Jesus von Nazareth: Ein Leben 9783412214203, 9783412207540

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Jesus von Nazareth: Ein Leben
 9783412214203, 9783412207540

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Karl Jaroš

JESUS VON NAZARETH Ein Leben

2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Christusikone aus dem Katharinenkloster (Sinaihalbinsel), 1.Hälfte 6. Jh. © 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Drukkerij Wilco, Amersfoort Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-412-20754-0

Meiner Frau Brigitte und meinen Kindern Esther, Sara und Johannes

Inhaltsverzeichnis Vorwort ....................................................................................................... I.

Judäa, Samaria, Galiläa ............................................................ 11 1. Topographischer Überblick ......................................................... 2. Bevölkerung und Wirtschaft ....................................................... 3. Die politische Lage von 4 v. Chr. bis 36 n. Chr. ........................

II.

44 62

Die Quellen des Lebens Jesu ................................................. 81 1. Römische Historiker ..................................................................... 2. Jüdische Quellen ........................................................................... 3. Christliche Quellen ........................................................................ 1. Exkurs: Versprengte Herrenworte und apokryphe Evangelien ............... 2. Exkurs: Gibt es materielle Zeugnisse von Jesus? .................................. 4. Das Jesusbild des Koran ..............................................................

IV.

11 16 24

Die jüdische Religion ................................................................ 41 1. Das Heiligtum Jerusalems ........................................................... 2. Die jüdischen Religionsparteien .................................................

III.

9

82 84 91 115 120 127

Geburt, Kindheit und Berufung Jesu ................................ 135 1. Die historischen Fakten ................................................................ 135 2. Die Deutung der Evangelisten .................................................... 154

V.

Der prophetische Lehrer und Herr über die Thora ... 175 1. Die Verkündigung der Herrschaft Gottes ................................. 184 2. Das Gesetz der Herrschaft Gottes .............................................. 220

VI.

Jesus und die zukünftige Welt ............................................. 245

VII. Abba – Vater .................................................................................. 253

8

Inhaltsverzeichnis

VIII. Jerusalem – Jesu letzte Tage ................................................... 265 1. Die Provokation ............................................................................ 2. Das letzte Abendmahl .................................................................. 3. Das Verhör durch Hannas und Joseph ben Kaiaphas ............. 4. Die Aburteilung durch Pilatus .................................................... 5. Der Tod am Kreuz .........................................................................

IX.

269 273 285 289 295

Jesus – auferstanden von den Toten .................................. 299 1. Die Berichte der Evangelien ......................................................... 299 2. Die Lehre von der Auferstehung der Toten .............................. 304 3. Der Glaube an den Auferstandenen .......................................... 308

X.

Zusammenfassung der historischen Fakten .................. 313

Anmerkungen ......................................................................................... 317 Anhang ....................................................................................................... 357 Allgemeine Abkürzungen ............................................................... Literaturverzeichnis .......................................................................... Abbildungsnachweis ........................................................................ Tabellen ............................................................................................... Orts-, Personen- und Sachregister .................................................. Bibelstellenregister ............................................................................ Register: Josephus, Pseudepigraphen, Qumran ...........................

357 358 373 374 376 381 387

Vorwort Seit Erscheinen meines Buches »Jesus von Nazareth. Geschichte und Deutung, Mainz 2000« sind Jahre vergangen. Zahlreiche Bücher sind seitdem auf den Markt gekommen, die sich mit der Gestalt Jesu befaßt haben, und eine schier unzählbare Menge an Studien zu Detailfragen des Lebens und Wirkens Jesu sowie zu den Evangelien wurde in Büchern und Fachzeitschriften publiziert. Darunter war viel Fragwürdiges, aber auch viel Wertvolles. Nach einigen Überlegungen habe ich mich entschlossen, mein seit Jahren vergriffenes Jesusbuch auf weite Strecken neu zu schreiben, den Aufbau teils zu ändern und notwendige Korrekturen dort vorzunehmen, wo die Forschung der letzten Jahre mir richtig scheinende Wege aufgezeigt hat. Wie das frühere, so richtet sich auch dieses Buch an eine breite und interessierte Leserschaft, die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft und der klassischen Philologie anzunehmen bereit ist. Wenn ich im Jahre 2000 geschrieben habe: »Die Evangelien als Hauptquellen des Lebens Jesu erweisen sich seit einiger Zeit immer klarer als solche, die dem historischen Geschehen sehr nahe stehen«, so finde ich heute – nach weiterer über zehn Jahre währender eigener Erforschung dieser Quellen – meine damalige Meinung bestätigt. Zwei Fakten seien besonders betont: Der griechische Text der vier kanonischen Evangelien wurde damals so geschrieben, wie er bis heute weitergegeben worden ist. Die handschriftliche Überlieferung der Texte zeigt uns, daß unter Tausenden von Textvarianten der Evangelien keine zu finden sind, die den Schluß zuließen, die Texte hätten einmal in verschiedenen und höchst unterschiedlichen Fassungen existiert. Wer mit der Überlieferungsgeschichte antiker Texte vertraut ist, weiß, daß unterschiedliche Fassungen oder Auflagen in einer umfangreichen handschriftlichen Textüberlieferung untilgbare Spuren hinterlassen. Solche Spuren gibt es in den Evangelien nicht. Wenn es solche unterschiedliche Fassungen gegeben hätte, dann müßten sich z. B. im Markusevangelium Textvarianten von solchem Gewicht und von solcher Qualität finden, wie es sie als textliche Unterschiede zwischen dem Markus-, Matthäus- und Lukasevangelium gibt. Verschiedene Fassungen einzelner Evangelien hätten also in der handschriftlichen Überlieferung Spuren hinterlassen, die auszuscheiden unmöglich gewesen wäre, weil sie in kürzester Zeit im ganzen Imperium Romanum und darüber hinaus verbreitet gewesen wären. Die Textgeschichte als eine Königsdisziplin der Bibelwissenschaft lehrt uns daher, ohne daß eine Hypothese in Anspruch genommen zu werden braucht, die Integrität des Textes der Evangelien.

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Vorwort

Als zweites Faktum ist festzuhalten, daß die synoptischen Evangelien unabhängig voneinander sehr früh geschrieben worden sind. Das Johannesevangelium setzt sie als bekannt voraus. Die primär mündlichen Quellen der Synoptiker, die sich auf Grund spezieller philologischer Vergleiche mit Sicherheit erschließen lassen, stimmen in höchstem Maße überein. Vierzig bis sechzig Jahre nach Jesu Tod wäre eine so exakte Übereinstimmung der Quellen nicht mehr vorstellbar, so daß Lukas, hätte er erst um 85 n. Chr. das Evangelium geschrieben, nicht hätte darauf verzichten können, neben seinen mündlichen Quellen, die allerdings zu dieser Zeit schon sehr spärlich geflossen wären, ein zum Beispiel im Jahre 70 n. Chr. geschriebenes Markusevangelium oder ein um 80 n. Chr. entstandenes Matthäusevangelium zu benutzen. Doch eine solch gegenseitige literarische Abhängigkeit der Synoptiker ist auszuschließen (K. Jaroš/U. Victor 2010). Damit ist auch die Frage der Datierung der Evangelien zugunsten der frühkirchlichen Sicht entschieden. Die Synoptiker sind zwischen 44 und 60 n. Chr., das Johannesevangelium zwischen 60 und 66 n. Chr. verfaßt worden. Die Gestalt Jesu verliert sich nicht im Schleier der Vergangenheit, sondern ist aus den Quellen klar und deutlich zu sehen: als Sohn seines Volkes Israel, als Heiland der Welt, als wahrer Gott von wahrem Gott. Mit dem Apostel Petrus sei gesagt: »Wir sind ja keinen ausgeklügelten Fabeleien gefolgt, als wir euch die Macht und die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus verkündeten, sondern wir waren Augenzeugen seiner Majestät. [...] Umso fester steht das prophetische Wort, das wir besitzen. Ihr tut gut, darauf zu achten wie auf ein Licht, das an einem finsteren Ort leuchtet, bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in euren Herzen.« (2 Petr 1,16.19). Mein Dank gilt Herrn Johannes van Ooyen und seinen Mitarbeitern für die Betreuung und für die Aufnahme dieses Buches in das Verlagsprogramm von Böhlau, sowie der Franz- und Eva- Rutzenstiftung im Stifterverband für die deutsche Wissenschaft, deren gefördertes Projekt zur synoptischen Frage mit diesem Buch seinen Abschluß findet. Ferner danke ich meiner Frau und Herrn Mag. Jörg Eipper Kaiser, die die Mühe auf sich genommen haben, die Korrekturen zu lesen. Ich widme auch dieses Jesusbuch meiner Frau Brigitte und unseren drei Kindern Esther, Sara und Johannes, die nun selbst erwachsen geworden sind. Pasching, im Mai 2011

Karl Jaroš

I. Judäa, Samaria, Galiläa Das Land, in dem Jesus geboren wurde und wirkte, hat im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Namen getragen. In den frühesten mesopotamischen Quellen des 3. Jts. v. Chr. hat es noch keinen eigenen Namen, sondern ist Teil des »Westlandes«. In ägyptischen Texten des 2. Jts. v. Chr. heißt es zusammen mit Syrien »Reṯenu«, in späterer Zeit »Land der Hurriter«. Zugleich findet sich in keilinschriftlichen Texten die Bezeichnung »Kanaan«, die auch die Bibel übernommen hat, und schließlich alle Gebiete des Landes meint, die die hebräischen Stämme besiedelt haben. Im Laufe der davidisch-salomonischen Monarchie (ca. 1004–926 v. Chr.) wurde der südliche Teil des Westjordanlandes »Juda« genannt, ursprünglich wahrscheinlich ein Landschaftsname, nach dem einer der israelitischen Stämme bezeichnet wurde, der nördliche Teil »Israel«, ein Name des Patriarchen Jakob (Gen 32,29). Mit der Reichsteilung nach dem Tod Salomos (1 Kön 12) gab es zwei Schwesterstaaten, im Süden Juda und im Norden Israel. Nachdem die Assyrer das Nordreich Israel 722/720 v. Chr. vernichtet hatten, wurde der Name »Israel« kaum mehr verwendet und der südliche Teil des ehemaligen Nordreiches nach dem Landschafts- und Städtenamen »Samaria«, der nördliche Teil nach der Lokalbezeichnung »Galiläa« benannt. Als das Südreich den Schlägen der Neubabylonier 587/586 v. Chr. erlegen war, blieb der Name »Juda« während der persischen, hellenistischen und hasmonäischen Zeit erhalten. Die Römer verwendeten ebenfalls die einheimischen Bezeichnungen Judäa, Samaria, Galiläa. »Palästina« (Philisterland) konnten schon die Assyrer und dann die Griechen das Westjordanland bezeichnen (vgl. Herodot, Historien I 105; III 5,91; VII 89). Die Römer dagegen nannten das Westjordanland erst nach dem zweiten jüdischen Aufstand (132–135 n. Chr.) Palästina.1

1. Topographischer Überblick Judäa, Samaria und Galiläa sind der südliche Teil der syro-palästinischen Landbrücke. Im Westen bildet das Mittelmeer eine natürliche Grenze, im Osten die syrisch–arabische Wüste. Im Norden gibt es keine natürliche Grenze. Aus historischen Gründen werden meist die Flüsse Litani und Yarmuk als Grenze angegeben (Abb. 1). Zur Zeit Jesu reichte das Gebiet des Tetrarchen Philippus jedoch viel weiter nach Norden. Im Süden ist das Wadi el-Arisch eine gewisse Abgrenzung. Das Ostjordanland läßt sich klar nach den vier Flußläufen gliedern. Das Gebiet nördlich des Yarmuk bis zum Hermonmassiv und Haurangebirge, eine bis 600 m hohe Ebene, heißt im Alten Testament Baschan (Dtn 3,10; Jes 2,13).

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Judäa, Samaria, Galiläa

Abb. 1

Topographischer Überblick

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Der fruchtbare Basaltboden eignet sich bestens für die Landwirtschaft. Dieses Gebiet war Teil der Tetrarchie des Philippus; der Süden gehörte noch zur Dekapolis. Das Gebiet zwischen Yarmuk und dem Norden des Toten Meeres, unterbrochen durch den Fluß Jabbok, heißt in der Bibel Gilead. Zwischen Yarmuk und Jabbok steigt die Landschaft bis zu 1260 m an, zwischen Jabbok und Arnon, der Landschaft des biblischen Mischor (vgl. Dtn 3,10; Jos 13,9) sind die Berge bis 1000 m hoch. Das Peräa des Tetrarchen Herodes Antipas reichte etwa vom Jabbok bis zum Arnon. Die Gebiete südlich des Arnon bis zum Fluß Zered, das alte Kernland der Moabiter, weiter von Zered bis zum Golf von Aqaba, das gebirgige Edom mit Erhebungen bis zu 1600 m, in der Bibel Seir genannt (Gen 14,6; Ri 5,4), waren bereits nabatäisches Land (Abb. 1). Das Westjordanland gliedert sich in Galiläa, die Jesreelebene oder die Ebene von Megiddo, das samarische und judäische Gebirge, die Küstenebene und die Bucht von Beerscheba. Galiläa reicht vom Litani im Norden bis zur Jesreelebene im Süden. Die Berge erreichen im Norden fast 1200 m Höhe und fallen nach Untergaliläa staffelförmig ab. Der Tabor ist z. B. nur mehr 562 m hoch. Das Galiläa des Tetrarchen Antipas war jedoch kleiner und reichte etwa bis 30 km nördlich des Sees Gennezareth und endete im Süden ca. 10 km vor Skythopolis, das zur Dekapolis gehörte (Abb. 1). Die fruchtbare Jesreelebene wird im Norden durch den Karmel, im Osten durch das Gebirge Gilboa begrenzt. Diese Ebene war u. a. auch der klassische Kriegsschauplatz (Ri 4 und 5; 1 Kön 23). Nach Offb 16,16 findet hier die Schlacht am Ende der Tage statt.

Abb. 2 Ausschnitt aus der Mosaikkarte von Madaba: Fische kommen aus dem Jordan ins Tote Meer und drehen ob des hohen Salzgehaltes um Das samarische Gebirge erstreckt sich im Süden etwa bis Bethel, bildet aber mit dem judäischen Gebirge eine Einheit. Nur aus historischen Gründen wird es vom ersteren unterschieden. Der nordwestliche Ausläufer des samarischen Gebirges

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Judäa, Samaria, Galiläa

ist der Karmel (552 m), der nordöstliche das Gebirge Gilboa (518 m). Am Rücken des samarischen Gebirges verläuft die Wasserscheide zwischen Mittelmeer und Jordangraben. Das samarische Gebirge ist gegen Süden hin ansteigend, erreicht vorerst nur gut 900 m. Seine bekanntesten Berge sind der Garizim (868 m) und der Ebal (938 m). Das samarische Gebirge setzt sich im judäischen fort, erreicht nördlich von Hebron mit 1028 m seine höchste Erhebung und fällt gegen Süden hin stark ab, ebenso gegen Osten, zur Wüste Juda und zum Toten Meer. Die Verwerfungen nach Westen sind relativ groß (Jerusalem: 800 m, Artuf: 278 m). Von Artuf weg geht das Gebirge in ein sanftes Hügelland über, die Schefela (Dtn 1,7; Ri 1,9). Nach einer weiteren, geringen Verwerfung geht die Schefela in die Küstengebiete über. Im Süden fällt das Gebirge bei Beerscheba auf ca. 250 m ab. Es beginnt die südliche Wüste, der Negev (Gen 20,1; Jos 15,19). Die Küste gliedert sich in die Südebene, die Scharon-Ebene und die Ebene von Akko. Die erste und die letzte gehörten nicht zur Präfektur Judäa–Samaria, wohl aber der größte Teil der Scharonebene ab Cäsarea. Tief eingebettet zwischen Ost- und Westjordanland fließt der Jordan. Der Jordangraben ist Teil des syrischen Grabens, der von Nordsyrien bis weit in das südliche Afrika reicht. Der Jordan entspringt am West- und Südrand des Hermon. Seine drei wichtigsten Quellflüsse heißen Hasbani, Banyas und Dan. Nach Vereinigung der drei Quellflüsse durchfließt der Jordan ein Sumpfgelände (heute trockengelegt). Danach ergießt er sich in den See Gennezareth, der bereits 200 m unter dem Meeresspiegel liegt. Der See ist 21 km lang. Seine größte Breite beträgt 12 km. Der Salzgehalt des Wassers ist noch so gering, daß man von Süßwasser sprechen kann. Der Jordan durchfließt den See und windet sich durch den Grabenbruch, der 2 bis 20 km breit ist, nach Süden. Der Jordan ist ob seiner zahlreichen Windungen und Untiefen nicht schiffbar. Die Ufer des Flusses sind mit waldähnlichem Gebüsch bewachsen. Schließlich mündet er in das Tote Meer, das ca. 85 km lang ist und dessen größte Breite 15 km beträgt. Sein Wasserspiegel liegt 390 m unter dem des Mittelmeeres. Das Wasser des Toten Meeres enthält ca. 25 % mineralische Bestandteile und ist daher ohne Lebewesen (vgl. Abb. 2). Im nördlichen Teil ist das Tote Meer ca. 400 m tief. In der Bibel heißt es entweder Salzmeer (Gen 14,3), Grabenmeer (Dtn 3,19) oder das östliche Meer (Ez 47,18; Joh 2,20). Plinius der Ältere (23–79 n. Chr.) spricht vom »Asphaltsee« (Naturalis Historia V 15). Der erste Kirchenhistoriker Eusebius von Cäsarea (ca. 260/264–339/40 n. Chr.) kennt bereits die Bezeichnung »Totes Meer« (Onomastikon 100,4–5). Der Jordan war von seinem Ausfluß aus dem See Gennezareth bis zu seiner Mündung ins Tote Meer fast durchgängig die Grenze zwischen Galiläa und der Dekapolis bzw. zwischen Samaria/Judäa und Peräa.2 Palästina hat überwiegend subtropisches Klima, was zwei Jahreszeiten, einen regenreichen Winter und einen regenlosen Sommer bedingt.

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Topographischer Überblick

Abb. 3 Die Straßen des Landes

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Judäa, Samaria, Galiläa

Etwa von historischer Zeit an bis heute hat es keine großen Klimaschwankungen gegeben.3 Ab 250 mm jährlicher Regenmenge konnte man ein Gebiet damals landwirtschaftlich nutzen. Zur Zeit Jesu war das Straßensystem des Landes ausgezeichnet. Die beiden großen Routen sind die Via regis von Petra über Philadelphia, Gerasa bis Damaskus und die Via maris von Ägypten über Gaza, Aschdod nach Jamnia. Hier teilte sich die Straße: Eine Route ging die Küste weiter nach Jaffa, Cäsarea, Ptolemais, Tyrus, Sidon usw., die andere Route führte durch das Landesinnere über Lydda, Antipatris, Nazareth, Kapharnaum und weiter nach Norden. Diese beiden Hauptverbindungen waren durch zahllose Binnenstraßen, Wege, Karawanenrouten miteinander verbunden (Abb. 3). Das dichte Straßennetz machte es möglich, daß Menschen und Handelsgüter relativ schnell ihren Zielort erreichen konnten.4 Die wichtigsten Transportmittel waren Esel und Dromedare. Karawanen durchzogen das Land mit den verschiedensten Gütern. Große Karawanen zwischen Arabien, den Nabatäern und Palästina, zwischen Ägypten und Palästina und zwischen Mesopotamien, Syrien und Palästina importierten fremde Kostbarkeiten und exportierten Güter des Landes. Durch Häfen wie Jaffa, Aschkelon, Cäsarea, Akko-Ptolemais u. a. war das Land mit der gesamten Mittelmeerwelt verbunden. Dieser wachsenden wirtschaftlichen Abhängigkeit durch komplizierte Marktmechanismen trug z. B. gegen Ende der sechziger Jahre der Hohepriester Rechnung, wenn er am Versöhnungstag die Bitte aussprach, daß das kommende Jahr durch florierenden Handel gesegnet sein möge.5

2. Bevölkerung und Wirtschaft Die Bevölkerungszahl des Landes in vorhellenistischer Zeit war wohl eher bescheiden. Erst ab der Mitte des 2. Jhs. v. Chr., also in hasmonäischer und herodianischer Zeit, als das Land einen hervorragenden wirtschaftlichen Aufschwung zu verzeichnen hatte, ist einerseits mit einem größeren Wachstum der einheimischen, andererseits der nicht jüdischen Bevölkerung zu rechnen. Die letztere war auch im Zentrum des Landes, in Samaria-Sebaste, vertreten, eine Stadt, die nach ihrer Neugründung durch Alexander den Großen keine jüdische und keine jüdisch-samaritanische Bevölkerung beheimatete. In den Küstenstädten Aschkelon, Akko-Ptolemais und Tyrus, die außerhalb des Reiches Herodes des Großen und der späteren Präfektur Judäa lagen, dominierte die nicht jüdische Bevölkerung. Aschkelon war z. B. eine freie Stadt mit einer jüdischen Minderheit.6 Ähnlich waren die Verhältnisse in Tyrus, dessen Territorium bis Obergaliläa, und in Akko–Ptolemais, dessen Territorium bis Beth Schearim in der Jesreel-Ebene reichte.7 Die Küstenstadt Dora, die nicht zu Judäa gehörte, war ein römisches

Bevölkerung und Wirtschaft

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Verwaltungszentrum, dessen Bevölkerung antijüdisch eingestellt war. Cäsarea, die Metropolis, die Hauptstadt der Präfektur Judäa, hatte eine stattliche jüdische Minorität, die jedoch eher unbeliebt war. In der Dekapolis dagegen hat das Zusammenleben zwischen jüdischer und nicht jüdischer Bevölkerung recht gut funktioniert, wie die Beispiele von Beth Schean-Skythopolis und Gerasa zeigen.8 Der Hauptteil der verbleibenden Gebiete von Judäa, Peräa, Samaria und Galiläa waren jüdisch bzw. samaritanisch-jüdisch. Die wichtigste Lebensgrundlage der Bevölkerung war die Landwirtschaft in ihren vielfältigen Formen (Abb. 4). An Getreidearten wurden vorzüglich Weizen, Gerste und Hirse angebaut, an Gemüse Kohl, verschiedene Rübensorten, Radieschen, Salat, Meerrettich, Linsen, Bohnen und andere Hülsenfrüchte. Die Überschüsse der Erträge wurden an den Markttagen verkauft. Ausländisches Gemüse wie Gurken und Melonen, Kürbisse, Artischocken u. a. war wohl vorhanden, aber für den Großteil der einheimischen Bevölkerung kaum leistbar. Verschiedene Fruchtsorten waren im ganzen Land reichlich vorhanden: Datteln gab es in einem solchen Überfluß, daß reichlich exportiert werden konnte.9 Aus diesen Früchten wurden Dattelwein und Dattelhonig gewonnen.10 Feigen, aus denen eine Art Honig bereitet wurde, waren sehr beliebt und selbst von Kaiser Augustus überaus geschätzt.11 Weingärten gab es im ganzen Land. Der Wein der Scharon-Ebene, vom Karmel, der Gegend um Aschkelon, Gaza und Lydda war besonders begehrt. Kefar Signa lieferte z. B. den Opferwein für den Jerusalemer Tempel. Es gab sowohl Weißwein-, als auch Rotweinsorten. Gewürzte Weine wurden ebenfalls hergestellt (Hld 8,2).12 Ein wichtiges Nebenprodukt der Weinerzeugung war z. B. der Weinessig. Von immenser Bedeutung für das Land waren die Oliven, die teils die Nahrung verbesserten, deren Öl aber ein wertvoller Exportartikel war. Das galiläische Olivenöl wurde am meisten geschätzt. Zentrum der galiläischen Ölproduktion war Gischala. Weitere Früchte waren Granatäpfel, Zitrusfrüchte, Pflaumen, Kirschen, Mandeln, Walnüsse, Maulbeeren, Äpfel, Birnen und Quitten. In Gilead, Jericho, En Gedi und Beth Armatha wurden die wertvollen und kostbaren Balsa-Gehölze gezogen. Der Extrakt diente zum Würzen und für medizinische Zwecke. Der Balsam war einer der wichtigsten und teuersten Exportgüter Judäas. Im ersten jüdischen Aufstand gegen Rom (66–70 n. Chr.) versuchten die Juden, diese Plantagen sogar zu vernichten, damit die Römer nicht davon profitierten.13 Kosmetische Produkte wurden aus der Hennablüte14 und aus Rosen hergestellt, aus der Hennablüte ein Puder und aus Rosen duftendes Öl. Die bäuerliche Viehwirtschaft war durch Rinder-, Ziegen- und Schafzucht gekennzeichnet. Für die Opfer des Jerusalemer Tempels wurden u. a. viele Tiere gebraucht. Die einfachen Leute kamen eher selten in den Genuß von Fleisch, da sie ihre Tiere vor allem als Arbeitshilfen (Rinder) für die Feldbestellung, für

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Judäa, Samaria, Galiläa

das Dreschen des Getreides und als Lieferanten von Milch und Wolle brauchten. Selbst Geflügel stand nicht sehr häufig auf dem Speiseplan.

Abb. 4 Die Landwirtschaft in herodianischer Zeit

Bevölkerung und Wirtschaft

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Rund um den See Gennezareth lebten die Menschen hauptsächlich vom Fischfang. Fische, die nicht für den unmittelbaren Verzehr bestimmt waren, wurden in einem besonderen Verfahren eingesalzen und exportiert. Der Hauptort dieser fabriksmäßigen Konservierung hieß Tarichos (gesalzen)/Magdala.15 Mit Bodenschätzen ist das Land nicht sehr reich gesegnet, aber das Tote Meer ist eine hervorragende Quelle für Salz, Pech, Asphalt und Bitumen, Produkte, die auch in der Medizin und in der Kosmetik Verwendung fanden.16 Nitrate wurden in der Gegend von Antipatris gewonnen. Kupfer, das im Timnatal und in anderen Gebieten des Wadi Araba vorhanden ist, wurde in herodianischer Zeit nicht oder in sehr geringem Umfang abgebaut und verhüttet.17 Neben den Bauern und dem Landvolk, das wohl die größte Gruppe der Einwohner damals stellte,18 gab es Handwerker und Kunsthandwerker als die zweite große Bevölkerungsgruppe. Handwerker lebten in Städten und in größeren Ortschaften und waren in einer bestimmten Profession geschult. Aus diesen Kreisen rekrutierte sich vor allem die Partei der Pharisäer. An den großen Rabbinen der Frühzeit zeigt sich noch deutlich, daß sie alle ein bestimmtes Handwerk ausgeübt haben. Hillel der Ältere war ein Handarbeiter, sein Schüler Joschua ben Ḥanina ein Köhler. In diesem Milieu ist auch die Familie Jesu beheimatet: Joseph und Jesus waren Bauhandwerker.19 Die wichtigsten Handwerksberufe der damaligen Zeit waren Schneider, Schuster, Maurer, Steinmetz, Bauhandwerker (für Holz), Müller, Bäcker, Gerber, Parfümeur, Viehzüchter, Metzger, Koch, Milchmann, Käsemacher, Gold- und Silberschmied, Schmied, Wundarzt, Aderlasser, Friseur, Wäscherin, Färber, Weber, Mattenhersteller, Zisternen- und Brunnengräber, Fischer, Jäger, Bienenzüchter, Keramiker, Topf- und Krugmacher, Böttcher, Asphaltarbeiter, Glasschmelzer, Graveur für Inschriften, Schreiber und Kopierer von Schriftrollen (vgl. Sir 38,31; Sach 3,9; 2 Chr 2,6) u. a.20 Das Handwerk wurde vom Vater dem Sohn weitergegeben, so daß es während vieler Generationen in der Familie erhalten blieb und die Familie auch den Namen des Handwerks annehmen konnte.21 Oft übte auch eine ganze Sippe ein bestimmtes Handwerk aus, wie z. B. die Linnenweber von Beth Aschbea (1 Chr 4,21), so daß lokale Manufakturen entstanden, ja ganze Ortschaften durch ein bestimmtes Handwerk geprägt wurden.22 Die niedrigste soziale Stellung nahmen die Sklaven ein. Es sind zwei Gruppen von Sklaven zu unterscheiden: der hebräische und der fremde (kanaanäische) Sklave. Den Juden war aber der Sklavenhandel mit Volksgenossen untersagt. Ein Jude konnte jedoch aus verschiedenen Gründen zum Sklaven bei einem anderen Juden werden. Ein Dieb mußte z. B. Wiedergutmachung leisten. Konnte er das nicht, so durfte er als Sklave verkauft werden (Ex 22,2). Einer, der sich jedoch aus Armut als Sklave verdingen mußte, durfte von seinem Herrn nicht wie ein Sklave, sondern mußte quasi wie ein Lohnarbeiter behandelt werden (Lev 25,39).

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Judäa, Samaria, Galiläa

Ex 21,7–11 und Lev 19,20–22 versuchen, das Los des hebräischen Sklaven zu mildern. Die wohl wichtigste Bestimmung dabei ist, daß ein solcher Sklave, ebenso seine Familie, wenn er mit ihr in die Sklaverei gegangen ist, nach sechs Jahren freigelassen werden mußte. Nach Ex 21,5–6 war es aber auch möglich, daß ein Sklave freiwillig erklären konnte, bei seinem Herrn zu bleiben. Er blieb dann immer Sklave. Diese Bestimmung war als Schutz für den Sklaven gedacht, der nach Erlangen der Freiheit nicht gewußt hätte, wie er weiterleben könnte. Neutestamentliche Gleichnisse setzen diese gemilderte Form der Sklaverei bzw. Leibeigenschaft voraus (Matth 24,45–51; Luk 12,42–48; 17,7–9). Nach den verschiedenen Weisungen der Thora kann geschlossen werden, daß der hebräische Sklave nicht mit Leib und Seele als Besitz angesehen wurde. Es ist aber zu bezweifeln, ob diese Weisungen der Thora zur Zeit Jesu allgemein angewendet wurden und der Sklave nicht auch mit Leib und Seele als Besitz angesehen wurde. Hebräische Sklaven waren naturgemäß bei den reichen Landbesitzern zu finden und kaum bei der Gruppe der Handwerker. Diese stellten hauptsächlich die Religionspartei der Pharisäer, und es ist daher gar nicht verwunderlich, daß die Pharisäer und ihre Nachfolger gegen die mißbräuchliche Verwendung hebräischer Sklaven polemisierten. So heißt es bQiddušin 22a: »Die Rabanan lehrten: [...] wenn jemand einen hebräischen Sklaven kauft, sei es ebenso, als würde er einen Herrn über sich kaufen.« Wie groß die hebräische Sklaverei zur Zeit Jesu war, läßt sich schwer abschätzen. Sicherlich hat sie aber nicht die Bedeutung gehabt wie die Sklaverei im griechisch–römischen Bereich. Mit der wachsenden Ausbeutung des Landes durch die römischen Prokuratoren ab den fünfziger Jahren des 1. Jhs. n. Chr. und der dadurch entstandenen Massenverelendung dürfte die Zahl der hebräischen Sklaven sprunghaft angestiegen sein. In diesem Zusammenhang ist jedenfalls interessant, daß Simon bar Giora, einer der großen Führer des ersten jüdischen Aufstandes gegen Rom, als erstes die Freiheit für alle Sklaven verfügt hat.23 Den fremden oder kanaanäischen Sklaven hat es zur Zeit Jesu ebenfalls gegeben. Diese Sklaven konnten von kanaanäischen Händlern (vgl. Am 1,6.9; Joel 4,3; 1 Makk 3,41) gekauft werden. In Tyrus (Ez 27,13), Akko und Gaza gab es Sklavenmärkte. 2 Makk 8,11 gibt z. B. den Preis für 90 Sklaven mit einem Talent an. Die Mischna (mBaba Qamma IV 5) nennt für einen kanaanäischen Sklaven zwei Extremwerte: hundert Minen bzw. einen Denar. Diese Sklaven hatten überhaupt keine Rechte, bisweilen wurden sie auch mit Brandzeichen versehen. Schwarze Sklavinnen aus Afrika waren besonders beliebt. Aus bNidda 17a geht auch verurteilend hervor, daß vor Sklaven und Sklavinnen der Geschlechtsakt vollzogen wurde. Die Mischna (mAboth II 7) warnt vor der Unzucht mit Sklavinnen. Josephus (Bell IV 508) weiß von einer Sklavin, die Mätresse des Pheroras, eines Bruders Herodes des Großen, gewesen ist. Diese Gruppe von Sklaven dürfte allerdings nicht sehr groß gewesen sein. Der große Anteil der Bevölkerung war viel zu arm, als daß er sich solche Sklavinnen und Sklaven hätte leisten können.

Bevölkerung und Wirtschaft

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Sie gehörten zum Haushalt der wenigen reichen Großgrundbesitzer, der herodeischen Fürsten und der Römer. Wie hoch die Bevölkerungszahl war, läßt sich nur sehr schwer schätzen. Wenn man von den ca. 200 Städten und größeren Ortschaften ausgeht und eine durchschnittliche Einwohnerschaft von 5000 Menschen annimmt, kommt man auf eine Million. Unter Hinzunahme hunderter kleiner Dörfer ergibt sich eine Zahl von ca. 1,5 Millionen Menschen. Diese Schätzung ist wohl die oberste Grenze. Vermutlich war die Zahl weit geringer und überstieg kaum die Grenze von einer halben Million Menschen in Judäa, Samaria und Galiläa. Einschließlich der jüdischen Bevölkerung der syrischen und ostjordanischen Gebiete mag die Zahl um einiges höher gewesen sein. Für das gesamte römische Reich betrug die Zahl der Juden um die 5 Millionen; d. h. nur ein kleiner Teil lebte im Land selber, der größte Teil war in der Diaspora. Für Jerusalem gibt es präzisere Schätzungen. Während der ersten drei Jahrzehnte unserer Zeitrechnung betrug die Einwohnerzahl innerhalb und außerhalb der Stadtmauern ca. 35.000. Kurz vor dem ersten jüdischen Aufstand ist die Bevölkerung auf das Doppelte angestiegen.24 Produkte der Landwirtschaft und des Handwerks wurden auf Märkten, über die jedes größere Dorf und jede Stadt verfügte, verkauft. Markttage waren Montag, Donnerstag und Freitag. In den großen heidnischen Städten mit jüdischen Minderheiten wie in Aschkelon, Gaza, Akko-Ptolemais, Antipatris, Tyrus, Skythopolis, Gerasa u. a. waren die Markttage immer auch religiöse Festtage. Auf diesen großen Märkten konnte man praktisch alles kaufen, was die damalige Welt zu bieten hatte.25 Seit Herodes dem Großen (40/36–4 v. Chr.) hatte sich im Land der römische Denar eingebürgert. Ein Golddenar entsprach dem Wert von 25 Silberdenaren. Das gängigste Zahlungsmittel war daher der Silberdenar (Matth 18,28). Abb. 5 gibt einen Denar des Kaisers Tiberius wieder. Die Vorderseite zeigt das Bild des Kaisers mit der Aufschrift: TI[berius] CAESAR DIVI AUG[usti] F[ilius] AUGUSTUS (Kaiser Tiberius Augustus, Sohn des göttlichen Augustus). Die Rückseite trägt die Aufschrift: PONTIF[ex] MAXIM[us] (Höchster Priester). Ein As (Matth 10,29) war die nächst kleinere Einheit, etwa der sechzehnte Teil eines Denars. Quadrans (Matth 5,26) war 1/64 Denar. Neben dem römischen Geld waren auch griechische Münzen in Umlauf wie die Drachme (Luk 15,8), die etwa dem Wert des Denars entsprach, die Doppeldrachme (Matth 17,24) und die Tetradrachme (Matth 17,27). Zu diesen Silbermünzen gab es die kleineren Einheiten aus Bronze: so den Obolos (sechs Oboloi waren eine Drachme), den Chalkos (Matth 19,9), 1/48 Drachme und das Lepton (Mk 12,42), ca. 1/144 Drachme. Die herodeischen Fürsten und die römischen Präfekten durften diese kleineren Einheiten aus Bronze prägen.

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Abb. 6 zeigt einen Obolos des Ethnarchen Archelaos, Abb. 7 eine mittlere Bronzemünze des Tetrarchen Antipas vom Jahre 29/30 n. Chr., Abb. 8 eine mittlere Bronzemünze des Tetrarchen Philippus vom Jahre 26/27 n. Chr. Die Masse der Bevölkerung dieser Tetrarchie des Philippus war nicht jüdisch, so daß diese Münze z. B. das Abbild des Kaisers Tiberius zeigt. Abb. 9 zeigt einen Obolos des Präefekten Coponius aus dem Jahre 5/6 n. Chr., Abb. 10 einen Obolos des Präfekten Marcus Ambibulus aus dem Jahre 8/9 n. Chr., Abb. 11 einen Obolos des Präfekten Valerius Gratus aus dem Jahre 16/17 n. Chr. Während diese Präfekten in der Regel Münzen prägen ließen, deren Symbole für die Juden wegen des Bilderverbotes nicht anstößig waren, durchbrach der Präfekt Pontius Pilatus diese Sitte. Abb. 12 zeigt eine solche Münze aus dem Jahre 29/30 n. Chr. mit einem Symbol des Kaiserkultes.

Abb. 5 Denar des Kaisers Tiberius

Abb. 6 Peruta (Obolos) des Archelaos. 1,95 g, 15/17 mm Durchmesser. Vs.: HRWDOU ([des] Herodes). Rs.: [EQ]NARCOU ([des Eth]narchen). Abb. 7 Mittlere Bronzemünze des Antipas, 29/30 n. Chr., 6,3 g, 18 mm Durchmesser. Vs.: HRWDOU TETRARCOU ([des] Herodes, [des] Tetrarchen). Rs.: TIBE/RIAS (Tibe/rias).











Abb. 8 Mittlere Bronzemünze des Philippus. 26/27 n. Chr., 6,8 g, 18/19 mm Durchmesser. Vs.: TIBERIOS SEBASTOS KAISAR (Tiberius Augustus Kaiser), Rs.: EPI FILIPPOU TETRARCOU (unter Philippos, [dem] Tetrarchen). LL (30. Jahr).

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Abb. 9 Peruta des Präfekten Coponius. 5/6 n. Chr., 2,75 g, 17/18 mm Durchmesser. Vs.: KAISAROS ([des] Kaisers).

Abb. 10 Peruta des Marcus Ambibulus. 8/9 n. Chr., 2,5 g, 16 mm Durchmesser. Vs.: KAISAROS ([des] Kaisers). Abb. 11 Peruta des Präfekten Valerius Gratus. 17/18 n. Chr.; 1,3 g, 15/16 mm Durchmesser. Vs.: TIBERIOU ([des] Tiberius) Rs.: KAISAR (Kaiser). Abb. 12 Peruta des Präfekten Pontius Pilatus. 29/30 n. Chr., Vs.: Simplum (Kaiserkult!), TIBERIOU KAISAROS L IS ([des] Kaisers Tiberius 16. Jahr). Rs.: IOULIA KAISAROS (Julia, [des] Kaisers [Mutter]). Das Steuersystem des Landes muß differenziert betrachtet werden. Herodes der Große und seine Nachfolger besaßen die steuerliche Selbstverwaltung.26 Als im Jahre 6 n. Chr. Judäa römische Präfektur wurde, die zur römischen Provinz Syrien gehörte, lag die steuerliche Zuständigkeit beim römischen Präfekten. Die Römer unterschieden zwei Arten von Steuern: vectigalia und tributum. Die erste war Im- und Exportsteuer, die zweite eine Kopf- und Bodensteuer. Dazu kamen noch Steuern auf Wasser, auf Fleisch und Salz, Stadt- und Straßenzölle. Auf alle Waren gab es eine Umsatzsteuer von ca. 2,5 % ihres Wertes. Die Kopfsteuer betrug ca. einen Denar. Zur Eintreibung der Steuern bedienten sich die Römer verschiedener Beamter. In allen wichtigen Binnen- und Hafenstädten gab es Steuerinspektoren, die die unterschiedlichen Arten von Steuern einhoben.27 Für jeden größeren Markt

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walteten an den Markttagen Inspektoren, die alle umgesetzten Waren mit Steuern belegten. Daneben gab es die Steuerpächter mit ihren Gehilfen, die die Allgegenwart des Staates repräsentierten und die Steuern oft für die eigene Tasche entsprechend vervielfachten. Die Steuereintreiber waren in den Augen des Volkes schändliche Handlanger der römischen Besatzungsmacht. Der Ausdruck »Zöllner und Sünder« (Matth 9,10–11; Mk 2,15–16; Luk 5,30) ist bezeichnend.28 Sie waren als öffentliche Sünder vom Tempel ausgeschlossen, und es war sogar verboten, Geld aus ihrer Kasse für gute Zwecke zu verwenden, da dieses Geld als gestohlen galt.29 In der Tetrarchie Galiläa und Peräa existierte praktisch das gleiche Steuersystem, nur daß eben Antipas die Steuerhoheit hatte und nicht die Römer.30 Matth 9,9–13 (vgl. Luk 5,29) nennt z. B. Kapharnaum als eine wichtige Zollstätte, deren Pächter Levi-Matthäus Jesus nachfolgte und mit seinem bisherigen Leben brach. Matth 19,1–10 nennt Zachäus, den obersten Zollpächter der Grenzstation in Jericho zwischen Peräa und Judäa.31 Eine Abgabe anderer Art war die Tempelsteuer. Alle großjährigen jüdischen Männer (ab dem vollendeten 12. Lebensjahr) des Mutterlandes wie der Diaspora mußten für den Tempel einen halben Scheqel (ca. zwei Denare) oder zwei Drachmen pro Jahr bezahlen (Matth 17,24–27).32

3. Die politische Lage von 4 v. Chr. bis 36 n. Chr. Jesus wurde gegen Ende der Regierungszeit des Königs Herodes, eines überaus fähigen, genialen und zugleich skrupellosen und brutalen Staatsmannes und Politikers, dem die Nachwelt den Titel »der Große« gegeben hat, geboren. Wie ist es nun dazu gekommen, daß ein Idumäer, der zwar Jude war, König des Landes wurde? Nach dem Tod Alexanders des Großen (323 v. Chr.) gehörte das Land zuerst zum ptolemäischen Ägypten, wurde jedoch um 200 v. Chr. seleukidisch (Abb. 13). Während die Ptolemäer keine aggressive Hellenisierungspolitik betrieben, bekamen die Menschen des Landes eine solche unter den Seleukiden empfindlich zu spüren. Der seleukidische König Antiochus IV. (175–164 v. Chr.) versuchte, die Juden gewaltsam an den Zeitgeist anzupassen und verbot schließlich sogar die Verehrung des Gottes Israels. Die Reaktion darauf war, daß ein jüdischer Aufstand losbrach, der von dem Priester Mattathias mit dem Beinamen »der Makkabäer« (der Hammergleiche) und seinen Söhnen getragen war (1 Makk 2,15–28). Diese Priesterfamilie stammte aus dem Geschlecht Hasmon; daher auch die Bezeichnung »Hasmonäer«. Die Schwäche des seleukidischen Reiches nach dem Tod Antiochus’ IV. kam den Aufständischen sehr entgegen, so sehr, daß sich im Jahre 140 v. Chr. das Blatt

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zu Gunsten der Aufständischen gewendet hatte. Simon, ein Sohn des Mattathias, wurde auf Grund eines Volksbeschlusses (1 Makk 24,25–49) »Hoherpriester, Feldherr und Ethnarch« (Herrscher des Volkes). Die völlige Unabhängigkeit konnte jedoch erst Johannes Hyrkan I., der Sohn Simons, im Jahre 128 v. Chr. erlangen.33 Die hasmonäischen Herrscher führten fortan den Königstitel und waren zugleich Hohepriester (vgl. Tabelle 1). Der alte zadokidische Priesteradel Judas, der zuvor die Hohenpriester gestellt hatte, war daher durch die Hasmonäer ebenso entmachtet wie in außenpolitischer Hinsicht die Seleukiden. Diese politisch-religiöse Konstellation blieb bis in die sechziger Jahre des 1. Jhs. v. Chr. bestehen. Ein Streit um die Macht zwischen den Hasmonäern Hyrkan II. und Aristobol II. kostete schließlich Juda die Unabhängigkeit. Aristobul rief die Römer zu Hilfe. Der syrische Legat Scaurus und schließlich Pompeius selber nutzten die Gunst der Stunde. Pompeius teilte einfach das Land der römischen Provinz Syrien zu. Aristobul mußte schließlich in Gefangenschaft, und Hyrkan II. wurde Hoherpriester, wobei ihm Judäa, Idumäa, Galiläa und Peräa unterstellt wurden. Die Küstenstädte und die Dekapolis waren direkt dem syrischen Legaten zugeordnet;34 Samaria wurde ein eigener Verwaltungsbezirk der Provinz Syrien unter Führung des samaritanischen Hohenpriesters.

Abb. 13 Das Land zwischen Ptolemäern und Seleukiden Das waren in etwa die politischen Machtverhältnisse – einerseits der einheimische, von den Römern akzeptierte hasmonäische Adel, andererseits die römischen Interessen – , die die idumäische Familie des Antipater, des Vaters Herodes des Großen, begünstigten und schließlich groß werden ließen. Schon die Ahnen des Antipater waren mit den Hasmonäern verbunden. Antipater kümmerte sich

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vor allem für den Hohenpriester Hyrkan II. um die Kontakte zu Rom, entmachtete jedoch durch sein politisches Intrigenspiel den Hohenpriester völlig, so daß Caesar schließlich das hohepriesterliche Amt Hyrkan II. auf Lebenszeit verliehen hat und dazu den Titel eines »Ethnarchen«, Antipater jedoch als Statthalter des Hohenpriesters die eigentliche Macht gab, die er gemeinsam mit seinen Söhnen Phasael und Herodes teilte (vgl. Tabelle 1). Herodes gelang es, alle politischen Klippen sicher zu umsegeln.35 Im Jahre 40 v. Chr. wurde er auf Beschluß des Römischen Senates König, konnte jedoch seine Herrschaft in Jerusalem erst im Jahre 37 v. Chr. antreten. Sein Gebiet umfaßte Judäa, Idumäa, Peräa und Galiläa. Im Laufe der Zeit kamen auch Samaria und die nördlichen ostjordanischen Gebiete mit Ausnahme der Dekapolis hinzu, so daß sein Reich fast die Größe des davidischen hatte (vgl. Abb. 1). Herodes war zwar ein Vasall Roms, aber innerhalb seiner Grenzen konnte er schalten und walten, wie er wollte, solange es Roms Interessen nicht zuwiderlief. Seine nichtkönigliche Abstammung überspielte er durch die Heirat mit der hasmonäischen Prinzessin Mariamme I. Herodes war durchaus kein bösartiger Tyrann. Seine Herrschaft brachte dem Land Jahrzehnte des Friedens, in denen er eine unglaubliche Bautätigkeit entfaltete. Trotzdem wurde er aber immer unbeliebter. Man sah in ihm einen Freund der Römer, der sich als Messias sah, der der hellenistischen Religionsmischung huldigte, der, von Intrigen gefangen, die hasmonäische Familie einschließlich seiner geliebten Frau Mariamme I. (29 v. Chr.) und seiner Söhne Alexander und Aristobul aus dieser Ehe ausgerottet hatte (7 v. Chr.), der ferner politische Morde aus Staatsräson auf dem Gewissen hatte und der die Hohenpriester nach eigenem Gutdünken ein- und absetzte. Kurz vor seinem Tod rissen Schüler der Pharisäer aus Kritik und Protest gegen seine Herrschaft den goldenen Adler vom Portal des Tempels. Herodes rächte sich an ihnen durch ein blutiges Strafgericht. Im Frühling des Jahres 4 v. Chr. starb Herodes in Jericho und wurde auf seinen Wunsch hin in der Festung Herodion begraben.36 Der Tod des Königs hinterließ ein politisches wie kulturelles Vakuum. Gemäß seinem letzten Testament sollten seine Söhne als Könige über Teile seines Gebietes herrschen. Eine jüdische Gesandtschaft bei Kaiser Augustus in Rom versuchte zwar, dies zu verhindern, erreichte aber vorerst nichts. Der Kaiser entsprach aber auch nicht ganz dem Willen des verstorbenen Königs und verwehrte den Söhnen den Königstitel. Archelaos erhielt als Ethnarch Judäa, Idumäa, Samaria und die Küstenstädte Joppe und Cäsarea. Herodes Antipas als Tetrarch (Herrscher über ein Viertel) Galiläa und Peräa, Philippus als Tetrarch Trachonitis, Batanaia und Auranitis. Die Dekapolis blieb autonom und war direkt dem syrischen Legaten verantwortlich.37 Das Herrschaftsgebiet des Tetrarchen Philippus weit im Ostjordanland ist als Schauplatz unserer Ereignisse unbedeutend. Als Philippus im Jahre 34 n. Chr.

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starb, wurde sein Gebiet dem Legaten der Provinz Syrien unterstellt. Der Großteil des Lebens Jesu spielte sich im Territorium Herodes’ Antipas ab (Abb 1).

Judäa und Samaria Archelaos war ein glückloser Herrscher. Sein Erbe war allerdings auch viel schwieriger als das seiner Brüder, denn Jerusalem mit seinem Heiligtum als dem Zentrum des jüdischen Volkes, seiner Pilgerfahrten und Feste, als Sitz des Hohenpriesters und des Hohen Rates, als Zentrum der Schriftgelehrsamkeit war für einen Monarchen nicht berechenbar. Die Samaritaner, deren Heiligtum am Berg Garizim und deren Hauptstadt Sichem Johannes Hyrkan I. in den Jahren 128 und 107 v. Chr. vernichtet hatte (vgl. JosAnt XIII 254–258), pflegten seit dieser Zeit mit Jerusalem keine religiöse Kommunikation. Sie von Jerusalem her zu regieren, war ein schwieriges Unterfangen. Samaria dagegen, die alte Hauptstadt des Nordreiches, war seit Alexander dem Großen eine rein hellenistische Stadt geworden, die Herodes der Große prunkvoll ausgebaut hatte und nach seinem kaiserlichen Gönner Sebaste (Augusta) nannte, sich selbst eher autonom denn einem herodeischen Fürsten untergeben verstand. Archelaos scheint seinem Vater auch in dessen diplomatischem Geschick weit unterlegen gewesen zu sein. Es gelang ihm nicht, die Stimmung des Volkes zu seinen Gunsten zu wenden (vgl. Matth 2,22). Im Gegenteil: Gleich beim ersten Pesachfest im Jahre 4 v. Chr. ließ er jüdische Erhebungen blutig niederschlagen38 und reiste dann zur Bestätigung seiner Thronfolge nach Rom. Aber auch Antipas unternahm diese Reise, um beim Kaiser seinen Standpunkt zu verfechten, daß das erste Testament, das ihn und nicht Archelaos zum Nachfolger seines Vaters bestimmte, rechtens sei. Begleitet wurde Antipas u. a. von seiner Mutter, der Samaritanerin Malthake.39 Unterdessen brach in Jerusalem ein neuer Aufstand los, den der syrische Legat Quinctilius Varus mit drei Legionen unter Kontrolle brachte, eine Legion in Jerusalem ließ und Sabinus, den Finanzverwalter der Provinz, beauftragte, eine Schätzung der herodeischen Besitztümer vorzunehmen. Da brach neuerlich ein Aufstand los, der nun auch Galiläa erfaßte. Varus schlug mit den zwei verbliebenen Legionen den galiläischen Aufstand nieder und im Anschluß daran mit Hilfe nabatäischer Truppen, die König Aretas IV. zur Verfügung stellte, den judäischen Aufstand. Varus entließ aber danach die nabatäischen Truppen sofort, da sie eine Grausamkeit und Beutegier entwickelten, die selbst den Römern zu viel waren.40 Kaiser Augustus entschied, Archelaos als Ethnarchen über Judäa und Samaria zu setzen, und zwar mit der Aussicht, ihm bei guter Führung und Herrschaft den Königstitel zu verleihen. Eine jüdische Delegation, die dies verhindern wollte, erreichte beim Kaiser nichts (vgl. JosAnt XVII 304–314). Doch Archelaos änderte seine unglückliche Politik nicht. Die jüdischen Klagen vor Augustus führten schließlich im Jahre 6 n. Chr. zu seiner Absetzung und

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Verbannung in das gallische Vienna. Sein Vermögen wurde zugunsten der Staatskasse eingezogen.41 Der Kaiser vertraute nun Judäa und die übrigen Gebiete des Archelaos keinem Mitglied der herodeischen Familie mehr an, sondern legte die Geschicke des Landes einem römischen Präfekten aus dem Ritterstand (niederer römischer Adel) in die Hände, dessen unmittelbarer Vorgesetzter der kaiserliche Legat von Syrien war. Der Präfekt residierte in Cäsarea am Meer. Er hatte für Ruhe und Ordnung zu sorgen, wozu ihm Militär (keine Legionen!) in der Stärke von ca. 3000 Mann sowie Hilfstruppen zur Verfügung standen. In der Burg Antonia und in anderen wichtigen Städten waren kleine römische Garnisonen stationiert. Zu den großen jüdischen Feiertagen kam der Präfekt mit Militär nach Jerusalem, damit die Lage durch die vielen Festpilger nicht außer Kontrolle geriet.42 Dem Präfekten unterstand die Gerichtsbarkeit, besonders im Hinblick auf Kapitalprozesse. Todesurteile konnte nur der Präfekt fällen. Er brauchte dafür auch kein ordentliches Gerichtsverfahren anzustrengen.43 Selbst römische Bürger und Offiziere der Armee konnte er ohne offizielle Anklage hinrichten lassen, wenn es im Interesse Roms notwendig schien.44 In diesem Punkt waren aber die Präfekten eher zurückhaltend, da Todesurteile aus politischen Gründen immer problematisch waren. Die Präfekten riskierten nicht leichtfertig Beschwerden beim syrischen Legaten oder gar beim Kaiser. Sowohl Kaiser Augustus als auch Kaiser Tiberius waren an einem ruhigen Judäa interessiert und lehnten daher nicht eo ispo solche Beschwerden ab.45 Eine weitere Aufgabe der Präfekten war es, die entsprechenden Steuern einzuheben, wozu sie sich jüdischer Zöllner und Zollpächter bedienten. Zeitweilig hatten die Präfekten auch das Recht, den Hohenpriester einzusetzen (vgl. JosAnt XVIII 26.34f). Den Juden wurden von den Römern auch gewisse Privilegien zugestanden: Sie waren vom Kaiserkult befreit, weil dieser mit dem strengen Monotheismus nicht vereinbar war. Ferner mußten sie keinen Militärdienst leisten. Das Bilderverbot wurde von den Römern insofern respektiert, als es den Soldaten in Jerusalem verboten war, Standarten und Kaiserbilder zu führen.46 Ein römisches Zugeständnis war es auch, daß die jüdischen Behörden an den Eingängen zum Tempelvorhof der israelitischen Frauen Inschriften in griechischer und lateinischer Sprache anbringen durften, die es Nichtjuden (vgl. Apg 21,28) unter Androhung der Todesstrafe verboten, das Heiligtum zu betreten. Jeder, der sich nicht daran hielt, durfte hingerichtet werden, ohne daß man den Fall dem Präfekten vorlegen mußte.47 1871 wurde von M. Clermont-Ganneau eine solche Steintafel auf dem ehemaligen Areal des Tempels gefunden (Abb. 14).48

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Von den ersten vier Präfekten ist nicht allzuviel bekannt. Der erste Präfekt war Coponius (6–9 n. Chr.), den der Legat P. Sulpicius Quirinus persönlich einführte. Coponius hatte offenbar für jüdisches Empfinden ein gutes Gespür. Die Münzen, die er in Cäsarea prägen ließ, tragen z. B. kein Bild des Kaisers oder irgendwelche Symbole des Kaiserkultes und zeigen nur jüdische Symbole wie Palme, Weinlaub u. a. Der einzige gefährliche Zwischenfall, der sich während seiner kurzen Präfektur ereignete, war eine Entweihung des Tempels: Samaritaner verstreuten im Tempelareal zur Zeit des Pesachfestes menschliche Knochen.49

Abb. 14 Steintafel. Nichtjuden wurden mit dieser Inschrift unter Androhung der Todesstrafe gewarnt, den Innenbereich des Heiligtums zu betreten Auf Coponius folgten Marcus Ambibulus (9–12 n. Chr.) und Annius Rufus (12–15 n. Chr.). Erst mit Valerius Gratus (15–26 n. Chr.) begann eine längere Präfektur; denn Kaiser Tiberius achtete besonders darauf, in den Provinzen eine größere personale Kontinuität zu erreichen. Valerius Gratus setzte den Hohenpriester Hannas (Ananus) ab und gab das Amt Ismael ben Phabes, dessen Vorfahren das Amt bereits unter Herodes dem Großen bekleidet hatten. Nach kurzer Zeit mußte aber auch Ismael gehen, und Hannas Sohn Eleasar wurde zum Hohenpriester befördert. Doch Eleasar ging es nach einem Jahr ebenso und Simon ben Camith wurde Hoherpriester.50 Im Jahre 26 n. Chr. ernannte Kaiser Tiberius den römischen Ritter Pontius Pilatus zum Präfekten Judäas. Er ist der erste Präfekt, der auch inschriftlich nachgewiesen ist (Abb. 15).

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Abb. 15 Pilatusinschrift, Cäsarea [INCOL]IS TIBERIEUM [PONTI]US PILATUS [PRAE]FECTUS IVD[AEAE] [REF]E[CIT] »[(den) Einwohne]rn das Tiberieum [Ponti]us Pilatus, [Prä]fekt Jud[äas], [erneu]e[rte].« Wir kennen die Gründe für diese Ernennung nicht. Aus den Geschehnissen, die sich während seiner Amtszeit in Judäa ereignet haben, und wie Pilatus darauf reagierte und welche Situationen er provozierte, läßt sich jedoch sagen, daß es eine Fehlentscheidung des Kaisers war. Subjektiv gesehen muß man jedoch Tiberius zugestehen, daß er sich um die Provinzen viel Mühe machte, Personen auch sorgfältig auswählte und angeklagte Präfekten und Prokuratoren nicht schonte.51 Sueton berichtet in der Biographie des Tiberius52, daß der Kaiser an seine Statthalter geschrieben hat: »Ein guter Hirte schert die Schafe, er schindet sie nicht.« Man weiß auch nicht, inwieweit Pilatus auf sein Amt vorbereitet war, welche Bildung er genossen hatte, ob er ein guter militärischer Stratege war, ob er sich um Informationen über die jüdische Religion und ihren strengen Monotheismus, über jüdische Sitten und Bräuche bemühte. Kannte ihn der Kaiser persönlich oder war er eine Kreatur des mächtigen Prätorianerpräfekten Seian? 53 Viel spricht dafür, daß Pilatus seine Karriere dem Prätorianerpräfekten zu verdanken hatte, der den Kaiser auf gewisse Weise eine Zeitlang zu entmachten suchte, bis es Kaiser Tiberius reichte und er Seian am 18. Oktober 31 n. Chr. hinrichten ließ.54 Wie schon vorher erwähnt, war der unmittelbare Vorgesetzte eines Präfekten von Judäa der kaiserliche Legat Syriens. Als Pontius Pilatus sein Amt antrat, war dieser Posten praktisch »vakant«; denn nach dem Legaten Gnaeus Sentius Saturninus (19 n. Chr.) wurde kein Legat ernannt und ein gewisser Pacuvius als Vertretung bestimmt. Irgendwann nach 19 n. Chr. wurde zwar Aelius Lamia Legat. Dieser hat jedoch sein Amt nie angetreten. Erst im Jahre 32 n. Chr., also kurz nach der Hinrichtung Seians, ernannte der Kaiser Lucius Pomponius Flaccus zum Legaten. Pilatus hatte demnach bis zu diesem Zeitpunkt keinen unmittelbaren Vorgesetzten. Der jüdische Religionsphilosoph Philo von Alexandria (30/15 v. Chr.– 41/42–45 n. Chr.) bezeichnet die Amtszeit des Pilatus als ein korruptes Terrorregime. Grundsätzlich ist Philo Recht zu geben, aber die Episode der Schilde des Pilatus entspricht so, wie sie Philo interpretiert, kaum der historischen

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Wirklichkeit. Pilatus habe in seinem Jerusalemer Palast anikonische, vergoldete Rundschilde mit der möglichst kürzesten Inschrift für den Kaiser aufstellen lassen. Die Inschrift mag daher gelautet haben: TIBERIO CAESARI AUGUSTO PONTIUS PILATUS (dem Kaiser Tiberius Augustus, Pontius Pilatus).55 Keinen Menschen in Jerusalem hätten solche Schilde im Palast des Pilatus gestört, selbst wenn die Aufschrift ausführlicher gewesen wäre und Tiberius als »Sohn des göttlichen Augustus« bezeichnet worden wäre. Eine jüdische Delegation unter der Leitung von vier herodeischen Fürsten sei dann protestierend und mit einem Aufstand drohend zu Pilatus gekommen und habe die Entfernung der Schilde verlangt. Da Pilatus nicht einlenkte, habe man einen Brief an den Kaiser verfaßt.56 Tiberius habe daraufhin wütend befohlen, daß Pilatus die Schilde aus Jerusalem entferne und in Cäsarea aufstelle. Daß Pilatus Schilde zu Ehren des Kaisers aufstellen ließ, mag vielleicht historisch richtig sein und könnte von Pilatus, der vermutlich ein Günstling des Prätorianerpräfekten Seianus gewesen ist, eine Geste der Loyalität gegenüber dem Kaiser gewesen sein, als dieser Seian im Jahre 31 n. Chr. hinrichten ließ.57 Philo nimmt daher in seiner Schrift einen römischen Beamten, Pilatus, dessen Amtsführung sehr zu wünschen übrig ließ, der ein korruptes Terrorregime führte und der deswegen auch seines Amtes enthoben wurde, nur wenige Jahre nach dessen Amtsenthebung als Beispiel, um Kaiser Claudius (41–54 n. Chr.) nahezulegen, daß die römische Verwaltung in Judäa eher durch einen herodeischen Fürsten denn durch einen römischen Beamten klaglos funktionieren würde. Anders ist wohl die Nachricht des jüdischen Historikers Josephus Flavius (ca. 37/38–ca. 100 n. Chr.) zu beurteilen,58 der die Amtszeit des Präfekten mit einer Provokation gegen die jüdische Religion beginnen läßt: Pilatus ließ von Soldaten heimlich bei Nacht die Standarten mit Abbildungen des Kaisers nach Jerusalem bringen. Die protestierenden Juden vor seiner Residenz in Cäsarea erreichten vorerst nicht die Zurücknahme dieses Befehls. Am sechsten Tag drohte Pilatus, die protestierenden Juden hinrichten zu lassen. Als diese Drohung nicht den gewünschten Erfolg brachte und die Demonstranten sich niederwarfen, um den Schwertern der Soldaten ihre Nacken darzubieten, gab Pilatus nach und ließ die ikonischen Standarten nach Cäsarea bringen.59 Diese Maßnahme des neuen Präfekten war ohne rechtliche Grundlage, da die jüdische Religion im Imperium eine offiziell anerkannte Religion war und römisches Militär in Jerusalem die göttlich verehrten Standarten nicht mitführen durfte. Es ist unwahrscheinlich, daß diese fundamentale Rechtslage Pontius Pilatus unbekannt gewesen sein sollte. Er wollte sein Regiment in Judäa von Anfang an mit starker Hand führen und den jüdischen Behörden wie dem Volk zeigen, wer die Macht hat. Zugleich wollte er vermutlich mit dieser Provokation erkunden, inwieweit der Bevölkerung die religiösen Traditionen noch heilig waren. Klug war dieses Vorgehen nicht und letztlich war der Präfekt dabei der Verlierer.

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Josephus verfolgt mit seiner Schilderung des Geschehens auch ein pädagogisches Ziel: daß ein gewaltfreier Protest und passiver Widerstand gegen einen ungerechten Befehl den gewünschten Erfolg bringt und nicht ein Aufstand.60 Ein Stück besonderer Art leistete sich Pilatus, als er unter dem Vorwand, die Wasserversorgung des Jerusalemer Tempels zu verbessern, einen Aquädukt nach Jerusalem restaurieren ließ,61 die Kosten aber aus dem Tempelschatz – natürlich in heimlicher Übereinkunft mit den Tempelbehörden – bestreiten ließ.62 Als Juden im Tempel dagegen protestierten, ließ er sie gnadenlos hinmorden.63 Aber erst der ganze Hintergrund zeigt die Frivolität des Präfekten: Er brauchte das Wasser zur Versorgung seiner eigenen Bäder im Hasmonäerpalast und ließ die Wasserleitung entsprechend anzapfen. Die Badeanlagen sind auch archäologisch nachgewiesen. Pilatus war auch der erste Präfekt, der Bronzemünzen mit Symbolen des Kaiserkultes prägen ließ (vgl. Abb. 12). Anstößig daran war nicht, daß die Münzen Symbole des Kaiserkultes trugen, sondern daß diese Münzen im Land geprägt wurden. Man hat sich auch nicht an Denaren gestoßen, die das Portrait des Kaisers trugen; sie galten einfach als Fremdwährung. Die kleinen Bronzemünzen dagegen, die im Land geprägt wurden und die Menschen tagtäglich für ihre Einkäufe brauchten, waren sehr wohl ein Ärgernis. Da solche Münzen damals ein Massenkommunikationsmittel ersten Ranges waren, bezweckte Pilatus damit auch, die Botschaft des römischen Kaiserkultes in die entlegensten Gegenden des Landes zu tragen. Ein unüberlegtes und grausames Vorgehen gegen die Samaritaner kostete Pilatus schließlich sein Amt. Ein samaritanischer Pseudoprophet, vielleicht eine Art Messiasgestalt, wiegelte die Leute auf und versprach ihnen, an ihrem heiligen Berg Garizim von Mose vergrabene Utensilien zu zeigen.64 Daraufhin bestiegen Massen den Berg Garizim. Pilatus wurde darüber informiert, deutete das Geschehen offensichtlich als eine samaritanische Volkserhebung – vermutlich wurde er durch den Hohenpriester Kaiaphas bewußt falsch informiert –, schickte blitzartig Reiterei und Infanterie, die die Samaritaner, die nicht mehr flüchten konnten, hinmordeten; damit nicht genug: Vornehme Samaritaner wurden verhaftet und hingerichtet. Der Hohe Rat der Samaritaner und der samaritanische Hohepriester protestierten daraufhin beim kaiserlichen Legaten Syriens Vitellius. Nach entsprechender Prüfung der Sachlage gab Vitellius den Samaritanern Recht, suspendierte Pilatus von seinem Amt und befahl ihn nach Rom, um sich vor dem Kaiser zu verantworten.65 Das ganze Geschehen spielte sich im Jahre 36 n. Chr. ab. Interessant ist dabei auch, daß der kaiserliche Legat Vitellius in Jerusalem zugleich den Hohenpriester Joseph ben Kaiaphas absetzte und Jonathan ben Hannas zum neuen Hohenpriester ernannte.66 Die offizielle »Verfassung« der Präfektur Judäa und Samaria war am ehesten die einer Militärdiktatur. Als solche war sie allerdings nicht in dem Ausmaß, wie

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es die bisherigen Ausführungen suggerieren, für die jüdische Bevölkerung im alltäglichen Leben spürbar. Die Präfekten kümmerten sich im großen und ganzen nicht um die inneren religiösen Angelegenheiten. Sie versuchten keineswegs eine Zwangshellenisierung oder -romanisierung und ließen die zivile Verwaltung in jüdischen bzw. samaritanischen Händen. Jerusalem wurde vom Hohenpriester und vom Hohen Rat regiert. Das Amt des Hohenpriesters hatte sich in nachexilisch-persischer Zeit (seit 538 v. Chr.) entwickelt und war von Priesterfamilien dominiert, die sich auf Zadok, den Priester Jerusalems zur Zeit Davids und Salomos (1004–926 v. Chr.) zurückführten. Mattathias und seine Söhne Judas, Simeon und Jonathan waren zwar erbliche Priester, stammten aber nicht von Zadok ab, waren also keine Zadokiden. Da jedoch die Hasmonäer die Befreiung von den Seleukiden gebracht hatten, ist es verständlich, daß Simeon zum Hohenpriester bestellt, aber den zeitlichen Umständen entsprechend auch Heerführer und Ethnarch wurde (1 Makk 14,41–49). Das geistliche wie das weltliche Amt war daher in hasmonäischer Zeit in einer Person vereinigt. Allerdings hat der Volksbeschluß 1 Makk 14,41 eine entscheidende Einschränkung: Die Ämter hatten nur so lange Gültigkeit »bis ein wahrer Prophet auftrete.« Als jedoch Herodes 40/37 v. Chr. König wurde, änderte sich die Lage. Man war gezwungen, zu dem System der Gewaltentrennung zurückzukehren. In der Praxis sah dies so aus, daß alle Macht bei Herodes lag, er daher die Hohenpriester ernannte und absetzte. Selbst den Ornat des Hohenpriesters hatte Herodes und nach ihm die römischen Präfekten in Verwahrung. Daß all dies dem Ansehen des Hohenpriesters nicht förderlich war, liegt auf der Hand und war vom König wohl bewußt so beabsichtigt, fungiert doch der Hohepriester in seiner Amtstracht als Mittler zwischen Gott und seinem Volk. Die Entmachtung des Hohenpriesters erschütterte jedoch sein Ansehen beim einfachen, gläubigen Volk kaum. Die Geschichte zeigt auch, daß in Krisenzeiten die Hohenpriester mit ihrer moralischen Autorität Entscheidendes erreichten. So verhinderte der Hohepriester Joezer ben Boëthos im Jahre 6 n. Chr. eine Volkserhebung, die wegen der Steuerschätzung der herodeischen Güter auszubrechen drohte. Trotzdem wurde aber Joezer vom syrischen Legaten Quirinius abgesetzt und das Amt Hannas, dem Haupt einer anderen führenden Jerusalemer Priesterfamilie, übertragen. Hannas konnte sein Amt bis zum Beginn der Präfektur des Valerius Gratus (15 n. Chr.) innehaben. Der Präfekt ernannte Eleasar ben Hannas (16–17 n. Chr.) und dann Simon ben Camith (17–18 n. Chr.). Erst mit der Ernennung des Joseph ben Kaiaphas, Schwiegersohn des Hannas, zum Hohenpriester (18–36 n. Chr.), war eine Kontinuität des Amtes wieder gegeben. Joseph ben Kaiaphas mußte es ausgezeichnet verstanden haben, sowohl mit Valerius Gratus als auch mit Pontius Pilatus zusammenzuarbeiten. Die Vermutung, daß sein Schwiegervater Hannas die eigentlichen politischen Fäden zog, hat eine hohe Wahrscheinlichkeit.

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Auch die Hohenpriester dieser Zeit waren trotz allem die höchste jüdische Autorität, die Mittler zwischen Gott und dem Volk67 und die Vertreter des Volkes vor den römischen Behörden. Ihre Autorität über ganz Israel68 war aber gegenüber den früheren zadokidischen Hohenpriestern geschwächt, denn sie stammten nicht mehr aus dem zadokidischen Priesteradel, ihr Amt galt nicht mehr auf Lebenszeit und sie wurden bei Amtsantritt nicht mehr gesalbt.69 Der Hohepriester hatte die ausschließliche Herrschaft über alle Priester. An ihm haftete die Heiligkeit als ein unauslöschliches Merkmal.70 Selbst ein abgesetzter Hohepriester hatte weiterhin diesen Charakter.71 Zu den Rechten des Hohenpriesters gehörte es u. a., daß er sich jederzeit an der Darbringung der Opfer beteiligen konnte72 und daß er auch als Leidtragender opfern durfte, was den einfachen Priestern verboten war. Er führte den Vorsitz des Hohen Rates, der mit ihm 71 Mitglieder hatte: Priester, Schriftgelehrte, Älteste.73 Das wichtigste Vorrecht des Hohenpriesters war, daß er einmal im Jahr, am Versöhnungstag, das Allerheiligste des Tempels betreten durfte. Beim Segnen des Volkes durfte er an diesem Festtag auch den Gottesnamen JHWH aussprechen.74 Eine Woche lang mußte er sich auf den Opferritus des Versöhnungstages vorbereiten und die levitische Reinheit wahren. Grundsätzlich galten für den Hohenpriester die strengsten kultischen Reinheitsvorschriften. Er durfte keinen Toten berühren, kein Sterbehaus betreten, keine Trauerkleidung tragen, an keinem Leichenzug teilnehmen, selbst wenn einer seiner Angehörigen gestorben war. Ferner durfte er nur ein unberührtes Mädchen heiraten, das aus priesterlicher, levitischer oder einwandfreier israelitischer Abstammung kam. Zwar war die politische Macht des Hohenpriesters auf Jerusalem und Judäa beschränkt, doch er fungierte als Ethnarch, als Herrscher des Volkes, im geistlichen Sinn über alle Juden, lebten sie nun im Land oder in der Diaspora. In dieser Hinsicht war er daher auch der Ansprechpartner der Römer und die Autorität, die in Angelegenheiten des jüdischen Lebens mit dem Kaiser verhandeln konnte. Obwohl Judäa offiziell unter römischer Herrschaft stand, lag in den Händen des Hohenpriesters und des Hohen Rates die alltägliche Regierungsgewalt. Zur Aufrechterhaltung der Ordnung standen mehrere tausend Mann der Tempelwache zur Verfügung.75 Römische Truppen, die außerhalb der Festtage in Jerusalem nur sehr spärlich vertreten waren, brauchten praktisch keine polizeiliche Gewalt auszuüben. In Samaria übte der samaritanische Hohepriester und sein Hoher Rat die gleichen Funktionen aus wie der Hohepriester und der Hohe Rat in Jerusalem. Die samaritanische Gemeinschaft formierte sich seit dem Ende des 4. Jhs. selbständig. Zwar hat es schon früh in der Geschichte, seit Beginn der saulidischen und davidischen Monarchie massive Spannungen zwischen Nord- und Südstämmen gegeben, schließlich seit 926 v. Chr. die beiden Schwesterstaaten Israel und Juda,76

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aber erst die Ereignisse der nachexilischen Zeit führten zu einer totalen Entfremdung zwischen Juda und Samaria, da die Machthaber Jerusalems die Provinz Samaria kategorisch vom Wiederaufbau des Tempels ausschlossen. Jerusalemer Priester, die mit Frauen aus Samaria verheiratet waren, wurden aus Jerusalem vertrieben (Neh 13,18). Da Samaria, die alte Hauptstadt des Reiches Israel seit Alexander dem Großen, etwa seit 331 v. Chr., eine rein hellenistische Stadt geworden war, belebten die JHWH-gläubigen Samaritaner die Stadt Sichem77 und wurden die Begründer eines gleichsam neuen JHWH-Kultes mit einem Hohenpriester und einem Hohen Rat.78 Zwangshellenisierungen blieben den Samaritanern unter den Seleukiden zwar nicht erspart – ihr Tempel auf dem Berg Garizim wurde in einen Zeus-Tempel umgewandelt (1 Makk 1,41f) –, scheinen aber nicht so radikal wie in Jerusalem gewesen zu sein. Erst die hasmonäische Zeit wurde für die Samaritaner zur Qual. Schließlich zerstörte Hyrkan I. 128 v. Chr. den Garizim-Tempel und 108 v. Chr. das samaritanische Sichem.79 Die hasmonäische und jüdische Tyrannis über Samaria beendete erst Pompeius im Jahre 63 v. Chr., als er es mit eigener Verwaltung zur Provinz Syrien schlug. Herodes’ des Großen Regierung brachte Samaria eine lange Friedenszeit, die die Römer weiterhin garantierten, als Samaria Teil der Präfektur Judäa wurde. Die Samaritaner der Zeit Jesu waren von einer eschatologischen Verheißung und Hoffnung erfüllt (Joh 4). In diesem Kontext ist die Aktion jenes Pseudopropheten zu sehen, der die Samaritaner auf den heiligen Berg Garizim führte. Das brutale Vorgehen des Präfekten Pontius Pilatus gegen die Samaritaner führte zu dessen Absetzung und Verbannung, da er beim Legaten von Syrien vom Hohenpriester und der Ratsversammlung der Samaritaner angezeigt wurde. Dies macht auch deutlich, daß der Hohepriester von Jerusalem für die Angelegenheiten in Samaria nicht zuständig und die Ansprechpartner der Römer die autonomen samaritanischen Behörden waren. Die Samaritaner waren bei den Juden eher verhaßt denn beliebt.80 Jesus hat allerdings diese jüdische Sicht nicht geteilt. Das Beispiel vom barmherzigen Samaritaner (Luk 10,25–37) mußte für die Zuhörer eine ungeheure Provokation gewesen sein. Nicht weniger kostbar ist das Wort des Rabbi Schimeon ben Gamaliel (um 140 n. Chr.): »Ein Samaritaner ist in jeder Hinsicht den Israeliten gleich. Mit jedem Gebot, das bei den Samaritanern in Gebrauch ist, nehmen sie es genauer als die Israeliten.«81 Judäa und Samaria als Schauplätze des Lebens Jesu waren also, obwohl römische Präfektur, keine homogene politische Größe. Jerusalem und das judäische Umland standen unter der Verwaltung des Hohenpriesters und des Hohen Rates bzw. der untergeordneten kommunalen Stellen, das samaritanische Samaria unter der des samaritanischen Hohenpriesters, seines Rates und den entsprechenden kommunalen Behörden. Spannungen hat es gegeben; daß diese nicht

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unerträglich wurden, gewährleistete der römische Präfekt, dessen primäre Aufgabe die Erhaltung der Pax Romana in seinem Gebiet war. Wie das Beispiel des Pilatus zeigt, konnte ein unkluges und allzu brutales Vorgehen gegen einen Bevölkerungsteil dem römischen Präfekten Ansehen und Stellung kosten.

Galiläa und Peräa Nach dem ersten Testament Herodes des Großen sollte sein jüngster Sohn Herodes Antipas, den ihm seine samaritanische Frau Malthake im Jahre 22 v. Chr. geboren hatte, seine Nachfolge antreten. Antipas wurde deswegen auch nach jüdischen Sitten erzogen (vgl. Apg 13,1). Nach dem letzten Testament des Königs und dem Willen des Kaisers mußte sich Antipas als Tetrarch mit Galiläa und Peräa begnügen. Im Grunde herrschte Antipas über seine kleine Tetrarchie wie sein Vater früher über das gesamte Königreich. Er war in innen- und außenpolitischer82 Hinsicht autonom, solange er im Interesse Roms handelte. Auf seinem Territorium waren keine römischen Soldaten stationiert. Spezielle Gesetze und Verordnungen, die für die Provinz Syrien, einschließlich der Präfektur Judäa und Samaria Geltung hatten, waren für Galiläa und Peräa belanglos. Diese grundsätzlichen Feststellungen sind wichtig, da vielfach die Vorstellung verbreitet ist, daß Jesus in seiner galiläischen Heimat in einem von Rom besetzten Gebiet lebte und die Bevölkerung römischer Willkür ausgeliefert gewesen wäre. Sowohl die volle legislative, exekutive wie administrative Autorität lag in den Händen des Tetrarchen, seiner Beamten und der von ihnen gesteuerten kommunalen Behörden. Antipas regierte sein Land von 4 v. Chr. bis 39 n. Chr., die längste Regierungszeit eines jüdischen Herrschers. Ähnlich wie sein Vater verstand er es, sich mit diplomatischem Geschick die Gunst der römischen Kaiser zu erhalten. Luk 13,31f nennt ihn nicht umsonst »Fuchs«. In einer äußerst schwierigen Situation war Antipas gleich zu Beginn seiner Herrschaft, als der syrische Legat Quinctilius Varus die auch in Galiläa ausgebrochenen Aufstände niederschlagen mußte. Danach gab es keine großen innenpolitischen Probleme mehr, da Antipas die mehrheitlich jüdische Bevölkerung seines Landes nicht nur in ihrer Religion, ihren Sitten und Bräuchen respektierte, sondern auch selber ein gläubiger Jude war. Er pilgerte nach der Vorschrift des Gesetzes zum Pesachfest nach Jerusalem (vgl. Luk 23,7), verwendete sich bei Pilatus manchmal für jüdische Angelegenheiten83 und ließ keine Münzen mit seinem oder des Kaisers Bild prägen. Wie für die ersten vier Jahrzehnte Judäas und Samarias, so gilt auch für Galiläa und Peräa, daß keine allgemeine Volkserhebung in der Luft lag, nationalistischpatriotische Kreise – wenn überhaupt – zurückhaltend agierten und bei der Bevölkerung wenig Anklang fanden.

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Wenn auch nicht in so gewaltigem Ausmaß wie sein Vater, so ging Antipas aber dennoch einer beachtlichen Bautätigkeit nach. Sepphoris, die Hauptstadt Galiläas, die bei der Niederschlagung des Aufstandes durch den syrischen Legaten Quinctilius Varus stark gelitten hatte, ließ er neu befestigen und wiederaufbauen.84 Ferner änderte er den Namen der Stadt von Sepphoris auf Autokratoris (= des Alleinherrschers [des Kaisers]), wie JosAnt XVIII 27 zu berichten weiß. Er befestigte und baute die Stadt Beth Aram (vgl. Jos 13,27)/Beth Aramatha in Peräa aus und nannte sie »Livia« nach der Frau des Kaisers Augustus und der Mutter des späteren Kaisers Tiberius. Als Livia auf Grund des Testaments des Kaisers in die julianische Familie aufgenommen wurde und den Augusta-Titel erhielt (Tacitus, Annalen I 8,1), änderte Antipas den Namen der Stadt nochmals in »Julias«. Die neue Befestigung der beiden Städte hatte auch einen strategischen Hintergrund. Sepphoris/Autokratoris lag im Schnittpunkt der galiläischen Hauptstraßen, Beth Aramatha/Livia/Julias sicherte Peräa gegen die Nabatäer. Um 26 n. Chr. gründete Antipas als neue Hauptstadt der Tetrarchie am Westufer des Sees Gennezareth die nach Kaiser Tiberius benannte Stadt Tiberias. Herodes Antipas ließ dabei auch Gräber überbauen, so daß die Stadt nach jüdischer Auffassung (vgl. Num 19,16) als unrein galt. Galiläer, aber auch Fremde, wurden daher zwangsweise angesiedelt.85 Trotz dieser anfänglichen Probleme entwickelte sich die Stadt ob der wirtschaftlichen Blüte rasch zu einer der größten Städte des Landes. Joh 6,23 nennt die Stadt nur in bezug auf den See. Antipas war mit einer Tochter des nabatäischen Königs Aretas IV. (9 v. Chr.–40 n. Chr.) verheiratet. Politische Gründe mögen für diese Heirat ausschlaggebend gewesen sein; das Verhältnis zwischen Juden und Nabatäern war doch sehr spannungsgeladen.86 Versöhnung mit den Nabatäern war aber durchaus ein Anliegen der herodeischen Dynastie. Kypros, die Mutter Herodes des Großen, war eine Nabatäerin. Herodes der Große selbst wandte sich auf der Flucht vor den Parthern an den nabatäischen König Malichus I. (56 oder 47–30 v. Chr.) um Asyl, das ihm allerdings verweigert wurde. Malichus konfiszierte obendrein den am nabatäischen Hof aufbewahrten Familienschatz. 31 v. Chr. rächte sich Herodes und schlug im Hauran das nabatäische Heer vernichtend. Es ist daher naheliegend, daß durch die Heirat des Antipas mit einer nabatäischen Prinzessin der Friede wiederhergestellt und gesichert werden sollte. Dieses Vorhaben mißlang, weil Herodes Antipas seiner Halbnichte Herodias verfiel. Diese war aber bereits die Frau seines Halbbruders, des Privatiers Herodes Philipp Boëthus, nicht des Tetrarchen Philippus (vgl. Tabelle 1). Als Antipas Herodias heiratete,87 floh die nabatäische Prinzessin zu ihrem Vater. Aretas IV. rächte den Verrat an seiner Tochter mit einem Feldzug und fügte dem Tetrarchen Antipas eine schwere Niederlage zu. Da Antipas ein Vasall der Römer war, sahen diese einen nabatäischen Angriff auf die Tetrarchie als einen

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Angriff gegen das Imperium. D. h. der syrische Legat war gehalten, einen militärischen Vergeltungsschlag gegen die Nabatäer zu führen. Er hat sich allerdings – aus welchen Gründen auch immer – einige Jahre Zeit gelassen. Der nabatäische Rachefeldzug gegen Antipas muß vor dem Jahre 33/34 n. Chr. stattgefunden haben, da der Tetrarch Philippus, der Halbbruder des Antipas, in diesem Jahr gestorben, er aber bei der nabatäischen Aktion gegen Antipas indirekt beteiligt war. Da sowohl Josephus (JosAnt XVIII 100–119) als auch der Evangelist Markus (6,17–29 parr.) die Turbulenzen, die durch die Heirat des Antipas und der Herodias entstanden sind, mit Johannes dem Täufer in Verbindung sehen, kommt das Jahr 29 n. Chr. für diese Heirat am ehesten in Frage. Der nabatäische Rachefeldzug dürfte daher schon 30/31 n. Chr. stattgefunden haben. Bei Josephus Flavius ist der Grund der Hinrichtung des Täufers die Furcht des Tetrarchen vor einem Aufstand, da Johannes eine zahlreiche Anhängerschaft hatte. Antipas ließ Johannes auf der Festung Machärus gefangen setzen und nach einiger Zeit hinrichten. Nach Markus ist der Grund der Hinrichtung die Kritik des Täufers an der unrechtmäßigen Ehe mit Herodias. Antipas wird hier gleichsam zur Hinrichtung des Täufers »gezwungen«, da er sein Versprechen gegenüber Herodias’ Tochter Salome halten muß. Beide Versionen schließen einander nicht aus; denn Josephus sieht mehr den staatspolitischen Hintergrund, indem der Tetrarch eine potentielle Gefahr für sein Land ausschaltet, während Markus primär die moralische Seite sieht und offenbar – vielleicht durch Schüler des Johannes – die exakteren Informationen hat. Der zeitliche Ablauf wird sich daher so dargestellt haben: 29 n. Chr. Heirat von Antipas und Herodias; Hinrichtung des Täufers. 30/31 n. Chr. Rachefeldzug der Nabatäer. 33/34 n. Chr. Tod des Tetrarchen Philippus. Erst im Jahre 37 n. Chr. führte der syrische Legat Vitellius einen Vergeltungsschlag gegen die Nabatäer. Doch es sollte anders kommen. Kaiser Tiberius starb in Rom und der Legat beorderte seine Legionen sofort zurück.88 Aretas kam daher ungeschoren davon. Jesus von Nazareth verbrachte den Großteil seines Lebens im autonomen Herrschaftsgebiet des Antipas. Luk 13,31–33 bringt die Notiz, daß die Pharisäer Jesus warnten, weil ihn Herodes Antipas töten lassen wollte. Vermutlich handelt es sich dabei um eine allgemeine Warnung, daß es Jesus ähnlich wie Johannes dem Täufer ergehen könne, und nicht um einen konkreten Hinweis; denn Luk 9,7–9 zeigt eher die Ratlosigkeit des Antipas darüber, was er von Jesus halten solle, und wünscht, ihn zu sehen. Nach Luk 23,6–12 geht dieser Wunsch auch in Erfüllung. Der Hintergrund ist folgender: Pilatus konnte sich auf Grund der Anschuldigungen der jüdischen Hierarchen gegen Jesus kein objektives Bild machen, ob Jesus tatsächlich ein Hochverräter gegen den Kaiser und das Reich sei. Er schickte daher Jesus zu dem

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in Jerusalem beim Pesachfest anwesenden Tetrarchen Herodes Antipas – noch dazu stammte Jesus aus dessen Tetrarchie –, um Gewißheit zu bekommen; denn Pilatus wußte, daß es zwischen Herodes Antipas und Kaiser Tiberius enge Beziehungen gab, daß der Kaiser den Tetrarchen hoch schätzte und mit schwierigen diplomatischen Agenden beauftragte. Er wußte, daß der Tetrarch keine Sekunde zögerte, einen Menschen hinrichten zu lassen, wenn nur der Verdacht des Hochverrates in der Luft lag, wie der Fall des Täufers zeigt. Herodes Antipas war dem Kaiser und dem Imperium absolut treu ergeben. Da nun Antipas Jesus ohne eine Verurteilung zurückgeschickt hat, wußte der Präfekt: Jesus ist im Sinne der Anklage unschuldig. Daß es dennoch zu einem Todesurteil gegen Jesus gekommen ist, wird später zu behandeln sein. Lukas schreibt (23,12): »An diesem Tag wurden Herodes und Pilatus Freunde; vorher waren sie Feinde gewesen.« Der Satz ist kaum so zu verstehen, daß die beiden nun Freunde im besten Sinn des Wortes geworden wären. Das Nomen »Freund« ist in seiner neutestamentlichen Verwendung vielfältig und läßt sich hier nur in seinem allgemeinsten Sinn verstehen, daß sich nämlich der Präfekt und der Tetrarch nach diesem Geschehen näher gekommen sind.89 Nach dem Tod des Tetrarchen Philippus 33/34 n. Chr. fungierte Herodes als Vermittler zwischen Römern und Parthern. Als im Jahre 35 n. Chr. der armenische König Zeno Artaxias starb, machte der parthische König Artabanus seinen Sohn zum König über Armenien. Auf diese Provokation mußte Rom reagieren. Klugerweise erkannte Kaiser Tiberius, daß hier Diplomatie besser denn Krieg sei, und gab dem syrischen Legaten Vitellius das Mandat für Verhandlungen mit dem Partherkönig. Der Schauplatz dieser diplomatischen Verhandlungen war eine eigens über den Euphrat konstruierte Brücke mit einem großen Pavillon in deren Mitte. Herodes Antipas fungierte bei diesen Verhandlungen als diplomatischer Vermittler und Gastgeber. Die Verhandlungen waren erfolgreich. Artabanus schloß Frieden und sandte seinen Sohn Dareios als Garanten für das Friedensabkommen nach Rom.90 Der Herrscherwechsel in Rom im Jahre 37 n. Chr. brachte für Antipas größtes Unglück. Kaiser Caligula, favorisierte seinen ehemaligen Spießgesellen, Antipas’ Neffen Agrippa, gab ihm die Tetrarchie des verstorbenen Philipp und das Recht, den Königstitel zu führen; zusätzlich bekam er die Tetrarchie Abilene, die nach Lysanias Tod verwaist war.91 Herodias überredete Antipas, sich in Rom beim neuen Kaiser ebenfalls um den Königstitel zu bemühen. Agrippa, der noch dazu seinem Onkel viel zu verdanken hatte, versuchte das zu verhindern, indem er das Gerücht in die Welt setzte, Antipas wolle mit den Parthern einen Schlag gegen Rom führen. Auch vor

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dem Kaiser erhob Agrippa diese Anschuldigungen gegen seinen Onkel. Und Caligula glaubte seinem Spießgesellen. Der Tetrarch Herodes Antipas wurde nach Gallien verbannt. Seine Frau Herodias ging mit ihm. Sein Herrschaftsgebiet wurde nun, 39 n. Chr., an das Königreich Herodes Agrippas I. angeschlossen.92

II. Die jüdische Religion Zur Zeit Jesu hatte sich der absolute Monotheismus nach einem Jahrhunderte währenden Prozeß längst durchgesetzt. Die prophetischen und priesterlichen Eliten Judas wie Israels haben bereits sehr früh den Glauben an den Einen Gott vertreten und in die Herzen der Menschen einzuprägen versucht. Schon im 6. Jh. v. Chr. formulierte Deuterojesaja unmißverständlich den Glauben an den Einen Gott: »Vor mir wurde kein Gott erschaffen und auch nach mir wird es keinen geben. Ich bin JHWH, ich, und außer mir gibt es keinen Retter [...]. Ich allein bin Gott, auch künftig werde ich es sein.« (Jes 43,10–13). Diese Aussage ist gleichsam nur eine Zusammenfassung dessen, was Priester und Propheten Judas wie Israels schon seit Jahrhunderten vorbereitet hatten. Und von diesem Verständnis her ist der Weg zu dem Gebet Dtn 6,4–5 nicht mehr weit: Höre Israel! JHWH, unser Gott ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.« Aber die Faszination von den Umweltweltreligionen, besonders den kanaanäischen Religionen, war sehr groß. Diese Religionen waren daher für die Bevölkerung eine verlockende Alternative zum eher nüchternen JHWH-Glauben.93 Vor allem die Große Göttin, Aschera, buhlte um die Gunst der Menschen und es dauerte bis in das 8. Jh. v. Chr. hinein, die Göttin dadurch zu entthronen, daß man sie als eigenständige, personale Größe leugnete und nur mehr als eine Wirk–-und Segensmacht des Gottes Judas und Israels verstanden hat.94 In der 7. Vision des Propheten Sacharja (5,5–11) wird die Göttin als Personifikation allen Übels nach Babylon, in das Land der Götzendiener, verbannt: »Der Engel des Herrn, der mit mir redete, kam und sagte zu mir: Blick hin und sieh, was sich zeigt! Ich fragte: Was ist das? Er antwortete: Was sich dort zeigt, ist ein Faß. Und er fuhr fort: Das ist ihre Schuld auf der ganzen Erde. Und siehe, ein Deckel aus Blei wurde (von dem Faß) gehoben, und in dem Faß saß eine Frau. Er sagte: Das ist die Ruchlosigkeit. Darauf stieß er sie in das Faß zurück. [...] und sie (Engel) trugen das Faß [...] fort. Darauf fragte ich den Engel, der mit mir redete: Wohin bringen sie das Faß? Er antwortete mir: Im Land Schinear soll für die Frau ein Tempel gebaut werden [...].« Endgültig wurde jedoch die Göttin erst durch die Weisheitslehrer des 3. und 2. Jhs. v. Chr. von ihrem Thron gestürzt, nachdem alle Versuche der priesterlichen, prophetischen und deuteronomischen Kreise gescheitert waren, die Göttin auszumerzen, ihre Existenz zu leugnen und sie aus den Herzen der Menschen in ein Land des Götzendienstes zu verbannen. Den Weisheitslehrern Judas ist es mit Geschick gelungen, die »Große Göttin« als die personifizierte Weisheit, die »Frau Weisheit«95 zu interpretieren:

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»Durch mich herrschen die Könige und Fürsten ordnen das Rechte an; durch mich regieren Hofbeamte und Edelmänner, alle Richter des Rechts. JHWH schuf mich als Erstling seines Waltens, als Uranfang seiner Werke von damals. Seit jeher bin ich geformt, seit Anbeginn, seit Urzeiten der Erde. ... Als er (dann) die Himmel festmachte, war ich dabei ... als er die Fundamente der Erde festlegte. Ich war bei ihm, einem Meister, ich war (nichts als) Wonne Tag für Tag, lachend und scherzend auf dem Festland seiner Erde, und meine Wonne ist es, bei den Menschen zu sein.« (Spr 8,15–16.22–31)96 Die »Große Göttin« wird also als »Frau Weisheit« gedeutet, die JHWHs erstes Werk ist. Sie ist aber nicht präexistent in Bezug auf JHWH, wohl aber in ihrem Verhältnis zur Schöpfung. So wurde endgültig erreicht, die selbst im 3. Jh. v. Chr. noch schier unausrottbaren Kulte der Göttin in das monotheistische Gottesbild zu integrieren. In der Antithese der »Frau Torheit« konnte dann all das Platz finden, was die Attraktivität der Göttin ausmachte, wie Erotik und Sexualität, aber im JHWH– Glauben selber nur spurenhaft Platz fand.97 Die Präzisierung der spielenden und scherzenden Weisheit von Spr 8 durch Sir 24,10 als liturgisches Dienen vor Gott ist dann der Versuch, den erotischen Hauch, der der »Frau Weisheit« noch immer anhaftete, endgültig aus der Welt zu schaffen. Der strenge Monotheismus brachte auch das letzte Aufflackern der Göttin zum Erlöschen. Gleichsam eine Zusammenfassung des Glaubens Judas, eine »alttestamentliche Theologie in nuce«98 bietet der aus weisheitlichen Kreisen stammende Ps 33, der die absolute Souveränität Gottes in der Schöpfung preist, aber diesen Gott bereits als den absoluten und souveränen Gott der Geschichte erkennt und so mit einem Fuß in der apokalyptischen Weltdeutung steht. Das große Verdienst der Apokalyptiker besteht darin, die Gottesvorstellung universal gedacht zu haben. So ist der Gott der Väter des Danielbuches nicht nur der Gott Judas, sondern ebenso aller Völker. Die Offenbarung Gottes an Israel ist nicht Israels Thora, sondern die der ganzen Welt! Dan 2,49b läßt den fremden König Nebukadnezar gerade dieses Bekenntnis sprechen:

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»Euer Gott ist wirklich der Gott der Götter, der Herr der Könige und der Offenbarer der Geheimnisse.« Wie der strenge Monotheismus des zeitgenössischen Judentums nie zur Disposition stand, so auch nicht die Ethik, die nicht auf menschlichen Vereinbarungen, Verhaltensregeln und Gesetzen beruht, sondern auf der Offenbarung Gottes an sein Volk, das auf diese in Gottes- und Nächstenliebe antworten soll. Etwa eine Generation vor Jesus hat Rabban Hillel die Thora, damit die Ethik des Judentums, zusammenfassend formuliert: »Abermals ereignete es sich, daß ein Nichtjude vor Schammai trat und zu ihm sprach: Mache mich zum Proselyten unter der Bedingung, daß du mich die ganze Thora lehrst, während ich auf einem Fuß stehe. Da stieß er ihn fort mit der Elle, die er in der Hand hatte: Darauf kam er zu Hillel und dieser machte ihn zum Proselyten und sprach zu ihm: Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Thora und alles andere ist nur Erläuterung; gehe und lerne sie!« (bSchabbath 31a). Die Ethik, die Rabban Hillel in der »Goldenen Regel« als eine Zusammenfassung des Dekalogs (Ex 20,1–21; Dtn 5,6–22) und der beiden Liebesgebote der Thora (Lev 19,18; Dtn 5,4–5) und letztlich der gesamten Thora gibt, finden wir auch bei jenem Schriftgelehrten – nur ausführlicher – , der Jesus die Frage stellt, welches das Wichtigste aller Gebote sei, und Jesus mit den Geboten der Gottes– und Nächstenliebe beantwortet. Worauf der Schriftgelehrte Jesu Antwort wiederholt: »Gut, Rabbi, und wahr hast du gesprochen: Er ist nur ein einziger und es ist keiner außer ihm. Und ihn zu lieben aus ganzem Herzen, aus ganzem Denken und aus ganzer Kraft und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, das ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer.« (Mk 12,32–34). Wir finden dies auch in dem Wort Jesu an den reichen Jüngling, der fragt, was er tun müsse, um das ewige Leben zu erlangen, und von Jesus die Antwort erhält: » [...] nur einer ist gut, Gott allein. Die Gebote kennst du: Du sollst nicht töten, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht stehlen, du sollst kein falsches Zeugnis geben, du sollst nicht vorenthalten, ehre deinen Vater und deine Mutter.« (Mk 10,18–20). In bestem jüdisch-ethischen Verständnis formuliert der Herrenbruder Jakobus (Jak 4,11–12), daß die Verleumdung und das Richten eines Mitmenschen, eine Verleumdung und ein Richten der Offenbarung Gottes, der Thora, und dadurch Gottes ist: »Brüder, verleumdet einander nicht. Wer seinen Bruder verleumdet oder seinen Bruder richtet, der verleumdet die Thora und richtet die Thora. Wenn du aber die Thora richtest, so bist du einer, der die Thora nicht befolgt, sondern über sie richtet. Einer nur ist Gesetzgeber und Richter, er, der die Macht hat, zu retten und zu verderben. Du aber, wer bist du, daß du den Nächsten richtest?«

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Der absolute Monotheismus und die auf Gottes Offenbarung beruhende Ethik des zeitgenössischen Judentums erfahren ihre Entfaltung und weitere Veranschaulichung durch das Jerusalemer Heiligtum und durch die Interpretation der Heiligen Schriften, wie sie religiös-politische Gruppierungen vertreten haben.

1. Das Heiligtum Jerusalems Im Jahre 587/ 586 v. Chr. zerstörten die Neubabylonier mit Jerusalem auch den Salomonischen Tempel, und der Opferkult kam Jahrzehnte zum Erliegen. Erst in frühnachexilischer Zeit wurde der Tempel neu errichtet und war etwa um 515 v. Chr. vollendet. Dieser Neubau kam an den Salomonischen Tempel in seiner ganzen Pracht wohl nicht heran. Im Jahre 20/19 v. Chr. begann Herodes der Große, verfolgt vom Mißtrauen der Bevölkerung, mit der Neugestaltung und Erweiterung der ganzen Tempelanlage.99 Nach neuen bautechnischen Untersuchungen100 umfaßte die Tempelanlage eine annähernd rechteckige Fläche von 138.682 m2, die mit einer gewaltigen Mauer aus flach geboßten Quadern – von 1,20 m Höhe und bis zu 12 m Länge – umgeben war (vgl. Abb. 16). Überragt wurden die westlichen, nördlichen und östlichen Einfassungsmauern durch 15 m hohe und 15 m breite Säulenhallen, deren Dachkonstruktion aus Zedernholz gefertigt war. Die südliche Umfassungsmauer wurde durch die 185 m lange, 35 m breite und 30 m hohe dreischiffige Königshalle überragt. An der Südseite dürfte auch der Haupteingang des Tempels gewesen sein; denn die Tore der Südseite erreichte man über eine mehr als 60 m breite Steintreppe, die von einem Versammlungsplatz ausging. An der Südseite gab es einen Komplex von Ritualbädern, die den Tempelbesuchern zur Erlangung der kultischen Reinheit zur Verfügung standen. Hier an der Südflanke gab es den Platz der Geldwechsler und Viehhändler. Die Tempelbehörde akzeptierte nur tyrische Münzen, so daß die Pilger gezwungen waren, Geld zu tauschen, um damit die angebotenen Opfertiere kaufen zu können.101 An der Nordwestecke des Tempels erbaute Herodes der Große schon zwischen 37 und 31 v. Chr. eine gewaltige Fortifikation, die er nach seinem römischen Gönner Antonius »Antonia« nannte. Einerseits konnte Herodes durch diese Anlage die nördlichen Verteidigungsmauern Jerusalems verstärken, andererseits sicherte er sich so die Kontrolle über den Tempel. Als Judäa im Jahre 6 n. Chr. römische Präfektur wurde, diente die Burg Antonia als römische Kaserne. Durch die Tempeltore und Säulenhallen kam man in einen Hof, dessen Fußboden mit Steinplatten unterschiedlicher Farbe gepflastert war, der sogenannte Vorhof der Heiden, weil er auch von Nichtjuden betreten werden durfte. Etwa in der Mitte dieses Vorhofs stand das eigentliche Heiligtum, umgeben von einer Balustrade aus 150 cm hohen, mit Steinplatten verbundenen Säulen. Diese

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Begrenzung hatte 13 Eingänge, bei denen Inschriften in griechischer und lateinischer Sprache alle Nichtjuden warnten, den inneren Tempelbereich zu betreten, da dies die Todesstrafe zur Folge habe (vgl. Abb. 14).102 Hinter der Balustrade führte von Süden, Osten und Westen je eine vierzehnstufige Treppe zu einem 5 m breiten Umgang, der das eigentliche Heiligtum umschloß.103 Auf gleicher Höhe mit dem Umgang lag im Osten der Hof der kultisch reinen Israelitinnen. Dieser Hof war quadratisch und hatte eine Seitenlänge von 67,5 m. In den Ecken waren abgetrennte Bereiche: In der südwestlichen Ecke wurde das Öl für den Tempel gelagert, in der nordwestlichen war der Raum der Leprosen, in dem diese nach ihrer Heilung die kultischen Waschungen vornehmen konnten, in der nordöstlichen wurde das Holz für die Brandopfer gelagert, in der südöstlichen war der Raum der Nasiräer.104 Westlich des Hofes der Frauen schloß sich der Hof der kultisch reinen Israeliten und Priester an. In diesen Bereich, der etwa 7,5 m über dem Niveau des Frauenhofes lag, gelangte man über fünfzehn halbkreisförmige Stufen durch das Nikanor-Tor. Der Vorhof der Männer war relativ klein und vom priesterlichen Bereich nur durch eine 50 cm hohe Balustrade getrennt.105 Im Priesterhof stand der gewaltige, mit vier Hörnern versehene Altar, der über eine südlich davon gelegene Rampe erreichbar war. Links der Rampe war die Quaderhalle, eine Basilika, die u. a. Sitz des Hohen Rates war (vgl. Abb. 17).106 Hinter dem Altar erhob sich das über mehrere Stufen erreichbare Hauptgebäude, das wie beim Salomonischen Tempel in Ulam (Vorhof), Hekal (Haupthalle) und Debir (Allerheiligstes) gegliedert war. Ursprünglich war dieses Gebäude 30 m lang, 10 m breit und 30 m hoch. Bei den herodianischen Umbauarbeiten wurde das Gebäude aufgestockt und die Vorhalle erheblich erweitert.107 Für die Steinmetzarbeiten, die in diesem Bereich getan werden mußten, ließ Herodes der Große eigens Priester ausbilden. Das Dach zierten vergoldete Spieße, um eine Verunreinigung durch Vögel zu verhindern.108 Die Mischna (mMiddot IV 7) vergleicht das so gestaltete Heiligtum mit einem liegenden Löwen.109 Hier wird zeichenhaft an die alte Vorstellung des von Zion wie ein Löwe brüllenden JHWH erinnert (vgl. Am 1,2). In der Haupthalle des Heiligtums standen der siebenarmige Leuchter (Menora), der Schaubrottisch und der Räucheraltar.110 Die Menora geht auf die zehn goldenen Leuchter des Salomonischen Tempels zurück, die je sieben Lampen in einer Schale trugen (1 Kön 7,48f). Den Leuchter des nachexilischen Tempels beschreibt Ex 25,31–40 (vgl. Lev 24,1–3; Num 3,31). Während der seleukidischen Verfolgung im 2. Jh. v. Chr. wurde u. a. auch der Leuchter entweiht. Nach der Rückeroberung durch die Hasmonäer wurde daher die Menora durch ein neues Exemplar ersetzt. Die Menora war nichts anderes als die stilisierte Form des Lebensbaumes, was viele traditionelle Vorstellungen an die Göttin evoziert hat.

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Abb. 16 Tempelareal A B C D E F G

Tempel Altar Priesterhof Männerhof Nikanortor Frauenhof Korinthisches Tor H/H Hof der Heiden 11 Ausgang des Westtores 12 Doppeltor 13 Dreifachtor J Robinson– Bogen K,L,M,N Westtore O Nordtor P Goldenes Tor/Susa– Tor 1–10 Eingänge in die inneren Höfe des Tempels

Durch die neu hinzugekommene Lichtsymbolik wurde der Leuchter zum umfassenden Zeichen des Lebens, ein Realsymbol der unsichtbar wesenden und anwesenden Gottheit.111 Über dem Vorhang, der das Allerheiligste von der Haupthalle trennte, waren vergoldete Weinstöcke angebracht, von denen »mannshohe Trauben«112 herabhingen. Den Vorhang nennt Josephus (JosBell V 214–216) eine babylonische Webearbeit in den Farben Blau (Luft), Scharlach (Feuer), Linnen (Erde), Purpur (Meer). In diesem Vorhang soll auch die Gesamtheit des Firmamentes eingewoben gewesen sein; ein Zeichen für die universale, kosmische Dimension Gottes. Das Allerheiligste war leer (JosBell V 219). Es bedurfte letztlich keines anderen Realsymbols und keiner anderen Substitution als der für den Menschen

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Abb. 17 Grundriß des Herodianischen Tempels A: Allerheiligstes (Debir); B: restlicher Tempelraum; C: Vorhalle; D/E: Schlachtplätze; F: Brandopferaltar; G: Rampe des Altars; H: Priesterhof; I: Hof der jüdischen Männer; J: Nikanortor; K: Treppenzugang; L: Hof der jüdischen Frauen; M: Wasserbecken; N: Terrasse; O: Stufenaufgang zur Terrasse; P: Schranke, die den Zugang für Nichtjuden zu den inneren Höfen begrenzte; a–i: Zugänge zu den inneren Höfen; 1: Salzzelle; 2: Zelle des Parwa; 3: Wäscherzelle; 4: Holzzelle; 5: Zelle der Verbannung; 6: Quadersteinzelle, 7/8: Zellen der Schlachtmesser, 9: Zelle der Bäcker; 10: Zelle der Kleiderwächter; 11: Aussätzigenhof; 12: Holzhof; 13: Ölhof; 14: Nasiräerhof.

wahrnehmbaren Leere, um Gottes Omnipräsenz hier und im gesamten Kosmos zu veranschaulichen. Die Leere des Allerheiligsten ist der zum »Bild« gewordene Monotheismus des frühen Judentums priesterlicher Prägung. Ohne die uralten Konotationen Gottes aufzugeben, wie die Leben-Licht-Vorstellung, die Idee, daß Gott Herr und König des Himmels und der Erde, ja des Universums ist, ist dieser Gott durch das Zeichen der Leere in seiner Anikonizität der allgegenwärtige, der durch das Medium des Kultes für den Menschen erfahrbar wird. Wie der Salomonische so verfolgt auch der Herodianische Tempel, wenn auch auf andere Weise, die Idee der abgestuften Heiligkeit:113 ein Bereich, der von allen betreten werden durfte (Hof der Heiden), der Hof der israelitischen Frauen, der Hof der Israeliten, der Bereich der Priester und das eigentliche Heiligtum, dessen Allerheiligstes nur vom Hohenpriester am Versöhnungstag betreten werden durfte. Der entscheidende Unterschied ist der, daß das Bilderverbot (Ex 20,4; Dtn 5,8) rigoros eingehalten und von Herodes geachtet wurde. Die Grundidee des Tempels war weiterhin die der irdischen Wohnstatt und besonderen Anwesenheit Gottes.114 Diese Grundidee wurde aber nicht mehr wie beim Salomonischen

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Tempel durch die Ikonographie sukzessive erfahrbar. Die relative Bildlosigkeit war das adäquate Ausdrucksmittel der absoluten monotheistischen Gottesvorstellung geworden.115 Alle lebendige Vegetation wurde nun aus dem Tempel verbannt (JosCAp I 199), um jede Assoziation Gottes mit heidnischen Fruchtbarkeitsgottheiten zu vermeiden.116 An der Spitze der Tempelhierarchie stand der Hohepriester (Lev 21,10), der die oberste Aufsicht über den Tempel, den Kult und das Kultpersonal hatte. Er präsidierte den Hohen Rat.117 Der Vollzug des Ritus am Versöhnungstag, an dem er das Allerheiligste betreten durfte, war seine ureigenste kultische Aufgabe. Der Tempelhauptmann war Stellvertreter des Hohenpriesters. Er unterstützte den Hohenpriester bei dessen offiziellen Auftritten und beaufsichtigte den täglichen Opferkult. Er gab z. B. das Zeichen, wann die Leviten nach Ende des Opferdienstes zu singen beginnen durften.118 Dieses Amt dürften zur Zeit Jesu noch solche Priester innegehabt haben, die theologisch und politisch auf einer Linie mit dem Hohenpriester und der einflußreichen Priesteraristokratie waren. Ab etwa 50 n. Chr. scheint dieses Amt in Händen pharisäisch denkender Priester gewesen zu sein.119 Die Priester waren in 24 Klassen eingeteilt (1 Chr 24,7–18). Jeweils eine Klasse hatte eine Woche lang im Tempel Dienst zu leisten (vgl. Luk 1,5–25). Jede Klasse bestand aus vier bis neun Priesterfamilien,120 die sich den Dienst während dieser Woche teilten. Die meisten dieser Priester lebten natürlich nicht in Jerusalem, sondern überall im Land wie auch in der Diaspora. Auch Priester aus der Diaspora durften den Dienst versehen.121 Nach Beendung des Tempeldienstes kehrten die Priester wieder in ihre Heimatorte zurück. Während des Dienstes übernachteten sie im Brandraum des Heiligtums,122 der im Norden des Priesterhofes lag. Der Aristeasbrief 95 gibt die Zahl der Priester, die jeweils im Heiligtum weilten, mit 700 an.123 Für den gewöhnlichen täglichen Bedarf dürften etwa 20 Priester durch das Los bestimmt worden sein. Sie brachten die Gemeinschafts-, Privat- und Rauchopfer dar, entzündeten die Lampen und segneten das Volk.124 Das Schlachten der Opfertiere war zwar grundsätzlich auch Laien erlaubt (mZebahim III 1), wurde jedoch in der Praxis nur von Priestern ausgeführt. Die Leviten, der alte Priesterstamm Israels, hatten zu dieser Zeit längst ihre priesterliche Aufgabe eingebüßt.125 Ihre Hauptaufgaben waren nun der Gesang und die Bewachung (1 Chr 9,19–34). Trompete (vgl. Num 10,10) und Horn (Schofar) wurden von den Priestern bedient. Priester, nicht Leviten, bliesen daher die Trompete vor dem Weinopfer und zwischen den Gesängen der Leviten.126 Den dauernd wechselnden Priestern stand eine stattliche Anzahl Beamter127 gegenüber, deren Amt erblich war. Ihre Aufgaben waren das Überwachen und

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Assistieren der priesterlichen Dienste, das Bewachen des Tempels, das Schließen und Öffnen der Tore und die für den Kult notwendige Administration.128 Der Vollzug des Tempeldienstes und Kultes war einerseits ein alltägliches und andererseits ein feiertägliches Geschehen.129 Zum täglichen Dienst gehörte die Bewachung des Tempels, die von 25 Einheiten zu je 10 Mann geleistet wurde. Die verschiedenen Tore, Ecken und Räume wurden Tag und Nacht bewacht.130 Der Kult begann mit der Dämmerung am Morgen und endete am Abend mit dem Schließen der Tempeltore. Es wurde am Morgen und am Abend je ein Lamm als Opfer dargebracht. Die anderen zahlreichen Opfer wie das Rauch- und Weinopfer lagen dazwischen, aber ebenso die vielen freiwilligen Opfer wie Dankopfer, die Mahlopfer und die obligatorischen Opfer wie Sündopfer, Schuldopfer und Reinigungsopfer.131 An den verschiedenen Festtagen wurde das tägliche Opferritual geändert oder auch durchbrochen. Am Sabbat, an dem auch die Priesterklasse wechselte,132 durfte alles verrichtet werden, was direkt mit dem Altardienst in Zusammenhang stand. Das Feuer des Altars durfte nicht verlöschen. Die Schlachtung des Lammes am Morgen und am Abend wurde wie immer vorgenommen, ebenso das Weihrauchopfer. Nach dem Morgenopfer wurde zusätzlich das Opfer von zwei Lämmern dargebracht. Nur Arbeiten, die schon am Vortag erledigt werden konnten, waren am Sabbat verboten. So wurden die Schaubrote am Sabbat ausgewechselt, aber schon am Vortag gebacken. Private Opfer fanden am Sabbat nicht statt. Eine besondere Herausforderung für das Tempelpersonal war das Pesachfest. Am 14. Nisan wurden um ca. 14.30 Uhr – war der 14. Nisan ein Freitag, dann schon um 13.30 Uhr – die Pesachlämmer von der Bevölkerung in den Tempel gebracht. Die Besitzer selbst schlachteten ihre Lämmer unter dem Gesang des Hallel (Ps 115–118; 133–134; 136), Priester gossen das Blut am Fuß des Altares aus, das Fett wurde verbrannt. Der eigentliche Ritus des Pesachfestes vollzog sich dann in den Familien, Sippen und Bruderschaften außerhalb des Tempels. Angesichts der Zahl der Jerusalemer Bevölkerung und der in die Hunderttausende gehende Menge der Festpilger, die Wert auf die rituelle Schlachtung des Pesachlammes legten, kann man sich den Arbeitsanfall am 14. Nisan gut vorstellen. Auch das Schawuot–Fest, sieben Wochen nach dem 16. Nisan, an dem jeder volljährige Israelit im Heiligtum erscheinen und sieben Arten der Erstlingsfrüchte seiner Felder mitbringen sollte, stellte an das Tempelpersonal fast ebenso hohe Anforderungen. Das dritte Wallfahrtsfest, Sukkot, beginnend am 15. Tischri, brachte ebenfalls Massen von Menschen nach Jerusalem. Die Zahl der Opfertiere, die an diesem Fest im Tempel dargebracht wurden, war größer als sonst. Am ersten Tag des Laubhüttenfestes wurden z. B. vierzehn Stiere, zwei Widder, vierzehn Schafe

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und ein Ziegenbock geopfert. Neben dem Weinopfer wurde auch das Wasseropfer dargebracht (mSukka IV 9). Das Fest dauerte sieben Tage und hatte einen eigenen Abschlußtag (Lev 23,34). Ursprünglich war es ein Erntedankfest und wurde später mit einem Ereignis der Heilsgeschichte verbunden: die Israeliten sollten zur Erinnerung an die »Hütten« (Sukkot), in denen die Väter nach dem Exodus gewohnt hatten, während dieses Festes ebenso in Hütten wohnen (Lev 23,43). Auch in den Vorhöfen des Tempels errichteten die Gläubigen solche Hütten mit Ästen, die sie zuvor abgeschnitten hatten. Ein Charakteristikum dieses Festes war, daß man Früchte und Zweige (Lev 23,40f) in Prozessionen mit sich trug.133 Die Seiten des Altares wurden mit Weidenzweigen geschmückt und der Altar täglich umkreist (mSukka IV 5). Der für den Tempel wichtigste Feiertag war der Versöhnungstag am 10. Tischri (vgl. Lev 16). Die Hauptperson dabei war der Hohepriester, der sich zuvor sieben Tag lang in einem abgesonderten Raum aufhalten mußte, um die kultische Reinheit nicht zu verlieren und um sich innerlich vorzubereiten (mJoma I 3–6). An diesem Feiertag war die Kleidung des Hohenpriesters weiß. Zwei Ziegenböcke, einen Widder und einen Stier brachte man zum Tempel. Über die beiden Böcke wurde das Los geworfen. Einer sollte Gott gehören, einer dem Dämon Azazel. Zunächst schlachtete der Hohepriester den Stier als Sündopfer, sprach ein Bittgebet, ging in das Heiligtum, vollzog das Weihrauchopfer, betrat das Allerheiligste und besprengte dessen Boden mit dem Blut des Stieres. Danach wurde der Ziegenbock, der durch das Los schon Gott gehörte, geschlachtet und das Blut des Ziegenbockes mit dem Blut des Stieres vermischt und damit der Brandopferaltar – nach mJoma V 5f ist es der Räucheraltar – bestrichen. Nach diesem Reinigungsritus konnte Gott, der Heilige, mit seinem Volk wieder in Gemeinschaft treten. Damit verbunden wurde nun der archaische Ritus des Sündenbockes. Den für Azazel durch das Los bestimmten Ziegenbock brachte man vor den Brandopferaltar, wo ihm der Hohepriester die Hände auflegte und die Sünden bekannte. Bei diesem Bekenntnis sprach der Hohepriester den Gottesnamen JHWH aus.134 Der Bock wurde darauf in die Wüste gebracht und seinem Schicksal überlassen. In späterer Zeit wurde der Bock auch von einem Felsen gestürzt, um ihm ein elendes Dahinsiechen in der Wüste zu ersparen.135 Das Leben der jüdischen Bevölkerung war in umfassender Weise durch rituelle Vorschriften geprägt. Sie standen alle in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit dem Heiligtum, das schlechthin der Ort der kultischen Reinheit und Heiligkeit war. Vom Tempel strahlte die Reinheit und Heiligkeit auf das ganze übrige Land aus. Dem Tempel durfte man sich nur in kultischer Reinheit und Heiligkeit nähern. Num 19,20 betont daher ausdrücklich, daß einer, der sich nach Verunreinigung nicht der rituellen Reinheitsvorschriften vor Betreten des Heiligtums unterzieht, aus der Gemeinschaft auszustoßen ist, weil er das Heiligtum des Herrn verunreinigt hat.

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Für das Wiedererlangen der rituellen Reinheit wurde ein besonderes Reinigungswasser verwendet. Num 10,1–10a gibt die genaue Anweisung über die Zubereitung dieses Reinigungswassers: Es muß eine fehlerlose rote Kuh, die noch kein Joch getragen hat, geschlachtet und vollständig am Brandopferaltar des Tempels verbrannt werden. In das Feuer muß Zedernholz, Ysop und Karmesin geworfen werden. Danach wird die Asche aufgelesen und verwahrt. Wenn etwas von dieser Asche frischem Wasser zugesetzt wird, erhält man das gewünschte Reinigungswasser, das vor allem die rituelle Reinheit nach der Berührung mit einem Toten herstellt (Num 19,11–22). Zur Zeit Jesu war dieser Ritus dem Hohenpriester vorbehalten.136 Die Asche für die Herstellung des Reinigungswassers wurde in alle größeren Orte des Landes geschickt. Vorschriften über die rituelle Reinheit gab es in allen antiken Religionen des alten Orients. Unter ritueller Reinheit verstand man nicht Reinheit im körperlichen und hygienischen Sinn, noch das, was man unter moralischer Korrektheit und Integrität versteht. Sünden mußte der Israelit bereuen, damit sie ihm Gott vergibt. Es war eine uralte Vorstellung bei den semitischen Völkern, daß bestimmte Handlungen, auch Gegenstände, Tiere oder Menschen mit gefährlichen Kräften geladen, von Dämonen umgeben sein konnten, so z. B. eine Menstruierende, eine Frau nach der Geburt, Verstorbene, der Geschlechtsverkehr u. a. Wie das Heilige ansteckend ist (Ex 29,37; 30,29), so auch das Unreine (Lev 15,4–12.20–28). Wer kultisch unrein geworden ist, muß sich daher durch bestimmte Riten heiligen (Ex 19,10.22), damit er sich dem heiligen Gott nähern kann.137 Jeder Jude, jede Jüdin und jeder Priester Israels durfte daher den Tempel nur im Zustand der rituellen Reinheit betreten (Joh 11,55; Apg 21,24; JosBell I 229), ja selbst wenn sich jemand im Zustand ritueller Reinheit wähnte, war er gehalten, vor Betreten des Heiligtums eines der rituellen Bäder der Tempelanlage zu benutzen. Wesentlich gehörten auch die Speisevorschriften zur Erhaltung der kultischen Reinheit. Streng verboten war der Blutgenuß (Gen 9,4; Lev 19,26). Das Blut galt als Sitz des Lebens (Dtn 12,23), und man befürchtete bei seinem Genuß eine eventuelle Vermischung mit einem anderen gefährlichen Lebensprinzip. Daraus ergibt sich, daß ein verendetes Tier nicht gegessen werden durfte, weil in ihm noch Blut ist (Lev 11,39f; 17,15; Dtn 14,21). Ein solches Tier darf nicht einmal berührt werden (Lev 11,39; 17,15) und es verunreinigt alle Speisen und Getränke, die damit in Kontakt kommen (Lev 11,34).138 Lev 11 (vgl. Dtn 14,2–21) bringt eine Liste der reinen und unreinen Tiere. Das Fleisch von Rind, Lamm, Zicklein, Damhirsch, Gazelle, Rehbock, Wildziege, Wisent, Wildschaf und Steinbock darf nach Schächtung des Tieres gegessen werden.139 Verboten ist das Fleisch von Kamel, Hase, Klippdachs und Wildschwein. Von den im Wasser lebenden Tieren sind alle, die Flossen und Schuppen haben, zum Genuß freigegeben. Von den geflügelten Tieren gelten z. B. das Huhn, aber auch die Heuschrecke als rein.

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Am Boden laufende und kriechende Kleintiere wie Maus, Maulwurf, Echsen und Schlangen gelten als unrein. Der Genuß des Fettes von Opfertieren wie Rind, Schaf und Ziege ist verboten (Lev 7,22f); es soll Gott gehören, also geopfert werden (Lev 3,3f.9). Das Fett eines verendeten Tieres durfte man benutzen, aber nicht essen (Lev 7,24). Das Fleisch der Gott dargebrachten Opfertiere, sofern sie nicht als Brandopfer dargebracht wurden, gehörte den Priestern und durfte von anderen nicht gegessen werden (Lev 22,10). Speisen konnten auch durch eine im Haus liegende Leiche verunreinigt werden (Num 19,14). Alle aus fremden Ländern stammenden Getränke und Speisen galten bisweilen als unrein (vgl. Dan 1,8). Dazu kommt die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Fleisch und Milch/ Milchprodukten, die nie zusammengebracht werden durften, weder beim Kochen noch bei der Mahlzeit (mChullin VIII 4; bChullin 113b–114a). Dieses Gesetz hat seine Grundlage in Ex 23,19 (34,26; Dtn 14,21; vgl. Dtn 22,6–7; Lev 22,28): »Du sollst das Zicklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen.« Es handelt sich dabei nicht, wie oft angenommen, um eine Polemik gegen kanaanäische Kultbräuche, sondern gerade um ein kanaanäisches Erbe, das Israel erhöht hat. Das säugende Muttertier, ursprünglich eine Ikone der Göttin, wird Zeichen des göttlichen Segens und ist daher tabu.140 Verboten war auch das Essen der Früchte von Obstbäumen in den ersten drei Jahren; im vierten Jahr wurden die Früchte Gott geweiht (Lev 19,23–25), bis danach schließlich der Obstbaum für die allgemeine Nutzung freigegeben war. Wie sehr z. B. die Speisevorschriften im 2. Jh. v. Chr. schon im Volk verwurzelt waren, zeigen 2 Makk 6,18–31 und 7,1–42: man nahm lieber das Martyrium auf sich, als Schweinefleisch zu essen. Die verschiedenen Gesetze, um die kultische Reinheit und Heiligkeit zu wahren bzw. sie nach Verlust wiederzuerlangen, sind dem heutigen Menschen fremd. Deren Ursprünge in den archaischen semitischen Religionen des Alten Orients war sich das Judentum der Zeit Jesu kaum mehr bewußt. Daher wurden diese Gesetze auf eine andere und neue Art verstanden und interpretiert, nämlich als Voraussetzung und äußeres Zeichen der ethischen Grundhaltung des gläubigen Israeliten.141 Das levitische Kultgesetz könnte nun mit seinen genauen Vorschriften für den heutigen Menschen den Eindruck erwecken, daß diese äußeren Zeremonien zur Erlangung der kultischen Reinheit genügen und sozusagen eine gewisse Automatik eintritt: Wenn ich dies und jenes tue, dann habe ich auch die rituelle Reinheit und Heiligkeit erlangt. Auch aus der Kritik Jesu sehen wir, daß es diese Haltung gegeben hat und er sie anprangert. Ihm wie den großen Lehrern Israels ist es immer darum gegangen, das Ritualgesetz nicht unzuverlässigerweise mit den ethischen Prinzipien zu vermengen; denn es ist selbstverständlich, daß

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Volksgenossen, die den Zehn Geboten und den Liebesgeboten nicht entsprachen, vom Tempel ausgeschlossen waren. Dieser Bereich war aber insofern sensibel, als es nicht immer kontrollierbar war, ob jemand die Ehe bricht oder lügt und betrügt etc. In dem Fall jedoch, wo unmoralische Handlungen öffentlich wurden, gab es den Ausschluß vom Tempel wie z. B. bei Zöllnern, deren Beruf als Handlanger der römischen oder herodeischen Verwaltung bedingte, andere zu betrügen. Nach jüdischer Auffassung kann Gott allein Sünden vergeben, wenn der Mensch bereut. Am Beispiel der Berufung des Zöllners Matthäus (Mk 2,13–17) läßt sich sehen, daß Matthäus sein Leben total ändert und Jesus folgt. Diese Grundvoraussetzung genügt für Jesus, um mit ihm und anderen zu essen, weil es Jesus als selbstverständlich voraussetzte, daß Matthäus auch die gesetzlichen Vorschriften erfüllen würde. Die Pharisäer stört dabei, daß Jesus dies voraussetzt und Matthäus noch nicht die Wiedergutmachung geleistet hatte. Nach Lev 5,20–26 mußte den Geschädigten alles mit 20 % Zinsen erstattet werden. Doch erst wenn er einen fehlerlosen Widder dem Priester als Schuldopfer gebracht hatte, gilt er nicht mehr als öffentlicher Sünder und ist bei Beachtung der kultischen Vorschriften zum Tempel zugelassen. Es handelt sich also um zwei Ebenen: den Gewissensbereich, in dem es nur um den konkreten Menschen geht, der vor Gott nach Reue die Vergebung der Sünden erlangt, und den öffentlichen Bereich, in dem es vorgesehen ist, gewisse Spielregeln des levitischen Gesetzes einzuhalten, um vom Makel des öffentlichen Sünders befreit zu werden. Hätte z. B. Matthäus dem levitischen Gesetz genüge getan, aber sonst auf andere Weise sein betrügerisches Leben heimlich weitergeführt, so wäre er zwar kein öffentlicher Sünder mehr gewesen, aber einer, dem Gott seine Sünden nicht vergeben hätte.142 Der Tempel war auch ein Hort religiöser wie profaner Wissenschaft. Die hebräische Sprache, die zur Zeit Jesu schon Jahrhunderte nicht mehr Umgangssprache des Volkes war, wurde im Tempel mündlich wie schriftlich gepflegt. Sie war die Sprache des Kultes, des Hohen Rates bei seinen Sitzungen und Verhandlungen und die Sprache der Hohen Schulen des Tempels.143 Eine der wichtigsten Aufgaben der Organe des Tempels war die Beobachtung des Mondes. Dies war für den Kalender unumgänglich. Aus dem Alten Testament ist kein einheitliches Kalendersystem erkennbar. Die Annahme eines geschalteten Mondkalenders ist aber schon für das alte Juda am wahrscheinlichsten. Die Ungenauigkeit des Mondjahres gegenüber dem Sonnenjahr war bereits seit der nachexilischen Zeit bekannt.144 Das alttestamentliche Jahr umfaßte zwölf Mondmonate (1 Kön 4,7; 1 Chr 27,1–15). Ein Monat hatte wie im babylonischen Kalender einmal 29, einmal 30 Tage. Bis in die rabbinische Zeit erfolgte die Schaltung

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nach Erfahrung und Beobachtung, bis man schließlich den babylonischen Zyklus von 19 Jahren mit genau festgelegten Interkalationen übernahm. Der Beginn des Jahres lag seit dem 10. Jh. v. Chr. im Herbst, am 1. Tischri, was sowohl der Bauernkalender von Gezer145 als auch der israelitische Festkalender bezeugen (Ex 23,14–19; 34,18–26; Lev 23,1–14; Dtn 16,1–7). Seit König Joakim (608–598 v. Chr.) dürfte durch babylonischen Einfluß der Jahresbeginn in den Frühling, auf den 1. Nisan, verlegt worden sein.146 Diese Verlegung hatte aber kaum einen Einfluß. In der Diaspora des Ostens führte der Frühlingstermin zu einem neuen Fest, dem Purim-Fest.147 Das übrige Judentum hatte zwar im Laufe der Zeit dieses Fest auch übernommen, jedoch nicht mehr als Neujahrsfest. Die Mischna (mRosch Ha–Schana I 1) bestätigt lediglich den wieder seit Jahrhunderten in Geltung stehenden Jahresbeginn am 1. Tischri; das ist nun aber der erste Tag des 7. Monats, da die babylonische Numerierung beibehalten wurde. Reihenfolge und Name der Monate

A 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12

B

07 08 09 10 11 12 01 02 03 04 05 06

C

Tischri Marheschwan Kislew Tebet Schebat Adar Nisan Ijjar Siwan Tammuz Ab Elul

D

September/Oktober Oktober/November November/Dezember Dezember/Januar Januar/Februar Februar/März März/April April/Mai Mai/Juni Juni/Juli Juli/August August/September

A = Ursprüngliche israelitische Zählung B = Babylonisch/jüdische Zählung C = Babylonisch/jüdische Monatsbezeichnung D = Monate des Julianisch-Gregorianischen Kalenders

Dieses Kalendersystem war zur Zeit Jesu selbstverständlich geworden. Was konnte es aber leisten? Die Datierung eines bestimmten Ereignisses erfolgte ganz allgemein nach einem Herrscher, wie Luk 1,5, oder präziser »im 15. Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius« u. s. w., das ist das Jahr 29/30 n. Chr. (Luk 3,1–2), ferner nach einem bestimmten geschichtlichen Ereignis, wie z. B. der Steuerschätzung unter Quirinius (Luk 2,1–2), die uns später noch beschäftigen wird. Solche Datierungen sind natürlich durchaus wertvoll, obgleich sie nach unserem Verständnis zu ungenau sind. Jedoch nicht nur die Datierung, in welchem Jahr damals eine bestimmte Person geboren wurde, bereitet oft Schwierigkeiten. Auch die ganz einfache Frage,

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welcher Wochentag z. B. der 1. Nisan des Jahres 31 n. Chr. war, ist nicht eindeutig zu beantworten. Natürlich kann man heute exakt zurückrechnen. Nur wurde der jüdische Kalender damals nicht berechnet, sondern basierte auf Beobachtung des Mondes und der konkreten Jahreszeiten. Nach den astronomischen Berechnungen fällt der 1. Nisan auf Mittwoch, den 14. März. Da man aber nicht weiß, ob es im Jahr 31 n. Chr. Interkalationen gegeben hat und ob das Sichtbarwerden der Mondsichel148 nicht durch Bewölkung verhindert war, kann man den 1. Nisan des Jahres 31 n. Chr. durchaus auf Freitag, den 16. März, verlegen.149 Dieses Beispiel mag verdeutlichen, wie problematisch es ist, unser heutiges Bedürfnis nach genauen Daten auf die Zeit vor 2000 Jahren anzuwenden. Die Gelehrten des Tempels haben also nach traditionellen Verfahren die Mondmonate beginnen lassen und die notwendigen Schaltungen nach der Erfahrung verfügt. Schaltungen waren schon deshalb notwendig, damit die Mondmonate und die Feste zur rechten Zeit beginnen konnten. Die Verfügung des Tempels galt – oft natürlich erst im nachhinein – für alle Juden des Landes wie der Diaspora und wurde per Boten übermittelt.150 Eine andere wichtige Aufgabe der Gelehrten war es, die Heiligen Schriften nach qualifizierten Rollen zu kopieren und auf Schreibfehler u. ä. zu überprüfen.151 Die wichtigste aller Schriftrollen war jene, aus der der Hohepriester bei offiziellen Anlässen und am Versöhnungstag vorlas. Diese Rolle war vermutlich auch unter den Beutestücken, die Titus nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahre 70 n. Chr. nach Rom mitgenommen hat (JosBell VII 150). Die rabbinische Literatur152 berichtet von 120 Kopisten, die die Schriftrollen nach den drei wertvollsten Handschriften abschrieben und schon abgeschriebene Exemplare korrigierten. Es waren Schriftrollen der Thora, der Propheten und wohl auch der übrigen Bücher der Hebräischen Bibel, denn es ist höchst unwahrscheinlich, daß es im Tempel nur Rollen der Thora gab, auch wenn die Religionspartei der Aristokraten, die Sadduzäer, nur die Thora als Heilige Schrift anerkannte. Ihre Meinung allein war jedoch für den Tempel nicht ausschlaggebend. So galt das Gebet- und Singbuch des Tempels, der Psalter, ebenso als Heilige Schrift und wurde von den Leviten für ihre offiziellen Gesänge beim Gottesdienst verwendet. Im großen und ganzen wurden praktisch alle Bücher, die bis heute zur Hebräischen Bibel gehören, schon damals von der Mehrzahl der Juden als Heilige Schrift verehrt (Sir 48,22–49,12 [um 190 v. Chr.]; Sir 1,1 [um 117 v. Chr.]; JosCAp I 38–42), im Tempel aufbewahrt und verwendet.153 Abschriften wurden nicht nur für den Tempel gebraucht, sondern auch für die zahlreichen Synagogen des Landes wie der Diaspora. Diese am Tempel bezeugte Kopistentätigkeit ist in der Menschheitsgeschichte der Beginn der wissenschaftlichen Textkritik, also jener Wissenschaft, die sich systematisch, exakt und akribisch darum bemüht, den originalen Text herzustellen.

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Aber auch die gleichsam profane Literatur wurde im Tempel gepflegt, wie literarische Darstellungen der jüdischen Kriege und genealogische Tabellen der Priesterfamilien (JosAnt V 61 III 88; JosCAp I 30–38). Mitglieder der Hohen Schulen des Rabban Hillel und des Rabbi Schammai arbeiteten z. B. in der Kammer des Tempelhauptmanns Eleasar ben Ḥanania an einer Geschichte des hasmonäischen Königshauses (bSchabbat 13b). Die beiden Hohen Schulen pharisäischer Prägung der Zeit Jesu, die moderate des Rabban Hillel und die strenge des Rabbi Schammai, hatten im Tempel ihr ideelles Zentrum. Die moderate Schule des Rabban Hillel hat sich nach 70 n. Chr. durchgesetzt und die späteren Rabbinen beeinflußt. Als Sohn oder Enkel des Rabban Hillel gilt Rabban Gamaliel I., der Lehrer des Apostels Paulus (Apg 22,3), dessen Weisheit die frühen Christen gerühmt haben (Apg 5,34–39). Auf Rabban Hillel führt die Tradition die sieben hermeneutischen Grundregeln der Schriftauslegung zurück:154 1.

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5. 6.

7.

Der Schluß vom weniger Bedeutenden zum Bedeutenden und umgekehrt. Ein Beispiel gibt bKetubbot 111b: »Dereinst werden die Frommen mit ihren Gewändern auferstehen. Dies ist [durch einen Schluß] vom Leichteren auf das Schwere, von einem Weizenkorn zu folgern; wenn ein Weizenkorn, das nackt begraben wird, mit vielen Gewändern hervorkommt, um wieviel mehr die Frommen, die in ihren Gewändern begraben werden.«155 Der Analogieschluß, der auf Personen bezogen sehr eng, sachbezogen weit angewendet werden darf. Bei einer Anzahl von Bibelstellen, die inhaltlich zueinandergehören, gibt die Hauptstelle den Ton an. Aus zwei Bibelstellen desselben Charakters kann eine allgemeine Norm abgeleitet werden. Eine christliche Anwendung dieses Prinzips ist: In Dtn 25,4 heißt es:»Du sollst einem dreschenden Ochsen das Maul nicht zubinden.« Die Stelle findet sich z. B. in 1 Kor 9,9 (vgl. 1 Tim 5,18). Daraus ist daher als Norm abzuleiten, daß die Ausbeutung eines Tieres oder eines Menschen aus Profitgier unerlaubt ist. Der Schluß vom Allgemeinen auf das Besondere und umgekehrt. Das, was sich aus einer Schlußfolgerung ergibt. Diese Regel ist dem Analogieschluß ähnlich, wird aber öfter und leichter eingesetzt. Das, was in der Bibel zuerst genannt wird, muß nicht immer vorrangig sein. So nennt z. B.: Ex 3,6 Abraham zuerst, Lev 26,42 zuletzt. Der Schluß aus dem Kontext einer biblischen Aussage. Dieser konnte damals anders aufgefaßt werden als heute. So verstanden die Rabbinen den Satz Ex 20,15 »Du sollst nicht stehlen« in bezug auf den Menschenraub, weil der Kontext personenbezogen ist, während sie den Satz Lev 19,11 »Ihr sollt nicht stehlen« auf Grund des Kontextes auf den Gelddiebstahl hin auslegten.156

Das Heiligtum Jerusalems

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Der Tempel von Jerusalem war das einzige Heiligtum der Juden, in dem der Opferkult nach den Normen der Thora vollzogen wurde, da seit der Kultreform des judäischen Königs Joschija um 620 v. Chr. alle JHWH geweihten Landheiligtümer geschlossen wurden (2 Kön 22,1–23,27). Es ist daher naheliegend, daß ab diesem Zeitpunkt in den Städten und Dörfern des Landes Zentren entstanden, die den Menschen als Gebetshäuser, Versammlungsräume etc. dienten. Das, was später als Synagoge bezeichnet wird, dürfte darin seine Wurzeln haben. Als der Tempel dann seit 587/586 v. Chr. für Jahrzehnte nicht mehr existierte, hatten die Gläubigen überhaupt keine andere Wahl, als in solchen Zentren zusammenzukommen. Solche Zentren waren aber nicht ein Ersatz für den Tempel, sondern Institutionen, die einerseits durch die Schließung der Landtempel, andererseits durch die zeitweilige Nichtexistenz des Jerusalemer Tempels notwendig geworden waren. Diese Institution stand daher nie im Gegensatz zum Tempel, sondern in einer je unterschiedlichen Beziehung zu ihm. Aus Ez 8,1; 14,1 und 20,1 ist zu ersehen, daß während des Babylonischen Exils (587/586–538 v. Chr.) die Ältesten im Haus des Propheten zusammenkamen, um das Gotteswort zu empfangen. Dan 6,10 zeigt, daß in Richtung Jerusalem gebetet wurde (mBerakoth IV 5). Den ältesten Hinweis für das Werden der synagogalen Liturgie gibt Neh 8–9, wo die Thora vor dem versammelten Volk durch Esra verlesen wird.157 Seit hellenistischer Zeit bürgerte sich als Bezeichnung für die konkrete jüdische Gemeinde und den Gebets- und Versammlungsraum das griechische Nomen »Synagoge« (Versammlung/Versammlungsort) ein.158 Die älteste inschriftliche Bezeugung einer Synagoge außerhalb des Landes stammt aus Schedia in Ägypten aus der Zeit Ptolemäus III. (247–221 v. Chr.). Dieser Inschrift zur Folge hat der König der Synagoge das Asylrecht gegeben.159 Der älteste inschriftliche Beleg des Landes, aus Jerusalem, die Theodotus-Inschrift, stammt aus der 1. Hälfte des 1. Jhs. n. Chr.160 Die älteste archäologisch bezeugte Synagoge des Landes ist die von Masada, die Herodes der Große (40/37–4 v. Chr.) in dieser seiner Palastburg erbauen ließ.161 Nach den Angaben des Talmud (jMegilla 3,1; bKetubbot 105a) soll es um 70 n. Chr. in Jerusalem knapp 500 Synagogen gegeben haben. Auch das Neue Testament spricht von vielen Synagogen im Land (Mk 1,39; Luk 4,44) und nennt speziell die Synagogen von Nazareth (Mk 6,2), Kapharnaum (Mk 1,21) und Jerusalem (Apg 6,9; 24,12). Josephus (JosVita 277; JosAnt XIX 300; JosBell II 285) bezeugt Synagogen für Tiberias, Dora und Cäsarea. Es ist daher damit zu rechnen, daß zur Zeit Jesu jedes Dorf eine Synagoge hatte, größere Städte mehrere. Der synagogale Gottesdienst begann mit dem »Schema« (Dtn 6,4) und dem »Achtzehngebet«.162 Das Zentrum des Gottesdienstes war die Lesung aus der Thora, der eine Lesung aus den Propheten folgte (Luk 4, 7; Apg 13,15). Die Auslegung der Texte konnte von einem Mitglied der Gemeinde, aber auch von einem Fremden (vgl. Matth 4,23; Luk 4,44; Apg 13,5.15ff) übernommen werden. Zum

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Abschluß wurde der Priestersegen erteilt (Num 6,24–26). Synagogen wurden meist von einem Synagogenvorstand und einem Synagogendiener betreut. Der erste leitete den Gottesdienst und wies Vorleser und Prediger an (Matth 5,35f; Luk 13,14; Apg 13,15), der zweite überreichte beim Gottesdienst die Schriftrollen (Luk 4,20) und kündigte mit der Trompete den Beginn des Sabbats an. Vermutlich war auch das Vollziehen von Strafen seine Aufgabe (Matth 10,17). Eine Synagoge diente nicht nur dem Gottesdienst zu Beginn des Sabbats am Abend des Freitags und dem täglichen Gebet analog zum morgendlichen und abendlichen Opfer, das im Tempel von Jerusalem vollzogen wurde, sondern war auch eine Stätte der allgemeinen Bildung. Schon Dtn 11,19 verpflichtet den Vater zur religiösen Unterweisung seiner Söhne.163 Die Unterweisung hatte in hebräischer Sprache zu erfolgen.164 Alles jedoch, was über die grundlegende Glaubensunterweisung hinausging, leisteten die Elementarschulen der Synagogen, die Beth Sefer (Haus des Buches) genannt wurden. Zuerst wurde das Alphabet gelernt und mit dem Buch Levitikus begonnen. Ziel war es, daß durch das ständige Üben und Lesen die gesamte Hebräische Bibel auswendig beherrscht wurde.165 Im Vordergrund stand daher der mündliche Unterricht. In einer fortgeschrittenen Phase ist auch das Schreiben hinzugekommen. In Juda und Israel gab es bereits seit der Eisenzeit II (ab ca. 1000 v. Chr.) eine reiche Schriftkultur. Viele Inschriften, die gefunden wurden, sind Beispiele von Schülerübungen.166 Es wäre angesichts einer schon seit Jahrhunderten so reichlich entwickelten Schriftkultur höchst unwahrscheinlich, daß das Erlernen des Schreibens kein Bestandteil der Grundausbildung gewesen sein sollte. Selbstverständlich ist auch anzunehmen, daß in den Schulen Grundkenntnisse der griechischen und der lateinischen Sprache sowie des Rechnens vermittelt wurden. Griechisch war die Sprache der damaligen Welt, der Gebildeten im Land und von 5 Millionen Juden der Diaspora. Jeder Bauer, jeder Handwerker kam auf den Märkten nicht nur mit aramäisch sprechenden Landsleuten in Berührung, sondern auch mit solchen, die griechisch sprachen. Wie sollte überhaupt eine Kommunikation mit den Besuchern des Landes aus der Diaspora möglich sein? Es ist daher eine völlig weltfremde, ja unsinnige Behauptung zu sagen, die Menschen der Zeit Jesu und des Neuen Testaments hätten nicht Lesen und Schreiben können und von der griechischen Sprache keine Ahnung gehabt. Das Gegenteil ist der Fall. Das Heiligtum mit der Burg Antonia auf dem Südosthügel dominierte ganz Jerusalem (vgl. Abb. 18), deren umwallter Teil etwa nur das Sechsfache des Tempelgeländes umfaßte. Die sogenannte erste Stadtmauer, deren Verlauf gesichert ist,167 umgab Unter- und Oberstadt. Herodes der Große schloß die westlich des Tempelareals und nördlich der ersten Mauer gelegenen Märkte mit einer zweiten

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Mauer ein, deren Verlauf jedoch bis heute nicht geklärt werden konnte. Josephus (JosBell V 146) berichtet nur, daß die zweite Mauer beim Gennat-Tor (Gartentor) der ersten Mauer ihren Anfang nahm, den nördlichen Bezirk einschloß und bei der Antonia endete. Die genaue Lokalisierung des Gartentores in der ersten Mauer ist jedoch unbekannt.168

Abb. 18 Jerusalem zur Zeit Jesu In der nordwestlichen Ecke der ersten Mauer lag die herodianische Zitadelle mit den Türmen Mariamme, Phasaelis und Hippikus.169 Die noch heute erhaltenen Fundamente des Davidsturms beim Jaffator sind vermutlich mit dem Phasaelisturm zu identifizieren.170 Südlich der Zitadelle, angelehnt an die westliche Stadtmauer, ließ Herodes der Große im Jahre 23 v. Chr. eine gewaltige Palastanlage,

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bestehend aus Gärten und Pavillons, errichten, die von einer 15 m hohen, mit Türmen durchsetzten Mauer gesichert war. Die Substruktionen dieser Anlage sind auch archäologisch nachgewiesen.171 Die genaue Lokalisierung des Hasmonäerpalastes ist möglich, da der Xystos, ein Sportplatz im Käsemachertal, unmittelbar nördlich an den Palast anschloß. Das in Areal F ausgegrabene Haus, das in einem Raum einen Mosaikfußboden mit geometrischen Mustern in Rot und Schwarz aufweist, dürfte eine herodianische Erweiterung des Palastes sein. Der Hasmonäerpalast war vermutlich mit dem Herodespalast durch einen Korridor verbunden.172 Es ist einleuchtend, daß der Hasmonäerpalast die offizielle Residenz war, während der 23 v. Chr. errichtete Herodespalast das private Wohnhaus darstellte. Nach den herodeischen Fürsten dürften dies auch die römischen Präfekten so gehalten haben, wenn sie zu den Festen in Jerusalem weilten. Das heißt aber auch, daß das Prätorium der römischen Präfekten im Hasmonäerpalast gewesen ist.173 Südlich und südwestlich des Hasmonäerpalastes, die Oberstadt, war das Gebiet der wohlhabenden Jerusalemer Familien. Ihre Häuser waren luxuriös, teils mit Fresken ausgestattet. Funde zeigen, daß man aus Italien die besten Weine importierte.174 Die Unterstadt dagegen war mehr das Viertel des Kleinbürgertums, der Handwerker, das Einflußgebiet der Pharisäer und Essener. Das zum Judentum konvertierte mesopotamische Königshaus von Adiabene hatte in diesem Viertel seine Paläste, was eine indirekte Kritik an Jerusalems Aristokratie wahrscheinlich macht.175 Südlich dieser Paläste lag die Synagoge des Theodotus mit ihren rituellen Bädern, offenbar eines der Zentren der »Hellenisten« (Apg 6,1–7). Von Interesse ist ferner, wo das Haus des Hohenpriesters Joseph ben Kaiaphas gelegen hat, in das Jesus gebracht wurde (Mk 14,53f). Nach einer alten Tradition wird dieses nordöstlich der heutigen Dormitio Abtei lokalisiert.176 Eine andere, erst aus dem 5. Jh. n. Chr. stammende Überlieferung, verlegt das Haus in die Unterstadt, in den Bereich der heutigen Kirche Sankt Peter in Gallicantu.177 In der südwestlichen Ecke der ersten Stadtmauer wird das Essenertor lokalisiert,178 das von Josephus (JosBell V 145) so benannt wurde, weil man durch dieses in das Essenerviertel der Stadt gelangte. Dieses Viertel wurde vermutlich während der Regierungszeit Herodes des Großen, der den Essenern sehr gewogen war (JosAnt XV 372–379), besiedelt. Das wahrscheinlich essenische Qumran war zu dieser Zeit praktisch unbesiedelt und wurde erst später wieder belebt. Die Annahme ist nicht ganz von der Hand zu weisen, daß später nur der harte Kern der Essener wieder in das Wüstenareal zurückgekehrt ist, der Großteil der Gemeinde aber in Jerusalem blieb.179 Außerhalb der Stadtmauern sind besonders zwei Lokalitäten wichtig: Golgotha und Gethsemani. Golgotha180 war die Hinrichtungsstätte Jerusalems und befand sich unmittelbar südlich eines Gartens (Joh 19,41) mit Gräbern. An diesem

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Ort ist die Anastasis, die Auferstehungskirche, die auch Grabeskirche genannt wird, von Kaiser Konstantin (306–337 n. Chr.) erbaut worden.181 Gethsemani (Ölkelter) war nach Matth 26,36 der Name eines Landgutes, in dem sich Jesus vor seiner Gefangennahme mit seinen Getreuen aufhielt. Die Lage des Gartens ist nicht genau lokalisierbar. Die synoptische Tradition (Mk 14,26; Matth 26,30) lokalisiert ihn am Ölberg, während Joh 8,1f von einem Garten auf der anderen Seite des Kidronbaches spricht; das wäre also am Fuß des Ölbergs. Vermutlich ist aber die synoptische Tradition terminologisch etwas ungenau. Die christliche Tradition hat die johanneische Lokalisierung übernommen. Sie dürfte die richtige Entscheidung getroffen haben, da archäologische Funde (Ölkelter) unter dem Boden der heutigen »Verratsgrotte« dafür sprechen.182

Abb. 19 Fund aus dem Asklepios–Heiligtum, Jerusalem, St. Anna Ca. 100 m nördlich des Tempelareals außerhalb der damaligen Stadtmauer lag ein Bethesda genannter Ort.183 Joh 5,2 nennt den Ort, der fünf Säulenhallen hat, beim Schafteich. Eine solche Anlage aus der Zeit Herodes des Großen ist archäologisch gesichert.184 Östlich des Doppelteiches wurden auch Steinbadewannen gefunden. Schon in hellenistischer Zeit wurde das vorhandene Zisternensystem als Kult- und Heilstätte benutzt. Joh 5 lokalisiert an dieser Stelle die Heilung des schon seit 38 Jahren Gelähmten durch Jesus. Da der Ort eine lange Heiltradition aufwies, errichteten die Römer im 2. Jh. n. Chr., als Jerusalem nach dem Zweiten Aufstand gegen Rom keine jüdische Stadt mehr war, ein Asklepios-Serapis-Heiligtum (Abb. 19) mit einem darüber liegenden Dampfbad.

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2. Die jüdischen Religionsparteien Die bisherigen Ausführungen konnten zeigen, daß der Tempel Mittelpunkt und Zeichen jüdischer Religiosität und jüdischen Lebens war. Die Volksmassen des Mutterlandes wie der Diaspora sahen in ihm das Mysterion, das Sakrament der Gottesgegenwart. Dennoch gab es Strömungen, die dem Tempel gegenüber kritisch eingestellt waren, und einzelne Gruppen, die den Tempel überhaupt ablehnten. So war der Tempel in gewisser Weise auch der Stein des Anstoßes. An ihm schieden sich die Geister. Die Religionsparteien der Sadduzäer, Pharisäer, Essener und Zeloten hatten dem Tempel gegenüber und der mit ihm verbundenen Religiosität eine differenzierte Haltung. Die Sadduzäer können als jene Religionspartei gelten, die sich aus dem Priesteradel des Landes rekrutierte und dem Tempel gegenüber absolut positiv eingestellt war. Die Bezeichnung »Sadduzäer« geht auf den hebräischen Personennamen »Zadok« zurück. Dieser war Priester zur Zeit Davids (2 Sam 8,17) und Salomos (1 Kön 1,32–40) und wurde zum Ahnherrn des späteren Priestergeschlechts der Zadokiden (Ez 40,46; 44,15f; 48,11; 1 Chr 5,29–34). Sie waren bis zum Babylonischen Exil (587/586–538 v. Chr.) die führende Priesterschaft Jerusalems, der es bereits im Kontext der joschijanischen Kultreform gelungen war, die Leviten zu entmachten. In nachexilischer Zeit konnten sich die Zadokiden bis in die Mitte des 2. Jhs. v. Chr. halten, bis sie von den Hasmonäern verdrängt wurden.185 Diese Zadokiden sind mit den späteren Sadduzäern nicht gleichzusetzen. Der Ursprung der letzteren ist bisher nicht befriedigend zu klären. Es gab während der Herrschaft der Hasmonäer genug zadokidische Familien, die mit den Hasmonäern kooperierten. Die Hasmonäer hatten ihrerseits Probleme mit konservativ-chassidischen Kreisen und fühlten sich deshalb mehr zu den Zadokiden hingezogen. In der Verbindung von Zadokiden und Hasmonäern scheint jedenfalls eine Wurzel der sadduzäischen Religionspartei zu liegen.186 Ein außerkanonischer Talmudtraktat führt die Sadduzäer sogar auf zwei pharisäische Personen des 2. Jhs. v. Chr. zurück, nämlich auf einen gewissen Zadok und einen gewissen Boëthos. Diese hätten sich von den Pharisäern losgesagt und zwei Sekten gegründet, die Sadduzäer und Boëthosäer, die eine Auferstehung der Toten ablehnten und auf einen Ausgleich im diesseitigen Leben bedacht gewesen sein sollen.187 Nach einer anderen Überlieferung ist Simon ben Boëthos aus Alexandria der Begründer der Boëthosäer (JosAnt XV 319–322; XVII 78; XVIII 109). Dieser Simon wurde unter Herodes dem Großen Hoherpriester und scheint sich mit seiner ganzen Familie dem universalen, römerfreundlichen Denken des Königs angeschlossen zu haben. Doch völlig haben sie die national-partikulare Heilshoffnung alter zadokidischer Prägung nicht aufgegeben. Dieser eigenartige »Synkretismus« ließ Sadduzäer und Boëthosäer zwielichtig erscheinen. In der

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Zeit, als Juda römische Präfektur war, haben sie jedoch diese national-partikulare Haltung aufgegeben oder nur verdrängt. Es ist z. B. eher unwahrscheinlich, daß der Hohepriester Joseph ben Kaiaphas der sadduzäischen/boëthosäischen Partei angehörte. Ihr Einfluß scheint überhaupt in den zwanziger und dreißiger Jahren unserer Zeitrechnung relativ gering gewesen zu sein. Apg 4,1–22 (vgl. 5,17–42) zeigt aber für die nachjesuanische Zeit bereits den immer größer werdenden Einfluß der Sadduzäer innerhalb der Tempelbehörde.188 Der Einfluß ist in den sechziger Jahren noch gestiegen, als der Sadduzäer Eleasar, Sohn des Hohenpriesters Ananias, Tempelhauptmann war. Seine nationale wie partikularistische Gesinnung zeigte er z. B. darin, die Priester zu überreden, von Nichtjuden kein Opfer für den Tempel anzunehmen. Das aber bedeutete u. a. die Verweigerung des Opfers, das der römische Kaiser dem Tempel sandte (JosBell II 408–410), was einer Kriegserklärung gegen Rom gleich kam.189 Sadduzäische Gruppen gaben z. B. bei der Belagerung des Tempels durch Titus nicht auf und sind mit dessen Zerstörung als Religionspartei untergegangen, obwohl das priesterliche Element durchaus noch eine Zeitlang aktiv weiterwirkte. Über die religiösen Auffassungen der Sadduzäer, die also mit dem zeitgenössischen Priesteradel Jerusalems nicht einfach gleichgesetzt werden können, sich aber daraus rekrutierten, geben Josephus, die rabbinische Literatur und das Neue Testament ziemlich ähnliche Auskünfte. Ihre Gottesvorstellung sei »deistisch« geprägt. Gott kümmere sich weder um die Geschichte der Welt noch um den Einzelmenschen. Das All existiere aus sich selber. Gut und Böse, Glück und Unglück sind ausschließlich Folge des absolut freien, menschlichen Willens. Eine unvergängliche Menschenseele, somit ein wirkliches Fortleben nach dem Tod, eine Auferstehung der Toten und ein Gericht gäbe es nicht.190 Gute und böse Geister existierten nach ihrer Meinung nicht. Die mündliche Thora (Diskussion und Auslegung der schriftlich fixierten Thora) lehnten sie ab (JosAnt XIII 297). Das hatte zur Folge, daß die Sadduzäer gegenüber den Pharisäern als strengere Richter angesehen wurden.191 Hatten z. B. die Pharisäer bezüglich der Einhaltung des Sabbats eine relativ liberale Haltung, so die Sadduzäer eine überaus strenge: Wenn der siebente Festtag des Laubhüttenfestes auf einen Sabbat fiel, verboten die Sadduzäer den Pilgern mit den Weiden auf den Boden rings um den Altar zu schlagen, zumal die Heiligung des Sabbats dem frommen Brauch vorgehe. Die Pharisäer dagegen betrachteten diesen Brauch sogar als »Halacha (Religionsgesetz) des Mose vom Sinai« und gestatteten ihn auch am Sabbat (tSukka III 1). Die religiösen Positionen der Sadduzäer sind praktisch nur über ihre Gegner bekannt und demnach bisweilen bewußt und unbewußt verzerrt wiedergegeben. Es ist deutlich, daß ausschließlich die schriftlich fixierte Thora ihre Heilige

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Schrift war und sie diese ohne ausgefeilte hermeneutischen Prinzipien in der Praxis des Kultes und des Alltags verwendeten. Wenn in den Aussagen des Josephus ihre Gottesvorstellung als »deistisch« eingestuft wird, so trifft dies kaum die Wirklichkeit. Ihre Gottesvorstellung war keine andere als die, die sich in der Symbolik des herodianischen Tempels zeigt: Ein absoluter, fast theoretischer Monotheismus, der neben Gott weder gute noch böse Geister brauchte. Dieser Gottesglaube war aber derart mit dem konkreten Tempel verbunden, daß nach dessen Zerstörung die Lebensgrundlage dieser Partei entzogen war und sie daher keine Überlebenschancen mehr hatte. Auch die Frage des Weiterlebens nach dem Tod ist differenziert zu betrachten. Die Hebräische Bibel kennt den Auferstehungsgedanken nur in Ansätzen192 und entwickelt mühsam in einem Jahrhunderte dauernden Prozeß verschiedene Vorstellungen des Weiterlebens nach dem Tod.193 Die Thora selber weiß über Tote kaum mehr zu sagen, als daß sie zu den Vätern versammelt werden (Gen 15,15; 35,29; 49,29.33 u. a.). Die beiden Silberamulette, die in Jerusalem in einem Priestergrab vom Ende des 7./Anfang des 6. Jhs. v. Chr. gefunden wurden und u. a. den Aaronssegen Num 6,24–26 (vgl. Abb. 20) enthalten, zeigen, wie sehr man darauf hoffte, daß das Wort Gottes den Toten in der Finsternis des Grabes leuchte.194 Es wäre sicher ungerecht, den priesterlich sadduzäischen Kreisen der Zeit Jesu eine solche Vorstellung des Weiterlebens nach dem Tod abzusprechen. Ihre radikale Ablehnung der Prädestination menschlicher Handlungen zeigt sie im schroffen Gegensatz zu den Essenern und zugleich als »aufgeklärte« Menschen ihrer Zeit, die gerade priesterlichen Traditionen des Pentateuch, die dem freien Willen des Menschen Gott gegenüber kaum Raum geben (z. B. Ex 7,3.13.22; 8,15; 14,4.8.17), zumindest »gelassen« gegenüberstanden. Der Priesteradel Jerusalems dachte, auch wenn nicht völlig der Partei der Sadduzäer zuzurechnen, wohl ähnlich. Es ist übertrieben zu meinen, die Priesterschaft der Zeit Jesu hätte keinen Einfluß mehr gehabt und ihre Kompetenzen in Fragen der Religion an die Pharisäer verloren. Die Priester waren nach wie vor die eigentlichen Träger der religiösen Traditionen des Judentums und die religiöse Autorität des Volkes.195 Natürlich konservierten die Sadduzäer viele altjudäische und altisraelitische Vorstellungen und lehnten daher Neuerungen ab, die sich einerseits aus der Entfaltung und Weiterentwicklung der nachexilischen Theologie ergaben und andererseits besonders mit dem Hellenismus in das Judentum eingedrungen sind. »Eine national-liberale Partei, die sich allen Neuerungen verschloß, welche dem gläubigen Menschen in seiner persönlichen Not ein großes Bedürfnis wurden, deren Anhänger vornehmlich die obersten Schichten waren, konnte auf Dauer keinen Bestand haben. Ihr Ende nach der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. war daher die Konsequenz aus jenen Auffassungen, die die Sadduzäer ziemlich rigoros vertreten haben dürften.«196

Die jüdischen Religionsparteien – Sadduzäer

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Abb. 20 Silberamulette aus einem Priestergrab vom Ketef Hinnom in Jerusalem, Ende 7./Anfang 6. Jh. v. Chr., mit dem Aaronssegen (Num 6,24ff) Während also bei den Sadduzäern eine totale Identifizierung mit dem konkreten Tempel gegeben ist, läßt sich bei den Zeloten eine doch etwas andere Haltung feststellen. Die Zeloten lehnten zwar den Tempel nicht ab, traten jedoch für seine grundlegende Reformierung ein.197 Zumindest ein Teil der Zeloten war priesterlich ausgerichtet und von der Naherwartung des Reiches Gottes für Israel geprägt.198 Die Zeloten stellen aber jene Gruppe dar, die bis in die dreißiger Jahre hinein am wenigsten greifbar ist.199

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Die jüdische Religion

Das griechische Nomen »Zelot« bezeichnet den »Eiferer, Nacheiferer, Verehrer«. Der Eifer für Gott und seine Sache prägte viele große Gestalten der israelitischen und der judäischen Glaubensgeschichte, wie Mose, Pinchas (vgl. Num 25,6–14), Elija, Hosea, Amos und Esra bis hin zu den makkabäischen Freiheitskämpfern und denen sich ihnen anschließenden Chassidim. Dieser Eifer konnte natürlich quer durch alle Richtungen gehen und ebenso auch Menschen beseelen, die sich keiner bestimmten Gruppe verpflichtet wußten. In einem weiteren Sinn können auch solche Menschen Zeloten genannt werden.200 Als Zelot wurden aber solche bezeichnet, deren ganzer Lebensinhalt der Eifer für Gottes Gesetz war (JosBell IV 161) und diesen Eifer auch durch Einsatz radikaler Mittel unterstrichen. Das genaue Entstehen dieser Gruppe ist nicht geklärt. Geschichtlich beginnt die Bewegung als Gegenreaktion auf den von Quirinius im Auftrag des Kaisers durchgeführten Census, als sich der Pharisäer Zadok vom Pharisäismus verabschiedete und sich mit Judas aus Galiläa (vgl. Apg 5,37) oder der Gaulanitis verband. Josephus gibt wohl richtig an, daß es sich dabei nicht um eine Rebellion gegen diese römische Verfügung handelte, sondern um einen grundsätzlichen Freiheitskampf (JosBell II 118; JosAnt XVIII 4ff). Die Partei der Pharisäer verurteilte diesen Eifer keineswegs, vertrat ihn aber selber nicht aktiv, sondern blieb abwartend. Die Rede des großen Gamaliel vor dem Hohen Rat zugunsten der verhafteten Apostel zeigt genau diese abwartende Haltung (Apg 5,34–39). Die Pharisäer teilten aber mit der zelotischen Bewegung nicht die Naherwartung des Herrschaft Gottes. Der frühe Pharisäismus ging sogar soweit, den Zeloten das Recht zuzugestehen, einen Israeliten ohne Rechtsverfahren zu töten, wenn er mit einer Fremden beim Geschlechtsverkehr ertappt wurde (vgl. Num 25,5–11 und mSanhedrin IX 6). Später haben die Rabbinen einen solchen Eifer jedoch verurteilt.201 Obwohl es sich nicht verhehlen läßt, daß es im Neuen Testament Aussagen gibt, die zelotischer Denkweise der entschlossenen Tat und dem absoluten Vertrauen auf das göttliche Eingreifen nahestehen (z. B. Matth 11,12; Mk 8,34f), sind die grundsätzlichen Differenzen zwischen dem Zelotismus und der Jesus–Bewegung unüberbrückbar, wie gerade das Gebot der Feindesliebe zeigt (Matth 5,43–48). Josephus nennt die Zeloten vielfach Räuber und bekundet damit seine wohl erst später entstandene negative Einschätzung, um seine römischen Leser nicht zu provozieren, haben doch während des ersten jüdischen Aufstandes (66–70/72 n. Chr.) gerade die Zeloten den Römern einiges aufzulösen gegeben. Aus diesem Grund ist es auch fraglich, ob die »Vorgeschichte« der Zeloten, wie sie Josephus erzählt, der Wirklichkeit entspricht. Josephus schreibt, daß Herodes der Große kurz nach seinem Regierungsantritt den Erzräuber und Räuberhauptmann Hiskija verhaften und hinrichten ließ (JosBell I 204; JosAnt XIV 158ff; XVII 271) und nennt dessen Anhängerschaft »Räuberbande«. Über die Tatsache des Geschehens

Die jüdischen Religionsparteien – Zeloten – Pharisäer

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besteht kein Zweifel, wohl aber an der Interpretation. Bei diesen »Räubern« handelte es sich nicht einfach um Straßenräuber, sondern um eine Art Guerillakämpfer gegen den König und letztlich gegen Rom.202 Während die Zeloten keine klar umrissene Gruppe waren, ist dies bei den Pharisäern anders.203 Der Ausdruck ist die griechische Wiedergabe des aramäischen Wortes für »abgesondert, getrennt, ausgezeichnet«. Die Bezeichnung wurde dieser Gruppe von einer ihnen nicht wohl gesonnenen Umgebung im Sinne von »Separatisten« gegeben, so daß der Name über ihr Wesen kaum eine befriedigende Antwort geben kann. Für ihr Selbstverständnis ist entscheidend, daß sie alle nicht zu ihnen Gehörenden unter die Sammelbezeichnung »Volk des Landes« faßten. Es sind darunter aus pharisäischer Sicht daher nicht nur die einfachen, ungebildeten Menschen zu verstehen, sondern Juden aller Bildungsschichten und jedes sozialen Standes, die die pharisäische Gesetzesauffassung nicht teilten,204 ohne aber die anderen zu verurteilen oder sie vom Heil auszuschließen. Die Entstehung der pharisäischen Bewegung geht in das 2. Jh. v. Chr. zurück, als sie sich etwa zwischen 160 und 150 v. Chr.205 von den chassidischen Gruppen absetzte. Es genügte ihnen, daß die Hasmonäer die Freiheit für die Religionsausübung erreicht hatten und lehnten die bei den chassidischen Apokalyptikern herrschende endzeitliche Naherwartung ab. Charakteristisch war für sie die oben erwähnte abwartende Haltung mit einer guten Portion Skeptizismus gegenüber allen Naherwartungshoffnungen.206 Über die Lehren der Pharisäer sind wir recht gut unterrichtet. Sie unterschieden zwischen der schriftlichen Thora (Pentateuch) und der mündlichen Thora. Die letztere ist die Weitergabe, die Aktualisierung und Auslegung der schriftlichen Thora. In mAbot I 1 heißt es: »Mose empfing die Thora am Sinai und übergab sie dem Josua, Josua den Ältesten, die Ältesten den Propheten und die Propheten übergaben sie den Männern der großen Versammlung.« Diese Aussage ist bemüht, eine Kontinuität der pharisäisch-rabbinischen Aktualisierung und Auslegung der Thora herzustellen, ein Streben, das bereits um 190 v. Chr. bei Jesus Sirach festzustellen ist, der als Vorläufer der gesetzlichen Weisheit der Pharisäer gelten kann. Um 117 v. Chr. übersetzte der Enkel Jesus Sirachs das Werk seines Großvaters ins Griechische und erwähnt im Vorwort (Sir 1,1): »Vieles und Großes ist uns durch die Thora, die Propheten und die übrigen ihnen folgenden geschenkt worden [...].« Zwar hat der Pharisäismus erst auf dem Reformprozeß von Jamnia (70–135 n. Chr.) autoritativ den Kanon der Hebräischen Bibel festgelegt, aber im wesentlichen waren für die Pharisäer schon vor und zur Zeit Jesu Thora, Propheten und die übrigen Schriften das heilige Erbe der Väter, das keinen Zwang und keine Fessel für den Menschen bedeutete, sondern in Anpassung an die jeweiligen Zeitverhältnisse ausgelegt wurde. Die Pharisäer haben deswegen die Botschaft

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Die jüdische Religion

nicht verfälscht. Sie haben sogar indirekt durch die Aufnahme des Hohen Liedes in den Kanon der Heiligen Schrift die Gottesvorstellung zum Höhepunkt geführt. Profane Liebeslieder deuteten sie allegorisch auf den Geliebten JHWH und die Geliebte Israel.207 Solange sich die Allegorie an dieses hermeneutische Prinzip hielt, mußte sie deswegen noch lange nicht das natürliche Verständnis der Liebeslieder preisgeben, sondern konnte genau vor diesem Hintergrund die Liebe zwischen Gott und Volk, Volk und Gott sehen. So sagt Rabbi Akiba (mJadajim III 5): »Behüte und bewahre, niemand in Israel streitet über das Lied der Lieder [...] die ganze Welt ist nicht so würdig, wie am Tage, an dem das Lied der Lieder verliehen wurde; denn sind auch alle Hagiographen heilig, aber das Lied der Lieder ist hochheilig.« So konnten die Rabbinen kaum einen besseren Text finden als Hld 8,6a–b: »Mache mich zum Siegel auf deinem Herzen, zum Siegel auf deinem Arm«,

um Israels Verbindung mit Gott zu charakterisieren. Der Wunsch: Israel am Herzen Gottes. Nicht die Große Göttin, die die Liebe schlechthin verkörpert und seit Jahrhunderten um Gottes und Israels Gunst buhlte, konnte JHWHs Partnerin sein, sondern sein Volk Israel, in dem sich die Leidenschaftlichkeit der Liebe gleichsam personifiziert. Gerade im Mysterium der Liebe, die Gottes Geschenk ist (Gen 2,21), wird das Geschöpf erst zum Menschen, wird Israel zur Erwählten, würdig der »Bewunderung« durch Gott.208 Der Pharisäismus der Zeit Jesu war noch nicht ausdrücklich, wie einige Jahre später, zu dieser Erkenntnis gekommen. Aber in der Richtung hillelischer Prägung war diese Art der »Vollendung« der Gottesvorstellung implizit vorhanden. In der Wechselbeziehung zwischen Gott und Israel, die Liebe ist, wird auch das pharisäische Verhältnis zum Jerusalemer Tempel deutlich. Eine solch hohe Gottesvorstellung überbietet alle Gottessymbolik des Jerusalemer Tempels und bedurfte letztlich gar keines Tempels mehr als realsymbolischer Präsenz Gottes. Damit will nicht gesagt sein, daß die Pharisäer den Tempel ablehnten, aber daß in ihrer Theologie bereits keimhaft die Essenz vorhanden war, die das Judentum nach der endgültigen Zerstörung des Tempels am 26. September 70 n. Chr. überleben und sich weiter entfalten ließ. Solange es den Tempel gab, war die pharisäische Praxis danach ausgerichtet, wenngleich z. B. in dem Wort von Rabbi Jochanan ben Zakkai (eine Generation nach Jesus), daß der Tempel zerstört werden wird (bJoma 39b), eine massive Kritik herauszuhören ist. Als der Tempel schon zerstört war, sagte Jochanan ben Zakkai zu seinem Schüler Jehoschua ben Chananja, der über die Tempelzerstörung untröstlich war: »Mein Sohn, sei nicht betrübt, wir haben eine Entsühnung, die der ersten (im Tempel) gleichkommt [...]. Das Tun guter Werke, denn es heißt (Hos 6,6): Wohltun will ich und keine Opfer.«209 In der Auslegung der Thora hinsichtlich des menschlichen Verhaltens waren die Pharisäer nicht autoritär wie die Priesterhierarchie oder die Essener, sondern

Die jüdischen Religionsparteien – Pharisäer

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offen für die verschiedenen Meinungen, ohne einer bestimmten den absoluten Vorrang zu geben. Das soll an zwei Beispielen gezeigt werden: Dtn 24,1 gestattet unter gewissen Bedingungen die Ehescheidung. Unter Berufung auf Gen 1,27 weist z. B. die aus essenischen Kreisen kommende Damaskusschrift (4,20–21) die Ehescheidung zurück, weil sie der Schöpfungsordnung mehr Gewicht zubilligt als dem mosaischen Gesetz. Für pharisäisches Denken war es unmöglich, mit Gen 1,27 die Stelle Dtn 24,1 außer Kraft zu setzen, also die Ehescheidung aufzuheben. Wohl aber haben die Pharisäer in der Scheidung ein Übel gesehen, das sie einzudämmen versuchten.210 Der Sabbat galt allen Juden als heilig, aber seine Einhaltung wurde unterschiedlich befolgt. Während z. B. die Chassidim nach 1 Makk 2,29–38 am Sabbat nicht einmal ihr Leben verteidigten und sich umbringen ließen, lautet die pharisäische Maxime: »Jede Lebensgefahr verdrängt den Sabbat.« (mJoma VIII 6f; mSchabbat XVIII 3). Auch einem Tier mußte am Sabbat geholfen werden (mSchabbat XVIII 3), während es in der Damaskusschrift 11,13 heißt: »Man darf einem Vieh am Sabbat keine Geburtshilfe leisten.« Den pharisäischen Lehrern wird vielfach bewußt gewesen sein, daß manche ihrer Deutungen in der Heiligen Schrift keine Grundlage hatten, aber sie vertraten eine solche in der Überzeugung, den Sinn des Gesetzes für die konkrete Situation des Menschen zu treffen und zugleich in Übereinstimmung mit der Tradition zu handeln. Während die Essener alle, die nicht zu ihnen gehörten, als massa damnata verstanden (1QS 1,9–11), prägte Rabban Hillel eine Generation vor Jesus die Goldene Regel: »Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht.« (bSchabbat 31a), wobei unter dem »Nächsten« nicht nur der Volksgenosse, sondern auch der Fremde gemeint war (tSanhedrin XIII 2). Das Anliegen der präzisen Gesetzeserfüllung war kein pharisäischer Selbstzweck. Man meinte, durch die genaue Beobachtung des Gesetzes die endgültige Heilszeit herbeiführen zu können. Eine Verfehlung gegen das Gesetz verzögere daher dieses Kommen der Heilszeit.211 Selbst das Heil der übrigen Welt hinge davon ab, ob Israel nach der Thora lebt.212 In Hinblick auf die Willensfreiheit des Menschen vertraten die Pharisäer eine gemäßigte Auffassung, die einerseits Gottes Souveränität achtete und andererseits den Menschen nicht als willenloses Werkzeug in Gottes Hand sah (JosAnt XIII 173). Rabbi Akiba formulierte es pägnant: »Alles ist vorhergesehen, aber die Willensfreiheit ist gegeben.«213 Mit den verschiedenen apokalyptischen Gruppen teilten die Pharisäer den Glauben an die Auferstehung der Toten am Ende dieser Weltzeit. Die Auffassung der Auferstehung der Toten als Teil der biblischen Lehre vom Weiterleben nach

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dem Tod ist vorexilisch nicht belegt. In der Vision der Auferstehung der Totengebeine bei Ez 37,1–14 wird das kommende Israel als eine Neuschöpfung gesehen. Apokalyptische Auferstehungshoffnungen sind bei Jes 26,19 und Dan 12,2f faßbar. Der Ansatz für eine Trennung von Geistseele und vergänglicher Leiblichkeit wird durch die einflußreiche hellenistische Philosophie weiter verstärkt (Henoch 22,3f). So sind die sieben Märtyrer der Makkabäer (2 Makk 7) von der Unsterblichkeit und Unzerstörbarkeit der Geistseele überzeugt. Sie gehen nicht in den Tod, sondern in die Auferstehung des Lebens. Der im 2. Jh. v. Chr. entstandene Pharisäismus hat daher diese spezielle Form der Deutung eines Weiterlebens nach dem Tod übernommen.214 Die Übernahme der griechischen Begriffe wie Geistseele und Leib hatte allerdings in der Frühzeit noch nicht zur Folge, daß auch inhaltlich die neue Vorstellung rezipiert wurde; denn der Zustand der Seelen der Toten wurde doch wohl kaum anders gedacht als ein Schattendasein in der Unterwelt. Etwa erst Ende des 1. Jhs. n. Chr. wurde die griechische Vorstellung auch inhaltlich aufgenommen: die toten Körper werden bestattet, während die Seelen z. B. in der Luft herumfliegen oder an bestimmten Orten sind. Sie werden erst in der Endzeit mit ihrem Körper vereint (4 Esr 4,35).215 Die Pharisäer kannten nicht nur ein Gericht am Ende der Tage, sondern auch ein individuelles Gericht nach dem Tod des Menschen. bBerakot 28b bringt darüber eine Erzählung, als Rabbi Jochanan ben Zakkai im Sterben lag (um 80 n. Chr.): »Und als Jochanan ben Zakkai erkrankte, traten Schüler ein, ihn zu besuchen. Als er sie sah, begann er zu weinen. Seine Schüler sprachen zu ihm: Leuchte Israels [...], warum weinst du? Er erwiderte ihnen: Wenn man mich vor einen König aus Fleisch und Blut führte, der heute hier und morgen im Grab ist, dessen Zorn, wenn er über mich zürnt, kein ewiger Zorn ist, dessen Fessel, wenn er mich fesselt, keine ewige Fessel ist, dessen Töten, wenn er mich tötet, kein ewiges Töten ist, den ich auch mit Worten besänftigen und mit Geld bestechen kann, würde ich dennoch weinen; jetzt, da man mich vor den König der Könige, den Heiligen, gepriesen sei er, führt, der in alle Ewigkeit lebt und besteht, dessen Zorn, wenn er über mich zürnt, ein ewiger Zorn ist, dessen Fessel, wenn er mich fesselt, eine ewige Fessel ist, dessen Töten, wenn er mich tötet, ein ewiges Töten ist, den ich mit meinen Worten nicht besänftigen und mit Geld nicht bestechen kann, und außerdem auch zwei Wege vor mir sind, einer zum Paradies, und einer zur Hölle, und ich nicht weiß, welchen von ihnen man mich führen wird, soll ich da nicht weinen!?« »Diese talmudische Erzählung über den Tod eines der angesehensten Pharisäer, dessen Gerechtigkeit weithin bekannt war, sollte auch davor warnen, das durch die neutestamentlichen Texte nahegelegte einseitige Pharisäerbild zu akzeptieren, nach dem die Pharisäer nur auf ihre eigenen Leistungen vertraut und von der Gnade Gottes nichts gewußt hätten.«216 Die vierte Gruppe bzw. Religionspartei sind die Essener.217 Ihre Vorläufer waren die Chassidim (die Frommen), die sich seit dem 4./3. Jh. v. Chr. als Antwort

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auf die zunehmende Hellenisierung zu Gruppen der Rechtgläubigkeit lose zusammenschlossen.218 Mittelpunkt ihres Lebens war die Thora und die prophetische Eschatologie, d. h. sie waren einerseits der Tradition verhaftet, warteten aber andererseits auf die »große Zukunft«.219 Als politisch-religiöse Partei sind sie erstmals kurz vor dem Makkabäeraufstand (166 v. Chr.) in Makk 2,42 unter der Bezeichnung »Synagoge (Partei) der Asidäer« genannt, die den Aufstand der Makkabäer im Kampf gegen die Seleukiden bis zu Jonathan (152–143 v. Chr.) unterstützten. Als die religiöse Freiheit wieder hergestellt war, trennten sie sich von den Makkabäern. Ihre Ablehnung der makkabäischen Politik hängt wohl auch mit der berechtigten Befürchtung zusammen, daß ihr religiöses Anliegen in der nun neu entstandenen Priesteraristokratie untergehen werde. Das Buch Daniel, das in chassidischen Kreisen entstanden ist, zeigt bereits die Distanz der Chassidim zu den Makkabäern, denn Dan 11,34 sind diese für die Chassidim »Heuchler«, zumal sie sich mit der eingetretenen politischen Realität zufrieden gaben, während das Ziel und die Hoffnung der Chassidim die endzeitliche Herrschaft Gottes war. Trotz der Bezeichnung »Synagoge der Asidäer« waren die Chassidim keine einheitliche Partei, sondern eher ein Sammelbecken der verschiedenen apokalyptisch ausgerichteten Gruppierungen, deren gemeinsamer Nenner etwa Jes 60,21 gewesen sein mag, wo der »nachexilische Jesaja«, das neue Israel als »Sproß der Pflanzungen« Gottes versteht. Die Chassidim sahen sich als diese neue Pflanzung Gottes. Alle, die nicht zu ihnen gehörten, die »Frevler am Bund« (Dan 11,32), hatten keinen Anteil am Heil. Auf die Chassidim geht ein Großteil der zwischentestamentlichen Literatur zurück, aber nur ein Buch, nämlich Daniel, hatte später bei den rabbinischen Gelehrten Aufnahme in den dritten Teil der Hebräischen Bibel gefunden. Es ist anzunehmen, daß das Buch Daniel eher auf nichtpriesterliche Kreise der Chassidim zurückgeht, da eine exklusive, auf sich bezogene priesterliche Ideologie wie etwa im Henoch- und im Jubiläenbuch, sowie in den Testamenten der zwölf Patriarchen im Buch Daniel fehlt.220 Das erleichterte später jedenfalls den Rabbinen, dieses Buch in den Kanon aufzunehmen. Das unmittelbare Schicksal der Chassidim, nachdem sich die Pharisäer von ihnen getrennt hatten, läßt sich quellenmäßig kaum mehr verfolgen. Ihr harter Kern scheint sich mit einem geistlichen Führer (wieder) in die Wüstengegenden zurückgezogen zu haben, während die weniger radikalen Gruppen ihr Leben wie vor dem Aufstand fortsetzten. Bemerkenswert ist die Nachricht des Josephus (JosAnt XV 371–378), daß ein Essener namens Manaemus (Menachem) Herodes dem Großen, als er noch ein Kind war, geweissagt habe, daß er König und seine Herrschaft sehr lange dauern werde. Herodes hatte jedenfalls in der Anfangszeit zu den Essenern eine gute Beziehung und schätzte sie auch ob ihrer tiefen Frömmigkeit.

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Josephus bringt relativ ausführliche Berichte über die Chassidim/Asidäer/ Essener. Seine ausführlichste Darstellung ist die in JosBell II 119–161 (vgl. JosAnt XV 371–379; XVIII 11–22): Die Essener sind eine der drei Philosophenschulen der Juden. Sie entsprechen am ehesten den Pythagoräern (JosAnt XV 371). Sie lehnen jede Lust ab, ihr Sinn geht auf Selbstheiligung und sie leben ehelos, ohne deswegen die Ehe grundsätzlich abzulehnen. Da sie nicht heiraten, nehmen sie Kinder anderer auf und erziehen sie nach ihren Idealen.221 Sie leben in persönlicher Armut und in Gütergemeinschaft. Der Verwalter ihres gemeinsamen Habes wird gewählt. Ihre Kleidung ist weiß. Öl halten sie für unrein. Sie wohnen in verschiedenen Städten des Landes, sind zu ihresgleichen überaus gastfreundlich und leben sehr bescheiden. Bevor die Sonne aufgeht, richten sie an dieses Gestirn traditionelle Gebete.222 Danach gehen sie ihrer Arbeit nach, auch in bürgerlichen Berufen (Philo, Quod omnis probus liber sit 12). In der fünften Stunde (11 Uhr) versammeln sie sich nach rituellem Bad und Kleiderwechsel zur gemeinsamen Mahlzeit, die von Gebeten umrahmt wird. Dann gehen sie wieder ihrer Arbeit nach. Abends folgt nach den gleichen Zeremonien eine weitere Mahlzeit. Ihren Vorstehern schulden sie absoluten Gehorsam. Hilfeleistungen für andere und das Üben der Barmherzigkeit liegt in ihrem eigenen Ermessen. Vom Gemeinschaftsgut dürfen sie an Verwandte nichts abgeben. Sie beherrschen ihre Gefühle, sind völlig zuverlässig und lehnen das profane Ablegen eines Eides ab. Sie widmen sich dem Studium der alten Schriften und forschen darin auch nach der Bedeutung der Heilkräuter und der Mineralien. Wer der Gemeinschaft beitreten will, hat eine einjährige Probezeit zu bestehen. Er bekommt ein kleines Beil (zum Vergraben seiner Ausscheidungen), eine Schürze und weißes Gewand. Meistert ein Kandidat dieses Jahr, so darf er zwar die rituellen Bäder nehmen, aber am Leben der Gemeinschaft selber noch nicht teilnehmen. Er wird zwei weitere Jahre hinsichtlich seines Charakters geprüft. Wenn er auch diese Prüfung bestanden hat, wird er in die Gemeinschaft aufgenommen. Vor der Zulassung zum gemeinsamen Mahl legt er einen heiligen Eid ab, Gott zu ehren, Gerechtigkeit zu üben, die Ungerechten zu hassen, die Regeln der Gemeinschaft niemandem mitzuteilen und »die Schriften der Gemeinschaft wie die Namen der Engel in Ehren zu halten«. Bei schweren Verstößen wird ein Mitglied aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Für ein Gerichtsverfahren sind mindestens 100 Essener notwendig. Ihr Urteilsspruch ist unumstößlich. Den Sabbat halten die Essener absolut streng. Selbst die Nahrung wird am Vortag zubereitet. Sogar die Verrichtung der Notdurft ist am Sabbat verboten. In der Gemeinschaft gibt es vier Klassen entsprechend dem Grad der Askese. Durch ihr wohlgeordnetes Leben erreichen die Essener oft ein Alter von 100 Jahren. Im Krieg gegen die Römer waren die Essener die Standhaftesten. Ihr Leben bedeutet ihnen auch deswegen nichts, weil sie an die Unsterblichkeit der Seele

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glauben. Manche von ihnen haben auch die Gabe der Weissagung. Josephus (JosAnt XVIII 19) spricht davon, daß die Essener Weihegeschenke, Votivgaben an den Jerusalemer Tempel schicken, aber damit kein Opfer darbringen, »weil sie heiligere Reinigungsmittel zu besitzen vorgeben«. D. h., daß sie dem Tempel eine gewisse Anerkennung zollen, aber ihren Kult außerhalb desselben vollziehen. Sie seien auch vom Tempel ausgeschlossen gewesen.223 Übereinstimmend mit Philo (Quod omnis probus liber sit 75) gibt Josephus (JosAnt XVIII 20) die Zahl der Essener mit 4000 an. Die Zahl ist eine Schätzung, die sich möglicherweise auf die Elite der Essener bezieht, deren Zentrum u. a. in Jerusalem gewesen sein dürfte (Abb. 21). Nach einer gut begründeten Theorie war auch Qumran ein essenisches Zentrum (Abb. 22),224 dessen antiker Name »Burg der Frommen« lautete (Mur 45,6 [DJD II 163f]). Nach den archäologischen Ausgrabungen wurde die Anlage zur Zeit König Alexander Jannais (103–76 v. Chr.) errichtet und durch das Erdbeben des Jahres 31/30 v. Chr. (JosAnt I 370) sowie durch Feuer zerstört. Darauf folgt eine lange Besiedlungslücke. Erst im Jahre 4 n. Chr. gab es einen bescheidenen Wiederaufbau, der im Jahre 68 n. Chr. von der 10. römischen Legion zerstört wurde. Die Römer errichteten danach das Hauptgebäude wieder, unterteilt in viele kleine Wohneinheiten, und verwendeten es als militärische Anlage bis gegen 100 n. Chr. In der Zeit des zweiten jüdischen Aufstandes gegen Rom (132–135 n. Chr.) haben sich jüdische Widerstandskämpfer eingenistet.225 Die große Sensation von Qumran war aber nicht die Anlage in ihren archäologisch erforschten Phasen, sondern die sukzessiv entdeckten Höhlen I bis XI mit den verschiedenen Schriftfunden.226 Vier Kategorien von Schriften wurden gefunden: • Schriften der Hebräischen Bibel wie die Jesajarollen a und b. • Deuterokanonische Schriften der Bibel wie Fragmente von Jesus Sirach. • Pseudepigraphen wie der Habakkuk-Kommentar, die Kriegsrolle, die Hymnenrolle, der Sektenkanon, das Regelbuch u. v. a. • Fragmente mit griechischem Text in Höhle 4 und Höhle 7, worunter auch Texte des Neuen Testaments sind, wie 7Q4 und 7Q5. Die Entstehungszeit dieser Schriften liegt vor dem Jahr 68 n. Chr. und reicht für manche Texte bis in das 2. Jh. v. Chr. zurück.227 Nicht alle Schriften wurden in Qumran selber geschrieben. Es ist durchaus möglich, daß man hier auch Schriften aus Jerusalem rechtzeitig versteckte, um sie vor der Vernichtung durch die Römer zu bewahren. Bei den neutestamentlichen Fragmenten von Höhle 7 ist es evident, daß sie nicht aus Qumran selber stammen können. Es ist plausibel, daß

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den Jerusalemer Christen freundschaftlich gesinnte Essener christliche Schriften hier versteckt haben, als die Christen im Jahre 66 oder 68 n. Chr. Jerusalem vor der Belagerung durch die Römer verlassen haben.

Abb. 21 Rekonstruktion des Jerusalemer Essenerviertels 1: Essenertor (Josephus, Archäologie); 2: Südwestturm der Stadtmauer; 3: Weg durch das Gehinnom nach Bethlehem und Pfad entlang der Südmauer; 4: Straße vom Essenertor zum Stadtzentrum (Archäologie); 5: Ölpresse und Stufen (Archäologie), die zum Osttor (Kupferrolle) des monastischen Teils des Essenerviertels führten; 6: Abwasserkanal, der die Straße 4 entlanglief und sich hier in das Gehinnom entleerte (Archäologie); 7: Eingangstor zum essenischen Klosterbereich (Kupferrolle); 8: Gästehaus (vgl. Mk 14,14) mit Abendmahlsaal; 9: Ritualbäder (Archäologie außerhalb der Stadtmauer; [vgl. Dtn 23,10] mit einer Fluchtpforte [Kupferrolle]); 10: Wasserleitung zu Nr. 7 und 9 (Archäologie); 11: Bewässerungszisterne unter der Stadtmauer (Archäologie); 12: Tel Kochlit (Kupferrolle); 13: Zwei Ritualbäder innerhalb der Klosteranlage (Kupferrolle, Archäologie); 14: Peristyl mit großer Zisterne, (Kupferrolle?); 15: Bethso, Essenerlatrinen (Josephus, Tempelrolle); 16: Kriegsturm (Kupferrolle?); 17: Mauer um das Klostergelände; dahinter Gartenanlage des herodianischen Palastes; 18: Aquädukt (Pontius Pilatus?) zum Tempelplatz (Archäologie); 19: Hinnom-Tal (Gehenna).

Eine Reihe von Schriften wurden jedoch an Ort und Stelle geschrieben, wie die Untersuchung der Tinte von Handschriften und der Reste von Tinte in den Tintenfässern ergeben hat. Ferner ist auch die in den Höhlen gefundene Keramik mit der Keramik der Gebäude identisch.

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Abb. 22 Rekonstruktion der Siedlung von Qumran Die Rekonstruktion ist von Norden gesehen. 1: Haupteingang; 2: Wehrturm; 3: Skriptorium; 4: Speisesaal; 5: Töpferei; 6: Zugang zum Aquädukt; 7: Wasserstelle mit drei Zugängen, vielleicht Reinigungsbad; 8: Runde (älteste) Zisterne; 9: Ställe und Lasttierhof.

Wenn man nun die Qumranschriften mit den Aussagen der antiken Autoren über die Essener vergleicht, so herrscht eine sehr große Übereinstimmung.228 Der Sektenkanon, 1QS 6,13–23 (vgl. 1QS 1,11f; 5,1–26; 6,19; 10,19; 4Q275), nennt die gleichen Aufnahmebedingungen in die Gemeinschaft. Es gibt ein Postulat, dessen Dauer nicht genannt ist, und die sich daran anschließende einjährige Probezeit, wenn das Postulat von den Vollmitgliedern positiv bewertet worden ist. In der einjährigen Probezeit darf der Anwärter »die Reinheit der Vollmitglieder noch nicht anrühren« und hat am Gemeinschaftsvermögen noch keinen Anteil. Besteht er das erste Jahr, wird seine Mitgift auf ein »Sonderkonto« gelegt, über das die Vollmitglieder noch nicht verfügen dürfen: Er selbst darf das »Getränk der Vollmitglieder« noch nicht berühren. Es folgt ein weiteres Probejahr. Erst wenn

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dieses erfolgreich in der Gemeinschaft abgelegt wurde, wird er als Vollmitglied aufgenommen. 1QS 1,2ff ist quasi der Eid auf die Gemeinschaft, die sich selber »Jachad« (Einung) nennt: »Gott mit ihrem ganzen Herzen und von ganzer Seele zu suchen, und daß sie danach trachten, alles zu tun, was vor ihm gut und redlich ist, so wie Er es durch Mose und all seine Diener, die Propheten, befohlen hat. Er muß sie lehren, alles zu lieben, was Er erwählt hat und alles zu hassen, was Er verwarf [...].« Fremden gegenüber darf es keine Informationen über die Gemeinde geben (1QS 4,5f; 9,17). Die Standhaftigkeit muß die Bereitschaft zum Martyrium miteinschließen (1QS 1,16–18).229 Die Struktur der Gemeinde war eine streng hierarchische. Nach 1QS 8,1 bestand das Leitungsgremium aus zwölf Laien und drei Priestern. 1QS 6,12.20 kennt das Amt des Hauptaufsehers über die Versammlung aller Mitglieder und 1QS 3,13 9,12 das des Lehrmeisters. Den Priestern der Gemeinschaft obliegt u. a. die Rechtsprechung und Vermögensverwaltung (1QS 9,7). Verstöße gegen die gemeinschaftliche Ordnung wurden durch Auferlegung von Bußzeiten (zehn Tage bis zu zwei Jahre) geahndet. Auch ein totaler Ausschluß war vorgesehen (1QS 6,24–9,2). Für gemeinschaftliche religiöse Übungen mußten zehn Mitglieder anwesend sein und sich einer immer mit dem Studium der Thora beschäftigen (1QS 6,3.6–7; 1 QS 2,22). Die täglichen Gebetszeiten waren bei Morgengrauen, zur dritten Stunde (9 Uhr), zur sechsten und neunten Stunde, am Abend und zu Mitternacht. Ein Drittel der so ohnehin kurzen Nächte war dem Wachen, Beten und dem Studium der Thora vorbehalten. Anfang, Mitte und Ende des Monats gab es zusätzliche Gebetszeiten (1QS 10,1–8). In jeder menschlichen Gemeinschaft, die eng zusammenlebt, gibt es Reibereien und Unstimmigkeiten. Um diese zu regulieren, gab es die Vorschrift, daß in der Vollversammlung keiner gegen seinen Nächsten etwas vorbringen darf, wenn er ihn nicht schon vorher vor Zeugen zurechtgewiesen hatte.230 Zentral am Zusammenleben dieser Menschen war das gemeinschaftliche Mahl, bei dem der Priester Brot und Wein segnete (1QS 6,4–6). Die von den Mahlzeiten übrig gebliebenen Knochen wurden in Ossuarien bestattet, da sie durch den Segen heilig geworden waren. Daß die rituellen Waschungen eine große Bedeutung hatten, geht nicht nur aus Josephus und den vielen rituellen Badeanlagen in Qumran hervor, sondern auch aus der Damaskusschrift 10,11. Man hielt dabei aber streng fest, daß diese Waschungen kein Selbstzweck waren, sondern eine Hilfe, um die innere Reinheit zu wahren: » [...] Zeremonien der Versöhnung können nicht seine Unschuld wiederherstellen, noch kultische Wasser seine Reinheit. Er kann nicht geheiligt werden durch Untertauchen in Ozeanen und Flüssen, noch gereinigt werden durch bloßes rituelles Baden. Unrein, unrein soll er all die Tage sein, in denen er zurückweist die Gesetze Gottes und zurückweist, in der Jachad, seiner Gesell-

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schaft, unterwiesen zu werden [...]« (1QS 3,4–7). » [...] Es ist in der Tat nicht möglich, gereinigt zu werden, ohne zunächst das Böse zu bereuen [...]« (1QS 5,13–14). Aus dem bisher Gesagten wird u. a. deutlich, daß die Essener verheiratete und zölibatäre Mitglieder kannten,231 wobei Qumran ein spezielles Ausbildungszentrum der unverheirateten Gruppe gewesen sein könnte, Priester die Gemeinschaft dominierten und der Opferkult am konkreten Jerusalemer Tempel abgelehnt wurde. 4Q164, ein Pescher (eine Art Kommentar) zu Jes 54,11f, Vers 2 heißt es: »[da]ß sie die Gemeinschaft der Einung (Jachad) gegründet haben [... die] Priester und das Vo[lk]«.232 Dieser Passus gibt historisch richtig an, daß die Essener auf Priester und Laien zurückgehen. In Qumran scheint das priesterliche Element besonders dominant gewesen zu sein. Diese Priester waren im Grunde jenen dissidenten zadokidischen Priestern weiter verpflichtet, in denen die Bewegung eine ihrer entscheidenden Wurzeln hatte, und blieben daher dem konkreten Jerusalemer Tempel und seinem Kult kritisch bis ablehnend (Dam 6,12; 1QS 9,35). Sie begründen ihre Ablehnung mit der Behauptung, daß der Tempel von unreinen und sündigen Priestern verwaltet wird und die heiligen Zeiten zu falschen Terminen gefeiert werden. Erst in der Endzeit, wenn das Zeitalter Belials (Satan) vorbei ist, wird es in Jerusalem wieder einen rechtmäßigen Opferkult und einen neuen Tempel geben, dessen Priester sie selbst sein werden (Dam 11,18–20; 1QM 2,3). Der Vorwurf, daß in Jerusalem die Feste zu falschen Terminen gefeiert werden, kommt daher, daß für das Land ein Mond-Sonnenkalender in Verwendung war, der nach Erfahrung geschaltet wurde,233 während die Essener einen Sonnenkalender von 52 Wochen bzw. 364 Tagen verwendeten (Jub 6,22–38; Hen 74,10; 82,6). 4Q320–321a zeigt z. B. das Bemühen, die beiden Kalender zu synchronisieren. Nach 4Q325 fällt das Pesachfest (14. Nisan) immer auf einen 3. Tag (Dienstag) der Woche (4Q329a), während das Pesachfest nach dem Mondkalender »wandert«. Das sogenannte Sektierermanifest (4Q394; 4QMMT), das vermutlich an einen Hohenpriester Jerusalems gerichtet ist, zeigt, wie sehr die Gemeinde dem eifernden, priesterlichen Geist verpflichtet war. Es ist jedoch nicht gerechtfertigt, daraus abzuleiten, daß die Gemeinde von Qumran von orthodoxen sadduzäischen Priestern geleitet wurde.234 In ihrer Auffassung der Vorherbestimmung des Menschen gingen die Essener am weitesten (Jub 5,13; Hen 81,1f; 1QS 3,15f; 1QpHab 7,13f), ohne jedoch die Willensfreiheit völlig aufzuheben (1QS 5,1). Gott ist absolut souverän (1QS 11,11), aber in der Welt und im Menschen wirken die von Gott erschaffenen Geister des Lichtes und der Finsternis (Belial) bis zum Ende der Tage (1QS 3,18.35; 4,19.24f).235 Der Fürst des Lichtes kann wahrscheinlich mit dem Erzengel Michael gleichgesetzt werden (1QM 17,6). Neben Michael gibt es eine Reihe guter, neben Belial eine Reihe böser Geister. Nach 1QH 11,10–13 werden die Toten der Gemeinde

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von den Engeln aufgenommen. Aber auch unter den lebenden Mitgliedern sind schon die Engel Gottes anwesend; deshalb dürfen nur rituell Reine an den Gemeindeversammlungen teilnehmen (1QSa 2,3–9). Nach 1QS 9,10f erwartete die Gemeinde den Propheten und zwei Messiasse von Aaron und Israel. Der vor den Messiassen kommen sollende Prophet ist der Lehrer der Gerechtigkeit, auf den essenische Bewegungen zurückgehen und der Ende des 2. Jhs. v. Chr. gelebt hatte.236 Der eine Messias ist der Laienmessias aus dem Haus Davids, der nach Ausweis von 4Qflor 1,10–13 bereits als Sohn Gottes verstanden wird,237 der andere der Priestermessias (Test Simeon 7,1f; Test Juda 21,1–3), der über dem davidischen Laienmessias steht (1QSa 2,11–21). Die Scheidung des Messias in zwei Gestalten wird auf Num 24,17b zurückgeführt: »Es wird aufgehen ein Stern (Priester–) aus Jakob und aufstehen eine Zuchtrute (Laienmessias) aus Israel.« Der Grund für diese Gewaltenteilung mag vordergründig darin liegen, daß die chassidischen Zadokiden von Qumran die hasmonäische Ämterkumulierung (der Hohepriester ist zugleich Fürst/König) ablehnten und der judäischen Gewaltentrennung der vorexilischen Zeit (einerseits ein König, andererseits ein [Hohe]priester) den Vorzug gaben, ja diesen vorexilischen Zustand auch für die messianische Zeit gewahrt wissen wollten. Aber ein anderer, wichtigerer Grund, der noch zur Sprache kommen wird, war dafür ausschlaggebend. Es muß auch noch betont werden, daß die Erwartung zweier Messiasse ein qumranisches Spezifikum ist, das offenbar nicht allen essenischen Gruppen zu eigen war. So spricht die Damaskusschrift (19,10f) von einem Messias, der aus Aaron und Israel kommt.238 Eine Messiaserwartung der Jerusalemer Priesteraristokratie und der Sadduzäer ist auszuschließen. Auch die Pharisäer der Zeit Jesu dürften kaum solche Erwartungen gepflegt haben.239 Jedenfalls gibt es keinen rabbinischen Beleg, der auf die Zeit vor dem Jahre 70 n. Chr. zutrifft.240 Die Idee eines kommenden Messias war daher in den verschiedenen apokalyptischen Gruppen beheimatet, zu denen Essener und Zeloten gehörten. Der Grundtenor dieser Erwartung war, daß ein Messias kommt, der glorreich herrschen, aber nicht einer, der leiden und sterben wird.241 Wie schon öfter erwähnt, kennzeichnet alle essenischen Gruppen die Meinung, daß sie am Ende der Tage leben. Obwohl die Hoffnung auf dieses Ende ständig enttäuscht wurde, erwuchsen daraus nicht Resignation, sondern entfalteten sich neue Hoffnungen. Die Zehnwochenapokalypse (Hen 92; 93,1–14; 91,12–17), der älteste Teil des Henochbuches, und die Schafsapokalypse des Buches (Hen 90) haben nach einer solchen Enttäuschung im Jahre 164 v. Chr., als das messianische Reich nach den Erfolgen der Hasmonäer gegen die Seleukiden nicht gekommen ist, ein neues Konzept für die Endzeit entwickelt. Die Geschichte Israels wird

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in zehn aufeinander folgende Perioden gegliedert, wobei am Ende der sechsten »Woche« die Zeit der Zerstörung des Jerusalemer Heiligtums durch die Neubabylonier im Jahre 587/86 v. Chr. gekommen ist. Die siebente Woche repräsentiert die nachexilische Zeit (ab 539 v. Chr.) bis zur Zeit des Verfassers der Zehnwochenapokalypse, also etwa bis in die Zeit nach 164 v. Chr. In der achten Woche findet der eschatologische Endkampf statt, aus dem die Gerechten als Sieger hervorgehen. Ohne daß dabei der Messias ausdrücklich genannt wird, ist am Ende dieser Woche davon die Rede, daß es ein Haus für den großen König für immer geben wird. Dies könnte ein Hinweis sein, daß ab diesem Zeitpunkt die Herrschaft des Königs Messias beginnt, die also vom Ende der achten Woche bis gegen Ende der zehnten Woche die Hinkehr der gesamten Menschheit zu Gott bewirken wird. Das Endgericht am siebenten Tag der zehnten Woche ergeht nur mehr über die Engel, die Wächter des Himmels, da sich ja alle Menschen bereits durch das Wirken des Königs Messias zu Gott bekehrt haben. Was dann folgt, gehört nach dem Konzept des Textes nicht mehr zur zehnten Woche, sondern ist etwas absolut Neues: das ewige, endgültige Reich des Himmels. Zweifellos wähnt sich der Autor der Zehnwochenapokalypse am Ende der Zeit lebend (siebente Woche), in der der Rachefeldzug gegen ein sündiges Israel stattfindet und der König Messias erscheinen wird. Über die Dauer dieses messianischen Reiches macht der Autor insofern keine Angaben, da er es über drei Wochen hin erstreckt sein läßt. Die bisherige Periodisierung ist damit aufgehoben. Das messianische Reich gehört aber noch zu dieser Weltzeit und wird diese Weltzeit, ja die gesamte Menschheit, heiligen. Das Endgericht bringt die Aufhebung dieser Weltzeit, in der gleichsam durch das Richten der Engel die himmlische Sphäre miteinbezogen wird. Was folgt, ist die immerwährende Teilhabe an der Ewigkeit Gottes. Die später entstandenen essenischen Texte haben viel von dieser Periodisierung gelernt und das Konzept ab dem Ende der siebenten Woche mit Variationen übernommen. In dem Ausdruck »Endzeit des Frevels« (Dam 6,10.14; 1QpHab 5,7f) wird diese als eine kaum zu ertragende Herrschaft Belials gezeichnet (Hen 80,2–8; 99,4f; 100,1f; Jub 23,18; 1QS 1,18). In dieser letzten Herrschaft Satans nehmen die Verbrechen im zwischenmenschlichen Bereich dramatisch zu, die Natur wird sich verändern und kosmische Katastrophen werden kommen. Daran erkennen die essenischen Apokalyptiker, daß das Ende immer näher rückt. Enttäuschte Hoffnungen wurden so immer neu belebt (1QpHab 7,7f.10–14; 1QM 1,11f). Die Endzeit ist auch durch ein Heidenvolk gekennzeichnet, die Kittim, die gleichsam als Geißel Gottes auftreten. Der Habakkuk-Kommentar von Qumran (1QpHab 2–4) berichtet ausführlich darüber. Bei den Kittim ist wohl am ehesten an die Römer zu denken, wie vor allem Kol. 6 durch das Räucheropfer für die göttlich verehrten Standarten nahelegt. Die

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Kittim werden aber wie das gesamte Reich Satans vernichtet (1QS 3,18; 4,18). An dieser Vernichtung im endzeitlichen Kampf sind auch die Söhne des Lichtes, also die Essener, beteiligt (1QM1,2). Die Dauer dieser Zeit des Frevels wird in Anlehnung an die Wüstenwanderung (Ex 16,35) mit 40 Jahren angegeben (4QpPs 37 10). Dam 1,10f, wonach der Lehrer der Gerechtigkeit nach einer halben Endzeit, also nach 20 Jahren gekommen ist, läßt erkennen, daß die Zahl 40 in numerischem Sinn verstanden wurde. Da aber die Endzeit kein Ende nehmen wollte, übertrug man schließlich die Zahl nach 1QM 2,6–14 auf den eschatologischen Rachekrieg. Man hat also das Ende mehrmals verschoben und ist mit der Einbeziehung des endgültigen Krieges auf eine symbolische Deutung der Zahl als langen Dauer zurückgegangen. Die Essener lebten daher nach ihrer Ideologie in der nicht enden wollenden Endzeit und erwarteten mit Inbrunst ihr Ende, das den endgültigen Kampf, in dem alles Böse überwunden wird, einleiten sollte. Der Endkampf beginnt, wenn die »Söhne des Lichtes« aus der »Emigration der Wüste der Völker« in der Wüste vor Jerusalem lagern (1QM 1,3). Zugleich damit beginnt die messianische Zeit.242 Was in der Zehnwochenapokalypse des Buches Henoch summarisch dargestellt wird, der Endkampf und das Erscheinen des Königs Messias, wird in den später entstandenen Teilen des Buches weiter ausgestaltet (Hen 96,1f; Jub 23,30). Die Kriegsrolle von Qumran (1QM) gibt über diesen vierzigjährigen Krieg detaillierte Auskunft: In jedem siebenten Jahr (Sabbatjahr) darf nicht gekämpft werden – auch die Feinde sind gezwungen, sich daran zu halten –, so daß es insgesamt 35 Kriegsjahre gibt. Es wird nun deutlich, daß die Feinde in diesem Endkampf keine Chance haben, da Gott den Verlauf bestimmt und auf der Seite der Söhne des Lichtes der Engelfürst mit seinen Scharen kämpft: »Den Fürsten des Lichtes hast du vordem verordnet zu unserer Hilfe. In [...].« (1QM 13,10; 12,7–9). In dem Fall, da Gott den Kampf nicht beeinflußt, gewinnen drei Schlachten die Söhne des Lichtes und drei die Söhne der Finsternis, so daß der Krieg unentschieden bleibt, was heißt, daß nach menschlichen Maßstäben alleine das Böse und die Bösen nie besiegt werden können. In der folgenden siebenten Schlacht – gemäß der Sprache der Kriegsrolle: im siebenten Los – greift Gott ein: »Im siebenten Los (aber) wird die große Hand Gottes niederzwingen Belial und alle seine Engel seiner Herrschaft und alle Männer seines Loses trifft die ewige Vertilgung.« (1QM 1,14f). Bezüglich der essenischen Gruppen kann festgehalten werden, daß sie zugleich mit dem vierzig Jahre dauernden eschatologischen Endkampf die messianische Zeit beginnen lassen. Wenn der Endkampf durch die Hilfe Gottes siegreich beendet ist, dann ist auch das Ende dieser Weltzeit gekommen und es beginnt die kommende Welt als absolute Neuschöpfung Gottes, deren Zentrum das neue Jerusalem mit dem neuen Tempel bleibt. An einer religiös-nationalen Dimension wird also weiter festgehalten.243

III. Die Quellen des Lebens Jesu Jeder, der sich heute auf wissenschaftlich angemessene Weise mit einer Person der Antike beschäftigen möchte, in unserem Fall mit Jesus von Nazareth, wird zunächst fragen, welche Quellen zur Verfügung stehen? In einem weiteren Schritt wird er prüfen, ob diese Quellen nach kritischer Betrachtung zu berücksichtigen sind oder ausgeschieden werden müssen. Der erste Schritt, die Quellen zu eruieren, ist nach einer fast zweitausendjährigen wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Person Jesu rasch möglich. Der zweite Schritt, diese Quellen kritisch zu prüfen, ist weitaus schwieriger. Dieser Schritt hat sich von vornherein nicht an irgendwelchen Hypothesen zu orientieren, sondern muß nach den Regeln der Wissenschaften durchgeführt werden, die sich mit der Antike befassen. Es ist daher zu untersuchen, • • •



ob ein Text der Antike in seiner handschriftlichen Überlieferung ohne gravierende inhaltliche Unterschiede überliefert wurde, es sei denn, es handelt sich um singuläre Inschriften, ob der Autor des Textes als vertrauenswürdig gelten kann, ob die literarische Gattung des Textes den Schluß zuläßt, daß es um historische Ereignisse geht. Falls die Gattung des antiken Textes nicht in den Bereich antiker Geschichtsschreibung gehört, sondern einer hagiographischen, legendenhaften Gattung zuzurechnen ist, muß geprüft werden, inwieweit eventuell historische Aussagen in das Kleid der Legende gehüllt sind, ob die Aussagen des antiken Textes durch andere Zeugen, seien es schriftliche, seien es archäologische, bestätigt werden.

Die Quellen des Lebens Jesu sollen daher nach diesen Gesichtspunkten geprüft werden, vor allem dann, wenn es sich um Zeugnisse handelt, die in Frage gestellt wurden. Es ließe sich nun einwenden, daß die Quellen des Lebens Jesu ohnehin schon häufig untersucht und behandelt worden sind und man sich daher ein solches Kapitel ersparen könne. Aber wie wurden solche Kapitel abgehandelt? Die Zeugnisse der römischen Historiker wurden oft pauschal als solche abgetan, die nur die christliche Bewegung bezeugen, kaum aber Jesus von Nazareth, das Testimonium Flavianum überhaupt als ein christlicher Einschub in den Text des Josephus angesehen, der historisch völlig wertlos wäre, und den Evangelien im radikalsten Fall fast jede historische Glaubwürdigkeit abgesprochen; und dies interessanterweise kaum von außenstehenden Fachgelehrten, sondern von christlichen Theologen, die seit Generationen Hypothesen des 18., 19. und 20. Jhs. übernehmen, vielfach modifizieren und meinen, damit schon etwas Substantielles gesagt zu haben.

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Die Quellen des Lebens Jesu

Es ist daher notwendig, dem Leser die Quellen des Lebens Jesu so vorzustellen, wie sie die Wissenschaften beurteilen, die sich mit der Antike befassen.

1. Römische Historiker Der römische Historiker Suetonius (65–135 n. Chr.) schrieb um 120 n. Chr. eine Biographie der ersten zwölf römischen Kaiser. Aus der Zeit des Kaisers Claudius (41–54 n. Chr.) berichtet er u. a.: »Judaeos impulsore Chresto assidue tumulantes Roma expulit.« (»Die Juden, die wegen Chrestos viel Unruhe stifteten, vertrieb er aus Rom.« [Suetonius, Vita Claudii 24,4]). Das Ereignis fand Ende der vierziger Jahre statt und ist auch sonst bezeugt.244 Sueton spricht von »Juden«, obwohl es sich offensichtlich um Judenchristen handelte, die unter Roms Juden für Unruhe sorgten. Sueton bezeugt, daß knapp 20 Jahre nach dem Tod Jesu judenchristliche Missionare in Rom im Schatten und im Schutz der jüdischen Gemeinde die christliche Botschaft verkündeten, eine Tätigkeit, die vermutlich schon länger währte und offensichtlich unter Kaiser Claudius ein Ausmaß der Unruhe erreicht hatte, daß sich der Kaiser zu handeln gezwungen sah. Sueton schrieb rund 60 Jahre später darüber und es zeigt sich an seiner Terminologie, daß selbst um 120 n. Chr. das offizielle Rom noch nicht zwischen Juden und Judenchristen unterschied.245 Weit älter als das Zeugnis des Suetonius ist das von Apg 18,1–2, das ebenfalls diese Vertreibung nennt und sogar die Namen eines jüdischen bzw. judenchristlichen Ehepaares kennt, das von der Ausweisung durch den Kaiser betroffen war und sich in Korinth niedergelassen hatte: »Hierauf verließ Paulus Athen und ging nach Korinth. Dort traf er einen aus Pontus stammenden Juden namens Aquila, der vor kurzem aus Italien gekommen war, und dessen Frau Priszilla. Claudius hatte nämlich angeordnet, daß alle Juden Rom verlassen mußten. Diesen beiden schloß er sich an.« Ausgelöst wurde der ganze Wirbel in Rom durch die judenchristlichen Anhänger eines gewissen »Chrestos«. »Chrestos«, ein griechisches Adjektiv mit der Bedeutung »gut, freundlich, brauchbar«, war ein bekannter Sklavenname. Der griechische Ausdruck »Christos«, eine Übersetzung des hebräischen Nomens »Messias«, »(der) Gesalbte«, war der außerjüdischen Welt damals kaum bekannt, vor allem nicht in den westlichen Teilen des Römischen Reiches. Sueton hat vermutlich das griechische Nomen »Christos« als Übersetzung des Hebräischen »Messias« nicht gekannt und daher den ihm geläufigen Sklavennamen »Chrestos« verwendet. So schreibt z. B. Tertullian (Apologeticum 3) um 197 n. Chr., daß die Heiden die Christen »Chrestianer« nannten und belächelt ihre Unkenntnis. Der Volksmund hat also die ihm geläufigere Bezeichnung Chrestos dem ihm unbekannten Wort Christos vorgezogen. Der Chrestos Suetons ist daher nicht irgendein jüdischer Unruhestifter in Rom gewesen. Der Name bezieht sich auf Jesus von Nazareth,246 den Messias, den Christos, den Gesalbten, nach dem dessen Anhän-

Römische Historiker

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ger erstmals in Antiochia, wie Apg 11,26 schon für das Jahr 43/44 n. Chr. festhält, »Christen« genannt wurden. Der römische Historiker Tacitus bezeugt in seinen zwischen 115 und 117 n. Chr. geschriebenen Annalen (XV 44), daß Kaiser Nero (54–68 n. Chr.) die Brände Roms im Jahre 64 n. Chr. den verhaßten Christen zur Last legte. Dabei erklärte er für seine Leser die Herkunft der Christen: »auctor nominis eius Christus Tiberio imperitante per procuratorem Pontium Pilatum supplicio adfectus erat.« (»Christus, von dem sich ihr Name ableitet, wurde zur Zeit des Kaisers Tiberius durch den Prokurator Pontius Pilatus zum Tod verurteilt.«) Das Christentum ist für ihn – ebenso wie das Judentum – ein unheilvoller Aberglaube, der aus Judäa gekommen ist und sich auch in Rom breit gemacht hat. Tacitus formuliert eindeutig so, daß die Verurteilung Jesu durch Pontius Pilatus seiner Meinung nach zu Recht geschehen sei, was darauf hindeutet, daß ihm christliche Quellen, die Pilatus entlasten, nicht bekannt gewesen sein dürften. Das macht seine Bezeugung des Todes Jesu unter Pilatus umso wertvoller. Den Titel des römischen Beamten Pilatus gibt er mit »Prokurator« an, obwohl er »Präfekt« lautete. Erst im Jahre 46 n. Chr. wurde Judäa römische Prokuratur, deren erster Prokurator Tiberius Alexander (46–48 n. Chr.) war. Plinius der Jüngere, Prokonsul der Provinz Bithynien, schrieb 111 n. Chr. hilflos an Kaiser Traian, daß in seiner Provinz das Christentum bereits eine Massenbewegung sei und er vom Kaiser wissen möchte, ob und wie er gegen die Christen vorgehen solle, denen man wegen der Verweigerung des Kaiserkultes Mangel an Staatstreue vorwarf. Über das Christentum selber scheint Plinius nicht besonders gut informiert gewesen zu sein, nur daß die Christen Christus quasi als ihrem Gott einen Wechselgesang singen (»Carmen Christo quasi Deo dicere secum invicem.« Plinius Secundus, Epistolae X 96–97). Der Brief ist natürlich ein hervorragendes Zeugnis dafür, wie sehr in dieser kleinasiatischen Provinz mit der Hauptstadt Nikomedia (heute Izmit in der Türkei), das Christentum blühte, aber es sollte nicht unterschätzt werden, daß der römische Beamte auch Christus selber nennt, der von seinen Anhängern göttlich verehrt wird. Diese drei Texte römischer Autoren bezeugen, daß Jesus Christus aus Judäa stammte, dort auch zu Recht von Pilatus zum Tod verurteilt wurde (Tacitus), daß die Christen auf diesen Christus zurückgehen (Sueton und Tacitus), Christus göttlich verehrt wird (Plinius der Jüngere) und daß das Christentum in Rom sehr früh Fuß gefaßt hat (Sueton und Tacitus) und am Anfang des 2. Jhs. n. Chr. in Kleinasien bereits eine Massenbewegung gewesen ist (Plinius der Jüngere). Abschließend kann noch auf den Brief des Mara ben Serapion hingewiesen werden, der nur aus einer syrischen Handschrift aus dem 7. Jh. n. Chr. bekannt

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ist (British Museum Syriac Manuscript Add. 14.658). In diesem Brief an seinen Sohn werden Sokrates und Pythagoras und ein weiser König der Juden genannt, den die Juden hingerichtet haben, dessen Lehre aber nach seinem Tod weiter lebte. Als Strafe wurden die Juden von ihrem Land vertrieben. Serapion hat möglicherweise gegen Ende des 1. Jhs. oder im 2. Jh. n. Chr. gelebt. Daß er mit dem weisen König Jesus meint, ist wahrscheinlich.

2. Jüdische Quellen Der jüdische Historiker Josephus Flavius (37–ca. 100 n. Chr.) war jüdischer Priester, verwandt mit der hasmonäischen Familie und Angehöriger der Religionspartei der Pharisäer. Er leitete 66/67 n. Chr. als Kommandant die jüdischen Truppen Galiläas im Aufstand gegen Rom, ergab sich aber Vespasian, wurde begnadigt und lebte ab 71 n. Chr. als Pensionär des flavischen Kaiserhauses in Rom, wo er einer reichen schriftstellerischen Tätigkeit nachging. Er kommt zweimal, einmal ausführlicher, das andere Mal kurz auf Jesus von Nazareth zu sprechen. JosAnt XVIII 63–64 heißt es: »Zu dieser Zeit trat Jesus auf, ein hochbedeutender Mensch, wenn man ihn überhaupt einen Menschen nennen darf, denn er war ein Täter von Werken, die den Erfahrungen widersprechen, ein Lehrer solcher, die mit Freude das Wahre aufnehmen, und viele Juden, aber auch viele aus der hellenischen Welt zog er an sich, denn der bekannte Christus war dieser. Und als ihn auf Anzeige unserer ersten Männer Pilatus mit dem Kreuz bestraft hatte, ließen die nicht ab, die ihm vorher angehangen hatten; denn er erschien ihnen nach drei Tagen wieder lebendig, wie die göttlichen Propheten dieses und tausend anderes Wunderbares über ihn gesagt hatten. Und bis jetzt hat die nach ihm ‚Christianer‘ genannte Sippe nicht aufgehört.«247 Die Echtheit dieses Textes wurde schon im 16. Jh. angezweifelt und seit 1813 überhaupt in Frage gestellt.248 Das vordergründige Hauptargument für diese Annahme war, daß ein Jude pharisäischer Herkunft so über Christus nicht schreiben konnte. Noch dazu heißt es bei Origenes um 248 n. Chr. (Contra Celsum I 47), daß Josephus nicht an Christus glaubte. Der eigentliche Grund, warum man ab dem 19. Jh. den Text für eine Fälschung hielt, war jedoch ein anderer: Die meisten protestantischen Gelehrten der Zeit nach der Aufklärung zweifelten an der historischen Glaubwürdigkeit der Evangelien und viele stellten auch die historische Existenz Jesu in Frage. Da war es doch höchst unangenehm, das Zeugnis eines Nichtchristen wie des Josephus über Jesus zu haben. Man mußte daher alles versuchen, um dieses Zeugnis als eine Fälschung zu brandmarken. Katholische Theologen haben sich vielfach dieser Meinung angeschlossen, um dem Vorwurf der Rückständigkeit zu entgehen. Die Einfügung dieser Passage in den Text des Josephus bzw. eine christliche Bearbeitung dieses Textes müßte bereits während des 3. Jhs. n. Chr. vor sich gegangen sein, da sie Eusebius (Kirchengeschichte I 11,7f) bereits zitiert.

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Ist es nun tatsächlich möglich, daß es sich um Interpolation bzw. um eine christliche Bearbeitung des Josephustextes handelt? Diese Frage muß aus mehreren Gründen energisch verneint werden! Alle erhaltenen Handschriften des Josephus enthalten dieses Zeugnis; d. h. die Textgeschichte zeigt, daß die Passage von Josephus so geschrieben wurde, wie sie heute vorliegt. Diese Worte des Josephus »sind als Produkt eines christlichen Fälschers des III. Jh.s schlechterdings unmöglich. Wie stellt man sich das überhaupt vor? Es gab doch damals viele Josephusexemplare in Bibliotheken und Privatbesitz. Wie konnte jemand in diese 10 neue Zeilen hineinpraktizieren?«249 Ein christlicher Fälscher des 3. Jhs. hätte sein eigenes Exemplar des Josephus erweitern können, nicht jedoch alle Exemplare, die damals im Römischen Reich vorhanden waren. Sonst müßte man annehmen, daß alle Bibliothekare des Imperiums und die Besitzer von Privatbibliotheken in einer Konferenz zu dem Entschluß gelangt wären, diese Passage einzufügen, und das noch dazu in der vorkonstantinischen Zeit, als das Christentum verfolgt wurde. Daß es derartiges nicht gegeben haben kann, ist wohl einleuchtend. Die Textgeschichte des Josephus ist also selber der schlagende und nicht zu widerlegende Beweis, daß das Testimonium Flavianum authentisch ist. Eine Reihe weiterer Argumente kann die Echtheit des Textes unterstreichen. Menschen der hellenistisch-römischen Antike waren auf Grund ihrer religiösen Vorstellungen weit davon entfernt, in Gott den Einzigen, Unvergleichbaren und völlig anderen zu sehen. Die Menge der Götter war unzählbar (Maximus Tyrius XI 12) und Menschen konnten für Götter gehalten werden (Herodot, Historien I 65; Apg 14,12; 28,1–6;). In Petrons Roman Satyrica aus dem 1. Jh. n. Chr. heißt es 17,5: »Besonders unsere Gegend ist so voll von mächtigen Gewalten, daß man leichter einen Gott als einen Menschen finden kann.« Obwohl die Christen natürlich eine solche Gottesvorstellung nicht teilten, waren sie sprachlich von dieser lange beeinflußt.250 So schreibt Johannes Chrysostomus noch im 4. Jh. n. Chr. über den Propheten Elia: »Was ist dieser große und bewundernswerte Mensch, wenn man ihn überhaupt einen Menschen nennen darf [...].« (MPG 47,487,10). Der Konditionalsatz ist fast gleich dem Wort des Josephus. Die von Josephus gewählte Ausdrucksweise: »wenn man ihn überhaupt einen Menschen nennen darf« bezeichnet einfach nur das Außergewöhnliche eines Menschen und wurde daher von seinen Lesern angesichts der unzähligen Götter niemals in einem exklusiven Sinn verstanden. Exklusiv dagegen ist, daß Josephus Jesus als »hochbedeutenden Menschen« bezeichnet. Zu diesem exklusiven Kreis gehören Lykurgos, Abaris, Pythagoras, Äsop, Solon, Thales, Platon, Xenokrates, Aristoteles, Themistokles, Pindar und die Sieben Weisen.251 Obwohl es sich hier um einen sehr exklusiven Zirkel handelt, sind die Personen nicht homogen: Abaris gilt als Wundermann und Urheber von Zaubersprüchen, Pythagoras war eine zweifelhafte Figur, über den die Komödiendichter spotteten. Wenn Josephus also Jesus als einen hochbedeutenden

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Menschen betitelt und ihn gleichsam unter Gestalten wie Abaris und Pythagoras reiht, so vergibt er sich dabei nichts. Und wenn es weiter heißt: »Am dritten Tag erschien er ihnen wieder lebendig«, so drückt er mit »ihnen« klar aus, daß sie, die Christen, das behaupten, daß dies aber niemand glauben muß. Josephus schreibt ferner: »denn der bekannte Christus war dieser.« Die Verwendung des Artikels »der« zeigt, daß er bei seiner Leserschaft nicht »Christos« (der Gesalbte) als Übersetzung des Hebräischen »Messias« voraussetzt, sondern »Christos« als Personenname sieht, von dem sich der Name »Christianer« herleitet. Der jüdische Messianismus war für Josephus längst erledigt, da sich seiner Meinung nach die alttestamentliche Prophezeiung längst im römischen Kaiser Vespasian erfüllt hatte (JosBell VI 312ff). Jesus war für Josephus einer der vielen Messiasse, die dem Volk nur Unglück gebracht haben. Noch ärgerlicher war für ihn, daß die jüdische Sekte der Christen nicht nur wie die damaligen Juden noch immer einen Messias erwarteten, sondern daß die Christen behaupteten, daß dieser schon in Jesus gekommen ist. Weitere Belege, daß das Testimonium Flavianum immer zum Text des Josephus gehört hat, sind die syrischen und arabischen Übersetzungen des Josephus.252 Im 10. Jh. schrieb der melchitische Bischof Agapius von Hierapolis in arabischer Sprache eine Weltgeschichte (vgl. Agapius 1954), in der er das Testimonium mit folgendem Wortlaut zitiert: »[...] Zu dieser Zeit lebte ein weiser Mann, der Jesus genannt wurde. Sein Lebensweg war gut, und er war als gerecht bekannt. Viele Juden, aber auch Menschen aus anderen Nationen wurden seine Schüler. Pilatus verurteilte ihn zum Kreuz und zum Sterben. Aber diese, die seine Jünger geworden waren, ließen von ihrer Jüngerschaft nicht ab. Sie berichteten, daß er ihnen am dritten Tag nach seiner Kreuzigung erschien und daß er lebend war. Folglich war er vielleicht der Messias, über den die Propheten Wunder erzählt haben.«253 Hier handelt es sich um eine sehr freie Übersetzung und um eine Interpretation des Josephustextes durch Bischof Agapius für seine Leserschaft, vermutlich bereits eine muslimische Leserschaft.254 1924–1927 gaben A. Berendts und K. Graß eine deutsche Übersetzung des jüdischen Krieges von Josephus auf Grund von slavischen Übersetzungen heraus.255 Im slavischen Josephus findet sich eine relativ lange Passage über Jesus.256 Es scheint mir sehr unwahrscheinlich, daß diese Stelle, auch wenn sie nach den Herausgebern ausgezeichnet in das Gefüge der slavischen Übersetzung paßt, authentisch ist.257 Wäre diese so lange Textpassage schon am Anfang des 4. Jhs. bekannt gewesen, so hätte sie Eusebius zitiert. Ich vermute, daß diese Stelle im Hochmittelalter oder später bei der slavischen Übersetzung ein breites Interpretament wurde. Historischen Wert hat es nicht. In JosAnt XX 201f wird Jesus beiläufig von Josephus genannt. Er berichtet in diesem Zusammenhang, daß der Hohepriester Ananos (Hannas der Jüngere), Jakobus (Mk 6,3; Gal 1,19), »den Bruder Jesu, des sogenannten Christus« im Jahre 62 n.

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Chr. hinrichten ließ. Der Hohepriester nützte dabei die Zeit, als der Prokurator Festus abberufen wurde und sein Nachfolger Albinus noch nicht eingetroffen war, um das Todesurteil vollstrecken zu lassen. Dieses Vorgehen wurde aber von jüdischen Kreisen auf das schärfste verurteilt, da die Gerechtigkeit und Frömmigkeit des Herrenbruders Jakobus weithin bekannt war. Das Zeugnis des Josephus über Jesus ist historisch sehr wichtig. Ein nichtchristlicher, ein jüdisch-pharisäischer Historiker, der praktisch nur eine Generation nach Jesus lebte, bezeugt dessen historische Existenz, seine Wundertätigkeit – durchaus in einem gewissen Sinn würdigend –, und seinen Tod unter Pontius Pilatus. Josephus hält Jesus aber nicht für den Messias, geschweige denn für Gott, und schreibt über Jesu Auferstehung so, daß man nicht daran glauben muß. Was die Auswertung der rabbinischen Literatur in bezug auf Jesus betrifft, also primär des Jerusalemer und des Babylonischen Talmud, scheint zur Zeit die Frage unentschieden zu sein. Zwei überaus kompetente Judaisten kommen in ihren Untersuchungen zu völlig verschiedenen Ergebnissen. Während Johann Maier in einer höchst gelehrten Studie zu dem Schluß kommt, daß die rabbinische Literatur praktisch keine verläßlichen Notizen über Jesus enthält, vertritt Peter Schäfer in einer nicht minder gelehrten Studie eine völlig andere, gegenteilige Ansicht.258 Da ich kein Experte der rabbinischen Literatur bin, möchte ich mich zu den verschiedenen Darstellungen nicht äußern, sondern nur mit dem Altmeister der jüdischen Jesusforschung J. Klausner259 darauf hinweisen, daß die Tannaiten (jüdische Gelehrte vom 1. bis zum 2. Jh. n. Chr.) festhalten, daß Jesus am Vorabend von Pesach gehenkt (= gekreuzigt) wurde (vgl. Gal 3,13). Die Wundertätigkeit Jesu wird nicht geleugnet, sondern als Zauberei abgetan (Matth 9,34; 12,24). Alle anderen Aussagen haben keinen historischen Wert, sondern sind von der späteren Situation verständlich, als die Tannaiten in den Christen abtrünnige Juden sahen, die Jesus verführt hatte (bSanhedrin 43a). Die Fortsetzung dieser Talmudstelle (bTaanith 20a) nennt noch fünf Jünger Jesu, die bis auf Thoda (Thaddäus) mit den Namen der Apostel nichts zu tun haben. Alle anderen Belege über Jesus in der talmudischen Überlieferung scheinen über den historischen Jesus tatsächlich keinen Wert zu haben bzw. sind später erst auf Jesus hin interpretiert worden. Soweit ist die Argumentation J. Maiers sehr einleuchtend. J. Klausner260 schreibt meiner Meinung nach zu dieser Problematik sehr treffend: »Vor allem wurde Jesus von den Weisen Israels aus der ersten tannaitischen Generation nach der Zerstörung des Zweiten Tempels völlig als Jude betrachtet, und wenn er auch ‚als ein Frevler‘ an Israel angesehen wurde, so blieb er doch in jeder Beziehung ein Sohn Israels. Er wird auf eine höhere Stufe gestellt als die Propheten der Heiden, und selbst seinen Anteil an der kommenden Welt wagt ihm keiner zu bestreiten. Ja, noch mehr: er wird als einer der Schriftgelehrten und Tannaiten dargestellt, die die Schrift auslegen im Geist des haggaddischen Midrasch. Seine Auslegung

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des Micha-Verses vom Dirnenlohn gefiel sogar einem so ernsten und strengen Tannaiten wie Rabbi Elieser dem Großen. Was aber den Zorn der tannaitischen Autoritäten erregte und ihre strenge Verurteilung Jesu hervorrief, war seine Stellung zur Thora: während er einmal betonte, er sei gekommen, das Gesetz zu erfüllen, setzt er sich das andere Mal darüber hinweg und verspottet die Worte der Weisen. Deshalb versuchten sie die Verdienste, die [...] in den Evangelien [...] so gepriesen werden, in Fehler und sogar schwere Vergehen umzuwandeln. Sie zogen nie außer Zweifel, daß er Wunder vollbracht habe; aber sie hielten diese Taten für Zauberwerk; und aus dem Bericht von seiner Zeugung durch den Heiligen Geist wurde die Behauptung von seiner illegitimen Geburt.« Selbst wenn man auch die oben erwähnten Talmudstellen über Jesus als spätere Interpretamente wertete, so ändert dies nicht die Tatsache, daß die Tannaiten des 2. Jhs. n. Chr. sehr gut über das Christentum und Jesus von Nazareth als historischer Person informiert waren. Das älteste Zeugnis dafür ist der zwischen 150 und 155 n. Chr. von Justin dem Märtyrer, der aus Neapolis (heute Nablus in Palästina) stammte, niedergeschriebene »Dialog mit dem Juden Tryphon«. Die Gespräche dürften allerdings schon zwanzig Jahre früher stattgefunden haben.261 Die Schrift Justins ist natürlich keine protokollarische Aufzeichnung von Gesprächen, sondern eine Zusammenfassung solcher Dialoge, die Justin mit Juden geführt hat. Tryphon hat Justin gleichsam als Hauptrepräsentanten des damaligen gelehrten Judentums gewählt. Unter Tryphon ist niemand anderer zu verstehen als der tannaitische Gelehrte Rabbi Tarphon, der aus Palästina stammte und ein Zeitgenosse Justins war. »Tarphon« ist nur die hebräische Wiedergabe des griechischen Namens »Tryphon«.262 Es seien nun aus dem Dialog einige Beispiele ausgewählt, die zeigen können, wie genau Tryphon und mit ihm das gelehrte Judentum dieser Zeit über Jesus informiert waren: Tryphon antwortet Justin, nachdem dieser ihm seinen Lebensweg dargelegt hatte: »Einen Teil deiner Erklärungen nehme ich an, und ich freue mich an deinem Eifer für das Göttliche. Aber daß du dich an die Philosophie Platos angeschlossen hast [...] war immer noch besser, als daß du dich durch falsche Lehren (Christentum) täuschen läßt und nichtswürdigen Männern Folge leistest. [...] Wenn du nun mir Gehör schenken willst – als Freund sehe ich dich ja bereits – lasse dich vor allem beschneiden, sodann beobachte [...] überhaupt alles, was im Gesetz geschrieben steht! Dann wird dir Gott gewiß gnädig sein. Vorausgesetzt, daß Christus irgendwo geboren ist und irgendwo lebt, so ist er doch so lange nicht erkennbar [...] und hat solange keine Macht, bis Elias erscheint, ihn salbt und aller Welt kundmacht. Ihr habt eine törichte Lehre angenommen, macht euch selbst einen Christus und geht darum jetzt in eurem Leichtsinn zugrunde.« (Dialog 8,3f) »Dieser euer sogenannter Christus aber ist ohne Ehre und Herrlichkeit gewesen, so daß er sogar dem schlimmsten Fluch verfiel, den das Gesetz Gottes verhängt (Dtn 21,23): er ist nämlich gekreuzigt worden.« (Dialog 32,1).

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»[...] Es sei euch das zugegeben, was du sagst, daß nämlich ein leidensfähiger Christus prophezeit wurde [...] daß er nach seiner ersten Ankunft, bei welcher er gemäß der Verkündigung in leidensfähigem Zustand erscheint, in Herrlichkeit kommen wird, um alle zu richten, und daß er dann ewig König und Priester sein wird. Beweise jedoch, ob euer Jesus es ist, auf den diese Prophezeiungen gemacht wurden.« (Dialog 36,1). »[...] Mir scheint es nämlich eigentlich etwas widersinnig zu sein und überhaupt nicht bewiesen werden zu können. Die Behauptung, der genannte Christus sei als Gott von Ewigkeit, habe aber dann sich herabgelassen, Mensch zu werden und geboren zu werden, und er sei nicht Mensch von Menschen, scheint mir nicht nur unfaßbar, sondern geradezu töricht zu sein.« (Dialog 48,1). »[...] Dann sollst du beweisen, daß er (Christus) durch die Jungfrau geboren werden wollte.« (Dialog 50,1). Die Antwort Justins auf diese Frage hat Tryphon tief beeindruckt und er fragt weiter: »Mein Freund! Du hast viele starke Beweise für deine These. Es erübrigt sich nun der Nachweis, daß dieser Gott (Jesus Christus) es auf sich nahm, durch die Jungfrau gemäß dem Willen seines Vaters als Mensch geboren zu werden, sich kreuzigen zu lassen und zu sterben. Beweise aber auch, daß er sodann auferstanden ist und in den Himmel aufgefahren ist!« (Dialog 63,1). Diese wenigen Zitate mögen genügen, um zu zeigen, daß die frühen Rabbinen durchaus über Jesus von Nazareth, seinen Kreuzestod und über die Christen, die Jesus als den Messias (Christus) sahen und an dessen Geburt von einer Jungfrau, an seine Auferstehung von den Toten und Himmelfahrt glaubten, informiert waren. Die christliche Auffassung, daß Jesus keinen menschlichen Vater hatte und von der Jungfrau Maria geboren wurde, hat sowohl bei Heiden als auch bei Juden Unverständnis und Ärgernis hervorgerufen. So antwortet Tryphon dem Justin dazu folgendermaßen: »Übrigens ist in den Mythen der Griechen erzählt, daß Perseus von Danae, einer Jungfrau, geboren worden ist, nachdem Zeus sich auf sie in Gestalt von Gold herabgelassen hatte. Ihr solltet euch schämen, so etwas zu erzählen wie die Griechen. Besser wäre es, ihr würdet von diesem Jesus behaupten, daß er als Mensch von Menschen geboren wurde, und würdet, wenn ihr den Schriftbeweis für seine Messianität gebet, erklären, er sei wegen seines gesetzmäßigen und vollkommenen Lebenswandels zu Christus berufen worden.« (Dialog 67,2). Es ist eine sehr wohlwollende jüdische Antwort, die noch nichts von der Fama weiß, daß Jesus ein uneheliches Kind und sein Vater der römische Soldat Panthera gewesen sei. Der heidnische Philosoph Kelsos (spätes 2. Jh. n. Chr.), dessen Werk »Alethes Logos« (Wahre Lehre) nicht mehr erhalten ist und nur aus der Gegenschrift des christlichen Philosophen und Theologen Origenes »Contra Celsum« rekonstruiert werden kann, zitiert einen Juden, wonach die Mutter Jesu mit einem Zimmermann verlobt gewesen sei, er diese aber verstoßen habe, weil sie des Ehebruchs überführt worden sei und von einem Soldaten namens

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Panthera ein Kind geboren habe (Origenes, Contra Celsum I 32; vgl. auch I 28). Inwieweit diese Behauptung in die rabbinische Literatur aufgenommen wurde, ist umstritten.263 Unbestritten ist jedoch, daß die illegitime Geburt Jesu in der mittelalterlichen jüdischen Schrift »Toldoth Jeschu« (Geschichte Jesu)264 eine Rolle spielt. Historischen Wert hat dieses Buch nicht; es ist eine mittelalterliche Erfindung, in der der Haß der Juden auf die Christen, die diese seit Jahrhunderten verfolgten und entrechteten, ein literarisches Ventil fand. Ausgehend von einem talmudischen Bericht265 über ein uneheliches Kind – der Name Jesu wird hier allerdings nicht verwendet – und der Verwechslung des Pappos ben Jehuda mit dem neutestamentlichen Joseph, wird ausgeführt, daß Jesus aus einem ehebrecherischen Verhältnis zwischen Mirjam und dem römischen Soldaten Panthera (Pantheri, Panthori oder Pandera) stamme. Letztlich wurde hier also wieder das alte Gerücht aufgenommen, das schon Kelsos am Ende des 2. Jhs. n. Chr. verbreitet hat, indem er sich auf einen Juden beruft. Wie kann nun eine solche Jesus und seine Mutter diffamierende Fama entstanden sein, die sich auf keine historische Quelle berufen konnte? Es ließe sich vermuten, daß von Kelsos schlampig recherchiert oder vielleicht bewußt eine Lüge in die Welt gesetzt wurde, die er dann Juden als den Gegnern des Christentums untergeschoben hat. Indirekt trugen aber auch die Christen dazu bei, daß eine solche Lüge leicht in die Welt gesetzt werden konnte. Die für Heiden wie für Juden unfaßbare Geschichte von der Zeugung Jesu durch den Heiligen Geist (Matth 1,18–25; Luk 1,26–38) konnte leicht so mißdeutet werden, daß die Schwangerschaft Marias, die nicht von ihrem Verlobten herrührte, als Ehebruch gesehen wurde, den die Christen mit dem Schachzug, die Schwangerschaft komme vom Heiligen Geist, überspielt hätten. Die Christen prägten daher den Ausdruck: »Sohn der Jungfrau (Maria)«.266 Gegnern der Christen war es ein Leichtes, den Ausdruck in »Sohn der Pantherkatze«267 zu verkehren. Diese Verballhornung dürfte nicht aus jüdischen Kreisen gekommen sein, denn Justin und sein jüdischer Gesprächspartner wissen davon nichts und der jüdische Gesprächspartner akzeptiert sogar teilweise Justins These, daß Jesus von der Jungfrau Maria geboren wurde (vgl. oben: Dialog 63,1). Einige Jahrzehnte danach unterschiebt aber der heidnische Philosoph Kelsos einem Juden vermutlich die Aussage, daß Jesu Vater ein gewisser »Panthera« gewesen sein soll. Aus der ursprünglichen Verballhornung »Sohn der Pantherkatze« muß also in der Zwischenzeit »Sohn des Panthers«268 geworden sein. Der Nominativ des griechischen Nomens lautet »pa/nther«, lateinisch »panthera« Für die nun einmal in die Welt gesetzte Lüge war es unerheblich, daß sowohl das griechische als auch das lateinische Nomen kein Personenname ist. So erblickte der »römische Soldat Panthera« als Liebhaber Marias das Licht der Welt. Es gibt dafür kein historisches fundamentum in re.

Christliche Quellen – Evangelien

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Zusammenfassend kann gesagt werden, daß für die rabbinische Tradition des 1. und 2. Jhs. n. Chr. die historische Existenz Jesu, seine Wundertätigkeit und sein Sterben am Kreuz völlig selbstverständlich sind, jedoch die christliche Verkündigung über Jesus, wie seine Zeugung durch den Heiligen Geist aus der Jungfrau Maria, seine Auferstehung von den Toten u. a. abgelehnt werden. Die Ablehnung im offiziellen rabbinischen und vermutlich im Großteil des hellenistischen Judentums erfolgte aber nicht in gehässiger Polemik, sondern auf durchaus freundschaftliche Weise, wie der Dialog Justins mit dem Juden Tryphon, der für Justin sowohl als Vertreter des rabbinischen wie des hellenistischen Judentums steht, zeigen kann. Diffamierung und Spott über eine christliche Kernaussage, daß Jesus der Sohn der Jungfrau Maria ist, stammt ursprünglich am ehesten aus heidnischen Kreisen, die schließlich den römischen Soldaten Panthera als Vater Jesu erfanden. Erst in viel späterer Zeit wurde diese Lüge von Juden aufgegriffen und fand schließlich in der jüdischen Schrift »Toldot Jeschu« reichen Widerhall.

3. Christliche Quellen Bevor ich mich den vier kanonischen Evangelien zuwende, die die eigentlichen Quellen des Lebens Jesu sind, möchte ich kurz zwei Zeugnisse der altchristlichen Literatur ansprechen. Justin der Märtyrer schreibt in seiner ersten Apologie (35,7–9), die er zwischen 150 und 155 n. Chr. in Rom verfaßte und an Kaiser Antoninus Pius, seine Söhne und an den Römischen Senat richtete (vgl. Eusebius Kirchengeschichte II 13,2; IV 8,3): »Daß das so geschehen ist (Jesu Verurteilung und Kreuzigung), könnt ihr aus den unter Pontius Pilatus angefertigten Akten sehen.« Es wäre verwunderlich, daß eine in Rom geschriebene und an den Kaiser adressierte Schrift eine solche Behauptung aufstellt, wenn es nicht tatsächlich solche Akten gegeben hätte. Knapp 50 Jahre später erwähnt Tertullian (Apologeticum 5), daß es einen Bericht an Kaiser Tiberius aus Palästina gegeben habe (vgl. Eusebius, Kirchengeschichte II 2,1–6), daß der Kaiser daraufhin dem Senat sogar vorgeschlagen habe, Jesus zum Gott zu erklären etc. Es scheint mir, daß der erste Teil von Tertullians Aussage die des Justin bestätigt. Der zweite Teil, daß Tiberius dem Senat diesen Vorschlag unterbreitet habe, dürfte eine Legende sein. Es kann festgehalten werden, daß es plausibel ist, daß Pilatus einen Bericht über die Verurteilung Jesu nach Rom geschickt hat. Angesichts der Drohung, die die Ankläger Jesu gegen Pilatus vorbrachten, falls er Jesus nicht zum Tode verurteilte: »Wenn du ihn freiläßt, bist du kein Freund des Kaisers« (Joh 19,12), ist es sogar wahrscheinlich, daß Pilatus einen Bericht nach Rom zu seiner Rechtfertigung schickte, um einer möglichen jüdischen Beschwerde beim Kaiser gegen ihn zuvorzukommen. Was in dem Bericht stand, wissen wir aber nicht, da der Akt nicht erhalten ist.

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Die heute bekannten »Pilatusakten«269 sind eine apokryphe Schrift aus dem 4. Jh. n. Chr. und haben mit dem möglichen ursprünglichen Akt nichts zu tun. Sie sind die christliche Antwort auf die von Kaiser Maximin Daza 311/312 n. Chr. verbreiteten »Pilatusakten«, die eine Hetzschrift gegen die Christen waren: »Sie erdichteten Akten des Pilatus und unseres Erlösers, die voll von allerlei Lästerungen gegen Christus waren, und verbreiteten sie auf Wunsch des Regenten in seinem ganzen Reiche mit dem schriftlichen Befehle, sie überall, in Stadt und Land, allen bekanntzumachen. Die Lehrer sollten sie statt der Schulbücher benutzen und sie auswendig lernen lassen.« (Eusebius, Kirchengeschichte IX 5,1; vgl. I 9,3–4 und 11,9). Der christliche Schriftsteller Julius Afrikanus (gest. nach 240 n. Chr.)270 benutzte das um 52 n. Chr. verfaßte Werk, eine Geschichte Syriens vom trojanischen Krieg bis zu seiner Zeit, des kaiserlichen Chronographen Thallos271, das heute nicht mehr erhalten ist, scheint es aber abgelehnt zu haben, die von Thallos erwähnte Sonnenfinsternis vom 24. November 29 n. Chr. mit dem Tod Jesu in Verbindung zu bringen. Die wichtigsten christlichen Zeugnisse über Jesus von Nazareth sind die vier kanonischen Evangelien, denen wir uns nun zuwenden. Es geht in diesem Abschnitt nicht darum, den Inhalt der Evangelien darzulegen, sondern zu untersuchen, ob sie glaubwürdige Zeugen sind und authentisch über Jesus von Nazareth berichten. Zuvor ist es noch notwendig, der Frage der Kanonizität und der Bezeichnung »Evangelium« nachzugehen. Die ersten Christen kannten nur eine Heilige Schrift, das Alte Testament in seinen beiden Fassungen, der hebräisch-aramäischen und der griechischen, der Septuaginta. Als die Apostel und ihre Schüler begannen, Berichte über Jesus von Nazareth aufzuschreiben, dachten sie nicht daran, daß ihre Bücher einmal gleichrangig neben die Heilige Schrift Israels gestellt werden würden. Dennoch bargen ihre Schriften schon den Keim (Apg 4,11f; 1 Petr 1,20f) für diese Gleichstellung. Obwohl erst im 4. Jh. n. Chr. der Begriff »Kanon«272 die klar umrissene christliche Literatur bezeichnet (alle 27 Schriften des Neuen Testaments), die autoritativen und rechtsverbindlichen Charakter hat – so verwendet z. B. die Synode von Laodizäa um 360 n. Chr. den Begriff –, stammt die älteste Liste, das Muratorische Fragment, bereits vom Ende des 2. Jhs. n. Chr. Christliche Autoren des 2. Jhs. zitieren die Schriften des Neuen Testaments schon als quasi Heilige Schriften und für den großen christlichen Philosophen und Theologen Origenes ist es auf Grund der liturgischen Praxis der Kirche eine fast heilige Verpflichtung, in den ersten drei Kapiteln des IV. Buches seines Hauptwerkes »De principiis« (gegen 220 n. Chr.) die apostolischen Schriften der Heiligen Schrift Israels gleichzustellen und deren letzten Sinn in Christus zu deuten. Es ist immerhin noch eine sehr frühe Zeit, in der der »Kanon« des Neuen Testaments seinen endgültigen Umfang

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erhält. Nach Origenes gibt es »um den Bestand und die Bedeutung des Kanons [...] gewiß noch gelegentlich Diskussionen und kleine Meinungsverschiedenheiten [...]. Sein Begriff und Sinn, seine Einheit und sein wesentlicher Bestand, seine Inspiration und seine maßgebende Bedeutung für alles Glauben und Leben der Kirche stehen von nun an fest.«273 Als im Jahre 144 n. Chr. der Häretiker Markion in Rom mit der Kirche gebrochen und eine andere kirchliche Gemeinschaft gegründet hat, legte er auch die Heilige Schrift für diese fest. Er verwarf das gesamte Alte Testament, wählte aus den apostolischen Schriften nur das Lukasevangelium und zehn Paulusbriefe mit einigen Änderungen aus. Dieses Auswahlverfahren Markions ist insofern höchst interessant, weil es uns zeigt, daß bereits in der ersten Hälfte des 2. Jhs. die vier Evangelien und andere Bücher des Neuen Testaments wie die Paulusbriefe als Heilige Schrift gegolten haben. Die Unterscheidung, Altes Testament und Neues Testament, muß auch schon in der 1. Hälfte des 2. Jhs. n. Chr. getroffen worden sein; denn Melito von Sardes spricht Ende des Jahrhunderts bereits ganz selbstverständlich vom Alten Testament (Eusebius, Kirchengeschichte IV 26,13–14), ein namentlich nicht genannter Autor vom »Wort des Evangeliums des Neuen Bundes« (Eusebius, Kirchengeschichte V 16,3) und Clemens von Alexandrien nennt zur selben Zeit das Alte und das Neue Testament gleichsam in einem Atemzug (Stromateis II 29,2–3). Um ca. 300 n. Chr. faßt der erste Kirchenhistoriker Eusebius von Cäsarea (Kirchengeschichte III 25,1–7; VI 25,3–14) die bisherigen Ergebnisse gleichsam zusammen: Er unterscheidet vier Gruppen von Schriften: • Unumstrittene (die vier Evangelien, die Paulusbriefe ohne den Hebräerbrief, den ersten Petrus-, den ersten Johannesbrief und die Offenbarung des Johannes; diese mit Einschränkung). • Umstrittene (Hebräerbrief, den zweiten Petrus-, den zweiten und dritten Johannesbrief, den Jakobusbrief und den Judasbrief). • Illegitime/unechte (den Hirt des Hermas, die Offenbarung des Petrus u. a. sowie einschränkend die Offenbarung des Johannes). • Gefälscht/häretische (die Evangelien des Petrus, Thomas, Matthias u. a.).

Bezüglich der Offenbarung des Johannes gibt Eusebius die geteilte Meinung seiner Zeit wieder, daß sie manche völlig ablehnen, andere wieder zum Neuen Testament rechnen. Es lassen sich daher zwei Unterscheidungsmerkmale erkennen, mit denen die alte Kirche Bücher vom Neuen Testament ausschließt: wenn sie einen Apostel als Autor vortäuschen oder/und ihr Inhalt häretisch ist.274 Die beiden Merkmale waren leicht überprüfbar; denn die Lehre der Apostel wurde von Anfang an nicht nur schriftlich, sondern auch mündlich weitergegeben. Im orientalisch-hellenistischen Altertum der ersten drei Jahrhunderte lag

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das Schwergewicht auf der mündlichen Weitergabe und nicht auf Büchern, so notwendig und wichtig diese auch für die Verbreitung der Lehre waren. So sagt z. B. ein Zeuge der dritten christlichen Generation, Papias, Bischof des kleinasiatischen Hierapolis, um 110 n. Chr., daß es ihm wichtiger ist, sich auf das Wort derer zu verlassen, die Schüler der Apostel sind, als auf Bücher, und dies, obwohl er selbst ein mehrbändiges Werk über Jesu Worte geschrieben hat. Der Evangelist Lukas, der selber kein Augenzeuge war, weist in seinem Vorwort (Luk 1,1–3) auf die Wichtigkeit und den Vorrang der Überlieferung durch die Augenzeugen hin. Diese Überlieferung ist für ihn wichtiger als schriftliche Berichte, die es zu seiner Zeit schon gegeben hat. Auf Grund dieser ungebrochenen Überlieferung, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde, konnte man exakt beurteilen, was dem apostolischen Glauben widersprach und ob es sich bei einer Schrift um eine Fälschung handelte. Wenn heutzutage die Frage aufgeworfen wird, warum nur diese 27 Schriften in den neutestamentlichen Kanon aufgenommen worden sind, und nicht auch die anderen zahlreichen apokryphen Schriften, die im Laufe des 2. Jhs. n. Chr. gleichsam wie Pilze aus dem Boden geschossen sind, so ist die Antwort darauf klar und deutlich: Keine der 27 Schriften des Neuen Testaments widerspricht der apostolischen Überlieferung oder täuscht einen Apostel/Apostelschüler als Autor vor. Was die Autoritäten der Kirchen in den ersten drei Jahrhunderten durch ihr schriftliches Zeugnis festgehalten haben, wird indirekt durch die handschriftliche Überlieferung der neutestamentlichen Bücher bestätigt. Sobald z. B. mehrere Evangelien existierten, faßte man sie in einem Kodex zusammen;275 das gleiche läßt sich für die Paulusbriefe beobachten.276 Diese schon früh erfolgte und logische Zusammenführung ähnlicher Schriftgattungen übernahmen auch die großen Gesamthandschriften. Die älteste davon, der Kodex Sinaitikus aus der ersten Hälfte des 4. Jhs. n. Chr. enthält neben dem Alten Testament alle 27 Bücher des Neuen Testaments, nämlich die vier Evangelien, die Paulusbriefe mit dem Hebräerbrief, die Apostelgeschichte, die sieben Katholischen Briefe und die Offenbarung des Johannes. Daran schließen ab einer neuen Kolumne, gleichsam als Anhang, zwei altchristliche Werke an, der Barnabasbrief und der Hirt des Hermas. Die handschriftliche Überlieferung zeigt ferner seit frühester Zeit die Tendenz zur Abkürzung göttlicher und heiliger Namen. So wurde z. B. »GOTT« nicht ausgeschrieben, sondern auf den ersten und letzten Buchstaben zu »GT« verkürzt und überstrichen. Jeder, der damals ein Buch in die Hand nahm, konnte so erkennen, daß es sich um eine christliche Schrift handelt, da die profane Literatur oder auch jüdische Schriften ein solches Abkürzungssystem nicht verwendeten. Eine weitere Besonderheit sind die Überschriften der neutestamentlichen Bücher, die sich schon in den ältesten Handschriften in der Form finden, wie

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sie bis heute üblich sind. Alle vier Evangelien tragen die Überschriften: »Evangelium nach Matthäus« usw. Mit diesen eigentümlichen Überschriften wollte man besondere Akzente setzen. Die Präposition »nach« ersetzt dabei keineswegs den Genitiv, so daß man übersetzen könnte: »Evangelium des Matthäus«. Diese Überschriften sind in ihrer Beispiellosigkeit ein Hinweis auf ihre literarische und inhaltliche Einschätzung durch die Herausgeber. Die Überschriften sind gewissermaßen eine Stellungnahme zu der Frage der Eigenart und Authentizität des Berichteten. Konkrete Autoren wie Markus, Matthäus, Lukas und Johannes haben den Evangelien zwar die sprachliche Form gegeben, aber der Inhalt stammt nicht von ihnen, sondern ist das je spezifisch akzentuierte Erbe Jesu. Die Titel sind daher so zu übersetzen: »Das Evangelium, wie es uns Markus überliefert hat.« Bei den übrigen Schriften ist das anders. Da wird der Verfasser im Genitiv genannt, z. B. »Offenbarung des Johannes« Der Unterschied zu den Evangelien ist daher auffällig und wohl bewußt so gestaltet: Die verschriftete Botschaft von Jesus, die Evangelien, haben zwar menschliche Autoren, sind jedoch göttlichen Inhalts, die übrigen Schriften sind Interpretation dieser Botschaft. Durch Zufall allein dürfte es zu diesen Kennzeichnungen nicht gekommen sein (Zusammenfassung zu Gruppen, Abkürzung heiliger Namen, besondere Überschriften der Evangelien), obwohl es natürlich auch eine Forderung des Verstandes ist, ähnliche Schriften zusammenzustellen, ihnen Überschriften zu geben und durch Abkürzung der heiligen Namen erkenntlich zu machen. Da der Prozeß sehr früh, etwa nach 70 n. Chr. einsetzte, ist es eine sinngemäße Folgerung anzunehmen, daß eine planende Autorität noch aus der Zeit der Augenzeugen dahinterstehen könnte. Das kann zwar nicht strikt bewiesen werden, ist aber plausibel. Zu dieser Zeit lebte noch eine »Säule« der Jerusalemer Urgemeinde: der Apostel Johannes. Irenäus, Bischof von Lyon, berichtet um 180 n. Chr., daß Johannes das Evangelium in Ephesos »herausgegeben« (Irenäus von Lyon, Gegen die Häresien III 1,1), also nicht geschrieben hat. Irenäus beruft sich auf Bischof Polykarp von Smyrna, der ein Schüler des Apostels Johannes gewesen ist. Irenäus kannte in seinen Jugendjahren noch Bischof Polykarp. Das Johannesevangelium schließt mit Kapitel 20. Das 21. Kapitel dürfte der Apostel im Zuge dieser Herausgabe in Ephesos geschrieben haben. Dabei wurde nun nicht nur das Johannesevangelium veröffentlicht, sondern mit ihm auch die anderen Schriften der Apostel und ihrer Schüler. Der letzte Vers von Kapitel 21 deutet darauf hin: »Es ist aber auch anderes vieles, was Jesus getan hat. Wenn es aufgeschrieben werden sollte, eins nach dem andern, auch nicht, glaube ich, daß die Welt die geschrieben werdenden Bücher fasse.«277 Somit wäre dieser Satz auch der letzte des Neuen Testaments überhaupt. Der vor wenigen Jahren publizierte Papyrus Oxyrhynchus 4448 (P109)278 enthält auf der Vorderseite Joh 21,18–12 und auf der Rückseite Joh 21,23–25. Das Fragment

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wird um 150 n. Chr. datiert, kann aber nach Vergleichen mit anderen Handschriften bereits ab 100 n. Chr. datiert werden. Es handelt sich aber in jedem Fall um den ältesten Beleg, der den letzten Vers des Johannesevangeliums bezeugt. Im günstigsten Fall ist also dieses Fragment gerade eine knappe Generation von den Vorgängen in Ephesos entfernt und zeigt, wie früh dieser wahrscheinlich überhaupt letzte Vers des Neuen Testaments anzusetzen ist und daß er bereits mit großer Wahrscheinlichkeit eine Ausgabe aller Schriften voraussetzt, die auch heute zum Neuen Testament gehören. Das eben Gesagte bestätigt auch den Ausgangspunkt meiner Darlegung, daß durch die Abspaltung des Markion im Jahre 144 n. Chr. und aus seiner Auswahl der neutestamentlichen Schriften mit Sicherheit zu schließen ist, daß praktisch alle Schriften des Neuen Testaments spätestens bereits in der ersten Hälfte des 2. Jhs. n. Chr. in den bedeutenden Kirchen der damaligen Welt Geltung hatten, in denen Ägyptens (Papyrusfragment), Kleinasiens (der Apostel Johannes und sein Schülerkreis) und Italiens (Abspaltung des Markion). Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die Hypothese, eine solche Ausgabe des Neuen Testaments sei schon nach 70, vielleicht um 80 n. Chr., durch den Schülerkreis um den Apostel Johannes herausgegeben worden, die mit der späteren kanonischen Ausgabe identisch sei, keine schlechten Argumente für sich verbuchen kann. Durch die Autorität des Origenes und anderer Väter des 2. und 3. Jhs. fanden diese 27 Schriften immer deutlicher allgemeine Anerkennung. Eine Reihe von Textsammlungen aus vorkonstantinischer Zeit sind primäre Zeugen dieses Prozesses, der bereits mit Kodex Sinaitikus und Kodex Vatikanus aus der ersten Hälfte des 4. Jhs. n. Chr. seinen Abschluß erlangt hatte. Maßgeblich war für die Kirche des Altertums, daß die literarische Echtheit dieser Schriften durch die untrügliche Erinnerung und Überlieferung seit den Anfängen gesichert war; gleichsam unverfälschte, kostbare Edelsteine, auf eine Schnur gefädelt, bei der es nicht möglich war, Steine auszutauschen oder unechte hinzuzufügen.279 Das griechische Nomen »Evangelium« kommt im Singular im griechischen Alten Testament (Septuaginta) nicht vor, jedoch in der pluralischen Verwendung hat es in 2 Sam 4,10 die Bedeutung von »Freudenbotschaften«. Das entsprechende griechische Verbum, »die frohe Botschaft verkünden«, verwendet Deuterojesaja (Jes 52,7; 60,6; 61,1; vgl. Ps 96,2ff) öfter.280 Der neutestamentliche Begriff »Evangelium« wird daher von diesem alttestamentlichen Verständnis her geprägt sein. Die ersten Christen setzten aber auch das Evangelium, die endgültige Frohbotschaft von Jesus Christus, den vielen Frohbotschaften des Kaiserkultes entgegen.281 »Cäsar und Christus, der Kaiser auf dem Thron in Rom und der verachtete Rabbi am Kreuz in Palästina stehen

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sich gegenüber. Beide sind Evangelium für die Menschen, sie haben manches gemeinsam und doch sind es zwei verschiedene Welten.«282 Markus hat zuerst einen Bericht über Jesus geschrieben und beginnt diesen Bericht mit den Worten: »Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, Sohnes des Gottes.«283 (Mk 1,1). Es ist ein ungemein programmatischer Titel. Das griechische Nomen für »Anfang« meint u. a. einen Punkt, an dem etwas absolut Neues einsetzt. Dieses Neue schließt das Ende mit ein, d. h. es geht um ein endliches Geschehen, das aber aus dem Unendlichen hervorkommt. Und es erinnert an Gen 1,1, wo die griechische Übersetzung das gleiche Nomen verwendet: Wie mit der Weltschöpfung etwas absolut Neues einsetzte, so auch jetzt mit dem Evangelium (vgl. Kol 1,18, wo Christus als der Ursinn der gesamten Schöpfung bezeichnet wird). Jesus wird als »Sohn des Gottes« bezeichnet. Der Artikel muß hier stehen. Nur so konnte der Leser verstehen, daß es nicht um einen der tausenden Götter ging, sondern um den Einzigen und Wahren Gott. Mit »Evangelium« meint Markus natürlich noch nicht die Literaturgattung, sondern die Verkündigung der frohen Botschaft von Jesus, dem Messias, dem Gesalbten, aber es ist damit schon der Grundstein gelegt, daß »Evangelium« nun als eine neue Literaturgattung in der hellenistisch-römischen und hellenistischjüdischen Welt entsteht.284 In diesem Sinn sind die Evangelien mit den hellenistisch–römischen Biographien zu vergleichen, aber sie sind mehr als antike Biographien, die bisweilen oft nur Anekdotensammlungen über eine Person sind, es sind Biographien, die Elemente der antiken Geschichtsschreibung verwenden, die auch Märchenmotive enthalten und deren Erzählweise gleichsam eine Art Episodenstil ist. Aufs Ganze gesehen ist diese Art des Schreibens eher im jüdisch-hellenistischen Bereich beheimatet denn im profanen hellenistisch– römischen. Justin der Märtyrer hat die Evangelien als »Erinnerungen der Apostel« verstanden (Apologie 66,3; 67,3), vielleicht die bis heute treffendste literarische Bezeichnung.285 Werfen wir nun einen Blick auf die Textgeschichte der Evangelien, ihre Entstehung und ihre Autoren. Die griechische handschriftliche Überlieferung der vier Evangelien ist unglaublich reich. Es gibt tausende Handschriften, davon Dutzende, die aus vorkonstantinischer Zeit stammen, während die der profanen Literatur der Antike dagegen sehr spärlich ist und die Handschriften bis auf wenige Ausnahmen und Fragmente erst aus dem frühen Mittelalter bzw. dem Hochmittelalter stammen. Dazu kommt, daß die Evangelien schon im 2. Jh. n. Chr. in andere Sprachen übersetzt wurden, ins Lateinische, ins Syrische, ins Koptische. Von allen diesen Handschriften gibt es eine Vielzahl; vom Lateinischen für das gesamte Neue Testament allein über achttausend. Ferner gibt es tausende Zitate der Evangelien bei den griechischen und tausende bei den lateinischen Kirchenvätern, in den Werken

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des heiligen Augustinus allein fast 30.000 Zitate.286 Die Vergleiche der griechischen Handschriften haben z. B. gezeigt, daß keine Handschrift von der anderen abhängig ist, was bedingt, daß die erhalten gebliebenen Handschriften nur ein winziger Teil des gesamten Materials sind. Das kommt einerseits daher, daß die Texte der Evangelien häufig benutzt wurden und durch neue Handschriften ersetzt werden mußten, andererseits daher, daß während der Christenverfolgungen unter Kaiser Decius (249–251 n. Chr.), unter Kaiser Valerian (257–258 n. Chr.) und unter Kaiser Diokletian (303–311 n. Chr.) auch die Bücher der Christen zerstört wurden. Daß von den erhaltenen griechischen Handschriften keine der anderen gleich ist, liegt an der Kontamination; d. h. die damaligen Schreiber haben nicht einfach ein Exemplar abgeschrieben, sondern, während sie kopierten, andere Exemplare zu Rate gezogen und aus unterschiedlichen Lesearten die ausgewählt, die sie für die bessere hielten. Vor der Erfindung des Buchdrucks mußte man jedes Buch, das man erwerben wollte, entweder selbst abschreiben oder abschreiben lassen. Jeder Abschreiber macht aber beim Abschreiben Fehler oder falls der Text diktiert wird, passieren Hörfehler. Nicht jeder hat gleich gute Kenntnisse der Orthographie, so daß Rechtschreibfehler vorkommen. Manche gelehrte Kopisten kürzten den abzuschreibenden Text um Partikel, Präpositionen und Adverben, die sie überflüssig fanden, änderten die Tempora, um ihrer Meinung nach den Text zu verbessern, oder fügten – das in den seltensten Fällen – erklärende Wörter oder Wortgruppen ein. Die Müdigkeit ist der ärgste Feind einer Kopistentätigkeit, so daß das Auge abgleitet und sich bei einer bekannten Buchstabenkonstellation findet und der Kopist dort weiterschreibt. Dabei ist/sind aber z. B. eine oder mehrere Zeilen ausgefallen. Falls dieser Ausfall jedoch nicht sinnstörend war, ist er kaum aufgefallen. Solche Fehler gibt es in den Handschriften nicht nur des Neuen Testaments, sondern auch in denen der gesamten antiken Literatur zu Tausenden. Die Textkritik, eine der Königsdisziplinen der Bibelwissenschaft, bemüht sich, in exakter wissenschaftlicher Kleinarbeit, den originalen Text wiederherzustellen, indem jede unterschiedliche Leseart untersucht wird, ob sie dem Stil des Authors und seiner theologischen Vorstellung entspricht oder ob es sich um eine fehlerhafte Leseart handelt. Heute kann man sagen, daß der griechische Text der Evangelien zu mehr als 99 % so wiederhergestellt ist, wie er ursprünglich geschrieben wurde. Aber es wird noch Jahrzehnte der Forschungsarbeit bedürfen, um auf 99,9 % zu kommen. Um nun den Leser dieser Zeilen nicht zu verwirren und ihn glauben zu machen, daß es um kapitale Dinge gehe, sei auf den vorher zitierten Text Mk 1,1 hingewiesen, wo gesagt wurde, daß der Artikel »des« vor » Gottes« am ehesten die ursprüngliche Leseart sein muß, obwohl manche Handschriften den Artikel nicht aufweisen.

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Eine andere Königsdisziplin der Bibelwissenschaft ist die Textgeschichte, die die Verfolgung des Textes der griechischen handschriftlichen Überlieferung durch die Jahrhunderte leistet und zu dem exakten Ergebnis kommt, das keiner Hypothesen bedarf, daß die Evangelien so geschrieben wurden, wie sie bis heute vorliegen. Die in die Tausende gehenden kleinen Textunterschiede, deren Gründe oben angesprochen wurden, und die als Fehlleistungen etc. von Kopisten erklärbar sind und keinen Schluß auf mehrere Redaktionsstufen erlauben, in heutiger Sprache: die kein Hinweis auf verschiedene, unterschiedliche Auflagen der Evangelien sind, unterscheiden sich mitnichten von der handschriftlichen Überlieferung profaner antiker Texte. Welche Schlüsse sind nun daraus zu ziehen? Die Hypothesen der Form und Redaktionsgeschichte als Teil der sogenannten historisch-kritischen Methode der neutestamentlichen Bibelwissenschaft sind unbewiesene und unbeweisbare Annahmen, die, um es deutlich zu sagen, Schreibtischerfindungen des 19. und 20. Jhs. sind, späte und faule Früchte aus der Zeit der Aufklärung, um die historische Glaubwürdigkeit der Evangelien zu erschüttern. Nach Auffassung der Redaktions- und Formgeschichte sollen die Evangelien folgendermaßen entstanden sein: Das überlieferte Material über Jesus von Nazareth sei in den urchristlichen Gemeinden in Wechselwirkung zwischen den Überlieferungsträgern und den Adressaten geformt worden, d. h. es wurden Jesusgeschichten erweitert oder gar bedingt durch den großen Enthusiasmus der frühen Christen erfunden. Dieser Prozeß habe in verschiedenen und vielen christlichen Gemeinden stattgefunden, so daß schließlich die Gemeinden a bis x unterschiedliche Jesusgeschichten ihr Eigen nannten. Findige Köpfe, die man Redaktoren nennt, hätten dann aus diesem Material z. B. das Markusevangelium gestaltet. Da ein Redaktor eben nicht das Material aus allen Gemeinden kennen konnte, seien eben mehrere und sehr verschiedene Evangelien nach Markus in Umlauf gewesen. Man nimmt also an, daß die Evangelien letztlich aus einem Kollektiv entstanden wären. Wenn das wirklich zuträfe, dann müßten von den verschiedenen Markusevangelien oder anderen Evangelien ganz unterschiedliche Fassungen existieren. Solche unterschiedlichen Fassungen hätten aber ihre untilgbaren Spuren in der handschriftlichen Überlieferung hinterlassen und kein Mensch wäre imstande gewesen, diese Spuren von x Fassungen über eine im ganzen Römischen Imperium verbreitete handschriftliche Überlieferung zu vereinheitlichen. Der logische Schluß aus dieser Erkenntnis kann nur sein, daß die Evangelien literarische Produkte einzelner Schriftstellerpersönlichkeiten sind, deren Werke von frühester Zeit weg eine nach menschlichen Maßstäben genaueste Weiterverbreitung erfuhren. Der einmal verfaßte Text wurde immer wieder und x-fach abgeschrieben und verbreitet.287 Damit ist eine erste und entscheidende Erkenntnis gewonnen, die nicht auf einer Hypothese basiert, sondern auf der Tatsache der

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exakten Beobachtung der Überlieferung des Textes, die bei den neutestamentlichen Texten auf gleiche Weise vor sich gegangen ist wie die Überlieferung profaner Texte der griechischen und römischen Kultur, wobei es keinem Menschen je eingefallen ist, eine Redaktions- oder Formgeschichte anzunehmen. Wann sind nun die vier Evangelien entstanden? Jeder, der heute ein entsprechendes Handbuch aufschlägt, erhält die Information, daß das Markusevangelium um 70 n. Chr. oder kurz danach, das Matthäus- und Lukasevangelium etwa zwischen 80 und 90 n. Chr. und das Johannesevangelium um 100 n. Chr. entstanden seien. Diese Datierungen sind jedoch zu hinterfragen, weil die Argumente für diese Spätdatierung einer kritischen Prüfung nicht standhalten. Da die Textgeschichte eine Redaktions- und Formgeschichte der Evangelien ausschließt, ist von vornherein eine relativ lange Zeitspanne zwischen dem Tod Jesu und den ersten Verschriftungen seiner Botschaft zu verneinen. Das gängige »Argument«, daß die frühen Christen von dem unmittelbar bevorstehenden Kommen Christi überzeugt gewesen wären und daher schriftliche Aufzeichnungen in der ersten und zweiten Generation als überflüssig erachteten, ist hinfällig, da gerade die Qumranschriften gezeigt haben, daß apokalyptische Gruppen, die in der Naherwartung eines wie immer vorgestellten Endes dieser Welt leben, eine umfangreiche Literaturproduktion aufweisen.288 »Die Annahme, daß das Christentum sich, ausgehend von einem Irrtum, der jedem Leser der Evangelien offensichtlich gewesen wäre, nämlich der Erwartung der Wiederkunft Jesu in naher Zukunft, trotz der Enttäuschung dieser Erwartung über die ganze Welt verbreitet hätte, zeugt von einem großen Mangel an historischer Vorstellungskraft. Aber diese Annahme zeigt außerdem, daß die einschlägigen Zeugnisse nach der Epiphanie dieser Hypothese von der Naherwartung in der kleinen theologischen Welt nie wieder sorgfältig gelesen wurden: Es hat eine solche Naherwartung außer in den winzigen Zirkeln, in denen dergleichen heute noch im Schwange ist, nie gegeben. Die Naherwartung ist ein Phantasma.«289 Das zweite Werk des Lukas, die Apostelgeschichte, ist hinsichtlich der Datierung des ersten Werkes, des Evangeliums, und letztlich auch der Evangelien nach Markus und Matthäus der Schlüssel. • Lukas beendet die Apostelgeschichte mit der zweijährigen Gefangenschaft (erste Gefangenschaft) des Apostels Paulus in Rom, etwa 62 n. Chr. Paulus wurde vermutlich gar nicht der Prozeß gemacht, da seine jüdischen Ankläger aus Judäa nicht gekommen waren. Wäre Paulus schon damals hingerichtet worden oder während dieser Zeit gestorben, dann hätte es Lukas berichtet; denn es gehört zum integrierenden Bestandteil hellenistischer Geschichtsschreibung – und Apg ist Teil dieser Geschichtsschreibung – über einen wie auch immer gearteten Tod der Hauptperson in diesem Werk zu berichten. Zweifellos ist Paulus in diesem Werk die menschliche Hauptper-

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son, dessen Schicksal Lukas dem von Jesus nachzeichnet. Paulus mußte daher noch gelebt haben, als Lukas dieses Werk vollendet hatte. Paulus hat rund zwei Jahre später Ende 64/Anfang 65 n. Chr. während der neronischen Verfolgung das Martyrium erlitten. Davon berichtet Lukas nichts. Folglich war sein Werk im Jahre 62 n. Chr. abgeschlossen.290 Lukas sieht im Römischen Imperium und dem Kaiser die Garanten für das junge Christentum. Eine solche Stilisierung ist nach der neronischen Verfolgung undenkbar. Lukas geht es ferner um eine Rechtfertigung der christlichen Heidenmission gegenüber dem Judentum. Eine Entstehung der Apostelgeschichte lange nach 70 n. Chr. würde einem dann kaum mehr aktuellen Problem nicht diese Aufmerksamkeit schenken. In der Apostelgeschichte geht es um aktuelle Zeitgeschichte und nicht um die Darstellung historischer Ereignisse. Das deutsche Wort »Apostelgeschichte« könnte heute dazu verleiten, anzunehmen, es handle sich um Ereignisse der Vergangenheit. Die griechische Überschrift des Buches »Handlung/Taten/Werke der Apostel« gibt viel besser den Aspekt der Zeitgeschichte wieder. Die Apostelgeschichte enthält keinen wie immer gearteten Hinweis auf die Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahre 70 n. Chr. Im Gegenteil, die Verwendung der Gegenwartsformen des Verbums in 3,2.11 zeigt, daß der konkrete Tempel noch existiert, und die Anklage im Stephanusprozeß: »[...] denn wir haben ihn (Stephanus) sagen hören: Dieser Jesus, der Nazoräer, wird diesen Ort abbrechen [...] « (6,14) setzt den bestehenden Tempel voraus. Nach 70 n. Chr., wo jeder wußte, daß nicht Jesus, sonderen die Römer den Tempel zerstört haben, hätte der Historiker Lukas diese Stelle für den Leser kommentiert. Lukas berichtet den Märtyrertod des Stephanus (ca. 31 n. Chr.) und des Zebedäen Jakobus, des Bruders des Apostels Johannes im Jahre 42 n. Chr., aber nicht mehr die Hinrichtung des Herrenbruders Jakobus (JosAnt XX 200) im Jahre 62 n. Chr.

Aus all dem folgt, daß Apg vor dem Jahre 62 n. Chr. bzw. vor dem Martyrium des Herrenbruders Jakobus von Lukas vollendet worden ist. Da das Evangelium Lukas‘ erstes Werk ist (vgl. Apg 1,1–3), muß es also davor geschrieben worden sein. Schon die großen Autoren des 2. und frühen 3. Jhs. n. Chr. von Lyon über Rom und Ägypten bis Palästina bezeugen, daß Lukas ein Zeitgenosse des Apostels Paulus und Autor des Evangeliums war: Irenäus von Lyon (Gegen die Häresien III 1,1), Tertullian (Gegen Markion 4,5), Clemens von Alexandrien (Stromateis 1,21,145; 5,12), Origenes (Eusebius, Kirchengeschichte VI 25,6), ferner der Kanon Muratori (gegen 200 n. Chr.) und der Antimarkionitische Prolog des Evangeliums (Ende 2. Jh. n. Chr. oder früher). Wenn ein Großteil der neutestamentlichen Forschung der letzten 200 Jahre diesem einwandfreien

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und unmißverständlichen Zeugnis widersprochen hat und bis heute widerspricht, so liegt es an ihr, die Gegenbeweise vorzulegen. Ich sehe sie bis heute nicht, denn das »Argument«, daß Lukas als Arzt an seiner Fachterminologie erkennbar sein müsse, zeigt nur Unkenntnis. Es war damals geradezu für einen Autor verboten, Fachausdrücke zu verwenden, wenn er kein spezifisches Fachbuch schrieb. Es ist geradezu unsinnig zu sagen, ein Begleiter und Schüler des Apostels Paulus wie Lukas habe die Grundpfeiler der paulinischen Theologie nicht gekannt. Man muß nur Apg 9,3–6; 13,38f; 13,29; 14,16f; 18,9; 22,7–10; 20,28 und 23,11 genau lesen, um zu erkennen, daß Lukas die paulinische Rechtfertigungslehre und Kreuzestheologie sowie die paulinische Lehre, daß sich Gott auch den heidnischen Völkern seit Anbeginn durch die Schöpfung bezeugt hat, kennt.291 Es gibt auch keine Diskrepanzen zwischen Gal 1–2 und Apg 15,4–29, wenn man sie nicht künstlich schafft.292 Für eine Entstehungszeit des Lukasevangeliums erst weit nach 70 n. Chr. wird als wichtiges Argument 19,41–44 und 21,20–24 herangezogen und gesagt, daß es sich um vaticinia ex eventu handle, also um Prophezeiungen, die Jesus nachträglich in den Mund gelegt worden seien. Der Historiker A. Mittelstaedt293 hat zuletzt in einer Untersuchung gezeigt, daß diese Annahme falsch ist. Sowohl die ältesten Zeugnisse der Kirche als auch die Apostelgeschichte im Vergleich mit den Paulusbriefen sprechen dafür, daß Lukas, der Arzt und der zeitweilige Begleiter des Apostels Paulus (etwa seit 50/51 n. Chr.) der Autor des Evangeliums ist. Er zeigt sich in seinen Werken als ein genau arbeitender Historiker, der, wie er im Vorwort schreibt (Luk 1,1–4), die Augenzeugen des Geschehens akribisch befragt und nach guter Sitte der hellenistischen Geschichtsschreibung darauf verzichtet hat, bereits Geschriebenes als Quelle zu verwenden, da er über zeitgenössische Ereignisse schreibt, für die eben Augenzeugen zu befragen sind. Seine Sprache ist ein elegantes zeitgenössisches Griechisch, das er dann besonders entfaltet, wenn es seine Quellen zulassen. In seinem Vorwort (Luk 1,1–4) zeigt Lukas auch, daß er die hohe Sprache der Klassik beherrscht. Wann genau Lukas das Evangelium verfaßt hat, wissen wir nicht. Es war jedenfalls vor der Apostelgeschichte, also vor 62 n. Chr. Es mögen aber dafür die letzten Jahre des vorausgehenden Jahrzehnts am ehesten in Frage kommen. Das Markusevangelium ist aller Wahrscheinlichkeit nach das älteste. Bischof Papias von Hierapolis in Kleinasien bezeugt bereits um 110 n. Chr. oder vielleicht sogar noch ein paar Jahre früher, daß dieses Evangelium von Markus, der als Dolmetscher und Sekretär des Apostels Petrus in Rom fungierte, die Predigten und Lehrvorträge des Apostels auf Bitten der römischen Gemeinde niedergeschrieben hat (Eusebius, Kirchengeschichte III 39,15–17). Papias hatte diese Information von den Presbytern Aristion oder/und Johannes, die Jünger Jesu waren, was man wörtlich verstehen kann, da Jesus ja nicht nur die zwölf Apostel als

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seine Schüler und Anhänger hatte, sondern auch andere Jünger. Es könnte aber auch gemeint sein, daß diese beiden Schüler der Apostel waren, die aus Judäa oder Galiläa stammten. Gerade weil dieses frühe Zeugnis des Papias so klar und eindeutig ist, versuchte man es dadurch zu untergraben, daß man sagte, Papias sei höchst unzuverlässig gewesen, weshalb ihn Eusebius einen »Schwachkopf«294 nennt. Eusebius kritisiert Papias, aber nicht wegen seines Zeugnisses über das Markusevangelium, sondern wegen des Chiliasmus, also wegen seiner Vorstellung vom Tausendjährigen Reich. Diese berechtigte Kritik des Rationalisten Eusebius in dieser Sache zeigt ja gerade, wie vertrauenswürdig er das Zeugnis des Papias über Markus hält. Auch andere frühe Kirchenschriftsteller wie Clemens von Alexandrien, Origenes (Eusebius, Kirchengeschichte II 15,1–2; VI 14,6; 25,6) und Irenäus von Lyon (Gegen die Häresien II 1,1) bezeugen, daß Markus das Evangelium in Rom verfaßt hat und daß die Quelle des Markus der Apostel Petrus gewesen ist. Bei welchem Romaufenthalt wurde das Evangelium von Markus geschrieben? Nach dem Märtyrertod des Zebedäen Jakobus im Jahre 42 n. Chr. wurde auch Petrus in Jerusalem verhaftet, konnte jedoch auf wunderbare Weise aus dem Gefängnis befreit werden, flüchtete in das Haus der Maria, der Mutter des Johannes Markus und verließ danach Jerusalem (Apg 12,1–17). Die apokryphen Petrusakten enthalten in Kapitel 5 die Notiz, daß sich Petrus 12 Jahre nach Jesu Tod, also im Jahr 42 n. Chr., nach Rom begeben hat. Unter Berufung auf Apollonius schreibt auch Eusebius (Kirchengeschichte V 18.14), daß Jesus befohlen habe, sie sollten Jerusalem zwölf Jahre nicht verlassen. In der Schrift »Kerygma Petri«, Fragment 8, das Clemens von Alexandrien zitiert (Stromateis VI 5,43. 48) heißt es, daß Jesus die Apostel aufgefordert habe, nach zwölf Jahren in die Welt zu gehen, um die Botschaft zu verkünden. Es ist plausibel, daß Markus Petrus begleitete, um u. a. Dolmetscherdienste zu leisten. Im Jahre 44/45 n. Chr. sind Petrus und Markus wieder in Jerusalem (Apg 12,25; Gal 2,9), da nach dem plötzlichen Tod König Agrippas I. im Jahre 44 n. Chr. (Apg 12,19b–23) die Gefahr einer neuerlichen Verhaftung des Apostels oder gar seiner Hinrichtung gebannt war. Es ist sicher – wir kommen später noch darauf zurück –, daß Markus gegen Ende dieses Romaufenthaltes, also 44 n. Chr., das Evangelium in Rom verfaßt hat.295 Markus ist ein blendender Erzähler. Sein Stil ist gekennzeichnet durch lebhaften Tempuswechsel und den treffenden Einsatz des erzählenden Präsens, wie er bei den großen klassischen griechischen Schriftstellern anzutreffen ist, und die Anschlüsse ohne Verbindungswort folgen den klassischen Regeln.296 Weder der Evangelist Lukas, geschweige denn der Evangelist Matthäus, erreichen die Lebendigkeit seiner Darstellung. Einwände gegen die frühe Datierung des Evangeliums, daß gerade die Tendenz zur Missionierung der Heidenvölker eine solche ausschließe und das 13.

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Kapitel, – es wird uns später noch beschäftigen –, Prophezeiungen enthalte, die Jesus erst nachträglich in den Mund gelegt worden seien, entbehren jeder rationalen Grundlage.297 Auch über das Matthäusevangelium schreibt bereits Papias von Hierapolis um 110 n. Chr. oder noch früher, daß der Apostel nach hebräischer Denkart Jesusworte und Jesuserzählungen aufgeschrieben hat (Eusebius, Kirchengeschichte III 39,16; vgl. auch Irenäus von Lyon, Gegen die Häresien III 1,1). Matthäus schrieb sein Evangelium zwar nach hebräischer Denkart (viele Genitiv-Verbindungen, Parallelismen, rhythmische Worte u. a.), aber in griechischer Sprache. Er ist jedoch nur ein sehr mittelmäßiger Erzähler, dessen Sprache gegenüber der des Markus farblos ist.298 Die Einwände, daß der Apostel Matthäus nicht der Verfasser sein könne, gleichen z. T. einer Groteske, so, wenn behauptet wurde, daß zwei semitische Namen (Matthäus und Levi) bei einer Person nicht möglich seien. Man hätte nur die Einleitung des Römerbriefkommentars von Origenes kennen müssen, der zahlreiche semitische Doppelnamen auflistet.299 Ein anderer Einwand resultiert aus der Hypothese, daß Matthäus und Lukas den Text des Markus als literarische Vorlage verwendet hätten (erster Teil der Zwei-Quellen-Hypothese) und somit Matthäus-Levi seine eigene Berufungsgeschichte (Matth 9,9–13) von Markus (Mk 2,13–17) übernommen hätte, was doch Matthäus als Verfasser ausschlösse. Diese Hypothese kann nun als Holzweg zurückgewiesen werden.300 Noch »eigenartiger« ist das Hauptargument gegen eine Datierung des Evangeliums vor 70 n. Chr., nämlich der Schluß des Gleichnisses vom Hochzeitsmahl: »Aber der König wurde zornig und schickte seine Heere, brachte jene Mörder um und zündete ihre Stadt an.« (Matth 22,7) Dieser Satz sei Jesus nachträglich in den Mund gelegt worden und beziehe sich auf die Einnahme Jerusalems durch die römischen Truppen. Jerusalem wurde nicht angezündet, sondern schrittweise durch die Legionen erobert.301 Aber aus Jeremia 52,13 über die Zerstörung Jerusalems im Jahre 587/86 v. Chr. konnte Jesus schöpfen: »Und er verbrannte das Haus des Herrn und den Palast des Königs und alle Häuser der Stadt. Und jedes große Haus verbrannte er mit Feuer.« Es handelt sich daher um eine aus dem Alten Testament inspirierte Warnung, daß es der gegenwärtigen Generation, die sich der Botschaft Jesu widersetzt, ähnlich ergehen wird wie der früheren. Wollte man darin eine Anspielung auf ein konkretes historisches Ereignis sehen, was bei einer Parabel immer problematisch ist, dann ließe sich auf das Martyrium des Stephanus oder des Zebedäen Jakobus im Jahre 42 n. Chr. hinweisen als der ermordeten Diener. Das Evangelium enthält keinen wie immer gearteten Hinweis auf die Zerstörung Jerusalems und des Heiligtums im Jahre 70 n. Chr. Wann genau es geschrieben wurde, ist schwer zu entscheiden. Wenn man bei der gut begründeten Annahme bleibt, daß das Markusevangelium zuerst,302 also im Jahre 44 n. Chr.

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geschrieben wurde, dann verbliebe die Zeit zwischen 44 und 70 n. Chr. Aber es ist nicht auszuschließen, daß es schon nach 42 n. Chr. vom Apostel verfaßt wurde. Mir erscheint die Zeit zwischen 50 und 60 n. Chr. plausibel zu sein. Fassen wir kurz zusammen: Das Markusevangelium ist im Jahre 44 n. Chr. in Rom von dem Jerusalemer Johannes Markus, dem Vetter des Barnabas, das Matthäusevangelium vom Apostel Matthäus, dem ehemaligen Zöllner, am ehesten zwischen 50 und 60 n. Chr. und das Lukasevangelium von dem zeitweiligen Paulusmitarbeiter und -begleiter, dem Arzt Lukas, ebenfalls zwischen 50 und 60 n. Chr. geschrieben worden. Sowohl die Datierung als auch die Namen der Autoren entsprechen dem, was die ältesten Autoritäten der Kirchen von Gallien über Italien, Ägypten, Palästina bis Kleinasien zu berichten wissen. Wenn nun diese drei Evangelien so früh entstanden sind, stellt sich für manchen Leser vielleicht die Frage, warum sie der Apostel Paulus in seinen Briefen nie nennt? Die Frage ist relativ einfach zu beantworten. Da Johannes Markus den Völkerapostel auf seiner ersten Missionsreise in den Jahren 45–48 n. Chr. (Apg 12,24) bis Pamphylien (Apg 15,38) begleitete und es auch in späterer Zeit Kontakte gab, ist anzunehmen, daß er die Schrift des Markus gekannt hat. Da auch der Arzt Lukas zeitweiliger Begleiter des Apostels Paulus war, ist ebenso anzunehmen, daß ihm das Evangelium nach Lukas bekannt war. Für Paulus war der Inhalt dieser beiden Schriften ein selbstverständliches Wissen, um das er durch viele Zeugen, darunter natürlich auch Augenzeugen, weit ausführlicher informiert war. Und es sollte nicht vergessen werden, daß zu dieser frühen Zeit weder Paulus noch andere daran dachten, daß diese Schriften einmal Teil des Neuen Testaments sein werden. Um es salopp zu sagen: Paulus war auf diese Schriften seiner Mitarbeiter nicht angewiesen, weil er über Jesus viel mehr wußte. So kann er auch sagen: »Ich lebe, doch nicht ich, sondern Christus lebt in mir [...]. « (Gal 2,20). Die Sicht der frühen Kirche läßt sich schematisch so darstellen: Das Christusereignis als Primärquelle ↓ ↓ Petrus ↓ Markus

↓ ↓ ↓ ↓ ↓ ↓ Matthäus (selbst Quelle)

↓ ↓ ↓ ↓ ↓ ↓ ↓ ↓ ↓ ↓ ↓ ↓ ↓ ↓ ↓ ↓ ↓ ↓ Lukas (Augenzeugen, Zahl unbekannt)

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Es versteht sich von selbst, daß Markus neben seiner Hauptquelle Petrus auch andere Augenzeugen kannte und sein Wissen auch von ihnen bezogen hat. Ähnlich ist es bei Matthäus, der erst seit seiner Berufung als Augenzeuge gelten kann, jedoch von anderen Augenzeugen genug Informationen hatte. Lukas schreibt selber im Vorwort, daß Augenzeugen und Diener des Wortes seine Quellen gewesen waren.303 Es stellt sich nun die Frage, ob die Berichte der vielen, anonymen Augenzeugen noch konturenhaft in den drei Evangelien erkennbar sind. Jeder, der diese Evangelien liest, wird schnell erkennen, daß auf weite Strecken ihre Berichte sehr ähnlich sind. Man spricht deswegen auch seit etwa 170 Jahren von den »synoptischen Evangelien«.304 Seit rund 200 Jahren ist die neutestamentliche Forschung bemüht, eine Lösung für die synoptische Frage zu finden. Im deutschsprachigen Raum ist die »Zwei-Quellen-Hypothese« am meisten verbreitet. Sie besagt, daß Matthäus und Lukas zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten das Markusevangelium als literarische Vorlage verwendet und daß Matthäus und Lukas für den nur ihnen gemeinsamen Stoff eine sogenannte Quelle »Q« benutzt hätten. Diese Hypothese nahm ihren Ausgang von einem lateinisch geschriebenen Aufsatz des Berliner Altphilologen Karl Lachmann (1835), wobei dieser aber gründlich mißverstanden wurde. Lachmann versuchte nur nachzuweisen, daß die Abfolge der Erzählungen in den drei synoptischen Evangelien auf eine gemeinsame vorsynoptische Tradition schließen lasse. Es ist für ihn offensichtlich, daß Matthäus und Lukas kein Exemplar des Markusevangeliums zum Nachahmen verwendet haben.305 In Umkehrung dieses eindeutigen Ergebnisses wurde dann die Behauptung in die Welt gesetzt, daß Matthäus und Lukas das Markusevangelium als literarische Vorlage verwendet hätten. Die in die Hunderte gehenden Übereinstimmungen zwischen Matthäus und Lukas gegen Markus, also die entscheidenden Einwände gegen diese Annahme der literarischen Abhängigkeit, wurden nur oberflächlich gestreift. H. J. Holtzmann versuchte 1890 dieses Problem dadurch zu lösen, daß er behauptete, Matthäus und Lukas hätten nicht den heute bekannten Markustext benutzt, sondern einen sogenannten Urmarkus. Es wurde also eine weitere Hypothese in die Welt gesetzt, um die erste, unbewiesene, zu stützten. Wie wir aus der Textgeschichte wissen, hat es nie einen sogenannten Urmarkus gegeben, sondern immer nur den bis heute bekannten Markustext; folglich ist diese weitere Hypothese wie die erste unbewiesen und daher aufzugeben. Gegen die Zwei-Quellen-Hypothese sprechen nicht nur die zahlreichen Übereinstimmungen von Matthäus und Lukas gegen Markus, und zwar positiver wie negativer Art – Matthäus und Lukas hätten sehr viele »Redaktionssitzungen« abhalten müssen, um ihr Vorgehen gegen den Markustext zu koordinieren –, son-

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dern auch zahlreiche andere Gründe, dessen wichtigster kurz genannt sei: Wenn Markus die literarische Vorlage von Matthäus und Lukas gewesen wäre, dann hätten beide das Kunststück fertig gebracht, die nahezu immer weit glänzendere literarische Fassung des Markus nicht nur in ihrer Qualität zu verkennen, sondern sogar in eine weit schwächere Fassung umzuschreiben. Schon die Tatsache der großen literarischen Überlegenheit des Markus widerlegt die Zwei-QuellenHypothese. Auch der zweite Teil dieser Hypothese, die Quelle »Q«, die Matthäus und Lukas verwendet hätten, ist ein Phantasma. Natürlich hat es Quellen der Synoptiker gegeben, aber diese auf eine, wenn auch in mehreren Rezensionen, zu beschränken, ist etwas zu einfach. Ein besonderer Schildbürgerstreich moderner neutestamentlicher Forschung ist die wortwörtliche Rekonstruktion der Quelle »Q« aus Matthäus und Lukas.306 Es ist nicht möglich, auf wissenschaftlich angemessene Weise aus zwei oder mehr Texten ad verbum ihre Quelle zu rekonstruieren. Das Ergebnis kann immer nur der kleinste gemeinsame Nenner dieser Texte sein, aber nicht die Quelle.307 Der Berliner Altphilologe Ulrich Victor und ich haben in einer umfangreichen Studie (2010) sechsundsiebzig synoptische Einheiten der Dreifachüberlieferung (Matth, Mk, Luk), 228 Perikopen, und 41 Einheiten der Zweifachüberlieferung (Matth, Luk), 82 Perikopen, mit einer vergleichenden philologischen Methode, die bisher nie angewendet worden war, untersucht. Es ließen sich neun Quellen für Markus, zehn Quellen für Matthäus und neun Quellen für Lukas nachweisen, Quellen, die schemenhaft aus dem heutigen Text erkennbar sind. Diese Quellen sind einander sehr ähnlich bis sehr unterschiedlich. An keiner Stelle des synoptischen Stoffes ließ sich einer der Synoptiker als literarische Vorlage der beiden anderen erweisen. Bei diesem Ergebnis handelt es sich um keine Hypothese, sondern um genau nachprüfbare philologische Schlüsse. Die synoptischen Evangelien sind daher Parallelerscheinungen, die unabhängig voneinander zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten geschrieben wurden. Sie basieren auf den am ehesten nur mündlichen Berichten von vielen Augenzeugen bzw. sind teils selbst Berichte von Augenzeugen. Damit rückt ein bisher unbekanntes Faktum ins Licht. Drei voneinander unabhängige Evangelien berichten, ohne sich an irgendeinem wesentlichen Punkt zu widersprechen, von den gleichen Ereignissen.308 Aus dieser Freiheit von Widersprüchen ist nur zu schließen, daß schon ihre Quellen von Widersprüchen frei waren, und diese Freiheit von Widersprüchen schon in ihren Quellen kann nicht das Ergebnis irgendeiner Sprachregelung sein. Dazu wiederum sind die Synoptiker zu unterschiedlich. Sie weisen jenes Maß an Unterschieden auf, das ein Historiker in seinen Quellen erwarten muß.309 Der Kronzeuge für den Verfasser des Johannesevangeliums ist Irenäus von Lyon: »Schließlich veröffentlichte Johannes, der Jünger des Herrn, der auch an seiner Brust

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lag, ebenfalls das Evangelium, als er sich in Ephesos in Asien aufhielt.« (Gegen die Häresien III 1,1) Der Text hält drei Fakten fest: Es handelt sich um den Apostel Johannes (»der auch an seiner Brust lag« [Joh 13,23]). Das Evangelium wurde von Johannes »veröffentlicht«310, nicht verfaßt, und zwar in Ephesos. Geschrieben mußte daher das Evangelium von Johannes schon früher geworden sein. Irenäus nennt dabei keine Quelle, weil er selbst diese Quelle ist. Irenäus stammte aus Kleinasien und hat in seinen Jugendjahren noch Bischof Polykarp von Smyrna (gest. 156 n. Chr.) gekannt, der ein Schüler des Apostels Johannes war. »Auch Polykarp wurde von den Aposteln nicht nur unterrichtet und hatte nicht nur mit vielen Umgang, die den Herrn noch gesehen hatten, sondern er ist auch von den Aposteln in der Kirche von Smyrna als Bischof für Asien eingesetzt worden. Ich habe ihn sogar selbst in meiner Jugend gesehen. [...] Es gibt auch noch welche, die gehört haben, daß er von Johannes, dem Jünger des Herrn erzählte [...].« (Gegen die Häresien III 3,4). Als sich Irenäus‘ Freund Florinus vom Glauben abgewendet und gnostischen Lehren zugewendet hatte, schreibt Irenäus an ihn: »Auch die vor uns lebenden Presbyter, die noch mit den Aposteln verkehrten, haben dir diese Lehren nicht überliefert; denn als ich noch ein Kind war, sah ich dich im unteren Asien bei Polykarp [...] Ich kann mich nämlich viel besser an die damalige Zeit erinnern als an das, was erst vor kurzem geschah; denn was man in der Jugend erfährt, wächst mit der Seele und bleibt mit ihr vereint. Daher kann ich auch noch den Ort sehen, wo der selige Polykarp saß, wenn er sprach [...] seine Erzählungen über das Zusammensein mit Johannes und anderen Personen, welche den Herrn noch gesehen [...].« (Eusebius, Kirchengeschichte V 20,4–7). Diese Zeugnisse sind so klar und einwandfrei, daß sie jeder objektiv denkende Althistoriker akzeptieren kann. Alle Herumdeutelei,311 daß sich Irenäus von Lyon irre, entspringt nur dem Bedürfnis, daß es nicht so gewesen sein darf, weil das Evangelium nicht von Apostel Johannes geschrieben sein könne. Es ist dem großen französischen Exegeten A. Feuillet zuzustimmen: »Man darf also mit guten Gründen annehmen, daß Irenäus seine Kenntnis über die Abfassung des vierten Evangeliums im wesentlichen einem Mann verdankte, der Johannes noch kannte.«312 Irenäus identifiziert oben den Apostel Johannes mit dem Lieblingsjünger Jesu. Es ist unschwer zu erraten, woher er diese Kenntnis hatte, wohl auch von Polykarp oder einem anderen aus dessen Kreis, der um den Apostel Johannes Bescheid wußte. Das Johannesevangelium gibt sich nun selbst als Werk des Lieblingsjüngers aus (Joh 21,24). Über die Brücke der Tradition, die Irenäus wiedergibt, kann daher mit völliger wissenschaftlicher Sicherheit gesagt werden, daß der Apostel Johannes Autor des Evangeliums ist. Irenäus sagt, daß der Apostel das Evangelium in Ephesos veröffentlichte, geschrieben mußte er es schon früher und an einem anderen Ort haben. Die urchristliche Gemeinde von Jerusalem, zu der der Apostel Johannes als »Säule«

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(Gal 2,1–10) gehörte, verließ mit ihrem Bischof Symeon, einem Verwandten Jesu, der als Nachfolger für den hingerichteten Herrenbruder Jakobus gewählt wurde (Eusebius, Kirchengeschichte III 11) bei Ausbruch des ersten jüdischen Aufstandes gegen Rom im Jahre 66 n. Chr. Jerusalem und ließ sich im ostjordanischen Pella nieder (Eusebius, Kirchengeschichte III 5,3). Johannes hat vermutlich ebenfalls zu diesem Zeitpunkt, spätestens aber 68, bevor Jerusalem von den Legionen Roms eingeschlossen wurde, Jerusalem verlassen und sich mit seinen Getreuen nach Ephesos abgesetzt. Johannes wird das Evangelium daher in Jerusalem verfaßt haben. Da es sehr wahrscheinlich ist, daß er die synoptischen Evangelien gekannt hat, wird er sein Werk etwa zwischen 60 und 66/68 n. Chr. geschrieben haben.313 Das Evangelium endet mit dem 20. Kapitel. Das 21. Kapitel ist bis auf den letzten Vers ein Nachtrag, den der Apostel Johannes seinem Evangelium beifügte, als er es in Ephesos, vielleicht noch vor 70 n. Chr. veröffentlichte. Den Sprachstil des Johannes kennzeichnet eine feierliche, aber pointierte Schlichtheit und er ist ähnlich wie Markus ein Meister in der Verwendung des erzählenden Präsens.314 Die Frage, wie ein einfacher Fischer vom See Gennezareth ein solch hochtheologisches Evangelium geschrieben haben kann, geht von der irrigen Annahme aus, daß die damalige Mittelschicht von Galiläa eine weithin ungebildete Masse war. Wie im 1. Kapitel schon ausgeführt wurde, gab es nicht nur einfache Handwerker, sondern ganze Handwerkerdynastien und um den See Gennezareth Fischereiunternehmen, die zu erheblichem Wohlstand kamen. Johannes stammte nicht aus einer einfachen Fischerfamilie. Seinen Vater Zebedäus kann man als den Chef eines klein- bzw. mittelständischen Unternehmens bezeichnen, der Arbeiter (Tagelöhner) beschäftigte (Mk 1,20). Seine Mutter Salome war reich genug, Wesentliches zum materiellen Überleben Jesu und seines Jüngerkreises beizutragen und dabei zielstrebig genug, um für ihre beiden Söhne, Jakobus und Johannes, Privilegien zu erbitten (Matth 20,20–23). Wie selbstbewußt die beiden Söhne sein konnten, zeigt nicht zuletzt der ihnen von Jesus gegebene Beiname »Donnersöhne« (Mk 3,17). Für die Eltern Zebedäus und Salome war es daher ein Leichtes, den Söhnen eine Ausbildung zu gewährleisten, die weit über das übliche Grundschulsystem dieser Zeit hinausging und dem jugendlichen Johannes eine Basis gab, auf der er in der Zeit mit Jesus und den Jahrzehnten danach aufbauen konnte. Johannes durchbricht in seinem Evangelium das synoptische Schema einer einjährigen öffentlichen Tätigkeit Jesu, das ursprünglich vermutlich ohne historisches Interesse an den Abläufen der Verkündigung der Botschaft diente, und verteilt die Tätigkeit Jesu auf knappe drei Jahre, was die historisch richtige Sicht sein dürfte. Johannes gibt auch exakt topographische Angaben und zeitliche Fakten wieder. Er ergänzt die Synoptiker jedenfalls als Augenzeuge des Geschehens von den Anfängen bis zum Kreuz und zur Auferstehung Jesu auf geniale Weise.

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Abschließend seien noch die ältesten griechischen Handschriften der vier Evangelien vorgestellt. Vom Matthäusevangelium gibt es den Papyrus Barcelona/Montserrat 1 (P67) mit Teilen von 3,8–9.14–15; 5,20–22.25–28 und den zu ihm gehörenden Papyrus Magdalen College Gr. 17 (P64) mit Teilen von 26,7–8.10.14–15.22–23.31.33. Die frühere Datierung dieser beiden Handschriften, die in den meisten Handbüchern wiedergegeben wird, lautet um 200 n. Chr. Weitere Untersuchungen haben sie aber mit Hilfe neuen Vergleichsmaterials auf 150 n. Chr. datiert (P. W. Comfort/D. P. Barret) bzw. sogar in die Zeit vor 70 n. Chr. (C. P. Thiede). Sie können jedenfalls mit guten Argumenten gegen Ende des 1. Jhs. datiert werden.315 Kaum später als um die Wende vom 1. zum 2. Jh. n. Chr. ist der Papyrus Oxyrhynchus 4004 (P104) mit Teilen von 21,34–37.53–45 zu datieren.316 Schon diese beiden ältesten Textfragmente von Matth lassen eine Datierung um 80 oder 90 n. Chr. unwahrscheinlich erscheinen. Für das Markusevangelium steht das Fragment einer Papyrusrolle zur Verfügung, das in der Höhle 7 von Qumran gefunden wurde. Es bekam die Nummer 7Q5. Darauf sind Teile von Mk 6,52–53 erhalten. Noch bevor die Identifizierung mit dem Markustext erkannt war, wurde dieses Fragment zwischen 40 und 50 n. Chr. datiert. 1972 schlug der spanische Papyrologe J. O‘Callaghan, damals Professor am päpstlichen Bibelinstitut in Rom, der Fachwelt vor, seine Identifizierung mit Mk 6,52–53, die ihm auf Grund der Buchstabenkombination in der vierten Zeile des Fragments: Ny, Ny, Eta – die drei Buchstaben passen zu GENNHSARET (Gennesareth) von Mk 6,53 – gelungen schien, zu überprüfen.317 Drei Unstimmigkeiten, die sich aus dem Vergleich der anderen Buchstaben und Buchstabenreste des Fragments mit dem heutigen griechischen Standardtext ergaben, konnte J. O‘Callaghan plausibel auflösen: einen orthographischen Fehler in der dritten Zeile des Fragments, den Ausfall einer Gruppe von drei Wörtern in der dritten Zeile und die Identifizierung eines unvollständig erhaltenen Buchstabens als Ny in der zweiten Zeile, und zwar deswegen, weil die Erfahrung mit antiken Fragmenten sehr häufig zeigt, daß ihr Text nicht immer ad verbum mit dem heute gebräuchlichen Text eines antiken Autors, der natürlich auch orthographisch korrekt ist, übereinstimmen muß. Wäre 7Q5 nicht ein neutestamentlicher Text, sondern der Text eines anderen antiken Autors, dann hätte man die Identifizierung von J. O‘Callaghan problemlos anerkannt.318 J. O‘Callaghan leistete noch weitere wissenschaftliche Überzeugungsarbeit. So setzte er bereits damals den Computer für die Identifizierung ein und konnte feststellen, daß solche Buchstabenkombinationen wie auf dem Fragment in der gesamten antiken griechischen Literatur nicht zu finden waren, daher letztlich nur Mk 6,52–53 sinnvollerweise in Frage kommen konnte. Aber auch K. Aland, ein Gegner der Identifizierung, setzte den Computer ein. Sein Ergebnis ist bis

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heute bestimmend. In Wirklichkeit ist aber diese »Überprüfung« ad absurdum zu führen, und zwar aus einem simplen Grund: Basis eines solchen Tests ist immer der Standardtext des Neuen Testaments. Wird in die Suchformel ein Buchstabe gesetzt, der z. B. orthographisch falsch ist, kann der Computer kein Ergebnis bringen. K. Aland verwendete als Suchformel die Buchstabenkombination, die den orthographischen Fehler des Fragments enthält und konnte daher zu keinem Ergebnis kommen, obwohl er von O‘Callaghans Studie wußte, daß so kein Ergebnis möglich war, d. h. es wurde »überprüft«, um ein negatives Ergebnis zu erzielen. J. O‘Callaghan ging noch einen Schritt weiter und ließ das Fragment an der Universität Madrid von einem Fachmann für Mathematik und Statistik überprüfen. Das Ergebnis war eindeutig. Die mathematisch-statistische Wahrscheinlichkeit, daß es sich um Mk 6,52–53 handelt, ist extrem hoch. Der Mathematiker A. Dou schrieb am Ende seiner Untersuchung: »Dicho de otra manera: si en el futuro se acepta por los papirólogos que la idendificatión marcana de 7Q5 con Mc 6,52–53 es correcta.«319 In der papyrologischen Fachwelt bekam O‘Callaghan durchaus Zustimmung, auch wenn diese nicht ungeteilt war, stieß aber bei den Neutestamentlern auf massive Ablehnung.320 Diese Ablehnung ist psychologisch erklärbar, da sie die späte Datierung des Markusevangeliums, die fast ausnahmslos vertreten wurde, gekippt hat. Viele wollten und wollen bis heute nicht wahrhaben, daß hier ein hartes Faktum vorliegt, das eine späte Datierung des Markusevangeliums definitiv ausschließt.321 Unbestritten ist folgender Textbestand des Fragments: 01 02 03 04 05

] ] ] ] ]

..[ .TW. .[ . KAI..[ N© N H . [ . H S©© . [ 322

Es ist das Verdienst von C. P. Thiede, daß er 1984 die von den Neutestamentlern abgewürgte Diskussion um die Identifizierung von 7Q5 mit Mk 6,52–53 energisch und eloquent wiederaufgenommen hat.323 Wesentlich war, daß C. P. Thiede das Fragment öfter mit dem Laser-Raster-Mikroskop, das er selbst mitentwikkelt hat und der israelischen Antikenbehörde zu Jerusalem für die Untersuchung der Qumranfragmente zur Verfügung gestellt wurde, untersuchen konnte. Der Vorteil, den dieses Mikroskop bietet, ist, daß z. B. ein Papyrus vertikal in Bruchteilen von Millimetern untersucht werden und so ein Buchstabe, von dem die Tinte längst abgeblättert ist, gelesen werden kann, da der vertikale Druck des

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Schreibgerätes die entsprechenden Spuren hinterlassen hat. Diese Untersuchungen konnten den Buchstabenbestand des Fragments entsprechend erhöhen, so daß sich folgendes Ergebnis zeigt: 01 02 03 04 05

] ] ] ] ]

E© P© [ . T W N© . [ H© K A I T© I©[ N© N H . [ Q© H S© . [

Auch der Abstand in der dritten Zeile vor Kappa wurde mikroskopisch bestätigt. Dieser eindeutig nachgewiesene Abstand, in der Fachwelt »spatium« genannt, ist für die Identifizierung nicht unwichtig, weil mit V 53 ein neuer Gedanke beginnt, der in den Handschriften u. a. durch ein Spatium ausgedrückt werden konnte.324 Detailüberschriften, wie sie in den heutigen Bibelausgaben verwendet werden, haben die antiken Handschriften nicht gekannt.

Abb. 23 Papyrusfragment 7Q5, 4,2 mal 3,8 cm, 40–50 n. Chr.

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Die Einwände,325 die nun weiterhin gegen die Identifizierung vorgebracht werden, beziehen sich auf das unvollständig erhaltene Ny der zweiten Zeile, auf das Tau der dritten Zeile und auf den aus stichometrischen Gründen zu folgernden Ausfall der Wortgruppe: EPI THN GHN (»an das Land«) der dritten Zeile; d. h. die Wortgruppe kann hier nicht gestanden sein, da sonst die Zeilenlängen nicht mehr passen. Dazu ist zu sagen: Das unvollständige Ny der zweiten Zeile wurde durch die mikroskopische und durch eine papyrologische Untersuchung als Ny bestätigt.326 Diese Ergebnisse wurden nicht zur Kenntnis genommen und dagegen polemisiert.327 In einer soeben erschienenen Studie konnten Dutzende vergleichbare, etwas ungeschickt geschriebene Ny in biblischen wie in profanen Texten aufgezeigt werden.328 Jeder Zweifel, daß es sich nicht um ein Ny handeln könne, ist unbegründet. Das Tau der dritten Zeile wurde schon von J. O‘Callaghan als Schreibfehler für Delta gehalten. Es gibt viele Beispiele für solche Schreibfehler in Papyri, besonders in Ägypten, und es ist lächerlich, einen solchen hier ausschließen zu wollen.329 Der Grund für den Wegfall der Wortgruppe EPI THN GHN in der dritten Zeile wurde sowohl von J. O‘Callaghan als auch von C. P. Thiede nicht erkannt. Diese Wortgruppe ist eine markinische Redundanz. Markus liebt Redundanzen und Wiederholungen. Sie sind für seinen Stil typisch. Kopisten waren öfter der Meinung, daß sie Redundanzen weglassen können, um quasi den Stil zu verbessern. Dieses Beispiel ist das älteste einer solchen Korrektur durch einen Kopisten. In meiner Untersuchung zu dem Papyruskodex Chester Beatty I (P45), Ende 2./ Anfang 3. Jh. n. Chr., konnte ich alleine beim markinischen Text über 40 Kürzungen durch den Kopisten feststellen. Ein ganz typisches Beispiel davon ist auch das Weglassen der markinischen Redundanz EIS TO PERAN (»an das jenseitige [Ufer]«) in Mk 5,21.330 Als Ergebnis kann festgehalten werden, daß das Fragment 7Q5 das älteste Bruchstück des Markusevangeliums (6,52–53) mit einer unterschiedlichen Leseart (Verzicht auf die Redundanz EPI THN GHN [»an das Land«]) gegenüber dem Standardtext darstellt (vgl. Abb. 23):

01 02 03

Buchstaben pro Zeile ga«r sunhvkan ]E©P©[i« toivß a¡rtoiß 23 denn (nicht) hatten sie verstanden auf Grund der Brote, a˙ll’ h°n a]U©TWN© H© [kardi/a pepwrw23 sondern ihr Herz war verhär– me//n]H© 6,53KAI TI[apera/santeß331 20/23 tet. Und hinüberfahrend

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Wie schon vorher erwähnt, wurde dieses Fragment noch vor seiner Identifizierung mit Mk 6,52–53 zwischen 40 und 50 n. Chr. datiert. Zumal die markinische Identifizierung feststeht – das Markusevangelium ist am ehesten 44 n. Chr. in Rom geschrieben – läßt sich die Datierung des Fragments von 44 bis 50 n. Chr. präzisieren.332 Der älteste Textzeuge, der neben Matth, Luk und Joh größere Abschnitte des Markusevangeliums enthält (4,36–5,2; 5,16–26; 5,38–6,3; 6,15–25; 6,36–51; 7,3–15; 7,25–37; 8,10–26; 8,34–9,9; 9,18–31; 11,21–12,8; 12,13–28) ist der schon erwähnte Papyruskodex Chester Beatty I (P45), Ende 2. Jh./Anfang 3. Jh.333 Die Pariser Papyrusfragmente Suppl. Gr. 1120 (P4) mit 1,58–73; 1,73–2,4; 3,8–20; 3,20–4,2; 429–32.34.35; 5,3–5,.6–8; 5,30–6,4; 6.4–16, Ende 1. Jh./Anfang 2. Jh. oder sogar noch früher, sind der älteste Zeuge für das Lukasevangelium. Die Fragmente gehören zu einem Kodex, der die Evangelien, möglicherweise auch die Apostelgeschichte enthalten hat.334 Der Papyrus Bodmer XIV (P75) mit großen Teilen der Kapitel 3–4.6–18.19.22– 24, 2, etwa zweite Hälfte 2. Jh., ist bereits einer der großen Textzeugen für das Lukasevangelium.335 Für das Johannesevangelium stehen sieben Papyruskodizes bzw. Fragmente von ca. 80 bis gegen 200 n. Chr. zur Verfügung: Der Papyrus John Rylands Univ. Library Gr. P. 457 (P52) mit 18,31–33.37–38, ist das älteste Fragment. Es kann ab 80 n. Chr. datiert werden.336 Papyrus Bodmer II plus P. Köln 4374/4398 (P66), fast das gesamte Evangelium – es fehlen Teile von Kap. 6 und die Adulteraperikope 7,53–8,11; ab 14,18 bis zum Ende bruchstückhaft erhalten – ist ab ca. 100 n. Chr. zu datieren.337 Aus der selben Zeit stammt der Papyrus Oxyrhynchus 3523 (P90) mit 18,36– 40; 18,40–19,7.338 Der Papyrus John Rylands, der bereits in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts von dem britischen Papyrologen C. H. Roberts bearbeitet und von 80–125 n. Chr. datiert wurde,339 ist ein besonderes Lehrbeispiel. Da man in weiten Teilen der neutestamentlichen Wissenschaft an diesem harten Faktum nicht mehr vorbei konnte, ging man quasi stillschweigend zu einer Datierung des Johannesevangeliums um 100 n. Chr. über; zuvor wurde das Johannesevangelium z. B. in die 2. Hälfte des 2. Jhs. n. Chr. oder noch später datiert. Richtig wäre gewesen,

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die Methoden zu überprüfen, die zu einer solch falschen Datierung führten; eine solche Methodenkorrektur ist leider bis heute ausständig und es fehlt nicht an Versuchen, dieses Papyrusfragment, wohl trotz besseren Wissens, auf 150 bis 160 n. Chr. zu datieren. Bezeichnend ist auch, daß verschiedene Handbücher nicht die Ausgangsdatierung nennen (80 n. Chr.), sondern den spätesten Termin (125 n. Chr.), den Roberts genannt hatte.340

1. Exkurs: Versprengte Herrenworte und apokryphe Evangelien Es ist damit zu rechnen, daß nicht alles, was Jesus gelehrt und getan hat, in den vier Evangelien aufgeschrieben wurde (vgl. Joh 21,25) und daß Jesus manche seiner Worte oder Bildreden in Variationen mehrmals vorgetragen hat. Ein schönes Beispiel dafür ist die Bildrede vom Haus auf dem Felsen, die Matth 7,24–27 und Luk 6,47–49 überliefern. Die beiden Fassungen sind literarisch nicht voneinander beeinflußt und die plausible Erklärung ist, daß Jesus dieses Gleichnis bei unterschiedlichen Gelegenheiten je verschieden gestaltete.341 Wenn daher sogar in den Evangelien Jesusworte in Variationen wiedergegeben wurden, stellt sich die Frage, ob solche Varianten von Jesusworten nicht auch außerhalb der kanonischen Evangelien vorhanden sind. Sicher kann gelten, daß es solche Jesusworte in anderen Teilen des Neuen Testaments gibt. In Apg 20,35 zitiert der Apostel Paulus ein solches Wort: »In allem habe ich euch gezeigt, daß man so arbeiten und sich der Schwachen annehmen muß und gedenken der Worte des Herrn Jesus, daß er selbst gesagt hat: Seliger ist es zu geben als zu nehmen.« In der Fachwelt werden solche Worte »Agrapha« bezeichnet, d. h. Worte, die nicht in den Evangelien aufgeschrieben wurden; denn aufgeschrieben wurden sie schon. Sonst wären sie heute nicht bekannt. Etwas anders verhält es sich mit dem Bericht von der Ehebrecherin (Joh 7,53– 8,11), der etwa ab der Mitte des 4. Jhs. n. Chr. Eingang in das Johannesevangelium gefunden hat. Wie schon erwähnt, gehört diese Perikope ursprünglich nicht zum Evangelium und abgesehen von einem anderen literarischen Stil dieses Textes sind die ältesten griechischen Handschriften dafür ein Zeugnis. Dieser Bericht muß aber von altersher als authentisch gegolten haben, obwohl ihn kein Evangelium enthalten hat. Um ihn gleichsam vor dem Vergessen zu bewahren, fügte man ihn im Laufe des 4. Jhs. n. Chr. in das Johannesevangelium ein, natürlich in dem Wissen, daß er nicht zum originalen Evangelium gehörte, aber ein wertvolles, zu bewahrendes Zeugnis ist. Andererseits ist es möglich, daß durch Kopistenfehler ein Satz ausgefallen ist. Das ist kaum aufgefallen, wenn ein solcher Ausfall nicht sinnstörend war. So ist z. B. in einigen Handschriften bei Luk 6,5 ein Jesuswort erhalten, das die Mehrzahl der Handschriften nicht aufweist, aber wohl zum originalen Teil des

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Evangeliums gehört: »An demselben Tag sah Jesus einen (Menschen) am Sabbat arbeiten und sagte zu ihm: Mensch, falls du weißt, was du schaffst, glücklich bist du; wenn du es aber nicht weißt, bist du ein Verfluchter und ein Übertreter des Gesetzes.«342 Die Aussage dieses Wortes entspricht völlig der Vorstellung Jesu, daß eine Übertretung des Sabbatgebotes unter bestimmten Bedingungen zu respektieren ist, nicht jedoch, wenn sie aus Willkür geschieht. Ähnlich vermag es sich bei einem Jesuswort verhalten, das der Kodex Bezae Cantabrigienses (5. Jh. n. Chr.) nach Matth 20,28 liest: »Ihr aber sucht vom Kleinen her zu wachsen und vom Größeren her geringer zu werden.« Daran schließt sich ein dem Sinn nach ähnliches Wort wie in Luk 14,8–10 an, daß es bei einem Gastmahl klüger ist, einen niedrigeren Platz einzunehmen etc.343 Der oben zitierte Teil des Wortes ist so nicht bekannt, aber z. B. dem Wort von Luk 22,26, aber auch anderen ähnlich. Das anschließende Satzgebilde ist eine klare Variation zu dem in Luk 14,8–10 Gesagten, ein Gedankengang, den Jesus einmal so, einmal den Umständen entsprechend anders formuliert haben kann. Was die sogenannten Markusabschlüsse betrifft – der als kanonisch geltende Abschluß wurde bereits oben als eine Komposition aus Versen der anderen drei Evangelien beschrieben – bin ich nicht der Auffassung, daß diese echte Jesusworte enthalten. Zu sehr scheint mir das Bemühen am Werk, dem Markusevangelium einen glatten Abschluß zu geben. Der älteste Versuch, dies mit Versen aus den anderen Evangelien zu erreichen, wurde schließlich allgemein akzeptiert und als kanonisch anerkannt, die andern späteren Abschlüsse dagegen nicht.344 Während die vorher zitierten Herrenworte Glaubwürdigkeit beanspruchen können, scheint mir dies bei Überlieferungen, die außerhalb des neutestamentlichen Kontextes wiedergegeben werden, nicht immer der Fall zu sein. Papias von Hierapolis, der um 110 n. Chr. oder vielleicht schon etwas früher sein fünfbändiges Werk über Herrenworte verfaßt hat, das verloren gegangen ist und von dem nur mehr wenige Zitate bei Irenäus von Lyon, Eusebius von Cäsarea u. a. erhalten geblieben sind,345 mag das eine oder andere echte Jesuswort bewahrt haben. Irenäus (Gegen die Häresien V 33,3f) zitiert jedenfalls ein solches, das echt sein dürfte. In welchem Kontext allerdings dieses Jesuswort wirklich gestanden haben mag, bleibt ungewiß. Für Papias, der Anhänger des Chiliasmus war, stellte dieser Text ein willkommenes Zeugnis für eine Charakteristik des Tausendjährigen Reiches dar. Da dies aber nicht dem jesuanischen Verständnis entspricht, kann der Text nicht apokalyptisch verstanden werden, sondern gehört als drastisches Bildwort in den Kontext der mit Jesus angebrochenen Königsherrschaft Gottes, wie sie z. B. Jesus im Rückgriff auf den Propheten Jesaja (vgl. Jes 26,19; 29,18f; 35,5f 61,1) Johannes dem Täufer auf seine Anfrage hin vermitteln läßt (Matth 11,2–6). Der von Irenäus zitierte Text lautet: »Es werden Tage kommen, in denen Weinstöcke wachsen, einzelne zehntausend Äste haben, und an

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einem Ast zehntausend Zweige, und wirklich an einem Zweig zehntausend Ranken, und an jeder einzelnen Ranke zehntausend Trauben und an jeder Traube zehntausend Beeren, und jede ausgepreßte Beere wird fünfundzwanzig Maß Wein geben. Und wenn einer der Heiligen von ihnen eine Traube anrührt, wird eine andere Traube rufen: Ich bin besser; nimm mich; preise durch mich den Herrn! Und in ähnlicher Weise werde ein Weizenkorn zehntausend Ähren hervorbringen und jede Ähre werde zehntausend Körner haben. Und jedes Korn fünf Doppelpfund reinen leuchtenden Weizenmehls; und ferner würden die übrigen Früchte und Saaten und Kräuter dementsprechend folgen: Und alle Tiere fräßen nur das Futter, das sie von der Erde empfangen würden; sie würden friedlich und in gegenseitiger Harmonie leben, dem Menschen untertan in aller Untertänigkeit. Dies bezeugt Papias [...] Und er fügt noch hinzu: Diese Dinge sind jedoch nur für den Gläubigen glaubhaft. Und, sagte er, als Judas der Überlieferer nicht glaubte und fragte: Wie soll eine solche Fruchtbarkeit vom Herrn zustande gebracht werden, habe der Herr gesagt: Es werden die sehen, die in jenes Reich hineinkommen.«346 (Die kursiv gedruckten Stellen sind wörtliche Zitate aus dem Werk des Papias). Eine ganze Reihe weiterer Herrenworte findet sich z. B. im Papyrus Oxyrhynchos 840 und 1224, in einem Fragment aus der ägyptischen Oase Fajum und vielen anderen Dokumenten der frühen Zeit des Christentums.347 Im Großen und Ganzen handelt es sich hier um Zitate aus den Evangelien, die einerseits fast wörtlich, andererseits frei und paraphrasierend wiedergegeben werden. Wirklich neue Erkenntnisse sind daraus nicht zu gewinnen. Auch in den zahlreichen apokryphen Evangelien348 ist kaum authentisches Material vorhanden. Das sogenannte »Thomasevangelium«, eine Sammlung von 114 Jesusworten, das vollständig nur in einer koptischen Handschrift aus dem 4. Jh. erhalten, aber im 2. Jh. n. Chr. entstanden ist, könnte noch am ehesten das eine oder andere echte Jesuswort beinhalten. Ein ganz besonderer Fall ist das sogenannte »Geheime Markusevangelium«. Im Jahre 1958 fand M. Smith, als er bei der Katalogisierung der Bibliothek im Kloster Mar Saba der jüdischen Wüste beschäftigt war, am Ende einer Ausgabe des Ignatius von Antiochien vom Jahre 1646 die handgeschriebene Kopie eines Textes in griechischer Sprache. Die Handschrift entspricht griechischen Schriften des 18. Jhs.349 Bisweilen wurde auch behauptet, daß es sich bei dem Text um eine moderne Fälschung handle,350 die auf das Konto von M. Smith gehe, eine Behauptung, die als unzutreffend zurückgewiesen werden muß. Die Untersuchung dieses Textes ergibt, daß es sich um einen »Auszug aus Briefen des Clemens von Alexandrien« (ca. 150–215 n. Chr.) handelt. Der Auszug, dessen Autor unbekannt bleibt, ist an einen gewissen Theodorus gerichtet, der offensichtlich eine Anfrage an Clemens bezüglich der Authentizität von Texten, von denen behauptet wird, sie gehören zum Markusevangelium, geschrieben

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hat. Der Schreiber dieses Auszugs gibt nun die Auskunft, daß der Gnostiker Karpokrates ein »Geheimes Markusevangelium« blasphemisch ergänzt habe. Ferner erklärt der Schreiber, daß es in der Bibliothek von Alexandria das Exemplar eines »Geheimen Markusevangeliums« gebe, das der Evangelist Markus, als er nach dem Martyrium des Apostels Petrus von Rom nach Alexandria gekommen ist, verfaßt habe. Dieses Evangelium sei aber kein neues Werk des Markus, sondern ergänze das ursprüngliche um einige Texte. Die erste angebliche Ergänzung, zwischen Mk 10,34 und 35, lautet folgendermaßen: »Und sie kommen nach Bethanien, dort war eine Frau, von der deren Bruder gestorben war. Sie kam, fiel vor Jesus nieder und sagt zu ihm (vgl. Joh 11,32): Sohn Davids (Mk 10,47), erbarme dich meiner. Die Jünger aber tadelten sie (Mk 10,13).Voll Zorn (Mk 1,41)351 ging Jesus mit ihr in den Garten (Luk 13,19), wo das Grabmal war; und zugleich war aus dem Grabmal eine laute Stimme zu hören (Joh 11,43). Und hingekommen wälzte Jesus den Stein von der Tür des Grabmals (vgl. Joh 11,39) und hineingegangen, wo der Jüngling lag, streckte Jesus die Hand aus und richtete ihn auf, indem er (seine) Hand ergriff (Mk 5,41). Der Jüngling blickte aber zu Jesus auf und gewann ihn lieb (aus Mk 10,21 genommen: Was über Jesus gesagt wird, wird hier auf den Jüngling übertragen). Er bat ihn inständig, daß er bei ihm sein könne (Mk 5,18). Und verlassen habend das Grabmal kamen sie in das Haus des Jünglings (Joh 1,39). Er war nämlich reich (Mk 10,22; Luk 18,23). Nach sechs Tagen (Mk 9,2) befahl ihm Jesus < ... > Am Abend kommt (Mk 14,17) der Jüngling, bekleidet mit einem Linnen um den Leib (Mk 14,51f). Und er blieb bei ihm (Joh 1,32) jene Nacht; denn er lehrte ihn die Mysterien der Königsherrschaft Gottes (Mk 4,11). Danach stand er auf und kehrte an das andere Ufer des Jordan zurück.« Die zweite Ergänzung soll in Mk 10,46 nach den Worten: »Und er kommt nach Jericho« stehen: »Und es waren dort die Schwester des Jünglings, den Jesus liebte, ihn, und seine Mutter und Salome. Sie (d. h. die Schwester, die Mutter und Salome?) jedoch nahm Jesus nicht auf.« Es handelt sich bei diesen beiden dem Evangelisten Markus zugeschriebenen Texten um einen Flickenteppich aus versetzten Stücken der kanonischen Evangelien, eine Art Parodie des Markusevangeliums. Dazu wäre ein moderner wie antiker Fälscher imstande. Der Text hat jedoch sprachliche Eigenheiten, die es unmöglich machen, an einen heutigen Fälscher zu denken. In zwei Relativsätzen wird ein überflüssiges Personalpronomen gesetzt: »von der deren Bruder« und »den Jesus ihn liebte«. Obwohl dem markinischen Stil Redundanzen nicht fremd sind, verwendet Markus nur 7,25 ein redundantes Personalpronomen. Ein solches wird zwar von den meisten Handschriften in 7,25 nicht bezeugt, gehört jedoch vermutlich zum originalen Text des Markus und wurde von späteren Kopisten – da überflüssig – weggelassen. Ein solch redundantes Personalpronomen kann nicht einfach als

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eine Dialekterscheinung gewertet werden, da es sogar Dichter verwenden (Kallimachos Anth. Pal 12,118,3; Menander Anth 7,72,1). Die beiden Redundanzen schließen einen heutigen Autor aus. Am ehesten wird man mit einem Autor aus der 1. Hälfte des 2. Jhs. rechnen können, der im Bereich der Gnosis angesiedelt ist und der mit der damaligen Sprache vertraut war. Darauf weist auch der hier geradezu idealtypisch verwendete Gebrauch von kai« h¶rxato [...] im Sinne von »dringlich, nachdrücklich«. Auf einen Autor aus dem Altertum, und zwar in einem doppelten Sinn, weist auch: »Und Jesus befahl ihm < [...] >«. Es wird nicht gesagt, was ihm Jesus befohlen hat. Das Verb steht also – grammatikalisch falsch – absolut. Notwendig wäre aber – und Markus (6,27; 6,39) gebraucht es auch so –, es nicht absolut zu verwenden. Es gibt in der ganzen griechischen Literatur kein Beispiel, daß das Verb jemals absolut gebraucht wurde. Ein moderner Autor hätte Jesus wohl sagen lassen, was er dem Jüngling befohlen hat und nicht eine sprachlich unstatthafte, verkürzte Formulierung verwendet. Ein antiker Autor hätte ebenfalls das Verb niemals absolut gebraucht. Da es hier aber absolut steht, kann dies nur bedeuten, daß der Text zensuriert wurde. Es ist also damit zu rechnen, daß die Fassung, die wahrscheinlich auf den Gnostiker Karpokrates zurückgeht, hier Obszönitäten stehen hatte, die der Schreiber dieses Briefes einfach wegließ. Es genügt ihm offensichtlich das folgende Geschehen: Der Jüngling kommt nur mit einem Leinentuch bekleidet zu Jesus, bleibt die Nacht bei Jesus und Jesus lehrt ihn das Geheimnis des Königreichs Gottes. Der vorliegende, zensurierte Text ist eindeutig. Es handelt sich um die Darstellung des Initiationsritus einer gnostischen Sekte, die durch Jesu Handeln legitimiert werden soll. Aus diesem Text ist aber keine homosexuelle Handlung mehr ersehbar. Wohl aber wird der Text, der auf Karpokrates zurückgeht, eine solche nahegelegt haben. Auch wenn die Sprache allein nicht den Schluß erlaubt, daß der Autor nicht Markus war, läßt sich trotzdem mit Sicherheit sagen, daß Markus nicht Versatzstücke seiner eigenen Texte in dieser parodistischen Weise zu einem »neuen« Ganzen zusammengefügt hätte, und zwar so, daß alle drei Erwähnungen von Jünglingen im Markusevangelium zu einer weiteren Geschichte zusammengemengt sind. Es scheint mir plausibel, daß der rätselhafte Jüngling der Passionsgeschichte der Auslöser der Erfindung dieses Textes ist. Vermutlich hat es von einem »Geheimen Markusevangelium« nie mehr als diese beiden Stücke gegeben. Dadurch, daß der Schreiber aus dem »Geheimen Markusevangelium« diesen purgierten Text bringt, verrät er sich selber als Angehöriger einer anderen gnostischen Sekte als die des Karpokrates, einer gnostischen Sekte, die offenbar der offiziellen christlichen Kirche von Alexandria nahe steht und in Clemens bzw.

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seinen Schriften gnostische Züge zu erkennen vermag. Clemens hat in seinen bekannten Werken natürlich Vorstellungen entwickelt, die gnostisch mißbraucht werden konnten. So, wenn es z. B. in Stromateis 5,1,1 heißt, daß der Glaube die Wahrheit ergriffen hat, die Gnosis (die Erkenntnis) sie jedoch erforscht und sie versteht. Obwohl Clemens noch nicht ein Kanonverständnis wie kurz später Origenes entwickelt hat, so steht doch außer Frage, daß er besonders die vier Evangelien als eine fest umrissene Einheit ansieht. Das macht es unwahrscheinlich, daß er über das Markusevangelium die Meinung vertreten haben sollte, die ihm der Schreiber dieses Briefes unterstellt. Es gibt in diesem Brief noch eine weitere Diskrepanz. Nach der alexandrinischen Bischofsliste ist der Nachfolger des Evangelisten Markus ein gewisser Annianus, und zwar im achten Jahr der Regierung Kaiser Neros (Eusebius, Kirchengeschichte II 24); das ist das Jahr 62 n. Chr. Markus muß daher schon lange vor dem Martyrium des Apostels Petrus Ende 64/Anfang 65 n. Chr. nach Alexandria gekommen sein, und der Tod des Markus in Alexandria im Jahre 62 n. Chr. ist keineswegs gesichert, da z. B. Paulus dem Timotheus im Herbst 64 n. Chr. den Auftrag gibt (2 Tim 4,11), Markus nach Rom mitzunehmen. Annianus kann daher im Jahre 62 die Leitung der Kirche von Alexandria übernommen haben, da sich Markus ab diesem Zeitpunkt anderen Aufgaben widmete. Ich fasse zusammen: Der Schreiber dieses Auszugs aus Briefen des Clemens ist ein gemäßigter Gnostiker, der Clemens als seinen Gewährsmann sehen möchte und es dabei geschickt versteht, ein gnostisch erweitertes Markusevangelium als Werk des Evangelisten plausibel zu machen. Die parodistische Entstellung des kanonischen Evangeliums ist schon in der 1. Hälfte des 2. Jhs. geschehen und möglicherweise das Werk des Karpokrates. Der Schreiber dieses Briefauszuges macht aber den Fehler, daß er beim Streichen von Blasphemien des Karpokrates, um so sein gnostisches Markusevangelium salonfähig zu machen, das Verb e˙pita/ttw (befehlen) absolut verwendet. Es hat daher nie ein Markusevangelium gegeben, das einen solchen Text enthalten hat. Es handelt sich um einen völlig einflußlosen, regional beschränkten Text. Hätte es ein solch erweitertes Exemplar des Markusevangeliums in der Bibliothek von Alexandria gegeben, dann wären in den zahlreichen griechischen Handschriften der ersten Jahrhunderte Spuren davon erhalten geblieben.352

2. Exkurs: Gibt es materielle Zeugnisse von Jesus? Jeder Mensch, der einmal gelebt hat, hinterläßt auch direkte und indirekte materielle Zeugnisse. Es stellt sich dabei natürlich die Frage, ob tatsächlich solche

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direkten oder indirekten Zeugnisse von Jesus nach fast zweitausend Jahren erhalten geblieben sind. Nun, es gibt eine ganze Reihe von Münzen, die z. B. der römische Präfekt Pontius Pilatus prägen ließ (vgl. Abb. 12) und daher aus einer Zeit stammen, in der Jesus durch schriftliche Quellen bezeugt ist.353 Es gibt ferner die Pilatusinschrift von Cäsarea (vgl. Abb. 15) etc. Im Jahre 1990 wurden bei Bauarbeiten in einem Vorort von Jerusalem, Talbiot, zwölf Ossuare, davon fünf mit Inschrift, gefunden. Solche Steinkisten dienten vom 1. Jh. v. Chr. bis zum Jahre 70 n. Chr. zur Bestattung der Gebeine, nachdem der Leichnam im Grab verwest war. Eine dieser steinernen Knochenbehälter war besonders schön verziert und trug die aramäische Inschrift: »Jehosaf bar Qajfa« (Joseph, Sohn des Kaiaphas). Die Untersuchung der Knochen im dem Ossuar ergab, daß es sich um einen etwa 60 Jahre alten Mann gehandelt hat. Der Name »Qajfa« fand sich auch noch auf weiteren Ossuarien bei diesem Fund, so daß anzunehmen ist, daß es sich um die Grabstätte dieser Familie gehandelt haben dürfte. Aus den schriftlichen Quellen wissen wir, daß Joseph ben/bar Kaiaphas Hoherpriester der Zeit Jesu war. Natürlich ist es nicht völlig sicher, daß die Gebeine in dem Ossuar tatsächlich die des Hohenpriesters sind, aber die Wahrscheinlichkeit ist doch sehr groß, zumal kein anderer Joseph ben Kaiaphas bezeugt ist.354 Aus dem Jerusalemer Antiquitätenhandel stammt ein Kalksteinossuar von ca. 50 cm Länge, das später in Privatbesitz gekommen ist. Im Jahre 2002 hatte A. Lemaire in Jerusalem die Gelegenheit, das Ossuar und die darauf befindliche aramäische Inschrift zu untersuchen. Die Inschrift lautet in Übersetzung: »Jakobus, Sohn des Joseph, Bruder von Jesus«.355 A. Lemaire datierte das Ossuar auf Grund dieser Inschrift zwischen 20 und 70 n. Chr. Eine elektronenmikroskopische Analyse brachte als Ergebnis, daß die Patina der Inschrift keine modernen Pigmente enthält und daher eine neuzeitliche Fälschung auszuschließen ist.356 Wir wissen von schriftlichen Quellen (vgl. Gal 2,1–10; Apg 15,1–35), daß Jakobus, der »Herrenbruder«, wie ihn Paulus nennt (Gal 1,19; vgl. Mk 6,3), von 42 n. Chr. bis zu seinem Märtyrertod im Jahre 62 (JosAnt XX 200) die Jerusalemer Urgemeinde geleitet hat. Können in diesem Ossuar tatsächlich seine Gebeine bestattet worden sein? Die vorkommenden Namen wie Jakobus, Joseph und Jesus waren damals sehr häufig. Es ist jedoch ganz, ganz selten, daß bei einer Ossuarinschrift nach dem Vatersnamen (hier Joseph), ein weiterer Name wie des Bruders von Jakobus, nämlich Jesus genannt wird. Die Nennung des Namens einer dritten Person (hier Jesus) erfolgt nur dann, wenn dieser bereits hohes Ansehen genossen hat und der Verstorbene durch dessen Ansehen und Berühmtheit besonders geehrt werden sollte. Zweifellos muß man Jesus von Nazareth bei den Christen der Zeit um 62 n. Chr. ein solches Ansehen und eine solche Berühmtheit zubilligen. Neuerliche Untersuchungen durch Wissenschaftler der israelischen Antikenbehörde im Jahre 2003 haben ergeben, daß das Ossuar zwar antik, der letzte Teil der Inschrift,

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nämlich »Bruder von Jesus«, jedoch eine moderne Fälschung ist (www.zenit.org/). Wir können also dieses Ossuar getrost beiseite lassen. Selbst wenn die Inschrift keine Fälschung wäre, hätte sie kaum Beweiskraft, daß die darin genannten Personen mit denen des Neuen Testaments identisch sein könnten. Eine gesunde Portion Skepsis ist in der Wissenschaft immer angebracht. Anders als dieses Ossuar des Jakobus ist der sogenannte »titulus crucis« zu beurteilen, von dem ein Teil in der Kirche Santa Croce zu Rom erhalten sein soll. Nach verschiedenen Legenden, die ab dem 4. Jh. n. Chr. überliefert sind, hat die Kaisermutter Helena 326 n. Chr. u. a. auch die Kreuzestafel in Jerusalem gefunden. Einen Teil davon ließ die Kaiserin in ihren Palast nach Rom bringen, der andere verblieb in Jerusalem in der Kapelle ad crucem, die über einen Hof mit der Anastasis verbunden war. Die ältesten Bezeugungen der Jerusalemer Reliquie findet sich bei der Pilgerin Egeria (Itinerarium 37,3) und bei Cyrill von Jerusalem (Katechesen 4,10; 10,19; 13,4). Als die sassanidischen Perser Jerusalem im Jahre 614 n. Chr. stürmten, wurde diese Reliquie als Beutestück mitgenommen. Am 3. Mai 628 n. Chr. konnte Kaiser Heraklios auch diesen Teil der Kreuzestafel nach Jerusalem zurückbringen. Seit der Schlacht bei Hattin im Jahre 1187 n. Chr., in der die Christen die Reliquie mitführten, ist sie verschwunden. Der Teil, den die Kaiserin nach der Legende nach Rom bringen ließ, wird bis heute gezeigt. Ob diese Legende im Kern etwas Wahres hat, kann nur durch exakte wissenschaftliche Untersuchungen geklärt werden. Und solche hat es in den letzten Jahren gegeben. Es handelt sich um Walnußholz, 687 Gramm, 15,3 cm mal 14 cm mal 2,6 cm. Reste eines weißen Anstrichs, wie er bei den Römern für Tafeln öffentlichen Charakters üblich war, sind vorhanden (tabula dealbata) und die in das Holz geschnittenen Buchstaben zeigen eine dunkelrote, heute schwarz gewordene Farbe. Die oberste Zeile zeigt Reste kursiver hebräischer Quadratschrift, die mittlere Zeile ist griechisch, die untere lateinisch. Sowohl die griechische als auch die lateinische Zeile laufen wie die hebräische von rechts nach links, wobei auch die griechischen und lateinischen Buchstaben nach links schauen: 1. 2.

3.

]B S

𐑣

]r x w n h NERAZAN

]E R S V N I R A Z AN

der aus Nazareth[ (der) Nazarener, K[önig (der)Nazarener, Kö[nig

Von der ersten Zeile sind nur die unteren Teile der Buchstaben erhalten; sie können zu »hnwṣr[j« (der aus Nazareth) ergänzt werden. Die zweite griechische Zeile hat für den Diphthong »ou« das Schlingenzeichen,357 das aber auch für ein Omikron stehen könnte. Nach dem Buchstaben Beta ist auf B]ASILEUS (König) zu ergänzen. In der dritten Zeile steht für »e« ein »i«, ein Itazismus, bedingt durch die ähnliche Aussprache der beiden Vokale. Nach den Buchstaben ER ist X zu ergänzen, also REX (König).

Gibt es materielle Zeugnisse über Jesus?

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Die Inschrift entspricht am ehesten Joh 19,19, wo die Aufschrift der Kreuzestafel lautet: Ihsouvß oJ Nazwrai√oß oJ basileu\ß tw◊n ∆Ioudai÷wn (»Jesus, der Nazoräer, der König der Juden«). Die päpstliche Akademie der Wissenschaften hat verschiedene Photos anfertigen lassen und diese von sieben jüdischen Experten der Hebräischen Universität in Jerusalem und der Universität Tel Aviv paläographisch prüfen lassen. Da die erste, hebräische Zeile nur den unteren Teil bewahrt hat, war die Datierung schwierig. Schließlich lautete das Urteil 1.–3. Jh. n. Chr. Ganz eindeutig war jedoch das Urteil über die griechische und lateinische Zeile: 1. Jh. n. Chr.358 Ein mittelalterlicher Fälscher hätte die Inschrift praktisch nur danach anfertigen können. Er wäre jedoch äußert klug und präzise vorgegangen: er hätte die Reihenfolge bei Johannes vertauscht – Johannes nennt die Folge: Hebräisch, Lateinisch Griechisch –, um nicht den Anschein zu erwecken, er hätte nach Johannes kopiert, hätte in der zweiten Zeile ein Schlingenzeichen statt des Diphthongs »ou« oder für ein Omikron gesetzt, hätte die griechische und lateinische Zeile wie die hebräische von rechts nach links geschrieben, hätte die griechischen und lateinischen Buchstaben nach links schauen lassen, hätte einen in der Antike üblichen Itazismus in der dritten Zeile verwendet, hätte die Walnußholztafel mit weißer Kalktünche gestrichen und die Buchstaben dunkelrot hervorgehoben, wie es bei den Römern üblich war und hätte dann noch die Tafel geschickt geteilt, so daß sie den legendären Berichten von der Teilung der Tafel durch die Kaisermutter Helena entspricht. Die Anforderungen scheinen für einen mittelalterlichen Fälscher doch erheblich hoch gewesen zu sein.360 Nun hat aber eine 2002 durchgeführte Radiokarbondatierung der Universität Roma Tre ergeben, daß das Holz nur etwa 1020 Jahre (± 30 Jahre) alt sei.359 Dieses Ergebnis ist natürlich absolut untrüglich, falls die entnommenen Proben nicht kontaminiert waren. Waren sie das, was z. Zt. niemand überprüfen kann, dann ist das Ergebnis falsch. Nehmen wir aber an, daß die Proben nicht kontaminiert waren. In diesem Fall ist das Ergebnis richtig. Es stellt sich wirklich die Frage nach dem genialen Künstler, der die Fälschung vor rund 1000 Jahren geschaffen haben soll. Vorher habe ich aufgezählt, was er alles wissen und hätte berücksichtigen müssen. Das war vor 1000 Jahren nach menschlichem Ermessen unmöglich. Es bietet sich aber noch eine andere Lösung an: Ein mittelalterlicher Fälscher könnte das damals vorhandene Original genau kopiert und dann möglicherweise veräußert haben. Falls diese Hypothese stimmt, dann wäre der Radiokarbontest wohl richtig, aber auch festzuhalten, daß die Kopie überaus gelungen ist und indirekt ein materielles Zeugnis für Jesu Kreuzigung ist, das die entsprechenden Berichte der vier Evangelien auf ihre Weise bestätigt.

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Da eben von einem Radiokarbontest die Rede war, sei auf andere aus dem Jahre 1988 hingewiesen, die das Ergebnis brachten, daß das Turiner Grabtuch erst aus der Zeit von 1260 bis 1390 stammt. Diese Untersuchungen fanden an Instituten in Zürich, Oxford und Tuscon statt. Inzwischen hat sich gezeigt, daß diese Ergebnisse bedingt durch Kontamination der Proben ein ungenaues Ergebnis gebracht haben. Die Proben wurden von der linken oberen Ecke des Tuches genommen, die durch Ausbesserungsarbeiten im Laufe der Jahrhunderte beeinträchtigt ist Die Brandlöcher auf dem Tuch wurden ebenfalls gestopft und 1534 wurde das gesamte Tuch von Klarissinnen mit einem holländischen Leinen unterfüttert. Diese Unterfütterung etc. wurde erst bei Konservierungsmaßnahmen im Jahre 2002 entfernt: »Die eindeutige Analyse der Verschmutzung des Grabtuchs mit oxydationsfördernden Substanzen führte zu dem Beschluß, Hollandtuch und Flicken im Sommer 2002 zu entfernen. Unsere Befürchtungen wurden weit übertroffen angesichts der Mengen an Kohlenstaub, die unter den aufgesetzten Flicken zum Vorschein kamen. Obwohl wir uns der Dringlichkeit der Maßnahmen bewußt gewesen waren, hatten wir derartige Mengen an Brandrückständen nicht erwartet.«361 Angesichts eines solchen Befundes (Stopfen von Lücken, fremde Flicken, Brandrückstände und Kohlenstaub) ist geradezu zu erwarten, daß die 1988 untersuchten Proben kontaminiert waren und daher ein ungenaues Ergebnis zeitigten. Aber auch anderes spricht gegen eine Datierung, die die Radiokarbonuntersuchungen erbracht haben: »In der Handschrift des 1192/95 datierten Codex Pray (Budapest, Széchényi Bibliothek) ist uns eine höchst bemerkenswerte historische Quelle überliefert, die das Turiner Grabtuch gleich mehrfach als das Grabtuch Christi ausweist. Auf zwei Miniaturen mit Darstellungen der Salbung Jesu und den Frauen am leeren Grab finden wir das Grabtuch Christi abgebildet – wie normalerweise zu erwarten – ungemustert weiß dargestellt. In der Szene der Frauen am leeren Grab ist in aller Deutlichkeit ein stilisiertes Spitzgradkörpermotiv zur Charakterisierung des dort abgebildeten Grabtuchs verwendet worden. Das ist ungewöhnlich und höchst bemerkenswert! Es zeigt, daß der Maler von der Existenz des Grabtuchs gewußt haben muß und daß er auch die ohne Zweifel besondere – auf Kostbarkeit deutende – Eigenart der Gewebestruktur des Leinens als solche erkannt hatte. [...] Indem er die Gewebestruktur und die [...] L–Löcher [...] in dieser Form verzeichnete, hat der Maler des Codex Pray gewissermaßen das Markenzeichen eines Tuches – das ihm als das Grabtuch Christi bekannt war – als Signatur auf dem Tuch vermerkt.«362 Wenn daher das Tuch Ende des 12. Jhs. bekannt war, kann man seine Entstehung nicht auf eine spätere Zeit datieren. Das Problem der Kontaminierung der Proben haben inzwischen auch die untersuchenden Institute akzeptiert; d. h. ihre Messungen etc. waren natürlich korrekt; aber die Proben, die sie zur Verfügung hatten, bestanden eben nicht ausschließlich aus dem ursprünglichen Material des Tuches.

Gibt es materielle Zeugnisse über Jesus?

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Die Schweizer Expertin für Textilkonservierung M. Flury-Lemberg konnte nach eingehender Untersuchung des Tuches feststellen, daß eine Herstellung dieses kostbaren Leinengewebes vermutlich in Ägypten erfolgt ist, für das 1. Jh. n. Chr. nicht ausgeschlossen werden kann und daß die professionellen Nähte, die das Tuch mit einem Streifen des gleichen Stoffes fast unsichtbar umranden, den Nähten und Gewebefragmenten aus Masada entsprechen, d. h. Gewebefunden, die vor 73 n. Chr. datiert sind! Von diesen Schlußfolgerungen her ist es einleuchtend, daß das Leinentuch aus dem 1. Jh. n. Chr. stammen kann.363 Es gibt kein Stück Stoff, das von so vielen Fachleuten aller Denominationen aus der ganzen Welt untersucht wurde, wie dieses Turiner Tuch und dennoch bleiben viele Fragen offen.364 Wie die Darstellung dieses geschundenen, gegeißelten, von einem Dornengeflecht entstellten, gekreuzigten Leichnam, dessen Seite durchbohrt wurde, auf dieses Tuch gekommen ist, konnte trotz aller Untersuchungen nicht geklärt werden.365 Geklärt konnte jedoch werden, und zwar durch die Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf Grund von sieben Merkmalen, die der Leichnam auf dem Tuch aufweist, daß für die Zeit, da es Kreuzigungen gegeben hat (etwa vom 7. Jh. v. Chr. bis ins 4. Jh. n. Chr. sind doch eine beachtliche Zahl von Kreuzigungen vorauszusetzen), die mathematische Wahrscheinlichkeit besagt, daß es einen so gekreuzigten Mann nur einmal gegeben haben kann.366 Nur von einem aber ist durch schriftliche Quellen bezeugt, daß er so gekreuzigt wurde: Jesus von Nazareth. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, zu sagen, das Problem sei nun gelöst, zumal die mathematische Wahrscheinlichkeit so hoch ist, daß nur ein Mensch, der mit Jesus identifiziert werden kann, auf diese Weise gekreuzigt wurde. Nach mathematisch-statistischer Wahrscheinlichkeit gelöst ist nur, daß es keinen vernünftigen Zweifel mehr geben kann, daß das Abbild des Turiner Tuches kein anderes als das von Jesus sein kann. Da aber ungeklärt ist, wie und wann das Abbild auf das Tuch gekommen ist, läßt sich eo ipso nicht folgern, es sei tatsächlich das Grabtuch Jesu. Untersuchungen, die gezeigt haben, daß Pollen der Gegend Jerusalems und Abdrucke von Blumen dieser Region auf dem Tuch vorhanden sind, sind zwar weitere Beweise, daß dieses Tuch dort verwendet wurde, aber über den zeitlichen Faktor dieser Verwendung lassen sich keine exakten Angaben machen.367 Unter Berücksichtigung der Untersuchung des textilen Befundes wird deutlich, daß das 1. Jh. für das Weben des Tuches nicht auszuschließen ist. Aber der wirkliche Beweis, daß es im 1. Jh. n. Chr., vielleicht sogar in der 1. Hälfte des 1. Jhs. n. Chr. auch verwendet wurde, ist damit noch nicht erbracht. Dieser Beweis könnte durch die beiden Münzabdrucke erbracht werden, immer natürlich unter der Voraussetzung, daß sie tatsächlich vorhanden sind und die Abdrucke nicht aus späterer Zeit stammen. Im Bereich des rechten Auges fand F. L. Filas schon vor 30 Jahren Spuren der griechischen Buchstaben UCAI

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(die Reste von TIBERIOU KAISAROS, [des Kaisers Tiberius], wobei KAISAROS orthographisch falsch geschrieben ist als CAISAROS) und Lituus-Stab. Solche Münzen mit dem Symbol des Kaiserkultes (Lituus) hat nur Pontius Pilatus prägen lassen, und zwar drei Serien in den Jahren 29/30; 30/31 und 31/32 n. Chr. Im Bereich des linken Auges wurde ein Ährenbündel nachgewiesen. Auch solche Münzen ließ Pontius Pilatus prägen. Sie gehören zur ersten Serie aus dem Jahr 29/30 n. Chr. und tragen auch den Namen von Julia, der Mutter des Kaisers Tiberius. Der Münzabdruck rechts kann daher aus keiner späteren Serie stammen als der von 29/30 n. Chr. Falls sich diese Abdrucke wissenschaftlich sicher nachweisen lassen, dann ist der unumstößliche Beweis erbracht, daß das Tuch 29/30 n. Chr. als Grabtuch verwendet wurde. Da der andere Beweis, daß auf dem Tuch kein anderes Abbild als das des gekreuzigten Jesu dargestellt sein kann, bereits erbracht ist, darf die Beweiskette als geschlossen angesehen werden und Spezialisten der verschiedenen Disziplinen können sich nun darauf konzentrieren zu erklären, wie das Abbild auf das Tuch gekommen ist.368 Bisher ist keine Hypothese vorgelegt worden, die wirklich überzeugend ist. Aber das könnte auch heißen, daß die Annahme der Unerklärbarkeit, wie das Abbild auf das Tuch gekommen ist, bleiben wird, vor allem dann, wenn das Entstehen dieses Abbildes Jesu ein transzendentes Geschehen wiederspiegelt. Ein transzendentes Geschehen läßt sich vielleicht plausibel machen, aber nicht erklären. Ich fasse zusammen: Die Webart des Leinentuches und die Nähte seiner Umrandung passen in das 1. Jh. n. Chr. und haben in den erhaltenen Stoffresten von Masada Parallelen, die Pollenanalyse etc. konnte die Gegend von Jerusalem bestimmen, die wahrscheinlich vorhandenen Münzabdrucke weisen in das Jahr 29/30 n. Chr. als Grablegung des Leichnams. Möglicherweise gibt es auch zeitgenössische Schriftzüge auf dem Tuch, den Namen »Jesus« und die Herkunftsbezeichnung »Nazarener«. Dazu kommt, daß die mathematisch-statistische Wahrscheinlichkeit sagt, daß kein anderer als der gekreuzigte Jesus dargestellt sein kann. Viel Material konnte in diesem Exkurs nicht vorgestellt werden. Abgesehen von den materiellen Zeugnissen über Personen des Umfeldes Jesu wie des Pontius Pilatus, des Hohenpriesters Joseph ben Kaiaphas bleibt es unwahrscheinlich, daß der römische Teil der Kreuzestafel original sein kann, aber möglicherweise eine genaue mittelalterliche Kopie davon ist. Das Turiner Grabtuch stammt mit großer Wahrscheinlichkeit aus der Zeit Jesu und zeigt ein Abbild, das nur auf Jesus zutreffen kann. Abdrucke von Münzen der ersten Prägung des Pontius Pilatus, 29/30 n. Chr., müssen jedoch genauer untersucht werden, was ebenso für

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die Schriftzüge gilt, die B. Frale festgestellt hat, damit der endgültige Beweis erbracht werden kann, daß es Jesu Grabtuch ist. Unberührt davon bleibt die Frage, wie das Bild auf das Tuch gekommen ist.

4. Das Jesusbild des Koran Jesus und seine Mutter Maria sind im Koran zwei eng miteinander verknüpfte Gestalten, so daß es sinnvoll ist, einen skizzenhaften Überblick sowohl über Maria als auch über Jesus im Koran, der von 610–632 v. Chr. Mohammed geoffenbart wurde, zu geben.369 Von Maria/Maryam, der Mutter Jesu/Isas handeln Sure 3,35–37.42–47 [4Md]; 4,146 [4Md]; 19,16–33 [2Mkk] (diese Sure trägt die Überschrift »Maryam« [Maria]); 21,91 [2Mkk]; 23,50 [2Mkk]; 66,12 [4Md]. Der Vater Maryams ist nach Sure 3,35 Imram. Der Name ihrer Mutter ist nicht genannt. Muslime kennen aber wie Christen den Namen Hanna/Anna. Spätere Kommentatoren wie z. B. Ibn Chaldun (gestorben 1406 n. Chr.) kennen auch Joachim als Name des Vaters von Maria (Ibn Chaldun II 1876: 145). In Sure 19,28 wird Maryam »Schwester Haruns/Aarons« genannt. Nach 1 Chr 5,29 ist Amram/ Imram der Vater des Mose und des Aaron, Mirjam seine Tochter. Von christlicher Seite wurde daher dem Koran vorgeworfen, daß er Maryam, die Mutter Jesu, mit der Schwester Aarons verwechsle. Dieser Vorwurf ist jedoch ungerechtfertigt. Einerseits sind Mohammed die typologischen Auslegungen der syrischen Christen bekannt, die in den alttestamentlichen Gestalten Vorausbilder der neutestamentlichen gesehen haben,370 andererseits war diese Bezeichnung ein geläufiger Ehrentitel für Frauen.371 Ferner sei darauf hingewiesen, daß es schon im vorislamischen Arabien üblich war, einen Verwandten oder Stammesangehörigen als Bruder oder Schwester zu bezeichnen; es mußte keine Blutsverwandtschaft vorliegen.372 Sure 3,35–37 erzählt, wie die mit Maryam schwangere Frau Imrams das in ihrem Leib werdende Kind Gott weiht und nach der Geburt Maryam373 dem Zacharias im Tempel zur Betreuung überläßt. Gott ernährt sie hier auf wunderbare Weise. V 36 heißt es: »Und ich gebe sie (Maryam) sowie ihre Nachkommenschaft in deine Obhut gegen den gesteinigten (oder verfluchten) Satan.« Die islamische Überlieferung hat diesen Vers im Sinne der unbefleckten Empfängnis verstanden. Der über jeden Zweifel erhabene Hadith drückt es so aus: »Jeder Mensch, der geboren wird, ist vom Satan berührt, außer dem Sohn Marias und seiner Mutter.«374 »[...] Maria! Gott hat dich auserwählt und rein gemacht! Er hat dich vor den Frauen der Menschen in aller Welt auserwählt.« (Sure 3,42). Ein moderner islamischer Theologie, Ibrahim al-Ğibbali schreibt dazu: »Jeder Muslim, der sich mit Folgerichtigkeit an den Islam hält, der an die Sendung Muhammeds glaubt [...] der glaubt auch ohne jede

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Beimischung eines Zweifels, daß Maria frei von jeder Sünde ist, die sie entehren würde, rein von jedem Fehler, der ihre Würde herabsetzt, daß sie zu den edelsten Frauen gehört. Wer daran zweifelt, ist ein Ungläubiger.«375 Diese Aussage des Koran und der Theologie ist die gleiche, die das Neue Testament implizit ausspricht und die Kirche explizit glaubt (vgl. DS 2800–1804). Die Aussagen über Maryam als Tempeljungfrau etc. sind nicht biblisch, folgen, allerdings sehr verkürzt, dem Protoevangelium des Jakobus 5,28,1. Joseph, den das Neue Testament als Verlobten und Mann Marias nennt, wird im Koran schweigend übergangen.376 Der älteste Marientext, Sure 19,16–35, erzählt, wie der Engel von Gott die Botschaft zu Maria bringt und stellt fest, daß sie daraufhin schwanger geworden ist. Sure 21,92 und 66,12 schildern den Vorgang der wunderbaren Zeugung: Maryam, die sich keusch hielt (wörtlich: »die ihre Scham schützte«), wurde von Gott Geist von ihm in sie eingehaucht. Der Koran wie auch die islamische Glaubensgeschichte lehren daher, daß Jesus ohne einen menschlichen Vater durch Gottes Geist aus der Jungfrau Maryam Mensch wurde. Der wesentliche Unterschied zwischen der christlichen und der islamischen Auffassung ist aber der, daß nach dem Koran nicht der seit Ewigkeit vom Vater gezeugte Sohn (Logos) durch das Einhauchen/Überschatten aus der Jungfrau Maryam/Maria Mensch wurde (vgl. Joh 1,14), sondern daß Gott Jesus in Maria erschafft. Sure 3,59 heißt es: »Jesus ist vor Gott gleich Adam. Den erschuf er aus Erde [...].« Der Vergleichspunkt ist der, daß sowohl Adam als auch Jesus ohne menschlichen Vater erschaffen wurden. Weil Jesus auf das Wort Gottes hin erschaffen wurde, kann er auch »Wort (arabisch: kalima) Gottes«377 oder »Geist (arabisch: ruḥ) Gottes« genannt werden (Sure 4,171). Über den Geburtsort Jesu sagt der Koran nichts Genaues.378 Die Nennung der Palme, die Maryam in ihrer Not Datteln spendet, und das Wasser unter ihren Füßen, sind im Orient uralte Symbole des unendlichen Lebens der Gottheit, von der Maryam bei der Geburt ihres Kindes gestärkt und umfangen wird. Der Geburtsvorgang wird nicht geschildert, und es ist zu folgern, daß er ein natürlicher war, wie dies die islamische Lehre immer betont hat. Der Islam hat daher nie wie das Christentum die Ansicht vertreten, daß Maryam bei und nach der Geburt im körperlichen Sinne Jungfrau geblieben ist. In einem übertragenen Sinn kann sie auch nach der Geburt als »Jungfrau« bezeichnet werden – es ist dann ein Ehrentitel –, aber in biologischer Hinsicht war sie nur vor der Geburt Jesu Jungfrau.379 Zeuge dafür, daß Maryam Jesus ohne einen menschlichen Vater empfangen hat, ist das neugeborene Jesuskind selber, daß die Verteidigung seiner Mutter gegenüber den Juden übernimmt (Sure 4,156).380 Maryam, die der Koran als einzige Frau namentlich nennt, wird daher im Islam überaus hoch geschätzt: Sie ist die im Schoß ihrer Mutter unbefleckt Empfangene, begnadet vom ersten Augenblick ihres Dasein an, sie ist die Reine, die

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Gott vor jeder Sünde bewahrte, sie ist die jungfräuliche Mutter einer der größten Propheten und Gesandten Gottes. Islamische Theologen haben auch darüber diskutiert, ob Maryam nicht auch der Titel »Prophetin« zustünde. Meistens erkennen sie ihr nur den Titel »Heilige« zu. Immerhin zählt sie aber einer der großen Exegeten, Ibn Hazm (gest. 1064 n. Chr.), zu den Propheten.381 In einem paganisierten Verständnis konnten damals arabische Christen Maria als die dritte Hypostase der Dreifaltigkeit deuten.382 .Vom christlichen Standpunkt aus ist das ein Irrglaube und wird auch vom Koran als ein solcher abgelehnt: »Und wenn Gott sprechen wird: O Jesus, Sohn Marias, hast du zu den Menschen gesprochen: Nehmt mich und meine Mutter als zwei Götter neben Gott an?« (Sure 5,116). Die geschichtliche Tragik ist, daß Mohammed auf ein solch falsches christliches Gottesverständnis gestoßen ist, das er abzulehnen gezwungen war, wenn er seiner prophetischen Sendung treu bleiben wollte. Maryam, Fatima, die Tochter des Propheten, und Aischa, die Lieblingsfrau des Propheten, sind die drei großen Frauengestalten des Islam. Welcher von ihnen der höhere Rang zukommt, entscheidet die islamische Tradition nicht absolut, aber es gibt Berichte, in denen Fatima und Aischa erklären, daß sie Maryam den höheren Rang einräumen.383 »Dies ist keine Flucht; vielmehr eine ehrfurchtsvolle Haltung angesichts von Texten, die sich widersprechen, von denen man jedoch keinen fallen lassen wagt, aus Furcht, es möchte sich um den bedeutungsvolleren handeln. Man stellt es eben Gott anheim, der alles weiß.«384 Die Auffassung des Koran über Jesus/Isa ist derjenigen in den Evangelien bezüglich seines öffentlichen Wirkens im Kern nicht unähnlich. Sure 19,30 läßt Isa sich selbst »Diener Gottes« und »Prophet« nennen. Aber auch der noch höhere Titel »rasul« (Gesandter) steht ihm zu (Sure 4,157.170; 5,81.111). Isa ist auch ein »Muqarrab«, einer, den die göttliche Barmherzigkeit Gott ganz nahe gebracht hat (Sure 4,171). Mit Sure 19,30 beginnt Isa schon als Kind seine prophetische Lehrtätigkeit, die ihn von jetzt an weiter begleiten sollte. Als besonderer Prophet hat Isa das Evangelium von Gott erhalten (Sure 57,27). »Und wir ließen hinter ihnen (d. h. den Gottesmännern der Kinder Israels) her Jesus, den Sohn der Maria, folgen, daß er bestätige, was von der Thora vor ihm da war. Und wir gaben ihm das Evangelium, das (in sich) Rechtleitung und Licht enthält, damit es bestätige, was von der Thora vor ihm da war, und als Rechtleitung und Ermahnung für die Gottesfürchtigen.« (Sure 5,46 [4Md]). Isa fordert von den Kindern Israels Gehorsam Gott gegenüber (Sure 3,50 [4Md]). Er bestätigt zwar die Thora, erklärt aber einiges für erlaubt, was sonst als verboten gilt. In diesem Sinn versteht Mohammed Isa als den Propheten, der die alte, unverfälschte Religion, d. h. den Islam, wiederherstellt. Der Inhalt der Predigt Isas dreht sich um Themen des Dekaloges, wie z. B. um das vierte Gebot in Sure 19,32. Auch die allgemeine Einleitungsformel. »Und ich bin euer Herr, dienet mir!«

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(Sure 21,92; 23,52 [2Mkk]) deutet z. B. auf die des Dekaloges von Ex 20,2. Der Inhalt des Dekaloges wird aber gleichsam durch die Verpflichtung zum Gebet und zur Almosensteuer inhaltlich zusammengefaßt (Sure 19,31). Anders ausgedrückt heißt dies, daß im Zentrum der Predigt Isas die Gottes- und Nächstenliebe stehen (Matth 22,34–40; Mk 12,34–38).385 Ebenso wie es zu den prophetischen Aufgaben gehört, seine Vorgänger zu bestätigen, so auch, seinen Nachfolger voraus zu künden. »Und (damals) als Jesus, der Sohn der Maria sagte: Ihr Kinder Israels! Ich bin von Gott zu euch gesandt, um zu bestätigen, was von der Thora vor mir da war, und einen Gesandten mit einem hochlöblichen Namen zu verkünden, der nach mir kommen wird [...]« (Sure 61,6 [4Md]). Mohammed sind offenbar die Paraklettexte Joh 14,16.26; 15,26; 16,7–17 bekannt, in denen Jesus den Parakleten (Heiligen Geist) verheißt. Wenn man das griechische Nomen »Parakletos« ([der] Herbeigerufene) in einem Wortspiel als »periklytos« (hochgerühmt) liest, entspricht dies etwa dem arabischen Namen »Ahmad« (hochlöblich, hochberühmt), eine Kurzform für Mohammed. So verstanden, hätte Isa das Kommen des arabischen Propheten weisgesagt. Ein entscheidendes Anliegen der Predigt Isas ist das der Einheit der Gemeinde (Sure 21,92; 23,52 [2Mkk]). Isa erreicht allerdings nichts (vgl. Sure 2,253). Es gibt weiter Ungläubige (Juden), die auf seine Predigt nicht gehört haben, und Christen. Dieses Anliegen um die Einheit der Gemeinschaft erinnert sehr stark an Joh 17 (vgl. Joh 17,12–15 mit Sure 5,117 [4Md]). Während in den Evangelien die Gleichnisse bedeutend sind, legt der Koran Isa kein Gleichnis in den Mund. Es gibt nur Anklänge an Parabeln.386 Die Jünger Isas sind im Koran namenlos geblieben. Sie sind gleichsam eine unbestimmte Masse (Sure 5,111f [4Md]).387 Isa gilt auch im Koran als der große Wundertäter.388 Das größte Wunder ist natürlich die Offenbarung selber, die an ihn ergangen ist (Sure 2,253). Mit Sure 3,49 »[...] Und ich werde mit Gottes Erlaubnis Blinde und Aussätzige heilen und Tote wieder lebendig machen« sind zwei Kategorien von Wundern zusammengefaßt (vgl. Sure 5,110f). An das Wunder der Eucharistie erinnert Sure 5,112–115. Es wird auf das Wunder der Brotvermehrung (Matth 14,13–21; Joh 6,1–15) und an die Eucharistiefeier der Christen angespielt (1 Kor 10,21; 11,20),389 wobei auch ein nicht eucharistischer Text wie Apg 10,9–16 Einfluß genommen hat. Über die scheinbare Kreuzigung Isas berichtet nur Sure 4,155–159 [4Md]: »Und weil sie (die Juden) ihre Verpflichtung brachen und nicht an die Zeichen Gottes glaubten und unberechtigterweise die Propheten töteten und sagten: Unser Herz ist unbeschnitten – aber nein, Gott hat es ihnen (zur Strafe) für ihren Unglauben versiegelt, weshalb sie nur wenig glauben –, und weil sie ungläubig waren und gegen Maria eine gewaltige Verleumdung vorbrachten, und (weil sie) sagten: Wir haben Christus Jesus, den Sohn der

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Maria und Gesandten Gottes, getötet. – Aber sie haben ihn (in Wirklichkeit) nicht getötet und (auch) nicht gekreuzigt. Vielmehr erschien ihnen (ein anderer) ähnlich (so daß sie ihn mit Jesus verwechselten und töteten). Und diejenigen, die über ihn (oder: darüber) uneins sind, sind im Zweifel über ihn (oder: darüber). Sie haben kein Wissen über ihn (oder: darüber), gehen vielmehr Vermutungen nach. Und sie haben ihn nicht mit Gewißheit getötet. Nein, Gott hat ihn zu sich (in den Himmel) erhoben. Gott ist mächtig und weise. Und es gibt keinen von den Leuten der Schrift, der nicht (noch) vor seinem (d. h. Jesu) Tod (der erst am Ende aller Tage eintreten wird) an ihn glauben würde. Und am Tag der Auferstehung wird er über sie Zeuge sein.« Dieser Text steht im Zusammenhang mit einer langen Liste von Sünden, die den Juden angelastet werden; darunter auch die Verleumdung Maryams – der Text denkt wahrscheinlich an den jüdischen Vorwurf, daß Isa aus einem ehebrecherischen Verhältnis Maryams stamme – und die Behauptung, sie hätten Isa getötet. Doch sie haben Isa nicht getötet und gekreuzigt, sondern einen anderen, der ihm ähnlich war. Der arabische Text dieser Stelle lautet: »walakin šubbiha lahum« (wörtlich: »sondern [ein anderer] wurde ähnlich gemacht für sie«). Isa dagegen wurde den Juden entzogen und von Gott in den Himmel aufgenommen. Wie V 157 nahelegt, waren sich aber die Juden nicht klar, ob sie Isa wirklich getötet haben. Sie könnten es daher noch einmal versuchen. Dem kommt aber Gott durch die Aufnahme Isas in den Himmel zuvor. Diese Aufnahme Isas in den Himmel geschieht, ohne daß Isa zuvor sterben muß. D. h. Isa bleibt trotz seiner Aufnahme in den Himmel ein Mensch, der noch sterben muß.390 Er wird aber am Ende der Tage (vgl. Sure 43,61 [2Mkk]) auf diese Welt herabsteigen, um den »Masih ad-Dağal« (Messias-Betrüger) mit einer Lanze zu töten (vgl. 2 Thess 2,8). Erst danach wird Isa sterben und begraben werden. Kurze Zeit darauf, wenn der Tag der Auferstehung und des Allgemeinen Gerichtes kommt, wird Isa wie die anderen Menschen auferweckt. Er wird beim Gericht nicht Richter sein – das ist ausschließlich Sache Gottes –, aber Zeuge des Gerichtes über die Christen, wenn sie zum Gericht erscheinen. Mit der Leugnung des Kreuzestodes Jesu vertritt der Koran eine doketische Lösung. Der Monophysitismus in seiner julianischen Spielart391 sah den Leib Jesu unsterblich und unverweslich und deutete daher Jesu Leiden und Sterben als Schein (doketisch). Der Koran, der hier einem monophysitisch-gnostisch geprägten Jesusbild nahekommt, zieht daraus aber nicht die Konsequenz des Monophysitismus; denn Jesus ist und bleibt nur Mensch, der der göttlichen Natur nicht teilhaftig ist. Da Isa nach dem Koran nicht am Kreuz gestorben ist, fällt daher auch die Auferstehung nach seinem Kreuzestod weg. Er wird zwar dereinst auch von den Toten erweckt, aber so wie alle anderen Menschen auch.

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Es gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen dem biblischen und dem koranischen Jesus. Das Zentrum des Christentums: Kreuz und Auferstehung Jesu werden aber abgelehnt. Alle Titel, die der Koran Isa gibt, wie Messias (Christus), Wort Gottes etc. dürfen daher nicht mit der christlichen Brille gesehen werden. Messias ist einfach im wörtlichen Sinn der Gesalbte, der Auserwählte Gottes. »Wort Gottes« kann Isa deswegen genannt werden, weil Gott sein Wort in die Jungfrau Maria legte und Isa ohne einen menschlichen Vater erschaffen hat. An zahlreichen Stellen lehnt der Koran die christliche Auffassung ab, daß Jesus/Isa der göttliche Sohn Gottes ist (Sure 2,116–117 [4Md] 4,171 [4Md] 5,72–77 [4Md] 6,101 [3Mkk] 9,30–33 [4Md] 17,111 [2Mkk] 72,3 [2Mkk]). Sure 19,88–95 ist ein beschwörender Aufruf: »Und sie sprechen: Gezeugt hat der Erbarmer einen Sohn. Wahrlich ihr behauptet ein ungeheuerlich Ding. Fast möchten die Himmel darob zerreißen, und die Erde möchte sich spalten, und es möchten die Berge stürzen in Trümmer, daß sie dem Erbarmer einen Sohn beilegen, ihm, dem es nicht geziemt, einen Sohn zu zeugen. Niemand ist im Himmel und auf der Erde, der nicht als Diener zum Barmherzigen kommen würde. Er hat sie alle gezählt und errechnet. Und sie alle werden am Tag der Auferstehung einzeln zu ihm kommen.« Für den Koran ist es ein unvollziehbarer Gedanke, daß Gott einen Sohn hat. Der Koran versteht daher den Begriff der Zeugung in rein physischem Sinn, wozu Gott eine gleichwertige Partnerin bräuchte. Sure 112 sagt aus, daß Gott ungezeugt ist, wie dies die apostolischen Väter ebenso tun, schließt aber im Unterschied zur christlichen Theologie vom Ungezeugtsein Gottes auf sein Nichtzeugen. Kein Christ konnte Mohammed offenbar erklären, daß die Theologie der alten Kirche unter »zeugen« keinen physischen Akt Gottes versteht, sondern den ewigen, liebenden Erkenntnisakt des Vaters. Aber sehen wir nicht ausschließlich auf die Unterschiede, mögen sie auch fundamental sein; sehen wir auf das Gemeinsame: »Zwischen denjenigen, die glauben (d. h. den Muslimen), denjenigen, die dem Judentum angehören, den Sabiern, den Christen, den Zoroastriern und denjenigen, die (dem einen Gott andere Götter) beigesellen, wird Gott am Tag der Auferstehung entscheiden. Er ist über alles Zeuge.« (Sure 22,17 [4Md]). Für die Glaubensgeschichte von Christen und Muslimen ist das koranische Jesusbild jedoch wichtig, weil es durch Mohammeds Offenbarungen bedingt einen anderen, legitimen Weg (vgl. Gen 21, 9–21) der Heilsgeschichte zeigt. Von der historischen Sicht her muß allerdings gesagt werden, daß der Koran als eigenständige Quelle des Lebens Jesu nicht in Frage kommt, weil er auf den christlichen Quellen über Jesus beruht, und zwar teils auch auf fragwürdigen Quellen, die in den Bereich der Apokryphen u. ä. gehören. Die Quellen werden bisweilen anders akzentuiert und eklektisch benutzt.

Schlußbemerkung

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Schlußbemerkung Abgesehen von den koranischen Aussagen, ließen sich eine stattliche Anzahl von historischen Quellen über Jesus von Nazareth finden, außerchristliche (Sueton, Plinius der Jüngere, Tacitus, Josephus Flavius und die tannaitische Tradition), christliche (primär die vier kanonischen Evangelien) und materielle (allerdings die römische Kreuzestafel und das Turiner Grabtuch nur bedingt). Es seien nun abschließend die Quellen von zwei zeitlich mit Jesus vergleichbaren Personen genannt, die ebenso wie Jesus nicht aus berühmten und wohlhabenden Familien oder gar aus zeitgenössischen Herrscherfamilien entstammten. Die eine Person lebte eine Generation vor Jesus, die andere einige Jahrzehnte nach ihm. Es wird daraus deutlich, wie zahlreich die Quellen über Jesus sind und welche Güte ihnen eignet. Trotz spärlicher und bisweilen zweifelhafter Quellenlage ist kein Althistoriker jemals auf den Gedanken gekommen, die Existenz dieser beiden Personen zu leugnen. Die erste Person, die ich anführe, ist Rabban Hillel. Die Herkunft, geschweige der Geburtsort Hillels sind unbekannt. Seine Heimat soll nicht Judäa oder Galiläa gewesen sein, sondern die östliche Diaspora (Babylonien). Spätere Überlieferungen sprechen auch von seiner davidischen Abstammung. Das Jahr seiner Geburt ist völlig unbekannt. Die Schätzungen gehen von 75 v. Chr.392 bis in die Zeit Herodes des Großen.393 Auch das Jahr seines Todes ist unsicher.394 Es ist also weder das Geburtsjahr noch das Todesjahr einigermaßen gesichert, aber bSoṭa 48b überliefert den Beginn der Trauerrede bei seinem Begräbnis: »O Frommer, o Sanftmütiger, Schüler des Ezra.« Das ist eine treffende Charakteristik des Rabban Hillel, den die rabbinischen Überlieferungen als friedvollen und sanftmütigen Menschen darstellen, wenngleich durch diese Überlieferungen Hillel mit dem strengen Rabbi Schammai konstrastiert wird und sie Züge der hellenistischen Gelehrtenbiographie aufweisen.395 Historisch zuverlässig scheint zu sein, daß die »Goldene Regel« (bSchabbat 31a) und andere Aussprüche aus Abboth, ferner wahrscheinlich die sieben hermeneutischen Regeln der Schriftauslegung (vgl. S. 56) und die Zusatzverordnung zu Dtn 15,1–3.9–11 (Prosbul) auf ihn zurückgehen. »Prosbul« ist ein griechisches Wort (proßbolh/) mit der Bedeutung »Übergabe«. Diese Zusatzbestimmung hatte folgenden Sinn: Die Thora schreibt vor, daß im Sabbatjahr die Schulden verfallen. Das hatte in wirtschaftlich schlechten Zeiten zur Folge, daß reiche Landsleute keine Darlehen mehr vergaben, weil sie fürchteten, daß dieses im Sabbatjahr verfällt. Damit doch jemand zu einem Darlehen kam, konnte er nun die Bestimmung Hillels anwenden, die besagt, daß man freiwillig vor einem Gericht erklären kann, das Darlehen dennoch zur festgesetzten Zeit zurückzuzahlen.396 Die Prosbul schützt also ein Darlehen vor dem Verfall.

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Die Quellen des Lebens Jesu

Es ist nicht gerade berauschend viel, was als einigermaßen historisch sicher über den großen Lehrer Israels ausgesagt werden kann, aber auf die völlig abwegige Idee, daß Rabban Hillel keine historische Person, sondern nur eine Phantasiegestalt sei, die das spätere rabbinische Judentum geformt hätte, ist Gott sei Dank noch niemand gekommen! Die zweite Person, auf die ich kurz hinweisen möchte, ist Apollonius von Tyana. Er stammte aus dem kappadokischen Tyana und wurde um 40 n. Chr. geboren. Gestorben dürfte er um 120 n. Chr. sein. Historisch sicher kann von ihm nur gesagt werden, daß er als Philosoph in der Nachfolge Pythagoras‘ stand und ein Wanderleben im Osten des Reiches führte.397 Um 120 n. Chr. verfaßte Maximus von Aigai ein Buch über seine Taten. Einige Jahrzehnte später schrieb Moiragenes über ihn eine kritische und seine Taten ablehnende Biographie (vgl. Origenes, Contra Celsum 6,41), was aus dem späteren Urteil des Philostratos zu erschließen ist. Beide Werke sind nicht erhalten. Ein Buch des Apollonius über Opferbräuche könnte authentisch sein. Erhalten ist nur mehr ein Fragment.398 Lukian von Samosata (120–ca. 200 n. Chr.) sieht in Apollonius einen Scharlatan (Alexandros 5)399 und wird mit seinem Urteil im Recht sein. Legendenhafte Wundererzählungen, die Apollonius zugeschrieben wurden, dürften bereits während seines Lebens und später im Umlauf gewesen sein. Zwischen 218 und 235 n. Chr. verfaßte der Sophist Philostratos im Auftrag der römischen Kaiserin Julia Domna eine Biographie des Apollonius.400 Dieses Auftragswerk ist romanhaft geschrieben und verherrlicht Apollonius als Weisen mit übernatürlichen Fähigkeiten. Die Hauptquelle, auf die sich Philostratus beruft, das Tagebuch des Damis, ist eine literarische Fiktion! Apollonius wird darin so dargestellt, wie er sich selber als Schüler des Pythagoras sehen wollte. Diese »Biographie« ist daher historisch wertlos, da sie sich auf keine authentischen Quellen berufen kann. Die Vermutung liegt nahe, daß die Kaiserin Julia Domna, die ebenfalls aus dem Osten stammte, Apollonius als Konkurrenten zu Jesus von Nazareth darstellen ließ, zumal z. B. Wunderberichte denen des Neuen Testaments ähnlich sind. Jedenfalls schon rund 50 Jahre nach Erscheinen dieses Buches beruft sich der Neuplatoniker Porphyrios auf Apollonius, um gegen das Christentum zu polemisieren und Anfang des 4. Jhs. n. Chr. schrieb der bekannte Christenverfolger Sossianus Hierokles, daß Apollonius Christus überlegen gewesen sei,401 was Eusebius von Cäsarea zu einer scharfen Antwort herausforderte (Eusebius‘s Reply to Hierocles, ed. C. P. Jones 2006). Die Quellen über Apollonius sind also sehr dürftig, sei es was ihre Zahl, sei es was ihre Zuverlässigkeit anlangt. Als historische Person, deren Leben zeitlich in das 1. Jh. und das beginnende 2. Jh. n. Chr. fällt und die ein Wanderleben in der Nachfolge Pythagoras‘ führte, ist nicht zu zweifeln.

IV. Geburt, Kindheit und Berufung Jesu Die Quellen für diesen Teil sind hauptsächlich die beiden ersten Kapitel des Matthäus- und des Lukasevangeliums. Die historische Auswertung dieser Texte ist schwierig, da sie im weitesten Sinn der literarischen Gattung nach haggadische Literatur sind.402 Es ist daher nicht von vornherein möglich, darin Berichte über das wirkliche Geschehen und den tatsächlichen Verlauf der Ereignisse zu sehen. Zweifellos sind aber historische Fakten wie z. B., daß Jesus geboren wurde, in diesen Erzählungen enthalten. Den Evangelisten geht es aber nicht nur um die historische Faktizität, sondern darum, wer eigentlich dieser Jesus ist und was er für sie und ihre Leser bedeutet. Sie interpretieren daher Jesus von ihrem Glauben, daß er nicht nur ein hochbedeutender Mensch war, der einmal gelebt hat, sondern daß sich in diesem Menschen Jesus von Nazareth der göttliche Sohn Gottes auf endgültige und unüberholbare Weise gezeigt hat und zeigt! Die Deutung der Ereignisse in diesem Glauben ist zwar empirisch nachvollziehbar, aber im menschlich-wissenschaftlichen Sinn nicht beweisbar.

1. Die historischen Fakten In Matth 2,1 heißt es, daß Jesus in »den Tagen des Königs Herodes« geboren wurde. Demnach könnte aus dieser Feststellung allein das Geburtsdatum Jesu zwischen 40/ 37 bis 4 v. Chr.403 liegen. Aber aus Matth 2,21 wird deutlich, daß seine Geburt gegen Ende der Regierungszeit Herodes des Großen gewesen sein mußte, da Joseph im Traum die Weisung erhält, von Ägypten in das Land Israel zurückzukehren. Herodes, der dem Kind nach dem Leben trachtete, war gestorben. Archelaos wurde Nachfolger seines Vaters als Ethnarch von Judäa. Joseph zieht es daher vor, Judäa zu meiden und in Nazareth Wohnung zu nehmen. Nach diesem Text kann daher die Zeit gegen Ende der Herrschaft des Herodes, also etwa die Jahre 7 bis 4 v. Chr. als Geburtsjahr Jesu erwogen werden. Luk 2,1–7 berichtet, daß Jesus zur Zeit des von Kaiser Augustus angeordneten Census geboren wurde, als Quirinius über Syrien gebot. Publius Sulpicius Quirinius war ab dem Jahre 6 n. Chr. kaiserlicher Legat Syriens. Zu dieser Zeit gab es aber keinen solchen vom Kaiser verordneten Census für das gesamte Reich, sondern nur den alle 14 Jahre stattfindenden Provinzcensus. Da Lukas (1,5) die Geburt Johannes des Täufers in die Zeit Herodes des Großen legt, Jesus aber nach Lukas kurz nach Johannes geboren wurde, ist auch er Zeuge, daß Jesus noch gegen Ende der Herrschaft des Herodes geboren wurde. So gesehen, ist es unmöglich, daß Lukas die Statthalterschaft des Quirinius ab dem Jahre 6 n. Chr. gemeint haben kann, als Quirinius nach der Verbannung des Archelaos vom Kaiser den Auftrag hatte, Judäa als Präfektur in die römische

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Provinz Syrien einzugliedern, wobei das Vermögen des Archelaos konfisziert wurde. Eine Schätzung des herodeischen Eigentums ließ schon 4 v. Chr. der syrische Legat Quinctilius Varus von seinem Finanzverwalter Sabinus durchführen, was Aufstände zur Folge hatte, die auch Galiläa erfaßten (vgl. S. 36).404 Weder die Schätzung des Sabinus noch die Konfiszierung unter Quirinius, noch der 6 n. Chr. durchgeführte Provinzcensus können mit dem von Lukas genannten Census in Verbindung gebracht werden. Die im Tempel des Augustus und der Göttin Roma in Ancyra (heute Ankara) gefundene Inschrift der Taten des Kaisers (Res Gestae Divi Augusti) nennt drei von Augustus befohlene Census: in den Jahren 28 und 8 v. Chr. wie 14 n. Chr. In Abschnitt 8 der Inschrift heißt es: »Die Zahl der Patrizier vermehrte ich in meinem fünften Konsulat [29 v. Chr.] auf Geheiß von Volk und Senat. Eine Neuordnung des Senats habe ich dreimal vorgenommen. In meinem sechsten Konsulat [28 v. Chr.] habe ich mit meinem Amtskollegen Marcus Agrippa eine Vermögensschätzung des Volkes durchgeführt. Eine solche Schätzung habe ich nach 42 Jahren erstmals wieder veranstaltet; dabei wurden 4.063 000 römische Bürger gezählt. Dann habe ich kraft meiner konsularischen Amtsgewalt wiederum eine Schätzung veranstaltet, und zwar ohne Kollegen im Amtsjahr der Konsuln Gaius Censorinus und Gaius Asinius [8 v. Chr.]. Dabei wurden 4.233 000 römische Bürger gezählt. Eine dritte Zählung habe ich kraft meiner konsularischen Amtsgewalt mit meinem Sohn Tiberius Caesar als Kollegen durchgeführt unter den Konsuln Sextus Pompeius und Sextus Appuleius [14 n. Chr.]. Dabei zählte man 4.937 000 römische Bürger. Durch neue, auf meinen Antrag hin erlassene Gesetze habe ich viele vorbildliche Einrichtungen der Vorfahren, die schon aus dem Gedächtnis unseres Zeitalters schwanden, wieder erneuert und selbst für viele Dinge nachahmenswerte Vorbilder der Nachwelt überliefert.«405 Bei diesen Steuerschätzungen ging es um die Erfassung der Römischen Bürger und sie sind von den Schätzungen, die in den Provinzen zur Erfassung aller Steuerpflichtigen durchgeführt wurden, zu unterscheiden. In der Provinz Syrien wurde der Census alle 14 Jahre durchgeführt, um die männliche Bevölkerung ab dem 14., die weibliche ab dem 12. Lebensjahr (beide bis zum 65. Jahr) zu erfassen. Im Jahre 8 v. Chr. fiel der vom Kaiser verordnete Census für das Gesamtreich mit dem syrischen Provinzcensus zusammen, was sich alleine schon daraus ergibt, daß nach 14 Jahren, also im Jahre 6 n. Chr., wieder der Provinzcensus in Syrien durchgeführt wurde. Herodes der Große war noch eifriger als die Römer darauf bedacht, die Bevölkerung seines Reiches, das als autonomes Königreich letztlich zur Provinz Syrien gehörte, steuerlich zu erfassen. Er führte einen solchen Census alle sechs Jahre durch (A. Schalit 2001: 276–278). Im Jahre 8 v. Chr. fiel der Census des Herodes, der Census in der Provinz Syrien und der Census für das Gesamtreich zusammen! Die Steuerschätzungen in den Provinzen waren natürlich keine Eigenmächtigkeiten der entsprechenden Beamten, sondern ebenso vom Kaiser verordnet, wie Tacitus (Annalen I 11) bestätigt, wo es von der Zeit

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des Augustus heißt: »[...] Die Kräfte des Staates waren darin (in einer Denkschrift) aufgezeichnet: wie viele Bürger und Bundesgenossen unter den Waffen, wie viele Flotten, wie viele Königreiche, Provinzen, direkte oder indirekte Steuern, notwendige Ausgaben und Spenden. Dieses alles hatte Augustus mit eigener Hand verzeichnet und den Rat hinzugefügt, das Reich innerhalb seiner Grenzen zu erhalten. [...].« Der Census, den Lukas erwähnt, kann nur der vom Jahr 8 v. Chr. gewesen sein, als alle drei Steuerschätzungen zusammenfielen. Sie werden sich einige Zeit hingezogen haben, bis ein umfassendes Ergebnis vorlag. Josephus, Ant XVII 42), ist vermutlich eine Anspielung darauf, daß im Jahre 7 v. Chr. auch der Census für das Gesamtreich im Gebiet des Herodes zusammen mit dem von ihm und von der Provinz Syrien verordneten durchgeführt wurde. Josephus spricht von einem Treueid des gesamten jüdischen Volkes an den Kaiser. Zu Beginn dieser Steuerschätzung war noch Gaius Sentius Saturninus syrischer Legat. Ihm folgte im Jahre 6 v. Chr. Publius Quinctilius Varus bis 4 v. Chr., da Varus nach dem Tod Herodes des Großen und dem unglückseligen Beginn der Herrschaft des Archelaos die jüdischen Erhebungen niederschlagen mußte. Lukas nennt Quirinius als kaiserlichen Statthalter Syriens, unter dem die Censusmaßnahmen durchgeführt wurden. Die Tibur-Inschrift (H. Dessau 1892/1916: 918) »[...] PRO CONSULE ASIAM PROVINCIAM OP[tinuit; legatus pro praetore] DIVI AUGUSTI ITERUM SYRIAM ET PH[oenicen optinuit]. ([Er hatte] als Prokonsul die Provinz Asia in[ne]; [als Legat pro praetore] des göttlichen Augustus [hatte er] wiederum Syrien und Ph[önikien inne]),406 bestätigt, daß Quirinius als Prokonsul Herr über die Provinz Asien war. Er führte von 11 bis 7 v. Chr. im südlichen Kleinasien den Homonadenserkrieg (vgl. auch Tacitus, Annalen III 48; CIL VI 17130; VIII 68) mit Hilfe der drei in Syrien stationierten Legionen, die als einzige Legionen des östlichen Reiches zu diesem Zeitpunkt sonst nicht gebunden waren, und war daher automatisch oberster Statthalter Syriens. Das »iterum« der Inschrift bezieht sich daher auf die Statthalterschaft des Quirinius im Jahre 6 n. Chr. D. h. unter dem prokonsularischen Imperium des Quirinius fanden alle Censusmaßnahmen in der Provinz Syrien und im Reich Herodes des Großen statt, obwohl der kaiserliche Legat Syriens zu dieser Zeit Sentius Saturninus war. Quirinius war dessen Vorgesetzter. So kann z. B. der christliche Jurist Tertullian (Adversus Marcionem IV 19,10; um 207 n. Chr.) schreiben, daß der Census unter Sentius Saturninus (9–6 v. Chr.) in Judäa durchgeführt wurde (»Sed et census constat actos sub Augusto nunc in Judaea per Sentium Saturninum« [Adversus Marcionem, ed. E. Evans 1971]). Tertullian widerspricht damit keineswegs dem Evangelisten Lukas, sondern hält nur den Namen des dem Quirinius untergeordneten Beamten Saturninus fest, der für die konkrete Durchführung zuständig war. Lukas hat sich daher nicht im Namen des hohen kaiserlichen Beamten geirrt, sondern berichtet konkret von unterschiedlichen Censusmaßnahmen, die zeitlich zusammengefallen sind: von dem des Kaisers für das Gesamtreich und

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von dem für die Provinz Syrien, für die Quirinius die letzte Verantwortung trug. Es wäre daher wünschenswert, das von Luk 2,2 verwendete griechische Verb h˚gemoneu/w, das »vorangehen, befehligen, herrschen, gebieten« bedeutet, in diesem Fall statt »als Quirinius Statthalter von Syrien war«, folgendermaßen zu übersetzen » [...] als Quirinius über Syrien gebot.« Luk 2,2 spricht vom »ersten« Census unter Quirinius und unterscheidet damit diesen vom Census des Kaisers, der der zweite Census des Augustus war, und für das Gesamtreich die römischen Bürger erfaßte, vom syrischen Provinzcensus, der tatsächlich der erste war, der unter Quirinius durchgeführt wurde. Es läßt sich daher festhalten, daß im Jahr 8 v. Chr der Census des Kaisers für das Gesamtreich, der syrische Provinzcensus für alle sonstigen Einwohner der Provinz und der herodeische Census begonnen hatten. Er dauerte wahrscheinlich das gesamte Jahr 7 v. Chr. und zog sich vielleicht noch bis in das Jahr 6 n. Chr., solange Sentius Saturinus Legat Syriens war. Dem zufolge ist daher Jesus im Jahre 7 oder 6 v. Chr. geboren worden.407 Vielleicht läßt sich dieser Zeitraum noch genauer bestimmen. Matth 2,1–12 berichtet vom Besuch der »Magoi aus dem Osten«. Sie haben »seinen Stern beim Aufgehen« gesehen und sind gekommen, um ihm zu huldigen, heißt es. Der hier erwähnte Stern ist zweifellos ein Motiv der jüdischen Religionsgeschichte. Schon Num 24,17 weiß um den Stern aus Jakob, und um das Szepter, das aus Israel hervorgeht, eine Stelle, die z. B. Rabbi Akiba auf den Führer des zweiten jüdischen Aufstandes gegen Rom, Bar Kozeba, um 135 n. Chr., angewendet hat und ihn Bar Kochba, Sternensohn, nannte. »Rabbi Schimeon ben Jochai (um 150 n. Chr.) hat gelehrt: Mein Lehrer Akiba hat vorgetragen: Hervorgetreten ist ein Stern aus Jakob; hervorgetreten ist Kozeba aus Jakob. Als Rabbi Akiba den Bar Kozeba erblickt hatte, rief er aus: Das ist der König, der Messias.« (Str–B I 76). Verschiedene Midraschim wissen darum, daß bei der Geburt Abrahams ein gewaltiger Stern erschien und sprechen von außergewöhnlichen Lichterscheinungen bei der Geburt Isaaks und Moses.408 Zweierlei ist zu beobachten. Die Anwendung einer Bibelstelle wie Num 24,17 auf einen konkreten Menschen und die Erwähnung von außergewöhnlichen Himmelserscheinungen bei der Geburt berühmter Personen aus der Geschichte Israels. In unserem Kontext geht es nur um das zuletzt genannte Phänomen. Weder bei Abraham, noch bei Isaak und Mose – die Zeit ihrer Geburt ist völlig unbekannt – läßt sich heute überprüfen, ob es solche Himmelserscheinungen wirklich gegeben hat. Wenn die Magoi nach Matthäus sagen, sie haben Jesu Stern aufgehen sehen, so könnte der Satz symbolisch verstanden werden. Es hat jedoch vom Jahre 7–5 v. Chr. außergewöhnliche astronomische Ereignisse gegeben, die eine Reduzierung »des Sterns von Bethlehem« auf eine rein symbolische Bedeutung fragwürdig

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erscheinen lassen. Schon der Astronom Johannes Kepler hat nachgewiesen, daß es im Jahre 7 v. Chr. Konjunktionen zwischen Jupiter und Saturn im Sternbild der Fische gegeben hat, die äußerst selten vorkommen. Vereinfacht gesagt verband Kepler mit dieser astronomischen Erscheinung den von Matthäus genannten Stern, der die Magoi nach Jerusalem und schließlich nach Bethlehem führte. Vor einigen Jahren hat der Astronom K. Ferrari dʾOcchieppo die These Keplers modifiziert übernommen. Diese Konjunktion war im Jahre 7 v. Chr. dreimal zu sehen: am 2. Mai (ca. 11,5 Stunden), am 1. Oktober (ca. 9 Stunden) und am 5. Dezember (fast 17 Stunden). Der britische Astronom M. Kidger stellte ferner fest, daß es im Jahre 6 v. Chr. neuerlich eine Konjunktion, nämlich von Jupiter, Saturn und Mars im Sternbild der Fische und am 20. Februar 5 v. Chr. eine eigenartige Konstellation des schon sichtbaren Neumondes mit Jupiter, Saturn und Mars gegeben hat. Ferner fand M. Kidger in chinesischen und koreanischen Chroniken die Nachricht über eine Supernova im Sternbild des Adlers nahe dem Stern Theta Aquilae, die von Mitte März des Jahres 5 v. Chr. weg relativ lang zu beobachten gewesen sein soll.409 Alle diese astronomischen Phänomene sind interessant und es ist nicht von der Hand zu weisen, daß sie persische Astronomen (Magoi), denen die jüdische Messiasverheißung bekannt war, dazu bewegten, nach Jerusalem zu reisen. Matthäus dürfte von dieser Reise gewußt haben und er nützte die Gelegenheit, um eminent theologische Aussagen zu tätigen; darüber aber später. Es ist nun zu klären, ob persischen Astronomen die jüdische Messiasverheißung und die damit verbundene Vorstellung vom Aufgehen eines neuen Sterns bekannt gewesen sein können. Mit der Zerstörung Jerusalems durch die Neubabylonier im Jahre 587/586 v. Chr. ist die Exilierung der judäischen Oberschicht nach Babylon verbunden. Exilierungen und Auswanderungen hat es auch schon früher gegeben, aber die des 6. Jhs. v. Chr. hat die Geschichte der Judäer am nachhaltigsten beeinflußt. Nur wenige Jahre später fiel das neubabylonische Reich im Jahre 539 v. Chr. dem persischen Großkönig Kyros II. (559–530 v. Chr.) fast kampflos in die Hände. Kyros II. und seine Nachfolger betrieben den Judäern gegenüber eine sehr wohlwollende Politik, gaben die Erlaubnis für die Heimkehr der Exilierten bzw. ihrer Nachkommen, die diese allerdings nur sehr zögernd annahmen. Der wesentliche Grund für die freundliche Politik den Judäern gegenüber ist darin zu suchen, daß die persischen Großkönige in deren Religion, primär im Monotheismus, eine ihrer Denkart vertraute Lehre sahen. Kyros war ein Anhänger und Verfechter der Lehre des iranischen Propheten Zarathustra, der die alte iranische, polytheistische Religion ablehnte und die Herrschaft des einen Gottes Ahura Mazda den Völkern verkündete. Der Mensch hat durch die tägliche Arbeit als sittlicher Verpflichtung und durch seine Frömmigkeit Anteil an der Gottheit. So lebt er aus der Wahrheit und verwirklicht Gottes Herrschaft auf dieser Welt (vgl. Joh 14,6). Ahura Mazda, der Allweise Herr, ist der einzige

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Gott, der Schöpfer des Himmel und der Erde, der Anfang und das Ende (vgl. Jes 44,6), dessen Sohn, der Heilige Geist, der ersehnte Heiland der Menschen ist. Jahrhunderte vor dem Apostel Paulus (Gal 2,20) konnte Dareios der Große (522–486 v. Chr.) auf eine Ziegelmauer seiner Winterresidenz Susa schreiben lassen: »Mein ist der Allweise Herr – des Allweisen Herrn bin ich« (W. Hinz I 1976: 245). Zumal die frühen achämenidischen Großkönige Zarathustras Lehre kompromißlos vertraten und verbreiteten, wurde der medische Priesterstamm der Magoi, wie sie Herodot (Historien III 61.79f) nennt, als Vertreter des alten Polytheismus entmachtet. Die Magoi paßten sich aber der neuen Staatsreligion an, unterwanderten sie jedoch mit ihren alten polytheistischen Vorstellungen, da sie Xerxes I. (486–485 v. Chr.) nach seinem hellenischen Debakel offenbar gewähren ließ. Von jetzt an sind sie wieder unangefochten die Priester des Reiches und werden es während der kommenden Jahrhunderte bleiben, unabhängig davon, wie die politische Konstellation in Persien aussehen wird. Da schon 539 v. Chr. Babylon, der Götzenstall, wie Xerxes I. Babylon ironisch nannte, persische Provinz wurde, ist auch ein enger kultureller Austausch die natürliche Folge, was bedingte, daß große Kenntnisse babylonischer Mathematik und Astronomie von Persien, d. h. von persischen Priestern, den Magoi, übernommen wurden. Ebenso ist vorauszusetzen, daß die Magoi die Religion des frühen Judentums und seine Heiligen Schriften kannten. Das biblische Buch Esther ist ein beredtes Zeugnis über und aus der jüdischen Diaspora in Persien.410 Es wäre daher geradezu naiv, annehmen zu wollen, daß persische Priester der Zeitenwende die Hoffnung auf das Kommen des Königs Messias in den jüdischen Heiligen Schriften und die damit verbundene Auffassung vom Erscheinen eines himmlischen Zeichens nicht gekannt haben sollten. Zusammenfassend läßt sich sagen: Nach den Evangelisten Matthäus und Lukas ist Jesus gegen Ende der Regierungszeit des Herodes geboren, nach Lukas genauerhin zur Zeit, da ein von Kaiser Augustus verordneter Census für das gesamte Reich mit dem syrischen und herodeischen Census zusammenfiel, der unter der Oberhoheit des Quirinius stand; das betrifft das Jahr 7 oder das Jahr 6 v. Chr. bis zum Ende der Amtszeit des syrischen Legaten Saturninus. Die matthäische Magiererzählung läßt Oktober 7 v. Chr. als Geburtstermin Jesu am wahrscheinlichsten erscheinen, als die Magoi die äußerst seltenen Konjunktionen zwischen Jupiter und Saturn im Sternbild der Fische bis Anfang Oktober bereits zweimal beobachten konnten. Sie könnten ihre Reise nach Jerusalem und Bethlehem – die Reise von einem persischen Zentrum wie z. B. Ekbatana nach Jerusalem dauerte höchstens 60 Tage – noch im Oktober 7 v. Chr. angetreten haben und kaum erst nach Beobachtung weiterer astronomischer Phänomene in den Jahren 6 oder 5 v. Chr. Am 5. Dezember 7 v. Chr. dürften sie längst in Jerusalem und Bethlehem gewesen sein, als die Konjunktion wiederum fast 17 Stunden lang zu beobachten war.

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Dazu paßt die Aussage des Evangelisten Matthäus (2,16), daß Herodes den Befehl gab, alle Knaben Bethlehems und der Umgebung von zwei Jahren und darunter zu töten. Jesus war daher bei ihrem Besuch ca. drei Monate alt. Das ist plausibler, als anzunehmen, daß die Magoi erst im Frühjahr des Jahres 5 v. Chr. ihre Reise angetreten hätten; denn es ist schwer erklärbar, daß Maria und Joseph mit dem Jesuskind über zwei Jahre in Bethlehem blieben anstatt sobald als möglich nach Nazareth zurückzukehren. Ist nun der bethlehemitische Kindermord ein historisches Faktum? Matthäus begründet den Mordbefehl des Königs damit, daß dieser wegen der Geburt eines neuen Königs um seinen Thron und um seine Dynastie bangte (Matth 2,3). Es ist hinlänglich bekannt, daß Herodes nicht gerade zimperlich war, wenn er um seine Macht und seinen Einfluß fürchtete. Die Hinrichtung seiner Söhne Alexander und Aristobul im Jahre 7 v. Chr., denen er Umsturzpläne zur Last legte, sind nur eine der letzten Grausamkeiten des Königs aus Staatsräson. Es ist allerdings verwunderlich, daß Josephus, der sehr ausführlich über Herodes berichtet, kein Wort über einen solchen Kindermord schreibt. Möglich ist allerdings, daß Josephus, für den primär die königliche Politik gepaart mit höfischen Klatschgeschichten von Interesse war, diese Greueltat übergeht bzw. verschweigt, um seinem römischen und griechischen Leserpublikum zu ersparen, daß in seiner Heimat selbst unschuldige Kinder aus Staatsräson getötet wurden. Die einzige Quelle für diesen Kindermord bleibt also Matthäus. Wenn man nun argumentiert, daß Matthäus diesen Kindermord braucht, um ein Motiv für die Flucht der Familie nach Ägypten zu haben, dann hätte er den Kindermord deswegen erfunden, um einen Grund für die Flucht der Familie nach Ägypten und für deren Rückkehr zu haben, um beweisen zu können, daß Jesus das neue Israel, den neuen Mose verkörpert (Matth 2,15). Kehren wir einmal diese Argumentation um. Der bethlehemitische Kindermord hat tatsächlich stattgefunden und wurde auf Grund seines historischen Sachverhaltes für Matthäus der Anlaß, die Flucht nach Ägypten und die Rückkehr der Familie nach dem Tod des Königs entsprechend theologisch zu deuten. Ich denke, diese Interpretation paßt weit besser zu der zuverlässigen Berichterstattung des Evangelisten denn ihn als Fabulierer mit ausgeprägtem theologischen Interesse hinzustellen. Ich meine daher, der bethlehemitische Kindermord wurde am ehesten gegen Ende 7 v. Chr. von Herodes dem Großen angeordnet und von seinen Soldaten ausgeführt. Man sollte auch nicht das abschließende Urteil des Josephus (JosAnt XVII 191) über Herodes vergessen: »[...] ein gegen alle gleichermaßen grausamer Mensch, seinem Zorn verfallen und das Recht mit Füßen tretend.« So schreibt auch A. Schalit, der beste Kenner des Herodes und seiner Zeit: »Nichtsdestoweniger sehe ich in dem Befehl als solchem kein Ding der Unmöglichkeit. Herodes war gegen Ende seines Lebens nicht mehr im Vollsinn seiner Sinne und dicht am Rand des Irrsinns. Warum sollten wir also nicht annehmen

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dürfen, daß ein halbwahnsinniger Despot imstande war, einen wahnwitzigen Blutbefehl, wie er im Matthäusevangelium überliefert ist, auszugeben? [...] Soweit wir Herodes als Herrscher kennen, hat er seine Bluttaten nie aus purer Mordlust, um ihrer selbst willen, verübt, sondern zu ihnen nur gegriffen, wenn es galt, die eigene oder die Römerherrschaft in Judäa gegen Feinde, wirkliche oder vermeintliche, zu verteidigen. [...] Das Entscheidende an ihm (dem bethlehemitischen Kindermord) ist, daß er von Herodes mit der Absicht ausgegeben wurde, den neugeborenen Feind seines Königtums zu töten. Der Glaube an die unmittelbar bevorstehende Ankunft oder Geburt des messianischen Königs lag damals in der Luft. Der argwöhnische Despot spürte überall Verrat und Feindschaft, und ein vages zu ihm gedrungenes Gerücht kann dem kranken Geist sehr wohl den Gedanken eingegeben haben, die neugeborenen Kinder zu töten. Der Befehl hat somit nichts Unmögliches an sich. Wenn es der Herrschaft galt, kannte auch der sterbende Herodes keinen Scherz.«411 Wo ist Jesus geboren worden? Die vorherrschende Meinung ist, daß Jesus in Nazareth geboren wurde – er wird auch Jesus von Nazareth und nicht von Bethlehem genannt – und Bethlehem nur der »theologische Geburtsort« Jesu sei, weil die Evangelisten nachweisen wollen, daß Jesus der Sohn Davids sei und er daher mit der Heimatstadt Davids, Bethlehem, in Verbindung gebracht werden müsse. Matth 1,18–25 nennt Nazareth nicht, setzt aber Nazareth als Wohnort von Joseph und Maria voraus. Maria ist mit Joseph verlobt. Das heißt nach den damaligen Gepflogenheiten: Maria ist mit Joseph juristisch gültig verheiratet. Mädchen wurden im Alter von 12 bis 12 ½ Jahren verlobt (St.–B II: 374.393–398), doch das verlobte Paar durfte noch nicht beisammen wohnen. Erst nach etwa einem Jahr, wenn das Mädchen die Großjährigkeit erreicht hatte, fand die öffentliche Hochzeitszeremonie statt, ab der das Paar gemeinsam lebte. In der Zeit vor dieser öffentlichen Hochzeitszeremonie durften die jungen Leute, obwohl sie verlobt = verheiratet waren, nie allein sein. Diese strenge Regelung wurde aber nur in Galiläa praktiziert und nicht in Judäa (St.–B I: 45–47). Der Verlobte konnte daher in Galiläa Anklage gegen seine Verlobte erheben, wenn sie in dieser Zeit schwanger wurde, da diese Schwangerschaft nicht von ihm stammen könne. Joseph hätte daher eine solche Anklage erheben können, da Maria in dieser Zeit schwanger geworden war. Er trägt sich auch mit dem Gedanken, Maria zu entlassen (Matth 1,18f). Der zeitgenössische Hintergrund des matthäischen Berichtes zeigt uns deutlich, daß Galiläa vorausgesetzt wird. Auch nach Matthäus mußte daher der Wohnort von Joseph und Maria in Galiläa gewesen sein. Natürlich kommt dafür nur Nazareth in Frage, weil dorthin die Familie nach dem Ägyptenaufenthalt zurückkehrt (Matth 2,19–23). Matthäus läßt uns aber darüber im Unklaren, warum die Familie zur Zeit der Geburt Jesu ins judäische Bethlehem gekommen ist. Lukas hat hier die besseren Informationen und weiß zu berichten, daß die Familie

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bedingt durch die Censusmaßnahmen von Nazareth nach Bethlehem kommen mußte, um sich dort registrieren zu lassen. Jesus wird in Bethlehem geboren und es erfolgen die gesetzlichen Vorschriften nach der Geburt eines männlichen Kindes. Danach kehrt die Familie nach Nazareth zurück (Luk 2,39). Die Quellen, die Lukas zur Verfügung standen, weisen nach Jesu Geburt Lücken auf, denn er weiß nichts über den Besuch der Magoi, daß sich die Familie offensichtlich eine Zeitlang in Bethlehem aufgehalten hatte, dann in Ägypten weilte und schließlich nach Nazareth zurückkehrte. Übereinstimmend berichten also die Evangelisten Matthäus und Lukas, daß der Wohnsitz der Familie Nazareth, der Geburtsort Jesu aber Bethlehem in Judäa gewesen ist. Wenn ich oben mit guten Gründen den bethlehemitischen Kindermord als ein historisches Faktum angesehen habe, so schließt das ohnehin als weiteres historisches Faktum ein, daß der Geburtsort Jesu Bethlehem war, denn Herodes hat ja nur deswegen den Mordbefehl für die Kinder von Bethlehem gegeben, weil er wußte, daß unter diesen Kindern auch der neugeborene König sein müsse. Beide Kindheitserzählungen geben ferner übereinstimmend an, daß Maria die Mutter Jesu ist. Maria bleibt während der Zeit der öffentlichen Tätigkeit Jesu sehr im Hintergrund (Mk 3,31–35; Matth 12,46–50; Luk 8,19–21). Die Synoptiker berichten nur je einmal von Jesu Mutter und Jesu Brüdern und Schwestern.412 Die Erwähnung von Jesu naher Verwandtschaft ist dabei nicht gerade schmeichelhaft. Nach Mk 3,20f (vgl. Luk 11,27f) halten die Verwandten Jesus für verrückt. Manchmal scheint es auch so, daß Jesus seine Mutter sehr kühl behandelt, wenn er den Lobpreis einer Frau auf seine Mutter Maria dahingehend ergänzt, daß vielmehr alle selig zu preisen sind, die Gottes Wort hören und befolgen. Spannungen hat es in der Familie zweifellos gegeben, aber wohl mehr zwischen Jesus und seinen »Brüdern« als zwischen Jesus und seiner Mutter. Eine gewisse nüchterne Distanz zur Mutter ist jedoch feststellbar, selbst im Johannesevangelium, wo es Joh 2,1–12 heißt, daß Jesus und seine Mutter zu einer Hochzeit in Kana geladen waren, den Gästen der Wein ausgegangen ist, und Maria Jesus darauf aufmerksam macht. Jesu Antwort klingt etwas unpersönlich, aber nicht ablehnend: »Was ist mir und dir, Frau?«413 Sonst erwähnt Johannes Maria nur unter dem Kreuz (Joh 19,25–27), als Jesus seine Mutter dem Lieblingsjünger anvertraut. Gerade darin zeigt sich Jesu Liebe zu seiner Mutter, für deren weiteres Leben er selbst in seinem Todeskampf noch Vorsorge trifft. Der prophetische Seher der Offenbarung (Off 12,1–6) sieht in Maria, die den Messias geboren hat, die Repräsentantin des Gottesvolkes, das aus Juden und Heiden besteht.414 Die beiden Kindheitserzählungen bieten über Maria mehr, aber auch das ist sehr karg. Der Stammbaum Matth 1,1–17 läuft auf Joseph hin, den Mann Marias, von der Jesus geboren wurde.415 Maria war mit Joseph verheiratet, aber sie wurde nicht von Joseph, sondern vom Heiligen Geist schwanger. In einem Traumbild

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wurde Joseph von einem Engel über den Sachverhalt aufgeklärt, so daß er sie als seine Frau annahm. Dem Sohn, den Maria gebar, gab er, Joseph, den Namen Jesus (Matth 1,18–25). In der lukanischen Erzählung ist Maria deutlicher akzentuiert, so bei der Verkündigung (1,26–38), beim Besuch von Elisabeth (1,39–56) etc. Historisch gesehen bleibt, daß die Mutter Jesu Maria geheißen und daß sie Jesus in einer legalen Ehe in Bethlehem zur Welt gebracht hat. Sie mag durchaus davidischer Abstammung gewesen sein, exakt beweisbar ist das allerdings nicht; ebenso wie die Aussage der Evangelisten, daß sie Jesus ohne einen menschlichen Vater vom Heiligen Geist empfangen hat. Diese Aussage entzieht sich überhaupt menschlicher Beweisbarkeit. Luk 2,21–24 berichtet von der Beschneidung Jesu. Daß wir es hier mit einem historischen Faktum zu tun haben, bedarf keiner weiteren Erörterung. Den Israeliten war die Beschneidung schon sehr früh bekannt, aber erst in nachexilischer Zeit wird sie zum unabdingbaren Zeichen für die Teilhabe am Bund mit Gott (Str–B IV1: 31–40). Vor allem die nachexilische, priesterliche Theologie Judas hat daran ihren Anteil (Gen 17), so daß man z. B. in der biblischen Gesetzesliteratur die Beschneidung zwar erwähnt (Lev 12,3), aber eben als selbstverständlich voraussetzt. Jeder Vater war verpflichtet, dafür zu sorgen, daß sein Sohn beschnitten wird (Gen 17,12).416 Nach Gen 17,12 war der achte Tag nach der Geburt der Beschneidungstermin (für Ausnahmen vgl. mŠabbat XIX 5). Luk 2,21.59 kombiniert mit der Beschneidung die Namengebung (vgl. Str–B II: 107). Ob Joseph nach alter Sitte die Beschneidung selbst vorgenommen hat oder ob dafür ein Experte (Mohel) herangezogen wurde, wird nicht deutlich. Luk 2,22ff schließen an die Beschneidung und Namengebung die vom Gesetz vorgeschriebene rituelle Reinigung der Mutter und die Weihe des Erstgeborenen für Gott an. Eine Frau galt nach der Geburt eines Knaben sieben, nach der eines Mädchens vierzehn Tage als kultisch unrein, wobei sich noch 33 bzw. 66 Tage anschlossen. Das heißt, daß eine Frau nach der Geburt eines Knaben 40, nach der eines Mädchens 80 Tage kultisch unrein war.417 In dieser Zeit durfte sie den Tempel nicht betreten. Lev 12,1–8 regelt das Wiedererlangen der kultischen Reinheit für Wöchnerinnen: sie mußten, gleichgültig, ob ein Knabe oder ein Mädchen geboren wurde, ein einjähriges Lamm als Brand- und eine junge Taube oder eine Turteltaube als Sündopfer zum Eingang des Tempels bringen. Wer sich ein Lamm nicht leisten konnte (vgl. Str–B II: 123f), durfte statt des Lammes eine weitere junge Taube oder eine weitere Turteltaube bringen. Die Opfergaben konnten von den Wöchnerinnen selbst oder auch von einem Vertreter am Nikanortor des Tempels abgegeben werden. Dabei wurde die Wöchnerin für kultisch rein erklärt (mSota I 5). Da Jesus ein Erstgeborener war, mußte auch das Gesetz Ex 13,2: »Erkläre alle Erstgeburt als mir geheiligt! Alles, was bei den Israeliten den Mutterschoß durchbricht,

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bei Mensch und Vieh, gehört mir.« erfüllt werden (vgl. Ex 13,12; 22,28; 34,19; Num 3,13; 8,17). Die ursprüngliche Bedeutung dieses Gesetzes ist kaum die, daß man die Erstgeburt blutig der Gottheit geopfert hat. Es gibt dafür jedenfalls keinen positiven Beleg.418 Der Erstgeborene mußte im Alter von einem Monat ausgelöst werden (Ex 13,13; 24,20). Der Preis betrug nach Num 18,16 fünf Scheqel. tQiddušin I 11 macht diese Auslösung für den Vater zur Pflicht. In Zweifelsfällen konnte sich der Erstgeborene auch später selber auslösen. Das Lösegeld konnte man an jeden beliebigen Priester im Land bezahlen (Str–B II 122f). Die Auslösung Jesu geschah nach Luk 2,22 im Jerusalemer Tempel, nachdem die Zeit der kultischen Unreinheit Marias beendet war. Die daran anschließenden Erzählungen über den gerechten Simon und die Prophetin Hanna, die im Jesuskind den Messias Israels erkennen (Luk 2,25–38), geben kaum Ereignisse wieder, die sich genau so abgespielt haben werden. Daß es eine solche Begegnung gegeben haben kann, ist nicht völlig auszuschließen. Lukas nützt sie aber für wichtige theologische Aussagen. Historische Fakten sind jedenfalls die Beschneidung Jesu, die Einhaltung der kultischen Reinheitsvorschriften durch Maria und die Auslösung Jesu. Für fromme und gerechte Juden, und solche waren Maria und Joseph, wäre alles andere undenkbar gewesen. Über das weitere Leben Jesu bis zu seiner Taufe durch Johannes haben wir nur Luk 2,41–52: Maria, Joseph und Jesus wallfahren – wie es das Gesetz vorschreibt – jedes Jahr zum Pesachfest nach Jerusalem. Der zwölfjährige Jesus bleibt aber in Jerusalem, ohne daß es seine Eltern merken. Sie meinen, er sei schon mit der Pilgergruppe auf der Heimreise. Als die Suche nach Jesus nichts fruchtet, kehren sie nach Jerusalem zurück und finden ihn schließlich nach drei Tagen im Tempel mit Gelehrten diskutierend. Ex 23,17; 34,23f schreibt den Israeliten vor, sich zum Pesach-, Schawuot- und Sukkotfest am Jerusalemer Heiligtum einzufinden. Auf Grund von Dtn 21,12 galt diese Vorschrift auch für Unmündige. Nicht allen Juden war es natürlich möglich, dreimal im Jahr diese Wallfahrt zu unternehmen. Es spricht aber nichts dagegen, daß Joseph und Maria jährlich einmal die Wallfahrt unternommen haben. Noch dazu ist es nach tQiddušin I 11 die Aufgabe des Vaters, seinen Sohn in der Thora, d. h. in allen vom Gesetz vorgeschriebenen Pflichten zu unterweisen und dazu anzuhalten. Nicht berührt davon ist allerdings die Frage, ob der Zwölfjährige, also noch Unmündige – die religiöse Mündigkeit tritt bei einem Knaben mit dem vollendeten 13. Lebensjahr ein, bei Mädchen mit dem vollendeten 12. Lebensjahr (Str–B II 144–147) – mit Lehrern Israels im Tempel diskutierte und sie staunen machte. Dies wird fast einmütig als unhistorisch angesehen. Doch folgende Episode, die D. Flusser berichtet, stimmt doch nachdenklich: »[...] ich selbst habe von der Witwe eines großen Forschers in rabbinischer Literatur, die sicher nicht Lukas gelesen hat, gehört, daß, als die Eltern des Gelehrten zu einem Jahrmarkt gefahren sind, der Sohn ihnen abhanden

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gekommen ist; erst in den frühen Morgenstunden haben sie den Jungen gefunden, wobei er in einem Lehrhaus mit den Rabbinen heftig und gelehrte Fragen disputierte.«419 Außer dieser Episode über den Zwölfjährigen gibt es keine schriftlichen Nachrichten. Über die Zeit, die Jesus bei seinen Eltern verbracht hat, kann trotzdem einiges ausgesagt werden. Es ist davon auszugehen, daß Jesus, der in einem mittelständischen, frommen jüdischen Elternhaus heranwuchs, eine im Grund ähnliche Erziehung und Bildung erhielt wie andere Kinder dieses Milieus.420 Wie vorher erwähnt, macht es tQiddušin I 11 u. a. dem Vater zur Pflicht, seinen Sohn in der Thora zu unterrichten bzw. unterrichten zu lassen. Ein Knabe wurde damals ab dem 5. Lebensjahr unterrichtet. Das allgemeine Schulwesen in Judäa, Samaria und Galiläa vor 2000 Jahren war weit besser entwickelt als vor 200 Jahren in Europa! Jesus muß eine hervorragende Ausbildung in der Hebräischen Bibel, in der mündlichen Thora und in profanen Gegenständen erfahren haben. Zu Recht bemerkt D. Flusser, daß »die jüdische Bildung Jesu [...] unvergleichlich höher als die des Paulus« war.421 Dabei hatte Paulus, ein Schüler des berühmten Rabban Gamaliel (Apg 22,3), nach heutiger Ausdrucksweise eine universitäre Ausbildung. Die Muttersprache Jesu war das Aramäische,422 wie es zu dieser Zeit alle Juden des Landes mit Dialektunterschieden sprachen. Hebräisch, die Sprache der Thora und der Propheten, die sich vom Aramäischen zwar unterscheidet, aber doch auch viele Gemeinsamkeiten aufweist, war ihm ebenso wie die Muttersprache geläufig; denn darin wurde er bereits von fünf Jahren an unterrichtet. Die damalige Gesellschaft des Landes war aber dreisprachig: Hebräisch war die Sakralsprache des Tempels, Aramäisch die Umgangssprache des Volkes und Griechisch die Sprache, die alle Welt gesprochen hat, die gesamte jüdische Diaspora, die vornehme jüdische Gesellschaft des Landes und natürlich auch die Römer. Lateinisch war nur die Amtssprache der römischen Verwaltung und des Heeres und hatte für Galiläa, da autonome Tetrachie des Herodes Antipas, praktisch keine Bedeutung. Aus dem Neuen Testament selbst geht hervor, daß Jesus griechisch verstanden hat und sich auch auf griechisch ausdrücken konnte. Mk 7,24–30 berichtet, daß Jesus im Gebiet von Tyrus mit einer Syrophönizierin, die griechischsprachig war, einige Worte wechselt. Die Frage nach der Steuer für den Kaiser Mk 12,13–17 zeigt, daß Jesus griechisch und lateinisch lesen konnte. Auf Grund der Aufschrift eines Denars (Abb. 5) entwickelt Jesus seine schlagfertige Antwort: »So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört.«423 Beim Verhör durch Pilatus brauchte Jesus keinen Dolmetscher. Pilatus hat sich jedenfalls nicht der aramäischen Sprache bedient, sondern als vornehmer Römer griechisch gesprochen.

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Jesus ist in einer vielsprachigen und kulturell pluriformen Gesellschaft herangewachsen, auch wenn er zeitlebens eher ein Dörfler denn Städter war. tQiddušin I 11 heißt es weiter, daß es zu den Pflichten des Vaters gehört, seinen Sohn ein Handwerk lernen zu lassen. Joseph übte den Beruf eines Bauhandwerkers für Holz aus (Mk 6,3). Da es der jüdischen Sitte entsprach, daß das entsprechende Handwerk vom Vater auf den Sohn überging (mJoma III 11), ist es naheliegend anzunehmen, daß Jesus diesen Beruf erlernte. Arbeit hat es jedenfalls für diesen Beruf genug gegeben. Herodes Antipas ließ z. B. das zerstörte Sepphoris, ca. 6 km nordwestlich von Nazareth, aufbauen.424 Es wäre völlig unlogisch, hätten dabei die Handwerker der Umgebung keine Arbeit gefunden. Inwieweit die dörfliche Bevölkerung um Sepphoris am kulturellen Leben der Stadt teilnahm, ist schwieriger zu beantworten. Ich neige hier eher zu der Ansicht von E. P. Sanders (1996: 164f), daß die hart arbeitende Bevölkerung kaum die Zeit für regelmäßige Theaterbesuche u. Ä. hatte. Noch dazu war für gläubige Juden am Sabbat die Bewegungsfreiheit sehr eingeschränkt. Ex 16,29 schreibt vor, daß man am Sabbat an einem Ort bleiben soll, und die rabbinische Auslegung schränkt die Bewegungsfreiheit am Sabbat auf 2000 Ellen (900 m) ein. Gelegentliche Theaterbesuche kann es natürlich gegeben haben. In diesem Zusammenhang ist z. B. Mk 12,15 interessant, wo Jesus den Pharisäern Heuchelei vorwirft und Matth 22,18, wo er die Pharisäer Schauspieler, Heuchler nennt – Begriffe, die jedenfalls aus der griechischen Theatersprache kommen, im hellenistischen Judentum wie im Neuen Testament nur mehr im negativen Sinn verwendet werden.425 Die Handwerker der damaligen Zeit, die Domäne der pharisäischen Religionspartei, stellten den breiten Mittelstand, obgleich man hier mit einer relativ großen Streuung von wohlhabend bis eher arm rechnen muß. Jesus wuchs also nicht in einer Familie heran, die nur am Hungertuch nagen mußte. Seine Familie unterschied sich grundsätzlich von den damals sozial Schwachen und Ausgestoßenen und gehörte zur breiten Mittelschicht der galiläischen Bevölkerung. tQiddušin I 11 macht dem Vater zur Pflicht, seinen Sohn zu verheiraten. Männer wurden damals etwa ab dem 18. Lebensjahr verheiratet, Mädchen bereits ab dem 12. Lebensjahr. Die jüdische Jesusforschung setzt daher eine Ehe Jesu als selbstverständlich voraus, zumal nach ihrer Argumentation Jesus dem ständigen Vorwurf ausgesetzt gewesen wäre, eines der wichtigsten Gebote der Thora (Gen 1,18.23f) zu mißachten.426 Die Argumente der jüdischen Jesusforschung wiegen schwer. Es scheint mir jedoch, daß die spätere rabbinische Auffassung zu sehr strapaziert wird. Auch wenn Jesus als »Rabbi« angesprochen wurde, setzt das nicht eo ipso voraus, er sei verheiratet gewesen. Das rabbinische Judentum kennt nur Rabbi Ben Assai (2. Jh. n. Chr.), der ehelos lebte und deswegen dauernden Vorwürfen ausgesetzt war (bJebamoth 63b). Jesus war jedoch kein ordinierter Rabbi, und zu seiner Zeit war der Titel »Rabbi« noch kein akademischer Grad. In

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dieser Anrede spiegelt sich aber die Anerkennung seiner Gelehrsamkeit durch die Umwelt wider, nicht mehr und nicht weniger. Jesus hat es noch dazu nicht gut geheißen, daß sich die Gelehrten so anreden lassen (Matth 23,6–12). Es ist natürlich wahr, daß die Hebräische Bibel und das Judentum in der Ehelosigkeit keinen Wert gesehen haben und sehen. Sie ist nicht erstrebenswert, weil sie der von Gott gesetzten Grundbefindlichkeit des Menschen als weibliche und männliche Identität (Gen 1,27) zuwiderläuft. Jesus findet über die Ehe solch tiefe Worte (Matth 5,31f), daß es schwer fällt, ihn selber als ehelos zu verstehen. Dennoch weiß Jesus ausdrücklich um die, die um des Himmelreiches willen Eunuchen sind (Matth 19,12). Während Gruppen der Essener aus Gründen der kultischen Reinheit auf die Ehe verzichtet haben und damit diese Reinheit höher als die Schöpfungsordnung setzten, sieht Jesus im Gegensatz dazu die Ehe als göttliche Norm an. Wie Jesus aber immer wieder Ausnahmen von der Thora zuläßt, so auch hier: Zur Ehe nicht fähig sind Impotente, Eunuchen und solche, die sich um des Himmelreiches willen, im metaphorischen Sinn, selbst und freiwillig zu Eunuchen machen. Sie nehmen mit dieser ihrer Existenz die kommende Welt voraus, in der es keine Ehe mehr geben wird (Matth 22,30). Diese Ansicht Jesu wird dadurch begründet sein, daß er selbst ehelos blieb. Historisch gesehen mag es Gründe geben, die für eine Ehe Jesu sprechen, aber es gibt durchaus solche, die gegen eine Ehe Jesu sprechen. Ich meine, daß die letzteren gewichtiger sind und daß der historische Jesus ehelos lebte. Eine weitere Frage ist, ob Jesus leibliche Brüder und Schwestern hatte. Aus dem Neuen Testament geht hervor, daß Jesus Geschwister hatte (Mk 3,31–35; Matth 12,46–50; Luk 8,19–21; Joh 2,12; 7,3.5.10; Apg 1,14). Mk 6,3; Matth 13,55 und 27,56 nennen Jakobus, Joses (Kurzform für Joseph), Judas427 und Simon. Schwestern428 (Mk 6,3) werden namentlich nicht angeführt. Paulus spricht 1 Kor 9,5 von Brüdern des Herrn und nennt Jakobus Gal 1,19 »Herrenbruder«, wie auch Josephus (JosAnt XX 200). Die Deutung dieses Sachverhalts ist unterschiedlich. Für die jüdische Jesusforschung handelt es sich um leibliche Geschwister Jesu.429 Einige christliche Konfessionen sehen das auch so. Schon auf Origenes und Clemens von Alexandria geht die Meinung zurück, daß es sich um Kinder Josephs aus erster Ehe handle. Die katholische Tradition ist der Auffassung, daß Vettern etc. Jesu gemeint sind.430 Rein philologisch dürfte das Problem nicht zu lösen sein. Aber ein gewichtiges Argument spricht gegen die Annahme von leiblichen Geschwistern. Jesus hat unter dem Kreuz seine Mutter Maria dem Lieblingsjünger anvertraut (Joh 19,26). Wenn Maria weitere Kinder gehabt hätte, wäre es deren Aufgabe gewesen, sich um die Mutter zu kümmern. Wenn man dagegen einwendet, daß sich hier das problematische Verhältnis Jesu zu seinen Brüdern wiederspiegle und Jesus ihnen daher die Mutter quasi entzieht, dann sollte man bedenken, daß man dem sterbenden Jesus, der selbst die Feindesliebe als ethische Maxime ge-

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fordert hat, zutraut, den Brüdern auch in seiner Todesstunde nicht zu verzeihen. Dem charakterlichen Profil Jesu entspricht das nicht. Es ist daher grotesk, ihm eine solche Hartherzigkeit in seiner Todesstunde zuzutrauen. Ich meine daher, daß die altkirchliche Tradition von Anfang an richtig gesehen hat, daß es sich um nahe Verwandte Jesu und nicht um leibliche Geschwister handelt. In diesem Sinn muß auch Matth 1,25 verstanden werden: »Er erkannte sie nicht, bis sie ihren Sohn gebar.« Auch wenn sprachlich der Satz so gesehen werden kann, daß Maria und Joseph in der Zeit, als Maria mit Jesus schwanger war, keinen ehelichen Verkehr hatten, nach Jesu Geburt jedoch eine normale Ehe führten – vergleichbar damit ist z. B. ein Satz über Rabbi Tarphon (um 110 n. Chr.): »[...] Obwohl er sie geheiratet hatte, erkannte er sie nicht, bis die dreißig Tage (der kleinen Trauer) vergangen waren.« (Str–B I: 75) –, meine ich, daß die altkirchliche Auslegung von Matth 1,16, daß Maria und Joseph auch nach der Geburt Jesu keinen ehelichen Umgang pflegten und keine Kinder hatten, richtig gesehen hat. Außerhalb der Kindheitserzählungen sind die Angaben über Joseph sehr spärlich. Als Mann Marias ist er Joh 1,45; 6,42 erwähnt. Nach Matth 1,16 hieß Josephs Vater Jakob, nach Luk 3,23 Eli. Von Beruf war er Bauhandwerker für Holz (Mk 6,3). Er wird als »gerecht« betitelt, d. h., er ist dem Willen Gottes Gehorsam. Beide Genealogien (Matth 1,1–17; Luk 3,23–38) weisen ihn als Nachkommen Davids aus (Matth 1,20). Er ist mit Maria verheiratet und somit de jure der Vater Jesu. So ist es auch selbstverständlich, daß die Leute Jesus für den Sohn Josephs halten (Joh 1,45; 6,42). In Luk 1,48 bezeichnet selbst Maria Joseph als den Vater Jesu. Ganz unbefangen wird auch von den Eltern Jesu gesprochen (Luk 2,39.41.43.48). Der allgemeine Sprachgebrauch orientiert sich klipp und klar an der Tatsache, daß Joseph de jure der Vater Jesu ist. Es sollte daher in diesem Zusammenhang nicht der Ausdruck »Ziehvater« für Joseph verwendet werden, der suggeriert, daß Joseph keine juristische Bedeutung und Verantwortung für das Kind gehabt habe. Jesus ist in einer juristisch legalen Ehe geboren und Joseph nach dem Recht, wenn auch nicht im biologischen Sinn, sein Vater. Am Ende dieser »verborgenen Jahre« Jesu, wie R. Aron (1973) sie genannt hat, steht seine Taufe durch Johannes, ab der er sich der damaligen Öffentlichkeit zugewandt hat. Über die Taufe Jesu berichten alle vier Evangelisten (Mk 1,9–11; Matth 3,13,13–17; Luk 3,21f und Joh 1,29–34) und kein ernstzunehmender Forscher bestreitet heute deren Historizität. Wohl ist aber auch hier zwischen dem historischen Faktum und der theologischen Interpretation zu unterscheiden.431 Bei Lukas nimmt die Geburt des Täufers im ersten Kapitel breiten Raum ein. Johannes‘ Mutter Elisabeth wird als »Verwandte« Marias bezeichnet (Luk 1,36). Das dafür verwendete griechische Nomen suggeni÷ß bzw. suggenh÷ß hat eine große semantische Breite von einer näheren bis zu einer sehr weiten Verwandtschaft. Es kann eine Geistesverwandtschaft ausdrücken und auch ganz allgemein

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den Stammesgenossen meinen.432 Welches Verwandtschaftsverhältnis also zwischen Maria und Elisabeth besteht, ist nicht eindeutig zu bestimmen. Nur die allgemeinste Bedeutung im Sinn von einer Angehörigen desselben Volkes wird hier kaum zutreffend sein; denn warum weist der Engel Gabriel Maria darauf hin, daß Elisabeth schon im sechsten Monat schwanger ist, obwohl sie bisher als unfruchtbar galt? Diese Information hat ja nur einen Sinn, wenn ein nahes verwandtschaftliches Verhältnis bestand. Auch die Reise Marias zu Elisabeth (Luk 1,39) bekommt nur so einen Sinn. Ich denke daher, dem Historiker Lukas ist zuzutrauen, daß er einen richtigen Sachverhalt berichtet: Maria ist mit Elisabeth verwandt. Nachdem Maria erfahren hat, daß ihre Verwandte im sechsten Monat schwanger ist, macht sie sich auf den Weg zu ihr. Das ist weder ungewöhnlich noch sonderbar, sondern entspricht der normalen Gepflogenheit früherer Zeiten, einer Verwandten in der letzten Zeit vor der Geburt ihres Kindes beizustehen. Ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen Maria und Elisabeth und der Besuch Marias bei ihr ist daher historisch höchst plausibel. Der Evangelist Lukas benützt dann auch dieses Faktum, um Johannes den Täufer und Jesus in einer interessanten Gegenüberstellung zu deuten; darüber aber später. Für das öffentliche Auftreten des Täufers gibt Luk 3,1–2 eine mehrfache Datierung; die erste, im 15. Jahr des Kaisers Tiberius, ist am genauesten. Das ist das Jahr 28/29 n. Chr. Diese Angabe scheint vordergründig der Chronologie, die Josephus gibt (JosAnt XVIII 35–126), zu widersprechen. Werfen wir daher einen Blick auf den Ablauf, den Josephus gibt: • JosAnt XVIII 35 wird Joseph ben Kaiaphas als Hoherpriester eingesetzt und Pontius Pilatus tritt seine Amtszeit an. Die beiden Ereignisse sind klar in das Jahr 26 n. Chr. datierbar. • XVIII 36 baut Herodes Antipas zu Ehren des Kaisers Tiberias als neue Hauptstadt Galiläas. • XVIII 54 berichtet er von einem zeitlich davor liegenden Ereignis, dem Tod des Germanikus im Jahre 19 n. Chr. • XVIII 55–62 behandelt er den größten Teil der Präfektur des Pontius Pilatus (26–36 n. Chr.). • XVIII 63 bringt er die Nachricht über Jesus. • XVIII 85–84 berichtet er über Skandale in Rom, bei denen u. a. Juden eine Rolle spielen; das betrifft das Jahr 19 n. Chr. • XVIII 85–89 geht es um das Vorgehen des Pilatus gegen die Samaritaner, was zu seiner Absetzung durch den syrischen Legaten Vitellius führte. Kaiser Tiberius stirbt am 16. März 37 n. Chr. • XVIII 90–95 ordnet der syrische Legat Vitellius die Verhältnisse in Jerusalem neu. Joseph ben Kaiaphas wird abgesetzt und Jonathan als Hoherpriester

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eingesetzt; 36 n. Chr. Plötzlich lebt Kaiser Tiberius wieder und läßt an den Legaten Vitellius einen Brief diktieren. XVIII 106–115: Der Tetrarch Philippus stirbt 33/34 n. Chr. Liebschaft zwischen Herodias und dem Tetrarchen Herodes Antipas, die zur Folge hat, daß die Ehefrau des Antipas zu ihrem Vater, dem nabatäischen König Aretas IV., zurückkehrt. Rachefeldzug der Nabatäer gegen Herodes Antipas, der eine empfindliche Niederlage einstecken muß. Diese Niederlage sah das Volk als gerechte Strafe dafür, daß Antipas Johannes den Täufer hat hinrichten lassen. Johannes war in der ostjordanischen Festung Machärus gefangen gesetzt worden, weil Antipas einen Volksaufstand fürchtete. XVIII 116–126: Der syrische Legat Vitellius startet eine Strafexpedition gegen die Nabatäer, weil Aretas IV. einen Vasallen Roms angegriffen hat. Vitellius muß die Aktion abbrechen, da in Rom Kaiser Tiberius gestorben ist.

Es wird klar, daß Josephus hier so vorgeht, daß er verschiedene Ereignisse, die in die Regierungszeit von Kaiser Tiberius fallen (14–37 n. Chr.) unabhängig von ihrer genauen Datierung zusammenstellt. Es ist daher völlig unproduktiv, die Hinrichtung des Täufers auf Grund dessen, daß er diese nach dem Tod des Tetrarchen Philipp (33/34 n. Chr.) berichtet, danach anzusetzen. Die historisch überzeugendste Lösung ist, der lukanischen Chronologie zu folgen und den Beginn der Tätigkeit des Täufers um 28 n. Chr. anzunehmen. Inhaltlich kann das, was Josephus über Johannes sagt, zu den Evangelien eine gute Ergänzung sein. Josephus weiß aber überhaupt nichts über die Herkunft des Täufers und er berichtet auch nichts über seine prophetische Botschaft. Dafür erklärt er die Bezeichnung »Täufer« und sieht in der Taufe des Johannes das äußere Zeichen dafür, daß sich die Seele des Täuflings bereits »vorher durch ein gerechtes Leben entsündigt habe.« (JosAnt XVIII 117; vgl. 1QS 3,4–7 und 1 QS 5,13f). Nach Josephus ist Johannes ein Philosoph, der Frömmigkeit ausstrahlte und Gerechtigkeit predigte. Der messianische Hintergrund seiner Verkündigung wird mit Rücksicht auf das römische Publikum, das auf einen jüdischen Messianismus nach dem ersten Aufstand gegen Rom nur allergisch reagieren konnte, verschwiegen. Josephus kommt seinen römischen Lesern auch insofern entgegen, wenn er schreibt, daß Herodes Antipas den Täufer schon auf »den Verdacht« hin, »Neuerungen einzuführen« hinrichten ließ. Mit diesen Neuerungen ist wohl die messianische Komponente der Botschaft des Täufers gemeint. Mk 6,17–29 sieht den Grund der Hinrichtung des Täufers in dessen Kritik an der unrechtmäßigen Beziehung zwischen Herodes Antipas und Herodias, Josephus in der Furcht des Tetrarchen vor einem Volksaufstand. Wie schon früher erörtert, müssen sich diese beiden Versionen nicht ausschließen. Die Hinrichtung des Täufers erfolgte wahrscheinlich im Jahre 29 in der ostjordanischen Festung Machärus.

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Johannes der Täufer mußte in der Tetrarchie des Antipas und in Judäa eine Massenbewegung ausgelöst haben, die dem Tetrarchen und dem Hohen Rat von Jerusalem gleichermaßen das Fürchten lehrte (Joh 1,19–28). Das Neue Testament enthält noch genug Hinweise, die dies bestätigen (Mk 1,5; Matth 3,6; Luk 3,7). Selbst nach der Hinrichtung des Täufers hatte seine Bewegung weiterhin noch Bedeutung (Apg 18,24f; 19,1–7). Daß nun Jesus von Johannes getauft wurde, ist, wie oben vermerkt, ein historisches Faktum. Ob jedoch Johannes Jesus bei der Taufe im Jordan als »Messias« (Matth 3,13–15) oder als »Lamm Gottes« proklamierte (Joh 1,29–34), ist historisch höchst unwahrscheinlich. Wenn nämlich Johannes schon bei der Taufe Jesu davon überzeugt war, daß der König Messias vor ihm steht, wie hätte er dann vom Gefängnis aus fragen lassen können: »Bist du es, der kommen soll oder müssen wir auf einen anderen warten?« und die Antwort von Jesus erhält: »Geht und berichtet Johannes, was ihr hört und seht: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören; Tote werden auferweckt und den Armen wird das Evangelium verkündet. Selig ist, der an mir keinen Anstoß nimmt.« (Matth 11,2–6; Luk 7,18–23). Meiner Meinung nach ist daher die Taufe Jesu durch Johannes erfolgt, ohne daß er Jesus in einer messianischen Kategorie gesehen hat. Nur so kann die spätere Frage des Täufers einen Sinn haben. Die Sicht des großen jüdischen Jesusforschers Joseph Klausner trifft genau diesen Punkt: »Als Johannes zuerst auf den Schauplatz der Geschichte trat, sah Jesus in ihm den Torwächter und Erschließer des himmlischen Königreiches für alle, auch für sich selbst.« (31952: 341). Auf Grund dessen, was Johannes im Gefängnis von Jesus berichtet wurde, ließ er die Frage an Jesus stellen und Jesus bestätigt ihm mit seiner Antwort, daß mit seiner Person die messianische Zeit angebrochen ist. Die Frage des Johannes ist vor allem dann geradezu zu erwarten, wenn sich Johannes selber als der wiedergekommene Prophet Elija und so nach damaligem jüdischen Verständnis als Vorläufer des kommenden Messias verstanden hat. Versuchen wir, dem nachzugehen. Mk 1,6 und Matth 3,4 schildern, daß Johannes ein Gewand aus Kamelhaaren, einen ledernen Gürtel um seine Hüften trug und daß er sich von Heuschrecken und wildem Honig ernährte. Sein Aufenthalt war die judäische Wüste, primär die Gegend südlich der Oase Jericho. Das ist die Gegend, in der sich der Prophet Elija verborgen hielt (2 Kön 2,13–21). Hier, nahe der Mündung des Jordan in das Tote Meer, ist wohl die Haupttaufstelle des Johannes gewesen. Eine spätere Tradition identifiziert die Taufstelle auch bei der Jordanfurt Beth Abara. Joh 3,23 nennt auch Änon bei Salim als weitere Taufstelle. Heuschrecken dienten Wüstenbewohnern immer wieder als Nahrung. Schon Lev 11,20–23 (vgl. mTherummoth X 9; mChullin III 7; bChullin 63b) unterscheidet zwischen reinen und unreinen Heuschreckenarten, so daß man keinen Verstoß gegen die kultischen Speisegesetze sehen kann, wenn sich Johannes u. a. von Heuschrecken ernährte. Auch der wilde Honig galt als reine Speise (Str–B I 100f).

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Seine Kleidung stellt ihn in die prophetische Überlieferung, wie es Sach 13,4 ausdrückt und vom Propheten Elija bezeugt ist (1 Kön 19,13.19; 2 Kön 1,8; 2,8.13f). Schon die äußeren Umstände deuten darauf hin, daß sich Johannes als der wiedergekommene Prophet Elija verstanden hat. Der Glaube, daß vor Erscheinen des Königs Messias der Prophet Elija wiederkommen werde, war tief im Denken Judas verwurzelt (Str–B IV/2: 764–798). So lesen wir im letzten Prophetenbuch, Maleachi 3,23f, der Hebräischen Bibel: »Bevor der Tag des Herrn kommt, der große und furchtbare Tag, seht, da sende ich zu euch den Propheten Elija. Er wird das Herz der Väter wieder den Söhnen zuwenden, und das Herz der Söhne ihren Vätern, damit ich nicht kommen und das Land dem Untergang weihen muß.« »Maleachi« ist vielleicht gar kein Personenname, sondern heißt einfach »mein Bote«, was auch Mal 1,1 nach der Übersetzung der Septuaginta nahelegt. bMegilla 15a deutet den Boten als den Schreiber Esra. Rabbi Jehoschua ben Qorcha sagte: »Maleachi ist Esra; die Weisen sagen, er hieß Maleachi. Rabbi Nachman sagte: Die Ansicht dessen, welcher sagt, Maleachi ist Esra, ist einleuchtend [...].« Es geht darum, das Prophetenbuch Maleachi so zu verstehen, wie es damals gedeutet wurde: »Seht, ich sende meinen Boten (Maleachi), er soll den Weg für mich bahnen. Dann kommt plötzlich zu seinem Tempel der Herr, [...] und der Bote des Bundes, den ihr herbeiwünscht. [...].« (Mal 3,1). Im damaligen jüdischen Verständnis ist der erwünschte Herr der König Messias, wovon Sir 48,1–11 und später bSanhedrin 97a und b ein beredtes Zeugnis sind. Der Bote des Bundes, der wiedergekommene Elija wird dem Herrn den Weg bereiten. In dem Sinn zitiert auch Mk 1,2 den Propheten Maleachi und deutet die Stelle auf Johannes.433 Das heißt, die christliche Überlieferung steht hier ganz und gar in der jüdischen und unterscheidet sich erst darin von ihr, daß sie Johannes konkret als Vorläufer des Messias Jesus bestimmt. Der Evangelist Johannes (Joh 2,21) distanziert sich von der markinischen Sicht, indem er den Täufer selber die Frage stellen läßt, ob er Elija oder der Prophet sei, und dieser verneint. Joh 2,21 sieht den Täufer ausschließlich unter dem Aspekt von Jes 40,3 als »Stimme des Rufers«, so auch Matth 3,3 und Luk 3,4. Der Evangelist Johannes will wohl der im Judentum weit verbreiteten Ansicht des Wiederkommens des Elija als vormessianischer Gestalt widersprechen und interpretiert den Täufer neutraler als Stimme des Rufers (vgl. Str–B I 96f). Es hat in den letzten Jahrzehnten nicht an Versuchen gefehlt, den Täufer in Verbindung mit der Sekte von Qumran zu sehen. Dieses Vorhaben ist schon dadurch zum Scheitern verurteilt, daß sich die sittliche Botschaft des Täufers der Umkehr nicht an einen exklusiven Zirkel richtet, sondern an ganz Israel. Die Taufe, die er spendet, ist einmalig und nicht mit den oftmaligen kultischen Waschungen der Qumransekte zu vergleichen. Der Täufer versteht sich jedenfalls als der Vorläufer des Messias, aber für welchen Messias? Wie er die Antwort, daß die messianische Zeit durch Jesu Wirken schon angebrochen ist, aufgenommen hat, wissen wir nicht.

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Das Selbstverständnis des Täufers, nicht der Messias zu sein, wie es die Evangelien historisch richtig angeben und sagen, daß Johannes sich für nicht wert hielt, dem die Schuhriemen zu öffnen – ein Dienst, für den nicht einmal hebräische Sklaven herangezogen werden durften (Str–B I 121) –, der nach ihm kommen wird, d. h. dem König Messias, machte es für die erste Generation der an Jesus als den Messias Israels Glaubenden leicht, Johannes den Täufer als dessen Vorläufer zu sehen.

2. Die Deutung der Evangelisten Es ist vorher schon öfter vermerkt worden, daß die Evangelisten in den Kindheitserzählungen Jesu nicht nur historische Fakten vorgestellt haben, sondern diese von ihrem Glauben, daß Jesus der endgültige Messias und Sohn Gottes ist, gedeutet haben. In diesem Abschnitt geht es also um die Fragen, wie die Evangelisten die historischen Fakten gedeutet und interpretiert haben. Solche Interpretationen sind zwar nach den Maßstäben der historischen Wissenschaften nicht beweisbar, aber sie können nachvollzogen werden, ohne daß man ihnen persönlich auch zustimmen muß. Die matthäische Kindheitserzählung beginnt mit dem Stammbaum Jesu (1,1–17) und hält bereits zu Beginn fest, daß Jesus der Sohn Davids ist. Der Stammbaum gliedert sich in dreimal vierzehn Geschlechter von Abraham bis David, von David bis zum Babylonischen Exil und von diesem bis Jesus. Genealogische Listen hat es bereits im alten Israel gegeben und sie waren auch um die Zeitenwende speziell für Priesterfamilien in Umlauf.434 Im Unterschied zu diesen ist die matthäische Liste eine Konstruktion, wie z. B. der Vergleich mit der lukanischen (3,23–38) zeigt. Selbst beim Vater Josephs (Matthäus: Jakob, Lukas: Eli) besteht keine Einigkeit. Natürlich hat es auch Doppelnamen gegeben und Matthäus kann den einen und Lukas den anderen gewählt haben, aber die vielen weiteren Unstimmigkeiten lassen es doch als sehr unwahrscheinlich erscheinen, daß hier Stammbäume im historischen Sinn vorliegen. Daß der matthäische Stammbaum Jesu eine theologische Interpretation sein will, läßt sich nicht verhehlen. Matth 1,17 gibt dem Leser auch einen Schlüssel an die Hand, um seine Interpretation zu verstehen: Vierzehn ist die Ziffernsumme des Wortes DaViD: D = 4; V = 6; D= 4 Es war damals üblich, Zahlen mit den Buchstaben des Alphabets auszudrücken. Diese dreimal Vierzehn (= David) enden in Jesus, d. h., in ihm sind alle Verheißungen, die Gott David gegeben hat, endgültig geworden und überboten. Jesus ist daher nach diesem Stammbaum der endgültige Sohn Davids, der Gesalbte, der Messias (vgl. Str–B I: 6–7). Eindringlich formuliert dies eine altchristliche Glaubensformel, die Paulus Röm 1,3f (57/ 58 n. Chr.) zitiert: »[...] von seinem Sohn, der nach dem Fleische aus dem

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Geschlecht Davids hervorgegangen, machtvoll nach dem Geist der Heiligkeit auf Grund der Auferstehung von den Toten als Gottessohn eingesetzt ist.« »Sohn Davids« und »Sohn Gottes« sind gleichgesetzt. So sagt diese Bekenntnisformel, daß Christen schon in den Anfängen den Ausdruck »Sohn Davids« im Sinne von »Sohn Gottes« aufgefaßt haben. Die Herkunft des Messias aus dem Geschlecht Davids war damals zwar gängig, aber nicht alle dachten so. Für Henoch (90,9–37), die Sibyllinen (5,256–259) und die rabbinische Literatur (Str–B I: 13) zählt vor allem, daß sich der Messias durch besondere Taten auszeichnet. Wohl zeigen aber die Psalmen Salomonis (17,21), daß um die Mitte des 1. Jhs. v. Chr. die Vorstellung selbstverständlich war, der Messias sei der Sohn Davids, ganz zu schweigen von der qumranspezifischen Annahme eines priesterlichen und eines davidischen Messias. Ansatzweise entwickelte das Judentum auch die Vorstellung eines präexistenten Messias (bPesachim 54a; Pesiqta Rabbati 152b; Targum Pseudo Jonathan zu Mich 4,8), der jedoch ähnlich wie die personifizierte Weisheit von Spr 8,12–21 gesehen werden muß, nicht als ein göttliches Wesen neben Gott, sondern als Geschöpf Gottes vor der Weltschöpfung. Das unterscheidet diesen Ansatz von der christlichen Interpretation des Messias grundlegend. Der von Paulus Phil 2,6–11 zitierte Text sieht Jesus bereits in einer unvergleichlichen Gottesnähe, und dem erhöhten Herrn kommt göttliche Anbetung zu. Qualitativ am deutlichsten übersteigt der Johannesprolog (Joh 1,1–18) die jüdische Vorstellung: Jesus ist nicht bloß der präexistente Sohn Davids, Sohn Gottes, sondern der seit Ewigkeit einziggezeugte Sohn Gottes.435 »Wir wissen aber: Der Sohn ist gekommen, und er hat uns Einsicht geschenkt, daß wir (Gott) den Wahren erkennen. Und wir sind in diesem Wahren, in seinem Sohn Jesus Christus. Er ist der wahre Gott und das ewige Leben. [...] « (1 Joh 5,20f). Schon auf Grund des strengen Monotheismus konnte im Judentum die Deutung des von Gott seit Ewigkeit gezeugten Messias nie Platz greifen. Selbst die neutestamentlichen Autoren, die an den erhöhten Herrn glaubten, sahen sich in einem für sie unlösbaren Dilemma, so wenn 1 Joh 5,21 fast hilflos anfügt: »Meine Kinder, hütet euch vor den Götzen.« Zum Verständnis all dessen ist es ratsam, einen Blick in die Geschichte Judas zu werfen. Mit dem Beginn des davidischen Königtums ca. im Jahr 1004 v. Chr. ist ein Markstein gesetzt. Die auf ihre lokale Integrität so achtsamen Stämme wurden in einem Großreich zusammengefaßt, das mit seinen Kolonien von Damaskus bis an die ägyptische Grenze reichte und sich nach Osten weit in die Wüstengebiete der ostjordanischen Königreiche und Stämme ausdehnte. Das davidische Königtum war eine Mischung aus der althebräischen Fürstenidee, wie sie noch Saul (1012–1004 v. Chr.) repräsentierte, des feudal ausgerichteten kanaanäischen Stadtstaat-Königtums und des mit universellem Machtanspruch auftretenden

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menschlich-göttlichen Königtums des Alten Ägypten. Für die Zeit Davids und Salomos galt das ägyptische Königtum als die höchste gott-menschliche Instanz und man suchte, diese nachzuahmen. So war David auch entsprechend bestrebt, seiner Herrschaft und künftigen Dynastie eine weit über seinen Tod hinausgehende religiöse Begründung zu geben. So schien ihm die Dynastie gegen alle innenpolitischen Gefahren gefeit zu sein. In der Nathan-Prophetie an David von 2 Sam 7,12–16 liegt diese vor: »Wenn dann deine Tage voll sein werden und du dich zur Ruhe legst bei deinen Vätern, dann will ich deinen Nachkommen nach dir, der aus deinem Leib hervorgeht, einsetzen und sein Königtum bestätigen. Er wird meinem Namen ein Haus erbauen und ich will den Thron seiner Königsherrschaft für immer befestigen. Ich will ihm ein Vater und er soll mir ein Sohn sein. Verfehlt er sich, so werde ich ihn züchtigen mit Menschenruten und mit Schlägen [...]. Meine Huld aber werde ich ihm nicht entziehen, wie ich sie Saul entzogen habe, den ich vor dir beseitigte. Nein, dein Haus und dein Königtum sollen immerdar vor mir Bestand haben. Dein Thron soll für immer fest gegründet sein.« Jeder Nachkomme Davids, der den judäischen Königsthron bestieg, konnte sich auf diese göttliche Verheißung berufen. Bei der Inthronisation eines neuen davidischen Königs wurde diese göttliche Verheißung dem anwesenden Volk vorgeführt. In verschiedenen Psalmen (2; 20?; 21?; 72; 101; 110) sind noch Reste dieser Feier erhalten. Es lassen sich mannigfache Berührungen mit dem altägyptischen Königsritual feststellen. In Ägypten beginnt die Inthronisation mit der kultischen Waschung des künftigen Königs, so wie z. B. nach 1 Kön 1,38 bei Salomo: die Prozession führt zur Gichonquelle, wo die Feier mit der kultischen Waschung und dem sakramentalen Akt des Trinkens aus der Quelle (Ps 110,7) beginnt. Es wird verkündet (Ps 2,6; 21,7; 35,3), daß Gott den König geweiht und gesegnet hat. Es erfüllen sich die Verheißungen der Geburt. Die Salbung des Königs (Ps 2,2; 18,51; 20,7; 45,8; 89,21) scheint jedoch in Juda (mit Ausnahme der Salomos) vor dieser Prozession stattgefunden zu haben. Der König wird durch die Salbung zum Messias, zum Gesalbten Gottes und so vom profanen Bereich ausgesondert und gleichsam ein Abglanz der göttlichen Mächtigkeit. In Ägypten ist die Salbung unbekannt. Darauf folgt in Juda wie in Ägypten die Krönung, die die Gottheit vornimmt (Ps 214b; 132,18 u. a.). Die Krone ist Manifestation und Vollendung der Auserwählung des Königs. Sie wird als ein lebendiges Wesen verstanden. So heißt es in Ägypten: »Die Schlange (Uräus), die an deinem Haupt ist, die straft die Feinde des Königs mit Feuer.« (A. Erman 1923: 319), und in Ps 110,2: »Dein Zorn wird die Feinde des Königs verschlingen und Feuer wird sie fressen.« Mit der Krönung ist die Übergabe des Protokolls (Satzung) der Gottheit an den König verbunden (Ps 2,7; 89,40), dessen Hauptinhalt der »Große Name« ist (2 Sam 7,9; 1 Kön 1,47). Dieser bestand aus einer fünfgliedrigen Titulatur.

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Nach 2 Sam 23,1 lautet sie für David: »David/der große Sohn Isais/der Mann, den Eljon (der höchste Gott) eingesetzt hat/der Messias (der Gesalbte) des Gottes Jakobs/der Geliebte des Kriegers Israel (Bezeichnung für den Gott Israels).« Abb. 24 zeigt als Vergleich vier der fünf »Großen Namen« Pharao Seostris I. (ca. 1971–1929 v. Chr): Links oben steht der Horusname: ʿnḫ msw.t (Leben der Geburten); darunter der Thronname: ḫpr k3 rʿ nb t3wj (die Macht des Sonnengottes verwirklicht sich, Herr der beiden Länder [Ober– und Unterägypten]). Rechts oben befindet sich der Zwei-Herrinnen-Name, der hier mit dem Horusnamen gleich ist: ʿnḫ msw.t; ebenso lautet auch der Goldhorusname, der hier nicht aufgeführt ist. In der Kartusche darunter findet sich der Geburtsname: sn wsr.t (Mann der starken [Göttin]) und unter der Kartusche: mi rʿ ḏ.t (wie der Sonnengott in Ewigkeit). Wenn der neugekrönte König auf seinem Thron Platz nimmt, manifestiert sich sein Königtum endgültig. Auf dem Thron sitzen heißt daher König sein (Ps 132,11f; 1 Kön 1,46). Dem konkreten judäischen König wird zwar nicht ewige Herrschaft gewünscht, doch »sein Name« (Ps 72,17), sein Geschlecht und sein Thron (Ps 89,37) sollen immerdar fortdauern, und zwar durch weitere Nachkommen (Ps 89,5a.30a). Sein Königtum soll durch alle Geschlechter hindurch (Ps 89,5b) unvergänglich sein wie der Himmel (Ps 89,30b) oder wie die Sonne (Ps 89,37b). Trotzdem bleibt der Unterschied zum Königtum Gottes unüberbrückbar; denn Gottes Königsherrschaft steht im Himmel (Ps 11,4; 103,19) und existiert seit jeher (Ps 93,2). Den Abschluß der Feierlichkeit bildete wohl die Huldigung des Volkes, wovon allerdings die Psalmen schweigen.436 Durch die Inthronisation wird der davidische Kronprinz definitiv Sohn und Messias Gottes, so daß die Aussagen »Sohn Davids« und »Sohn Gottes« identisch sind. Das alte Juda hat diese Gottessohnschaft des davidischen Königs als ein besonderes intimes Verhältnis zu Gott und nicht im körperlichen Sinn, daß Gott mit der menschlichen Königin den neuen König zeugt, verstanden. Wohl aber können ägyptische Vorstellungen eine Rolle gespielt haben, daß die Gottheit auf besondere Weise durch den zeugenden menschlichen König handelt. So heißt es auch über den davidischen König: »Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt.« (Ps 2,7). Dieser Satz ist völlig ägyptisch gedacht, so daß es sinnvoll erscheint, darauf näher einzugehen. Zeugung und Geburt des ägyptischen Gottkönigs ist jeweils in einem fünfzehnteiligen, teils beschrifteten Bilderzyklus dargestellt. Im Hatschepsut Tempel von Theben ist z. B. dieser Zyklus fast vollständig erhalten.437 Der Zyklus beginnt mit einem Bild, das die Götterversammlung mit AmunRe zeigt. Der Gott teilt der Versammlung seine Liebe für die künftige Königsmutter mit (1. Szene). Im Anschluß daran informiert Amun-Re den regierenden

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König über seine Liebe zur Königin (2. Szene). Amun-Re macht sich auf den Weg zur Königin (3. Szene). Für uns von Interesse ist besonders die 4. Szene, die die Zeugung des neuen Königs zeigt (Abb. 25).

Abb. 24 Die »vier« großen Namen des Pharao Sesostris I. Kalksteinrelief, ca. 95 cm hoch, Karnak, Kleiner Tempel, Rekonstruktion Der Gott Amun-Re und die Königin sitzen auf dem Zeichen für »Himmel«. Die linke Hand des Gottes ergreift die rechte der Königin, und mit seiner rechten, deren Ellbogen durch die linke der Königin gestützt wird, hält er das Lebenszeichen zur Nase der Königin. Die Füße des Gottes stützt die Göttin Selket, deren Symbol, der Skorpion, über ihrem Kopf dargestellt ist. Der Skorpion ist das Symbol der Liebe, die in den Leib der Königin eingeht. Die Füße der Königin trägt die Göttin Neith. Der Schild mit den gekreuzten Pfeilen über ihrem Kopf ist ein Zeichen, daß die Wege (in die Königin) geöffnet werden. Ein Text, der das Bild begleitet, erläutert die Szene: »Gesprochen von Amun-Re, dem Herrn von Karnak [...]

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nachdem er seine Gestalt zu der (ihres) Gatten, des Königs von Ober–-und Unterägypten, Men-cheperu-Re, begabt mit Leben, gemacht hatte. Er fand sie, wie sie ruhte im Innersten ihres Palastes. Sie erwachte wegen des Gottesduftes, sie lachte seiner Majestät entgegen. Er ging sogleich zu ihr, er entbrannte in Liebe zu ihr; er ließ sie ihn (den regierenden König) sehen in seiner Gottesgestalt, nachdem er vor sie gekommen war, so daß sie jubelte beim Anblick seiner Vollkommenheit; seine Liebe ging ein in ihren Leib. Der Palast war überflutet (mit) Gottesduft und alle seine Gerüche waren (solche) aus Punt.« 438 Hier geht es also nicht um eine Handlung, wie sie in der griechischen Mythologie z. B. Zeus mehrmals zugeschrieben wird. Das ägyptisch-religiöse Denken ist völlig anders. Der hieroglyphische Text ist unmißverständlich. Er verwendet das symbolträchtige, pluralische Nomen ḫpr.w mit dem Personalsuffix. Das Nomen weist folgende semantische Breite auf: »Wesen, Gestalt, Verkörperung, Verwandlung, Erscheinungsform, Transformation« (vorzüglich von Gottheiten und Königen ausgesagt).439 Damit ist klar ausgedrückt, daß bei der Zeugung des neuen Königs der Gott Amun-Re durch den regierenden König repräsentiert wird.

Abb. 25 Der Gott Amun-Re zeugt mit der Königin »in Gestalt« des regierenden Pharao den Thronfolger. Relief, Luxor, Tempel Amenophis III. (1417–1377 v. Chr.)

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Damit hat Ägypten schon sehr früh die mythische Vorstellung der direkten Herkunft des Königs von einer Gottheit verlassen. Es stand nichts im Weg, daß das alte Juda darauf zurückgreifen konnte. An Ps 2,7 ist das noch gut erkennbar. Die 5. Szene zeigt, wie der widderköpfige Gott Chnum im Auftrag des AmunRe den Leib des künftigen Königs formt, wobei die nächste, 6. Szene, Leib und Ka (die Mächtigkeit der Seele) zeigt. Der Gott verkündet nun der Königin, daß ihr eine Rangerhöhung zukommt, weil sie Mutter wird (7. Szene). Der Gott Chnum und die Göttin Hathor geleiten die Königin zum Geburtshaus (8. Szene). Die 9. Szene handelt von der Geburt. Diese wird allerdings nicht gezeigt. Die Königin hält bereits den Neugeborenen in ihren Armen. Die 10. und 11. Szene bringen die rechtliche Anerkennung des Sohnes durch Amun-Re als seinen Sohn, wobei die Göttin Hathor das Kind präsentiert. Die 12. bis 15. Szene zeigen das Stillen des Kindes durch göttliche Ammen, seine Beschneidung und anderes. Mit der göttlichen Sohnschaft des Kindes ist bereits seine königlich-richterliche Herrschaft verbunden. In Abb. 26 ist das Königskind auf dem Schoß seiner Amme zu sehen. Seine Füße stützen sich auf einen Schemel, der die vielen Völker zeigt, über die es bereits jetzt herrscht. »Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde zum Schemel deiner Füße mache.« (Ps 110,1)

Abb. 26 Das Königskind im Schoß seiner Amme. Malerei, Abd el-Qurna, Grab des Hekaerneheh, Zeit Thutmosis IV. (1422–1413 v. Chr.)

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Die von Juda aus Ägypten entlehnte und adaptierte Königsideologie verhalf der davidischen Dynastie bis zu ihrem Ende im Jahre 587/586 v. Chr. zu Ansehen und Dauer, noch wichtiger: zu ihrer göttlichen Legitimität. Gegen die äußeren Feinde wie die Neubabylonier, die Juda vernichteten, vermochte sie jedoch nicht zu schützen. Die davidische Dynastie wurde zwar durch die Propheten kritisiert und hinterfragt, ihre göttliche Legitimation jedoch nicht in Frage gestellt. In einer kritischen Situation, als Juda durch eine antiassyrische Koalition syro-palästinischer Fürsten hart bedrängt war, will der Prophet Jesaja den jungen judäischen König Ahas (741–725 v. Chr.) auf die göttliche Verheißung, die einst David durch den Propheten Nathan gegeben wurde, hinweisen: »Darum wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Seht, die junge Frau440 wird empfangen und einen Sohn gebären und seinen Namen Immanuel (Gott mit uns) nennen.« (Jes 7,14). Der Prophet will sagen: wenn du selbst schon nicht an deiner davidischen Gottessohnschaft festhältst, so wird das Kind, das deine junge Frau gebären wird, der neue Hoffnungsträger Judas werden. Ahas hat auf das Prophetenwort nicht gehört und auf die politische Realität gesetzt. Er rief den assyrischen König Tiglat Pileser III. (ca. 745–727 v. Chr.) zu Hilfe: »Dein Knecht bin ich und dein Sohn. Ziehe herbei und rette mich aus der Gewalt des Aramäerkönigs und des Königs von Israel.« (2 Kön 16,7). Ahas leugnet damit seine davidische Gottessohnschaft. Der assyrische König hörte auf diesen Hilferuf und schlug wenig später das Aramäerreich und das Nordreich Israel. Der Prophet Jesaja hat sich jedoch von der Starrköpfigkeit des Ahas nicht beeindrucken lassen. Er greift das einmal durch ihn ergangene Gotteswort vom Immanuel mehrfach auf und deutet es selber weiter. In Jes 8,8 ist »Immanuel« ein verzweifelter Aufschrei vor der drohenden assyrischen Gefahr, und Jes 8,23b–9,6 wendet sich bereits an den durch Assur geknechteten Teil des Nordreiches Israel und spricht der Bevölkerung Trost zu. Die alte Trennung der beiden Staaten vom Jahre 926 v. Chr. ist gleichsam vergessen, und die hier lebenden Menschen werden wieder unter die Fittiche des davidischen Königtums genommen. »Denn ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt; die Herrschaft ruht auf seinen Schultern. Man nennt seinen Namen: Wunderrat, starker Gott, Ewigvater, Friedensfürst. Groß ist die Herrschaft und endlos der Friede für Davids Thron und sein Königreich, das er aufrichtet und festigt in Recht und Gerechtigkeit. Von nun an bis in Ewigkeit wird die eifersüchtige Liebe JHWHs Zebaoth solches tun.« (Jes 9,5f). Aber der Hoffnungsträger dafür ist nicht mehr der regierende judäische König, sondern ein neues davidisches Königskind, das Gottes Verheißungen ernst nehmen wird. Jesaja mußte dann aber sehen, daß auch dieses Königskind, der Sohn des Ahas, Hiskija (725–697 v. Chr.), nicht völlig dem alten Ideal entsprach. Die Assyrer verwüsteten Juda und König Sanherib belagerte im Jahre 701 v. Chr. Jerusalem. Jesaja deutet nun das einmal ergangene Gotteswort weiter aus, indem er auf Isai, den Vater Davids, zurückgreift: »Aus Isais Stumpf

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aber sproßt ein Reis, und ein Schößling bricht hervor aus seinem Wurzelstock.« (Jes 11,1). Selbst wenn die konkrete Dynastie vernichtet werden sollte, gibt es Hoffnung von einem neuen Schößling her. Von der prophetischen Theologie Judas wurde so bereits die Idee entwickelt, daß die Hoffnung auf einen davidischen Herrscher nicht aufzugeben ist, selbst wenn die konkrete Dynastie zugrunde gehen sollte. Als in der Tat diese nach 587/586 v. Chr. nicht mehr existierte, blieb allein die Hoffnung, daß sich die Verheißung in Zukunft erfüllen werde. So erfährt die Nathan–Prophetie in 1 Chr 17,11–14 einen in die Zukunft gerichteten Aspekt: es wird einen aus Davids Söhnen geben, dessen Herrschaft für immer Bestand haben wird. Noch deutlicher sagt es der Qumrantext 4Qflor 1,10–13: »JHWH hat dir kundgetan, daß er dir ein Haus erbauen wird (indem er sagte): Ich will aufrichten deinen Samen nach dir und festigen den Thron seiner Herrschaft. Für alle Ewigkeit werde ich ihm zum Vater sein und er wird mir zum Sohn sein. Das ist der Sproß Davids (vgl. Jer 23,5; 33,15; Sach 3,8; 6,12), der aufsteht mit dem Thoralehrer (i. e. priesterlicher Messias), der (sein wird) in Zion am Ende der Tage, so wie geschrieben steht: Ich will aufrichten die zusammenstürzende Hütte Davids (Am 9,11). Das (ist gemeint mit der) zusammenstürzenden Hütte Davids, daß er (i. e. der davidische Messias) aufstehen wird, Israel zu erlösen.« Der Begriff »Sohn Davids« = »Sohn Gottes« läßt sich von der judäischen Königsideologie bis zur Schwelle des Neuen Testaments hin verfolgen (vgl. rabbinische Belege bei Str–B I: 75f). Der Sohn Davids, Sohn Gottes, wird als Messias, als Gesalbter Gottes erwartet. Matthäus überbietet jedoch diese Erwartung mit dem Konstrukt des jesuanischen Stammbaums: In Jesus sind die Verheißungen, die David gegeben wurden, unüberbietbar und endgültig geworden. Die frühere ägyptisch-judäische Vorstellung, daß die Gottheit in Präsenz des menschlichen Vaters den neuen König zeugt, wird auch im zeitgenössischen Judentum nicht völlig aufgegeben. Nach dem Qumrantext 1QSa 2,11 zeugt Gott den Messias, wie es auch Ps 2,7 schon lange davor ausgesprochen hat. Man erwartet also um die Zeitenwende zumindest nach dieser einen, essenischen Denkweise, daß Gott bei der Zeugung des Messias auf besondere Weise durch den konkreten Vater handelt. Aber Matth 1,18 geht weit darüber hinaus: die Jungfrau Maria ist schwanger vom Heiligen Geist und der Evangelist stützt diese Feststellung mit Jes 7,14 in der Übersetzung der Septuaginta: »[...] die Jungfrau wird empfangen [...].« Für den Sohn Davids, Sohn Gottes, Messias Jesus gibt es überhaupt keinen biologischen, menschlichen Vater, sondern nur die jungfräuliche Mutter, die mit Joseph verheiratet ist und daher das Kind, von Joseph akzeptiert, zur Welt bringen wird. Er ist daher de jure, aber nicht biologisch der Vater des Kindes. Seine erste Reaktion auf die nicht von ihm stammende Schwangerschaft Marias ist, daß er sie heimlich entlassen möchte (Matth 1,19). Deutlicher kann der Evangelist gar nicht mehr sagen, daß er sowohl die vom Heiligen Geist stammende Schwangerschaft

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Marias, als auch ihre Jungfräulichkeit nicht im metaphorischen Sinn, sondern als Tatsachen versteht, auch wenn diese menschlich nicht erklärbar sind. Joseph findet erst durch göttliche Hilfe zur Akzeptanz des Kindes. In einer Traumvision wird er über den Sachverhalt aufgeklärt und erfährt, daß dieses Kind der endgültige Messias ist (Matth 1,20–25). Der Evangelist knüpft hier sehr geschickt an die Träume des alttestamentlichen Joseph an (Gen 37,5–11; 40,1–41,36). Seine Träume sind ein Zeichen, daß Gottes Wohlwollen auf ihm ruht und er vor allen seinen Brüder besonders ausgezeichnet ist, und andererseits, daß er durch Gottes Wohlwollen auch imstande ist, Träume zu deuten, deren Geheimnis nur Gott kennt (Str–B I: 53–63). Joseph, der Mann Marias, wird quasi zum neuen Joseph. Er ist gerecht (Matth 1,19), nicht nur einer, der das Gesetz erfüllt, sondern einer, auf dem Gottes Wohlwollen auf besondere Weise ruht. Wie der alttestamentliche Joseph das, was seine Brüder ihm angetan hatten, nicht gerächt, sondern sie herzlich und ihnen verzeihend aufgenommen hat, und wie er schlußendlich nicht nur für seine Brüder und das spätere Israel, sondern für Ägypten und die ganze Welt zum Segen wurde (Gen 41,57), so wird Joseph, der Mann Marias, zum Segen und zum Schutz nicht nur für Maria und das Kind, das sie gebären wird, sondern auch für die Gemeinde derer, die auf dieses Kind ihren Glauben und ihre ganze Existenz setzen werden. Er, und nicht Maria, ist es, der dem Kind als sein juristischer Vater den Namen Jesus (JHWH [ist] Rettung) geben wird, wie der Engel es ihm befohlen hat. Diese matthäische Interpretation Jesu setzt sich auf dreifache Weise von der zeitgenössischen jüdischen Messiaserwartung ab: Der Messias Jesus hat keinen biologischen, menschlichen Vater, seine Mutter ist Jungfrau441 und er wird sein Volk von den Sünden erlösen; denn nach jüdischer Auffassung schafft den sündenlosen Zustand in der messianischen Zeit Gott allein, nicht der Messias (Str–B I: 70–74). Matthäus deutet also die historischen Fakten, auch wenn nicht alle in menschlich-wissenschaftlichem Sinn erklärbar sind, wie die Zeugung durch den Heiligen Geist und die Jungfräulichkeit Marias: Jesus ist der endgültige Sohn Davids, der Sohn Gottes, der Messias, der Immanuel, der Sohn der Jungfrau, der neue Retter Josua – der Name Jesus ist nur eine Kurzform des hebräischen Namens Josua – und der, der sein Volk von seinen Sünden erlösen wird. Nach diesen Aussagen könnte man meinen, scheint es nichts mehr zu geben, was das überbieten könnte. Dennoch geht Matthäus noch einen Schritt weiter, um einerseits die Aussage »Sohn Gottes« genauer zu interpretieren, andererseits um die Verbindung zu weiteren Gestalten der Heilsgeschichte deutlich zu machen. Das historische Faktum, daß persische Magoi, die astronomische Phänomene mit der jüdischen Messiasverheißung verknüpften, zu dem Kind nach Bethlehem gekommen sind, nimmt der Evangelist für weitere Interpretationen (Matth 2,1–12): Die Magoi repräsentieren die nichtjüdische Welt, deren Glaube und Religion sie aber den wahren König finden läßt, während sich die Juden

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ihm verweigern. Das ist bereits die Situation der jungen Kirche, die immer mehr erkennen mußte, daß sich die Heidenwelt der christlichen Botschaft öffnet, während die Christengemeinden Judäas, Samarias und Galiläas in einem höchst bescheidenen Umfang bleiben. Daß Herodes erschrocken sei, ist gewiß historisch, daß er aber Schriftgelehrte über den Geburtsort des Messias befragen mußte, ist höchst unwahrscheinlich. Er, der sich selber als Messias verstanden hat, kannte wohl auch Mich 5,1. Wenn Matthäus schreibt, daß ebenso ganz Jerusalem erschrocken ist, so hat er insofern recht, wenn er die Hierarchen des Tempels meint, denen die Geburt des Messias höchst unerwünscht gewesen wäre, während das gläubige Volk diese begrüßt hätte. Die Magoi bringen dem Kind Geschenke: Gold, Weihrauch und Myrrhe. Es wird die jüdische Vorstellung aufgegriffen, daß die Heidenvölker dem Messias Geschenke bringen werden (Ps 72,10–15; Jes 49,23; 60,5f; rabbinische Belege bei Str– B I: 83f), aber noch viel mehr wird damit die Wesensbestimmung des Messias Jesus veranschaulicht: Gold charakterisiert ihn als königlichen Sohn Davids, Weihrauch und Myrrhe442 als göttlichen Gottessohn und Priester. Gerade diese Thematik nimmt Hebr 5 (vgl. 8,1–5) auf, wenn er Ps 2,7 und 110,4 zitiert: Jesus ist der Sohn Davids, der Sohn Gottes, ist der Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks. Die Idee des priesterlichen Messias, wie ihn die Qumran-Essener neben dem davidischen erwarten, wird hier zusammengenommen und überhöht. Das Priestertum, das sich auf Aaron und Zadok berufen kann, wird mit Jesus abgelöst, weil ihm von Gott das Hohepriestertum Melchisedeks verliehen wurde (Hebr 5,10).443 Von den Magoi heißt es dann, »sich niederwerfend beteten sie ihn an« (Matth 2,11). Der griechische Text kombiniert hier zwei Verba,444 um zu unterstreichen, daß es sich um die Anbetung der Gottheit handelt. Damit ist der Höhepunkt erreicht: der Messias Jesus ist der göttliche Sohn Gottes. Ihm gebührt die Latreia, die göttliche Anbetung, wie der Gottheit selber! Den bethlehemitischen Kindermord stellt der Evangelist unter ein Wort des Propheten Jeremia (31,15) und nützt die Flucht nach Ägypten wie die Rückkehr der Familie nach dem Tod Herodes des Großen, um an den einstigen Exodus aus Ägypten zu erinnern: »Aus Ägypten habe ich meinen Sohn berufen.« (Hos 11,1; vgl. Num 23,22). Jesus ist auch der neue Mose. Um dies noch zu verdeutlichen zitiert der Evangelist fast wörtlich Ex 4,19 »[...] die dem Kind nach dem Leben strebten, sind gestorben.« Wenn Jesus der neue Mose ist, so ist er wie Mose Repräsentant des Volkes Israel, aber nicht nur Repräsentant des geschichtlichen Israel, sondern des neuen, endgültigen heilsgeschichtlichen Israel, das Juden wie Heiden umfaßt. Das Motiv der Gefährdung des Kindes, aus dem einmal ein bedeutender Mensch, König u. Ä. werden wird, war dem Evangelisten natürlich von den

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Erzählungen über Mose bekannt (Ex 2,1–10)445, so daß er auch von diesen eine Verbindung vom Jesuskind zu Mose herstellen konnte: wie Mose als kleines Kind mit dem Tod bedroht war, so auch das Jesuskind. Der Abschluß der matthäischen Kindheitserzählung hält fest, daß Joseph mit Maria und Jesus in Nazareth Wohnung genommen hat, damit sich »das Wort der Propheten erfüllt: Er wird Nazoräer heißen.« (Matth 2,23). Auf welche Propheten hier Bezug genommen wird, ist nicht klar. Möglicherweise gibt es eine Anspielung auf die Verheißung der Geburt Samsons in Ri 13,5–7: »Denn du sollst empfangen und einen Sohn gebären. Das Schermesser soll nicht auf sein Haupt kommen, denn das Kind wird ein Nazir (Septuaginta: Naziraios) Gottes sein vom Mutterschoß an. Und er wird anfangen, Israel aus der Hand der Philister zu retten.« Unter »Nazir« versteht die Hebräische Bibel vornehmlich einen Menschen, der sich durch ein zeitliches oder dauerndes Gelübde Gott geweiht hat. Der matthäische Text verknüpft jedoch den Ort Nazareth mit Jesus, so daß wahrscheinlich doch keine Anspielung auf das Nasirat vorliegen dürfte, zumal auch ausgesprochen asketische Züge im Leben Jesu fehlen. Am ehesten dürfte eine Anspielung an Jes 11,1 gegeben sein, wo mit »nezer« der messianische Sproß gemeint ist.446 Es läßt sich sagen, daß die Bezeichnung »Nazoräer« in Matth 2,23 den Aufenthaltsort Jesu meint, aber indirekt einen messianischen Hinweis enthält.447 Lukas geht in seiner Erzählung über Jesu Kindheit anders als Matthäus vor. Das liegt einerseits an den unterschiedlichen Quellen, andererseits an der Art seiner literarischen Darstellung. Er erreicht aber das gleiche Ziel wie Matthäus. Aus dem ihm bekannten Faktum, daß Elisabeth, die Mutter des Johannes, eine Verwandte Marias ist, stellt er fortlaufend Johannes und Jesus einander gegenüber, aber so, daß Johannes der Vorläufer ist (der Vater des Täufers Zacharias stellt dies bereits klar [Luk 1,76]), Jesus die Vollendung: Auf die Verheißung der Geburt des Täufers (Luk 1,5–25) folgt die Jesu (Luk 1,26–38). Auf den Besuch Marias bei Elisabeth, die Geburt und Beschneidung des Täufers (Luk 1,39–80) folgt Jesu Geburt, Beschneidung und Darstellung im Tempel (Luk 2,1–25). Der Engel erscheint dem Zacharias im Tempel, während er zu Maria nach Nazareth kommt. Zacharias will der Botschaft keinen Glauben schenken, Maria dagegen ergibt sich dem Willen Gottes. Elisabeth ist schon eine »betagte« Frau (d. h. nach den damaligen Verhältnissen höchstens 30 Jahre), Maria eine junge Frau. Dieser formale Aufbau, den Lukas wählte, läßt den Leser sofort erkennen, daß nicht Johannes die Erfüllung ist, sondern Jesus. Einen Stammbaum Jesu – er beginnt mit Jesus und endet mit Adam – bringt Lukas erst später (3,23–38). Wie Adam eine Neuschöpfung Gottes ist, so ist auch der Mensch Jesus eine solche. Es braucht dazu keinen menschlichen Vater. Nur die Leute meinten, er sei der Sohn Josephs (Luk 3,23). Jesus als Mensch wurde im Mutterleib Marias erschaffen.448 Daß aber in diesem Menschen Jesus der seit

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Ewigkeit beim Vater seiende Logos west, geht aus dem lukanischen Stammbaum nicht direkt hervor, wird jedoch sonst deutlich. Der bis auf Adam zurückgeführte Stammbaum weist auch noch auf ein wesentliches Anliegen des lukanischen Werkes hin: in Jesus sind Juden wie Heiden zum Heil berufen. Aber auch für Lukas ist Jesus der Sohn Davids und der göttliche Sohn Gottes. Als Elisabeth den Gruß Marias vernimmt, »hüpft/tanzt«449 das Kind im Schoß Elisabeths und sie redet vom Geist erfüllt (Luk 1,42–45). Für das Stoßen der Zwillinge im Mutterleib verwendet die Septuaginta (Gen 25,22) dasselbe Verbum. Hier geht es aber nicht einfach um ein Stoßen, um eine natürliche Bewegung des Kindes im Mutterschoß, sondern um eine Art freudigen Springens. Da es sich eben um ein noch ungeborenes Kind handelt, verwendet Lukas nicht Verba, die ein ausdrückliches Spielen, Scherzen, Tanzen wiedergeben.450 Es scheint naheliegend, an 2 Sam 6,5.14.16 (1 Chr 13,9; 15,29) zu denken, wo David vor Gott tanzt, und deswegen von seiner Frau Michal zurechtgewiesen wird. Der kultische Tanz vor der Gottheit war sowohl in Juda als auch in Ägypten (Abb. 27) beliebt, wo er ein Teil der Unterhaltung der Gottheit war.451 Auch die personifizierte Weisheit in Spr 8,30f rühmt sich eines spielerischen Scherzens vor Gott.

Abb. 27 Tanzendes Mädchen, Malerei auf Kalksteinabschlag aus Theben, um 1300 v. Chr. In diesem Kontext eines freudigen Tanzens und Spielens vor der Gottheit scheint mir das richtige Verständnis von Luk 1,41–44 gefunden zu sein: Johannes der Täufer zollt bereits im Schoß seiner Mutter Elisabeth dem göttlichen Sohn Gottes im Schoß dessen Mutter Maria freudige kultische Verehrung. Diese Auslegung bestätigt die Rede der vom Heiligen Geist erfüllten Elisabeth: »[...] Woher kommt mir dies, daß die Mutter meines Herrn zu mir kommt?« Sie bekennt Jesus bereits als den göttlichen Herrn! Spielerisch läßt Lukas das Wort vom Herrn durch Maria in ihrer Antwort (Luk 1,46–55) aufgreifen, aber nun auf JHWH beziehen: »Hoch preist meine Seele

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den Herrn, und mein Geist frohlockt in Gott meinem Heiland.« (Vv 46f). Wir finden in diesem Lobgesang Marias Anklänge an den Lobpreis Hannas (1 Sam 2,1–10) und andere Stellen der Bibel, die Maria auf sich bezieht, über sich hinausweist, die kommende Heilszeit schon präsent werden läßt, in der die das Sagen haben werden, die vor Gott arm und demütig sind. Dieser Lobgesang Marias ist aber deswegen noch lange nicht ein lukanisches Konstrukt. Bis heute lassen sich solche spontanen Dichtungen orientalischer Frauen bei der Geburt eines Kindes nachweisen (rabbinische Belege bei Str–B II: 101–106). Noch deutlicher interpretiert Luk 1,26–38 Jesus. Der Engel Gabriel452 wird zu Maria gesandt, und der Gruß, den er spricht: »Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir«453 ist zwar für die mit der Heiligen Schrift Vertraute bekannt (Ri 5,24; Judith 13,23), aber dennoch befremdend. Der Engel zerstreut dieses Befremden: »Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast Gnade gefunden bei Gott.« Wo Gottes Mächtigkeit in diese Welt hereinbricht, kann dem Menschen der Tod drohen (Ri 13,22). Doch diese Furcht wird gebannt, da Maria Gottes Wohlgefallen gefunden hat. Mit z. T. wörtlichen Zitaten aus der Schrift überbringt der Engel die Botschaft: Maria soll den neuen Sohn Davids, den Sohn des Höchsten, gebären (2 Sam 7,1; Jes 7,14; 9,6; Dan 2,44; 7,14), und dies nicht auf Grund des Verkehrs mit einem Mann, sondern durch die Kraft des Höchsten, die sie überschatten wird, da bei Gott nichts unmöglich ist (Str–B II: 100).454 Nachdem Maria ihr Kind geboren hatte, geschehen eine Reihe wunderbarer Zeichen: Den Hirten erscheint ein Engel und verkündet ihnen die Geburt des Messias (Luk 2,8–20), der greise Simeon erkennt im Tempel das Kind als den Messias Israels und nimmt in einer Weissagung (Luk 2,33–35) den Lebensweg dieses Kindes vorweg. Die Prophetin Hanna verkündet die Erlösung Israels, die von diesem Kind den Ausgang nimmt (Luk 2,36–38). Die Hirten, Simeon und Hanna sind nur bedingt Repräsentanten des Volkes Israel. Die Hirten wurden als eine soziale Unterschicht damals nicht besonders geschätzt. Bisweilen hat man sie auch mit Räubern verglichen (bSanhedrin 25b). Simeon und Hanna verkörpern jenen Teil des Volkes, von dem der prophetische Geist nie gewichen ist. Seit dem letzten Propheten Maleachi hat zwar das berufsmäßige Prophetentum ein Ende erreicht, aber der prophetische Geist wirkt in den Gelehrten und in den Frommen Israels fort. Lukas nimmt sie daher als den Teil von Israel, der den Messias erkennt. Die Hirten dagegen repräsentieren bei Lukas kaum die soziale Unterschicht, der nun die besondere Huld Gottes zuteil wird, sondern die Heiden. So lautet denn auch der Gesang der himmlischen Heerscharen: »Herrlichkeit in den Höhen für Gott und auf Erden Friede den Menschen seiner Huld.« (Luk 2,14). Die Ausdrucksweise des Evangelisten Lukas entspricht ganz und gar der damals üblichen (Str–B II: 117f), bleibt jedoch nicht auf das jüdische Volk beschränkt: die Zeit des Friedens, die Zeit des Heils, die erhoffte messianische Zeit, ist für alle

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Menschen angebrochen. Gottes Huld hat alle Menschen erwählt. Der prophetische Gottesgeist, der in Israels Frommen (Simeon und Hanna) fortwirkt, wird allen Menschen, die Gottes Huld erwählt, zuteil. Öfter verweist Lukas darauf, daß Maria dies oder jenes in ihrem Herzen bewahrte (2,19.51). Maria dient dem Evangelisten gleichsam dafür, daß das, was er dem Leser sagen will, nämlich wer dieses Kind von Bethlehem wirklich ist, noch im Verborgenen bleibt. Nur für den an Jesus als den Christus, den Messias, den göttlichen Sohn Gottes Glaubenden, ist das Mysterium von Anfang an gelüftet, bleibt aber dennoch in seinem Herzen verborgen, weil er sich zusammen mit dem Evangelisten auf den Weg der Nachfolge machen muß. In der Episode vom Zwölfjährigen im Tempel (2,41–50) läßt der Evangelist noch einmal das aufleuchten, was er so eindringlich von diesem Kind gesagt hat, nämlich daß er der göttliche Sohn Gottes ist: »Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meines Vaters ist?« (V 49) und bemerkt dann, daß sie (Maria und Joseph) ihn nicht verstanden haben. Die Ungeheuerlichkeit der christlichen Deutung des Messias Jesus als Sohn Gottes in einem realen Sinn könnte nicht besser dargestellt sein als in dieser Feststellung, daß selbst seine Mutter – trotz aller Zeichen und trotz des Wunders, das an ihr geschehen ist – die volle Bedeutung der Gottessohnschaft vorerst nicht verstanden hat. Es sei noch kurz auf die Frage eingegangen, woher die Evangelisten Matthäus und Lukas ihre Informationen über die Kindheit des Täufers und Jesu bezogen haben. Logischerweise können diese nur von Maria und den Verwandten Jesu kommen.455 Obwohl die Verwandten am Beginn der christlichen Bewegung kaum maßgeblich waren und die Apostel entschieden haben, daß z. B. nur solche Leitungsfunktionen ausüben dürfen, die Jesus von Anfang an nachgefolgt sind (Apg 1,15–25), haben Verwandte Jesu, wie der Herrenbruder Jakobus schon nach wenigen Jahren in der Jerusalemer Urgemeinde eine unumstrittene Position. Jesu Verwandtschaft hat offenbar erst, nachdem die Apostel Jesus als den auferstandenen Herrn verkündet haben, erkannt, daß Jesus nicht verrückt war (Mk 3,21), sondern der Gesalbte Gottes ist. Dies muß auch für Maria eine große Genugtuung gewesen sein; denn sie wird wie jede Mutter in einem solchen Fall angesichts der Haltung der Verwandten ihrem Sohn gegenüber gelitten haben. Das Schwert, das ihr Herz durchdringen wird, wie es Simeon geweissagt hat (Luk 2,34) war nicht nur der Schmerz, den sie angesichts ihres elend am Kreuz sterbenden Sohnes miterleben mußte, sondern auch viele Schmerzen durch das Unverständnis naher Verwandter, durch den vermutlich schon sehr frühen Tod ihres Mannes Joseph, aber auch durch die zeitweise von ihr wohl als Fremdheit empfundene Haltung ihres Sohnes (Mk 3,31–35). Natürlich kann es nicht strikt bewiesen werden, daß Maria und die Verwandten die Quellen der Evangelisten waren, aber es ist das Naheliegende.

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Alle vier Evangelisten lassen die öffentliche Tätigkeit Jesu mit seiner Taufe durch Johannes beginnen. Sie berichten übereinstimmend, daß sich bei Jesu Taufe der Himmel geöffnet hat und der Geist bzw. der Heilige Geist in (leiblicher) Gestalt (wie eine) Taube herabgekommen ist und die Himmelsstimme ihn als den geliebten Sohn (nur die Synoptiker) bezeichnet (Mk 1,9–11; Matth 3,16–17; Luk 3,21–22; Joh 1,32–34). Die Deutung des historischen Sachverhaltes durch die Evangelisten, daß sich Jesus von Johannes taufen ließ, geht trotz großer Ähnlichkeit der Formulierung auf verschiedene Quellen zurück.456 Die Deutung wird schon im ersten Jahrzehnt nach Jesu Tod in Variationen im Umlauf gewesen sein. Die Deutung verfälscht das historische Geschehen, also die Tatsache der Taufe, keineswegs, sondern versucht gleichsam das wiederzugeben, was im Inneren Jesu bei der Taufe vor sich gegangen ist. Die Deutung zeichnet das Geschehen im prophetischen Stil (Ez 1,1–28; 2,1–2; syrBar 13,1) und will ihm eschatologischen Charakter verleihen: das, was sich beim Öffnen des Himmels ereignet, gehört nicht in die Sphäre des Alltäglichen, des Vergänglichen, sondern des Endgültigen. Der Geist wird als Taube oder als in Gestalt einer Taube bezeichnet. In der rabbinischen Literatur ist die Taube primär ein Symbol für Israel (Str–B I: 123–125), aber praktisch nie für den von Gott her kommenden Geist. Folglich wird dieses Bild kaum vom pharisäisch-rabbinischen Judentum herzuleiten sein. Die Religionsgeschichte Palästinas zeigt, daß die Taube seit dem 2. Jt. v. Chr. u. a. das heilige Tier der Großen Göttin ist. Die Taube ist die Botin der Liebe (Abb. 28) und umfaßt alle Aspekte der Liebe, von der erotisch-sexuellen bis zur mütterlich fürsorgenden Liebe. Wenn es Hld 1,15 heißt: »Deine Augen sind Tauben«, so ist gemeint: »Deine Blicke künden von Liebe.«457 Der mütterlich fürsorgende Aspekt wurde besonders auch in hellenistisch-römischer Zeit betont.458 Der Geist, der auf Jesus vom Himmel her, vom Vater, herabkommt und nach Joh 1,32 auf ihm bleibt, ist Realsymbol, bleibende Vergegenwärtigung der Liebe des Vaters zum Sohn, zum geliebten Sohn. Nach Matth 1,18 ist er durch das Wirken des Heiligen Geistes gezeugt, nach Luk 1,35 ist die Zeugung aus dem Heiligen Geist das Zeichen seiner Gottessohnschaft, die jetzt bei der Taufe im Jordan »öffentlich« proklamiert wird.459

Abb. 28 Eine Taube fliegt als Liebesbotin vom Mann zur Frau. Altassyrisches Rollsiegel, um 1750 v. Chr.

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Kurz und bündig schließt Mk 1,12f an die Taufe an: »Und sofort trieb ihn der Geist hinaus in die Wüste. Vierzig Tage lang war er in der Wüste und wurde vom Satan versucht. Mit den wilden Tieren war er zusammen. Und Engel dienten ihm.« Matthäus (4,1–11) und Lukas (3,1-13) sind viel ausführlicher. Die Quellen der drei Evangelisten müssen verschiedene gewesen sein, da sich eine gegenseitige literarische Abhängigkeit nicht nachweisen läßt.460 Haben bisher die Kindheitserzählungen und die Deutung der Taufe Jesu gezeigt, daß mit allen damaligen theologischen Stilmitteln versucht wurde, Jesus dem Leser als den Messias Israels, als den göttlichen Sohn Gottes, den der Vater bei dessen Taufe feierlich zum geliebten Sohn proklamiert, vorzustellen und einzuschärfen, so begegnet nun plötzlich ein Jesus, der auf den ersten Blick mit einem gläubigen Juden seiner Zeit vergleichbar ist. Die Platzierung der Versuchungsgeschichte zwischen Taufe und Beginn der öffentlichen Tätigkeit Jesu scheint mir den Sinn zu haben, dem Leser zu zeigen, daß Jesus zwar der Messias ist, dies aber eine österliche Erkenntnis ist. Der historische Jesus hat sich vorerst nicht als der göttliche Sohn Gottes und als der Messias der Öffentlichkeit gezeigt; denn Mk 12,35–37 (Matth 22,41–45; Luk 20,41–44) zeigt doch klar, daß Jesus die jüdischen Gelehrten in der Ansicht »korrigiert«, der Messias sei der Sohn Davids. Jesus deutet Ps 110,1 zwar im messianischen Sinn, aber der Messias ist für Jesus nicht der Sohn, sondern der Herr Davids. Möglicherweise wollte aber Jesus seine Gesprächspartner nur herausfordern; denn wenn er den Messias als Herrn Davids sieht, so will er damit vielleicht doch andeuten, daß der wirkliche Messias den Sohn Davids qualitativ übersteigt, was ja auch tatsächlich der Fall ist, wie wir aus den Kindheitserzählungen wissen. Die Versuchungsszene zeigt den Menschen Jesus. Er sucht die Einsamkeit, um zu beten und das zu verstehen, was in seinem Inneren mit der Taufe aufgeleuchtet, aber vielleicht für ihn – menschlich gesehen – noch nicht klar und deutlich geworden ist. Der Prophet Elija und in seiner Folge Johannes der Täufer hatten die Wüste zu ihrem bevorzugten Aufenthaltsort gewählt. Für den Propheten Hosea ist sie der Ort der Läuterung Israels (Hos 2,17f). Die Wüste hat jedoch bei den damaligen Menschen nicht nur erfreuliche Assoziationen ausgelöst. Sie ist ein Ort der Gefahren und des Todes (Ps 61,3; 63,2; 107,5; 142,4). Der Mensch ist in der weglosen Wüste bald erschöpft, wenn kein Wasser und keine Nahrung mehr zur Verfügung stehen. Der Hunger erscheint gleichsam personifiziert als gespenstisches, dämonisches Wesen (Ps 105,16). Auch Jesus macht diese ambivalente Erfahrung der Wüste. Der Ort der Läuterung wird für ihn zu einem Ort des Infragestellens seiner ganzen Person. Die Zahl vierzig ist dabei keine genaue Zahlenangabe, sondern meint eine lange Dauer. Die Zahl erinnert an die Zeit Israels in der Wüste (Num 14,33f), den Aufenthalt des Mose am heiligen Berg und an die Wüstenwanderung des Propheten Elija zum heiligen Berg (1 Kön 19,1).

Die Deutung der Evangelisten – Jesu Versuchung

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Nicht aus eigenem Antrieb, sondern getrieben durch den Geist, wählt Jesus den Ort der Läuterung und des Schreckens. Drei markante Szenen in unterschiedlicher Reihenfolge überliefern die Synoptiker. In der ersten fordert ihn Satan auf, aus den Steinen der Wüste Brot zu machen, wenn er schon Gottes Sohn sei. Jesus wehrt dieses Ansinnen mit Dtn 8,3 ab. In der zweiten Szene nimmt Satan den Ball auf und zitiert Ps 91,11f. Jesus könne sich als Sohn Gottes doch von der Zinne des Tempels stürzen, da ihn Engel auffingen. Wiederum zitiert Jesus als Gegenargument die Schrift (Dtn 6,16). In der dritten Versuchung fordert Satan für sich göttliche Anbetung, dem Jesus Dtn 6,13 entgegenhält, daß nur Gott allein eine solche Anbetung gebührt. Bei allen drei Versuchungen geht es daher um die Gottesfrage. Zweifellos war diese für die ersten Christen ein fast unlösbares Problem: einerseits der strenge Glaube an den Einen Gott, andererseits die Ostererfahrung, daß dieser Jesus der göttliche Sohn Gottes ist. Die erste Generation der Christen konnte dieses Problem in einem philosophisch-theologischen Ansatz noch nicht klar formulieren und greift daher auf Erfahrungen mit dem geschichtlichen Jesus zurück: er war Mensch, Versuchungen ausgesetzt; er hat jedoch in seinen Versuchungen Gott als den einzigen und wahren verherrlicht und dennoch bezeugt, daß er der göttliche Sohn Gottes ist; denn er wendet Dtn 6,16 »Ihr sollt JHWH, euren Gott nicht versuchen [...]« auch auf sich als den göttlichen Sohn an. Bei den Versuchungen geht es aber auch um die Frage der Messianität. Jesus ist einer populistischen Messiasvorstellung nicht erlegen. Er sieht sich nicht als Sozialreformer der Gesellschaft, sondern als Vertreter einer neuen, radikalen Ethik, die vom Gotteswort lebt. Auch die volkstümliche Meinung, daß sich der Messias vom Dach des Tempels (Str–B I: 151) zeigen solle, wird zurückgewiesen. Die ersten Christen konnten am Beispiel der Versuchung Jesu sehen, daß es notwendig ist, an dem Glauben an den Einen Gott festzuhalten und Jesus trotzdem als den göttlichen Sohn Gottes zu bekennen. Gängige Messiasvorstellungen werden zurückgewiesen. Jesus erweist sich durch sein Bestehen der Versuchungen als das Gegenteil der Israeliten, die während der Wüstenwanderung diese Prüfung nicht bestanden haben (Ex 32). In diesem Zusammenhang scheint es auch sinnvoll, über den Versucher zu sprechen, den die hier genannten Texte als personales Wesen, als Satan, umschreiben. Es ist zu beachten, daß der damals verwendete Personenbegriff nicht mit dem heutigen verwechselt werden darf, der die jeweilige Individualität als integrierenden Bestandteil aufweist. Individuum in heutiger Sicht ist Satan nur metaphorisch, weil es die gängige Sprache damals wie heute nur so auszudrücken vermag. Satan ist daher im Sinne des antiken, nicht die Individualität einschließenden Personenbegriffes, eine existierende Wirklichkeit und Mächtigkeit!

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Geburt, Kindheit und Berufung Jesu

In der Hebräischen Bibel kommt das Wort Satan in Sach 3,1; Ijob 1–2; 1 Chr 21,1 und das Wort Teufel nur Weish 2,24 vor. In Ijob gehört der Satan zum Hofstaat Gottes. Nur mit Erlaubnis Gottes kann er Menschen prüfen und versuchen. In der vierten Vision bei Sach 3,1 erscheint der Satan als Ankläger gegen den Hohenpriester Josua. Der Bote Gottes gebietet jedoch dem Satan zu schweigen. Nach 1 Chr 21,1 ist Satan der Verführer Davids. Bezugnehmend auf Gen 3 spricht Weish 2,24 vom Teufel, durch dessen Neid der Tod in die Welt gekommen ist. Alle diese Stellen gehören in eine relativ späte Zeit, in der sich die Dämonologie langsam zu entwickeln beginnt. Es ist auch der beginnende Versuch, die Gottesvorstellung zu purgieren. Im Denken Ijobs kommt z. B. noch die altisraelitische Meinung zum Ausdruck, daß Gutes wie Böses von Gott her kommen. Doch wenn das Böse mit einer solchen Mächtigkeit hervorbricht wie bei Ijob, dann ist dieses Denkmodell überfordert. Die Gottesreden dieses Buches zeigen, daß die bösen und chaotischen Mächte die Ursache für das Leiden in dieser Welt sind. Die Ansicht der Freunde Ijobs, daß das Böse ausschließlich vom Menschen selber her käme, wird als unzureichend zurückgewiesen.461 Die Grundaussage des Buches Ijob ist daher, daß das Böse nicht von Gott kommt, sondern sich unter Zulassung Gottes auf Initiative Satans entfaltet. Es ist also ein neues Denkmodell, das das alte, unzureichende ersetzen möchte, um das Böse in dieser Welt zu erklären. Letztlich war für Israel die Herkunft des Bösen auf dieser Welt nicht zu beantworten, was z. B. schon Gen 3,1 feststellt, wenn es die listige Schlange ursprünglich nicht als Personifikation des Bösen, sondern als Tier sieht, das Gott wie alle anderen Tiere erschaffen hat.462 Die eigentliche Satanologie und Dämonologie entwickelt sich erst zu einer Zeit, da die Hebräische Bibel schweigt. Sammael/Belial in der jüdischen, Luzifer in der christlichen Tradition, wird zusammen mit seinen Heerscharen gestürzt und zum Satan (Str–B I: 136–149). Die frühjüdischen Vorstellungen über den Satan sind vielfältig, jedoch darin einig, daß Gott mit dem Anbruch des eschatologischen Zeitalters Satan und die Macht des Bösen vernichten wird. Da für das Neue Testament dieses Zeitalter mit Jesus angebrochen ist, müßte, so gesehen, der Satan bereits entmachtet sein. Seine Entmachtung ist aber, solange diese Weltzeit besteht, relativ. Er wird erst dann endgültig entmachtet sein, wenn die verborgene Präsenz des erhöhten Herrn in der Welt am Ende dieser Tage allen offenbar sein wird. Die Sünde, die mit dem ersten Menschen begonnen hat, findet in Jesus keine Fortsetzung. Gleichsam zu Beginn der Hebräischen als auch der Christlichen Bibel stehen Versuchungsgeschichten. Die erste nahm einen negativen Ausgang, die zweite zeigt die Bewährung des neuen Adam: Jesus und die Verherrlichung Gottes durch den göttlichen Sohn. Satan ist in der metaphorischen Rede »Person«, d. h. eine real existierende Wirklichkeit und Mächtigkeit, auf die unser moderner Personenbegriff eben nur

Die Deutung der Evangelisten – Jesu Versuchung

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bedingt anwendbar ist. Anders ausgedrückt: Kein Christ ist auf Grund der biblischen Quellen gehalten, die Existenz Satans im Sinne des heutigen, die Individualität einschließenden Personenbegriffes anzunehmen, aber er wird gut daran tun, die Existenz des Bösen in der Welt ernst zu nehmen und wird gut daran tun, Satan nicht nur als Metapher für das Böse in der Welt zu verstehen, sondern als eine real existierende Wirklichkeit und Mächtigkeit.463

V. Der prophetische Lehrer und Herr über die Thora Der hier benützte Titel will eine gewisse Abgrenzung vornehmen: Jesus war kein Prophet im klassischen Sinn der Hebräischen Bibel, aber er gehört zu jenen frommen Gelehrten Israels, die auch nach dem Ende der klassischen Propheten den Geist der Prophetie besitzen.464 Sein Auftreten und seine Lehre werden uns aber auch zeigen, daß er nicht nur ein prophetischer Lehrer ist, sondern der göttliche Sohn des Vaters und damit auch der Herr über die Thora. Diesem Abschnitt des Lebens Jesu, seinem Wirken in Galiläa, Peräa, Samaria und Judäa, widmen die Quellen naturgemäß den größten Teil ihrer Berichte (Mk 1,14–13,37; Matth 4,12–25,46; Luk 4,14–21,38; Joh 1,35–11,57). Bezüglich der Abfolge der einzelnen Ereignisse gibt es grundsätzliche Schwierigkeiten, da die Synoptiker diese Tätigkeit Jesu auf ein knappes Jahr beschränken, während das Johannesevangelium gut zwei Jahre voraussetzt. Die Erzählfolge des Markus ist in Variationen auch bei Matthäus und Lukas zu erkennen. Da jedoch erwiesen ist, daß die Synoptiker literarisch nicht voneinander abhängen,465 muß die Erzählfolge schon in den Quellen, die sie verwendet haben, vorgegeben gewesen sein.466 Daraus ist zu folgern, daß die älteste Jesusverkündigung aus praktisch-paränetischen Gründen ein Jahresschema verwendete. Wer der Schöpfer dieses Schemas war, wissen wir nicht. Jedenfalls war es bereits Markus bekannt, als er 44 n. Chr. in Rom das Evangelium verfaßte, dessen Inhalt zu einem Gutteil auf Predigten des Apostels Petrus zurückgeht. Da auch Matthäus und Lukas unabhängig voneinander und beide unabhängig von Markus diesem Schema folgen, kann man schließen, daß es den Synoptikern um die Betonung der wichtigsten Schwerpunkte des Lebens und der Predigt Jesu in Galiläa und in Jerusalem gegangen ist und nicht so sehr um eine genaue historische Einordnung, wann und wo Jesus das und jenes gesagt und getan hat. Johannes ist dazu ein Korrektiv. Er setzt nicht nur vieles von den Synoptikern als bekannt voraus und übergeht es daher, sondern befreit das Wirken Jesu vom Korsett des Jahresschemas. Einzelheiten wie geographische Namen und präzise Zeitangaben fordern geradezu, den johanneischen Aufbau ernst zu nehmen. Das will nicht heißen, daß ein Ersetzen der synoptischen durch die johanneische Sicht die Chronologie dieser Periode löste. Wir haben zwar in Johannes einen glaubwürdigen historischen Rahmen abgesteckt, aber an welchem Punkt dieses oder jenes einzuordnen wäre, bleibt thematisch wie zeitlich immer noch höchst unsicher. Es mangelt zwar nicht an Versuchen, diesen Zeitraum des Lebens Jesu detailliert in einer historischen Folge darzustellen,467 aber die Quellen reichen für eine solche Darstellung nicht aus. Es bleibt nur der Weg einer thematischen Behandlung dieser Periode des Lebens Jesu, insofern man wissenschaftlich verantwortbar vorgehen will.

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Werfen wir nun einen Blick auf das johanneische Schema, das die Darstellung eines Augenzeugen von seiner Berufung weg bis zum leeren Grab Jesu ist, der daran interessiert war, auch den geschichtlichen Ablauf der öffentlichen Tätigkeit Jesu miteinzubeziehen. Davon unberührt bleibt die Frage der johanneischen Interpretation und gläubigen Deutung des historischen Jesus. Diese ist zwar weder zeitlich noch sachlich vom historisch-geographischen Schema des Evangeliums zu trennen, aber eben Deutung und nicht Historie. Joh 2,20 gibt an, daß am Jerusalemer Tempel bereits 46 Jahre lang gebaut wird. Herodes der Große begann im 18. Jahr seiner Regierung – etwa 20/19 v. Chr. – mit dem Um- und Neubau (JosAnt XV 380). Ganz beiläufig hat damit Johannes den ungefähren Beginn der öffentlichen Tätigkeit Jesu festgehalten: das Jahr 28 n. Chr. (so auch Luk 3,1f), und zwar noch vor dem Pesachfest, da die Joh 2,20 geschilderte Auseinandersetzung unmittelbar vor diesem Fest liegt. Der 14. Nisan, das Pesachfest des Jahres 28 n. Chr. war nach unserem Kalender der 29. April 28 n. Chr. Das ist jedoch das Datum, das durch astronomische Rückrechnung erreicht wird. Da jedoch der Kalender damals auf Erfahrung und Beobachtung basierte, stimmt die astronomische Rückrechnung mit dem historischen Datum kaum exakt überein. Der 14. Nisan kann damals auch zwei Tage früher gewesen sein, also z. B. der 27. April. Johannes taufte zu dieser Zeit nahe dem transjordanischen Bethanien (Joh 1,28), und hier begann Jesu Tätigkeit, am wahrscheinlichsten noch im März des Jahres 28 n. Chr. Alle vier Evangelien wissen darum, daß mit Beginn der Predigttätigkeit Jesu die Berufung der ersten Jünger erfolgte. Laut Mk 1,16–29 parr. findet diese Berufung am See Gennesareth statt. Es werden Simon (Petrus), sein Bruder Andreas und die Zebedäussöhne Jakobus und Johannes Jünger Jesu. Nach Joh 1,35–51 folgen zwei der Jünger des Täufers Jesus nach, einer, Andreas, der Bruder des Simon Petrus, wird namentlich genannt. Der zweite Jünger bleibt ungenannt. Es ist unschwer zu erkennen, daß es sich dabei um Johannes handelt; denn weder ihn noch seinen Bruder Jakobus nennt das Johannesevangelium namentlich. Dieser nicht genannte Jünger, der mit Johannes zu identifizieren ist, erinnert sich noch an die genaue Uhrzeit seiner Berufung, um die 10. Stunde (ca. 16 Uhr). Nach Joh 1,36 folgen die beiden Jesus nach, zumal ihn der Täufer »Lamm Gottes« nennt. Mit dieser Bezeichnung ist ein zweifacher Aspekt gegeben. Die Aussage des Täufers braucht nicht von vornherein unhistorisch zu sein, wenn sie vom jüdischen Hintergrund her gesehen wird. »Das Lamm Gottes« erinnert an den Gottesknecht von Jes 53,7, der mit einem duldenden Lamm verglichen wird, das stellvertretend Leiden trägt. Im alttestamentlichen Kontext nehmen Menschen Sünden anderer stellvertretend auf sich. Die Vergebung, das Hinwegnehmen von Schuld und Sünde, steht nur Gott zu.468 Es ist daher ursprünglich nicht mehr als ein prophetisches Wort, das das Leben des Menschen

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Jesu charakterisieren soll. Wohl aber hat bereits das Johannesevangelium eine solche Bezeichnung Jesu im messianischen Sinn verstanden: das Lamm, das die Sünde der Welt hinwegnimmt. In der johanneischen Theologie ist dieses Lamm nicht mehr der Dulder von Jes 53,7, sondern das messianische Pesachlamm, das durch seinen Tod die Sünde sühnt und wegschafft (Str–B II: 370). Kurz darauf schließen sich Simon, der nun den Namen Kephas (Petrus) erhält, Philippus und Nathanael Jesus an. Die Überlieferung ist sich also nicht ganz einig,469 welche die ersten Jünger waren und wo sie berufen wurden, in Galiläa oder in Judäa/Peräa nach Jesu Taufe. Drei Namen sind jedoch gemeinsam: Petrus, Andreas und Johannes, und die Tatsache, daß Jesus von Anfang an Jünger um sich geschart hat. Wenn man mit Recht Johannes die Kenntnis der Synoptiker zugesteht, dann läßt sich seine Aussage als die Korrektur eines Augenzeugen verstehen, so daß mit der Berufung des Andreas, des Johannes – eventuell auch seines Bruders Jakobus – , des Simon Petrus, des Philippus und des Nathanael zu rechnen ist. Der Ort der Berufung war dann in Judäa/Peräa. Im Laufe der weiteren Tätigkeit Jesu sind noch andere Jünger in diesen Kreis aufgenommen worden, so Matthäus (Matth 9,9–13; Mk 2,13–17; Luk 5,27–32), Thomas (Matth 10,3; Mk 13,18; Luk 6,15; Joh 11,16; 14,5; 20,24–29; Apg 1,13), Judas Iskarioth, der Jesus überliefert hat (Matth 10,4; Mk 3,19; Luk 6,16), Bartholomäus (Matth 10,3 parr.), Jakobus, Sohn des Alphäus (Matth 10,3; Mk 3,18; Apg 1,13), Simon der Eiferer (Matth 10,4 parr.), Thaddäus (Matth 10,3; vgl. Joh 14,22) und Judas, Sohn des Jakobus (Luk 6,16; Apg 1,13; vgl. Joh 14,22). Die meisten dieser Gestalten wirken während des Lebens Jesu bisweilen farblos. Es kristallisiert sich aber die Trias Simon Petrus und die Zebedäussöhne Johannes und Jakobus heraus, die offensichtlich nicht nur nach Jesu Tod führend waren, sondern schon zu Lebzeiten Jesu als dessen besondere Schüler galten. Zählt man die genannten Namen zusammen, so kommt man auf 14. Die Listen bei Mk 3,16–19; Matth 10,2–5 und Luk 6,13–16 nennen jedoch je 12 Apostel. Der Matth und Mk genannte Thaddäus scheint bei Luk nicht auf, dafür Judas, Sohn des Jakobus. Dieser Judas wieder ist von Matth und Mk nicht genannt, dafür Thaddäus. Nathanael kommt in diesen Listen überhaupt nicht vor, so daß die Zwölfzahl gegeben ist. Apg 1,13 zählt naturgemäß nur 11 Apostel auf, da Judas aus dem Leben geschieden ist (Matth 27,3–10). Ähnlich wie es nie 12 Stämme Israels gegeben hat, sondern die Stämme in davidisch-salomonischer Zeit in ein Zwölferschema gepreßt wurden,470 so wird auch hier verfahren. Die Zwölf ist von alters her eine besondere Zahl der Ganzheit, die in Israel quasi heilsgeschichtlichen Charakter angenommen hat. In diesem Sinn wurde der engere Jüngerkreis Jesu als »die Zwölf« bezeichnet (Matth 10,1 u. a.). Diese Jünger tragen die Bezeichnung »Apostel«, ([von Jesus] Gesandte), weil sie Zeugen des Lebens Jesu waren. Paulus hat den Begriff ausgeweitet, da er sich ebenfalls als Apostel

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bezeichnete (1 Kor 15,8ff; Gal 1,15 u. a.) und zumindest auch den Herrenbruder Jakobus (1 Kor 9,5) und Barnabas (1 Kor 16,7) Apostel nennt. Die überlieferten Namen sind durchaus interessant. Schimon ist hier wohl als hebräischer Name (»Gott hat erhört«) zu verstehen und nicht als der griechische Name »Simon«. Zwei der Jünger heißen so: Simon Petrus (Kephas) und Simon der Kanaanäer oder Eiferer.471 Der Vater des Petrus hieß nach Joh 1,42 »Johannes« nach Matth 16,17 »Jona«. »Jona« ist am ehesten als eine Abkürzung für den hebräischen Namen »Joḥanan« (Johannes) zu verstehen. Petrus stammte aus Bethsaida (Joh 1,44) und war von Beruf Fischer (Matth 4,18). Er war verheiratet (Mk 1,29f) und lebte mit seiner Frau in Kapharnaum. Andreas ist ein griechischer Name mit der Bedeutung der »Mannhafte«. Er war ein Bruder des Simon Petrus, wie dieser in Bethsaida geboren und als Fischer in Kapharnaum ansässig. Johannes, ein hebräischer Name mit der Bedeutung »JHWH ist gnädig«, war ein Sohn des Zebedäus (hebr: »Geschenk Gottes«) und der Salome (hebr. »wohlbehalten«). Der Vater war ein wohlhabender Fischer, der sich Tagelöhner leisten konnte (Mk 1,20). Salome hat wesentlich zum materiellen Überleben Jesu und seines Kreises geleistet. Sie war selbstbewußt genug, um bei Jesus für ihre Söhne Privilegien zu erbitten (Matth 20,20–23). Wie tonangebend ihre Söhne waren, zeigt nicht zuletzt, daß sie von Jesus den Beinamen »Donnersöhne« erhalten haben (Mk 3,17). Johannes wird etwa ab 60 n. Chr. das nach ihm benannte Evangelium verfassen und später in Ephesos um das letzte Kapitel ergänzen. Der andere Sohn des Zebedäus und der Salome war Jakobus, ein hebräischer Name mit der Bedeutung »Gott schützt«. Er war der erste Apostel, der im Jahre 42 n. Chr. in Jerusalem das Martyrium erlitten hat (Apg 12,2). Der andere Träger dieses Namens war Jakobus, der Sohn des Alphäus (aramäischer Name; Bedeutung unbekannt). Philippus, ein griechischer Name (»Pferdeliebhaber«) stammte wie Petrus und Andreas aus Bethsaida. Nathanael, ein hebräischer Name mit der Bedeutung »Geschenk Gottes«, stammte aus Kana in Galiläa (Joh 21,12). Thomas, ein hebräisch-aramäischer Name, der griechisch exakt mit »Didymos« (Zwilling) wiedergegeben wird. Matthäus, ein hebräisch-aramäischer Name mit der Bedeutung »Geschenk JHWHs«, heißt nach Mk 3,18 und Luk 5,27 auch Levi.472 Matth 10,3 (vgl. 9,9) trägt er den Beinamen »Zöllner«. Er war als Zöllner in Kapharnaum tätig und lud nach seiner Bekehrung Jesus zu einem Gastmahl ein. Wir haben in ihm nicht einen einfachen Zöllner zu sehen, sondern den Zollpächter dieser wichtigen Handelsstation der Tetrarchie Galiläa. Er wird zwischen 50 und 60 n. Chr. das nach ihm benannte Evangelium verfassen.

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Judas (Bedeutung unbekannt) ist sowohl der Name dessen, der Jesus überliefert hat, der Sohn des Simon, mit dem Beinamen Iskarioth, als auch der Name des Judas, Sohn des Jakobus. Joh 14,22 sagt von ihm »Judas, nicht der Iskarioth«. Schließlich ist Thaddäus ein hebräischer Name mit der vermutlichen Bedeutung »der Mutige«. Von den 14 überlieferten Jüngernamen sind zwei griechisch. Bei Andreas zeigt sich, daß die unterschiedlichen Namengebungen, hebräisch/aramäisch und griechisch) selbst in einer Familie üblich waren. Der jüdische Mittelstand des Landes war deswegen nicht hellenisiert, lebte aber bewußt in einer pluriformen Gesellschaft. Wie Jesus selbst aus einer Handwerkerfamilie kam, so auch seine engste Gefolgschaft. Die Familien des Zebedäus und Matthäus/Levi können als wohlhabend bzw. reich eingestuft werden. Alle Jünger – auch wenn sie sich vorerst so unverständig darstellen – waren durchaus gebildete Menschen, die mehr verstanden, als sie zugegeben haben, aber gemessen an der Ostererfahrung mag es ihnen so erschienen sein, als wären sie vorher eine fast anonyme, unwissende Masse gewesen. Daß Jesus Jünger um sich geschart hat, ist nicht außergewöhnlich. Die verschiedenen Vertreter der Religionsparteien haben auf je ihre Weise Anhänger und Schüler angezogen. Nach Joh 1,35ff schlossen sich zwei Jünger des Täufers Jesus an. Jünger des Täufers begegnen auch sonst. Eine auffällige Parallele sind jedoch die Schülerkreise der Rabbinen. Die Aufgabe eines solchen Schülers (hebr. »Tamid«) war es, sich all das anzueignen, was er von seinem Meister hörte, bis er schließlich nach Jahren des Studiums den Grad erreicht hatte, der ihn zur Ausübung des Lehramtes befähigte. Bei genauerem Hinsehen gibt es trotz dieser formalen Parallele entscheidende Unterschiede. Schon der neutestamentliche Sprachgebrauch von »Jünger, Schüler« zeigt, daß damit ein Schüler/Jünger gemeint ist, der auch persönlich und nicht bloß formal an seinen Meister gebunden ist. Jesu Schüler haben sich nicht ausschließlich selbst beworben, sondern wurden von Jesus berufen. »Bei aller formalen Gemeinschaft mit dem Tamid-Institut des rabbinischen Spätjudentums besteht zwischen diesem und den Mathetai Jesu eine innere Gemeinschaft nicht. Der Grund liegt darin, daß die Jünger Jesu sowohl hinsichtlich ihres Ursprungs als auch hinsichtlich ihres Wesens durch das Selbstbewußtsein Jesu bestimmt sind: Er ist für sie kein Rabbi/Didaskalos, sondern ihr Herr.« (K. Rengstorf ThWNT IV: 459) Als besonders charakteristisch gelten von den Jüngern jene, die Jesus als seine zwölf Apostel berufen hat.473 Von diesen wiederum ist die Trias Simon Petrus, Johannes und Jakobus das Herzstück. Die Anhängerschaft Jesu war aber nicht bloß auf diese Personen beschränkt. In der weiteren Gefolgschaft Jesu nehmen Frauen eine bedeutende Position ein.

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Für das damalige jüdische Milieu ist es außergewöhnlich, daß Frauen auch namentlich so oft angeführt sind. Sie hatten jedenfalls keine Statistenrolle. Es würde zu weit gehen und die damalige Situation völlig verkennen, Frauen als unmittelbare Begleiter Jesu und seines engeren Schülerkreises auf seinen Predigtwanderungen anzunehmen. Auf Reisen zu den Festen nach Jerusalem war es zwar gestattet, daß Familien, ganze Sippen, also Frauen, Männer und Kinder gemeinsam reisten, aber daß Frauen Jesus und seine Jünger auf den Predigtwanderungen begleiteten, mit ihnen im Freien übernachteten, ist ausgeschlossen. Jesus hätte sich in einem solchen Fall der Kritik seiner ganzen Umwelt, nicht nur der der Pharisäer, kaum erwehren können. Daß Frauen Jesus folgten und ihm »dienten« (Luk 8,1–3; 15,40f) kann daher kaum in einem wörtlichen Sinn verstanden werden. Sie bleiben vorerst eine entscheidende Größe im Hintergrund. Sie haben Jesus und seine Jünger materiell unterstützt. Gerade auf eine solche Unterstützung waren Jesus und seine Jünger angewiesen, da sie auf ihren Predigtreisen nicht ihrer beruflichen Tätigkeit als Handwerker und Fischer nachgehen konnten. Wie schwierig dieses Leben auch in materieller Hinsicht war, zeigt Matth 8,20: »Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester. Der Menschensohn aber hat nicht, wohin er sein Haupt legen kann.« Neben der Gruppe der Jünger und der Gruppe der Frauen474 hatte Jesus durchaus noch weitere Menschen, die ihm auf eine gewisse Weise folgten (Luk 9,1–11; 10,17; 1 Kor 15,6). Von Bethanien im Ostjordanland ging Jesus mit seinen ersten Jüngern zurück nach Galiläa (Joh 1,43). Die Reiseroute ist zwar nicht genannt, jedoch auf Grund der entsprechenden Straßenverhältnisse zu erschließen (Abb. 29 und 30): von Bethanien den Jordan entlang nach Norden. Der Jordan war u. a. über die Verbindungsstraße von Ramoth-Gilead nach Skythopolis (Beth Schean) zu überqueren. Von Skythopolis führte die Straße durch das Gebirge Gilboa über Arbela, Nazareth, Sepphoris nach Kana, wo Jesus nach Joh 2,1–12 mit seiner Mutter und mit seinen Jüngern bei einer Hochzeit geladen war. Joh 2,1 beginnt mit einer Zeitangabe: »am dritten Tag«.475 Die Zeitangabe ist vermutlich von der Berufung der beiden Jünger Philippus und Nathanael weg zu verstehen und räumt also drei Tage Zeit für die Bewältigung der Strecke Bethanien – Kana ein, was völlig realistisch ist.476 Die Einladung zu dieser Hochzeit kann damit zusammenhängen, daß Nathanael aus Kana stammte (Joh 21,2). Daß Johannes mit dem Weinwunder auch eine bestimmte Absicht verfolgte, ist eindeutig und wird uns später beschäftigen. Von Kana ging der Weg weiter nach Kapharnaum (Joh 2,13), dem Wohnort des Petrus und Andreas. Jesus blieb dort nur wenige Tage; denn das Pesachfest, das er in Jerusalem verbringen wollte, stand vor der Tür. Ohne eine genaue Route anzugeben, sagt Joh 2,13, daß Jesus nach Jerusalem hinaufzog (»hinaufziehen« ist ein Fachausdruck für die Wallfahrt nach Jerusalem). Die logische Strecke dafür ist: von Kapharnaum mit dem Boot nach Kefar Sema,

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auf der Ostseite den Jordan entlang bis Bethanien. Von hier über den Jordan nach Jericho, weiter in das westjordanische Bethanien und schließlich nach Jerusalem.477 Johannes verbindet mit diesem ersten Pesach (28 v. Chr.) – während der öffentlichen Tätigkeit – in Jerusalem die Tempelreinigung (2,13–22) und das Gespräch mit Nikodemus (3,1–21), ohne auf die eigentlichen Festivitäten zu Pesach einzugehen. Joh 3,22–4,54 schildert den Weg zurück nach Galiläa: Noch im Gebiet Judäas tauften Jesus – vgl. die Glosse Joh 4,2 – und seine Jünger. Der Weg führte über Bethel und Schilo nach Änon bei Salim, wo Johannes gerade taufte und wo es zur Auseinandersetzung zwischen den Jüngern Jesu und jenen des Täufers kam. Hier in Samaria hielt sich Jesus eine Zeitlang auf. Johannes überliefert u. a. das Gespräch Jesu mit der Samaritanerin am Jakobsbrunnen. Nach zwei Tagen (Joh 4,43) setzt Jesus die Reise nach Galiläa fort und erreicht über Kana (Joh 4,46) Kapharnaum, wo er den Sohn des königlichen Beamten heilte (Joh 4,46b–54).478 Inzwischen nahte das Sukkotfest des Jahres 29 n. Chr. (25.–23. Tischri; jüdischer Jahresbeginn ist am 1. Tischri, also im Herbst!). Jesus geht von Galiläa nach Jerusalem. Da nicht ausdrücklich gesagt wird, daß er den Weg über Samaria nahm, ist es am wahrscheinlichsten, daß er über das östliche Jordantal, Jericho und das westjordanische Bethanien Jerusalem erreichte. Über das Sukkotfest selbst wird nichts berichtet. Joh 5,17 zeigt jedoch, daß sich Jesus im Tempel aufgehalten hat. Joh 5,1–18 erzählt die Heilung des Gelähmten beim Bethesda–Teich. Es ist anzunehmen, daß Jesus nach dem Sukkotfest des Jahres 29 n. Chr. Jerusalem rasch wieder verlassen hat und über die ostjordanische Route nach Galiläa zurückgekehrt ist. Joh 6 berichtet von der wunderbaren Speisung der Volksmenge »am anderen Ufer des Sees von Galiläa, der auch See von Tiberias heißt« (Joh 6,1). Als Zeitangabe sagt Joh 6,2, daß das Pesachfest nahe war. Demnach handelt es sich um das Pesachfest des Jahres 29 n. Chr., an dem Jesus in Jerusalem weilte. Nach Joh 7,1–13 macht Jesus zum Sukkotfest des Jahres 30 n. Chr. die Pilgerreise nach Jerusalem heimlich, tritt aber in der zweiten Hälfte der Festwoche im Tempel öffentlich auf (7,14). In der Zeit dieses Aufenthaltes zum Laubhüttenfest hat der Evangelist entscheidende Aussagen über Jesu Selbstverständnis verarbeitet (Joh 7,14–10,21). Die dadurch bedingte Ablehnung Jesu scheint zum Tempelweihfest des Jahres 30 n. Chr. (25. Kislev bis 2. Tevet) den Höhepunkt erreicht zu haben (Joh 10,22–39), so daß Jesus es vorzog, Jerusalem zu verlassen. Wir finden Jesus wieder im ostjordanischen Bethanien (Joh 10,40–42) von wo aus er bis in das westjordanische Bethanien wirkte (Joh 11,1–53) und sich dann in das judäische Ephräm zurückzog (Joh 11,54). Von hier aus ging Jesus sechs Tage vor dem Pesachfest (Joh 12,1) des Jahres 30 n. Chr. in das westjordanische Bethanien und zu seinem letzten Aufenthalt nach Jerusalem (Joh 12,1–50).

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Abb. 29 Reisen Jesu nach dem Johannesevangelium (erster Teil)

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Abb. 30 Reisen Jesu nach dem Johannesevangelium (zweiter Teil)

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Nach diesem geographischen-chronologischen Gerüst dauerte also die öffentliche Tätigkeit Jesu etwas über zwei Jahre: vom März des Jahres 28 bis zum Pesachfest des Jahres 30 n. Chr. Dieses Gerüst scheint mir der historischen Wirklichkeit näher zu kommen als das Jahresschema der Synoptiker. Auf Grund der unterschiedlichen Quellenlage läßt sich aber historisch nicht mehr verifizieren, wie die johanneischen Gerüstpfeiler im Detail mit den synoptischen zu verbinden sind. Zum einen ergänzt Johannes die Synoptiker, zum anderen verfolgt er jedoch unbeirrbar sein Ziel, daß Jesus der dem Vater an Göttlichkeit gleiche Sohn ist. Es wäre daher historisch unseriös, ein Konstrukt aus Synoptikern und Johannes vorzulegen und auf die gut zweijährige Tätigkeit Jesu aufzuteilen. Wenn es also die Quellenlage verbietet, diese gut zwei Jahre des öffentlichen Wirkens Jesu in ihrem tatsächlichen Verlauf darzustellen, so bleibt kein anderer Weg, als seine Worte, Taten und Zeichen, seine Ethik, sein Gottes- und Selbstverständnis systematisch darzustellen, ohne den Anspruch zu erheben, wann genau dies oder jenes im Laufe dieser zwei Jahre gesagt oder getan wurde.

1. Die Verkündigung der Herrschaft Gottes Bei den Synoptikern ist der Ausdruck »Königsherrschaft« zentral. Markus und Lukas sprechen von der »Königsherrschaft Gottes«, während Matthäus zusätzlich auch den Ausdruck »Königsherrschaft der Himmel« verwendet. Beide Begriffe sind jedoch inhaltsgleich, da »Himmel« nur eine Umschreibung für Gott ist. Im Deutschen ist es am besten, das griechische Nomen »basileia« mit »Königsherrschaft« oder einfach mit »Herrschaft« und nicht mit »Königreich« oder »Reich« wiederzugeben, da Königsherrschaft durchaus den lokalen Aspekt impliziert. »Jesus verkündet, indem er vom Reich Gottes spricht, ganz einfach Gott, und zwar Gott als den lebendigen Gott, der in der Welt und in der Geschichte konkret zu handeln imstande ist und eben jetzt handelt. Er sagt uns: Gott gibt es. Und: Gott ist wirklich Gott, das heißt, er hält die Fäden der Welt in Händen. In diesem Sinn ist Jesu Botschaft sehr einfach, durch und durch theozentrisch. Das Neue und ganz Spezifische seiner Botschaft besteht darin, daß er uns sagt: Gott handelt jetzt – es ist die Stunde, in der sich Gott in einer alles Bisherige überschreitenden Weise in der Geschichte als deren Herr, als der lebendige Gott zeigt. Insofern ist die Übersetzung ‚Reich Gottes‘ unzulänglich, besser würde man vom Herrsein Gottes oder von der Herrschaft Gottes sprechen.«479 Das Johannesevangelium gebraucht diese Bezeichnung nur 3,3.5. Rein numerisch ist daher bei Johannes dieser Begriff nicht zentral. Wenn man allerdings bedenkt, daß in der Perikope Joh 3,1–13 dargelegt wird, daß der Pharisäer Nikodemus nachts zu Jesus kommt, um Gewißheit über Jesu Sendung und Lehre zu erlangen, und die Antwort erhält, daß nur der aus Wasser und Geist Wiedergeborene die Herrschaft Gottes schauen kann, dann geht es auch hier um einen

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johanneischen Schlüsselbegriff. Dem pharisäischen Lehrer erklärt Jesus, daß das, was die Essener und andere Gruppen anzubieten haben – wie z. B. das rituelle Tauchbad – alleine unzureichend ist. Nur Jesus ist der, von dem der Täufer bezeugt, daß er mit Heiligem Geist taufen wird (Joh 1,33). Die Wiedergeburt des Menschen aus Wasser und Geist ist daher an die Person Jesu geknüpft. Jesus ist der Zugang zur Königsherrschaft Gottes. Das Johannesevangelium nimmt daher das Zentralthema der Synoptiker summarisch und bestätigend auf, ohne es weiter zu akzentuieren. Mit anderen Worten: Für Johannes haben seine Vorgänger das Thema ausführlich und erschöpfend dargestellt, so daß er nicht mehr korrigierend eingreift, sondern nur an einer wichtigen Stelle darauf zu sprechen kommt. Bevor der Bedeutung des Begriffes bei den Synoptikern nachgegangen werden kann, ist es sinnvoll, auf seine Verwendung in der zeitgenössischen Literatur zu schauen. Die Königsvorstellung wurde auf den Gott der hebräischen Stämme JHWH schon während des 11. Jhs. v. Chr. durch den Einfluß der ägyptischen AmunTheologie übertragen und manifestiert sich seit dem 10. Jh. v. Chr. im Salomonischen Tempel, dessen Symbolik JHWH als König und Schöpfergott schlechthin charakterisierte.480 Königsein bedeutete für das alte Juda und Israel nicht nur die Ausübung der Herrschaft über ein bestimmtes Territorium, sondern verkörperte eine übergroße Machtfülle. Dies zeigt auch die Anwendung des Begriffes auf Gott. Gott ist König Israels, aber auch König der ganzen Welt (Jer 10,1–16; Mal 1,14; Ps 22,29; 47,3.8).481 Für den Machtbereich des Königs JHWH verwendet das Alte Testament die Abstraktbildung »Königtum, Königsherrschaft«. Sach 14 (frühes 4. Jh. v. Chr.) zeigt die Königsherrschaft Gottes als eine endgültige: der Völker Rest wird nach Jerusalem wallfahren, um den Herrn der Heerscharen als Gott dort anzubeten. Für die neutestamentlichen Aussagen der Königsherrschaft Gottes ist das Buch Daniel besonders wichtig. Die Kapitel 1–6 stellen die Frage nach der wirklichen Herrschaft und beantworten sie damit, daß nur der Gott Israels der wahre König ist: »Und in den Tagen jener Könige wird der Gott des Himmels ein Reich aufrichten, das in Ewigkeit nicht zerstört werden wird. Dieses Reich wird keinem anderen Volk überlassen werden. Zerstoßen und vernichten wird er alle jene Reiche. Dieses aber wird ewig bestehen.« (Dan 2,44). »Wie groß sind seine Zeichen und wie gewaltig seine Wunder! Seine Königsherrschaft ist eine ewige und seine Macht reicht von Geschlecht zu Geschlecht.« (Dan 3,33). »Denn er ist der lebendige Gott und bleibt in Ewigkeit. Seine Königsherrschaft geht nicht zugrunde und seine Macht bleibt bis zum Ende!« (Dan 6,27). Im 7. Kapitel wird die Königsherrschaft Gottes dem Menschensohn übergeben: »Und ihm wurde gegeben Macht, Ruhm und Herrschaft, und alle Völker, Nationen und Zungen dienten ihm. Seine Macht ist eine ewige Macht, die nicht aufhört und seine Königsherrschaft eine, die nicht zerstört wird.« (V 14).

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Nach Dan 7,27 wird die Königsherrschaft den Heiligen des Höchsten übergeben werden; das sind jene frommen Israeliten, die Gott während der seleukidischen Verfolgung treu geblieben sind. Die Königsherrschaft Gottes wird im Danielbuch zwar endgültig, universal und ewig, aber doch auf dieser Welt seiend verstanden. Eine Neuschöpfung des Kosmos scheint dabei nicht beabsichtigt zu sein. Es ist daher ein unapokalyptisches Modell. In der zwischentestamentlichen Literatur ist das Thema sehr unterschiedlich aufgegriffen. In den Psalmen Salomonis, eine Schrift, die auf die frühchassidische Bewegung des 2. Jhs. v. Chr. zurückgeht und in den Sechzigerjahren des 1. Jhs. v. Chr. weiter ergänzt und bearbeitet wurde, ist Kapitel 17 davon die Rede, daß das Königtum Gottes ewig wirksam ist. Gott ist König im Himmel und auf der Erde (vgl. 2,30.32). Die Erlösung, die durch den Messias-König aus Davids Haus kommen werde, ist letztlich Gottes Werk; denn Gott ist auch König über den Messias (17,34). Die Zeit des Messias ist aber die Zeit des Heils: »Selig, wer in seinen Tagen leben wird und schauen darf das Heil des Herrn, das er dem kommenden Geschlecht schafft unter der Zuchtrute des Messias des Herrn in der Furcht seines Gottes, in geistgewirkter Weisheit, Gerechtigkeit und Stärke, daß er leite einen jeglichen in Werken der Gerechtigkeit durch Gottesfurcht [...]« (vgl. 18,6–8). Vom gleichen chassidischen Milieu stammt das Buch: Die Himmelfahrt Moses, dessen Grundschrift ebenso im 2. Jh. v. Chr. entstanden ist.482 Kapitel 4 und 10 zeigen ganz besonders, daß sich die Königsherrschaft Gottes als die Rettung Israels erweisen wird.483 Das 3. Kapitel der Sibyllinischen Orakel, das in der ägyptischen Diaspora um die Mitte des 2. Jhs. v. Chr. entstanden ist, sieht in der Königsherrschaft Gottes ein irdisches Reich, das alle anderen Herrschaften ablöst. Es herrscht ewiger Friede und auch der Tod existiert nicht mehr. Zu diesem Reich haben alle Menschen Zutritt, »welche Gott als den wahren Gott und König verehren.« Nach 3,46–62 wird die Königsherrschaft Gottes auch die Römerherrschaft beenden.484 Man würde erwarten, daß in dem zahlreichen Schrifttum von Qumran wichtige Akzentuierungen des Begriffes der Königsherrschaft Gottes zu finden wären. Erstaunlicherweise spielt diese ähnlich wie in der Henochliteratur und im Jubiläenbuch keine wichtige Rolle. In Interpretation von Jes 52,7; 60,6 und 61,1, wo der Prophet den endgültigen Anbruch der Gottesherrschaft verkündigt, nennt der Qumrantext 11Q13 Kolumne 2,15–25 den Gesalbten des Geistes, der diese frohe Botschaft von Gott her bringt (vgl. 1QH 18,14).485 Die paraphrasierenden aramäischen Übersetzungen (Targumim) der Hebräischen Bibel, die zum Teil bis zur Zeitenwende zurückreichen, bringen kaum neue Akzentuierungen des Begriffes der Königsherrschaft Gottes. Die Königsherrschaft wird nicht im apokalyptischen Sinn verstanden. Sie beschreibt lediglich Gottes ewig dauernde Herrschaft. So, wenn es z. B. der Targum Onkelos zu

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Ex 15,18 umschreibt: »JHWH, seine Königsherrschaft in Ewigkeit und in Ewigkeiten der Ewigkeiten.«, oder wenn der Targum Neofiti zu Gen 49,2 sagt: »Höre von uns, Israel, unser Vater: JHWH, unser Gott, JHWH (ist) einer. Es antwortete Jakob [...]: Gepriesen sei sein Name und die Herrlichkeit seiner Königsherrschaft in alle Ewigkeit.«486 Eine Sonderstellung nimmt der Targum Jonathan zu den Propheten ein. Jes 31,4; 40,9; 52,7; Ez 7,7.10; Obd 21; Sach 14,9 wird klar die Offenbarung der Königsherrschaft Gottes als ein endgültiges Ereignis gedeutet. Mich 2,13 und 4,7–8 deutet der Targum Jonathan im messianischen Sinn: »Sie werden hinaufsteigen als Befreite wie früher und es wird hinaufsteigen ein König als Führer an ihrer Spitze und er wird zerbrechen in der Höhe den Feind [...] und es wird sein ihr König als Führer an ihrer Spitze und das Wort JHWHs zu ihrer Hilfe.«, und »Und es wird offenbar werden die Königsherrschaft JHWHs über sie auf dem Berg Zion von jetzt bis in Ewigkeit. Aber du, Messias Israel, verborgen von den Sünden der Gemeinde Zions, zu dir ist bereit die Königsherrschaft zu kommen und kommen wird die frühere Herrschaft zur Königsherrschaft der Versammlung Israels.«487 In diesen aramäischen Interpretationen der prophetischen Texte ist ein wesentliches Moment, das auch in Jesu Verkündigung der Basileia vorhanden ist: die Königsherrschaft Gottes besteht zwar seit Ewigkeit, offenbart sich aber vor aller Welt endgültig. Die rabbinische Literatur scheint den Begriff am klarsten zu fassen: Die von Gott seit Ewigkeit ausgeübte Königsherrschaft verwirklicht sich einmal im Herzen des Menschen. Der Israelit nimmt die Gottesherrschaft auf sich, wenn er das Bekenntnis zu dem Einen Gott spricht, weil er sich so bewußt Gottes Willen ergibt. So heißt es z. B. mBerakoth II 2: »Rabbi Jehoschua ben Qorḥa (um 150 n. Chr.) sagte: Der Abschnitt ‚Höre Israel‘ geht [dem Abschnitt] ‚Wenn ihr hören werdet‘ deshalb voran, damit man vorher das Joch der himmlischen Herrschaft und hernach das Joch der Gesetze auf sich nehme [...]«. Doch in der Zukunft, wenn dieser Äon durch den neuen abgelöst wird, offenbart sich die Königsherrschaft Gottes vor aller Welt und ist daher auch entsprechend wahrnehmbar. In dieser Hinsicht hat der Begriff endgültigen, eschatologischen Charakter (Str–B I: 178–180; G. Dalman 1965: 80–83). Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die zwischentestamentliche Literatur die alttestamentliche Vorstellung des Königseins Gottes rezipiert und primär mit dem Abstraktum der Königsherrschaft Gottes ausdrückt. Der Begriff drückt einerseits die immerwährende Herrschaft Gottes aus, andererseits ihr endgültiges Offenbarwerden am Ende der Tage für die ganze Welt. Diese Redeweise war dem damaligen Judentum durchaus vertraut, wenngleich nicht für alle Richtungen und Gruppen gleich wichtig. Im pharisäisch-rabbinischen Denken ist das Bekenntnis zum Monotheismus und das Halten der Gebote Gottes gleich mit dem Bekenntnis zur göttlichen Königsherrschaft, die sich jedoch aller Welt erst in der Zukunft zeigen wird.

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Obwohl das Thema für die Qumran-Essener von geringerer Wichtigkeit ist, verbindet es dennoch ein Text mit dem Kommen des Messias. Für Johannes den Täufer ist im Unterschied zu Qumran – eine gewisse Nähe des Täufers zu Qumran ist wohl nicht zu leugnen – die Königsherrschaft Gottes besonders zentral. Er verkündet das unmittelbar bevorstehende Zorngericht Gottes für ganz Israel. Die Taufe, die Johannes spendet, ist die Voraussetzung für das Eintreten der Israeliten in die Königsherrschaft Gottes, deren unmittelbare Nähe er verkündet (Matth 3,2). Das Zorngericht Gottes und die Nähe der Königsherrschaft Gottes versteht Johannes der Täufer kaum im Sinne der Apokalyptik, sondern in der Tradition der alttestamentlichen Propheten, die zwar ebenfalls das bevorstehende Gericht Gottes predigen konnten, aber ebenso eine Heilsmöglichkeit für Juda und Israel aufgezeigt haben. Der religionsgeschichtliche Hintergrund zeigt, daß Jesus mit seiner Verkündigung der Herrschaft Gottes an ein damals bekanntes, wenn auch nicht an ein gleichermaßen allen Gruppierungen vertrautes Thema anschließt. Es ist aber offensichtlich, daß Jesus von Johannes dem Täufer den unmittelbaren Anstoß empfangen hat, die bevorstehende Herrschaft Gottes zum Kernbereich seiner Verkündigung zu machen. Wie Johannes, so sieht diese auch Jesus nicht im Sinne der Apokalyptik, daß nun dieser Äon abgelöst werden müsse, daß die Welt durch eine kosmische Katastrophe ein Ende nehmen werde und die göttliche Neuschöpfung des Kosmos unmittelbar bevorstehe!488

Die Bildreden Jesu Die Gleichnisse oder Bildreden Jesu sind zum Verständnis der Herrschaft Gottes besonders wichtig. Sie sind eine Art volkstümliche Redeweise, die, auf das biblische Milieu bezogen, den Zuhörern eine religiöse Wirklichkeit erschließen wollen. Der Inhalt ist oft dem alltäglichen, bäuerlichen und handwerklichen Leben des damaligen Menschen entnommen. Nach vorherrschender Meinung verwendet Jesus nicht die Allegorese, die einen Text aktualisierend auf die konkrete Situation deutet, wobei die ursprüngliche Intention des Autors des Textes nicht immer berücksichtigt ist. Das hieße, daß dort, wo im Neuen Testament Gleichnisse allegorisch gedeutet werden, bereits eine spätere christliche Interpretation, z. B. vom Evangelisten oder schon von dessen Quellen vorliege (vgl. Mk 4,14–20 parr.; Matth 13,37–43.49f). Es ist allerdings zu fragen, warum man Jesus nicht zutrauen sollte, seine eigenen Bildreden allegorisch zu deuten? Das Alte Testament ist reich an Bildworten und Metaphern, aber arm an wirklichen Bildreden (2 Sam 12,1–7; 14,5–9; 1 Kön 20,37–43.49f). Das hebräische Nomen »mašal« bezeichnet »das Sprichwort, die Bildrede, den Denkspruch« und »den Spottvers« und wird von der Septuaginta mit »Parabel« (das Nebeneinanderstellen) übersetzt. Dieses griechische Nomen verwenden auch die Synoptiker für

Die Verkündigung der Herrschaft Gottes – Die Bildreden Jesu

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Jesu Bildreden.489 Johannes gebraucht dafür das griechische Nomen »paroimia« (die verhüllende Rede). Konkret bringt das Johannesevangelium nur zwei Bildreden (10,1–5.11–13 und 16,21). Joh 16,15 heißt es: »Dies habe ich in verhüllter Rede zu euch gesagt.« Die gesamte Botschaft Jesu kann letztlich als verhüllte Bildrede gesehen werden, weil sie dem Nichtglaubenden verschlossen bleibt und sich nur den Glaubenden öffnet. Die synoptische Tradition bietet verschiedene Bildreden zu unserer Thematik. In Mk 4,1–34 sind die Gleichnisse von der Basileia zusammengestellt. Beginnend mit dem Gleichnis vom Sämann und dessen Allegorese (Vv 1–20), folgt das vom Wachsen der Saat (Vv 26–29) und vom Senfkorn (Vv 30–32). Die Gleichnisse vom Sämann und vom Senfkorn bringen auch Matth 13,1–9.32–32 und Luk 8,4–8 13,18–19. Matth 13,1–53 hat zu unserer Thematik weitere Gleichnisse: das vom Unkraut unter dem Weizen (Vv 24–30), vom Sauerteig (Vv 33 = Luk 13,20f), vom Schatz und von der Perle (Vv 44–46) und vom Fischnetz (Vv 47–50). Zwar haben auch noch andere Gleichnisse mit der Herrschaft Gottes zu tun, wie z. B. Matth 18,23–35, das Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht, ein matthäisches Sondergut, oder das lukanische Sondergut vom verlorenen Sohn (Luk 15,11–32). Sie zielen jedoch nicht auf eine »Erklärung« des Wesens der Gottesherrschaft hin, sondern auf den konkreten Menschen, der vor der Entscheidung für oder gegen Gottes Herrschaft steht. Die Herrschaft Gottes wird durch Jesu Predigt verkündet. Doch sein Wort findet nicht überall Aufnahme. Dort aber, wo es der Mensch beherzigt, hat es eine unermeßliche Wirkung (Gleichnis vom Sämann). Der palästinische Bauer wußte nicht um die heute bekannten Prozesse, warum der Same aufgeht und daraus sich die Frucht entwickelt. Wie die Erde nach seiner Beobachtung die Frucht gleichsam von selbst hervorbringt, so wächst Gottes Herrschaft auf der Erde unter den Menschen (Gleichnis vom Wachsen der Saat). Die Beobachtung, daß mit dem Weizen auch Tollkorn wächst, führt zu dem Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (vgl. das Gleichnis vom Fischnetz). Durch Jesu Wort wächst im Menschen die Herrschaft Gottes, aber es gibt massive Störungseinflüsse. Diese sollen nicht ausgeschaltet werden, weil der Mensch nicht immer klar entscheiden kann, wo das Gute und das Böse ist. Gott wird schließlich selbst am Ende der Tage entscheiden, was Tollkorn490 und was Weizen ist. So bescheiden der Anfang der Verkündigung der Gottesherrschaft durch Jesus auch sein mag, sie entfaltet sich in einer inneren Dynamik zu unglaublicher Größe (Gleichnis vom Senfkorn), sie durchdringt die ganze Welt (Gleichnis vom Sauerteig). Sie ist der wertvollste Schatz, den zu besitzen ein Mensch alles unternimmt (Gleichnis vom Schatz und von der Perle). Diese wenigen Gleichnisse geben natürlich nicht erschöpfend Auskunft, was unter der Herrschaft Gottes zu verstehen sei. Sie beschreiben sie jedoch eindeutig

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Der prophetische Lehrer und Herr über die Thora

als keimhaft gegenwärtig, sich auf dieser Welt zu ungeahnter Größe entwickelnd, als den begehrenswertesten Schatz des Menschen und als die einzige Realität am Ende der Tage. Dieses Ende der Tage darf allerdings nicht im Sinn der Apokalyptik gesehen werden, die die Vernichtung der bestehenden Welt voraussetzt und eine kosmische Neuschöpfung durch Gott erwartet. »Dadurch, daß Jesus den kommenden Äon als Herrschaft Gottes auslegt, dies aber trotz des weiter bestehenden alten Äons in actu wirksam werden sieht, hat er sich geradezu von der apokalyptischen Erwartung abgesetzt.«491 Das ist im Wesentlichen die Vorstellung des Danielbuches und der vorher besprochenen zwischentestamentlichen Literatur. Obwohl z. B. bei der Qumransekte die apokalyptischen Vorstellungen im Vordergrund standen, existierte dennoch, wie die Loblieder zeigen, eine Auffassung, die der Jesu ähnlich war. Die Gegenwart des göttlichen Heiles ist auf Grund der Tempelsymbolik endgültig, eschatologisch, aber in dieser konkreten Zeit nur in ihrer Gemeinde gegenwärtig. Dies zeigt zumindest, daß ein »Miteinander von Zukunft und Gegenwart des Eschatons«492 damals als gläubig lebbar gedeutet werden konnte. Der Unterschied zur jesuanischen Ansicht besteht jedoch darin, daß nicht die Tempelsymbolik Garant des endgültigen göttlichen Heiles ist, sondern die Fülle der Predigt und Taten Jesu, letztlich seine Person.

Dämonenaustreibungen und andere Wunder Als der Täufer vom Gefängnis aus Jesus fragen läßt, ob er der ist, »der kommen soll«, läßt ihm Jesus die Botschaft übermitteln: »Blinde sehen wieder, und Lahme gehen; Aussätzige werden rein, und Taube hören; Tote stehen auf, und den Armen wird das Evangelium verkündet.« (Matth 11,5; Luk 7,22). Diese Antwort besteht aus Elementen, die dem Buch Jesaja (26,19; 29,18; 35,5f; 61,1) entnommen sind und sich alle auf die messianische Heilszeit beziehen. Jesus sieht sich hier als derjenige, durch dessen Wunder das messianische Heil angebrochen ist. Mit anderen Worten: Er sieht sich als der Messias Israels (Str–B I: 593–596). Schon früher wurde die Frage erörtert, ob diese Stelle historisch sein kann und so auch ein Beweis erbracht ist, daß sich der historische Jesus als Messias verstanden hat. Aus der Art der »Beziehung« zwischen Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer scheint es möglich zu sein. Daß die Evangelisten diese lose Komposition aus Jesaja Jesus in den Mund gelegt haben, läßt sich kaum beweisen, zumal die spezifische Basileia-Verkündigung Jesu geradezu erwarten läßt, daß er sich durch solche Zeichen und Wunder als Messias beglaubigt sieht. Ferner war es für einen in den Heiligen Schriften Kundigen nicht allzu schwer, solche Kombinationen zu verwenden. Deshalb kann am ehesten angenommen werden, daß Jesus durch seine Predigt von der Gottesherrschaft und mit den von ihm gewirkten Wundertaten den Beginn dieser Herrschaft und der messianischen Heilszeit gesehen hat.

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Die Dämonenaustreibungen, eine spezielle Form der Wunder, signalisieren ganz besonders den Beginn der Herrschaft Gottes. Gerade was Dämonen und deren Austreibung betrifft, herrschen bis heute gewaltige Missverständnisse vor. Dämonen gehören ursprünglich nicht zum Satan. Wie vorher ausgeführt, ist biblisch gesehen die »Person« Satans ein neueres Modell, um die Herkunft des Bösen in dieser Welt zu erklären, nachdem das alte Modell, daß das Böse von Gott selber her kommt, als überaus problematisch erkannt worden war, und das Buch Ijob z. B. auch die Vorstellung zurückgewiesen hatte, das Böse sei allein durch den Menschen selber erklärbar. Satan ist aber nicht einfach eine Metapher für das Böse, sondern die ohne Individualität (im Sinn des heutigen Personenbegriffs) gedachte und verstandene »Person«, die reale Wirkkraft und Mächtigkeit des Bösen. Davon ist die Annahme guter und böser Geister, wie sie seit jeher in den semitischen Religionen bekannt sind, zu unterscheiden. Auf mannigfache Weise tradiert die Hebräische Bibel diese alte semitische Vorstellung weiter: Es sind die lebensbedrohlichen Wesen der Wüste (vgl. Abb. 31), die als Zwischenwesen gedachten Bockgeister, die »Haarigen« (Jes 13,21; 34,12; Jer 50,39), der wild hüpfende Verderber (Ex 12,23) etc.493 Erst in der zwischentestamentlichen Literatur werden diese Dämonen als gefallene Engel gedeutet und dem Satan unterstellt (Slav. Hen 7; Äthiop. Hen 15; 16,1; 19,1; 54,6; Jub 10,1.8.11.14). Pauschal wird dies auch vom Neuen Testament übernommen (Matth 25,41; 2 Kor 12,7; Eph 2,2; Offb 12,7), obwohl die alte Meinung noch intensiv weiter wirkt, daß die Dämonen nicht imstande sind, das Verhältnis des Menschen zu Gott zu stören (vgl. jedoch Eph 6,12; 1 Joh 4,1), sondern ihm in physischer und materieller Hinsicht schaden (2 Kor 12,7). In der Endzeit wird das Wirken der Dämonen besonders stark zunehmen (1 Tim 4,1). Mit dem Satan werden sie in ewigem Höllenfeuer gequält (Matth 25,41). Im Großen und Ganzen entspricht dies auch der rabbinischen Auffassung vom Wirken der Dämonen.

Abb. 31 Kanaanäischer Wüstendämon: ein Mischwesen aus Menschenkopf, Adlerflügeln und dem Leib eines Raubtieres stürzt sich auf einen Steinbock, der unter dem Angriff zusammenbricht. Vgl. Lev 16,10, wo der Bock, auf den das Los für den Dämon Asasel gefallen ist, in die Wüste zu Asasel geschickt werden soll. (Elfenbeinarbeit aus Megiddo, 13 mal 5/6 cm, 12./13. Jh. v. Chr.)

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Wie dieser kurze Überblick zeigt, sind zur Zeit Jesu und des Neuen Testaments die beiden einst völlig unterschiedlichen Welten – der alte Glaube an böse und gute Geister, und Satan als reale Mächtigkeit des Bösen – ganz und gar vermischt worden. Die Dämonen werden zur Welt Satans gerechnet und sind seine Heerscharen. Dem Neuen Testament nach sind es diese Heerscharen Satans, die einzeln oder in einer Vielzahl von einem Menschen Besitz ergreifen können. Es läßt sich also nicht behaupten, daß die dämonische Besessenheit, wie sie das Neue Testament sieht, nichts mit Satan zu tun hätte, selbst wenn alle neutestamentlichen Exorzismen als Heilung von Krankheiten zu verstehen sind, denn die Dämonen, die vom Menschen Besitz ergreifen, gehören bereits zum Gefolge Satans. Die Verbindung und Vermischung der beiden Vorstellungen – Dämonenglaube und satanische Mächtigkeiten – ist bereits so weit fortgeschritten, daß in der weiteren Entwicklung des Christentums mit Recht nicht nur von dämonischer, sondern auch von satanischer Besessenheit des Menschen gesprochen werden konnte.494 Daß die Jünger nicht einfach genau wie Jesus selber die Dämonen austreiben konnten, zeigt z. B. Mk 9,29. Jesus sagt den Jüngern, daß gewisse Arten von Dämonen nur »durch Gebet und Fasten« ausgetrieben werden können. Bei der Parallelstelle Matth 17,19 antwortet Jesus, daß der Exorzismus der Jünger deswegen nicht wirke, weil ihr Glaube so klein ist.495 Die nahe herbeigekommene (Mk 1,15; Luk 10,9), ja schon gegenwärtige (Kontext Luk 10,9) Herrschaft Gottes zeigt sich durch die Überwindung der dämonischen Kräfte; so Luk 11,20: »Wenn ich mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, dann ist die Herrschaft Gottes schon zu euch gekommen«. Von diesem Schlüsselwort her sind alle neutestamentlichen Exorzismen zu verstehen und es wäre eine arge Fehlinterpretation, zu meinen, daß damit nur die dämonischen Kräfte zu verstehen seien, die dem Menschen physisch und psychisch schaden. Die hier genannten dämonischen Kräfte sind ohne satanischen Konnex nicht verstehbar. Matth 12,43–45 (Luk 11,24–26) zeigt, wie sehr damals beide Aspekte bereits kombiniert sind. Einerseits ist noch von den Dämonen der Wüste die Rede, die sich lieber im Menschen als in einer wasser- und weglosen Gegend aufhalten und daher gleich in achtfacher Stärke zu einem Menschen zurückkehren, andererseits bewirken diese Dämonen, daß »die letzten Dinge jenes Menschen ärger sein werden als die ersten.« (V 45) Hier kann es nicht bloß um physische oder psychische Krankheiten gehen, sondern um ein durch die dämonischen Kräfte bewirktes moralisches Fehlverhalten, um eine massive Störung des Verhaltens zum Mitmenschen und zu Gott. Das bestätigt auch die Folgerung, die Jesus selber zieht: »So wird es auch diesem bösen Geschlecht ergehen.« (V 45). Während das Johannesevangelium keine Exorzismen Jesu berichtet, bringen das Markus-, das Matthäus- und das Lukasevangelium vier: Mk 1,21–28 (Luk 4,31–37), Mk 5,1–20 (Matth 8,28–34; Luk 8,26–39), Mk 7,24–30 (Matth 15,21–28) und Mk 9,14–29 (Matth 17,14–21; Luk 9,37–42).496

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Bei diesen Erzählungen über Dämonenaustreibungen fällt auf, daß zwei der Heilungen in Galiläa und zwei in heidnischem Gebiet (Gegend von Tyrus und Dekapolis) stattfinden. Ferner sticht sofort ins Auge, daß Jesus dem Dämon oder den Dämonen kurz befiehlt auszufahren, und sie gehorchen; so Mk 1,25: »Schweig und verlaß ihn!« Alle Erzählungen zeigen in diesem Punkt das Gleiche. Bei der besessenen Tochter der Syrophönizierin (Mk 7,24–30) ist insofern eine Steigerung festzustellen, als Jesus auf Grund des unerschütterlichen Vertrauens dieser Frau den Bescheid gibt: »Geh nach Hause, der Dämon hat deine Tochter verlassen.« (V 29). Es ist eine Fernheilung. Am spektakulärsten wird die Heilung des Besessenen/der Besessenen von Gadara (Mk 5,1–20 parr.) erzählt, wo es auch zu einem kurzen Dialog zwischen dem Besessenen/dem Dämon/den Dämonen und Jesus kommt. Sehen wir uns diese Heilung genauer an, die Markus (5,1–20), Matthäus (8,28–34) und Lukas (8,26–39) berichten. Die philologische Untersuchung aller drei Berichte zeigt, daß der markinische und der lukanische Text auf unterschiedlichen, aber ähnlichen Quellen basieren, die sich von der Quelle der matthäischen Fassung wesentlich unterscheiden. Eine gegenseitige literarische Abhängigkeit der Texte ist auszuschließen.497 Die Lokalisierung des Geschehens ist eindeutig das Gebiet von Gadara.498 Die Begegnung Jesu mit dem Besessenen wird unmittelbar am Ufer lokalisiert (Mk 5,2). Darauf folgt die Schilderung der Situation des Besessenen: er ist von niemandem zu bändigen und wohnt in Grabhöhlen. Gräber galten als unrein und als Aufenthaltsorte von Dämonen (Str–B I: 49f). Der Besessene zollt Jesus göttliche Verehrung (V 6), nennt ihn »Sohn des höchsten Gottes« und beschwört Jesus bei Gott, ihn nicht zu quälen (V 7). Erst jetzt erfährt der Leser, daß Jesus zuvor schon den Exorzismus gesprochen hatte (V 8). Jesus fragt nach dem Namen des Dämon und erhält die Antwort »Legion«, da es sich nicht nur um einen, sondern um viele Dämonen handelt (V 9). Die Dämonen bitten hierauf Jesus, daß er sie nicht fortschicke (V 10), sondern in die am Berghang weidende Schweineherde banne (Vv 11–12). Der Bitte wird entsprochen, die Dämonen fahren in die Schweine, diese rasen schließlich in den See und ertrinken (V 13). Den Bewohnern ist das unheimlich geworden und sie bitten Jesus, ihr Gebiet zu verlassen. Der ehemals Besessene möchte bei Jesus bleiben, wird aber von ihm nach Hause geschickt, um Gottes Großtaten zu verkünden (Vv 14–19). »Und er ging sofort und machte es sich zur Aufgabe, in der Dekapolis zu verkünden, was Jesus ihm getan hat. Und alle waren voll Staunen.« (V 20). Bei dem Besessenen handelt es sich offensichtlich um einen psychisch schwer erkrankten Mann. Es läßt sich nicht klar erkennen, daß die geballte dämonische Kraft (Legion), also die schwere psychische Störung, die von ihm Besitz ergriffen hat, satanische Züge aufweist. Die Erzählung zeigt die Überlegenheit des Gottessohnes Jesus, der imstande ist, diesen Menschen zu heilen und die Dämonen

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zu vernichten. Jesus wirkt dieses Heilungswunder in der heidnischen Dekapolis und zeigt, daß die Herrschaft Gottes nicht nur für die Töchter und Söhne Abrahams, sondern auch für die Heiden angebrochen ist. Der Geheilte wird der Verkünder dessen in nichtjüdischem Gebiet. An dem Beispiel Jesu konnte sich schon die erste christliche Generation orientieren und ihre Missionstätigkeit nicht nur beim eigenen Volk, sondern auch bei den Heidenvölkern beginnen, wovon die Apostelgeschichte und die Paulusbriefe Zeugnis geben.499 Die Erzählung ist auch religionsgeschichtlich höchst interessant. Die in ihr vorherrschenden Motive sind auch sonst aus dem östlichen Kulturraum bekannt: wie das Gespräch mit dem Dämon/Dämonen, die Unterwerfung des Dämons/ der Dämonen unter einen Gott oder bedeutenden Menschen, die Bitte des Dämons/der Dämonen, an einem bestimmten Ort bleiben zu dürfen, die Bannung des Dämons/der Dämonen in Tiere, damit sie Menschen nicht mehr schaden können. Die Bentresch-Stele, die in einem kleinen Heiligtum aus griechisch-römischer Zeit in der Nähe des Chons-Tempel in Theben gefunden wurde (vgl. J. H. Breasted III 1906/1962: 188–195 Nr. 429–447. AOT 77–79) ist ein Beleg für die Unterwerfung eines Dämons unter einen Gott: Der Text auf dieser Stele ist eine märchenhafte Erzählung, die in der Zeit Ramses II. (ca. 1290–1224 v. Chr.) spielt. Der König war am Euphrat, um den Tribut der unterworfenen Völker zu empfangen. Der Fürst von Bechten gab als Tribut seine älteste Tochter, die als königlichägyptische Gemahlin den Namen Neferu-Re erhielt. Offenbar einige Zeit später schickt der Fürst von Bechten eine Gesandtschaft nach Ägypten, um für seine andere, nun erkrankte Tochter Bentresch, Hilfe zu holen. Ramses II. schickt seinen Schreiber Thot-em-heb nach Bechten, um der Erkrankten zu helfen. Er diagnostiziert, daß sie von einem Geist besessen ist, kann aber nicht helfen. Schließlich schickt der Pharao den Gott Chons von Theben, »der die Dämonen vertreibt« nach Bechten: »[...] Dann ging der Gott zu dem Ort, an dem Bentresch war. Und er ‚machte den Schutz‘ (= er trieb den Dämon aus) für die Tochter des Fürsten von Bechten. Da wurde sie sofort gesund. Da sagte der Geist, der mit ihr war, zu Chons: ‚Du kommst in Frieden, du großer Gott, der die Dämonen vertreibt. Bechten ist deine Stadt [...]. Ich will an den Ort gehen, von dem ich kam, um deinen Wunsch, um dessen du herkommst, zu befriedigen. Möge deine Majestät, mit mir und dem Fürsten von Bechten einen Festtag zu feiern.‘ Da nickte der Gott [...]. Dann ging der Geist fort in Frieden an den Ort, an den er wollte, auf Befehl des Chons. [...]« Mit unserem Text gemeinsam hat diese Erzählung nur die Kombination der Unterwerfung des Geistes unter den Gott Chons und die Bitte, hier zumindest kurz (Festtag) bleiben zu dürfen. Aus zeitlicher Nähe zu unserem Text stammt die Erzählung über den wundertätigen Rabbi Ḥanina ben Dosa (um 70 n. Chr.): »Man gehe nicht allein des Nachts aus, nicht in den Nächten zu den vierten Tagen und nicht in den Nächten zu Sab-

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baten, weil da Agrath bath Machlath mit 18 Myriaden von Verderbungsengel auszieht, von denen jeder die Vollmacht hat, für sich allein zu verderben. [...] Einmal begegnete sie (Agrath bath Machlath) dem Rabbi Ḥanina ben Dosa; sie sprach zu ihm: Hätte man nicht im Himmel über dich ausgerufen: ‚Seht euch vor vor Ḥanina und seiner Thorakenntnis‘, so hätte ich dich in Gefahr gebracht. Er antwortete ihr: Wenn ich solche Achtung im Himmel genieße, so setze ich über dich fest, daß du nie mehr durch bewohntes Gebiet streifst! Sie sprach zu ihm: Ich bitte dich, laß mir etwas Raum! Da ließ er ihr die Nächte zu den Sabbaten und zu den vierten Tagen.« In dieser Erzählung spricht der weibliche Dämon ebenfalls eine Bitte aus. Aber im Unterschied zur Gadarener Geschichte geht es hier nicht um eine Austreibung, sondern um die Demonstration, daß die Kenntnis der Thora vor den bösen Geistern schützt und der Wundertäter Ḥanina frei über die Bitte des Dämons zu entscheiden imstande ist. Großzügig entspricht er sogar dieser Bitte, während sie Jesus zwar auch gewährt, aber zum Verderben der Dämonen! (Str–B IV 1: 514)! In einer babylonischen Dämonenbeschwörung dient z. B. das Schwein als Ersatz für den Menschen und ein griechischer Text bannt Dämonen in das Haupt eines Stieres.500 Einzelne Motive finden sich also auch in Erzählungen der Nachbarkulturen. Eine eine wie immer geartete Abhängigkeit ist aber auszuschließen. Die Gadarener Erzählung zeigt nur, daß sie Motive verarbeitet, die auch sonst bekannt sind und die sich anbieten, den Hergang dieses Exorzismus darzustellen. Die Quellen, die Markus verwendet, werden bereits alle wichtigen Informationen enthalten haben: Ortsangabe, der nicht zu bändigende Besessene, Grabhöhlen, die Vielzahl der Dämonen, der Exorzismus Jesu, die Kenntnis der Dämonen, wer Jesus ist, Bitte der Dämonen, in die Schweine zu fahren, Gewährung der Bitte, Ertrinken der Schweine im See, Verkündigung des ehemals Besessenen in der Dekapolis. Da sich die Quellen der Evangelisten als solche von Augenzeugen des Geschehens erweisen lassen,501 besteht kein Grund zur Annahme, Markus hätte einen einfachen Exorzismus Jesu mit den vorher genannten Motiven ausgestaltet, um zu zeigen, daß das Heidentum und seine Dämonen, dargestellt an den unreinen Tieren, den Schweinen, von Jesus überwunden worden sind und die Botschaft von der Königsherrschaft Gottes bei den Heiden verkündet wird. Markus ist nur der, der die Aussagen seiner Quellen mit seinem erzählerischen Talent weiter gibt. Der matthäische Text (8,28–34) ist gegenüber dem markinischen kürzer. Ähnlich wie Markus gliedert Matthäus die Erzählung in einen Wunderzyklus ein und schließt an die Heilung des Gelähmten (Matth 9,1–8) seine eigene Berufung an (Matth 9,9–13). Die Quellen des Matthäus, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht Jünger und daher kein Augenzeuge war, waren von denen des Markus im Detail verschieden. Ein sehr markanter Unterschied zu Markus ist der, daß statt eines Besessenen zwei genannt werden. Dies kann verschiedene Gründe haben, wird

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am ehesten aus Dtn 19,15: »[...] Erst auf die Aussage von zwei oder drei Zeugen darf eine Sache Recht bekommen.« verständlich. Die Besessenen/Dämonen bezeugen so auch im Heidenland rechtsgültig, daß Jesus, der Sohn Gottes, allen Dämonen überlegen ist und die absolute Macht über sie hat. Auch ein anderer Aspekt kann hier noch mitspielen: nach rabbinischer Vorstellung soll ein Mensch in der Nacht kein Wasser trinken, da sonst der Schabriri (Dämon der Erblindung) über ihn kommen kann. Nur wenn zwei nachts trinken, besteht keine Gefahr, weil sich der Dämon für gewöhnlich nicht zwei Menschen gleichzeitig anzugreifen traut (Str– B IV 1: 532f). Wenn also Matthäus von zwei Besessenen spricht, gleichsam einem Paar, könnte er auch damit ausdrücken, daß ungewöhnlicherweise zwei Menschen gleichzeitig von einem Dämon befallen wurden. Jesus erweist sich aber auch als der Herr über so mächtige Dämonen. Die Verdoppelung der Person des Besessenen könnte daher eine Interpretation der Quellen durch den Evangelisten Matthäus sein. Der bei Markus vorhandene missionarische Aspekt fehlt bei Matthäus, d. h., ihn dürften seine Quellen nicht enthalten haben. Eine weitere Version unserer Erzählung bringt Lukas (8,26–39). Die missionarische Funktion des Geheilten schwächt Lukas etwas ab. Der Geheilte verkündet das, was Jesus an ihm getan hat, nicht in der gesamten Dekapolis, sondern in seinem Haus und in seiner Stadt. Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, daß das Phänomen der Besessenheit ganz wesentlich zur religiösen Vorstellungswelt des damaligen Menschen dazugehört. Es spielte nicht nur im jüdischen Milieu eine Rolle, sondern bei allen Völkern des orientalischen Altertums wie auch bei Griechen und Römern. Der jesuanische Exorzismus unterscheidet sich aber dennoch ganz wesentlich von den exorzistischen Praktiken seiner Zeit. Um das zu verdeutlichen, seien einige Beispiele aus der unmittelbaren Welt Jesu vorgestellt. Der aus zwei Kolumnen bestehende Qumrantext 4Q560 enthält einen Exorzismus, den Hebammen nach der Geburt eines Kindes sprechen, um die verschiedenen Dämonen abzuwehren: »[ ... Ich beschwöre euch, alle, die] in den Körper [ein]dringen: der männliche Schwindsuchtsdämon und der weibliche Schwindsuchtsdämon [ ... ich beschwöre euch beim Namen des HERRN: Er, der] Schuld und Sünde [ent-]fernt, o Fieberdämon und Schüttelfrostdämon und Brustschmerzdämon ... « (M. Wise/M. Abegg/E. Cook 1997: 459). Dieser Text zeigt in aller Deutlichkeit, daß jede Art von Krankheit als von Dämonen verursacht angesehen werden konnte. Man beschwört daher die Dämonen bei Gott, daß sie fernbleiben mögen. Es handelt sich nicht um einen magischen Ritus, da die bittende Anrufung Gottes die Dämonen abwehren soll und nicht durch die Rezitation der Worte erzwungen wird. Auch der in vier Kolumnen fragmentarisch erhaltene Text 11Q11 ist ähnlich: Es sind Beschwörungsformeln zur Dämonenaustreibung, die jedoch nicht automatisch durch die menschliche Rezitation wirken sollen, sondern durch die Anrufung Gottes.

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Angesichts des machtvollen Auftretens Jesu gegenüber den Dämonen sind alle diese Texte blaß. Vergleichbar ist nur, daß sowohl in Qumran als auch bei Jesus die Vorstellung von Dämonen existiert. Wie sie jeweils überwunden und vernichtet werden ist grundverschieden: Hier durch ein beschwörend bittendes Gebet an Gott, dort durch ein machtvolles Wort Jesu. Aus der rabbinischen Literatur geht hervor, daß man sich auf vielerlei Weise gegen Dämonen schützen kann. Gott ist es, der die Menschen grundsätzlich vor den Dämonen schützt, da sie die Menschen töten würden. Ferner schützen die Engel, Gottes Wort, die Erfüllung seiner Gebote, die Beobachtung bestimmter Regeln, Amulette und Beschwörungen. Das Wort des Exorzisten wird häufig durch Handlungen begleitet: so räucherte man mit Wurzeln oder hielt solche Wurzeln unter die Nase des Besessenen (Str–B IV 1: 527–535). Josephus (JosAnt VIII 46–48) berichtet von einer Dämonenaustreibung durch den jüdischen Exorzisten Eleasar, bei der er selbst Augenzeuge gewesen ist: »Er hielt unter die Nase des Besessenen einen Ring, in dem eine von jenen Wurzeln eingearbeitet wurde, welche (der König) Salomo (in seinen Exorzismusanweisungen als wirkkräftig) angegeben hatte, ließ den Kranken daran riechen und zog so den Bösen Geist (der sich in den magischen Ring verbissen hatte) durch die Nase heraus. Der Besessene fiel sogleich zu Boden. Daraufhin befahl Eleasar – den Namen Salomos und die von ihm verfaßten (magischen) Sprüche rezitierend – dem Dämon, nie wieder in diesen Menschen zurückzukehren. Um aber den Anwesenden zu beweisen, daß er wirklich solche Macht besitze, stellte Eleasar nicht weit davon einen mit Wasser gefüllten Becher [...] auf und befahl dem Dämon, beim Ausfahren aus dem Menschen diesen umzustoßen und so die Zuschauer davon zu überzeugen, daß er den Menschen verlassen habe. Dies geschah auch in der Tat. [...]«502 Es ist klar, daß diese Art von Dämonenaustreibung mit jener durch Jesus nichts zu tun hat. Wohl aber kennt die rabbinische Literatur Austreibungen, die – was den Austreibungsbefehl anlangt – ähnlich der Jesu sind. bMeila 17b erzählt von der Reise des Rabbi Schimeon ben Jochai und anderer nach Rom zu Kaiser Antoninus Pius (138–161 n. Chr.), um die Aufhebung eines judenfeindlichen Reskriptes zu erreichen. Da heißt es: »Hierauf kam ihnen Ben Tamaljon (ein Dämon) entgegen [und sprach zu ihnen:] Wollt ihr, daß ich mit euch gehe? Da weinte Rabbi Schimeon und sprach: Einer Magd im Hause meiner Vorfahren (gemeint ist Hagar, die auf ihrer Wanderung von einem Engel angeredet wurde; Gen 16,7ff) gesellte sich ein Engel dreimal, mir aber nicht ein einziges Mal. Mag aber das Wunder geschehen, woher es auch kommt. Jener aber (der Dämon) ging voraus und fuhr in die Tochter des Kaisers. Als er (Rabbi Eleasar) dorthin kam (an den kaiserlichen Hof in Rom, um den Dämon auszutreiben), sprach er: Hinaus, Ben Tamaljon, hinaus, Ben Tamaljon! Und als er ihm das zurief, verließ er sie (die Tochter des Kaisers) und ging fort. Hierauf sprach der Kaiser zu ihnen. Verlangt von mir, was ihr wollt. Alsdann führte man sie in

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die Schatzkammer, um nach Belieben zu nehmen, und als sie jene Urkunde (das judenfeindliche Reskript) sahen, nahmen sie sie und zerrissen sie.« Der Befehl zur Austreibung ist hier mit dem Jesu durchaus vergleichbar (Str– B I: 493), aber sonst nichts! Denn der Dämon fungiert ja quasi als Helfer der jüdischen Delegation und Rabbi Schimeon ist sogar notgedrungen bereit, den Dämon als »Wundertäter« zu akzeptieren. Auch nur der Hauch einer »Akzeptanz« der Dämonen ist bei Jesus ausgeschlossen! Interessanterweise ist die genaueste Parallele zu Jesu souveräner Dämonenaustreibung nicht im jüdischen, sondern im griechischen Kontext zu finden. Der Philosoph Apollonius von Tyana (ca. 3–97 n. Chr.), fast ein Zeitgenosse Jesu, zog Wunder wirkend und Dämonen austreibend durch die Lande. Sein Biograph Philostratos berichtet z. B. von der Austreibung eines Dämons aus einem jungen Mann durch ein befehlendes Wort. Zum Zeichen seiner Austreibung mußte der Dämon eine Statue umwerfen. Dieser Beleg ist allerdings wertlos, da Philostratos, wie wir wissen, keine historisch zuverlässige Quelle ist und er die Evangelien, hier wohl auch Josephus, benützt, um die Überlegenheit des Philosophen Apollonius Jesus gegenüber zu demonstrieren. Jesu Exorzismen fanden auch Widerspruch. So werfen ihm aus Jerusalem gekommene Schriftgelehrte vor, daß er die Dämonen durch Beelzebul, den Dämonenfürsten austreibe (Mk 3,22–21 parr.). Die Gegner stellen also keinesfalls in Frage, daß er Dämonen austreibt. Sie deuten jedoch, daß er nicht mit Hilfe Gottes die Dämonen austreibt, sondern durch den Dämonenfürsten Beelzebul. Der Name »Beelzebul« ist auf vielerlei Weise gedeutet worden (Str–B I: 631–635). Außerhalb des Neuen Testamentes begegnet diese Bezeichnung nicht und aus dem neutestamentlichen Kontext wird nur deutlich, daß es sich um den Fürsten der Dämonen handelt. Kaum wahrscheinlich ist es, daß der 2 Kön 1,2ff genannte Heilgott von Ekron »Zebul Baal« hier gemeint sein könnte. Die bislang einleuchtendste Erklärung ist die, »Beelzebul« als »Herrn des Mistes« zu deuten (Str–B I: 632). Auf diese Verleumdung antwortet Jesus mit dem Gleichnis, daß der Satan nicht mit dem Satan ausgetrieben werden kann, weil sonst seine Herrschaft keinen Bestand hätte. Damit ist klar ausgesprochen, daß die Dämonen, wie sie das Neue Testament bereits verstehen, nicht isoliert von der satanischen Wirkmächtigkeit gesehen werden können, sondern als Teil von ihr. Markus schreibt nach diesem Geschehen: »Wahrlich, das sage ich euch: Alle Vergehen und Lästerungen werden den Menschen vergeben werden, so viel sie auch lästern mögen; wer aber den Heiligen Geist lästert, der findet in Ewigkeit keine Vergebung, sondern seine Sünde wird ewig an ihm haften.« (Mk 3,28). Da nicht ein böser Geist, sondern Gottesgeist in Jesus wohnt, hat er Macht über die unreinen Geister. Jeder, der die Wirkung dieses Gottesgeistes in Jesus in Frage stellt, ins Gegenteil verkehrt, dem kann nicht vergeben werden, weil er diese Vergebung nicht wünscht !

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Wie die Dämonenaustreibung so stehen auch die anderen Wunder Jesu unter dem Aspekt der anbrechenden und in Jesu Person gegenwärtigen Herrschaft Gottes. In einer Gesellschaft, die praktisch jede Krankheit als dämonischen Einfluß auf den Menschen sah, sind daher auch die anderen Heilungswunder Jesu davon nicht zu trennen. Ein gutes Beispiel, das zu zeigen, ist die Heilung der Schwiegermutter des Simon Petrus (Mk 1,29–31 parr.): Die Schwiegermutter liegt mit Fieber im Bett und wird von Jesus geheilt: »Er ging zu ihr, faßte sie an der Hand und richtete sie auf. Da wich das Fieber von ihr, und sie sorgte für ihn.« (V 31). Der griechische Text läßt sich durchaus übersetzen: »[...] da wich der Fieberdämon von ihr«. Der Fieberdämon ist in dem vorher zitierten Text 4Q560 Kolumne 1, 4 ebenso belegt. Auch bJoma 21b sieht im Fieber nicht einfach eine »normale« Krankheit, sondern wenn es zum Tod führt, den Boten des Todesengels. Horaz spricht Carmina I 3,25–30 sogar von einer Kohorte von Fieberdämonen und Johann Wolfgang von Goethe hat dem Fieberdämon als Erlkönig in der gleichnamigen Ballade ein schaurigschönes Denkmal gesetzt. Solcherart Heilungen sind zwar im strengen Sinn nicht mit eigentlichen Austreibungen zu vergleichen, gehören aber doch in der Sicht des damaligen Menschen in diese Sphäre. Wie die Dämonenaustreibungen, so sind auch andere Wunder, seien es Krankenheilungen, seien es Totenerweckungen u. a. auf den ersten Blick kein Spezifikum Jesu. Sie finden sich in der gesamten damaligen Welt.503 Doch der Unterschied ist gravierend. Jesu Wunder sind von seiner Person nicht zu trennen. Neben dem Ernst, mit dem sie vorgetragen werden, unterscheiden sich diese Wunderberichte von allen anderen dadurch, daß die Wunder mit Jesu Botschaft von der kommenden und durch ihn schon angebrochenen Herrschaft Gottes verbunden sind. Sie haben grundsätzlich den Glauben an diese Botschaft zur Voraussetzung oder sollen zu diesem Glauben hinführen (vgl. Origenes, Contra Celsum 1,68). Wenngleich dieser Wunderglaube damals selbstverständlich war, gab es aber dennoch eine beginnende Kritik. Die Masse der Gelehrten und der anderen Menschen teilte jedoch diese Kritik nicht. Cicero, de divinatione II 61, dagegen schrieb, daß es kein Wunder (portentum) geben könne: »nihil enim fieri sine causa potest; nec quicquam fit, quod fieri non potest; nec, si id factum est, quod potuit fieri, portentum debet videri; nulla igitur portenta sunt. [...] Illa igitur ratio concluditur: nec id, quod non potuerit fieri, factum umquam esse, nec, quod potuerit, id portentum esse; ita omnino nullum esse portentum.«. «Denn nichts entsteht ohne Ursache; und nichts entsteht, was nicht entstehen kann; und wenn entstanden ist, was entstehen konnte, darf man es nicht als Wunder betrachten. Deshalb gibt es keine Wunder. [...] Jener angefangene Beweisgang schließt eigentlich

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folgendermaßen: weder sei, was nicht habe entstehen können, jemals entstanden, noch sei, was habe entstehen können, ein Wunder; also gebe es insgesamt kein Wunder.» Die Meinung Ciceros ist für die damalige Zeit ziemlich singulär und war auch für ihn sehr akademisch. Als seine Tochter Julia gestorben war, überlegte er, wie er für sie ein kleines Heiligtum – kein Grabmal – erbauen könne, um ihre Apotheose (Vergöttlichung) zu erreichen. Letztlich wußte er aber, daß dieser Gedanke eine Torheit ist (Briefe an Atticus 12,36,1; 12,12,1; 12,37a; 12,18,1). Die Masse der Menschen glaubte, daß es Wunder gibt und daß besondere Menschen die Fähigkeit besitzen, Wunder zu wirken. In der heutigen Zeit hat Cicero bereits viel Gesellschaft und es scheint auf den ersten Blick, daß diejenigen, die noch an die Möglichkeit von Wundern denken, eher in der Minderzahl sind. Doch oft ist nur eine Verlagerung des Wunderglaubens festzustellen, wie die weit verbreitete Esoterik zeigt. Es sei hier auch gar nicht eine Wunderdiskussion eröffnet, sondern nur daran erinnert, daß derjenige, der an der Wundertätigkeit des historischen Jesus festhält, – und die Quellen legen dies nicht nur nahe, sondern bezeugen es unmißverständlich – grundsätzlich zugeben muß, daß Gottes Wirken durch Heilige und Propheten auch im 21. Jh. vorhanden sein wird, auch wenn Wunder dabei nicht mehr im Sinn der Antike und ihrem Weltbild gedeutet werden können. Der jüdische Gelehrte G. Vermes (1993: 55) hat trefflich formuliert: »Die Tatsache, daß Jesus in den Evangelien als Mann dargestellt wird, dessen übernatürliche Kräfte sich nicht von geheimen Mächten, sondern aus einem unmittelbaren Kontakt zu Gott herleiten, zeigt, daß er ein wahrer Charismatiker war, ein wirklicher Erbe dieser uralten religiösen Linie.« Bevor wir uns weiterer Wunder Jesu als Zeichen der schon gegenwärtigen Königsherrschaft Gottes zuwenden, sei auf einige Beispiele aus jüdischem Milieu hingewiesen.504 Im Babylonischen Talmud (bBerakot 34b) wird von zwei Fernheilungen des Rabbi Ḥanina ben Dosa berichtet, der etwa eine Generation nach Jesus in der Nähe von Nazareth lebte. »Die Rabbanan lehrten: Einst erkrankte der Sohn Rabbi Gamaliels und er sandte zwei Schriftgelehrte zu Rabbi Ḥanina ben Dosa, daß er für ihn um Erbarmen flehe. Als dieser sie sah, stieg er auf den Söller und flehte für ihn um Erbarmen. Beim Herabsteigen sprach er zu ihnen: Geht, das Fieber hat ihn verlassen. Da sprachen sie zu ihm: Bist du denn ein Prophet? Er erwiderte: weder bin ich ein Prophet, noch der Sohn eines Propheten (vgl. Am 7,14); allein so ist es mir überliefert: ist mir das Gebet im Munde geläufig, so weiß ich, daß es angenommen, wenn nicht, so weiß ich, daß es gewirrt wurde. Hierauf ließen sie sich nieder und schrieben die Stunde genau auf, und als sie zu Rabbi Gamaliel kamen, sprach er zu ihnen: Beim Kult, weder habt ihr vermindert noch vermehrt: genau dann geschah es, in jener Stunde verließ ihn das Fieber, und er bat uns um Wasser zum Trinken. Abermals ereignete es sich mit Rabbi Ḥanina ben Dosa, daß er zu Rabbi Joḥanan ben Zakkaj die Thora studieren ging, und da gerade der Sohn des Rabbi Joḥanan ben Zakkaj

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erkrankte, sprach dieser zu ihm: Ḥanina, mein Sohn, flehe doch für ihn um Erbarmen, daß er genese! Da legte er sein Haupt zwischen seine Kniee und flehte für ihn um Erbarmen; und jener genas. Da sprach Rabbi Joḥanan ben Zakkaj: Hätte der Sohn Zakkajs den ganzen Tag seinen Kopf zwischen seine Kniee geschlagen, man würde ihn nicht beachtet haben. Da sprach seine Frau zu ihm: Ist denn Ḥanina bedeutender als du? Er erwiderte ihr: Nein; allein er ist wie ein Diener vor dem König (Gott), ich aber wie ein Fürst vor dem König.« Diese Heilungen Rabbi Ḥaninas ben Dosa haben so manche Ähnlichkeiten mit denen Jesu wie die Heilung des Knechtes bzw. Sohnes des königlichen Beamten (Matth 8,5–13; Luk 7,1–10; Joh 4,43–53) oder die Heilung der Tochter der Syrophönizierin (Mk 7,24–30; Matth 15,21–28). Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, daß bei Jesu Heilungen das Moment des Glaubens entscheidend ist! Um die Mitte des 1. Jhs. v. Chr. lebte Ḥoni, der den Beinamen »Kreiszieher« erhalten hatte. Von ihm berichtet die Mischna (mTaanith III 8) ein Naturwunder: »Einst sprach man zu Ḥoni dem Kreiszeichner: Bete, daß Regen niederfalle. [...] Darauf betete er, allein es fiel kein Regen nieder. Was tat er nun? Er zeichnete einen Kreis, stellte sich in diesen und sprach vor ihm: Herr der Welt, deine Kinder haben sich an mich gewandt, weil ich wie ein Häusling vor dir bin; ich schwöre bei deinem heiligen Namen, daß ich mich von hier nicht rühre, bis du dich deiner Kinder erbarmt hast. Da begann der Regen zu tröpfeln. Da sprach er: Nicht um so etwas bat ich, sondern um Regen für Brunnen, Gruben und Höhlen. Da begann der Regen stürmisch niederzuschlagen. Da sprach er: Nicht um so etwas bat ich, sondern um einen Regen der Willfährigkeit, segensreich und wohltuend. Nun fiel er wie gehörig, bis die Israeliten in Jerusalem sich vor dem Regen auf den Tempelberg flüchten mußten. Sodann kamen sie und sprachen zu ihm: Wie du gebetet hast, daß er niederfalle, so bete auch, daß er aufhöre. [...] Darauf ließ ihm Šimon ben Šaṭaḥ sagen: Wärest du nicht Ḥoni, so würde ich über dich den Bann verhängt haben; was aber kann ich gegen dich machen, wo du gegen Gott ungezogen bist, und er dir dennoch deinen Willen tut, wie ein Kind gegen seinen Vater ungezogen ist, und er ihm dennoch seinen Willen tut!? Über dich spricht die Schrift: freuen mögen sich dein Vater und deine Mutter, frohlocken, die dich gebar (Spr 23,25).« Josephus weiß ebenfalls von Ḥoni, daß Gott sein Gebet in einer großen Dürre erhört und Regen geschickt hat (JosAnt XIV 22–24). Neben Heilungen und Naturwundern kennt die rabbinische Literatur auch die Erweckung von Toten. »Antoninus kam zu Rabbi; er traf ihn, wie er dasaß und seine Schüler vor ihm. Antoninus sprach zu ihm: Sind das die, von denen du so rühmend sprichst? Er antwortete: Ja, der Kleinste unter ihnen kann Tote erwecken. Nach einigen Tagen wurde ein Diener des Antoninus zum Tode krank. Antoninus ließ Rabbi sagen: Sende mir einen von deinen Schülern, daß er mir diesen Toten wieder lebendig mache! Er sandte ihm einen von seinen Schülern; einige sagen, es sei Rabbi Šimon ben Ḥalaphta (um 190 n. Chr.) gewesen. Dieser ging hin und fand den Diener hingestreckt. Er sprach

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zu ihm: Was liegst du hingestreckt, während dein Herr auf seinen Füßen steht? Sofort bewegte er sich und stand auf.« (Str–B I: 560). Ganz gleich, ob man nun diese Erweckung als die eines Scheintoten deutet oder meint, die Geschichte illustriere an einem extremen Beispiel die Fähigkeit der Rabbinenschüler, bleibt dennoch bestehen, daß die Auferweckung von Toten genauso wie Heilungs- oder Naturwunder für den damaligen Menschen denkbare Realitäten waren. Neben den Dämonenaustreibungen bietet nun das Neue Testament auch alle anderen Kategorien von Wundern: Krankenheilungen, Naturwunder und Totenerweckungen, wie sie dem damaligen Menschen vertraut waren. Beginnen wir mit den Heilungen. Nach der summarischen Notiz, daß Jesus alle Kranken geheilt hat (Mk 1,34), setzt Mk 1,40–45 mit der Heilung eines Aussätzigen ein und schließt gleich die Heilung des Gelähmten zu Kapharnaum (Mk 2,1–12) an. Mk 3,1–6 folgt die Heilung eines Mannes am Sabbat. Die Heilung der kranken Frau (Mk 5,24–34) ist mit der Erzählung von der Auferweckung der Tochter des Jairus verzahnt. In Mk 6,53–56 werden wieder summarisch Krankenheilungen erwähnt. Im Gebiet der Dekapolis lokalisiert Mk 7,31–37 die Heilung des Taubstummen und in Bethsaida die des Blinden (Mk 8,22–26). Während alle diese Wunder in Galiläa und seinen nordwestlichen wie östlichen Nachbargebieten lokalisiert sind, bringt Mk 10,46–52 die Heilung eines Blinden in Jericho, das letzte Heilungswunder dieses Evangeliums. Markus überliefert in seinen summarischen Notizen einerseits, daß durch diese Tätigkeit Jesu Volksmassen angezogen wurden und Jesus so bekannt und berühmt wurde, andererseits daß Jesus den Geheilten ein Schweigegebot auferlegte (Mk 1,44; 7,36), an das sie sich allerdings nicht hielten. Offenbar will der Evangelist damit seinen Lesern sagen, daß Jesus keine Karriere als Wunderheiler anstrebte, sondern die Wunder einen anderen Zweck erfüllen sollten, nämlich Zeugen der schon angebrochenen Herrschaft Gottes zu sein. Vielfach liegt bei diesen Wundern das Gewicht beim Glauben derer, die den Kranken herbeibringen (Mk 2,5) oder des Kranken selbst (Mk 1,40 5,34 10,52). In der Erzählung von der Heilung der Frau, die schon seit zwölf Jahren an Blutfluß litt (Mk 5,24–34), ist dies drastisch hervorgehoben: Die Kranke berührt in dem Menschengetümmel das Gewand Jesu und fühlt sich sofort geheilt. Jesus muß diese Berührung irgendwie gespürt haben und fragt: »Wer hat mein Gewand berührt?« Die Jünger sehen dies als eigenartige oder gar dumme Frage bei einem solchen Getümmel (V 31). Die Geheilte gibt sich zitternd zu erkennen und erhält jetzt von Jesus die Antwort: »Meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen. Geh in Frieden! Du sollst von deinen Leiden geheilt sein.« (V 34). Gerade diese Szene zeigt, daß Jesu Heilungen nichts mit Magie zu tun haben. Magie wäre es, wenn das Gewand von sich aus, weil es das eines heiligen Mannes ist, heilkräftig verstanden würde. Gleichsam

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aus dem inneren Monolog der Frau (V 28) wird klar, daß sie sein Gewand als Substitutionssymbol, in der Hoffnung und in dem Glauben geheilt zu werden, anrührte. Nicht das Kleidungsstück bewirkt die Heilung, sondern ihr Glaube, der Jesu Heilkraft auslöst. Bevor Jesus den Gelähmten heilt (Mk 2,1–12), spricht er zu ihm: »Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.« (V 5). Das ruft den inneren Widerstand der Schriftgelehrten hervor, da nur Gott Sünden vergeben kann. Jesus durchschaut sie: »Ihr sollt aber erkennen, daß der Menschensohn die Vollmacht hat, hier auf der Erde Sünden zu vergeben.« In der Tat war es für Ohren pharisäisch ausgerichteter Schriftgelehrter unerhört, daß ein Mensch die Sündenvergebung505 für sich in Anspruch nimmt. Nicht umsonst gibt es keinen einzigen Beleg aus der rabbinischen Literatur. Die Sündenvergebung ist ausschließlich die Sache Gottes (Str–B I: 495f). In der essenischen Schriftgelehrsamkeit scheint jedoch auch die andere Möglichkeit eröffnet, daß bestimmte Menschen in der Vollmacht Gottes Sünden vergeben konnten. So lautet der Qumrantext 4Q242 (Heilung des Königs Nabonid): »[Ich, Nabonid], war geschlagen [mit einer schlimmen Entzündung, die sieben Jahre lang dauerte. Wei[l] ich so verändert war, [wendete ich mich an einen Exorzisten] und er vergab meine Sünden. Er war ein Jude [und er sagte mir]: Erkläre und schreibe nieder diese Geschichte und schreibe auf diese Weise Ruhm und Gr[ö]ße dem Namen G[ottes, dem Allerhöchsten, zu.]« In dieser Übersetzung und Rekonstruktion wäre es der jüdische Exorzist, der in Gottes Vollmacht die Sünden vergibt und wir hätten in der Tat eine genaue Parallele zu Jesus. Der Qumrantext ist jedoch so beschädigt, daß die andere Rekonstruktion: »[...] Wie[l] ich so verändert war, [ ... betete ich zum Allerhöchsten,] und Er vergab meine Sünden. [...] «, dasselbe Recht für sich in Anspruch nehmen kann. Es muß also zur Zeit die Frage offen bleiben, ob die Gemeinde von Qumran die Vorstellung akzeptierte, daß ein Mensch – wenn auch im Auftrag Gottes – Sünden vergeben könne. Den Taubstummen (Mk 7,31–37) und den Blinden (Mk 8,22–26) heilt Jesus unter Zuhilfenahme gewisser Praktiken. Beim Taubstummen legt Jesus die Finger in seine Ohren, berührt mit Speichel seine Zunge und seufzt in seiner aramäischen Muttersprache »Ephphatha« (öffne dich). Beim Blinden legt er Speichel auf dessen Augen und legt ihm die Hände auf. Es ist eine uralte Sitte, daß das Berühren kranker Körperteile oder überhaupt das Auflegen der Hände Linderung oder Heilung verschafft. Das Berühren eines erkrankten Körperteils mit Speichel hat eine ebenso lange Tradition und beides ist in der rabbinischen Literatur belegt (Str–B II: 15–17). Die Rabbinen wenden sich nur dagegen, daß ein Vers der Thora im Zusammenhang mit dem Ausspeien auf die Wunde etc. verwendet wird. Der Sinn, einen erkrankten Körperteil etc. mit Speichel zu bedecken, ist klar. Speichel wird ähnlich wie andere Körperflüssigkeiten als ekelerregend empfunden und

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diente u. a. der Vertreibung von Dämonen. Auch hier ist der enge Zusammenhang zwischen menschlicher Krankheit und deren dämonischer Verursachung im damaligen Verständnis zu sehen. Der Berührungsgestus und das Auflegen des Speichels haben apotropäischen Charakter, aber Jesu Wort, das nicht etwa an das Ohr, sondern an das kranke Individuum gerichtet war: »Öffne dich«, bringt die Heilung. »Wenn Jesus die Zunge des Taubstummen mit Speichel netzt, so hat das mit der Speichelverwendung, wie sie bei Besprechungen (Wortmagie) üblich war, nichts zu schaffen; denn die Heilung erfolgt nicht auf dem Wege einer Besprechung, sondern durch Jesu Allmachtswort. Wohl aber dürfte dabei vorausgesetzt sein, daß der Kranke um die Sitte der Verwendung des Speichels gewußt habe [...]. Daran knüpft Jesus an: indem er mit seinem Speichel die Zunge des Taubstummen berührt, gibt er ihm zu verstehen, daß er Heilung von dem erwarten solle, der vor ihm steht. Lediglich der Weckung dieses Glaubens gilt das Tun Jesu, das der eigentlichen Heilung vorausgeht; die Heilung selbst dann geschieht durch Jesu Wort.« (Str–B II 17). Der Evangelist hat sich ein Wort Jesu erspart und berichtet nur den Ritus. Daß dieser Ritus im magischen Sinn mißverstanden werden konnte, ist natürlich nicht auszuschließen. Johannes (Joh 9,1–41) bietet eine breite Erzählung der Heilung eines Blindgeborenen. Während die markinische Geschichte in Bethsaida spielt, ereignet sich die Heilung des Blindgeborenen bei Johannes in Jerusalem. Eine Verwandtschaft der Erzählungen gibt es zweifellos, wenngleich kaum anzunehmen sein wird, daß Johannes das Wunder einfach nach Jerusalem verlegt. Von der Sache her sind beide Geschichten zu trennen. Jesus und seine Jünger begegnen einem Mann, der von Geburt an blind war. Die Jünger stellen die Frage, ob diese Krankheit in den Sünden dieses Menschen oder seiner Eltern die Ursache hat. Neben der Auffassung, daß die Dämonen Krankheiten des Menschen verursachen, gab es auch diese andere (vgl. Ex 20,5; Tob 3,3f; vgl. die Belege bei Str–B II: 527–529), die Jesus nun massiv zurückweist: »Weder dieser hat gesündigt noch seine Eltern, sondern die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden. Ich muß die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist. Es kommt eine Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich Licht der Welt.« (Vv 3–5). Jesus muß die Zeit, die der Vater für sein Erdendasein festgesetzt hat, nutzen. Ähnlich wie beim markinischen Blindenwunder wendet Jesus gewisse Praktiken an: er vermengt seinen Speichel mit Erde und legt diesen Brei auf die Augen des Blinden mit dem Befehl, daß er sich im Teich Schiloach waschen soll (Vv 6–7). Während er sich dort wäscht, wird er sehend. Auch wenn das Wasser des Schiloach-Teiches als vorzüglich galt und man es z. B. für die rituellen Reinigungsbäder verwendete, so wurde ihm jedoch nie eine Wunderkraft zugeschrieben (Str–B II: 530–533). Für den damaligen Leser war damit klar, daß der Befehl Jesu, sich dort zu waschen, die Heilung bewirkte und nicht das Wasser!

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Eigentlich handelt es sich um eine Wundergeschichte, die manche Assoziationen an die Heilung des Syrers Naaman wachruft (2 Kön 5,10–13). Der Evangelist verwendet sie jedoch für sein theologisches Konzept: Jesus, das Licht der Welt (vgl. Joh 8,12), überwindet Blindheit und Finsternis und demonstriert dies an der zeichenhaften Handlung der Heilung. Obwohl das Geschehen kaum an einem Sabbat stattfand, verlegt es Johannes auf einen Sabbat (V 14). Es war zwar erlaubt, am Sabbat zu heilen, und zwar kleinere wie lebensbedrohliche Krankheiten, solange diese Heilungen durch das gesprochene Wort alleine erfolgten. Aber es war absolut verboten, eine nicht lebensbedrohliche Krankheit durch Anwendung mechanischer Hilfen zu heilen. Für Augenleiden galt, daß eine akute, bedrohliche Entzündung mit einer Salbe etc. am Sabbat behandelt werden durfte, wenn diese Salbe schon vor dem Sabbat zubereitet wurde (bAvoda Zara 28b). Bei chronischen, nicht gefährlichen Krankheiten war dies aber verboten. Da die Blindheit des Mannes als ein chronisches, nicht lebensbedrohliches Leiden angesehen werden muß, läßt Johannes ganz bewußt Jesus den Sabbat »entweihen«, da er den Brei auf die Augen des Blinden appliziert. Gesteigert wird die Sabbatverletzung noch dadurch, daß Jesus auch den Brei selber – so Johannes – am Sabbat zubereitet. Aus der synoptischen Tradition ist klar, daß Jesus nie den Sabbat wirklich gebrochen hat. Johannes korrigiert nun hier keineswegs die Synoptiker und möchte den historischen Jesus als Sabbatschänder hinstellen, sondern verfolgt ein grundsätzliches Ziel, das er in den nachfolgenden Gesprächen (Vv13– 34) und in Jesu Selbstoffenbarung vor dem Geheilten (Vv 35–41) verdeutlicht. Auch das Sabbatgebot kann für Jesu Wirken keine Schranke sein. Das belehrende Wort des Geheilten an die Pharisäer (Vv 30–33), daß Gott einen Sünder nicht erhört und durch einen Sünder daher auch keine Heilung geschehen kann, bringt die Sabbatfrage auf die Ebene, auf der sie der Evangelist haben möchte. Da Gott in Jesus von Nazareth wirkt, ja der Sohn mit dem Vater eins ist, ist sein Tun nicht mehr an die Satzung des Sabbat gebunden. In dem abschließenden Dialog Jesu mit dem ehemals Blinden offenbart sich diesem Jesus als der göttliche Sohn des Vaters, worauf die göttliche Anbetung Jesu durch den Geheilten erfolgt. Eine weitere Heilung an einem Sabbat bringt Joh 5,1–18. In Bethesda beim Schafteich zu Jerusalem (vgl. Abb. 29–30) liegt neben vielen anderen Kranken ein Mann, der schon 38 Jahre lang gelähmt ist. Ihn heilt Jesus, der zu einem nicht ausdrücklich genannten Fest nach Jerusalem gekommen ist, und gebietet ihm, sein Bett herumzutragen, obwohl Sabbat ist. An diesem Ort haftete bereits seit hellenistischer Zeit eine Wunder- und Heiltradition, die der Evangelist so ausdrückt: Ein Engel des Herrn steigt von Zeit zu Zeit herab und badet im Teich. Die Kranken können dies an der Bewegung des Wassers erkennen. Wer nun zuerst in den Teich steigt, der wird gesund. Für den Lahmen ist es natürlich unmöglich, rechtzeitig das aufwallende Wasser zu erreichen. Jesus heilt ihn durch sein Wort; d. h. er verletzt den Sabbat durch diese

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Heilung nicht, weil keinerlei Mittel für die Heilung angewendet werden. Auf Geheiß Jesu trägt aber der Geheilte sein Bett, was an einem Sabbat nicht geschehen durfte. Er wird deshalb zurechtgewiesen, beruft sich auf seinen Heiler, ohne zu wissen, wer dieser ist. Später trifft ihn Jesus im Tempel und fordert ihn auf, nicht mehr zu sündigen, damit ihm nicht noch Schlimmeres widerfahre (V 14). Nun wußte der Geheilte, daß Jesus ihn gesund gemacht hatte und berichtet dies den Juden, die deswegen u. a. danach trachteten, Jesus zu töten. Auch in dieser johanneischen Wundererzählung muß zwischen dem historischen Kern und der Interpretation scharf unterschieden werden: Johannes verwendet die Heilung des Gelähmten durch Jesus in Bethesda, um Jesus wie den Vater als Herrn des Sabbats zu erklären. Noch mehr als bei der Heilung des Blinden unterstreicht dies Johannes durch den Satz: »Mein Vater wirkt bis jetzt, und ich wirke auch.« Gott, der am siebenten Tag von seiner Arbeit ruhte (Gen 2,2), ist natürlich an die Sabbatruhe selbst nicht gebunden (Str–B II: 461f). Der Evangelist will aber Jesus Gott gleich verstehen (V 18) und deutet ihn daher als den Herrn des Sabbat. Wiederum: Durch seinen Glauben an den Auferstandenen sieht Johannes nicht nur das einstmals eher völlig unspektakuläre Heilungswunder von Bethesda, sondern verwendet es für seine theologische Sicht, daß der Sohn mit dem Vater eins ist. Die Sabbatfrage schien ihm dabei besonders geeignet: Wie der Vater nicht an die Sabbatgesetze gebunden ist, so auch nicht der Sohn. Die Souveränität des Sohnes über die Thora ist daher dieselbe wie die des Vaters! Damit ist der entscheidende Punkt erreicht, an dem das konkrete, geschichtliche Judentum damals wie heute mit Jesu Botschaft nicht mehr mitgehen kann. Jacob Neusner (22008) hat dies mit tiefer Einfühlsamkeit in die christliche Botschaft dargestellt und erläutert, daß sich hier die Wege trennen. Nur wenn Jesus der göttliche Sohn des Vaters ist, kann er auch Herr über die Thora und über den Sabbat sein. Der Konditionalsatz kann aber nicht in menschlich-wissenschaftlichem Sinn bewiesen werden. Einer, der Christ sein will, kann nur im Vertrauen auf das, was der Apostel Johannes sagt, seine ganze Existenz setzen, d. h. er muß glaubend annehmen, daß Jesus der göttliche Sohn des Vaters ist. Alle anderen markinischen Heilungswunder haben bei Matthäus ihre Parallelen, nur daß sie viel kürzer erzählt sind. Zusätzlich zu Markus bringt Matthäus zwei weitere Heilungen: die des Knechtes des königlichen Beamten (Matth 8,5– 13) und die des Stummen (Matth 9,32–34). Aus der Heilung des blinden Bettlers Barthimäus in Jericho macht Matth 20,29–34 die von zwei Blinden. Ich meine, daß hier ähnlich wie in der matthäischen Version der Gadarener Erzählung das Anliegen hervorsticht, daß zwei Zeugen für die rechtsgültige Beglaubigung einer Sache notwendig sind. Für den galiläischen Bereich und seine Umgebung wird dies durch die Gadarener Erzählung, für den judäischen Bereich und seine Umgebung durch die Heilung der zwei Blinden manifestiert.

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Matth 8,5–13 haben in Luk 7,1–10 und Joh 4,46b–53 Parallelen. Die matthäische und lukanische Version sprechen von einem, der hundert Mann befehligt, wobei für gewöhnlich an einen römischen Centurio gedacht wird. Da aber in der autonomen Tetrarchie des Herodes Antipas keine römischen Soldaten stationiert waren, konnte es sich daher nur um einen »Centurio« von Antipas‘ Armee gehandelt haben. Das konnte ein Römer, ein Syrer oder ein Jude sein. Der Kontext (es wird einem Juden nicht zugemutet, daß er in das Haus eines Heiden kommt) legt jedoch nahe, daß dieser Mann kein Jude war. Joh 4,46 hält daher genauer fest, daß es ein königlicher Beamter war. Dieser königliche Beamte/Hauptmann bittet Jesus um die Heilung seines Knechtes. Als Jesus mit ihm kommen will, wehrt er ab: »Herr, ich bin nicht wert, daß du unter mein Dach gehst, sondern sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund [...].« (V 8). Von einem solchen Glauben eines Nichtjuden überrascht, schickt Jesus den Mann nach Hause, wo dieser dann seinen Knecht gesund vorfindet. Die Ähnlichkeit mit dem vorher erwähnten Fernwunder des Rabbi Ḥanina bar Dosa ist erstaunlich! Der Evangelist schließt ein Jesuswort an, das den Glauben der Heiden (an Jesus) dem Unglauben der Juden gegenüberstellt, vermutlich die matthäische Verdeutlichung eines Jesuswortes, unabhängig davon, daß dieses Heilungswunder an dem Fremden geschehen ist. Der für Judenchristen schreibende Matthäus zeigt aber damit, daß sich die Völkerwelt der Botschaft Jesu zu öffnen beginnt, während sich seine Landsleute in großer Zahl dieser verschließen. Die johanneische Fassung dieser Heilungsgeschichte, die in Kana spielt, zeigt andere Aspekte. Zum Tod erkrankt ist nicht ein Knecht, sondern der Sohn des königlichen Beamten. Fast unwirsch antwortet Jesus: »Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, glaubt ihr nicht.« (Joh 4,48). Doch der Beamte bittet nochmals, worauf Jesus erwidert: »Geh, dein Sohn lebt!« (V 50). Der Mann glaubte Jesus aufs Wort und ging nach Hause. Diener kamen ihm entgegen und meldeten, daß der Sohn um die siebente Stunde (13 Uhr) gesund wurde, genau zu der Zeit, als ihn Jesus heimschickte. Der königliche Beamte wurde daraufhin mit seinem Haus ein Anhänger Jesu. In dieser Fassung geht es ebenso um eine Art Fernheilung. An Stelle des überwältigenden Glaubens des Hauptmannes in der synoptischen Version ist das Wunder verheißende Wort Jesu getreten, dem der Beamte vertraut. Der Mensch kommt – wie hier der königliche Beamte – erst dann zum Glauben, wenn ihm ein Wunder dafür die Augen öffnet. Diesen Zusammenhang sah der Evangelist Johannes in unserer Geschichte ausgedrückt: zunächst glaubt nur der Vater, daß Jesus den Sohn gesund machen würde. Erst danach geht ihm der wahre Glaube auf: »er glaubte mit seinem ganzen Haus« (V 53). Lukas hat gegenüber Matthäus zwei weitere Heilungen: die der gekrümmten Frau am Sabbat (13,10–17) und des Wassersüchtigen am Sabbat (14,1–16), so daß er die Frage der Heilung Jesu am Sabbat einschließlich 6,6–11 dreimal aufgreift.

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Damit will er zweifellos Akzente setzen, durch die er die für die rabbinische Gelehrsamkeit so wichtige Frage nicht auf der argumentativen, sondern menschlichen Ebene lösen möchte. Die Kranken, die Jesus nach Lukas heilt, rufen beim Leser ein weit größeres Mitgefühl hervor als bei Markus oder Matthäus. Andererseits versteht es Lukas auch, das Herz des Lesers zu rühren, wenn er in der Heilungsgeschichte der zehn Aussätzigen (14,11–14; vgl. 5,12–16) einen zu Jesus zurückkehren läßt, der Jesus explizit seinen Dank ausspricht! An der Heilung des Mannes mit der verdorrten Hand am Sabbat (Mk 3,1–6; Matth 12,9–14; Luk 6,6–11) läßt sich gut zeigen, daß die überlieferten Wunder auf den historischen Jesus zurückgehen. Schauen wir zuerst auf den markinischen Text in einer sehr wörtlichen Übersetzung: »Wiederum ging er in eine Synagoge. Und es war dort ein Mann, dessen Hand vertrocknet war. Und sie beobachteten ihn, ob er ihn am Sabbat heilen werde, damit sie ihn tadeln könnten. Da sagte er zu dem Mann mit der verdorrten Hand: Stehe auf und stelle dich in die Mitte! Dann sagte er zu Ihnen: Ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun oder (soll man) Böses tun, darf man ein Leben retten oder (soll man) es verderben. Sie jedoch schwiegen. Da schaute er sie nacheinander voll Zorn an, betrübt ob der Verhärtung ihres Herzens. Er sagte zu dem Mann: Strecke deine Hand aus! Er streckte sie aus und seine Hand war wieder hergestellt. Da zogen sich die Pharisäer zurück. Alsdann hielten sie mit den Herodianern Rat gegen ihn, wie sie ihn vernichten könnten.« Diesem Text geht das Abreißen der Ähren am Sabbat voraus (Mk 2,23–28 parr), also einer zeichenhaften Sabbatverletzung der Jünger und nicht Jesu, die nun in dem Heilungswunder fortgesetzt wird. Allein diese Situation legt es schon nahe, daß diese Erzählung nicht erfunden worden sein kann. Obwohl eine Erzählung mit einer solchen »Sabbatverletzung« der Verkündigung der ersten Christen bei überaus strengen jüdischen Kreisen völlig entgegenstand, hat man sie nicht unterschlagen, wenn auch als »Hypothek« belassen. Die erste christliche Generation müßte ja sehr ungeschickt gewesen sein, hätte sie eine solche, ihre Mission hindernde Geschichte erfunden. Es kann sich also nur um ein wahres Ereignis aus dem Leben Jesu handeln, das in Treue zum Meister weitergegeben wurde. Worin liegt nun das Provozierende im Handeln Jesu? Jeder Pharisäer damals würde Jesu Frage, ob man am Sabbat Leben retten dürfe, mit Ja beantwortet haben (Str–B I: 623–629). Aber es lag hier nicht im entferntesten eine Lebensgefahr für den Behinderten vor, so daß die pharisäische Auffassung keine Heilung zuließ, zumal eine solche ohne große negative Folgen für den Kranken am nächsten Wochentag geschehen hätte können. »Dann hätten alle Anwesenden, auch die Pharisäer, eine erfolgte Heilung eher als Zeichen Gottes annehmen können. So aber stellte sich Jesus durch eine derart zeichenhafte Heilung gegen den Absolutheitsanspruch der Tora und spottete somit, wie die rabbinischen Texte es nennen, der Worte der Gelehrten. Wenn aber die Tora von Gott ist – und an diesem

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Axiom zweifelte kein einziger Pharisäer – , dann konnte eine so offensichtliche Verletzung der Tora nur vom Teufel sein. So reagierten die Pharisäer auf eine derartige Herausforderung ihres Selbstverständnisses mit der Behauptung, daß Jesus durch Belzebul, den Obersten der Teufel, die Teufel austreibe [...].«506 Letztlich ging es aber gar nicht um die Art und Weise, wie der Mann krank sei, ob schwer und lebensbedrohlich oder chronisch. Die Frage wird ganz grundsätzlich gestellt, so daß eine positive Antwort der Pharisäer möglich gewesen wäre. Sie erfolgte aber nicht, und Jesus erntete nur beharrliches, verhärtetes Schweigen. Erst jetzt provoziert Jesus die Pharisäer, indem er den Mann in die Mitte ruft und seine Hand ausstrecken läßt. Eine Heilung durch das Wort allein war bei jeder beliebigen Krankheit auch am Sabbat möglich. Jesus verfehlt sich daher auf das Erste gesehen nicht gegen das Sabbatgebot. Doch bei näherem Hinsehen konnten die gegnerischen Gesprächspartner eine solche Verletzung konstruieren. Das Ausstrecken der Hand erfolgte ja mit der Heilung und war daher eine von Jesus befohlene Tätigkeit, die in Zusammenhang mit der Heilung gesehen werden kann. Besonders observante Pharisäer konnten das als eine Verletzung des Sabbatgebotes auslegen, da keine Lebensgefahr bestand. Gemäßigte Pharisäer hätten sich daran aber kaum gestoßen. Diese einzige »Sabbatverletzung« des historischen Jesus ist daher nur marginal und wäre wohl von der Masse der Pharisäer kaum als solche betrachtet worden. Die so von Markus erzählte, für manche pharisäische Kreise provozierende Wunderheilung erfährt durch Matthäus eine radikale Änderung: Matth 12,10 läßt der Evangelist die Pharisäer und nicht Jesus die Frage stellen, und zwar gegenüber Markus modifiziert: »Ist es am Sabbat erlaubt zu heilen?« Der primär für Judenchristen schreibende Matthäus vermeidet es daher, Jesus die anstößige Frage stellen zu lassen. Jesus geht nun nach Matthäus auf diese Frage gar nicht ein, d. h. er weicht der medizinischen Diskussion aus, wann und wo bestünde wirklich Lebensgefahr, so daß eine Heilung am Sabbat zulässig wäre. Die Frage wird aber grundsätzlich beantwortet: »Wer von euch wird, wenn ihm sein Schaf in eine Grube fällt, es nicht sofort wieder herausziehen? Und wieviel mehr ist ein Mensch wert als ein Schaf? Darum ist es am Sabbat erlaubt, Gutes zu tun.« (Vv 11f). Matthäus lenkt mit dieser Antwort das Sabbatproblem auf eine andere Ebene, verbleibt dabei aber in bester pharisäisch-rabbinischer Hermeneutik. In der Mischna (mŠabbat XVIII 3) heißt es, daß man einem Tier am Festtag Hilfe leisten darf. Ausgehend von dieser Meinung, die im Gegensatz zur essenischen Auffassung (Damaskusschrift 11,13f verbietet dies) steht, schließt Matthäus weiter, daß ein Mensch mehr als ein Tier wert ist und man ihm auch am Sabbat Hilfe leisten darf. Die Heilung, die Jesus dann vollzieht, wird also als eine solche erlaubte Hilfe angesehen und gedeutet, so daß keine Verletzung des Sabbat mehr vorliegt. Einer solchen Argumentation konnten Pharisäer und erst recht Judenchristen folgen.

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Es läßt sich daher am Matthäustext ganz hervorragend verfolgen, wie der Evangelist historisches Reden und Handeln Jesu neu interpretiert, um Hindernisse für die konkrete Verkündigung der christlichen Lehre in judenchristlichem Milieu zu umgehen. Lukas (6,6–11), der primär für Heidenchristen schreibt, denen solche Diskussionen um den Sabbat fremd waren, schreibt ähnlich wie Markus und stellt, wie oben erwähnt, in drei Erzählungen Heilungen Jesu am Sabbat vor, wo es in keiner um eine lebensrettende Handlung geht. Die pharisäisch-rabbinische Kasuistik spielt jetzt keine Rolle mehr. Er stellt das Erbarmen Jesu mit den Kranken in den Mittelpunkt. Daß sich Jesu Handeln gegen die herkömmliche pharisäische Auffassung der Sabbatheiligung stellt, unterstreicht dieses sein Erbarmen! Eine weitere Kategorie der Wunder Jesu sind die sogenannten »Naturwunder«. Diese Bezeichnung ist vielleicht nicht ganz glücklich gewählt, hat sich jedoch im Laufe der Zeit so fest eingebürgert, daß es ratsam erscheint, dabei zu bleiben. In Verbindung mit dem See Gennezareth sind zwei Naturwunder überliefert: Mk 4,35–41 (vgl. Matth 8,23–27; Luk 8,22–25) erzählt von einer Überfahrt vom West- zum Ostufer, während der Jesus im Boot eingeschlafen ist. Ein gewaltiger Wirbelwind brach los, so daß das Boot zu kentern drohte. Die Jünger weckten Jesus und schrieen um ihr Leben. »Er sagte zu ihnen: Warum habt ihr solche Angst, ihr Kleingläubigen? Dann stand er auf, drohte den Winden und dem See, und es trat völlige Stille ein.« (v 26). Man staunte über Jesus, daß ihm auch Wind und See gehorchen. Der Evangelist reiht diese Perikope unmittelbar vor die Gadarener Erzählung. Der Leser soll durch dieses Naturwunder auf die spektakuläre Dämonenaustreibung vorbereitet werden, zumal Jesu Drohung gegen die Winde und den See gleichsam wie gegen zwei dämonische Wesen gerichtet ist. Natürlich haben die Menschen damals in einem Wirbelsturm und einem aufgewühlten See nicht ausschließlich Naturphänomene gesehen, sondern das Werk dämonischer Kräfte, deren Beherrschung durch einen Wundertäter und Heiligen vorausgesetzt werden kann. So gibt es denn aus der rabbinischen Literatur drei Beispiele, die dies verdeutlichen können: Rabbi Gamaliel (um 90 n. Chr.) drohte mit einem Schiff im Meer zu versinken. Nach einer Anrufung Gottes beruhigte sich das Meer (bBaba Mezia 59b). Eine andere Geschichte weiß darum, daß eine Welle im Meer, die ein Schiff versenkt, dadurch unschädlich gemacht werden kann, wenn man sie mit einer Stange schlägt, in die u. a. der Gottesname JHWH eingraviert ist (bBaba Bethra 73a). Seien es Gamaliel oder andere; sie können das Meer mit Gottes Hilfe beruhigen. Jesus ruft jedoch nicht Gott zu Hilfe, sondern gebietet aus eigener Machtvollkommenheit. Damit am ehesten zu vergleichen ist die Erzählung im Babylonischen Talmud (bChullin 7a) von Rabbi Pinchas ben Jair (um 200 n. Chr.), der dem Fluß Ginai in Galiläa drohte, damit er seine Wasser für ihn, einen anderen Juden und einen Araber teile. Der Fluß teilte sich dreimal, so daß man später

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sagte, daß Rabbi Pinchas ben Jair größer gewesen sei als Mose, für den sich das Schilfmeer nur einmal geteilt habe (Str–B I: 489f). Abgesehen davon, daß es im damaligen Verständnis möglich war, besonderen Menschen auch die Herrschaft über Wind und See zuzugestehen, sei es auf ihre Bitte an Gott hin, sei es aus ihrer Vertrautheit mit Gott auch ohne explizite Bitte, gibt es in unserer Erzählung zweifellos noch andere Aspekte: der eine bezieht sich auf die Jünger. Wenn der Meister bei ihnen ist, haben sie nichts zu befürchten. Der andere Aspekt sieht in Jesus den Überwinder der dämonisch– chaotischen Kräfte, die die geordnete Welt (Schöpfung) zu vernichten suchen. Der Salomonische Tempel in seiner reichen Bildsymbolik repräsentierte hier auf Erden JHWH als den königlichen Schöpfergott, der die Weltordnung gegenüber den chaotischen Mächten garantierte. Im Ehernen Meer des Tempels lag ihm das gebändigte Urchaos gleichsam zu Füßen.507 Die Synoptiker stellen nun Jesus als den Herrn über die chaotischen Mächte der Welt vor, also bereits in der göttlichen Dimension. Mk 6,45–52 ist gegenüber der vorherigen Erzählung eine Steigerung: Die Jünger fahren alleine mit dem Boot nach Bethsaida und haben mit starkem Gegenwind zu kämpfen. Da kommt ihnen Jesus auf dem Wasser entgegen. Sie halten ihn für ein Gespenst und schreien auf. Er beruhigt sie, steigt in das Boot und der Wind legt sich. In der matthäischen Fassung (14,22–33) ist die Glaubensprobe des Petrus eingefügt, der Jesus auf dem Wasser entgegengeht, dann den Mut verliert und zu versinken droht, von Jesus bei der Hand genommen und getadelt wird: »Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?« (V 31). Lukas hatte für diese Erzählung offensichtlich keine Quellen und berichtet nur, daß sich Jesus auf dem Berg zum Gebet zurückgezogen hatte (Luk 6,12). Johannes (6,16–21) dagegen bringt eine Version, die mich historisch am zuverlässigsten dünkt: Die Jünger fahren mit dem Boot bei anbrechender Dunkelheit nach Kapharnaum, Jesus bleibt zurück. Ein heftiger Sturm wühlte den See auf. Nach 25–30 Stadien (ca. 4,6 – 5,5 km; eine Stadie beträgt ca. 180 m) näherte sich Jesus dem Boot, brauchte jedoch nicht mehr einzusteigen, da das Ufer erreicht war. Die markinische Fassung steigert die Wunderkraft Jesu: Er kann den chaotisch-dämonischen Kräften nicht nur gebieten. Sie sind ihm untertan – er geht auf ihnen. Der alte Orient hat Königskinder gerne so dargestellt, daß ihre Füße auf den besiegten Feinden ruhen (vgl. Abb. 26). Dabei geht es aber gar nicht so sehr um konkrete Feinde, sondern um die feindliche Macht, die sie verkörpern508. Ps 110,1 heißt es: »Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde als Schemel deiner Füße mache.« Jesus ist daher nicht nur der Garant der mit ihm endgültig angebrochenen Herrschaft Gottes, sondern der Sohn Gottes (Matth 14,33), dem der Vater die Vollmacht verliehen hat, die dämonischen Chaoskräfte zu beherrschen und zu vernichten.

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Die von Matthäus berichtete Petrusszene könnte historisch sein, was auch ein diesbezügliches Schweigen der johanneischen Fassung nahelegt. Petrus wird durchaus richtig als ein Mensch charakterisiert, der spontan auf Jesus zugeht, aber im entscheidenden Augenblick kleingläubig versagt. Daß Markus als Interpret der petrinischen Predigt nichts davon »weiß«, kann durchaus mit einer Schonung des Petrus zusammenhängen, da immerhin Petri Verhalten nach Jesu Verhaftung (vgl. Mk 14,66–72) kein Ruhmesblatt in seiner Biographie war, und Markus nicht noch andere negative Erinnerungen schüren wollte. Der johanneischen Version ist die synoptische Symbolik und gläubige Deutung einer historischen Begebenheit aus Jesu Leben fremd. Jesus kommt den Jüngern, die um die 5 km bei starkem Wind über den See gerudert sind, am Ufer zu Hilfe: »Sie sahen Jesus auf- und abgehend bei dem509 Meer und sich nahe dem Schiff befindend« (V 19). Obwohl die Synoptiker die gleiche Terminologie verwenden, ist bei Johannes vom Kontext her eine andere Übersetzung erforderlich; denn V 21 meinen die Jünger, daß Jesus am Wasser sei, doch in Wirklichkeit war das Boot schon »am Ufer, das sie erreichen wollten«. Es geht bei Johannes offensichtlich nicht um ein Naturwunder, bei dem Jesus auf dem Wasser gehend vorgestellt wird. Die entscheidende Aussage dieser Perikope ist, daß Jesus den erschöpften Jüngern am Ufer des rauh gewordenen Sees zu Hilfe kommt. Allerdings wird nicht gesagt, wie Jesus auf die andere Seite des Sees gekommen ist (Joh 6,22). Da kein Boot mehr da war, setzt Johannes voraus, daß Jesus über den See gegangen sein wird. Zwei weitere Wunder, die für gewöhnlich unter die Naturwunder eingereiht werden, sind die Speisung der Fünftausend (Mk 6,31–44; Matth 14,13–21;Luk 9,10–17; Joh 6,1–13) und der Viertausend (Mk 8,1–10; Matth 15,32–39). Diese eigenartige Verdoppelung hat schon früh viele Ausleger veranlaßt, eine erzählerische Ausfaltung ein und desselben Ereignisses anzunehmen. Völlig auszuschließen ist das nicht, aber ebenso kann nicht ausgeschlossen werden, daß es sich um zwei Ereignisse gehandelt hat. Markus und Matthäus bringen diese Erzählung nach der über die Enthauptung des Täufers, Lukas nach der Notiz, daß die Leute Jesus für den enthaupteten Täufer hielten und daß Herodes Antipas Jesus gern gesehen hätte (Luk 9,7–9). Johannes reiht die Perikope innerhalb von Texten, deren gemeinsamer Nenner die Selbstoffenbarung Jesu vor der Welt ist. Der Hergang der Handlung ist folgender: Jesus fährt mit den Jüngern über den See Gennezareth an einen einsamen Ort, um dort auszuruhen. Doch eine große Menschenmenge folgte ihnen zu Fuß. Am Abend stellte sich das Problem, wie die Leute etwas zu essen bekommen könnten. 200 Denare, die die Jünger bei sich hatten, reichten nicht aus, um Verpflegung für so viele Menschen zu

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kaufen. Der ganze Reiseproviant, der zur Verfügung stand, beschränkte sich auf fünf Brote und zwei Fische. Jesus befiehlt, diese an die Leute zu verteilen. Alle wurden satt. Zwölf bzw. sieben volle Körbe blieben noch übrig. Die Wunder bestehen darin, daß trotz der geringen Menge an Proviant alle satt werden und noch eine Überfülle von Essen bleibt (2 Kön 4,42–44). Es ist müßig, darüber zu spekulieren, wie das möglich sein kann! Der ganze Ablauf des Geschehens wird ohne Mystifizierung dargestellt und die Mahlzeit so geschildert, wie sie unter Juden üblich gewesen ist. Wie Johannes bemerkt, handelt es sich um Gerstenbrot, das gegenüber dem Weizenbrot billiger war. Bei den Fischen handelt es sich natürlich nicht um rohe, sondern um gepökelte Fische (Str– B I: 683f). Jesus als der Spender dieser Mahlzeit spricht das Segensgebet, wie es allgemeine Sitte war (Str–B I: 685–687), und eröffnet damit den Tisch. Nach bester jüdischer Sitte wird das Übriggebliebene nach dem Essen eingesammelt (Str–B I 687f). Wenn dieses Geschehen als historisch anzunehmen ist, dann hat es sich auf diese damals übliche Weise abgespielt. Im jüdischen Verständnis war der Segen über die Speise das wichtigste; denn eine solche gesegnete Speise konnte viele satt machen. So heißt es z. B. im Babylonischen Talmud (bJoma 39a), daß zur Zeit des Hohenpriesters Schimon des Gerechten (300 oder 200 v. Chr.) der Segen, der über die Erstlingsgarbe (Lev 23,9) und über die beiden Brote (Lev 23,17) und über die Schaubrote des Tempels gesprochen wurde, die Wirkung hatte, daß zwar auf jeden der diensthabenden Priester nur ein winziges Stückchen so groß wie eine Olive entfiel, jeder aber satt wurde und noch etwas übrig blieb. »Von da und weiter wurde Fluch auf die Erstlingsgarbe und die beiden Brote und auf die Schaubrote gelegt, und auf jeden Priester kam soviel wie eine Bohne. Die Bescheidenen zogen ihre Hände zurück und die Gierigen nahmen und aßen.« Das Wunder wird in jener Talmudstelle rational erklärt. Der Segen bewirkt, daß die Priester durch das gerechte Teilen der Brote etc. alle genug haben, der Fluch dagegen hat die Verhärtung der Herzen zur Folge . Diese rabbinische Sicht wäre durchaus eine Möglichkeit zum Verstehen der Speisungsgeschichte. Ich meine daher, daß die Evangelisten das Wunder, das Jesus hier wirkt, darin sehen, daß Menschen zu teilen bereit sind. So bleibt von dem Wenigen sogar mehr: zwölf bzw. sieben Körbe. Die johanneische Version deckt sich in vielen Punkten mit der der Synoptiker, weist aber auch erhebliche Unterschiede auf.510 Neben ihrer wesentlichen Aussage, daß Menschen Jesus zum König machen wollen, d. h. das Zeichen, das Jesus mit ihrer Speisung gesetzt hat, völlig mißverstanden haben, dient die Erzählung zur Vorbereitung der Rede über das Brot vom Himmel in der Synagoge von Kapharnaum (6,22–59): Jesus selber ist das Lebensbrot in Person, »und der durch ihn gespeiste Glaube wird nicht mehr hungern.«511 Die Anspielung auf die Eucharistie ist unverkennbar.

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Im Johannesevangelium (2,1–12) wird vom Weinwunder zu Kana berichtet: Jesus, seine Mutter und die Jünger waren zu einer Hochzeit, die am dritten Tag stattfand, geladen. Als der Wein ausging, weist Maria Jesus dezent auf diesen Umstand hin. Jesus reagiert ein wenig distanziert. Er läßt dann die sechs je ca. 100 Liter fassenden Wasserkrüge, die man für die kultischen Waschungen benötigte, mit Wasser füllen. Daß Jesus das Wasser in Wein verwandelte, wird nicht berichtet, sondern nur festgehalten, daß das Wasser zu Wein geworden war. Der dritte Tag (Dienstag) ist bis heute der übliche jüdische Hochzeitstag. In der damaligen Zeit war aber der vierte Tag (Mittwoch) für Jungfrauen und der fünfte Tag (Donnerstag) für Witwen der Hochzeitstermin, wenngleich es in Galiläa andere Bräuche gegeben haben mag. Die Angabe »der dritte Tag« will aber kaum den Tag dieser Hochzeit besonders hervorheben, sondern bezieht sich auf Joh 1,28 und 43, da ja die lange Wegstrecke vom ostjordanischen Bethanien in das galiläische Kana berücksichtigt werden muß. Zeichenhaften Sinn hat diese Angabe jedenfalls keine. Im Gegenteil! Jeder, der die Wegstrecken des Johannesevangeliums nachgegangen ist, wird feststellen, wie sehr der Evangelist das Land kennt und mit welcher Präzision er solche Angaben macht. Der Dionysos–Kult – der griechische Gott ist der Herr des Weins und der Wein selber – war für Johannes nicht die Vorlage seines Berichtes.512 Wohl hält Maria ihren Sohn Jesus hier bereits für einen Wundertäter und bittet ihn so indirekt um ein Wunder. Jesu Antwort: »Was ist dir und mir« ist aber keine so scharfe Ablehnung der Mutter, wie das für gewöhnlich angenommen wird . Die sinngemäß richtige Übersetzung muß heißen: »Was haben wir für einen Grund, daß du mir das sagst.« Eine völlige Ablehnung würde eine andere Formulierung voraussetzen. Maria selbst hat dieses Wort nicht als schroffe Absage verstanden. Wie könnte sie sonst die Diener benachrichtigen: »Was er euch sagt, das tut!« Es läßt sich festhalten, daß Jesus mit dieser Antwort und auch der Anrede »Frau« seine Mutter zwar nicht zurückweist, aber auf eine gewisse Distanz geht, weil sie nicht verstanden hat, daß seine Stunde noch nicht gekommen ist. In dieser johanneischen Sprechweise wird deutlich, daß das Handeln Jesu ausschließlich von Gott her bestimmt ist und keine wie immer geartete menschliche Verwandtschaft – selbst die Mutter nicht – irgendeinen Einfluß nehmen kann. Ohne zu berichten, wie Jesus das Wunder wirkt, wird es vom Speisemeister und von den Dienern konstatiert, da das Wasser, das sie eingefüllt haben, Wein geworden war. Der Evangelist als Augenzeuge und geladener Gast dieser Hochzeit hat mit einem symbolischen Zeichen (Wunder) die öffentliche Tätigkeit Jesu als Offenbarung seiner Doxa, seiner Herrlichkeit beginnen lassen, das ein tatsächliches Weinwunder voraussetzt, das zeichenhaft die Offenbarung seiner Herrlichkeit und den Glauben seiner Jünger an ihn begründen soll. Obwohl Maria noch nicht verstanden hat, daß seine Stunde noch nicht gekommen ist – unter dem Kreuz (Joh 19 ,25–27), wo seine Stunde gekommen war, mußte sie in aller

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Bitternis und allem Leid erkennen –, geht Jesus auf ihren Wunsch ein und hilft der Hochzeitsgesellschaft aus einer argen Verlegenheit heraus. Johannes sah in diesem Geschehen durch seinen späteren Osterglauben mehr: den Beginn der Offenbarung seiner Herrlichkeit als den Empfang des Glaubens an Jesus, der zum ewigen Leben führt. In die Kategorie der Totenerweckungen gehören die Erzählungen von der Tochter des Jairus (Mk 5,21–43; Matth 9,18–26; Luk 8,40–56), des Jünglings von Nain (Luk 7,11–17) und des Lazarus (Joh 11,17–44). Die Erzählung von der Erweckung der Tochter des Jairus ist mit der Heilung der an Blutfluß leidenden Frau verzahnt. Schauplatz ist das Westufer des Sees Gennezareth. Der Synagogenvorsteher Jairus kommt zu Jesus, fällt vor ihm nieder und bittet Jesus um Hilfe, da seine zwölfjährige Tochter im Sterben liegt (so Markus und Lukas) bzw. schon gestorben ist (so Matthäus). Auf dem Gang in das Haus des Jairus geschieht das Wunder an der an Blutfluß leidenden Frau. Nach Markus und Lukas kommen Leute aus dem Haus des Jairus Jesus entgegen und melden, das Mädchen sei gestorben. Jesus läßt sich davon nicht beirren, fordert Jairus zum Glauben auf und nimmt nur Petrus, Johannes und Jakobus in das Haus des Jairus mit, wo die Totenklage bereits begonnen hat. Jesus sagt, das Kind schlafe nur und nimmt seine drei Begleiter und die Eltern in den Raum, wo das Mädchen liegt. Er nimmt es bei der Hand, und es lebt. Bei Matthäus ist die Erzählung wesentlich gekürzt; er berichtet nur, daß Jesus in das Haus des Jairus kommt und das Mädchen vom Tod erweckt. Während nach Markus und Lukas Jesus ein Schweigegebot auferlegt, berichtet Matthäus, daß sich die Kunde von diesem Wunder in der ganzen Gegend verbreitet habe. Der hebräische Name Jair (er [Gott] erleuchtet) ist in der Bibel des öfteren belegt (Num 32,41; Ri 10,3ff; Esther 2,5). Er ist der Vorsteher der Synagoge, ohne daß gesagt wird, von welcher. Das Niederfallen vor Jesus, für das Matthäus zwar ein Verb verwendet, das oft die göttliche Verehrung ausdrückt, meint bei Markus und Lukas primär die Haltung der Ehrfurcht (Str–B I: 519). Matthäus setzt wohl bewußt den Schritt von der Ehrerbietung zur göttlichen Verehrung Jesu durch Jairus. Markus und Lukas dagegen geben hier zweifellos den historischen Sachverhalt wieder, denn keinem Juden, geschweige denn einem Synagogenvorsteher, wäre es eingefallen, Jesus göttlich zu verehren. Das Alter der im Sterben liegenden oder schon gestorbenen Tochter des Jairus wird mit 12 Jahren angegeben, d. h. es handelt sich um eine Jungfrau, da ein Mädchen von 12 bis 12 ½ Jahren diesen »Titel« trug (Str–B II: 10). Der Text aller drei Evangelisten bezeugt klar, daß das Mädchen tot ist, als Jesus das Haus des Jairus betritt, zumal bereits die notwendigen Vorkehrungen zum Begräbnis getroffen waren. Dazu gehörten Flötenspieler und Klagefrauen (Mk 5,38; Matth 9,23; Str–B I: 521–523). Wenn Jesus sagt, daß das Mädchen nicht

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gestorben sei, sondern nur schlafe, scheint dies ein gewisser Widerspruch zu diesem Sachverhalt zu sein. Sowohl die Bibel als auch die rabbinische Literatur (Str.–B I: 523) verwenden bisweilen für Sterben das Verbum »entschlafen«. Resch Laqisch (um 250 n. Chr.) wird der Satz zugeschrieben: »Gott sprach zu Jakob: Bei deinem Leben, du wirst schlafen, aber du wirst nicht sterben!« Eine solche oder ähnliche Vorstellung muß hier wohl Jesus gehabt haben, wenn er zwar vom Schlafen des Mädchens spricht, dieses Schlafen aber nicht als einen Zustand des Totseins sieht. D. h. Jesus verneint, daß dieses Mädchen in die Scheol, die Unterwelt, ein– gegangen ist,513 sondern wie die verstorbenen Gerechten nur schläft, bis sie von Gott auferweckt wird. In der Tat sehen die Rabbinen den Akt der Totenerwekkung in erster Linie als ein Werk Gottes. Aber ein Gerechter wie auch der Messias können Tote wieder lebendig machen: »Warum heißt des Messias Name Jinnon? Weil er dereinst die im Staub Schlafenden auferwecken wird.« (Str–B I: 524). Die Anwesenden haben Jesus mit dieser feinen Unterscheidung nicht verstanden und lachen darüber (Mk 5,40 parr). Als einziger überliefert Markus (5,41) auf aramäisch das entscheidende Wort, das Jesus zu dem Mädchen gesprochen hat: »talitha kumi« (»Mädchen, steh auf!«). Eine solche Totenerweckung ist für den heutigen Menschen noch weit »anstößiger« als die anderen Wunder Jesu. Wenn Markus aber so kurz nach Jesu Tod eine solche erfunden hätte, wäre das nicht ohne Widerspruch geblieben. Man muß daher davon ausgehen, daß der historische Jesus die Tochter des Jairus ins Leben zurückgerufen hat. Wie die verschiedenen Belege gezeigt haben, gehört dies zum Wirken eines heiligen Mannes und schon gar zu dem des Messias. Es kann daher nicht darum gehen, ob der heutige Mensch ein solches Wunder für echt hält, sondern daß es der damalige Mensch geradezu erwartete, daß ein Mann wie Jesus von Nazareth auch Tote zum Leben erwecken kann. Für die Evangelisten steht dieses Wunder an der Tochter des Jairus als ein Zeichen der mit Jesus endgültig beginnenden Herrschaft Gottes, in der der Tod seinen Schrekken verlieren wird. Matthäus ist in seiner Interpretation noch einen Schritt weiter gegangen: die Auferweckung des Mädchens ist für ihn nicht bloß ein Wunder, das die Herrschaft Gottes und die messianische Heilszeit aufleuchten läßt, sondern ein Werk des Gottessohnes, dem die göttliche Verehrung gebührt! Der Evangelist Lukas weiß von einer weiteren Totenauferweckung (7,11–17), der des jungen Mannes von Nain: Als Jesus nach Nain (ca. 20 km nordwestlich von Skythopolis) kommt, formiert sich gerade ein Leichenzug, um einem jungen Mann, dem einzigen Sohn einer verwitweten Frau das letzte Geleit zu geben. Jesus geht auf die Bahre zu und befiehlt dem Toten aufzustehen. Der Kommentierung durch K. H. Rengstorf ist nichts hinzuzufügen: »Der Vorgang selbst ist bezeichnend für Jesu Art, sein messianisches Amt aufzufassen. Nach den Berichten der Evangelien ist er dem Tode nicht wahllos entgegengetreten, sondern dort, wo sein Regiment sinnlos anmutet wie hier, wo er

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einer Witwe den einzigen Sohn, ihren Ernährer, genommen hat (vgl. noch 8,40ff par; Joh 11,1ff). Die Beseitigung des Todes überhaupt ist nicht Sache des Sohnes, sondern Gottes selbst (vgl. 1 Kor 15,26; Offb 20,14; 21,4). Um so mehr zeigt sich, wenn unter Jesu Wort Tote ins Leben zurückkehren, daß Gottes Reich nahe ist (4,16ff. 43). Angesichts dessen verfehlt man den Sinn des Berichts, wenn man annimmt, Jesus habe – wie etwa Apollonius von Tyana, der berühmte heidnische Wanderprediger und Wundertäter des 1. Jhdts. – einmal einen Scheintoten wieder ins Leben zurückgerufen, und daraus sei dann im Verlaufe des Wachstums der Überlieferung die Auferweckung eines Toten geworden. Das Bild, das die ersten Christen von Jesus hatten, läßt für derartige Prozesse keinen Raum [...]. Erst recht gilt das für die gelegentlich geäußerte Meinung, die ganze Szene sei von Haus aus symbolisch gemeint und verdeutliche die geistliche Auferstehung, zu der es unter Jesu Einfluß komme [...].«514 Die bei weitem spektakulärste Totenerweckung, die eine Demonstration Jesu göttlicher Vollmacht ist: »Denn wie der Vater die Toten erweckt und lebendig macht, so macht auch der Sohn lebendig, welche er will.« (Joh 5,21), erzählt das Johannesevangelium (11,17–44): Der geschichtliche Ablauf läßt sich etwa folgendermaßen rekonstruieren: Lazarus, ein Freund Jesu aus dem westjordanischen Bethanien, ca. 3 km östlich von Jerusalem, war ernsthaft krank geworden. Seine Schwestern Martha und Maria lassen deswegen Jesus benachrichtigen. Dieser hält sich gerade im ostjordanischen Gebiet auf, wo Johannes getauft hat. Jesus reagiert darauf nicht sofort. Nach zwei Tagen macht sich Jesus mit den Jüngern nach Bethanien auf, wo er erfahren muß, daß Lazarus schon vier Tage im Grab liegt. Erschüttert über den Tod seines Freundes und auf Marthas und Marias Bitte erweckt er Lazarus von den Toten. Ich meine, daß hier ebenso wie bei der Tochter des Jairus und des jungen Mannes von Nain eine wahre Totenerweckung vorliegt. Johannes hat diese aber weit massiver als dies bei den anderen Erzählungen der Fall ist in das Konzept seines Evangeliums eingepaßt. Er stellt die Erzählung praktisch an das Ende der öffentlichen Wirksamkeit Jesu und verwendet sie, um den Beschluß des Hohen Rates, Jesus zu töten, zu begründen. Die theologische Deutung des Evangelisten setzt mit 11,4 ein, daß diese Krankheit des Lazarus (ein hebräischer Name mit der Bedeutung »Gott hat geholfen«) nicht zum (endgültigen) Tod führt, sondern daß durch sie Gott und der Sohn Gottes verherrlicht werden (vgl. Joh 9,3). Diese endgültige Verherrlichung des Sohnes führt über das Kreuz zum Vater. Vv 11–12 stellen wohl bewußt die Jünger unwissend dar, damit Jesus sie V 14 belehren kann, daß er nicht davon gesprochen habe, Lazarus schlafe, um gesund zu werden, sondern daß Lazarus tatsächlich tot ist. Als Jesus dann nach Bethanien kommt und Lazarus schon vier Tage im Grab findet, entspinnt sich

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ein Gespräch zwischen Martha und Jesus, wobei der Evangelist seinen Glauben formuliert: »Da sagte Martha zu Jesus: Herr, wenn du hier gewesen wärest, wäre mein Bruder nicht gestorben. Doch auch so weiß ich, daß dir Gott gewähren wird, was immer du von ihm erbittest. Jesus erwiderte ihr: Dein Bruder wird auferstehen! Martha sagte zu ihm: Ich weiß, daß er auferstehen wird bei der Auferstehung am Jüngsten Tag. Jesus sagte zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben. Glaubst du das? Sie sagte ihm: Ja, Herr, ich glaube, daß du der Messias bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll.« (Vv 21–27). In der johanneischen Sicht ist Jesus nicht mehr der wundertätige Rabbi, der durch das Land zieht, ja auch nicht mehr der Heilige und Prophet, durch dessen Verkündigung und Wunderzeichen der Anbruch der göttlichen Herrschaft und der messianischen Heilszeit signalisiert und vergegenwärtigt wird, sondern der Garant, daß der Glaube an die Auferstehung am Ende der Tage eine aktuelle und präsentische Dimension hat. »Zwei Aussagen sind hier zu unterscheiden; einmal: wenn der Glaubende auch den leiblichen Tod stirbt, wird er dennoch leben; und zum andern: für den Glaubenden, der noch im irdischen Leben weilt, gibt es keinen Tod im eigentlichen Sinn, da der leibliche Tod für ihn jede Bedeutung verloren hat.«515 Diese radikale Interpretation des Evangelisten findet in der nun folgenden Auferweckung des Lazarus ihr konkretes Beispiel. Die V 32–37 sind angesichts des Todes eines geliebten Menschen von solcher Überzeugung, daß sie kaum erfunden sind: »Jesus brach in Tränen aus.« (V 35). Als Jesus den Stein vom Gab wegzunehmen gebietet, erhebt Martha Einspruch, daß ihr Bruder schon vier Tage im Grab liege und die Verwesung bereits eingesetzt habe. Diese Zeitangabe – vier Tage – sagt kategorisch, daß ein Mensch wirklich tot ist. Die Rabbinen kannten die Auffassung, daß die Seele drei Tage lang zum Grab des Toten in der Hoffnung zurückkehrt, sich wieder mit dem Leib zu verbinden. Doch wenn sie dann sieht, daß sich das Antlitz des Toten ganz zu verändern beginnt, verläßt sie den Leib für immer (Str–B II: 544). Auch dieser Einspruch Marthas ist historisch zu verstehen, da sie gar nicht mit einem Wunder rechnet und die vorangegangene theologische Interpretation des Evangelisten (Vv 21–27) nicht kennt. Deswegen muß Johannes V 40 einschieben: »Habe ich dir nicht gesagt, daß du, wenn du glaubst, die Herrlichkeit Gottes sehen wirst?« Das Gebet Jesu, das der Evangelist nun folgen läßt: »Vater, ich danke dir, daß du mich erhört hast. Ich wußte ja, daß du mich immer erhörst, aber wegen der umstehenden Volksmenge habe ich gesprochen, damit sie glauben, daß du mich gesandt hast.« (Vv 41–42), zeigt vollkommen den göttlichen Sohn, der nicht wie ein prophetischer Lehrer Gott um etwas bitten muß, sondern der in Einheit und ewiger Harmonie mit dem Vater existierend handelt. In der johanneischen Sicht haben wir hier ein Wunder vor uns, das tatsächlich ein »Zeichen« der Göttlichkeit des Sohnes sein soll: »Im Mittelpunkt [...] steht der Offenbarer selbst, seine Werke weisen auf ihn

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selbst zurück, der Geber ist die Gabe: ‚Ich bin die Auferstehung und das Leben!‘ Diese sinnbildliche Erzählung verkündigt die Macht des Lebensfürsten, der auch dort eingreift, wo alles hoffnungslos scheint.«516 Diese Erzählung ist ein Musterbeispiel, wie der Evangelist durch seinen Glauben an den auferstandenen Herrn ein historisches Ereignis aus Jesu Leben, bei dem er noch dazu Augenzeuge war, versteht und für die nachkommenden Generationen deutet. Nach Johannes führte demnach dieser nicht mehr zu überbietende Beweis der Göttlichkeit Jesu zum Todesbeschluß durch den Hohen Rat. Der vordergründige historische Sachverhalt für Verhaftung und Hinrichtung Jesu war zwar ein anderer, wie noch zu zeigen sein wird, aber die Tiefe der johanneischen Glaubenssicht ist deswegen nicht falsch; sie zeigt nämlich den eigentlichen Hintergrund auf, der vor dem Osterereignis für seine Jünger und Anhänger kaum erahnbar war. Im biblischen Verständnis sind Wunder göttliche Taten und Zeichen. Dem bleibt das Neue Testament in seiner verwendeten Terminologie treu und zeigt daher in Jesu Wundern die Macht und Liebe Gottes. Der biblische Mensch denkt bei den göttlichen Machttaten und Zeichen niemals daran, daß dadurch »Naturgesetze« durchbrochen oder aufgehoben werden. Ein solches neuzeitliches Wunderverständnis ist der Bibel fern. Es wurde vorher schon öfter darauf hingewiesen, daß für Jesu Zeitgenossen göttliche Machttaten, die Menschen von Gott erbitten konnten, nicht so außergewöhnlich waren. Die Schriften der Hebräischen Bibel konnten den Menschen damals zeigen, wie Gott durch machtvolle Taten und Wunder sein Volk durch die Zeiten begleitete. Die Menschen damals sahen in dem Faktum, daß Jesus Wunder wirkte, nicht etwas Unmögliches, auch wenn das eine oder andere Wunder Erstaunen und Bewunderung, Furcht und Bestürzung, Kritik und Ablehnung hervorgerufen hat. Für den historischen Jesus gilt, daß ihn seine Zeitgenossen wegen der Wunderzeichen nicht schon als göttlich, zumindest im jüdischen Bereich, angesehen haben. Die Evangelisten deuten nun diese Zeichen als Erweis der mit Jesus angebrochenen Herrschaft Gottes. Hatte sie Jesus selber auch in diesem Sinn verstanden? Die Frage kann völlig eindeutig mit Ja beantwortet werden. »Als ihm vorgeworfen wurde, er treibe böse Geister in Beelzebuls Namen aus, sagte er in seiner Antwort: ‚Wenn ich aber die bösen Geister durch den Geist Gottes austreibe, so ist das Reich Gottes zu euch gekommen.‘ (Matth 12,28). Man beachte die proklamatorische Erklärung und das konditionale ‚wenn‘! Wie man sieht wird hier anerkannt, daß Wunder als solche kein Beweis für das Wirklichkeit gewordene oder unmittelbar bevorstehende Königreich sind, sondern Beweiskraft nur haben, wenn Jesus sie kraft des göttlichen Geistes wirkt. Daß er überzeugt davon war, dies zu tun, steht außer Frage. Es gibt noch eine weitere Passage, die darauf hindeutet, daß Jesus sein Wirken in diesem Licht sah; sie findet sich bei Lukas in der Geschichte von der Aussendung der Siebzig. Als die

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Jünger zurückkehrten, berichten sie Jesus: ‚Herr, es sind uns auch die bösen Geister untertan in deinem Namen.‘ Er antwortet: ‚Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz.‘ (Luk 10,17f). Jesus war in diesem Punkte offenbar derselben Ansicht wie die Evangelisten: Seine Wundertaten zeigen an, daß Gott damit begonnen hatte, den endgültigen Sieg über das Böse zu erringen. Wir haben diese Sicht den Evangelien und ihren Verfassern zugeschrieben, und jetzt können wir sie auch ihrer Quelle zuschreiben: Jesus.«517

2. Das Gesetz der Herrschaft Gottes Jesus hinterließ keinen systematischen Abriß seiner Ethik, aber auch die Evangelisten haben kein konkretes System aus Jesu Lehren entwickelt. Trotzdem läßt sich aus Jesu Verkündigung seine ethische Grundhaltung zu wichtigen Fragen menschlicher Existenz sehen. Allem ethischen Bemühen des Menschen geht aber Gottes Barmherzigkeit und Liebe voraus. Jesu hohe sittliche Forderungen lassen Menschen bisweilen erschrecken und zurückweichen, da er die moralische Integrität der menschlichen Person, die auf der traditionell interpretierten alttestamentlichen Ethik beruht, hinterfragt, ja in Frage stellt. Jesu ethischer Anspruch ist aber auch nicht von der Übereinkunft gewisser Prinzipien, die menschliches Zusammenleben sinnvoll ermöglichen sollen, geleitet. Herkömmliches menschliches Zusammenleben ist für ihn aufgehoben, da die begonnene Herrschaft Gottes den Menschen in eine neue Wirklichkeit stellt, die in vielen Bereichen durch eine »Umwertung aller menschlichen Werte« gekennzeichnet ist.

Das Grundgesetz der Herrschaft Gottes Jesus war kein asketischer Bußprediger wie Johannes der Täufer. Zentrum seiner Predigt ist die Herrschaft Gottes, aber nicht der dauernde Aufruf zur Umkehr, obwohl dieser implizit vorhanden ist (vgl. Mk 1,15). Gegenüber dem Täufer führt Jesus auch ein anderes Leben: »Johannes der Täufer ist gekommen, er ißt kein Brot und trinkt keinen Wein, und ihr sagt: Er ist von einem Dämon besessen. Der Menschensohn ist gekommen, er ißt und trinkt; darauf sagt ihr: Dieser Fresser und Säufer, dieser Freund der Zöllner und Sünder!« (Luk 7,33f). Obwohl Jesus kein solch asketisches Leben führte und deswegen auch kritisiert wurde, findet sich nirgends ein Hinweis, daß Jesus Askese im Sinn des Täufers abgelehnt hätte. Seine Lebensart war dies aber nicht und er verlangt sie auch nicht von anderen. Darin ist ein grundsätzlicher Hinweis auf Jesu innere Größe und Freiheit zu sehen, anderen nicht einen bestimmten Lebensstil aufzudrängen, sondern die freie Wahl zu lassen. Was dem Täufer entsprochen hatte, entspricht ihm nicht, aber es muß Platz für viele Lebensformen geben.

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Auch ein weiterer Aspekt unterscheidet ihn von Johannes dem Täufer: Während dieser das nahe Zorngericht Gottes ankündigt, wenn sich seine Landsleute nicht bekehren, sucht Jesus die Nähe der Sünder und stellt Gottes Erbarmen in den Mittelpunkt. Nicht ein drohendes Strafgericht soll Menschen zum Überdenken und Ändern ihres Lebens zwingen, sondern Gottes Barmherzigkeit. Das will nicht heißen, daß Jesus nicht auch eine andere Sprache führen konnte, wie z. B. das Drohwort über Chorazin und Bethsaida (Matth 11,20–22) zeigen kann, aber die Grundhaltung seines Umgangs mit Menschen war nicht verurteilend, sondern verstehend, heilend und verzeihend. Er mutete den Menschen zu, vollkommen, liebevoll wie der himmlische Vater zu sein, der die Sonne über Gute und Böse aufgehen und über Gute wie Böse regnen läßt (Matth 5,42–48). Gerade unsere Zeit betont diesen Charakterzug Jesu sehr, übersieht jedoch gerne, daß Jesus, der milde Richter, auch immer die entsprechende innere Haltung und radikale Umkehr voraussetzt. So zeigt das Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl (Matth 22,1–14; Luk 14,15–24) nicht nur, daß die geladenen Gäste nicht erschienen sind und den Zorn des Königs zu spüren bekommen, sondern auch, daß nun Gute und Böse aus allen Ecken und Enden den Hochzeitssaal bevölkern, einer jedoch kein hochzeitliches Gewand hatte und in die Finsternis ausgestoßen wird. D. h. wenn nun alle Menschen, Gute wie Böse, an Gottes Tafel Platz finden, müssen sie festlich gekleidet sein, die innere Umkehr des Herzens vollzogen haben, so daß der Sünder eben kein Sünder mehr ist. Jesus beginnt dieses Bildwort: »Mit der Königsherrschaft ist es wie mit einem König [...].« Er verkündet seine ethischen Grundsätze nicht in die alte, bis jetzt bestehende Welt, sondern in eine Welt, in der die Herrschaft Gottes bereits angebrochen ist. In dieser neuen Welt ist Platz für alle Menschen und in ihr gelten andere sittliche Maßstäbe. Von dieser grundsätzlichen Feststellung her, läßt sich bedingt durch Matth 15,24, daß Jesu Mission nur den verlorenen Schafen Israels gegolten habe, zwar nicht widerlegen, aber relativieren, zeigt doch gerade der Kontext, daß Jesus die Tochter der griechischsprachigen Frau heilt und ihren unumschränkten Glauben lobt. Auch wenn der historische Jesus durchaus gewisse Vorbehalte gegen Heiden hatte und sich in erster Linie seinem eigenen Volke zugewendet hatte, schließt er die Heiden nicht aus. Auch andere Stellen wie die Heilung des Besessenen von Gerasa oder die Heilung des Knechtes des königlichen Beamten zeigen, daß an Heiden ebenso wie an Juden Wunder und Austreibungen als Zeichen der begonnenen Herrschaft Gottes geschehen. Jesus steht mit seiner den Heiden freundlich gesinnten Haltung keineswegs völlig isoliert da. Viele Juden damals glaubten, daß sich die Heiden zum wahren Gott hinwenden werden. E. P. Sanders schreibt dazu mit Recht: »Jesus war ein menschenfreundlicher und großherziger Mensch. Wenn Jesus nicht mit der Bekehrung von Heiden rechnete, dann erwartete er nolens volens ihre ausnahmslose Vernichtung. Das ist unwahrscheinlich.«518

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Es ist ferner ausgeschlossen, daß es eine Missionstätigkeit der ersten christlichen Generation ohne Jesu Vorbild gegeben hätte, zumal das Judentum nie eine explizite Missionstätigkeit ausgeübt hat. Wenn es also Matth 8,11f heißt: »Viele werden kommen vom Osten und vom Westen und mit Abraham und Isaak und Jakob im Himmelreich sitzen; aber die Kinder des Reichs werden ausgestoßen in die Finsternis hinaus.«, dann ist dieses Wort nicht nur von der frühkirchlichen Situation her zu verstehen, daß die Mission in heidnischem Gebiet zügig vorangeht, bei den Juden kaum einen Erfolg zeitigt, sondern auch durch die wirkliche Erfahrung Jesu selber bedingt, daß die Masse seiner eigenen Landsleute nach einem kurzen »galiläischen Frühling« in ihm nicht mehr als einen Wanderprediger und heiligen Rabbi sahen, aber nicht den göttlichen Sohn, den Überbringer und den Garanten der Herrschaft Gottes. Schon im jesuanischen Verständnis umschließt die Herrschaft Gottes Juden wie Nichtjuden, alle Menschen, die Gottes Vollkommenheit und Liebe in ihrem Leben Wirklichkeit werden lassen. Das Gesetz, das sie auf sich zu nehmen haben, charakterisiert Jesus so: »Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch drückt nicht, und meine Last ist leicht.« (Matth 11,28–30). Obwohl Jesu ethische Grundsätze eine unglaubliche Radikalisierung bis hin zu einer Utopie sind, spricht er von einer leichten Last, die der Mensch auf sich zu nehmen hat.519 Das könnte durchaus als Widerspruch angesehen werden, wenn nicht die ganze Person Jesu in seiner Zuwendung zu Armen und Ausgestoßenen, zu den Außenseitern der damaligen Gesellschaft dahinterstünde. Es ist möglich, daß die Bergpredigt, wie sie Matthäus (5,1–7,29) konzipiert, in ihrem Aufbau und in ihrer Geschlossenheit nicht auf eine einzige konkrete Predigt Jesu zurückgeht. Matthäus zeigt seinen Lesern, besonders judenchristlichen, Jesus als den neuen Mose; denn Mose hat am Berg Sinai den Israeliten Gottes Weisung und Satzung überbracht. Ein Gegenstück zur matthäischen Bergpredigt ist die – allerdings viel kürzere – lukanische »Feldrede« (6,20–49). Sowohl in der matthäischen als auch in der lukanischen Fassung leiten diese wortmächtige Predigt Seligpreisungen und Weherufe (nur bei Lukas) ein. Die Preisungen, besonders die der Armen sind ein genuin jesuanisches Gedankengut, auch wenn sie ursprünglich von Jesus in einem anderen Kontext gesprochen worden sein können. Die Ballung dieser Gedanken, wie sie Matthäus 5,3–12 bringt, erleichtert heute die Feststellung, wer nach Jesu Meinung die »Kinder« der Herrschaft Gottes sind: »Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist die Herrschaft Gottes. Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden. Selig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land erben.

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Selig die Hungernden und Dürstenden nach Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden. Selig die Barmherzigen, denn sie werden mit Erbarmen beschenkt werden. Selig die Reinen im Herzen, denn sie werden Gott schauen. Selig die Friedensstifter, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden. Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihnen gehört die Königsherrschaft der Himmel. Selig seid ihr, wenn sie euch um meinetwillen schmähen und verfolgen und meinetwegen alles Böse gegen euch sagen. Freut euch und jubelt, denn euer Lohn ist groß in den Himmeln. Denn so verfolgten sie die Propheten vor euch.« Die lukanische Version (Luk 6,20–26) lautet: »Selig, ihr Armen, denn euer ist die Königsherrschaft Gottes. Selig, ihr jetzt Hungernden, denn ihr werdet gesättigt werden. Selig, ihr jetzt Weinenden, denn ihr werdet lachen. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und aus ihrer Gemeinschaft ausschließen, wenn sie euch beschimpfen und euch in Verruf bringen um des Menschensohnes willen. Freut euch und tanzt an jenem Tag; siehe, euer Lohn ist groß im Himmel. Denn ebenso taten ihre Väter den Propheten. Aber weh euch, die ihr reich seid, denn ihr habt keinen Trost mehr zu erwarten. Weh euch, die ihr jetzt satt seid, denn ihr werdet hungern. Weh euch, die ihr jetzt lacht, denn ihr werdet klagen und weinen. Weh euch, wenn euch alle Menschen loben, denn ebenso haben es ihre Väter mit den falschen Propheten gemacht.« In der matthäischen Fassung hat es die »Einheitsübersetzung« vermieden, V 3 wörtlich zu übersetzen, um dem Irrtum vorzubeugen, daß mit den »Armen im Geiste« die geistig minder Bemittelten gemeint seien. »Arm sein vor Gott« trifft den Sinn dieser Stelle sehr gut, die von Jes 66,2 »Auf den blicke ich (mit Wohlgefallen), der arm und gedrückt im Geiste ist und der Ehrfurcht hat vor meinem Wort«, inspiriert ist. Denn arm sein vor Gott kann auch ein Reicher! Von diesem Text des nachexilischen Jesaja ist der matthäischen Version (»arm im Geiste«) gegenüber der verkürzten lukanischen der Vorzug zu geben. In Qumran war der Ausdruck »Arme

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im Geiste« ebenfalls bekannt. Die Kriegsrolle (1QM 14,7–8) verwendet ihn jedoch völlig andersartig, da die »Armen im Geiste« u. a. diejenigen sind, durch die die Frevelvölker im eschatologischen Endkampf zwischen den Söhnen des Lichtes und den Söhnen der Finsternis vernichtet werden.520 Das griechische »Makarioi« gibt exakt den hebräischen Terminus für »Heil!« wieder, mit dessen Gegenteil Lukas die Wehrufe einleitet. Heil ruft Jesus den Armen zu. Wer nun diese Armen sind, ist nicht a priori zu beantworten. Ich meine, daß Jesus wohl einmal die meint, die die pharisäische Ablehnung und Verachtung mit der Bezeichnung »Landleute« trifft. Das waren praktisch Leute aller Stände und Berufsgruppen, aller sozialen Schichten, von reich bis arm, wenn sie nicht zu den Pharisäern gehört bzw. sich nicht nach ihrer Gesetzesauffassung gerichtet haben (vgl. Joh 7,49). Die Pharisäer waren zwar zur Zeit Jesu die größte jüdische Religionspartei, aber es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß sich die Masse der damaligen jüdischen Bevölkerung nicht ausschließlich nach der pharisäischen Gesetzesauslegung richtete, sondern hauptsächlich immer noch der von den Priestern vorgegebene Linie eines wortgetreuen, keiner direkten Auslegung bedürfenden Verständnisses der Thora den Vorzug gab. Mit anderen Worten: Von einer engherzigen und engstirnigen pharisäischen Meinung her gesehen – und übertreibende Frömmler hat es nicht nur damals gegeben – waren der Großteil der Bevölkerung solche »Landleute«. Nach Jesus sind aber gerade sie die Heilen, die Seligen, die Reichen und Glücklichen, denen Gottes Herrschaft gehört.521 Die nachfolgenden Seligpreisungen sind quasi die Erläuterung eines anderen Aspektes derer, die vor Gott arm und demütig sind: die Leid Tragenden, deren Tröstung in der messianischen Heilszeit nach Jes 61,2 begonnen hat, die Friedfertigen und Sanftmütigen (vgl. Ps 37,11), deren Kennzeichen zum Unterschied der Stolzen und Hochmütigen Bescheidenheit und Demut ist. Sie werden das Land besitzen, d. h. sie werden das Leben in diesem und im künftigen Aön haben. Die nach Gerechtigkeit Dürstenden meint jene, die nach Einsicht ihres menschlichen Unvermögens nie Gerechtigkeit erlangen können. Da sie das einsehen, wird sie ihnen von Jesus zugesprochen. Ferner werden die Barmherzigen gepriesen, die ein makelloses Herz haben, die Frieden stiften und die zu Unrecht verfolgten. Die Heil-Rufe Jesu richten sich an Arme im umfassenden Sinn, an die seines eigenen Volkes, was z. B. das präsentische »jetzt« in der lukanischen Version unterstreicht. Die Heilrufe sind aber (bewußt) so allgemein gehalten, daß keine nationale Eingrenzung herausgelesen werden konnte. Die lukanische Fassung betont durch das präsentische »jetzt« aber auch, daß es um den konkreten Armen und Darbenden in geistig-geistlicher wie in materieller Hinsicht geht. Die vier lukanischen Wehrufe kontrastieren die vier Heilrufe. Die Reichen werden keinen Trost finden, sie werden hungern, klagen und weinen. Die Jünger Jesu, die nur Lob einstecken, werden mit jenen religiösen Führern Israels verglichen, die die falschen Propheten gelobt haben.

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Der Evangelist steht den Reichen und dem Reichtum skeptisch gegenüber. So läßt er schon im Magnificat Maria sagen, daß Gott die Hungernden mit Gaben beschenkt, während er die Reichen leer ausgehen läßt (Luk 1,53). Bei den Reichen ist die Gefahr, habgierig zu sein, groß. In der Bildrede vom reichen Mann (Luk 12,16–21) hat der Reiche in seiner Selbstsicherheit das Nachsehen: »Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wem wird dann all das gehören, was du angehäuft hast? So geht es jedem, der nur für sich selbst Schätze sammelt, aber vor Gott nicht reich ist.« (Vv 20f). Zweifellos gibt Lukas mit seiner Beurteilung der Reichen auch die Haltung Jesu wieder. Es werden aber der Reichtum und die Reichen nicht automatisch verurteilt. Der Schwerpunkt liegt auf der Problematik des Reichtums; er kann sehr leicht ein Hindernis für ein gottgefälliges Leben werden (Luk 16,19–31). »Ihr könnt nicht beiden dienen, Gott und dem Mammon.« (Matth 6,24; Luk 16,13). Der Ausdruck »Mammon« bezeichnet nicht einfach nur Geld, sondern die Summe des materiellen Besitzes.522 Dem Vermögen so zu dienen wie Gott zu dienen, wird abgelehnt, nicht jedoch das Vermögen selber. Am Beispiel des Mannes, der zu Jesus kommt und fragt, wie er das ewige Leben erlangen soll, demonstriert Jesus seine typische Haltung zum Reichtum (Mk 10,17–27 parr.): Es genügt, Gottes Gebote zu erfüllen. Für seine Nachfolge fordert Jesus auch materielle Armut, in die jedoch dieser Mann ob seines Reichtums nicht eintreten möchte. Jesus verurteilt ihn keineswegs. Der Evangelist nimmt diesen Beispielfall aber nun zum Anlaß, eine grundsätzliche Aussage Jesu über den Reichtum zu bringen, die historisch vermutlich nicht zu der vorherigen Episode gehört. Für die Reichen ist es schwer, das Joch der Gottesherrschaft auf sich zu nehmen. D. h. es geht jetzt nicht mehr um Jesu Nachfolge, sondern allgemein um den Reichtum, der dem Menschen den Weg zur Gottesherrschaft versperren kann. Dann fällt der Satz: »Eher geht ein Kamel523 durch ein Nadelöhr, als daß ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.« (V 25). Es handelt sich um eine sprichwörtliche Rede, die ihre Parallele z. B. in dem Midrasch zu Hld 5,2 hat: »Gott sprach zu den Israeliten: Tut mir auf eine Öffnung der Buße so groß wie ein Nadelöhr, so will ich euch Türen öffnen, in die Wagen und Karren hineinkönnen.« (Str–B I: 828). Schon die kleinste Bereitschaft des Menschen zur Umkehr genügt Gott. In diesem Sinn muß auch das Jesuswort verstanden werden. Wie kein Karren alleine durch ein Nadelöhr kommt, so auch kein Kamel! Gott kann aber auch das möglich machen (V 27). Auch hier kommt ein Zug typischer jesuanischer Ethik zur Geltung, die Gott das menschlich Unmögliche zutraut. Die Haltung des Reichen zu seinem Vermögen, wie sie Jesus wissen will, kann am besten analog zu dem Wort des Apostels Paulus in 1 Kor 7,29–31 zusammengefaßt werden: zu besitzen als besäße man nicht! Lukas, der mehr als andere Evangelisten ein Gespür für das Anliegen der Armen und Ausgestoßenen entwickelt, hat in den vier von ihm aufgenommenen

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Heilrufen und den vier Wehrufen Jesu, sei es bewußt oder unbewußt, einen überaus wichtigen Charakterzug des historischen Jesus bewahrt: seine Zuwendung zu den Parias der damaligen Gesellschaft. Das Anliegen, sich der Ausgestoßenen anzunehmen, meint zwar nicht, daß Jesus die Frommen und Gerechten gleichgültig gewesen seien, sondern nur, daß sie des Arztes nicht bedürfen, anders aber die Kranken (Mk 2,14–17). Ferner soll das nicht heißen, daß die Makarismen primär an die Parias gerichtet wären, an die Sünder, die Gottlosen, Zöllner und Dirnen. Die Makarismen zeigen aber, daß die ethische Sensibilität, wie sie am Ende der alttestamentlichen Zeit immer deutlicher wird, hier eine unglaubliche Verdichtung erfahren hat. Die Hebräische Bibel denkt vielfach die Menschen in der grundlegenden Einteilung von Guten und Bösen: Gott belohnt die Guten und bestraft die Bösen. Mit diesem Modell kam man jedoch schon bald ins Schleudern, da gesehen wurde, daß es dem Gottlosen und dem Frevler oft besser geht als dem Gerechten. Man sah daher die Fragwürdigkeit dieser einfachen Unterscheidung immer klarer und konnte die Menschen kaum mehr diesem alten Schema zuweisen. Die Wurzeln dieses neuen Denkens reichen bis zu den Propheten des 8. Jhs. v. Chr. zurück, so wenn der Prophet Hosea (14,2–9) in seiner letzten Heilsverkündigung an seinen Schülerkreis davon spricht, daß JHWHs freie und ungeschuldete Liebe heilen wird. Die einmal aufgebrochene Erkenntnis, daß Gott der Andere ist, der nicht nach menschlichen Maßstäben gemessen werden kann, der kein Mensch ist und daher auch nicht so reagiert wie ein Mensch, dessen überströmende Liebe die neue menschliche Existenz schafft, hat langsam Früchte getragen.524 Von dem Schriftgelehrten Antigonus von Socho, der in der ersten Hälfte des 2. Jhs. v. Chr. wirkte, überliefert der Babylonische Talmud das Wort: »Seid nicht wie Diener, die dem Herrn dienen, in der Aussicht Lohn zu erhalten, sondern seid wie Diener, die dem Herrn dienen, ohne die Absicht Lohn zu erhalten.« (bAboth I 3). Zu einem barmherzigen und liebenden Gott paßt kein sklavisch sittliches Verhalten des Menschen mehr und ein liebender Gott postuliert nicht nur einen liebenden Menschen, sondern fordert von ihm auch ein ähnliches Verhalten zu seinem Nächsten: »Sünden des Menschen gegen Gott sühnt der Versöhnungstag, Sünden des Menschen gegen seinen Nächsten sühnt der Versöhnungstag nicht eher, als bis man seinen Nächsten besänftigt hat.« (mJoma VIII 9). So hat auch Jesus gedacht und gesprochen: »Wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, wird auch euch euer himmlischer Vater vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, dann wird euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.« (Matth 6,14–15). Um 185 v. Chr. schreibt Ben Sira, was sich gleichsam als Zusammenfassung einer neuen ethischen Sicht darbietet: »Wer sich rächt, an dem rächt sich der Herr, dessen Sünden behält er im Gedächtnis. Vergib deinem Nächsten das Unrecht, dann werden dir, wenn du betest, auch deine

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Sünden vergeben. [...] grolle dem Nächsten nicht, denk an den Bund des Höchsten, und verzeihe die Schuld.« (Sir 28,1–7). Typisch für die Seligpreisungen ist nun, daß sie das alte Schema – gut und böse, Gute und Sünder – weit hinter sich lassen und im Sinne der schon längst vorbereiteten jüdischen Liebesethik der Masse der damaligen Menschen des Landes, ob Sündern oder Gerechten, das Heil zurufen. Auch die lukanischen Wehrufe sprechen nicht gegen ein solches Verständnis, zumal sie keine moralische Wertung der Reichen etc. meinen, und als Stilmittel vom Evangelisten eingesetzt sind, um Gottes Zuwendung zu den Armen, Hungernden und Weinenden noch mehr hervorzuheben. Eine Gruppe »der Armen«, die hier angesprochen werden, sind jedenfalls die großen Außenseiter der damals religiös geprägten Gesellschaft, die ob ihres Lebenswandels am kultisch-religiösen Leben keinen Anteil hatten wie Zöllner und Prostituierte. Es mag vorerst befremdlich klingen, diese Gruppe von Menschen in die Heilrufe miteinzubeziehen. Wenn jedoch die jesuanische Ethik als Ganze berücksichtigt wird, bleibt keine andere Möglichkeit. Schon vorher ist es angeklungen, daß der Gesamttenor von Jesu Verkündigung nicht Drohung und eiserne Strenge waren, sondern Barmherzigkeit. Er verkörperte die Barmherzigkeit wie sie Gott selbst dem Sünder zu geben bereit ist; deshalb scheute er sich nicht, gegen alle Konventionen mit den Sündern zu verkehren. E. P. Sanders hat dargelegt, daß es in der Begegnung Jesu mit den Sündern nicht von vornherein um den Versuch einer Bekehrung gehe, sondern, daß Jesus der Meinung war, daß Gott die Sünder trotz allem liebe und daß allein diese Liebe Gottes ihr Leben verändere.525 Daran ist richtig, daß Jesus von Gottes Barmherzigkeit und Liebe so überzeugt, ja durchdrungen war, daß er sie für die stärkste »Waffe« im Kampf gegen das Böse gesehen hat, dennoch hat Jesus, ohne deswegen ein asketischer Bußprediger wie Johannes der Täufer zu sein, zur Umkehr aufgerufen. Jesu Taktik war aber nicht die Drohung, sondern das Vertrauen auf den Sieg der göttlichen Barmherzigkeit. Sehr anschaulich kommt dies in der Berufung des Zollpächters Levi/ Matthäus zum Ausdruck (Mk 2,13–17; Matth 9,9–13; Luk 5,27–32), den Jesus von dessen Zollamt weg zu seinem Jünger beruft: »Folge mir nach!« Levis »Antwort« darauf war, aufzustehen und dem Ruf Jesu zu folgen. In dieser prägnanten Terminologie ist alles enthalten. In Jesu Jüngerschaft zu treten heißt ja gerade, sein bisheriges Leben radikal zu verändern und aufzugeben. So zeigt z. B. die Erzählung vom reichen Jüngling (Matth 19,16–30 parr.), der von Jugend an nach dem Gesetz gelebt hat, daß er auf den Ruf Jesu zur radikalen Nachfolge nicht hört. Der reiche Zollpächter Levi/Matthäus dagegen, der ob seiner Profession und ob seines daraus resultierenden Lebenswandels als öffentlicher Sünder galt, verblieb mit seiner Entscheidung, Jesus zu folgen, nicht in seinem sündigen Dasein. Jesus scheute sich daher nicht, mit Levi/Matthäus Mahl zu halten, bei dem auch andere Zöllner und Sünder anwesend waren. Der Kritik der pharisäischen

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Schriftgelehrten begegnet Jesus u. a., daß er gekommen ist, die Sünder zu rufen (V 17). Diese Kritik ging insofern ins Leere, als Matthäus die Berufung angenommen hat. Den fern stehenden pharisäischen Gelehrten war jedoch diese Änderung des Matthäus nicht bekannt, so daß ihre Kritik berechtigt erscheint. Es kann jedoch noch etwas anderes mitspielen: Das Gesetz Lev 5,20–26 schreibt vor, daß ein Betrüger etc., und Zöllner galten als solche (Str–B I: 377–380), dem Geschädigten alles mit 20 % Zinsen zu erstatten hat. Doch erst, wenn er einen fehlerlosen Widder dem Priester zum Schuldopfer gebracht hat, wird ihm seine sündige Tat vergeben. Die pharisäische Kritik kann sich daher darauf bezogen haben, daß die Wiedergutmachung und das nötige Schuldopfer noch nicht geleistet waren und Jesus trotzdem in Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern tritt. In der formaljuristischen Sicht der Schriftgelehrten war daher Matthäus noch ein Sünder. Aber gerade darum scheint sich Jesus nicht gekümmert zu haben. Es lag ihm mehr daran, daß der Mensch die innere Wandlung vollzogen hatte. Das will nicht heißen, daß Jesus diese Bestimmung des mosaischen Gesetzes gleichgültig gewesen wäre; es war nur in dem Augenblick sekundär, wo sich ein Mensch änderte. Die ausdrücklich von der Thora geforderte Wiedergutmachung und das Schuldopfer sind nicht explizit erwähnt, weil sie ohnehin selbstverständlich waren. Daß sich Jesus peinlich genau an die Vorschriften des Gesetzes hielt, zeigen z. B. die Erzählungen von den zehn Aussätzigen (Luk 17,11–19), denen er gebietet, sich den Priestern zu zeigen (vgl. Lev 13,49; 14,2–32). Andererseits zeigt auch die Bekehrungsgeschichte des Zollpächters Zachäus (Luk 19,1–10), daß dieser bereit war, auf vielfache Weise dem Gesetz zu genügen: er gibt die Hälfte seines Vermögens den Armen und erstattet alles unrecht Erworbene vierfach zurück! In dem Gleichnis vom verlorenen Schaf (Matth 18,12–14; Luk 15,1–10) demonstriert Jesus seine vom Kairos der Stunde bestimmte Anschauung gegenüber dem Vorwurf der Pharisäer, er gebe sich mit Zöllnern und Sündern ab und esse sogar mit ihnen: Wenn nur eines von 100 Schafen in die Irre gegangen ist, geht man doch dem einen nach und freut sich darüber, es gefunden zu haben. Ebenso will auch Gott nicht, daß einer verloren gehe. Für Jesus ist es also wichtiger, dem Sünder sofort nachzugehen, ihn zum Vater heimzuholen und nicht darauf zu warten, daß er selber zur Einsicht kommt und nach Vollzug der gesetzlichen Vorschriften von seiner Schuld befreit wird. Die gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen können auch danach erbracht werden. Die lukanische Fassung setzt gegenüber der matthäischen noch den Akzent, daß der Sünder, den Gott zurückholt, einer sein muß, der sich ändert. Gottes Erbarmen und Liebe zum Sünder sind zwar das Entscheidende und den Menschen in jeder Situation Einholende, aber es bedarf auch des menschlichen Entgegenkommens, daß Gott zum Ziel kommt. Eine völlige Ausschaltung des menschlichen Willens würde den Menschen ja zu einem willenlosen Geschöpf – wenn auch der göttlichen Liebe – machen. Daß Jesus so nicht gedacht hat, ist evident;526 es wäre eine Pervertierung des

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essenischen Prädestinationsdenkens, der – überspitzt gesagt – die Menschen in Gute und Böse vorherbestimmte, hin zu einer Vorherbestimmung des Menschen für das Gute, die jeder Realität widerspräche und mit Recht die grundsätzliche Kritik der pharisäischen Gelehrten herausgefordert hätte. Ihre Kritik richtet sich aber nicht gegen eine falsche Lehrmeinung Jesu in der Frage der menschlichen Willensfreiheit, sondern gegen seinen Umgang mit den Sündern, der in ihren Augen höchst unschicklich war. Neben den Zöllnern galten die Dirnen als sündig. Matth 21,32–33 werden Dirnen und Zöllner gemeinsam genannt, die der Botschaft des Täufers eher geglaubt haben als die religiösen Führer des Volkes. Jesus scheint nie mit Dirnen in Kontakt gekommen zu sein. Die einzige Erzählung, die bisweilen so gedeutet wurde, ist Luk 7,36–50: Jesus ist im Haus des Pharisäers Simon zum Essen eingeladen. Da kommt eine Sünderin, benetzt Jesu Füße mit ihren Tränen, trocknet seine Füße mit ihrem Haar, küßt sie und salbt sie mit kostbarem Öl. Simon denkt dabei: Wenn Jesus ein Prophet wäre, wüßte er, wer ihn da berührt. Jesus durchschaut seine Gedanken und erzählt ihm das Bildwort von dem Geldverleiher mit seinen zwei Schuldnern, denen er die Schuld erläßt. Da der eine zehnmal höhere Schulden hatte als der andere, ist anzunehmen, daß der höher Verschuldete dankbarer ist, was Simon auch bejaht. Dann wendet sich Jesus zur Sünderin, weist Simon auf einige Nachlässigkeiten ihm gegenüber hin und konstatiert, daß der Frau viele Sünden vergeben werden, weil sie eine so große Liebe gezeigt hat. Zur Frau sagt Jesus ausdrücklich: »Deine Sünden sind dir vergeben.« (V 48). Der verwendete Ausdruck »Sünderin« bezeichnet einfach eine Frau, die nach pharisäischer Auffassung nicht dem Religionsgesetz entsprach. Durch welche Gesetzesübertretungen sie sich schuldig gemacht hat, wird nicht ausgedrückt527 und es ist daher unstatthaft und falsch, in dieser Frau eine Prostituierte zu sehen! So sprechen denn auch Mk 14,3–9 und Matth 26,6–13 überhaupt von keiner Sünderin, sondern allgemein von einer »Frau«. Es handelt sich hier aber um keine wirklichen Parallelen mehr zu Lukas, da die Unterschiede zu groß sind. Das Küssen der Füße Jesu durch die Sünderin bezeugt ihre Ehrerbietung Jesus gegenüber (Str–B I: 995). Jesus wirft dann im weiteren Verlauf auch Simon vor, daß er über seine Füße kein Wasser ausgegossen, ihm keinen Begrüßungskuß gegeben und sein Haupt nicht mit Öl gesalbt habe, wie er es bei diesem Besuch hätte erwarten können (Str–B II: 163). Die Erzählung des Lukas hängt mit der des Markus und Matthäus nicht zusammen und gibt eine andere Einladung Jesu wieder als die, von der Markus und Matthäus berichten. Simon ist hier kein Pharisäer, sondern trägt den Beinamen »der Aussätzige«. Die Geschichte spielt in Bethanien, ob im ostjordanischen oder westjordanischen wird nicht gesagt. Die Frau zerbricht ein Alabastergefäß kostbaren wohlriechenden Öls und salbt Jesu Haar. Die Jünger kritisieren diese Verschwendung und werden von Jesus zur Ordnung gerufen.528

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Die johanneische Version (Joh 12,1–11) steht der markinischen und matthäischen nahe. Johannes datiert das Geschehen sechs Tage vor dem Pesachfest. Dabei handelt es sich um das letzte Pesach Jesu. Ort des Ereignisses ist das westjordanische Bethanien. Jesus wurde ein Mahl bereitet. Martha bediente. Lazarus war ebenfalls geladen. Maria, Marthas Schwester, salbte Jesu Füße mit einem Pfund Nardenöl (das kostbarste Parfum der Antike) und trocknete mit ihrem Haar seine Füße. Dagegen begehren nun nicht die Jünger allgemein auf, sondern nur der künftige Verräter Judas, der es lieber gehabt hätte, das Öl um 300 Denare (Lebensunterhalt für eine Großfamilie für ein Jahr) zu verkaufen, um die Armen zu beschenken. Johannes fügt hinzu, daß Judas dies keineswegs aus Liebe zu den Armen sagte, sondern weil er ein Dieb war, der Einkünfte der gemeinsamen Kasse veruntreute. Wie bei Markus und Matthäus weist Jesus den Vorwurf zurück. Jesus, vielleicht auch der Evangelist nach einem ähnlichen Wort Jesu, sagt über diese Frau, daß man sich überall, wo auf der Welt das Evangelium verkündet wird, an das erinnern wird, was sie getan hat. Wir können kurz zusammenfassen: Die ethischen Prinzipien, die in der schon angebrochenen Herrschaft Gottes Geltung haben, grenzen keine bestimmte Gruppe von Menschen aus. Sie gelten gleichermaßen für Juden wie für Heiden, für Fromme wie für die von der Gesellschaft Geächteten, für die Sünder, die durch Gottes zuwendende Liebe und Barmherzigkeit ihr Leben ändern können. Ausgegrenzt sind nur die, die in ihrer Sünde bewußt verharren. Damit steht Jesus mitten in den schon längst vor ihm formulierten jüdischen Grundsätzen, für die eine primitive Unterscheidung zwischen Guten und Bösen hinfällig geworden ist, promulgiert sie jedoch als das neue Grundgesetz der mit ihm angebrochenen Herrschaft Gottes: Gottes suchende und nachgehende Liebe und Barmherzigkeit gibt allen Menschen die Chance, den Heiligen ebenso wie den Sündern. Wenngleich Jesu Zuwendung zu den Parias der Gesellschaft, die im Sinne Jesu nicht immer Sünder sein mußten, sondern von der Gesellschaft als solche bezeichnet wurden, zu den verarmten Bevölkerungsschichten etc. ein entscheidender und sehr wichtiger Zug seiner Lebenspraxis war, so strebte er nicht, wie man heute sagen würde, nach einer Sozialreform;529 denn Gottes angebrochene Herrschaft ist des Menschen nunmehrige Realität, die er zeichenhaft und beispielhaft mit seinem Leben und dem seines vertrauten Kreises lebt. Alle, die im Laufe der Geschichte seine »Jünger« geworden sind, können daher nur insofern als seine Jünger angesprochen werden, als sie auf je ihre Weise der Radikalität seines Beispiels folgten und folgen und seine Utopie zu seiner Realität gemacht haben und machen. Eine solche Welt der sich ständig entfaltenden Herrschaft Gottes läßt jede Sozialreform und Revolution überflüssig werden. Jesus hat die Armen nicht auf ein Jenseits vertröstet, sondern ihnen unter dieser, seiner Bedingung die Herrschaft Gottes jetzt und heute zugesichert!

Das Gesetz der Herrschaft Gottes – Die menschliche Haltung

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Die menschliche Haltung Im vorigen Abschnitt wurde als Grundgesetz der Herrschaft Gottes Liebe und Barmherzigkeit erkannt. Mit diesem muß das oberste Prinzip menschlichen Handelns korrespondieren: die Liebe zu Gott und zum Nächsten: »Einer von ihnen, ein Gesetzeslehrer, wollte ihn auf die Probe stellen und fragte ihn: Rabbi, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste? Er antwortete ihm: Du sollst den Herrn deinen Gott lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken (Dtn 6,5). Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst (Lev 19,18). An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten.« (Matth 22,35–40 parr). Die markinische Parallele gibt noch die Antwort des Schriftgelehrten wieder: »Sehr gut, Rabbi! Ganz richtig hast du gesagt. Er allein ist der Herr, und es gibt keinen anderen außer ihm, und ihn mit ganzem Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer.« (Mk 12,32–33) . Für die zeitgenössischen jüdischen Gelehrten war es selbstverständlich, eine solche Frage so wie Jesus zu beantworten, und die markinische Fassung bringt dies auch entsprechend zum Ausdruck. Die Aufzählung von 613 Einzelsatzungen der Thora (Str–B I: 900–905), 248 Gebote und 365 Verbote, hat die tannaitischen Gelehrten nicht dazu verleitet, das Wichtigste zu vergessen. Jesus antwortete, wie es die damaligen Gesetzeslehrer erwarteten, mit dem »Schema Israel«. Das Bekenntnis zu Gott, dem Einen und Einzigen, den es auf umfassende Weise zu lieben gilt, ist nach rabbinischer Vorstellung die Übernahme «des Jochs« der Königsherrschaft Gottes. Jeder also, der bereiten Herzens dieses Bekenntnis betet, nimmt die Basileia auf sich. Wie ernst das gemeint war, zeigt u. a. der Märtyrertod Rabbi Akibas in Cäsarea (135 n. Chr.): »Als man Rabbi Akiba zur Hinrichtung hinausführte, war die Zeit der Schema-Rezitation. Man kämmte ihm sein Fleisch mit eisernen Kämmen ab, und er nahm das Joch der Herrschaft Gottes auf sich (d. h. er sprach das Schema). Da sagten seine Schüler zu ihm: unser Lehrer bis hierhin. Er antwortete: Mein Leben lang habe ich mich betrübt wegen dieses Verses ‚von deiner ganzen Seele‘, (d. h.) auch wenn er deine Seele nimmt. Ich sprach: Wann wird mir Gelegenheit werden, daß ich es erfülle? Und jetzt sollte ich es nicht erfüllen? Er zog das Wort echad (‚Einer‘) lange hin, bis seine Seele mit diesem Wort dahinging.« (bBerakot 61b). Neben die Gottesliebe gleichrangig die Nächstenliebe zu stellen, war durchaus nichts Neues, solange mit Nächster ein Volksgenosse oder einer, der sich zum Judentum bekehrt hatte, also ein Proselyt, gemeint war. Den Nächsten im umfassenden Sinn als Menschen gleich welcher Volkszugehörigkeit etc. zu lieben, lag dem zeitgenössischen Judentum nicht nahe. Haben wir aber Gewißheit, daß Jesus den Begriff in einem allgemeinen Sinn verstanden hat? Ich meine, daß die Erzählung vom barmherzigen Samaritaner (Luk 10,25–37) darauf die Antwort

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geben kann. Jesus fragt den Gesetzeslehrer, was im Gesetz steht, worauf dieser die Doppelgebote (Gottes- und Nächstenliebe) nennt. Hier faßt also nicht Jesus, sondern der Gesetzeslehrer die Thora zusammen, aber er stellt die Frage, wer ist mein Nächster? Diese Frage ist kaum, wie Lukas meint (V 29), eine Rechtfertigung des Gelehrten. Damals herrschte die Meinung vor, daß Nichtjuden das Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18) nicht einschließe und daß die Fremden, die zwar gleichermaßen zu lieben wie die Volksgenossen die Bibel vorschreibt (Lev 19,34 und Dtn 10,19), auf die Proselyten beschränkt sei (Str–B I: 354–368). Für einen offenen und denkenden Menschen war dies angesichts der biblischen Tradition und angesichts der griechisch-römischen Ökumene eine grundsätzliche Frage. Jesu Antwort mit dieser gleichnishaften Erzählung ist ebenso grundsätzlich wie klar: An dem von Räubern Überfallenen und halbtot Liegenden gingen ein Priester und ein Levit vorbei, ohne sich um ihn zu kümmern. Nur der Samaritaner nahm sich seiner an. Der Gesetzeslehrer versteht: Für den Priester und Leviten wäre der Überfallene der Nächste gewesen. Der Samaritaner, den im Großen und Ganzen die damaligen Rabbinen mit den Heiden gleichstellten, d. h. der für sie kein Nächster im Sinne ihrer Auslegung der Thora war,530 handelt nach der Thora. Er nimmt sich des Verletzten an, ohne zu wissen, ob er ein Heide oder Jude ist, sondern weil er ein Mensch ist. Für den Samaritaner ist daher der Überfallene der Nächste. Anders ausgedrückt: Vom Standpunkt des Überfallenen aus wären der Priester und der Levit seine Nächsten gewesen, aber nur der Samaritaner hat sich als sein Nächster erwiesen. Von dieser Sicht her stellt auch Jesus die Frage (V 36). Abschließend sagt Jesus zum Gesetzeslehrer: »Dann geh und handle genauso!« (V 37), was meint, der Gesetzeslehrer soll wie der Samaritaner, also wie ein Nichtjude nach damaliger Auffassung, handeln – eine unerhörte Provokation für einen Juden – und sich seines Nächsten in Erfüllung von Lev 19,18 deswegen annehmen, weil es sich um einen Menschen handelt. Damit erklärt Jesus im Rückgriff auf die Thora mit einer allgemeinen Auslegung von Lev 19,18 alle späteren Einengungen des Begriffes »Nächster« als unzutreffend und als untauglich; das grundsätzliche menschliche Verhalten in der angebrochenen Herrschaft Gottes heißt, Gott und seinen Nächsten, ganz gleich ob Volksgenosse oder Fremder, zu lieben! Man kann dem natürlich entgegenhalten, daß eine Formulierung der Goldenen Regel bereits auf Rabban Hillel (um 20 v. Chr.) zurückgeht: Ein Heide, der Proselyt werden will, kommt zu Hillel und bittet darum, er möge ihn die Thora lehren, während er auf einem Fuß stehe. Ohne zu zögern antwortet Hillel: »Was dir unliebsam ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Thora, das andere ist ihre Auslegung [...].«531 Diese Formulierung der Goldenen Regel als Inbegriff der Thora meint zwar wörtlich nicht das Gebot der Nächstenliebe Lev 19,18, ist jedoch inhaltlich kaum davon zu trennen. Es ist zwar ein Unterschied, zwischen seinen Nächsten nichts Böses zu tun und ihn zu lieben, aber schon der

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Targum Jeruschalmi I zu Lev 19,18 erläutert das »Liebe deinen Nächsten« mit der Goldenen Regel hillelscher Prägung (Str–B I: 357) und es ist kaum anzunehmen, daß Hillel mit seiner Formulierung etwas anderes als dieses biblische Gebot gemeint hat. Eine andere Frage ist, ob er schon den Begriff allgemein im Sinne des Mitmenschen verstanden hat. Unter Heranziehung eines Ausspruchs Hillels in Abot I: 12, daß man die Geschöpfe lieben und ihnen die Thora nahebringen soll, worunter sicherlich nicht Proselytenmacherei zu verstehen ist, kann man diese Frage bejahen. Diese Meinung des großen Hillel steht aber ebenso wie die Jesu etwas später im damaligen Judentum isoliert da. Jesus formuliert die Goldene Regel nach Matth 7,12 so: »Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten.« Obwohl diese Formulierung Nächstenliebe nicht ad verbum einschließt, so ist dennoch kaum etwas anderes damit gemeint! Auch Rabbi Aqiba (135 n. Chr.) sah in der Nächstenliebe das Zentrum der Thora (Str–B I: 357), verstand aber den Nächsten primär als Volksgenossen. Der erste Rabbi, der explizit den Nächsten unter Berufung auf Gen 5,1 als Menschen allgemein meinte, war Ben Azzai (um 110 n. Chr.). Die Ausdehnung des Begriffes »Nächster« auf jedes menschliche Geschöpf Gottes könnte einseitig im Sinn einer allgemeinen, unverbindlichen Philanthropie ausgelegt werden. Doch dem widerspricht die Erzählung vom barmherzigen Samaritaner: Es geht nicht um eine allgemeine Schwärmerei der Menschenliebe, sondern um die konkrete Hilfe für den, der sie jetzt und heute braucht. Das Gebot der Nächstenliebe nimmt die Selbstliebe zum Maßstab für das Verhalten zu anderen, setzt also einen psychisch intakten Menschen voraus, der es nicht verlernt hat, sich selber ganz und gar anzunehmen. Die Formulierung von Lev 19,18, die seit der Septuaginta mit »wie dich selbst« wiedergegeben wird, hat noch einen weiteren Aspekt: im biblischen wie im späteren rabbinischen Hebräisch bedeutet es in einem solchen Kontext auch: »wie du«532, so daß die Übersetzung: »Liebe deinen Nächsten, er ist wie du« ebenso ihre Berechtigung hat, zumal Jesus aramäisch gesprochen hat und er wohl wie der Targum zu Lev 19,18 »wie du/ dich« verwendet haben wird. D. h. das Liebesgebot findet seine Begründung darin: jeder Mensch ist als Mensch seinem Nächsten gleich; Gleichheit der Menschen nicht im Sinne einer die Individualität verwischenden Gleichmacherei oder einer Chancengleichheit, wie die moderne Parole lautet, sondern auf Grund seines von Gott geschenkten Menschseins. Das Menschsein ist das Verbindende unter den individuell existierenden Menschen (vgl. Sir 28,3–5), und dieses Verbindende muß durch das Verhalten der Liebe zueinander geprägt sein. Beide Aspekte: »wie dich selbst« und »er ist wie du« haben ihre Berechtigung und sind von der hebräischen und aramäischen Sprache her möglich. Nur die griechische Wiedergabe legt sich auf den einen Aspekt »wie dich selbst« fest.

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Jesus radikalisiert das Gebot der Nächstenliebe: »Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde.« (Matth 5,44 vgl. Luk 6,27f). Kaum ein Satz, der in der Menschheitsgeschichte gesprochen wurde, hat mehr Widerstand als dieser erfahren und wurde auch in der Geschichte des Christentums nur partiell eingeholt. Schon die Thora gebietet dem Israeliten in Ex 23,4–5, seinem Feind in einer Notlage zu helfen. Die Rabbinen haben in der Auslegung dieser Stelle viel Gutes und Brauchbares zu sagen gewußt (Str–B I: 368–370). Wenn Jesus daher Matth 5,43 sagt: »Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.«, klingt der Satz über den Feindeshaß befremdlich. Für die Rabbinen galt der Haß als etwas Verwerfliches, wenngleich das praktische Leben wie in jeder anderen Kultur, auch im christlichen Milieu, Haß kannte und praktizierte (Str–B I: 368–370). Das Grundgesetz, von Qumran 1QS 1,1ff gebietet jedoch ausdrücklich, die Feinde zu hassen und es scheint daher, daß Jesus den Sektierern von Qumran hier widerspricht. Dennoch erweisen sich aber gerade die Qumranleute und sonstige essenische Gruppen als diejenigen, die in ihrer Lebenspraxis der Forderung, die Feinde zu lieben, am nächsten gekommen sind. Man muß daher bei den Essenern zwischen der Ideologie des Hassens der Feinde Gottes, die sie theoretisch nicht aufgegeben haben, und ihrer Lebensführung unterscheiden. Erst im endgültigen Sieg Gottes über die Frevler am Ende der Zeit wird alles Übel ausgeschaltet und besiegt. In dieser Weltzeit geht es aber darum, sich den bösen Mächten der Welt unterzuordnen. So heißt es daher ebenso im Grundgesetz von Qumran IQS X 17–18: »Keinem will ich Böses mit Bösem vergelten, ich will einen Mann nur verfolgen um des Guten willen; denn bei Gott ist das Gericht über alles, was lebt [...].« Das Böse soll also durch Gutes tun, überwunden werden. Dasselbe hat auch Jesus gelehrt: »Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand.« (Matth 5,39). In den »Testamenten der 12 Patriarchen«, die am ehesten im essenischen Milieu beheimatet sind, wird dieses Thema, dem Bösen nicht zu widerstehen, weiter variiert. So heißt es im »Testament Benjamins« 4,2–3; 5,1; 6,5–7: »Der gute Mensch hat kein finsteres Auge; denn er hat Erbarmen mit allen, auch wenn sie Sünder sind, ja auch wenn sie über ihn beratschlagen zum Bösen. So besiegt der, welcher Böses tut, den Bösen [...]. Wenn ihr eine gute Gesinnung habt, Kinder, so werden auch die schlechten Menschen mit euch Frieden haben, und die Schwelger werden euch scheuen und zum Guten umkehren, und die Habsüchtigen werden nicht nur von der Leidenschaft abstehen, sondern auch den Bedrückten den Gewinn zurückgeben [...]. Die gute Gesinnung hat nicht zwei Zungen, des Segens und des Fluchs, der Schande und der Ehre, der Trauer und der Freude, der Ruhe und der Unruhe, der Heuchelei und der Wahrheit, der Armut und des Reichtums, sondern sie hat nur einen lauteren Gemütszustand hinsichtlich aller. Sie hat kein doppeltes Gesicht und Gehör [...].« Rabbi Ḥanina, der kurz nach Jesus gelebt hat, sagte: »Ein Wort, an dem die ganze Welt hängt, ein großer Schwur vom Berg Sinai: Wenn du deinen Nächsten hassest, dessen Taten ja böse sind wie die deinigen, Ich, der Herr, werde dich als Richter bestrafen;

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und wenn du deinen Nächsten liebst, dessen Taten ja gut sind wie die deinen, Ich, der Herr, treu werde ich sein und mich deiner erbarmen.« Dieser Satz ist von Jesu Gebot der Feindesliebe nicht mehr weit. Jesus begründet seine Forderung der Feindesliebe mit Gottes Verhalten dem Menschen gegenüber (Matth 5,45). In der Feindesliebe springt der Mensch gleichsam über seinen eigenen Schatten und verhält sich ähnlich wie Gott, so liebevoll und so vollkommen (vgl. Lev 19,2). »Das Gebot der Feindesliebe ist so sehr Jesu Eigentum, daß wir es im Neuen Testament nur aus seinem Munde hören; sonst lesen wir nur, daß man sich gegenseitig lieben und seine Verfolger segnen soll. Es war offenbar damals für niemanden leicht, sich auf die Höhe der Forderung Jesu aufzuschwingen.«533 Wenn also Jesus die zeitgenössische Moral radikal überhöht, ja mit einer durchschnittlichen Sittlichkeit gebrochen hat, dann betrifft es das von ihm verlangte Gebot der Feindesliebe. Seine Umwertung aller menschlichen Wertvorstellungen findet hier sein markantestes Beispiel. Diese Umwertung ist nur verstehbar angesichts einer anderen und neuen Wirklichkeit, die durch seine Person in diese Welt gekommen ist: die endgültige Herrschaft Gottes. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Matth 20,1–16) illustriert diese Umwertung erschreckend und exzellent: Der Gutsbesitzer sucht Arbeiter für seinen Weinberg. Zu früher Stunde stellt er Arbeiter ein und vereinbart mit ihnen den guten Lohn von einem Denar für einen Tag Arbeit. Um neun, zwölf, fünfzehn und siebzehn Uhr stellt er erneut Arbeiter ein. Zu Feierabend wird jedem ein Denar ausbezahlt, was diejenigen protestieren läßt, die den ganzen Tag gearbeitet haben. Der Gutsherr pocht aber auf seine Vereinbarung mit den Leuten und besteht darauf, mit seinem Eigentum zu verfahren, wie er es für gut hält. Jeder, der dieses Gleichnis liest, empfindet das Handeln des Gutsherrn (Gottes) als ungerecht, weil der Mensch eben Gottes Gerechtigkeit nach seiner eigenen beurteilt. Aber gerade dieses menschliche Gerechtigkeitsempfinden will dieses Gleichnis grundsätzlich in Frage stellen. Es geht gar nicht um die Frage, gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu bezahlen. Man könnte hier durchaus einwenden, Jesus habe die Gerechtigkeit Gottes gegenüber der Gerechtigkeit des Menschen an einem denkbar ungünstigen Exempel erläutert, das nun alle Faulen ermunterte, wenig zu arbeiten und viel zu kassieren oder das dem Unternehmer vorschreibt, einem, der pro Tag nur eine Stunde arbeitet, genauso viel zu bezahlen wie dem, der sich 10 Stunden abrackert. Wir kennen nicht die Hintergründe, warum Jesus gerade dieses Beispiel gewählt hat, Faulheit etc. wollte er damit jedoch keineswegs unterstützen, vermutlich aber ausdrücken, daß jedes menschliche Bemühen Gottes Gerechtigkeit nicht beeinflussen kann! »Die Vorstellung Jesu von der Gerechtigkeit Gottes ist also sozusagen inkommensurabel für die Vernunft: man kann sie zwar nicht messen, aber man kann sie begreifen und verstehen. Sie führt zu der

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Predigt vom Reich, in dem die Letzten Erste und die Ersten Letzte sein werden. Sie führt auch von der Bergpredigt zu Golgatha, wo der Gerechte den Tod des Verbrechers sterben wird. Sie ist zutiefst sittlich und gleichzeitig jenseits von Gut und Böse. Aus dieser [...] Sicht ist alles ‚Wichtige‘, die üblichen Tugenden und die zusammengebastelte Persönlichkeit, die irdische Würde und das stolze Pochen auf das formelle Erfüllen des Gesetzes brüchig und nichtig. Sokrates machte die intellektuelle und Jesus die moralische Seite der Person fraglich. Beide wurden hingerichtet. Ist das ein Zufall?«534 Von der Predigt der Gottes-, Nächsten-, ja Feindesliebe, ist jede weitere Aussage Jesu zu sittlichem Verhalten nicht zu trennen. Wie sehr Jesus dabei der Heiligen Schrift und den Überlieferungen seines Volkes treu geblieben ist, zeigten bereits die vorherigen Ausführungen. Aber auch dort, wo er von der Liebe, der Mitte der Thora ausgeht, verkündet er kein neues ethisches System, sondern versucht eine Verwesentlichung des Gesetzes, ein Wegkommen von gängigen, bisweilen bequemen Auslegungen, hin zu Höhen jüdischen Gesetzesverständnisses, wie es die Propheten Israels bereits vorweggenommen und seit Ben Sira aufgebrochen war. So hält denn auch Matth 5,17–18 fest: »Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Wahrlich, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht ein Jota und ein Strichlein des Gesetzes vergehen [...].« Im Großen und Ganzen äußert sich Jesus zu allen sittlichen Problemen, die auch im Dekalog (Ex 20,2–17; Dtn 5,6–22) angesprochen sind. Das erste Gebot, das bereits im 7. Jh. v. Chr. einen relativen Monotheismus verlangt , d. h. die Souveränität JHWHs über alle anderen Götter als die Norm ansieht, ist natürlich für den historischen Jesus eine solche Selbstverständlichkeit wie für alle gläubigen Juden damals, daß es darüber keiner Diskussion bedarf. Das Gebot, Gott mit seiner ganzen Person zu lieben, »löst« hier gleichsam das erste Gebot des Dekaloges ab. Über das zweite Gebot, den Namen JHWHs nicht zu mißbrauchen, hat sich der historische Jesus nicht geäußert, zumal es für einen Juden dieser Zeit selbstverständlich war, Gottes Namen nicht einmal auszusprechen. Schon in spätnachexilischer Zeit ist die Nennung des Gottesnamens JHWH verpönt und der blasphemische Gebrauch unter Todesstrafe verboten (Lev 24,16), wobei in der Interpretation der Septuaginta von Lev 24,16 schon die Nennung des Namens selber als Blasphemie gilt. Der JHWH-Name darf nur mehr beim Priestersegen und vom Hohenpriester am Versöhnungstag ausgesprochen werden (mJoma VI 2; mSanhedrin VII 5; mSota VII 6). Anstatt des Tetragramms JHWH las man Adonai (mein Herr) oder šem (der Name). Aber bereits zur Zeit Jesu wurde schon »Adonai« durch šemajim (Himmel) ersetzt. Selbst das Appelativum »Elohim« (Gott) wurde vermieden bzw. verändert.535

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Vom dritten Gebot, der Sabbatheiligung, war schon verschiedentlich die Rede, so daß hier nur grundsätzlich festgehalten zu werden braucht, daß der historische Jesus den Sabbat heilig gehalten, nie verletzt und letztlich sowie die großen Rabbinen dafür gehalten hat, daß der Sabbat für den Menschen da ist und nicht umgekehrt. Die »Sabbatverletzungen«, von denen das Johannesevangelium berichtet, sind nicht als solche zu werten; denn der dem Vater wesensgleiche Sohn ist der Herr über den Sabbat! Zum vierten Gebot, der Elternliebe, finden sich verschiedene Äußerungen Jesu. Matth 15,4–6 (vgl. Mk 7,10–13) zitiert Jesus das vierte Gebot in Kurzfassung und dazu Ex 21,17 (Lev 20,9): »Wer Vater oder Mutter verflucht, soll mit dem Tod bestraft werden.« Der Anlaß, der diese Diskussion auslöst, ist höchst unbedeutend, nämlich der Vorwurf der Schriftgelehrten und Pharisäer an Jesus, daß seine Jünger vor dem Essen nicht die rituelle Reinigung der Hände vollziehen. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß bereits zur Zeit Jesu, die rituelle Waschung der Hände vor der Mahlzeit als »Überlieferung der Alten« im späteren rabbinischen Sinn galt.536 In pharisäischen Kreisen mag das damals vielleicht schon üblich gewesen sein, aber wie Mk 7,8 präzisiert, handelt es sich um eine Überlieferung von Menschen und nicht um eine Vorschrift Gottes. Jesus kontert gegen diesen Vorwurf pharisäischer Gruppen massiv: sie waschen sich zwar vor dem Essen die Hände, erklären jedoch das vierte Gebot Gottes für nichtig, indem sie es durch eine juristische Spitzfindigkeit gegebenenfalls außer Kraft setzen: »Ihr aber lehrt: Wer zu Vater oder Mutter sagt: Was ich dir schulde, erkläre ich zur Opfergabe, der braucht seinen Vater oder seine Mutter nicht mehr zu ehren. Damit habt ihr Gottes Wort um eurer Überlieferung willen außer Kraft gesetzt.« (Vv 5–6). So unwahrscheinlich es erscheinen mag; diese von Jesus aufs Schärfste kritisierte Praxis hat es gegeben, und zwar noch schlimmer als dies der matthäische Text vermuten läßt. Es ging nicht darum, daß jemand den Eltern das Vermögen entzogen hat und dem Tempel als Opfer gab, sondern darum, daß der Sohn das Gelübde machte, daß alles, was die Eltern von ihm zu erwarten hätten, für sie wie eine Opfergabe an den Tempel sein sollte, wobei die Gelöbnisformel lautete: »Wie eine Opfergabe (Korban; vgl. Mk 7,11) sei, was du von mir erwartest.« (Str–B I: 711). Der Sohn brauchte das den Eltern in ihrem Alter Zustehende gar nicht an den Tempel abzuliefern und hatte trotzdem ihnen gegenüber keine Verpflichtung mehr. Aus der Mischna (mBaba Qamma IX 10; mNedarim IX 1) wird deutlich, daß es diesen unvorstellbaren Mißbrauch tatsächlich gegeben hat, zumal die tannaitischen Gelehrten keine Zweifel lassen, daß ein solch abgelegtes Gelübde eine Verletzung des vierten Gebotes und damit die Mißachtung eines Gottesgebotes ist. »Die Mischna ist mithin ein vollgültiger Beweis für die Berechtigung der Anklage in Mt 15,6: »Ihr habt das Gesetz Gottes um eurer Überlieferung willen außer Gültigkeit gesetzt.« (Str–B I 716f). Jesus prangert also wie ein Rabbi Sadoq (um 60 n. Chr. ) oder ein Rabbi Eliezer (um 90 n. Chr.) diesen Mißbrauch an. Es zeigt

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sich daher an diesem Beispiel, daß für Jesus das Gebot der Elternliebe und der Sorge für die Eltern uneingeschränkte Geltung hat. Wie selbstverständlich das für Jesus ist, zeigt auch die Erzählung von dem Reichen, der zu Jesus kommt und fragt, was er zu tun habe, um das Leben zu erlangen: In der Antwort Jesu ist neben anderen Geboten des Dekalogs auch das vierte Gebot genannt (Matth 20,19). Es ist nun untauglich dagegen anzuführen, daß Jesus selbst zu seiner Mutter ein problematisches Verhältnis hatte, weil sie seine Berufung und Sendung nicht verstanden hat. Meinungsverschiedenheiten – auch wenn es um entscheidende Fragen geht – zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern gibt es nicht nur heute, sondern hat es auch damals gegeben. Solche sind kein Verstoß. Es sollte aber vor allem nicht vergessen werden, daß der am Kreuz sterbende Jesus seine Mutter dem Lieblingsjünger anvertraut (Joh 19,26–27). Unabhängig aller darin enthaltenen Symbolik sorgt der Sohn für seine Mutter und erfüllt sterbend das vierte Gebot Gottes! Auf den ersten Blick scheinen Stellen wie Matth 10,35, daß er gekommen sei, den Sohn mit seinem Vater zu entzweien usw. oder 10,37: »Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig [...]«, dem zu widersprechen. Wie bei allen charismatischen Menschen und Propheten finden sich auch bei Jesus widersprüchliche Aussagen. In diesem Zusammenhang sind es aber nicht direkte Widersprüche; denn diese Stellen im Kontext von Matth 10,16–39, näherhin von 34–39 zeigen, daß sich an der Person des Messias Jesus die Geister bis in die Familien hinein scheiden und daß der Gehorsam und die Liebe zum Gottgesandten größer sein muß als die Liebe zu den Eltern. Hier unterscheidet sich die jesuanische Auffassung von der jüdischen dadurch, daß Jesus diese größere Liebe auch für sich beansprucht, während das Judentum sie nur Gott zugesteht.537 Diese Ansicht ist in Matth 8,21f (vgl. Luk 9,60) bis ins Unerträgliche gesteigert. Ein Schüler der Schriftgelehrten möchte zwar Jesus folgen, aber zuerst seinen toten Vater begraben. Jesus gab ihm darauf zur Antwort: »Folge mir nach, laß die Toten ihre Toten begraben.« Die Bestattung eines Toten hatte nach allgemeiner Auffassung absoluten Vorrang (Str–B I: 487–489). Das Wort kann daher kaum in buchstäblichem Sinn gemeint sein. Der Schüler könnte auch durchaus provozierend gefragt haben; denn was sollte er hier, wenn sein Vater gerade gestorben wäre? Wenn aber sein Vater nicht gestorben ist, was sollte dann die unehrliche Bitte an Jesus? Er bekommt auf das dumme Ansinnen eine passende Antwort. Möglicherweise ist sinngemäß zu übersetzen: »Laß die geistlich Toten ihre leiblich Toten begraben«, was den Schüler des Schriftgelehrten bereits vorweg als geistlich Toten charakterisierte. Das ließe sich vorstellen, zumal sich die Situation in einem völlig anderen Zusammenhang abgespielt haben mag, als die, die der Evangelist nun festhält. Jetzt geht es darum, maßlos übertrieben zu zeigen, daß gegenüber der Nachfolge Jesu alles andere zurückzustehen hat.

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Als Fazit kann festgehalten werden, daß die Ethik der Herrschaft Gottes keineswegs das Gebot der Elternliebe aufhebt, sie jedoch in Grenzfällen ihrer radikalen Verwirklichung unterordnet. Gegenüber der jüdischen Auffassung ist eine deutliche Akzentverschiebung zu sehen: die größere Liebe, die Gott für sich beansprucht, beansprucht Jesus. Der Anspruch wäre blasphemisch, wenn Jesus sich nicht als der göttliche Sohn verstanden hätte. Matth 5,21–26538 faßt einige Sprüche Jesu über das Töten und über die Versöhnung zusammen: Es gilt das Gebot Gottes, nicht zu töten. Jeder, der einen Menschen getötet hat, gehört vor Gericht. Die Bibel sieht für einen Mörder die Todesstrafe vor (Gen 9,6; Ex 21,12; Lev 24,17.21; Num 35,16ff). Jesus verlangt diese nicht, sondern fordert in Übereinstimmung mit der pharisäischen Auffassung zuerst ein Gerichtsverfahren. Jüdische Gerichtshöfe, die aus 23 Mitgliedern bestanden, gab es in allen größeren Städten und sie waren für die Fälle zuständig, die in ihrem Territorium passierten. Inwieweit in der Tetrarchie Galiläa diese Gerichtshöfe auch Todesurteile fällen und exekutieren konnten, ist ungewiß. Daß sie solche ausgesprochen haben können, ist vielleicht möglich, hatte aber keinen Sinn, da die Vollstreckung des Urteils kaum durchführbar war.539 Strafen, die sie sinnvollerweise verhängen konnten, waren die Verbannung und die Einkerkerung. Der Tetrarch Herodes Antipas wird vermutlich in Anlehnung an die römische Präfektur Judäa, wo die Kapitalgerichtsbarkeit ausschließlich dem Präfekten unterstand, diese ebenso allein für sich beansprucht haben. Aus diesem Grund scheint es praktisch unmöglich gewesen zu sein, daß ein jüdischer Gerichtshof der Zeit Jesu je ein Todesurteil gefällt hatte. Selbst der Hohe Rat in Jerusalem hatte zu der Zeit nicht diese Befugnis. Nach mSanhedrin I 5 wurden vor dem Hohen Rat noch dazu nur Kapitalprozesse gegen falsche Propheten oder gegen einen Hohenpriester selber geführt. Grundsätzlich muß gesagt werden, daß jüdische Gerichte pharisäisch-rabbinischer Provenienz auch in der Zeit, wo sie das Recht für Kapitalprozesse hatten, kaum Todesurteile gefällt haben. mMakkoth I 10 heißt es: »Ein Gerichtshof, der in sieben Jahren einen Menschen hinrichten läßt, wird ein Verderben bringender genannt. Rabbi Eleasar ben Azarja (um 100 n. Chr.) sagte: einen Menschen in siebzig Jahren. Rabbi Ṣarphon (um 110 n. Chr.) und Rabbi Aqiba (+ um 135 n. Chr.) sagten: Wenn wir im Gerichtshof gewesen wären, so würde niemals ein Mensch hingerichtet worden sein.« Aus all dem kann mit gutem Grund erschlossen werden, daß Jesus für einen Mörder zwar das ordentliche Gerichtsverfahren postulierte, aber mit dem Wissen, daß es für einen jüdischen Gerichtshof seiner Zeit praktisch unmöglich war, ein selbst ausgesprochenes Todesurteil zu exekutieren.540 Ohne nun explizit die Liebe zum Bruder, zum Nächsten, zu nennen, verschärft Jesus das Gebot nicht zu töten: wer in (seinem Inneren) seinem Nächsten zürnt, d. h. ihn in seinen Gedanken, in seiner Phantasie tötet, der gehört bereits vor das

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ordentliche Gericht wie ein realer Mörder. Dem entspricht Jesu Auffassung, daß das Böse aus dem Herzen des Menschen kommt und ihn unrein, sündig macht und daß es dazu nicht erst der realen Ausführung der Sünde bedarf. Wer seinen Nächsten als Dummkopf und Hohlkopf qualifiziert, soll ein Fall für den Hohen Rat, also für das höchste jüdische Gericht sein! Wer aber seinen Nächsten als gottlos bezeichnet, d. h. seine menschliche Integrität durch ein Schimpfwort ruiniert, der sei von Gott verdammt. Diese Verschärfung des 5. Gebotes war nicht nur das ureigene Denken Jesu, sondern hat auch seine Parallelen in der rabbinischen Literatur. Am bemerkenswertesten ist der Ausspruch der Imma Schalom, einer Schwester Rabban Gamaliels II. Dieser Ausspruch wird als Überlieferung aus dem Haus ihres Großvaters Rabban Gamaliels I., also kurz nach Jesus, berichtet: »Sind auch alle Tore verschlossen, doch nicht die Tore der Kränkung.« (bBaba Metzia 59b), d. h. die Kränkung und Bedrückung des Nächsten wird von Gott direkt gesehen und bestraft. Am deutlichsten kommt die Verschärfung in dem Satz zum Ausdruck: »Wer das Angesicht seines Nächsten öffentlich beschämt, der hat keinen Anteil an der zukünftigen Welt.« (Str–B I 281; ebd. 276–282). Diese rigorose Haltung Jesu und der Rabbinen wäre dann erschreckend, wenn nicht die Möglichkeit der echten Versöhnung mit dem Nächsten gegeben wäre. »Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dabei einfällt, daß dein Bruder etwas gegen dich hat, so laß deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe.« (Matth 5,23f). Der Versöhnung mit Gott muß die Versöhnung mit dem Nächsten vorausgehen. Diese Versöhnung ist für den Gläubigen eine Pflicht. (Str–B I: 284–288). Also auch in dieser Verwesentlichung des 5. Gebotes lehrt Jesus nicht ein zum Judentum seiner Zeit unterschiedliches Verständnis. Er steht auch hier mitten in den Traditionen seines Volkes und betont diese besonders, um die Menschen von einem oberflächlichen Halten des Gebotes hin zu einer tiefen Ethik zu führen, die der Herrschaft Gottes gerecht werden kann. Das 6. Gebot: »Du sollst nicht die Ehe brechen!« wird ebenso verwesentlicht: »Ich sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen.« (Matth 5,27f). Das 6. Gebot dient dem Schutz der Ehe und wurde sehr ernst genommen. Die Rabbinen haben es aus praktischen Gründen einmal unter dem Gesichtspunkt des Strafrechtes gesehen. Bei Ehebruch eines Mannes oder einer Frau wurde in der Praxis oft zu Ungunsten der Frau entschieden,541 und der Mann vielfach als schuldlos angesehen. Das heißt aber nicht, daß er im sittlichen Sinn als schuldlos galt (Str–B I: 297f). Unabhängig von der notwendigen Perspektive des Strafrechtes gab es jedoch eine Jesus ähnliche Auffassung. Resch Laqisch (um 250 n. Chr.) sagte: »Du sollst

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nicht sagen, daß nur der, welcher mit dem Leibe die Ehe bricht, ein Ehebrecher genannt wird; auch der, welcher mit seinen Augen die Ehe bricht, wird ein Ehebrecher genannt.« (Str–B I: 299). Unmittelbar auf das 6. Gebot und seine Verschärfung läßt Matthäus die Aussage über die Ehescheidung folgen (5,31–32): »Ferner ist gesagt worden: Wer seine Frau aus der Ehe entläßt, muß ihr eine Scheidungsurkunde geben. Ich aber sage euch: Wer seine Frau entläßt, obwohl kein Fall von Unzucht vorliegt, liefert sie dem Ehebruch aus; und wer eine Frau heiratet, die aus der Ehe entlassen worden ist, begeht Ehebruch.« Nach dieser Stelle zu schließen, hat Jesus die die Frau benachteiligende Ehescheidungspraxis für nichtig erklärt. Nach Durchsicht der entsprechenden Stellen (Str–B I: 312–320) kann gesagt werden, daß im 1. und 2. Jh. n. Chr. der Mann sich praktisch aus beliebigen Gründen legal durch die Aushändigung des Scheidebriefes von seiner Frau trennen konnte. D. h. daß die Bestimmung Dtn 24,1: »Wenn ein Mann eine Frau heiratet und die Ehe mit ihr vollzieht, und wenn sie dann keine Gnade in seinen Augen findet, weil er an ihr etwas Schandbares gefunden hat, und er ihr einen Scheidebrief schreibt, ihn ihr übergibt und sie aus seinem Haus fortschickt [...]« oft zum Nachteil der Frau und überaus leichtfertig ausgelegt wurde.542 Falls die sogenannte Unzuchtsklausel von Jesus selber stammt, dann hätte er nur Unzucht im Sinne des Ehebruchs als legalen Scheidungsgrund anerkannt. Es ist jedoch zu bezweifeln, ob diese Einschränkung auf den historischen Jesus zurückgeht,543 zumal Mk 10,2–12 (vgl. Luk 16,18) die Einschränkung nicht kennt! Es handelt sich vielmehr um eine spätere Konzession, denn Jesu Haltung zur Ehescheidung wird aus Matth 19,3–12 eindeutig erkennbar: »Da kamen Pharisäer zu ihm, die ihm eine Falle stellen wollten, und fragten: Darf man seine Frau aus jedem beliebigen Grund aus der Ehe entlassen? Er antwortete: Habt ihr nicht gelesen, daß der Schöpfer die Menschen am Anfang als Mann und Frau geschaffen hat: Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden, und die zwei werden ein Fleisch sein? Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen. Da sagten sie zu ihm: Wozu hat dann Mose vorgeschrieben, daß man (der Frau) eine Scheidungsurkunde geben muß, wenn man sich trennen will? Er antwortete: Nur weil ihr so hartherzig seid, hat Mose euch erlaubt, eure Frauen aus der Ehe zu entlassen. Am Anfang war das nicht so. Ich sage euch: Wer seine Frau entläßt, obwohl kein Fall von Unzucht vorliegt, und eine andere heiratet, der begeht Ehebruch. Da sagten die Jünger zu ihm: Wenn das die Stellung des Mannes in der Ehe ist, dann ist es nicht gut zu heiraten. Jesus sagte zu ihnen: Nicht alle können dieses Wort erfassen, sondern nur die, denen es gegeben ist. Denn es ist so: Manche sind von Geburt an zur Ehe unfähig, manche sind von den Menschen dazu gemacht, und manche haben sich selbst dazu gemacht – um des Himmelreiches willen. Wer das erfassen kann, der erfasse es.« Jesus setzt eine Stelle der Thora, Dtn 24,1, durch eine andere Stelle der Thora, Gen 1,27 und 2,24, außer Kraft. Einem solchen hermeneutischen Vorgehen

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Der prophetische Lehrer und Herr über die Thora

haben sich die tannaitischen Gelehrten widersetzt, wie bereits in der Einleitung gesagt wurde. Jesus lehrt daher, daß die grundlegenden Aussagen über Wesen und Bestimmung des Menschen von Gen 1–2 gegenüber anderen Gesetzen der Thora Vorrang haben müssen. Dieser Rückgriff Jesu auf die priesterliche und jahwistische Schöpfungsgeschichte bedarf der Erklärung. Nach dem priesterlichen Schöpfungshymnus, der in der Zeit des Babylonischen Exils (589–538 v. Chr.) entstanden ist, ist ein wesentliches Charakteristikum des Menschen, daß er als Mann und als Frau, als ein gleichwertiges Gemeinschaftswesen existiert und es Menschlichkeit zuerst nur in diesem gemeinschaftlichen Sinn geben kann.544 Spitz, aber richtig hat der Babylonische Talmud (bJebamot 62b) diese Stelle kommentiert: »Ein Unverheirateter ist nicht ein Mensch im Vollsinn des Wortes, denn es heißt: Er schuf sie männlich und weiblich, segnete sie und nannte ihre Namen Mensch.« Die Frau ist daher nicht bloß wie in der mesopotamischen Tradition für den Mann eine Hilfe, daß er zur Gesellschaft der Männer hinfindet, also ein Durchgangsstadium, sondern die gleichwertige Partnerin.545 In Bezugnahme auf den jahwistischen Vers 24 des 2. Kapitels der Genesis, der aus dem 10. Jh. v. Chr. stammt, sieht Jesus die gegenseitige Anziehungskraft der Geschlechter und die eheliche Verbindung als gottgewollt. Diese Anziehungskraft ist stärker als die Bindung an die eigenen Eltern. Jesus folgert, daß das, was Gott verbunden hat, vom Menschen nicht zu trennen ist. Diese Folgerung ist entscheidend sowohl im indikativischen ersten Teil als auch im imperativischen zweiten Teil. »Was Gott verbunden hat«, d. h. wer diese göttliche Bestimmung des Menschen akzeptiert, für den hat der Imperativ »soll der Mensch nicht trennen« einen Sinn. Jesus setzt also bei seiner Sicht der ehelichen Gemeinschaft und warum diese von Menschen nicht zu trennen ist, diese gottgewollte menschliche Bestimmung voraus. Wer diese ablehnt, für den verliert natürlich der Imperativ seine Bedeutung. Das ist die Situation, vor der heute die christlichen Kirchen stehen. Jesus konnte jedoch davon ausgehen, daß für seine Zuhörer diese göttliche Bestimmung des Menschen einleuchtend war und akzeptiert wurde, auch wenn der Imperativ selbst für seine Jünger eine harte Nuß war, so daß sie es besser hielten, unter solchen Bedingungen überhaupt nicht zu heiraten (V 10).546 Es braucht nicht eigens betont zu werden, wie schwer sich schon die frühen Christen mit dieser Norm Jesu getan haben, so daß selbst ein Ehescheidungsgrund (Unzucht/Ehebruch) an zwei Stellen in das Matthäusevangelium (5,32 und 19,9) Eingang gefunden hat. Dies sollte vielleicht doch auch heute Vertretern der strengen jesuanischen Auffassung zu denken geben, noch dazu in einem postchristlichen Milieu, in dem zwar immer noch kirchlich geheiratet wird, aber von einer Akzeptanz der göttlichen Bestimmung des Menschen im Sinne von Gen 1–2 eher nur mehr selten die Rede sein kann.

Das Gesetz der Herrschaft Gottes – Die menschliche Haltung

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Klare Worte findet Jesus auch über das Schwören. »Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst keinen Meineid schwören, und: Du sollst halten, was du dem Herrn geschworen hast: Ich aber sage euch: Schwört überhaupt nicht, weder beim Himmel, denn er ist Gottes Thron, noch bei der Erde, denn sie ist der Schemel für seine Füße, noch bei Jerusalem, denn es ist die Stadt des großen Königs. Auch bei deinem Haupt sollst du nicht schwören; denn du kannst kein einziges Haar weiß oder schwarz machen. Euer Ja sein ein Ja, euer Nein sei ein Nein; alles andere stammt vom Bösen.« (Matth 5,33–37). Jesus zitiert Lev 19,12 über das Verbot des Meineides etc. und verbietet grundsätzlich jeden Schwur (Str–B I: 328). Dann greift er einige Schwurarten seiner Zeit heraus, um dieses Verbot zu bekräftigen, weil es dabei einen argen Mißbrauch (Matth 23,16–33) gegeben hat. So verbietet z. B. auch die Mischna (mŠebuot IV 13) das Schwören beim Himmel und der Erde, weil dieser Schwur keine Geltung hatte und man andere durch einen solch ungültigen Schwur täuschen konnte. Leistete man einen Schwur nur beim Himmel, so war dieser dagegen gültig. Speziell einfache Menschen, die von solchen Unterscheidungen keine Ahnung hatten, konnten hier eine leichte Beute der »Informierten« werden. Jesus will aber offensichtlich nicht nur solche Mißbräuche abschaffen, sondern stellt den Schwur grundsätzlich in Frage. Dieses jesuanische Gebot gibt fast wörtlich auch Jak 5,12 wieder und zeigt, wie ernst die Jerusalemer Urgemeinde dieses Wort Jesu genommen hat.547 Jesu Ethik ist nicht von dieser Welt, aber für eine Welt, in der sich die Dynamis göttlicher Herrschaft entfaltet. Seine Ethik ist zwar im Großen und Ganzen die der Bibel und der großen zeitgenössischen Heiligen und Gelehrten seines Volkes, setzt jedoch in ihrer Kompromißlosigkeit, sei es den Parias der damaligen Gesellschaft gegenüber, sei es in der Radikalisierung des Liebesgebotes einen uneinholbaren Akzent, der jedoch der dauernden Aktualisierung derer bedarf, die in seine Nachfolge getreten sind.

VI. Jesus und die zukünftige Welt Aus dem vorhergehenden Kapitel ist deutlich geworden, daß Jesus als ein charismatischer Lehrer und Prophet handelte und redete, der seinen Machtanspruch aus seiner unmittelbaren Gottesnähe herleitete,548 aber noch mehr: der sich, da göttlicher Sohn, als der neue Mose und Herr über die Thora verstanden hat. Die Weltsicht der Apokalyptik, daß diese Welt bald von einer neuen, von Gott geschaffenen abgelöst wird, überwindet Jesu Lehre von der Herrschaft Gottes, die in seiner Person gegenwärtig ist, sich entfaltend die Welt durchdringt und dennoch eine künftige Größe ist. Die Weite des durch die Apokalyptik erahnten Gottesbildes, das auch durch weisheitliche Traditionen Israels geprägt ist (Dan 2,20–23; Jubliläen 5,13; Henoch 81,1f; 1QM 1, 10), den monotheistischen Glauben von der nationalen Einengung löste und Gott als den Herrn der universalen Geschichte und des gesamten Kosmos begriffen hat (Dan 8–12; Syrische Baruchapokalypse 48,2–10),549 findet in Jesu Lehre großen Widerhall. Gott ist trotzdem kein Gott der Ferne, sondern ein Du, mit dem der Mensch in dauernder Zwiesprache stehen kann. »Gepriesen seist du Gott der Barmherzigkeit und der Huld entsprechend deiner großen Kraft und der Fülle deiner Wahrheit und dem Reichtum deiner Gnade an all deinen Werken. [...] und in meinem Kummer hast du mich getröstet; denn ich habe mich auf dein Erbarmen gestützt: Gepriesen seist du.« (1QH 11,29). Von der apokalyptischen Weltsicht teilt Jesus nur die Auffassung, daß diese Welt einmal zu einem Ende kommen wird. Wann das sein wird, weiß ausschließlich Gott. »Doch jenen Tag und jene Stunde kennt niemand, auch nicht die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn,550 sondern nur der Vater.« (Mk 13,32; vgl. Matth 24,36). Für den historischen Jesus ist JHWH der Einzige Gott, der Allwissende und unendlich Gute, der die Geschichte des Menschen und des Kosmos bestimmende und führende Herr, der Schöpfergott, in dessen Souveränität es liegt, das Ende zu wissen und festzusetzen. Die von den Synoptikern tradierte Rede über die Endzeit (Mk 13,1–37; Matth 24,1–24,46; Luk 21,5–36) ist kaum als ein Stück zu verstehen, das in seiner Komposition auf den historischen Jesus zurückgeht. Ähnlich wie bei der matthäischen Bergpredigt oder der lukanischen Feldrede handelt es sich um eine Zusammenstellung von Jesusworten, die von den Evangelisten interpretiert wurden. Im Wesentlichen decken sich die Quellen, die Markus (13,1–37), Matthäus (24,1–41) und Lukas (21,5–36) je eigenständig und unabhängig voneinander verarbeitet haben.551 Matthäus fügt dem vier thematisch passende Gleichnisse an: vom wachsamen Hausherrn (24,43–44), vom treuen und schlechten Knecht (24,45–51), von den zehn Jungfrauen (25,1–13) und vom anvertrauten Geld

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(25,14–30). Die Rede über das Weltgericht (Matth 25,31–46) ist ein matthäisches Sondergut. Der gemeinsame Nenner aller dieser Texte ist das Motiv der anbrechenden Endzeit, der verschiedene Themata zugeordnet werden: die Voraussage der Tempelzerstörung, Worte über die damit zusammenhängenden Geschehnisse, das Kommen des Menschensohnes und Mahnungen bezüglich des Endes. Von der Perspektive der Evangelisten ist der vorher zitierte Satz, daß die Zeit des Endes dieser Welt ausschließlich der Vater kennt, wichtig. Es wird jeder Berechnung des Endes der Boden entzogen. Ich bin überzeugt, daß der historische Jesus selber diese Position vertreten hat und sich damit entsprechend seiner Verkündigung der Gottesherrschaft radikal von allen akut apokalyptischen Bewegungen abgesetzt hat. Die verschiedenen Texte, die die Synoptiker zu dieser Thematik zusammengestellt haben, sind daher von diesem Blickwinkel aus zu sehen. Schauen wir auf einzelne Texte: Das vielfach überlieferte Jesus-Wort von der Tempelzerstörung (Mk 13,1–2; Matth 241f; Luk 21,5f u. a.) ist historisch. Bereits das Einleitungskapitel versuchte zu zeigen, daß der Tempel die Verkörperung der jüdischen Religiosität schlechthin darstellte, wenn auch die einzelnen Gruppierungen den Tempel unterschiedlich beurteilten. Für die Masse des gläubigen Volkes damals, die sich keiner der führenden Religionsparteien zugehörig fühlte, war das Heiligtum unangefochten die Mitte ihres religiösen Denkens. Sowohl für die Frommen und Gläubigen der Religionsparteien, als auch für die anderen war es erschütternd, mitansehen zu müssen, daß das Heiligtum der Profanierung ausgesetzt, ein Spielball in den Händen weniger einflußreicher Priesterfamilien und nicht zuletzt der römischen Präfekten war. Jesu Kritik richtete sich aber nicht gegen das Heiligtum selbst und er erwartete kaum wie die QumranEssener eine Ablösung dieses Tempels durch ein neues, endzeitliches Heiligtum, sondern lehnte den Mißbrauch des Tempels ab (vgl. Mk 11,15–17; Matth 21,12f; Luk 19,45–48; Joh 2,13–16). Dies scheint vorerst widersprüchlich zu klingen: Wenn die Zerstörung des Tempels vorausgesagt wird, so zeigt sich darin doch eine grundsätzliche Kritik? Um diesen scheinbaren Widerspruch auflösen zu können, ist es notwendig, Jesu Gottesvorstellung unter dem Aspekt des Vaterbegriffes in aller Kürze zu erläutern. Im spätnachexilischen Verständnis von Dtn 32,8f (vgl. Ps 82) ist JHWH mit dem Höchsten Gott gleichgesetzt, der das Erbe an die Söhne Israels verteilt.552 Als Metapher wurde die Vatervorstellung auf den Gott Israels schon sehr früh übertragen, aber wohl erst in der Spätzeit wurde die Metapher so purgiert, daß JHWH nicht mehr als bevollmächtigter Pater familias der zu Gottessöhnen degradierten Götter, sondern ausschließlich der Söhne Israels erschien. Die väterlichen Aspekte wie Liebe, Erwählung, Autorität, Erbarmen, Schutz etc. spielen

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dabei eine wichtige Rolle; dennoch ist aber dieses Bild ganz wesentlich von »der Gemeinschaft des Familienvaters inmitten seiner Söhne und Erben, die mit ihm zusammen am Familienbesitz teilhaben«, juristisch bestimmt. So zeigt auch die Durchsicht einiger Bildreden und Bildworte (Mk 12,1–12; Matth 21,33–46; Luk 20,9–19; Matth 21,28–32; Luk 15,11–32; Matth 7,9–11; Luk 11,11–13; Mk 7,27f; Matth 15,26f), daß die Väter ihre Söhne lieben, für sie sorgen, ihre Autorität anwenden und daß sie ihren Besitz an die Söhne vererben. »Weil diese Väter in den Gleichnissen für Gott stehen, werden alle diese Züge aus der Bildseite der Gleichniserzählungen bedeutungsvoll für Jesu Vaterbild Gottes, das zur Sachhälfte der Gleichnisse gehört.«553 Jesu Verständnis von Gott als Vater ist daher primär von den beiden Grundbegriffen der väterlichen Liebe und der erbrechtlichen Autorität bestimmt. So greift denn auch der »Sohn« als der Erbe ein, um das Heiligtum vor der Profanierung zu schützen: »[...] macht aus dem Haus meines Vaters kein Kaufhaus.« (Joh 2,16). Der historische Jesus war kein absoluter Gegner des Jerusalemer Heiligtums. Er bekämpfte jedoch den Mißbrauch des Tempels. Wenn nun Jesus ganz grundsätzlich von der Zerstörung des Heiligtums spricht, dann liegt die Wurzel dafür darin, daß seine Gottesvorstellung die mit dem Heiligtum verbundene transzendierte. Joh 4,23–24 formuliert es klar: »Aber die Stunde kommt, und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn so will der Vater angebetet werden. Gott ist Geist, und alle, die ihn anbeten, müssen im Geist und in der Wahrheit anbeten.« Nur jemand, der eine solch geläuterte Gottesvorstellung intellektuell und emotional vollzogen hatte, konnte auch davon reden, daß es diesen herrlichen Tempel einmal nicht mehr geben werde. Jesus stand mit dieser Meinung aber keineswegs alleine da. Die pharisäisch– frührabbinische Schriftgelehrsamkeit vertrat im Wesentlichen das gleiche Gottesbild. Die Pharisäer, die natürlich auch den Tempel schätzten, hatten die innere Weite erreicht, um trotz dessen Verlustes im Jahre 70 n. Chr. Religion und Volk in eine neue Ära zu führen. Etwa zur selben Zeit, als Jesus lehrte, hatte der pharisäische Schriftgelehrte Rabbi Jochanan ben Zakkai ein ähnliches Tempelzerstörungswort gesprochen: »O Tempel, weshalb ängstigst du dich? Ich weiß, daß du zerstört werden wirst.« (bJoma 39b). In der um die Zeitenwende oder noch früher endredigierten Assumptio Mosis heißt es 6,8: »In ihr Gebiet werden Kohorten einfallen und des Abendlands mächtiger König, der sie erobern wird. [...] einen Teil ihres Tempels wird er mit Feuer verbrennen und einige um ihre Ansiedlung herum kreuzigen.« Josephus (JosBell VI 300–309.315) berichtet von einem gewissen Jesus, Sohn des Ananus, der ab dem Jahr 62 n. Chr. unaufhörlich die Vernichtung Jerusalems und des Tempels verkündete und der, als die Römer Jerusalem schon belagerten, vom Stein einer Wurfmaschine getroffen, sein Klagegeschrei wiederholend, verstorben ist.

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Sowohl den pharisäischen Gelehrten als auch Jesus von Nazareth war bewußt, daß die Existenz der jüdischen Religion nicht untrennbar mit der Existenz des Heiligtums zusammenhängt. Es kann nicht der geringste Zweifel bestehen, daß der historische Jesus das Wort der Tempelzerstörung gesprochen hat. Die Synoptiker verzahnen nun das Tempelzerstörungswort Jesu mit Ereignissen, die dem Ende dieser Weltzeit vorausgehen (Mk 13,4–13; Matth 24,3–14; Luk 21,7–19): regionale Kriege, Kriege globalen Ausmaßes, Katastrophen kosmischer Größe, Seuchen, Verfolgung der Jünger Jesu, Glaubensabfall, Auftreten falscher Messiasse u. a. Es ist ein apokalyptisches Repertoire, das letztlich nicht die Zeit vor dem Ende beschreibt, sondern den Ist-Zustand dieser Welt.554 Und wenn es Matth 24,14 heißt: »[...] und dann wird kommen das Ende«, will nur gesagt werden, daß hinter allem Leid und aller Sünde einmal ein Schlußstrich gezogen werden wird, aber nicht wann das Ende kommen wird! Die dem folgenden Verse der Synoptiker (Mk 12,14–23; Matth 24,15–28; Luk 21,20–24) berichten vom Leid über Jerusalem, greifen damit indirekt auf das Tempelzerstörungswort zurück und lassen es wahrscheinlich erscheinen, daß die frühen Christen das Kommen Jesu zu einem innerweltlichen Strafgericht über Jerusalem erwarteten (Matth 19,23; Apg 6,14), das mit dem Ende der Welt überhaupt nichts zu tun hat. Markus und Matthäus spielen auf die Krise des Jahres 40 n. Chr. an, als der römische Kaiser Caligula (37–41 n. Chr.) im Jerusalemer Heiligtum eine Statue von sich als Jupiter aufstellen lassen wollte (Philo, ad Gaium 188; JosBell II 185ff; JosAnt XVIII 261ff). Der Wahnsinnsbefehl wurde nicht ausgeführt, da der kaiserliche Legat Syriens Petronius den Befehl sabotierte. Der Schrecken, daß ein solcher Befehl überhaupt möglich war, mußte in jüdischen und zu dieser Zeit auch noch judenchristlichen Kreisen sehr groß gewesen sein und rief wohl Erinnerungen an die seleukidische Unterdrückung wach (1 Makk 1,54). Der Zweck, daß Markus und Matthäus so eindringlich darauf hinweisen: »der Lesende begreife« (Mk 13,14; Matth 24,15), konnte nur sein, ihren Lesern einzuschärfen, daß sich ein Teil der prophetischen Ansage Jesu über Jerusalem als mahnendes Zeichen der noch kommenden Ereignisse bereits erfüllt hatte. Lukas übergeht diesen Hinweis auf die Caligulakrise und bringt nur die Voraussage Jesu, daß ein fürchterliches Strafgericht über Jerusalem kommen wird, das in 21,23f noch schärfer akzentuiert ist als bei Markus und Matthäus. Dafür verzahnen diese das Strafgericht über Jerusalem mit den Geschehnissen am Ende dieser Weltzeit. Matthäus vergleicht die Parusie des Menschensohnes mit einem Blitz, der von Osten bis Westen den Himmel erleuchtet. Matthäus verwendet das griechische Nomen »Parusia« (Gegenwart, Anwesenheit, Ankunft).555 Das einmal in der menschlichen Geschichte gesetzte Faktum der Menschwerdung des Gottessohnes ist durch seine Verherrlichung bereits endgültige Realität, endgültige Anwesenheit (Parusie!). Das Kommen Jesu (Leuchten wie der Blitz) ist die öffentliche Bekanntmachung seiner Ankunft (Parusie!) am Ende der Tage.

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Warum wurden aber ein kommendes Strafgericht über Jerusalem und das Ende dieser Weltzeit verzahnt? Völlig ausgeschlossen werden muß die Annahme, daß man beide Ereignisse gleichzeitig erwartete; denn dadurch wäre ja ein zeitlicher Fixpunkt für das Ende vorhanden, dessen Vorhersage aber kategorisch abgelehnt wird und dessen Zeitpunkt ja nur der Vater kennt. Ich vermute, daß diese Verkettung deswegen geschaffen wurde, um Jesu ungeheuerliche Prophezeiung vom Ende Jerusalems und des Heiligtums zu entschärfen, war doch das Heiligtum für alle Frommen Israels wie für die frühe Jesusbewegung nicht nur ein von Menschenhand erbauter Tempel, sondern das Realsymbol, das Mysterium, das Sakrament der irdischen Anwesenheit Gottes. Das Ende ist gekennzeichnet durch das endgültige Kommen des Menschensohnes (Mk 13,24–27; Matth 24,29–31; Luk 21,25–28; vgl. Dan 7,13f), das Markus und Matthäus mit dem Bild vom Aussenden der Engel und Sammeln der Auserwählten charakterisieren (Sach 6,1–8; Henoch 61,1–5). Lukas dagegen vermeidet eine bildhafte Sprache und gibt dem Leser zu erkennen, daß die Erlösung und das Loskaufen von Sünde und Endlichkeit durch Gott/Christus erfolgt. Mk 13,30–32 (Matth 24,34f–36; Luk 21,32f) bringen dann die entscheidenden Sätze: »Wahrlich ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis das alles geschieht. Der Himmel und die Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen. Aber über jenen Tag und jene Stunde weiß niemand, auch nicht die Engel im Himmel, auch nicht der Sohn, nur der Vater.« Da nur der Vater den Zeitpunkt des Endes kennt, ist damit jeder Spekulation der Boden entzogen. Wenn es unmittelbar davor heißt »dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis das alles geschieht«, ist diese Aussage im jüdischen Kontext völlig klar. Die griechische Formulierung »dieses Geschlecht« entspricht exakt der hebräischen Bezeichnung, die durch den Artikel und das nachfolgende Demonstrativpronomen doppelt determiniert ist, wie es in der jüdischen Literatur dann verwendet wird, wenn in einem umfassenden Sinn alle Geschlechter dieser Weltzeit, die früheren, die gegenwärtigen und die zukünftigen bezeichnet werden!556 Das Jesuswort meint daher diese Generation und dieses Zeitalter als eine dauernde, gegenwärtige Größe, die nicht bloß die jetzige Generation, sondern alle Generationen umfaßt. Die gesamte gegenwärtige Welt wird erst zu der Stunde von einer neuen kommenden Welt abgelöst, die nur der Vater kennt. In diesem Aön, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, vollzieht und entfaltet sich die mit Jesu Person angebrochene Herrschaft Gottes. Sie ist ganz Gegenwart und zugleich ganz Zukunft. Jesus und seine Interpreten hegten daher keine akute Naherwartung, sondern vertraten eine präsentische Eschatologie, die für Gottes geschichtliches und kosmisches Walten völlig offen ist. Gegen diese Sicht können nicht andere Jesusworte angeführt werden. Matth 10,23 heißt es: »Wenn sie euch in dieser Stadt verfolgen, flieht in die nächste! Denn wahrlich ich sage euch: Ihr werdet nicht zu Ende kommen mit den Städten Israels, bis

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der Menschensohn kommt.« An die tröstende Vorhersage Jesu für die Jünger, daß es auch ihnen nicht gelingen wird, ganz Israel zu gewinnen, schließt das Wort vom Kommen des Menschensohnes. Dieses ist jedoch nicht eindeutig. Es kann sich – nach alttestamentlichem Vorbild vom Kommen Gottes – um ein Kommen zu einem innerweltlichen Strafgericht, als auch um das Kommen zum endgültigen Gericht am Ende dieser Weltzeit handeln. Nimmt man den letzten Fall an, dann wäre von Israel als bleibender, heilsgeschichtlicher Größe innerhalb dieser Weltzeit, also auch während der christlichen Ära die Rede (vgl. Röm 11,25–32). Das Verharren Israels im Sinaibund ist Mysterium Gottes, wie der Apostel Paulus sagt, ein Muß der Heilsgeschichte bis zum Ende der Tage. Wann dieses Ende sein wird, sagt das Jesuswort nicht. Es hält nur fest, daß die Heilsgeschichte des Volkes Abrahams und des Volkes Jesu in der Barmherzigkeit Gottes ihr endgültiges Ziel finden wird. Falls man aber den Temporalsatz »bis der Menschensohn kommt« nicht auf das Ende der Welt beziehen will, dann könnte es ein verhülltes Wort Jesu über die Zerstörung Jerusalems sein, das der Evangelist so versteht, daß Jesus zu diesem Strafgericht über Jerusalem kommen wird (Apg 6,14). Ein zweites, oft mißverstandenes Jesuswort zitiert Matthäus 16,28: »Wahrlich ich sage euch: Es sind einige der hier Stehenden, welche den Tod nicht kosten werden, bis sie den Menschensohn mit seinem Reich kommend sehen.« Der Zusammenhang, in den Matthäus diesen Vers stellt, scheint jedoch »unpassend« (V 28), weil V 27 vom Endgericht die Rede ist. V 28 ist auch matthäisches Eigengut und dürfte aus einem anderen Zusammenhang stammen, wie der Neueinsatz »Wahrlich ich sage euch [...] « zeigt. Eine Deutung, daß konkrete Personen um Jesus das Ende noch erleben werden, ist auszuschließen, da die grundlegende Aussage, daß nur der Vater das Ende kennt, dadurch sinnlos wäre. Jesus hat sich aber während des Verhörs durch den Hohenpriester Kaiaphas im religiösen Sinn als der endgültige Messias bekannt (Mk 14,6f; Matth 16,63f), einen Anspruch, den der Hohepriester als »Gotteslästerung« bezeichnet, weil er wußte, daß diese Messiasproklamation Jesu seine eigene Ablösung und die der gesamten Tempelhierarchie bedeutete. Matth 16,28 dürfte von dieser Verhörszene beeinflußt sein und wird daher meinen, daß Jesus bei seinem Kommen zu einem innerweltlichen Strafgericht über Jerusalem die Tempelhierarchie endgültig ablösen wird. In diesem Sinn ist dieses »Jesuswort« als eine matthäische Interpretation einer Weissagung Jesu der Katastrophe vom Jahre 70 n. Chr. zu werten. Die dann noch lebenden Jünger werden diese als Strafgericht deuten. Es läßt sich festhalten, daß Jesus selber wie die erste Generation der Christen keine akut apokalyptische Naherwartung des Weltendes hegten. Sie lehrten jedoch eine präsentische Eschatologie: die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfassende Herrschaft Gottes fokussiert in Jesu Person.

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Noch klarer als die Synoptiker erteilt der Apostel Johannes jeder akuten Naherwartung eine Absage. Kurz gesagt: Der Messias Jesus ist bereits gekommen und als der verherrlichte Herr endgültig gegenwärtig. In seinem Prolog (Joh 1,1–18) legt Johannes grundsätzlich dar, daß Jesus das Mensch gewordene Wort des Vaters ist, das nicht nur unter den Menschen gewohnt hat, sondern dessen Herrlichkeit auch die Seinen geschaut haben (vgl. 1 Joh 1,2–3). Gott ist »Liebe« (1 Joh 4,8.16) und Gottes Liebe zeigt sich im Kommen des Sohnes. Der Nichtglaubende richtet sich durch seinen Unglauben selber (Joh 3,18; 12,31). Das Gericht ereignet sich auch nicht – menschlich gesprochen – am Ende der Tage, sondern im eschatologischen Jetzt. Johannes meidet alle apokalyptischen Bilder und hat erkannt, daß sich auf Gott der menschliche Zeitbegriff nicht anwenden läßt. Bei ihm gibt es keine Vergangenheit und keine Zukunft, sondern nur die ewige Dauer, Gegenwart. Im Christusereignis ist für Johannes auch die menschliche Zeit, Vergangenheit und Zukunft, überhöht und es existiert nur mehr die göttliche Dauer, hineingenommen in die menschliche Geschichte. Daher vollzieht sich im Jetzt der Heilsgeschichte die Entscheidung, das Gericht, das Satan entmachtet und das der Mensch an sich selber vollzieht. Die Rede vom Jüngsten Tag am Ende der Welt ist nur mehr ein Bild, das der menschlich-zeitlichen Dimension gerecht zu werden sucht, die es für Gott nicht gibt und durch die Menschwerdung des Gottessohnes auch für diese Welt bereits relativiert ist. Natürlich muß auch Johannes in menschlicher Sprache denken und reden und hält daher auch fest, daß die Toten am Jüngsten Tag von Jesus auferweckt werden usw., daß am Ende der Antichrist kommt (Joh 6,40; 11,24; 1 Joh 2,18), versucht aber ebenso, diese menschliche Sprache zu relativieren: »Es kommt die Stunde, und sie ist jetzt da, wo die Toten die Stimme des Sohnes Gottes hören; und die sie hören, werden leben.« (Joh 5,25). Gegenwart und Zukunft, Gegenwart und Ende der Zeiten fallen im Christusereignis zusammen. Jesus wird am »Ende der Zeiten« kommen. Diese menschliche Redeweise ist auch für Johannes eine quasi notwendige, weil menschliches Denken nicht in der Kategorie des göttlichen funktioniert. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß Johannes dieses Kommen Jesu auch im Sinne der Synoptiker als Offenbarwerden seiner dauernden Gegenwart verstanden hat. »Geliebte, jetzt schon sind wir Kinder Gottes. Und noch ist nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen, daß wir, wenn er sich offenbart, ihm ähnlich sein werden, weil wir ihn schauen werden, wie er ist.« (1 Joh 3,2). Es sei abschließend betont, daß Johannes keineswegs das Jüngste Gericht leugnet, auch wenn er die bildhaft-apokalyptische Redeweise vom Jüngsten Gericht des Apostels Matthäus (25,31–46) dafür nicht in Anspruch nimmt. Er sieht nur viel klarer, daß es zwar beim Menschen und seiner Redeweise, nicht aber bei Gott, eine zeitliche Abfolge von Ereignissen geben kann.557

VII. Abba – Vater Es war zuvor bereits notwendig, über die Vater-Metapher zu reden, die die Hebräische Bibel lange vorgezeichnet hat, so daß sich sowohl der Einzelne als auch das Volk als Sohn des himmlischen Vaters verstehen konnten.558 In dem Kapitel über die Kindheitserzählungen ist für Jesus oft der Titel »Sohn Gottes« begegnet. Dieser unterscheidet sich ganz wesentlich von der allgemeinen Aussage, daß sich jeder gläubige Jude damals als Sohn Gottes verstehen konnte. Die erste christliche Generation deutet in den Kindheitserzählungen Jesus als den göttlichen Sohn Gottes, geht also unendlich weit und für das Judentum unannehmbar über eine allgemeine, metaphorische Aussage »Sohn Gottes« hinaus. Die Quellen legen es nahe, daß sich der historische Jesus als »Sohn Gottes« bezeichnet und so verhalten hat, wie z. B. die oben zitierte Tempelreinigung oder die lukanische Erzählung vom Zwölfjährigen im Tempel zeigen. Von anderen ist Jesus ebenso angesprochen worden. Diese anderen sind aber für gewöhnlich keine Menschen, sondern z. B. die Dämonen, die sich durch Jesu Exorzismen gefährdet fühlten. Da es auf Grund der Sachlage erforderlich ist, die Dämonen als zu Satan gehörig zu verstehen, bedeutet diese Anrede aus ihrem Mund, daß sie um die Göttlichkeit des Sohnes wissen. Auch diese Anrede Jesu durch den Satan selber in Matth 4,3 zeigt, daß der Evangelist der Meinung war, der Satan hätte um Jesu Gottessohnschaft im Sinne der Gottgleichheit gewußt; denn in V 7 kann sich »du sollst nicht versuchen den Herrn, deinen Gott« aus dem Munde Jesu nicht allein auf den Vater beziehen, sondern auch auf Jesus. Bei der Taufe und der Verklärung Jesu redet die Himmelsstimme Jesus als »Sohn« an. Das erste Szenarium wurde bereits früher behandelt und hat gezeigt, daß Jesus bei der historisch bestens bezeugten Taufe durch Johannes mit Hilfe der damaligen Stilmittel als der von Gott geliebte Sohn proklamiert wird. Wie die rabbinischen Parallelen zeigen, bedeutet dies vom jüdischen Hintergrund nicht mehr als das göttliche Zugeständnis an einen Menschen, Heiligen, Propheten, Gott besonders nahe zu sein. Es ist jedoch letztlich nicht mehr als das bereits durch die Schöpfungsordnung bestimmte Wesen des Menschen, daß der Mensch nach Gottes Bild geschaffen ist (Gen 1,27), d. h. er steht mehr als andere Geschöpfe zu Gott in einer besonderen Nähe (vgl. Ps 8). Die Gottesnähe Jesu wird als eine besondere und absolute beschrieben. Matth 3,16–17 und Luk 3,21–22 stellen dabei deutlich eine Beziehung zur Kindheitsgeschichte her (Matth 1,18 und Luk 1,35); für Matthäus und Lukas ist der nun als »geliebter Sohn« proklamierte Jesus der vom Heiligen Geist gezeugte Sohn Gottes. Damit ist das jüdische Verständnis längst überschritten. Das andere Szenarium ist die Verklärung Jesu (Mk 9,2–10; Matth 17,1–19; Luk 9,28–36). Die vertraute Trias Petrus, Jakobus und Johannes wird auf dem Berg

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Zeuge von Jesu Verklärung. Der Prophet Elija und Mose erscheinen und reden mit Jesus. Nach der etwas deplazierten Aussage des Petrus ertönt aus der Wolke die Stimme: »Dies ist mein geliebter Sohn; auf ihn sollt ihr hören« (Mk 9,7). Nach dieser Vision verbietet Jesus den Dreien, darüber zu reden, bis er von den Toten auferstanden ist. Sie haben sich an dieses Verbot auch gehalten. Erst 2 Petr 1,18 wird Petrus darauf ausdrücklich Bezug nehmen: »Diese Stimme, die vom Himmel kam, haben wir gehört, als wir mit ihm auf dem heiligen Berg waren.«559 Die meisten Exegeten verstehen die Verklärungsgeschichte als eine Art Reflex des Auferstehungsglaubens, was hieße, daß es sie historisch nie gab und sie daher Petrus, Jakobus und Johannes nicht miterlebten. Schon der berühmte Historiker E. Meyer ist dieser Auffassung massiv entgegen getreten und sah eine solche als Zugeständnis an einen längst überholten Rationalismus.560 Es ist durchaus davon auszugehen, daß Petrus als Augenzeuge des Geschehens seine Wahrnehmungen korrekt wiedergegeben hat, denn die religiös-mythisch geprägte Welt, in der er lebte, brauchte solche Visionen nicht zu erfinden, weil sie der damaligen anthropologischen Voraussetzung entsprachen. Jesus wird von der Himmelsstimme als »geliebter Sohn« bezeichnet, auf den sie hören sollen. Mit Mose und Elija, den großen prophetischen Gestalten der Hebräischen Bibel steht Jesus nicht auf einer Stufe; denn die Stimme von oben präzisiert die alte Verheißung auf Jesu Person: »Einen Propheten aus deiner Mitte, aus deinen Brüdern wird dir der Herr dein Gott erwecken, auf ihn hört!« (Dtn 18,15). Der Sohnestitel im ursprünglichen Kontext der Vision ist daher genau umschrieben: Jesus ist der endgültige Prophet, den Mose verkündigt hatte. Für jüdische Ohren ist auch ein Anklang an Gen 22,2 zu hören, wo Gott zu Abraham sprach: »Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, Isaak, geh in das Land Morija, und bring ihn dort auf einem der Berge als Brandopfer dar.« Markus und Matthäus verwenden die gleiche Terminologie wie die Septuaginta in Gen 22,2, während Lukas »der Erwählte« schreibt. Der Anklang an die Genesisstelle zeigt, daß auf das künftige Martyrium Jesu hingewiesen wird. Lukas unterstreicht dies förmlich dadurch, daß er schreibt, Mose und Elija haben mit Jesus über sein Ende in Jerusalem gesprochen (Luk 9,31). Durch die Vision wird Petrus, Jakobus und Johannes von Gott deutlich gemacht, daß Jesus der vorausverkündete, endgültige Prophet ist, der zwar leiden wird, der aber in einer unüberbietbaren Nähe zum Vater steht. Die Synoptiker berichten so, wie sie die Verklärungsszene damals verstanden haben; die Ungeheuerlichkeit, daß der Sohn mit dem Vater wesensgleich ist, konnten sie nur von ihrem biblisch-jüdischen Horizont her ausdrücken und noch nicht so klar wie Johannes (Joh 5,19–26 u. a.) sehen. Petrus hat aber bereits nach Mk 8,29 auf Jesu Frage, für wen sie ihn halten, geantwortet: »Du bist der Messias« und nach Matth 16,16 »Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes«. Das läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, weil Petrus durchaus bewußt sein konnte, daß der

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Messias als Sohn Davids auch Sohn Gottes ist. Wäre die Antwort des Petrus nur aus dem jüdischen Kontext allein zu verstehen, was hätte Jesu feierliche Antwort dann für einen Sinn? »Selig bist du Simon, Sohn des Jonas; denn nicht Fleisch und Blut hat dir das geoffenbart, sondern mein Vater, der im Himmel ist.« (Matth 16,17). Die Basis ist zu schmal, all das durch die österliche Erkenntnis erklären zu wollen. Es sei nicht in Abrede gestellt, daß die Apostel durch ihre Erfahrung mit dem Auferstandenen viel klarer gesehen haben, aber ihr konkretes Leben mit dem historischen Jesus führte sie bereits an die Grenze ihres biblisch-jüdischen Verstehenshorizontes. Selbst der Hohepriester Joseph ben Kaiaphas ist mit seiner Frage an Jesus: »Bist du der Messias, der Sohn des Hochgelobten« (Mk 14,61) an diese Grenze gegangen. Zweifellos hat sich der historische Jesus für den göttlichen Sohn Gottes gehalten. Sein Anspruch, wie ihn die Evangelien darstellen, wäre sonst der eines Wahnsinnigen. Denn was sollen Aussagen, wie »ich bin das Licht der Welt«, »ich bin die Auferstehung und das Leben«, »ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben« u. a.? Der bedeutendste Ausleger des Johannesevangeliums im 20. Jh., R. Schnackenburg, hat den Nagel auf den Kopf getroffen, daß »Jesus gekommen ist, damit die Menschen das Leben haben und es in Fülle haben (10,10). Er gibt nur die eine Gabe des Lebens, und er kann sie geben, weil in ihm das Gottesleben in ursprünglicher und unerschöpflicher Fülle anwesend [...] «561 ist. Ist das eine österliche Erkenntnis? Nein! Es ist bereits die Erfahrung der Jünger mit dem realen, historischen Jesus, die diese Erfahrung, geschärft durch ihren Osterglauben, einige Jahre später niedergeschrieben haben. Natürlich war der historische Jesus mit Titeln wie Messias und Sohn Gottes sehr zurückhaltend und gebot seinen Jüngern, darüber zu schweigen (Matth 16,20; 17,9). Es genügt vorerst, daß sein engster Kreis darum wußte. Jesus gibt offensichtlich dem geheimnisvollen Titel »Menschensohn« den Vorzug. Eigenartigerweise spielte dieser Ausdruck in der christlichen Glaubensgeschichte aber keine große Rolle. Die Theologen der frühen Kirchen sehen darin einfach den Menschen Jesus. So schreibt denn Eusebius von Cäsarea in seiner Kirchengeschichte I 2,26: »Diese Prophezeiung (Dan 7,13f) kann man offenbar auf niemand anderen beziehen als auf unseren Erlöser, welcher am Anfang bei Gott war als Gott und Logos und welcher wegen seiner schließlichen Menschwerdung Menschensohn genannt wird.«562 Die neutestamentliche Forschung der letzten hundert Jahre dagegen hat viel Mühe aufgewendet, um zu differenzierten Aussagen zu kommen. Doch ein Blick in die großen wissenschaftlichen Lexika zeigt eher ein Wirrwarr an Meinungen und wenig Konsens.563 Der alttestamentlich-hebräische Sprachgebrauch von »ben adam« ist wenig problematisch. Er bezeichnet in der Regel den einzelnen Menschen, allerdings in

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der gehobenen, nicht in der Alltagssprache. Im Buch Ezechiel wird der Prophet z. B. 93 mal von Gott so angeredet. In der aramäischen Sprache, in der das Wort »adam« fehlt, wird »bar enoš« verwendet. Es unterscheidet sich vom hebräischen Sprachgebrauch nicht. Dabei muß allerdings festgehalten werden, daß sowohl im Hebräischen als auch im Aramäischen die determinierte Form nicht mit »Mensch«, sondern mit »Menschensohn« wiedergegeben werden muß.564 In Dan 7,13f ist nun dieser »bar enoš« genannt: »[...] Da kam mit den Wolken des Himmels einer wie ein Mensch. Er gelangte bis zu dem Hochbetagten und wurde vor ihn geführt. Ihm wurden Herrschaft, Würde und Königtum gegeben. Alle Völker, Nationen und Sprachen müssen ihm dienen. Seine Herrschaft ist eine ewige, unvergängliche Herrschaft. Sein Reich geht niemals unter.« Es ist angenommen worden, daß diese Verse nicht zum Grundbestand von Dan 7 gehören, sondern eine sekundäre Bearbeitung darstellen, die den »wie einen Menschen« zum Volk der Heiligen, zum gläubigen Israel, in eine Beziehung bringt. Er repräsentiert daher das Reich des Gottesvolkes Israel. Die durch das »wie« vage scheinende Formulierung ist typischer apokalyptischer Stil (vgl. Dan 7,4.5.6).565 Mit »bar enoš« ist daher niemand anderer als ein Mensch gemeint, der von Gott als dessen Statthalter über das gläubige Israel walten soll. In einem solchen Sinn hat jedenfalls Jesus die Stelle verstanden, wenngleich die ursprüngliche Bedeutung wohl kollektiv zu sehen sein wird: der Mensch = Israel, das von Gott die endgültige Herrschaft empfängt. Das Neue Testament gibt in wörtlicher Übersetzung den determinierten aramäischen Ausdruck wieder. Da aber Jesu Verkündigung auf aramäisch geschah, ist wohl bei jedem einzelnen Vorkommen des Ausdrucks rückzufragen, ob sach– und sinngemäß nur mit »Mensch«, mit »des Menschen Sohn« oder vielleicht mit »ich« (so jBerachot I 5) zu übersetzen ist. G. Dalman betonte schon vor über 100 Jahren mit Recht: »Eine Auskunft über den Sinn der Bezeichnung giebt Jesus nirgends.«566 Auch Jesus selber hätte darüber keine genaue Auskunft geben können, da solche »Titel« einfach nicht genau definiert waren. Matth 8,20 (vgl. Luk 9,58): » [...] Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; des Menschen Sohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann«, meint Jesus eindeutig sich selber und man kann daher übersetzen: » [...] ich habe keinen Ort, wo ich mein Haupt hinlegen kann.« Mk 8,31 (vgl. Matth 16,21 und Luk 9,22): » ... des Menschen Sohn müsse vieles erleiden [...] «, kann auch nur in einem solchen Sinn verstanden werden. In der vorher besprochenen Rede über die Endzeit ist Matth 24,30 und 25,31 der Ausdruck »des Menschen Sohn« begegnet. Hier ist es einleuchtend, daß man nicht einfach mit »Mensch« übersetzen kann. Aus dem neutestamentlichen Kontext steht zweifelsfrei fest, daß sich hier Jesus selber meint; denn Paulus zitiert

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1 Thess 4,15f dieses Jesuswort, verwendet jedoch nicht wie die Synoptiker »des Menschen Sohn«, sondern »der Herr«. Auf die Frage des Hohenpriesters »Bist du der Messias, der Sohn des Hochgelobten« (Mk 14,61f), bejaht Jesus die Frage indirekt. Dabei zitiert er Dan 7,13 und Ps 110,1. D. h. aber, daß Jesus die kollektiv verstandene Deutung von Dan 7,13 auf sich anwendet: Er ist der Repräsentant des wahren, gläubigen Israel, dem Gott alles untertan gemacht hat, auch die, die nun über ihn zu Gericht sitzen. Man mißverstünde diese Stelle völlig, wollte man sie so deuten, als rede der historische Jesus von einem anderen, der mit den Wolken des Himmels etc. kommen werde. Die der Apokalyptik entlehnten Bilder sollen als solche genommen werden. Sie sind Symbole der göttlichen Vollmacht, die Gott verliehen hat. Jesus zeigt mit dieser Bildsprache der Hebräischen Bibel dem Hohenpriester, daß er selber es ist, den Gott mit dieser Vollmacht ausgestattet hat, und der nun leibhaftig hier als Angeklagter steht, und nicht, daß er oder ein anderer einmal als dieser Bevollmächtigte Gottes kommen werde. Natürlich ist der jetzt Angeklagte auch der künftige Richter. Nicht zuletzt zitiert Jesus Ps 110, der in Vers 4 auf den legendären Priesterkönig Melchisedech des vordavidischen Jerusalem Bezug nimmt. Der Qumrantext 11Q 13 sieht in Melchisedech den endzeitlichen Weltenrichter, dem der Bote und Messias vorausgeht, der im Auftrag Gottes das Ende ankündigen soll. Diese Denkrichtung, daß Melchisedech der endzeitliche Weltenrichter sein wird, scheint Jesus bekannt gewesen zu sein und wendet sie ebenfalls auf sich an, trennt sie jedoch nicht wie der essenische Text von der Messiasvorstellung, sondern kombiniert sie: Er, der endgültige Messias, ist auch der endzeitliche Richter der Welt. So geheimnisvoll der Titel »Menschensohn« auch sein mag, so war er doch gut geeignet, daß Jesu Umwelt ihn nicht automatisch mit der messianischen Idee verbunden dachte. Erst gegen Ende seines Lebens vor dem Hohenpriester interpretiert Jesus den danielischen Begriff messianisch – wie später Rabbi Akiba (b Sanhedrin 38b) – , indem er diesen aber auf sich – ausschließlich und eschatologisch – bezieht.567 Seit Jahrzehnten ist es für die christliche Theologie fast selbstverständlich geworden, in der jesuanischen Vateranrede Gottes das Wesentliche, das Kernstück seines Gottesglaubens zu sehen. Daß in dieser Anrede die ipsissima vox Jesu zu hören ist, ist zweifellos richtig. Doch wenn man diese ureigenste Stimme Jesu im Sinne einer Exklusivität verstünde, wäre es eine Mißachtung der anderen zeitgenössischen Quellen. So bezeichnet Jubiläen 1,25 Gott ausdrücklich als »unseren Vater«. Aus der frühen rabbinischen Zeit sei Gamaliel II, (um 100 n. Chr.) zitiert: »Seit die geliebten Kinder ihren himmlischen Vater erzürnten, setzte er über sie einen gottlosen König.«568 mRosch ha-Schana III 8 spricht vom Herz der Israeliten, das sie auf »ihren himmlischen Vater« richten. Im »Achtzehngebet«, das um 110

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n. Chr. formuliert wurde und die Überlieferung über Rabbi Akiba weit in die vorchristliche Zeit zurückführt, heißt es in der fünften und sechsten Bitte: »unser Vater, unser König«. Die Targumim sind zwar etwas zurückhaltender, wenn es um die aramäische Übersetzung von Stellen geht, in denen Israel Gott seinen Vater nennt und präzisieren, wie z. B. der Targum Jeruschalmi II zu Dtn 32,6: » [...] ist er nicht dein Vater [...] « mit »ist er nicht euer Vater im Himmel«, während aber der Targum Onkelos wörtlich übersetzt »dein Vater«, und so die »Distanz« (Himmel) zwischen Mensch und Gott nicht für notwendig hält.569 Die wenigen, hier exemplarisch angeführten Belege zeigen doch mit aller Klarheit, daß Jesu Zeitgenossen die Anrede Gottes als Vater vertraut war und er selber inmitten dieser Denkweise stand, wenn er Gott so bezeichnete. Die griechisch geschriebenen Evangelien verwenden die entsprechenden Bezeichnungen »mein, dein, unser Vater, der Vater«, und nur in Mk 14,36 ist das aramäische Nomen ʾabbāʾ (Vater) erhalten geblieben (Röm 8,15; Gal 4,6). Da Jesu Muttersprache aramäisch war, wenngleich er sich der hebräischen Sakralsprache ebenso bedient hat, ist praktisch zu folgern, daß überall dort, wo die Evangelien das griechische Nomen für Vater verwenden, an das aramäische Abba zu denken ist. Dieses determinierte Nomen ʾabbāʾ kann »der Vater, mein Vater, sein Vater, unser Vater« meinen. In seiner Muttersprache hatte also Jesus wie seine Zeitgenossen gar kein anderes Wort zur Verfügung, wenn er oder sie Gott den Vater, seinen Vater, unseren Vater bezeichnen wollten. Es wäre daher höchst an der Zeit, mit der bis heute in christlichen Kreisen verbreiteten Mystifizierung des Nomens »abba« aufzuhören, als hätte nur Jesus damals so von Gott reden können. Spätestens seit J. Jeremias ist es üblich, in »abba« ein kindliches Lallwort wie »Papa« oder die besonders intime Bezeichnung »lieber Vater« zu sehen,570 was u. a. auch einschlösse, daß »abba« ein Vokativ wäre. Obwohl diese Ansicht x-Mal wiederholt wurde, ist sie dennoch falsch. Es handelt sich um kein Lallwort, um keinen Vokativ und bei weitem nicht ausschließlich um eine kindliche Anrede, sondern um ein Wort, das auch die feierliche zeitgenössische religiöse Sprache verwendet.571 Die Intimität mit dem Vater, in der sich Jesus wußte, zeigt sich am deutlichsten in seinem Beten. Matth 11,25–27 (Luk 10,21–22) zitiert ein Gebet Jesu an den Vater: » [...] Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast. Ja, Vater, so hat es dir gefallen. Mir ist von meinem Vater alles übergeben worden; niemand kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will.« Aus diesem Dankgebet spricht in der Tat ein so hohes Selbstbewußtsein wie es in rabbinischen Quellen kaum nachzuweisen ist.572 Wohl aber zeigt das Hymnenbuch von Qumran, daß Jesus mit einer solchen Art Gebet nicht völlig alleine ist, wenn auch die Intimität zwischen Jesus

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und dem Vater stärker ist als in den meisten qumranischen Hymnen. Viele dieser Dank- und Loblieder beginnen mit einer ähnlichen Einleitung: »Ich preise dich, Herr«, lassen jedoch das Jesus vertraute »Vater« vermissen. IQH II 9 spricht der Beter davon, daß ihn Gott »zur Klugheit für die Einfältigen« macht und aus IV 27–29 spricht ein ähnliches Bewußtsein eines charismatischen Geistes: » [...] Durch mich hast du das Angesicht vieler erleuchtet und dich stark erwiesen zu unzähligen Malen. Denn du hattest mich unterwiesen in deinen wunderbaren Geheimnissen und durch dein wunderbares Geheimnis hast du dich stark an mir erwiesen, wunderbar zu handeln vor vielen um deiner Ehre willen und kundzutun deine Machttaten allen Lebendigen. [...].« Zwar mit anderen Worten als Jesus, aber doch im gleichen Selbstbewußtsein, sagt der Autor von 4Q427 Fragment 7, Kolumne 1,11–12, daß unter allen Geschöpfen niemand an ihn heranreiche: »meinem [Ruh]m kommt keiner gleich. Denn was mich betrifft, so ist [mein] Amt unter den Überirdischen.« Das weitaus bekannteste Gebet Jesu ist das »Vater unser«, das in zwei Fassungen überliefert ist. Matth 6,7–15 »Betend aber plappert nicht wie die Heiden; denn sie meinen, daß sie wegen ihres Wortschwalls erhört werden. Werdet also ihnen nicht gleich! Es weiß nämlich euer Vater, woran ihr Bedarf habt, bevor ihr den Mund öffnet.

So also sollt ihr beten: Unser Vater, der du bist in den Himmeln, geheiligt werde dein Name! Deine Königsherrschaft soll kommen! Dein Wille soll geschehen, wie im Himmel, so auch auf Erden! Unser Brot für den heutigen Tag gib uns heute! Und vergib uns unsere Schulden,

Luk 11,1–4

»Und es geschah: Während er an irgendeinem Ort betend war, als er aufgehört hatte, sagte einer seiner Jünger zu ihm: Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Schüler gelehrt hat. Er sprach zu ihnen: Wenn ihr betet, sagt: Vater, geheiligt werde dein Name! Deine Königsherrschaft soll kommen! Unser Brot für den heutigen Tag gib uns an jedem Tag! Und vergib uns unsere Sünden,

260 wie auch wir vergeben unseren Schuldnern! Und führe uns nicht hinein in die Versuchung, sondern rette uns vor dem Bösen! Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, wird auch euch euer himmlischer Vater vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht ihre Verfehlungen vergebt, wird euer Vater auch nicht eure Verfehlungen vergeben.«

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denn auch wir selbst vergeben jedem uns schuldig Seienden. Und führe uns nicht hinein in die Versuchung!«

Die Unterschiede zwischen beiden Fassungen und der Mangel an Text bei Lukas zwingen zur Annahme, daß den Evangelisten höchst verschiedene Quellen zur Verfügung standen.573 Die spätere Überlieferung hat der längeren matthäischen Fassung den Vorzug eingeräumt. Mit diesem Gebet, das Jesus seine Jünger lehrte, wollte er kaum zu den offiziellen Gebeten seines Volkes wie dem »Achtzehngebet« auf Distanz gehen, sondern im Unterschied zur nichtjüdischen Gebetspraxis zeigen, daß viele Worte überflüssig sind (Matth 6,7; vgl. Koh 5,1–2), wenn sich der Mensch in der Unmittelbarkeit Gottes weiß.574 In Jesu Muttersprache, dem Aramäischen Galiläas, mag das Vaterunser, wenn man der matthäischen Fassung folgt, so gelautet haben: »ʾabbā (abūnan) debišemaijā; jitqaddaš šemāk, tētē malkhūtāk, jitʿabēd reʿūtāk kemā debišemaijā kēn ʿal arʿā. pittan (laḥman) dejōma (deṣorkēnan) hab lan bekol jōm; ūšeboq lan ḥōbēnan kemā da–anan nišbōq lideḥajjābīn lan; welā taʿēlinnan lenisjōn ēllā šēzeban min bīšetā (bīšā).«575 Eine der ältesten christlichen Schriften, die Didache, die Lehre der Zwölf Apostel, die Ende des 1. Jhs. n. Chr. oder Anfang des 2. Jhs. n. Chr. entstanden ist, manche jedoch noch in die apostolische Zeit ansetzen, gibt dem Vaterunser in der matthäischen Fassung den Vorzug und schreibt den Christen vor, dreimal täglich dieses Gebet zu verrichten. Im Unterschied zur neutestamentlichen Fassung enthält bereits die Version der Didache eine Schlußdoxologie: »Denn dein ist die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit«, die sprachlich auf jüdische Vorbilder zurückgeht (Str–B I: 423f). Es mutet immer eigenartig an, wenn das Vaterunser auf x Seiten zu erklären versucht wird. Jesus wollte damit doch seinen Jüngern klar machen, daß sie sich mit diesen schlichten Worten an den himmlischen Vater wenden sollen. Er hat ihnen zuvor nicht gesagt, daß sie mit ihm fünf Stunden täglich die Heiligen Schriften und ihre zeitgenössischen Auslegungen studieren müssen, damit sie auch

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verstehen, worum sie bitten. Sicherlich sind seit damals fast zwei Jahrtausende vergangen und manches in diesem Gebet bedarf der Erklärung, um intellektuell den ursprünglichen Gehalt zu erfassen. Man sollte aber trotzdem nicht vergessen, daß Christen, die seit damals dieses Gebet des Herrn sprechen, intuitiv wissen, worum sie bitten. Es geht mir nun deshalb auch nicht um eine herkömmliche Auslegung des Vaterunser, sondern ausschließlich um ein Aufzeigen, wie sehr die Formulierungen Jesu in der Gebetstradition seines Volkes verankert sind, diese jedoch durch ihre Generalität einen Horizont eröffnen, der Juden wie Christen gemeinsam sein kann. Das Vaterunser besteht aus sieben Bitten, die an Gott, den himmlischen Vater, gerichtet sind: die ersten drei »geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf der Erde« sind eine Einheit. Die Formulierung ist passiv und transitiv, um an Gott nicht eine aktive und dadurch vielleicht respektlos erscheinende Bitte zu richten wie: »heilige deinen Namen etc.« Die Texte selber lassen diese Auslegung der drei Bitten – »dein Name werde geheiligt« – richtig erscheinen. So heißt es in Ez 36,23: »Ich (Gott) will meinen großen Namen heiligen.« Auf dieselbe Weise formuliert z. B. das »Qaddisch (Heiligungsgebet) des Gottesdienstes«, ein sehr altes jüdisches Gebet: »Verherrlicht und geheiligt werde sein großer Name in der Welt, die er nach seinem Willen geschaffen hat. Und er lasse sein Reich herrschen und seine Erlösung sprossen.« (Str–B I: 408f). Wenn so die Bitte ausgesprochen wird, daß Gott seinen Namen verherrlichen solle etc., dann ist natürlich indirekt auch gemeint, daß sich die Menschen so verhalten sollen, daß es der Heiligung seines Namens entspricht. In diesem Sinn formuliert daher das Qaddisch der Rabbanan: »verherrlicht und geheiligt werde sein großer Name, der die Welt erneuern und die Toten beleben und die Lebenden erlösen und die Stadt Jerusalem erbauen wird.« (Str–B I: 409). M. a. W.: In den drei ersten Bitten des Vaterunser ist beides enthalten: Gott möge seinen Namen heiligen und er möge von den Menschen geheiligt werden etc. Wenn Gott sich der Welt als der Heilige zeigt, so heißt das, daß er wider alle Sünde und Ungerechtigkeit, die es gibt, streitet, daß er Sünde und Ungerechtigkeit vernichtet. Der Midrasch fügt dem noch hinzu, daß Gott deswegen so handelt, weil es Gerechte gibt, die Gottes Namen auf Erden heiligen. (Str.–B I: 413a). Die Formulierung »geheiligt werde dein Name« klingt im nichtjüdischen Bereich mißverständlich, so als sei »der Name« etwas, was zu Gott gleichwertig hinzukäme. Das ist aber nicht der Fall. Gemeint ist, daß »Gott geheiligt werde«. Letztlich kann diese Bitte in dem Satz des Heiligkeitsgesetzes Lev 19,2 seine beste Auslegung finden: »Seid heilig, denn ich, JHWH, euer Gott, bin heilig.« Der Midrasch zu dieser Stelle sagt: »Ihr sollt heilig sein, abgesondert sollt ihr sein von den Heiden; denn ich bin heilig, JHWH euer Gott; das will sagen: Wenn ihr euch selbst heiligt, rechne ich es euch so an, als ob ihr mich heiligt, und wenn ihr euch nicht selbst

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heiligt, so rechne ich es euch so an, als ob ihr mich nicht heiligt. Oder will es sagen: Wenn ihr mich heiligt, siehe, so bin ich geheiligt, und wenn nicht, so bin ich nicht geheiligt? Die Schrift sagt lehrend: Denn ich bin heilig, ich bin in meiner Heiligkeit, ob ihr mich heiligt oder ob ihr mich nicht heiligt. [...]«. (Str–B I: 413f). Die zweite Bitte – »deine Herrschaft komme« – ist angesichts Jesu Basileia-Verkündigung zu interpretieren. Wir haben gesehen, daß die jüdische Vorstellung von der Königsherrschaft Gottes auf die Gegenwart wie auf die Zukunft gerichtet ist. Die zweite Bitte des »Achtzehngebetes« formuliert die Bitte prägnant: »sei König über uns« und im Qaddisch des Gottesdienstes als auch der Rabbanan heißt es: »Er lasse herrschen seine Königsherrschaft während eures Lebens und in euren Tagen und während des Lebens des ganzen Hauses Israel in Eile und in naher Zeit.« Obwohl das Judentum auch die Vorstellung entwickelt hat, daß der Gläubige durch das Beten des »Schema Israel« das Joch der Herrschaft Gottes auf sich nimmt, hat es daraus nicht abgeleitet, daß sie bereits eine völlige präsentische Größe ist. Das hat wohl seinen Grund darin, daß die augenscheinliche Realität der Welt dagegen spricht. Wie wir gesehen haben, ist Jesu Vorstellung davon verschieden: die königliche Gottesherrschaft ist das präsentische Eschaton, das unveränderbar mit seiner Person verknüpft ist. Wenn Jesus also seine Jünger zu beten lehrt: »dein Reich komme«, meint er auf Grund der Formulierung einerseits: laß deine Königsherrschaft offenbar werden, und andererseits: lasse sie die Menschen annehmen. In der jüdischen Sichtweise ist diese Bitte in ihrer doppelten Bedeutung auf etwas gerichtet, das nur bedingt präsentisch ist, primär als etwas Zukünftiges gesehen wird, um das der Fromme bittet. Im jesuanischen Verstehenshorizont seiner Basileia-Verkündigung dagegen ist diese Bitte an Gott in ihrer doppelten Bedeutung anders zu verstehen. Der vom Vater geliebte Sohn, der die Herrschaft Gottes als endgültige Gegenwart repräsentiert, will den Jüngern zeigen, daß um ein göttliches Geschenk und dessen Annahme durch den Menschen immer gebetet werden soll. Also, auch wenn der Christ nach Jesu Leben und nach seinem scheinbaren Scheitern auf Golgotha keine sichtbare Veränderung der konkreten Welt feststellen kann, so wie sein jüdischer Bruder auch, so bittet er Gott dennoch, daß Jesu Utopie der Basileia die Realität sei und werde. Die dritte Bitte – »dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf der Erde« – schließt inhaltlich ganz und gar an die zweite an und ist quasi ihr zusätzlicher Teil; denn dort, wo Gottes Herrschaft Wirklichkeit ist, geschieht auch sein Wille. Direkte Parallelen zu dieser dritten Bitte fehlen in der zeitgenössischen Gebetsliteratur.576 Die vierte Bitte – »Gib uns heute das Brot, das wir brauchen« – erinnert an Spr 30,8: »Gib mir Brot nach meinem Bedarf« und an ein Gebet: »Möge es dein Wille sein, Ewiger, unser Gott, jedem Einzelnen zu geben, was er braucht, und jedem Körper genug für seinen Mangel.«577 Die nächste, fünfte Bitte – »und erlaß uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben« – lautet in dem Spruch Sir 28,2: »Vergib das Unrecht

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deinem Nächsten, und dann werden, wenn du bittest, deine Sünden erlassen werden.« Die sechste Benediktion des »Achtzehngebetes« (palästinische Rezension) lautet: »Vergib, uns, unser Vater, denn wir haben gegen dich gesündigt, tilge und entferne unsre Verfehlungen vor deinen Augen weg, denn deine Barmherzigkeit ist groß.« (Str–B I: 421). Die sechste Bitte – »und führe uns nicht in Versuchung« – findet sich in einem talmudischen Gebet folgendermaßen: »Und führe uns nicht in Sünde und nicht in Schuld und nicht in Versuchung« (bBerakot 60b), während die siebente Bitte, »sondern erlöse uns von dem Bösen«, das »Achtzehngebet« (palästinische Rezension), in seiner siebenten Benediktion die Formulierung bringt: »Sieh unser Elend an und führe unsere Sache und erlöse uns eilends um deines Namens willen. Gepriesen seist du, JHWH, Erlöser Israels.«578 Unter »Bösem« kann grundsätzlich jedes erdenkliche Übel, auch der Satan, gemeint sein (Str–B I: 422f), obwohl im jesuanischen Sinn hier vielleicht nicht primär an den Satan zu denken ist. Der griechische Genetiv »tou ponerou« kann männlich und sächlich aufgefaßt werden. Dem griechischen »poneros« entspricht zwar das aramäische »bīš«, aber es läßt sich sprachlich nicht entscheiden, ob das Böse oder der Böse gemeint ist.579 »Man wird an alles zu denken haben, was böse ist und böse heißt.« (Str–B I: 422). So zeigt dieses Gebet Jesu Verwurzelung in der Heiligen Schrift, in der zeitgenössischen Literatur und seine tiefe Gottergriffenheit. In seiner kompakten Komposition ist das Vaterunser aber dennoch eine eigenständige Größe. »Es ist zeitlos, obwohl es ganz den Geist seiner Zeit atmet.«580 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß sich schon der historische Jesus als der göttliche Sohn Gottes verstanden hat, als der endgültige Gesalbte, Messias Gottes, der daher in der tiefsten Intimität mit dem Vater lebte, von diesem auch vorerst für seine Jünger als solcher bestätigt wurde, auch wenn sie dies in seiner radikalsten Dimension auf Grund ihres zeit- und milieugebundenen Denkens noch nicht völlig verstehen konnten. In dem geheimnisvollen Titel »Menschensohn« verbirgt Jesus vor den Volksgenossen seine wahre Identität, läßt aber durch seine »Ich bin [...]«-Aussagen und durch seine Streitgespräche mit den Volksgenossen, die besonders das Johannesevangelium überliefert haben, keinen Zweifel, wer er ist. Am Ende bekennt er vor dem Hohenpriester als der höchsten religiösen jüdischen Autorität seine religiöse messianische Sendung und seine göttliche Sohnschaft.581

VIII. Jerusalem – Jesu letzte Tage Nach Joh 12,1 trifft Jesus sechs Tage vor Pesach im westjordanischen Bethanien ein und kommt fünf Tage vor dem Fest nach Jerusalem (Joh 12,12). Die Synoptiker (Mk 11,1; Matth 21,1; Luk 19,29) erwähnen zwar Bethanien, von wo aus Jesus seinen Einzug nach Jerusalem organisierte, bieten jedoch keine Zeitangaben. Pesach beginnt am 14. Nisan zur Abenddämmerung (Ex 12,6; Lev 23,5) und setzt sich im Mazzot-Fest, dem Fest der ungesäuerten Brote, vom 15.–21. Nisan fort. Obwohl es sich ursprünglich um verschiedene Feste handelte, waren sie zur Zeit Jesu längst zu einer Einheit verschmolzen.582 Diese Festtermine sind also klar geregelt und dennoch ergaben sich mit dem Datum laufend Schwierigkeiten. Die erste allerdings betrifft uns heute nur, wenn wir versuchen, zurückzurechnen, auf welchen Wochentag z. B. der 14. Nisan des Jahres 30 n. Chr. gefallen ist. Der jüdische Mond-Sonnenkalender basierte auf Beobachtung des beginnenden Lichts der Mondsichel (Neumond), der Jahreszeiten und auf Schaltungen. Die astronomische Rückrechnung erbringt für den 14. Nisan des Jahres 30 n. Chr. Freitag, den 7. April.583 Doch das so errechnete, exakte Datum kann nur zufällig mit dem damals aus Beobachtung gewonnenen übereinstimmen. Es könnte damals auch ein anderer Tag der Woche gewesen sein. Weitere Schwierigkeiten ergeben sich aus folgendem: Die damalige Festsetzung eines Monatsbeginns war oft strittig. Die Kalenderkommission des Tempels war zwar um Objektivität bemüht, geriet aber auch in die Streitigkeiten der Religionsparteien. Eine Gruppe der priesterlichen Aristokratie, die Boëthosäer, beharrten darauf, die Erstlingsgarbe am ersten Wochentag (Sonntag) nach dem Sabbat darzubringen, der in das Mazzotfest fiel. Sie vertraten diese Meinung auf Grund einer wörtlichen Auslegung von Lev 23,11. Die Pharisäer dagegen legten diese Stelle anders aus: Mit »Sabbat« war ihrer Meinung nach nicht der normale Sabbat gemeint, sondern der erste Festtag von Mazzot (15. Nisan). Nach pharisäischer Meinung mußten daher die Erstlingsgarben immer am 16. Nisan dargebracht werden (Abb. 32). Dieser sogenannte Omer-Streit (»Omer« = Garbe), wäre an sich belanglos, wenn nicht durch eine ungünstige Konstellation die boëthosäische Darbringung der Erstlingsgarbe unmöglich geworden wäre und wenn nicht vom Tag der Darbingung weg die fünfzig Tage bis zum Schawuotfest (Pfingsten) gezählt worden wären. Obwohl sich zur Zeit Jesu die pharisäische Auffassung längst durchgesetzt hatte,584 versuchten die Boëthosäer durch Bestechung und falsche Zeugenaussagen die Kalenderkommission zu beeinflussen, den Monat Nisan so beginnen zu lassen, daß der erste Nisan nie auf einen Sabbat fiel, da in einem solchen Fall der 14. Nisan ebenfalls ein Sabbat ist und mit dem nächsten Sabbat, 21. Nisan,

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das Mazzotfest schon endete, so daß die Erstlingsgarben nicht mehr dargebracht werden konnten. Der erste Nisan mußte daher nach dieser Auffassung ein Wochentag von Sonntag (erster Wochentag) bis Freitag (sechster Wochentag) sein.

14. So

Mo Di

Mi

Do Fr

Sa

Tage im Monat Nisan: 14. Nisan: Pesach, 15.–21. Nisan: Mazzot

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

Di

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Do

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Sa

So

Mo

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Abb. 32 Tag der Darbringung der Erstlingsgarbe nach pharisäischer und boëthosäischer Ansicht Kursiv, grau unterlegt: Mögliche Termine nach boëthosäischer Ansicht zur Darbringung der Erstlingsgarben. Durchgestrichen: Der Samstag (Sabbat) als Termin für Pesach scheidet nach boëthosäischer Ansicht aus, da der nächste Sabbat auf den 21. Nisan fällt, an dem das Mazzotfest endet und daher die Darbringung der Erstlingsgarbe am nächsten Tag sinnlos wäre. Fett: Termin der Pharisäer zur Darbringung der Erstlingsgarben. Fett, kursiv, grau unterlegt: Boëthosäischer und pharisäischer Termin fallen zusammen.

Ein weiteres Problem sind Interkalationen, von denen man heute nicht weiß, wann und in welchem Ausmaß sie stattgefunden haben. Bisweilen fügte die Kalenderkommission bei einem Monat einen Schalttag hinzu, ohne daß dies allen Leuten im Land bekannt war. Aus diesem Grund verfügt daher mSanhedrin V 3: »Sagt einer (der Zeugen): Am Zweiten Tag des Monats (hat sich etwas zugetragen) und einer: Am Dritten Tag, so ist das Zeugnis gültig; denn der eine hat um die Einschaltung (eines Tages) beim (letztvergangenen) Monat gewußt, der andere aber nicht (sie können denselben Tag meinen, auch wenn sie ihn verschieden datieren).« Das heißt: Sowohl nach den Synoptikern als auch nach Johannes findet Jesu letztes Mahl an einem Donnerstag und Jesu Kreuzigung an einem Freitag statt. Die Synoptiker sagen aber, daß Donnerstag der 14. und Freitag der 15. Nisan war, während für Johannes Donnerstag der 13. und Freitag der 14. Nisan war. Auf den ersten Blick liegt hier der klassische Fall vor, daß Johannes eine Interkalation im letzten Monat (Adar) nicht berücksichtigt, während dies die Synoptiker getan haben. Johannes könnte auch die Synoptiker in ihrer Annahme eines

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Schalttages korrigiert haben. Vielfach wird aber angenommen, daß die theologische Sicht des Evangelisten für diese Korrektur verantwortlich ist, damit Jesus zur selben Zeit am Kreuz stirbt, zu der die Osterlämmer im Tempel geschlachtet wurden. Damit wird aber dem Evangelisten auch eine Änderung aus theologischen Gründen unterstellt, die nicht zutreffend sein kann. Es bietet sich noch eine andere Lösung an: Der normale Verlauf des Jahres 30 n. Chr. war offensichtlich, daß die Kalenderkommission einen Samstag als den ersten Nisan festlegte, so daß der 14. Nisan (Pesachbeginn am Abend) auf einen Freitag fiel. Bei dieser Konstellation fallen der Tag der Darbringung der Erstlingsgarbe von Boëthosäern und Pharisäern zusammen (16. Nisan). Pfingsten des Jahres 30 n. Chr. fällt damit nach fünfzig Tagen auf einen Sonntag (erster Wochentag). Pfingsten an einem Sonntag (erster Wochentag) war jedoch für die Pharisäer aus verschiedenen Gründen nicht genehm, da dies der Wunschtermin der Boëthosäer war (Str–B II: 850f). Die überaus einflußreiche Partei der Pharisäer bestand daher gegenüber den Boëthosäern darauf, daß der 14. Nisan des Jahres 30 n. Chr. ein Donnerstag und nicht ein Freitag ist. Die Priesteraristokratie ist auf diesen Kompromißvorschlag offensichtlich eingegangen, ohne ihn jedoch für sich selber zu akzeptieren; d. h. man stimmte zu, daß für das Volk Pesach am Donnerstag, 14. Nisan abends, beginnt, während sie selber an Freitag, 14. Nisan abends, als Pesachtermin festhielt.585 Beim letzten Abendmahl Jesu wird sich dann zeigen lassen, daß diese Annahme zutreffend ist. Johannes hat sich daher an den offiziellen, priesterlichen Kalender gehalten, weil dieser seiner theologischen Intention entsprach. Wie vorher erwähnt, berichtet Joh 12,1, daß Jesus sechs Tage vor dem Pesachfest nach Bethanien kam, während die Synoptiker keine Zeitangaben machen. Nach der Chronologie des Johannesevangeliums, das die offizielle priesterliche Datierung verwendet, war der 9. Nisan der erste Wochentag (Sonntag). Tags darauf, am 10. Nisan (Joh 12,12), macht sich Jesus nach Jerusalem auf (Abb. 33). Diesen Einzug in Jerusalem berichten alle vier Evangelisten (Mk 11,1–11; Matth 21,1–11; Luk 19,28–40; Joh 12,12–19). Die Synoptiker gewähren der Episode mit dem Esel (nach Matthäus eine Eselin) breiten Raum: Jesus schickt zwei Jünger voraus, die einen Esel (eine Eselin) zu Jesus bringen sollen. Die Einwände der Leute, die sehen, daß zwei Fremde den Esel losbinden, werden mit den Worten entkräftet, daß Jesus ihn brauche und auch wieder zurückbringen lasse. Johannes dagegen übergeht diese Episode und schreibt (V 14) einfach, daß Jesus einen Esel fand und sich darauf setzte. Wie dem auch sei, Jesus ist von Osten, vom Ölberg aus, nach Jerusalem gezogen, so wie viele andere Festpilger auch. Daß die Leute dabei auf Eseln geritten sind, ist von vornherein nicht außergewöhnlich. Die Handlung Jesu, daß er sich

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plötzlich kurz vor der Stadt auf einen Esel setzt, ist aber als eine prophetische Zeichenhandlung zu sehen, die seine Jünger und Sympathisanten dazu animiert hat, an Schriftstellen wie Jes 40,9; 62,11 und Sach 9,9 zu denken, die die Evangelisten auch zitieren und die davon sprechen, daß Jerusalem von Gott her Hilfe zukommt und der Friedenskönig auf einer jungen Eselin in die Stadt einzieht. »Juble laut, Tochter Zion! Jauchze, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König kommt zu dir. Er ist gerecht und hilft; er ist demütig und reitet auf einem Esel, auf einem Fohlen, dem Jungen einer Eselin. Ich vernichte die Streitwagen aus Efraim und die Rosse aus Jerusalem, vernichtet wird der Kriegsbogen.« (Sach 9,9–10).

Offizielle, priesterliche Zählung, Freitag, 14 Nisan (abends): Pesach Fr

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Pharisäische Zählung, Donnerstag, 14. Nisan (abends): Pesach Fr

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Abb. 33 Der Monat Nisan des Jahres 30 n. Chr., 9./ 10. Tag bis 21./ 22. Tag Hellgrau: Pesach-Mazzot-Fest nach der offiziellen Zählung Mittelgrau: Pesach-Mazzot-Fest nach der pharisäischen Zählung Dunkelgrau: Tage der Provokation in Jerusalem

Davon ist der Schritt nicht mehr weit, daß Jünger und Sympathisanten die Kleider auf dem Weg vor Jesus ausbreiten und aus dem Hallel Ps 118,25f zitieren: »Ach JHWH bring doch Hilfe« (ʾannʾa JHWH hošiʿa nʾa), »ach JHWH gib doch Gelingen! Gesegnet sei er, der kommt im Namen JHWHs«, was alle vier Evangelisten übereinstimmend berichten. Die Evangelisten zitieren diese Stelle jedoch ganz bewußt ungenau, um sich nicht dem Vorwurf der Gotteslästerung auszusetzen; denn Jesus zuzurufen: »Ach, JHWH bring doch Hilfe« wäre in den Augen der Juden eine solche. Markus (11,9) und Johannes (12,13) lösen das Problem, indem sie »Ach JHWH« weglassen und mit »Hošiʿa nʾa« (bring doch Hilfe) beginnen. Matthäus (21,9) ändert in »Hošiʿa nʾa dem Sohn Davids« und Lukas (19,38) schreibt: »Gesegnet sei der König, der kommt im Namen des Herrn.« Die Zurufe wollen zweifellos Jesus als den erwarteten Messiaskönig charakterisieren. Das Ergreifen und Schwingen der Palmzweige beim Rezitieren des Psalms entsprach am ehesten der Gewohnheit (Str–B I: 850) und drückt hier kaum eine besondere Huldigung aus. Wenn auch Matthäus (21,10) schreibt, daß beim Einzug Jesu in Jerusalem die ganze Stadt in Aufregung geriet, ist das wohl seine subjektive Einschätzung.

Die Provokation

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Großes Aufsehen erregte Jesus mit der Zeichenhandlung und mit der kleinen Gruppe kaum. Beim späteren »Verhör vor dem Hohen Rat« wird ihm daraus kein Vorwurf gemacht. Angesichts der einströmenden Pilgermassen, ihres Singens und Rezitierens aus den Heiligen Schriften, wird die Gruppe nicht sehr aufgefallen sein. Die meisten der Pilger kamen etwa eine Woche vor dem Fest nach Jerusalem. So schreibt Josephus (JosBell VI 290), daß die Pilger am 8. Nisan nach Jerusalem gekommen seien, um sich auf das Fest vorzubereiten, eine Angabe, die mit Joh 12,1.12 fast übereinstimmt. Die Vorbereitung hatte u. a. das Ziel, die kultische Reinheit zu erlangen. Num 9,9–10 verbietet die Feier des Pesachfestes allen, die sich durch Berührung etc. mit Toten kultisch unrein gemacht hatten. Der Reinigungsritus dauerte sieben Tage (Num 19,17–19). Die Bevölkerung hatte natürlich auch die Gelegenheit, sich schon zu Hause diesem Reinigungsritual zu unterwerfen, da das nötige Reinigungswasser von Jerusalem aus in die wichtigsten Zentren des Landes verschickt wurde, aber es wird immer wieder Menschen gegeben haben, die sich noch unmittelbar vor dem Fest kultisch verunreinigten, weil z. B. einer der Angehörigen verstorben war. Für Jesus und seine Gruppe trifft das nicht zu, da die Zeit für die kultische Reinigung nach Berührung eines Toten um einen Tag länger dauerte. So wird man es als eine gewisse Norm anzusehen haben, daß die Leute schon am 8. Nisan nach Jerusalem gekommen sind. Die meisten Pilger werden sich bereits im Zustand der kultischen Reinheit befunden und sofort nach ihrer Ankunft den Tempel besucht haben, wie es eigentlich die Pflicht jedes Festbesuchers war.586 Das Neue Testament erwähnt nicht, daß sich Jesus und seine Jünger irgendeinem kultischen Ritual unterzogen hätten. Das sagt allerdings noch nichts aus; denn auch Josephus unterrichtet seine Leser nicht, was die Pilger in dieser Zeit in Jerusalem taten; es war zu selbstverständlich.587 Allgemein kann gesagt werden, daß sich der historische Jesus immer an das Gesetz gehalten hat und daß er auch andere auffordert, das zu tun, was Mose geboten hat (Mk 1,44 parr.). Von daher ist es naheliegend, daß sich Jesus wie alle anderen Festpilger auch an die Vorschriften des Gesetzes gehalten haben wird.588 Nur ist eben anzunehmen, daß sich Jesus und seine Jünger bereits im Zustand der kultischen Reinheit wußten; denn Jesus besuchte sofort, wie es Sitte war, den Tempel (Mk 11,11).

1. Die Provokation Nach Mk 11,11 kommt also Jesus sofort nach seiner Ankunft in Jerusalem in den Tempel. Am späten Abend zieht er sich mit den Zwölf nach Bethanien zurück. Am nächsten Tag, Dienstag 11. oder 12. Nisan, schreitet er gegen den Mißbrauch

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des Tempels ein (Mk 11,12–19). Nach Matth 21,12–17 und Luk 19,45–48 findet die Aktion schon nach seinem Einzug in Jerusalem statt, Montag 10. oder 11. Nisan. Joh 2,13–22 datiert das Geschehen jedoch schon vor Pesach des Jahres 28 n. Chr. V 22 gibt die genaue Zeitangabe. Da die Synoptiker bedingt durch ihr Jahresschema nur ein Pesach Jesu in Jerusalem kennen, haben sie keine andere Wahl; es ist Johannes der Vorzug zu geben.589 Dieses Vorgehen gegen den Tempel war für die Priesteraristokratie und die Tempelbehörden eine unerhörte Provokation und versah in ihren Augen Jesus von Anfang an mit einem negativen Vorzeichen. Johannes, ebenso auch Matthäus, berichten jedoch nicht davon, daß ihm die Tempelaristokratie deswegen nach dem Leben trachtete. Wohl aber wird versucht, in eine grundsätzliche Diskussion darüber mit Jesus einzusteigen. Nach Joh 2,18 fordern seine Gesprächspartner einen Beweis (Zeichen) dafür, daß er dies tun dürfe, und erhalten zur Antwort: »Reißt diesen Tempel nieder, in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten.« (Joh 2,19). Mit dieser Antwort zeigt Jesus, daß er die Errichtung des Heiligtums als ein Wunder verstanden wissen will und offenbar von einer Erbauung des Heiligtums durch Menschenhand, die zu seiner Zeit immer noch im Gange war, nichts hält. Auch in der volkstümlichen Überlieferung wurde daran festgehalten, daß sowohl die Stiftshütte der Wüste als auch der Salomonische Tempel nicht durch Menschenhand, sondern durch ein Wunder Gottes entstanden seien (Str–B II: 411). In seinem Selbstbewußtsein der unmittelbaren Gottesnähe sprach Jesus auch hier davon, daß er selber dieses Zeichen vollbringen könne. Seine Gegner in diesem Gespräch können dieser Überlieferung, auf der Jesu Überzeugung ruht, auch nichts anderes entgegensetzen als die sichtbare Realität des konkreten Tempelbaues und lassen es dabei bewenden, da sie es vermutlich als sinnlos erachteten, einen solchen Streit mit einem charismatischen Propheten weiter zu führen.590 Nach Matth 21,12–17 hatte Jesu Aktion gegen den Tempel nicht einmal eine Diskussion zur Folge. Die Hierarchen ärgern sich nur, da die Kinder rufen: »Hosanna dem Sohn Davids« (V 15), eine messianische Prädikation, und stellen ihn deswegen zur Rede, erhalten jedoch die entwaffnende Antwort mit Ps 8,3: »Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge schaffst du dir Lob«, ein Wort, das der Psalm auf Gott anwendet und so zitiert als Gotteslästerung hätte ausgelegt werden können. Auch dieses Zitat zeigt, daß sich Jesus nicht nur als der charismatische Prophet verstanden hat, sondern als der göttliche Sohn. Jesus hätte hier sofort wegen Gotteslästerung verhaftet werden können. Warum es nicht geschehen ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Mk 11,18 und Luk 19,47 sehen dagegen in der Tempelreinigung eine Handlung Jesu, die die Tempelhierarchen veranlaßte, seinen Tod zu suchen, dieses Vorhaben aber wegen der zu Jesus haltenden Volksmasse (noch) nicht durchzusetzen wagten. Daß Jesus neben seinen Jüngern Sympathisanten hatte, ist nicht

Die Provokation

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zu bezweifeln, daß ihm aber die Volksmassen zujubelten, ist eine Übertreibung. Die Tempelhierarchie mit ihrer schlagkräftigen Polizei hatte zu jeder Zeit die Möglichkeit, eine Verhaftung Jesu im Tempelbereich vorzunehmen. Jesu Vorgehen gegen den Tempel schon zu Beginn seiner Tätigkeit war für die Behörden noch kein Grund, gegen ihn strafrechtliche Maßnahmen zu setzen. Sie wußten nur allzu genau, daß die Viehhändler und Geldwechsler für viele ein Ärgernis waren. Die Viehhändler und Geldwechsler hatten natürlich nicht ihren Platz innerhalb des Tempels, sondern an dessen Südflanke. Sie waren ein notwendiges Übel, da die Leute, die von weiter entfernt kamen, hier ihre Opfertiere kaufen konnten, und die Münzen, die oft das Portrait des Kaisers trugen, in eine »neutrale« Währung – dies war die tyrische Währung – gewechselt werden mußten, damit sie als Tempelsteuermünzen verwendbar waren. Zeitweise, vor den großen Festen, könnte es auch möglich gewesen sein, daß die Königshalle des Tempels von den Händlern benutzt werden durfte.591 Den Handel mit Trankopferwein und Tauben hatte aber die Tempelbehörde selbst in die Hand genommen und bot Wein und Tauben im Heiligtum zum Kauf an (mScheqalim VII 5). Am häufigsten waren die Taubenopfer gefragt, da sich der Großteil der Leute kaum Großvieh leisten konnte. Das trieb die Preise dafür bisweilen bis zur Höhe eines Golddenars, was z. B. auch Rabban Schimon ben Gamaliel kurz nach Jesus zu einem massiven Einschreiten veranlaßte. Rabban Schimon schritt dagegen aber nicht im glühenden Zorn eines Mystikers und charismatischen Propheten wie Jesus ein, sondern in der kühlen Argumentation eines Gelehrten: Er lehrte vor dem Hohen Rat, daß nun eine Frau, die fünf Geburten oder fünf Blutflüsse gehabt habe, nur ein Geflügelopfer (wegen des hohen Preises) darbringen müsse. Rabban Schimon setzt also das Religionsgesetz wegen der Wucherpreise außer Kraft, nach dem fünf Geflügelopfer notwendig gewesen wären. Noch am selben Tag fielen die Preise von einem Golddenar auf einen Viertel Silberdenar (mKeritoth I 7). Im Grunde aber ist dieses Vorgehen des Rabban Schimon das gleiche wie jenes Jesu. Rabban Schimon wurde von der Tempelbehörde nicht verhaftet, obwohl er mit seinem Wort das Religionsgesetz gleichsam außer Kraft setzt, was Jesus z. B. nicht getan hat. Auch wenn nach Mk 11,15–17 Jesus verbietet, daß jemand etwas durch den Tempel trüge, ist das nicht außergewöhnlich; denn auch die Mischna bezeugt das Verbot, den Tempel als Durchgang zu benutzen. (mBerakoth IX 5; tBerakot VII 1). Für die Tempelbehörde war jede Kritik an ihrem System eine Provokation, die hinzunehmen sie aber gezwungen war, sei es durch die Argumentation eines Gelehrten wie Rabban Schimon ben Gamaliel, sei es durch einen Charismatiker wie Jesus von Nazareth. Jesu Kritik am herrschenden System der Tempelverwaltung ist eine prophetische Demonstration gegen den Mißbrauch des Heiligtums und gegen ein betrügerisches Verhalten an seinen Mitbürgern, das die Verwaltung zu einer

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Jerusalem – Jesu letzte Tage

grundsätzlichen Diskussion mit Jesus veranlaßte und ihn schließlich als einen Schwärmer nicht allzu ernst nahm, aber negativ abstempelte. Die These, daß Jesus als zelotischer Führer hier den Beginn einer Erhebung gegen die Römer inszenieren wollte, entbehrt jeglicher Grundlage. Nicht einmal die Tempelpolizei, geschweige denn die Römer, die von der Antonia aus das Geschehen im Tempel genau beobachten konnten, sind eingeschritten. D. h. man verstand das Vorgehen als das, was es sein wollte, nämlich eine prophetische Zeichenhandlung (vgl. Am 7,10–17), nahm sie jedoch nicht ernst. Dieses prophetische Auftreten Jesu im Tempel fand kaum am 10. oder 11. Nisan des Jahres 30 n. Chr., sondern vor dem Pesachfest des Jahres 28 n. Chr. statt. Jesus ist während seines letzten Aufenthaltes in Jerusalem gewaltsam ums Leben gekommen. Was war der Grund oder waren die Gründe dafür? Ich sehe vor allem zwei: durch Gleichnisse und andere Reden im Tempel während der Zeit vom 11.oder 12. bis zum 13. oder 14. Nisan provozierte Jesus die Jerusalemer Hierarchen derart, daß sie seine Vernichtung beschlossen, diese aber wegen der bevorstehenden Festivitäten aufschoben. Einerseits zeigte Jesus in seinen Predigten ein messianisches Selbstbewußtsein, das die Behörden in Schrecken versetzte, und zwar nicht nur, weil sie theologisch messianische Gedanken ablehnten, sondern weil sie den Römern gegenüber für Ruhe und Sicherheit verantwortlich waren. Andererseits begnügte sich Jesus jetzt nicht mehr wie vor zwei Jahren mit einer prophetischen Demonstration im Tempel, dem er schwärmerisch ein durch ein göttliches Wunder erbautes Heiligtum entgegensetzte, sondern sprach offen von der Zerstörung des Tempels. Dieses Wort Jesu (Mk 13,1–2; Matth 24,1–2; Luk 19,44) ist eine massive Steigerung gegenüber seiner prophetischen Aktion zwei Jahre zuvor. Jesus gab der Tempelhierarchie auf die Frage, mit welchem Recht er im Tempel lehre, eine so geschickte Abfuhr, die sie coram publico als überaus dümmlich erscheinen ließ. Als »echter pharisäischer Rabbi« stellte ihnen Jesus, ohne ihre Frage zu beantworten, eine Gegenfrage: »Stammt die Taufe des Johannes vom Himmel oder von den Menschen?« (Mk 11,31 parr.). Mit dieser Frage waren die Gegner bereits entwaffnet und versuchten sich mit einem: »Wir wissen es nicht«, worauf Jesus prompt erwiderte: »Dann sage auch ich euch nicht, mit welchem Recht ich das tue.« (Mk 11,33). In der Bildrede von den zwei ungleichen Söhnen (Matth 21,28–32) symbolisiert der eine, ungehorsame Sohn die Tempelhierarchie, der andere letztlich gehorsame Sohn die Zöllner und Dirnen, die dem Täufer geglaubt haben. »[...] Das aber sage ich euch: Zöllner und Dirnen gelangen eher in das Reich Gottes als ihr.« Die maßgebliche religiöse Führung wird hier nicht nur mit einstmals öffentlichen Sündern verglichen, sondern auf weite Strecken bezweifelt, daß sie Kinder

Das letzte Abendmahl

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der Herrschaft Gottes sein können. M. a. W. es wird ihr zwar Gottes Huld nicht grundsätzlich abgesprochen, aber bezweifelt, ob sie deren fähig und würdig ist. Im Gleichnis von den bösen Winzern (Mk 12,1–12 parr.) erreicht Jesu Kritik ihren Höhepunkt: Der Weinberg Israel (vgl. Jes 5,1–2) wurde von Gott an Winzer (Tempelbehörden) verpachtet. Gott schickte dann viele Knechte (Propheten), um den Anteil an den Früchten zu holen. Sie wurden jedoch teils verjagt, teils sogar getötet. Schließlich sendet Gott seinen Sohn (Jesus). Ihn erkennen die Winzer als den Erben, töten ihn und werfen ihn hinaus. Da greift Gott selber ein, tötet die Winzer und gibt den Weinberg Israel anderen. In Jesu Augen hat also die gegenwärtige religiöse Führung Israels ihr Recht verwirkt, sich als eine solche zu bezeichnen. Ein Sohn Israels, welcher dergleichen lehrt, das religiöse Establishment seiner Zeit grundsätzlich in Frage stellt, darf von diesem keine Gnade mehr erwarten. So ist die Reaktion auch entsprechend (Mk 12,12). Wer aber so das Ende der Priesterhierarchie des Tempels ankündigte, konnte dies nur in dem Bewußtsein tun, selbst der endgültige Gesalbte JHWHs zu sein. Das war den priesterlich-sadduzäischen Führern des Hohen Rates klar. Sie bangten deshalb aber weniger um ihre Macht – denn dieser waren sie sich wohl im Moment sicher – , fürchteten aber ein potentielles Eingreifen der Römer, falls sie selber nicht mehr Herr der Lage sein würden. So gibt denn auch Joh 11,47–51 historisch richtig die Situation wieder. Auch das Zitat des Hohenpriesters Joseph ben Kaiaphas: »Ihr bedenkt nicht, daß es besser für euch ist, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht« (V 50), entspricht jener Zwickmühle, in der sich der Hohe Rat in einer Entscheidung um Jesus befand. So läßt sich abschließend festhalten, daß es nach diesen Vorfällen592 in den letzten Tagen vor Pesach des Jahres 30 n. Chr. eine von vornherein ausgemachte Sache war, Jesus so bald als möglich hinrichten zu lassen, da die Führung des Hohen Rates, kaum jedoch die gesamte Ratsversammlung, keinen anderen Weg mehr gesehen hat (vgl. Mk 14,1–2).

2. Das letzte Abendmahl Während die führenden Kräfte Judäas bereits Jesu Tod beschlossen hatten, bereitete er sich auf das kommende Mahl vor. Ich glaube nicht, daß er – menschlich gedacht – damit gerechnet hat, schon am sechsten Wochentag (Freitag), dem 14. oder 15. Nisan, am Kreuz hingerichtet zu werden, bin aber überzeugt, daß er ahnte, daß dies sein letzter Aufenthalt in Jerusalem sein würde.593 Wiederholen wir kurz: Am Sonntag, 9. oder 10. Nisan, traf Jesus im westjordanischen Bethanien ein und wohnte bei Simon, am 10. oder 11. Nisan (Montag) zog er in Jerusalem ein und kehrte abends wieder in Simons Haus zurück. Das wiederholte sich bis zum 12. oder 13. Nisan (vierter Wochentag, Mittwoch).

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Am 13. oder 14. Nisan (Donnerstag) scheint Jesus die von ihm bereits arrangierte Pesachfeier mit den Seinen von den Jüngern (so Matth 26,17–19) oder von zwei Jüngern (so Mk 14,12–16) oder von Petrus und Johannes (so Luk 22,7–13) vorbereiten lassen zu haben. Gegen Abend ging Jesus mit den Zwölf von Bethanien nach Jerusalem, um mit der Feier zu beginnen (Mk 14,17). Pesach ist eines der ältesten Feste Israels überhaupt. Es hat als ein Fest des Weidwechsels seine Wurzeln in der nomadischen Vergangenheit. Wenn die Winterregen aufgehört hatten und der heiße Wüstenwind aus dem Osten die Vegetation des ohnehin kargen Steppengürtels zwischen Wüste und Kulturland zum Erliegen gebracht hat, waren die Nomaden gezwungen, mit ihren Kleinviehherden näher an das fruchtbare Kulturland heranzukommen. Dieser Übergang wurde mit einer Art Beschwörungsfest gefeiert. Man schlachtete das erstgeborene, männliche Lamm der Herde, strich das Blut des Tieres auf die Öffnung des Zeltes, briet das Lamm als Ganzes und verzehrte im Zelt das gebratene Fleisch mit Kräutern der Wüste, sobald die Nacht angebrochen war. Der heiße Wüstenwind zerrte an den Zelten und die Menschen sahen in ihm nicht bloß ein Naturphänomen, sondern eine dämonische, Verderben bringende Wüstenmacht. Der Dämon konnte jedoch über die menschliche wie tierische Erstgeburt kein Verderben bringen, wenn er das Blut des Lammes an den Zelteingängen bemerkte. Der Dämon sprang von Zelt zu Zelt, rüttelte daran, war aber machtlos, wenn er das Blut sah; und dieses groteske Hüpfen des Dämons bezeichnet ursprünglich die Verbalwurzel »psḥ«.594 Im mosaischen und nachmosaischen Kontext wird dieses Hirtenfest von der rein naturhaften Ebene abgehoben und mit dem Exodus verknüpft. Die im 12. Kapitel des Buches Exodus vermischte jahwistische und priesterliche Überlieferung (Ex 12,21–27.29–30.32–39J; Ex 12,1–20.28.40–39P) verordnet den Israeliten das Nomadenfest bei ihrem »Weidwechsel«, d. h., wo sie nun Ägypten verlassen, um in das verheißene Land zurückzukehren. Eine makellose einjährige Ziege oder ein einjähriges Lamm (so die Priesterschrift) oder ein Stück Kleinvieh (so die Jahwistische Überlieferung) soll pro Familie geschlachtet, mit dem Blut die Pfosten der Haustüre bestrichen und das gebratene Fleisch in der folgenden Nacht mit Bitterkräutern in Eile gegessen werden. Um Mitternacht wird JHWH »vorübergehen« (Pesach). Wenn er das Blut an den Türpfosten sieht, wird er die menschliche Erstgeburt verschonen. Da nun die Ägypter ihre Türpfosten nicht mit dem Blut eines solchen Tieres bestrichen haben, wird er deren Erstgeburt vom Pharao bis zum Geringsten töten (letzte ägyptische Plage). Weil die Erstgeburt der Israeliten verschont worden ist, soll nach der Priesterschrift (Ex 13,1) jede Erstgeburt von Mensch oder Vieh JHWH geweiht sein. Die priesterliche Überlieferung verbindet mit diesem Ur-Pesach Israels das Mazzotfest (Ex 12,15–20), das ursprünglich ein kanaanäisches, bäuerliches Erntefest war. Diese biblischen Texte, die vom 10. Jh. v. Chr. bis zum 5. Jh. v. Chr. datieren, zeigen, daß sich JHWH wirkmächtiger

Das letzte Abendmahl

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erwiesen hat als alle ägyptischen Götter und daß vor JHWH die damalige Weltmacht Ägypten kapitulierte. Es sind aber nicht die Erfahrungen der historischen Akteure, die hier zur Sprache kommen, sondern die späterer Generationen. Sie projizieren ihre Sicht in die Zeit des Mose. Von seinem Charakter her ist das Pesachfest im alten Israel immer ein Familienfest geblieben, während dessen Feier das Heilshandeln Gottes beim Auszug aus Ägypten vergegenwärtigt wurde (Ex 12,14). Mit dem Jerusalemer Tempel hat das Fest nichts zu tun und selbst nach der joschijanischen Kultreform um 620 v. Chr. blieb es ein Familienfest. Die Deuteronomistischen Eiferer der späten nachexilischen Zeit (Dtn 16,1–8; 2 Chr 30,1) versuchten zwar, es auf den Tempel zu beschränken, aber ohne Erfolg. In der Zeit danach kam es zu einem Konsens oder Kompromiß; die Lämmer/Ziegen wurden im Tempel geschlachtet, aber die eigentliche Feier fand im Kreis der Familie bzw. mehrerer Familien oder in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter statt. Zur Zeit Jesu war dies längst so üblich. So fragten denn auch die Jünger am fünften Wochentag (Donnerstag, 13. oder 14. Nisan) Jesus, wo sie das Pesachmahl vorbereiten sollten (Mk 14,12–16; Matth 26,17–19; Luk 22,7–13). Aus den Texten ist indirekt herauszulesen, daß Jesus bereits vorher mit einem sonst nicht Bekannten die grundsätzlichen Vereinbarungen getroffen hatte. Es handelt sich offenbar um einen Wasserträger, der das mit Liegepolstern ausgestattete Obergeschoß seines Hauses Jesus und seinen Jüngern zur Verfügung stellte (Luk 22,10–12). Bei der Menge der Festpilger in Jerusalem war es schwer, einen geeigneten Platz zu finden, da das Pesachmahl in Jerusalem selber eingenommen werden mußte. Die Jerusalemer Bevölkerung durfte für diesen Zweck keine Räume vermieten, sondern mußte sie unentgeltlich zur Verfügung stellen. So zählt es die Mischna z. B. zu den zehn Wundern, daß immer Raum für die vielen Menschen vorhanden gewesen ist (mAboth V 5). Es mußten mindestens 10 Personen gleich welchen Geschlechtes sein, die sich im Zustand der kultischen Reinheit befanden (JosBell VI 426), daß überhaupt das Pesachmahl gefeiert werden durfte (tPesachim IV 3). Das Mahl wurde nicht mehr wie in alten Zeiten stehend und in großer Eile eingenommen, sondern nach griechisch-römischer Sitte auf Polster gestützt liegend (Str–B IV 1: 56). Die Mischna (mBaba Bathra VI 4) gibt für den Speiseraum ca. 23 m2 Fläche an (10 mal 10 Ellen und eine Raumhöhe von 10 Ellen).595 In größeren Räumen durften auch mehrere Festgemeinschaften das Mahl einnehmen (Str–B IV 1: 42). Das Pesachlamm mußte männlich, fehlerlos und einjährig sein. Es konnte vom 10. bis zum 14. Nisan besorgt werden. Am 14. Nisan wurde es vom Vater oder von einem Beauftragten der Mahlgemeinschaft auf den Schultern zum Tempel getragen (am Sabbat wurde es geführt; mSchabbat V 1). Wenn der 14. Nisan ein Freitag war, dann begann die Schlachtung der Tiere unter dem Gesang des Hallel (Ps 113–118) schon um 13.30 Uhr, sonst um 14.30 Uhr, und zwar im Vorhof

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der Israeliten des Tempels. Die Männer standen mit ihren Lämmern in drei Abteilungen hintereinander an. Die erste Abteilung trat in den inneren Vorhof, die Tore wurden geschlossen und jeder schlachtete sein Lamm. Priester fingen das Blut in silbernen und goldenen Schalen auf, gaben sie weiter, bis schließlich der Priester, der dem Altar am nächsten stand, das Blut auf den Altargrund sprengte. Die Tiere wurden gehäutet und ausgeweidet, das Fett auf dem Altar von den Priestern verbrannt (Str–B IV 1: 50). Nachdem die erste Abteilung fertig war, ging sie hinaus, die zweite trat ein und das Zeremoniell wiederholte sich solange, bis alle Lämmer geschlachtet waren. Das gehäutete Lamm legte man wieder in das Fell zurück, nahm es auf die Schultern und trug es nach Hause bzw. in sein Festquartier, wo es als Ganzes auf einen Holzspieß vom Granatapfelbaum gesteckt und gebraten wurde. Das Mahl konnte nach Sonnenuntergang beginnen und sollte um Mitternacht beendet sein (mPesachim X 5; tPeseachim V 2). Das 10. Kapitel des Traktates Pesachim der Mischna gibt den Verlauf des Mahles wieder: Wein und Wasser werden im ersten Becher gemischt, der Segen596 darüber gesprochen und der Becher getrunken. Grünkräuter, Lattich, ungesäuertes Brot (Mazze) und das gebratene Lamm (bereits zerlegt) werden aufgetragen, der zweite Becher mit Wein gefüllt. Der Hausvater hatte nun die Aufgabe, die Kinder über den Sinn dieser Feier und dieser Nacht zu belehren. Das Gedenken an die machtvolle Tat Gottes, den Exodus der Väter aus Ägypten, war mehr als eine einfache Erinnerung, es war Vergegenwärtigung des göttlichen Heilshandelns: »In jeder Generation ist jeder verpflichtet, sich selbst so anzusehen, als wäre er aus Ägypten ausgezogen.« (mPesachim X 5). Darauf folgte der erste Teil des Hallel (Ps 133 und 134) und dann die eigentliche Mahlzeit (davor wurden die Hände gespült und der Segen gesprochen), das Essen des Lammes.597 Zuvor nahm der Hausvater ungesäuertes Brot, sprach den Segen: »Gepriesen seist du, JHWH unser Gott, König der Welt, der Brot aus der Erde hervorgehen läßt. Gepriesen seist du, JHWH unser Gott, König der Welt, der uns durch seine Gebote geheiligt und ungesäuertes Brot zu essen geboten hat.« (Str–B IV 1: 70). Diesen Segenswunsch bekräftigte die Tischgemeinschaft mit Amen. Dann brach er das Brot, teilte es den Anwesenden aus und aß davon als Zeichen, daß die eigentliche Mahlzeit eröffnet war. Zum Mahl wurde der zweite Becher getrunken. Er konnte als zweiter Becher mehrfach gefüllt werden. Die Mahlzeit beendete der dritte Becher (ein Teil Wein, zwei Teile Wasser), der sogenannte Becher des Segens als Dank. Mit dem vierten Becher und dem zweiten Teil des Hallel (Ps 115,1–118,29) war die Mahlzeit im wesentlichen beendet (zu den Abschlußriten vgl. Str–B IV 1: 72f). Es kann keinen vernünftigen Zweifel geben, daß Jesus mit seinen Jüngern ein Pesachmahl gefeiert hat. Der Ritus war aber vermutlich zur Zeit Jesu noch nicht so exakt festgelegt, wie ihn die Mischna darstellt598 und es ist damit zu rechnen,

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daß Jesus aus seinem prophetisch-messianischen Selbstbewußtsein und im Erahnen des baldigen Endes seinem letzten Pesach eine endgültige Dimension geben wollte. In einer unglaublichen Kürze berichten Markus (14,17–25) und Matthäus (26,20–29) vom Hergang des Mahles, wovon noch dazu rund die Hälfte des Erzählten vom Verräter Judas handelt. Beiden Evangelisten scheint es nur darauf anzukommen, den Lobpreis über Brot und Wein in seiner neuen Symbolik festzuhalten und setzen das Übrige als bekannt voraus. Beiläufig erwähnen sie (Mk 14,26; Matth 26,30), daß der Lobgesang, d. h. der zweite Teil des Hallel, die Mahlzeit beendet hat, nach der Jesus mit den Seinen nach Gethsemani geht, also wie vorgeschrieben in der Pesachnacht innerhalb der Grenzen Jerusalems bleibt und nicht in sein Quartier nach Bethanien zurückkehrt. Lukas berichtet vom Mahl kaum mehr (22,14–23), erwähnt, daß Jesus verraten wird, schließt einen Streit der Jünger, wer von ihnen der Größte sei, an (22,24–30), bringt die Voraussage Jesu, daß ihn Petrus dreimal verleugnen werde (22,31–34) und inkarniert gleichsam Jesu Ahnung über sein Ende (22,35–38). Es ist schwer vorstellbar, daß z. B. ein Streit unter den Jüngern während der Feier des Pesach ausgebrochen sei. Lukas hat diese Notiz hier untergebracht, um Jesu grundsätzliche Auffassung über die »Rangordnung« unter den Jüngern, d. h. in den christlichen Gemeinden darzulegen: Wenn der Meister als der Größere die Jünger bedient, so haben diese untereinander keinen Grund, darüber zu streiten, wer von ihnen der Größere sei. Johannes erwähnt das Mahl nur beiläufig (13,2) und bringt verschiedene, lange Reden Jesu, in dieser Stunde des Abschieds gleichsam sein Vermächtnis an die Seinen (13,1–17,26) und die Zeichenhandlung der Fußwaschung (13,1–20), den Hinweis auf den Verräter (13,21–30) und das Wort an Petrus (13,36–38). Versuchen wir, den Verlauf dieses jesuanischen Pesachmahles zu rekonstruieren: Es handelt sich um eine feierliche Mahlzeit, die – ähnlich wie auch heute eine feierliche Mahlzeit – in drei Teile gegliedert ist: Vorspeise, Hauptmahlzeit und Nachtisch. Der erste Teil, die Vorspeise, umfaßte den ersten Becher gemischten Weins, das Essen der marinierten Kräuter etc. und den zweiten Becher, an den sich die Exodus-Geschichte anschloß. Ich meine, daß sich der Beginn genauso vollzogen hat. Lukas hat wohl als einziger Evangelist ein Detail dieser ersten Phase in 22,17 festgehalten: »Und er nahm den Kelch (erster Becher), sprach das Dankgebet (nach bPesachim 103a: Gepriesen seist du, JHWH unser Gott, König der Welt, der die Frucht des Weinstocks geschaffen)« und sagte: »Nehmt den Wein und verteilt ihn untereinander!« In dieser Phase, vermutlich vor Beginn der Exodus-Erzählung, gibt es eine dramatische Zuspitzung: Jesus spricht davon, daß ihn einer der Zwölf überliefern

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werde (Mk 14,17–21 parr.), worauf der Leser des Markusevangeliums schon (14,10–11 parr.) vorbereitet wird. Johannes‘ Schilderung der Szene (13,21–30) könnte darauf hindeuten, daß Petrus und Johannes von Jesus einen Wink darüber erhalten haben, daß Judas Iskarioth der Überlieferer sei.599 Judas verläßt jedenfalls nach der Aufforderung Jesu: »Was du tun willst, das tue bald.« (V 27) abrupt die Festfeier, ohne daß aber alle Anwesenden genau wußten, warum er aufbrach. Das könnte darauf hindeuten, daß auch Petrus und Johannes trotz des Hinweises Jesu nicht ahnten, daß Judas seinen Plan noch in dieser Nacht verwirklichen sollte. Das anschließende Wort des Evangelisten: » [...] meinten einige, Jesus wolle ihm sagen: Kauf, was wir zum Fest brauchen!«, ist jedoch andererseits sehr aufschlußreich; denn es zeigt, daß in Jerusalem in dieser Nacht noch etwas zu kaufen möglich war, d. h. sich Geschäfte nach der offiziellen Zählung hielten, daß dieser Donnerstag erst der 13. Nisan sei, während es nach der volkstümlich– pharisäischen Auffassung schon der 14. Nisan war. Der Einfluß der Priesteraristokratie auf das Jerusalemer Wirtschaftsleben läßt auch kaum anderes erwarten. Daß Judas bereit war, Jesus an die Hierarchen auszuliefern bzw. zu verraten, hat den Verlauf der Ereignisse drastisch beschleunigt. Nur durch diese »Hilfe« war es ihnen überhaupt möglich, Jesus noch so kurz vor dem offiziellen Beginn des Pesachfestes (Freitag, 14. Nisan) zu beseitigen, obwohl sie ursprünglich das Fest vorübergehen lassen wollten (Mk 14,2 parr.). Nach der Pesach-Haggadda und dem ersten Teil des Hallel begann die Hauptmahlzeit. Jesus nahm das (ungesäuerte) Brot, sprach darüber den Lobpreis: »Gepriesen seist du, JHWH unser Gott, König der Welt, der Brot aus der Erde hervorgehen läßt. Gepriesen seist du, JHWH unser Gott, König der Welt, der uns durch seine Gebote geheiligt und ungesäuertes Brot zu essen geboten hat«, und gab es den elf anwesenden Jüngern zu essen. Gleichsam außer »Protokoll« sprach Jesus dabei Worte, die zwar sehr ähnlich, jedoch nicht in gleichem Wortlaut überliefert sind. Gemäß Mk 14,22 lauten sie: »Nehmt, das ist mein Leib« (La/bete, tou◊to/ eÓstin to» sw◊ma/ mou), nach Matth 26,26: »Nehmt, eßt, das ist mein Leib« (La/bete fa/gete, tou◊to/ eÓstin to» sw◊ma/ mou), nach Luk 22,19: »Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird. Tut dies zu meinem Gedächtnis« (tou◊to/ eÓstin to» sw◊ma/ mou to» u˚pe»r u˚mw◊n dido/menon; tou◊to poieivte ei˙ß th»n e˙mh»n a˙na/mnhsin). Nach 1 Kor 11,24 lauten Jesu Worte: »Das ist mein Leib für euch. Tut dies zum meinem Gedächtnis« (tou◊to/ mou/ eÓstin to» sw◊ma/ to» u˚pe»r u˚mw◊n; tou◊to poieivte ei˙ß th»n e˙mh»n a˙na/mnhsin). Die kürzeste Fassung ist die markinische, die bei Matthäus nur ganz geringfügig (»eßt«), bei Lukas und Paulus erheblich erweitert ist, obwohl die Kernworte (»Das ist mein Leib«) in allen vier Texten praktisch gleich sind. Nach meiner Meinung ist die markinische Fassung die älteste, von der Liturgie der jungen Kirche noch am wenigsten geprägte Formulierung, die Jesus so gesprochen haben wird.

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Jesus hat dies natürlich nicht griechisch, sondern hebräisch gesprochen. Dies ergibt sich schon daraus, daß der Segensspruch über das Brot hebräisch und nicht aramäisch war. Auf hebräisch kann Jesu Wort etwa so gelautet haben: »qeḥu zeh huʾ besarj« = »Nehmt, dies ist mein Leib« . Das Wort ist nicht erklärt und muß daher verstanden worden sein. Vom semitischen Denken her kann es aber nicht als eine Primitividentifikation verstanden worden sein, zumal Jesus selber dieses Wort spricht und kaum gemeint hat, daß er mit dem Brot, das er den Jüngern gibt, so identisch ist, als würde er einen Biß spüren, wenn die Jünger das Brot essen. Schon der alte Orient hatte ein menschlich gefertigtes Gottesbild mit der Gottheit selber nie auf primitive Weise identifiziert, sondern ein solches Bild als Realsymbol im Sinne einer sakramentalen (heilsgeschichtlichen, gottesdienstlichen) Vergegenwärtigung und mystischen Identität gesehen. So werden die Jünger dieses Wort auch verstanden haben: das ungesäuerte, geteilte Brot ist Realsymbol Jesu, seine als heilsgeschichtliches Mysterion (Sakrament) repräsentierte personale Wirklichkeit. Man könnte es auch so ausdrücken: wie sich der das Pesachmahl feiernde Israelit als einer sah, an dem das Wunder des Exodus hier und jetzt geschah, so sollen sich die Jünger zusätzlich als solche sehen, die sich in mystischer Weise mit ihrem Meister verbinden. Nach dieser unaussprechlich tiefen Geste beginnt nun das eigentliche Essen des Lammes und das Trinken des zweiten Bechers. Nach dieser Mahlzeit steht der dritte Becher (ein Teil Wein, zwei Teile Wasser), der »Becher des Segens« im Zentrum der Feier. Lukas (22,20 vgl. auch 1 Kor 11,25) hält deutlicher als Markus (14,23) und Matthäus (26,27) fest, daß es die Situation nach dem Mahl ist, d. h., daß es sich um den dritten Becher handelt. Jesus nahm den Kelch und sprach das Segenswort: »Gepriesen seist du, JHWH unser Gott, König der Welt, der die Frucht des Weinstocks geschaffen«, gab den Jüngern zu trinken und fügte dabei wieder außer Protokoll das Wort an: so Mk 14,24: »das ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird« (Mk 14,24). Nach Matthäus (26,28) heißt es: »das ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden«. Lukas (22,20) überliefert: »Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird«. Paulus schreibt (1 Kor 11,25): »Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut. Tut dies, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis«. Auch hier scheint mir die markinische, kurze Überlieferung die älteste zu sein, während die anderen Evangelisten und Paulus bereits durch die urkirchliche Eucharistiefeier geprägt sind. Hebräisch könnte es so gelautet haben: »zeh huʾ damj dam haberjt hašafok beaʿd rabjm« (»Dies ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für Viele vergossen wird.«). Für dieses Wort gilt das Gleiche, was oben über die realsymbolische Präsenz gesagt wurde. Menschliches Blut konnte nach der jüdischen Vorstellung nie genossen werden (Lev 3,17) und es ist ausgeschlossen, daß der historische Jesus sein Blut den Jüngern als Trank zugemutet hätte. Aus Joh 6,51–59 wird klar, daß Jesus seine Personalität, hebräisch

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gedacht seine ganze Leiblichkeit, unter dem hebräischen Begriffspaar: »Fleisch und Blut« umschreibt,600 was aber offensichtlich von weniger Gebildeten nicht leicht verstanden wurde (Joh 6,60). Johannes, der die jesuanischen Deuteworte beim Abendmahl über Brot und Wein nicht überliefert, zieht die ganze Thematik vor und behandelt sie in der Rede Jesu über das Himmelsbrot in der Synagoge von Kapharnaum: »Wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht eßt und sein Blut nicht trinkt, habt ihr das Leben nicht in euch. Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben, und ich werde ihn auferwecken am Letzten Tag. Denn mein Fleisch ist wirklich eine Speise und mein Blut ist wirklich ein Trank. Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, der bleibt in mir, und ich bleibe in ihm [...]. Dies ist das Brot, das vom Himmel herabgekommen ist [...]. Wer aber dieses Brot ißt, wird leben in Ewigkeit.« (Joh 6,53–59). Es ist zwar höchst unwahrscheinlich, daß der historische Jesus schon so früh über diese Thematik gesprochen hat, aber es ist nicht auszuschließen, daß er seine Worte über Brot und Wein den Jüngern beim Abendmahl weiter interpretiert hat, was Johannes in seiner eindringlichen, orientalischen Sprache, gleichsam in konzentrischen Kreisen weiter entfaltet und an einen anderen Schauplatz verlegt. Die johanneische Entfaltung bestätigt zusätzlich das bereits Gesagte, daß eine Primitividentifikation zwischen Brot/Wein und Jesus abzulehnen ist, da Kannibalismus dem semitischen Denken völlig fremd ist. »Fleisch und Blut«, die Johannes zum Schluß unter »Brot« zusammenfaßt, ist die realsymbolische Vergegenwärtigung der Person Jesu, mit der sich die Jünger im Essen des Brotes und Trinken des Weines identifizieren. Hier kommt der besondere Aspekt der konföderativen Gemeinschaft hinzu, der bezüglich des Pesachmahles zu Jesu Zeiten schon längst verblaßt war. Die semitischen Völker pflegten primär in der Zeit ihres nomadischen und seminomadischen Daseins Konföderationen zu schließen, bei denen u. a. eine feierliche Mahlzeit den »Bund« auf die Weise besiegelte, daß sie sich als Brüder – auch im Sinne echter Blutsverwandtschaft – identisch verstanden.601 Markus und Matthäus sprechen daher auch von »Blut des Bundes« und Lukas vom »Neuen Bund in meinem Blut«, d. h., daß die Evangelisten das letzte Pesachmahl, das Jesus mit den Seinen gefeiert hat, unter dem Aspekt einer überaus engen Beziehung zwischen ihm und den Jüngern gesehen haben, die mit Identifikation (Bund) am besten umschrieben werden kann: Es ist Jesu Wille, daß die Jünger im Essen des Brotes und Trinken des Weines mit ihm eins werden, sich mit ihm identifizieren. Der alte semitische Konföderationsritus ist aber noch gesteigert, da das zu Essende und das zu Trinkende Realsymbol der Person Jesu ist. Nicht bloß das feierliche, gemeinsame Essen stiftet die Identität, sondern das Essen und Trinken, das »Verleiblichen« Jesu in den Jüngern.602 Das Mahl beschließt u. a. das Waschen der Hände, das Jesus mit einer zusätzlichen Symbolhandlung erweitert: Er legt sein Obergewand ab, umgürtet sich mit einem Leinentuch, gießt Wasser in eine Schüssel und wäscht den Jüngern die

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Füße (Joh 13,4–5). Johannes ist sehr bemüht, diesen neuen Gestus, der natürlich von allen verstanden wurde,603 ausführlich zu erklären: »Begreift ihr, was ich an euch getan habe? Ihr sagt zu mir Meister und Herr, und ihr nennt mich mit Recht so; denn ich bin es. Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, dann müßt auch ihr einander die Füße waschen. Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe.« (Joh 13,12–15). »Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.« (Joh 13,34–35). Der letzte Satz paßt zweifellos auf den historischen Jesus und der Evangelist verwendet ihn gleichsam als Haupterklärung für die Zeichenhandlung der Fußwaschung: es hat also keinen Sinn, wenn die Jünger nur einen Gestus wiederholen, sich sonst denunzieren, verketzern, darum streiten, wer der Größere sei, oder sich gar die Schädel einschlagen. Seine Jünger erkennt man daran, daß sie einander lieben, was bis heute zu gelten hat! Den Abschluß des letzten Pesachmahles Jesu bildete der gemeinsame Lobgesang (Mk 14,26; Matth 26,30), das heißt der zweite Teil des Hallel (Ps 115,1– 118,29), nach dem der letzte, vierte Becher gereicht wurde.604 Spätestens um Mitternacht mußte die Feier beendet sein. Jerusalem durfte aber in dieser Nacht nicht verlassen werden. Daher ging Jesus mit den Jüngern nicht nach Bethanien zurück. Er verließ die bebaute Stadt gegen Osten hin (Abb. 34), überquerte das Kidrontal (Joh 18,1) und kam in einen Garten namens Gethsemani (Mk 14,32; Matth 26,36) am Fuße des Ölbergs (Luk 22,39). Die Synoptiker berichten mit kleinen Varianten von Jesu Gebet in Gethsemani (Mk 14,32–42; Matth 26,36–46; Luk 22,39–46), während Johannes dieses übergeht und mit Jesu Verhaftung fortfährt (Joh 18,1–11). Nach dem johanneischen Konzept ist auch kaum zu erwarten, daß hier noch ein Gebet folgen sollte, brachte der Evangelist ja das Abschiedsgebet mit Jesu Rechenschaft vor dem Vater, Jesu Fürbitte für die Jünger und die Gläubigen schon zuvor (Joh 17,1–26). Die Synoptiker dürften hier die historische Situation unmittelbar vor der Verhaftung Jesu exakter wiedergegeben haben: Jesus gebietet den Jüngern zu warten, während er mit Petrus, Jakobus und Johannes ein Stück weiter geht. »Da ergriff ihn Furcht und Angst, und er sagte zu ihnen: Meine Seele ist zu Tode betrübt. Bleibt hier und wacht! Und er ging ein Stück weiter, warf sich auf die Erde nieder und betete, daß die Stunde, wenn möglich, an ihm vorübergehe.« (Mk 14,33–35). Die Todesahnung Jesu nimmt in diesem Beten Gewißheit an. Es ist die verzweifelte Bitte an den Vater, das kommende Geschehen von ihm abzuwenden. Und selbst in dieser Stunde der Verzweiflung zeigt sich Jesu unendliche Gottesnähe, da nicht seine Bitte an den Vater maßgeblich sein soll, sondern ausschließlich seine Ergebung in den Willen Gottes. Lukas (22,44): »Und er betete in seiner Agonie noch inständiger, und sein Schweiß war wie Blut, das auf die Erde tropfte« schildert drastisch die Streßsituation, in der sich Jesus befand. Das griechische Nomen »Agonia« bezeichnet

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die »letzte Spannung der Kräfte vor hereinbrechenden Entscheidungen und Katastrophen«, aber auch vor dem Sieg.605 In seiner Schrift »Über die Krankheiten« 2,75 verwendet der berühmte griechische Arzt Hippokrates (460–370 v. Chr.) den Terminus »Thrombos« – Thrombose (ursprünglich: dicker Tropfen, Klumpen) – im Zusammenhang mit der Galle als medizinischen Terminus für Gallensteine. Es kann daher kein Zweifel bestehen, daß der Begriff Thrombos medizinisch längst geprägt war. Der Evangelist vergleicht nun den austretenden Schweiß Jesu mit Bluttropfen. Die Metapher legt doch nahe, daß Lukas nicht sagen will, Jesus hätte Blut geschwitzt, sondern daß er das Schwitzen Jesu in dieser Streßsituation mit dem heute in der Medizin als Verbrauchskoagulopathie (innere Verblutung) bezeichneten Phänomen vergleicht, das für gewöhnlich zum Tode eines Menschen führt. Er deutet daher mit diesem Vergleich an, daß der Tod Jesu unmittelbar bevorsteht.

Abb. 34 Jesu letzte Tage in Jerusalem: Stätten des Abendmahles, des Prozesses und der Hinrichtung Jesu

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Dreimal findet Jesus die drei Jünger schlafend. Sie ahnten weder, was in ihrem Meister vorging, noch daß das jähe Ende vor der Tür stand. Die vergangene festliche Mahlzeit und der Wein mögen das ihre dazu beigetragen haben. Markus bemerkt daher mit Recht: »denn die Augen waren ihnen zugefallen; und sie wußten nicht, was sie ihm antworten sollten.« (14,40). Schmeichelhaft ist es für die vertraute Trias nicht, daß sie ihren Meister in diesem schweren Augenblick letztlich allein lassen. Um so historisch sicherer wird daher diese Überlieferung sein; es wurde nichts beschönigt. In dem von Festpilgern strotzenden Jerusalem wäre eine Verhaftung Jesu nicht leicht gelungen, hätte Judas, der den Aufenthaltsort Jesu und seiner Jünger kannte, die Tempelpolizei nicht dorthin geführt. Die Hilfe des Judas war für die Behörden unschätzbar. Sie konnten so ihr Ansinnen, Jesus erst nach den Festtagen den »Prozeß« zu machen, revidieren und in aller Heimlichkeit (vgl. Luk 22,6) sofort einschreiten. Alle vier Evangelisten berichten von der Verhaftung Jesu im Garten Gethsemani (Mk 14,43–52; Matth 26,47–56; Luk 22,47–53; Joh 18,3–12) und stimmen in groben Zügen überein: Judas erscheint mit Exekutive, die Jesus verhaftet.606 Es kommt zu einem Gerangel,607 bei dem ein Jünger (nach Joh 18,10 ist es Petrus) mit einem Schwerthieb einem Polizisten (nach Joh 18,10 hieß dieser Malchus; nach Luk 22,51 heilt Jesus das verletzte Ohr) das rechte Ohr abschlägt. Jesus gebietet dem Treiben Einhalt und wirft den Tempelwachen vor: »Wie gegen einen Räuber seid ihr mit Schwertern und Knüppeln ausgezogen, um mich festzunehmen. Tag für Tag war ich bei euch im Tempel und lehrte und ihr habt mich nicht verhaftet [...].« (Mk 14,48f parr.). Als die Jünger die Aussichtslosigkeit der Situation erkennen, fliehen sie.608 Jesus wird abgeführt. Der so einmütig geschilderte Vorgang wird sich kaum viel anders ereignet haben. Die Synoptiker sprechen davon, daß Judas Jesus küßte und daß dieser Kuß das verabredete Zeichen für die Polizisten war, den Richtigen zu verhaften. Der Judaskuß als der Kuß des Überlieferers hat bis heute die Phantasie Vieler beschäftigt und ist im Deutschen ein Synonym für Verrat und Betrug geworden. Johannes berichtet davon nichts. Noch dazu trugen die Polizisten Laternen und Fackeln mit sich (Joh 18,3), so daß sie die einzelnen Personen wohl unterscheiden konnten. Daß Markus (14,45) als erster Evangelist das Kußmotiv hereingenommen hat und dann ebenso Matthäus und Lukas, ist motivgeschichtlich zu verstehen. Der Kuß ist seit altersher auch ein Symbol des Todes. In einem Midrasch vom Tod des Mose heißt es: »Ich (die Seele) bitte dich (Gott) inständig, laß mich wohnen im Leib des Mose! – Da küßte ihn der Heilige und nahm seine Seele durch den Kuß des Mundes weg.«609 Die Evangelisten deuten daher mit dem Kußmotiv den bevorstehenden Tod Jesu an und schildern keinen geschichtlichen Vorgang (Abb. 35).

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Abb. 35 Der verstorbene Pharao Sesostris I. (1971–1929 v. Chr.) wird von der Gottheit im Tempel und dereinst im Jenseits umarmend und küssend, damit dem Tod seinen Schrecken nehmend, empfangen. Auch das alte Israel und das alte Juda haben eine solche Symbolik gekannt: Henoch (Gen 5,24) und der Prophet Elija (2 Kön 2,3) werden am Ende ihres Lebens von Gott »genommen«, wobei nicht an eine phantastische Himmelfahrt, sondern an den Akt der personalen Annahme gedacht werden kann. Ps 73,24 wendet diese Denkweise auf alle Gerechten in Israel an: »Nach deinem Plan führst du mich, und zu guter Letzt nimmst du mich.« Der im Text zitierte Midrasch vom Tod des Mose zeigt, daß diese Vorstellung bis weit über das erste nachchristliche Jahrhundert hinaus lebendig gewesen ist und auch sonst vertraut war (vgl. auch Cicero, In Verrem 2,5,118). Den »Judaskuß« (Mk 14,35 parr.) nehmen daher die Synoptiker auf, um den Leser auf den nun kommenden Tod vorzubereiten, d. h., sie isolieren das alte Motiv, ohne daß die Vorstellung eines Weiterlebens nach dem Tod hier mitschwingt, zumal der Verräter und nicht Gott in Aktion gesehen wird.

Ob nun ein Jünger (Petrus) bei der Verhaftung Jesu anfänglich Widerstand geleistet hat, scheint möglich. Lukas (22,35–38) hat z. B. ein Wort Jesu bewahrt, daß

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selbst wer kein Geld hat, seinen Mantel verkaufen und sich ein Schwert besorgen soll. Als die Jünger antworten, daß sie zwei Schwerter haben, wehrt Jesus ab: »Genug davon!« Es wäre natürlich völlig verfehlt anzunehmen, daß eine solche »Bewaffnung« darauf hindeutet, daß Jesus und seine Gruppe irgendwelche Gelüste hegten, einen Aufstand gegen die Römer anzuzetteln. Ein Schwert zur Verteidigung war damals aber immer ratsam, besonders für eine Gruppe, die bei ihren Wanderungen oft im Freien übernachten mußte. Es ist durchaus auch möglich, daß man eine Verhaftung Jesu mit dem Schwert zu verhindern dachte. In dieser Situation nach dem Pesachmahl waren aber die Jünger kaum gefaßt, sich zur Wehr zu setzen. Das Überraschungsmoment war wohl zu groß, und des Petrus spontanes Handeln führt nur zur blitzartigen Erkenntnis, die Lage sei so aussichtslos, daß nur die Flucht bleibt. In der Gefangennahme Jesu und der Flucht seiner Jünger »erfüllt« sich das Wort des Propheten Sacharja (13,7): »Ich werde den Hirten schlagen und die Schafe der Herde werden sich zerstreuen.«610

3. Das Verhör durch Hannas und Joseph ben Kaiaphas Jesus wurde am Freitag, 15. Nisan, kurz nach Mitternacht verhaftet (pharisäische Zählung). Nach dem offiziellen Kalender war es Freitag der 14. Nisan. Man nützte die Hilfe des Judas, um Jesus nun doch noch rasch vor dem offiziellen Pesachfest, das mit der Abenddämmerung begann, zu beseitigen. Der Hohepriester war sich offenbar seiner Sache sicher und meinte, daß das Einvernehmen mit dem römischen Präfekten, der zum Fest ohnedies in Jerusalem weilte, rasch hergestellt sei. Der Hohepriester unterschätzte jedoch den Präfekten. Jesus wurde daher verhaftet, um hingerichtet zu werden. Alles, was sich an die Verhaftung anschließt, dient nur diesem Zweck und es war daher überhaupt nicht beabsichtigt, ihm die Möglichkeit einer echten Verteidigung zu geben. Die Evangelien berichten die Ereignisse nach Jesu Verhaftung in einer erstaunlichen Geschlossenheit. Gewisse Unterschiede haben ihren Grund in verschiedenen, eben nicht völlig einheitlichen Quellen der Evangelisten. Markus (14,53–65), der älteste Bericht, erwähnt nur kurz, daß Jesus zum Hohenpriester geführt wurde. Im Hof des Palastes saß auch Petrus vor dem wärmenden Feuer, da er Jesus gefolgt war. Der Evangelist schildert hier also die Lage unmittelbar nach Jesu Verhaftung. Mit V 55 setzt der Bericht neu ein und gibt das Verhör vor dem »Hohen Rat« wieder. Matthäus (26,57–68) verzeichnet die gleiche Abfolge, Lukas (22,54–71) stellt den ersten Teil vor dem Verhör ausführlicher dar: Jesus wird in das Haus des Hohenpriesters gebracht, wohin ihm Petrus folgt und sich am Feuer im Hof wärmt. Eine Magd erkennt Petrus als Jünger Jesu, Petrus aber leugnet. Zweimal treten noch andere Personen in dieser Weise an Petrus heran, er leugnet weiter

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beharrlich. V 61 heißt es auch, daß nun Jesus Petrus anblickt, der Hahn kräht und sich Petrus erinnert, daß ihm Jesus die Verleugnung vorhergesagt hatte. »Und er ging hinaus und weinte bitterlich.« (V 62). Die lukanische Darstellung schildert also, daß Jesus nach seiner Verhaftung vorerst im Hof des Palastes des Hohenpriesters, wo sich auch Petrus heimlich eingeschlichen hatte, auf sein Verhör warten mußte, so daß die beiden auch Augenkontakt hatten. Diese Wartezeit war für Jesus qualvoll, da die Wächter mit ihm ihren Spott trieben (Vv 63–65). Mit Tagesanbruch beginnt das Verhör durch Angehörige des Hohen Rates (Vv 66–71). Diese Darstellung ist daher kein Gegensatz zu Markus und Matthäus, sondern eine genaue Unterscheidung zwischen zwei Fakten nach Jesu Verhaftung, deren erstes Markus und Matthäus nur kurz erwähnen und den Leser gleich zum Verhör führen, während es Lukas ausführlicher schildert und vom zweiten Faktum, dem Verhör, exakt trennt. Die Quellen des Lukas haben sich in diesem Punkt erheblich von denen des Markus und Matthäus unterschieden.611 Die lukanische Darstellung wird von Johannes bestätigt (18,12–27)612 und weiter präzisiert: Jesus wird nach der Verhaftung gefesselt zum früheren Hohenpriester Hannas (16–17 n. Chr.), dem Schwiegervater des amtierenden Hohenpriesters Joseph ben Kaiaphas (18–36 n. Chr.) geführt, der im Hintergrund die politischen Fäden zog, und nun Jesus befragte. Die Verleugnung Jesu durch Petrus hat Johannes in seiner Darstellung als Rahmen der Befragung durch den Hohenpriester Hannas benützt. Wo diese Befragung stattfand, im Hof oder im Inneren des Palastes, wird nicht gesagt. Die Art der Darstellung läßt aber vermuten, daß sich alles im Hof abspielte: Es folgt die erste Verleugnung des Petrus, der überhaupt nur in den Hof eingelassen wurde, weil ein anderer Jünger Jesu, der den Hohenpriester Hannas bzw. die Pförtnerin kannte, sie darum bat.613 Daran schließt die Befragung durch Hannas an, bei der Jesus u. a. geschlagen wurde. Den Abschluß bildet eine weitere zweimalige Verleugnung des Petrus, der noch immer im Hof stand und sich am Feuer wärmte. Das eigentliche Verhör Jesu durch den amtierenden Hohenpriester Kaiaphas, das am Morgen stattfand, übergeht Johannes. Er erwähnt nur mit einem Satz, daß ihn Hannas gefesselt zu Kaiaphas schickte (V 24). Die johanneische Darstellung ist ein gutes Beispiel, wie der Evangelist als Insider dort eine Korrektur der synoptischen Darstellungen vollzieht, wo er es für wichtig erachtet und dann ohne weiteres z. B. das eigentliche Verhör nur mit einem Satz andeutet, da dieses ohnehin die Synoptiker darstellen. Ein genaues Hinsehen auf diese Texte kann also klar den Ablauf der Ereignisse nach Jesu Verhaftung im Garten Gethsemani zeigen: die restliche Nacht verbringt Jesus gefesselt und unter Bewachung im Hof des Palastes der hohenpriesterlichen Familie, wo er u. a. von Hannas befragt, von den Wächtern mißhandelt und schließlich von Petrus verleugnet wird. Erst bei Tag beginnt das eigentliche Verhör.

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Gegen die Geschichtlichkeit dieses Verhörs wurden seitens gewisser Forschungsrichtungen massive Einwände juristischen und traditionsgeschichtlichen Charakters erhoben.614 Diese Einwände sind jedoch aus der Luft gegriffen. Alle Belege zeigen klar, daß der Hohe Rat zwischen 6–66 n. Chr., mit Ausnahme der Jahre 41–44 n. Chr., keine Kapitalgerichtsbarkeit hatte und daher kein Todesurteil exekutieren durfte.615 Kapitalprozesse waren ausschließlich Sache des römischen Präfekten! Kaiaphas führte daher keinen Prozeß im juristischen Sinn gegen Jesus, sondern veranstaltete mit einigen gleichgesinnten Ratsherren ein kurzes Verhör, um den Schein zu wahren, obwohl Jesu Hinrichtung – und somit Auslieferung an die römische Behörde – eine längst beschlossene Sache war. Dieses kurze Verhör widerspricht allen Regeln, die ein pharisäisch-rabbinischer Gerichtshof in einem solchen Fall angewendet hätte, was nicht zu wundern braucht, da es sich um einen willkürlichen Akt der obersten Tempelbehörde, einer kleinen sadduzäisch-boëthosäischen Clique handelt. Es ist auch zu bezweifeln, daß so vorgegangen wurde, wie es bei einem Prozeß vor dem Hohen Rat die Regel war.616 Markus (14,53), Matthäus (26,59) und Lukas (22,66) sprechen zwar global vom Hohen Rat, vor den Jesus geführt wurde, doch Matth 26,57 macht klar, daß es sich um Schriftgelehrte und Älteste handelt, die in das Haus des Kaiaphas gekommen waren (vgl. Joh 18,24). Das Haus des Hohenpriesters war aber nicht der Amtssitz des Hohen Rates. Auch daraus wird deutlich, daß es sich um keine Aktion der gesamten Ratsversammlung gehandelt haben kann. Die Clique um den Hohenpriester, die Jesu Vernichtung schon länger geplant hatte und durch den Verrat des Judas so schnell zu ihrem Ziel kommen sollte, war in diesem Augenblick auch überfordert und schlecht vorbereitet. Das Zeugnis derer, die sie aufmarschieren ließen, stimmte nicht überein und selbst über das Tempelzerstörungswort Jesu gab es keine einheitliche Aussage. Die Farce war offenkundig. Schließlich versuchte der Hohepriester das Ruder herumzureißen und stellte die für ihn entscheidende Frage: »Bist du der Messias, der Sohn des Hochgelobten?« (Mk 14,61), bzw. »Bist du der Messias, der Sohn Gottes?« (Matth 16,63). Die markinische Tradition hat vermutlich die Formulierung des Hohenpriesters genauer bewahrt als Matthäus; denn das Verhör wurde, wie es dem Hohenpriester angemessen war, in hebräischer und nicht in der aramäischen Umgangssprache geführt. Die markinische Formulierung ist praktisch die genaue Übersetzung der hebräisch formulierten Frage: »ha-aʾtah huʾ ha-mašiaḥ ben haqqadoš baruk huʾ« ins Griechische. Die Frage könnte jüdischer gar nicht sein. Der übersetzte Terminus »Eulogetos« (Hochgelobter) war unter Christen nie üblich und ist eine typisch jüdische Formulierung. Es ist die Frage nach der Messianität Jesu, mit der der Hohepriester an die Grenze seines jüdischen Messiasverständnisses geht, an die Grenze deswegen, weil er mit seiner Formulierung »Sohn des Hochgelobten« anklingen läßt, daß sich

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Jesus in einer höheren Kategorie als der des Messias gesehen hat. Die präzise Formulierung, durch die der Hohepriester das Verhör auf den Punkt bringt, zeigt, daß er im Unterschied zu seinen Handlangern, deren Zeugnisse sich widersprachen, genauestens über Jesu Provokation während der Tage vor dem Fest informiert war. Das Gleichnis von den bösen Winzern, die den Sohn töten und aus dem Weingarten hinauswerfen und denen dafür von Gott der Weingarten (Israel) entzogen wird, hat ihn innerlich auch in dieser Stunde noch erschauern lassen. Ich meine daher, daß Jesu prophetisches Vorgehen gegen den Mißbrauch des Tempels und sein Tempelzerstörungswort gar nicht so entscheidend waren, so daß man seine Verhaftung und Verurteilung plante, sondern daß er den konkret amtierenden Hohenpriester und die ihm hörige Gruppe in ihrem religiösen Führungsanspruch grundsätzlich in Frage stellte. Jesus wußte sich in Gottes Unmittelbarkeit und war davon überzeugt, daß Gottes Königsherrschaft in ihm und mit ihm endgültig präsent ist. Die Antwort, die Jesus dem Hohenpriester gibt, bestätigt dies. Nach Markus (14,62) »bejaht« Jesus die Frage auf folgende Weise: »Du hast das gesagt, (nicht ich), daß ich es bin«; nach Matthäus (26,64) antwortet er: »du hast das gesagt (nicht ich)«, während Lukas (22,70) »ihr sagt, daß ich es bin, (nicht ich)« formuliert. Um seine »Zustimmung« für den Hohenpriester provozierend zu verdeutlichen, fährt Jesus fort: »Und ihr werdet des Menschen Sohn zur Rechten der Macht sitzen und mit den Wolken des Himmels kommen sehen« (Mk 14,62). Nach Matthäus (26,64) fast derselbe Wortlaut: »Ihr werdet sehen des Menschen Sohn zur Rechten sitzend der Macht und kommend mit (auf) den Wolken des Himmels.« Diese Antwort ist eine Kombination aus Daniel 7,13 und Ps 110,1. Aus dem griechischen Text ist noch deutlich erkennbar, daß Jesus die Schrift jeweils im Original zitiert, Daniel 7,13 aramäisch und Ps 110,1 hebräisch. Jesu Antwort wird daher hebräisch/aramäisch mit hoher Wahrscheinlichkeit so gelautet haben: »weaʾtem tirʾu bar ʾenoš jošeb ljmjn ha-gebura weʾateh ʿim ʿananej šemajʾa = Und ihr werdet sehen des Menschen Sohn [Dan 7,13] sitzend zur Rechten [Ps 110,1] der Kraft und kommend mit den Wolken des Himmels [Dan 7,13]).« Was hatte Jesus mit dieser eigenartigen Antwort auszudrücken versucht? Er weist zuerst gängige Messiasvorstellungen von sich (»Du hast das gesagt, daß ich es bin, nicht ich«). Matth 26,64 fährt mit dem griechischen Adverb, als Konjunktion gebraucht, »plēn« weiter. Diese Konjunktion zeigt, daß nun der vorausgehende Gedanke abgebrochen und zu etwas Neuem übergeleitet wird. Man müßte also so übersetzen: Welchen Titel auch immer ihr mir in eurer Beschränktheit zulegt, das Entscheidende ist das, was ich jetzt sage: die Zitate aus Daniel 7,13 und Ps 110,1. Jesus hat den Taktierer Kaiaphas durchschaut. Er weist zurück, je einen politischmessianischen Anspruch erhoben zu haben, erhebt aber einen absoluten religiöseschatologischen »als Sohn des Hochgelobten«, d. h. die endgültige und in seiner Person gegenwärtige Herrschaft Gottes ist die einzige Wirklichkeit.

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Jesus mußte sich bewußt sein, daß er in den Augen des Hohenpriesters mit einer solchen Aussage sein Leben verwirkt hatte. Die Reaktion des Hohenpriesters ist auch dementsprechend: er zerreißt sein Kleid und wirft Jesus Gotteslästerung617 vor; denn diesen Anspruch konnte kein Mensch, kein Prophet und Lehrer Israels stellen, sondern nur der von Gott kommende Sohn. Das konnte oder wollte der Hohepriester nicht akzeptieren, weil ihm klar war, daß dadurch die jüdische Religion in ihrer bisherigen Form zu existieren aufgehört hätte. Die Ereignisse nahmen ihren weiteren grausamen Verlauf: Joseph ben Kaiaphas und seine Marionetten sprachen einstimmig das Todesurteil aus. Nun waren die römischen Behörden am Zug.

4. Die Aburteilung durch Pilatus Übereinstimmend berichten die Evangelisten, daß Jesus von Kaiaphas dem römischen Präfekten Pontius Pilatus zwecks Verurteilung zum Tod übergeben wurde (Mk 15,1; Matth 27,1–2; Luk 23,1; Joh 18,28).618 Die Frage, wer also objektiv für die Hinrichtung Jesu verantwortlich war, kann daher eindeutig beantwortet werden: der amtierende Hohepriester Joseph ben Kaiaphas und seine Mitläufer. Eine Schuldzuweisung an den gesamten Hohen Rat ist auszuschließen, da alles darauf hindeutet, daß die gesamte Ratsversammlung als solche mit der Angelegenheit überhaupt nicht befaßt war. Der Hohepriester konnte den Rat auch deswegen umgehen, weil er weder eine Gerichtsverhandlung führte, noch eine eigentliche Voruntersuchung, sondern sich mit einem formlosen Verhör begnügte, das seine Meinung bestätigen sollte. Auch ein vom gesamten Hohen Rat bestätigtes Todesurteil Jesu hätte – und das wußte Kaiaphas – keine unmittelbaren Folgen gehabt, da in einem solchen Fall immer der Präfekt handeln mußte. Also ersparte sich Kaiaphas einen formalen Prozeß, nahm nicht in Kauf, auf massive Widerstände im Hohen Rat gegen seinen Plan zu stoßen, und schaltete sofort den Präfekten ein, dessen Wohlwollen er sich dabei auf irgendeine Weise sicher sein konnte. Dem römischen Präfekten waren die innerjüdischen, religiösen Streitereien völlig egal. Sein juristisches Einschreiten erfolgte aber dann, wenn irgendetwas Roms Politik zuwiderlief. Kaiaphas mußte daher die Anklage so formulieren, daß Pilatus Jesus wegen Hochverrates zum Tode verurteilen konnte. Der messianische Anspruch Jesu im Sinne seiner Antwort an den Hohenpriester wäre dem Präfekten zu wenig gewesen. Man lieferte Jesus daher mit der politischen Messiasanklage aus: »König der Juden«. Wir haben bereits früher gesehen, mit welcher Sensibilität die Römer mit diesem Titel umgingen und daß es ausschließliche Sache des römischen Kaisers war, einem Untertan diesen Titel zu verleihen oder zu verweigern, was z. B. bei den Söhnen Herodes des Großen geschehen ist.

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Jeder, der den Königstitel für sich beanspruchte, war daher nach römischem Recht ein Hochverräter. Die Anklage lautete also auf Hochverrat. Im Sinne der Anklage war Jesus nicht schuldig und wurde zu Unrecht verurteilt! Die Frage ist, ob Pilatus die Anschuldigung des Hochverrates blindlings übernahm und auf Grund seiner Kompetenz sofort das Todesurteil verfügte. Da Judäa eine Militärdiktatur war, konnte der Präfekt sogar Offiziere der römischen Armee ohne Prozeß hinrichten lassen, wenn ihnen Hochverrat »nachgewiesen« war. Einen für ihn unbedeutenden Juden hinrichten zu lassen, was ihm noch dazu die höchste jüdische Autorität nahelegte, kostete ihm wohl keine sehr große Überwindung. Im Unterschied dazu versuchen die Evangelien Pilatus zu entlasten. Das hat seinen Grund darin: Die christliche Botschaft wurde bereits kurz nach Jesu Kreuzigung in weiten Teilen des römischen Reiches verkündet. Es war für die christlichen Glaubensboten schwer genug, zugeben zu müssen, daß Jesus von Nazareth durch den Präfekten von Judäa wegen Hochverrates zum Tod verurteilt wurde. Man versuchte daher, den römischen Beamten in gewisser Weise zu entlasten und die Schuld am Tod Jesu dem amtierenden Hohenpriester zuzuschreiben. Historisch gesehen ist die Schuld des Hohenpriesters und seiner Mitläufer zwar eindeutig, aber man begnügte sich nicht damit. Die Schuld wird auf den gesamten Hohen Rat übertragen und dann auf das jüdische Volk als Ganzes. Diese Tendenz durchzieht wie ein roter Faden die Berichte über Jesus vor Pilatus in allen vier Evangelien. Der Zweck ist klar. Man wollte vor der römischen Welt zeigen, daß die Christen loyal zum Reich stehen, während die Juden, z. B. Barabbas, einen wirklichen Rebellen gegen Rom, frei zwangen. Mk 15,1–5 bringt die Pilatusszene und schließt die Verspottung Jesu durch die römischen Soldaten an (15,16–20a). Jesus wird mit der politischen Messiasanklage »König der Juden« vom Hohen Rat an Pilatus ausgeliefert. Der Präfekt fragt Jesus, ob er der »König der Juden« sei, was Jesus verneint: »Du sagst das«. Zu allen weiteren Vorwürfen der Führer des Hohen Rates schweigt Jesus, so daß sich Pilatus wundert. Schließlich kommt der Präfekt auf den Gedanken, zum Pesachfest Amnestie zu gewähren. Er will das Volk zwischen Barabbas, einem Mörder und Aufständischen (Zeloten), und Jesus wählen lassen. Das Volk zwingt nach massiver Beeinflussung durch die Hierarchen Barabbas frei und verlangt, Jesus zu kreuzigen. Die Einwände des Präfekten bleiben wirkungslos. Schließlich gibt er nach, läßt Jesus geißeln und dann kreuzigen. Nach der Geißelung treiben die Soldaten ihren Spott mit Jesus. Matthäus (27,11–26.27–31a) berichtet ähnlich, hat jedoch auch andere Quellen als Markus, so daß er z. B. schreibt, die Frau des Präfekten ließ ausrichten, daß Jesus unschuldig ist (V 19). Als Pilatus die aufgebrachte Volksmenge kaum mehr beruhigen kann, gibt er nach, läßt sich Wasser bringen und wäscht sich öffentlich die Hände mit den Wor-

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ten: »Ich bin unschuldig am Blut dieses Menschen. Das ist eure Sache!« (V 24). Darauf habe das Volk gerufen: »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!« (V 25). Liegt also nach dem markinischen Text die Schuld am Tod Jesu beim Hohen Rat, ohne der aufgewiegelten Volksmasse eine Verantwortung zuzuweisen, so interpretiert dies Matthäus anders und gibt dem gesamten Volk die Schuld. Er verwendet dafür den griechischen Ausdruck »pas ho laos«, was der hebräischen Bezeichnung »kol Israel« entspricht und die Gesamtheit des jüdischen Volkes aller Generationen meint. So will der Jude Matthäus sagen, daß sein Volk vor Pilatus eine endgültige Entscheidung gegen Jesus getroffen hat, was natürlich eine maßlos übertriebene Interpretation ist. Matthäus hat seine Vorstellung von der jüdisch-pharisäischen Tradition bezogen, daß das Blut eines unschuldig zum Tod Verurteilten bis zum Ende der Welt auf den falschen Zeugen und ihren Nachkommen haftet (mSanhedrin IV 5).619 Matthäus läßt Pilatus die jüdische Sitte des Händewaschens kopieren und demonstriert so dessen Unschuld (vgl. Dtn 21,1–9; Ps 26,6; 73,13) am Tod Jesu. Es ist ausgeschlossen, daß der römische Beamte bei einem solchen Verfahren eine jüdische Sitte nachgeahmt hätte.620 Lukas stützt sich bei seiner Darstellung auf eine andere Quelle. In 23,1–5 erwähnt er ähnlich wie seine Vorgänger, daß Pilatus Jesus für unschuldig hält. Als der Präfekt jedoch mitbekommt, daß Jesus Galiläer ist, schickt er ihn zum Tetrarchen von Galiläa, Herodes Antipas, der zum Pesachfest in Jerusalem weilt (23,6–12). Das ist einerseits eine freundliche Geste, die zeigt, daß für Pilatus die Souveränität der Tetrarchie Galiläa ein Faktum der kaiserlichen Verfügung ist, andererseits das Abschieben eines für ihn höchst kontroversellen Problems, das der Hohe Rat ihn zu entscheiden zwingt. Der »Fuchs« (vgl. Luk 13,32) und Mörder Johannes des Täufers, Herodes Antipas, ist aber offenbar schlau genau, diese Strategie zu durchschauen. Er ist hocherfreut, Jesus einmal persönlich zu begegnen, hofft, ein Wunder zu sehen, stellt bohrende Fragen, wendet sich aber enttäuscht ab, da ihn Jesus keiner Antwort würdigt. Der Spott, den er dann über Jesus ausgießt, ist mehr ein Zeichen der Ratlosigkeit denn der Ablehnung. Er schickt Jesus ohne Urteil zum Präfekten zurück. Pilatus versucht nun mehrmals, die Hierarchen und das Volk von Jesu Unschuld zu überzeugen – auch Herodes Antipas hat ihn nicht verurteilt, sagt er ausdrücklich. Doch es fruchtet nichts. Schließlich muß er dem Volksauflauf nachgeben, läßt den Mörder und Rebellen Barabbas frei und Jesus hinrichten (23,13–25). Nach Lukas trägt also die Schuld am Tod Jesu der Hohe Rat und das vor Pilatus anwesende Volk, ohne daß aber aus seiner Darstellung erkennbar wäre, daß er damit das gesamte jüdische Volk aller Zeiten und Generationen meinte. Pilatus erscheint als der gute und freundliche römische Richter, der sich aus Schwäche dem Volkswillen beugt.

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Johannes schildert die Pilatusszene am ausführlichsten (18,28–19,16a): Jesus wird schon in den frühen Morgenstunden vom Haus des Kaiaphas in das Prätorium621 des Pilatus gebracht (vgl. Abb. 18). Die jüdische Begleitung Jesu betrat das heidnische Gebäude nicht, um sich nicht kultisch unrein zu machen; denn nach der offiziellen boëthosäischen Zählung war es Freitag der 14. Nisan, an dem im Unterschied zur Bevölkerung, für die nach pharisäischer Zählung dieser Freitag schon der 15. Nisan, also der erste Feiertag des Mazzotfestes war, die Hierarchen und ihre unmittelbaren Parteigänger die Pesachlämmer um 13.30 Uhr zu schlachten begannen. Diese johanneische Notiz ist insofern wichtig, weil sie zeigt, daß für die Hierarchie das Fest noch nicht begonnen hatte. Pilatus ist nicht gewillt, sich dem Begehren der Begleitung Jesu zu beugen. Als er schließlich sieht, daß von ihm eine schnelle Aburteilung zum Tod verlangt wird, führt er im Prätorium mit dem Angeklagten ein ausführliches Gespräch über dessen Königtum. Als er schließlich sieht, daß Jesus kein irdisches Königtum im Auge hat, sondern sich als Zeuge der Wahrheit Gottes sieht, stellt er mehr aus Verlegenheit denn aus Agnostizismus die Frage: »Was ist Wahrheit« (18,38). Pilatus lehnt dann eine Verurteilung Jesu ab und bietet eine Amnestie zum Pesachfest an. Doch es wird nicht Jesu Freigabe, sondern die des Barabbas verlangt. Offenbar um Zeit zu gewinnen, läßt nun Pilatus Jesus geißeln und die Soldaten seinen Spott mit ihm treiben. Dann versucht er, Jesus definitiv für unschuldig zu erklären: »Seht, ich bringe ihn zu euch heraus; ihr sollt wissen, daß ich keinen Grund finde, ihn zu verurteilen. [...] Seht welch ein Mensch.« (19,4–5). Doch die »Hohenpriester und ihre Diener« fordern seine Kreuzigung. Pilatus ist unsicher und versucht ein weiteres Gespräch mit Jesus, das ihm Jesu Unschuld vor Augen führt. Der Präfekt drängt abermals auf Jesu Freilassung. Da greifen die Begleiter Jesu zum letzten Mittel. Sie drohen mit einer Anzeige beim Kaiser, falls ihnen Pilatus nicht willig ist: »Wenn du diesen freiläßt, bist du kein Freund des Kaisers; jeder, der sich als König ausgibt, lehnt sich gegen den Kaiser auf.« (19,12). Pilatus hätte nach dieser Darstellung mit einer Beschwerde bei Kaiser Tiberius rechnen müssen, in der ihn Kaiaphas des Hochverrates beschuldigt. Der Hohepriester wußte nur zu genau, wie korrupt Pilatus in seiner Amtsführung war! So versucht er ihn zu erpressen. Das ganze Geschehen zog sich nun schon Stunden dahin. Pilatus hörte mit dem Hin- und Herdiskutieren auf, setzte sich gegen 12 Uhr auf den Richterstuhl, der auf einem Steinpflaster stand (Lithostrotos, Gabbata) und versuchte in seiner richterlichen Autorität noch einmal eine Wendung zugunsten Jesu herbeizuführen. Als auch dieser Versuch scheiterte, gab er Jesus zur Kreuzigung hin. Nach der johanneischen Version liegt die Schuld am Tod Jesu weder beim Volk,622 noch beim Hohen Rat, noch bei dem zögerlichen Präfekten, sondern ausschließlich bei einer gewissen Clique der hohenpriesterlichen Aristokratie und einigen ihrer Parteigänger. Das gibt exakt die historische Wirklichkeit wieder!

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Von den Evangelisten war keiner Augenzeuge des Geschehens. Ihre Quellen waren einander ähnlich, teils auch verschieden. Das lukanische Sondergut, Jesus bei Herodes Antipas, und die johanneische Darstellung kommen dem eigentlichen Geschehen meiner Meinung nach am nächsten, wenn die Pilatus entlastende Tendenz ausgeschaltet und die Verzögerungstaktik als brutales Machtspiel zwischen dem Präfekten und Kaiaphas verstanden wird. Man kann versuchen, den historischen Ablauf zu rekonstruieren. Das Johannesevangelium bietet dafür den verläßlichsten Rahmen: Jesus wird in den Morgenstunden zwecks Verurteilung zum Tod von Mitgliedern der Tempelbehörde zum Jerusalemer Amtssitz des Präfekten gebracht. Alle vier Evangelien entlasten nun massiv den Präfekten, da er die Verurteilung Jesu abwimmeln will. Haben die Evangelisten dieses Verhalten restlos erfunden, um den Christen des Imperiums zu zeigen, daß der römische Beamte Jesus für unschuldig hielt und nur auf Druck der Hierarchen handelte oder gab es ein fundamentum in re, was diese Ausgestaltung der Tradition rechtfertigte? Nach all dem, was die Quellen von Pilatus’ Skrupellosigkeit wissen, ist es eher auszuschließen, daß er sich um eine Freigabe Jesu bemühte. Ich meine aber, daß er in einem politischen Schachzug den Hohenpriester auszuspielen trachtete, auch wenn die konkreten Gründe dafür nicht bekannt sind. Dazu standen ihm zwei Möglichkeiten offen. Er kontaktierte den in Jerusalem anwesenden Tetrarchen Herodes Antipas, der nach seinem römischen Rechtsempfinden für einen Bürger Galiläas die zuständige Autorität war und nicht der Hohepriester. Herodes Antipas, gewiß kein Zögerer, wenn es um die Hinrichtung eines staatsgefährdenden Menschen ging, wie der Fall Johannes des Täufers zeigt, sah in Jesus keine derartige Gefahr und fällte daher kein Urteil. Diese Kontaktierung des Tetrarchen muß einige Zeit gedauert haben, führte aber zu keinem Ergebnis. Pilatus war jedoch daraus klar geworden, daß es sich bei Jesus um keinen Rebellen gegen Rom handeln könne. Brutal und grausam wie seine gesamte Amtsführung war, läßt er nun Jesus geißeln und eine Zeitlang von den Soldaten quälen. Eine solche Geißelung wäre dann verboten gewesen, wenn der noch nicht verurteilte Jesus römischer Bürger gewesen wäre (vgl. Apg 16,37; 22,25). So aber konnte diese Strafe vom Präfekten willkürlich verhängt werden, um mit seinen Beratern das weitere Intrigenspiel vorzubereiten. Im Unterschied zur jüdischen Geißelung, bei der nur 39 Hiebe (vgl. 1 Kor 11,24; JosAnt IV: 238.248; mMakkot III 1–15) unter mehrmaliger Verlesung von Dtn 29,8 und Ps 78,38 verabreicht werden durften, waren bei den Römern die Hiebe unbegrenzt. Das römische Flagellum war ein Lederriemenbündel, auf dem Knochensplitter oder Bleikugeln befestigt waren. Ein einziger Hieb hat bereits den Großteil des Rückens aufgerissen. U. a. verwendeten die Römer diese Strafe vor einer Kreuzigung (JosBell II 306.308; V 449). Das heißt doch wohl, daß Pilatus Jesus zu kreuzigen beabsichtigte, aber zuvor den Hohenpriester mit

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seinem Spiel in arge Verlegenheit stürzen wollte. Eine solche römische Geißelung ging für den Betroffenen häufig tödlich aus, wenn nicht unmittelbar wegen des Blutverlustes, so einige Zeit danach wegen der eintretenden Blutvergiftung. Es ist zwar nicht bekannt, wie viele Geißelhiebe Jesus erhalten hat, aber er wäre vermutlich schon nach dieser Folter bald gestorben. Der so völlig Erschöpfte und sich vor Schmerzen Windende, wenn nicht zeitweise sogar in Bewußtlosigkeit Fallende wurde nun von Soldaten verspottet. Höhepunkt der Verspottung ist die »Dornenkrone«, ein Akanthusgeflecht, das man Jesus auf das Haupt drückte, um ihn als »König der Juden« zu verspotten. Wenn auch dieses Dornengeflecht von den Evangelisten als »Dornenkrone« christologisch ausgedeutet wird (vgl. auch Hebr 2,9), ist an dem tatsächlichen Geschehen nicht zu zweifeln. Hernach griff der Präfekt die zweite Möglichkeit auf: die Amnestie zum Fest. Viele Ausleger halten eine solche Amnestie nicht für historisch, übersehen jedoch mPesachim VIII. 6. In dieser Stelle der Mischna heißt es, daß das Pesachlamm auch für solche geschlachtet werden soll, denen ihre Entlassung aus dem Gefängnis zugesichert wurde. Es handelt sich hier nur um die Entlassung aus einem römischen Gefängnis, zumal in einem jüdischen das Pesachlamm gegessen werden konnte.623 Dazu bezeugen alle vier Evangelisten diese Amnestie und kennen den Namen des begnadigten Mörders und Rebellen Barabbas. Natürlich stellte der Präfekt nicht das Volk vor die Entscheidung Jesus oder Barabbas, sondern den Hohenpriester und sein Gefolge, die Jesu Hinrichtung erzwingen wollten. Der Präfekt glaubte, mit diesem politischen Schachzug den Hohenpriester in seiner Autorität in Frage stellen zu können. Der nun in seinen Augen harmlose und den römischen Staat nicht gefährdende, aber die religiöse Autorität des Hohenpriesters erschütternde Jesus, wird einem Mörder und echten Hochverräter gegenübergestellt, der die Autorität des Hohenpriesters als aktiver jüdischer Patriot nicht anzweifelt. Dem Hohenpriester wird die »Qual der Wahl« gelassen. Diese Manöver des Pilatus durchschaut der im politischen wie diplomatischen Taktieren höchst erfahrene Hohepriester, entscheidet sich für den Rebellen Barabbas, was der Unterstützung des Hochverrates gleichkam, zog jedoch seinen Kopf aus der Schlinge, in dem er Pilatus frontal angriff und ihm andererseits mit einer Anzeige beim Kaiser wegen Hochverrates drohte. Ab diesem Zeitpunkt – gegen Mittag – wußte der Präfekt, daß er in diesem Fall das Ränkespiel um die Macht verloren hatte und gab nach, zumal er wegen seiner korrupten Amtsführung eine Anzeige beim Kaiser nicht riskieren konnte. An Jesus als Menschen ist dem Präfekten kaum gelegen gewesen. Er benützt ihn ausschließlich ein paar Stunden dafür, um den Hohenpriester auszuspielen. Pilatus hat das grausame Spiel verloren, Kaiaphas gewonnen, Jesus ist das Opfer. Um ca. 12 Uhr nimmt Pilatus am Richterstuhl Platz und spricht das Todesurteil aus. Es war kein legaler römischer Prozeß, sondern eine Aburteilung nach einem höchst dubiosen politischen Mächtespiel.

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Das Todesurteil war sofort rechtskräftig, da auf Grund der Rechtslage anzunehmen ist, daß der Präfekt die kaiserliche Delegation hatte, was heißt, daß eine Appellation an den Kaiser ausgeschlossen war.624

5. Der Tod am Kreuz Es war Freitag, der sechste Wochentag, der 14. Nisan des Jahres 30 n. Chr. nach der boëthosäischen und der 15. Nisan nach der pharisäischen Zählung. Um ca. 12 Uhr wurde Jesus vom Präfekten den Soldaten zur Kreuzigung übergeben. Die Berichte der Evangelien (Mk 15,20b–41; Matth 27,31b–56; Luk 23,26–49; Joh 19,16b–30) enthalten die wichtigsten Tatsachen, unterscheiden sich jedoch im Detail und in der theologischen Interpretation des Geschehens beträchtlich. Die Synoptiker sprechen z. B. davon, daß Simon von Zyrene gezwungen wurde, Jesu Kreuz zu tragen, daß Leute, Soldaten und auch Mitglieder des Hohen Rates625 Jesus am Kreuz verspotteten, daß von der sechsten bis zur neunten Stunde (12–15 Uhr) eine Finsternis hereinbrach, daß der Vorhang des Tempels entzweiriß, die Erde bebte, die Felsen sich spalteten, die heiligen Verstorbenen aus ihren Gräbern kamen,626 der sterbende Jesus mehrmals die Schrift627 zitierte u. a., während der Augenzeuge Johannes von alldem nichts weiß und einen nüchternen, wenn auch zutiefst berührenden Bericht der letzten Stunden Jesu gibt: Jesus trägt sein Kreuz, d. h. den Querbalken, selbst, wie es normalerweise bei einer römischen Kreuzigung vorgesehen ist. Daß Simon von Zyrene, der vom »Feld« kam, d. h. vom Zeltlager, in dem zahlreiche Festpilger untergebracht waren, von den römischen Soldaten gezwungen wurde, Jesu Querbalken zu tragen (Mk 15,21; Matth 27,32; Luk 23,26), braucht nicht erfunden zu sein. Die Soldaten haben offenbar befürchtet, daß der durch die Geißelung geschwächte Jesus noch vor der Kreuzigung stirbt. An der Hinrichtungsstätte Golgatha wird Jesus entkleidet und mit zwei anderen gekreuzigt. Der Präfekt läßt am Kreuz Jesu eine Inschrift in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache anbringen: »Jesus von Nazareth, der König der Juden.«628 Mit dieser Inschrift, die die Anklage des Hohenpriesters für Jesu Kreuzigung angibt, nämlich ein »crimen laesae maiestatis«, Hochverrat, versucht Pilatus den Machtkampf noch einmal zu seinen Gunsten zu entscheiden. Die Einwände gegen seine Inschrift lehnt er ab (V 22). Was hat er damit erreicht? Er hat einen Juden kreuzigen lassen, von dem er wußte, daß er sich nicht im politischen Sinn als König verstand und daher kein Zelot und Hochverräter war, der jedoch die religiöse Autorität des Kaiaphas in Frage stellte. Er konnte daher mit der Formulierung dieser Inschrift nur bezwecken, den Hohenpriester zu ärgern und zu verhöhnen. Luk 23,38 hat ein interessantes Detail bewahrt. Er schreibt, daß die Inschrift »auf ihm« (e˙p∆ au˙tw◊ø) war (meist falsch übersetzt »über ihm«). Es war tatsächlich

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römische Praxis, dem Delinquenten auf dem Weg zur Hinrichtungsstätte die Tafel mit der causa poenae um den Hals zu hängen. Ein Stück dieser Kreuzestafel ist wahrscheinlich als hochmittelalterliche Kopie des echten Fragments in Rom erhalten geblieben (vgl. S. 122–123). Die Soldaten teilen Jesu Kleider unter sich. Dieses Teilen der Kleider deutet Johannes zwar theologisch mit Ps 22,19 (Str–B II: 574–580) und charakterisiert Jesus durch den gewebten, nicht genähten Leibrock als Hohenpriester, ist aber insofern eine Tatsache, als den an der Hinrichtung beteiligten Soldaten das unmittelbare Eigentum des Hingerichteten zufiel.629 Gekreuzigt wurden die Menschen nackt , absolut schutz- und würdelos (mSanhedrin VI 3f). Zeugen der Kreuzigung sind: Jesu Mutter, die Schwester der Mutter Jesu, Maria, die Frau des Klopas, Maria von Magdala und der Lieblingsjünger (Johannes), dem der Sterbende seine Mutter anvertraut. Alle anderen Jünger hatten nicht den Mut, sich öffentlich sehen zu lassen. Unter dem Kreuz stehen Jüngerinnen und ein Jünger, die eine Kirche Jesu repräsentieren, die eine Verrechtlichung nicht kennt und in der der Geist Gottes das herrschende Prinzip sein wird! Jesus kostet noch von dem mit Essig getränkten Schwamm,630 der ihm auf einem Ysopzweig gereicht wurde und stirbt mit dem Wort: »Es ist vollbracht.«631 Dieses letzte Wort des irdischen Jesus, vielleicht nur ein Aufschrei (vgl. Mk 15,37), mag von Johannes theologisch »übersetzt« worden sein in: »Es ist vollbracht«, stirbt doch Jesus etwa um diesen Zeitpunkt, an dem die Priesteraristokratie im Tempel mit der Schlachtung der Osterlämmer beschäftigt ist. Jesus ist das neue und endgültige Osterlamm. Sein Tod ist der Beginn der eschatologischen Ära des neuen geistigen Tempels. Den Tod Jesu konstatiert der Evangelist mit dem Wort: »Und er neigte das Haupt und übergab den Geist.« (V 30). Das Lebensprinzip, das nach biblischer Vorstellung im Tod von Gott genommen (lqḥ) wird (vgl. Gen 5,24; 2 Kön 2,3.10; Ps 73,24), übergibt Jesus selbst; der letzte Akt der Hingabe an Gottes Willen. Deutlicher kann man nicht mehr sagen, daß nun ein Mensch tot ist! Dieser schlichten Version des einzigen Augenzeugen von allen Jüngern gebührt der Vorrang vor dem interpretierenden Erzählen der Synoptiker und entspricht der grausamen Realität. Der Tod am Kreuz war schrecklich. Kreuzigung war die typische Strafe der Römer für Kapitalverbrechen verschiedener Art. Sie wurde zu dieser Zeit nur über Menschen verhängt, die kein römisches Bürgerrecht hatten. Die Vorläuferin dieser Todesstrafe ist wahrscheinlich die noch grausamere assyrische Pfählung.632 Die Römer waren den Juden gegenüber in dieser Hinsicht nicht zimperlich.633 Römische Beamte ließen oft Tausende von Juden hinrichten. Titus ließ z. B. bei der Belagerung Jerusalems so viele jüdische Gefangene und Flüchtlinge kreuzigen, daß die Kreuze ausgingen (JosBell V: 446–452).

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Cicero (In Verrem II 5: 165) spricht von der grausamsten und fürchterlichsten Todesstrafe (»crudellissimum taeterrimumque supplicium«) und rief aus (Pro Rabirio 16): »Nomen ispum crucis absit non modo a corpore civium Romanorum, sed etiam a cogitatione, oculis, auribus.« (»Bereits die Nennung des Kreuzes soll fern bleiben nicht nur von dem Körper der Römischen Bürger, sondern auch von ihren Gedanken, ihren Augen und ihren Ohren.«) Tacitus (Historien IV: 11) spricht vom »supplicium servile« (sklavische Todesstrafe). Den Querbalken mußten die Delinquenten selber zur Hinrichtungsstätte tragen. Dort wurden ihre Hände/Arme daran gebunden, bisweilen auch genagelt.634 Dann zog man den Hinzurichtenden damit hoch und befestigte den Balken an einem Pfahl. Die Füße nagelte man einzeln, quer durch die Fersenbeine, an den Pfahl, wie archäologische Funde zeigen,635 oder auch durch die Fußwurzel. Um den sonst rasch eintretenden Erstickungstod hinauszuzögern, gab es entweder eine Stütze für die Füße oder eine Art Sitzpflock zwischen den Schenkeln. Der Gekreuzigte war nackt, sein durch die Geißelung fast gänzlich aufgerissener Körper der Sonne und den Tausenden Insekten preisgegeben, seine Notdurft mußte er vor aller Augen verrichten. Je nach körperlicher Konstitution konnte diese Qual Tage dauern, bis der Tod eintrat. Die Geißelung mußte Jesus allerdings so geschwächt haben, daß sein Tod bereits nach knapp zwei Stunden, vielleicht auch schon früher eintrat. Es war der sechste Wochentag, Freitag, 14. Nisan des Jahres 30 n. Chr. nach boëthosäischer oder Freitag, der 15. Nisan nach pharisäischer Zählung. Johannes überliefert keine genaue Stundenangabe des Todes Jesu (nach Mk 15,34 parr. um 15 Uhr). Sie war für den damaligen Leser auch nicht notwendig, da sie sich aus der Nachricht über die Bestattung des Leichnams Jesu ergibt (Joh 19,31–42). Mit dem Abend begann nach der offiziellen boëthosäischen Zählung Pesach. Die Hierarchie und ihre Anhängerschaft begannen, da der folgende Hauptfesttag ein Sabbat war, um 13.30 Uhr im Tempel mit der Schlachtung der Pesachlämmer. Zu diesem Zeitpunkt mußte daher die Hinrichtung bereits vollzogen gewesen sein. Joh 19,31 berichtet daher korrekt (Dtn 21,33), daß Pilatus das Einverständnis gab, die Leichname abzunehmen. Die beiden mit Jesus Gekreuzigten waren noch nicht tot, so daß die Soldaten ihre Beine zerschlugen.636 Dem schon toten Jesus wurde, um sicher zu gehen, nur mehr eine Lanze in die Brust gestoßen (vgl. Sach 12,10), so daß Blut und Wasser austraten.637 »Und der, der es gesehen hat, hat es bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr. Und er weiß, daß er Wahres berichtet, damit auch ihr glaubt.« (Joh 19,35). Zwei Mitglieder des Hohen Rates, Joseph von Arimathäa und Nikodemus erwiesen638 Jesus die letzte Ehre, ungeachtet dessen, daß sie kultisch unrein wurden und keine Möglichkeit mehr hatten, den Zustand ritueller Reinheit für das Fest wiederherzustellen. Der geschundene, leblose Körper Jesu wurde gewaschen, mit Myrrhenharz und Aloeholzstaub eingerieben, um den schrecklichen Geruch

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der Wunden erträglich zu machen, gesalbt (mit parfümiertem Olivenöl), in Leinentücher gewickelt und in einem unberührten Rollsteingrab (vgl. Abb. 36) nahe der Kreuzigungsstätte (Abb. 18) bestattet (Joh 19,38–42). Joseph von Arimathäa hat den Leichnam Jesu von Pilatus erbeten (Mk 15,42–47; Matth 27,57–61; Luk 23,50–56; Joh 19,38–42). Pilatus gibt seine Zustimmung, nachdem ihm der diensthabende Zenturio versichert hatte, daß Jesus tot ist. Diese Freigabe des Leichnams ist nicht so selbstverständlich, wie es heute erscheint, zumal das römische Strafrecht den Verlust der Totenehren kannte. Die Freigabe eines Leichnams war daher immer ein Gnadenakt des zuständigen römischen Beamten. Die Rechtspraxis in Judäa zur Zeit des Kaisers Tiberius sah etwa so aus, daß den Anträgen von Verwandten stattgegeben wurde, wenn die Hingerichteten gewöhnliche Verbrecher waren. Bei Hochverrätern wurde für gewöhnlich dem Antrag nicht stattgegeben.639 Nun, Joseph war noch dazu kein Verwandter Jesu, und Jesus wurde offiziell als Hochverräter hingerichtet. Es wundert daher das Entgegenkommen des Pilatus. Wenn man jedoch bedenkt, daß es für Pilatus klar war, daß es sich bei Jesus um keinen Hochverräter gehandelt hat und er letztlich auf Druck der Hierarchen zu diesem Todesurteil gezwungen war, ist es einleuchtend, daß er Joseph diese Bitte gewährte.

Abb. 36 Schematische Darstellung eines Rollsteingrabes. Eine in den Boden geschlagene Rinne diente als Führung des etwa 1 m großen Rollsteins, der den relativ kleinen Zugang zum Grab mit seinen 50 und mehr Grablegen verschloß. Der mit Salböl eingeriebene und in Leinentücher gewickelte Tote wurde in einer Nische des Bogenbankgrabes niedergelegt. Nach der Verwesung wurden die Knochen eingesammelt und anschließend in einem Ossuar bestattet.

IX. Jesus – auferstanden von den Toten Manche Jesusbücher beenden ihre Darstellung mit dem Kreuzestod Jesu. Bisweilen finden ihre Autoren ein paar grundsätzliche Worte, daß mit der Auferstehung, ganz gleich, wie diese nun zu sehen sei, die Geschichte des Christentums beginnt.640 Die Evangelien enden jedoch nicht mit dem Tod Jesu. Es ist daher für ein Buch über Jesus angemessen, auch wenn sich dieses primär den historischen Fakten gewidmet hat, auch über die Auferstehung Jesu zu sprechen.

1. Die Berichte der Evangelisten Markus (16,1–8) schreibt nach Jesu Begräbnis nur wenige Sätze:641 Maria von Magdala, Maria, die Mutter des Jakobus und Salome kommen mit Salböl bei Sonnenaufgang des 1. Wochentages (Sonntag 16./17. Nisan) zum Grab. Sie machen sich Gedanken, wer ihnen den schweren Stein wegwälzt. Doch beim Grab angelangt, finden sie es geöffnet und leer. Ein weiß gewandeter junger Mann sitzt rechts im Grab, wohl auf einer leeren Grabbank, verkündet den Frauen, daß Jesus auferstanden ist, und befiehlt ihnen, die Jünger, besonders Petrus, zu benachrichtigen, da Jesus den Jüngern nach Galiläa vorausgehe. Doch sie gehorchen diesem Befehl nicht »Da verließen sie das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatten sie gepackt. Und sie sagten niemand etwas davon; denn sie fürchteten sich.« (V 8). Matthäus (28,1–8) bringt einen ähnlichen Ablauf, hat jedoch umfangreichere Quellen als Markus zur Verfügung, die er weiter ausgestaltet: Zur Morgendämmerung kommen Maria von Magdala und die »andere Maria« (Salome wird nicht genannt), um nach dem Grab zu sehen (nicht, um Jesu Leichnam zu salben). Plötzlich gibt es ein gewaltiges Erdbeben, da ein Engel vom Himmel kommt, den Stein wegwälzt und sich darauf setzt. Der Engel sagt zu den Frauen Ähnliches wie der junge Mann bei Markus. Doch im Unterschied zu Markus eilen die beiden Frauen voll Furcht und Freude zu den Jüngern und verkünden die Botschaft der Auferstehung. Offenbar noch auf dem Weg zu den Jüngern erscheint den beiden Frauen Jesus selber und wiederholt teilweise das Engelwort (28,9–10). Diese gegenüber dem Markusbericht umfangreichere und gesteigerte Erzählung umrahmt Matthäus durch die Geschichte der Bewachung des Grabes. Hohepriester und Pharisäer erreichen bei Pilatus, das Grab bewachen zu dürfen, damit die Jünger nicht Jesu Leichnam wegnehmen und den Leuten erzählen, er sei auferstanden. Um einen solchen Betrug zu verhindern, wird das Grab versiegelt und bewacht (27,62–66).

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Noch bevor die zwei Frauen beim Grab sind, flohen jedoch die Wächter und erzählten den Hohenpriestern, was geschehen war. Die Wächter werden großzügig bestochen, damit sie weitererzählen, die Jünger hätten Jesu Leichnam gestohlen, während sie schliefen. Auf einem Berg in Galiläa erscheint Jesus den Elf. Sie erhalten den Taufbefehl und die Zusicherung, daß der Meister bis zum Ende der Welt bei ihnen sein wird (28,16–20). Lukas (24,1–12) weist ein ähnliches Grundschema wie Markus auf. Seine Quellen müssen sich jedoch sowohl von Markus als auch von Matthäus auf weite Strecken unterschieden haben: Frauen kommen in der Frühe mit Salböl. Sie haben es nicht gekauft (wie Markus berichtet), sondern selbst zubereitet. Der Stein ist aber weggewälzt und das Grab leer. In V 10 nennt Lukas einige der Frauen: Maria von Magdala, Johanna, Maria, die Mutter des Jakobus. Statt eines weißgewandeten Mannes bei Markus nennt Lukas zwei Männer in leuchtenden Gewändern. Sie klären die Frauen auf und erteilen ihnen den Auftrag, die Jünger zu informieren. Die Jünger halten diese Botschaft aber für Weibergeschwätz und glauben sie nicht. Petrus geht zum Grab, um sich zu überzeugen. Er findet es leer, wundert sich, wird aber keiner Engelerscheinung gewürdigt. Daran schließt Lukas die Geschichte der Emmausjünger, die Jesus am Brotbrechen erkennen (24,36–53). Einen Jünger nennt Lukas mit Namen: Kleopas (V 18). Die beiden brechen noch in der Nacht nach Jerusalem auf, wo sie von den dort anwesenden Jüngern erfahren, daß Jesus dem Petrus erschienen ist. Dann erzählen sie auch ihre Geschichte, während Jesus plötzlich in ihrer Mitte weilt, mit ihnen ißt, sie belehrt und ihnen die göttliche Kraft verheißt, die sie in Jerusalem empfangen werden (24,36–49). Anschließend, also in der Nacht, geht der Auferstandene mit den Jüngern in die Nähe von Bethanien, segnet sie und wird in den Himmel aufgenommen (24,50–53). Diese unterschiedlichen Erzählungen der Synoptiker zeigen die große Konfusion der Jünger nach den Geschehnissen der letzten Tage. Niemand wußte offenbar wirklich genau, was nach Jesu Begräbnis passiert war und die Evangelisten versuchten, Erfahrungen, die Jünger im Laufe der Zeit nach Jesu Tod machten und weiter erzählten, wiederzugeben. Man hat sich jedenfalls nicht im Geringsten bemüht, die verschiedenen Zeugnisse zu harmonisieren und einen geschlossenen Bericht vorzulegen. Das spricht für die Jünger und zwingt auch den Historiker heute, ihre Aussagen nach der Wahrscheinlichkeit zu überprüfen. Alle drei Evangelisten nennen Maria von Magdala (die anderen Frauennamen variieren), die in der Morgenfrühe bei Sonnenaufgang zum Grab kommt. Da Jesu Leichnam bereits von Joseph von Arimathäa und Nikodemus gereinigt und gesalbt worden war (vgl. Joh 19,38–42), kam sie nicht mehr deswegen zum Grab, sondern um zu trauern (so auch Matth 28,1). Sie findet jedoch das Grab leer! In einer Vision erfährt sie, daß Jesus von den Toten auferstanden ist und

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daß sie diese Botschaft an die Jünger weiter geben soll. Der Gang Marias von Magdala zum Grab, um Jesus zu beweinen, erscheint überaus plausibel, ebenso ihre Vision. Daß jedoch Maria von Magdala in dieser Vision erfahren hat, Jesus sei von den Toten erstanden, ist eine erzählerische Verkürzung, die den Glauben an den Auferstandenen bereits voraussetzt. Der matthäische Bericht von der Bewachung des Grabes ist vermutlich nicht historisch. Er ist offensichtlich später entstanden und von Matthäus übernommen worden, um die Lüge der jüdischen Gegner zu entkräften (vgl. Matth 28,25), daß die Jünger Jesu Leichnam gestohlen hätten, um von seiner Auferstehung sprechen zu können. Weder die Jünger noch ihre Gegner waren unmittelbar nach Jesu Tod von ihrer religiösen Sozialisierung her in der Lage, eine individuelle Auferstehung innerhalb dieser Weltzeit anzunehmen. Das matthäische Erdbeben und der den Stein wegrollende Engel ist eine theologische Metapher des Evangelisten oder schon seiner Quellen, um den Einbruch der Transzendenz in unsere Welt zu verdeutlichen. Die Erscheinungen Jesu zeigen, daß er nach seinem Kreuzestod plötzlich wieder lebt, dieses Leben jedoch mit seinem irdischen Leben nicht vergleichbar ist. Es ist aber kein Gespenst, das den Jüngern erscheint. Er läßt sich von den Jüngern anfassen und ißt mit ihnen etc. Was hier mühsam in menschlicher Sprache auszudrücken versucht wird, ist das menschlich Unaussprechliche der metahistorischen Ebene. Auf Grund der Erscheinungsberichte kann nur festgehalten werden, daß Jüngerinnen und Jünger Jesus nach seinem Tod als existierende, transzendente personale Realität erlebten! Es ist aber ebenso, wie oben schon erwähnt, eine erzählerische Verkürzung der synoptischen Texte, wenn sofort von der Auferstehung Jesu gesprochen wird, ohne den Entwicklungsprozeß dorthin darzustellen. Johannes (20,1–10) beginnt seinen Bericht damit, daß Maria von Magdala früh am Morgen noch bei Dunkelheit zum Grab Jesu kam und sah, daß der Stein weggenommen worden war. Sie eilt zu Petrus und zum Lieblingsjünger und berichtet davon: »Man hat den Herrn aus dem Grab weggenommen, und wir wissen nicht, wohin man ihn gelegt hat.« (V 2).642 Petrus und Johannes eilen zum Grab. Der Jüngere von beiden, Johannes, kommt als erster zum Grab, betritt es nicht, beugt sich aber hinein und sieht die Leinenbinden liegen. Petrus betritt es sofort, sieht ebenfalls die Leinenbinden und Jesu Schweißtuch. Dann geht auch Johannes in das Grab: »er sah und glaubte« (V 8). Die Situation, die Johannes wiedergibt, ist echt. Er hat sie aber zugleich dafür verwendet, um eine grundlegende Aussage über das Verhältnis von Charisma und Institution der Urgemeinde zu treffen. Einfach gesagt: Die sich vom Geist Gottes total getragen wissende Gemeinschaft, ist die erste, die zum Grab kommt. Sie überläßt aber dem Vertreter der Institution (Petrus) den Vortritt!

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Unbeschadet dessen ist festzuhalten, daß Maria von Magdala die erste ist, die zum Grab kommt und es leer vorfindet, deswegen aber nicht an ein Wunder denkt oder gar an eine Auferstehung Jesu, sondern meint, daß Jesus in der Zwischenzeit woanders bestattet wurde, ohne daß sie dies wußte. Das ist eine richtige und natürliche Reaktion, die nicht erfunden sein kann. Daß sie davon Petrus und Johannes Mitteilung macht, ist zu erwarten. Ich meine daher, daß der johanneische Bericht genau die Situation am frühen Morgen des ersten Wochentags wiedergibt: Jesu Grab ist leer und niemand kann sich erklären, wie und warum es leer geworden ist. Johannes gibt mit V 9 auch die einzige, der damaligen religiösen Situation entsprechende, sinnvolle Antwort: »Denn sie wußten noch nicht aus der Schrift, daß er von den Toten auferstehen mußte.« Die Jüngerinnen und Jünger Jesu hatten keine Ahnung, daß sie Jesus als den vom Tod Erstandenen, nicht wie Lazarus, der sein irdisches Leben weiter leben konnte, sondern der den Tod überwunden und in eine absolut unsagbare Seinsweise getreten ist, erfahren werden. Für Johannes ist Maria von Magdala nicht nur die erste, die es der Mühe wert fand, Jesus in den frühen Morgenstunden des ersten Wochentages bei seinem Grab zu beweinen, sondern die erste, der der Auferstandene erscheint. Johannes hat dies auf uneinholbare Weise festgehalten: »Maria aber stand (noch immer) weinend an der Grabkammer draußen. Wie sie nun weinte, bückte sie sich in die Grabkammer hinein und sieht zwei Engel in weißen (Gewändern) sitzend, einen bei dem Haupt und einen bei den Füßen, wo der Leichnam Jesu gelegen hatte. Und jene sagen zu ihr: Frau, was weinst du? Sie sagt zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wohin sie ihn gelegt haben. Dies gesagt habend, wandte sie sich zu den (Bereichen) hinten und sieht Jesus stehend. Doch wußte sie nicht, daß es Jesus ist. Jesus sagt ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Sie, meinend, daß es der Gärtner ist, sagt zu ihm: Herr, wenn du ihn weggetragen hast, sag mir, wohin du ihn gelegt hast, und ich werde ihn holen. Jesus sagt ihr: Maria! Sich umgewandt habend, sagt sie zu ihm auf hebräisch: Rabbuni (was heißt: Meister). Jesus sagt ihr: Fasse mich nicht an! Denn noch nicht bin ich hinaufgestiegen zum Vater. Geh aber zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich steige hinauf zu meinem Vater und eurem Vater und meinem Gott und eurem Gott. Maria, die Magdalenerin, geht, verkündigt den Jüngern: Ich habe den Herrn gesehen; und dies hat er ihr gesagt.«643 (Joh 20,11–18). Johannes hat mit dieser Perikope seines Evangeliums auch sprachlich einen Höhepunkt gesetzt: Er verwendet dreimal plus siebenmal bei den Verben des Sagens das erzählende Präsens, an dessen Gebrauch sich u. a. die Genialität eines griechischen Schriftstellers zeigt. Und er setzt in V 11 mit der Vergangenheit des Perfekt ein, wie es im Griechischen verwendet wird, wenn eine Handlung angezeigt werden soll, der keine gleichartige je vorausgegangen ist (das Weinen Marias vor der Grabkammer), und fährt mit dem Imperfekt weiter, das das

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Weinen Marias dem Leser nun gleichsam wie mit einer Lupe gesehen vor Augen führt. Auch am Ende von V 14 verwendet er wieder die sehr selten gebrauchte Vergangenheit des Perfekt, weil keine gleichartige Handlung vorausgegangen war (Maria hatte es nicht gewußt, daß es Jesus ist). Für Maria von Magdala war Jesus zweifellos der unendlich verehrte und geliebte Meister und Herr. Und dennoch hält sie ihn zuerst für den Gärtner. Das heißt doch wohl nichts anderes, als daß der Auferstandene nicht eo ipso erkennbar ist und sich zu erkennen gibt, indem er Maria bei ihrem Namen nennt. Sie sieht den Verstorbenen plötzlich als Lebenden und will ihn umarmen. D. h. sie denkt überhaupt nicht daran, daß Jesus von den Toten auferstanden ist und in einer anderen Seinsweise existiert. Sie sieht es nur als Wunder Gottes, daß der geliebte Meister wieder vor ihr steht, und meint, daß er sein bisheriges Leben fortsetzt. Doch der Auferstandene erklärt ihr nun, daß es anders ist: Er kehrt nicht mehr in sein irdisches Leben zurück. Er ist – wie zwar auch in seinem ganzen irdischen Leben – nun nach seinem Tod auf dem Weg zum Vater, der auch der Vater und Gott seiner Jünger ist. Die Stunde des »Abschieds« ist zugleich die Stunde immerwährender Gemeinschaft mit ihm und dem Vater (vgl. J. Ratzinger – Benedikt XVI. 2011: 311), der den Parakleten im Namen Jesu senden wird (Joh 14,15–31; 16,4b–5). Die erste, die Jesus nach seinem Kreuzestod sehen darf, ist Maria von Magdala. Sie ist die erste Zeugin des Auferstandenen, obwohl sie anfangs meint, daß der Leichnam Jesu in ein anderes Grab gelegt wurde und dann, als sie Jesus sieht, meint, es sei der Gärtner, und ihn erst erkennt, als er sie mit ihrem Namen ruft, und dann immer noch glaubt, Jesus sei durch ein Wunder Gottes wieder in sein irdisches Leben zurückgekehrt. Wenn man auf die damalige Zeit blickt, so ist dies denkbar ungünstig. Das Zeugnis einer Frau war nach den jüdischen Gesetzen nicht gültig und wurde ähnlich gewertet wie das von Kindern und Schwachsinnigen. Wenn man also ein gültiges Zeugnis hätte beibringen wollen, dann wäre das von zwei Männern ein sicheres gewesen. Der Evangelist hat ein Zeugnis von zwei Männern deswegen nicht beigebracht, weil es keines gegeben hatte und weil er niemanden betrügen wollte. Eine Frau, die Jüngerin Maria von Magdala, bezeugt als erste den Auferstandenen. Sie wird in seinem Auftrag die Botin und Verkünderin der grundlegendsten christlichen Botschaft an die Jünger! In 20,19–23 wird erzählt, daß Jesus bei verschlossenen Türen zu den Jüngern kommt, sich ihnen durch seine Wundmale, den zweimaligen Friedensgruß zu erkennen gibt und ihnen den Geist, den schon verheißenen Parakleten, mitteilt.644 Ostern, Pfingsten und den Befehl, die Menschen zu seinen Jüngern zu machen, sieht Johannes als eine Einheit. Johanneische Theologie, Interpretation und das

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Faktum der Erscheinung des Auferstandenen treffen hier aufeinander. Der Geist Gottes wird der Jüngergemeinschaft mitgeteilt, unabhängig davon, wer konkret anwesend war – Thomas war z. B. nicht anwesend! Es geht daher nicht an, zu sagen, daß hier der Geist nur Männern, den Jüngern, gegeben wird, denn er wird nicht dem einzelnen gegeben, sondern denen, die gemeinschaftlich an ihn glauben, Frauen wie Männern, Jüngerinnen und Jüngern! Zum Abschluß bringt Johannes645 die Thomasgeschichte (20,24–29). Thomas war nicht anwesend, als die anderen den Auferstandenen sahen und glaubt ihnen das Ganze nicht. Nach acht Tagen kam Jesus abermals zu den versammelten Jüngern und diesmal war Thomas anwesend. Jesus fordert ihn auf, seine Wundmale an Händen und Brust zu berühren. Jetzt glaubt Thomas. Weit deutlicher als die Synoptiker bringt Johannes die unmittelbaren Ereignisse nach Jesu Tod: Maria von Magdala (und auch andere Jüngerinnen) und die Jünger erfahren durch die Erscheinungen den gekreuzigten und toten Meister als einen Lebenden. Sie deuten nach anfänglichem Zögern diese Phänomene nicht als eine Rückkehr in das irdische Leben, sondern als das endgültige Ereignis der Auferstehung mitten in der menschlichen Geschichte. Nach Johannes erhalten sie den Anstoß, ihre Ostererfahrung so zu deuten, direkt vom Auferstandenen selber. Es muß daher der Frage nachgegangen werden, ob es vom religiösen Horizont der damaligen Zeit möglich war, eine solche Deutung zu geben oder ob ausschließlich die Erscheinungen selber zu dieser Interpretation geführt haben. Doch zuvor sei noch auf ein psychologisches Argument verwiesen, das E. P. Sanders besonders stark, und das nicht zu Unrecht, betont. Auf Grund der Quellen ist eindeutig auszuscheiden, daß es sich bei den Erscheinungen um ein Gespenst oder einen wiederbelebten Körper handelt, sondern um die Totalität einer anderen, transzendenten Seinsweise, die mit menschlicher Begrifflichkeit nicht mehr beschrieben und definiert werden kann. Seine Jüngerinnen und Jünger, die von diesem Zeitpunkt an ihr Leben damit verbracht haben, seine Auferstehung der Welt zu verkünden und die für diesen Glauben, wenn es sein mußte, damals in den Tod gegangen sind, und auch heute noch dafür das Martyrium auf sich nehmen, waren und sind keine religiösen Phantasten und Betrüger!646

2. Die Lehre von der Auferstehung der Toten Die Thematik der Auferstehung der Toten ist eine spezielle Ausformung und Weiterbildung des Glaubens an ein Weiterleben nach dem Tod. Das alte Juda und Israel hat die Frage des Weiterlebens Jahrhunderte hindurch gequält, bis es

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schließlich zu der Auffassung gelangte, daß JHWH auch der Herr der Scheol, der Unterwelt (vgl. 1 Sam 2,1–11; Am 9,2), und schließlich der Sieger über den Tod (Jes 25,8) ist. Wie jedoch die verschiedenen Meinungen zum Fortleben nach dem Tod nicht hintereinander existierten und sich gegenseitig ablösten, so gibt es die Auferstehungshoffnung zum Teil parallel mit diesen. Die älteste Stelle, die von einem Auferstehen spricht, ist beim Propheten Hosea (6,1f) zu finden: »Kommt, wir wollen zurück zu JHWH, denn er zerriß, er wird uns heilen; er schlug, er wird uns verbinden, wird uns am Leben erhalten. Nach zwei Tagen, am dritten Tag wird er uns auferstehen lassen, daß wir leben vor ihm.« Es geht hier um die Hoffnung für das gesamte Gottesvolk, das, von JHWH geschlagen, er am dritten Tag wieder aufrichten wird, wenn es zu ihm zurückkehrt. Das Volk ist nicht wirklich, sondern in einem geistlichen Sinne tot. Die Bedingung dafür, daß es JHWH auferstehen lassen wird, ist die Umkehr. Die älteste Stelle sieht also die Auferstehung kollektiv, angewendet auf das von Gott ferne Volk – nicht auf ein physisch totes Volk –, und von JHWH bewirkt.647 Der Prophet Hosea verwendet die Ausdrucksweise »nach zwei Tagen und am dritten Tag« sprichwörtlich, wenngleich eine indirekte Beeinflussung z. B. durch den Osirismythos nicht auszuschließen ist.648 Was diese Redeweise bedeutet ist klar: JHWH wird das Volk so schnell als möglich auferstehen lassen. Wenn also 1 Kor 15,4 von der Auferstehung am dritten Tag spricht, so ist damit keine Zeitangabe gemeint, sondern die kürzeste Frist. Obwohl sich die neutestamentlichen Autoren nicht explizit auf diese Stelle des Propheten Hosea beziehen,649 wird aber ihre Ausdrucksweise von der Auferstehung Jesu am dritten Tag kaum davon zu trennen sein. Am bekanntesten ist die Vision des Propheten Ezechiel (37,1–7), in der die Auferstehung des Volkes Israel aus dem Grab der Babylonischen Gefangenschaft dargestellt wird. Nicht der einzelne, sondern das Kollektiv wird durch eine Schöpfung Gottes neues Leben erhalten.650 In der zeitlich relativ späten Jesaja-Apokalypse werden in dem Lied auf Gottes Gerechtigkeit (Jes 26,7–19) Gerechte und Frevler einander gegenübergestellt. V 14 spricht den Frevlern ein Weiterleben nach dem Tod und eine Auferstehung ab, während V 19 von den Gerechten sagt: »Deine Toten werden leben, die Leichen stehen wieder auf, wer in der Erde liegt, wird erwachen und jubeln.« Vom Gedanken einer individuellen Auferstehung ist dieser Text daher noch weit entfernt. Nur das Kollektiv der Gerechten wird auferstehen. Eine interessante Vorstellung ist auch im vierten Lied des Gottesknechtes (Jes 52,13–53,12) verdichtet. Der Gottesknecht erleidet schließlich den Tod (V 8), doch Gott rettet ihn, so daß er das Licht erblickt (Vv 10f). Das heißt doch wohl, daß der Gottesknecht nicht das triste Dasein in der Scheol fristen muß, sondern nach seinem gewaltsamen Tod aus diesem Dasein von Gott entrissen wird. Doch scheint hier nicht an eine Auferstehung gedacht zu sein (vgl. V 12), sondern an eine von Gott geschenkte Rückkehr in das irdische Leben.

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Dan 12,2f dagegen ist eine klare Aussage, daß am Ende der Zeiten viele aus der Scheol auferstehen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zu ewiger Pein, aber auch hier ist noch mehr an die Gesamtheit der Gerechten und an die Gesamtheit der Frevler gedacht denn an das jeweils konkrete Individuum. Selbst 2 Makk 7,9.11.14; 12,43f.46 läßt noch keine klare Ansicht über eine individuelle Auferstehung von den Toten erkennen. Nur die Gerechten, die in der Verfolgung treu und auch bereit waren, das Martyrium auf sich zu nehmen, haben Hoffnung auf die Auferstehung.651 Es läßt sich nach dieser Übersicht aus dem Alten Testament festhalten, daß die Auferstehung von den Toten eschatologisch, am Ende der Welt stattfindend und kollektiv gesehen wird. Die Termini, die wichtige Stellen wie Jes 26,19 und Dan 12,2 verwenden, sind: »sie werden leben« , »sie werden auferstehen, (erwachen)« . Auch die zwischentestamentliche Literatur enthält keine einheitliche Aussage. Das Henochbuch bezeugt einerseits eine allgemeine Auferstehung der Toten (22,1ff), unterscheidet zwischen Gerechten und Bösen, die ebenso an der Auferstehung teilhaben (61,5), andererseits ist sie nur auf die Gerechten (91,10) oder gar nur auf die Märtyrer (90,33) beschränkt. In den Testamenten der zwölf Patriarchen wird die Auferstehung sukzessive ausgedehnt: zuerst auf die Erzväter (Test Sim 6), dann auf die Gerechten (Test Jud 25), auf Gute wie Böse und schließlich auf die Heidenvölker (Test Benj 10). Die Psalmen Salomonis (3,10–12) vertreten nur eine Auferstehung der Gerechten, während das vierte Buch Esra (7,29ff) eine Auferstehung aller Völker lehrt.652 In Qumran ist bisher die Idee der Auferstehung der Toten nur rudimentär nachgewiesen. Die Texte 1QH 6,29–34 und 11,12–13 lassen sich schwerlich in diesem Sinne interpretieren. Die »im Staub Liegenden« meint kaum die Toten, sondern die Demütigen (vgl. Jes 41,14).653 In Text 4Q521 Fragment 2+4, Kolumne 2,12 heißt es: »Denn er (Gott) wird die lebensgefährlich Verwundeten heilen, Er wird die Toten lebend machen [...].« Indirekt wird man hier an Matth 11,2–5 erinnert, wo Jesus an Johannes den Täufer die Botschaft übermitteln läßt, daß Aussätzige rein werden, Taube hören und Tote auferstehen. Die Frage ist nur, in welchem Sinn hier »Auferstehung« gemeint ist? Ich meine nicht, daß es dabei um die Auferstehung am Ende der Zeit geht, sondern um die der messianischen Zeit, in der Gott oder der Messias als Zeichen Tote erweckt, die ihr bisheriges Leben fortsetzen. An die endgültige Auferstehung der Toten scheint mir hier nicht gedacht zu sein. Dagegen ist in Fragment 7+5, Kolumne 2,6–8, falls die rekonstruierte Zusammenstellung der Fragmente wirklich zutreffend ist, von der eschatologischen Auferstehung der Toten die Rede, von der aber nur die Gerechten des Volkes betroffen sind. Das prophetische Apokryphon bringt 4Q385 Fragment 2,1–10 Ezechiels Vision der verdorrten Gebeine (Ez 37), ohne daß aus dem fragmentarischen Text jedoch ein neuer Ansatz zu erkennen wäre. Es geht hier wie im biblischen Text

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um die von Gott gewirkte Auferstehung des Volkes aus der Gefangenschaft, nur daß dem essenischen Autor nicht mehr die Befreiung aus der Babylonischen Gefangenschaft, sondern aus dem seleukidischen Joch vorschwebte. Trotz spärlicher Bezeugung wird man für die Qumranessener anzunehmen haben, daß sie am Ende der Zeit an eine kollektive Auferstehung der Gerechten geglaubt haben bzw. genauer gesagt, an eine Auferstehung der zu ihnen gehörigen Menschen. Was die rabbinische Literatur anlangt, so läßt sich daraus erkennen, daß schon die Gelehrten der Frühzeit die Auferstehung aller Menschen am Ende der Welt vertreten haben (StrB IV/2: 1175–1183). Der sadduzäischen Leugnung der Auferstehung begegnet mSanhedrin X 1 folgendermaßen: »Wer da sagt, die Auferstehung der Toten sei aus der Thora nicht herzuleiten, hat keinen Anteil an der künftigen Welt.« Es ist dabei allerdings festzustellen, daß die vorchristliche jüdische Literatur, die die messianische Zeit mit der zukünftigen Welt identifiziert hat, die Auferstehung der Toten in die messianische Zeit setzt (Hen 51,1f; 61,5; 90,33ff). Das darf allerdings nicht zur Annahme verleiten, die Totenauferstehung passiere bereits in der Jetztzeit;654 denn die messianische Zeit ist hier mit der zukünftigen Welt identisch. D. h. die Auferstehung wird als ein endgültiges Ereignis gesehen und nicht als etwas, das sich in der gegenwärtigen Welt vollziehen kann (Str–B III: 827–830), auch wenn es parallel dazu die Meinung gibt, daß in der messianischen Zeit Tote »auferstehen« (d. h. von Gott ins irdische Leben zurückgerufen werden) und ihr bisheriges Leben fortsetzen. Der historische Jesus hat die Auferstehungshoffnung am Ende der Zeit ebenso wie der Großteil seiner Landsleute geteilt: » [...] Die Stunde kommt, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören und herauskommen werden: Die das Gute getan haben, werden zum Leben auferstehen, die das Böse getan haben, zum Gericht.« (Joh 5,28f). Wie die großen Rabbinen seiner Zeit teilt Jesus die Ansicht, daß vor dem Weltgericht die Toten aus ihren Gräbern auferstehen, Gute wie Böse! (vgl. Apg 24,15). Auch in der Auseinandersetzung Jesu mit den Sadduzäern, die die Auferstehung ablehnten, wird Jesu Auffassung klar. Ihre Ablehnung der Auferstehung bezeichnet Jesus als Irrtum und widerlegt ihre Meinung mit Ex 3,6: »Ich bin der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs.« Gott ist kein Gott der Toten, sondern der Lebenden (Mk 12,18–27; Matth 22,23–33; Luk 20,27–38). Zwischen dem Leben der Patriarchen bei Gott und ihrer künftigen Auferstehung besteht eine Kontinuität (vgl. Luk 20,38). Es läßt sich nun festhalten, daß das Judentum zur Zeit des historischen Jesus wie auch dieser selber an eine endgültige Auferstehung der Toten am Ende dieser Weltzeit glaubten. Die von K. Schubert 1973 formulierte Aussage: »Auferstehung als eschatologische Kategorie war dem Judentum nur im Zusammenhang mit der erwarteten Wende von diesem Äon zum kommenden bekannt. Die

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Vorstellung, daß sich das eschatologische Geschehen der Auferstehung an einem einzelnen konkreten Menschen, wer immer er auch sein möge, antizipieren ließe, war dem Judentum absolut fremd.«655 hat sich als richtig erwiesen, auch wenn dieser widersprochen worden ist.656 Wenn nun deutlich geworden ist, was der Begriff Auferstehung im zeitgenössischen Judentum bedeutet, so ist nun weiter zu fragen, wie sich die Menschen damals »Auferstehung« (am Ende der Weltzeit und kollektiv) vorgestellt haben. Das läßt sich kurz und bündig beantworten: als ein Lebendigmachen, Wiederbeleben der toten Leiber durch Gott. 4 Esra 7,30–32, aber auch viele andere Belege zeigen, daß man sich vorstellte, daß sich bei der Auferstehung die Seele wieder mit dem Körper bzw. mit dem Staub, zu dem der Körper verfallen war, verbindet. Nach semitischem Denken ist damit auch die Totalität des Menschen wiederhergestellt, wenn auch nicht mehr im materiellen Sinne. Was den Auferstehungsleib betrifft, so hat Paulus mit viel Geduld und Geschick in 1 Kor 15 eine Kontinuität zwischen irdischer und himmlischer Leiblichkeit aufzuzeigen versucht. Letztlich kann nur gesagt werden, daß Auferstehung das »Verlassen der raumzeitlichen Dimension des Diesseits und Eingehen in eine Seinsform, die nur totaliter aliter bezeichnet werden kann«657 bedeutet.

3. Der Glaube an den Auferstandenen Die Durchsicht der neutestamentlichen Ostertexte hat gezeigt, daß Maria von Magdala das Grab Jesu, das sie leer vorfindet, nicht mit dem Gedanken an die Auferstehung Jesu kombiniert, sondern meint, daß der »Gärtner« den Leichnam Jesu weggetragen habe. Selbst als sie in dem »Gärtner« den Meister erkennt, denkt sie nicht an eine Auferstehung Jesu, sondern daß er von Gott aus dem Tod geholt wurde und sein irdisches Leben fortsetzen kann. Dies zeigt doch mit aller Deutlichkeit, daß es ihrem wie dem damaligen jüdischen Denken völlig fern lag, anzunehmen, daß sich Auferstehung in der gegenwärtigen Zeit und das an einer einzelnen Person vollziehen könne. Als Maria den Meister freudig umarmen will, weil sie offensichtlich glaubt, daß an ihm das Wunder einer Totenerweckung geschehen sei, so wie an der Tochter des Jairus, des jungen Mannes von Nain oder des Lazarus, er also sein bisheriges Leben fortsetze, wird sie von Jesus belehrt. Er sei nicht in seine irdische Wirklichkeit zurückgekehrt, sondern endgültig auf dem Weg zum Vater, in die himmlische Seinssphäre. Genau das beauftragt Jesus Maria, den Jüngern zu verkünden. Doch sie schließt auch daraus noch nicht, daß Jesus auferstanden sei, und verkündet den Jüngern nur, daß sie den Herrn gesehen habe und richtet aus, was er ihr aufgetragen hat (Joh 20,11–18). Erst in den synoptischen Parallelberichten fällt explizit das Wort, daß Jesus auferstanden ist. Es sprechen dies die Engel an die Frauen. Hier ist also bereits vorausgesetzt, daß die Jünger die Erscheinungen im Sinne der Auferstehung deuten.

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Daß die Jüngerinnen und Jünger Jesus nach seinem Tod als Lebenden erfahren und diese Erfahrung eschatologisch im Sinne der Auferstehung deuten, hat meiner Meinung nach – wie Joh 20,11–18 zeigt –, seinen Ursprung im Wort des verherrlichten Herrn selbst und wurde durch die weiteren Erscheinungen verfestigt. Wie wir gesehen haben, reicht der religionsgeschichtliche Hintergrund dafür nicht aus. Das zeitgenössische Judentum hat vom Messias alles andere erwartet, als daß er leiden und sterben werde. Der Qumrantext 4Q285, der bereits oben besprochen wurde, ist kein Zeugnis für einen getöteten Messias! Die älteste messianische Deutung des leidenden Gottesknechtes von Jes 53,4.5 ist nach wie vor 1 Kor 15,3, also ein christlicher Text. Die Jüngerinnen und Jünger Jesu konnten daher aus ihrer Umwelt auf keine Vorstellung hingewiesen werden, daß der Messias leiden und auferstehen wird. Noch dazu ist Jes 53,12 kaum im Sinne der Auferstehung zu deuten, wie vorher bereits dargelegt wurde. Jesus glaubte, wie seine pharisäisch ausgerichteten Zeitgenossen an die Auferstehung der Toten zum Weltgericht. Die Synoptiker berichten aber dreimal, daß Jesus sein Leiden vorausverkündete und von seiner Auferstehung sprach (Mk 8,31–33; 9,30–32; 10,32–34; Matth 16,21–23; 17,22f; 20,17–19; Luk 9,22; 9,43– 45; 18,31–34). Meistens werden diese Texte als Rückprojektionen vom Osterglauben der Jünger gedeutet, die mit dem historischen Jesus nichts zu tun haben, eine Deutung, die kaum zutreffend ist. Da sich Jesus nicht bloß als prophetischer Lehrer verstand, der in einer unvergleichlichen Gottesnähe stand, sondern als Herr über die Thora, als der endgültige Messias, als die endgültige Personifikation der Herrschaft Gottes, als der göttliche Sohn, ist mit solchen Hinweisen auf sein Leiden und seine Auferstehung zu rechnen, auch wenn er unter dem Titel »Menschensohn« seine eigentliche Identität in seinem irdischen Leben weitgehend verborgen hielt. Daß solche Aussagen sogar von seinem engsten Kreis nicht verstanden wurden, ist einsichtig. Erst als sie Jesus als den erhöhten Herrn erleben durften, haben sie verstanden! Auch hier ist Johannes bezüglich der Einsicht der Jünger eindeutig, wenn es 29,9 heißt: »Denn sie wußten noch nicht aus der Schrift, daß er von den Toten auferstehen mußte.« Jesus stellte den Jüngern auch einmal die Frage, für wen ihn die Menschen halten (Mk 8,27–30; Matth 16,13–20; Luk 9,18–21). Jesus erhält zur Antwort: Für (den wiedergekommenen) Johannes den Täufer, für (den wiedergekommenen) Propheten Elija oder einen anderen (wiedergekommenen) Propheten. Das alles sind gute jüdische Antworten, erwartete man jedenfalls gegen Ende der Tage vor der messianischen Zeit das Auftreten von Prophetengestalten wie des Elija. Die Gemeinde von Qumran erwartete z. B. das Auftreten ihres Lehrers der Gerechtigkeit (Damaskusschrift 6,10f). Dieses Auftreten der prophetischen Gestalten gehört jedoch noch zu dieser Weltzeit und hat mit dem Glauben an die Auferstehung der Toten, die den neuen Äon einleitet, nichts zu tun. Aber Petrus gibt

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Jesus – auferstanden von den Toten

hier die entscheidende Antwort, daß Jesus der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes ist. Aus Jesu Erwiderung ist zu sehen, daß dies keine menschliche Erkenntnis des Petrus sein kann, sondern eine vom Vater geschenkte (Matth 16,17). Wer dieser Jesus eigentlich ist, das leuchtet vereinzelt den Jüngern gleichsam als göttliche Eingebung während ihrer Zeit mit dem irdischen Jesus auf, aber wirklich begreifen konnten sie erst später. Es läßt sich daher sagen, daß die Jünger den Glauben an Jesu Auferstehung weder aus der Lehre des irdischen Jesus noch aus ihrer jüdischen Umwelt herleiten konnten; aus der Lehre des irdischen Jesus deswegen nicht, weil die Jünger die Tragweite seiner Worte bezüglich seiner Auferstehung nicht verstehen konnten, und aus ihrer jüdischen Umwelt deswegen nicht, weil Auferstehung nur kollektiv und am Ende dieser Weltzeit geglaubt wurde. Es ist daher eine religionsgeschichtliche Diskontinuität festzustellen. Der Glaube an seine Auferstehung konnte nur durch den Anstoß des Auferstandenen selber geworden sein. Bei unseren bisherigen Überlegungen ist das leere Grab Jesu kaum zur Sprache gekommen. Es hat zum Osterglauben auch nichts beigetragen, im Gegenteil, es führte Maria von Magdala nur zu der Meinung, daß der Leichnam Jesu verlegt worden sei, ohne daß sie davon gewußt hat. Als man jedoch die Erfahrung, Jesus nach seinem Tod als Lebenden begegnet zu sein, als Auferstehung deutete, setzt diese Deutung die Leerheit des Grabes voraus, weil eben »Auferstehung« das Lebendigmachen des toten Leibes heißt. »Unter Berücksichtigung der anthropologischen Vorstellungen des Judentums Palästinas im ersten Jahrhundert n. Chr., die zwar nicht mehr für unser Weltbild verbindlich sind, auf deren Hintergrund allein aber der ursprüngliche Sinn des von den Osterzeugen Gemeinten eruiert werden kann, kann man zu gar keinem anderen Schluß kommen, als daß sich die Botschaft von der Auferstehung Jesu in Jerusalem keinen Tag lang hätte halten können, wenn nicht tatsächlich ein leeres Grab Jesu gezeigt worden wäre, das auch allgemein als das Grab Jesu anerkannt worden wäre. Die Osterbotschaft impliziert also ipso facto die Leerheit des Grabes Jesu. Die jüdische Polemik richtet sich daher nicht, wie aus dem Matthäusevangelium noch deutlich erkennbar ist, gegen das Faktum des leeren Grabes ... «.658 Daß Jesus von den Toten erstanden ist, war so den Jüngerinnen und Jüngern in kurzer Zeit bewußt. Das Johannesevangelium bietet dafür den ältesten Bericht. Die Jüngerinnen und Jünger Jesu formulierten schon sehr früh in einem Bekenntnis ihren Osterglauben, das Paulus in 1 Kor 15,3–5 überliefert hat: »Denn vor allem habe ich euch überliefert, was auch ich empfangen habe: Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift, und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift, und erschien dem Kephas, dann den Zwölf.«

Der Glaube an den Auferstandenen

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Dieses Bekenntnis zu Jesus, dem Gott so schnell als möglich zu Hilfe kommt (der dritte Tag ist der des Heils!)659 war ursprünglich nicht griechisch, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit aramäisch formuliert und geht auf die Jerusalemer Urgemeinde zurück, wobei zeitlich eine unmittelbare Nähe zu dem Ereignis des Todes Jesu und der Entstehung des Osterglaubens seiner Jüngerinnen und Jünger anzunehmen ist. Freilich treten in dieser Bekenntnisformel nur Männer (Kephas/Petrus und die Zwölf) als Zeugen des Auferstandenen auf. Es ist eben zu berücksichtigen, daß damals, wie schon gesagt, nur Männer im juristischen Sinn als Zeugen fungieren konnten. »Die Zwölf« wollen hier aber nicht als Einzelpersonen verstanden werden, sondern als die Gesamtheit, Jüngerinnen und Jünger, die an Jesus als den auferstandenen Kyrios glauben.660 In das Bekenntnis der ersten Jünger, daß Jesus vom Tod auferstanden ist, haben Christen aller Jahrhunderte eingestimmt. Sie waren sich dessen bewußt, was Paulus 1 Kor 15,17 geschrieben hat: »Wenn aber Christus nicht auferweckt worden ist, dann ist euer Glaube nutzlos.«

X. Zusammenfassung der historischen Fakten Dieses Buch versuchte zu zeigen, daß wir vom Leben Jesu mehr wissen, als man allgemein für möglich hält. Die vier kanonischen Evangelien sind vom Geschehen nicht so weit entfernt wie ganze Forschergenerationen der letzten Jahrzehnte angenommen haben. Selbst das Johannesevangelium, das als das theologischspirituelle Evangelium vielen Gelehrten historisch äußerst suspekt erschien und erscheint, erweist sich oft als eine historisch zuverlässige Quelle, zuverlässiger als die Synoptiker. •





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Jesus wurde am ehesten im Oktober des Jahres 7 v. Chr. im judäischen Bethlehem geboren. Seine Mutter hieß Maria und sein juristischer Vater war Joseph. Beide stammten aus Nazareth, gehörten zur damaligen eher unteren Mittelschicht und waren miteinander verheiratet. Sein Leben bis kurz vor dem Pesachfest des Jahres 28 n. Chr. verbrachte Jesus in Nazareth. Er lebte nach den Gesetzen und Bräuchen der jüdischen Religion, machte mit seinen Eltern die vom Gesetz vorgeschriebenen Wallfahrten nach Jerusalem, erhielt eine ausgezeichnete Schulbildung, erlernte den Beruf eines Bauhandwerkers von Joseph und arbeitete in diesem Beruf.

Vor dem Pesachfest des Jahres 28 n. Chr. kam Jesus, wie viele seiner Zeitgenossen, in das transjordanische Bethanien, um sich von Johannes taufen zu lassen. Im Erlebnis dieser Taufe sah er sich als prophetischer Lehrer seines Volkes berufen, rekrutierte die ersten Jünger aus dem Kreis des Täufers und begann eine etwas über zwei Jahre dauernde öffentliche Tätigkeit. Er wanderte mit seinen Jüngern durch Galiläa, Samaria, Peräa und Judäa. Jerusalem besuchte er während dieser Zeit dreimal.

Der Kern seiner Botschaft war die Verkündigung der Herrschaft Gottes, die er mit seiner Person verbunden als endgültige Wirklichkeit verstand. Krankenheilungen, Dämonenaustreibungen und Totenauferweckungen begleiten sein Wirken. Das jüdische Ritualgesetz war für ihn selbstverständlich; er mißachtet es nie, übernimmt aber nicht immer die pharisäische Auslegung der Thora, sondern lehrt aus eigener Machtvollkommenheit, die in seiner unbedingten Gottesnähe und schließlich darin gründet, daß er wie Gott selber der Herr über die Thora ist. Wichtige Punkte der Ethik versucht Jesus zu verwesentlichen und radikalisiert die Nächstenliebe bis zur Feindesliebe. Sünder und Außenseiter der damaligen Gesellschaft sieht er ebenso als Kinder der Herrschaft Gottes, wenn sie zur Änderung ihres Lebens bereit sind und nimmt einen ehemals öffentlichen Sünder (Levi/Matthäus) sogar in seinen Jüngerkreis auf. Frauen spielen im Hintergrund eine wichtige, während seiner letzten Stunden und nach seinem Tod die entscheidende Rolle.

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Zusammenfassung der historischen Fakten

Die letzten Tage seines Lebens, Sonntag 9. oder 10. Nisan bis Freitag 14. oder 15. Nisan des Jahres 30 n. Chr., verbringt Jesus im westjordanischen Bethanien und in Jerusalem. Er provoziert den Hohenpriester und eine gewisse Clique der Tempelhierarchen derart, daß sie beschließen, ihn nach dem Pesachfest zu beseitigen. Mit seinen Jüngern, die er als Repräsentanten der zwölf Stämme des neuen Israel sieht, feiert er das letzte Pesach, bei dem er seine realsymbolische, sakramentale Vergegenwärtigung in Brot und Wein den Jüngern als sein Andenken hinterläßt.

Judas Iskarioth liefert seinen Meister an den Hohenpriester aus, so daß dieser Jesus heimlich kurz nach Mitternacht (14. oder 15. Nisan) verhaften lassen konnte. Im Hof des hohenpriesterlichen Palais wird Jesus von Hannas, dem früheren Hohenpriester und Schwiegervater des amtierenden Hohenpriesters Joseph ben Kaiaphas befragt. Kaiaphas versucht, seine Clique bis zum Morgen zu mobilisieren und führt mit dieser, um den Schein zu wahren, am Morgen »ein Verhör« Jesu durch. Die überhastete Vorbereitung führte jedoch zu keiner einheitlichen Zeugenaussage, so daß der Hohepriester selbst die Messiasfrage stellt, die Jesus im religiös eschatologischen Sinn – unterstützt durch Zitate aus der Heiligen Schrift – bejaht. Das schon vorher beschlossene Todesurteil wird formal ausgesprochen. Da die jüdischen Behörden kein Todesurteil vollstrecken durften, mußte der römische Präfekt kontaktiert werden.

Der Hohepriester Kaiaphas liefert Jesus mit der politischen Messiasanklage (König der Juden) an den Präfekten aus. Pilatus versuchte jedoch, den Hohenpriester herauszufordern. Er vergewisserte sich zuerst beim Tetrarchen Herodes Antipas, dem zuständigen Souverän für Jesus, daß Jesus kein Hochverräter ist, und spannt den Hohenpriester stundenlang »auf die Folter«. Dabei läßt Pilatus Jesus zuerst geißeln und bietet dann dem Hohenpriester eine delikate Amnestie an: Soll der vermeintliche Hochverräter Jesus oder der wirkliche Hochverräter Barabbas freigelassen werden? Kaiaphas entscheidet sich für Barabbas und nimmt dafür in Kauf, selbst der Beihilfe zum Hochverrat angeklagt werden zu können. Um dem jedoch zu entgehen, greift er Pilatus frontal an und droht dem Präfekten ebenso mit einer Anzeige wegen Hochverrates beim Kaiser. Das wurde dem korrupten Präfekten zu gefährlich. Er lenkt ein und verurteilt Jesus zum Tod. Etwa zwischen 13 und 14 Uhr, am Freitag, 14. oder 15. Nisan, stirbt Jesus mit einem Aufschrei am Kreuz. Das Sterben Jesu erleben nur seine Mutter, seine Tante, die Frau des Klopas, Maria von Magdala und der Lieblingsjünger Johannes.

Der Hohe Rat, den Kaiaphas schnell und geschickt ausgetrickst hatte, war in das ganze Verfahren um Jesus überhaupt nicht involviert. Zwei Mitglieder

Zusammenfassung der historischen Fakten





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des Rates, Joseph von Arimathäa und Nikodemus übernehmen den letzten Liebesdienst für Jesus: sie waschen und salben seinen Leichnam und begraben ihn in einem unberührten Grab. Das Begräbnis Jesu fand noch vor dem Beginn der Pesachnacht (nach der offiziellen Zählung der Tempelbehörden) statt! Maria von Magdala und andere Frauen, die Jesus am ersten Wochentag (Sonntag) in aller Frühe beim Grab beweinen wollen, finden dieses leer. Maria von Magdala ist die erste Zeugin, daß Jesus nach seinem Tod lebt.

Als historisch einzig vertretbare Ansicht bleibt, daß die Erscheinungen Jesu seinen Jüngerinnen und Jünger den entscheidenden Anstoß gaben und sie dazu veranlaßten, von seiner Auferstehung zu sprechen.

Anmerkungen Vgl. zu den Namen des Landes die ausführliche und umfangreiche Darstellung von O. Keel/M. Küchler/C. Uehlinger I 1984: 206–288. Kürzere Übersichten finden sich z. B. bei V. Fritz 1985: 10–12 und bei W. Zwickel 2002: 16–18. Einen prägnanten geschichtlichen Überblick von Alexander dem Großen bis zum Bar Kochba Aufstand bietet B. Kollmann 2006. 2 Zur Topographie vgl. P. F.–M. Abel I 31967 und II 31967. Y. Aharoni 1967. H. Donner 1976: 11–35. K. Jaroš 42002: 9–13. W. Zwickel 2002: 70–107. 3 Vgl. H. Donner 1976: 36–38. 4 Vgl. B. S. J. Isserlin 2001: 24–26.36–39. K. Jaroš 2008a: 14–15. W. Schadewaldt 31959 und 1982: 198–221 hat bereits nachgewiesen, wie rasch Schiffe selbst in homerischer Zeit ihr Ziel erreichen konnten. 5 Vgl. jJom ha–Kippurim 5,3. 6 Vgl. Plinius der Ältere, Naturalis Historia V 68. 7 Die Bevölkerung war sehr antijüdisch eingestellt (vgl. JosBell II 460; JosVita 118 und 213). 8 Vgl. M. Stern 1975b: 175f. 9 Plinius der Ältere, Naturalis Historia XIII 44, unterscheidet z. B. fünf Sorten judäischer Datteln und preist ihre Qualität. 10 Vgl. JosBell IV 468. 11 Vgl. J. Klausner 1975: 183. 12 Plinius der Ältere, Naturalis Historia XVI 15 spricht vom Myrrhen–Wein (vgl. Mk 15,23). 13 Vgl. Plinius der Ältere, Naturalis Historia XII 54. 14 Hebräisch: rpwk; griechisch: ku¿proß, (Henna ist die arabische Bezeichnung). Die Mutter Herodes des Großen hieß z. B. »Kypros«; wohl nach dieser Pflanze benannt. Der Name ist daher eher davon abzuleiten als von der Blüte der Olive oder des Weinstocks, griechisch kuprismo¿ß (vgl. J. Klausner 1975: 184). 15 Vgl. JosBell III 509. Strabo, Geographie XVI 1. 16 Vgl. JosBell IV 481. 17 Vgl. B. Rothenberg 1972: 222f. Die Römer nahmen erst im 2. Jh. n. Chr. die seit dem Chalkolithikum bestehende Tradition des Kupferabbaus wieder auf. 18 Die Regel war der Kleinbauer, der mit seiner Familie von den Erträgen der Felder und Gärten leben konnte, jedoch nicht so viel Überschuß produzierte, daß er zu Reichtum kam. Im Gegenteil: Oft kam es vor, daß sich durch Mißernten und andere widrige Umstände die Situation einer Familie so verschlechterte, daß sie ihr Land hergeben mußte und die Angehörigen zu Feldarbeitern und Tagelöhnern wurden. Wenn ein Bauer seinen Besitz halten konnte, erbte diesen nach seinem Tod sein ältester Sohn. Andere Söhne wurden ausgezahlt und blieben Landarbeiter oder fanden eine andere Beschäftigung. Vielen wird auch das Los als Bettler nicht erspart geblieben sein. Mancher hat sich in dieser Lage Räuberbanden angeschlossen. Wirklich reich war nur die kleine Gruppe der Großgrundbesitzer, aus der z. B. auch die einflußreichen Priesterfamilien kamen, die den Hohenpriester stellten. Diese relativ kleine Gruppe bestellte natürlich ihre Latifundien nicht selber, sondern beschäftigte ein Heer von Landarbeitern und Tagelöhnern. Mit diesen wurde je nach Bedarf für ein paar Stunden, für einen Tag, für einige Wochen oder höchstens für sechs Jahre eine bestimmte Geldsumme vereinbart. Der Arbeitstag reichte von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Mittags gab es eine Stunde Pause. Der Lohn reichte pro Tag von einem bis zu vier Denaren. Mit einem Denar pro Tag brauchte eine Familie nicht zu verhungern. Großgrundbesitzer haben bisweilen ihre Ländereien auch verpachtet (vgl. J. Klausner 1975: 191f). JosAnt XX 219–222 gibt z. B. für das Jahr 64 n. Chr. eine Zahl von 18 000 Arbeitslosen an, bedingt dadurch, daß die schon Jahrzehnte dauernden Arbeiten am Jerusalemer Tempel abgeschlossen waren. 1

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Anmerkungen 18 – 36

Daß es aber in Judäa, Samaria und Galiläa nicht zu solch krassen sozialen Gegensätzen kam wie in anderen Ländern der antiken Welt, ist den vielen Gesetzen und Vorschriften der Bibel und deren menschfreundlicher Auslegung durch die pharisäischen Gelehrten zu danken, die wie Jesus eine besondere Zuneigung zu den Armen der Gesellschaft hatten. Matth 13,55 nennt Joseph, Mk 6,3 auch Jesus te¿¿ktwn. Das Nomen bezeichnet allgemein einen Bauhandwerker, der mit Holz arbeitet (vgl. F. Passow II 2 1867/1993: 1847. H. G. Liddell/R. Scott 1973: 1769. W. Bauer 61988: 1613) im Unterschied zu Steinmetzen. Die traditionelle Übersetzung mit »Zimmermann« ist daher zu eng. Natürlich schließt das Gewerbe des Bauhandwerkers damals das des Zimmermanns ein. Nach J. Klausner 1975: 187. Bildhauer war wegen des Bilderverbotes kaum ein offizieller Handwerksberuf. Vgl. mJoma III 11. Vgl. J. Klausner 1975: 188 und 362 Anm. 79 und 80. Vgl. JosBell IV 508. Vgl. J. Jeremias 31969: 98. M. Broshi 1975a: 13 rechnet mit 38 500. Vgl. auch U. Wagner–Lux, RAC XVII 635. Vgl. J. Klausner 1975: 196–200. Vgl. JosAnt XVII 204; XVIII 108. Vgl. Plinius der Ältere, Naturalis Historia XII 65. Vgl. auch tSanhedrin V 5; mHagigah III 6. Vgl. bSanhedrin 25b; mBaba Kamma X 1. Besonders einträgliche Posten blieben dabei in der herodeischen Familie. So war z. B. Agrippa (der spätere König Agrippa I.) unter dem Tetrarchen Antipas Marktinspektor von Tiberias (vgl. JosAnt XVIII 149). Luk 19,8 ist bezeichnend: » [...] Herr, die Hälfte meines Vermögens will ich den Armen geben, und wenn ich von jemand zu viel gefordert habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück.« Jesus ist offensichtlich bereit, diese Bekehrung des Zachäus anzunehmen und nicht wie mBaba Kamma X 1 darauf zu beharren, daß gestohlenes Geld nicht für wohltätige Zwecke verwendet werden darf. Die Aussage des Zachäus, daß er auch das Vierfache denen, die er betrogen hat, zurückgeben will, wirft auch ein Licht darauf, daß der offizielle Steuersatz (ca. 2,5 % des Wertes) in der Praxis von den Steuerpächtern und ihren Gehilfen vervielfacht eingehoben wurde. Die Antwort Jesu, daß Zachäus ein Sohn Abrahams ist, zeigt auch, daß Zollpächter keine Fremden, sondern Juden waren. Vgl. Ex 30,13. Nach Neh 10,33 ein Drittel Scheqel. Vgl. E. Schürer I/1 1890/1998: 35–271. 313–325. Der syrische Legat Gabinius versuchte zwar, diese Gebiete dem Hohenpriester zu entziehen, mußte jedoch diese Entscheidung bald zurücknehmen (vgl. E. Schürer I/1 1890/1998: 330f). Vgl. K. Jaroš 42002: 139–143. Vgl. E. Schürer I/1 1890/1998: 466 (b). Das Grab mit dem Sarkophag wurde erst vor zwei Jahren vom israelischen Archäologen Ehud Netzer gefunden. Zu Herodes dem Großen vgl. vor allem: S. Perowne 1967. A. Schalit 1969/1991. G. Prause 1990. M. Vogel 2002. Da bis heute die völlig absurde Meinung im Umlauf ist, daß Herodes der Große nicht 4 v. Chr., sondern erst drei oder vier Jahre später gestorben sei, möchte ich auf folgendes hinweisen. Durch Münzfunde kann klar bewiesen werden, daß König Herodes 4. v. Chr. gestorben ist: Sein Sohn Herodes Antipas war bis zum Jahre 39 n. Chr. Tetrarch von Galiläa und Peräa. 39 n. Chr. wurde er von Kaiser Caligula abgesetzt und verbannt. Herodes Antipas ließ noch 39 n. Chr. eine Serie von Münzen prägen. Zumindest eine Münze dieser Serie ist erhalten und im Israel Museum in Jerusalem aufbewahrt (R. Hestrin/Y. Israeli/Y. Meshorer/A. Eitan 1972: Nr. 209). Diese Bronzemünze trägt das Datum: Jahr 43 (der Herrschaft des Antipas). Wäre also Herodes der Große erst 1 v. Chr. gestorben, dann wäre das Jahr 43 der Herrschaft seines Sohnes

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Antipas das Jahr 42 n. Chr. Zu diesem Zeitpunkt war Herodes Antipas schon drei Jahre in der Verbannung und seine Tetrarchie schon drei Jahre dem Königtum Agrippas I. angeschlossen! Vgl. E. Schürer II/1 1890/1998: 10–149. U. Wagner–Lux RAC XIX: 77. Vgl. JosBell II 4–13; JosAnt XVII 213–218. Vgl. JosBell II 20–22. JosAnt XVII 219–220. Vgl. JosBell II 39–79; JosAnt XVII 250–298. Vgl. JosBell II 111–113; JosAnt XVII 342–344. Die Geschichte zeigt, daß die Feste in Jerusalem öfter in Unruhen ausarteten (JosBell I 88–89). Für unseren Zeitraum ist speziell auf die Unruhen während des Pesach- und Schawuotfestes (Pfingsten) des Jahres 4 v. Chr. (JosBell II 10–13.42–54) hinzuweisen. Zur Zeit des Prokurators Ventidius Cumanus (48–52 n. Chr.) gab es ebenfalls während des Pesachfestes in Jerusalem größere Probleme (JosBell II 224). Vgl. JosBell II 117; VI 126. Vgl. JosBell II 306–308. Wir haben bereits gesehen, daß auf eine solch begründete Beschwerde Kaiser Augustus den Ethnarchen Archelaos absetzte und verbannte. Ähnlich erging es z. B. auch Pontius Pilatus. Als Kaiser Caligula den Kaiserkult auch für Jerusalem verordnete, war der syrische Legat Petronius klug genug, diesen Befehl zu sabotieren, um eine Volkserhebung zu verhindern. Da Caligula im Jahre 41 n. Chr. ermordet wurde, kam es nicht zu Sanktionen gegen den Legaten. Kaiser Claudius hob den Befehl sofort auf (JosBell II 184–203). Vgl. JosBell V 193ff. JosAnt XV 417. M. Clermont–Ganneau, PEFQSt 1871: 132. C. Warren/C. R. Conder 1884/1970: 79–84. Vgl. auch P. Segal 1989: 79–84. Im Jahre 1935/36 kam bei Straßenbauarbeiten außerhalb des Stephanstores (Löwentor) das Fragment einer weiteren solchen Inschrift zu Tage (vgl. R. Hestrin 1973: Nr. 169. E. Otto 1980: 133f. K. Jaroš 2001: Nr. 243). Davon ist die gewöhnliche Lynchjustiz zu unterscheiden, die zwar von den Römern nicht geduldet war, jedoch kaum verhindert werden konnte (vgl. Joh 8,1–11; Apg 7,54–60). Der griechische Text der Inschrift lautet: MHQENA ALLOGENH EISPOREUESQAI ENTOS TOU PERI TO IERON TRUFAKTOU KAI PERIBOLOU OSDAN LHFQH EAUTWI AITIOS ESTAI DIA TO EXAKOLOUQEIN QANATON. Vgl. JosAnt XVIII 30. Durch die samaritanische Aktion war der Tempel unrein geworden und das Pesachfest empfindlich gestört. Nach diesem Vorfall scheint man den Samaritanern den Zugang zum Tempel verboten zu haben. Vorher stand ihnen der Tempel offen (vgl. auch Joh 4,20). Eine andere Weise, in Judäa Verwirrung zu stiften, war folgende: Der jüdischen Bevölkerung wurde vom Ölberg weg bis an die samaritanische Grenze durch Feuerzeichen die Festlegung des Neumondes mitgeteilt, was die Samaritaner durchkreuzten, indem sie Neumondfeuerzeichen zur falschen Zeit gaben. Deshalb war man in Jerusalem gezwungen, per Boten den Neumond bekanntzugeben (vgl. L. Haefeli 1922: 107). Da der jüdische Kalender auf dem Zyklus des Mondes basierte, war die nach Beobachtung festgelegte offizielle Bekanntgabe des Neumondes wichtig. Zu den drei letztgenannten Präfekten vgl. JosBell II 167; JosAnt XVII 31–35. Vgl. Tacitus, Annalen III 66–67; IV 6.15. Tiberius 32: » ... boni pastoris esse tondere pecus, non deglubere.« So H. Graetz 3/1 1905/1998: 269. Vgl. K. Jaroš 42002: 28–34. Philo von Alexandrien, Delegatio ad Gaium 299.

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Anmerkungen 56 – 75

Vgl. zur Beurteilung A. Demandt 1999: 87f und H. J. Bond 2000: 24. Vgl. H. K. Bond 2000: 45–46. K. Jaroš 2002: 50. Vielleicht hängt auch die Erneuerung des Tiberieums von Cäsarea (Abb. 15) damit zusammen. G. Alföldy 1999: 85–108 rekonstruiert in der ersten Zeile der Inschrift statt [INCOLI]S (den Bewohnern) [NAUTI]S (den Seeleuten) und folgert, daß der Inschriftenstein zu einem Tiberieum genannten Leuchtturm bei der Hafeneinfahrt von Cäsarea gehörte. Das klingt auf den ersten Blick logisch, da einer der Leuchttürme nach dem Bruder des Kaisers Tiberius »Drusion« benannt war. Etwas rätselhaft bleibt bei der Leuchtturmversion, daß der Stein später im Theater von Cäsarea verbaut wurde. Ein an so exponierter Lage aufgestellter Widmungsstein dürfte nach den zahlreichen Erdbeben, die es in Palästina bis zum 4. Jh. n. Chr. gegeben hat, doch eher auf dem Meeresgrund zu suchen sein. Mir scheint die Rekonstruktion [INCOLI]S plausibler zu sein. 58 Vgl. JosBell II 169–174; JosAnt XVIII 55–59. 59 Vgl. K. Jaroš 2002: 53–59. 60 Vgl. JosBell II 175–177. JosAnt XVIII 60–62. 61 Vgl. L. H. Vincent 1914: 428–436. N. Avigad 1976. K. Jaroš 1980a: 14–16. K. Jaroš 2002: 60–68. 62 Vgl. K. Jaroš 2002: 68–71. 63 Das Luk 13,1 erwähnte Massaker an galiläischen Pilgern beim Pesachfest in Jerusalem ist sonst nicht bezeugt; vgl. auch die Darstellung von A. Demandt 1999: 194. 64 Vgl. dazu L. Haefeli 1922: 108 Anm. 4. 65 Vgl. den Bericht von JosAnt XVIII 29–30.85–89. 66 Vgl. zum Ganzen K. Jaroš 2002: 115–125. 67 Vgl. Apg 23,5; vgl. Philo, De Specialibus Legibus I 114.229. Bei Philo wird die Mittlerrolle des Hohenpriesters noch erheblich gesteigert, so wenn er aus Lev 16,17 schließt, daß der in das Allerheiligste eintretende Hohepriester nicht mehr Mensch sei (Philo, De Specialibus Legibus I 116). 68 Die religiöse wie politische Opposition hat dieses Amt nicht mehr anerkannt, so z. B. die Essener. Nach der Besetzung Jerusalems durch die Zeloten im Jahre 67 n. Chr. (der amtierende Hohepriester Jonathan wurde ermordet) wurden die bisherigen Hohenpriester für ungesetzlich erklärt und durch das Los ein Zadokide bestimmt (JosBell IV 148.155). 69 Eine Liste (mit Quellenangaben) der 28 Hohenpriester vom Jahre 37 v. Chr. bis zum ersten jüdischen Aufstand bietet E. Schürer I/2 1890/1998: 197–202. Vgl. auch Tabelle 2. 70 Vgl. JosCAp II 185.193; JosAnt III 151 XV 22. Die Salbung vermittelt dem Hohenpriester diesen Charakter. Nach Abschaffung der Salbung wird dieser Charakter durch das Anlegen des achtteiligen Ornates (vgl. mJoma 7,5) gewährleistet (JosBell V 231–236; JosAnt III 151.159–187; XV 403–409; XVIII 90–95; XX 6–14). Von daher ist es einsichtig, was das Wegsperren des Ornates durch Herodes den Großen und durch die Präfekten bedeutete. Der Ornat wurde z. B. vom syrischen Legaten Vitellius im Jahre 36 n. Chr. nach der Absetzung von Joseph ben Kaiaphas dessen Nachfolger übergeben, bis schließlich Kaiser Claudius im Jahre 45 den Ornat für den Hohenpriester überhaupt freigab (vgl. G. Schrenk ThWNT III 269). 71 Von daher gesehen wird verständlich, daß der abgesetzte Hohepriester Hannas neben seinem Schwiegersohn Kaiaphas, dem amtierenden Hohenpriester, den Titel etc. weiter führt und seinen Einfluß weiterhin geltend macht, wie es das Neue Testament durchaus richtig festhält. 72 Vgl. JosBell V 230. 73 Vgl. H. D. Mantel 1975: 274–281. Vgl. Matth 26,3; Apg 22,5; 23,1–2. 74 Zum Ritus des Versöhnungstages, der am 10. Tischri gefeiert wird, vgl. Lev 16 und den Traktat Joma der Mischna. mJoma VI 2 und mSota VII 6 wissen aber auch zu berichten, daß die Priester im Tempel beim Segnen den Gottesnamen JHWH ausgesprochen haben, wie er geschrieben ist, während in den Provinzen ein Ersatzwort gesprochen wurde. 75 JosBell IV 206.313 spricht von Sechstausend. 56 57

Anmerkungen 76 – 93

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Vgl. K. Jaroš 42002: 101–129. Vgl. H. G. Kippenberg 1971: 50–57. K. Jaroš 1976a: 124–127. K. Jaroš/B. Deckert 1977: 43–46. 78 Die Liste der Hohenpriester läßt sich von heute bis in die hellenistische Zeit zurück verfolgen. Sie feiern bis heute ihr Pesachfest am Berg Garizim. Ihre Heiligen Schriften sind der Pentateuch und das Buch Josua, da sie den späteren jüdischen Prozeß der Kanonisierung nicht mehr akzeptiert haben. 79 Der Garizim-Tempel der Samaritaner wurde nach dieser Aktion nicht mehr aufgebaut. Vermutlich wurde ihnen von Hyrkan I. der Wiederaufbau verboten. Nach dem Jahr 63 v. Chr. entstand am Garizim ein römisches Militärlager (JosAnt XIV 100), so daß auch in der weiteren Folge an einen Wiederaufbau nicht zu denken war (vgl. auch Joh 4,20). Kaiser Hadrian entweihte den Garizim vollends, als er 135 n. Chr. über die Ruinen des JHWH–Tempels einen protzigen Zeustempel errichten ließ (vgl. R. J. Bull 1967: 387–393; 1968: 58–72; K. Jaroš/B. Deckert 1977: 46–48). 80 Vgl. L. Haefeli 1922: 108f. Es ist sowohl ein jüdisches als auch ein christliches Vorurteil, in den Samaritanern ein Mischvolk aus Heiden und Nachkommen des früheren Reiches Israel zu sehen. Sie sind im Grund genauso Juden, mit anderen Völkern ebenso vermischt wie die Judäer. Ihre Religion ist streng monotheistisch, ein JHWH–Glaube, der mehr den vorexilischen Traditionen Israels verhaftet blieb als der Enge des nachexilischen Juda (vgl. auch die hervorragende Studie von M. J. Bin Gorion 1926). 81 Str–B I: 538f.543. 82 Inschriften von Kos und Delos bezeugen z. B. die Verbindungen des Antipas zu Athen (vgl. W. Dittenberger, OGIS Nr. 416 und 417). 83 Dies erklärt möglicherweise die anfänglich reservierte Haltung des Präfekten gegenüber Antipas (vgl. Luk 23,12). 84 Vgl. JosAnt XVII 289. Archäologisch ist die Bautätigkeit während der ersten Hälfte des 1. Jhs. n. Chr. nachgewiesen. Das Theater von Sepphoris dürfte allerdings erst in der zweiten Hälfte des 1. Jhs. n. Chr. gebaut worden sein (E. Netzer/Z. Weiß 1994: 18f). 85 Vgl. JosAnt XVIII 36ff. 86 Vgl. 1 Makk 9,35–40; 2 Makk 5,8–10. Als es gegen den gemeinsamen Feind, die Seleukiden, ging, entwickelten sich auch bessere Beziehungen (vgl. JosAnt XII 335–340). Nach dem Niederringen der Seleukiden gab es wieder reichlich Konfliktstoff. 87 Nach Lev 18,6–18 ist die Ehe zwischen Onkel und Nichte nicht verboten. Das Ehehindernis nach mosaischem Recht bestand für Antipas darin, daß er mit der Tochter des nabatäischen Königs verheiratet und nicht geschieden war, für Herodias darin, daß sie verheiratet und offensichtlich ebenfalls nach mosaischem Recht noch nicht geschieden war. Herodias war in erster Ehe mit ihrem Onkel Herodes Philipp Boëthos, Sohn Herodes des Großen und Mariamme II., verheiratet. Dieser Herodes Philipp Boëthos war völlig unbedeutend und lebte gleichsam als Privatmann (vgl. auch Tabelle 1). 88 Vgl. JosAnt XVIII 120–126. Daß es gegen Aretas keine weitere Strafexpedition gegeben hat, kann damit zusammenhängen, daß der neue Kaiser Caligula an das Entgegenkommen des Aretas gegenüber seinem Vater Germanicus dachte (vgl. Tacitus, Annalen II 57,4). Vgl. zur zeitlichen Abfolge auch M. Stern 1975b: 134. H. W. Hoehner 1980: 110–170. E. P. Sanders 1996: 409–423. 89 Vgl. G. Stählin ThWNT IX 156–169. W. Bauer 1988: 1716f. Matth 27,57 und Joh 19,38 bezeichnen z. B. auch Joseph von Arimathäa in diesem weitesten Sinn als einen »Freund« des Pilatus. 90 Vgl. JosAnt XVIII 96–103. 91 Zu Lysanias vgl. J. de Fraine DBS V 594–596. 92 Vgl. JosBell II 181–183; JosAnt XVIII 240–255. 93 Vgl. K. Jaroš 1995: 21–104. Zum Monotheismus vgl. A. Schenker 1991. O. Keel 2007. 76 77

322

Anmerkungen 94 – 111

Vgl. K. Jaroš 1995: 56–58. Vgl. B. Lang 1975: 154–157. U. Winter 1983: 510. 96 Übersetzung nach O. Keel 1974: 13–15; vgl. dazu die zahlreichen Begründungen ebd. 13–15 Anm. 11–23. 97 Das feminine Singularpartizip in der Intensivform (Piel) tqjxm des Verbums qjx meint ein Verhalten, das jemanden zur fröhlichen Unterhaltung reizt, die auch erotisch sein kann (vgl. O. Keel 1974: 29f. U. Winter 1983: 522f). Die Herleitung des Motivs von der bar jeder Erotik seienden ägyptischen Göttin Maat ist sehr unwahrscheinlich. Viel deutlicher ist der Zusammenhang mit der ägyptischen Göttin Hathor, von der es z. B. heißt, daß sie den Gott Re damit erheitert und erfreut, daß sie vor ihm ihre Scham entblößt (vgl. K. Jaroš 1995: 106). Der eigentliche Hintergrund sind aber die in Palästina jahrhundertelang bezeugten Plaketten der Göttin, die in den Haus- und Familienkulten die gleichsam sakramentale Gegenwärtigsetzung der Göttin bedeuteten. 98 H.–P. Mathys 1994: 255. 99 Vgl. JosAnt XV 380. Den Beginn der Arbeiten am Jerusalemer Tempel bezeugt auch eine vor einigen Jahren gefundene griechische Inschrift, daß ein gewisser Paris, Sohn des Akeson, von Rhodos für die Pflasterung des Tempels spendete (vgl. B. Isaac 1985: 1– 4. K. Jaroš/U. Victor 2011: 29 Abb. 3). 100 Vgl. E. Reidinger 2002: 89–149. 101 Vgl. zum Ganzen K. Jaroš 2000: 37–40. 102 Vgl. mMiddot II 3. 103 Vgl. mMiddot II 3; JosBell V 38.195–200. 104 In der Zeit des Zweiten Tempels waren die Nasiräer solche, die für eine bestimmte Dauer das Gelübde ablegten, sich JHWH zu weihen (vgl. Num 6,1–23). mNazir I 3–4 gibt als Norm für die Dauer des Gelübdes 30 Tage an. War die Zeit des Gelübdes vorbei, dann mußte man sich durch Opfer auslösen. Dazu gehörte auch das Verbrennen der geschorenen Haare. Jeder Jude oder jede Jüdin konnte überall ein solches Gelübde ablegen (vgl. Apg 18,18); die Lösung des Gelübdes nach etwa 30 Tagen konnte jedoch nur im Tempel stattfinden, da dies der einzig legitime Ort für Opfer war. 105 Vgl. JosBell V 226. 106 Vgl. bJoma 25a; bSanhedrin 88b. Vgl. dazu S. Safrai 1975: 288. 107 Vgl. JosBell V 209. 108 Vgl. mMiddot IV 6. 109 Unter Bezugnahme auf Jes 29,1, wo für Jerusalem der Name »Ariel« (= »ein Löwe ist El« oder »der Löwe Els«) gebraucht wird. Zur Deutung »Ariel« als Altarherd vgl. O. Kaiser 1973: 212. 110 Auf dem Schaubrottisch lagen sechs Stück Brote bzw. Kuchen (Num 4,7), die jeden Sabbat erneuert wurden (1 Chr 9,32; 23,29). Dieser Brauch ist ein Rest aus der Frühzeit, wo Brote etc. vor das »Angesicht der Gottheit« gelegt wurden; sie waren daher ursprünglich als Mahlzeit für die Gottheit gedacht. Das spätere Israel verstand dies als eine symbolische Geste: die Brote, auf die Gott niederschaut. Vgl. A. Pelletier DBS VI 965–976. A. van den Born BL 1534f. Der Räucheraltar wurde im 4. Jh. v. Chr. im Jerusalemer Tempel wieder eingeführt. Zur Zeit Jesu wurde eine Mischung aus 13 Spezereien als Rauchopfer dargebracht. Vgl. W. Zwickel 1990: 123.167f.341. 111 Vgl. J. Voß 1993: 80f. JosBell V 217 sieht in der Menora ein Symbol der Planeten; d. h. daß die astrale Konnotation JHWHs auch noch in der Spätzeit des Tempels eine Rolle spielte. In der Menora kommt bildlich zum Ausdruck, was der Aaronssegen von Num 6,25 sprachlich formuliert (vgl. K. Jaroš 1977). Eine durchaus ähnliche Bedeutung hatte das Feuer im monotheistischen Kult Zarathustras (vgl. W. Hinz I 1976: 73–75; K. Jaroš 1996: 70–72). 94 95

Anmerkungen 112 – 140

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So JosBell V 210. Tacitus, Historien V 5. Zu dieser Symbolik vgl. auch das Weinberglied Jes 6,1–7, wo das Haus Israel als der Weinberg JHWHs gedeutet wird. 113 Zur Ikonographie des Salomonischen Tempels vgl. O. Keel/C. Uehlinger 1992: 189–198. K. Jaroš 1995: 33–40. W. Zwickel 1999. O. Keel/E. A. Knauf/T. Staubli 2004. Vgl. die Abstufungen in mKelim I 6–9. 114 Dem widersprechen z. B. die Qumranessener; aber auch die rabbinische Tradition kennt eine solche Verneinung: bSanhedrin 9b.10a heißt es: »nicht thronte die Schechina (Gottes Anwesenheit) im 2. Tempel.« (vgl. J. Levy IV 1965: 554). 115 Die vormals vorhandenen Objekte, wie z. B. die Säulen Jachin und Boas, das Eherne Meer, die Bundeslade unter dem Kerubenthron u. a. waren letztlich überflüssig geworden. 116 Vgl. K. Jaroš 42002: 138. S. Ben-Chorin 1975: 131 berichtet auch von einer Anordnung aus der Zeit des Zweiten Tempels, daß der Steinfußboden des Vorhofes bei der Proskynese nicht berührt werden sollte, um nicht einmal den Anschein zu erwecken, daß man Steine verehre. 117 Vgl. E. Schürer I/2 1890/1998: 163–195. 118 Vgl. mJoma IV 1 und VII 1; jJoma 3,41a. 119 Zwei Namen von solchen Amtsträgern sind bekannt, die, wenn auch vielleicht nicht direkt zur Partei der Pharisäer gehörend, von diesem Hintergrund her kamen: Rabbi Ḥanina und Eleazar ben Ḥanania. 120 Vgl. tTaanith II 2. 121 Vgl. S. Safrai 1975: 292. 122 Vgl. mTamid I 1 und mMiddot I 8. 123 JosCAp I 22 spricht von 1500 Priestern. 124 Priester, die ein Gebrechen hatten (vgl. Lev 21,17) durften den kultischen Dienst nicht leisten, waren jedoch vom Tempel nicht ausgeschlossen. Sie gingen ebenso mit ihrer Priesterklasse nach Jerusalem und konnten vom Opferfleisch leben (vgl. mZebahim XII 1; tSukka IV 2; JosAnt III 278). 125 Vgl. H. Strathmann ThWNT IV 241–247. R. de Vaux II 1966: 192–207. 126 Vgl. S. Safrai 1975: 293f. 127 mSchekalim V 1 zählt die Namen der wichtigsten Beamten auf, wohl aus der letzten Zeit des Tempels. Vgl. auch tSchekalim II 14. 128 Für die Tempelpolizei siehe unten. Vgl. auch S. Safrai 1975: 316–324. 129 Vgl. B. Chilton 1992. 130 Vgl. JosCAp II 9; JosAnt XVIII 30. Philo, De Specialibus Legibus I 159. 131 Zum Opferritual vgl. R. de Vaux II 1966: 259–279. S. Safrai 1975: 301–307. 132 Vgl. mTamid V 1. bBerakot 12a. 133 Vgl. 2 Makk 10,6ff, wo das Fest der Erneuerung des Tempels wie das Laubhüttenfest begangen wird. 134 Vgl. mJoma VI 2. Für die Aussprache des Gottesnamens vgl. K. Jaroš 1995: 238 Anm. 680. 135 Im Neuen Testament werden dieses Fest und seine Riten erwähnt. Hebr 13,11–13 könnte eine Anspielung auf diesen Ritus sein. 136 tPara III 8 weiß darum, daß Rabbi Jochanan ben Zakai mit einem sadduzäischen Hohenpriester Probleme hatte, da der Hohepriester die Ordnung der Zeremonie durcheinanderbrachte (vgl. S. Safrai 1975: 295f). 137 Die Reinheitsgesetze Lev 11,1–15,33 geben genaue Auskunft, was als unrein gilt und wie die Unreinheit beseitigt werden kann. 138 Ex 21,28 verbietet auch, das Fleisch eines Stieres zu essen, der einen Menschen zu Tode gestoßen hat. 139 Bei der Schächtung wird das Tier so geschlachtet, daß alles Blut ausfließen kann. Um Tierquälerei zu vermeiden, ist vorgeschrieben, daß das Messer so scharf sein muß, daß ein darauf fallendes Haar in zwei Teile zerfällt. Ferner muß das Tier mit einem Schnitt getötet werden. 140 Vgl. O. Keel 1980. 112

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Anmerkungen 141 – 153

Selbst die religiös radikalste Gruppe des damaligen Judentums, die Sekte von Qumran, die auf die rituelle Heiligung noch mehr Wert legte als z. B. die Pharisäer, sahen dies so, wenn es im Sektenkanon 1Q 3,4–6 heißt: »Nicht kann (der Sünder) rein werden im Entsühnungswasser und sich nicht in Seen und Flüssen heiligen. Vollkommen unrein bleibt er, solange er die Gesetze Gottes verachtet und sich nicht in Zucht nimmt in der Gemeinde seines Rates.« 142 Vgl. K. Jaroš/U. Victor 2011: 42f. 143 Das Aramäische wurde natürlich auch verwendet, wie mScheqalim V 3 und JosAnt III 156 bezeugen, kann aber nicht als die offizielle Sprache des Tempels gelten (vgl. S. Safrai 1975: 323f). 144 Nach Gen 7,11 und 8,14 dauerte die Sintflut 12 Monate und 11 Tage, ein Sonnenjahr (vgl. U. Cassuto II 1964: 113f). Auch die Altersangabe Henochs mit 365 Jahren (Gen 5,23) dürfte auf das Sonnenjahr hinweisen (U. Cassuto I 1972: 285). 145 Vgl. K. Jaroš 1982: 37f Nr. 11. 146 Vgl. R. de Vaux I 1964: 308f. 147 Vgl. K. Jaroš 1996: 85–108. 148 Neumond ist per definitionem nicht sichtbar! 149 Vgl. zu diesem Problem J. K. Fotheringham 1934: 146–162. E. P. Sanders 1996: 409–422. 150 Juden in den Zentren des Römischen Reiches verwendeten im zivilen Leben vermutlich bereits damals den Julianischen Kalender, den Cäsar von Ägypten übernommen und durch fixe Schaltungen präzisiert hatte. Der Mond-Sonnenkalender des offiziellen Judentums war jedoch nicht der einzige im Land. Die Sekte von Qumran hatte einen solaren Kalender (Jub 6,22–38; Hen 74,10; 82,6), der das Jahr in 12 Monate zu je 30 Tagen plus einem Schalttag nach jedem dritten Monat unterteilte. Dieses starre Kalendersystem hatte den Vorteil, daß das Jahr immer am selben Wochentag und ebenso die Feiertage am selben Tag begannen. Das Jahr umfaßte 52 Wochen. Um dieses Jahr mit dem astronomischen Sonnenkalender auszugleichen, mußten in 28 Jahren fünf Wochen geschaltet werden. Die Folge dieses Kalenders war natürlich auch, daß die Feiertage der Sekte nicht mehr mit jenen des offiziellen Judentums übereinstimmten, einer der wesentlichen Gründe dafür, daß sie den Tempelkult Jerusalems ablehnte. 151 Die Schriftrollen wurden sorgsam gehütet. So findet sich z. B. im Aristeasbrief 46 (vgl. auch JosAnt XII 56) die Notiz, daß der Hohepriester Eleazar die Thora auf Bitte Ptolemäus II. (285– 246) nach Alexandria schickte, damit sie dort von 72 Gelehrten, von denen je sechs aus einem der zwölf Stämme Israels genommen wurden, ins Griechische transkribiert und übersetzt werde. Die Notiz legt wert darauf, daß nach dieser Arbeit die Rolle sofort wieder nach Jerusalem zurückzugeben ist. Der Aristeasbrief ist eine pseudepigraphische Schrift (vgl. O. Eißfeldt 3 1964: 817–821) aus dem 2. Jh. v. Chr., die vermutlich auf alexandrinische Juden zurückgeht, die die Entstehung der Septuaginta, der ältesten griechischen Übersetzung der Heiligen Schriften Israels und Judas, veranschaulichen wollen. Die Bedeutung dieser ältesten griechischen Übersetzung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, da sie auf einem hebräischen Text fußt, der älter als der heutige masoretische Text ist. Es sei auch vermerkt, daß die Heiligen Schriften des Judentums vermutlich die einzigen Bücher waren, die in hellenistischer Zeit ins Griechische übersetzt wurden. Die hellenistische Kultur genügte sich selbst und sah sich auch als Erbe der vorklassischen und klassischen griechischen Literatur. Natürlich war der Hauptgrund für das Werden der Septuaginta, daß die zahlreichen jüdischen Gemeinden Ägyptens, wie ebenso auch der übrigen Diaspora, längst griechischsprachig waren und für die Liturgie wie auch für die Praxis eine griechische Übersetzung der hebräischen Schriften brauchten. Von außen kann es Anstöße gegeben haben, wie der Aristeasbrief, wenn auch legendenhaft, festhält. Seit 2009 liegt erstmals eine Übersetzung der Septuaginta ins Deutsche vor (hrg. von W. Kraus und M. Karrer). 152 Vgl. S. Safrai 1975: 335 und 385 Anm. 219f. 153 Vgl. E. Schürer I/2 1890/1998: 306–312. Die Kanonisierung fand später während des Reformprozesses von Jamnia zwischen 70 und ca. 135 n. Chr. statt (vgl. K. Jaroš 1995: 124–126). 141

Anmerkungen 154 – 173 154

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Vgl. G. Stemberger 81992: 28f. Übersetzung nach L. Goldschmidt V 1996: 362. Vgl. zu den sieben hermeneutischen Regeln G. Stemberger 81992: 27–30. »Thus there is no justification for regarding the foundation of the synagogue as an attempt to fill the vacuum of the First Temple, since the basic elements of the synagogue the public reading of the Law and congregational prayer were first institute by Ezra and Nehemiah. Even during the hundreds of years of the Second Temple‘s existence the synagogue and its activities did not take the place of the sacrificial service, but existed side by side with it, adding breadth and depth to the religious spiritual experience, to social thought, and to the significance of congregation and assembly.« (S. Safrai 1975: 333). Der Begriff bezeichnet ursprünglich die einzelne jüdische Gemeinde (J. B. Frey CIJ II 1683,19), später auch das Gebäude (JosBell II 285–289; VII 44; JosAnt XIX 300). Ein anderes Nomen für das Gebäude ist z. B. proseuch/ (siehe weitere griechische Bezeichnungen bei W. Schrage ThWNT VII 808), das sich auch Apg 16,13 findet. Im Aramäischen wird meist »Keništa« und im Hebräischen Bet-ha Kneset (Versammlungsort) verwendet. J. B. Frey CIJ II 1440. Die Inschrift wurde 1913/1914 gefunden. Abbildung und griechischer Text mit Übersetzung bei K. Jaroš 2000: 58 Abb. 29. K. Jaroš 2001: Nr. 241. Vgl. Y. Yadin 21967: 180–191. O. Keel/ M. Küchler 1982: 384f. Ein aus 18 Lobsprüchen bestehendes Gebet. Vgl. Str–B IV: 208–249. Mädchen sind miteingeschlossen, da ihre Unterweisung im Glauben für die künftigen Generationen besonders wichtig war (vgl. dazu die unterschiedlichen Meinungen der Rabbinen in mSota III 4). Mädchen sind daher im Haus unterrichtet worden und nicht in den Schulen. Vgl. G. Stemberger 81992: 18. Vgl. G. Stemberger 81992: 19. Vgl. A. Lemaire 1981: 1–33. Vgl. H. Geva 1985: 21–38. Alle archäologischen Versuche, den Verlauf der zweiten Mauer zumindest bruchstückhaft zu rekonstruieren, brachten bisher kein Ergebnis. Der Verlauf kann daher nur hypothetisch angegeben werden. Vgl. dazu U. Lux 1972: 185–201. K. Jaroš 1976b: 171–176. E. Otto 1980: 154f. H. Blok/M. Steiner 1996: 93f. Die dritte Mauer, die die nordwestliche Neustadt einschloß, existierte zur Zeit Jesu noch nicht. Sie wurde erst unter Agrippa I. (41–44 n. Chr.) erbaut (vgl. JosBell V 148). Zu den Mauern Jerusalems vgl. auch U. Wagner–Lux/K. J. H. Vriesen 1998: 8. Vgl. JosBell V 160–171. Vgl. die Interpretation von E. Netzer 1999: 119f. E. Robinson I 1856/1970: 308 identifiziert die Überreste mit dem Hippikusturm. H. Geva 1981: 57–65 vertritt neuerdings diese Identifizierung. Vgl. E. Otto 1980: 143f. E. Netzer 1999: 117–119. Ein Hauptgebäude war nach Kaiser Augustus als »Caesareum« und ein anderes nach Marcus Agrippa als »Agrippaeum« bezeichnet (vgl. JosBell I 402; JosAnt XV 318). Vgl. auch JosBell V 176–183. JosAnt XV 268–276 berichtet auch, daß Herodes der Große in Jerusalem ein prächtiges Theater errichten ließ, das allerdings bis heute archäologisch nicht nachgewiesen werden konnte. Die Annahme, daß der Hasmonäerpalast an die erste Stadtmauer anschloß, kann als überholt gelten (N. Avigad 1975a: 260f). Zur Lage des Xystos vgl. JosBell II 344 (vgl. dazu K. Jaroš 1980a: 14–16). Die Ausgrabungen von N. Avigad konnten wegen Überbauungen keine weiteren Erkenntnisse bringen (vgl. E. Netzer 1999: 117). Das Muster des Mosaiks ist den Mosaiken von Masada gleich (vgl. N. Avigad 1975b: 46). Eine gute Beschreibung des herodianischen Hauses findet sich bei H. Blok/M. Steiner 1996: 98–100). Die Burg Antonia als Kaserne scheidet dafür a priori aus, da sich das Prätorium immer dort befindet, wo der offizielle Wohnsitz des entsprechenden römischen Beamten war (Der Kleine

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Anmerkungen 174 – 190

Pauly IV 1117). Auch die frühbyzantinische Tradition spricht dafür, daß im Hasmonäerpalast das Prätorium des Pilatus zu lokalisieren ist, wo Jesus zum Tod verurteilt worden war. Hier wurde nämlich später die Kirche der göttlichen Weisheit gebaut – im Volksmund Pilatuskirche genannt –, weil an diesem Ort die göttliche Weisheit vor dem menschlichen Richter stand (vgl. zum Ganzen B. Pixner 1979: 56–86. K. Jaroš 1980a: 13–22). Vgl. K. Jaroš 2000: 63f. So E. Otto 1980: 141. Der älteste Zeuge ist der Pilger von Bordeaux (333 n. Chr.). Vgl. H. Donner 1979: 59. In der Tat ist hier ein Gebäudekomplex aus herodianischer Zeit in zwei Phasen von ca. 16 x 14 m nachgewiesen, der mit zahlreichen Fresken ausgeschmückt war (M. Broshi 1975b: 57–60). Die Möglichkeit, daß hier am südwestlichen Ende der Oberstadt das Haus des Kaiaphas lag, ist nicht auszuschließen. JosBell II 426 gibt dafür keine genaue Lokalisierung. Es kann nur festgehalten werden, daß sich das Haus des Hohenpriesters Hannas, des Schwiegervaters des Kaiaphas, in der Oberstadt befunden hat. Vgl. H. Blok/M. Steiner 1986: 165. Vgl. B. Pixner/D. Chen/S. Margalit 1989: 85–95. B. Pixner 1989: 96–104. R. Riesner 1989: 105– 109. Daß es sich um ein essenisches Viertel gehandelt hat, bezeugen auch ähnliche Ritualbäder wie in Qumran (Vgl. O. Betz/R. Riesner 31993: 176f und die Belege 218 Anm. 28f). Der wenige Meter nordwestlich des Essenertores gefundene »Bethso« (Haus des Mistes) war der Ort der Latrinen für diesen Stadtteil (vgl. auch Neh 2,13; 3,13f, wie das »Misttor« am Südsporn des südöstlichen Hügels genannt wird). Nach der Tempelrolle von Qumran (11Q 19–20: Kol 46,13–16) mußten sich die Latrinen außerhalb der Stadt befinden (vgl. M. Wise/M. Abegg/E. Cook 1997: 493). Vgl. O. Betz/R. Riesner 31993: 176–179. R. Riesner 21998: 2–55. Eine andere Möglichkeit wäre, daß Qumran nur mehr als Studienzentrum der Essener fungierte (vgl. C. P. Thiede 2002). Nach der schädelartigen Rundung des Geländes benannt. »Golgatha« ist ein aramäisches Wort und heißt »Schädel« (vgl. Matth 27,33; Joh 19,17). Die Identifizierung mit Golgatha ist wissenschaftlich als sicher einzustufen (vgl. E. Otto 1980: 159. H. Blok/M. Steiner 1996: 167f). Vgl. Eusebius, Onomastikon LXX 16–18. Vgl. B. Rauschenbach NBL I 831. Griechisch: Bhqe/sda, Bhqzaqa/. Die Bedeutung des Namens ist nicht klar. Nach der Kupferrolle von Qumran (3Q 15 XI 12f) zu schließen, könnte es sich um einen Terminus der Wasserversorgung handeln, ein Hinweis auf die beiden Wasserbecken. Vgl. N. van der Vliet 1938: 139–207. A. Duprez 1970: B. Schein 1980: 206–209. Diese Entmachtung hatte unterschiedliche Folgen. Der Zadokide Onias IV. floh nach Ägypten und gründete in Leontopolis einen Tempel mit einer neuen Gemeinde (JosAnt XII 388; XIII 62–73; Jos Bell I 33). Eine andere Gruppe der Zadokiden schloß sich den Chassidim an, die sich aus religiöser Überzeugung in die Wüstengegenden zurückgezogen hatten (vgl. R. Meyer ThWNT VII 30–40). »Die Sadduzäer führten also konsequent die Linie der zadokidischen hohenpriesterlichen Familien, die diese vom 5. Jh. v. Chr. an eingeschlagen hatten, weiter; das heißt: sie betrieben eine national-assimilatorische Politik. Dafür ist ihr Bündnis mit Johannes Hyrkan (134–104) und Alexander Jannai (103–76) der beste Beweis.« (K. Schubert 1970: 18). Vgl. R. Meyer ThWNT VII 41. Vgl. R. Meyer ThWNT VII 51–54. JosBell II 409 heißt es daher durchaus richtig: tou√to d Óh•n tou√ pro»ß ÔRwmai/ouß pole/mou katabolh/: (»dies legte den Grundstein für den Krieg gegen die Römer«). Vgl. JosBell II 164; JosAnt X 278; XV 371; XVIII 16. Für die rabbinischen Belege vgl. Str.–B IV 344f. Das NT (z. B. Mk 12,18–27; Luk 20,27; Apg 23,6–9) wiederholt stereotyp diesen Vorwurf der Leugnung der Auferstehung. Vgl. auch die antisadduzäische Tendenz von bSanhedrin 90a: »Er leugnete die Auferstehung der Toten, daher wird er an der Auferstehung nicht teilhaben.«

Anmerkungen 191 – 212

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Vgl. JosAnt XIII 294; XX 199f. Die rabbinische Tradition (vgl. bSanhedrin 33b) hat den Ernst der sadduzäischen Rechtsauffassung durchaus anerkannt, da ein nach sadduzäischen Normen gefälltes Urteil immer der Thora entsprach. 192 Vgl. M. Görg NBL I 199f. 193 Vgl. K. Jaroš 1978: 219–231. 194 Vgl. K. Jaroš 1997: 29f. 195 Vgl. E. P. Sanders 1996: 73–76. 196 K. Schubert 1970: 49. Die Sturheit der Sadduzäer sollte auch den etablierten Kirchen eine Warnung sein. Wer auf die religiösen, seelischen Bedürfnisse der Menschen nicht mehr eingeht, der schafft sich selber ab. 197 Das Vorgehen Jesu gegen den Tempel (Matth 21,12–17) ist zwar eine prophetische Demonstration, hat aber durchaus auch zelotische Züge (vgl. Joh 2,17). Es war allerdings keine zelotische Aktion in dem Sinne, eine Revolution zu starten, sondern eine Aktion gegen den Mißbrauch des Tempels. 198 Vgl. K. Schubert 1970: 66. 199 Für eine prägnante Zusammenstellung der zelotischen Aktivitäten ab 44 n. Chr. vgl. A. Strobel BHH III 2229–2230. 200 Simon aus dem Jüngerkreis Jesu trägt den Beinahmen »Zelot« (vgl. Luk 6,15; Apg 2,13). Matth 10,4 lautet sein Beiname »Kanaanäer«, möglicherweise eine Verschreibung des hebräischen Terminus für »eifersüchtig«. Ob Simon deswegen der Zelotenpartei zugerechnet werden kann, ist nicht klar. Er könnte natürlich dazu gehört haben, aber er kann auch einfach wegen seines Eifers für Gott so bezeichnet worden sein. 201 Vgl. die Belege bei A. Stumpff ThWNT II 887 Anm. 16. 202 Über das Verhältnis Zeloten und Sikarier, die besonders ab den fünfziger Jahren des 1. Jhs. aktiv geworden sind, vgl. K. Jaroš 2000: 74. 203 Einen forschungsgeschichtlichen Überblick gibt z. B. H. D. Mantel 1977b: 99–123. 204 Vgl. K. Schubert 1970: 23. 205 Die erste Nennung ist bei JosAnt XIII 171 für die Zeit des Hasmonäers Jonathan (160–143 v. Chr.). Später ist es zum Bruch mit den Hasmonäern gekommen. JosAnt XIII 288–198 berichtet, daß die Pharisäer Johannes Hyrkan I. (134–104 v. Chr.) aufforderten, das hohepriesterliche Amt abzugeben und sich mit der Königswürde zu begnügen. Nach bKiddischin 66a wurde diese Forderung an König Alexander Jannai (104–76 v. Chr.) gestellt. Die Aussöhnung zwischen Pharisäern und Hasmonäern fand erst unter der Regierungszeit von Königin Salome Alexandra (76–67 v. Chr.) statt. In dieser Zeit hatten die Pharisäer auch den größten Einfluß im Hohen Rat. 206 Erst nach dem Jahre 70 n. Chr. haben Pharisäer die apokalyptische Naherwartung eine Zeitlang vertreten (vgl. K. Schubert 1970: 25–32.40–43). 207 Zu den Anfängen der allegorischen Deutung vgl. J.–D. Barthélemy 1985: 13–22. 208 Vgl. K. Jaroš 1995: 123–126. 209 Abot de Rabbi Nathan IV (zitiert nach K. Schubert 1970: 47). 210 Rabbi Schimon ben Schetach, der etwa in der ersten Hälfte des 1. Jhs. v. Chr. lebte, erließ ein bis heute geltendes Eherecht, das durch vermögensrechtliche Bestimmungen die Ehescheidung erheblich erschwert (vgl. K. Schubert 1970: 22f). 211 Vgl. die Belege bei K. Schubert 1970: 37f. 212 Das Heil der Welt hängt mit dem Israels zusammen, da nach Meinung der pharisäischen Lehrer die Weltschöpfung mit der Thora zu identifizieren ist. Schon Sir 24 wird die bei der Schöpfung wirkende Weisheit mit der Thora gleichgesetzt, eine Auffassung, die die Pharisäer schon früh übernommen haben dürften (vgl. Abot III 14). Die Konsequenz daraus ist, daß Israel nach der Naturordnung lebt. Schöpfung und Thora sind daher identisch gedacht. » [...] Es gibt aber keinen anderen Anfang als die Thora« (Genesis Rabbi 1, 2 zitiert nach K. Schubert 1970: 39). In einem anderen Midrasch heißt es: »Es schuf der Heilige, gepriesen sei er, seine Welt mit Weisheit; es gibt aber keine Weisheit außer die Thora.« (A. Jellinek V 1967: 67 Zeilen 9f). 191

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Abot III 15. Das ist zwar keine Lösung des Problems, aber eine solche gibt es nicht. Vgl. mSanhedrin X 1–3. Die Scheol, die Unterwelt, das Land ohne Wiederkehr, hatte damit in gewisser Weise ausgedient. Sie wurde nun zur Hölle, zum Aufenthaltsort der Toten, die als Nicht–Gerechte, als Sünder, verstorben sind. 215 Vgl. die rabbinischen Belege bei K. Schubert 1970: 45f. 216 K. Schubert 1970: 46. 217 Zu den klassischen Quellen über die Essener vgl. E. Schürer II/2 1899/1998: 188–218. Der Name »Essener« (manchmal auch »Essäer«) kommt vermutlich vom hebräischen Mydsj ([die] Frommen), gräzisiert: aÓsidai√oi. R. Bergmeier 1997: 75–87 ist dafür eingetreten, daß sich der Name von »Essa«, ein möglicher alter Name der Siedlung von Qumran, herleite. 218 Vgl. M. Hengel 21973: 321–324. 219 Vgl. M. Küchler 1979: 63. 220 Vgl. K. Schubert 1970: 20. 221 Philo von Alexandrien, Quod omnis probus liber sit 12 schildert die Essener als besonders friedfertig. Sie wohnen auch nur in Dörfern und nicht in Städten, da sie die Städte wegen der Sündhaftigkeit ihrer Bewohner meiden. Plinius der Ältere, Naturalis Historia 5,17 sagt von ihnen, daß sie »sine ulla femina« (ohne Frau) leben und lokalisiert ihre Wohngegend nahe der Oase En Gedi am Westufer des Toten Meeres. Diese Aussage kann sich nicht auf die gesamte Bewegung beziehen, da JosBell II 161f eine Gruppe Essener nennt, die sich von den anderen nur darin unterscheidet, daß sie die Ehe für die Mitglieder zuläßt, damit die Menschheit nicht ausstirbt. Bevor sie heiraten, prüfen sie jedoch ihre künftigen Ehefrauen drei Jahre lang. Während der Schwangerschaft pflegen sie keinen ehelichen Verkehr mit ihren Frauen, woraus Josephus schließt, daß sie nicht wegen der Triebbefriedigung, sondern wegen des Kindersegens heiraten. Damaskusschrift 7,6–9 setzt ebenfalls verheiratete Mitglieder voraus. 222 Diese Aussage des Josephus suggeriert, die Essener als »Sonnenanbeter« zu verstehen. Diese Formulierung des Josephus hängt wohl kaum damit zusammen, daß die Essener einen Sonnenkalender hatten (vgl. Hen 90,28f; 91,13; Jub 1,17–27). Josephus betont, damit es seine griechisch-römischen Leser verstehen, daß konservative priesterliche Kreise in Juda den solaren Charakter JHWHs lange Zeit hindurch tradiert haben (vgl. K. Jaroš 1995: 52–55.59–62.79–80). 223 Diese Stelle ist textkritisch problematisch. Die lateinische Übersetzung verneint z. B. Opfer. Einige Handschriften haben diese Stelle überhaupt nicht. Laut Philo von Alexandrien, Quod omnis probus liber sit 75 sind bei den Essenern keine Tieropfer in Gebrauch (vgl. dazu auch Josephus IX 1969: 16f Anm. a). Aus ihrer eigenen Sicht haben sie sich selber vom Tempel ausgeschlossen. 224 Ein prominenter Vertreter der Meinung, daß Qumran kein essenisches Zentrum war, ist K. H. Rengstorff 1960 und in seiner Nachfolge N. Golb 1994. Die Argumente, die N. Golb gegen das Skriptorium vorbringt (44–51) sind jedoch nicht stichhaltig und werden dem archäologischen Befund nicht gerecht. Zur Kritik an Golbs Auffassung, daß es sich um eine herodianische Festung handle vgl. O. Betz/R. Riesner 31993: 69–74. 225 Vgl. R. de Vaux 1973. M. Laperrousaz DBS IX 744–789. O. Keel/M. Küchler II 1989: 455–471. 226 Die Texte werden in der Reihe »Discoveries in the Judaean Desert« (DJD) in Oxford publiziert. Die in israelischem Besitz befindlichen Handschriften wurden von M. Burrows I–II 1950–1951, N. Avigad/ Y. Yadin 1956 und E. L. Sukenik 1955 publiziert. Deutsche Übersetzungen: E. Lohse 21971. A. Steudel 2001. J. Maier/K. Schubert 1973: 143–312. J. Maier I–III 1995/96. J. Maier 3 1997. Die von A. Läpple auf deutsch herausgegebene Ausgabe von M. Wise/M. Abegg/E. Cook enthält alle bis 1997 publizierten Texte mit Kommentar und auf S. 523–532 ein vorzüglich ausgewähltes Literaturverzeichnis. 227 Die Annahme, daß die Texte erst im Mittelalter entstanden sind, ist u. a. auch durch zahlreiche C–14 Tests widerlegt (vgl. R. de Vaux 1973: 97–102; J. Maier/K. Schubert 1973: 21). 228 Die Unstimmigkeiten, die vorhanden sind, erklären sich großteils daher, daß z. B. Philo und Josephus für ein griechisch-römisches Publikum schreiben und daher zu Anpassungen für ihre 213 214

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Leserschaft gezwungen sind, damit sie verstanden werden können. Vgl. zu den Unterschieden J. Maier/K. Schubert 1973: 69–72. »Aus dieser Gegenüberstellung der Aufnahmebedingungen mit [...] Josephus über die Zulassung zum Essenismus, kann der Leser wohl selbst schließen, daß man die Qumrangemeinschaft in den weiteren Kreis essenistischer Gruppen einzuordnen hat.« (J. Maier/K.Schubert 1973: 47). Vgl. J. Maier/K. Schubert 1973: 49. Die Gemeinderegel, eine Ordnung für das Israel der Endzeit (1QSa; 1 QS 18a) gestattet Männern die Ehe nach dem vollendeten 20. Lebensjahr. Hier ist auch deutlich die essenische Ehepraxis vorausgesetzt, die für das endzeitliche Israel eingebracht wird. Die unverheiratete Gruppe wurde und wird oft mit dem christlichen Mönchtum verglichen und auch eine monastische Terminologie wie Noviziat, Refektorium, Skriptorium u. a. verwendet. Ein solcher Vergleich bleibt sehr an der Oberfläche. Das qumranische Ideal des Gehorsams, der Armut und der Ehelosigkeit hat mit dem monastischen Ideal des frühen Christentums nur sehr wenig zu tun. In Qumran waren es ausschließlich priesterlich–rituelle–kultische Gründe, die Mitglieder auf diese Weise leben ließen. Da sie bewußt den Jerusalemer Kult ablehnten, achteten sie auf ständige rituelle Reinheit, um jederzeit für den endgültigen Tempeldienst der erwarteten messianischen bzw. nachmessianischen Zeit bereit zu sein. Ferner ist zu beachten, daß für sie die dauernde kultische Reinheit erfordert war, weil diese die täglichen rituellen Mahlzeiten voraussetzten. Verheiratete Mitglieder, die mit ihren Frauen verkehrten, mußten sich drei Tage lang rituell reinigen, um kultisch integer zu sein (1QSa 1,25–27). Auch die freiwillig auf sich genommene Armut im Sinne der Gütergemeinschaft ist kein vorchristliches Ideal, sondern eine eschatologische Tugend (Jes 66,2). Bei den verheirateten Mitgliedern gab es auch Privatbesitz (Dam 9,10–16; 11,12). Arm sein bedeutet für Qumran nicht, sozial schwach zu sein. Die »Gemeinde der Armen« oder die »Armen im Geist« sind die Erwählten, ein Ehrentitel für jene, die die Zeichen der Zeit erkannt haben und sich in der rechten Gemeinschaft auf die kommende Gottesherrschaft am Ende der Tage vorbereiten. (K. Schubert 1970: 54). Andererseits wurde das Leben in Gemeinschaft deswegen so streng gefordert, weil bereits die Annahme von Lebensmitteln, die von Außenstehenden kamen, rituell unrein machte (1QS 5,16f). So übersetzen J. Maier/K. Schubert 1973: 311. Etwas anders übersetzen M. Wise/M. Abegg/E. Cook 1997: 232. Folgendermaßen polemisiert Jub 6,36 gegen diesen Kalender: »Es wird Leute geben, die den Mond genau beobachten; doch dieser verdirbt die Zeiten und geht von Jahr zu Jahr zehn Tage vor.« So L. H. Schiffmann 1992: 35–49. Ein möglicher Einfluß der Lehre Zarathustras kann hier gegeben sein (vgl. K. Jaroš 1996: 68– 73.76–85). Nach 1QpHab 7,4f hat ihm Gott alle Geheimnisse mitgeteilt. Er hat den Seinen auch das nahe Ende der Welt verkündet (Dam 1,11f). Dam 11,4–8 läßt darauf schließen, daß der Lehrer der Gerechtigkeit vor dem Frevelpriester geflüchtet ist und dieser ihn bis in das Exil verfolgte. Ob der Lehrer der Gerechtigkeit bei dieser Aktion getötet wurde, ist unsicher. Dam 19,2 und 20,14 sprechen davon, daß er »hinweggenommen wurde«. Das dafür verwendete hebräische Verbum Psa (einsammeln, bestatten), entspricht zwar nicht dem hebräischen Verbum jql (nehmen) wie 2 Kön 2,3 (Elija), meint aber sachlich wohl das gleiche: das Nehmen des Menschen durch Gott am Ende des Lebens (vgl. O. Keel 1972: 179–180). Die Erwartung eines endzeitlichen Propheten ist durch das Alte Testament selbst vorbereitet (Dtn 18,15–18; Mal 3,23; 1 Makk 4,46; 14,41). Zur Diskussion um 4Q246 2,1 vgl. E. Puech 1992: 98–131. R. Eisenman/M. Wise 1992: 74–77. O. Betz/R. Riesner 31993: 115–118. M. Wise/M. Abegg/E. Cook 1997: 285–287. Eine Verbindung der Menschensohnvorstellung von Dan 7 mit dem davidischen Messias könnte in Qumran bekannt gewesen sein, wogegen im rabbinischen Bereich des 1. Jhs. n. Chr. eine solche Verbin-

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dung unbekannt war. Erst aus Justin, Dialog 32,1 (Mitte 2. Jh. n. Chr.), ist es klar ersichtlich, daß Tryphon, der jüdische Gesprächspartner Justins, die messianische Bedeutung des Wortes Menschensohn kennt, sie jedoch nicht auf Jesus anwendet. bSanhedrin 98a äußert sich Rabbi Jehoschua ben Levi (1. Hälfte des 3. Jhs. n. Chr.) zu Dan 7,13, um auf den Widerspruch zu Sach 9,9 hinzuweisen. Andere essenische Gruppen haben den danielischen Menschensohn in Anklang an Gen 49,10; Num 24,17 und Jes 2,2; 9,1 messianisch gedeutet, wie Hen 48,4f zeigt und ihn bereits als eine vorirdische Person verstanden (Hen 48,3; 62,7). Vgl. K. Schubert 1970: 64 mit weiteren Belegen. Vgl. J. Maier/K. Schubert 1973: 102–106. Die Pharisäer können als ernüchterte Apokalyptiker gesehen werden (vgl. K. Jaroš 2008b: 45– 50). Vgl. A. S. van der Woude ThWNT IX: 513. Ob in Qumran die Vorstellung eines leidenden und sterbenden Messias beheimatet war, ist auf Grund der Quellenlage nicht klar zu entscheiden. 1QH 3,9f (vgl. Test Ruben 6,10–12) könnte ein Hinweis sein, daß die Gottesknechtslieder Jes 49,1–5; 52,13–53,12 messianisch gedeutet wurden. 4Q285 5,4 und 1Q28b 5,20–26 sind kein Beleg dafür, daß der Messias zu Tode kommt (vgl. O. Betz/ R. Riesner 31993: 103–110). Der Erhaltungszustand des Fragments 4Q246 ist so schlecht, daß kein sicheres Urteil möglich ist. Vgl. J. Maier/K. Schubert 1973: 85. Die Idee eines endzeitlichen Kampfes mit einem metahistorischen Gegner wie Gog vom Land Magog (Ez 38,1–39,29) ist schon im Alten Testament bekannt und die Vision des Propheten Jesaja von einem umfassenden Friedensreich (Jes 2,4) kann viel später vom Propheten Joel gleichsam auf den Kopf gestellt werden (Joel 4,9f). Für das eschatologische Jerusalemer Heiligtum vgl. J. Maier 31997. Zur Naherwartung der Essener vgl. K. Jaroš 2008b: 51–64. Vgl. J. Klausner 31952: 76. F. F. Bruce/E. Güting 52007: 12f. Die neueste, ausführliche Studie zum Judenedikt des Kaisers Claudius von H. Botermann 1996 kann die Interpretation bestätigen, daß das Edikt ein Echo auf die Anfänge der christlichen Mission in Rom gewesen ist. Vgl. R. Heiligenthal 1994: 32. Übersetzung nach U. Victor 2010: 72f. Griechischer Text: »Gi/netai de» kata» tou√ton to»n cro/non ’Ihsou√√ß sofo»ß ajnh/r, ei¶ge a¶ndra aujto»n le/gein crh/: h•n ga»r parado/xwn e¶rgwn poihth/ß, dida/skaloß ajnqrw/pwn tw◊n hdonh◊ø ta˙lhqh◊ decome/nwn, kai» pollou»ß me»n jIoudai/ouß, pollou»ß de» kai« tou◊ ÔEllhnikou◊ e˙phga/ geto: o˚ cristo«ß ou–toß h•n. kai« au˙to«n e˙ndei/xei tw◊n prw/twn a˙ndrw◊n par’ h˚mi√n staurwˆ◊ e˙pitetimhko/toß Pila/tou ou˙k e˙pau/santo oi˚ to« prw◊ton a˙gaph/santeß: e˙fa/nh ga«r au˙toi√ß tri/thn e¶cwn h˚me/ran pa/lin zw◊n tw◊n qei/wn profhtw◊n tau◊ta/ te kai« a¶lla muri/a peri« au˙tou◊ qauma/sia ei˙rhko/twn. ei˙ß e¶ti te nu◊n tw◊n Cristianw◊n a˙po« tou◊de w˙nomasme/non ou˙k e˙pe/lipe to« fu◊lon.« (Griechischer Text nach Josephus IX, ed. L. H. Feldman). Vgl. Josephus IX, ed. L. H. Feldmann, 49 Anm.b. U. Victor 2010: Anm. 1. F. Dornseiff 1936: 147. Siehe auch die Position von J. P. Meier 1990: 76–103. Siehe die Belege bei U. Victor 2010: 73–75. Vgl. U. Victor 2010: 75–77. Vgl. S. Pines 1971: [14–16]. D. Flusser 1999: 32–49. Vgl. K. Jaroš 2000: 99. Vgl. U. Victor 2010: 81 Anm. 22. A. Berendts/K. Graß 1924–1927/1979. Vgl. F. F. Bruce/E. Güting 52007: 37–47. Vgl. R. Heiligenthal 1994: 35f. Siehe auch die mit Recht kritischen Bemerkungen von J. Klausner 31952: 70 Anm. 204. Vgl. J. Maier 21992 und P. Schäfer 22010. Vgl. J. Klausner 31952: 17–57.

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J. Klausner 31952: 56f. Vgl. O. Bardenhewer I 21913/2007: 230. Vgl. O. Bardenhewer I 21913/2007: 229. Vgl. die gegensetzlichen Positionen der beiden Judaisten J. Maier 21992: 243.264–267 und P. Schäfer 22010: 29–49. Vgl. G. Schlichtling 1982. Text bei J. Klausner 31952: 34. Griechisch: u˚io«ß th√ß parqe/nou (Sohn der Jungfrau). Griechisch: u˚io«ß th√ß panqh/roß (Sohn der Pantherkatze). Griechisch: u˚io«ß tou√ panqh/roß (Sohn des Panthers). Vgl. P. Vannutelli 1938. Die Fragmente seiner Werke sind MG X 63–94 gesammelt. Vgl. O. Bardenhewer II 21914/2007: 263–271. Eine Verbindung mit dieser Sonnenfinsternis lehnt auch Origenes ab. Origenes bezog die Kenntnis von dieser Sonnenfinsternis nicht von Thallos, sondern aus der »Weltgeschichte der Merkwürdigkeiten« des Phlegon von Tralles (1. Hälfte 2. Jh. n. Chr.). In seiner Schrift »Contra Celsum« (2,33) beruft sich jedoch Origenes auf Phlegon und hält Kelsos, der die wunderbaren Ereignisse beim Tod Jesu als Schwindel erklärte, vor, daß Phlegon von einer Sonnenfinsternis und von Erdbeben zur Zeit des Kaisers Tiberius, in der auch Christus gekreuzigt wurde, berichtet. Vgl. zum Ganzen F. F. Bruce/E. Güting 52007: 20–22. Vgl. Der Kleine Pauly V: 646. Das griechische Nomen kanw/n bedeutet »Stab, Richtschnur, Meßstab«. H. Freiherr von Campenhausen 2003: 375f. Vgl. dazu A. D. Baum 1997: 97–110. A. D. Baum 2001. M. Mülke 2008. Das älteste Zeugnis sind die Papyri Paris Suppl Gr. 1120 (P4), Magdalen College Gr. 17 (P64) und Barcelona/Montserrat 1 (P67) mit Texten aus Matthäus und Lukas. Die Rekonstruktion zeigt, daß dieser Kodex ca. 304 Seiten umfaßte und alle vier Evangelien enthielt. Die Fragmente können ab dem Ende des 1. Jhs. n. Chr., spätestens 150 n. Chr. datiert werden (vgl. K. Jaroš NTHss 53–59). Der Papyrus Chester Beatty II plus Papyrus Michigan 6238 (P46) wird heute auf etwa 80 n. Chr. datiert. Er bewahrte fast vollständig neun Briefe des Apostels Paulus (vgl. K. Jaroš NTHss 1094–1103). Vgl. zu dieser Frage die Studie von D. Trobisch 1996. Vgl. W. E. H. Cockle LXV 1998: 22–24 Nr. 4448. NTHss 1086–1093. Vgl. zur Kanonfrage K. Jaroš 2008a: 205–223. K. Jaroš/U. Victor 2011: 112–123. Vgl. G. Friedrich ThWNT II 706f. Der Qumrantext 11Q13 2,15–25 nennt z. B. den Gesalbten des Geistes, der die frohe Botschaft von Gott her bringt (vgl. 1QH 18,14) und bezieht sich ausdrücklich auf den Propheten Jesaja. Schon die Nachricht von der Geburt des Kaisers ist das erste Evangelium, dem weitere folgen, z. B. bei der Inthronisation etc. In einer aus dem Jahr 9 v. Chr. aus Priene (Kleinasien, heutige Türkei) stammende Inschrift heißt es zum Geburtstag des Kaisers Augustus: »Der Geburtstag des Gottes war für die Welt der Anfang der Frohbotschaften, die seinetwegen ergangen sind.« (G. Friedrich ThWNT II 721). G. Friedrich ThWNT II 722. Eine Harmonisierung dieser beiden Welten versucht Bischof Meliton von Sardes (gestorben vor 190 n. Chr.) in seiner Rede an den Kaiser, die bei Eusebius, Kirchengeschichte IV 26,7f zitiert ist. Zu den beiden »Welten« Kaiser – Christus vgl. besonders auch C. P. Thiede 1998 und C. P. Thiede 2004. ∆Arch\ touv eujaggeli÷ou ∆Ihsouv Cristouv ui˚ouv tou√ qeouv. Vgl. die Begründung dieser Leseart bei U. Victor NTHss 5068f. So auch Nuevo Testamento Trilingüe, ed. J. M. Bover/J. O‘Callaghan 5 2001. Vgl. K. Jaroš 2008a: 46f.

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Anmerkungen 285 – 313

Vgl. zu den Evangelien in literaturwissenschaftlicher Hinsicht M. Reiser 2001: 98–105. Im heutigen Sinn sind die Evangelien natürlich keine Biographien! Vgl. K. Jaroš/U. Victor 2011: 95–98. Vgl. zu allen diesen Fragen U. Victor 1998: 499–513. K. Jaroš 2008c: 71–113. K. Jaroš/U. Victor 2011: 95–111. Siehe zur Naherwartung im Neuen Testament K. Jaroš 2008b. K. Jaroš/U. Victor 2010: 242 Anm. 181. J. Ratzinger – Benedikt XVI. 2011: 305 schreibt zur Naherwartung mit Recht: »Wenn dies der Fall gewesen wäre, so fragt man sich, wie der christliche Glaube hätte Bestand behalten können, als sich die Naherwartung nicht erfüllte. In der Tat steht hier eine solche Theorie gegen die Texte wie gegen die Wirklichkeit des werdenden Christentums, das den Glauben als gegenwärtige Kraft und zugleich als Hoffnung erfahren hat.« Vgl. A. Mittelstaedt 2006: 169–185. Zur lukanischen Geschichtsschreibung vgl. auch D. Marguerat 2011. Zur Komposition vgl. M. Diefenbach 1993. Vgl. A. Mittelstaedt 2006: 33f. Vgl. K. Jaroš 2008a: 89–95. Vgl. A. Mittelstaedt 2006: 131–163. So z. B. H. Conzelmann 61989: 17. Vgl. zum Papiaszeugnis U. H. J. Körtner 2006: 55–59 und die Analyse der Personengruppen, auf die sich Papias beruft, bei R. Bauckham 2006: 12–38. Nur der Schluß des Evangeliums (Mk 16,9–20) stammt nicht von Markus. Da das Evangelium für manche offenbar zu abrupt mit einer Konjunktion endet (»Sie fürchteten sich nämlich«), wurde ein Zusatz aus Matth, Luk und Joh, hinzugefügt. Das ist schon in der ersten Hälfte des 2. Jhs. n. Chr. geschehen, da der Zusatz z. B. dem syrischen Kirchenlehrer Tatian bereits bekannt war. Die ältesten griechischen Handschriften weisen diesen Zusatz nicht auf und es dauert bis in das 5. Jh. n. Chr., daß er allgemein akzeptiert wurde, aber immer auch in dem Wissen, daß es nicht ein Originaltext des Markus ist. Das zeigt doch die Beharrlichkeit, mit der sich die verschiedenen Kirchen weigerten, etwas dem Evangelium hinzuzufügen, was nicht ursprünglich dazu gehörte. Vgl. M. Reiser 2001: 58–64. U. Victor 2004: 27–57. Vgl. K. Jaroš 2008a: 56f. K. Jaroš 2008b: 65–95. K. Jaroš/U. Victor 2011: 128–131. Vgl. M. Reiser 2001: 56–58. K. Jaroš 2008a: 61f. Vgl. K. Jaroš /U. Victor 2011: 133. Vgl. K. Jaroš/U. Victor 2010. Vgl. die historische Darstellung des Geschehens bei A. Mittelstaedt 2005: 68–85. Origenes nach Eusebius (Kirchengeschichte VI 25,3) bezeugt allerdings, daß das Matthäusevangelium als erstes vom Apostel Matthäus geschrieben wurde. Vgl. zur Frage der Augenzeugen R. Bauckham 2006 und R. Riesner 2007a: 337–352. Von griechisch: su/noyiß (Zusammenschau). Die drei Evangelien lassen sich daher in drei Spalten gedruckt übersichtlich darstellen. Die bis heute bekannteste Synopse ist die von K. Aland 151996 (griechisch). Synopsen mit deutscher Übersetzung gibt es verschiedene, z. B. O. Knoch/E. Sitarz 1988 (Text der Einheitsübersetzung). Vgl. K. Lachmann 1835: 570–590. Vgl. P. Hoffmann/C. Heil 2002. Vgl. dazu K. Jaroš/U. Victor 2010: 365–379. Stilistische, semantische, grammatikalische Unterschiede; Unterschiede im Ablauf des Geschehens u. ä. Vgl. K. Jaroš/U. Victor 2010: 13. Griechisch: e˙xe/dwken (er hat veröffentlicht/er hat herausgegeben). Vgl. dazu K. Jaroš 2008a: 118–120. A. Feuillet 21965: 589. Vgl. J. A. T. Robinson 1986: 265–322. K. Berger 32004.

Anmerkungen 314 – 325 316 317 318

333

Vgl. M. Reiser 2001: 65–68. K. Jaroš 2008a: 108–114. Vgl. K. Jaroš NTHss 54–107. Vgl. K. Jaroš NTHss 224–231. Vgl. J. O‘Callaghan 1972a: 91–100. Ders. 1972b: 83–89. Ders. 1974. Ders. 1995. Dies kann am folgenden Beispiel gezeigt werden: Das Fragment 7Q1, also ebenfalls ein Fragment aus Höhle sieben von Qumran, wurde bereits von den Herausgebern mit Ex 28,4–7 identifiziert, obwohl der Text des Fragments häufiger und gravierender als dies bei 7Q5 bezüglich des Markustextes der Fall ist, vom griechischen Standardtext der Septuaginta abweicht. Niemandem würde einfallen, deswegen dieser Identifizierung zu widersprechen (vgl. K. Jaroš 2001a: Nr. 238). 319 A. Dou 1995: 116–139. Zitat 138f. Eine Überprüfung des hier vorgelegten mathematisch-statistischen Verfahrens durch den Ordinarius für Statistik der Universität Linz, Prof. Dr. Sixtl, brachte keinen Einwand gegen das Ergebnis von Albert Dou. Zur Computerüberprüfung vgl. J. O‘Callaghan 1976: 287–294. 320 K. Aland 1976: 14–38. 321 Es ist zu akzeptieren, daß manche Experten für Papyrologie Bedenken äußern und mit ihrem Urteil vorsichtig sind. Problematisch wird es aber dann, wenn Leute, die von antiken Handschriften nicht die geringste Ahnung haben, dagegen Stellung beziehen und Fachleute des »Fundamentalismus« bezichtigen, weil sie die Identifizierung vertreten (vgl. z. B. J. Dirnbeck 2002: 238–250). Demnach wäre z. B. die hoch geehrte und verdienstvolle Altphilologin und Papyrologin Orsolina Montevecchi, die sich nicht scheute, in ihrem papyrologischen Standardwerk (1991: 322) 7Q5 zu den neutestamentlichen Papyri zu rechnen, eine Fundamentalistin, oder auch der bekannte Neutestamentler und Rektor des päpstlichen Bibelinstitutes in Rom, der spätere Erzbischof von Mailand Carlo Maria Kardinal Martini (vgl. C. M. Martini 1999. 54). 322 Der Punkt unter einem Buchstaben bedeutet, daß der Buchstabe nicht einwandfrei erhalten ist. Die Editio princeps (M. Baillet/J. T. Milik/R. de Vaux 1962) vermutet in der ersten Zeile Spuren der Buchstaben E, Q, O oder S, in der zweiten Zeile liest die Editio princeps: ]. TWi A .[., in der dritten Zeile: ]H KAI TW[., in der vierten Zeile: ]NNHS[. und in der fünften Zeile: ]QHES[. 323 Vgl. C. P. Thiede 1984: 538–559. 324 Die gesamten Informationen über die mikroskopischen Untersuchungen wurden mir von C. P. Thiede in einer Besprechung kurz vor seinem plötzlichen Tod am 14. Dezemner 2004 mitgeteilt. A. Sparavigna, Dipartimento di Fisica, Politecnico di Torino, hat u. a. ein Verfahren zur Restaurierung von Papyri entwickelt (vgl. http://arxiv.org/pdf/0903.5045). Es wird dabei nicht am Original gearbeitet, sondern mit einem »Fourier« Filter über einem digitalen Photo des entsprechenden Papyrus. Mit dieser Methode kann zwischen Tinte/ Tintenspuren und dem Substrat des Papyrus unterschieden werden. Die Untersuchung an Hand der digitalen, stark vergrößerten Abbildung des umstrittenen Ny, die C. P. Thiede nach der ersten mikroskopischen Untersuchung veröffentlichte, die im Labor der israelischen Polizei in Jerusalem im Jahre 1992 durchgeführt wurde, (C. P. Thiede 1992: 239–245) hat dabei ergeben: »the faint trace seems to be under the ink, then belonging to a defect of the substrate, which continues under the ink pattern.« Die bruchstückhafte, feine Diagonallinie, die auf dem mikroskopischen Bild zu sehen ist, ist demnach keine Tintenspur, sondern an dieser Stelle eine »Beschädigung« des Papyrus durch das Schreibgerät des Kopisten. Dieser Schluß kann deswegen gezogen werden, weil die folgenden weiteren Untersuchungen des Papyrus durch C. P. Thiede mit Hilfe des konfokalen Laser–Raster–Mikroskopes, das x vertikale Schichten des Papyrus zu messen und zu dokumentieren imstande ist, den endgültigen physikalischen Beweis einer Diagonallinie, von der die Tinte abgeblättert ist, gebracht haben. 325 Einwände, wie z. B. daß das Fragment nur die Größe einer Sonderbriefmarke hat etc., sind so stupid, daß sie hier nicht diskutiert werden. 314 315

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Anmerkungen 326 – 349

Vgl. H. Hunger 1992: 33–56. So z. B. S. Enste 2001: 136–139 (vgl. dazu die Rezension von K. Jaroš 2001b: 378–384). 328 Vgl. K. Jaroš 2008c: 102–107. 329 Vgl. K. Jaroš 2008c: 101f. 330 Vgl. K. Jaroš 2008c: 72–97. Auch eine ganze Reihe anderer Handschriften lassen diese Redundanz weg (vgl. R. Swanson 1995b: 99). 331 Korrekt: diapera/santeß (hinüberfahrend). 332 Es besteht kein Grund, daß die Verbreitung des Evangeliums von Rom aus Jahre gedauert hat. Für die rasche Verbreitung von Informationen in der Antike in wenigen Tagen und Wochen vgl. K. Jaroš 2008a: 15–17. 333 Vgl. K. Jaroš NTHss: 3001–3721. 334 Vgl. K. Jaroš NTHss: 54–60.108–223. 335 Vgl. K. Jaroš NTHss: 2199–2681. 336 Vgl. K. Jaroš NTHss: 272–279. 337 Vgl. K. Jaroš/ B. Jaroš NTHss: 280–1076. 338 Vgl. K. Jaroš NTHss: 1077–1085. 339 Vgl. C. H. Roberts 1935. 340 Vgl. z. B. K. Aland/B. Aland 21989: 94. 341 Vgl. K. Jaroš/ U. Victor 2010: 297f. 342 Vgl. R. Swanson 1995c: 93. 343 Vgl. R. Swanson 1995a: 196. 344 Vgl. die deutsche Übersetzung eines dieser Abschlüsse bei F. F. Bruce/E. Güting 52007: 77f. Die zur Zeit umfangreichste Sammlung von Agrapha, insgesamt 395, bieten K. Berger/C. Nord 2005: 1114– 1199. Es liegt jedoch auf der Hand, daß nur wenige von ihnen authentisch sein werden. Vgl. auch die Ausgabe von A. P. Smith 2007. 345 Vgl. U. H. J. Körtner 1983. U. H. J. Körtner 2006: 3–116. 346 Text nach der Übersetzung von U. H. J. Körtner 2006: 51–53. 347 Vgl. die umfangreiche Textsammlung von K. Berger/C. Nord 2005. 348 Eine allgemein verständliche Darstellung bieten F. F. Bruce/ E. Güting 52007: 79–174. In einem Anhang zu meiner Einleitung in das Neue Testament (K. Jaroš 2008a: 265–295) habe ich einige Beispiele aus den apokryphen Evangelien in Kontrast zu den kanonischen Evangelien angeführt. Bei den Apokryphen handelt es sich im Wesentlichen um Phantasiegebilde, die einerseits frommen Wünschen entsprungen sind, andererseits das Bedürfnis nach Neugierde befrieden wollen, da das Neue Testament doch sehr karg und nüchtern berichtet, oder auch eine vom Christentum abweichende Lehre bzw. das Christentum entstellende Lehre propagieren. Es gibt kein besseres Wort als das schon am Anfang des 20. Jhs. von O. Bardenhewer (I 21013/2007: 500) geprägte: »Allen mehr oder weniger historisch gehaltenen Apokryphen – und sie bilden den weitaus größten Teil der gesamten Apokryphenliteratur – ist ein sehr hervorstechender Zug gemeinsam: Es ist die Absonderlichkeit, Abenteuerlichkeit und Abgeschmacktheit des Inhalts. Vermöge dieses Gepräges tritt die apokryphe Historiographie zu den Geschichtsbüchern des Neuen Testaments in einen Gegensatz, welcher [...] die Reinheit und Wahrheit der kanonischen Berichterstattung in das hellste Licht rückt. ‘Die apokryphe Literatur zieht eine scharfe Grenzlinie zwischen Wahrheit und Dichtung, zwischen Einfachheit und Erhabenheit der göttlichen Offenbarungstatsachen und der Buntscheckigkeit, Lächerlichkeit und Trivialität und Phantasterei menschlicher Erfindungen. Schon dieser, besonders in den Apostelgeschichten handgreifliche Gegensatz, kennzeichnet die kanonischen Schriften mit dem Siegel der Echtheit‘« (Unter einfachem Apostroph zitiert der Autor J. Knabenbauer). Eine deutsche Übersetzung des Thomasevangeliums bieten z. B. F. F. Bruce/E. Güting 52007: 102–145. 349 Vgl. M. Smith 1973. Vgl. die deutsche Übersetzung von K. Berger/C. Nord 2005: 926f. Der Bruch in diesem Text, da das Verb »befehlen« absolut steht, wird jedoch nicht berücksichtigt 326

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Anmerkungen 350 – 366



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und das erste Sätzchen im zweiten Teil ist nicht original; ferner spricht der Text nicht »von Schwestern«, sondern von »einer Schwester«. Vgl. dazu R. Riesner 2007a: 339. Mk 1,41 liest der Standardtext: kai« splagcnisqei/ß; es ist jedoch zu lesen o˙rgisqei/ß (vgl. U. Victor 2006: 5075f). Vgl. zum Ganzen K. Jaroš 2008c: 109–113. Vgl. z. B. A. Kindler 1974: 102f Nr. 156–159. Vgl. R. Reich 1992: 38–44. F. F. Bruce/ E. Güting 52007: 204 und Anm. 40 mit weiterer Literatur. Vgl. auch C. P. Thiede 2000: 64–69. Aramäisch: owCyd wwja Pswy rb bwqoy. Vgl. A. Lemaire 2002: 24–33. H.–L. Barth 2003: 231–233 hatte schon 2003 angenommen, daß es sich um eine gefälschte Inschrift handeln wird. Vgl. zum Ganzen R. Riesner 2007b: 296–199. Ursprünglich ein Symbol für die judäischen königlichen Gewichte und den königlichen Scheqel (vgl. Y. Yadin 1961: 12–17). Später taucht das Zeichen auch in kaiserlichen Inschriften für den Diphthong ou auf. Vgl. M. Hesemann 2009: 228f. Vgl. M. Hesemann 2009: 229. Zum römischen »Titulus crucis« vgl. M. Hesemann 1999. C. P. Thiede 2000. M. L. Rigato 2005. M. Flury–Lemberg 2005b: 221 und Abb. 2 (Kohlenstaub unter den Flicken). Zur radiometrischen Messung vgl. den Originalbericht von P. E. Damon u. a. 1989: 611–615. Vgl. P. Savarino 2005: 156–182. Vgl. M. Flury–Lemberg 2005a: 55. Die Folgerung, die eine israelische Historikerin aus ihrer Untersuchung eines Grabtuches aus dem 1. Jh. n. Chr. zieht – in dieses war ein leprakranker Mann, der an Tuberkulose starb, gewickelt – ist unhaltbar. Aus der Tatsache, daß dieses von ihr untersuchte Tuch eine einfachere Webstruktur als die des Turiner Tuches aufweist, kann nicht geschlossen werden, daß es keine anderen Grabtücher, die eine kostbarere Webstruktur aufweisen, gegeben haben kann (vgl. den Bericht in der »Zeit online« vom 17. Dezember 2009). M. Flury-Lemberg 2005a: 55f. »Kritik« an dieser Interpretation des Codex Pray hat es gegeben: Nicht nur Jesu Hände zeigen keinen Daumen (die Daumen Jesu sind auch auf dem Turiner Tuch nicht zu sehen), sondern auch die einer anderen Person. Diese »Kritik« ist jedoch so nicht stichhaltig. Der Mann, der Jesus salbt, hält in seiner rechten Hand das Gefäß, so daß der Daumen nicht sichtbar ist. Er berührt mit seiner linken Hand Jesu Brust. Vordergründig sieht es so aus, als seien auf dieser Hand nur vier Finger ohne den Daumen. Der Künstler hat jedoch vom ersten Finger links (vom Betrachter her gesehen) eine Linie gezogen, die sich zum Handrücken hin fortsetzt. Dieser Finger kann daher nur der Daumen sein. Von den restlichen vier Fingern hat der Künstler einen ausgelassen. Die Engelsfigur weist an der linken Hand alle fünf Finger auf, an der rechten Hand ist der Daumen auf Grund des Gestus nicht zu sehen. Ferner wird gesagt, daß auf dem Bild mehrere Löcher gemalt sind, und nicht nur die, die bei einem Brand des Tuches entstanden sein sollen. Das ist aber kein Gegenargument, da das Tuch im Laufe der Zeit mehrere Löcher aufzuweisen hatte (z. B. durch die Entnahme von Teilen als Reliquien), die auch immer wieder gestopft wurden. Ende November 2009 fand in Abano eine Veranstaltung statt, bei der Prof. Luigi Garlaschelli, ein Chemiker der Universität Pavia, erklärte, daß er ein Leichentuch wie das Turiner erzeugte habe und führte das Ergebnis seiner Bemühungen vor. Ein Augenzeuge dieses Events berichtet, »daß die Kopie des Professors nicht einmal eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Original im Turiner Dom hatte.« (W. Axtmann 2010: 34). Vgl. B. Barberis 2005: 183–196. J. Ratzinger – Benedikt XVII 2011: 252 mit Recht zum Turiner Grabtuch: » [...] in jedem Fall aber ist die Gestalt dieser Reliquie mit beiden Berichten grundsätzlich vereinbar.« Papst Benedikt XVI. meint »mit beiden Berichten« den der Synoptiker und den des Evangelisten Johannes.

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Anmerkungen 367 – 391

Zu den botanischen Untersuchungen vgl S. Scannerini 2005: 148–155. Die Schriftzeichen (griechische, lateinische und aramäische), die durch computergesteuerte Bildregenerierungsverfahren sichtbar gemacht wurden, zuletzt B. Frale 2009, wobei u. a. I] HSOU[S und NAZARENNOS (orthographisch richtig: NAZARHNOS oder NAZWRAIOS) aufscheinen, sind dann ein untrüglicher Beweis, wenn sie tatsächlich vorhanden sind und ihre paläographische Untersuchung ergibt, daß sie für die Zeit vor 70 n. Chr. typisch sind. 369 Vgl. K. Jaroš IV 1997: 235–277. K. Jaroš 2000: 122–132. F. F. Bruce/E. Güting 52007: 175–191. Für eine ausführliche Beschäftigung mit dem Thema verweise ich auf H. Räisänen 1971. Eine interessante Darstellung des Themas ist auch das Buch des vom Islam zum Christentum konvertierten M. A. Gabriel 2006. 370 Vgl. H. Busse 1988: 118. 371 Vgl. K. Jaroš II 1997: 52 Anm. 36. 372 Vgl. J. M. Abd–el–Jalil 1954: 16f. Das gleiche gilt auch für die Bezeichnung »Brüder und Schwestern Jesu«. 373 Die arabische Bezeichnung »Maryam« entspricht der syrischen Form des Namens. Eine befriedigende sprachliche Erklärung des hebräischen oder midianitischen Namens »Mirjam« ist bisher nicht erbracht worden (vgl. W. Baumgartner II 1974: 601). Islamische Exegeten erklären den Namen als »die Fromme, die Ergebene, die Dienende«. Neben dieser Art volksetymologischer Deutung beschränken sich manche Exegeten darauf, den Namen aus dem Arabischen zu deuten: »die Starke, die Keusche, die Kühne, die Furchtlose, diejenige, die es wagt, ihre Stimme inmitten von Männern zu erheben, um ihnen im Kampf Mut zu spenden.« (vgl. J. M. Abd–el–Jalil 1954: 83f). 374 Vgl. J. Jomier 1962: 83f. J. M. Abd–el–Jalil 1954: 20–22. 375 Zitiert nach H. Stieglecker 1962: 336. 376 Islamischen Exegeten ist der Name natürlich bekannt (vgl. J. M. Abd–el–Jalil 1954: 28–32). 377 Vgl. J. M. Abd–el–Jalil 1954: 61f. 378 Vgl. R. Paret 61993b: 322f. 379 Das Christentum hat seit den Anfängen die Meinung vertreten, daß Maria vor, bei und nach der Geburt Jungfrau war (EP 495, 745 u. v. a.) In diesem Sinn haben sich auch die Päpste seit Leo dem Großen, seit 449 n. Chr. geäußert (DS 299) und das Konzil von Trient hat am 7. August 1555 (DS 1880; Katechismus der Katholischen Kirche 1993: 499–511) das Dogma definiert. Ausdrückliche Erklärungen, in welchem Sinn die Jungfräulichkeit Marias bei und nach der Geburt zu verstehen ist, werden aber in den Glaubensentscheidungen nicht angegeben. Es ist aber davon auszugehen, daß die immerwährende Jungfräulichkeit Marias im biologischen Sinn verstanden, aber als Zeichen ihrer ausschließlichen Gottgehörigkeit gedeutet wird. 380 Zur islamischen Auslegung vgl. J. M. Abd–el–Jalil 1954: 43–48. 381 Vgl. Ibn Hazm V 1921: 17–18. 382 Vgl. K. Jaroš 1995: 190f. K. Jaroš III 1997: 35–38. 383 Vgl. J. M. Abd–el–Jalil 1954: 77. 384 J. M. Abd–el–Jalil 1954: 78. 385 Vgl. H. Busse 1988: 133. Mohammed schöpft hier aus der jüdischen wie christlichen Tradition. 386 Vgl. H. Busse 1988: 135. 387 Vgl. J. Henninger 1951: 21f. 388 Zur polemischen Auseinandersetzung mit Jesu Wundern vgl. D. Thomas 1994: 221–243. 389 Vgl. H. Busse 1988: 130f. 390 Vgl. E. Paret 51993b: 110f. 391 Der Monophysitismus lehrt, daß Jesus nur der göttlichen Natur teilhaftig ist. Diese Lehre wurde vom Konzil von Chalzedon 451 n. Chr. als Häresie verurteilt, blühte aber dann erst recht in Ägypten und in seinem Einflußgebiet auf. Zur Zeit Mohammeds war der Monophysitismus auch in den Randzonen Arabiens vertreten. Die julianische Form des Monophysitismus ist nach Julian von Halikarnass (ca. 527 n. Chr. gestorben) benannt. Ähnliche Auffassungen vertraten auch andere durch gnostische Einflüsse geprägte Gruppen. 367 368

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So H. Graetz 3/1 1905: 206. Vgl. N. N. Glatzer 1966. A. A. Peck/J. Neusner 1982: 194–214. Vgl. C. Hezser 4RGG 3: 1737. Früher ist die Meinung vertreten worden, daß er der Lehrer Jesu gewesen sei, was völlig aus der Luft gegriffen ist (vgl. G. Stemberger 81992: 71). H. Graetz 3/1 1905: 206: 5 n. Chr. C.-H. Hunzinger 3RGG III: 326: 15 n. Chr. Vgl. G. Stemberger 81992: 75. Vgl. zum Ganzen: H. Graetz 3/1 1905: 211. A. Nissen 1974: 386. Vgl. M. Dzielska 1986: 12f.30–38.19–49.141. Übersetzung des Fragments bei M. DallʾAsta 2008: 23. Lukian von Samosata, ed. U. Victor 1997: 82–85. Griechischer Text und Übersetzung: Philostratos 1983. Vgl. M. Dzielska 1986: 96–103.153–157. Unter »Haggada« ist jede nichtgesetzliche Bibelauslegung durch die Gelehrten Israels zu verstehen. »Die Formen der Haggada, vielfach im Anschluß an die biblische Vorlage, sind vor allem Kurzkommentar zu einem Bibeltext, Erzählung, biographische oder historische Anekdote, Sage, Märchen, Fabel, Sprichwort oder philosophisch-ethische Maxime, Trostrede, Drohspruch u s. w.« (G. Stemberger 1979: 161). Unsere Zeitrechnung basiert auf einem Rechenfehler, der dem in Rom lebenden skythischen Mönch Dionysius Exiguus (ca. 497–545 n. Chr.) unterlaufen ist (vgl. J. N. B. van den Brink RGG3 II 202. E. P. Sanders 1996: 29). M.–E. Boismard 1997: (1. Exkurs) hat Evangelienharmonien, deren Texttradition bis in das 2. Jh. n. Chr. zurückgehen, herangezogen, die für Luk 2,1–3 folgende Variante bringen: »Zu dieser Zeit befahl Kaiser Augustus, daß ein jeder in seine Vaterstadt zu kommen habe, um dem Statthalter eine Silbermünze als Zeichen der Unterwerfung unter Rom zu bringen.« Diese Variante mag vielleicht die Steuerschätzung der herodeischen Eigentümer durch Sabinus im Auge haben und eine nach der Niederschlagung der Aufstände von Varus angeordnete mögliche Kopfsteuer. Ich halte aber eine solche Kopfsteuer für eher unwahrscheinlich. Diese oben genannte Variante ist nach meiner Meinung historisch wertlos. Vgl. Res Gestae Divi Augusti, ed. Volkmann 31969. Res Gestae Divi Augusti. ed. E. Weber 2004. Deutsche Übersetzung nach Res gestae, ed. M. Giebel 1980. Der lateinische Text lautet: »Patriciorum numerum auxi Consul quintum iussu populi et senatus. Senatum ter legi. Et in consulatu sexto censum populi conlega M. Agrippa egi. Lustrum post annum altrum et quadragensimum feci. Quo lustro civium Romanorum censa sunt capita quadragiens centum millia et sexaginta tria millia. Tum iterum consulari cum imperio lustrum solus feci C. Censorino et C. Asinio cos., quo lustro censa sunt civium Romanorum capita quadragiens centum millia et ducenta triginta tria millia. Et tertium consulari cum imperio lustrum conlega Tib. Caesare filio meo feci Sex. Pompeio et Sex. Appuleio cos.; quo lustro censa sunt civium Romanorum capitum quadragiens centum millia et nongenta triginta et septem millia. Legibus novis me auctore latis multa exempla maiorum exolescentsa iam ex nostro saeculo reduxi et ipse multarum rerum exempla imitanda posteris tradidi. CIL XIV 3613. Eingehende Diskussion und Information finden sich bei P. Benoit DBS IX: 693– 720. Vgl. A. Demandt 1999: 75. Eusebius von Cäsarea (Kirchengeschichte I 5,2) gibt folgende Stellungnahme: »Es war das 42. Jahr der Regierung des Augustus und das 28. Jahr seit der Unterwerfung Ägyptens und dem Tod des Antonius und der Kleopatra, womit die Herrschaft der Ptolemäer in Ägypten ein Ende gefunden hatte, da wurde unser Erlöser und Herr Jesus Christus unter Quirinius, dem Stadthalter von Syrien (oder: der Syrien befehligte), zur Zeit der damaligen ersten Volkszählung gemäß den Prophezeiungen zu Bethlehem in Judäa geboren.« Demnach wäre das Geburtsjahr Jesu 2 v. Chr. Sicher ist jedoch diese neuzeitliche Errechnung des Jahres 2 v. Chr. nicht, da wir nicht absolut wissen, wann Eusebius die Ermordung Cäsars ansetzt und ebenso unbekannt ist, ob er das Jahr 30 v. Chr. als das Todesjahr des Antonius und der Kleopatra angesehen hat. Eusebius war bezüglich des Census nicht sehr genau informiert,

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da er den von Lukas erwähnten mit dem späteren von Quirinius durchgeführten Census verwechselt (vgl. Eusebius I, ed. K. Lake: 46 Anm 2). Die steuerliche Erfassung der judäischen Bevölkerung erfolgte am Herkunftsort der Person (Luk 2,4). Der zuständige Ort dafür war für Joseph und Maria Bethlehem, weil Joseph davidischer Abstammung war und dort offensichtlich ererbtes Land besaß (von Verwandten Jesu berichtet das z. B. auch Eusebius, Kirchengeschichte III 40). Das muß vorausgesetzt werden, da er sonst mit Maria die Reise nicht hätte unternehmen müssen. Unter den Handschriftenfunden vom Nachal Hever war auch die beglaubigte Kopie einer Steuererklärung vom 2.– 4. Dezember 127 n. Chr. einer Jüdin namens Babatha. Im Jahre 127 n. Chr. ordnete Kaiser Hadrian einen Census für die Provinz Arabia an. Babatha hatte dort, in Rabbath-Moab, Grundbesitz. Sie mußte daher von ihrem Wohnort Maoza nach Rabbat-Moab für ihre Steuererklärung kommen. Die Auswertung dieser Steuererklärung durch die Berliner Althistorikerin H. Zilling hat erstaunliche Ähnlichkeiten mit dem lukanischen Text erbracht. Sie nimmt an, daß Lukas ein für einen solchen Census übliches Formular sogar kannte. Gemeinsam dieser beglaubigten Steuererklärung der Babatha und dem lukanischen Text ist: Nennung des Kaisers, der den Zensus angeordnet hat, Datumsangaben, Nennung des verantwortlichen Statthalters, Umstand der Deklaration: schriftlich, Notwendige Reise vom Wohnort zum Ort der Deklaration etc. Eheleute müssen gemeinsam erscheinen. (vgl. zum Ganzen M. Hesemann 2009: 57). Vgl. Str.B I: 76–78. A. Jellinek II 31967: 118. Vgl. zu den astronomischen Phänomen: F. Ferrari dʾOcchieppo 2003. M. Kidger 1999. M. Hesemann 2009: 68–72. Vgl. zum Ganzen W. Hinz I–II 1976 und 1979. H. Koch 1992. K. Jaroš 1996. A. Schalit 22001: 649 Anm. 11. Herodes der Große sah sich noch dazu selbst als messianischer, davidischer König (R. Heiligenthal 2000: 137–148. A. Schalit 22001: 473–479). Wie Paulus (Gal 4,4: Paulus als pharisäisch geschulter Theologe bezeichnet die Mutter als »Ehefrau« [gunh/]. Es ist daher die Annahme abwegig, daß Paulus Jesus für ein uneheliches Kind gehalten habe) nennen die Synoptiker nicht immer ausdrücklich den Namen der Mutter »Maria«. ti eÓmoi÷ kai\ soi÷, gu÷nai; sinngemäß muß übersetzt werden: »Was ist der Grund, daß du danach fragst.« (vgl. Str–B II: 401). Vgl. E. Lohse 111971: 68–72. Der Kodex Syrus Sinaitikus (4./5. Jh. n. Chr.) hat die Leseart: » [...] Joseph, der mit der Jungfrau Maria verlobt war, zeugte Jesus.« Das ist natürlich kein Schreibfehler, sondern eine bewußte Änderung des Textes, die zeigt, daß es Gruppen von Judenchristen gegeben hat, die nicht nur die juristische, sondern auch die biologische Vaterschaft Josephs postulierten, ohne deswegen die Zeugung durch den Heiligen Geist zu leugnen. Es ist eine eigenartige Variante, die erhalten geblieben ist, da der mächtige Arm der Großkirche offenbar nicht bis zur südlichen Sinaihalbinsel und dem dortigen Katharinenkloster reichte. Die Variante hat aber mit dem ursprünglichen Text nichts gemein. Die Variante zeigt, daß es praktisch seit altersher Christen gegeben hat, die die Zeugung durch Gottes Geist mittels des menschlichen Vaters annahmen. Heute ist eine solche Auffassung natürlich oft zu hören. Wohl aus pastoraler Sorge hatte J. Ratzinger, der jetzige Papst Benedikt XVI., in seinem 1968 veröffentlichten Buch »Einführung in das Christentum« 225 geschrieben: »Die Gottessohnschaft Jesu beruht nach dem kirchlichen Glauben nicht darauf, daß Jesus keinen menschlichen Vater hatte; die Lehre vom Gottsein Jesu würde nicht angetastet, wenn Jesus aus einer normalen menschlichen Ehe hervorgegangen wäre. Denn die Gottessohnschaft, von

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der der Glaube spricht, ist kein biologisches, sondern ein ontologisches Faktum.« Dieser Meinung ist grundsätzlich ganz und gar zuzustimmen! Bei einem väterlichen Versäumnis ordnete die Obrigkeit die Beschneidung an (mQiddušin I 17; bQiddušin 29a). Rabbi Schimon ben Jochai (um 150 n. Chr.) gibt seinen Schülern dafür folgende Erklärung: Wegen der Schmerzen bei der Geburt bereut die Frau, daß sie mit ihrem Mann geschlafen hat und schwört, dies nicht mehr zu tun. Da sich aber alle nach der Geburt eines Knaben besonders freuen, bereut die Mutter diesen Schwur schon nach sieben Tagen (bNidda 31b). Vgl. K. Jaroš 21982: 186–188. D. Flusser 1971: 20. Vgl. auch E. M. Meyers 1998: 27–39. D. Flusser 1971: 20. Vgl. J. A. Fitzmeyer 1992: 58–63. P. M. Casey 1997: 326–328. Vgl. B. Schwank 1987: 61–64. C. P. Thiede 1996: 194. JosAnt XVII 289. Die Bautätigkeit ist auch archäologisch nachgewiesen (vgl. E. Netzer/Z. Weiss 1994: 18f. R. A. Batey 1991. R. A. Batey 1992: 50–62). u˚po÷krisiß, u˚pokritai÷ (Heuchelei, Heuchler/Schauspieler). Vgl. H. G. Liddell/R. Scott 1973: 1886. Die Begriffe sind natürlich schon in ihrer Verwendung durch die Septuaginta vorbelastet (vgl. U. Wilckens ThWNT VIII 560–569). Eine gute Zusammenfassung der jüdischen Position bietet S. Ben-Chorin 51982: 104–106. Eusebius, Kirchengeschichte III 19f, berichtet, daß Judas Enkel von Kaiser Domitian über die davidische Herkunft befragt wurden. Nach Eusebius soll Judas ein Bruder Jesu gewesen sein. Daß die Enkel jedoch für das Imperium keine Gefahr waren, sah Domitian nicht zuletzt daran: »Hierauf zeigten sie ihm (Domitian) ihre Hände und bewiesen [...] durch die Schwielen, welche sich infolge ihrer harten Arbeit an ihren Händen gebildet hatten, daß sie Handwerker waren.« Eusebius bringt diese Nachricht unter Berufung auf Hegesippus (2. Jh. n. Chr.). Vgl. R. Bauckham 1991: 245–275. J. P. Meier 1992: 1–28. Ein großer Kenner der rabbinischen wie der jüdisch-hellenistischen Literatur schreibt: »Die Ansicht, daß Jakobus nur ein Stiefbruder oder sonstiger Verwandter Jesu gewesen sei, entstammt der schwierigen Situation, daß Maria, nachdem sie einmal vom Heiligen Geist empfangen hatte, nun auf natürliche Weise Kinder zur Welt brachte. aÓdelfo÷ß bedeutet in der Sprache der jüdischen Schreiber des Griechischen in jener Zeit wirklicher Bruder.« (J. Klausner 3 1952: 319 Anm. 39). Dieses Urteil klingt sehr apodiktisch. aÓdelfo÷ß kann in der griechischen Literatur immer auch die Bedeutung »naher Verwandter, Vetter.« haben. Vgl. F. Passow I 1 51841/ 1993: 30. H. F. von Soden ThWNT I: 144–146. W. Bauer 61988: 28f. Dagegen gibt es ernst zu nehmende Einwände (vgl. R. Pesch 41984: 224.322–324). Vgl. D. C. Allison Jr. 1992: 58–60. K. Backhaus 1991: 202–215. Vgl. F. Passow II 2 51857/1993: 1581. W. Bauer 61988: 1541f. In der arabischen Tradition Palästinas hat sich die Meinung bis in unsere Zeit erhalten, daß Johannes der Täufer der wiedergekommene Prophet Elija ist (vgl. A. Alt 1925: 396. K. Jaroš 1997 IV: 232). Vgl. K. Jaroš 42002: 75–84. Str–B I: 4–6. Die priesterlichen Genealogien waren um besondere Genauigkeit bemüht (vgl. JosVita 1; JosCAp 17). Vgl. B. M. Nolan 1979: 24–28. Vgl. K. Jaroš 1995: 105–108.141–146. Vgl. zum ganzen Ritual O. Keel 1972a: 234–247. Vgl. J. Kügler 1997: 15–81. H. Brunner 1964: 45. Vgl. A. Assmann 1982: 13–61, wo die Thematik bis in die ägyptische Spätzeit behandelt wird. Einen direkten Bezug zum Neuen Testament stellen die Studien von E. Brunner 1960: 97–111 und E. Brunner 1961: 266–284 her. Siehe die kritische Auseinandersetzung von D. Zeller 2000: 541–552.

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Vgl. Wb III: 265f. R. Hannig 1995: 595. R. Hannig 2003: 937–940, speziell 938. Das hebräische Nomen hmlo meint eine junge, geschlechtsreife Frau. Die Jungfräulichkeit der jungen Frau kann, muß aber nicht vorausgesetzt werden. Die Septuaginta, hat das hebräische Nomen im Sinne des »Kann« verstanden und übersetzt mit parqe÷noß (Jungfrau). 441 Im hellenistischen Judentum gab es die Ansicht, daß berühmte Frauen der Geschichte Israels wie Sara, Lea, Rebekka und Zippora ohne ihre Männer schwanger wurden, indem Gott mit ihren Seelen »verkehrte« (vgl. die Belege bei K. Schubert 1973: 19–21), aber es findet sich kein Hinweis, daß die Mutter des Messias auf solche Weise schwanger werden wird. Etwas anders ist ein jüdisch-palästinischer Beleg zu werten, nämlich das 23. Kapitel des Slavischen Henochbuches (vgl. D. Flusser 1966: 23–29; J. T. Milik 1972: 95–114; K. Schubert 1973: 21–27). Hier heißt es u. a., daß Nirs Frau Zophanima, die bis ins hohe Alter unfruchtbar war, schwanger wurde, ohne daß Nir sie berührte. Bereits tot gebiert Zophanima einen Knaben, der das Aussehen eines dreijährigen Kindes hat und schon sprechen kann. Jetzt erkennen alle das Wunder an, Zophanima wird feierlich bestattet, das Kind von Nir Melchisedek genannt und mit priesterlichen Gewändern bekleidet. Dieser Melchisedek gilt als Garant dafür, daß das legitime Priestertum nach der Sintflut weiterhin Bestand haben wird. Mit unserer Thematik hat aber dieser Text nur gemein, daß ein Kind geboren wird, dessen »Vater« nicht als sein biologischer Vater gilt. Woher Zophanima schwanger geworden ist, wird nicht gesagt. Sie selber weiß es auch nicht! Melchisedek ist zwar der Hohepriester auf ewig (Slavisches Henochbuch 23,37), aber nicht der Messias. Es läßt sich daher nur allgemein sagen, daß im palästinischen Judentum das Thema der Zeugung eines besonderen Kindes ohne menschlichen Vater bekannt war, daraus aber kaum Schlüsse auf die Geburt des Messias gezogen werden dürfen. »Auf Grund von Gn 17,17; 18,11–14; 21,1–7; 25,21 galt es der alten Synagoge für ausgemacht, daß Isaaks und Jakobs Empfängnis wie Geburt auf das unmittelbare schöpferische Eingreifen Gottes zurückzuführen sei. Dagegen klingt die Vorstellung, daß ein Mensch ohne Zutun eines Mannes allein durch göttliche Wirkung von einem Mutterschoß empfangen und geboren werden könne, nirgends in der älteren jüdischen Literatur auch nur leise an. Darum hat das alte Judentum auch niemals erwartet, daß etwa der verheißene Messias auf dem Weg übernatürlicher Zeugung das Licht der Welt erblicken werde; auch ihm gegenüber galt der Kanon: Mensch von Mensch geboren. So bedeutet Mt 1,18 dem jüdischen Denken gegenüber ein absolut Neues.» (Str–B I: 49). 442 Der Weihrauch stammt aus Arabien (Harz von Bäumen der Gattung Boswellia) und diente seit jeher im Kult, um die Gottheit zu verehren. Myrrhe ist ein dem Weihrauch ähnliches Harz, das aus dem Öl eines in Südarabien beheimateten Baumes (Bäume und Sträucher der Gattung Commiphora) gewonnen wurde. Myrrhe wurde z. B. zur Parfümierung des Körpers (Hld 5,5.13), der Kleider (Ps 45,9), des Bettes (Spr 7,17) etc. verwendet. »Myrrhe ist aber auch Bestandteil des Salböls, mit dem die heiligsten Geräte und die Priester gesalbt wurden (2 Mose 30,23). Die Myrrhe sollte so als erotisierender Duftstoff wie durch ihre sakrale Assoziationen – Wohlgeruch signalisiert die Präsenz der Götter und des Göttlichen – wirken.« (O. Keel 1986: 69f). Der betäubende Duft der Myrrhe könnte ausschlaggebend dafür sein, daß man sie vermischt mit Wein den zum Tod verurteilten Jesus gereicht hat (Mk 15,23). bSanhedrin 43a nennt auch Weihrauch, den man mit Wein vermischt einem zur Hinrichtung Geführten reichen soll, »damit ihm das Bewußtsein verwirrt werde.« Für die Salbung der Leiche wurde z. B. auch Myrrhe verwendet, um den Verwesungsgeruch erträglicher zu machen (Joh 19,39). Schon die altchristliche Erklärung hat in der Myrrhe ein Zeichen für die Passion Jesu gesehen. Ich meine nicht, daß dieser Aspekt von Myrrhe im Vordergrund steht. Für Matthäus scheint mir Myrrhe eher das Symbol der Heiligkeit und des Priestertums Jesu zu sein denn ein Zeichen der Vorwegnahme seines Scheiterns am Kreuz. Vgl. auch B. T. Viviano 2008: 568–595. 443 Nach Gen 14,17–20 ist Melchisedek der Priesterkönig von Salim (Jerusalem), der dem Höchsten Gott Brot und Wein geopfert und Abram (Abraham) gesegnet hat. 444 peso÷nteß proseku÷nhsan auÓtwvø. Vgl. H. G. Liddell/R. Scott 1973: 1406.1518. W. Michaelis ThWNT VI: 163f. H. Greeven ThWNT VI: 759–767. 439 440

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Dieses Motiv ist viel älter als die alttestamentliche Überlieferung. Wir finden eine überaus ähnliche Erzählung schon 1000 Jahre vor Mose bei der Geburt des akkadischen Königs Sargon I. (ca. 2340–2284 v. Chr). Vgl. die Geburtslegende Sargons I. in deutscher Übersetzung in AOT 234f. 446 Auch der Qumrantext 4QpIsa 3,15f. deutet diese Stelle messianisch, ebenso wie später der hl. Hieronymus (ML 24,174ff). Weitere Belegstellen bei R. Riesner NBL II 909. 447 Falls diese Annahme stimmt, dann hat hier Matthäus sehr konstruiert. Von Joh 1,46 weiß man, daß Nazareth nicht gerade der Ort war, mit dem eine messianische Gestalt in Verbindung zu bringen sei. Zur Herkunftsbezeichnung vgl. auch K. Berger 1996: 323–335. 448 In dieser lukanischen Tradition steht z. B. auch der Koran. Nach Sure 3,33–37 [4Md] wird der Stammbaum Jesu auf Adam zurückgeführt. Der erste Mensch ging unmittelbar aus der Schöpferhand Gottes hervor, und auch Jesus ist durch einen direkten Schöpfungsakt Gottes im Mutterschoß Marias geworden (vgl. K. Jaroš IV 1997: 258f). 449 Vgl. S. Schulz ThWNT VII: 403f. Der griechische Text liest Luk 1,41: e˙ski÷rthsen to\ bre÷foß. Das griechische Verb skirta÷w drückt ursprünglich ein wildes, tierisches Springen aus. 450 Wie z. B. pai÷zein, oÓrce÷omai. 451 Vgl. O. Keel 1972a: 313f. O. Keel 1974: 35–41. 452 »Gabriel« heißt zu deutsch. »Mann Gottes«. Er ist einer der Thronengel Gottes und wird mit Michael zu den Engelfürsten gezählt, bisweilen mit dem Boten JHWHs (Ex 3,2) identifiziert (Str–B II: 90f). Im Alten Testament ist der Engel nur Dan 8,16 und 9,21 genannt, für Rabbi Schimeon ben Laqisch (um 250 n. Chr.) ein Grund zur Annahme, daß die Judäer die Engelnamen erst aus dem Babylonischen Exil in die Heimat gebracht haben. Gabriel gilt in der rabbinischen Tradition als Repräsentant des göttlichen Strafgerichtes, aber auch der göttlichen Barmherzigkeit. Wie Michael hat er die Aufgabe, für Israel als Ganzes, aber auch für den einzelnen Sorge zu tragen, ihm Gottes Erbarmen und Barmherzigkeit nahezubringen (Str–B II: 92–97). Aber selbst einem Engelfürsten wie Gabriel wird seine Existenz vor der Welt abgesprochen. Gott schuf die Engel erst nach dem ersten Schöpfungstag, aber noch vor dem Menschen, so daß z. B. Michael und Gabriel nach Rabbi Jehuda ben Simon (um 320 n. Chr.) als Brautführer für Adam und Eva figurieren. In entscheidenden Situationen ist aber auch die Mittlerrolle dieser Gottesdiener aufgehoben. So heißt es jBerakhoth 13a: »Wenn über einen Menschen Not kommt, soll er weder Michael noch Gabriel anrufen, sondern mich soll er anrufen, und ich will ihm antworten, spricht Gott der Eine.« 453 cai√re, kecaritwme÷nh, oJ ku/rioß meta» souv. Vgl. J. J. Kilgallen 1997: 225–246. 454 Unter Berufung auf H. Schürer sieht J. Kügler 1997: 283 die Geburtsankündigung in Luk 1 nicht im Sinne eines Zeugungsvorganges, sondern als einen Schöpfungsakt Gottes. Zum Teil ist das richtig, da der Mensch Jesus wie jeder andere Mensch ein Geschöpf Gottes ist. Doch aus der lukanischen Kindheitsgeschichte geht ebenso hervor, daß er der göttliche Sohn Gottes ist! Zur Deutung der Hirten als Repräsentanten der Völkerwelt in Israel vgl. auch M. Wolter 2000: 501–517. 455 Vgl. K. Schubert 1973: 39f. 456 Vgl. K. Jaroš/U. Victor 2010: 243f. Zur theologischen Auslegung vgl. J. Ratzinger/ Benedikt XVI. 22007: 36–51. 457 Vgl. O. Keel 1986: 71–76. S. Schroer/T. Staubli 22005: 86f. 458 Vergil, Aeneis VI 186,190–193 heißt es: »Vix ea fatus erat, geminae cum forte columbae ipsa sub ore ora viri caelo venere volantes et viridi sedere solo; tum maximus heros maternas adgnovit aves laetusque precatus.« »Kaum war verklungen sein Wort, da kamen gerade zwei Tauben unmittelbar vor Aeneas‘ Blick im Fluge vom Himmel, ließen sich nieder im grünen Grund; der herrliche Held nun 445

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kannte die Vögel der Mutter sogleich und betete jubelnd.« (Vergil, ed. J. Götte 21965: 232f) Die Tauben verkörpern die liebende Fürsorge der göttlichen Mutter (Venus) für ihren Sohn Aeneas. Vgl. K. Jaroš 1995: 147f. Die Himmelsstimme erinnert an rabbinische Vorstellungen (bTaanith 24b). Vgl. K. Jaroš/U. Victor 2010: 244–248. Zu Fragen von Legende und Mythos in diesen Perikopen vgl. O. Hanssen 2000: 119–135. Vgl. O. Keel 1978: 156–158. Vgl. C. Westermann 1974: 323–325. K. Jaroš 1980b: 213–215. Vgl. K. Berger 2007: 247–250. J. Ratzinger/Benedikt XVI. 22007: 54–74. Vgl. S. Byrskog 1994. K. Berger 2010: 24–39.269: »Jesus ist höher als alle Propheten (inklusive Moses) und heiliger als alle Institutionen Israels. In ihm handelt Gott. Das ist die Wahrheit über Jesus, welche die Wundergeschichten erzählen. Aber wie ist das Sein Jesu hier begrifflich oder titular zu fassen? Dafür gab es zwei Ausdrücke: ‚Sohn Gottes‘ und ‚Herr‘. Beide Titel haben eine längere Vorgeschichte und sind dadurch etwas vieldeutig. Erst auf Jesus angewandt und in diesen Berichten gewinnen sie eine neue Eindeutigkeit, bis sich dann die Dogmengeschichte ihrer annimmt.« Vgl. K. Jaroš/U. Victor 2010. Vgl. K. Lachmann 1835: 582. Zuletzt vermutlich P. Seewald 2009. In diesem Sinn ist ursprünglich Joh 1,29: ... i¶de oJ aÓmno\ß touv qeouv oJ ai¶rwn th\n a˚marti÷an touv ko/smou. zu verstehen: »Siehe, das Lamm Gottes, das auf sich nimmt die Sünde der Welt«. Wohl aber nimmt Johannes bereits die Bedeutung an: » [...] das wegnimmt die Sünde der Welt.« Auch Gen 50,17 und 1 Sam 15,25 sagen nicht, daß von einem Menschen Sünden vergeben werden. Es wird jeweils nur die Bitte der Sündenvergebung an einen Menschen ausgesprochen, der dann die Vergebung der Sünden bei Gott erwirken kann. Vgl. Ch. Safrai 1990: 95–108. Vgl. R. de Vaux II 1973: 65. Die Bezeichnung »der Kanaanäer« ist kaum von der Ortsbezeichnung »der aus Kana« oder »Kanaan« abzuleiten, sondern vom aramäischen Wort für »Eiferer«, das griechisch mit »Zelot« wiedergegeben wurde. Daß Simon deswegen zur Partei der Zeloten gehörte, ist aber daraus nicht abzuleiten. »Zelot« charakterisiert ihn einfach als einen Eiferer für die Sache Gottes. Die Bedeutung von Levi ist nicht genau bekannt. D. Kellermann ThWAT IV 506 nimmt die von E. Nielsen, J. Pedersen, W. F. Albright und M. Weippert favorisierte Ableitung aus dem Minäischen. Demnach wäre Levi ein abgekürzter Personenname mit der Bedeutung: »Anhänger, Verehrer des Gottes X«. Diese Berufung der Apostel wird allgemein als historisch angesehen (vgl. G. Bornkamm 151995: 204). Vgl. J. A. Borland 1992: 113–123. S. Demel 1991: 41–95. E. Ruckstuhl 1996. Nach der im Hebräischen üblichen Zählung der Wochentage ist der 3. Tag der Dienstag. S. Ben-Chorin 51982: 68f meint, daß der Dienstag für die einfache jüdische Bevölkerung der Hochzeitstag gewesen sei. Doch dies läßt sich für die alte Zeit nicht belegen. Die rabbinischen Quellen (Str–B II: 398–299) nennen Mittwoch (vierten Tag) als Hochzeitstag für Jungfrauen und Donnerstag (fünften Tag) als den für Witwen. Vgl. die Berechnungen von B. S. J. Isserlin 1998: 45. Vgl. B. Schein 1980: 47–64. Vgl. Matth 8,5–13 und Luk 7,1–10. Der königliche Beamte wird von Matthäus und Lukas als Hauptmann bezeichnet, was vielfach evozierte, daß es sich um einen römischen Hauptmann gehandelt hat. In der Tetrarchie Galiläa/Peräa gab es jedoch kein römisches Militär. Deshalb

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ist der johanneischen Terminologie der Vorzug zu geben. Es handelt sich um einen in Kapharnaum stationierten Beamten des Tetrarchen Herodes Antipas. J. Ratzinger/Benedikt XVI. 22007: 85. Vgl. H. Leroy 21989: 70f. Vgl. K. Jaroš 1995: 28–40. Siehe die ausführliche Behandlung der Königstexte bei O. Camponovo 1984: 72–193. Vgl. O. Camponovo 1984: 142–174. J. Becker 1998: 88. Im Henochbuch spielt unser Thema keine Rolle. In den Testamenten der 12 Patriarchen wird zwar Gott als König bezeichnet, aber nicht mit dem Begriff Königsherrschaft Gottes in Verbindung gebracht. Vgl. E. Kautzsch 21962: 180. O. Camponovo 1984: 352. J. Becker 1998: 92. Der Passus 3,46ff gehörte ursprünglich zum verlorenen 2. Buch. Siehe die Besprechung der Qumrantexte bei O. Camponovo 1984: 259–307. Im Text 4QSirSab, der eine himmlische Liturgie darstellt (vgl. J. Becker 1998: 87.89) ist vom himmlischen König die Rede (vgl. 1QM 12,7f). Zitiert nach O. Camponovo 1984: 408.410. Eine erschöpfende Zusammenstellung der Texte ebd. 403–436. Zitiert nach O. Camponovo 1984: 425f. Vgl. H. Leroy 21989: 70f. J. Becker 1998: 36–83. J. Klausner 31952: 360f hat die Meinung vertreten, daß Jesus ursprünglich als »Gleichnisredner« bezeichnet wurde und daraus die christliche Interpretation gemacht habe, daß er »mit Macht lehrte«. Dies sei dadurch leicht möglich gewesen, da das hebräische Verb »mašal« als Partizip einen meint, der Bildreden vorträgt (im Alten Testament nur als Partizip Plural belegt) und ebenso einen meint, der machtvoll redet. Ich denke, daß diese Auffassung nicht zutreffend ist. Es gibt keinen Beleg im Hebräischen, daß mit dem Partizip von »mašal« einer gemeint sein kann, der »mit Macht redet«, sondern nur einen, »der Macht hat« (vgl. W. Gesenius 171962: 469f). In Mk 1,22 heißt es: h™n ga»r dida¿skwn aujtou\ß w˚ß e˙xousi÷an e¶cwn kai« oujc w˚ß oi˚ grammatei√ß (»denn er war sie lehrend wie ein Machthabender und nicht wie die Schriftgelehrten«). w˚ß mit Partizip gibt den subjektiven Eindruck wieder (R. Reiser 2010a: 45 Anm. 5). e˙xousi÷an e¶cwn (ein Machthabender) kann das Hebräische Partizip lvwm im Sinne eines »mit Macht Redenden« nicht als Voraussetzung haben, da kein derartiger Beleg eines solchen Sprachgebrauchs vorliegt. Aus dem Bildredner Jesu kann daher nicht durch eine sprachliche Interpretation der Jesus geworden sein, der »[...] sie lehrt, wie einer, der Macht hat [...].« Die sprachliche Variante: »[...] sie lehrt, wie ein Bildredner und nicht wie die Schriftgelehrten« schlösse noch dazu aus, daß die Schriftgelehrten jemals Gleichnisse und Bildreden verwendet haben. Schon bei Tannaiten und Amoräern spielt die Bildrede eine bedeutende Rolle (Str–B I: 654f). Zur Zeit Jesu war die Belehrung des Volkes durch die Schriftauslegung bestimmt; Rabban Hillel wird ein Gleichnis zugeschrieben (Str–B I: 654f). Als einer der berühmtesten Gleichnisredner galt Rabbi Meir (um 150 n. Chr.), von dem es heißt (jSanhedrin 38b), daß er bei einem Lehrvortrag ein Drittel die halachische Überlieferung, ein Drittel die haggadische und ein weiteres Drittel Gleichnisse lehrte. Vgl. C. A. Evans 1995c: 251–297. Ziza÷rion (Tollkorn) ist eine Grasart (Lolium temulentum), die bis 60 cm hoch werden kann und grauschwarze Körner hervorbringt (vgl. Str–B I: 667; H. G. Liddell/R. Scott 1973: 756). R. Bultmann 51964: 19. H.–W. Kuhn 1966: 204. Vgl. H. Weder 1993. Bei den vorislamischen Arabern spielen diese Geister eine besondere Rolle (vgl. W. R. Smith 1967: 84–87. Über die Ğinn–Vorstellung im Islam vgl. K. Jaroš II 1997: 124–126. Wenn nun der heutige Mensch mit den Exorzismen des Neuen Testamentes konfrontiert wird, so ist es wichtig, daß ihm bewußt ist, daß diese biblische Sicht in dem einen Aspekt, daß Dämonen Krankheiten etc. verursachen, mit seiner eigenen, naturwissenschaftlich geprägten nicht konform ist. Der Mensch der Zeit Jesu führte physische und psychische Krankheiten auf das Wirken böser Geister zurück, weil er sie rational nicht erklären konnte. So ist der Exorzist,

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Heiler und »Arzt« Jesus einer, der Krankheiten (Dämonen) überwindet. Das ist nur ein Aspekt. Es wäre schizophren, wollte man heute an dämonischer Besessenheit festhalten, obwohl sich das antike Weltbild in diesem Punkt als höchst unzulänglich erwiesen hat. Kein Kranker, auch wenn er ein fanatischer Konservativer ist, wird heute einen Exorzisten aufsuchen, um sich heilen zu lassen, sondern einen Arzt. Damit kündigt er jedoch bereits unbewußt sein Weltbild auf, an das er glaubt! Wenn er konsequent genug wäre, dann müßte er einen Exorzisten aufsuchen, da nach seinem Weltbild nur ein solcher heilen (von Krankheiten/Dämonen) könnte. Bezogen auf eine solche Situation hat der amerikanische Theologe Ronald Modras schon vor Jahren überspitzt formuliert: »If there are demons to be exorcised in the Church, their twin names are dogmatism and fundamentalism.« (R. Modras 1977: 71–75). Aber es gibt noch einen anderen, viel wichtigeren Aspekt. Dämonen als Heerscharen Satans, d. h. weitere Hypostasen, ohne Individualität (im heutigen Sinn) seiende Mächtigkeiten des Bösen, sind nicht einfach Verursacher von Krankheiten etc., sondern eine den Menschen in seiner Beziehung zum Mitmenschen und zu Gott vernichtende Kraft. Wenn in diesem Bereich bis heute die Kirchen oder auch andere Religionen wie das Judentum und der Islam als letztes Mittel den Exorzismus praktizieren, so ist das kein archaisches Ritual, sondern der Versuch, die gottgewollte Integrität eines Menschen wiederherzustellen, ihn von der Mächtigkeit des Bösen zu befreien. Zu dieser Leseart vgl. U. Victor 2007: Zur Stelle. Exorzistische Züge enthalten auch Mk 4,35–41 und Luk 4,38f; 13,10–17. Summarische Erwähnungen finden sich z. B. Mk 1,32–34.39; 3,7–12; Mk 16,9 und Luk 8,2 sprechen davon, daß auch an Maria von Magdala ein Exorzismus vollzogen wurde. Vgl. K. Jaroš/U. Victor 2010: 177–180. Einige Handschriften lesen in Mk 5,1 und Luk 6,26 Gerasa, das jedoch 55 km südöstlich des Sees Gennezareth liegt und daher schon aus diesem Grund ausscheidet. Zur textkritischen Begründung von Gadara siehe U. Victor 2006 zur Stelle. Origenes (PG 14: 272; Eusebius Onomastikon 74,13–15) lokalisierte das Geschehen in Kursi/Gergesa am Ostufer des Sees Gennezareth ca. 15 km nördlich von Gerasa. Die ursprünglich wahrscheinlichste Leseart ist jedoch Gadara, das auch einen Hafen am See hatte, was bedingt, daß das Gebiet dieser Dekapolisstadt an den See reichte. R. Pesch 1972 hat sich ausführlich mit dieser Perikope beschäftigt und sie im Rahmen der Annahmen der Zwei-Quellen-Hypothese gedeutet. Die Rekonstruktion eines vormarkinischen Textes (41–44) ist höchst unsicher und setzt letztlich voraus, daß die Evangelien im Sinne der Form– und Redaktionsgeschichte entstanden sind, eine Annahme, die jedoch unhaltbar ist. Vgl. R. Pesch 1972: 37–39. Vgl. K. Jaroš/ U. Victor 2010: 337–343.381–391.401. Übersetzung nach R. Heiligenthal 1994: 65. Vgl. D. Wachsmuth, Der Kleine Pauly V: 1395–1398. K. Jaroš/U. Victor 2011: 82–88. Vgl. C. A. Evans 1995a: 213–243. Vgl. I. Broer 1992: 61–104. K. Schubert 1973: 66. Vgl. K. Jaroš 1995: 33–40. Vgl. O. Keel 1972a: 233. Die griechische Präposition kann in diesem Sinn übersetzt werden (vgl. W. Bauer 61988: 579 mit Belegen aus der profanen Literatur und der Septuaginta). Vgl. S. Schulz 1974: 97–100. K. Berger 2010: 39–41. Vgl. S. Schulz 1974: 104. K. Berger 2010: 86: »Bei dieser totalen Hingabe wird aber die Gegensätzlichkeit von Person und Sache aufgehoben. Wenn Jesus in Person sich ganz für die Menschen ‚gibt‘, wird die liebende Zuneigung zur Liebesgabe selbst. [...] Dass es so sein kann, ist das Geheimnis einer ‚göttlich‘ zu nennenden Liebe. Denn nur Gott kann so radikal lieben, ohne deshalb aufgelöst zu werden.«

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Vgl. S. Schulz 1974: 45. K. Berger 2010: 108–115. W. Eisele 2009: 1–28 zeigt in einer interessanten Studie, daß in dieser Perikope die Souveränität Jesu über den heidnischen Gott des Weines gezeigt wird. Die Ansicht war in Israel weit und lange verbreitet, daß der Tote in der Scheol, ein Schattendasein fristen muß (vgl. K. Jaroš 1978: 219–231). Von diesem Ort gibt es kein Entrinnen mehr (Ps 49,12). In sadduzäisch-priesterlichen Kreisen war diese Meinung noch zur Zeit Jesu vorherrschend. Andere Gruppen wie die Pharisäer haben mit ihrer Auferstehungshoffnung diese archaische Vorstellung überwunden und konnten daher von einem »Schlaf« des Toten sprechen. K. H. Rengstorf 1974: 97. S. Schulz 1974: 158. S. Schulz 1974: 161. Zur theologischen Deutung siehe K. Berger 2010: 100–107. E. P. Sanders 1996: 252f. E. P. Sanders 1996: 287. Vgl. J. Dantine 1994: 141–152. Vgl. K. Schubert 1973: 105f. Str–B I: 191 bemerken treffend: »Ein solcher Makarismus wäre im Munde der pharisäisch gerichteten Schriftgelehrten geradezu ein Unding: Sie haben in der Armut im Geist nie ein Quelle des Segens, wohl aber die Wurzel allen Übels gesehen.« Vgl. dazu M. Reiser 2010b: 499–505. Siehe die meditative Auslegung von J. Ratzinger/Benedikt XVI. 22007: 106–109. Die Herkunft des Wortes »Mammon« ist nicht eindeutig geklärt. Überzeugend ist jedoch die Ableitung vom Aramäischen Nwmam (Geld), die G. Dalman 21927/ 1960: 170 § 32,4 vorschlägt. Schwierig ist der Satz Luk 16,9 zu verstehen: »Macht euch Freunde aus dem Mammon der Ungerechtigkeit«. Klar ist, daß hier Mammon als Gesamtbesitz, als Kapital, an dem Unrecht haftet, gemeint ist (vgl. Hen 63,10). Die Freunde, die man sich aus dem ungerechten Mammon machen soll, sind nichts anderes als die guten Werke und Almosen. »Sie machen den Menschen würdig, Gottes Angesicht zu schauen; sie bewahren vor dem Gehinnom und geben Teil an der zukünftigen Welt.« (Str–B II: 220f) Diese Auslegung stützt jedenfalls der folgende Finalsatz: »damit man ( = Gott) euch aufnimmt in die ewigen Wohnungen [...] «, dessen Subjekt sich nicht auf »Freunde« bezieht, sondern eine Umschreibung für Gott ist. Die meisten Handschriften lesen ka÷mhloß (Kamel, Dromedar), einige jedoch kami÷loß (Ankertau). Die erste Leseart ist aus textkritischen Gründen vorzuziehen, da die zweite das Unerklärliche schon zu interpretieren versucht. Vgl. K. Jaroš 1979: 106f. Vgl. E. P. Sanders 1996: 338–342. So bittet in der Bildrede vom verlorenen Sohn (Luk 15,11–32) der sündig gewordene Sohn seinen Vater um Vergebung und wird mit Freuden und in allen Ehren in die Hausgemeinschaft aufgenommen. Auch das Beispiel vom Pharisäer und vom Zöllner (Luk 18,9–14) zeigt klar, daß der Sünder zur Umkehr des Herzens bereit sein muß, wenn er als Gerechter nach Hause gehen möchte. Ganz grundsätzlich verkündet Mk 1,14f (Matth 4,12.17; Luk 4,14f) in zusammenfassender Vorwegnahme der Botschaft Jesu: »Die Zeit ist erfüllt, die Basileia Gottes ist nahe. Ändert euren Sinn, und glaubt an das Evangelium!« F. M. Dostojewski I 1975: 295 hat sehr tiefsinnig formuliert: »Du stiegst nicht herab vom Kreuze, als man dir mit Spott und Hohn zurief: ‚Steige herab vom Kreuze, und wir werden glauben, daß du Gottes Sohn bist!‘ Du aber stiegst nicht herab, weil du wiederum den Menschen nicht zum Sklaven machen wolltest, weil dich nach freiwilliger und nicht nach durch Wunder erzwungener Liebe verlangte. Dich dürstete nach der Liebe freier Menschen, nicht nach knechtlichem Entzücken vor der Macht, die dem Sklaven ein für allemal Furcht eingeflößt hat.« Die griechische Wendung, die Lukas hier gebraucht, entspricht exakt dem rabbinischen Ausdruck hafwj ryobv hva (eine Frau in der Stadt, eine Sünderin). Das Verbum afj bezeichnet allgemein »sündigen, fehlen und übertreten« (vgl. J. Levi II 1963: 36f) und ist daher kein Terminus technicus für »huren« (vgl. hnz bei J. Levy I 1963: 545). Str–B II: 162 kann nur eine Stelle des Jeru-

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salemer Talmud nachweisen, in der dieses Verb indirekt in der Bedeutung »huren« vorkommt. Eine Frau will sich der Sünde (Prostitution) hingeben, um ihren Mann, der in Gefangenschaft ist, loskaufen zu können. Ein Eselstreiber verkauft jedoch seinen Esel und schenkt den Erlös dieser Frau, damit sie das Lösegeld hat. Lukas hat daher mit aller Sorgfalt die Bezeichnung »Sünderin« in einem allgemeinen Sinn wiedergegeben. Wollte er ausdrücken, daß es sich um eine Hure gehandelt hätte, dann hätte er das griechische Nomen po÷rnh wie 15,30 verwendet! Dieses Wort kommt überhaupt nur Matth 21,31f und Luk 15,30 vor (Vgl. E. Rau 1998: 5–29). Vgl. K. Jaroš/U. Victor 2010: 101–105. Jesus hat z. B. nicht wie einer der großen jüdischen Führer des ersten Aufstandes gegen Rom, Simon bar Giora, sofort die Freiheit für alle Sklaven verfügt. »Die halakhischen Midraschim Mekhiltha Siphra und Siphre erklären übereinstimmend u. ausdrücklich, daß die Nichtisraeliten (mit Einschluß des Ger Toschab u. der Samaritaner) nicht unter den Begriff ‚Nächster‘ fallen.« (Str–B I: 357). bSchabbat 31a. Zu Hillel und zur Goldenen Regel siehe die differenzierte Beurteilung durch H. Graetz 51905/1998: 206–211. Vgl. W. Baumgartner II 1974: 458. J. Levi II 1963: 343f. D. Flusser 1971: 69. D. Flusser 1971: 80. Vgl. K. G. Kuhn ThWNT I: 570–573. H. Bietenhard ThWNT V: 267–269. Typisch rabbinische Gottesbezeichnungen sind: »der Heilige, gepriesen sei er«, »Herr der Welt«, »König der Könige der Könige«, »der Ort« (so schon die Septuaginta in Ex 24,10; vgl. K. G. Kuhn ThWNT III: 93–95), »Gewura« (Kraft, Stärke), »Schechina«. Vgl. J. Levy I 1963: 297; IV 1965: 554. Vorgeschrieben war nur die rituelle Reinigung der Hände nach einer Mahlzeit. So heißt es tBerakot V 13: »Das Händewaschen vor der Mahlzeit ist Sache des freien Beliebens, aber das Wasser nach der Mahlzeit ist Pflicht.« (vgl. Str–B I: 696–698). D. Flusser 1971: 44f. Vgl. Str–B I: 587. In diesem Zusammenhang kann auch auf ein interessantes Beispiel aus dem Koran hingewiesen werden, wo das Gebot der Elternliebe dann als aufgehoben gilt, wenn Eltern ihre Kinder vom wahren Gott abbringen wollen (Sure 29,8–9 ;31,14–15). Am Beispiel Abrahams demonstriert Sure 19,41ff, daß die Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn um den Glauben an den EINEN Gott dem Vater Abrahams das Recht auf die Sohnesliebe verwirkt. Auch darin spiegelt sich die Situation, in der die junge islamische Gemeinschaft stand und wo die Meinungsverschiedenheiten quer durch die mekkanischen Familien gegangen sind (vgl. K. Jaroš IV 1997: 109f. 173). Die Aussprüche Matth 5,21–48 werden als Antithesen bezeichnet. Jesus verwesentlicht durch seine Autorität als der göttliche Gottessohn das Gesetz: »Ich aber sage euch [...]«. Lynchjustiz und Volksjustiz ist von diesen ordentlichen Gerichten zu unterscheiden. Daß es Lynchjustiz etc. gegeben hat, ist unbestreitbar (vgl. Apg 7,54–8,1a). Laut Ex 21,12–14 steht die Todesstrafe nicht auf Tötung, sondern auf Mord, also vorsätzliche Tötung. Dieses Gesetz ist natürlich ein Widerspruch zu Gen 4, der Geschichte von Kain und Abel, deren Grundaussage es ist, daß auch ein Mörder wegen seiner Bluttat nicht getötet werden darf. Grundsätzlich, aber sehr vorsichtig äußert sich mSanhedrin IV 5 zu dieser Problematik: »Der Mensch wurde deshalb einzig erschaffen, um dich zu lehren, daß wenn jemand einen Menschen vernichtet, es ihm die Schrift anrechnet, als hätte er eine ganze Welt vernichtet, und wenn jemand einen Menschen erhält, es ihm die Schrift anrechnet, als hätte er eine ganze Welt erhalten.« Die islamische Überlieferung, die Sure 5,27–31 [4Md] ebenfalls die Geschichte von Kain und Abel wiedergibt – allerdings ohne die Namen zu nennen – leitet V 32 das Gesetz des Tötungsverbotes von den Juden ab, läßt allerdings dieselben Ausnahmen zu, die Ex 21,12–14 und mSanhedrin IV 5 nennen, teils mit gleichen Worten wie die Mischna: »Aus diesem Grund haben wir den Kindern Israels verordnet, daß wer einen Menschen ermordet, ohne daß dieser einen Mord oder eine Gewalttat im Lande begangen hat, soll sein wie einer, der die ganze Menschheit ermordet hat. Und wer einen am

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Leben erhält, soll sein, als hätte er die ganze Menschheit am Leben erhalten.« (vgl. zum Ganzen auch K. Jaroš IV 1997: 66f). Eine Benachteiligung der Frau wird mSanhedrin XI 1 aber ausdrücklich ausgeschlossen. Sowohl die Ehebrecherin als auch der Ehebrecher sind zu erdrosseln! Es ist zu unterscheiden: Wenn ein Gerichtshof zur Zeit Jesu z. B. den Ehebruch als erwiesen konstatiert hat – falls solche Fälle überhaupt vor das Gericht kamen –, durfte das Urteil nicht exekutiert werden (vgl. oben). Davon zu unterscheiden ist die für alle Behörden, seien es römische, herodianische oder jüdische, unkontrollierbare Volksjustiz. Von einem solchen Fall berichtet Joh 8,3–11: Eine Frau, die direkt beim Ehebruch ertappt wurde, wird zu Jesus gezerrt. Unter Berufung auf Dtn 22,23–27 wird ihre Steinigung verlangt. Dtn 22,22 verlangt den Tod der beiden verheirateten Ehebrecher, ohne die Hinrichtungsart anzugeben. Wie vorher erwähnt, setzten die Rabbinen die Erdrosselung fest. Für eine Verlobte und ihren Verführer gibt jedoch Dtn 22,24 die Steinigung als Strafe an. Daraus ist zu schließen, daß es sich bei der Frau von Joh 8,3 um eine Verlobte, d. h. eine Verheiratete gehandelt hat. Mit der entwaffnenden Antwort Jesu: »Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie.« (V 7) hat wohl niemand gerechnet. Jesus schützt also die Sünderin vor einer letztlich unkontrollierbaren Anschuldigung, heißt deswegen jedoch ihr Handeln nicht gut, sondern fordert sie ausdrücklich auf, nicht mehr zu sündigen! Das will nicht heißen, daß es auch andere Stimmen gegeben hat (vgl. Str–B I: 312). Paulus beruft sich 1 Kor 7,10f ausdrücklich auf ein Wort Jesu: »Den Verheirateten gebiete nicht ich, sondern der Herr: Die Frau soll sich vom Mann nicht trennen. Wenn sie sich aber trennt, so bleibe sie unverheiratet oder versöhne sich wieder mit dem Mann – und der Mann darf die Frau nicht verstoßen.« Die Unterscheidung, die Paulus hier trifft, ist wesentlich. Es ist nicht seine Meinung und nicht sein Wort, das er hier der Gemeinde von Korinth mitteilt. Schon im folgenden V 12 weist er darauf hin, daß das, was nun folgt, nicht von Jesus stammt, sondern von ihm! Die Aussage bezüglich der Scheidung ist klar. Nach dem Wort Jesu gibt es eine solche nicht und Paulus läßt auch keine Ausnahme im Sinne der matthäischen Klausel gelten. Vgl. C. Westermann 1974: 221. Vgl. O. Keel/M. Küchler II 1971: 72f. Jesus läßt allerdings nur drei Fälle gelten, die eine Ehe a priori unmöglich machen: Menschen, die von Geburt an impotent sind, und zwar im Sinne der impotentia coeundi, Menschen, denen durch andere (oder sich selbst) die potentia coeundi genommen wurde (Eunuchen) und Menschen, die um der Basileia willen auf die Ehe verzichten. Von Rabbi Ben Azzai (um 110 n. Chr.) wird berichtet, daß er um der Thora willen unverheiratet geblieben ist (vgl. Str–B I: 807). Die Ehelosigkeit um der Basileia willen fordert Jesus aber nicht einmal für die, die ihm unmittelbar folgen (»Wer das erfassen kann, der erfasse es«). Diese freiwillige Ehelosigkeit ist auch nicht ein Prinzip oder Gesetz der schon angebrochenen Basileia, sondern eine Art Charakteristikum bestimmter Menschen der Königsherrschaft Gottes. Sie nehmen daher mit ihrer freiwilligen Ehelosigkeit die neue Lebensform der göttlichen Herrschaft, die sich in dieser bestehenden Welt vollzieht, nicht vorweg. Sie sind aber mit ihrer Lebensform ein Zeichen für die Vollendung des Menschen in Gott, wo es keine Ehe mehr geben wird (vgl. Matth 22,30). Das christliche Mönchtum konnte sich von jeher auf diese Stelle beziehen, weil es hierbei u. a. um ein Leben in freiwillig übernommener Ehelosigkeit geht. Daß das kirchliche Zölibatsgesetz davon nicht abgeleitet werden kann, sogar einen regelrechten Bruch mit Jesu Auffassung von der Ehe darstellt, ist heute Gemeingut der exegetischen Forschung und bedarf keiner näheren Erläuterung. Wenn offizielle Organe der katholischen Kirche dies noch immer anders sehen (vgl. z. B. das Direktorium für Dienst und Leben der Priester Nr. 57ff), entspricht dies nicht der Lehre Jesu! Es sei in diesem Zusammenhang nochmals betont, daß Gruppen der Qumranessener aus Gründen der kultischen Reinheit auf die Ehe verzichtet haben und diese Motivation mit der von Jesus angesprochenen nichts zu tun hat!

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Ein Überdenken kirchlicher Eidpraktiken wäre angesichts dieses neutestamentlichen Befundes höchst wünschenswert! Denn wie kann eine kirchliche Institution von ihren Priestern und Theologen fortlaufend Eide verlangen, wo doch der, auf den sie sich beruft, das Schwören eindeutig untersagt hat! Man hat sich offenbar an die Meinung von Rabbi Elazar (um 270 n. Chr.) gehalten, der meinte daß ein »Ja« und ein »Nein« bereits Schwüre seien (vgl. Str–B I: 336) und so doch ein Hintertürchen offen sei, das den Eid hereinläßt. Die Formulierung Jesu ist jedoch weit von einer solchen, wie sie Rabbi Elazar wählte, entfernt. Wenn Jesus das »Ja« und das »Nein« als Schwur gemeint hätte, würde er sich noch dazu selbst widersprechen (V 34). Keine noch so spitzfindige und sophistische Exegese kann das Verbot Jesu hier ins Gegenteil verkehren. Vgl. E. P. Sanders 1996: 348. D. E. Aune 1992: 404–422. Vgl. K. Jaroš 1995: 109–111. Die Aussage kann sich natürlich nur auf das menschliche Wissen Jesu beziehen. Matth 24,36 läßt den Satz weg, um möglichen Mißverständnissen zuvorzukommen. Vgl. K. Jaroš/U. Victor 2010: 95–101.215f.266f. Der Text in seiner masoretischen Fassung lautet: »Als Eljon die Völker verteilte, als er die Menschen aussonderte, da legte er die Grenzen der Völker fest nach der Zahl der Söhne Israels. Da ward JHWHs Anteil sein Volk, Jakob sein Losanteil.« Die ursprüngliche Leseart »Söhne Gottes« ist noch in der Septuaginta, Vetus Latina (Itala) und in der griechischen Übersetzung des Symmachus erhalten geblieben (vgl. J.–D. Barthélemy 1962: 295–303). In dieser ursprünglichen Fassung ist noch deutlich, daß JHWH als ein »Gottessohn« dem Höchsten Gott (Eljon) untergeordnet verstanden wurde (vgl. K. Jaroš 1995: 28–31), ein für das spätere Judentum und die rabbinischen Gelehrten unvollziehbarer Gedanke (vgl. auch den Kommentar von Raschi – S. Bamberger 1962: 523 – zu dieser Stelle), so daß man den Text auf »Söhne Israels« hin veränderte. A. Schenker 1991: 21; vgl. 51 und 121f. Vgl. J. Ratzinger/Benedikt XVI. 61990/ 2007: 159. Ders. 2011: 39–68. Vgl. W. Bauer 61988: 1272. A. Oepke ThWNT V: 856–868. Zur Bedeutung im Alten Testament vgl. D. N. Freedman/J. Lundbom ThWAT II: 181–194. J. Pederson I–II 1973: 490. Im nachbiblischen Hebräisch wird der Ausdruck schon in umfassendem Sinn verstanden (vgl. F. Büchsel ThWNT I 661). Vgl. zum Ganzen K. Jaroš 2008b: 65–956.138–150. Vgl. G. Dalman 21930/1965: 150–155. Der zweite Petrusbrief ist keine pseudepigraphische Schrift. Vgl. K. Jaroš 2008a: 178–182. Vgl. E. Meyer I 1923: 153. R. Schnackenburg II 1971: 69f. J. Ratzinger/Benedikt XVI. 22007: 405. Weitere Belege bei C. Colpe ThWNT XIII: 481. Vgl. C. Colpe ThWNT XIII: 403–481; H. Haag ThWAT I: 682–689. A. Vögtle NBL II: 766–772. Vgl. G. Dalman 21930/1965: 196. Vgl. H. Haag ThWAT I: 688. G. Dalman 21930/1965: 210. In den Bildreden des äthiopischen Henochbuches 37–71 wird ein menschen- und engelähnliches Wesen als Menschensohn bezeichnet. Dieser Menschensohn lebte allerdings nie auf Erden und ist ein äußerst geheimnisvolles Wesen. Mit Bezug auf Dan 7 wird 60,10 und 71,14 Henoch mit dieser Gestalt identifiziert. Vgl. A. Y. Collins 1990: 187–193. M. Hengel 1992: 114–118. Zum Messiasgeheimnis vgl. K. Berger 2010: 121–186. Zitiert nach G. Dalman 21930/1965: 152.

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Weitere Belege bei G. Dalman 21930/1965: 152–154. G. Schelbert 1981: 395–447. G. Vermes 1993b: 173–179. G. Schelbert 2011. 570 Vgl. J. Jeremias 1966. J. Ratzinger – Benedikt XVI. 2011: 183f 571 Vgl. G. Vermes 1993b: 183. G. Schelbert 2011. 572 Vgl. D. Flusser 1971: 92. So kann denn z. B. Str–B I: 606f zu diesen Versen kaum ein brauchbares Vergleichsmaterial finden. 573 Vgl. K. Jaroš/U. Victor 2010: 287–289. 574 Vgl. zum Vaterunser die Auslegung von E. Lohse 2009 und J. D. Crossan 2010. 575 Vgl. zur Rekonstruktion G. Dalman 21930/1965: 296–360. 576 Vgl. Str–B I: 419f. J. Klausner 31952: 537f zitiert ein altes Gebet, das Montag und Donnerstag beim Zurücklegen der Thorarolle in den Schrein gesprochen wird und mit der viermaligen Bitte beginnt: »Möge es dein Wille sein, unser Vater im Himmel«. Ein Anklang findet sich auch in dem Gebet des Rabbi Eliezer (um 90 n Chr.), das an einem gefährlichen Ort gesprochen werden sollte: »Tu deinen Willen im Himmel droben und gib ein ruhiges Gemüt denen, die dich fürchten auf Erden [...]« (Str–B I: 421f). 577 J. Klausner 31952: 538. 578 Str–B I: 422. Vgl. auch die vierte Benediktion: »Wie du uns geschieden hast, Herr, unser Gott, von allen Geschlechtern der Erde und von allen Völkern der Erde, so bewahre uns und errette uns von aller Sünde und Übertretung.« (G. Dalman 21930/1965: 352). 579 Vgl. G. Dalman 21930/1965: 352f. 580 S. Ben Chorin 51982: 97. 581 Vgl. zu den Kapiteln VI und VII die treffende und vorzügliche Darstellung von J. Ratzinger/ Benedikt XVI. 22007: 367–407. Schon nach dem markinischen Zeugnis ist die Wahrhaftigkeit in Jesus inkarniert, selbst in der Anrede Jesu durch seine Gegner (Mk 12,14f). Die Thematik nimmt Johannes auf (Joh 7,16–18; 14,6). »Er betont, daß die Wahrhaftigkeit Jesu christologisch begründet ist, da Wahrhaftigkeit im eigentlichen Sinn eine göttliche Eigenschaft ist. [...] Von daher ist es denkbar, ja konsequent gedacht, daß der unbedingt wahrhaftige, nur von Liebe geleitete Mensch zugleich Gott sein muß.« (M. Reiser 2010a: 56f). 582 Diese Einheit kommt auch in den Bezeichnungen zum Ausdruck; so spricht z. B. JosAnt XVIII 19 und Luk 22,1 vom Fest der ungesäuerten Brote, während Mk 14,1 die Bezeichnung Pesach wählt; vgl. E. P. Sanders 1996: 511 Anm. 39, wo weitere Belege zusammengestellt sind. 583 J. A. T. Robinson 1999: 162–164 legt z. B. die astronomische Rückrechnung zugrunde, nach der Freitag (14./15. Nisan) der 7. April des Jahres 30 n. Chr. war. Der Sonnenkalender von Qumran, nach dem der 14. Nisan immer auf den 3. Wochentag fiel (Dienstag) wurde auch in Betracht gezogen (vgl. z. B. A. Jaubert 1957; E. Ruckstuhl 1963; É. Nodet 2010: 348–369). Daß sich Jesus nach diesem Kalender gerichtet hätte, ist mehr als unwahrscheinlich. 584 So übersetzt schon die Septuaginta im pharisäischen Sinn, fügt jedoch eine Randglosse mit der wörtlichen Übersetzung bei (Str–B II: 848). Für Philo von Alexandrien (De Septenario 20,21; so auch JosAnt III 250) ist es klar, daß die Erstlingsgarbe am Tag nach dem ersten Mazzottag (16. Nisan) darzubringen ist und daß von diesem Tag weg die Zählung der 50 Tage bis Pfingsten erfolgen muß. 585 Diese Lösung, die bereits J. Lichtenstein in seinem 1913 in Leipzig in hebräischer Sprache erschienenen Kommentar zum Matthäus-Evangelium, 122ff, vorgeschlagen hat und zuvor schon H. L. Strack in seinem 1911 in Leipzig erschienenen Kommentar zum Mischnatraktat Pesachim 10, erwähnt, wurde von Str–B II: 812–853 so gut begründet, daß es Wunder nimmt, daß es danach noch so viele unterschiedliche Untersuchungen zu dieser Frage gegeben hat. Eine verständliche Zusammenfassung des Problems in unserem Sinn bietet auch P. Gaechter 1963: 829f. Vgl. auch die Diskussionen um die Chronologie bei J. A. T. Robinson 1999: 153–164. J. Ratzinger – Benedikt XVI. 2011: 121–134 diskutiert das Problem eingehend und gibt der johanneischen Chronologie den Vorzug, was miteinschließt, daß das Abendmahl »kein Pascha-Mahl 569

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Anmerkungen 586 – 599

nach den rituellen Vorschriften des Judentums gewesen war. [...] Es war Jesu Pascha. Und in diesem Sinn hat er Pascha gefeiert und nicht gefeiert: Die alten Riten konnten nicht begangen werden; als ihre Stunde kam, war Jesus schon gestorben. Aber er hatte sich selbst gegeben und so wirklich gerade Pascha mit ihnen gefeiert. Das Alte war so nicht abgetan, sondern erst zu seinem vollen Sinn gebracht.« (134) Diese Deutung ist theologisch interessant, trifft aber auf die historische Situation kaum zu. Vgl. J. Klausner 31952: 429. Nur die Literatur, die sich ausdrücklich mit dem Gesetz und seiner Auslegung beschäftigte, berichtet über solche Dinge wie z. B. Philo, De specialibus legibus I 261–272 oder die rabbinische Literatur. Vgl. E. P. Sanders 1996: 364–368. Vgl. J. A. T. Robinson 1999: 135f. Daß er den Tempel seines Leibes meinte (Joh 2,21f) und dies die Jünger erst nach der Auferstehung verstanden haben, ist im tieferen Sinn die richtige johanneische Interpretation, eine allegorische Auslegung wie sie z. B. auch von Koh 9,14 bekannt ist (vgl. Str–B II: 412). Vgl. J. Klausner 31952: 433. Die Worte Jesu während dieser letzten Tage in Jerusalem haben sich sicherlich nicht nur auf zwei Gleichnisse und das Tempelzerstörungswort beschränkt. Sie sind aber für diese Zeit besonders typisch. Die Synoptiker bringen für diese Zeit durchaus reichliches Material, u. a. auch die Rede über die Endzeit. Ich denke aber, daß Johannes, der nach dem Einzug in Jerusalem bis zum Letzten Abendmahl nur ganz wenige Texte einschiebt (12,20–36.37–43 und 44–50) genauer die Situation trifft. Diese johanneischen Einschübe spiegeln jedoch derart die theologische Sicht des Evangelisten wider, daß sie der historische Jesus so nicht gesprochen haben wird, sie treffen aber inhaltlich exakt die historische Lage: es geht in diesen letzten Tagen um die Entscheidung für oder gegen Jesus, auch wenn der Apostel dieses Thema von seinem österlichen Glauben her entfaltet. Zu einer umfassenden Sicht vgl. C. Niemand 2007. Die problematische Lage, in der sich Jesus befunden hat, drückt das Gleichnis von den Winzern (Mk 12,1–12 parr.) aus, wenn es V 7 heißt, daß die Winzer zueinander sagten: »Das ist der Erbe. Auf, wir wollen ihn töten, dann geht sein Erbgut an uns.« Jesus mußte sich klar darüber sein, daß nach einem derartigen Frontalangriff auf die Führungsspitze sein Leben verwirkt war. Vgl. O. Keel 1972b: 414–434. Zum vormosaischen Pesach vgl. J. Henninger 1975. Die gewöhnliche Elle mißt etwa 44–45 cm, die königliche Elle etwa 52–53 cm (vgl. K. Jaroš NBL II: 731). Der Segen lautete: »Gepriesen seist du, JHWH unser Gott, König der Welt, der die Frucht des Weinstocks geschaffen.« (Str–B IV 1: 62). Nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n. Chr. gab es diesen Ritus in der Form nicht mehr, da das Pesachlamm ja im Tempel geschlachtet und die Mahlzeit innerhalb Jerusalems eingenommen werden mußte. Alles andere blieb aber und wurde weiter ausgestaltet. Nur die Samaritaner, die bedingt durch ihre religiöse Trennung vom Judentum, eine priesterliche Struktur beibehalten haben, feiern noch das »alte Pesach« bis in unsere Zeit. Sie schlachten das Pesachlamm an einer bestimmten Stelle in der Nähe des Hauptgipfels ihres heiligen Berges Garizim (vgl. K. Jaroš/B. Deckert 1977: 46–51). Das zeigen auch die Diskussionen der Schulen Schammais und Hillels über einzelne Punkte, welcher Segen z. B. über den ersten Becher zuerst gesprochen werden müsse, der des Weines oder der des Festtages etc. Über den Verrat des Judas gibt es viele Spekulationen. Die Quellen sind äußerst zurückhaltend. Luk 22,3 und Joh 13,27 sehen den Verrat nicht von Judas selber her kommend, sondern vom Satan, der in ihn gefahren ist. Aus Joh 12,6 ist zu erfahren, daß Judas ein Dieb sei, der Gelder der gemeinsamen Kasse veruntreue. Etwas phantasievoll gestaltet J. Klausner 31952: 446–448 seine Ausführungen über Judas.

Anmerkungen 600 – 615

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In diesem Sinn kommt der Begriff auch jSanhedrin 6 vor. Vgl. K. Jaroš 21994: 81. 602 Es ist ein unberechtigter Vorwurf, auch wenn er oft erhoben wird, daß die christlichen Generationen nach Jesus aus dem Abendmahlgeschehen eine Sakramententheologie entwickelt haben; denn das semitische und daher auch das damalige jüdische Denken war zutiefst symbolisch, sakramental geprägt. Das ist nur dann nicht zu erkennen, wenn ein heutiges, modernes Denksystem in das des Orients eingerastet wird. So genügt z. B. das Beherrschen der orientalischen Sprachen keineswegs, um die damaligen Menschen auch nur ansatzweise zu verstehen. Es ist notwendig, das Symbolsystem zu erforschen, auf dem diese Sprachen basieren und das sie ausdrücken. Nicht zuletzt zeigt sich hier auch das Dilemma einer rein philologisch ausgerichteten »Erforschung« der alten Kulturen. 603 Die Episode mit Petrus (Joh 13,6–10), der sich zuerst weigert, sich von Jesus die Füße waschen zu lassen, wirkt so echt, daß sie kaum erfunden sein kann, zeigt sie doch in gewisser Weise einen »geistigen Tollpatsch«, der als einziger den symbolischen Gestus nicht versteht. Zur theologischen Auslegung vgl. J. Ratzinger – Benedikt XVI. 2011: 69–92. 604 Markus und Matthäus lassen erkennen, daß Jesus einen einzigen Kelch für die Pesachfeier verwendete und die Teilnehmer daher keine Becher hatten, wie dies später im Judentum üblich war (vgl. Str–B IV 1: 58.76). 605 Vgl. E. Stauffer ThWNT I: 140. 606 Johannes erweckt den Anschein, als seien auch römische Soldaten bei der Verhaftung Jesu beteiligt gewesen (vgl. J. A. T. Robinson 1999: 248f). In der Tat verwendet Johannes (18,3.12) im Griechischen solche Termini, die im Lateinischen »Kohorte« und »Tribun« bedeuten. Ich halte es jedoch für höchst unwahrscheinlich, daß bei Jesu Verhaftung römische Truppen präsent waren. Johannes unterscheidet doch wohl nur sehr genau zwischen den Dienern des Hohenpriesters, den Gerichtsdienern und dem militärisch-polizeilichen Arm der Tempelbehörde, der mit griechischen Fachtermini bezeichnet wurde, die auch in der römischen Armee verwendet wurden. 607 Joh 18,10f berichtet zwar, daß Petrus das Schwert zog und dem Malchus das rechte Ohr abschlug, erweckt aber den Eindruck, daß die Schilderung dieses Details für ihn nicht von großer Bedeutung ist. Jesus tritt der Tempelpolizei völlig souverän gegenüber: er geht ihnen entgegen und fragt sie, wen sie suchen. Als er sich zu erkennen gibt, weichen sie zurück und stürzen zu Boden – erst jetzt greift Petrus mit dem Schwert ein. Der Evangelist beabsichtigt mit dieser Darstellung zu zeigen, daß sich Jesus freiwillig und völlig souverän seinen Häschern stellte, aber nach dem Willen des Vaters, der ihm diesen Kelch zu trinken gegeben hat (V 11): Jesu göttliche Souveränität entspricht dem Gehorsam gegenüber dem Vater. Die johanneische Darstellung ist daher trotz historisch interessanter Details auch eine gläubige Deutung. 608 Mk 14,51f erwähnt einen jungen Mann, der mit einem Leinentuch bekleidet, dem verhafteten Meister folgen wollte, sich seiner Festnahme aber nur entziehen konnte, indem er das Leinentuch fallen ließ und nackt davon lief. Die Szene ist kaum erfunden. Es ist unschwer zu erkennen, daß sich hier der Evangelist verewigt hat. Vgl. auch J. R. Porter 2007:116–119. 609 Zitiert nach G. Quell 1925/1967: 43. 610 Vgl. H. Leroy 21989: 106. 611 Vgl. K. Jaroš/U. Victor 2010: 128–134. 612 Vgl. F. J. Matera 1990: 38–55. 613 Vgl. J. T. A. Robinson 1999: 257f. 614 Vgl. die Widerlegung einer solchen Argumentation bei K. Schubert 1973: 145–152. 615 Die verschiedenen Argumente, daß der Hohe Rat in dieser Zeit keine Kapitalgerichtsbarkeit hatte, wurden bereits öfter e