chandos jedoch scheinbar um das reine So-Sein der Dinge in ihrem alltäglichen Kontext geht, beschreibt Hofmannsthal in einem Brief an Richard BeerHofmann vom 15. Mai 1895 die Fähigkeit zur Imagination emes verstehbaren Raumes als genuin dichterisches Vermögen, eine an sich nicht sinnvolle Welt „gut-symbolisch“ mit Sinn auszustatten: Ich glaub’ immer noch, daß ich imstand sein werde, mir meine Welt in die Welt hineinzubauen. [...] 'Es handelt sich freilich immer nur darum, ringsum an den Grenzen des Gesichtskreises Potemkinsche Dörfer aufzustellen, aber solche, an die man selber glaubt. Und dazu gehört ein Zentrumsgefühl, ein Gefühl von Herrschaftlichkeit und Abhängigkeit, ein starkes Spüren der Vergangenheit und der unendlichen gegenseitigen Durchdringung aller Dinge und ein besonderes Glück, nämlich daß die begegnenden Dinge wie Karten bei der Kartenschlägerin gut¬ symbolisch fallen, reich, vielsagend und durch ihre Kühnheit auch im schönen Sinn schauerlich tragisch. (BI 130)

Hier tritt an die Stelle einer rein in ihrem Bezug auf die Dinge verstandenen Sprache eine um die Dimension des Symbolischen, mithin des Verweises auf eine hinter der Oberfläche liegende Sinnschicht erweiterte Sprachauffassung. Die ‘begegnenden Dinge’ müssen zwar als solche „gut-symbolisch fallen“, ihre Ausdeutung liegt jedoch auf Seiten des Rezipienten, der sie zu einer Scheinwelt zusammenstellt, an deren Existenz er gleichwohl ‘glaubt’. Gedichte sind „die unscheinbaren aber verzauberten Becher, in denen jeder den Reichtum seiner Seele sieht, die dürftigen Seelen aber fast nichts“ (RA 119) — eine als sinnvoll erlebte Wirklichkeit beruht somit auf der Synthesis-Leistung des wahmehmenden Subjekts, nicht auf einem ihr inhärenten Sinn. Die aphoristische Skizze Bildlicher Ausdruck (1897) führt die Umwertung des Verhältnisses von ‘eigentlichem’ und ‘uneigentlichem’ Sprechen fort. Bereits das griechische Motto aus Platons Phaidon - „Danach erwog ich, daß ein Dichter, sofern er wahrhaft ein Dichter ist, Mythen nicht Lehren zu dichten hat“ - bringt die Differenz zwischen abstraktem Diskurs und bildhafter Erzählung auf den Punkt. Nicht mehr die traditionelle Funktion eines Ornaments, das die begriffliche Erörterung ausschmücken und verlebendigen soll, kommt der Metapher zu, sondern diese tntt an deren Stelle, wird zum „Kern und Wesen aller Poesie“ (RA I 234) geadelt: Was der Dichter in seinen unaufhörlichen Gleichnissen sagt, das läßt sich niemals auf irgendeine andere Weise (ohne Gleichnisse) sagen: nur das Leben vermag das gleiche auszudrücken, aber in seinem Stoff wortlos. (RA I 234)

Dichtung als Mnemotechnik

105

Wie die Gießkanne oder der Hund in der Sonne für Chandos als ‘Gefühlswerte’ ihren „eigentlichen Sinn“ besitzen, ohne daß er dafür eine hermeneudsche Leistung vollbringen zu müssen glaubt, so behauptet Hofmannsthal hier, daß die Metaphern, Bilder und Symbole der dichterischen Sprache als solche kemer Übersetzung mehr bedürfen, weil Dichtung an sich ein „Gebilde aus uneigentlichen Ausdrücken“ darstellt, die Suche nach dem ‘Eigentlichen’ hinter dem Bild — wie Affen, die „hinter einen Spiegel fahren“ (RA I 234) — sich somit erübrigt. Nicht funktioniert die Metapher als Eins-zu-eins-Relation von Bild und Bedeutung wie bei Aristoteles (Löwe=König), sondern das Bild besitzt als solches eine entschieden größere Sinnfülle, ist angereichert mit zusätzlicher Bedeutung, die eine einfache Übersetzung ad absurdum führt, da das Bild jegliche Eindeutigkeit um ein vieles übersteigt. Zugleich spielt für die Entfaltung der Wirkung eines literarischen Bildes der Rezipient eme bedeutende Rolle, da der ‘Gehalt’ emer Metapher auf kollektiven Ennnerungsspuren und Momenten des Unbewußten beruht. Dichtung ist Mythos, eme sich histonsch wandelnde Erzählung des immer gleichbleibenden Kerns - die Form kann von ihrem Inhalt nicht abgelöst werden, ohne den Sinn zu entstellen. In der Metapher kommt es zur „Paradoxie der Zeit“8, indem Abwesendes (sigmfie) und Anwesendes (signifiant) zusammenfallen, eine Oszillation stattfindet zwischen der textlichen Präsenz und deren Repräsentationsgehalt im (Unter-) Bewußtsein des Rezipienten: Eine hellsichtige Darstellung des seltsam vibrierenden Zustands, in welchem die Metapher zu uns kommt, über uns kommt in Schauer, Blitz und Sturm: dieser plötzlichen, blitzartigen Erleuchtung, in der wir einen Augenblick lang den großen Weltzusammenhang ahnen, schauernd die Gegenwart der Idee spüren, dieses ganzen mystischen Vorganges, der uns die Metapher leuchtend und real hinterläßt, wie Götter in den Häusern der Sterblichen funkelnde Geschenke als Pfänder ihrer Gegenwart hinterlassen. (RA I 192)

Das hier geschilderte epiphanische Erlebnis beruht auf dem plötzlichen Zusammen¬ kommen emer ungeheuren Sinnfülle im sprachlichen Bild, die sich dem empfänglichen Gemüt m emem Moment der mystischen Erhöhung offenbart. In Anlehnung an Platons Begriff von den ‘Ideen’, die m ihren irdischen Abbildern gleichsam anamnetisch evoziert werden, fungiert die Metapher als verbmdendes Glied zwischen dem Ewigen, Überzeitli¬ chen, Übenndividuellen und dem Zeitlichen, Irdischen, Individuellen.9 10 Während jedoch das Bild in der Malerei als solches bereits über eme simultane Zusammenführung der Einzelelemente verfügt, da es mit einem Blick erfaßt werden kann, wird diese Synthesis beim Sprach-Bild erst im Geist des Betrachters erzeugt: „Denn da, wo das gemalte Bild eme Augenblickserfahrung ermöglicht, mdem es als flächig dargebotene Konfiguration von Elementen im einigenden Augenblick des Schauens erfaßt wird, resultiert das Sprachbild aus emer Augen-Blickserfahrung: dem momenthaften Einblick nämlich m die geheime Ordnung der Dmge, dem ‘erhöhten’ Augenblick’ [...] “In Die Problematik der Rücküber¬ tragung eines vom Dichter - oder, wenn dieser nur als Medium begriffen wird: von der literarischen Tradition - m em sprachliches Bild hinemprojizierten Sinnes durch den Rezipienten ist den Versuchen der antiken Mnemotechnik vergleichbar, eme erinnerungs¬ technisch hilfreiche ‘Brücke’ zwischen den Gedanken emer Rede und emem sie

8 Steiner, S. 155. 9 Auch de Mazza verweist darauf, daß Hofmannsthals Metaphemkonzept „primär hermeneutisch“ ausgerichtet ist. Vgl. de Mazza, S. 113. 10 de Mazza, S. 114.

3. Der „Zusammenhang von Bild Wort und Schrift“

106

repräsentierenden sprachlichen Bild zu etablieren. Gedächtniskunst, die Mnemotechnik der antiken Rhetorik läßt Bild und Schrift so in Konkurrenz zueinander treten, ja ihre Differenz scheint es recht eigentlich zu sem, die den Raum der Erinnerung eröffnet." Das Bestreben des Redners, eme Rede zu memorieren, indem die Gedanken zu prägnanten Bildern (imagines) verdichtet werden und an den Raum strukturierende Plätze (loci) gebunden werden, macht Erinnerung zur ‘Rückübersetzung’ der Bilder in ihrer räumlich festgelegten Konstellation auf die mit ihnen verbundenen Gedanken unerläßlich.12 Dabei stellt sich mit der mnemotechnischen Codierung von Information in Bildern das Problem einer Übersetzung, da die Bilder wieder in Worte rückübertragen werden müssen, um ‘verstanden’ zu werden. Die Bilder müssen einer semiotischen Struktur gehorchen, um nach bekannten Regeln wieder in Sprache rückübersetzt werden zu können.1' Die Rückübersetzung ist somit an die richtige Assoziation von Bild und Gedanke gebunden — und diese bemht eben auf Erinnerung als grundlegendem Vermögen der Repräsentation. Nur in der Vermittlung semantischer Kontinuitäten durch die Zeit — für das Subjekt, für die Interaktion zwischen Subjekten und für Texte — ist ein kollektiv verständlicher Diskurs überhaupt denkbar. Der rhetorische Umweg der Metapher geht somit vom Bild hm zu dessen erinnertem Gehalt, und in dieser ‘Temporalisierung und Verräumlichung des Sinnes’ eröffnet sich auch eme mnemomsche Differenz. Dem Gedächtnis ist em Eindruck präsent, von dem die Erinnerung auf seme nicht präsente Ursache schließen kann. Daß sich Hofmannsthal dieses ‘Übertragungsproblems’ vollauf bewußt war, bezeugen seme Versuche, die Metapher durch ihre Anbmdung an eme mythische Ur-Situation von jedem Verdacht der Arbitrarität zu befreien, was am Gespräch über Gedichte aufgezeigt werden soll. Eme ‘mythische’ Etablierung der Bedeutungsfülle von Metapher, Symbol, Gleichnis erfolgt durch die Speicherung vergangener Bedeutungen m der Kunst, dem Gedächtniskollektiv eines bestimmten kulturellen Raumes oder auch archetypischer, in Ritualen verankerter religiöser Mythen. In emer Notiz aus den Jahren 1894-1895 deutet Hofmannsthal die Verwandtschaft des Schönen m verschiedenen Epochen an: Verwandtschaft der schönen Dinge in der Zeit, und tiefer Sinn davon: die Bilderbücher von Crane Verwandtschaft derer von verschiedenen Zeiten: dieses Element mit der Nicolette Aucassin uns sein parage (mit den platonischen Jünglingen, mit den lebendigen jungen Herren). So umschweben uns die parallelen Gebärden der Unzähligen, unzählige Gesichter beugen sich mit uns Wasser trinken, greifen mit uns in die Zweige. In einem unsichtbaren verzauberten Weltgarten wandeln wir. (R\ III 391 f)

11 Vgl. Pethes, S. 48. 12 Vgl- Pethes, S. 48, sowie Stefan Goldmann: Statt Totenklage Gedächtnis. Zur Erfindung der Mnemotechnik durch Simonides von Keon. In: PoeOca 21/1989, S. 43-66. S. 43. Der Tod als Urerfahrung des Bruches ist dabei ursprünglicher Anstoß für die Restitution von Kontinuität. Erinnerung ist durch das Moment der Visualität gebunden an Sinnlichkeit, die Übersetzung in Bilder bezeugt die „Körpergebundenheit des Gedächtnisses“. Vgl. Pethes, S. 49. 13 Vgl. Anselm Haverkamp: Auswendigkeit. Das Gedächtnis der Rhetorik. In: Haverkamp/Lachmann (Hg.): Gedächtniskunst. Raum - Bild - Schrift. Studien zur Mnemotechnik. Frankfurt a.M. 1991. S. 25-52, S. 27. Cicero betont die Konkretheit der gewählten Bilder und ihre Anordnung als Voraussetzung ihrer späteren Lesbarkeit: „Man muß zahlreiche, bekannte, ganz konkrete Örtlichkeiten in mäßigen Abständen nehmen und sinnvoll bewegte, scharfe, klar umnssene Bilder wählen, die einem schnell einfallen und ins Gedächtnis eindnngen können.“ Cicero: Dt Oraton II, 358. Zitiert bei Quintilian: Institutio Oratoriae II, 22.

107

Dichtung als Mnemotechnik

Die Gleichheit des Schönen durch die Zeiten hindurch offenbart sich dabei nicht zufällig im Bild der Gebärde: lebendige, bewegte Bilder und nicht die Statik einer äußeren Form machen die Identität des Schönen aus. Nicht mehr numerisches, detailgetreues Malen nach Modell und ein transzendierendes Allgemeines, sondern das dynamische Prinzip eines elan

vital im Sinne Bergsons machen die ‘Gleichheit’ des Schönen durch die Zeiten hindurch aus: Im Schwung der Bewegung ist das Wesentliche ganzheitlich und nicht mehr in seine Details dividierbar aufgehoben.14 Wenn das eigene Welterleben und die eigene Sprache gar nichts ‘Eigenes’ darstellen, sondern geprägt sind von einer langen Ahnenreihe von eigenen und fremden Erfahrungen, die in die Bedeutung der Worte eingegangen sind und jede neue Verwendung desselben Begriffes prägen und dessen Stellenwert für das Individuum bestimmen, dann wird jeder Text zum ‘Intertext’, der in dynamischen Beziehungen zu allen anderen Texten steht. Dieses hermeneutische - und damit mtertextuelle - Grundverhältnis zur Sprache prägt nahezu sämtliche Texte und Gestalten des Frühwerks und ‘Lesen’, ‘Buch’ und ‘Lektüre’ stellen die Basismetaphern für den Problemkomplex einer verlorenen ‘Unmittelbarkeit’ des eigenen Welterlebens dar. In Ad me ipsum spricht Hofmannsthal von emem „Zusammenhang von Bild Wort und Schrift“ (RA III, 620), worin sich das Bewußtsein der engen Verbindung, aber auch Differenz dieser Zeichenformen bezeugt. Das emotiv funktionierende Einzelwort, das Chandos’ Erleben begründet; das sprachliche Bild, m dem sich eine übenndividuelle Mnemonik bezeugt, die über analoge aber doch synthetisierende Entsprechung einer chaotischen Welt einen Sinn verleihen soll; oder aber die Schnft, als linear fungierendes Medium, das sich in ständiger Abweichung vom gerade fixierten ‘eigentlichen’ Sinn befindet - im Dilemma, zwischen diesen Medien eine Einheit herzustellen, sieht sich Hofmannsthal. Die Bildlichkeit des jungen Autors ist dabei fraglos von der symbolistischen Technik geprägt, durch die das Geschaffene „den göttlichen Hauch des Lebens“ (RA III 357) erhält. Für ihn wird der Künsder zum Verlebendiget Vorgefundener Formen, er ist ein „umgekehrter Midas: was er Erstarrtes berührt, erweckt er zum Leben“ (RA III 338). Die Asthedsierung des Kunstwerks soll dieses aus jeglichen numerischen Bezügen und diskursiven Funktionen herauslösen, und dies wiederum wird als Voraussetzung dafür angesehen,

daß

die

künsderische

Form

als

Ausdrucksform

psychischen

Lebens

wahrgenommen werden kann. Das Kunstwerk soll nicht mehr zeichenhaft auf reales Geschehen oder auf Ideen bezogen sein, sondern soll als Symbol eines unbestimmten seelischen Zustands wirken.1” Im Anschluß an die Notiz „De Quincey“, „Paradis arrificiels“ sagt Hofmannsthal m emer Aufzeichnung von 1892: „Ihre Technik: es muß Klänge, Worte, Farbenverbmdungen geben, die in uns Dinge erwecken, gegen die alles Irdische sinnlos und des Erhaltens unwert erscheint“ (RA III 348). Diese ästhetische Formalisierung kann in der Literatur entweder durch die Annäherung an die Musik erfolgen, indem die sinnlichen Qualitäten des Sprachmatenals, Rhythmus und Klang, in den Vordergrund treten, oder durch die Annäherung an die bildende Kunst, indem der Text durch ein inneres Korrespondenzgeflecht von Bildern strukturiert wird und so ein

14 „In der Bewegung des Schreibens (bei Baudelaire) ist Erinnerungsschreiben keine Fixierung, weü es wesentlich an den Augenblick dieses Schreibens gebunden ist.“ Vgl. Pethes, S. 26. 15 Vgl. Gregor Streim, S. 34. Die Asthedsierung eines Textes, seine ‘Künstlichkeit’, beruht somit nicht auf der Intention, eine fiktive Gegenwelt zur Realität zu schaffen, sondern ist eine Strategie der Entmimedsierung mit dem Ziel der symbolistischen ‘Beseelung’ der Form.

3. Der „Zusammenhang von Bild Wort und Schrift“

108

symbolhaftes Verstehen evoziert.16 Dabei bedeutet die Absage an eme emfache Mimesis gerade nicht die gänzliche Aufkündigung einer Ahnlichkeitsrelation; vielmehr beruht die Verwandtschaft des Bildes mit dem Bezeichnten auf einem inneren Zusammenhang, einer ‘Korrespondenz’ im Sinne Baudelaires, jener ‘Form’, die den Fluß der Erscheinungen momentan anzuhalten vermag und hinter dem vergänglichen Bild die ewigen und unwandelbaren Ideen aufschemen lassen kann.1' Noch in dem 1920 entstandenen Vormort

egu Hand^etchnungen alter Meister aus der Sammlung Benno Geiger wird das Symbol im Zusammenhang von Zeichnung (gewissermaßen der abstrakten Form eines Bildes) und Schüft situiert, „beide reduzieren die Komplexität der sinnlichen Überfülle auf die Lmeantät des Zeichen- bzw. des Zeichnungsstranges.“18 Hiermit schemt eine Wende von der Üppigkeit der Bilder der Präraphaeliten hm zur Nüchternheit der Zeichnungen Dürers gegeben, von der Synthesis zur Selektion: Die Zeichnung gibt wahrhaftige ‘symbola’, Zusammenwerfungen des Unverein¬ baren. Sie kann das Nacheinander in ein Zugleich verwandeln, und noch ähnliche Wunder vollbringen. (RA II 331) In der Zeichnung erfüllt sich das Ideal der hieroglyphischen Einheit von Bild und Bedeutung, insbesondere weil deren Abstraktheit die unaufhebbare Differenz zwischen ihr und dem von ihr Repräsentierten bewußt macht, ohne dadurch an Kraft der Re¬ präsentation einzubüßen. In der Zeichnung kann die Identität, das Ideal der Einheit von Bild und Bedeutung erreicht werden, wenn „bei großen Zeichnern [...die] Kontur der Naturformen den Übergang in das die Seele bizarr ergreifende Zauberzeichen, in die wahre Hieroglyphe findet“ (Ra II 332). Im Symbol ist die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen erreicht und das eben gerade durch die Abwehr der informationeilen Überlasten und der Sinnlichkeit einer nur mime tisch erfaßten Wahrnehmungswirklichkeit.l7'

Die ritualisierten Tanzbewegungen Duncans, die sie aus ihren Studien an antiken Yasenbildern gewann, erweckten jedoch teilweise den Eindruck einer Addition von statischen Einzelmomenten. Hans Brandenburg, der Isadora Duncans Tanzkunst hoch schätzte, kritisiert dennoch: „Mit philologischer und archäologischer Rekonstruktion reihte sie Posen aneinander und gab statt der Bewegung kopierte Bewegungsmomente, die zudem nicht dem Tanz, sondern der bildenden Kunst angehörten.

96 Wie in den Tathosformeln’

Warburgs wird somit nach einem musealen Studium antiker Yasenbilder und Statuen das gesamte kulturelle Archiv des Körpergedächtnisses aufzurufen versucht, mit dem fragwürdigen Erfolg, den die Empfindung des Archäologischen, mithin gerade nicht Lebendigen, mit der Gegenwart eins Gewordenen als Restitution dessen, was für ‘griechisch’, ‘exotisch’ oder ‘pagan’ gehalten wird, hervorrufen muß: „Ein ‘Gebärdensprachen¬ atlas’ als systematisch organisiertes Repertoire von Gesten und Bewegungsmustern vermag so die Anbindung der Gegenwart an die Yergangenheit zu offenbaren - eme Geschichte des ‘mimischen Menschen’ m Körperbüdern“ - oder eben gerade das Scheitern eines solchen Yermittlungsversuches von Antike und Moderne zu bezeugen, wenn das Körpergedächtnis nur als staubiges Archiv abstrakter Formeln erscheint. Die jahrelange

1.4 Brandstetter: Tanz-Lektüren, S. 66: „Mit ihren Thesen und im Verlauf ihrer Argumentation kommt sie dabei der Idee des ‘elan vital’ Henn Bergsons nahe. Seine Theorie der ‘Lebensschwungkraft’ der Organismen bezieht sich wiederum auf den ‘Evolutionismus Spencers’ und den Monismus Emst Haeckels, so wie auch das später publizierte Buch Dance ofLife von Havelock Ellis diese Gedanken aufgriff und - besonders in seiner 1928 erschienenen Übersetzung — popularisierte.“ 1.5 Duncan 1903, S. 43f. 1%Hans Brandenburg: Der moderne Tanz. 3. erw. Auflage 1921, S. 30. Auch Waslaw Nijinskv verwendete zur Vorbereitung der Choreographie von L'Apris-midid'un Faune (1912) Bas-Reliefs von Luca della Robbia. Vgl. Brandstetter, S. 79, 82.

Furcht (1907)

221

Auseinandersetzung Hofmannsthals mit den großen Tänzerinnen seiner Zeit, wie Ruth St. Denis, Grete Wiesenthal, den Five Barnson Sisters oder Mona Paiva, fand ihren Niederschlag im Dialog der Tänzerinnen, der dann 1907 als Dialog Furcht veröffentlicht werden sollte. Es ist das Interesse an der Gebärde als Bezeichnendes, das in unmittelbarer Beziehung zum Bezeichneten steht, was Hofmannsthal hoffen läßt, „das ganze psycho¬ physiologische Ereignis, das dem W;erden eines Wortes vorausgeht“ (RA I 471) in Körpernmalen ausdrücken zu können. Ruth St. Denis erinnert sich in ihren Memoiren A.n Unfinished Life an ihre zahlreichen Gespräche mit Hofmannsthal: He had a rare spirit and one of those luminous minds that thinks and feels constandy in terms of beauty, with little of the egocentric mannerisms of lesser poets. He always sought to bring into articulation those semi-ritualistic, semi¬ emotional qualities which he sensed were not fully developed in my performance.“197

Individualität und Ritual sind somit die beiden bestimmenden Faktoren des neuen Tanzes. Dabei ist die histonsche Rolle der Frau bei der Reform des Tanzes um 1900 besonders prägnant. Es smd Loie Füller, Isadora Duncan, Ruth St. Denis unter zahlreichen anderen, die die Wende vom von Männern komponierten, klassischen Ballett hin zum Freien Tanz als Ausdruckstanz von Individuen herbeifuhren.'98 Mit Ruth St. Denis verband Hofmanns¬ thal bald eine intensive Freundschaft, und unter dem Eindruck ihres Tanzes, vor allem des Tanzes Radha (1906), verfaßte er die Rezension Die unvergleichliche Tänzerin, die seine Grundgedanken zum Neuen Tanz beinhaltet: ihr Tanz ist die „berauschendste Verkettung von Gebärden, deren nicht eine an die Pose auch nur streift“, ihr Tanz ist ohne Konventionalität, es sei denn die „Konvention höchsten, strengsten hieratischen, uralten Stiles“, und er ist antimimetisch, hat „keine Ähnlichkeit mit der Nachahmung einer Statue durch ein menschliches Wesen“, ja er ist letztlich sogar „unschilderbar“ (RA I 498ff).199 Harry Graf Kessler gibt in einem Brief vom 29.10.1906 eine Beschreibung ihres Tanzes, welche bereits die Dualität von Tierhaftigkeit und Göttlichkeit vorwegnimmt, die auch in Hofmannsthals Analyse anklingt: Ruth St. Denis sei in ihrem Tanz „Tierschönheit und Mystik ohne jede Zwischenskala geistiger und sentimentaler Töne, [...] geschlechtlose Gottheit und bloß geschlechtliches Weib, der Kontrast in der höchsten Potenz.“200 Das Thema des Animalischen und Göttlichen im Tanz, sowie dessen Mittelstellung zwischen höchster Individuation und Selbstauslöschung hat Hofmannsthal auch m seiner Elektra beschäftigt. Tanz als Konsummation und Kulmination von Erinnerung ist mit dem die Tänzerin selbst verzehrenden ekstatischen Taumel Elektras in Hofmannsthals gleichnamigem Drama von 1903 gegeben: „Elektras Erinnern, das wie eine beschwörende, ntuelle, einem Yoodoo-Zauber ähnelnde Gedächtnis-Aktion das ganze Drama beherrscht, gleicht vielmehr selbst schon emem Feuer-Tanz; und zwar einem Feuertanz msofern, als Elektra sich selbst, ihr Lebens-Potential, die gesamte Sinn-Struktur ihrer Existenz im Prozeß des unaufhörlichen Memonerens - im Zwischenbereich des Todes, zwischen

197 Ruth St. Denis: An Unfinished Life. An Autobiography. New York 1939. Reprint: New York o.J., S. 94. 198 Vgl. Brandstetter: Der Traum vom anderen Tanz. Hofmannsthals Ästhetik des Schöpferischen im Dialog Furcht. In: Hugo von Hofmannsthal: Dichtung als Vermittlung der Künste. Freiburger Universitätsblätter 112/1991. S. 37-60. S. 42. 199 Siehe dazu meine Interpretation in Kapitel 4.2. 200 Zit. nach Hugo von Hofmannsthal, Harry Graf Kessler. Briefwechsel 1898-1929. Hg. v. Hilde Burger. Frankfurt a.M. 1968. S. 129ff.

4.4 Unsagbarkeit „an der Grenze des Leibes“

222

Vater- und Muttermord - verzehrt, bis zu jenem Punkt, an dem sie sich selbst auslöscht.“201 Die Bewegungen Elektras werden als die eines Tieres beschrieben, sie „springt zurück wie ein Tier“ (D II 187) und gräbt „laudos wir ein Tier“ (D II 219) - und dennoch ist gerade sie es, die die Grenze zwischen Humanität und Animalität zu definieren versucht, um schließlich in einem mänadisch-hysterischen Tanz die dionysisch-orgiastische Vereinigung des Menschlichen und Tierischen zu bezeugen: Elektra: Vergessen? Was! bin ich ein Tier? vergessen? Das Vieh schläft ein, von halbgefreßner Beute die Lefze noch behängt, das Vieh vergißt sich und fängt zu käuen an, indes der Tod schon würgend auf ihm sitzt, das Vieh vergißt, was aus dem Leib ihm kroch, und stillt den Hunger am eignen Kind - ich bin kein Vieh, ich kann nicht vergessen! (D II 195)

Die Fähigkeit zu Erinnern ist elementarer Bestandteil der Humanität, zugleich läßt die Ekzessivität, mit der Elektra ihr frönt, sie in den Augen ihrer Mitmenschen zum Tier werden. Nur konsequent erscheint daher die Selbstaufhebung im ekstatischen Tanz, der zugleich Feier der Erinnerung ist, msofern sich darin die sühnende Wiederholung der Mordtat spiegelt und ihr Vergessen, da die Erfüllung der Rache sie schließlich der Notwendigkeit, die Mordtat bis ins Unendliche zu erinnern, enthebt. Bereits in ihrem Auftrittsmonolog imaginiert und inszeniert sie das Ziel ihres Strebens, den Todestanz über Leichen: Dann tanzen wir, dein Blut, rings um dein Grab: und über Leichen hin werd ich das Knie hochheben Schritt für Schritt, und die mich werden so tanzen sehen, ja die meinen Schatten von weitem nur so werden tanzen sehn, die werden sagen: einem großen König wird hier ein großes Prunkfest angestellt von seinem Fleisch und Blut, und glücklich ist, wer Kinder hat, die um sein hohes Grab so königliche Siegestänze tanzen! (D II 191)

Der Dualismus zwischen Geist und Körper beherrscht diese Figur. Die Unverbundenheit und Unversöhnlichkeit beider Bereiche des Menschlichen m den Extremen zwischen der Raserei einer Hystenkerin und der überlegenen Intellektualität der Rächerin bezeugt die Modernität dieser Darstellung: sie ist Zeugnis der Doppelnatur des Menschen, die nur im freien, ungehemmten Tanz ihren Ausdruck finden kann.202

201 Brandstetter: Tanz-Lektüren, S. 279. Siehe auch Rolf-Peter Janz: Zur Faszination des Tanzes in der Literatur um 1900. Hofmannsthals Elektra und sein Bild der Ruth St. Denis. In: Fremde Körper. Zur Konstruktion des Anderen in europäischen Diskursen. Hrsg. v. Kerstin Genug. Berlin 2001. S. 258-271. Vgl. Brandstetter: Tanz-Lektüren, S. 200: „Die Unverbundenheit zwischen diesen beiden CharakterDimensionen, gewissermaßen das zerspaltene Nebeneinander in der Aktion von Kopf und Körper, in der Reaktion des Gedächtnisses und im Gedächtnissturz, im Wechsel von Intellektualität und Mänadenraserei, bringt das wahrhaft Moderne und das Tragische dieser Gestalt auf die Theaterbühne.“

Furcht (1907)

223

Im Zuge der Reformbewegungen um 1900 wird der Körper durch Psychoanalyse, Philosophie und Ästhetik — aber auch durch die Evolutionsbiologie - einer Vielzahl von Re-Lektüren unterzogen, die ihn als Symptom unbewußter Regungen der Psyche, als Aufschreibfläche gesellschaftlicher Rituale und Tendenzen oder auch als sich nur graduell vom Tier unterscheidendes Entwicklungsstadium betrachten. Das Bestreben nach einer Renaturalisierung des Körpers läuft somit in das Paradoxon einer immer schon ‘be¬ schrifteten’ und ‘verschnfteten’ Körperlichkeit, deren Natürlichkeit zudem eme imaginierte, in die Frühzeit der griechischen Kunst versetzte ist. Man lmidert Kleidung und Haltung von Statuen, treibt Sport und glaubt so, sich einem von griechischen Korai und Heroen verkörperten Ideal annähern zu können. Der Jahrhundertwende-Diskurs eines retour ä la nature ist somit zugleich ein dieses Bestreben selbst negierendes Unterfangen, insofern der Körper zunehmend intellektuellen Bestimmungen unterworfen wird. „Eme Poetologie des Körpers, eme Yerschnftung der Poiesis des Körpers, die noch dazu auf das ästhetische Modell ‘Tanz’ Bezug nimmt, integriert — auch wenn davon energisch Abstand genommen wird - den zivilisatonschen Diskurs und durchsetzt ihn zugleich mit antidiskursiven Utopismen.“203 Wenn New Yorker Millionärinnen exklusive Modelle Manano Fortunys tragen, die dem Kleid des Wagenlenkers von Delphi nachempfunden wurden, so ließe sich zweifeln, ob es sich dabei um Natürlichkeit oder aber eme ausgeprägte Form von Dekadenz handelt. Ähnliches gilt für die Sprachkntik, so ließe sich behaupten, daß die vollkommene Beherrschung des Diskurses — die Eloquenz emes Lord Chandos - gerade die Zweifel am eigenen Kommumkaüonsmedium hervorruft, „denn erst em hohes Sprachvermögen sensibilisiert den Sprechenden und Schreibenden für die schmerzhaft erfahrenen Grenzen semes Mediums. Das Wissen gebiert em Nicht-Wissen, das erlebt und erlitten werden muß, um zu emem Wissen anderer Ordnung und zu emer anderen Sprache zu kommen"204 - emer Sprache, „in welcher die stummen Dmge zu mir sprechen“ (EGB 472). In Anlehnung an Kleists Marionettentheater soll somit im Stadium der höchsten Bewußtheit die höchste Naivität wieder erreicht sem: Wenn Grazie der Bewegung „in demjenigen menschlichen Körperbau am remsten erschemt, der entweder gar keins, oder em unendliches Bewußtsein hat, d.h. m dem Gliedermann, oder m dem Gott"203, so fallen unbewußte, naive Bewegung und hochgradig bewußte - ja im Fall der Marionette sogar fremdgesteuerte - Bewegung m ems, Natur und Kultur werden ununterscheidbar. Der Frage nach der Bedeutung des menschlichen Körpers m emer Welt der Re-

Lektüren und Beschriftungen ist auch Hofmannsthals Dialog Furcht gewidmet.* 2 3 * *"6 * * * Für Hofmannsthal bedeutet die Frage nach Naivität beziehungsweise Bewußtheit die Entscheidung zwischen emem stark allegonsch oder symbolisch geprägten Tanz, wie ihn die Tänzerin Hymnis verkörpert, und jenen im Dialog von Laidion evozierten archaischen

:'13 Susanne Marschall, S. 195. Zum Verhältnis von Dekadenz und Natürlichkeit vgl. auch Wolfdietrich Rasch: Die literarische Decadence um 1900. München 1986. S. 47f. 214 Susanne Marschall, S. 198. 205 Heinrich von Kleist: Über das Manonettentheater. In: Ders.: Werke und Briefe in vier Bänden. Band 3. Erzählungen, Gedichte, Anekdoten, Schriften. Berlin/Weimar. 2. Aufl. 1984.S. 480. 206 Zu den Texten Hofmannsthals, die seine theoretischen Ansätze zum Tanz bezeugen, lassen sich neben dem (zumindest ansatzweise) an Lukian angelehnten Dialog Furcht auch der Aufsatz Die unvergleichliche Tänzerin über Ruth St. Denis und Nijinskis Nachmittag eines Fauns' von 1912 rechnen. Zu Lukians Hetärengesprächen als möglichen Vorbildern für Hofmannsthals Dialog vgl. Brandstetter: „Die Atmosphäre der Szene ist den Gesprächen des Lukian entnommen, mit ihrem spätgriechischen Milieu von Abenteurern, Hetären und Gauklern“ (EGB 676). Brandstetter: Der Traum vom anderen Tanz, S. 45.

4.4 Unsagbarkeit „an der Grenze des Leibes“

224

Fruchtbarkeitsritualen, die zwar kulturell codiert sind, in ihrer Codierung die eigenen Grenzen jedoch zugunsten freier, entfesselter “Natürlichkeit’ ohne die Hemmungen der Zivilisation überschreiten. Wie Nietzsche spncht auch Hofmannsthal vom „Geist des Körpers“ (RA III 271) und ist wie Kleist zwischen einer ‘ersten’ und einer ‘zweiten’ Naivität gespalten, da für ihn Tanz zugleich Ritual und Zeremonie, aber auch Naturereignis der Triebhaftigkeit des Menschen bedeutet. Im höchsten Intellektualismus soll deshalb auch das Naive noch seinen Platz finden: Im Höchstvergeistigten noch ist es die Naivetät, das irrational Körperhafte, wodurch das Geistige Bestand hat.“ (RA III 265)

Im Dialog Furcht wird nun diese höchste Intellektualität bei gleichzeitiger höchster Naivität durch jenes „Vergessen als Erinnerung“ inszeniert: einerseits als Vergessen der gesell¬ schaftlichen Reglementierung des Körpers, die das Rollenbild der weiblichen Bewegungen prägen und Grammatik, Gesetz und Zwangsformation westlicher Kultur darstellen und andererseits der Erinnerung jener Naturntuale, in denen Natur und Religion eine Einheit bilden.20 Zugleich bezeugt der Dialog in der abschließenden Verzweiflung Laidions jedoch die Unmöglichkeit einer Rückkehr in den Zustand der Naivität. Die Antithesen des Gesprächs der Hetären im Dialog Furcht sind durch die Mythen von Narziß und Medusa auf der einen, Argus und den Sündenfall-Mythos auf der anderen Seite strukturiert. Während Hymms den faszinierten Blick der Männer auf ihren Körper genießt, ist dieser für Laidion Zeichen ihrer Verdinglichung, Entfremdung und damit eme Ursache der sie beherrschenden ‘Furcht’, die hier als existentielle Angst begriffen werden muß. Sie unterliegt somit zugleich dem sie erstarren lassenden Blick der Medusa und dem eme unendliche Selbstreflexion bewirkenden Blick der Augen des Argus. In Hvmnis’ Beschreibung der Raffinesse der Tänzerin Demonassa bezeugt sich der Charakter ihres eigenen Tanzes: Wir könnten alles machen, was sie machen, wenn du nur wolltest. Es ist nicht ein Ding dabei, das man noch nicht gesehen hätte. Aber alle ihre Pantomimen sind von Dichtern erfunden, jede von einem andern, und dazu lassen sie Verse lesen und so streuen sie den Leuten Sand in die Augen, als ob man nicht das alles schon gesehen hätte und selber gemacht. (EGB 573)

Hier ist der Tanz eben gerade nicht freie Bewegung emes Individuums, sondern Mimesis von Texten, die Dichter erfunden haben, sowie die Imitation der Techniken und Ideen früherer Tänzerinnen. Im Gegensatz zum orgiastischen Tanz ist der griechische klassische Tanz Pantomime, mimetische Darstellung mythologischer Szenen, wobei diese Pantomi¬ men selbst nicht befreit sind von der Sprache, ja Verbildlichungen von Literatur darstellen. Dabei stehen die Tänzerinnen stets zwischen der Pose und der Bewegung, zwischen dem erstarrten Bild und der Verwandlung. Das Gegenemander von Erstarrung und Verwand¬ lung bezeugen die „lebenden Bilder“, tableaux vivants der Tänzerin Bacchis: (...) wenn eine Nymphe in einen jungen Baum verwandelt wird oder die Ampelis in eine Rebe: das gelingt ihr wirklich. Ihr Handgelenk möchte ich schon haben. Und Tiere gelingen ihr auch gut: das junge Reh, das sich vor dem Wind furchtet, und mit dem Wind spielt, oder der Vogel im Netz. (EGB 574)

:"7 Dem Versuch, einer Kultur der Zitate zu entkommen, sie zu vergessen, entspricht die Sehnsucht nach einer Rückkehr in die Unmittelbarkeit des körperlichen Ausdrucks. Vgl. Neumann, S. 66.

Furcht (1907)

225

Es ist kein Zufall, das sämtliche dieser Bilder die Rolle der Frau als Verfolgter - die sich aus Angst vor einer Vergewaltigung durch Apoll in einen Baum verwandelnde Daphne ist Urbild weiblicher Verwundbarkeit —, als Gefangener, Gefesselter, von Furcht Geschlagener darstellen. Offenbar ist es dieses Bild von Weiblichkeit, das den zuschauenden Männern gefällt, da es ihr männliches Selbstverständnis bestätigt. Ihren Höhepunkt findet diese Tanzkunst in der Darstellung der Erstarrung der Frau durch das Antlitz der Medusa: „Da macht sie ein Zurückwerfen des Kopfes und ein zuckendes Starrwerden, zuerst bis zur Hüfte, dann bis zu den Füßen, da nnnts emem eiskalt über den Rücken“ (EGB 574). Eben dieses Ausgesetztsein, das Unterworfensem unter den Blick des Anderen, des Mannes ist es, worunter Laidion leidet, ja das Ekel in ihr erzeugt: „alles dnngt auf mich zu, die Gesichter der Männer, die Lichter, der Lärm, wie gienge Vogelschnäbel hackt alles mir ins Gesicht und ich möchte lieber sterben als mit ihnen liegen und trinken und ihr Geschrei anhören“ (EGB 574). Die Fremdbestimmtheit der Frau wird von ihr als Bedrohung der eigenen Identität erfahren, ganz im Gegensatz dazu gewinnt Hymms ihre Identität aus den auf sie geachteten Blicken: „Mich freut’s, wenn ich tanze, und sie reißen sich die Kränze vom Kopf und werfen sie mir hm. Da hab ich sie, da fühl ich mich“ (EGB 574). Hymnis verkörpert im Dialog das Prinzip der "klassischen’, klar geregelten und auf erotischen Reiz hin funktionalisierten Tanzkunst, Laidion setzt sich dagegen zur Wehr und erträumt sich die Befreiung aus dieser Normierung durch den ‘archaischen’ Tanz, der zugleich sexuelle Befreiung von den Grenzen der ‘Scham’ bedeutet, die die Frau zum Opfer der Tnebregie durch den Mann werden läßt. Die klassische Tanzästhetik lenkt die Blicke der Männer auf den Körper der Frau, läßt deren Selbstgefühl (das von ihren Blicken abhängt) aber in dem Moment zerbrechen, in dem sie sich abwenden. Diesem gleichsam in die kulturelle Ordnung der Schaft eingefügten zivilisierten Tanz steht der wilde barbansche Tanz der Insulanerinnen gegenüber, von dem Laidion nur durch Hörensagen erfährt: „Ein Tanz ohne ‘Inhalt’, amimetisch, ganz aus sich und in sich selbst begründet, pure rhythmische Bewegung, ohne Bewegungscode oder Ausdrucksregeln. Während der ‘Griechische Tanz’ als Kultur-Tanz, sorgfältig inszeniert ist, mit Kostüm, Musik, Versen, kon-somerend in Wort und Klang, als Kunstwerk präsentiert, ereignet sich der barbansche Tanz als Naturtanz, als Ur-Tanz spontan, notwendig m sich selbst, ‘unsagbar’.“208 Laidions Sehnsucht nach einer anderen Welt - auf einer einsamen Insel - bezeugt sich in der Nacherzählung des Berichtes eines Matrosen von ‘Barbaren-Stämmen’, die in emem pantheistisch belebten Hain „im Freien unter den heiligen Bäumen“ den Tanz der Geschlechter tanzen: Einmal tanzen sie so, einmal im Jahr. Die jungen Männer kauern auf der Erde und die Mädchen der Insel stehen vor ihnen, alle zusammen, und ihre Leiber sind wie ein Leib, so regungslos stehen sie. Dann tanzen sie und am Schluß geben sie sich den Jünglingen hin, ohne Wahl - welcher nach einer greift, dessen ist sie. Um der Götter willen tun sie es und die Götter segnen es. (EGB 575)

Nicht die tändelnde Erotik der Hetären, mithin bewußte Manipulation zum Zwecke der Unterhaltung von Männern, sondern Sexualität als natürliche Bestimmung des Menschen wird hier als Iniüadonsntual zelebnert. Nur vor dem Hintergrund der heuchlerischen Doppelmoral emer viktorianisch geprägten Zivilisation, die zwar Prostitution erlaubt, aber Nacktheit verbietet, kann Hymms’ Ausruf angesichts dieser Schilderung begaffen werden:

208 Brandstetter, S. 48.

226

4.4 Unsagbarkeit „an der Grenze des Leibes“

„Eine solche Schamlosigkeit!“ (EGB 575) Die Bilder des Unzivilisierten, Wilden, Barbanschen machen einen Dialog unmöglich und führen schließlich zu emer klaren Distanzierung von den Hemmnissen der Zivilisation seitens Laidions, wohingegen Hymnis diese weiterhin akzeptiert. Das archaisch-entgrenzte Ritual wird dem kultivierten Tanz kontrastiert und erweist sich in seiner rhythmischen Wiederholung, die dem Kreislauf der Natur entspncht, eben gerade als Inszenierung der natürlichen Abläufe des Lebens, ein orgiastisches Gemeinschaftserlebnis, das dennoch nicht zur Auslöschung des Einzelnen führt. Während der mimetische Tanz die Selbstbeobachtung einschließt und deshalb (wie in Kleists Marionettentheater) den Stand der TJnschuld’ verlassen hat und ‘Scham’ hervorruft, wenn er die gesellschaftlichen Regeln überschreitet, ist eben dieser entfremdete Blick auf die eigene Körperlichkeit beim Tanz der Insulaner ausgeschlossen, die sich noch im paradiesischen Zustand einer noch nicht als solche erkannten ‘primitiven’ Nacktheit befinden. Tanz ist hier als pure rhythmische Bewegung identisch mit Sexualität als Bestandteil des zyklischen Rhythmus alles Lebens, Tanz ist gelebte Sexualität. Kleist wie Hofmannsthal suchen nach einem höchsten Bewußtsein, „um in den Stand der Unschuld zurückzufallen.“209 Auch Hofmannsthal stellt die Frage: „Welcher geistige Zustand ist Voraussetzung dieser zweiten Naivetät“?210 Scham kann nur entstehen, wenn der Mensch den Zustand der Unschuld verlassen hat, aber noch nicht die Ebene der höchsten Reflexion erreicht hat: „Reflexion ist nur gefährlich, wenn sie nicht weit genug geht.“ Wie kann das hyp'ertrophe Bewußtsein aber wieder in den Zustand der Naivität zurückgedreht werden? Vergessen oder Regression scheinen hier ausgeschlossen, „so daß wir uns ganz ins Leben eingetauchte Menschen kaum vorstellen können“, denn „wir haben alles schon erlebt“.21' Der Urtanz der Insulaner kann allerdings vom modernen, bewußten Menschen nur tentadv, annäherungsweise erprobt werden und ihn keinesfalls zu jener Einheit von Körper und Geist zurückführen, die für diese Menschen vorauszusetzen ist. Ruth St. Denis hat für Hofmannsthal in einer Aufzeichnung allerdings den Zustand der Furcht überwunden: „Das Durchwaltete an ihr: die überwundene Furcht“ und: „In ihr, wie in Gott, die glückliche Einheit wie im Tier. (Kleist: Manonetten).“212 Diese Einheit ist bei Hofmannsthal klar eine Harmonie zwischen der Geistnatur des Menschen und seinem Körper, seiner Sexualität, zwischen Ammalität und Humanität. Die Marionette ist nicht wie bei Kleist Inbegnff der Grazie, sondern steht für das Automatenhafte, Selbstentfremdete des von ‘Furcht’ getnebenen Menschen: Aber was ist denn nicht fürchterlich? Und was wäre es denn, das uns tanzen macht, wenn nicht die Furcht? Die hält oben die Fäden, die mitten in unserem Leib befestigt sind, und reißt uns hierhin und dorthin und macht unsere Glieder fliegen. Und wenn ich als Mänade die Füße werfe und meine Arme und mein Haar gegen die Sterne fliegen, meinst du, es ist Lust? Siehst du denn nicht, daß es Furcht ist, die mich springen macht? (EGB 577)

Wie das ‘fremde Mädchen’ aus Hofmannsthals Pantomime fühlt Laidion sich von „Fäden“ gehalten, die ihre Bewegungen determinieren. „‘Furcht’ entsteht durch das Erkennen des

3"° Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Helmut Sembdner. 4. rev. Ausgabe München 1965. Bd. 2, S. 345. 310 Es handelt sich hierbei um von Hofmannsthal unveröffentlichte Aufzeichnungen zum Dialog Furcht. Ich zitiere nach Brandstetter: Der Traum vom anderen Tanz, S. 53. 3.1 Unveröffentlichte Aufzeichnung, zit. nach Brandstetter, S. 53. 3.2 Zit. nach Brandstetter, S. 54.

Furcht (1907)

227

^ ertriebenwerdens aus dem eigenen Körper, des Zwangs zur fortgesetzten Mimesis, als fremdbestimmte Selbstverwandlung, als geborgte, ‘falsche’ Identität.“213 In einer weiteren unveröffentlichten Aufzeichnung zum Dialog wird die Liebe als jenes etwas bestimmt, das „uns die Glieder schleudern macht, so daß einer kommt, begierig mit uns die gewissen Pantomime zu machen“ - die Frau ist somit Marionette der Liebe und des Mannes.214 Im Unterschied zu Marcel Schwöbs Text, der diesem Zitat zugrunde liegt, sind es bei Hofmannsthal jedoch die Frauen selbst, die über ihre Rolle reflektieren. Im Gegensatz zum archaischen Fruchtbarkeitsntual ist der mimetische Tanz nur die Bewegung fort von sich selbst m „dem ewig rastlosen Begehren“. Die Metamorphosen sind Ausdruck des Wunsches, jemand anders, etwas anderes zu sein. So fragt Laidion ihre Freundin Hymnis: So hast du Wünsche, und Wünsche sind Furcht. Dein ganzes Tanzen ist nichts als Wünschen und Trachten. Du springst hin und wieder: flüchtest du vor dir selber? Du birgst dich: birgst du dich vor dem ewigen rasdosen Begehren in dir? Du äffst die Gebärden der Tiere und Bäume: wirst du eins mit ihnen. Du steigst aus deinem Gewand. Steigst du aus deiner Furcht? (EGB 575)

Der Zwang zur Mimesis im Angesicht männlichen Begehrens führt somit zu einer Supplement-Struktur des eigenen Lebens, wo eme Metamorphose die nächste ablösen muß, ohne daß es zu einem Anhalten kommen kann. Dabei stehen Erotik, beziehungsweise Sexualität, im Mittelpunkt. Während der ‘kuldsierte’ Tanz den erotischen Reiz zelebnert, der eine echte Hingabe des ganzen Menschen gerade ausschließt, ist einziges Ziel des ntualistischen Tanzes ein Hinlenken auf die sexuelle Vereinigung von Mann und Frau. *\ls Imtiations- und Fruchtbarkeitsntus geht es ihm nicht um die erotische Ausstrahlung eines Individuums, sondern Körperlichkeit an sich, eine Begegnung der Geschlechter, die von Hemmungen — eben von ‘Furcht’ - gänzlich frei ist, da alle Menschen, Männer wie Frauen, hier im Naturereignis eins werden. Im Gegensatz dazu steht die von Laidion empfundene Entfremdung und Unterworfenheit gegenüber Männern, aber auch der dinglichen Welt. In emer surrealen Vision spncht sie von der Verdinglichung ihres eigenen Körpers und dessen ‘Vergewaltigung’ durch Mächte, die außer ihm liegen: Ich stoße mit dem Fuß an einen dürren Zweig, Hymnis, und sein elendes Dasin geht in mich hinein, wie die Schönheit der Veilchen und der Rosen geht es durch die Augen in mich hinein und macht mich zu seiner Sklavin, und nachts muß ich mit offenen Augen daliegen und an dieses verfluchte Holz denken und ihm zu Willen sein und seinen krummen Leib mit verkrümmten starren Gliedern nachmachen, daß ein Nachtvogel, wenn er mir zusieht, mich für eine thessalische Hexe oder für eine Besessene hielte [...]. (EGB 577)

Die Auflösung des Ich zu einer sich beständig verwandelnden Masse, in der die Grenzen zwischen Körper und Geist ‘osmotisch’ verschwimmen, wie sie im Chandos-Brief als Bedrohung gefaßt war, erfährt hier eme kulturkntische Wendung. Laidions Zwang, sich

213 Brandstetter, S. 52. Noch intensiver ist das Bild des Nessushemdes aus dem Erstdruck: „Du äffst die Gebärden der Tiere und Bäume: wirst du eins mit ihnen? Du steigst aus deinem Gewand. Steigst du aus deiner Furcht? Die ist ein Hemd, in Gift getaucht, und frißt an dir, ob du dich darunter salbst und badest zehnmal im Tag. Zitat nach dem Erstdruck des Dialogs Furchtm Oktober 1907 in: Die Neue Rundschau. 18. Jg. 2. Bd. Heft 10, S.1223-1230. S. 1226. 214 Diese Vorstellung verdankt sich Marcel Schwöbs Text De l'amour aus Spiälege. Paris 1896. S. 156-171, einem fiktiven Dialog zwischen fünf Männern, der die Gebärden der Liebe von Frauen als Gebärden von Marionetten charakterisiert. Vgl. Brandstetter, S. 54.

4.4 Unsagbarkeit „an der Grenze des Leibes“

228

ständig den Blicken anderer zu unterwerfen, den Regeln einer außer ihr liegenden Gesetzlichkeit zu folgen, wird nun so stark, daß sie sich selbst von einem Stück Holz beherrscht fühlt: „So sehr ist der Blick, die Wahrnehmung mit dem Nachahmungsprinzip, der Forderung nach Verwandlung des Körpers aus sich heraus in ein anderes verknüpft, daß er die vollkommene Selbstauslieferung an das Wahrgenommene zu erzwingen vermag.“215 Die beständige Furcht davor, die an sie gestellten Erwartungen nicht zu erfüllen, der beständige Zwang, jemand anders zu sein, als sie selbst, führt schließlich zum „Stigma der Hysterie, das die verzerrte Pose und die kataleptische Erstarrung mit sich bringt.“216 Die beständige Selbstbeobachtung verdinglicht den eigenen Körper so weit, daß er schließlich die Grenze zum Grotesken, Verzerrten überschreitet, im Anblick des Holzes selbst zur hölzernen Marionette wird.217 Laidions Abriß ihrer Biographie ist die Chronik weiblicher Erziehung als fortschreitender Fremdbestimmtheit: Da bin ich so aufgewachsen bei meiner Mutter und war ein unnützes Kind und wünschte was und hatte es nicht, das ging so von früh bis abends. Dann war ich vierzehnjährig und sehnte mich - und dann brachten sie mich zu dem reichen Kallias, da lag ich, und ging herum und staunte und grauste mich und biß mich vor Ungeduld in die Knöchel, und dann gab ich mich dem, in den ich verliebt war, und der war innerlich voll Haß und Galle, weil ich vorher des andern gewesen war, und der war innerlich voll Haß und Galle, weil ich vorher des andern gewesen war,und so ging das vorüber und dann kam ein andrer und wieder ein andrer ... Ich glaube, da war nicht ein Augenblick, in dem ich mich nicht aus mir selbst herausgesehnt hätte. (EGB 576)

Weibliche Sozialisation erscheint hier als Folge von unerfüllbaren, auf die Zukunft gerichteten Hoffnungen und Sehnsüchten, die alle von der übermächtigen Männerwelt zerstört werden und so immer aufs neue eine Kette von Hoffnungen auslösen, die aber zunehmend auf den Wunsch sich reduziert, nur sich selbst und dem eigenen Körper zu entkommen - Hoffnung ist somit nichts als die Kehrseite der Furcht. Wer auf ein besseres Leben hoffen muß, der fürchtet sich vor der eigenen Existenz: „Eifersucht, Mißtrauen und Unterwerfung, Ausheferung an den Blick, den Besitzanspruch, die Ökonomie des Mannes addieren sich zu jenem komplexen Entfremdungsphänomen, das als ‘Furcht’ im ungekürzten Erstdruck des Textes mit grausamen Straf- und Folterphantasien ins Bild gesetzt ist.“218 Hoffnung wird so ins Bild eines Folterwerkzeuges gefaßt, das den Gefangenen an Stricken empor reißt, um ihn dann wieder jäh herabschnellen zu lassen — Desillusion ist somit bereits vorausgedacht und muß jede Hoffnung durch die Gewißheit ihrer Irrtümlichkeit zur Furcht vor dem neuerlichen Abstürzen werden lassen.219 Die

21:1 Brandstetter: Der Traum vom anderen Tanz, S. 50. „Wie kann Pannvchis Tänzerin sein, da sie verworren und in Sorge ist. Tanzen heißt sich ganz und rein hingeben können [...]“. Aufzeichnung nach Brandstetter, S. 57. 216 Brandstetter, S. 50. Hofmannsthal hatte Morton Princes Werk The Dissociation of a Personality im Februar 1907 kennengelemt. 217 Diesen Aspekt hebt Bettina Rutsch hervor. B.R.: Leiblichkeit der Sprache, Sprachhchkeit des Leibes. Wort, Gebärde, Tanz bei Hugo von Hofmannsthal. Frankfurt a.M. 1998. S. 231. 2,8 Brandstetter: Der Traum vom anderen Tanz, S. 51. ",0 Laidon: „[...] und das grausame Vergehen der Zeit, wenn man bloß daran denkt, ist einem da nicht als hinge man in den Fäusten von asiatischen Sklaven mit dem Kopf nach unten von einer hohen Brücke herab, unter der etwas Laudoses, Farbloses, leiser und reißender als Wasser dahingeht?“ / Laidon: „Nichts saugt einem so die Seele aus dem Leib. Es gibt ein Folterwerkzeug: sie ziehen die Gefangenen an Stricken empor und dann lassen sie sie jäh herabschnellen: so ist die Hoffnung.“ Zitat nach: Die Neue Rundschau.

Furcht (1907)

229

Unmöglichkeit, in der Gegenwart zu ruhen, ohne angstvoll oder hoffnungsvoll auf eme unbekannte Zukunft fixiert zu sein, liegt in der entfremdeten Situation von Frauen (und Sklaven) begründet: Aber daliegen in der Welt wie der Argus und bedeckt sein mit Augen, immer irgendein Auge offen haben: in den Armen eines Mannes sein, der dich liebt, den du zu lieben meinst, und indessen mit ganzer Seele zu lauern auf das teilnahmslose Plätschern eines Wassers neben dir, lauern zu müssen, weil etwas dich zwingt, etwas dich hält wie eine Schraube, ist es Sehnsucht, ist es Furcht [...] (EGB 576)

Argus, der hundertäugige Bewacher von Zeus’ Geliebter Io, ist Sinnbild für das ewige Wachsein der unablässigen Selbstbeobachtung, die Leben als unbewußten, naiven Vollzug der eigenen Kreatürlichkeit gerade verhindert. Demgegenüber steht für Hymnis der Mythos der Medusa, deren Blick alles um sich herum versteinert, für einen Blick, dem sie wie auch Laidion ausgeliefert sind.220 Tanz als mimetisches Instrument der erotischen Reizerzeugung emerseits und Tanz als mythisch organisierte Struktur andererseits stehen für die Möglichkeiten der Situation des modernen Menschen. Dabei scheint die Rückkehr ms archaische, ntualisüsche Tanzntual jedoch gleichfalls von Hemmungen besetzt zu sein: der Naturtanz der Insulaner wird von Hymnis mit den Kategonen ihrer eigenen Zivilisation gelesen und so als barbarisch und schamlos verunglimpft. Er wird zum kulturellen Anderen, das zugleich als „Gegenbild zur männlich dominierten abendlän¬ dischen Kultur, und als deren subversiv gewendetes Utopiereservoir“ em genuin weibliches Schöpfertum anstrebt.221 Der eigene Körper wird so zur Schnittstelle zwischen dem Individuellen und den sozialen Einschreibungen, denen er unterworfen ist - Befreiung von diesen kann deshalb auch nur über die Befreiung der eigenen Bewegungen erfolgen. Die „Grenze des Leibes“ wird so zum Ort der Verwandlung des Menschen von einer Supplementenfolge angenommener Identitäten hin zur Selbstidentität in der Selbstent¬ grenzung des archaischen Tanzes. Hierbei spielt ein weiterer, die eigene Körperlichkeit betreffender Terminus, eme zentrale Rolle: ‘Reinheit’ wird zum Zustand jenseits von Furcht und Begehren, jenem Freiraum der Selbstvergessenheit im Tanz, der den Zustand jener ‘zweiten Naivetät’ im Sündenfall-Modell Kleists nach bis ins äußerste getriebener Reflexion beschreibt - emer Körperlichkeit, die zugleich Überwindung des rein Körperlichen ist: Ich sage dir, wenn ich alles Wasser aus meinem Brunnen, wenn ich alles Wasser der Welt über die Matte da gieße, und wenn ich den Boden ringsum abspüle, so ist da noch keine Reinigkeit. Ist denn die Luft rein? Weht denn irgendwo unter den Sternen reine Luft? Ist denn nicht überall Sehnsucht und Furcht und Verlangen und Verworfenheit? Ist nicht alles, alles zwischen einem Tod und einer Wollust, und unruhig und befleckt? Ich sage dir, wenn etwas wahrhaft Reines daher käme, das

18. Jg. 2. Bd. Heft 10, S. 1228. Im Dialog Furcht wird „das Kardinalproblem des in Selbst- und Fremdperspektive verschränkten Blicks in eine mythische Konstellation zerlegt, gleichsam in vier - den Akzent verschieden setzende - Facetten auseinanderlegt: als den Mythos vom Sündenfall und den Mythos der Medusa, die sich auf das Ineinanderspiel von Fixierung durch den fremden Blick und Selbstwahmehmung im Kunstakt, den in dem europäischen Tradition fest verankerten poetologischen Gestus der Mimesis konzentrieren; als den Mythos von Narziß und den Mythos vom hundertäugigen Argus andererseits, die das Widerspiel von Selbstgefühl und Fremdbestimmung im Blick auf den weiblichen Körper in Szene setzen.“ Neumann, S. 75. Gabriele Brandstetter: Der Traum vom anderen Tanz, S. 39.

4.4 Unsagbarkeit „an der Grenze des Leibes“

230

Meer würde aufschäumen und eine Gasse machen und unsere Herzen würden aus uns herausspringen und hinrollen, um für ewig auszuruhen auf diesem Reinen. (EGB 578)

Nur die Auslöschung der gesellschaftlichen Einschreibungen in den eigenen Körper kann diesen reinigen, befreien von der Fremdbestimmtheit. ,,‘Reinigkeit’ bildet die Grenzlinie von Kultur und Natur, von Zivilisiertem und Wildem, von Überwindung des Körpers und Wiedergewinnung der Körperidentität im ‘barbarischen’ Tanz.“'2“ Der Tanz tritt aus der Ordnung der kulturell codierten Zeichen heraus, wird zum Topos des Unsagbaren jenseits der Sprache und steht außerhalb der zivilisatorischen Ordnung. So hofft Laidon im wilden Tanz jene Selbstvergessenheit zu erreichen, die den kontrollierenden und beherrschenden Blick der Männer von außen aufhebt: Sie sind gefeit. Alles, das Fürchten, das Begehren, alle Wahl, alle unstillbare Unruhe, alles ist umgewandelt worden an der Grenze ihres Leibes. Sie sind Jungfrauen und haben es vergessen, sie sollen Weiber werden und Mütter und haben es vergessen: alles ist in ihnen unsagbar. Und dann tanzen sie. (EGB 578)

Die beständige, zwanghafte Zukunftsorientierung fremdbestimmten Lebens wird hier ersetzt durch die glückliche Selbstvergessenheit im gegenwärtigen Moment, das zugleich die Einheit von Körper und Geist, eine monistische Ureinheit „an der Grenze des Leibes“ bedeutet. Dieses unentfremdete Körpergefühl entspricht dem von Rudolf Kassner als der „magische Leib“ Beschriebenen. In semem Aufsatz Der magische Leib aus dem Buch der Erinnerung argumentiert Kassner, daß der zivilisierte Mensch im Gegensatz zum Wilden einen anderen Lebensrhythmus habe, ein anderes Selbstgefühl, nämlich kein Ich „als Vorwand, als Schwierigkeit“, sondern statt dessen „den Rausch der Mitte, den Rausch als Mitte“.223 Keine Erwartungsspannung hin auf eine erhoffte oder gefürchtete Zukunft bewegt diese Tänzerinnen, sie vergessen sich in der Gegenwart des reinen Tanzes, sie haben jenes „glücklich sein ohne Hoffnung“ (EGB 579) erlangt. Die Identität von Natur und Kultur im Moment dieses Tanzes hebt die Differenzbewegung der Zeichen, die sich immer nur in der Abwesenheit, der Abweichung erfüllen kann, auf und erhebt gerade das Transitorische, Flüchtige des Tanzes selbst zur reinen Gegenwart durch die Verwandlung des Fremden ins Eigene: „So wird der Tanz zum Muster der poiesis, und zwar gerade das Transitorische des Tanzes, nicht sein Bildhaftes im Sinne statuarischer Mimesis.“224 Der Dialog endet so auch mit einem Tanz, der die Befreiung, aber zugleich auch die Unmöglichkeit echter Freiheit von den Fesseln der Zivilisation bezeugt: Laidion gleicht in diesem Augenblick kaum mehr sich selber. Uhter ihren gespannten Zügen ist etwas Furchtbares, Drohendes, Ewiges: das Gesicht einer barbarischen Gottheit. Ihre Arme fliegen in einem furchtbaren Rhythmus hinauf und wieder hinab, todesdrohend, wie Keulen. Und ihre Augen scheinen angefüllt mit einer kaum mehr erträglichen Spannung inneren Glücks. (EGB 579)

Während Hymnis in der affirmativen Reproduktion der ihr vorgegebenen Kulturordnung verharrt, überschreitet Laidion in ihrer Rede und schließlich in ihrem Tanz diese ‘Hemmung’, gelangt zu einer höheren Stufe des Bewußtseins, ohne diese jedoch dauerhaft

222 Brandstetter, S. 57. ::l Rudolf Kassner: Sämtliche Werke. Hg. Emst Zinn und Klaus E. Bohnenkamp. Pfullingen 1984. Bd. 7. S. 160-242. S. 162 2:4 Brandstetter, S. 58.

Furcht (1907)

231

erreichen zu können — auf den ekstatischen Tanz folgt Erschöpfung, vielleicht sogar ihr Tod. Das von Hymnis abgelehnte ‘Barbarische’ als Element des Animalischen, Schmutzi¬ gen gewinnt in Laidions Tanz seine elementare Gewalt und ‘Göttlichkeit’ zurück. Die Tänzerin wird somit zu einem jener „Überwinder der Zeit“, auch ihr geht in diesem Moment der Selbstidentität und Selbstvergessenheit die Zukunft „wie Vergangenheit in eme einzige Gegenwart herüber“ (RA I 81). Die Grenzlinie zwischen Natur und Kultur erweist sich somit zugleich als Grenze zwischen den Ausdehnungen der Vergangenheit und Zukunft: nicht mehr schrumpft Gegenwart hier zu einem kaum mehr existenten Punkt auf der Zeitlinie zusammen, sondern erweist sich m der Aufhebung der Differenz eines früheren und eines späteren Kulturzustandes als erfüllter Augenblick der sich verwandeln¬ den Dauer. Zurückbleiben müssen jedoch die Zweifel eines gleichsam aus einem alexandrinischen Zeitalter stammenden Lesers, ein Zweifel, dem eme große Schauspielerin und Tänzerin Ausdruck verliehen hat, nachdem sie versucht hatte, den archaischen Tanz in Gnechenland selbst wieder zu beleben: Plötzlich hatte ich die Empfindung, als ob alle unsere Träume wie eine schillernde Seifenblase vergingen und ich kam zur Erkenntnis, daß wir nichts anderes waren und nie etwas anderes sein konnten als moderne Menchen. Niemals würde sich uns die Gefühlswelt der alten Griechen erschließen! Dieser Zeustempel vor mir war für andere Zeiten und andere Menschen geschaffen. Ich selbst blieb schließlich doch nichts anderes als eine schottisch-irische Amerikanerin, die durch eine unbewußte Seelengememschaft vielleicht sogar den Rothäuten in Amerika näher verwandt war, als den klassischen Griechen.“5

Die Unumkehrbarkeit der historischen Entwicklung bezeugt sich in der Resignation Isadora Duncans, die ursprünglich geglaubt hatte, bei ihren Tänzen auf der .Akropolis m Gnechenland dem Geist der Antike wirklich nahe kommen zu können. Spätzeitlichkeit macht jene ‘zweite Naivität’ offenbar unmöglich, der höchste Zustand der Reflexion führt den modernen Menschen nicht mehr zurück an den Ursprung, und ‘reine’ Körperlichkeit ist in einem Zeitalter der Codierungen und Beschriftungen nicht mehr erreichbar.“6

-5

Isadora Duncan:

Memoiren.

Nach

dem

englischen

Manuskript bearbeitet von C.

Zell.

Zürich/Leipzig/Wien 1928, S. 133f. 226 Vd. dazu Pethes’ Diskussion der Positionen Lacans und Deleuze’/Guattaris. N.P.: Mnemographie, S. 114f.

232

Ich versuchte mich zu erinnern, aber ich erinnerte mich nur an Erinnerungen (EGB 618)

5. „Eine Art von Reproduktion“ — Landschaften als Chronotopoi in den Reiseberichten Mnemographie ist von Anbeginn an Örter gebunden. Der Ursprungsmythos der rhetonschen Gedächtniskunst erzählt, wie der Dichter Simomdes nach Einsturz einer Festhalle die Leichen der zur Unkenntlichkeit verstümmelten Gäste aufgrund von deren Sitzordnung zu identifizieren vermochte.1 Das Gedächtnis als Fähigkeit zur Rekonstruktion räumlicher Strukturen ist hier technisches Instrument zur Optimierung der Speicher¬ kapazitäten des menschlichen Geistes. So lehrt die antike Rhetorik, der Redner möge seine Gedanken an prägnanten Bildern (imagines) festmachen und diese an bestimmte, den Raum strukturierende Plätze (loci) heften, um so bei Bedarf das gesamte ‘Gedankengebäude’ (auch hier liegt eine räumliche Metapher zugrunde) wieder aufrufen zu können.2 Drei Aspekte dieser TJrszene’ der Memona gilt es hier herauszustellen. Ennnerungstechmk ist von elementarer Bedeutung im Moment der Katastrophe, des Ordnungsverlustes, des Todes, sie ist das einzige Mittel zur Rekonstruktion von gebrochener, zerstörter Kontinuität, kann als Totenklage und Gedächtniskult zugleich aufgefaßt werden. Zweitens ist Erinnerung durch das Moment der Yisualität gebunden an Sinnlichkeit, Körperlichkeit. Drittens konstituiert sich Erinnerung als Topographie, als Entwurf eines virtuellen Raums.3 Eine ‘Ordnung der Dinge’ als struktunerende Formierung der Fülle menschlichen Wissens folgt somit der unmittelbaren Sinnlichkeit räumlicher Anordnungen: Frances Yates hat in The Art of Memory für das Mittelalter und die Renaissance Theater, Säulensysteme, Bibliotheken und Labyrinthe als Ordnungsmuster vorgestellt, und Mary Carruthers zeigt in The Book of Memory wie die einzelne Buchseite der Codices selbst zum Raum mnemonischer Verortung wird - Raum wird so zum Ersatz für lineare Zeit, in ihm werden Informationen der verschiedensten Epochen und Wissensgebiete in scheinbarer Gleichzeitigkeit versammelt.4 Die Bedeutung solcher räumlicher Entwürfe bezeugt sich dabei nicht zuletzt für die autobiographische Tradition von Ich-Darstellungen. Die Konstruktion eines Lebens ist stets an Örter gebunden, sammelt Lebensorte als Bilder dieses Lebens. Texte entwerfen memoryscapes, in Topographien, textuell entworfenen Räumen bezeugt sich die Struktur des Ich.’ Die Brucherfahrung der Moderne soll somit über räumliche Strukturen, die zeitübergreifend und universell sind, aufgehoben werden. Wiedergewinnung einer mythisch strukturierten Ordnung scheint auch Hofmannsthal auf seinen Reisen nach Italien und

' Vgl. Cicero: De Oratore II, 352 und Quintilian: Institurio Oratonae XI, 11. ‘ Vgl. dazu Stefan Goldmann: Statt Totenklage Gedächtnis. Zur Erfindung der Mnemotechnik durch Simonides von Keon. In: Poerica 21/1989. S. 43-66. S. 43. 3 So die exzellente Interpretation Pethes’. Vgl. Pethes, S. 49. 4 Vgl. Frances A. Yates: Gedächtnis und Erinnerung. Weinheim 1990 sowie Mar)' Carruthers: The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture. Cambndge/MA 1990. Dazu Pethes, S. 52. ’ Vgl Patrick H. Hutton: The Art of Memory Reconceived: From Rhetoric to Psychoanalysis. In: Journal of the History of Ideas. XLVIII/1987, S. 371-392. S. 371.

Landschaften als Chronotopoi in den Reiseberichten

233

Griechenland als Movens zu dienen, dabei gilt es jedoch, den Widerspruch einer unmittelbar in den landschaftlichen Räumen dieser Länder ‘gegenwärtigen’ Antike mit dem Bewußtsein ihres Verlustes in Beziehung zu setzen. Mit Hilfe klassischer Bildungszitate und der bildenden Kunst und Architektur soll das Erlebnis der Antike gleichsam Vor Ort’ praktiziert werden, gerät dabei jedoch in den Widerspruch zwischen einer sinnlichen Erfahrbarkeit der Antike durch Aufsuchen ihrer Topoi (Tempel der .Akropolis) und einer schnftvermittelten, sich der histonschen Differenz stets bewußt bleibenden Bildungsantike (Lektüre). Hatten Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie bereits auf die Unmöglichkeit verwiesen, in emer transzendenzlosen Welt auf mythische Ordnungs¬ strukturen zurückgreifen zu wollen, so besteht das Grundproblem des modernen Reisenden auch bei Hofmannsthal dann, daß dieser die Landschaften der Antike letztlich nicht mehr ‘gläubig’ zu lesen vermag, sondern die histonsche Differenz in sie hineinträgt.6 Die Reiseessays smd eme Mischung aus Erlebnisbericht und „literanschen, histonschen, kunst- und kulturgeschichtlichen Reminiszenzen“; verbinden somit ein autobiographisches Bedürfnis nach Selbstaussprache mit kulturkntischen Intentionen.7 Hofmannsthal selbst sagt über die Augenblicke in Griechenland, es sei in diesen „Aufsätzen etwas absolut Neues gegeben. Indem diese, scheinbar Benchte, tatsächlich Innerstes geben, vom starren Außen bis ms glühende Innerste führen.“8 Nicht um die Beschreibung äußerer Gegebenheiten, sondern um die Darstellung emer voyage Interieur schemt es somit zu gehen — äußere Topographien liefern oftmals nur die Folie für Inneres.9 Dabei zeigen sich Verschiebungen, bewußte Fiküonalisierung und Literarisierung der Reise-Erinnerungen, msbesondere durch bildhafte Verdichtung, metonymische Verschiebung und vor allem durch die Einbeziehung der kulturgeschichtlichen Tradition von Landschaftsbeschreibun¬ gen und Bildern. Die Kreativität des schreibenden Ich wird hier zu emer reproduzierenden Tätigkeit, die mit den Verschiebe- und Verdichtungsmechanismen emer ‘traumhaften’ schöpferischen Erinnerung arbeitet. 1902 schreibt Hofmannsthal in einem Brief an seine Eltern aus Rom: Mein Verhältnis zu diesem merkwürdigen Aufenthalt im ganzen möchte ich so aussprechen: ich kann alles dergleichen eigentlich erst auf einem sehr mühsamen Umweg genießen, durch eine Art von Reproduktion, indem ich es in mich aufnehme und gleichsam aus mir heraus wieder vor mich bringe, fast wie etwas von meiner Phantasie Erfundenes.1"

Erst m der Verwandlung von Wahrnehmung m Vorstellungsbilder, „die wie selbstmächtige Phantasietätigkeit erscheinen, stellt sich Genuß ein“" Die Reiseessays smd somit paradigma tisch für Hofmannsthals Bestreben nach emer schöpferischen Verarbeitung von Vergangenem, emem „Gestaltungsprozeß, m dem die erlebte Wirklichkeit durch eme

6G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II. Werke Bd. 19. Frankfurt a.M. 1971. S. 29f. 7 Emst Otto Gerke: Der Essay als Kunstform bei Hugo von Hofmannsthal. Lübeck und Hamburg 1970. S. 141. 8 BW Zifferer, S. 35. 9 Bärbel Götz: Erinnerung schöner Tage. Die Reise-Essays Hugo von Hofmannsthals. Würzburg 1992, S. 14. Pethes, S. 57: „Es gibt keine Erinnerung, die nicht an einen Ort gebunden wäre und im Falle der Literatur hießt das: die nicht ihren Ort in der Schnftlandschaft der Bahnungen des Gedächtnisses innehat.“ Siehe auch DVjs 72/1998, Sonderheft: Medien des Gedächtnisses. 10 B II 90. 11 Ursula Renner: ‘Die Zauberschrift der Bilder’. S. 297.

5. „Eine Art von Reproduktion“

234

produktiv gewordene Erinnerung neu geformt“ wird.12 Erinnerung ist dabei immer jenes „Hineingehen in sich selber“, bei dem Landschaften zu Topographien der eigenen Innerlichkeit werden, die nach den Regeln der Traumdeutung spezifischen Verzerrungen unterliegen. In einem Bnef vom 11. Juni 1903 schreibt Hofmannsthal: „ich fasse in Gedanken immer den Wald, der hinter unserem Garten anfängt und die .Alpen und die an ihrem Fuß liegenden italienischen Gegenden und Städten zu einer einzigen Landschaft zusammen, zu der, die eigentlich, glaub’ ich, die Heimat meiner Phantasie ist.“13 Literansche Erinnerung ist somit ahistorisch und atopisch zugleich und ermöglicht gerade in der subjektiven Assimilation des Anderen und der Schaffung ganz individueller Chronotopoi die Wiedergewinnung einer histonsch-überzeitlichen Kontinuität, die die Bedrohung durch die Brucherfahrung der Moderne abschwächen kann. Zugleich schaffen Reisen durch die Konfrontation mit fremden Örtern, die zum Eigenen in Relation gesetzt werden, ja diesem anverwandelt werden müssen, um überhaupt erfahrbar zu sein, einen Kreativitätsgewinn; die Essays sind „Nebenprodukte des künstlerischen Arbeitsprocesses“.14 Nachträgliche kreative Verarbeitung befindet sich dabei stets m unüberwindlichem Gegensatz zur chaotischen, kemer Formung unterliegenden Aktualität der Wahrnehmung. An seinen Freund Edgar Karg von Bebenburg schreibt Hofmannsthal auf seiner Frankreichreise: Durch die Schweiz bin ich mit geschlossenen Augen schnell durchgefahren; jetzt gehe ich dann ganz langsam und mit sehr offenen das alte Rhonetal abwärts und die Riviera entlang. Ich fühle mich während einer Reise meist nicht recht wohl: mir fehlt die Unmittelbarkeit des Erlebens; ich sehe mir selbst leben zu und was ich erlebe ist mir wie aus einem Buch gelesen; erst die Vergangenheit verklärt mir die Dinge und gibt ihnen Farbe und Duft. Das hat mich wohl zum ‘Dichter’ gemacht, dieses Bedürfnis nach dem künstlichen Leben, nach Verzierung und poetischer Inter¬ pretation des gemeinen und farblosen.1’

Fehlende „Unmittelbarkeit des Erlebens“ und “Lektüre’ des aktuell Erlebten wie em Buch prägen die Wahrnehmungshaltung des jungen Reisenden. .Als Beobachtender, als Zuschauer vermag Hofmannsthal die Eindrücke semer Reise nicht zu genießen, erst in der sie literarisierenden Abarbeitung erhält das Chaos des Erlebten Ordnung, Struktur und Sinn: Denn die Bilder des Lebens folgen ohne inneren Zusammenhang aufeinander und ermangeln gänzlich der effektvollen Komposition. (.Südfranzösische Eindrücke, EGB 589)

Dem ‘Leben’ wird der A'orwurf gemacht, wie in einem „chinesischen Bilderbuch“ die Dmge ungeordnet emfach nebeneinander zu stellen, die eigenen Reiseennnerungen haben den unwirklichen Charakter von Träumen. Erst die kunstvolle Komposition durch den Dichter, die Werzierung und poetische Interpretation’ vermag dem Erlebten überhaupt seinen Wert zu verleihen: Das Ganze hatte den seltsamen, sinnlosen Reiz der Träume. Ich glaube, so ungefähr sollten Reisebeschreibungen gemacht werden, so erlebt man sie; und es ist zwischen

Gerke, S. 143. 15 B I 90. 14 BW George, S. 24f. 13 BW Bebenburg, S. 19.

Landschaften als Chronotopoi in den Reiseberichten

235

diesen aufgefangenen Sensationen nicht mehr Zusammenhang wie zwischen den \ äsen, den Affen und den Dämonen in dem Bilderbuch. Darum haben auch Reiseerinnerungen nachher für uns selbst diesen sonderbar traumhaften Charakter, so fremd, wie nicht wirklich gewesen. (EGB 589)

Impressionistische Ordnungslosigkeit prägt somit den Blick des Reisenden, der in der unmittelbaren Konfrontation mit dem Fremden über keine geeigneten Kategonen verfügt, dieses Fremde sinnvoll zu strukturieren. Dabei sieht Flofmannsthal durchaus, daß der merkwürdig unwirkliche Charakter semer Reisen auch mit den modernen Fortbewegungsmitteln zusammenhängt, die die Reisegeschwindigkeit um ein beträchtliches erhöht haben. Durch die Eisenbahn wurde „Der Raum zutschen den Zielorten, der traditionelle Reiseraum, vernichtet,,16, so daß keme Erwartungsspannung auf das Reiseziel hm eine angemessene innerliche Vorbereitung auf das Kommende ermöglicht und es zugleich zu einem Verwischen der Grenzen zwischen Ländern, Landschaften und Menschen verschiedener Gebiete kommt: Unser hastiges ruheloses Reisen hat das alles verwischt, unserem Reisen fehlt das Malerische und das Theatralische, das Lächerliche und das Sentimentale, kurz alles Lebendige. — (EGB 590)

Die verlorene ‘Unmittelbarkeit des Erlebens’ bezeugt sich nicht nur in der Perzeption von Natur qua Kunst, sondern auch dann, daß „nicht Naturvorgänge, sondern Kunstwerke als erstvorhandene, natürlich gegebene“ zuerst empfunden werden (RA III 367). So erfolgt in den Südjran^osischen Eindrücken eine Annäherung an die Farbe des Meeres vermittels der Analogie zu bildlichen Darstellungen desselben. Das Meer hat „nicht das goldatmend glänzende Blau des Claude Lorrain und auch nicht das düstere Schwarzblau des Poussin, sondern em ganz helles Blau des Puvis de Chavannes“ (EGB 593). Selbst ein gedeckter Tisch wird zum Stillleben arrangiert: Sogar das Menü wird pittoresk. Schon in Savoyen hatte das Frühstück die heitere Farbengebung der Huysum und Hodecoeter: unter der Weinlaube stand auf reinlich weißem Tuch der Fayencekrug mit hellem Wein, und gelbe Butter, rote Krebse; grüner Spinat und blaue Trauben waren so erfreulich als erfrischend. Hier aber, am rollenden phosphorschimmernden Meer, ist das Dejeuner in der Fischerherberge eine große Orgie von Farben. Der rotflossige Fisch schwimmt in einer Safransauce, andere flimmern silberschuppig, und die grellroten Langusten sind von mattgrünen Oliven umrahmt. Es fehlt nur der Pfau mit vergoldetem Schnabel zu einem farbigen Essen der Renaissance. (EGB 593)

Nicht nur stilisiert Flofmannsthal hier die einzelnen Nahrungsmittel zu einem das gesamte Farbspektrum umfassenden Bilderreigen („gelbe Butter, rote Krebse, grüner Spinat und blaue Trauben“), sondern vermeint auch zugleich noch die entsprechenden kunstgeschicht¬ lichen Informationen, nach denen er selbst diese Tafel stilisiert hat, liefern zu müssen: Huysum und Hodecoeter. Das Essen am „rollenden phosphorschimmernden Meer“ (hier läßt sich eine homensche Vorliebe für Epitheta bemerken) wird zudem mit den üppigen Eßgewohnheiten der Renaissance in Verbindung gebracht. Menschen wie auch Tiere

16 Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industnalisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1989, S. 39. Bei Götz S. 26. Vgl. auch RA I 574: Wir „stehen durch die Schnelligkeit der Reisen der Landschaft io generalisierend gegenüber.“ (Notizen über Puvis de Chavannes)

5. „Eine Art von Reproduktion“

236

werden stilvoll arrangiert und mit anderen Kulturkreisen und vergangenen Epochen assoziativ m Beziehung gesetzt: Frauen von Arles haben noch immer die feierliche römische Schönheit, die Kamcenprofile und den königlichen Gang und die königlichen Gebärden; und andere haben die griechische Grazie im Stehen und Lehnen, wie die Tanagrafiguren, und griechische Koketterie in der leichtbeflügelten Rede; und andere haben den mattgoldenen maurischen Glanz und das weiche, biegsame Gleiten, „wie Palmen im Wind“ (EGB 592)

Das historische Nacheinander der griechischen, römischen und maurischen Beeinflussung Südfrankreichs wird in diesen Frauen zu einem Nebeneinander, einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Während die Südfran^ösischen Eindrücke jedoch noch ihrer Entstehungszeit entsprechend (1892) einen - wenn auch bereits kritisch hinterfragten — Ästhetizismus bezeugen und noch weitgehend assoziativ strukturiert sind, läßt sich demgegenüber m den späteren Reiseberichten von emer nicht mehr nur äußerlichen, an allgemeinem Bildungsgut orientierten, sondern individuellen Struktunerung sprechen.1

In allen Reisetexten

Hofmannsthals werden Elemente der privaten Erinnerung mit Yersatzstücken der bildenden Kunst und Mythologie zu Bildkompositionen zusammengesetzt, die der Tradition angehören, und es wird „Natur nicht mehr unmittelbar sinnlich erlebt [...], sondern mittelbar in ‘Modelle’ der bildnerischen Tradition eingeordnet und so erst zum ‘Erlebnis’.18 Das Ziel ist dennoch gerade die Überwindung emer rem äußerlichen, an kunstgeschichtlichen Präfigurationen geschulten Ordnung: an die Stelle emer von Bildungsgut geprägten Wahrnehmungskultur sollen individuelle — zugleich aber einem mythischen, überzeitlichen Kosmos zugehörige - Struktunerungsmuster treten, „die das Gefängnis rhetorisierter, zitatgesättigter Kultur aufzusprengen und die schöpferische Kraft der aus der Tiefe der Seele dringenden Vision zu erproben suchen.“19 Perfektes technisches Medium der Erinnerung ist schembar die Photographie, insofern sie analog Bilder reproduziert, die aus der Perspektive des Erlebenden ‘individuell’ fixiert worden sind.„Die Photographie externalisiert also die psychische Funktion Gedächtnis, mdem sie der Erinnerung den Stoff zuführt, an der sie sich entzünden kann.“20 Der Reisetext Sizilien und wir (1925) wird als Geleitwort zu dem Fotoband Sizilien. Eandschaft und Kunstdenkmäler mit Origmalaufnahmen von Paul Hommel 1926 gedruckt, nachdem der Text bereits am 29.9.1925 in der Neuen Freien Presse publiziert worden war. Wie schon m Hofmannsthals Geleittext zu einem Fotoband von 1922 mit dem Titel Griechenland steht auch hier wieder Goethe als Vorbild im Blick; es ist „unvermeidlich, daß wir uns semer immer wieder erinnern“ (EGB 658), heißt es. Goethes Yorgehensweise bei der ‘Erschließung’ Siziliens wird m Erinnerung gerufen:

17 So auch Arno Scholl: Hofmannsthals essayistische Prosa. Mainz 1958, S. 247: „Gegenüber dem Herausgreifen verstreuter Einzeleindrücke in der frühsten Prosa, die sich nicht zu einem größeren Ganzen zusammenschließen, sind die späteren Prosastücke zunächst dadurch ausgezeichnet, daß ihre Reisen ein Ziel haben und Kontinuität besitzen.“ 18 Renner: Augen Blicke, S. 139. 10 Neumann: Die Wege und die Begegnungen, S. 69. 2,1 Steiner, S. 237. Goethe beschreibt in der Italienischen Reise (4. April 1787) ein idyllisches Tal bei Palermo, dessen Idvllik durch die Schilderung historischer Schlachten durch den Reiseführer empfindlich gestört wird.

Landschaften als Chronotopoi in den Reiseberichten

237

Uneingeschränkt gewährt er sich die Lust der Hingabe an das Einzelne, in der unser Geist sich erneuert, und die höhere der ordnenden Zusammenfassung. [...] jedes Einzelne, das ihm vor Augen tntt, scheint von der gleichen Wichtigkeit; aber kraft des Gedächtnisses, die Formen nebeneinander zu tragen, erhebt er sich in jedem Punkt der Darstellung mühelos und ohne heftige Flügelschläge und schwebt auf ins Gesetzmäßige, Allgemeine. (EGB 659)

Die Wahrnehmung des Details wird somit bereits bei Goethe erst mit der erinnernden Vergegenwärtigung in eme ‘ordnende Zusammenfassung’ gebracht und zu einem sinnvollen Ganzen synthetisiert, bei dem Früheres wie Späteres nebeneinander gestellt werden. Jeglicher Dualismus von „Matene und Geist“, sowie „Vergangenheit und Gegenwart“ (EGB 659) ist überwunden - diese harmonisierende Ganzheitlichkeit wird jedoch auf Kosten einer Ausblendung jener geschichtlichen Momente erkauft, die nicht in das gewählte OrdnungsSchema passen: Er lehnt alles ab, das die Erde je mit Gewalt bedroht und beleidigt hat: die Erdbeben, die Kriege, das gewaltsame unruhige Tun der Menschen. Er lehnt die Geschichte ab, als welche dies alles heranbringt. Majestätisch stehend, erblickt er alles im Stehen. (EGB 659)

Obgleich dem Erzähler das ‘fiktive’ Sizilien Goethes „wirklicher“ erscheint, verschwindet dessen Identität schließlich in dem von ihm geschaffenen Bild: für einen Augenblick wandelt er sich in ein jedes, winkt uns aus dem Innern des Gegenstandes zu, taucht wieder auf. Mit einem Male ist nur mehr das Bild da. Er ist vor unseren Augen in sein Bild hineingegangen und uns entschwunden; wir sind allein mit einer gemalten Tafel. Ein Schauder überläuft uns, und wir verhängen das Bild mit einem Vorhang, um uns der Wirklichkeit zuzuwenden, die unvertrauter, weniger spiegelhaft gerundet, gefährlicher, aber unser ist. (EGB 660)

Während Goethe kraft semer überwältigenden Persönlichkeit gleichsam ‘spiegelhaft’ ein in sich gerundetes, harmonisches Bild entwerfen konnte, so ist der Erzähler zu sehr Kind seiner Zeit, als daß er noch m mythischer Zeitenthobenheit über die Gesamtheit geschichtlicher und kultureller Erfahrung zu verfügen wagte.„Die Idealisierung des klassischen Genius gipfelt in der Aussage, daß Sizilien für Goethe die Topographie gewesen sei, in der er den linearen Zeitpfeil arretieren und in die Bündigkeit und Geschlossenheit einer zyklischen Zeit, in der sie Raumgestalt annimmt, hätte umbiegen können.“21 Wir Modernen hingegen unterliegen der Zeit, nicht zuletzt aufgrund unserer beschleunigten Art zu reisen. Im Gegensatz zu Goethe ist der moderne Reisende nicht mehr m der Lage, aus der schnellen Abfolge der sich ihm aufdrängenden Bilder ein geordnetes Ganzes zu schaffen, die Dynamik der Bewegung ist stärker als die Statik der Bilder. Der Faktor modernen Reisens mit der Eisenbahn, der eine Durchquerung von ganz Sizilien in kürzester Zeit ermöglicht, schafft so eine gänzlich andere Wahrnehmung: Wir kommen über Nacht. Wir reisen schnell, fast so schnell wie der Blick über die Landschaft hinfliegt; ja die Schnelligkeit, mit der wir uns bewegen, ermutigt noch die Kühnheit unseres Auges: wo der Blick nichts gewahrt als einen bläulichen Duft, dort werden wir morgen umhergehen und einem neuen Honzont die Herrschaft unserer Gegenwart aufzwingen. So sehen wir schon vorübergehend, was wir morgen schon

21 Steiner, S. 234f.

5. „Eine Art von Reproduktion'

238

werden, wir beherrschen den Raum und zugleich die Zeit — wo er [Goethe] sich an die Erde schmiegte. (EGB 660)

Aufgrund der erhöhten Reisegeschwindigkeit wird der Überblick anstelle der Detailgenauigkeit gefördert, zugleich wendet sich der Blick nach Innen.““ „Goethes Genius“ steht als Ordnungsmacht über der Reise, wird aber von Hofmannsthal letztlich verabschiedet, als eme den modernen Wahrnehmungsgewohnheiten nicht mehr adäquate Betrachtungsweise: Ihn umgab hier der Länderkranz der antiken Welt: orbis terrarum, herrlich geordnet, rein umzogen, Herkulessäulen abschließend im Westen, das Judenland, Persien, Arabien herwinkend vom Osten. In diesem Kreis stand ihm der Sturz des Daseins still, wie das Himmelsgewölbe leuchtend aufruht auf den alterslosen Gewässern. (EGB 660)

Für den Erzähler bezeugen sich die geschichtlichen Einflüsse Afrikas und Griechenlands, sowie der Normannen und Staufen in einer Abfolge der Geschlechter, die aber zugleich räumlich-gleichzeitig aufgefaßt wird. Geschichtliches ist „leibliche Gegenwart und macht als Lebendiges seinen Anspruch auf uns geltend“ (EGB 661). Durch Tempuswechsel und eme Vermischung der zeitlichen Abfolge der histonschen Ereignisse wird die Präsenz des Absenten vorgestellt: Hier landet Platon. Hier schlägt der Karthager. Hier baut der Byzantiner. Hier schläft unter arabischen Kuppeln der Staufer in einem porphyrenen Sarg. Hier reitet Goethe einen Pfad meerentlang. Hier haucht Platen seine Seele aus. (EGB 661)

Nicht nur Schmelztiegel der Kulturen ist Sizilien, sondern zugleich Gedächtnisraum, der vom Betrachter aktiviert werden muß. Geschichte wird so zum zeitenthobenen Bildungsgut, Vergangenes wird wie Gegenwärtiges rezipiert: „Geschichte ist zur Bildung und zur tröstlichen Versicherung der Kontinuität der Tradition im Medium der Erinnerung mutiert“.23 Durch diese tableauartige Verbreiterung des psychischen Raumes der Erinnerung wird der Akt des Erinnerns zugleich zu etwas, dem sich die Vergangenheit aber gerade als Vergangenes einschreibt. Die erinnernde Wiederholung von Vergangenem zur Wiedergewinnung einer ganzheitlichen Gegenwart wird somit selbst affiziert vom eigenen Vergangensein und läßt die Abwesenheit des Erinnerten spüren. „Die Performanz des Erinnerns bzw. des Vorstellens geht nur zeitweilig, nur augenblickshaft mit der Referenz des Ennnerten/des Vorgestellten zusammen, um es nachgerade kontraintentional zu

:: Vgl. auch Götz, S. 128. In der Abfolge der Bilder wird zugleich der Funktion des Bildbandes entsprochen. 1922 hatte Hofmannsthal bereits den Text Griechenland für einen weiteren Fotoband verfaßt. Siehe dazu die Interpretation des Lichts in Griechenland bei Bärbel Götz. S. 104-121. Hofmannsthal selbst spncht von einer „verklärenden Verschleierung“ (EGB 630). „Was der Essay suggenert, ist: Der Bildteil vermittelt dem Betrachter zwar eme sinnliche Vorstellung von griechischer Landschaft, Kunst und Kultur, doch wird erst dem, der sich in diesem Licht befindet, Geschichte und Mythologie - die ‘philosophische Gedankenwelt der Griechen’ (EGB 636) - zu einem sinnlich erfahrbaren Erlebnis. Was die Photographie nicht abzulichten vermag, bleibt dem Essay überlassen; der Text setzt auf die suggestive Kraft von Bildern und Phantasien und appelliert an das Vorstellungsvermögen der Leser.“ S. 104f. 23 Steiner, S. 235. „Mit Erinnerung angereichert, verbreitert sich nicht allem der enge Raum psychischer Präsenz. Mehr noch: die Größe dessen, was erinnert wird (die monumentalistisch verklärten Heroen), die Referenz also der Ermnerungsakte, überträgt sich metonymisch auf die Performanz des Erinnerns selbst. Das Bewußtsein verdinglicht sich anhand semer m ihm evozierten Gestalten.“

Landschaften als Chronotopoi in den Reiseberichten

239

nrealisieren.“24 Zwischen der Erinnerung und dem Erinnerten klafft em Riß, der dem Erzähler auch ins Bewußtsein tntt: Abgründe freilich sind dazwischen; aber in uns ist Abgrund genug, daß wir wissen, wie wir das Getrennte zusammenbringen. Es ist aber dies unsäglich freudige Licht vor allem, das uns den Mut gibt zu einer ungeheuren Fassung, in die wie in ein Becken die Zeiten und die Räume einschäumen. (EGB 661 f)

Die Pomte des Textes liegt in der Engführung der geistigen Täügkeit der symbolischen oder metaphonschen Verallgemeinerung des Erlebten mit dem technischen Medium der Photographie.21 Die Photographie bildet mit Aquarell und Stahlstich em Analogmedium, kann aber zugleich als metaphonsche Wiedergabe von Seelenlandschaften den Abgrund zwischen Repräsentiertem und dessen Entsprechung im Kopf des Erinnernden überbrücken. Zur Veranschaulichung dieser Funktion muß Hofmannsthal freilich erneut auf die bildende Kunst (Claude Lorrain) zurückgreifen, das moderne Medium ist nur im Bezug auf em traditionelles Medium darstellbar: Die Kamera des Photographen, mit ausgebildetem Talent gehandhabt, hie und da auf die schönsten Gegenstände, noch lieber auf große zusammenhängende Anblicke im Claude Lorrainschen Stil eingestellt, kann hier das bescheidene Aquarell des achtzehnten und den Stahlstich des neunzehnten Jahrhunderts weit hinter sich lassen, ja sie kann Bilder gewinnen, an denen unsere Erinnerung sich wunderbar entzündet - und nicht nur die sinnliche Erinnerung: denn in einem Augenblick haben diese Horizonte unserem inneren Sinn für immer Licht und Weite gegeben [...]. (EGB 662)

Das Reisen m fremde Länder wird zur hermeneutischen Unternehmung: im Blick auf das Fremde kommt es nicht nur zur Relativierung der eigenen Kultur, sondern vor allem zur Re-Lektüre literansch überlieferter Bilder dieser Kulturen - sei es die griechische, arabische oder chinesische — nach tradierten Mustern einer europäischer Wahrnehmung des Fremden. Dabei verfährt Hofmannsthal als Assimilator, das Fremde gewinnt nur Bedeutung für ihn, insofern es dem Eigenen anverwandelt werden kann, epiphanische Erfahrungen die Gegenwart von Vergangenem aufschemen lassen oder die fremde Kultur unter die Pathosformeln eines Winckelmann, Goethe oder Pater subsumiert werden kann. Hofmannsthal hat in zahlreichen seiner theoretischen Texte einen emphatischen Begriff von Gegenwart entwickelt, der Gegenwart als Kopräsenz aller Zeitstufen auffaßt, um so den Zusammenhang von Aisthesis und Poiesis, von Produktion und Reproduktion aufzuzeigen. In seiner Ansprache im Hause Lanckororiski werden die Gemälde als „em Längstvergangenes als Gegenwärtiges“ (RA I 22) bezeichnet, der Künsder ist nur passives Gefäß, das die gesamte Vergangenheit m sich aufnimmt. In ihm kommt es zur produktiven Verwandlung des Geschichtlichen in „die aufgesammelte Kraft der geheimnisvollen Ahnenreihe in uns, die übereinandergetürmten Schichten der aufgestapelten über¬ individuellen Erinnerung“ (ILA 125). Der Dichter wird so - wie in der Rede Der Dichter und diese beschrieben — zum geographischen Ort, an dem sich Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges zusammenfinden: „Er ist es, der in sich die Elemente der Zeit verknüpft. In ihm oder nirgends ist Gegenwart“, und „so schafft er aus Vergangenheit und Gegenwart, aus Tier und Mensch und Traum und Ding, aus Groß und Klein, aus

24 Steiner, S. 236. 23 So Steiner, S. 236.

240

5. „Eine Art von Reproduktion“

Erhabenem und Nichtigem die Welt der Bezüge“ (RA I 68). Produktion und Rezeption fallen hier zusammen, der ästhetische Prozeß der Verknüpfung gewinnt dabei eine Autonomie, die durch das passive ‘Vehikel’ eines Dichters gleichsam nur ‘passiert’.26 Kunst entsteht nicht durch die starke Subjektivität eines Autors, sondern in einem transindividuellen Prozeß, der den Dichter zum Medium macht, ohne ihm größere Autonomie zu verleihen. Die topographischen Strukturen der Mnemotechnik smd für die literarische Erinnerung der Moderne von gar nicht zur unterschätzender Bedeutung, und speziell im Reiseessay wird deutlich, daß sprachliche Transformation immer auch Raumstrukturen entwirft. Elutton liest die autobiographische Tradition als Konstruktion von Lebensorten, für die Bilder des jeweiligen Lebens. Texte entwerfen memoryscapes: Erinnerungen bewegen sich in textuell entworfenen Räumen, Topographien und Städte werden zur zentralen Stütze der Gedächtnisartikulation.2 Die Zeit der Erinnerung bildet sich dabei m räumlichen Konstellationen ab: „Dies aber nicht m einer Stillegung des Moments, sondern im Sinne eines dynamischen Entwurfs. [...] Ennnerungsschreiben geht nicht im Beschreiben von memoryscapes auf, sondern ist als Verräumlichung selbst eme solche topographische Ordnung. Es gibt keine Erinnerung, die nicht an emen Ort gebunden wäre und im Falle der Literatur heißt das: die nicht ihren Ort in der Schnfdandschaft der Bahnungen des Gedächtnisses innehat.“28 Bezeichnend für die Erstellung solcher Gedächtnistopographie ist die Selbstreflexivität dieses Verfahrens: „Jeder Text, der Erinnerung über Bilder und Räume organisiert und sich dabei die arbiträre Zeichenmatena lität als Merkhilfe oder Erinnerungsanstoß zunutze macht, erinnert unwillkürlich die rhetonsche Methode mit.“29 Der Entwurf von Gedächtnislandschaften m Hofmannsthals Reiseessays wird sich gerade durch diesen selbstreflexiven Charakter auszeichnen. Michail Bachtms Konzept der Chronotopoi vermag diesen Zusammenhang zu erhellen. Ms Form-Inhalt-Kategone stellt der Chronotopos ein Motiv dar, das temporale und spatiale Relationen mit dem literarischen Konstrukt verbindet. Straße, Schloß oder Schwelle werden zu Materialisationen von Zeit im Raum und somit von Strukturen historischen Bewußtseins.'0 David Wellbery verweist darauf, daß im Falle von Sommerreise der Text selbst, das Wechselspiel von Korrespondenzen, diesen Chronotopos darstellt und dieser sich nicht nur ein einzelnes Motiv ausmacht. Der Text reicht von der mythischen Vergangenheit eines Tantalus über die Italienische Renaissance bis hm zu Goethes Reisen und verräumlicht die lineare Zeit durch den Chronotopos des Textes selbst: „Hofmannsthal’s text, then, does not merely express the idea of co-presence but enacts and matenalizes it.“31 An den Motivgeflechten in Hofmannsthals Texten wird sich aufweisen lassen, wie er diese Verwobenheit verschiedener Zeitstufen, die Verbindung von landschaftlichen Topographen mit emem voyage interieur der menschlichen Psyche leistet.

26 Vgl. David E. Wellbery: Narrative Theorv and Textual Interpretation: Hofmannsthal’s Sommemise as Test-Case. In: DVjs 54/1980. S. 306-333. S. 330. 21 Patrick H. Hutton: The Art of Memory Reconceived: From Rhetoric to Psychoanalysis. In: Journal of the History of Ideas. XLVIII/1987, S. 371-392. S. 371. 28 Pethes, S. 56f. 29 Pethes, S. 58. 30 Vgl- Michail Bachtin: The Forms of Time and the Chronotopos in the Novel. In: PTL: A Journal for Descriptive Poetics and Theorv of Literature 3/1978, S. 493-528. S. 493. 31 Wellbery, S. 331.

Landschaften als Chronotopoi in den Reiseberichten

241

Hinzu tritt das Bestreben, der Erfahrung des Bruches zwischen Antike und Moderne durch kontinuitätsstiftende Erinnerung entgegenzuwirken: „Anhand von imaginären Räumen und Gebilden kann das temporalisierte System Bewußtsein seinem Dauerzerfall ‘entgegenwirken’ und Struktur gewinnen. Räume, Architekturen und Landschaften stellen Formen und Modelle der Verknüpfung, der Synthesis zuvor schon selegierter Elemente bereit, m deren imaginärer Repräsentation psychische Zeit Komplexität aufzubauen vermag.“32 Architekturen des Wissens können somit dem m die Krise geratenen Subjekt strukturell Halt gewähren; zugleich stellt eine räumlich verfaßte Erinnerung die notwendige Matrix für eine künsdensch zu bewältigende Wirklichkeit zur Verfügung.

32 Steiner, S. 265.

242

5.1 „Fern und nah, dies selige Spiegeln“ - Topographien des Erinnems in Sommerreise (1903) Das Streben nach einer Verräumlichung der linearen Zeitfolge — sei es in der Simultaneität individuellen Erinnerns oder aber in der eines kollektiven Gedächtnisraumes — bleibt in einem Text stets an seine sequentielle Verwirklichung gebunden. Deshalb muß die angestrebte ‘historische’ Tiefendimension derart mit der Abfolge früherer und späterer Momente des Textes verbunden werden, daß die verschiedenen Zeitebenen nicht lediglich ein Kontinuum, sondern ein Gewebe aus temporal nicht mehr zu differenzierenden Elementen bilden — und dies kann über ‘Ketten’ von Bildern, Metaphern und Signifikanten gelingen, die in sich wandelnder Form den Text durchziehen und ihm so eine symbolische Metaebene verleihen, die jede temporale Sequenz transzendiert. Nicht nur der Eindruck einer Folge wird so gänzlich aufgehoben, sondern zugleich Früheres durch Späteres, Imaginäres durch Reales modifiziert (und umgekehrt), so daß sämtliche Momente in emen hermeneutischen Kreislauf geraten, sich gegenseitig abwandeln, bestätigen oder konterkarieren und so den Text gleichsam aus einem Fließen der Signifikate unter den Signifikanten konstituieren, dem jedes Subjekt, ja jedes Zentrum abgeht. Hofmannsthals Technik m seinem außerordentlich subtilen und bewußt durchkonstruierten Erinnerungs¬ text Sommerreise von 19Ö3 steht dabei zwischen der Integration von Schilderungen berühmter Werke der Malerei (Giorgiones Fete Champetre) und Architektur (der Rotonda Palladios) - die zudem durch einintertextuelles Spiel mit Interpretationen des RenaissanceMalers Giorgione durch Walter Pater eine zusätzliche Dimension erhalten —, und einer an Freuds ‘Traumarbeit’ geschulten Technik der Verschiebung und Verdichtung von Motiven, welche die m Bilder übersetzten libidinösen und aggressiven Tnebe des sich m Text auflösenden Ichs repräsentieren. Wie die das Geträumte verzerrende und abwandelnde ‘Traumarbeit’ des Träumenden und des Interpreten ist auch der (imaginäre) Reisebericht die Wiedergabe von Prozessen des Unbewußten: Verschiebungen unterbewußter oder unterdrückter Seiten der menschlichen Psyche in sie teils verhüllende, teils in ihrer Symbolik eindeutige Bilderfolgen, welche in diesem Text zudem ihre abschließende Interpretation auf der Metaebene des Psychoanalytikers finden. Palladios Rotonda wird zum Symbol der triebhaften Seiten des Menschen, die ihn gerade nicht mehr als ‘Herr im eigenen Hause’ erscheinen lassen, das zugleich aber auch den oberen Bereich der Seelenkräfte miteinbezieht. Die Wahrnehmung des Träumers wie die des Reisenden ist gleichermaßen an das Moment der Nachträglichkeit, mithin des Erinnerns, gebunden: Zeit wird zum Raum, wenn die verschiedenen Stufen des Früher und Später zu einer ‘mythischen’ Kopräsenz im Medium des Erinnerns versammelt werden, die Differenz zwischen Realität und Imagination in der ‘traumhaften’ Vermischung der Ebenen aufgehoben ist - oder, wie Hofmannsthal sagt: „ich kann alles dergleichen eigentlich erst auf einem sehr mühsamen Umweg genießen, durch eme Art von Reproduktion, indem ich es in mich aufnehme und gleichsam aus mir heraus wieder vor mich bringe, fast wie etwas von meiner Phantasie Erfundenes.“33 ‘Raum’ wandelt sich hier von einem neutralen Begriff zu einer symbo¬ lischen Relation, und die geschilderten Städte und Kunstwerke fügen sich als architekto-

33

B II 90.

Topographien des Ennnerns in Sommerreue (1903)

243

rusche Räume m diesen als ‘ewige Gegenwart’ verstandenen Raum der Geschichte: „The stations of the journey are understood to coexist in a single space and the art works described are themselves spatial, so that ‘art’ is conceived here primanly as a simultaneous Order.“'4 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden hier - wie bereits in Der Dichter und diese Zeit und Hofmanns thals Rede im Hause Danckororiski ausgefiihrt und ganz im Sinne von Bergsons duree-ununterscheidbar, aufgehoben im Gedächtnisarchiv der menschlichen Psyche, das kem Vorher und Nachher kennt. Wirklichkeit kann nurmehr in absentia, nachträglich als sinnvoll erlebt werden, das Gedächtnis muß Realität simulieren oder virtualisieren, um diese überhaupt erfahrbar zu machen, ja Kunst ist nur möglich vor dem Hintergrund emer immer nur nachträglichen, Wirkliches in ‘Geträumtes’ verwandelnden Reproduktion.3’ Die mit seiner Frau unternommene Reise zur Südseite der Alpen wird zu einer Verdichtung mehrerer Reisen, freier Phantasie und Mythen, von traumhaften oder traumartigen Reminiszenzen - der Text ist „ein Feuilleton über die kleine italienische Reise“, wie Hofmannsthal selbst sagt.36 Wirklich Erlebtes und Geträumtes, Bild und Landschaft, Geschichte und Gegenwart verbinden sich in diesem Text zu einem dichten Gewebe aus Themen und Vanationen, das keine qualitative Differenz mehr zwischen Imagination und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart zu kennen scheint. Die ‘Linearität’ des Reiseitinerars auf ein Telos hm wird in mehrfacher Hinsicht durchbrochen: einzelne Natur- und Landschaftsdarstellungen werden als Tableaus inszeniert und bildhaft vergegenwärtigt, Geschichte und Kunstgeschichte zur historischen Vertiefung des Gegenwärtigen herangezogen, und wie bei Walter Pater m seinem Werk über die Renaissance wird Kunstkritik zum eigentlichen Moment der schöpfenschen Phantasie: „But the gemus of which Botticelli is the type usurps the data before it as the exponent of ideas, moods, visions of ist own; m this interest it plays fast and loose with those data, rejecting some and isolating others, and always combining them anew.“37 Im erinnernden Rückbezug auf Werke der bildenden Kunst gelingt es auch Hofmannsthal hier, Erlebtes imaginativ zu verinnerlichen und so einerseits die Data der eigenen Perzeption der Landschaften Italiens ‘sinnvoll’ zu strukturieren, andererseits aber auch die ‘Erinnerung’ dieser Kunstwerke semem rekombinatorischen schöpferischen Impetus zu unterwerfen und Kunst der eigenen Psyche, der perzipierten Natur, sowie den eigenen kreativen Absichten nutzbar zu machen. Das Durchmessen von Topographien wird ein Durch¬ messen von Zeiträumen: deutlicher als in diesem Reisebencht hat Hofmannsthal nirgends die Bewegung durch den Raum (den Weg des Wassers von der Bergquelle in die Ebene und ms Meer) mit Prozessen des menschlichen Unbewußten (aggressives wie libidmöses Hmstreben zum ‘Genuß’) und der schöpfenschen Verwandlung von Motiven der (Kunst)Geschichte (die Rotonda als menschlicher Seelenhaushalt) m Eigenes dargestellt.

34 Wellbery, S. 326. Es ist kem Zufall, daß Wellbery gerade diesen Text für eine strukturalistische Interpretation ausgesucht hat: es ließe sich kaum ein eindrücklicheres Beispiel für die Re-Interpretation von Freuds Traumtheorie als (strukturalistische) Texttheorie finden. Ganz im Sinne Lacans werden hier die Freudschen Abwehrmechanismen des eigenen Unbewußten durch die Techniken der Verschiebung (Metonvmie)und Verdichtung (Metapher) von symbolischen Traumbildern aufgenommen, die enigmatische Traumarbeit’ zu emem den Gesetzen des Signifikats folgenden Prozeß gemacht. 35 Renner: ‘Die Zauberschnft der Bilder’, S. 298. Renner spricht von emer „erzählerischen Meditation über die Produktivkraft der Sinne, vornehmlich der des Sehens.“ 36 B II 118. 37 Pater: Renaissance, S. 42.

244

5.1 „Fern und nah, dies selige Spiegeln“

Das sich leitmotivisch durch den Text ziehende Symbol des Wassers dient dazu, einerseits die Allgegenwart des Immergleichen zu repräsentieren, andererseits aber auch gerade den Wandel von Charakter, Bildlichkeit und Funktion desselben zu bezeugen, das niemals selbst-identisch sein kann, sondern als Bild ewigen Sems und Werdens sich immer in der Abweichung von seinem Ursprung erfüllen muß. „Ihr Weg war mit dem abwärts¬ rauschenden Wasser“ (EGB 596), heißt es gleich zu Beginn der eigentlichen Reiseschil¬ derung, der Reiseverlauf als Suche nach Wasser folgt dem Weg des Wassers ins Tal. Eine tnadische Struktur beherrscht den Text, wie bereits die Südfran^ösischen Eindrücke weist er die für die Reisebilder „charakteristische Struktur der Dreiteilung in die .Alpenlandschaft, die Städte der Ebene und die des Meers“ auf.18 Im Wasser verbildlicht sich das Durch¬ lässigwerden der Grenze zwischen Natur und Kunst, Gegenwart und Geschichte; gerade im Weg des Wassers von seinem wilden, unterirdischen Ursprung hoch oben in den Bergen über seine Domestizierung in den Brunnen der Menschen in den Tälern, zu seiner Auflösung im Meer hin wird die Sequenz der Abfolge von Reisestationen zur Simultaneität des Erinnerungsraumes versammelt. „The temporally diverse stations of the journey mirror one another in such a way that their separateness is overcome and they are taken up within the simultaneity of an imaginary space.“39 Der ‘Brunnen’ als Himmel und Menschwelt spiegelnder Wasserspeicher taucht so einmal in der freien Natur m den Bergen auf, dann m den Dörfern der Menschen, m Giorgiones Bild und metaphorisch im Bauwerk der Rotunda - jede Wiederkehr desselben Moments ist die Spiegelung des Immergleichen, reale Existenz und imaginative Evokation stellen keinen Unterschied dar, und mit jeder Erwähnung wandelt sich Funktion und metaphorische Bedeutung ‘desselben’ Signifikanten, der hier zum Gedächtnisspeicher wird. Zunächst taucht nach einer ersten Erwähnung von Wasser („das Rauschen des kleinen Baches“) ein Brunnen als Yergleichsobjekt auf, die wie ein Traum’ erscheinende Reise war „so wirklich wie ein Gang zum Brunnen“ — so bekräftigt der Erzähler die Authentizität seiner Erlebnisse. Vom Objekt wird das Brunnen-Wasser im folgenden zum dynamisch¬ agierenden Subjekt: „dann schwillt vor innerer Kraft das Wasser in den Brunnentrögen“ (EGB 595), worin erstmals das erotische Motiv des vorwärts-strebenden Begehrens anklingt. Daran schließt sich das Bild des Brunnens als Sammelstelle für die Elemente der Natur an, die Wiedervereinigung von Wasser und Erz: „An der Straße stehen schöne Brunnen; aus emer steinernen Säule springen vier Wasserstrahlen in die schönen uralten steinernden Tröge [...] Und wie sie die Becken unter dem Brunnen füllen und tönend das Wasser hineinfällt, so kommen die beiden wieder zusammen, die beieinander im dunkelsten Schoß des Berges schliefen, das Wasser und das Erz“ (EGB 596). Die Wildheit des Wassers fügt sich der domestischen Ruhe der Menschenwelt und wird in den brunnenähnlichen marmorgefaßten Teichen’ zu deren ‘Spiegel’: „Und das wilde Wasser aus den Bergen umfließt beruhigt Kirche und Kastell, spiegelt die zerfallenen Mauern, gleitet in laudosem Rinnen zwischen Feld und Feld dahin, gibt dem Dorf seinen Weiher und dem Park seinen Teich. Und der friedliche Weiher und der marmorgefaßte Teich spiegeln am stillsten Abend die ferne goldumrandete Wolke mit großen schmelzenden Buchten, die sich vom feuchten Hauch der blauen Riesenberge nährt“ (EGB 598). Im Bild

38 Klaus Weissenberger: Hugo von Hofmannsthals Entwicklung der Reiseprosa von der Allusion des Schöpferischen zu dessen dichtenscher Darstellung. In: Wahrheit und Wort. Festschrift für Rolf Tarot zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Gabriela Scherer und Beatrice Wehrli. Zürich 1996. S. 499-517. S. 500 39 WeUbery, S. 327.

Topographien des Ennnerns in Sommerreise (1903)

245

Giorgiones wird der Brunnen zum gleichfalls erotisch und naturmythisch besetzten, aber auch um seiner pittoresken Wirkung willen genutzten Motiv: [...] und die Frauen beugen sich über den steinernen Brunnen, winden den Eimer aus feuchtem Schacht empor, als wollten sie dem Grund sein selig dunkles Geheimnis so entwinden; aber was sie emporbringen, ist nur klares Wasser, doch sie werden es trinken, werden es kühl durch die Glieder rieseln fühlen, etwas von der Lust der Nymphe fühlen, die drunten sich im Kühlen wälzt. Die Männer aber lagern neben dem Brunnen; sie sind bekleidet und der doppelte Atem der Luft kann nur ihre Wangen anrühren [...]. (EGB 599)

Der Brunnen wird hier einerseits zum Symbol der Erdverbundenheit der Frauen, gleichzeitig aber auch zum Bild von Weiblichkeit an sich und zum Lustobjekt, das den 'Nymphen’ den Genuß des aus den Tiefen der Erde gewonnenen Wassers in ihren Körpern ermöglicht. Unter psychoanalytischen Gesichtspunkten kommt es hier zur Verschiebung der weiblichen Sexualität auf das Brunnenmotiv, zugleich verdichten sich im Bild der sich m der Kühle des Brunnens suhlenden Nymphe Vorstellungen von weiblicher Naturdämonie - der scheinbar männliche Gelassenheit korrespondiert: aktive und passive Sexualität erscheinen hier gänzlich auf das weibliche Geschlecht projiziert, das sich in Form einer gleichsam autoerotischen Genußfähigkeit der Natur zu erfüllen scheint. Erlösung im Rund der Rotunda? Der Text bildet ein Gewebe aus Assoziationen, Korrespondenzen und Wiederho¬ lungen der immer gleichen Motive und Motivkomplexe, die sich als Topoi, als loci der Mnemographie des Textes lesen lassen. Dabei bezeugt die fast gänzliche Ausschaltung einer zentralen Erzählerfigur das Streben nach Verobjektivierung, nach Auflösung des Ich in das ‘Fließen’ des Signifikanten: das Netzwerk aus Bildern und Imaginationen wird von der ausgebreiteten Seelenlandschaft schließlich im Bild der Rotunda sem ‘Gleichnis’ und seine ‘Erfüllung’ finden, die die tnebhaften (libidinösen und aggressiven Triebe) und geistig-transzendenten Seiten (Religion) des menschlichen Geistes architektonisch ‘stillgestellt’, gleichsam als Veräußerlichung der ewigen ‘Ordnung der Dinge’ ver¬ gegenwärtigen. Im Sinne Freuds stellt der Text somit zum einen eine Art von Traumdeu¬ tung dar, die in immer neuen Um-Schreibungen und Uberschreibungen desselben eine Veräußerlichung psychischer Faktoren in Bildern und Gestalten vornimmt, zum anderen wird diese Yerräumlichung der Psyche m der Landschaft im Bild des architektonischen Traumes’ Palladios wieder auf ihre menschliche Ebene zurückgeführt, re-subjektiviert.4n Kaum em Text Hofmannsthals läßt sich m der Dichte der Bilder mit der Sommerreise vergleichen, kaum em Text, in dem die schrittweise Verwandlung von Bildern und Wahrnehmungen m Imagination und Traum dermaßen klar vor Augen geführt würde. Die Variation der Themen und Motive stellt dabei einerseits eine Objektivierung von Psychischem dar und ist zugleich die Verinnerlichung und Memoria von etwas Äußerem, wirklich Erlebtem. Der Text steht so genau an der Schwelle zwischen einem schöpferi-

40 Klaus Reichert spricht in seiner Analyse von J ames Joyces Darstellung Dublins im Ulysses wie auch im Portrait of the Artist gleichfalls von einer objektivierenden Mnemographie, „als Wiederholung oder Rekonstruktion der Dinge in der Ordnung, in der sie sich darboten, oder umgekehrt, als em Auferlegen, Aufzwingen einer Ordnung, um die Dinge zu memorieren, sie memorierbar zu machen.“ Auch auf Transformationen des Erinnerten im Sinne von Freuds Traumarbeit weist Reichert in diesem Zusammenhang hin. Vgl. K.R.: Joyces Memoria. In: Gedächtniskunst. Raum - Bild - Schrift. Studien zur Mnemotechnik. Hrsg. v. Anselm Haverkamp und Renate Lachmann. Frankfurt a.M. 1991. S. 328-355. S. 329ff.

5.1 „Fern und nah, dies selige Spiegeln“

246

sehen Erinnern, das ein Vergessen sein muß, um Kreativität zu ermöglichen, und jenen Versuchen einer Ruck-Verwandlung der Welt in mythisch-seelenhafte Ordnungen, die zugleich Kunst und Natur sind, da sich in ihnen ewige Harmonien bezeugen, die im Medium des Betrachters nur offenbar gemacht werden, da das Individuum als Produkt gleichermaßen von Natur und Kultur sich mit der Welt in Überemsümmung befindet: Das Wunder dieses Ortes ist Einklang: Erde und Wolke, Ferne und Nähe, Tag und Traum, hier sind sie eins: die Luft ist wie ein Becken, in das laudose Ströme von Freude rinnen. (EGB 600)

Der gesamte Text unterliegt somit einer doppelten Bewegung: einerseits wird reale Landschaft und Kunstgeschichte in ‘Traum’ verwandelt, wird zum Spiegel der Seele des genießenden Betrachters, andererseits wird die Landschaft selbst zum Symbol der Fakultäten der menschlichen Seele, zum Makrokosmos des sich im Individuum als Mikrokosmos abspielenden Theaters der Welt. Dabei steht eben jenes Moment des ‘Spiegelns’ ganz explizit im Vordergrund, der Text ist erfüllt nicht nur von Kontiguitätsbeziehungen, die die Similarität und Dissimilarität der Motive durch Traumtechniken der Assoziation, sowie der Verdichtung und Verschiebung ausdrücken, sondern er besitzt trotz Abwesenheit eines Erzähler-Ichs einen stark reflexiven Gestus, ist die ‘Re-flektion’ jedes seiner Elemente im anderen. Immer wieder erscheint die Landschaft wie die Menschenwelt tatsächlich gespiegelt im Wasser, im Brunnen, im Teich, oder aber em Element wird durch die Figur des Vergleiches Ymt einem anderen in Beziehung gesetzt. Der merkwürde Vergleich „die Luft ist wie em Becken“ (EGB 600) bringt das Motiv des in der Tiefe verborgenen Wassers mit der Höhe des Himmels in Nachbarschaft und läßt so nicht nur Tag und Traum’, ‘Ferne und Nähe’, sondern auch die Urelemente von Wasser, Luft und Erde, sowie die Differenz von Oben und Unten im gegenseitigen Spiegeln in eins verschmelzen. Die scheinbar beiläufige Eingangssequenz enthält in nuce bereits die gesamte Motivik des sich anschließenden Textes, ist ‘Nukleus’ der folgenden Mythisierung der Natur, em Zentrum oder Ursprung, der ganz im Sinne Levi-Strauss’ eben gar kein Zentrum ist, da jede Relektüre des Mythos eme Variante ohne Onginal sein muß und es gar keinen Ursprungsmythos geben kann: Hier unter dem Schatten des großen Ahorn, hier, wo ein Hahnenruf, ein Grillenzir¬ pen, das Rauschen des kleinen Baches die Welt bedeuten, erscheint, diese dreitägige Reise schon wie ein Traum. (EGB 595)

Der Text setzt unmittelbar em mit emer Geste des Erinnems, dem Erzähler erschemt die Reise bereits jetzt „wie ein Traum“ - der Beginn der Transformation des Erlebten, die Traumarbeit’ ist somit gleich mit dem Beginn des Textes zu setzen. Zugleich ist mit dem locus amoenus als Mikrostruktur des Erlebten das Motiv des Wassers angeschlagen und der Gleichnischarakter des Textes herausgestellt: Baum, Tiere und Wasser ‘bedeuten’ die Welt, sind Abbreviatur ihres Gesamt-Sinnes. Eine Vergleichsstruktur wird gleich zu Anfang der Reiseschilderung dem eigentlichen Erlebnis ‘übergestülpt’, der Text thematisiert explizit den Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Erinnerung, Traum und Wirklichkeit: Und doch war sie wirklich: so wirklich wie ein Gang zum Brunnen, ein Niederbeu¬ gen, das Löschen eines tiefen Durstes in eiskaltem, felsentsprungenem Wasser; so wirklich wie ein Verlangen nach Früchten, nach kernigweichen, innerlich kühlen, duftigen, flaumumhüllen Früchten, ein Anlegen der Leiter, ein Hinaufsteigen, ein Pflücken, ein Genießen, ein Schlummern in der Krone des Baumes. (EGB 596)

Topographien des Ennnerns in Sommerreise (1903)

247

Die insistierende Betonung des ‘Wirklichen’ verrät unmittelbar die Zweifel des Erzählen¬ den, dem die eigenen Reiseennnerungen zu etwas Traumhaften geworden zu sein scheinen, und zugleich wird der Wirklichkeitsbegriff hier ausgeweitet, um auch imaginiertes, subjektiv Erinnertes und nur für wirklich Gehaltenes zu umfassen. Mit dem Feld aus Vergleichen wird zudem die Motiv-Struktur des gesamten Textes vorweggenommen: das Bild des Brunnens und Dursdöschens verweist nicht nur auf das Concert Champetre voraus, sondern wiederholt das durchgängige Motiv des Wassers, dessen Weg aus dem Fels schließlich in die Weite des Meeres fuhren wird; das Bild der Leiter und des Hinaufkletterns verweist nicht nur auf die Rotonda, sondern nimmt auch das Moment des Bergsteigens und der Jakobsleiter vorweg. Das Genießen der Früchte schlägt den erotischen Ton an, der gleichfalls den gesamten Text und insbesondere die Schilderung der Giorgionesken Brunnenszene prägt. Raum wird so zu einem bedeutungsgeladenen Element, und der sich anschließende Text wird die ser topographischen Division von ‘oben’ und ‘unten’, ‘nah’ und ‘fern’ folgen. Mit diesem einmaligen Anschlägen der zentralen Themen und Motive begnügt sich Hofmannsthal/der Erzähler jedoch nicht; an die Eingangssequenz schließt sich ein erster Rückblick, der das Erlebnis der Reise vor den Fhntergrund des am Vorabend dieser Reise Erlebten stellt. Ganz im Sinne von Freuds Einbettung bedeutungsgeladener Träume in den Kontext der Erfahrungen unmittelbar vorhergehender Tage (oder ferner Kindheitserleb¬ nisse) wird der Charakter des ‘Reisetraums’ so als von der ‘Stimmung’ des Vorabends geprägt dargestellt. Bereits diese Landschaftsbeschreibung schlägt den Ton verhüllten erotischen Begehrens an:41 Es mußte ein Abend vorhergehen, ein wundervoller Vorabend: jener eine Abend, der in jedem Jahre einmal kommt, früher oder später, jener einzige Abend, an welchem die Fülle des Sommers auf einmal da ist; die Sonne ist längst gesunken, doch steht noch immer im Westen ein Abgrund von Licht; drüber entzündet sich wie eine Fackel der Abendstern; die Berge, die dunklen Schluchten zwischen den Bergen glühen von innerem purpurblauen Feuer; ein unsäglich leichter Hauch geht wie ein Atem von Baum zu Baum; manchmal schleift er lüstern an dem Boden hin, ergreift ein frischgesponnenes Laken, das da zum Bleichen liegt, und bläht es wie ein Segel; dann schwillt vor innerer Kraft das Wasser in den Brunnentrögen, wie droben die Sterne überschwellen vor Glanz; stärker gurgelt es in den hölzernen Röhren, verlangender rauscht es aus dem Felsenspalt hervor, wundervoller braust der ferne Wassersturz, als drängte es den dunklen Berg, die starre Wand, ihr Innerstes hinzugeben [...]. (EGB 595)

Das Begehren bezeugt sich in seiner Verlegung in den Bereich einer anthropomorphisierten Natur „weniger auf der inhaltlichen als auf der sprachlich-ästhetischen, der Ebene der Bilderkombination, der Phrasierung und der Satzbildung einschließlich ihrer möglicherweise feststellbaren Mängel.“42 Der überlange, kompliziert strukturierte Satz bezeugt das Anschwellen und den schließlichen Abbruch des Begehrens, während das erzählende Ich aus dem Text verschwindet. Die Verben smd stark dynamisch: „glühen“, „blähen“, „schwellen“, „rauschen“, „brausen“, „drängen“ und betonen die Potenz dei Naturkräfte.43 Die Urkraft des Wassers mündet gleichwohl in von Menschen geschaffenen

41 Vgl. Götz, S. 46f. 42 Waltraut Wiethölter, S. 141. 43 David Wellbery, S. 313, 322. Auch Renner, S. 302.

248

5.1 „Fern und nah, dies selige Spiegeln“

und genut2ten Brunnentrögen, der Abendstern erscheint als Fackel, der Hauch bläht ein Laken zum Segel und gemahnt so an die Nutzbarmachung der Naturkräfte für die Seefahrt. Vom Dionysischen seines Ursprungs in den Bergen bis zur domestizierten Nutzbarma¬ chung dieser Urkraft m den gefaßten Brunnen und Teichen hin zur Auflösung und Aufhebung in der Ganzheit des Meeres bezeugt der Lauf des Wassers den Verlauf der Menschheitsgeschichte: von einer mythischen Urordnung über eme zivilisierte menschliche Ordnung hin zur Aufhebung der Differenz von Natur und Kultur im Meer.44 Der Weg von oben (den Bergen) nach ‘unten’ (ins Tal) ist somit zum einen der Weg von der Natur zur Kultur, der Weg von der aufgestauten Tnebenergie zu ihrer Endadung und schließlich der Weg zur Synthesis beider Momente in der Kunst des vorliegenden Textes selbst. Feuer, Wasser, Luft und Erde verbinden sich hier zu einem festlichen Moment aller Elemente, eine Bewegung, die durch die aneinandergereihten Komparative „stärker“, „verlangender“, „wundervoller“ noch an Intensität gewinnt. Das Streben oder Begehren des hier ausgesparten Subjekts ist somit vollkommen in die Elemente der Natur aufgelöst, nicht dieses Subjekt ist „lüstern“, sondern der Wind, das Anschwellen der Lust ist verlegt auf das sich blähende Laken, die überschwellenden Sterne, das drängende Wasser, Sehnsucht nach Hingabe scheint im Stürzen des Wassers aufzugehen — Freud hätte an diesem Arsenal von Verschiebungen erotischen Begehrens m Natur-Bilder seine Freude gehabt. Die Vermischung von menschlicher und natürlicher Ebene zeigt sich, wenn der Drang des Wassers mit dem des Reisenden, der Ebene zu, korreliert wird: „noch treibt ein sanfter, nicht völlig gestillter Drang die Reise der Ebene zu“ (EGB 601). Fast unmerklich gleitet die Beschreibung der Landschaft in die einer pastoralen Menschenwelt über, wobei die Menschen jedoch Objekte smd und gleichsam wie die Staffage auf Bildern erscheinen: Wanderern gleichen die Bündel Heu, hingesunkenen Ermüdeten, Stehenden, am Pilgerstabe erstarrt, schlafend in der Gebärde des Wanderns; und jeder Schatten der Nacht, dort am Waldrand, da auf dem Altan, jeder gleicht einem Wanderer, der sich hinließ, in den Mantel gewickelt, mit dem ersten Frühstrahl leicht aufzuspnngen, mit dem ersten Schritt weiterzuwandern. (EGB 595f)

Mit diesem Tableau einer in eme Art von T)ornröschenschlaf versetzten Ansammlung von Wanderern (die zudem nur Vergleichsobjekt für die tatsächlich daliegenden Bündel Heu darstellen) wird der Rahmen für die sich anschließende traumhafte Reiseennnerung gesetzt: die sich bildhaft gruppierenden Figuren smd gleichsam in der Gebärde des Wanderns erstarrt, schweben in jenem Zwischenzustand zwischen Wachen und Träumen, der bei Hofmannsthal so oft der eigentlich kreative Zustand ist und hier den Beginn der Reiseerzählung markiert. Das Bild der Heubündel kündigt dabei die Verbindung von Natur und Kultur im Mythischen an, die das „Erzählziel der Sommerreise präludiert: das aus der sensomotorischen Wahrnehmung (der ‘Natur’) gewonnene Erleben wird im ‘Gleichnis’ der Kunst bedeutungsvolles Ereignis.“41 Die Reiseerzählung ist somit paradigmatisch für Hofmannsthals Technik einer „Konstruktion von Bildern und Räumen als Signifikanten für Zeit“.46 Ausgehend von emer limmalen Situation des Übergangs von Wachen m Schlaf,

41 Vgl. Renner, S. 302f: „Auf einer vertikal-diachronen Ebene entspricht ihr der Wandel von einer mvthisch-’ursprünglichen’ Ordnung über eine kulturell-zivilisatorische bis hin zur schließlichen Restaunerung. Das Wasser erscheint als eine Metapher, die Weltzeit verräumlicht und zugleich den Verlauf (‘Fluß’) der Zeit bezeichnet.“ 4:’ Renner: Die Zauberschrift der Bilder. S. 302. 46 Renner, S. 303.

Topographien des Erinnerns in Sommermse (1903)

249

Wirklichkeit in Traum wird der Verlauf der histonschen Epochen in einer zur Traumland¬ schaft verinnerlichten Natur verräumlicht, der Verlauf des Wassers von Oben nach Unten den zeitlichen Dimensionen verschiedener Kunstepochen anverwandelt. Bergsons Definition der gegenwärtigen Wahrnehmung als Ausdehnung einer duree im Moment einer subjektiven Wahrnehmung des Sicherstreckens der Vergangenheit in die Gegenwart macht Bewegung — hier die Bewegung des Wassers wie des Reisenden — als qualitativ einheitliche Dauer erfahrbar, die nicht in statische Abschnitte unterteilbar ist, sondern als „dynamischer Prozeß“ die Totalität einer Wahrnehmung sämtlicher Zeitekstasen begründet. Dauer ist somit „eine ununterschiedene oder qualitative Mannigfaltigkeit.“4' Im Bruch mit der traditionellen Raummetaphorik der Zeit bietet Bergson somit die Möglichkeit, das Vergehen der Zeit nicht mehr als fixiertes Bild einer Linie oder eines Kreises zu denken, sondern als Prozessualität, die in jedem (nicht zu fixierenden) Moment das Ganze ihrer Entwicklung enthält. Literansches Erzählen ist immer temporalisiert; Versuche, Augenblicksepiphanien festzuhalten, müssen scheitern, wenn nicht eine solche Präsenzmetaphysik durch die Eröffnung der Statik der Erzählzeit auf den Horizont des Erinnerns eröffnet wird. „Das erinnernde Schreiben bewirkt eine nicht einheitliche Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart, die den Einbruch der Vergangenheit in die Gegenwart des Schreibens erlaubt.“48 Geschichte und Mythos dienen der Verarbeitung des Gesehenen, das ohne diese vorgeprägten Muster nur em loses Chaos von Eindrücken bliebe, Wahrnehmung erfolgt nach Maßgabe des kulturellen Gedächt¬ nisses: Den nächsten Morgen begann die dreitägige Reise. Ihr Weg war mit dem abwärtsrauschenden Wasser. Ihr Ziel war das Land des Sommers, da unten. Irgend ein Hügel, festlicher als alle gekrönt mit üppigen Gewinden rankender Reben zwischen Ulme und Ulme irgendein Weiher, eingesetzt wie ein purpurspielender Edelstein in das Grüne eines Hügels; irgend ein Kastell, aus dessen braunroten Trümmern die breitblättrige Feige wächst und der schattenhafte Ölbaum; irgend ein Dickicht, durch dessen Stämme eine wundervolle Nacktheit zu schimmern scheint, dessen Ranken noch schaukeln vom Flüchten feuchter, leuchtender, göttlicher Wesen. (EGB 596)

Der durch den Tempuswechsel ms Prätentum scheinbar ‘realistische’ Emsatz der Reiseerzählung wandelt sich zunehmend in eine Vermischung aus Gegenwart, Geschichte und Mythologie. Die antike stock metaphor für die sexuelle Vereinigung - die sich um die Ulme rankende ‘üppige’ Rebe - sowie Feige und Ölbaum, schließlich das Dickicht, durch das die ‘Nacktheit’ von Nymphen, die vor Faunen, Satyren oder Göttern flüchten, hindurch schimmert, gemahnen an eine Poussinsche oder Böcklmsche Phantasie und nicht an em wirkliches Erlebnis. Lediglich die Trümmer’ emes Kastells lassen eme historische Perspektivierung zu und situieren diesen Text m der Gegenwart. Nicht eme individuelle Naturerfahrung soll geschildert werden, sondern eme „Landschaft der Seele“, bei der sich Innen und Außen nicht mehr trennen lassen, das Ich vollkommen m die Landschaft aufgelöst ist. Die Natur wird nach mythischen Vorbildern erfaßt und die Menschenwelt mit vorzeitlichen Elementen m Verbindung gebracht: die wassertragenden Frauen der Gegenwart tragen „das antike Joch“ (EGB 596). Die Vergangenheit der Städte Venetiens

47 Bergson: Zeit und Freiheit, S. 93 bzw. 81. 48 Pethes, S. 71.

5.1 „Fern und nah, dies selige Spiegeln“

250

wird in assoziativen Episoden erinnert und prägt die Beschreibung des Gegenwärtigen, es scheint ungebrochene Kontinuität in den alltäglichen Lebensvornchtungen zu herrschen: [...] jede trägt auf der Schulter das antike Joch mit zwei bauchigen, blitzenden, kupfernen Becken. Und wie sie die Becken unter dem Brunnen füllen und tönend das Wasser hineinfällt, so kommen die beiden wieder zusammen, die beieinander im dunkelsten Schoß des Berges schliefen, das Wasser und das Erz. (EGB 596)

Von den Brücken, die das „schäumende Wasser“ überspringen heißt es, „sie sind Menschenwerk, aber es ist, als hätte die Natur sie zurückgenommen; es ist, als wären sie aus der Flanke des Berges herausgewachsen“ (EGB 596f) — Natur und Kultur sind so in ihrer historischen ‘Gewachsenheit’ nicht mehr unterscheidbar. Zugleich gibt es keme Differenz zwischen temporalen und ewigen Dingen; durch die Verbindung aller Dinge mit allem ist Werden und Vergehen als ewiger Prozeß zugleich die Ewigkeit des Vergehenden. Mit emem erneuten Sprung ms Präsens wird die ‘ewige Gegenwart’ dieser Landschaft sinnfällig gemacht: Und wie in Schlucht die Schluchten münden und in das Wasser die Wässer sich stürzen und Pfad und Brücke die Dörfer verknüpfen und Steige hinabführen von der Hütte des Ziegenhirten, neben dem der Adler horstet, zu der Mühle unten, die im ewigen Wassersturz steht und feucht und grün überwuchert ist, und der Wind Glockenklang heraufträgt und Glockenklang herab und von drüben und von jenseits: so fühlst du, es ist mehr als ein Tal, es ist ein Land, und seine Schönheit gleicht der Schönheit jener nahen großen Wolke drüben [...] (EGB 597)

Ein Element mündet ins andere, löst sich in diesem auf, so daß alles vergänglich und ewig zugleich ist, da alles weiterlebt im anderen. Zugleich ‘spiegelt’ sich eins im anderen, das Tal ist Abbreviatur eines ganzen Landes und zugleich Spiegel der Schönheit der Natur, wie sie sich in der Wolke bezeugt. Im Übergang von der Berglandschaft ins Tal kommt es zudem zur Wiederkehr zweier Leitmotive aus der Rahmenhandlung des Vorabends: der in seinen Mantel gehüllte Wanderer als Metapher für die Heubündel oder „Schatten der Nacht’“ (EGB 595) taucht nun als Vergleichsobjekt für die sich in Falten ins Tal ergießende Landschaft auf: die Städte Venedig, Vicenza und Verona sind die „Spangen im Saum diese Mantels“ (EGB 597). Auch der ‘Altan’, auf dem sich der imaginierte Wanderer befand, taucht nun wieder auf, um die Position des Betrachters oberhalb der langgestreckten Ebene zu bestimmen: „Und dieses Land ist nur wie ein Altan, der hinabsieht auf das andere Land, auf das Land, das die Venezianer, von den Palästen ihrer tntomschen Stadt wie von hohen Schiffen hinüberblickend, ‘das feste Land’ nannten, auf das Land, das wie ein Mantel von den Hüften der Alpen mederschleift bis ans Meer (EGB 597). Strukturelle Ähnlichkeiten sind somit übergreifend, werden ungeachtet ihres realen oder imaginären Charakters, als Natur oder Kulturprodukt gleichermaßen zur Beschreibung des Gesehenen herangezogen. Dieses Vergleichsverfahren erreicht im folgenden Abschnitt seinen Höhepunkt, der die Addition von zahlreichen wie-Vergleichen darstellt, die der Beschreibung der Landschaft diesen sollen: Königlich ist diese Landschaft mit ihren Städten. Wie ein Gewimmel ists hinter einem und um einen, wie ein Lagern von großen Herren zu einem Kriegszug oder einer wundervollen Jagd hier zwischen den Bergen und dem Meer. Wie große Herren, die ihren Namen ausrufen, ihre Leute um sich zu sammeln, wie große Herren, die nach einer siegreichen Schlacht auf den Hügel stampfen und ihren ritterlichen Namen in die Luft schmettern, so rufen diese Städte immerfort ihren Namen durch die Sommerabendluft. Über jeder dieser Städte bläht sich ihr Name

Topographien des Erinnerns in Sommerreise (1903)

251

wie ein gelb und purpurnes Segel, wie eine gebauschte Fahne: und jeder dieser Namen ist zugleich der Name eines großen Malers. (EGB 597f, Hervorhebung von mir, H.G.)

Bezeichnenderweise basieren auch diese abschließenden Vergleiche auf einem bereits früher verwendeten Motiv: Der lüsterne Wind bewegt in der Einleitung ein „frisch¬ gesponnenes Laken, das da zum Bleichen liegt, und bläht es wie ein Segel“, und auch die Farbmotivik ist leitmotivisch verwendet, die „Schluchten zwischen den Bergen glühen von innerem purpurblauen Feuer“ (EGB 595), oder aber jener Weiher ist wie ein „purpur¬ spielender Edelstein“ in das Grün des Hügels eingesetzt (EGB 596) — nun geht die Farbe Purpur auf das Bild des Segels selbst über. Zwei neue Themen werden in diesem Übergangsabschnitt zudem angeschlagen, die sich für das Folgende als zentral erweisen werden: Malerei und Krieg, beziehungsweise ‘große Herren’ und ihre männlichen Betätigungen und die Verbindung von Landschaften und Städten mit einer spezifischen Kunst. Die Städte sind nicht nur ‘königliche’ Elemente in der Landschaft, sondern „jeder dieser Namen ist zugleich der Name eines großen Malers“: Paolo Veronese, und Pordenone, und Bassano; Giovanni da Udine, und Cima di Conegliano, und Morto di Feltre, und Bordone von Treviso, Pellegrino di San Daniele: wo wohnt in jeder dieser halbzerbrochenen Städte ein Ruhm wie eine leuchtende, nackte Dryade im Strunk des halbvermorschten Baumes. (EGB 598)

Erneut wird hier zurückgegnffen auf Motive mythischer Lebendigkeit im abgestorbenen, morschen Raum der Geschichte: wie im eingangs geschilderten „Land des Sommers“ bei den „Trümmern“ des Kastells die „Nacktheit“ „leuchtender, göttlicher Wesen“ durch das Dickicht lugte (EGB 596), so wird hier das mythische Wesen der Baumnymphe als Sinnbild für das innere Leben dieser äußerlich verfallenen Städte herangezogen - erneut bilden Vergänglichkeit und Ewigkeit keinen Gegensatz, sondern Schemen einander zu bedingen, ja zu ergänzen: die Rücknahme der Kulturlandschaft durch die Natur ist 'Bestätigung der ‘Natürlichkeit’ dieser Kunst und Architektur, es herrscht gerade keine feindliche Opposition, geschweige denn eine Bedrohung des emen durch das andere. Da der gesamte Abschnitt weiterhin im Präsens gehalten ist, werden die Maler des Cinquecen¬ to m ihrer Verbindung mit den Orten der noch existierenden Städte zu Momenten emer bis in die Gegenwart fortlebenden Vergangenheit. Die sich hier bereits ankündigende Vermischung von Landschaft und Kunstrezeption ist von Walter Pater als grundlegender Faktor bei der Wahrnehmung von (Kunst-) Landschaften beschrieben worden: „[...] Perugia, centre of the dreamiest Apennine scenery. Ist various elements (one hardly knows whether one is thinking of Italian nature or of Raphael’s art m recountmg them), the nchly-planted lowlands, the sensitive atmosphere, the romantic morseis of architecture, which lend to the enüre scene I know not what expression of reposeful antiquity, arrange themselves here as for set purpose of pictonal effect and have gone with little change mto his painted back-grounds.“49 Naturwahr¬ nehmung geschieht - nicht zuletzt im Zeitalter des Histonsmus - durch die Brille emer von den Bildern zahlreicher Maler produzierten Vorstellung emer Kunsdandschaft. Erneut überhäuft Hofmannsthal die Schilderung der Städte durch die Aneinanderreihung von möglichen Vergleichen:

49 Walter Pater: Raphael. In: Miscellaneous Studies (1895). 2. Aufl. London. 1904. S. 41 f. Den Hinweis verdanke ich Renner, S. 305.

5.1 „Fern und nah, dies selige Spiegeln“

252

Oder die Städte haben sich in den Ruhm ihrer großen Söhne gehüllt wie in einen farbigen Mantel und sich hingestreckt an den Hügeln und über den Flüssen, und als ein halb lebendiges, halb im Schlummer erstarrtes Wesen lagern sie da, starrend in Waffen, oder wie ein Hirt, oder wie ein reicher lässiger Reisender, den auf der Jagd der Schlummer überwältigt. (EGB 598)

Wiederaufnahme des Mantelmotivs - jetzt aber als Bild für den „Ruhm“, den diese Künsder über ihre Städte gebracht haben — und das Tableau sich im Halbschlaf hinlagernder Krieger, Jäger Hirten oder Reisender verdichten die Motive von Schlaf, Traum und der ‘Wesenhaftigkeit’ der anthropomorphisierten Natur- und Kulturwelt. Der beschriebene Gegenstand (Städte) verschwindet dabei gleichsam unter der copia der Beschreibungsversuche, ja die Vergleiche ersetzen diesen geradezu. Daran schließt sich ein erneuter Rückbezug auf den Weg des Wassers an; war dieses noch ‘wild’ m den Bergen, so umfließt es nun „beruhigt Kirche und Kastell, spiegelt die zerfallenen Mauern und wird im ‘friedlichen Weiher’ und dem ‘marmorgefaßten Teich’ zur Spiegelfläche der sich darüber erstreckenden Wolke, „die sich vom feuchten Hauch der blauen Riesenberge nährt“: Mit den Statuen, mit den Baikonen der Villa spiegelt der Teich von unten her das Gebälk, das die offene Halle bedeckt: und diese Balken waren Bäume, und wo der Teich als Quell war, dort waren sie als Lebendige, mit Wipfeln, die stärker rauschten als unter ihren Wurzeln hervor das flinke Wasser. So schmilzt hier, erst hier, der starke Drang der Berge in selige Ruhe. (EGB 598)

‘Apollinische’ Beruhigung der dionysischen Natur wird hier im Kulturraum menschlicher Nutzbarmachung der Natur erreicht; noch in den Balken, die der Teich spiegelt, bezeugt sich jedoch ihr Ursprung als ‘lebendige’ Bäume aus den umliegenden Bergwäldern. Diese ‘selige Ruhe’ der domestizierten Natur ist es nun, die beim Erzähler eine kunstgeschicht¬ liche Assoziation auslöst. Mit einem Verweis auf Giorgione gleitet die Landschafts¬ beschreibung unmerklich über m die Schilderung emes Kunstwerkes, nämlich Tizian^ beziehungsweise Giorgiones Gemälde Concerto Campestre-, Muß hier nicht Giorgione geboren sein? Er, der dies Fern und Nah, dies selige Spiegeln, dies Hinüberschauen zu den Bergen, dies Rasten auf dem letzten Hügel in sich sog und eine Bezauberung daraus schuf, die keinen Namen hat. Der vier oder fünf Gestalten auf den weichen Rücken eines solchen Hügels hinlagerte, und alle tun sie nichts anderes, als die unsägliche Süßigkeit dieser Landschaft auskosten, aussaugen wie eine Frucht diese süße Vermischung von Weite und Nähe, von Dunkel und Helle, von Tag und Traum (EGB 598f)

Über den Akt einer Verinnerlichung (‘in sich sog’) und der “Vermischung’ der Kategonen von Nähe und Ferne, Wirklichkeit und Traum kann der Künstler Giorgione die wahrgenommene Landschaft in eine Kunstlandschaft seiner Bilder verwandeln. Rezipiertes produktiv zu Kunst werden lassen. Das Chiaroscuro von „Dunkel und Helle“ ist dabei zugleich stets ein ‘seliges Spiegeln’, hier nicht mehr durch das Wasser, sondern den menschlichen Blicktausch mit der ihn umgebenden Landschaft. Der Giorgione-Kult der Jahrhundertwende, ausgelöst und genährt nicht zuletzt von Walter Paters Darstellung in semem 1872 erschienenen Essay The Schoo!of Giorgione, hatte auch Hofmannsthal ergriffen, wie aus einem Schreiben an seinen Freund Andrian hervorgeht, als er diesem eine Reproduktion des Gemäldes über das händliche Kongert schickt: Das Konzert im Freien von Giorgione und der Eroberer oder Abenteurer von Böcklin sollen jenes so im Leben so verstreute, kaum jemals greifbare Element

Topographien des Erinnerns in Sommerreise (1903)

253

vertreten, das ‘Genuß’ heißt und kaum hie und da aufblitzt, für uns, in unserem Leben nie so konzentriert wie für diese Musizierenden, für diesen einsam Reitenden —, aber doch auch für uns manchmal so im Freien gelagert, gesellig und manchmal so einsam einen fremden Strand erklimmend.10

‘Genuß’ stellt offenkundig auch ein zentrales Thema der Sommerreise dar. Nicht nur der Maler selbst „saugt“ das „Selige Spiegeln“ der Landschaft in sich auf, auch seine Gestalten wollen „die unsägliche Süßigkeit dieser Landschaft auskosten, aussaugen wie eine Frucht“ — was auf den Eingang des Textes zurückverweist, wo vom „Verlangen nach Früchten, nach kemigweichen, innerlich kühlen, duftigen, flaumumhüllten Früchten“ die Rede war (EGB 595). Das dortige Verlangen erfüllt sich hier im tatsächlichen Genuß, welcher jedoch bezeichnenderweise der Genuß fiktiver Figuren auf emem Bild und nicht der des ja weitgehend ausgesparten Erzählersubjekts ist. Im Geflecht aus träumerischer Landschafts¬ beschreibung, kunstgeschichtlicher Reflexion und Wiedergabe des Bildes von Giorgione nimmt Paters Essay über die ‘Schule des Giorgione’ einen wichtigen Raum ein. So hatte schon Pater die zentrale Stellung von Musik und Wasser in diesem Gemälde hervor¬ gehoben und nicht zuletzt auf der Grundlage der Kunst Giorgiones und speziell unter Bezug auf das ihm zugeschnebene Concerto Campestre seine berühmte These vom Streben einer jeden Kunst nach dem Zustand der Musik entwickelt, die eine ganze Generation beeinflussen sollte.3' Der Klang der Musik tntt dabei dem Rauschen fließenden Wassers an die Seite, ja das W’assermotiv erfüllt sich letztlich im Musikalischen, im Klang, wenn Pater über Giorgiones Bild sagt: [...] and in the school of Giorgione, the presence of water - the well, or marblerimmed pool, the drawing or pouring of water, as the woman pours it from a pitcher with her jewelled hand in the Fete Champeter, listening, perhaps to the cool sound as it falls, bient with the music of the pipes - is as characteristic, and almost as suggestive, as that of music itselfV

Das Ländliche Konpert stellt eine Gruppe von zwei unbekleideten Frauen und zwei bekleideten Männern dar, die um einen Brunnen gruppiert sind. Von den Frauen spielt die eine die Flöte, und die andere beugt sich im Stehen über einen Brunnenrand, um Wasser zu schöpfen, während einer der Männer die Laute spielt. Das Brunnenmotiv, das hier im Zentrum steht, prägt Hofmannsthals gesamten Text, wobei er unter Bezug auf Pater alle Vananten auf anderen Bildern der Schule Giorgiones - „the well, or marble-nmmed pool, the drawing or pounng of water“ - miteinbezieht. Den Hintergrund bildet eine sich zu einem ländlichen Anwesenden hm öffnende hügelige Landschaft, aus der sich im Hintergrund ein Hirt mit seiner Herde nähert.33 Hofmannsthal kombiniert m seiner

50 BW Andnan 159f. 51 Pater bezeichnet Musik hier als „prominent subject“. 5- Walter Pater: The Renaissance. Studies in Art and Poetry. Oxford 1986. S. 96f. Siehe dazu auch die Ausführungen von Götz Pochat über die ästhetischen Vorstellungen der Renaissance: „Die Synästhesie, d.h. der analoge Zusammenhang zwischen Dichtkunst, Musik und Malerei ist [...] wichtiger Bestandteil der humanistischen Kunsttheone [...]. Gerade die Abwesenheit einer klar ausgesprochenen histona, die Vasari bei Giorgione geärgert hat, enthüllt jene Absicht des Malers, dem Augenblick der Wahrnehmung selbst, die Übertragung der Stimmung im Gemälde auf den Seelenzustand des Betrachters zum eigentlichen Gegenstand zu erheben.“ Pochat: Figur und Landschaft. S. 424f. 33 Dazu Renner, S. 308-312. Gleich dem Verzehren von Früchten wird die Landschaft durch die Augen in den Betrachter aufgenommen.

5.1 „Fern und nah, dies selige Spiegeln“

254

Bildbeschreibung (die sich zudem von einer Landschaftsbeschreibung kaum abhebt), die Konstellation von „vier oder fünf* (EGB 599) Gestalten nackter Frauen „auf dem feuchtkühlen stemernden Brunnenrand“ und den daneben gelagerten bekleideten Männern m Giorgiones Concerto Campestre (um 1510, inzwischen eher dem frühen Tizian zu¬ geschrieben) mit Tizians Amor Sacro eprofano (1515).54 Tizians Bild ‘zitiert’ mit den auf einem Brunnenrand lagernden Frauen das Concerto Campestre, begrenzt die Figurenkonstellation jedoch auf eine nackte und eine bekleidete Frauengestalt, sowie einen mit dem Wasser spielenden Amor im Hintergrund. Bei Hofmannsthal verweilt der Erzähler zunächst bei den Frauen, die er zu unmittelbar mit der Natur verbundenen, rem körperlichen Existenzen macht: Die Frauen haben die Kleider abgeworfen auf das Gras und geben den nackten Leib dem doppelten Atem der Luft hin, der kühl und schattenahnend sie zu den Bergen hinsaugen will, und lau und üppig von der Ebene an ihnen hinaufspielt. Aber ihre nackten Füße fühlen durch Gras und Blumen hindurch den feuchten kühlen Erdengrund, fühlen das Glück des Wurzeins in der Erde; und die Frauen beugen sich über den steinernen Brunnen, winden den Eimer aus feuchtem Schacht empor, als wollten sie dem Grund sein seliges dunkles Geheimnis so entwinden; aber was sie emporbringen, ist nur klares Wasser; doch sie werden es trinken, werden es kühl durch die Glieder rieseln fühlen, etwas von der Lust der Nymphe fühlen, die drunten sich im Kühlen wälzt. (EGB 599)

Erdnähe, offene ‘Hingabe' an die laue Luft und doch unbewußte Erotik m einer mythischen Urverbundenheit mit den Kräften der Natur, sowie Freiheit von jeder zivilisatorischen Scham prägen diese Frauengestalten. Passivität liegt in der Übertragung des ‘Saugens’ der Luft auf die Berge, zu denen sie hingezogen werden. Zur ‘Tiefe’ hm geht ihr Streben, zu einer Yerwachsenheit mit dem ‘feuchten kühlen Erdengrund’, der in sich die Dunkelheit des Begehrens, aber auch die Kühle und Klarheit des Wassers miteinander verbindet. Wie die Wurzeln der Bäume bilden diese nymphenartigen Frauen mit der Erde eine Einheit. Dieser Natürlichkeit und archaischen Sinnlichkeit der Frauen stehen die bekleideten, von der lockenden Körperlichkeit wegstrebenden Männergestalten gegenüber.” Der Blick des Mannes mit der „Feder von der Brust des Adlers“ auf dem

M Vgl. Werner Yortriede: Das schöpfensche Auge. Zu Hofmannsthals Beschreibung eines Bildes von Giorgione. In: Monatshefte 48/1956, S.161-168. Yortnede verweist auf zahlreiche Abweichungen zwischen Hofmannsthals Text und den zu vermutenden ‘Bildvorlagen’. Wichtig scheint mir sein Hinweis, daß der Erzähler in Hofmannsthals Bildbeschreibung den Betrachter mit in die Szene einbezieht. Siehe auch Bärbel Götz: „Lange hat man sich mit der Benennung des ikonologischen Yorbildes begnügt, ohne die Abweichungen zu beachten. Doch daß die Yerwendung des Gemäldes im Reise-Essay viele Yeränderungen aufweist, liegt nicht daran, daß Hofmannsthal das Bild nur vage in Erinnerung wäre. Er läßt den Erzähler das Bild neu konzipieren, indem er ihn verschiedene Gemälde zusammenblenden (zumindest Giorgiones bzw. Tizians Concert Champetn und Tizians Amor sacro e profano), Zuordnungen verändern. Neues hinzuphantasieren, Btldelemente hervorheben und Sinneswahmehmungen vertauschen läßt; zugleich wird das Bild mit Bedeutung aufgeladen und in den Zusammenhang von Naturmythisierung und Lebensphüosophie gestellt.“ B. G.: Erinnerung schöner Tage. S. 54. ” Eine Ökonomie der Geschlechter, für die sich im Zeitraum um die Jahrhundertwende zahlreiche Zeugnisse anfuhren ließen. Stellvertretend sei hier Maurice Maeterlinck zitiert: „die Frau [...] steht Gott noch näher und gibt sich mit weniger Zurückhaltung der reinen Handlung des Mysteriums hin. [...] Sie bringt uns den Toren unseres Wesens wieder nahe. [...] Sie haben noch die göttlichen Wallungen der ersten Tage, und ihre Wurzeln tauchen viel unmittelbarer als die unseren in alles, was nie Grenzen hatte.“ Maeterlinck: Schatz der Armen. S. 43, 48. Ygl. Renner, S. 321.

Topographien des Ennnerns in Sommerreise (1903)

255

„smaragdgrünen Barett“ (EGB 599) schweift in die Ferne statt auf die nahen Frauenkör¬ per; statt in die Tiefe achtet sich sein Blick in die Höhe der Berge: Der mit dem schönen Barett blickt unverwandt nach jener blauen türmenden Ferne. Schöner ist ihm dieser Anblick als der nackte Leib der Frauen, die leicht und üppig sitzen auf dem feuchtkühlen steineren Brunnenrand. Süßer ist es ihm, das Gefühl dieser Feme auszukosten; wie aber kann er es, als indem er sich hinüberträumt unter die Schattenbuchten jener Wolke, indem er wähnt dort zu hängen zwischen Felsrand und Absturz, indem er wähnt der zu sein, der mit blutenden Füßen den Horst des Adlers beschlich, indem er mit den Augen jenes Andern, jenes Rauhen, jenes Armen hinüberzustarren wähnt aus jener blauen Ferne, herüber auf den sanften Hügel und auf ihn selber (...] (EGB 599f)

Das epiphanische Erlebnis der Natur wird hier zum Traum, die nur imaginierten Aktionen des Stehlens der Adlerfeder sind ununterscheidbar mit der ‘realen’ Situation des fiktiven Mannes auf dem Bild Giorgiones verbunden: „Day-dreaming and lmagimng ‘träumen’ und ‘wähnen’ engender an imaginary space m which the temporally diverse moments of taking the feather from the eagle’s nest and weanng the feather on one’s beret are framed in simultaneity.“*’ Der imaginierte Mann am Brunnen imaginiert den Jüngling am Berg, der die Feder erringt, und imaginiert sich als von dessen Blick erfaßtes Objekt in der Ferne — ein reziproker Prozeß von Spiegelungen, der jeden Anspruch auf Realität auf der einen, Imagination auf der anderen Seite in einen infiniten Regreß versetzt und so die Differenz zwischen beiden Seinsbereichen aufhebt. Der Betrachter wird zum Betrachteten nicht nur durch seme Existenz als Objekt einer Bildbeschreibung, sondern er wird zum Objekt seiner selbst, in der Reziprozität mit seinem imaginierten Doppelgänger. Noch komplexer wird dieser vielfache Spiegelungsprozeß durch die Tatsache einer früheren Erwähnung des Adlers im Text m der Beschreibung jener „Hütte des Ziegenhirten, neben dem der Adler horstet“ (EGB); durch die Wiederholung des Motivs marmorgefaßten Wassers, sowie des Farbmotivs im „smaragdgrünen Barett“ und der „Schattenbuchten jener Wolke“, welche bereits zweimal leitmotivisch im Text aufgetaucht waren (vgl. EGB 597,598). Der Erzähler assimiliert verschiedene Reisestationen, indem er sich mehrfach wiederholende Motive im Bild Giorgiones verdichtet, er „assimilates the two stations of the journey mto a single spatial present. The fusion of separate temporal moments accomplished here is emblematic for the text as a whole: the linear, chronological pattem of the journey is transformed mto a simultaneous order of cross-references m which the notions of begmning, middle and end lose their applicability.“57 Historische Spezifizität wird ausgeblendet, Giorgiones Bild wie auch die Architektur Palladios werden beide zu einer ‘natürlichen’ Epiphanie58, und sie stehen beide in einem Geflecht von Korrespondenzen, das zugleich Vergangenheit mit Gegenwart auf eme Ebene stellt.39 Neben dieser Verwischung der Grenzen zwischen den Zeitekstasen dient die leitmotivische Technik jedoch vor allem der Erzeugung emer assoziativen Grund Stimmung, die sich zwischen den Dichotomien Männlich-Weiblich,

56 Wellbery, S. 327. 57 Wellbery, S. 327. 58 Vgl. Wellbery', S. 328. 59 Wellbery, S. 328. Wellbery verweist auf Goethes Auf dem See als Hintergrund für die Schaffung eines imaginativen, ‘gespiegelten’ Erinnerungsraumes. Die Anspielungen auf dieses Gedicht bezeugen ferner einzelne Wortübemahmen, etwa „saugen“ und „Schattenbuchten“, sowie „türmende Feme“. Auch hier entsteht Kunst aus einer inneren Ordnung der Natur heraus und bewegt sich die Darstellung vom subjektiven Erlebnis hin zur Transformation von Natur ms Symbol.

5.1 „Fern und nah, dies selige Spiegeln“

256

Hoch-Tief, Nah-Fern, Natur-Kultur erfüllt. Spatiale Bezüge sind dabei immer auch semantische Bezüge, Räumen korrespondieren jeweils ganze ‘duster’ von assoziativ gefügten Bildfeldern und Aktionen, die eine spezifische Stimmung und Atmosphäre schaffen. Männliche Tapferkeit wird hier durch den Raub der Adlerfeder beschworen und setzt sich von der dekadent-weichlichen Frauenwelt ab, wobei der Adler, wie auch im Andreas-Roman, „den Bereich des männlich-aktiven, lustbetonten Schaffens, geistigen Wirkens, vitalen Bezwingern und gebieterischen Beherrschern“ repräsentiert.60 Die Opposition zwischen den unbekleideten Frauen und den bekleideten Männern verschärft sich durch die Wendung in die Ferne, während die Frauen sich über einen Brunnen beugen: „So genießt er die Ferne, wie die Frauen die Nähe genießen“ (EGB 600). Zugleich wird diese Dichotomie von männlich—tapfer—in die ferne-Höhe-strebend auf der einen Seite und weiblich—erotisch-in-die-Tiefe-strebend jedoch konterkariert: das mutige und entbehrungsreiche Beschleichen des Adlers unternimmt der mit einem modischen Barett bekleidete Jüngling eben nicht, der Blick des in den Bergen imaginierten Jünglings richtet sich [. . .] auf ihn selber, der üppig hier liegt neben dem marmornen Brunnen, neben dem Korb, dem Früchte entrollen, neben den Frauen, die aus ihren Gewändern glitten, lässig die Flaumfeder des Adlers auf smaragdgrünem Barett. So genießt er die Ferne, wie die Frauen die Nähe genießen. (EGB 599f)

So scheint es sich bei dem sich als waghalsigen Kletterer imaginierenden Jüngling eher um einen dandyhaften Decadent zu handeln, der sich wie die feinen Herren in Manets Dejeuner sur Pherbe der Gesellschaft sexuell freizügiger Damen erfreut und die Genüsse der Natur in Form von Früchten genießt — die Adlerfeder erscheint so als modisches Assessoire und wird wohl eher in einem Kaufladen als in den rauhen Bergen erworben worden sein. Feminine Weichheit, träumerische Passivität sind somit für beide Ge¬ schlechter bezeichnend.61 Die Männlichkeit des Mannes mit dem grünen Barett ist nur derivativ, geträumt und ausgelöst durch ein Bekleidungsstück, männliche ‘Lässigkeit’ basiert nicht auf einer eigenen Heldentat, diese wird nur in einem Tagtraum evoziert, in dem er in die Rolle des waghalsigen Federnräubers in den Bergen schlüpft, selber aber „üppig“ in der bequemen Fülle der Ebene neben nackten Frauen und Fruchtkörben liegt.62 Wichtig bei dieser Selbstimagination als Held in den Bergen ist die Vertauschung der Perspektive: so sieht sich der Mann mit dem Barett gewissermaßen von außen mit den Augen dessen, der von der Höhe der Berge auf die im Tal gelagerte Gruppe hinabblickt. Eben diese Vermischung von „Fern und nah, dies selige Spiegeln“ (EGB 598) scheint Thema einer nur über den Umweg der Kunst zum Genuß verklärte Landschaft zu sein. Während die Frauen gleichsam als ‘sie selbst’ das Glück ihres kreatürlichen Daseins genießen, muß der Mann im Wegstreben von sich selbst erst in der Verdoppelung seines selbst in einem imaginierten Gegenüber den Genuß finden. Der ‘Blicktausch’ zwischen dekadent hingelagertem modischen Jüngling auf der einen Seite und semem projiziertem

60 Wolfram Mauser: Büd und Gebärde in der Sprache Hofmannsthals. Wien 1961. S. 41. 61 Durch die Einführung einer fünften Gestalt wird der Betrachter mit ins Bild hineingenommen, ein Betrachter, der seinen Blick gerade nicht auf die nackten Frauengestalten im Bild, sondern „nach jener blauen türmenden Feme“ schweifen läßt. Vgl. Götz, S. 55. 6: Zur erotischen Symbolik der Früchte ließe sich auch Edouard Manets skandalträchtiges Bild des Dejeuner sur l’herbe anführen, das gleichfalls aus der Opposition zwischen nackten Frauen und bekleideten Männern seine Spannung gewinnt. Vgl. dazu Renner, S. 316f.

Topographien des Erinnerns in Sommerreise (1903)

257

anderen Ich, das die Adlerfeder unter qualvollen Entbehrungen und Gefahren selbst erobert, entspricht jenem Verfahren, mit dem Hofmannsthal, dem laut eingangs zitiertem Bnef jeder unmittelbare Genuß verschlossen bleibt, dieser über einen „sehr mühsamen Umweg,,6' doch noch zuteil werden kann/*4 Erfüllung, ja unmittelbaren Genuß scheint schließlich der Anblick eines ‘Lusthauses’ zu bieten: Da steht ein Lusthaus: es ist nichts als ein Altan, von Säulen getragen; es dient nur einer Lust, der Lust des Schauens nach jener blauen Ferne, nach den Riesenbergen, nach den Wolken, die der Hauch der Riesenberge nährt. Nichts als ein Altan, säulengetragenes Auge, dessen Wimper sich nicht schließt. (EGB 600)

Der männliche Blick wird hier zu einem ewigen Schauen in die Ferne, er ist zudem projiziert auf den von Säulen getragenen Altan, der sich auf die Landschaft hm öffnet. Wie die beiden früheren Verwendungen des Altan-Motivs (EGB 595, 597) steht das visuelle Moment im Zentrum, der Altan ist überlegene Position des Blickes: „Und dieses Land ist nur wie ein Altan, der hinabsieht auf das andere Land [...] (EGB 597). Hier ist ein Augenblick der Erfüllung jenes Begehrens gestaltet, das den Text von Beginn an spannte, ein Moment der Erlösung, der freilich erneut nur konjunktivisch gedacht ist. Bezeich¬ nenderweise handelt es sich bei dieser Projektion von Lust auf einen Ort jedoch erneut um einen Akt der Verschiebung, hier wird der männliche Blick erneut abgelenkt von der Nähe des weiblichen Körpers in die äthensche Ferne von Luft, Wolken und Bergen, ein Ablenkungsmanöver, das sich im folgenden sogleich ‘verrät’, insofern die Signifikanten des Altans ‘gleitend’ auf die Wahrnehmung der Frauen übergehen: Über das Geländer des Altans ist eine scharlachfarbene Decke gebreitet. Seligkeit des Ortes! Die Decke darf vergessen hangen, die Gewänder glitten auf den Rasen; zum Segel wird die Decke, leicht bläst sie der üppige Atem der Ebene, der kühle Hauch der Berge wühlt in ihr. So in den Kronen der drei Bäume, selig spielen sie mit der Last der Wipfel: wonach jene Frauen sich sehen, wonach jene Frauen den Eimer begierig hinablassen, sie haben es von selber, sie saugen es mit den Wurzeln in sich, das dunkle, geheimnisvolle Glück der Erde. (EGB 600)

Die „blaue Ferne“ weicht somit erneut einer um die Farbe Rot sich ansiedelnden Motivik: das Purpur stand bereits zuvor für Vertiefungen in der Landschaft: „die dunklen Schluchten zwischen den Bergen glühen von innerem purpurblauen Feuer“ (EGB 595), und em Weiher ist als „purpurspielender Edelstein in das Grüne eines Hügels“ eingesetzt (EGB 596). Die Farbe Rot rekurnert hier m einer scharlachroten Decke — wobei ‘Scharlach’ für den Bibelkenner die Farbe der weiblichen Verruchtheit (Babylon) repräsentiert. Zugleich wird im Bild der herabhängenden Decke das Mantelmotiv, der sich m Falten in die Ebene ‘ergießenden’ Landschaft angeschlagen. Von der lose her¬ abhängenden Decke gleitet der Assoziationsstrom mühelos über zu den nackten Frauen, „die aus ihren Gewändern glitten“ (EGB 600), von dort zum Motiv der sich wie ein Segel im Winde blähenden Decke - eineRerrttniszenz, die auf das Laken, das in der einleitenden Schilderung des Vorabends gleichfalls zum Segel sich blähte (EGB 595), und auf die Landschaftsbeschreibung - über den Städten „bläht sich ihr Name wie ein gelb und purpurnes Segel (EGB 598) - zurückverweist. Auch die Bäume werden hier wieder durch

63 B II 90. 64 Ganz ähnlich die Argumentation bei Renner, S. 317f: ,Als Urheber seiner eigenen Bilder selbst ins Bild zu kommen - dies ist das ‘selige Spiegeln’.“

5.1 „Fern und nah, dies selige Spiegeln“

258

ihren mythischen Kern, die Dryaden und die Nacktheit der Nymphen zu Assoziations¬ brücken, die auf die irdische Verwurzelung des weiblichen Geschlechtes verweisen. Das Motiv des durch die ihm innewohnende Dryade belebten Baumes und das Brunnenmotiv verbinden sich hier somit zum Signum erdverbundener, archaischer Weiblichkeit. Streben in die Ferne, der Blick in die Höhe ist somit metaphonscher „Umweg“ des Genusses der Erotik und Unmittelbarkeit der Frauen. Die Aufhebung des pnncipium indimduationis kann erst durch die Aufgabe des fokussierenden Blickes, durch die Öffnung nach allen Seiten in einer synästhetischen Verbindung aller Sinne gelingen, und nur sie macht hier das Moment des Glücks aus: Das Wunder dieses Ortes ist Einklang: Erde und Wolke, Feme und Nähe, Tag und Traum, hier sind sie eins: die Luft ist wie ein Becken, in das laudose Ströme von Freude rinnen. Wie selig muß der eine sein, wie vollgesogen mit reinem Glück des Daseins, der das Haupt zurückgelegt hat, den weichen Mund halboffen, den Bück ins Leere, und zuhört, wie der dritte im Schatten des Gebüsches die Laute spielt. Ein einfaches Lied, ein kleiner Akkord der Saiten, die vom Glück so gespannt sind: wie muß es in der Seele zerschmelzen, hinabschnellen in den Abgrund der Seele, wie ein Wölkchen zerschmilzt an der Flanke der Berge, die purpurblau von inneren Gluten leuchten. (EGB 600)

In der Aufhebung der Gesetze von Raum und Zeit erreichen Betrachter und Betrachtetes ein traumhaftes Einssein in der völligen Öffnung sowohl von Augen, Ohren und Mund des Daliegenden, wie des Altans, dessen „Wimper sich nicht schließt“.63 Tleines Glück des Daseins’ scheint sich hier in passiver Hingabe zu finden, der leere Blick bezeugt die Aufgabe des Strebens in die Feme, und Musik, das akustische Moment der Rezeption, tritt an die Stelle bewußter visueller Perzeption. ‘Einklang’ besteht hier somit auf der metaphorischen Ebene im Zusammenkommen sämtlicher Motive, die den vorhergehenden Text prägten, die vier Elemente Luft, Wasser, Feuer und Erde streben hier nicht mehr auseinander, sondern sie bilden ebenso eine Einheit wie die sonst streng geschiedenen Seinsbereiche von ‘Tag und Traum’, Fakt und Fiktion. Einklang ist aber auch die Aufhebung der Oppositionen zwischen Nähe und Ferne, Weiblichkeit und Männlichkeit im Aufzeigen der inneren Verbundenheit, ja Verwandtschaft aller Dinge mit allem, wie es das ‘Zerschmelzen’ der Wolke am Berg und die Verbindung der bislang in Opposition stehenden Farben zum ‘purpurblau’ der inneren Gluten der Berge bezeugen: das Wölkchen (Luft), die Gluten (Feuer), lautlose Ströme der Freude’ (Wasser) und Berge (Erde) werden hier eins. Dennoch ist der Text an dieser Stelle nicht beendet: „noch treibt ein sanfter, nicht völlig gestillter Drang die Reise der Ebene zu“ (EGB 601). Seine

Vollendung

und Erlösung findet dieser T)rang’ in der architektonischen

Verwirklichung eines Traumes: „Und er krönte den Hügel mit dem schönsten seiner Träume. Auf diesem Hügel baute Palladio die Rotonda“ (EGB 601). Das Thema eines nach allen Seiten geöffneten Bauwerkes (wie der Öffnung des Betrachters für alle Einflüsse, seines Wandels zum passiven Organ) wird fortgefuhrt in der Schilderung jener uml567 von Palladio in der Nähe von Vicenza erbauten Villa Rotonda, welche einen geometrisch-architektonischen Höhepunkt der Renaissance-Architektur darstellt:

65 Vgl. dazu eine Stelle aus Der Dichter und diese Zeit:: Der Dichter „ist nichts als Auge und Ohr und nimmt seine Farbe von den Dingen, auf denen er ruht. Er ist der Zuseher, [...] der laudose Bruder aller Dinge und das Wechseln seiner Farbe ist eine innige Qual. (...) Es ist als hätten seine Augen keine Lider.“ RA 167.

Topographien des Erinnems in Sommerreise (1903)

259

Sie ist nicht Haus, nicht Tempel, und ist beides zugleich. Sie ist ein einziger riesiger runder Saal, bedeckt von einer Kuppel, aus vier Toren mündend auf vier säulen¬ getragenen Vorhallen, die jede sich in einer Treppe nach außen ergießt. (EGB 601)

Die Perfektion dieses Gebäudes, die in der gelungenen Verbindung von Kreis, Kugel und Quadrat in exakter Symmetrie besteht, ist zugleich Symbol, sie überfuhrt „das ungeordnete Material des Lebens in den Zustand höherer Ordnung“.66 Auch hier stehen ‘Genuß’, ‘Lust’ im Vordergrund: „Zu solcher Lust scheint dieses Haus gebaut, als sei es nicht für sterbliche Menschen gebaut, sondern für Götter“ (EGB 601). Noch bedeutsamer ist dabei, daß auch hier die Entstehung wie die Rezeption dieses Kunstwerkes mit dem Traum in Verbindung gebracht werden: Wie Jacob von der Leiter, auf der die Engel in den Himmel stiegen, „so träumte dieser hier aus der Fülle seines Innern diesen übermenschlichen kuppelgekrönten Saal und diese Her Stiegen, königlich hinabsteigend, zu den vier Herrlichkeiten der großen Landschaft“ (EGB 602). Die Suprastruktur des vollkommenen Kunstwerkes dient dabei der Integration an sich disparater Einzelteile, eine Ordnung, die der rationalen Unterwer¬ fung der niederen Seiten der eigenen Psyche entspricht, welche in einer dionysischen Phantasie ihren Ausdruck finden, die sich als Psychogramm, als architektonische Verwirklichung des — 1903 freilich noch nicht völlig entwickelten — Freudschen ‘psy¬ chischen Apparates’ lesen ließe: Ein übermenschliches Hervortreten gebieten diese vier Treppen, den Bergen zugewandt, dem Meere, der Ebene und der Stadt. Ihr bloßer Anblick — gedemüdgt wie sie sind, öde, da und dort entblößt bis auf die Ziegel, der Eidechsen Aufenthalt — gebiert Träume. Furchtbar, wie sie nichts voneinander wissen, wie sie einander den Rücken wenden, diese vier Treppen, einander und dem dämmernden riesigen Saal. Zuoberst auf einer dürfte ein Krieger stehen, ein furchtbarer Gott der Zerstörung, und Flammenzeichen gehen hinab nach der Ebene, hinab nach der Stadt. Und auf der andern, dem Meere zu, dürfte übermenschliche Lust von Stufe zu Stufe taumeln, faunisch, ineinander hineingewühlt, mit trunkenen Händen, das Haar feucht von Küssen und Wein, der Saft zerquetschter Trauben zwischen Mund und Mund aufsprühend zu den Sternen. Und zu den Sternen, zum funkelnden Gürtel des Orion, zum schweigenden Schatten jener Riesenberge hin, die göttlich Reinheit niederhauchen, dürfte zuoberst auf der dritten Treppe einer beten, einsam, bebend vor Jugend und Ehrfurcht. Und auf der rückwärtigen, der finster brütenden weiten Ebene zu, dürfte Mord geschehen. Und alle vier wüßten nichts voneinander. (EGB 601 f)

Im Kunstwerk können destruktive und orgiastische Triebe ungestraft ausgelebt werden und ermöglichen die Integration einer dissoziierten Psyche auf einer Art von Traumbüh-

66 Die Rezeption dieses Kunstwerkes ist von Goethes Beschreibung in der Italienischen Reise beeinflußt: „Es ist ein viereckiges Gebäude, das einen runden, von oben erleuchteten Saal in sich schließt. Von allen vier Seiten steigt man auf breiten Treppen hinan und gelangt jedesmal in eine Vorhalle, die von sechs korinthischen Säulen gebildet wird. Vielleicht hat die Baukunst ihren Luxus niemals höher getrieben. Der Raum, den die Treppen und Vorhallen einnehmen, ist viel größer als der des Hauses selbst; denn jede einzelne Seite würde als Ansicht eines Tempels befriedigen. Inwendig kann man es wohnbar, aber nicht wohnlich nennen. Der Saal ist von der schönsten Proportion, die Zimmer auch; aber zu den Bedürfnissen eines Sommeraufenthalts einer vornehmen Familie würden sie kaum hinreichen. Dafür sieht man es auch in der ganzen Gegend von allen Seiten sich auf das herrlichste darstellen (HA XI 55). Ursula Renner verweist darauf, daß die Rotonda für humanistische Symposien und nicht zum Wohnen bestimmt war. Renner, S. 330f. Dazu auch Carlpeter Braegger: Das Visuelle und das Plastische. Hugo von Hofmannsthal und die Bildende Kunst. Bern und München 1979. S. 61-86, speziell S. 73.

260

5.1 „Fern und nah, dies selige Spiegeln“

ne’.67 Die allegorischen Figuren verkörpern jede ein Moment des Unbewußten und Archaischen im Menschen: Aggressivität und Lust und Religiosität und schließlich ‘Mord’.68 Die Vermischung des Sakralen und Profanen in der Architektur der Rotonda und ihre vollkommene Form umfaßt somit Höchstes und Niedrigstes der menschlichen Natur, die Treppen der Villa sind Traumbühne, auf der alle Möglichkeiten gleichzeitig präsent smd — ohne jedoch ‘voneinander zu wissen’. Der Mensch als aus bewußten und unbewußten Anteilen bestehendes Subjekt ist eben nicht Herr im eigenen Haus.69 Das Gleiten der Signifikanten findet hier zudem seinen Abschluß in der architektonischen Veräußerlichung der zuvor nur in Metaphern verhüllt vergegenwärtigten Triebe der menschlichen Psyche. Jede der Treppen steht nicht nur für einen der vier geographischen Räume, die der Text gemeinsam mit dem Reisenden zuvor durchschritten hatte. Berge, Meer, Ebene und Stadt stehen zudem für historische Entwicklungszustände und psychische Fakultäten des menschlichen Unbewußten. Die oberste Treppe repräsentiert die Wendung zur Stadt, und das Feuer, der auf ihr stehende Krieger, ist Symbol für die aggressiven, destruktiven, aber vielleicht auch heldenmütigen Tnebe des Menschen. Die dem Meer und damit dem Element des Wassers zugewandte Treppe steht für die libidinösen oder dionysischen Seiten im Menschen, auf ihnen findet, eine weinselige Orgie statt, in der sich die Erotik von Küssen mit dem Genuß von Früchten verbindet. Die den Bergen und somit dem Äther zugewandte Treppe steht hingegen für das ‘Über-Ich’ des Menschen, seine transzendente, dem Göttlichen, Reinen zustrebende Seite. Die der Ebene zugewandte Seite schließlich betrifft die niederste Ebene der menschlichen Psyche, Heimtücke und Mord sind hier angesiedelt - eine Einbeziehung der destruktiven Kräfte des menschlichen Unbewußten, die zu diesem Zeitpunkt eher auf Schopenhauer denn auf Freuds (ja erst nach dem ersten Weltkrieg voll ausgebildete) Theorie der aggressiven Seiten des menschlichen Tneblebens zurückgehen dürfte.70 Bedeutsam ist nun aber, daß alle vier Seiten des Seelenapparates ‘nichts voneinander wissen’ - auch hierin scheint sich die Freudianische Erkenntnis durchgesetzt zu haben von der menschlichen Seele als terra incognita, sowie der nur in Träumen zu erahnenden Wahrheit des Unbewußten. Die Ewigkeit dieses im Kunstwerk Gestalt gewordenen Seelenhaushalts ist jedoch (wie Städte und Bauwerke im ganzen Text) bereits von der Vergänglichkeit eingeholt: Nun ist aber das Haus verschlossen und der Saal schlummert. Verstümmelt, geblendet, mit abgehauenen Händen die Statuen droben an dem Stimreif der

67 Vgl. Götz, S. 66. Man denke auch an Beer-Hofmanns Phantasie in Der Tod Georgs. 68 Für Sigismund im Dramenfragment DerTurm wird der Mord zur Moment der Aufhebung der Differenz zwischen Subjekt und Objekt, ja zur ‘symbolischen Handlung’: wozu hast du mich lesen gelehrt? wie kann ich die biblische und die römische Geschichte anders nachleben als wie ein an der Glaswand herumzuckendes Insect/ also ist sie mir nutzlos! Ich bin vollgestopft mit den eingeklemmten Reizen des Lebens! um mich ihrer zu entladen brauche ich eine ungeheuere und symbolische Wollust: den Mord./ er umschreibt den Begriff‘symbolisch’: ich muss eine Handlung begehen - nur eine solche entladet mich - bei der ich mich völlig hingeben kann; “bei der der arme Sigismund weg und die Welt auch weg ist, und nur der der thut, der ist da, der ist da und tödtet, tödtet, tödtet! - Ekstase! symbolische Handlungen gestatten ihm, aufzugehen; er empfindet nicht das quälende “Wozu’ (SW XV 234). Auch hier werden nicht nur Subjekt- und Objektpol aufgehoben, sondern beide im Gedanken des Mordes auch zugleich ausgelöscht. 69 So Freuds berühmte These, „daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“. GW XII, S. 11. 70 In Schopenhauers pessimistischer Philosophie nimmt das Unbewußte den Platz eines destruktiven Urdranges ein. Vgl. dazu auch Michaela L. Perlmann: Der Traum in der literarischen Moderne. Zum Werk Arthur Schnitzlers. München 1987. S. 32f.

Topographien des Ennnerns in Sommerreise (1903)

261

Rotunde sind wieder Steine, Blöcke, verlangend nach Moos. Die Natur nimmt ihr Werk zurück. Sie trieb den Palladio hinauf, mit trunkenem Blicke hier Ebene, Meer, Gebirge und Stadt in sich zu saugen und den Hügel, der die wundervolle Landschaft krönt, mit seinem Traume zu krönen. (EGB 602)

Bedeutet der beginnende Zerfall dieses Kunstwerkes aber die Übermacht der Natur über die Kunst, und ist das Hervorbnngen dieses Kunstwerks selbst Beweis für die Transzendierung der Natur oder aber muß nicht Kunst gleichsam als naturwüchsig, als Teil der Natur verstanden werden, wie ja auch zu Beginn des Textes die Städte als aus den Bergen natürlich ‘herausgewachsenes’ und von der Natur wieder ‘zurückgenommenes’ Menschenwerk (EGB 597) erschienen? Wie der Faun seine Seligkeit in seine Flöte haucht, so haucht die Natur ihren Tnumph an einer Stelle aus, in den Traum des Palladio. Nun hat sie die Hirtenpfeife weggelegt, läßt sie vermodern am Rande des Weihers. Mit leiser Gewalt nimmt sie die Rotonda zurück aus dem Kreise menschlicher Gebilde in ihr eigenes webendes dämmerndes Reich. (EGB 602)

Mit dem Verfall ist nicht die Überlegenheit der Natur über die Kunst besiegelt, vielmehr scheint Hofmanns thal die urgründige Einheit beider Seinsbereiche zeigen zu wollen, so daß em Zurücknehmen der Kunst in die Natur nicht deren Zerstörung, sondern gerade im Zustand des Verfalls Erfüllung ihrer Essenz bedeutet — eine Einheitsleistung von Natur und Kultur, die nicht zuletzt in den architektonischen Bestrebungen Palladios selbst schon angelegt ist, dem es auf die Einbindung des Kunstwerkes in die umgebende Landschaft ankam. : Die Rücknahme des Kunstwerkes in die Natur ist somit lediglich die Erfüllung dessen, was in ihm angelegt ist, seine Reduktion zum ästhetischen Zeichen, das in der Stilisierung zur im Vergehen begnffenen Ruine ganz verinnerlicht und so zum „Torso als Ennnerungsträger und Zeichen“ werden läßt, wozu die von Hofmannsthal bneflich geäußerte Phantasie paßt, die Rotonda zu erwerben, um sie daraufhin zum Raub der Flammen werden zu lassen. 3 Erst in der völligen Aneignung und der Möglichkeit der Auslöschung seiner objektiven Existenz kann das Kunstwerk als kollektives Erinnerungs¬ monument völlig ms individuelle Gedächtnis verschoben und so Auslöser von eigener Kreativität werden. Die Villa, gerade in ihrem Charakter als perfektes Kunstwerk, wird somit zur „Wohnstätte der künsdenschen Phantasie, das Medium, durch das die ‘Natur’ triumphiert.“74 Natur gewinnt hier einen speziellen Stellenwert, unterliegt denselben Gesetzen wie die kulturelle Ordnung: „Hofmannsthal’s ‘nature’ is an intelligible order, a configuration that exhibits itself as a sort of atmospheric unity, and for this reason it is more accurate to say that art discloses an epiphany of being rather than of nature.“75 Hofmannsthals Sommerreise ist die Verdichtung von eigenen Edebmssen, kunst¬ geschichtlichen Reminiszenzen, sowie einer durch Pater, Burckhardt und Ruskin vorgeprägten Wahrnehmung von italienischer Kunst und Landschaft. Durch die

71 So die Argumentation Wellbervs, S. 325f. 12 Vgl. dazu Uwe Henning. Die Torsi der Rotonda - Symbole natürlichen Verfalls oder Denkmale des

Risorgimento? Überlegungen zu Hugo von Hofmannsthals Capriccio palladiano Sommerreise/Die Rotonda des Palladio (1903/1919). In: Hugo von Hofmannsthal. Freundschaften und Begegnungen mit deutschen Zeitgenossen. Hg. v. Ursula Renner und G. Bärbel Schmid. Würzburg 1991. S. 261-284. 73 Hofmannsthals Brief an Benno Geiger 1917. (FDH/HvH-Nachlaß). Zit nach Renner, S. 333. 74 Renner, S. 336. 75 WeUbery, S. 332.

262

5.1 „Fern und nah, dies selige Spiegeln“

Verlagerung sämtlicher dieser Elemente in einen ‘Erinnerungstraum’ vermag Hofmanns¬ thal in diesem Text jene Verwandlung der „aisthesis zur poiesis,,76 zu vollbringen, die als Tsyche-Memoria’ des schöpferischen Unbewußten die Transformation äußerlicher Sinnesreize zu etwas Neuem, Eigenen bedeutet. Die Übersetzung von Werken der bildenden Kunst in einen Erlebnisbericht, sowie die Ineinssetzung von Landschaft und Geschichte in die „dialektische Struktur einer bewegten Simultaneität,,77, die zugleich Psychogramm des schreibenden Ich ist, lassen das Motivgeflecht dieses Textes als Traumtext erscheinen, der keine Differenz mehr zwischen Fakt und Fiktion kennt und so zum Auslöser einer schöpferischen Phantasie wird. Das deiktisch-emphatische „Hier“ als Eingangswort des Textes erfährt somit eine mehrfache Negation, beziehungsweise Qualifikation seiner Bedeutung. Die Ortung des Standpunktes des Sprechers dient offenbar nur dazu, dessen Loslösung vom Gegenwärti¬ gen durch den nach rückwärts gewendeten Blick auf das bereits Erlebte zu konstatieren, ein Eindruck, der durch die Tempuswechsel des Textes noch verstärkt wird. Bezeich¬ nenderweise durchbricht nach dieser Standortbestimmung die Erzählung sogleich die Linearität der Handlungsfolge und setzt ein mit Zeitpunkten vor und nach der Reise, so daß die Erzählung sich „aus der Simultaneität dreier Zeitebenen zusammensetzt.“ In der reinen Addition von Ortsangaben ohne Verwendung von Verben wird dieses „Neben- und Inemander verschiedener Zeitebenen“ noch verstärkt.78 Der geographischen Traumland¬ schaft entspricht auf der Ebene der geschichtlichen Epochen eine Gleichzeitigkeit von Werden und Vergehen in einer mythisch überhöhten Natur. Indem die Welt als von göttlichen Wesen durchwaltet dargestellt wird, bleibt sie trotz ihres Unterworfenseins unter Prozesse des Zerfalls ‘ewig jung’, noch im morschen Baumstamm lebt ewiglich die Dryade, und noch der tote Balken im verfallenden Haus gemahnt und erinnert an dessen Verwurzelung in der freien Natur — Natur und Kultur werden somit über die literarischen Reminiszenzen des antiken Mythos rezipiert und als Einheit erfahren. In der Ver¬ gegenwärtigung Giorgiones und Palladios wird schließlich die Welt der Renaissance heraufbeschworen, die Anspielung auf die Jakobsleiter bezieht zudem die Welt des Alten Testaments mit ein, wodurch der Synkretismus der Allusionen noch eine weitere Dimension erhält: „This order of correspondences has a temporal thickness; lt is saturated with the past. The spatiality of Sommerreise is not so much the physical space of landscape as the space of a collective cultural memory.“79 Hofmannsthal greift auf kunstgeschicht¬ liche Vorbilder zurück, weil „Natur nicht mehr unmittelbar sinnlich erlebt wird [...], sondern mittelbar in ‘Modelle’ der bildenschen Tradition eingeordnet und so erst zum ‘Erlebnis’ wird.80 Der Text wird so zu einer „Erkundungsreise an den Ursprungsort des Schöpferischen und ein ‘Stationenweg’ produktiver Rezeption.“81 Zugleich verbinden sich im Symbolgeflecht individuelle und kollektive Mythologie als ‘zensierter’ Ausdruck von Wünschen, insbesondere von erotischem Begehren. Landschaft und eigene Erlebnisse werden so erst über die erinnernde Vermittlung kollektiver kultureller Reminiszenzen aus Malerei, Architektur und Geschichte begreifbar und angesichts der internen Zensur von intimen Wünschen auch erst darstellbar.

76 77 78 79 811 81

Ursula Renner, Das Erlebnis des Sehens, S. 299 Stamm, S. 149. Stamm, S. 150. WeUbery, S. 328. Renner: Augen-Blick, S. 139. Renner, S. 338.

Topographien des Erinnems in Sommerreise (1903)

263

Die Reflexivität der eigenen Weltbetrachtung wird durch die Meta-Ebene einer Einbeziehung des Betrachters selbst in das beschriebene Bild deutlich gemacht, che reziproke Selbstwahrnehmung thematisiert die Frage nach Identität und der ‘Wirklichkeit’ von subjektiver Perzeption.8' Hofmannsthal wie Pater heben dabei auf die unterschwellige Einheit von Mensch und Landschaft, Natur und Kultur ab: „Nowhere is there a truer instance of that balance, that modulated uruson of landscape and persons — of the human Image and ist accessories [...] so that, in it, neither personage nor scenery is ever a mere pretext for the other.“83 Wahrheit und Wirklichkeit kann so nur in der Harmonie, der Übereinstimmung von Elementen im ‘seligen Spiegeln’ ineinander hegen - eine Überzeugung, dergemäß der Text auf der Verschränkung und Harmonisierung ver¬ schiedener Metaphernfelder und Bildbereiche basiert. Im weitgehenden „Verzicht auf eine Inhaltslogik“ ist der Text gestaltet nach dem „Prinzip der Variation von verschiedenen Motiven, die selbst weniger inhaltlich bestimmt sind, sondern ähnlich wie ein musikalisches Motiv für sich stehen.“84 Vanation und Entfaltung von Themen, wiederholtes Aufgreifen von Details der Landschaft, der Kunst- und Kulturgeschichte und deren gegenseitiges ‘Spiegeln’ ineinander stellen somit che Technik dieses Traumtextes dar: „Es ist Teil der musikalischen Struktur der Erzählung, daß der Bewegungsverlauf zwischen den einzelnen Elementen von Wiederholungen und Spiegelungen bestimmt wird.“83 Dichotomische Relationen von Wasser und Feuer, Luft und Erde, Brunnen und Wolke, Berg und Ebene, Mann und Frau werden derart in korrespondierende Beziehungen zuemander gesetzt, daß die Gegensätze sich schließlich in ihrer verborgenen Einheit enthüllen. Das Leitmotiv des Wassers bezeugt diese Identität von allem mit allem in spezifischer Weise: Insofern die Bewegung des Wasser sich nicht linear, sondern in Kreisbewegungen vollzieht, umfaßt der Weg des Wassers sämtliche Elemente, da es aus der Erde entspringt (Wasser und Erz bilden eins und werden wieder ems im menschlichen Gebrauch), vom Feuer des Lichts zur Wolke wird, als Regen sich wieder auf die Erde ergießt und schließlich im Brunnen und im Teich seiner menschlichen Nutzung zugeführt wird. Wie in den oberitalienischen Städten Werden und Vergehen eine Einheit bilden, so werden auch im Kunstwerk des Palladio Vollendung und Zerstörung im Dahinmodern unvermittelt nebeneinandergestellt.86 Histonsche Zeit erscheint hier unter dem Vorzeichen der Vergänglichkeit — die italienischen Städte smd so viele „halbzerbrochenen Städte“ wie ein „halb im Schlummer erstarrtes Wesen“, und die Rotunda verfällt - im Verfall entdeckt der Reisebericht jedoch das Überzeitliche, den „Ruhm“, das Fortbestehen jener Künsder, das hier wohnt „wie eine leuchtende, nackte Dryade im Strunk des halbvermorschten Baumes“. Der Traum Palladios schließlich ist „unsterblich“, in der architektonisch vollkommenen Veräußerli¬ chung der vier Landschaftsformen (Ebene, Meer, Gebirge und Stadt) und menschlichen Triebe’ (Sexualität, aggressiver Heldenmut, Religiosität, Mordlust) wird ‘Natur’ - als zugleich landschaftliches und humanes Signifikat - in Kunst verwandelt, ohne daß beide Termini in Opposition zueinander stünden:

83 Stamm, S. 153. 83 Hill, S. 121. 84 Stamm, S. 156. 83 Stamm, S. 157. 86 Die Gewalt des Kunstwerkes selbst bezeugt seinen inneren Bruch: es löst sich das „harmonische Bildungsideal der Renaissance von einer möglichen ausgleichenden Koinzidenz der Gegensätze [...] in eine apokalyptische Zerrissenheit“. Uwe Henning, Die Torsi der Rotunda, 279. Uwe Henning verweist auf die „hermeneutische Hilfe“ des Bildes für „die Auflösung ihrer parabolischen Struktur“. S. 267.

5.1 „Fern und nah, dies selige Spiegeln“

264

Ein unsterblicher Traum, ein wundervoll geformtes Ziel, nach welchem der Drang der fernen Berge, der Drang der starken Wässer hinzuwollen scheint, das er erreicht, dessen Rund er umwandelt, an dessen vier Treppen er sich hinschmiegt, gestillt, erlöst durch ein Gleichnis. (EGB 602)

Der TDrang’ des Wassers, des Reisenden und des Textes findet seine ‘Erlösung’ in der perfekten Form der Rotunda: die Überwindung der Linearität von Zeit und Bewegung findet in der ‘Spiegelung’ der Bilder meinander, der Reziprozität des Blicktausches und im Kreislauf aller Elemente ihren ‘krönenden’ Abschluß, die Rotunda ist Symbol einer Harmonie der Dinge, die zugleich natürlich und human begründet ist und die histonsche Zeit transzendiert, sie ist der Ort „in which nature transcends itself into the supra-historical order of art. The phrase ‘erlöst durch ein Gleichnis’ marks both the accomplishment of the villa as a transfiguration of nature and the achievement of the text, which, by drawing the art works into ist own internal order, releases them from their fallen historicity.“87 Indem der Text die Kunstwerke Giorgiones, Palladios (und Goethes) in ein Netz von Korrespondenzen absorbiert und assimiliert, etabliert er die Kopräsenz von (Kunst) Geschichte im überhistorischen Bereich der Kunst. Aus Vergangenem und Gegenwärtigen wird eine ‘Welt der Bezüge’ erstellt, welche die histonsche Zeit transzendiert. Der Text ‘materialisiert’ diese ideologischen Voraussetzungen in mehrfacher Hinsicht: zum einem durch seine lineare Organisation, zum anderen durch die ‘Spiegelung’ der Elemente ineinander, wodurch es zum Eindruck der Simultaneität von Zeitstufen, Kunstgegenständen und Identitäten kommt. Die Struktur des Textes selbst — und nicht der fast gänzlich unterschlagene Erzählerstandpunkt - begründet dessen selbstreflexiven Charakter, als locus sich verschränkender Bahnen untereinander verwandter Motivkomplexe. Eben weil der Text hier ‘selbst zu sprechen’ schemt, wird Sprache zu einem autonomen, in sich durch Korrespondenzen struktunerten System, das kemem kreativen Subjekt verantwortlich ist. „The autonomy of language ist linked also to the idea of a supra-historical aesthetic order. What allows the works of Palladio, Giorgione and Goethe to become present despite all historical distance, what guarantees their repeatability, is their essential ideality by virtue of which they transcend their material mstantiations and become sigmficant constructs. Art translates the mute language of being, rendering it mtelligible, and at the same time detaches that language from tarne and contmgence by transposing it into ist own ideal order.“88 So erlöst sich das Begehren im Traum des Palladio, es erfüllt sich dann, eine wiederholbare signifikante Konfiguration zu werden. Der Text Hofmannsthals selbst ist die ‘Erlösung’ der in ihm dargestellten Kunstwerke, in ihm werden sie durch ihre Kopräsenz zu ihrem authentischen Sem erlöst. Statt histonstischer oder psychologisierender Betrachtung vergangener Kunst versucht Hofmannsthal somit eine ontologisch begründete Hermeneutik - eine ‘Hermeneutik des Ennnerns’, die das Vergangensein des Vergangenen gleichwohl in die eigene Gegenwart zu inkorporieren weiß, indem sie es der Psyche des Betrachters anverwandelt.89

87 WeUbery, S. 330. 88 WeUbery, S. 332. 89 Vgl. WeUbery, S. 333.

265

5.2 „Sichhaben und Sichnichthaben“ - Erinnerung schöner Tage (Erstdruck 1908) In Thema und Motivik eng verwandt mit der Sommemise ist em weiterer ‘Traumtext’, der bereits im Titel das Thema der Erinnerung anschlägt und gleichfalls vor dem biographi¬ schen Hintergrund einer Italien-Reise Hofmannsthals entstanden ist: ErinnerungschönerTage von 1908. Dieser gleichfalls nur kurze Text — den Hofmannsthal jedoch bezeichnender¬ weise nicht unter der Rubrik ‘Reisen’, sondern unter den ‘Erzählungen’ eingeordnet sehen wollte - entstand zwischen 1906 und 1907 und schildert die für Hofmannsthal äußerst glückliche und produktive Zeit seines Aufenthalts in Venedig im Herbst 1898, womit sich jedoch die Erinnerung an verschiedene Venedig-Reisen verbindet.90 Der Text erscheint in noch höherem Maße als die Sommemise als assoziative Reihung von Impressionen, die sich schließlich in emem ‘echten’ Traum verdichten; auch hier bilden immer wiederkehrende Motivkomplexe em den Text auf subtile Weise struktunerendes Muster. Deutlich wie selten scheint sich hier Hofmannsthals Freud-Lektüre niederzuschlagen, indem der Text sowohl ‘Tagesreste’ enthält, eine erotische Wunscherfüllung darstellt und nicht zuletzt Kindheits¬ reminiszenzen miteinbezieht; von Interesse ist jedoch gerade, wie Hofmannsthal diese Elemente der Freudschen Traumdeutung einer ganz eigenen Ordnung unterwirft. Das Venedig-Erlebnis wird zum exemplarischen Fall eines hermeneutischen Verfahrens, das die Gegenwart nur durch das Medium träumenscher Erinnerung wahrzunehmen und kreativ nutzbar zu machen weiß und dies durch einen Autor, der um die Vorprägung jedes Wahrnehmung durch Kindheitserlebnisse, Lektüren und kulturelle Formationen weiß. Zugleich bildet der Text die produktionsästhetische Analyse zur Entstehung von Der Abenteurer und die Sängerin. Hier werden Erinnerungen verschiedener Reisen sowie der Entstehung verschiedener literarischer Werke verdichtet, so daß der Text durchaus als die Verbindung des kreativen Akts mit der psychoanalytischen Traumarbeit betrachtet werden kann: „Die Verwandlung von Erotik m Literatur, das im Erzähler erwachende erotische Begehren ist Quellpunkt des Geschehens; sein Ziel die Niederschnft des erfahrenen Geheimnisses“.91 Dabei stellt der Text die Zusammenführung und Verdichtung mehrerer früherer Texte Hofmannsthals dar, ja in ihm smd Motivkomplexe zusammengeführt, die ihn als mtertextuelles Konstrukt aus eigenen Texten erscheinen lassen, das die Grundmoti¬ ve seines Schaffens engführt. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Reise-Texten liegt in der Position des Erzählers, der auch hier identisch mit dem Protagonisten der Erzählung ist. Während bei der Sommemise das narrative Ziel dann zu bestehen schien, die Identität des Reisenden vollkommen in der ihn umgebenden Landschaft und Kulturkulisse aufzuheben, ja aufzulösen in nur noch lose gereihte Assoziationscluster, die dessen Unbewußtes repräsentierten, so wird hier der Erzähler und Protagonist zum Regisseur, der Figuren wie Leser seiner bewußten Inszenierungskunst unterwirft:

90 Die ersten Notizen datieren zurück zum September 1906, als Hofmannsthal sich in Lueg am Wolfgangsee aufhielt, in Venedig schneb er den Essay dann im Juli 1907 nieder. Ellen Ritter verweist in der kritischen Ausgabe auf die Beeinflussung durch d’Annuncios L 'allegona dell’autumno und Baudelaires Poimes er Prose. Der Essay sollte ursprünglich im dntten Band seiner Prosaarbeiten 1908 erscheinen, erschien durch Verzögerung dann jedoch im Velhagen & Klasing Almanach. Vgl. hierzu SW XXVIII225. 51 Neumann: Die Wege und die Begegnungen, S. 69.

266

5.2 „Sichhaben und Sichnichthaben“

Die Sonne stand noch ziemlich hoch, als wir ankamen, aber ich ließ sogleich in die engen dunklen Gassen einbiegen. Ferdinand und seine Schwester saßen nebenein¬ ander, als wir so laudos hinglitten, und ihre Augen gingen über die alten Mauern, deren rote und graue Spiegelung wir zerteilten, über die Portale, deren Schwelle das Wasser bespülte, über die steinernen, feuchtglänzenden Wappen und die mächtig vergitterten Fenster. Wir fuhren unter kleinen Brücken durch, deren feuchte Wölbung dicht über unseren Köpfen war, über die kleine alte Frauen und ganz gebogene alte Männer hinhumpelten und nackte Kinder sich seitlich herabließen, um zu baden. Vor einem engen, stillen Platz ließ ich anlegen. Stufen führten zu einer Kirche. In den Mauern standen viele Steinfiguren in Nischen und traten in das Abendlicht vor ... Die Geschwister wollten stehenbleiben, aber ich zog sie fort, hinter mir her, durch noch engere Gassen [...] (EGB 165)

Der Erzähler agiert hier als Fremdenführer, der den Gondoliere ‘einbiegen’ und ‘anlegen’ läßt und auch die Geschwister mit sich fortzieht, weil er ihnen emen spezifischen Anblick m der Abendsonne präsentieren will. Das Bewußtsein des Inszenatorischen wird dabei im ganzen Text zur ‘Manipulation’ des Lesers genutzt, stets aber macht der Text selbst dies auf emer Metaebene deutlich. Der Schauplatz wird durch die typischen YenedigYersatzstücke evoziert: vom Gewirr der Kanäle und dunklen Gassen, dem Markusdom, dem Campanile, der Lagune, dem Palast des Sansovin etc. werden topographische Momente aneinandergereiht, die die Realität des Ortes verbürgen. Den Erzähleingang prägt dennoch sogleich die traumartige Atmosphäre des Essays, indem das Licht dieser Stadt beschrieben wird; mit dieser Einleitungssequenz ist das Hauptmotiv des Textes angeschlagen: die Wirkung des Lichtes in Venedig, die hier durch das vorherige Durchschreiten des Dunkels der engen Gassen zu einem besonderen Erlebnis verdichtet wird: [...] aber ich zog sie fort, hinter mir her, durch noch engere Gassen, in denen kein Wasser war, sondern Steinboden, endlich durch einen dumpfen finsteren Schwibbo¬ gen hinaus auf den großen Platz, der dalag wie ein Freudensaal, mit dem Himmel als Decke, dessen Farbe unbeschreiblich war: denn es wölbte sich das nackte Blau und trug keine Wolke, aber die Luft war gesättigt von aufgelöstem Gold, und wie ein Niederschlag aus der Luft hing an den Palästen, die die Seiten des großen Platzes bilden, ein Hauch von Abendrot. Die beiden Geschwister, die zum erstenmal dies sahen, waren wie in einem Traum. (EGB 165)

Wie zu Eingang der Sommerreise befinden sich auch hier die Personen m diesem Text „wie m einem Traum“, und diese Stellung zwischen Bewußtsein und Unterbewußtsein ist hervorgerufen durch eine spezifische Stimmung, durch das Erlebnis emer besonderen Konstellation von Naturerscheinungen und menschlichen Werken. Blau, Gold und Rot die Farben der unendlichen Pracht und Weite des Himmels spiegeln sich auch hier in den von Menschen errichteten Palästen: Natur und Kultur bilden eine Einheit. Der gesamte Text wird nun aber von diesem Gefühl des durch die Lichtverhältnisse hervorgerufenen TJnwirklichen’ geprägt sein, ist voll von unmerklichen Übergängen in den Bereich des Traumhaften und damit verbunden den des erotischen Begehrens. Bezeichnend auch für diesen Text ist dabei die gänzlich verschiedene Reaktion der unterschiedlichen Ge¬ schlechter auf das Naturereignis des prachtvollen Sonnenunterganges. Während Katharina sich die von der Abendsonne zu etwas ‘Unwahrscheinlichem’ gemachten Paläste genau ansieht und sich in die märchenhafte Stimmung ihrer Umgebung einfühlt, drängt ihr Bruder Ferdinand fort, weiter, in die Höhe:

Erinnerung schöner Tage

267

[...] und sie fragte immer wieder: „Ist dies wirklich? kann dies wirklich sein?“ Ferdinand eilte immer vorwärts: „Kommt noch etwas? Geht es noch weiter?“ fragte er. Nun stand er und sah das offene Meer und Barken und Segel und Säulenportale, neue Kuppeln drüben, und den Tnumph des Abends auf Wolken wie ferne Goldgebirge, jenseits der Inseln, Nun kehrt er sich um, uns zu rufen, da gewahrte er hinter sich die Wucht des Glocketurmes, pfeilgerade aufsteigend, daß das leuchtende Gewölbe droben vor ihm zurückzuweichen schien. „Ich will hinauf!“ rief Ferdinand, der selten einen Turm, und wäre es einer Dorfkirche, unbestiegen ließ. (EGB 166)

Erneut markiert somit die Dichotomie von oben und unten den Gegensatz der Geschlechter, strebt das Männliche in die Ferne, ms Offene und in die Höhe des hier geradezu als Phallus-Symbol aufstrebenden Turmes. Die erotische Thematik wird verstärkt durch weitere Symbole männlicher und weiblicher Sexualität. Während Ferdinand den Turm besteigen will und die „Segel“ und „Barken“ im Meer betrachtet, zieht ihn Katharina zum Wasser: Aber Katharina nahm ihn heftig bei der Hand, daß er sich umwenden mußte, und mit ihren beiden Händen zeigte sie vor sich hin und blieb nicht stehen, sondern ging immer vorwärts gegen das Wasser, in dem ein Strom von goldenem Feuer sich über einem tiefen blauen, metallisch blinkenden Element hinzuwälzen schien. (EGB 166)

Wie in der Sommerreise bezeugt sich hier die Opposition männlich-weiblich im Streben nach der Höhe des phallischen Symbols eines Turmes einerseits und der Tiefe des Wassers andererseits. Zugleich spiegelt sich das erotische Motiv der Verbindung des Weiblichem mit dem Wasser beziehungsweise des Männlichen mit dem Feuer in der kosmischen Vereinigung von goldenem Licht und dem schwarzem Wasser des Meeres: Wasser und Feuer ‘wälzen’ sich hier gememsam auf der Oberfläche des Meeres. Bezeichnend dabei ist, daß es hier das Mädchen ist, das die Initiative ergreift und den Blick seines Bruders auf das Meer hin dirigiert Die Geschwister trennen sich vom Erzähler, steigen hinunter „in das schwarze Boot“ und gleiten „hinaus in die Feuerstraße“ (EGB 166) und im Bild der sich kreuzenden Boote auf dem Wasser greift Hofmannsthal ein zentrales Motiv eines weiteren Textes auf, das bereits als Talimpseststruktur’ von Die Wege und die Begegnungen interpretiert worden ist. Der Text ist hier zugleich das ‘Lesen’ der Spuren einer Landschaft und die Interpretation der sich darbietenden Struktur: Viele Barken waren draußen, und zwischen ihnen schnitten die finstern Segelboote durch, alles war beladen mit Leben, überall waren Gesichter, die sich einander entgegentragen wollten, und die Wege, die einander durchkreuzten, waren wie magische Figuren auf einer feurigen Tafel, und in der Luft flogen dunkle kleine Vögel, und auch ihre Wege waren solche Zauberfiguren. (EGB 166)

Nicht nur verweisen die Motive der sich durchkreuzenden Spuren intertextuell auf den Sammelband Spicilege (,4a trace de l’oiseau dans l’air et la trace de l’homme dans la vierge“ EGB 157) zurück, sondern zugleich befinden sie sich auch in einem Diskurs mit Hofmannsthals eigenem, gleichfalls um 1907 entstandenem Text zum Thema eines sich aus überlagernden Ennnerungsnllen konstituierenden Lebens, sowie emer Panerotik der Weltstruktur, die zugleich die Grundlage jeglicher Kreativität bildet.92 So ließe sich

92 Vgl. dazu Kapitel 4.1 sowie Gerhard Neumanns Interpretation.

5.2 „Sichhaben und Sichnichthaben“

268

behaupten, daß die sich anschließende erotische Phantasie nur verständlich ist in Kenntnis des erotischen Hintergrundes des Bildes der Spuren der Vögel in der Luft wie der das Meer durchpflügenden Schiffe, der als assoziatives Muster durch diese beiden Texte vorgegeben ist: Ich mußte, wie ich so auf der Brücke stand und an dem glatten, uralten Stein mich überlehnte und draußen zwei Barken zueinander lenkten, jäh an Lippen denken, wie sie den langentwöhnten Weg zu geliebten Lippen leicht und traumhaft wiederfinden. Ich fühlte die schmerzliche Süßigkeit des Gedankens, aber ich schwamm zu leicht auf der Oberfläche meines Denkens, ich konnte nicht hinabtauchen, um zu erfahren, an wen ich im Innersten gedacht hatte, so traf mich der Gedanke wie ein Blick aus einer Maske, und mir war, als wär es Katharinens Aug, deren Mund ich noch nie geküßt hatte. (EGB 166f)

Im Bild der sich einander annähernden Schiffe blitzt zudem ein weiteres intertextuelles Moment auf - auch in Das Glück am Weg (1893) wird die Annäherung zweier Yachten zum Bild einer potentiellen erotischen Begegnung, an die sich eine Traumphantasie über die unbekannte Frau auf dem anderen Boot schließt, und der Text lebt von einer um die Farben Gold und Rot kreisenden Motivik. Auch bei der EnnnerungschönerTage schließt sich an das unwillkürliche Aufbrechen unbewußter Wünsche und Sehnsüchte die Interpretation durch den Erzähler selbst an. Wie „ein Blick emer Maske“ trifft ihn die Erkenntnis, daß sich sein erotisches Begehren auf Katharina als Objekt nchten könnte, eine aus den Tiefen des dem Ich offenbar fremd gegenüberstehenden Unterbewußten heraufdrängende Erkenntnis, die hier vorsichtshalber konjunktivisch relativiert wird. Die Magie des Ortes selbst scheint auch hier die erotische Träumerei hervorzurufen, und der Erzähler reflektiert über die eigene Unfähigkeit, m die Tiefen des Es hinabzusteigen und seine eigene Gefühlswelt auszuloten: „[...] ich schwamm zu leicht auf der Oberfläche memes Denkens, ich konnte nicht hinabtauchen um zu erfahren, an wen ich im Innersten gedacht hatte.“ Das, was diesen Wünschen zugrunde liegt, nämlich uneingestandene erotische Attraktion durch Katharina, fällt als ein offenbar verdrängtes Bedürfnis somit der wachen ‘Zensur’ anheim, wird als ohne die Verantwortung des bewußten Ich von ‘irgendwoher’ an ihn herantretende Möglichkeit dargestellt.0' Das Bild der fremden Maske nimmt zudem das Motiv der „Gesichter, die sich einander entgegentragen wollten,, wieder auf, läßt die Begegnung der Geschlechter in Analogie zur Begegnung des Ich mit dem Es treten, wobei das Eigene hier als Fremdes, als terra incognita des Unbewußten imaginiert wird. Wie auch m dem im gleichen Zeitraum verfaßten Text Die Wege und die Begegnungen werden hier die Zeichen der Natur und der Begegnung von Mann und Frau verwandelt zur Schöpfungsvision des Autors, eme Vision, die ausgelöst ist durch das Licht in dieser Stadt. In der Beschreibung des Sonnenuntergangs in Venedig vermischt sich die durch die Kunst Giorgiones geprägte Wahrnehmung der Farben mit einer realen Beschreibung der Lichtverhältnisse: Nun war alles in Feuer, hinter den Inseln die Wolken schienen in goldenen Rauch aufzugehen, der Geflügelte auf seiner goldenen Kugel glühte: ich begriff, es war

03 Sehr merkwürdig erscheint dabei Hofmannsthals späterer Versuch, die Namen des Geschwisterpaars gegen die Namen seiner eigenen Kinder Chnstiane und Franz auszutauschen. SW ERZ I, S. 234. Dahinter scheint das Bedürfnis nach Verschleierung eines möglicherweise der Erzählung real zugrunde liegenden Erlebnisses zu liegen. Im Text bleibt die Altersrelation der Geschwister unklar, Katharina erweist sich lediglich als die Bestimmende von beiden.

Erinnerung schöner Tage

269

nicht nur die Sonne dieses Augenblicks, sondern vergangener Jahre, ja vieler Jahrhunderte. Mir war als könnte ich dies Licht nie mehr aus mir verlieren, ich wandte mich und ging zurück. (EGB 167)

Wie das Licht des Meteors sich erst nach unendlicher Verzögerung sichtbar am Himmel abzeichnet, so umfaßt die Gegenwart dieses Lichtes viele Jahrhunderte, enthält in sich simultan nicht nur dessen momentane Gegenwart, sondern steht an der Schnittstelle von Zeit und Ewigkeit. .Alles Wirkliche, Materielle löst sich in die Immaterialität des Lichts auf — eine Erfahrung, die durch die Malerei Giorgiones und deren Interpretation durch Paters gleichsam ‘vorgegeben’ ist, hier jedoch (ganz im Gegensatz zu Hofmannsthals Griechen¬ landerfahrungen) m Harmonie mit dem eigenen Erlebnis steht und so als Bereicherung, Erhebung empfunden wird: das erlebende Ich erfährt, was Jahrhunderte vor ihm erfahren konnten.94 Mit diesem Höhepunkt der Erfahrung des ewigen Lichtes der tritonischen Stadt ist zugleich auch der Wendepunkt seines Weges erreicht: „ich wandte mich und ging zurück“. Das zunächst in der Erfahrung des Lichtes lokalisierte erotische Begehren zeigt sich nun beim weiteren Gang des Erzählers durch Venedig als auf alles verlagert, was ihm begegnet: Mädchen streiften an mir vorbei, eine stieß die andere und riß ihr das schwarze Umhängetuch von rückwärts herab; da sah ich ihren Nacken zwischen dem schwarzen Haar und dem schwarzen Tuch, das sie gleich wieder hinaufzog: aber das Leuchten dieses schmächtigen Nackens war ein Aufleuchten des Lichtes, das überall war, aber überall zugedeckt wurde. Die Halbkinder mit den Umhängetüchern waren gleich wieder verschwunden, wie Fledermäuse in einem Mauerspalt, und ein alter Mann kam vorbei, und im Tiefsten seiner Augen, die Augen eines traurigen alten Vogels waren, war ein Funken von Licht. (EGB 167)

Der ewige Männertraum von der unwillkürlichen Erotik der femme enfant wird hier im aus dem umgebenden Schwarz hervorblitzenden Lichtstrahl nackter Haut gefaßt, einem Leuchten, das jedoch bezeichnenderweise auch in den traurigen Augen eines alten Mannes sich wiederfindet. Mit der Wende in die Dunkelheit der engen Gassen wird dieses Licht des allumfassenden Eros nun in allen Menschen und Gegenständen, die dem Erzähler begegnen, wiedererkannt: Ohne es zu wollen, denn mir war zu wohl, als daß ich etwas gewollt hätte, ging ich nun im Kreis und trat wieder durch den Schwibbogen zurück auf den großen Platz, ging unter den Säulengängen hin. Aber das goldne Leben des Feuers war nicht mehr in der Luft, nur in den erleuchteten Läden, die überall waren, unter den dämmern¬ den Säulengängen lagen Dinge, die leuchteten: da war der Laden eines Juweliers mit Rubinen, Smaragden, Perlen [...] (EGB 167)

In einem Zustand der Selbstvergessenheit und Willenlosigkeit projiziert der Erzähler das Licht nun in verschiedene Kunstgegenstände, die zugleich Naturgegenstände smd: Edelsteine im Laden eines Juweliers, „Seidenstoffe mit eingewebten Blumen aus Gold und Silber“ m der „Buüke eines Antiquitätenhändlers“ und „blaue und grüne Schmetterlinge und Muscheln, besonders Nautilusmuscheln“ im Laden gegenüber. In allen diesen Dingen ist das „Leben des Lichtes und ich weiß nicht was für eine Erinnerung an schöne Gestalten, von denen diese starren Hüllen in lebendigen Nächten abgefallen waren“ - eine

94 Vgl. Eleonora Adams: Erinnerung schöner Tage. In: Joseph P. Strelka (Hg.): „Wir sind aus solchen Zeug wie das zu Träumen ...“. Kritische Beiträge zu Hofmannsthals Werk. Bern 1992. S. 13-21.

5.2 „Sichhaben und Sichnichthaben'

270

weitere Reminiszenz an die Sommerreise, wo die nackten Frauen gleichfalls ihre Gewänder abgeworfen haben, um sich dem freien Atem der Luft hinzugeben (EGB 599). An dieses mtensive Schauen, das das ewige Licht m diesen Schätzen der Natur eingefangen sieht, die zugleich erotisch besetzte Signifikanten darstellen, schließt sich eme Schöpfungsphantasie.9’ Die Versatzstücke dekadenten Erlebens - Edelsteine, kostbare Stoffe, Sammlergegenstände - werden hier durch das „Leben des Lichts“, das in ihnen enthalten ist, ihrer remen Künstlichkeit enthoben und zu Exempeln der Schöpfungskraft aus den Tiefen der Natur.96 In diesem Moment geht die Betrachtung in den starken Wunsch über, selbst etwas Bleibendes zu schaffen: Aber das goldene Leben des Feuers war nicht mehr in der Luft, nur in den erleuchteten Läden (...) lagen Dinge, die leuchteten (...) und ich war voll Lust, etwas dergleichen mit meinen Händen hervorzubnngen, aus der gärenden Seligkeit in mir etwas zu bilden und es auszuwerfen. Wie die feunge, feuchte Luft eines Insel¬ strandes den funkelnden Schmetterling aus sich bildet, wie das Meer mit dem unter seiner Wucht begrabenen dämonischen Licht die Perle und den Nautilus bildet und sie auswirft, so wollte ich etwas bilden, das funkelte von dem inneren Licht des Lebens, und es hinter mich werfen, wenn der unaufhaltsame und entzückende Sturz des Daseins mich dahinriß. (EGB 167f)

Erotisches Erlebnis, kosmogomsche Harmonie und Schaffenswunsch gehen hier meinander über, wobei der Drang im Erzähler weiterhin nach Richtung sucht, ihm selbst unklar bleibt: „und ich fühlte wohl die dunkeln Kräfte, aber ich wußte noch nicht, was es war, das ich machen sollte“ (EGB 168).9 Erotische Erregung und das geheimnisvolle Licht Venedigs lassen den schöpferischen Akt als Naturereignis erscheinen, das aus der „gärenden Seligkeit“ des Inneren hervorgeht. Im Kunstwerk selbst, und damit auch in der durch das Venedig-Erlebnis ausgelösten künsderischen Produktion kann eben jenes jahrhundertealte Licht aufbewahrt und in ihm die Zeit überwunden werden. Der Schaffensprozeß wird dabei mit dem Aufbrechen unbewußter sexueller Wünsche und der Atmosphäre des Lichts in Venedig verbunden und durch Rückgriff auf mythische Gestalten zusätzlich überhöht.98 Mit der Rückkehr ins Hotel setzt eine weitere Phase ein, ausgelöst durch die Begegnung des Erzählers mit einer schönen Frau, welche mit dem Licht assoziiert wird: „Nirgends mehr lebte das Licht als hier in der Nähe der Frau“ (EGB 169). Elemente wie der Schwung ihrer Augenbrauen erinnern ihn an die in der Geschäftsauslage erblickten Schmetterlinge, der „bloße Hals“ revoziert den vom Umhängetuch befreiten Nacken der Mädchen. Es ist jedoch der Blick-Tausch derer, die vorübergehen, der in seiner

9:1 In Der Abenteurer und die Sängerin sind die Muscheln klar erotisches Bild: „Mit rosenfarbnen Muschellippen küßte/das Meer und leckte mit smaragdnen Zungen/die Füße dieser Stadt! Die Kirchen stiegen/wie Häuser der verschwiegnen Lust empor —“ (D I 514). 96 Vgl. Stamm, S. 218. 97 Vgl. Bärbel Götz’ Interpretation: „der kreative Akt wird in Analogie zum (kosmischen) Zeugungs- und Geburtsvorgang phantasiert.“ S. 173. 98 Venedig ist dabei - wie auch für Hofmannsthal selbst - der Ort, an dem die Entstehung von eigenen Werken besonders gut von der Hand ging: „die Stadt meiner arbeitsamsten Arbeit, meiner konzentriertesten Konzentranon und meiner einfältigsten Einfälle“ (B II 159). Der Text wurde später als eine Art ‘Prolog’ zu Der Abenteurer und die Sängerin verfaßt, und Hofmannsthal fuhr in der Regel ein- bis zweimal im Jahr nach Venedig, um durch dessen positive Atmosphäre in seinem Schreiben befördert zu werden

Erinnerung schöner Tage

271

gleichzeitigen Nähe und Distanz das Begehren im Erzähler erzeugt. Wie in Das Glück am Weg oder Die Wege und die Begegnungen spielt sich die „eigentliche entscheidende erotische Pantomime“ (EGB 161) im Aneinandervorbeigehen ab, in der Begegnung, die keine wirkliche Begegnung ist. ” Dabei fällt auf, daß diese fremde Frau sogleich zum Kunstwerk stilisiert und damit der Realitätsebene entrückt wird: „Sie war eine von den Englände¬ rinnen, die antiken Statuen gleichen“ (EGB 168). An diese Stilisierung schließt sich die Mythologisierung als ‘Reaktualisierung der Antike’,1™1 mythische Gestalten werden herangezogen, um das erotische Moment der Begegnung in gleichwohl verhüllter, kunstvoller Form zu fassen: „Sie hätte m einem Maskenspiel Diana spielen mögen, die von Aktaon überrascht wird“ (EGB 168) — eme Phantasie, die sowohl auf die “keusche’ Zurückhaltung der Frau anspielt, die ihren Partner nicht bei sich übernachten läßt, als auch auf den Wunsch, sie selber nackt zu sehen, womit sich die Angst-Lust des verbotenen Blickes verbindet.101 Ihr Partner wird derweilen mit einem „jungen Nero“ verglichen, Schönheit, Stolz und vielleicht Grausamkeit gesteht ihm der neidvolle Beobachter somit zu. Durch eme Tapetentür - Inbegriff der unendlichen Möglichkeiten eines Hotelauf¬ enthaltes - lauscht der nun auf dem Bett liegende Erzähler den Geräuschen aus dem Nebenzimmer, hört das Wasser unter sich plätschern und den Gesang von Ausflüglern zu den Inseln (EGB 168f). Erotische Motivik herrscht auch hier: das Wasser „leckt“ an den marmornen Stufen des Hauses, die singenden Menschen sitzen „beieinander“ im Gras „zwischen fünftausend blühenden Lilien und Rosmannstöcken“ (EGB 169) - Zweisam¬ keit, Gesang und die Begegnung, ja Vermischung von Wasser und Land bestimmen die Assoziationen des zunehmend in den Traum übergehenden Bewußtseins. Die Laute aus der Ferne der Nacht vermischen sich jedoch gleitend mit den Lauten aus dem Neben¬ zimmer: Die Töne waren wie hochfliegende Vögel, so hoch, daß sie das Licht, das hinter der Welt hinabgestürzt ist, noch halten, bis es überall wieder zu leben angefangen. Nun erlosch das Singen, aber auf einmal tauchte es ganz nahe wieder auf, dunkel tönender, voller, wie der seelenvolle Laut eines Vogels war es, so nahe der menschlichen Sprache, menschlicher als die Sprache, getränkt mit dunklem hervorquellendem Leben, nicht überlaut und doch ganz nahe bei mir. Dort hinter der Tapetentür war es: es war kein Singen, es war ja das leise, dunkeltönige Lachen dieser schönen großen Frau: o wie sie ganz in diesem Lachen gewesen war, ihr schöner hoher Leib, ihre gebietenden Schultern. (EGB 169)

99 „Es geht immerfort die Wahrheit an uns vorüber, die wir vielleicht hätten verstehen können, und die Frau, die wir vielleicht hätten lieben können ...“ (Age o/Innocence, EGB 25). 100 Stamm, S. 219. «» Vg], Götz, S. 174f. Auch Wolfram Mauser: Diana und Aktäon. Zur Angst-Lust des verbotenen Blicks. In: Irmgard Roebling (Hg.): Sehnsucht und Sirene. Vierzehn Abhandlungen zu Wasserphantasien. Pfaffenweiler 1992. S. 293-327. In einer früheren handschriftlichen Fassung kommt es zudem zu einem Zwischenfall mit dem Direktor, der den Erzähler darum bittet, sein Zimmer an eben jene Dame und ihren Freund abzutreten, damit sie „zwei Zimmer mit einer Verbindungstür“ haben könnten, was der Erzähler (aus Eifersucht? aus Mißgunst?) ablehnt. Beim Abendessen beobachtet er das Paar und versucht sein Ausgeschlossensein umzubewerten: „Aber trotzdem war es in diesem seltsamen Augenblick schöner der Fremde der Herr des einsam wartenden Zimmers zu sein, als der Mann oder der Geliebte dieses schönen Wesens.“ SW ERZ I, S. 230.

272

5.2 „Sichhaben und Sichnichthaben“

In einer apokalyptisch anmutenden Vorstellung vom Abstürzen des Lichtes hinter die Weltkugel, die aber zugleich visuell nachvollziehbar erscheint, insofern sich hoch oben im Gefieder fliegender Vögel noch Reste des Lichtes der untergegangenen Sonne einfangen können, kommt es zur Vermischung von Gesang, Vogelmotiv, Lichtmotiv—allerdings nur um desto intensiver den Körper der fremden Frau in den Urlauten ihrer durch die Tür dringenden Sprache empfinden zu können. Wichtig dabei ist, daß das Gesprochene unverständlich bleibt und so die Ebene des Naturlauts nicht verläßt: „Ich konnte nicht verstehen, was sie sprachen. Versagte sie ihm, um was er flüsternd bat? Sie durfte gewähren, sie durfte versagen, sie durfte alles. Es war solch em schwellendes Gefühl ihres Selbst im Klang ihres halblauten Lachens“ (EGB 169). Zugleich versetzen ihn die Geräusche im Nebenzimmer in seine Kindheit zurück, rufen Erinnerungen an die UrSzene im elterlichen Schlafzimmer wach, was durch die in der ganzen Erzählung stark ausgeprägte (ödipale) Dreieckskonstellation, bei der der Erzähler immer die Außenseiterpo¬ sition einnimmt, noch verstärkt wird.102 Erregt durch „das leise, dunkeltömge Lachen dieser schönen großen Frau“ (EGB 169) phantasiert sich der Lauschende die Erfüllung seines (ödipalen) Wunsches, diese möge sich ihrem Rivalen versagen. Sprechen wird hier so zur „erotischen Pantomime“, ist letztlich naturhafte Verständigung, reine Körperlichkeit jenseits der formalen Regeln menschlicher Sprache. Der Partner der Frau verläßt ihr Zimmer, und in diesem Moment kommt es zur vollen Entfaltung der sexuellen Wunschträume des Erzählers in einer mythischen Phantasie, in der er sich als Zeus imaginiert, der in der Maske des Amphitryon die fremde Frau als Alkmene m Besitz nimmt: So war sie allein. Es war in diesem Augenblick herrlicher, von dieser Einsamkeit umspielt allein zu sein und neben ihr, als bei ihr. Es war eine Herrschaft über sie aus dem Dunklen. Es war Zeus, dem noch nicht eingefallen ist, daß er Amphitryons Gestalt wie einen Mantel um seine göttlichen Glieder schlagen kann und ihr erscheinen, die zweifeln wird und an ihren Zweifeln zweifeln und ihr Gesicht verwandeln unter diesen Zweifeln wie eine Welle. (EGB 169)

Zwei Mythen, die als kulturelle Codierungen die Literatur nachhaltig geprägt haben, drücken hier die Position des Erzählers zur fremden Frau aus: Im Bild des Aktäon bezeugt sich der entehrende Blick des Mannes auf die Frau (die keusche Göttin Diana), wobei dessen grausame Bestrafung (er wird von seinen eigenen Hunden zerfetzt) das aggressive und bedrohliche Moment der Sexualität hervorhebt; und den täuschenden Blick Alkmenes auf den in ihren Mann Amphitryon verwandelten Jupiter, der das Moment der Macht und Herrschaft im Sexuellen, zugleich aber auch der Austauschbarkeit von Körpern, hervorhebt. „Diese Mythen, die (als Verwandlungsphantasien - ‘auf Verwandlungen geht unsere größte Lust’ EGB 170) auf den sexuellen Besitz der Frau, die Gefährdung der Kultur durch Einbrechen der Sexualität, sich nchten, werden vom Autor im Vorgang der Erzählung - als emem Vorgang des Belauschens - aufgelöst und in das indisünkte Geräusch der Naturlaute überführt: Stimmen im Nebenzimmer, deren Worte nicht verstanden werden, das Plätschern eines Dorfbrunnens, dann das Lecken der Meereswellen an den Stufen, singende Stimmen in der Ferne, Töne wie hochfliegende Vögel, dann ein Vogellaut aus der Nähe, das Lachen der Frau im Nebenzimmer: ‘Sprache getränkt mit dunklem hervorquellenden Leben’ (EGB 169) - nicht mehr das Zitaten- und Mythenreser-

",:i Vgl. Götz, S. 177. Auch Neumann: Die W'ege und die Begegnungen, S. 70.

Erinnerung schöner Tage

273

von der Literatur, sondern der aus der akustischen Urphantasie (dem Belauschen der Urszene) dringende Naturlaut selbst, der — alle kulturellen Reminiszenzen löschend — in das Gemurmel der Sprache eingeht.“11'3 Licht und Laut, indisdnkte Naturphänomene, werden im Text gleichwohl zu Bedeutungsträgern für einen Panerotismus des Kreativen, der sich im sich anschließenden “Traumübergang’ umso deutlicher bezeugt. Der Erzähler wehrt sich gegen den Schlaf, der ihn überkommen will, er will nicht ins „Dunkel“ entgleiten, sondern „über dem Leuchtenden kreisen, über der Wirklichkeit, über mir und dieser Schlafenden“ (EGB 169): Aber das Dunkel wollte mich in sich hineinziehen, in ein schwarzes Boot, das auf schwarzem Wasser hinglitt. Nirgends mehr lebte das Licht als hier in der Nähe dieser Frau. Mein Denken dufte nicht ganz ins Dunkel fallen, sonst schlief ich auch: wie ein Sperber mußte es immer über dem Leuchtenden kreisen, über der Wirklichkeit, über mir und dieser Schlafenden. Wollust des Fremden, der kommt und geht... — so nährte sich mein Denken vom Leuchtenden und kreiste weiter — ... die Anrechte des Herrn haben und doch fremd sein ... So muß es diesem zumute sein, der heute nicht neben seiner Geliebten schlafen darf. So muß es sein. Kommen und Gehen. Fremd und Daheim. Wiederkommen. Zuweilen kam Zeus wieder zu Alkmene. Auf Verwandlungen geht unsere tiefste Lust. (EGB 170)

Das Geheimnis sich erneuernder erotischer Attraktion wird hier als Moment der ewigen Fremdheit, Freiheit, Willkür m der Möglichkeit, sich zu verwandeln, gefaßt. Das Entgleiten in Halbschlaf und Traum, gegen das sich der Erzähler zur Wehr setzt, weil er entweder vor dem eigenen Unbewußten sich fürchtet oder aber die Machtphantasie seines männlichen Zeus-Ich noch länger genießen will, wird hier durch Gedankenstriche und Punkte markiert, die die Übergänge zwischen den traumhaften Assoziationen typographisch verdeutlichen. Nach dem Erinnern des Amphitryon-Mythos geht der Erzähler in einen Traum über, nachdem er sich dagegen zur Wehr gesetzt hat. Die Macht der Bilder ist stärker als das sich gegen sie wehrende wache Bewußtsein, was sich an der hell-dunkel Metaphorik zeigt: „es reißt mich hin in die Nacht“.104 Mythos und reale Situation, Katharina und die Engländerin beginnen sich im folgenden Traum zu vermischen, und das Begehren nach der Frau bezeugt die ewige Suche nach dem ‘Licht’, das in sie eingegangen ist. Schöpferische Produktion wird somit möglich im Durchlaufen einer Kette von Erfahrungen: eine durch die umgebende Welt ausgelöste Grundsümmung muß vom Erzähler aufgenommen werden in dem Bedürfnis, dieser zum Dauern zu verhelfen. Erotisches Begehren und Wiederein¬ tritt m die Antike führen schließlich in die Welt des Traumes, in der das Ich in der Abspaltung von sich selbst fähig wird zu einer Haltung, die sowohl das Habenwollen als auch das Lassen zugleich ermöglicht.105 Die Traumvision dieses Textes sucht in Hofmannsthals Werk ihresgleichen, näher als hier ist er Freuds Traumdeutung nirgends mehr entgegengekommen: Auf Verwandlungen geht unsere tiefste Lust. Von dieser entzückenden Wahrheit brannte das Denken so hell wie eine lodernde Fackel. Nein, vier lodernde Fackeln,

103 Neumann: Die Wege und die Begegnungen, S. 70. UM Siehe auch Paul Requadt: Die Bildersprache der deutschen Italiendichtung. Von Goethe bis Benn. Bern und München 1962. 105 Götz spricht von einer „Phantasie, die um Wunsch und Abwehr, Faszination und Angst, Erfiillungserwartung und Vereitelung kreist. Venedig gerät dabei zum topographischen Ort des Unbewußten, zum symbolischen Schauplatz des Lustprinzips.“ S. 175f.

274

5.2 „Sichhaben und Sichnichthaben“

über jedem Bettpfosten eine. Es ist der alte finstre Fackelwagen; jetzt legen sich die Pferde ins Geschirr, es reißt mich hin in die Nacht. Ich muß liegen, stilhegen, wie ein Schlafender, denn es geht ja bergauf, hinauf ins Gebirg, auf steinemden Brücken über tosende Bäche, ganz hinauf ins alte Dorf. Hier geht der Bach still und tief zwischen den alten Häusern hin. Ich muß mich eilen: ich muß ja den Fisch fangen, eh der Morgen graut. Im Dunkel, wo das Mühlwasser am tiefsten und am reißendsten geht, ober dem Wehr, dort steht im Dunkel der große alte Fisch, der das Licht geschluckt hat. Stechen muß ich nach ihm mit dem Dreizack, so kann ich das Licht mit den Händen aus seinem Bauch nehmen. (EGB 170)

Rasende Fahrt mit dem finsteren Fackelwagen, der das umfunktionierte eigene Bett darstellt, hinauf in die Berge - hier stellen sich Assoziation her zum rasenden Aufwärts¬ schreiten am Traunstein im Geiger vom Traunsee-, der Aufstieg ist Schöpfungsphantasie m schwindelnden Höhen und zugleich Reminiszenz der italienischen Berglandschaft, die lodernden Fackeln erinnern an venezianische Gondeln, an eine Grabvision oder aber ein nächtliches Rendezvous. Pseudologik des Zwangs zur Erfüllung bestimmter Aufgaben (ich muß still liegen, denn es geht ja bergauf) und der Zwang zur Eile, um eine spezifische Aufgabe zu erfüllen („ich muß ja den Fisch fangen, eh der Morgen graut“) gehören auch in Freuds Traumdeutung zu den grundlegenden Elementen des Traumes. Die ‘tritonische’ (EGB 597) Lagunenstadt Venedig scheint dabei das Motivarsenal vorzugeben: das von einem großen alten Fisch verschluckte Licht muß durch die Perforation mit einem Dreizack wieder aus dessen Bauch geholt werden. Zugleich enthält der Traum auch Elemente einer Eigeninterpretation, steht somit zwischen Traum und Traumarbeit, deutet sich im Prozeß seiner Entstehung selbst, was zu neuen Assoziationen den Anlaß bietet: Das Licht, das er verschluckt hat, ist die Stimme der Schönen, nicht die Stimme, mit der sie spricht, sondern ihr geheimstes Lachen, womit sie sich gibt. Ich muß den Dreizack suchen, weiter oben am Bach, zwischen Wacholdergebüsch.

Die

Wacholder sind klein, aber sie sind mächtig, wenn sie so beisammenstehn: sie sind treu, das ist ihre Kraft. Wenn ich unter sie gerate, verwandle ich mich me mehr. (EGB 170)

Licht und das Lachen der Frau werden hier klar zum sexuellen Motiv verdichtet, sind Zeichen ihrer Hingabe. Der Dreizack wird in diesem Kontext zu einem Symbol der männlichen Genitalien, das undurchdringliche Wacholdergebüsch ist möglicherweise als weibliches Schamhaar deutbar, das dem ‘Angriff des Mannes entgegensteht. Die merkwürdige traumlogische Folgerung, das ein Durchdnngen des Wacholders künftige Verwandlungen verhindern werde, ließe sich möglicherweise als die Übernahme einer festen Rolle, als Initiationsgeschehen in der sexuellen Eroberung verstehen: mit der sexuellen Vereinigung ist ein Abschluß, ein Endzustand erreicht, der die maskenhafte Vanation zwecks Eroberung überflüssig macht. Von der schönen Frau aus dem Nebenzimmer verschiebt sich im folgenden der Focus auf die jungfräuliche Weiblichkeit Katharinas: Ich will nur mit der Hand zwischen sie hinein nach dem Dreizack greifen, da zuckt etwas, das ist Katharinas noch nie geküßter Mund. So stehe ich wieder und getraue mich nicht. Aber ich bedarf ja auch dessen, was ich da suche, nicht mehr, denn es ist schon nahe dem Morgen, Ich höre Glocken und Orgeltöne. Sicherlich ist Kathi jetzt schon leise die Treppe hinunter und betet in der Markuskirche, betet wie ein Kind ein Lippengebet, träumt dann wortlos vor sich hin in der goldnen Kirche (EGB 170)

Erinnerung schöner Tage

275

Die Unmöglichkeit zuzugreifen wird hier mit der traditionellen Hemmschwelle sakrosank¬ ter \ irginität in Verbindung gebracht, Kathanna wird von der Kindfrau zum Kind, zur „Kathi“, die in ländlicher Frömmigkeit schon früh morgens die Kirche aufsucht und somit aus dem Bereich der Erotik in den des Heiligen entflieht — eine Assoziation, die auch durch tatsächliches Glockengeläut und Orgeltöne der erwachenden Stadt ausgelöst sein könnte. Ist dieser erste Teil des Traumes Zeugnis einer Verbildlichung sexuellen Begehrens im Bild von Dreizack und Wacholder, so folgt er zugleich den Gesetzen der Verschiebung und ^ erdichtung in der Bildlichkeit des Fisches, der das Licht verschluckt hat: Befreiung des Lichtes ist zugleich sexuelle Penetration, Befreiung des Urlauts des Lachens der begehrten Frau durch ihre Befnedigung, und die Hemmung durch den Wacholder ist Zeichen für die Übertragung dieser Phantasie auf jenes andere unerreichbare weibliche Wesen, das gleichfalls als Tagesrest aus den Erlebnissen der vorherigen Stunden in den Traum seinen Eingang gefunden hat. Doch gibt der Text selbst, da er zwischen Traumphantasie und Metatext angesiedelt ist, eine Interpretation. Streben nach der sexuellen Vereinigung mit der Frau ist eine Vereinigung, zu der er offenbar aufgrund innerer Hemmungen nicht in der Lage ist.106 Erneut trifft das Begehren nach dem Dreizack auf Widerstand, Wacholder stehen im Weg, die möglicherweise mit Wache-Halten oder aber auch Wach-Halten zu assoziieren sind. Bedeutsam ist, daß diese 'Wachhalter’ eben jene Verwandlung künftig zu verhindern drohen, die kurz zuvor noch als Gipfel der Existenz gefeiert wurde: „Auf Verwandlungen geht unsere tiefste Lust“ (EGB 170). Wenn Verwandlung aber gerade (wie im Amphitryon-Mythos) die Erfüllung sexueller Sehnsüchte bedeutet, ist diese akut bedroht.1" Im Weg steht aber auch der ‘jungfräuliche’ Mund Katharinas, der den Griff nach dem Dreizack unmöglich zu machen scheint. Abgesehen davon, daß es sich bei dem Mund, „den ich noch nie geküßt hatte“ (EGB 166f), offenbar um einen Tagesrest handelt, scheint eben dieser jene Hemmung zu bewirken, die dem Zwang zur Eile entgegensteht („Ich muß mich eilen: ich muß ja den Fisch fangen, eh der Morgen graut“). Nun beginnen offenbar äußere akustische Einflüsse (Glocken und Orgeltöne) und vielleicht auch das beginnende Tageslicht in das Bewußtsein des Schläfers zu dringen, wodurch er sich von seiner Aufgabe, das Licht aus dem Bauch des Fisches zu holen, befreit glaubt. Hierdurch wandelt sich auch der Charakter Katharinas, deren Name hier plötzlich zu einem zärtlichen Kathi verkürzt wird - entweder Zeichen jener Neigung, oder aber (was näher liegt) Beginn der ‘Infantilisierung’ derselben, wie sie sich im weiteren zeigt. Sie wird als frommes, die Kirche besuchendes Kind dargestellt, was jede weitere erotische Anziehung ad absurdum führt und möglicherweise auf die Zensur des Träumenden zurückgeführt werden kann. Dabei steht der Traum jedoch nur am Beginn der eigentlichen schöpferischen Betätigung: „Hofmannsthal war sich bewußt, welche Bedeutung [...] Träume für seine Vorstellung vom Schöpferischen besaßen; daß sie nämlich im unmittelbaren Bezug zu Erinnern und Vergessen als kulturellen Tätigkeiten (im Vorfeld ästhetischer Produktion) zu setzen seien

106 Bärbel Götz’ Interpretation, die die Situation als ödipale deutet, halte ich dabei für unpassend. Weder liegt es nahe, hier Fisch wie Zimmer als Bild des Leibes der Mutter zu deuten, noch muß das Eindringen in den Fischleib auf den Wunsch nach Vereinigung mit der Mutter gedeutet werden. Vielmehr scheint mir hier der Punkt zu sein, an dem Hofmannsthal den rigiden Zuordnungen, denen auch Freud zunehmend Vorschub leistete, ganz sicher widersprochen hätte, da es hier um die erotische Attraktion durch die beiden in der Erzählung auftretenden Frauen, an keiner Stelle aber um die Mutter geht. Vgl. Götz, S. 181 f. 107 Götz deutet den Griff nach dem Dreizack zwischen dem Wacholder als Onanie-Phantasie, wobei die Büsche das Schamhaar repräsentierten und die Angst eine mit diesem Tabu verbundene Kastrationsangst sei. Vgl. Götz 183f.

5.2 „Sichhaben und Sichnichthaben“

276

[.,.].“108 Die bekannten und durch Freud systematisierten Traummechamsmen der \Terdichtung, Verschiebung, Symbolisierung erhöhen gerade den Eindruck der Au¬ thentizität dieses erdichteten Traumes.109 Im sich anschließenden Folgetraum tritt mit einer Kindheitsphantasie eine weitere Zeitebene hinzu, und der Traum wird vom erotischen Wunschtraum in eine Schöpfungsvision verwandelt: Es war ein Schlaf und immer ein neues Hinüberwachen in neue Träume, Besitzen und Verlieren. Ich sah meine Kindheit ferne wie einen tiefen Bergsee und ging in sie hinein wie in ein Haus. Es war ein Sichhaben und Sichnichthaben - Alleshaben und Nichtshaben. Es mischte sich Morgenluft der Kinderzeit und Ahnung des Todseins, die Weltkugel schwebte vorüber im blauen starren Licht, indes ein Toter tiefer und tiefer ins Dunkel sank, und dann war es eine Frucht, die mir ent¬ gegenrollte, aber meine Hand war zu kalt und steif, um sie zu essen: da sprang ich selber als Kind unter dem Bett hervor, auf dem ich selber mit kalten, steifen Händen lag und haschte danach. (EGB 171)

Dabei spielt das Wechselspiel zwischen Bewußtheit und Unbewußtheit eine große Rolle, das Nacheinander von Wachzustand und Traumzustand „findet im kreativen Prozeß im steten Wechsel zwischen bewußten, differenzierten und unbewußten, primärprozeßhaften Zuständen statt“.110 Im zweiten Teil dieses Traumes erfolgt die Begegnung des Erzählers mit dem eigenen Kindheits-Ich, und nur dieses ist in der Lage, nach der 'Frucht’, dem Werk zu greifen, während- sem gegenwärtiges Ich mit steifen kalten Händen auf dem Bett liegt. Erst im gleichzeitigen ‘Zugreifen’ und dem Bewußtsein, die entweichenden Gestalten doch nicht fassen zu können, wird Kunst möglich als gleichzeitiges Sich-Bemächtigen und sich Enthalten-Können.* * 111 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden eins in dieser Traumvision. „Morgenluft der Kinderzeit und Ahnung des Todseins“ (XX\TII 68) verbinden sich miteinander und die Differenz zwischen Objektwelt und Subjekt wird aufgehoben: „Sichhaben und Sichnichthaben - .Alleshaben und Nichtshaben“. Beides ist gleichermaßen möglich und wirklich, der völlige Selbst- und Weltbesitz wie auch dessen Verlust — der Traum als Ort der Wiedergewinnung von Zeitenfülle in der Zeidosigkeit ist Voraussetzung der künstlerischen Produktion.112 Im Traum erlebt der namenlose Protagonist und Erzähler die Rückkehr zu seiner Kindheit, wobei auch hier eine Verräumlichung stattfindet. „Die im Traum wiedergewonnene Erinnerung wird so zu einem Katalysator der künsderischen Produktion.“113 Die ‘verbotene’ Frucht muß dabei nicht auf die Fixierung des Kindes auf die Mutter hin gedeutet werden,114 bedeutsam ist vielmehr die Aufspaltung des Erzähler-Ichs in eine ungehemmte Kinderseite und eine gehemmte Erwachsenenseite.

108 Neumann: Die Wege und die Begegnungen. S. 68. 109 Vgl. dazu Götz, S. 185. 1,0 Götz, S. 186. 111 In einer Notiz zu Erinnerung schöner Tage beschreibt Hofmannsthal die „zwei Unendlichkeiten“, zwischen denen der Mensch steht: „Dessen was sein könnte und dessen was ist, was er besitzt und zugleich nicht besitzt.“ (SW ERZ I 228) n2 Vgl. Stamm, S. 216. 113 Stamm, S. 216. 114 Götz spricht in Anlehnung an Freud davon, daß die Frucht für die Mutterbrust stehe - eine erneut viel zu enge Auslegung, wie ich finde, zumal das Bild der Frucht seit der Ursünde in der Genesis für jede Art von ‘verbotener’ Sexualität eintreten kann. Vgl. Götz 182.

Erinnerung schöner Tage

277

Schöpferische Produktion ist nur in der ‘Selbstvergessenheit’ möglich, einem Zustand zwischen Wachen und Traum, in dem die Hemmschwellen des zensierenden Bewußtseins zum emen so stark herabgesetzt sind, daß es zu frei flottierenden Prozessen kommen kann, zum anderen aber diese Prozesse dennoch partiell einer Kontrolle (Zensur) durch das Tagesbewußtsein unterliegen. Der Traum wird zum Feld schöpferischer Betätigung, m ihm verwandeln sich die Spuren des Natürlichen und Erotischen: „Es war ein Schlaf und immer ein neues Hinüberwachen in neue Träume, besitzen und verlieren“ (EGB 171). Das Verdrängte wird vergessen, kehrt wieder und wird in seiner schöpferischen Umformung erneut vergessen. Der Text über die Entstehung der Kreativität aus der „erotischen Pantomime“ endet mit einer Evokaüon der Apfelsinen-Episode aus Mönkes Erzählung, der „Urszene aller literarischen Schöpfüngsphantasien“:"5 Die weißen Blätter leuchteten im vollen Morgenlicht, sie wollten mit Worten bedeckt sein, sie wollten mein Geheimnis haben, um mir dafür tausend Geheimnisse zurückzugeben. Neben ihnen lag die schöne, große Orange, die ich abends hingelegt hatte, ich schält sie und aß sie eilig. Es war, als lichtete ein Schiff die Anker und ich müßte hastig fortgehen in eine fremde Welt. (EGB 171)

Der Wiedergewinn des aktiven Sprachvermögens ist im Verzehren der Orange erreicht. Wie ein wirklicher Traum weist auch dieser fiktive Traum Elemente auf, die sich anhand von Freuds Traumdeutung entschlüsseln lassen - mit dem Unterschied, daß sie hier bew'ußt arrangiert worden sind, um von emem Leser des Textes entschlüsselt werden zu können. Die Abfolge des Wach- und Traumzustandes entspricht im kreativen Prozeß dem steten Wechsel zwischen bewußten und unbewußten Phasen. Dieser Zwischenbereich der (nietzscheanischen) Selbstvergessenheit wird von Hofmannsthal beschrieben als ein „Besitzen und Verlieren.))..] Es war ein Sichhaben und Sichnichthaben — Alleshaben und Nichtshaben“ (EGB 171). Da eine Freisetzung der kreativen Kräfte nur in diesem Zwischenzustand möglich ist, muß das Unbewußte zugleich an die Oberfläche gelassen und doch kontrolliert vom Bewußten sein."6 Erinnerung wird so zu emem über das Unbewußte, ins Vergessen Abgesunkene laufenden Prozeß, der nach den Gesetzen der Traumlogik verfaßt ist: die Gesetze von Zeit und Raum sind aufgehoben, Erinnerungen aus frühester Jugendzeit und unmittelbare Tagesreste verbinden sich zu einer von geheimen Sehnsüchten genährten, flottierenden Assoziationsreihe, die scheinbar Beziehungsloses miteinander in Beziehung zu setzen und bildhaft zu vergegenwärtigen weiß. Schreiben, künstlerische Produktion wird so zu einer ‘Hermeneutik des Ennnerns’, da wie im Traum nicht lediglich eine Vermischung aller Elemente erreicht wird, sondern diese zugleich der niemals ganz schlafenden ‘Zensur’ eines ordnenden Tagesbewußtseins unterliegen. Die Selbstvergessenheit des schaffenden, produzierenden Künstlers ist somit stets zugleich auch Erinnern, Ordnen und Strukturieren, gewissermaßen Traumarbeit am eigenen Traum.

,b Neumann, S. 70. 116 Götz interpretiert den Text als Studie über den Prozeß der literanschen Kreativität: „Erinnerung schöner Tage ist insofern kein Text über die Konzeption und ‘fieberhafte Ausarbeitung’ von Der Abenteurer und die Sängerin, sondern ein Text über die sich im Vorfeld vollziehenden psychodynamischen Prozesse.“ S. 189.

278

5.3 „Ein zerspaltenes Gefühl von der Gegenwart“ — Kulturelle Identität und Alterität in den Briefen des Zurückgekehrten (1907) Glaubte der Reisende in den bisher behandelten Texten, im Fremden das Eigene wiederzuentdecken, ja las’ er die Landschaften Italiens letztlich mit den Augen eines europäischen Bildungsreisenden jahrhundertealten Konventionen gemäß als Seelenland¬ schaften, so ist dieser Konsens zwischen traditioneller Anschauung einer europäischen Kulturlandschaft und modernem Betrachter in den Briefen des Zurückgekehrten von 1907 zerbrochen."7 Achtzehn Jahre Abwesenheit aus Europa haben ihn zum Fremden im eigenen Land werden lassen und machen selbst eine rationale Vorbereitung auf die Wiederbegegnung mit Europa unmöglich: Auf dem Schiff machte ich mir Begnffe, ich machte mir Urteile im voraus. Meine Begnffe sind mir über dem wirklichen Ansehen in diesen vier Monaten verloren¬ gegangen, und ich weiß nicht, was an ihre Stelle getreten ist: ein zerspaltenes Gefühl von der Gegenwart, eine zerstreute Benommenheit, eine innere Unordnung, die nahe an Unzufriedenheit ist — und fast zum erstenmal im Leben widerfährt mirs, daß ein Gefühl von mir selbst sich mir aufdrängt. (EGB 545)

In der Abweichung des eigenen Landes von seinem Ennnerungs-Bild kommt es zur verstärkten Empfindung der eigenen Individualität — wie das Kind sich nach Überwindung des Spiegelstadiums in der Erkenntnis der Fremdheit und Vertrautheit des eigenen Bildes als eigene Entität, als Subjekt entdeckt, so wird dieser Reisende in der Begegnung mit dem fremd gewordenen ‘Mutterland’ nun zur umso schärferen Selbstbeobachtung angespornt.118 Die eigene Identität, die während der Reisen des nun Zurückgekehrten stets un¬ problematisch blieb, da die Fremdheit der von ihm besuchten Länder und Menschen in ihrer Andersartigkeit gerade die Sicherheit darüber, was es heißt, ‘deutsch’ zu sein, in ihm bestärkte, wird nun mit der Rückkehr in die gewandelte, dem Erinnerungsbild nicht mehr kongruente, Heimat problematisch. Hatte William James im Anschluß an Bergsons Erinnerungstheohe Identität als die Trennung des Subjekts in ein beobachtendes Subjekt („I“) und ein beobachtetes Subjekt („Me“) vorgenommen, so hatte auch er die Kon¬ stitution von Identität als Akt der Erinnerung gefaßt. Identität entsteht immer erst nachträglich, durch die Reflexion auf eine vorausgehende Erfahrung, und nur so kann es zu einer Kontinuierung von Subjektivität im stream of consdousness kommen:

1,7 Die fünf vorliegenden Bnefe stellen offenbar lediglich den ersten Teil einer „Art Novelle in Briefen“ dar, wie Hofmannsthal in einem Brief an seinen Vater ausführt (17. Juli 1907) B I 283. Geplant war offenkundig eine Art von Bildungsroman, bei dem sich der Zurückgekehrte in seiner Heimat Österreich niederlassen und eine Familie gründen sollte, wobei die Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit und Kindheit im Vordergrund stehen sollte. Von diesen Plänen ist bis auf Entwürfe jedoch nichts verwirklicht worden. Die Bnefe I-III erschienen in zeitlichem Abstand nacheinander in der Wochenschrift für Deutsche Kultur Morgen (am 21.6., 5.7., und 30.8.1907), die Briefe IV und V hingegen in Kunst und Künstler. Illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe. 6. Jahrgang, 5. Heft. Berlin im Februar 1908. Siehe zu den handschriftlichen Entwürfen Ellen Ritter: Hugo von Hofmannsthal: Die Briefe des Zurückgekehrten. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1988. S. 226-252. 118 Die Thematik des ‘Fremden’ genießt gerade eine Hochkonjunktur in der Literaturwissenschaft. Erwähnenswert scheint unter den neuesten Erscheinungen: Faszination und Schrecken des Fremden. Hrsg. v. Rolf-Peter Janz. Frankfurt a.M. 2001.

Kulturelle Identität und Alterität in den Briefen des Zurückgekehrten (1907)

279

The idendty which the / discovers as it surveys this long procession, can only be a relative identity, that of slow shifting in which there is always some common ingredient retained. The commonest element of all, the most uniform, is the possession of the same memories. (...) Thus the identity found by the / in ist me is only a loosely construed thing, an identity „on the whole“, just like that which any outside observer might find in the same assemblage of facts.119

Die Relativität von Identität wird hier durch den langsamen, beständigen Wandel (slow shifting) des eigenen Seins erklärt, das gleichwohl immer einen Kern (some common ingredient) beibehält, so daß es möglich ist, von ein und demselben Subjekt zu sprechen. Wie bei Emst Mach wird Identität hier somit atomistisch erklärt, als mehr oder minder lose Verbindung von Empfindungskomplexen, die sich zu stets leicht gewandelten Entitäten verdichten - aber gleichwohl, und hier liegt die Pointe bei James, stets noch als ‘dasselbe’ identifizierbar bleiben, em gemeinsames Moment beibehalten. Wie das ‘Me’ ist auch das ‘I’ ständigem Wandel unterworfen: The I which knows them cannot itself be an aggregate: neither for psychological purposes need it be considered to be an unchanging metaphysical entity like the Soul, or a principle like the pure Ego, viewed as „out of time“. It is a Thought, at each moment different from that of the last moment, but appropriate of the latter, together with all that the latter called ist own.12"

Für James wird diese Kontinuität des Ich nur noch aus physiologischen Prozessen erklärt, der Glaube an ein transzendentes, kohärentes Ich ist eine Illusion: „Resemblance among the parts of a continuum of feelings (especially bodily feelings) experienced along with things widely different in all other regards, thus constitutes the real and venfiable ‘personal identity’ which we feel. There is no other identity than this m the ‘stream of subjective consciousness’.“121 Dieses physiologische Modell einer atomisierten und sich gleichwohl durch gewisse kohäsive Momente als Identität konstituierenden Subjektivität findet seine soziologische Ergänzung in Charles Horton Cooleys Konzeption eines Looking-Glass-Self. In seinem Werk Human Nature and the Social Order von 1902 bestimmt er die Entstehung von Identität als Summe der Fremdbilder, mit denen das Selbst in der Gesellschaft konfrontiert wird. Dieses looking-glass-self setzt sich aus drei Aspekten zusammen: „the Imagination of our appearance to the other person; the imagination of his judgment of that appearance, and some sort of self-feeling, such as pride or mortification.“122 Die anderen, die Gesellschaft spielt somit eme grundlegende Rolle bei der Konstitution eines SelbstGefühls, wie auch in George Herbert Meads behavioristischem Konzept in seinem Buch Mind, Seif and Society von 1934. Für ihn bedeutet Identitätsfindung, sich selbst als Objekt zu sehen, wobei es zu dieser Objektivierung nur in der Interaktion von Individuum und Gesellschaft kommen kann. In der Übernahme eines verallgemeinerten Außenstand¬ punktes - the generalized other - gewinnt das Ich Distanz zu sich selbst und konstituiert sich in der Übernahme von Rollen.123 Identität ist somit nicht mit der Geburt gegeben,

119 William James: The Principles of Psvchology. 2 Bände. Cambridge/Mass, und London. 1981. S. 352. I2"James, S. 379. 121 James, S. 319. Die revidierte Ausgabe erschien 1922. Charles Horton Cooley: Human Nature and the Social Order. New Brunswick/London. 2. Auflage 1992. S. 183f. 123 George Herbert Mead: Mind, Seif and Society: From the Standpoint of a Social Behaviorist. Chicago 1934. S. 154.

280

5.3 „Ein zerspaltenes Gefühl von der Gegenwart“

sondern ein soziales Produkt, wodurch sich die Prozessualität von Identität ergibt. Das Andere wird zum Spiegel zwecks Objektivierung der eigenen Subjektivität.124 Die wohl berühmteste Ausdeutung der Spiegelmetapher ist in J acques Lacans Aufsatz über das „Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion“ (1949) zu sehen. Für ihn ist die Überwindung der Antithese von Subjektivität und Objektivität im Spiegelbild unmöglich. Das Kleinkind hält sein Spiegelbild zunächst für einen fremden Menschen, im zweiten Schritt erkennt es, daß es sich lediglich um ein Abbild handelt, und im dritten Schntt wird ihm bewußt, daß es selbst von diesem reflektiert wird. Das eigene Selbst wird somit nur als entfremdetes Anderes erkennbar.125 Wie Narziß unfähig ist, in der Stimme Echos das eigenständige Andere herauszuhören, so ist er schließlich mcht in der Lage, im eigenen Spiegelbild das Eigene statt des Fremden zu erkennen.126 „The first idea of seif therefore is an image of seif as ‘other’. To know oneself only through and/or as ‘other’, however, means mediation and thus alienation. Without the image of the ‘other’, there is no Image of the seif: ‘seif and ‘other’ are mutually dependent concepts.“12 Das Selbst benötigt — bei Lacan wie bei Mead — das Andere zur Erkenntnis seiner selbst. Diese Erkenntnis geht jedoch auf Kosten einer Aufspaltung, ja Fragmentierung des Selbst in ein ‘I’ und ein ‘Me’. Mit der Postmoderne wird die Spiegelmetapher schließlich zum Bild der Unmöglichkeit der Bestimmung einer festen Identität. Da jeder Spiegel immer nur auf einen anderen Spiegel gerichtet ist, vervielfacht sich ‘Identität’ ins Unendliche: Kontinuität, Konsistenz und Kohärenz werden zum Phantasma.128 Dabei kann die Aufgabe eines einheitlichen Identitätskonzeptes zugunsten von Pluralität und Fragmentarität auch positiv gesehen werden: „Die Auflösung des Ichs (des Selbst) ist Unterpfand der Befreiung aus der Verdinglichung. “1;29 Beide Momente lassen sich meines Erachtens m Hofmannsthals Briefen des Zurückgekehrten finden. Wird Identität sowohl in den Kindheitsennnerungen als auch den Reisen in der Fremde ganz eminent als durch ein kulturelles ‘Anderes’ konstituiert begriffen, so tntt in der Begegnung mit der Kunst van Goghs das Moment des Fragmenta¬ rischen in den Vordergrund und beginnt, das Paradigma einer ‘national’ oder kulturell definierten Identität durch die Erkenntnis der Prozessualität jeglicher Ich-Konstitution abzulösen. Altentät ist zunächst die grundlegende Bedingung der Erfahrung des Selbst als Selbst: im Spiegel der Fremdheit des Fremden wird das Eigene als Eigenes erkannt. Das Kind, das die ‘altdeutschen’ Bilder Dürers betrachtet, erkennt in ihnen seine österreichische Heimat, der Erwachsene findet in den anderen Kulturen, mit denen er konfrontiert ist, immer wieder zu seiner Definition des TDeutschen’ zurück, so daß ihm seme eigene Identität unproblematisch bleibt. Mit der Rückkehr in die Heimat macht sich jedoch eine veränderte Zeiterfahrung bemerkbar, die die klare Dichotomie von eigen/fremd stört: geht

124 Vgl. auch Anselm S. Strauss: Spiegel und Masken: Die Suche nach Identität. Frankfurt a.M. 1969 sowie Manfred Frank: Die Unhintergehbarkeit von Individualität: Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer ‘postmodemen’ Toterklärung. Frankfurt a.M. 1986. Vgl. Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. In: Lacan: Schriften I. Frankfurt a.M. 1975. S. 61-70. 126 Dazu Marc Henrik Gern: Identität, Individualität und Altentät in William Goldings Romanen. Tübingen 2000. S. 23. 1-7 Helga Schier: Going Beyond: The Cnsis of Identity and Identity Models in Contemporary American, English and German Fiction. Tübingen 1993. S. 60. 128 Vgl. Klaus-Jürgen Bruder: Subjektivität und Postmodeme: Der Diskurs der Psychologie. Frankfurt a.M. 1993. S. 222f. 129 Bruder, S. 8.

Kulturelle Identität und Alterität in den Briefen des Zurückgekehrten (1907)

281

die selbstverständliche Deckungsgleichheit zwischen Vorstellung und Sache verloren, so wird das eigene Ich als losgelöst nicht nur von Zeit und Geschichte, sondern auch von der eigenen Gegenwart erfahren. Das Aufbrechen der Kluft zwischen individueller Wahr¬ nehmung und kulturell erworbenen Strukturierungsmustern „treibt das Individuum in eine tiefgreifende Irritation und stellt mit der Einsicht in das Ungenügen einer Begriffssprache, die in ihrer Beziehungslosigkeit zur edebten Welt nur ‘Kunstsprache’ sein kann, die auf den Fundamenten emer stolzen Bildungstradition ruhende Lebenshaltung des Fin-de-siecleEuropa in Frage, deren Unzulänglichkeiten im Kontrast zu der als natürlich und unverstellt wahrgenommenen Lebenswirklichkeit fremder Nationalitäten und Kulturen umso schärfer zutage treten.“130 Die ‘eigene’ Kultur wird zur eigentlichen terra incogmta und auch der eigenen Körper wird nun - sei es durch das vorgerückte Alter, oder aber durch diese Empfindung der Entfremdung — als solcher plötzlich erfahren und spürbar. Versuche, sich ein ‘Bild’ von den Deutschen zurechtzubasteln, geraten zu einem bildungsbürgerlichen Katalog von Auffassungen des vergangenen Jahrhunderts: Werther und Wilhelm Meister werden als Paradigmen deutscher Kultur genannt, Identität ist somit klar das Selbstbewiißtsein eines klassisch geprägten Bildungsbürgertums. Negative Charakterisierungen der Deutschen durch Engländer finden in seinem Weltbild hingegen keinen Platz, da sie die monolithische Geschlossenheit seines positiven Definition von ‘deutsch’ als authentisch, nchtig, gut gefährden würden. Dennoch glaubt der Reisende, einen ganz ‘reinen’ Begriff der Deutschen zu haben, bevor er das Land betreten hat, alle diese Momente erfaßt er als ein „Spiegelbild, unendlich vertieft, verklärt, beruhigt“ (EGB 544) seiner selbst, befindet sich mithin noch im Stadium der unproblematischen Selbstreflexion im anderen, fühlt sich als integraler Bestandteil des umfassenden anderen, des Volkes. Versucht der Erzähler im folgenden, sich als nüchternen Geschäftsmann zu charaktensieren, der, finanziell abgesichert und mit .Ämtern und Behörden“ vertraut, als Durchschmttsbild des wohlsituierten Deutschen gelten könnte, so ist dies der Versuch, seinen Empfindungen und Erfahrungen den Geruch des ‘Spleens’ zu nehmen, sie eher als wirkliche Erlebnisse eines vernünftigen Durchschnittsmenschen denn als „vereinzelte persönliche Erfahrung“ (EGB 545) auszugeben. Identität ist hier somit kollektiv, ja ‘völkisch’ gefaßt, beruht auf der fraglosen Übereinstimmung eines durch die Leuchttürme deutscher Kultur vermittelten Selbstgefühls mit dem internalisierten Bild des Ich von sich selbst. Das Aufbrechen emer Kluft zwischen Ich und Nation und die bewußte Behauptung eines eigenständigen Selbst bekundet sich im Ausweichen vor dem Gebrauch jener deutschen „Kunstsprache“, die ihm fremd geworden ist: Aber muß ich wirklich kompliziert werden unter den Komplizierten? Ich möchte in mir selber blühn, und dies Europa könnte mich mir selber wegstehlen. So will ich es Dir Heber weitschweifig oder ungeschickt sagen und ihren Kunstworten ausweichen. (EGB 545)

Nicht philosophische Erkenntnis des Allgemeinen, sondern Details, Aphonsmen will der Reisende geben, um seinem Bnefpartner ein Bild von seinem Zustand zu vermitteln - eine Intention, die freilich an den Paradigmenwechsel von den großen philosophischen Systemen des 18. und 19. Jahrhunderts hm zu emer perspektivischen, fragmentarischen Philosophie in der Romantik und bei Nietzsche erinnert. Nicht abstrakte Theorie, sondern

de Mazza, S. 18.

282

5.3 „Ein zerspaltenes Gefühl von der Gegenwart“

„eine gewisse praktische Erfahrung, aus den Gesichtern von Menschen oder aus dem, was sie nicht sagen, etwas abzunehmen, oder eine kleine Kette von unauffälligen Details hinreichend zu dechiffneren“ (EGB 545) - hierin liegt nach Auskunft des Bnefeschreibers seine Begabung, die zudem seine Geschäftstüchtigkeit ausmacht. „The whole man must move at once“ - diese von Hofmannsthal oftmals verwendete Formel wird hier zur aphoristischen Lebensweisheit, mit der der Reisende eine alle kulturellen Differenzen überwindende Essenz gefunden zu haben glaubt, die es ihm ermöglicht, zwischen ‘ganzheitlichen’ Menschen und in sich gespaltenen zu unterscheiden.131 Weniger hypertrophes Bildungswissen als der Verlust von dessen bindender und eine kollektive Identität schaffender Kraft schemt es im Falle dieses ‘Zurückgekehrten’ zu sein, weshalb er „bei seiner Lektüre kulturell aufschlußreicher Spuren auf jene Zeichen verlegt, die keinem Text, sondern gleichsam lebendigen Körpern als Lebensspuren eingeschrieben sind"132 In fünf fiktiven Bnefen, die zu Hofmannsthals Lebzeiten niemals zusammen veröffentlicht worden sind, wird aus der Ich-Perspektive die Geschichte einer Wahrnehmungsknse erzählt, die durch die Betrachtung moderner Kunst, nämlich der Bilder Van Goghs gelöst wird.133 In der Aufhebung einer Wahrnehmungsknse durch die Kon¬ frontation mit zeitgenössischer Kunst wird so „eine ästhetische Lösung für ein soziales Problem"134 formuliert. Nicht sprachlich vermittelte Wahrheit, sondern die „unauffälligen Details“ (EGB 546) in den Gesichtern und Handlungsvollzügen der Menschen versucht er deutend zu lesen, und dies gelingt, solange er sich außerhalb von Deutschland befindet. Wie im Chandos-Bn>/ fünf Jahre zuvor ist die Krise der Zeichen auch eine Idenmätsknse, die TJnlesbarkeit der Welt’ bedeutet zugleich die Entfremdung vom eigenen Ich. Sei es unter Amerikanern, Chinesen oder Malaien, „einen guten Zug, ein Etwas in der Haltung“ meint er unabhängig von Nationalität und Hautfarbe erkennen zu können, wodurch die Fremdheit dieser Völker unter dieser bntischen Lebensweisheit subsumiert werden kann und zur Heimat wird: [...] denn es kann ein großer Zug dann liegen, wie einer fischt, und ein größerer Zug, als Du Dir möchtest träumen lassen, dann, wie ein farbiger Bettelmönch Dir die irdene Bettelschale hinhält - wenn etwas der Art mir unterkam, so dachte ich: Zuhause!Alles, was etwas Rechtes war, worin eine rechte Wahrhaftigkeit lag, eine rechte

131 Dieser auf Richard Steele zurückgehende Ausspruch aus der Zeitschnft Spectator vom 7. März 1711 lautet im Original The whole man is to move together. Das abgewandelte Zitat und die Fiktion einer mündlichen Tradierung durch einen Bekannten sind typisch für Hofmannsthals Umgang mit ‘Bildungsgut’. Seine Beglaubigung erhält dieser Ausspruch nicht durch die Angabe seines Urhebers, sondern durch die Lebenshaltung und -umstände dessen, der ihn übermittelt. Vgl. zur Hofmannsthals häufiger Verwendung dieses Zitats Brian Coghlan: The whole man must move at once: Das Persönlichkeitsbild des Menschen bei Hugo von Hofmannsthal. In: Hofmannsthal-Forschungen 8/1985. S. 29-47. S. 36f Ebenfalls SW XXXI 273f. 132 de Mazza, S. 19. 133 Die ersten drei Briefe ließ Hofmannsthal nur einmal separat in der Wochenschrift Morgen drucken (am 21.6, 5.7. und 30.8.1907, die beiden letzten wurden erstmals 1908 in der von Bruno Cassirer verlegten und von Karl Scheffler herausgegebenen Zeitschrift Kunst und Künstler unter dem Titel Das Erlebnis des Sehens veröffentlicht und erschienen später im Fischer-Almanach von 1911 und 1917 und im dritten Band der Prosaischen Schriften unter dem Titel Die Farben. Vgl. Renner: „Die Zauberschrift der Bilder“, S. 388. 134 Ritchie Robertson: Hofmannsthal sociologue: Die Briefe des Zurückgekehrten, ln: Austnaca 37/1993 S. 275-286.

Kulturelle Identität und Alterität in den Briefen des Zurückgekehrten (1907)

283

Menschlichkeit, auch im Kleinen und Kleinsten, das schien mir hinüber zu deuten. (EGB 546f)

Die Nivellierung des Fremden zum Eigenen geschieht somit anhand des Paradigmas einer vagen ‘Authentizität’ der Bewegung, Handlung, die auf einer Erinnerungsleistung beruht: [—] es war nicht Hinüberdeuten, auch nicht Erinnert-Werden an drüben, es war kein Hüben und drüben, überhaupt keine Zweiheit, die ich verspürte: es war eins ins andere. Indem die Dinge an meine Seele schlugen, so war mir, ich läse ein buntes Buch des Lebens, aber das Buch handelte immer von Deutschland. (EGB 547)

Indem alles Wahrgenommene sich den in der eigenen Kindheit in Deutschland erworbenen Paradigmen und Ordnungen unterwirft, kann kulturelle Differenz als solche überhaupt nicht m den Blick kommen. Sehen wird zum Lesen, zur ordnenden Zu¬ sammenfügung des Disparaten nach vorgegebenen Mustern, das ‘Rechte, Wahrhaftige, Menschliche’ ist das Deutsche im anderen; Eigenschaften, die nicht in dieses Schema passen, werden aus dem Wahrnehmungsspektrum aussortiert.133 Dabei geraten die geschilderten Erlebnisse der Identität von Kindheitserlebnis und Wahrnehmung der Fremde in die Nähe jener epiphanischen Momente des Lord Chandos, wenn er beteuert, seine Erlebnisse seien keine Träumereien gewesen, „sondern etwas Blitzhaftes, das da war, während ich lebte, und oft m Momenten, wo mein Denken und alle meine Nerven vom Leben so angespannt waren wie möglich“ (EGB 547). Wassertrinken am Brunnen wird so m fast jeder Gegend der Welt zur Wiederholung jenes Wassertrinkens des Buben in seiner Heimat: Denn man erlebt viel, aber das meist tun die Sinne ab, oder die Nerven und der Wille, oder der Verstand, aber was die Seele treffen wird, das läßt sich nicht vorausahnen, es kann der einsame schwingende Flug eines tropischen Vogels sein über einem ganz leeren, leierförmig geöffneten Bergtal, oder das Arbeiten eines guten Schiffes unter einer schweren See, oder der Blick eines sterbenden Affen, oder ein braver kurzer Händedruck. Diese Dinge alle, wenn sie kamen und ins Innre des Innern trafen, redeten von Deutschland mit einer Deutlichkeit und Kraft, die weit über dieser ist, mit der diese Schriftzeichen Dir von mir reden. Vielmehr, wenn ein solches mich traf, so »wich in Deutschland. Das alles ist, wie es ist, und es ist nichts von Träumerei dabei. (EGB 548)

Diese Zeichen sind flüchtig, aber sie stehen in gleichsam ‘natürlicher’ Relation zum Bezeichneten und unterscheiden sich dadurch von den „Schnftzeichen“, die nur einen Abglanz des Gememten geben können. Dabei ist für die Logik sämtlicher Bnefe die Abwesenheit des Bezeichneten wegweisend, Vogelzug, Blick und Händedruck können so zu Signaturen von etwas werden, was nur im „Spiegel der Erinnerung“ Deutschland repräsentiert. Die Selektionsfähigkeit der Wahrnehmung läßt den Reisenden somit nur jene Elemente seiner Umgebung wahrnehmen, die in sein Schema des Authentischen, Ganzheitlichen, Wahren - und damit TDeutschen’ - passen, seien es auch so disparate Dinge wie ein Händedruck oder em sterbender Affe. Blicke, Gesten, Bewegungen sind es dabei und bezeichnenderweise nicht Worte, in denen sich diese Ganzheitlichkeit bekundet. Dieses beruhigende Selbst- und Weltbild bncht nun aber in jenem Moment zusammen, da

135 Dagegen wird das Orientalische, Afrikanische oder Karibische auf traditionelle Topoi westlicher Vorurteile reduziert. Immer noch relevant hierzu Edward W. Said: Orientalism. New York 1994.

5.3 „Ein zerspaltenes Gefühl von der Gegenwart“

284

er nach langjähriger Abwesenheit wieder mit diesem Deutschland zusammentnfft, das nicht mehr zu den langgehegten Kategorien paßt: - aber das bin ich nun vier Monate in Deutschland und kein Haus, kein Fleck Erde, kein geredetes Wort, kein menschliches Gesicht, wenn ich ehrlich sein soll, keines, hat mir dies kleine Zeichen gegeben. (EGB 548)

„Wo war ich?“ fragt sich der Reisende angesichts seines sicheren Heimatgefühls in der Begegnung mit dem Fremden, das sich nun als völlig haltlos zu entpuppen beginnt. Der „Spiegel der Erinnerung“ (EGB 549), durch den er jedes fremde Land zu betreten gewohnt war, versagt im Moment der Begegnung mit dem Onginal - einem Onginal, das eben keines ist, oder aber sich nunmehr zu weit von seinem Ursprung entfernt hat, um noch kenntlich zu sein. Während im „Spiegel der wehmütigen Ennnerung“ (EGB 549) das “Deutsche’ sich in den Lebensstationen eines jeden bezeugte, das Chaos aller Möglichkeiten zu festen ‘Gebärden’ verdichtete, findet er diese Ganzheitlichkeit bei den heutigen Deutschen eben nicht: Sie waren aus einem Guß. In einer Gebärde erschienen sie mir, und keiner blieb länger bei mir als die Dauer eines aufzuckenden und erlöschenden Blitzes, denn ich bin kein Tagträumer und führe keinen Dialog mit den Ausgeburten meiner Einbildungskraft. Aber in ihrer einen Gebärde, in der sie an mich heran und durch mich hindurchwehten, waren sie ganz. In jedem Blick ihrer Augen, in jedem Krümmen ihrer Finger waren sie ganz. (EGB 550)

Wie sich im freien Ausdrucks-Tanz, der ein zugleich individueller und generischer Tanz sein soll, jede Einzelbewegung in den Gesamtzusammenhang orgamsch einordnet, so werden hier einzelne Gebärden zur pars pro toto. Nicht die gegenwärtige Schrift kann den Zusammenhang von Zeichen und Bezeichnetem restituieren, sondern der imaginierende Blick in die Vergangenheit kann alles, was ihm begegnet, als Zeichen für Deutschland lesen’: „Indem die Dinge an meine Seele schlugen, so war mir, ich läse ein buntes Buch des Lebens, aber das Buch handelte immerfort von Deutschland“ (EGB 547). Diese Lesbarkeit der Welt findet mit der Rückkehr nach Deutschland ihr abruptes Ende. Eine Identifikation mit den eigenen Landsleuten erweist sich als unmöglich, da sich „die Zeichen in der eigenen Kultur- und Lebenswelt einer einheitlichen Lesbarkeit verweigern"136 und so die Identität des Briefschreibers in Frage stellen. Während die kulturelle Identität der fremden Völker aus außereuropäischen Kulturkreisen in deren Haltungen und Gesten epiphanisch als Ganzes aufblitzt, so bleibt die Ganzheit der heimischen Kultur eine lose Aneinanderreihung von miteinander nicht zu korrelierenden Akten, eme reine Addition ihrer Teile. „Wo soll ich eines Menschen Wesen suchen, wenn nicht in seinem Gesicht, in seiner Rede, in seinen Gebärden?“13 Das Erinnerungsbild der eigenen Heimat, das ihm in der Fremde stets als Folie und Erlebnishintergrund für die Erfahrung des Anderen diente, verliert mit der Rückkehr in die fremdgewordene Heimat seine identitätsstiftende Kraft, bewirkt Entfremdung, da konserviertes Erinnerungsbild und erlebte Gegenwart nicht mehr deckungsgleich sind. Analog dem Gedächtnismodell Freuds, das Erinnerung nicht als jederzeit verfügbares Bilderreservoir begriff, sondern Ennnerung als Prozeß eines

136 de Mazza, S. 19. 137 Vgl. auch Renner, S. 392: „Eine solche Erwartung vertraut auf die kommunikative Kraft ‘natürlicher’ Zeichen, deren kulturelle Codierung und damit (histonsche) Yeranderbarkeit gleichwohl implizit behauptet wird.“

Kulturelle Identität und Alterität in den Briefen des Zurückgekehrten (1907)

285

hermeneutischen In-Beziehung-Setzens von aktueller Wahrnehmung und im Unbewußten bewahrter dauernder Ennnerungsspur begriff, wird hier die Konfrontation der erinnerten Heimat mit der realen Heimat zum Problem.1'8 Im zweiten Brief des ‘Zurückgekehrten’ wird die Inkompatibilität von Erinnertem und gegenwärtig Erlebtem jedoch nicht seiner „gewandelten Außenwahrnehmung"sondern vielmehr der als verändert empfundenen Heimatkultur angelastet: Wo soll ich eines Menschen Wesen suchen, wenn nicht in seinem Gesicht, in seiner Rede, in seinen Gebärden? Meiner Seel, in ihren Gesichtern, ihren Gebärden, ihren Reden finde ich die gegenwärtigen Deutschen nicht. Wie selten begegnet mir ein Gesicht, das eine starke, entschiedene Sprache redet. So verwischt sind die meisten Gesichter, so ohne Freiheit, so vielerlei steht darauf geschrieben, und alles ohne Bestimmtheit, ohne Größe. (EGB 551)

„Alles mischt sich da durcheinander“ (EGB 552), klagt der Heimgekehrte, die klaren Übereinstimmungen zwischen rechter Hand und linker Hand, Kopfgedanken und Gemütsgedanken, .Amtsgedanken und Wissenschaftsgedanken (EGB 552f), zwischen Denken und Handeln, Wollen und Müssen haben sich aufgelöst, wodurch die Hieroglyphe des menschlichen Gesichtes unlesbar geworden ist: In einem menschlichen Gesicht steht ein Wollen und ein Müssen, und das ist mehr als eines einzelnen Wollen und Müssen. Solche Gesichter hatten die Deutschen in meinen Träumen, deren jeder kürzer war, als ein Atemzug; zwar sah ich den Unbekannten, die an mich wehten, nicht immer ins Gesicht, manchmal hörte ich ihre Rede, oder meine Seele selbst schweifte für Blitzesdauer in ihre Rede hinüber, dann war mir, ich sah solche Gesichter von innen. „Ich kann nicht anders“ steht auf solchen Gesichtern geschrieben. (EGB 553)

Der ATerlust einer Ursprache der ‘Hieroglyphen’ ist der Verlust eines Zeichensystems, das in sich ikonisch Bedeutung A/und daher keiner Übersetzung bedarf, bei der sich notwendig Fehlübertragungen einschleichen würden. Teil und Ganzes verweisen hier aufeinander, selbst ein flüchtiger Detaileindruck, ein Redefetzen etwa genügt, um die Ganzheit eines Charakters zu evozieren, da in seiner Arision diese Menschen ganz waren. Dazu bedarf es gerade nicht der Worte, sondern es sind die Gesichter und Gebärden selbst, die zu Hieroglyphen, heiligen Zeichen werden und von der Totalität und Authentizität des Menschen künden. Erst im weiteren Verlauf wird der zunehmende Ich- und Weltverlust als Kennzeichen einer im Subjekt selbst situierten Wahrnehmungskrise erkannt, die erst in der Begegnung mit den Bildern van Goghs eine Erlösung findet.140 Zu Beginn steht wie im Chandos-Bnef der Konflikt zwischen internalisierten semioüschen Ordnungen und der Komplexität der .Alltagswelt, wobei dem Unbehagen in der Kultur durch Kindheitsennnerungen entgegengewirkt werden soll.141 Die Diskrepanz zwischen kulturell ererbten Struktunerungsmustern und individueller Wahrnehmung tntt hier offen zu Tage. Auf der

138 Vgl. Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips. GW III. Dazu de Mazza, S. 20. Fußnote. 130 de Mazza, S. 20. 14111907 war van Gogh zumindest in intellektuellen Kreisen weithin bekannt. Die erste maßgebliche vanGogh-Ausstellung in Deutschland fand im Winter 1901/02 mit 19 Bildern in Berlin statt. Eine Ausstellung in Paris im März 1901 konnte demgegenüber einundsiebzig Bilder aufweisen. Eine Wanderausstellung kommt über Hamburg, Dresden und Berlin im Januar 1906 nach Wien, wo sie Hofmannsthal mit großer Wahrscheinlichkeit gesehen hat. Vgl. hierzu Renner, S. 419ff. 141 Vgl. de Mazza. S. 18.

5.3 „Ein zerspaltenes Gefühl von der Gegenwart“

286

Suche nach lebendigen Zeichen, die den ihn umgebenden Körpern eingeschrieben sind, steht er vor dem Problem der Unlesbarkeit derselben und damit der radikalen Verein¬ samung als Ausgeschlossener aus dem Code dieser Gesellschaft. Erst in der Ausein¬ andersetzung mit den Bildern van Goghs und der Erinnerung an erste Erfahrungen mit den Kupferstichen Albrecht Dürers erfolgt die Umwandlung des zersetzenden Blicks in den ‘schöpferischen Blick’.142 Im dntten Brief, der das Zentrum und den Umschlagspunkt der Sammlung bildet, entwirft Hofmannsthal anhand von Kindheitserinnerungen ein Gegenmodell zur dissoziierten Gegenwartserfahrung. Versucht er auch hier zunächst eine Beschreibung dessen, was ihm am gegenwärtigen Deutschen fehlt - „aber was in dem allen fehlt, ist eme wahre Dichtigkeit der Verhältnisse“ (EGB 556) —, so greift er schließlich zurück auf „Bruchstücke von Büchern“, auf ‘Bildungsgut’, mit dem er selbst in der Kindheit geprägt worden ist und das für ihn „Deutschland!“ (EGB 556) repräsentiert, um dieses Fehlende als Verlorengegangenes zu charakterisieren. Die Zuflucht in die Malerei van Goghs wird hier vorbereitet durch ländliche Konditionierung und Sozialisation durch die Kupferstiche Albrecht Dürers, mit denen der Erzähler durch seinen Vater vertraut gemacht worden ist. Die sich darin bezeugende ländliche Weltaneignung und Identitätsvergewisserung zeichnet sich durch die Überordnung einer bildlichen Unmittelbarkeit über eine begriffliche Vermittlung aus. Die „Verbindung einer Wirklichkeit mit emem Eindruck von Bildern“ (EGB 557) war für das Kind somit die Bestätigung der eigenen kulturellen Identität, es „gestaltete sich die kindliche Selbstvergewisserung als hermeneutisches Unterfangen, m dem sich Selbsterfahrung, Wirklichkeitserfahrung und Bilderfahrung in emem Zirkel wechselseitiger Beglaubigungen eng ineinander verschränkten.“143 Dabei ist die Aneignung, Verinnerlichung dieser Bilder eine selbstverständliche, unbewußte, bei der er nicht einmal zu sagen weiß, ob er diese „Zauberblätter“ liebte oder haßte: Wie vertraut und fremd zugleich waren mir die alten Blätter, wie zuwider und wie lieb zugleich! Die Menschen, die Ochsen, die Pferde wie aus Holz geschnitzt, wie aus Holz die Falten ihrer Kleider, die Falten in ihren Gesichtern. Die spitzen Häuser, die geschnörkelten Mühlbäche, die starren Felsen und Bäume, so unwirklich, überwirklich. [...] Ich könnte es auch heute nicht sagen, ob mir die Erinnerung an diese schwarzen Zauberblätter heb und kostbar oder verhaßt ist. Aber nahe gingen sie mir, in mich hinein drang eine Gewalt von ihnen, und ich glaube, ich werde auf dem Totenbett noch sagen können, was für einen Hintergrund das Meerwunder hat oder der Einsiedler mit dem Totenschädel. (EGB 557)

Das geradezu gewaltsame Eindringen dieser Kunst in den Wahrnehmungsapparat des Kindes läßt es wahrscheinlich erscheinen, das hier ein Modell der Orientierung in und Strukturierung von Wirklichkeit angelegt wird, das all seinen künftigen Wahrnehmungen zugrunde liegt - und zwar seiner Wahrnehmung dessen, was es heißt, ‘deutsch’ zu sein: „T)as ist das alte Deutschland’, sagte mein Vater“, und er bezieht sich dabei auf Stiche

142 de Mazza, S. 22. 143 de Mazza, S. 23. ln einem Brief an Pannwitz schreibt Hofmannsthal: „dieses Buch berührt einen gleich beim Aufblättem blitzartig wie ein Gesicht, von dem man ja auch in einer Secunde einen sehr complexen aber ganz bestimmten Eindruck empfängt“ (BW Pannwitz 13). Auch in einem Bnef an Stefan Gruss spricht Hofmannsthal vom Gesicht als von einer Hieroglyphe: „Die Wahrheit über einen Lebenden sagt man [...] wenn man sich ganz an das Producierte hält. Dies unendlich dichte Gewebe geistiger Relanonen (immer dichter je mehr man sich darein vertieft) wird emem allmählich zur Hieroglyphe, zum Gesicht“ (BW Gruss 233f.)

Kulturelle Identität und Altentät in den Briefen des Zurückgekehrten (1907)

287

Dürers von Menschen, Tieren und Landschaften. Wichtig dabei scheint jedoch auch hier die zeitliche Entrücktheit und steife Abstraktion dieser Zeichnungen zu sein, eben ihre Fremdheit; das Ungewöhnliche, weil Veraltete ihrer Darstellungsweise macht sie zugleich zum A ertrauten durch die Beglaubigung des Vaters, hier dem Geheimnis der eigenen Heimat, des eigenen Ursprungs nahe zu kommen. ‘Deutschland’ wird hier zugleich zum Urbild Österreichs, wenn der Vater auf die Frage seines Sohnes, ob es solche Bilder auch von Österreich gäbe, auf die das Haus umgebende Landschaft verweist. Urbild und Abbild, Erinnerung und Gegenwart befinden sich somit im Kosmos des Kindes in einer Einheit, die auf dem Vergangensein und der bildlichen Abstraktion des einen und der prallen Lebenswirklichkeit des anderen beruht. Die österreichische Heimat wird am Paradigma altdeutscher Kunst als ‘deutsch’ erfahren: „Diese Verbindung einer Wirklichkeit mit einem Eindruck von Bildern, einem halben Schrecken, einer Art von ,\lp war seltsam genug“ (EGB 557f). Es ist diese geheime ‘Verbindung’ zwischen den Bildern in der Mappe und der Wirklichkeit seiner Kindheit, die in ihm die Paradigmen von deutscher, authentischer Heimat schafft und sein eigenes Wahrnehmen des Lebens auf dem Land prägt. In dieser altdeutschen Welt ist alles sinnvoll und organisiert und steht so in unmittelbarem Bezug zur Gegenwartswirklichkeit: Es war alles anders in den alten Bildern als in der Wirklichkeit vor meinen Augen: aber es klaffte kein Riß dazwischen. Jene alte Welt war frömmer, erhabener, milder, kühner, einsamer. Aber im Wald, in der Sternennacht, in der Kirche führten Wege zu ihr. (EGB 558)

Die m der Kindheit erworbenen Lesegewohnheiten und -fähigkeiten versagen nun allerdings angesichts einer viel komplexeren Gegenwart, und Lebens- wie Handlungsfähig¬ keit kann erst in der Konfrontation mit einer neuen, zeitgemäßen Kunst wiedergewonnen werden. Ist die harmonische Übereinstimmung der bäuerlichen Welt Dürers mit den Kindheitserinnerungen des Zurückgekehrten eben auf die historische Differenz sowohl zwischen Bild und Wirklichkeit als auch zwischen erlebter Kindheit und deren Er¬ innertwerden zurückzuführen und dienten die Kupferstiche als nicht in Frage zu stellendes Rezeptionsmodell für die Wahrnehmung von Wirklichkeit, so wird die Wahrnehmung der Bilder van Goghs eine eigenschöpferische Leistung erfordern, um diese harmonische Verbindung zwischen Innen und Außen, Gegenwart und Vergangenheit wiederherzu¬ stellen.144 Nachdem im dritten Brief bereits das Thema des Todes angeschlagen worden war, die Möglichkeit eines Sterbens in einem fremdgewordenen Land, in dem er eigentlich gar nicht sterben möchte, nimmt der vierte Brief dieses Thema des Krankwerdens auf: Krank werden fühlte ich mich von innen heraus, aber es war nicht mein Körper, ich kenne meinen Körper zu gut. Es war die Krise eines inneren Übelbefindens; dessen frühere Anwandlungen freilich waren so unscheinbar gewesen wie nur möglich; und daß sie überhaupt etwas gewesen waren, daß sie mit diesem jetzigen Wirbel doch zusammenhingen, das verstand ich jetzt blitzhaft, wie man eben in solchen Krisen mehr versteht als in den normalen Augenblicken des Lebens. (EGB 560f)

Die Halbheit und Verkehrtheit der Menschen seines Umfeldes beginnt den Zurückgekehr¬ ten hier gewissermaßen ‘anzustecken’ - „eine Art leiser Vergiftung, eine verborgene und schleichende Infektion“ (EGB 562). Er selbst beginnt in den „Wirbel“ hineingenssen zu werden, der Ganzheitlichkeit und authentisches Sem unmöglich macht. Wie im Chandos-

Vgl. de Mazza, S. 24.

5.3 „Ein zerspaltenes Gefühl von der Gegenwart“

288

Brief scheitern die in der Sozialisation erworbenen „semiotischen Ordnungen daran, der komplex und damit diffus gewordenen Alltagserfahrung zu entsprechen:“143 Zuweilen kam es des Morgens, in diesen deutschen Hotelzimmern, daß mir der Krug und das Waschbecken - oder eine Ecke des Zimmers mit dem Tisch und dem Kleiderständer so nicht-wirklich vorkamen, trotz ihrer unbeschreiblichen Gewöhn¬ lichkeit so ganz und gar nicht wirklich, gewissermaßen gespenstisch, und zugleich provisorisch, wartend, sozusagen vorläufig die Stelle des wirklichen Kruges, des wirklichen mit Wasser gefüllten Waschbeckens einnehmend. (EGB 561)

Wie Chandos sich aus der Krise seiner Sprache m die Anschaulichkeit einfacher Dinge zu retten versucht (Gießkanne, Schubkarre), so beschwört auch der Reisende hier die Dinge des Alltags, jedoch mit dem gegenteiligen Ergebnis: statt eine Beruhigung der überreizten Einbildungskraft in der prallen Wirklichkeit von Tisch, Wasserkrug und Kleiderständer zu finden, werden diese Dinge nun in den Prozeß der Entfremdung miteinbezogen, geraten in den Strudel der Entwirklichung des Wirklichen. Die Betrachtung der Wirklichkeit wird nun zur eigentlichen Bedrohung, Straßen, Häuser und Dinge werden zu ‘Gespenstern’, den Reisenden erfaßt „ein leichter unangenehmer Schwindel“ (EGB 561), ja sogar ein Ekel (EGB 563) bei ihrem Anblick. Die Erfahrung der Gegenwart wird zum Erinnerungs¬ erlebnis ihres Gewesenseins: Ich konnte sie ansehen und wußte, daß sie mich an Bäume erinnerten - keine Bäume waren —, und zugleich zitterte etwas durch mich hin, etwas, das mir die Brust entzweiteilte wie ein Hauch, ein so unbeschreibliches Anwehen des ewigen Nichts, des ewigen Nirgends, ein Atem nicht des Todes, sondern des Nicht-Lebens, unbeschreiblich. (EGB 562)

Konnte das Kind noch anhand emer an Bildern geschulten Einbildungskraft die eigene Gegenwart als gesteigerte Wirklichkeit erleben, so wird nun eben diese Gegenwart zur Erinnerung ihrer selbst, da dem Briefschreiber ein ihr adäquates Perzeptionsmodell abgeht. Durch Zufall gerät der sich in immer verzweifelteren Gedankengängen verirrende und von Ekel geschüttelte Mann nun in die Ausstellung der Bilder van Goghs - wobei jedoch zunächst der Name dieses Malers ausgespart wird, um die unmittelbare Wirkung der Bilder nicht zu belasten: „Gesamtausstellung, Gemälde und Handzeichnungen - den Namen lese ich, verliere ihn aber gleich wieder aus dem Gedächtnis“ (EGB 564). Erinnern und Vergessen - die beiden entscheidenden Momente einer kreativen Aneignung von Wahrgenommenen, werden hier somit gleich zu Beginn der Konfrontation mit der Kunst van Goghs evoziert. Dem Akt der kreativen Aneignung geht auch hier das Vergessen des eigentlichen Schöpfers voraus, erst im Vergessen der Urheberschaft kann die produktive Büdaneignung im Betrachter freigesetzt werden. Kindliche Selbstvergewisserung findet so statt in einem Zirkel hermeneutischer Beglaubigung von Selbsterfahrung, Wirklichkeits¬ erfahrung und Bilderfahrung, Kunst wird zum Rezeptionsmodell für Wirklichkeit. „Dieses ‘Sehen’, d.h. das Überführen einer optischen Wahrnehmung farbiger Flächen in ‘Inter¬ pretation’ ist ein kreativer Akt des Betrachters, der hier dem künsderischen an die Seite gestellt wird.“146 Dabei wird nicht zufällig der Autor, der Schöpfer dieser Bilder eliminiert. Durch die Ausschaltung des Urhebers kann die Rezeption der Bilder zu emer Produktion

145 de Mazza, S. 18. 146 Renner, S. 408.

Kulturelle Identität und Altentät in den Briefen des Zurückgekehrten (1907)

289

werden, wobei der Akt des Schauens einer Neuschöpfung gleichkommt.147 Dabei spielen die Darstellungsmittel der Gemälde in ihrer Negation naturalistischer Abbildlichkeit eme wichtige Rolle. Hart gegeneinandergesetzte, kaum abgetönte Farben, eme ungeglättete Bildoberfläche, perspektivische Verzerrungen, anatomisch verquere Proportionen - all diese aggressiven Gestaltungsmittel überlagern die durchaus in der Natur Vorgefundenen Büdmotive: „Bäume, Felder, Ravms, Felsen, Acker, Dächer, Stücke von Gärten“ (EGB 564), die zudem der bäuerlichen Welt der Stiche Dürers und den an ihnen onentierten Kindheitsennnerungen entsprechen. Die mit groben Stnchen auf die Leinwand gesetzten Farbstnche als eigengesetzliche, gegenstandsautonome Strukturen lassen diese Bilder zunächst als groteske Konglomerate unzusammenhängender Momente erscheinen und geben die Dinglichkeit des Dargestellten nur sukzessive einem ruhig verweilenden Blick preis, der die Einzelelemente zu einer ‘Einheit’ zusammenschließt, wobei gerade die „flexible Semanüsierbarkeit"148 der Farbe wichtig ist: Diese da schienen mir in den ersten Augenblicken grell und unruhig, ganz roh, ganz sonderbar, ich mußte mich erst zurechtfinden, um überhaupt die ersten als Bild, als Einheit zu sehen — dann aber, dann sah ich, dann sa ich sie alle so, jedes einzelne, und alle zusammen, und die Natur in ihnen, und die menschliche Seelenkraft, die hier die Natur geformt hatte, und Baum und Strauch und Acker und Abhang, die da gemalt waren. (EGB 564)

Das Chaos der Pinselstriche kann erst im betrachtenden Ich zu emer Einheit zu¬ sammengefügt werden, Bildrezeption wird zur Atiamnesis, in der Eigenes und Fremdes ununterscheidbar werden: „Das alles sah ich so, daß ich das Gefühl meiner selbst an diese Bilder verlor, und mächtig wieder zurückbekam und wieder verlor!“ (EGB 564f). Auch Meier-Graefe betont an van Goghs Malkunst die Fähigkeit, die Fragmentierung der Wahrnehmung zu überwinden und „aus dem Chaos eme ganz einheitliche Form zu schaffen“.149 Insofern van Goghs Maltechnik eben kerne naturalistisch-getreue Mimesis der äußeren Wirklichkeit ist, sondern im Betrachter erst den .Akt des Wiedererkennens in der Zusammensetzung der Pinselstnche zu sinnvollen Einheiten erfordert, wird der Prozeß des Sehens zu einem anamnetischen Yerschmelzungsakt von Betrachter und Betrachtetem:'10 das alles sah ich so, daß ich das Gefühl meiner selbst an diese Bilder verlor, und mächtig wieder zurückbekam, und wieder verlor! (EGB 564f)

Die visuelle Wahrnehmung bildender Kunst wird so zum Integrationsmodell, das der Vielschichtigkeit der modernen Erfahrungswelt entspricht. Das Vergessen des Bildurhebers kann so eine Kette von Erinnerungen freisetzen, der Betrachter verliert sich im Sog der Bildwirkung, und der Prozeß der .Aisthesis wird zur Poiesis.'1' Die hermeneutische Leistung der Bildennterpretation ist hier somit zugleich die Ansammlung des Disparaten zu emer semantischen Einheit und damit die Erkenntnis des eigenen Ich, des Selbst im Fremden, im Anderen.152 Wie das Kind lernt, sich selbst im fremden Spiegelbild zu

147 Vgl. de Mazza, S. 24. 148 Renner, S. 409. 149 Julius Meier-Graefe: Impressionisten. Guys - Manet - van Gogh - Pissarro - Cezanne. 2. Auflage München/Leipzig 1907. S. 122. 150 Vgl. de Mazza, S. 25. 1,1 Vgl. de Mazza, S. 26. 15: Vgl. auch Renner, S. 408.

290

5.3 „Ein zerspaltenes Gefühl von der Gegenwart“

erkennen, wird auch hier gerade in der Fremdheit der ‘chaotischen’ Farbzusammenstel¬ lungen van Goghs das eigene Selbst wiedererkannt, stellt „eine Beziehung her zwischen dem Organismus und seiner Realität oder zwischen der Innenwelt und der Umwelt“.'33 Die Abkehr van Goghs von einer mimetischen Kunst auf der einen und die Hinwendung zu einer Phänomenologie der Farbe auf der anderen Seite macht hier die Wiedererweckung des Reisenden möglich: das Paradigma einer von Generation zu Generation vermittelten und national begriffenen Hochkultur weicht somit dem Paradigma einer Phänomenologie des Bewußtseins, die nicht der Rückversicherung durch einen berühmten Namen bedarf, um im Betrachter ihre Wirkung zu entfalten. In der Kontrastierung altdeutscher Kultur (Dürer) mit moderner Malerei (van Gogh) wird eine noch nicht der Beschleunigung unterworfene Epoche der Moderne gegenübergestellt, bei der sich die Dynamisierung der Lebenswelt bis in die Pinselstriche des Malers hinein manifestiert.Die zunächst nur negativ besetze Kategorie ‘Chaos’ wird so umgewendet zu einem positiven Merkmal einer Kunst, die vom Rezipienten schöpferische Aktivität erfordert und so sein desintegriertes Innerstes analog zum Akt des Schauens aus dem atomaren Zustand in ein neues Ganzes zusammenfügen muß und so zu reintegrieren vermag. „Wie Chandos durch den Wirbel der Worte, muß der Zuruckgekehrte durch den Wirbel der Bilder und Farben hindurch, um den Verlust der Fülle des Seins durch dynamische Stabilität zu kompensieren.“1” Gerade in der scheinbar völligen Auflösung und Zerrissenheit offenbart sich die Kraft zu einer neuen Totalität — „etwas so Unfaßliches in Worte bringen, etwas so Plötzliches, so Starkes, so Unzerlegbares!“ (EGB 565), die aber erst im Rezipienten entstehen kann und nicht unmittelbar auf dem Papier zu sehen ist. Anders als noch zu Dürers Zeiten ist Mimesis unmöglich geworden, eine neue Realität erfordert ein neues Perzeptionsmodell, das auch hier durch die progressive Kunst geliefert wird. In der Betrachtung der Bilder van Goghs gelingt jedoch paradoxerweise die Synthese des scheinbar Dissoziierten: Wie kann ich es Dir nahebringen, daß hier jedes Wesen - ein Wesen jeder Baum, jeder Streif gelben oder grünlichens Feldes, jeder Zaun, jeder in den Steinhügel gerissene Hohlweg, ein Wesen der zinnerne Krug, die irdene Schüssel, der Tisch, der plumpe Sessel - sich mir wie neugeboren aus dem furchtbaren Chaos des Nichdebens, aus dem Abgrund der Wesenlosigkeit entgegenhob [...] (EGB 565)

153 Renner verweist in diesem Kontext auf Lacans Aufsatz über das Spiegelstadium als Bildner der IchFunkdon. Vgl. Renner, S. 412. 1>4 Auch Georg Simmel hebt den Aspekt der Dynamisierung in der Malerei Van Goghs hervor: „Er trägt in seine Bilder ein Leben, so ungestüm, vibrierend, fieberhaft, wie kein andrer Maler; und nun ist das Rätselhafte und Erschütternde, daß dies nicht (oder relativ selten) durch Darstellung und Erregung von Bewegungsvorstellungen geschieht. Äußerlich angesehen, ist in seinen meisten Landschaften und Stilleben eine einfache Zuständlichkeit, nicht wie bei Rodin, ein aufenthaltsloses Herkommen von irgendwoher und Gehen irgendwohin, und doch sind sie von einer haldos stürmenden, Rodin noch überragenden Unrast, deren Ursprung in dem ruhigen Dastehn ihres Gegenstandes eine der unheimlichsten künstlerischen Synthesen ist. Vielleicht hat gerade mit diesem immanenten Gegensatz (...) das Bewegtheitsgefühl seine äußerste, nicht mehr überbietbare Intensität erreicht.“ Georg Simmel: Rodln. In: Ders.: Philosophische Kultur. Berlin 1986, S. 157f. Bei Renner, S. 387. Steiner, S. 308f. Gerhard Neumann hat in einem Aufsatz mit dem Titel Tourbillon. Wahmehmungskrise und Poetologie bei Hofmannsthal und Valery. In: Etudes Germaniques 53/1998. S. 397-424 auf die doppelte Funktion solcher Wirbel (vertiges) Bezug genommen. Im Wirbel kommt es zwar einerseits zur Auflösung ins Chaos, andererseits bietet derselbe eine Erfahrung unmittelbarer als Worte und hat somit eine positive Funktion. Vgl. auch Renner, S. 449.

Kulturelle Identität und Alterität in den Briefen des Zurückgekehrten (1907)

291

Ästhetik wird somit wieder auf die Grundbedeutung von Aisthesis, ‘Wahrnehmung’, zurückgefuhrt. Die gewöhnlichen Dinge des .Alltags werden „Wesen“, statt Gespenstern — sind nicht mehr sinnendeerte Abbilder eines verlorenen Urbildes, sondern gewinnen ihre Lebendigkeit und Seelenhaftigkeit zurück. Die Fiktion der kunstgeschichtlichen Unbildung — der Reisende sagt, er sei seit zwanzig Jahren nicht mehr m einer Ausstellung gewesen, ja habe „seit zwanzig Jahren kein Bild mehr gesehen“ (EGB 564), ist Teil der Wirkung dieser Bilder. Nur m einem Postscnptum wird deshalb auch der Maler genannt und Unkenntnis seiner genauen Lebensdaten vorgegeben: PS. Der Mann heißt Vincent van Gogh. Nach den Jahrezahlen im Katalog, die nicht alt sind, müßte er leben. Es ist etwas in mir, das mich zwingt zu glauben, er wäre von meiner Generation, wenig älter als ich selbst. Ich weiß nicht, ob ich vor diese Bilder ein zweites Mal hintreten werde, doch werde ich vermutlich eines davon kaufen, aber es nicht an mich nehmen, sondern dem Kunsthändler zur Bewahrung übergeben. (EGB 567)

Bereits direkt im Anschluß an den Akt des Schreibens entfaltet sich so eine Differenz zwischen dem Gemeinten und dem zuvor Gesagten. „Komplementär dazu entfaltet sich im Schreib- wie im Lektüreakt so etwas wie eine performadve Vergangenheit, die nichts anderes meint, als daß der gegenwärtige Moment des Schreibens oder der Lektüre sich der akkumulierten Masse des bereits Geschriebenen und Gelesenen gegenüber sieht.“'36 Das Postscnptum wird so zu einem Abwehrakt, der Schreiber bekundet, er wolle die Bilder eigentlich nicht mehr sehen, aber eines kaufen und ‘sichern’ für zukünftige Zeiten. Der Besitz wird hier der „Erosion traditioneller Bindungen“ und dem Verlust bildlicher Einheit entgegengestellt und „übernimmt die Funktion des Gedächtnisses. Und zwar emes Gedächtnisses, das vor der Erinnerung zu schützen hat“.'37 Einer Erinnerung nämlich, die die Unmittelbarkeit der Bildwirkung als destruktives Moment dadurch zu entschärfen sucht, daß sie sie aus der Präsenz in eine nicht näher bestimmte Zukunft aufschiebt. Während so einerseits der Verlust der Erinnerung seitens des Schreibenden ein „externes Gedächtnis“ m Form von Bildern notwendig werden läßt, erweist sich deren Wirkung zugleich als bedrohlich.'38 Der fünfte Bnef wird zum erneuten Versuch, um Verständnis für seine Reaktion auf diese Bilder zu werben. Zu diesem Zweck wird die Farbe zum Thema erhoben, die bereits im vierten Bnef als zentral für ihre Wirkung erkannt worden war. Ein ‘Erlebnis’ im lebensphilosophischen Sinne ist somit diese Entdeckung der Bilder van Goghs, wie Hofmannsthal durch Lektüre von Dütheys Schrift Das Erlebnis und die Dichtung wohlver¬ traut war - em Buchtitel, den er zudem in der ursprünglichen Benennung des vierten und fünften Briefes Das Erlebnis des Sehens eine Hommage erteilte :'39

1.6 Steiner, S. 312. 1.7 Steiner, S. 316. 158 Vgl. Steiner, S. 316. In einer restaurariven Wende (die sogenannte'Konservaove Revolution’) erhebt Hofrnannsthal den Geist der Schnftkultur im Spätwerk zur Bedingung der Möglichkeit der Selbsterhaltung des temporalisierten Subjekts. 159 Gadamer schreibt mit Blick auf Dilthey: „Es scheint geradezu die Bestimmung des Kunstwerks, zum ästhetischen Erlebnis zu werden, d.h. aber, den Erlebenden aus dem Zusammenhänge seines Lebens durch die Macht des Kunstwerks mit emem Schlage herauszureißen und ihn doch zugleich auf das Ganze seines Daseins zurückzubeziehen. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960). Tübingen 1975, S. 66.

5.3 „Ein zerspaltenes Gefühl von der Gegenwart“

292

So soll ich dir von den Farben reden? Da ist ein unglaubliches, stärkstes Blau, das kommt immer wieder, ein Grün wie von geschmolzenen Smaragden, ein Gelb bis zum Orange. Aber was sind Farben, wofern nicht das innerste Leben der Gegen¬ stände in ihnen hervorbricht! Und dieses innerste Leben war da, Baum und Stein und Mauer und Hohlweg gaben ihr Innerstes von sich, gleichsam entgegen warfen sie es mir, aber nicht die Wollust und Harmonie ihres schönen stummen Lebens, wie sie mir vorzeiten manchmal aus alten Bildern, wie eine zauberische Atmosphäre entgegenfloß; nein, nur die Wucht ihres Daseins, das wütende, von Unglaublichkeit umstarrte Wunder ihres Daseins fiel meine Seele an. (EGB 565)

Gerade das Grelle, Dissonante ist es somit, was durch seine Aggressivität diese einzigartige Wirkung auf den Betrachter ausübt. Zugleich wird Wirklichkeit hier reduziert auf die absolute .Allgemeinheit von Farbkonstellationen, deren Effekt zudem auf der Relation des einen Farbfleckes zum anderen beruht, niemals absolut ist: Und nun konnte ich, von Bild zu Bild, ein Etwas fühlen, konnte das Untereinander, das Miteinander der Gebilde fühlen, wie ihr innerstes Leben in der Farbe vorbrach und wie die Farben eine um der andern willen lebten. (EGB 566)

Das Miteinander der Farben wird hier somit zu einem soziologischen Modell: Sein bestimmt sich korrelativ, Identität ist nichts Absolutes, Festes, sondern abhängig vom jeweiligen Umfeld. Hatte Hofmannsthal „das grenzenlos relative der Farbe: jede Farbe existiert nur durch ihre Nachbarschaft“ (SW XXXI 437) erkannt, so wird es ihm zum Spiegel einer gesellschaftlichen Realität, in der das Subjekt sich aus der Konstellation semes Umfeldes ergibt. Zugleich wird die Differenz zwischen der Farbe auf der Leinwand und ihrer Wirkung im Betrachter aufgehoben: „Innen und Außen kommen im Sehen der Farben als einem körperunmittelbaren Erleben zusammen.“160 Mach hatte in sänet Analyse der Empfindungen Farbe zum einen als physikalisches, zum anderen aber als psychologisches Objekt bestimmt: „Die Farbe ist em physikalisches Objekt, sobald wir z.B. auf ihre Abhängigkeit von der beleuchteten Lichtquelle [...] achten. [...] Achten wir auf ihre Abhängigkeit von der Netzhaut, so ist sie em psychologisches Objekt, eine Empfindung.“'6' Die Verbindung von Psychischem und Physischem bei Mach in der Vorstellung von ‘Empfindungskomplexen’ wird bei Hofmannsthal ‘hermeneutisch’ gewendet, insofern die Wechselwirkung zwischen Betrachter und Farben in den Bildern van Goghs dem Kaufmann das Verständnis seiner selbst zurückgibt.162 Der Betrachter begibt sich in Wechselwirkung mit dem Betrachteten, dieses geht (wie die Bilder m der Ansprache im Hause Lanckororiski) in ihn über und heben die Zeit auf. Auch im letzten Brief bemüht sich der Schreibende, deutlich zu machen, daß sein Erlebnis keine persönliche Idiosynkrasie, sondern eine ‘Erleuchtung’ allgemeinster Art darstellt. Zu diesem Zweck greift er auf den Bencht/Mythos von der Erleuchtung Rama Knshnas zurück, der ihm diese Universalität des eigenen Seh-Erlebnisses zu veranschauli¬ chen scheint: Er ging über Land, zwischen Feldern hin, ein Knabe von sechzehn Jahren, und hob den Blick gegen den Himmel und sah einen Zug weißer Reiher in großer Höhe quer über den Himmel gehen: und nichts als dies, nichts als das Weiß der lebendigen

160 Renner, S. 412. 161 Emst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen 81886). 5. verm. Auflage. Jena 1906. S. 14. 162 Vgl. Renner, S. 413.

Kulturelle Identität und Altentät in den Briefen des Zurückgekebrten (1907)

293

Flügelschlagenden unter dem blauen Himmel, nichts als diese zwei Farben gegeneinander, dies ewig Unnennbare, drang in diesem Augenblick in seine Seele und löste, was verbunden war, und verband, was gelöst war, daß er zusammenfiel wie tot, und als er wieder aufstand, war es nicht mehr derselbe, der hingestürzt war. (EGB 568)

Erneut wird hier die Spur der Vögel in der Luft zum heiligen Zeichen, das dem Menschen die Schau einer ewigen Wahrheit ermöglicht. Der Farbkontrast von weiß auf blau wird zum ‘ewig Unnennbaren’, Heiligen, woran auch die nüchterne Erklärung eines englischen Geistlichen nichts für ihn ändert, daß die Erleuchtung nichts als ein „heftiger optischer Eindruck ohne allen höheren Inhalt“ sei, der hier auf ein „anormales Nervensystem“ gewirkt habe (EGB 568). Die Suche nach universalen Zeichen ist es auch hier, die im Zug der weißen Reiher vor blauem Hintergrund jenes epiphanische Moment auszumachen weiß, das auch die Begegnung mit van Gogh prägt. Kulturelle Fremdheit wird daher benutzt, um die ewige Gleichheit aller Dinge besonders klar herauszustellen. Farbe wird so zum ‘Symbol des Symbols’, da sie nicht allegorisch in eine feste Bedeutung zu pressen ist, die ihr wie die zwei Seiten einer Münze anhängt und sich ferner ihre Bedeutung immer nur aus dem Zusammenspiel mit benachbarten Farben ergibt. Dieser Relativismus von Wahrheit ist dem Reisenden auch im Hafen von Buenos Aires zur Gewißheit geworden: Sagte ich nicht, die Farben der Dinge haben zu seltsamen Stunden eine Gewalt über mich? [...] dies Schiff und die Höhle aus Wasser, die wandelnde Welle, die sich mit ihm herwälzte, warum schien mir (schien! schien! ich wußte doch, daß es so war!) die Farbe dieser Dinge nicht nur die ganze Welt, sondern auch mein ganzes Leben zu enthalten? Diese Farbe, die ein Grau war und ein fahles Braun und eine Finsternis und ein Schaum, in der ein Abgrund war und ein Dahinstürzen, ein Tod und ein lieben, ein Grausen und eine Wollust — warum wühlte sich hier vor meinen schauenden Augen, vor meiner entzückten Brust mein ganzes Leben mir entgegen, Vergangenheit, Zukunft, aufschäumend in unerschöpflicher Gegenwart. (EGB 569f)

Unerschöpfliche Gegenwart erlebt er im Anschauen der wild sich mischenden düsteren Farben des aufgewühlten Wassers - ein urschöpfensches Chaos, das ihm sein Innerstes wie einen Spiegel entgegenzuhalten schemt. Unmittelbare Präsenz vergangener oder zukünftiger Lebensstufen ereignet sich im Anschauen dieser Farbenfülle, die in sich das ganze Leben des Betrachters, dessen geheimstes Gesetz zu enthalten schemt. Die Lesbarkeit der Welt als ‘Seelenlandschaft’ ist dabei zugleich immer an ihre Unlesbarkeit gebunden: „Vielleicht bin ich mitten zwischen dem dumpfen, rohen Menschen, der mchts von dem allem spürt, und dem mit gebildeter Seele, der hier entziffert und liest, wo ich nur die Zeichen anstaune. Es ist mir aus meiner Jugend hängen geblieben, daß jemand den Sternenhimmel einen unausgewickelten Gedanken genannt hat“ (EGB 570). Reine Anschauung statt eineindeutiger Übersetzung des Gesehenen in eine fixierte Bedeutung prägt die Apperzeption des Zurückgekehrten. Eine andere Hermeneutik tritt hier somit an die Stelle emer durch die Erinnerung an alte Kulturgüter der eigenen Nation vermittelten Identität. Sem ist nicht mehr im Bezug auf das eigene Volk oder die Höhenkammkunst und Philosophie dieses Volkes zu denken, sondern wird als etwas Überzeitliches, Transnationales und ‘Mythisches’ gedacht - in höchster Abstraktion: die schroffe, chaotische und doch emer geheimen Ordnung unterworfene Fülle emer sich vermischenden Welt von Farben, deren jede ihr Sem aus der Nachbarschaft mit anderen Farben gewinnt. Identität wird so von etwas Konstantem, das jeder Wirklichkeitswahrnehmung zugrunde liegt, zu etwas Relationalem, sich in jedem Moment neu Bildenden. Die Seligkeit des Schauens liegt eben m dieser Befähigung der remen Farbe, eine höhere

294

5.3 „Ein zerspaltenes Gefühl von der Gegenwart'

Sprache zu sein, eine Sprache, „in der das Wortlose, das Ewige, das Ungeheure sich hergibt, eine Sprache, erhabener als die Töne, weil sie wie eine Ewigkeitsflamme unmittelbar hervorschlägt aus dem stummen Dasein und uns die Seele erneuert“ (EGB 570). Das Paradigma einer von der mimetischen Kunst Dürers repräsentierten altdeutschen Kultur als Matrix des eigenen Welterlebens und einer Schablone, der alles kulturell Andersartige angepaßt werden mußte, um für wert befunden zu werden, weicht der abstrakten, chaotischen Farbenfülle, die vom Betrachter in einem schöpferischen Prozeß des Schauens erst als bedeutsam erfaßt, nicht aber in Bedeutung übersetzt werden darf. „Weil die Bedeutungen, und gerade die tradierten Bedeutungen keine Einheit im Bewußtsein und auch keine Einheit der Kultur mehr gewähren"163, greift der Autor der Briefe auf die Ikonographie, ja auf die reine Farbe zurück, um eine andere Hermeneutik zu propagieren, die sich durch ihre kreative Vermittlung von Perzipiertem und Erinnertem, die einfühlende Verschmelzung von Objektivem und Subjektivem auszeichnet. Kulturelle Fremdheit wird zum Anlaß ihrer Negation, ja dient letztlich nur als Exempel emer übergreifenden, überzeitlichen, gleichsam in den Sternen stehenden Wahrheit. Die Bilder van Goghs können so als Projektionsfläche des Ich dienen, da sie als gleichsam aus einzelnen Pinselstnchen zusammengesetzte Vexierbilder vom Betrachter die Eigenaktivität und Kreativität der Zusammenschau der hart nebeneinandergesetzen Farben und grotesk verfremdeten Motive erfordern, eine Synthesisleistung, die bei jedem Anschauen stets von neuem beginnen muß und so „die Seele erneuert“ (EGB 570) und ‘Identität’ als ‘Altentät’, als stets sich wandelndes, progressives Moment der Weltaneignung erkennt.

163 Steiner, S. 308. Leben als Verstehen, die Identität von Sein und Begreifen ist nicht erst mit Heidegger zu einer Grundbestimmung von Existenz geworden, die Wurzeln dieser Ansicht reichen in die Anfänge der Hermeneutik in der Romantik (Schleiermacher) zurück und können über Dilthey vermittelt als Grundbestand des philologischen Wissens der Jahrhundertwende betrachtet werden.

295

5.4 Von der Lektüre zur Traumvision - Mnemotechnik in den Augenblicken in Griechenland (1908-1914) Auch Hofmannsthals Reise-Text Augenblicke in Griechenland, der in mehreren Phasen zwischen 1908 und 1914 verfaßt wurde,164 fragt nach der Funktion und Rolle von Erinnerung in einer Kultur, die von klassischer Bildung überwuchert ist und nach dem Möglichkeiten, die ein Erlebnis des ‘Klassischen’, Antiken jenseits der schnftgebundenen Vermittlung für die Schöpfüngskraft des Autors haben kann. „Der reisende Erzähler im Text ist auf der Suche nach jenem Augenblick der Verwandlung von Bildung in Leben, von der Lektüre m Traumvision"1