Der Abenteurer und die Sängerin. Über Hugo von Hofmannsthal 9783851657012

„Das Biographische des Œuvre: der Verschwender-Typus, der Wahnsinnige, der Abenteurer, der Schwierige“ – so Hofmannsthal

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Der Abenteurer und die Sängerin. Über Hugo von Hofmannsthal
 9783851657012

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Marie Luise Wandruszka Der Abenteurer und ..die Sängerin Über Hugo von Hofmannsthal

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2617 .047 197 2005

Passagen Verlag

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„Das Biographische des CEuvre: der Verschwen¬ der-Typus, der Wahnsinnige, der Abenteurer, der Schwierige“ - so Hofmannsthal zu seinem Werk. Diese Typen - zu denen auch der be¬ rühmte verstummende Lord und der Dich¬ ter, der seine Sprache an das Opfer knüpft, gehören - sind Zeichen einer quälenden Su¬ che nach den Möglichkeiten männlichen Existierens. Die Frauengestalten brechen in die¬ se Welt mit einer ihnen ganz eigenen Ener¬ gie ein, doch Hofmannsthal hat sie sich natür¬ lich gesucht, im Leben wie in der Literatur. Sie sprengen die Dichotomien (Körper/Geist, Erinnern/Vergessen, Ethik/Ästhetik), auf die sich die Männer fixieren, und ermöglichen eine Sprache, die Mystik und Galanterie zu verbinden weiß und die Barbarei des Opfers hinter sich läßt. Marie Luise Wandruszka lehrt Germanistik an der Universität Bologna. Zahlreiche Publi¬ kationen zur deutschen und österreichischen Literatur.

DER ABENTEURER UND DIE SÄNGERIN PASSAGEN LITERATURTHEORIE

Meiner Mutter, die mich Halbwüchsige in den Schwierigen mitnahm.

Marie Luise Wandruszka Der Abenteurer und die Sang Über Hugo von Hofmannsthal

Passagen Verlag

Deutsche Erstausgabe

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universität Bologna, des Bundes¬ ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Wien und des Magistrats der Stadt Wien, MA 7, Referat Wissenschafts- und Forschungsförderung.

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Alle Rechte Vorbehalten ISBN 3-85165-701-2 © 2005 by Passagen Verlag Ges. m. b. II., Wien Graphisches Konzept: Ecke Bonk Satz: Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien Gedruckt in der Europäischen Union

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

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Der Abenteurer und der melancholische Ästhet

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Der Schwierige

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Der verrückte Künstler, der Politiker, der Geschäftsmann

41

Der elisabethanische Lord und der Dichter

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Intermezzo: Mrs. Ramsay versus Lord Chandos

77

Die adlige Mondfrau

83

Das venezianische Edelfräulein

101

Die galante Dame aus dem 18. Jahrhundert

111

Die Sängerin

127

Anmerkungen

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Einleitung

Hugo von Hofmannsthal definiert in seinen autobiographischen Schriften den Abenteurer als eine Figur der Prä-Existenz. Die Prä-Existenz ist ein „glorreicher, aber gefährlicher Zustand“ (RA III, 599), dem Figuren ange¬ hören wie der Ästhet, der Weise, der Wahnsinnige und das Kind. Diese Figuren sind dazu fähig, sich wie ein Chamäleon in jedes Sein hineinzu¬ leben. Die „Gefährlichkeit“ ihres Zustands besteht in dessen Vorläufigkeit, in der Unmöglichkeit, Dauer zu etablieren, sich einen festen Platz in der Welt inmitten der Menschen zu erobern, sich eine Identität zu geben. Einige meinen - und der angesehenste unter ihnen ist gewiß der Dichter und Freund Stefan George - Hofmannsthal wäre „die schönste Gestalt der deutschen Literatur“1 geworden, wäre er nur früh gestorben, damals, als er noch unter dem Pseudonym „Loris“ mit seinen Gedichten Aufsehen er¬ regte. Aber Hofmannsthal überlebte seine Jugend und fuhr fort, in seiner Dichtung (und in seinem Leben) mit den verschiedenen Figuren der „PräExistenz“ und auch der „Existenz“ zu experimentieren. Die Existenz, die „Verknüpfung mit dem Leben“, kann sich - immer nach Hofmannsthals eigener Analyse seiner Werke - auf verschiedene Weise ver¬ wirklichen: durch das Opfer, durch die Tat, durch das Werk, durch das Kind. Um dieses Stadium zu erreichen, muß man die Schuld erfahren, die daher eine ihr eigene Würde besitzt - „die Süßigkeit der Verschuldung“ (RA III, 600) - als ein Zwischenstadium zwischen der „Prä-Existenz“ und dem „Leben“. „Das Biographische des (Euvre: der Verschwender-Typus, der Wahnsin¬ nige, der Abenteurer, der Schwierige“ (RA III, 620), diese typologische Kette, in welcher Hofmannsthal sich spiegelt, bestimmt die Struktur der vorlie¬ genden Arbeit. Im ersten Teil werden, ausgehend von dem strahlend-glück¬ lich scheinenden Abenteurer, die verschiedenen männlichen Typen mit ihren „Wegen“ analysiert: der melancholische Ästhet; der Schwierige, wel¬ cher letztlich im Hafen der Ehe anlegt, Kinder haben und sich somit in die

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Gesellschaft wird eingliedern können; der „verrückte

Künstler, der nui

seinem Werk lebt; der Politiker, der handeln möchte und scheitert; der Geschäftsmann, für den sich die Welt und ihre Reichtümer in Trugbilder verwandeln; der elisabethanische Lord, der zum Mystiker wird; der Dich¬ ter, der seine symbolische Welt an das Selbstopfer knüpft. Alle diese Figu¬ ren sind Zeichen einer quälenden Suche nach den Möglichkeiten männli¬ chen Existierens. Die Frauengestalten, denen der zweite Teil dieser Arbeit gewidmet ist, brechen in diese männlich-„konstruktivistische“ Welt mit einer ihnen ganz eigenen Energie ein, mit autonomer Kraft, wäre man geneigt zu sagen, wäre Hofmannsthal sie nicht „suchen“ gegangen, im Leben und in der Literatur. Im Briefwechsel mit den beiden adeligen Freundinnen Helene von Nostitz und Ottonie von Degenfeld finden wir in nuce die beiden weib¬ lichen Figuren, die in seinem Werk immer wieder auftauchen: die „adelige Mondfrau“ (Maria in Andreas oder die Vereinigten, die Prinzessin in der Unter¬ haltung über den „Tasso“ von Goethe, Helene in Der Schwierige . . .) und die

„galante Dame des 18. Jahrhunderts“ (Mariquita, Zustina und Nina im An¬ dreas, Antoinette im Schwierigen, die Marschallin im Rosenkavalier). Vittoria,

die Sängerin, die ein sehr heikles, paradoxes Gleichgewicht zwischen Ver¬ antwortung und Sinnlichkeit, Mystik und Galanterie zu halten versteht, ist vielleicht die mutigste Gestalt der so „unzeitgemäßen“ Vorstellungswelt Hugo von Hofmannsthals. Diese Frauengestalten haben nicht nur die therapeutische Funktion, der „Nachtseite“, der willentlich unterdrückten „phantasievollen Sinnlichkeit“ der Jugendzeit des Mannes, Sprache zu verleihen, wie der Autor explizit für Lucidor bestätigt. Sie dienen auch dazu, im Namen einer wiedergefun¬ denen Galanterie der Art des 18. Jahrhunderts das „Lustspiel“ zu ermögli¬ chen, eine Sprache wiederzufinden, welche die Barbarei des Opfers hinter sich zu lassen imstande ist. Es ist dieses trotz offensichtlicher Verfechtung einer patriarchalischen Ethik unbezähmbare Verlangen nach dem weibli¬ chen Wort, das die Dichtung Hofmannsthals auszeichnet. Dieses Verlan¬ gen nach einer weiblichen, über die Sprache vermittelten Autorität unter¬ läuft so den Zwist zwischen Sprache und Eros, auf dem die anderen Auto¬ ren der Wiener Moderne (Schnitzler, Kraus und Musil) ihre Bilder von Mann und Frau aufbauen. Hofmannsthals Aktualität liegt in diesem Ver¬ langen begründet. März 1988

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Zitiert wird nach: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, hg. von Bernd SCHOELLER in Beratung mit Rudolf HIRSCH, Frankfurt/M. 1979. Ge¬ dichte und Dramen I, 1891-1898 (GD I); Dramen II, 1892-1905 (D II); Dramen III, 1893-1927 (D III); Dramen IV, Lustspiele (D IV); Dramen V, Operndichtungen

(D V); Dramen VI, Ballette - Pantomimen - Bearbeitungen - Übersetzungen (D VI); Erzählungen - Erfundene Gespräche und Briefe - Reisen (E); Reden und Aufsätze 1, 1891-1913 (RA I); Reden und Aufsätze II, 1914-1924 (RA II); Reden und Aufsätze III, 1925-1929 (RA III); und nach: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Frank¬

furt/M. Band XIV, Dramen 12, Timon der Redner, hg. von Jürgen F ACKERT, 1975 (KA XIV); Band XXVIII, Erzählungen I, hg. von Ellen RITTER, 1975 (KA XXVIII); Band XXX, Roman, Biographie, hg. von Manfred PAPE, 1982 (KA XXX).

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Der Abenteurer und der melancholische Ästhet

Im September des Jahres 1906, acht Jahre nach der Niederschrift der Ko¬ mödie Der Abenteurer und die Sängerin oder Die Geschenke des Lebens, notiert sich Hofmannsthal zu ihrem Helden: Die einzelnen Gestalten sind Traumgestalten - Wunscherfüllungen möge mein Alter bunt und leicht sein wie Weidenstamms möge meine Jugend mein Alter umgaukeln wie Cesarino den Baron. (KA XXVIII, 228)

Diese Anmerkung gehört zu den unter dem Titel Erinnerung schöner Tage zusammengefaßten venezianischen Impressionen. Hofmannsthal kehrt in das Venedig des Abenteurers Baron von Weidenstamm alias Casanova zu¬ rück. Eine Welt und eine Gestalt, die nicht aufgehört haben, ihn zu faszi¬ nieren, und mit denen er sich immer noch identifizieren kann, obwohl er inzwischen den Chandosbrief die klassischen Tragödien zu Elektra und Ödi¬ pus und vor allem Das gerettete Venedig geschrieben hat, eine von Thomas Otway inspirierte Tragödie, in der Venedig düster und unheilvoll erscheint. In diesen Impressionen ist dagegen Venedig wieder die Welt der Meta¬ morphosen und Masken, wo es keine festen Identitäten gibt, wo der ambi¬ valente Wunsch nach „Treue und Untreue“ (KA XXVIII, 69, Hervorhe¬ bung von mir, M.L.W.) realisierbar ist. Das Anfangszitat allein genügt schon, um die Sinnlosigkeit der so intensiv geführten Diskussion über Hofmanns¬ thals „Entwicklung“ und „Reifung“ aufzuweisen, eine Diskussion, die zu nichts führt, auch wenn der Autor immer wieder seine eigene „Entwick¬ lung“ erörtert. Der Abenteurer und seine Welt bleiben eben Wunscherfül¬ lungen auch für den „reifen“ Hofmannsthal.1 Eine Welt ohne Familie, ohne

Moral - die zwei Geschwister Katharina und Ferdinand, die in den Erinne¬ rungenden Erzähler nach Venedig begleiten, hießen in der ersten Fassung

Christiane und Franz wie die zwei älteren Kinder Hofmannsthals, die 1902 und 1903 geboren wurden. Die erotische Anziehung, die Katharina auf

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den Erzähler ausübt (dessen Alter verschwiegen wird) und die Abwesen¬ heit einer Mutterfigur lösen die Generationsunterschiede und damit auch die familiären Strukturen auf. Dasselbe geschieht auch in Der Abenteurer und die Sängerin, wo Vittoria sich für die Schwester ihres Sohnes Cesarino

ausgibt und ihren Liebhaber Weidenstamm für den einstigen Liebhaber ihrer Mutter. Doch was macht den Abenteurer zu einer Wunscherfüllung, zu einem großen Vorbild für seinen Autor? Beginnen wir mit dem entgegengesetzten männlichen Typus, der in der Hofmannsthalschen Produktion dieser Jahre stärker vertreten ist als der Abenteurer, der melancholische Ästhet, der auch in dieser Komödie auf¬ taucht. Denn dem Baron von Weidenstamm wird Venier entgegengesetzt, ein später Sproß einer alteingesessenen venezianischen Patrizierfamilie, Ehemann der Sängerin Vittoria, die in ihrer Jugend - aber dies darf Venier nie erfahren - eine der vielen Geliebten Weidenstamms gewesen ist. Venier ist in allem das Gegenteil vom Abenteurer. Er hat eine melancho¬ lische Jugend erlebt (von Weidenstamms Jugend erfahren wir nichts), er spricht davon mit seinem Onkel (Weidenstamm ist weder Sohn noch Neffe, er kennt seinen Vater nicht): Ich war kein frohes Kind: du mußts doch wissen, wie leichtlich übermannt von Traurigkeit, wie schnell zu Tod erstarrt, wenn das Gemeine mit aufgerissenen Medusenaugen aus dem Gebüsch des Lebens auf mich sah. (GD I, 554)

Die Wirklichkeit wendet ihm ihre Medusenaugen zu, terrorisiert ihn. Veniers Traurigkeit als Kind hat denselben Ursprung wie die Melancholie anderer Figuren Hofmannsthals, Elis’ zum Beispiel, des Protagonisten des Dramas Das Bergwerk zu Falun, das zur selben Zeit entstanden ist: Die Dinge verlie¬

ren, sobald man sie kennt, ihren Zauber und werden häßlich. Dies betrifft natürlich vor allem das Ding, die Frau. Für den Bergmann Elis ist die Berg¬ königin die unerreichbare, die unerkennbare Frau. Die anderen Frauen dagegen werden in dem Moment, in dem Elis sie kennenlernt und besitzt, wertlos. Allein des Wunsches angespannte Sehne Zerriß, sobald das Ziel getroffen war, Und wie ein leerer finstrer Mantel sank Die liebliche Gestalt im Dunkel hin: Ich hatte dich, da warst du nicht mehr viel. (D II, 170)

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Die Frau ist nur Chiffre für den Wunschmechanismus, der alle Dinge, die ganze Wirklichkeit betrifft. Denn Elis fährt fort: Wie dich, so schüttle ich die ganze Welt Von meinem Fuß, und bin schon nicht mehr hier! (D II, 170)

Der junge Venier ist von dieser Krankheit durch Vittorias Erscheinen ge¬ heilt worden. Vittoria ist seine Bergkönigin, wie diese entzieht sich auch Vittoria der Inbesitznahme. Sie ist immer von einem Hauch von Geheimnis ungeben, was sie aber nicht verdunkelt, sondern hell erscheinen läßt, jene Fröhlichkeit ausstrahlend, die Venier mit ihrer Person verbindet: Du warst die einzige Wirklichkeit in meinem Leben, die Veste, auf der ich meine Welt auf baute - du beladen mit Geheimnissen, du, das Geschöpf eines Lebens, von dem ich nichts wußte! (GD I, 559)

Für Elis, für Venier, verwandelt der Besitz das begehrte Objekt in etwas Häßliches, Abscheuerregendes. Vielleicht liegt gerade darin der große Un¬ terschied zwischen den destruktiven Melancholikern und dem Abenteurer. Der Abenteurer besitzt nichts und genießt alles. Mit diesem Credo führt sich Weidenstamm bei Venier ein: Du bist Venezianer, ich bins zehnfach! Der Fischer hat sein Netz, und der Patrizier das rote Kleid und einen Stuhl im Rat, der Bettler seinen Sitz am Rand der Säule, die Tänzerin ihr Haus, der alte Doge den Ehering des Meeres, der Gefangne in seiner Zelle früh den salzigen Duft und blassen Widerschein der Purpursonne: ich schmecke alles dies mit einer Zunge! (GD I, 513)

In dieser Aufzählung entspricht jeder Person ein Gegenstand, der ihr ge¬ hört. Der Gefangene in den Bleikammern (der junge Weidenstamm-Casa¬ nova) „besitzt“ nur Empfindungen und Eindrücke, sonst besitzt er nichts. Das Genie des Abenteurers besteht nun darin, diese verschiedenen Besitz¬ tümer zu einem Genuß zu verbinden: „ich schmecke alles dies mit einer Zunge!“ Weidenstamm besitzt nur, was ihm das Glück beschert hat, und diese Reichtümer sind für ihn nur Genußmöglichkeiten. Da ihm nur der Zufall

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(das Spiel? die Dankbarkeit irgendeiner Dame?) seinen (flüchtigen) Reich¬ tum beschert hat, kann er ihn auch ganz unbekümmert ausgeben. Er ist ein Verschwender, ist großzügig mit jedermann, da er sich wie ein Chamäleon in alle Menschen einfühlen kann. So widerspricht er Venier, dem es unan¬ genehm ist, den Abend in der zwielichtigen Gesellschaft, die Weidenstamms Haus bevölkert, zu verbringen: Und du und ich dann ists die Arche Noah! Jeder Art ein Tier. Und daß so viele Arten sind, das macht die Welt so bunt. Wen möchtest du entbehren? Ich den tollen Neger nicht, der von der Riva taucht um einen Soldo und mit den Hunden sich ums Essen beißt, und nicht den goldnen Dogen, der an uns vorüberschwebt auf einer Purpurwolke und einem goldnen Schiff. (GD I, 518)

Da ihm nichts am Besitz liegt, kann der Abenteurer die Vielfalt der Welt ohne soziale Barrieren genießen. Er leidet nicht an jenen Ängsten der Melancholie2, die die „jungen Herren“ Hofmannsthals befallen: von Claudio in Der Tor und der Tod (1893) über den Kaufmannssohn im Märchen der 672. Nacht (1895) bis zu Andreas im unvollendeten Roman Andreas oder Die Verei¬ nigten (an dem Hofmannsthal sein ganzes Leben lang arbeitete).

Daß in der 1898 niedergeschriebenen Komödie der Figur des jungen Melancholikers der Abenteurer gegenübersteht, ist vielleicht Ursache für das ungewöhnliche Glücksgefühl, das die Entstehung dieses Werkes be¬ gleitet: „jener glücklichen 16 oder 17 Tage, in denen ich es dort (in Vene¬ dig, M.L.W.) plötzlich empfangen und niedergeschrieben habe, in der Zeit zwischen dem 23. September und dem 10. Oktober, ganz einsam und sehr glücklich.“3 Weidenstamms Leichtigkeit ist die Leichtigkeit seines Autors, der sich ganz allein in einem strahlenden und fröhlichen Venedig aufhält. Nichts bedrückt ihn, Wien ist weit weg, auch seine Familie, die ihn so äng¬ stigte (in den Briefen werden Unproduktivität und Kopfweh immer an das gesellschaftliche und familiäre Klima in Wien gebunden). Die jungen Herren der Werke dieser und späterer Perioden sind nämlich nicht nur reich, sondern auch die Hüter der von den Vorfahren akkumu¬ lierten Reichtümer (ein weiteres autobiographisches Motiv4). Der Kauf¬ mannssohn im Märchen der 672. Nacht, der sicherlich die radikalste und

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schrecklichste Variante der Figur des jungen Melancholikers darstellt, in¬ teressiert sich nur für die von seinem Vater gesammelten schönen und wert¬ vollen Gegenstände. Die Männer seiner gesellschaftlichen Schicht und auch die Frauen sind ihm gleichgültig. Er zieht sich von der Welt zurück, da „ihm an seinen Freunden nichts gelegen war und auch die Schönheit kei¬ ner einzigen Frau ihn so gefangennahm, daß er es sich als wünschenswert oder nur als erträglich vorgestellt hätte, sie immer um sich zu haben“ (E, 45). Er lebt immer einsamer, die einzigen Menschen, die er um sich akzep¬ tiert, sind ein alter Diener und drei Dienerinnen, „deren Anhänglichkeit und ganzes Wesen ihm lieb war“ (E, 45). Und gerade dieses lautlose Perso¬ nal wird er am Ende verfluchen - „verleugnete alles, was ihm lieb gewesen war“ (E, 62) -, während er mit zerbrochenen Lenden in einer öden Kaser¬ ne seinen Tod erwartet. Diese Erzählung, die Hofmannsthal „einen ins Märchen gehobenen Ge¬ richtstag das Ästhetismus“ (E, 666) nannte, hat verschiedenartige Interpre¬ tationen erfahren. Carlo Ferrucci zum Beispiel sieht die Diener als Personi¬ fikationen der Triebe, die gegen eine tödliche Sublimierung aufbegehren.5 Man kann dann diese psychische Sublimierung mit einer anderen verbin¬ den, der des Verhältnisses zwischen Herr und Knecht. Dazu genügt das schneidende Urteil Hans Mayers über Hofmannsthal: „eine Poetik des schlechten sozialen Gewissens.“6 Doch die einleuchtendste Interpretation, die ästhetische Aspekte mit psy¬ chologisch-sozialen verbindet, ist meines Erachtens die von Marlies Janz7, die ich in ihren Grundzügen nachzeichnen möchte. Marlies Janz zufolge besteht der Kern der Erzählung im Verhältnis des jungen Kaufmannssohns zu seinem Vater, ein Verhältnis, in dem Liebe, Irritation und Wiederho¬ lung eine ungute Verbindung eingehen. Der Kaufmannssohn zieht sich in sein mit schönen Objekten angefülltes Haus zurück. Alles, was er besitzt, besitzt er, weil er es vom Vater geerbt hat: „ein großes Erbe, das göttliche Werk aller Geschlechter“ (E, 46). In dieser Umgebung hat der Tod, an den der Kaufmannssohns oft denkt, nichts Grauenhaftes: „Er sagte: ,Wenn das Haus fertig ist, kommt der Tod‘, und sah jenen langsam herauf kommen über die von geflügelten Löwen getragene Brücke des Palastes, des ferti¬ gen Hauses, angefüllt mit der wundervollen Beute des Lebens“ (E, 46). Marlies Janz führt dazu aus: „Wenn der Tod kommt, so meint er am An¬ fang der Erzählung, wird sich seine wahre Identität als die eines Königs, der sich das Leben unterworfen hat und zur ,Beute“ gemacht hat, feierlich und prunkvoll zur Geltung bringen.“8

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Das Ichideal des Kaufmannssohnes entspricht dem Bild, das er sich von seinem toten Vater gemacht hat. Wenn er fürchtet, seinen Diener zu verlie¬ ren, begreift er zum ersten Mal, „was ihn als Knabe immer zum Zorn ge¬ reizt hatte, die angstvolle Liebe, mit der sein Vater an dem hing, was er erworben hatte, an den Reichtümern seines gewölbten Warenhauses ... Er begriff, daß der große König der Vergangenheit hätte sterben müssen, wenn man ihm seine Länder genommen hätte, die er durchzogen und unterwor¬ fen hatte vom Meer im Westen bis zum Meer im Osten . . .“ (E, 52 f.). Was dem großen König seine Länder und dem Kaufmannsvater seine Reichtümer sind, sind dem Sohn seine Diener. Diese müssen davon zeugen, daß auch er fähig ist, sich das Leben zu unterwerfen, es zu „erbeuten“. Doch die Diener leisten einen lautlosen, aber unerbittlichen Widerstand, sie zer¬ brechen die Größenphantasien des Kaufmannssohnes ganz einfach durch die Umkehrung der Subjekt-Objekt-Dynamik. Nur dem Herrn sollte er¬ laubt sein, „seine“ Objekte zu beobachten - in dieser passiven Beobachtung liegt die ganze Freude des Ästheten -, dagegen werden seine Diener ihn obsessiv von den Fenstern seines Hauses aus verfolgen, während er im Gar¬ ten sitzt. Diese Szene ist eine Vorwegnahme der alptraumähnlichen9 Situa¬ tion, in der er sich bei seinem Herumirren durch die Stadt befinden wird. Eingesperrt in einem Glashaus, fürchtet er, daß das dort angetroffene Mäd¬ chen, das seiner fünfzehnjährigen Dienerin so ähnlich und wie diese voller Haß und Zorn ist, „wiederkommen werde und von außen auf ihn durch die Scheiben schauen“ werde (E, 57), wie man einen toten Gegenstand durch ein Auslagenfenster beschaut. Die fünfzehnjährige Dienerin wirft sich aus dem Fenster in den Hof des Hauses, und wenn der Kaufmannssohn sie in ihrem Zimmer besucht, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, schaut sie ihn „eisig und bös“ an (E, 47). Dieses aggressive und zugleich masochistische Verhalten ist Aus¬ druck der Rebellion des besessenen Gegenstandes gegen seinen Besitzer. Die Dienerin wiederholt somit eine Haltung, die der Kaufmannssohn selbst gegenüber der Fixierung des Vaters auf seinen Besitz gezeigt hatte: die des hilflosen Zorns. So wie der Vater die Dinge seines Besitzes dazu verwendet hatte, um den Sohn von ihm fernzuhalten, so verwendet auch der Sohn seine Reichtümer, um sich die Menschen vom Leibe zu halten. Die Men¬ schen, das sind seine Diener. Und sie reagieren mit Aggressivität und Di¬ stanz. Er will dem Mädchen ein paar Münzen schenken: „Das Kind nahm sie und ließ sie ihm vor den Füßen niederfallen . . . Dann kehrte es ihm den Rücken und ging langsam fort“ (E, 57). Er kauft Geschenke für seine Die-

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ner, „einen altmodischen Schmuck aus dünnem Gold, mit einem Beryll verziert“ (E, 54) für seine alte Dienerin, ein goldenes Kettchen für die Achtzehnjährige. Doch gerade wenn er sich niederbeugen wird, um diesen Schmuck aufzuheben, der ihm entfallen war, als er einem traurigen Solda¬ ten, der in einer tristen Kaserne ein Pferd besorgte, ein paar Münzen schen¬ ken wollte, wird der Kaufmannssohn von diesem Pferd, das ihn „mit tiikkisch zurückgelegten Ohren und rollenden Augen“ angesehen hatte, töd¬ lich verletzt werden (E, 61). Die bösen Blicke der beiden Mädchen, des Soldaten, des Pferdes künden den sich nahenden Tod des Kaufmannssohns an. Die im Text hervorgehobene, in den sozial Unterlegenen Haß produ¬ zierende Verbindung von anscheinender Großzügigkeit und Distanz struk¬ turiert die ganze Erzählung und erweist die Handlungen des Sohnes als Wiederholung des irritierenden Verhaltens des Vaters: Eine „ängstliche Lie¬ be“ zu den Gegenständen, die Lieblosigkeit und zugleich Schuldgefühl gegenüber den Menschen bedeutet, die „seine geheimnisvolle menschliche Unzulänglichkeit“ (E, 50) beobachten. Diese Wiederholung erklärt sich nach Janz aus der totalen, der ursprünglichen Ambivalenz, der dem eigenen „Zorn“ nicht Rechnung tragenden Identifikation mit dem Vater.10 Das Liebesbegehren des Knaben gegenüber dem Vater wird ebenso verdrängt wie die Liebe zu der „Frau“. Der Kaufmannssohn, der in der ganzen Erzählung nie „junger Kaufmann“, sondern immer „Kaufmannssohn“ genannt wird und damit in sein Sohn¬ sein fixiert wird - ein Sohn, der ein Erbe antritt, Reichtümer, die nicht er gesammelt hat: Hofmannsthals eigene materielle Situation -, spürt den Blick der achtzehnjährigen Dienerin auf sich gerichtet „mit einer unbestimm¬ ten, ihn quälenden Forderung“ (E, 50), er hält ihren Anblick, wie sie ihm entgegenkommt, nur deshalb aus, weil er die Szene durch einen Spiegel beobachtete, und er wird von ihrer Schönheit ergriffen, „aber gleichzeitig wußte er deutlich, daß es ihm nichts bedeuten würde, sie in seinen Armen zu halten“ (E, 51). Die Dienerin erfüllt ihn mit „Sehnsucht“, aber nicht mit „Verlangen“. Diese apodiktische Verneinung ist von sich aus schon suspekt, was folgt, trägt die Zeichen von Erotik und Verdrängung. Denn der Kauf¬ mannssohn muß nun zu den Gärtnern und Blumenhändlern gehen und eine Blume suchen, „deren Gestalt und Duft, oder nach einem Gewürz, dessen verwehender Hauch ihm für einen Augenblick genau den gleichen süßen Reiz zu ruhigem Besitz geben könnte, welcher in der Schönheit sei¬ ner Dienerin lag, die ihn verwirrte und beunruhigte“ (E, 51). Auf dieser Suche rezitiert er die Verse: „In den Stielen der Nelken, die sich wiegten,

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im Duft des reifen Korns erregtest du meine Sehnsucht; aber als ich dich fand, warst du es nicht, die ich gesucht hatte, sondern die Schwestern dei¬ ner Seele“. „Gequält und gegen seinen Willen“ wiederholt er diese Verse, die seinen Willen zur Sublimierung ausdrücken, zum Distanzieren der ihn in ihrer Körperlichkeit ängstigenden Frau, um in ihr nur die „Schwester“ der „Seele“ zu suchen (E, 51). Die brutale Seite dieser Spiritualisierung der Weiblichkeit wird während des Aufenthalts in der Stadt evident, wo er der jungen Dienerin ein Kett¬ chen kauft. „Und flüchtig fand er es hübsch, ein dünnes goldenes Kettchen an diesem Hals zu sehen, vielfach herumgeschlungen, kindlich und doch an einen Panzer gemahnend“ (E, 55). Der junge Kaufmannssohn kann die Schönheit seiner Dienerin nur dann ruhig genießen, wenn er sie in Ketten hält. Die Verachtung für das Leben, für die lebendige Einheit von Körper und Geist in der Frau, diese Verachtung, die Erbteil seines Vaters ist, ist der Boden, auf dem die Obsessionen und Qualen des Sohnes wachsen werden, als beängstigende und aggressive Wiederkehr des eigenen in der Kindheit frustrierten Liebesbegehrens. Der ästhetisierende Besitz trägt wesentlich zur Unterdrückung der Liebe und der Frau bei, ob es nun um die kindliche Liebe zum Vater oder um die spätere Einstellung zu den Frauen geht. Dazu könnte man noch viele Indi¬ zien anführen, doch ich verweise hier auf die reichhaltige Arbeit von Mar¬ lies Janz. Was mich dabei interessiert, ist die Differenz der Figur des Abenteurers, die so als ein wahrer Fluchtpunkt aus diesem tödlichen, von einer gewaltsa¬ men und unbedingten Identifikation mit dem Vater gekennzeichneten Universum aufleuchtet. Diese Identifikation kann zu zwei gegensätzlichen Entwicklungen führen, und beide finden wir sowohl in den frühen Werken Hofmannsthals als auch in seinen späteren: entweder, wie in dieser Erzäh¬ lung, zur sadistischen Rache des verdrängten infantilen Begehrens und zur totalen Desintegration des Helden in einer sado-masochistischen Konstel¬ lation oder - wenn in der Identifikation statt eines kalten Sammlers von Reichtümern ein idealer, guter, beschützender Vater aufgebaut wird - zur Entstehung eines männlichen Ich, das die gesellschaftlich akzeptierten Werte der patriarchalischen Familie und Ehe propagiert. Der Abenteurer steht beiden männlichen Identifikationsmodellen fremd gegenüber. Er ist ganz offensichtlich kein Verteidiger der Familie und Ehe, aber er ist auch kein junger, reicher Ästhet. Er muß im Gegensatz zum Kaufmannssohn und zum venezianischen Patrizier Venier keine Reichtü-

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mer und Traditionen horten. Deshalb leidet er weder unter der gewaltsa¬ men Rache des Körperlichen und „Niedrigen“ des einen noch unter der melancholischen Entwertung des erlangten Objekts des anderen. Es fehlt ihm einfach die Zeit, seiner weiblichen Eroberungen überdrüssig zu werden. Im Oktober 1909 notiert sich Hofmannsthal: Das Lebensgeniale in Casanova - daß er das Vergängliche immerfort unbeachtet läßt, jedesmal, bei jedem Abenteuer, sei es mit einer Magd, so handelt, als hätte alles andere zu existieren aufgehört - und nur für diese Sache sei im Leben Raum und das jedesmal de bonne foi - wodurch die Beschmutzung wegfällt, das trübe Durchscheinen des Todes, das „es is eh nix wert“. (RA III, 500)

Das ist Weidenstamms Genialität. Jeder Tag, jeder Moment wird von ihm isoliert erlebt, getrennt von der Kette der Erfahrungen, die ihm den Ver¬ druß der Wiederholung spüren lassen könnte. Seine scharfsichtigen Sinne erlauben es ihm, jedesmal den Unterschied und somit immer etwas Neues zu spüren. Denn die Wiederholung würde auch er nicht ertragen. Das ist Casanova-Weidenstamms Weisheit: Wer eine Erfahrung wiederholen will, wird dafür bestraft: Ich merk, das Leben will dasselbe Stück nicht wiederholen . . . Was die Seele genossen und ertragen hat einmal, brennt sich beim Wiederkehren in sie ein mit glühnden Stempeln: Ekel, Scham und Qual. (GD I, 552)

Indem er die Wiederholung des sicheren Besitzes flieht und dabei zu feine Sinne hat, um in die Falle der „numerischen“ Wiederholung zu gehen, das heißt fähig ist, jedes Mal die Differenz als Faszinosum zu erleben, ist Weiden¬ stamm das Gefühl des „es ist eh nix wert“ fremd. Wenn dieser vage an Nestroy erinnernde Dialektausdruck das pessimistische Fundament des Wiener Lebensgefühls aufdeckt, dem die illusionistische Genialität Casa¬ novas entgegengesetzt wird, so sieht doch Hofmannsthal andererseits auch, daß seiner österreichischen Kultur, im Unterschied etwa zur deutschen, die venezianische Sinnlichkeit nicht völlig fremd ist: Es ist doch unberechenbar viel, einer südlicheren sinnlicheren Welt anzugehören als die eigentlichen Deutschen. Einen Kuß, der einen weiblichen Leib von obenher wie eine Rute biegt, ja fast umwirft, nicht als etwas tief Fremdes, fast Unheimliches zu empfinden. (RA III, 473).

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Sicherlich können der Abenteurer und die ihm verbundene venezianische Welt, auch wenn sie Hofmannsthal sein ganzes Leben lang faszinieren, kein stabiles Ideal werden. Dazu ist dieser Autor viel zu sehr daran interessiert, konstruktive Verhaltensmodelle darzustellen. Weidenstamm schafft es, den Überdruß zu vermeiden, der die „Besitzenden“ Hofmannsthals befällt, aber er erfüllt die andere Aufgabe nicht, der sich zumindest in der theoreti¬ schen Intention des Autors der erwachsene Mann - dem die Identifikation mit dem „guten“ Vater gelungen ist - zu stellen hat: ein „Schicksal“ zu haben. Diesen Gewinn erlangt derjenige, der sich in die Kette der Genera¬ tionen einreiht, der akzeptiert, selbst ein Vater zu werden und „Werte“ zu vererben. Um dieses anstrengende Unternehmen zu vollbringen, braucht es „Treue“. „Treue“ ist ein Leitwort, das mit fast obsessiver Frequenz in Hofmannsthals Schriften auftaucht. Schon in einem der ersten vom neun¬ zehnjährigen Hofmannsthal verfaßten Werke, Der Tor und der Tod (1893), hatte Claudio, ein junger Ästhet, der Gefahr, vom „Leben“ ausgeschlossen zu bleiben, sein „Ich will die Treue lernen, die der Halt / Von allem Leben ist“ (GD I, 290) entgegengesetzt. Wesentlich scheint mir, daß hier die Treue nicht an die Gefühle gebun¬ den wird, was dagegen die Erinnerung bei Proust auszeichnet, die Walter Benjamin sehr suggestiv als „Treue zu den Dingen, die unser Leben ge¬ kreuzt haben,“ definiert: Er hat mit einer Leidenschaft, die kein Dichter vor ihm gekannt hat, die Treue zu den Dingen, die unser Leben gekreuzt haben, zu seiner Sache gemacht. Treue zu einem Nachmittag, einem Baum, einem Sonnenflecken auf der Tapete, Treue zu Roben, Möbeln, zu Parfüms oder Landschaften.11

Benjamin leitet diesen Passus, der sich im Passagen-Werk findet, mit einer Reflexion zu Hofmannsthal ein. Dieser hatte ihm, anläßlich ihrer letzten Begegnung, von seinem Projekt einer um die Gestalt eines Priesterzöglings zentrierten Novelle gesprochen, eines jungen Mannes, der „durch die wech¬ selnden Religionen, in Jahrhunderten, wie durch die Zimmerflucht ein und derselben Wohnung schreiten sollte“.1’ Zu Proust übergehend, unter¬ streicht Benjamin den Unterschied zwischen den beiden Autoren mit dem kurzen Satz: „Gewiß, er hat den Menschen nicht gesteigert sondern nur analysiert . Der Priesterzögling wird wie Claudio einem strengen Erziehungsprozeß unterworfen. Und so wird die neue Ethik Claudios sehr voluntaristisch klingen („Ich will die Treue lernen . . .“), abstrakt und ohne

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die mindeste Spur von Zärtlichkeit.13 Wenn Claudio zuerst „schnell¬ befreundet, fertig schnell mit jedem“ (GD I, 295) war, so will er nun gebun¬ den werden - „und kräftig binden“ (GD I, 291). Es handelt sich hier um eine Treue, die sich ausschließlich auf Personen bezieht und die - wie durch¬ drungen von der Angst vor einer Wiederkehr der „ängstlichen Liebe“ des Ästheten für schöne und wertvolle Gegenstände - die Zuneigung zu den Dingen ausschließt. Gerade ihnen wird dagegen Proust seinen aufmerksa¬ men und teilnehmenden Blick zuwenden, den Dingen, die Benjamin auf so suggestive Weise in chaotischer Reihung aufzählt: ein Nachmittag, ein Baum, ein Sonnenfleck auf der Tapete . . . Die Treue sollte dazu dienen, die Abkehr des Ästheten aus der Welt der Decadence zu sichern, und so ist Der Tor und der Tod kein Werk des Ästhetizis¬ mus, sondern schon dessen Kritik, wie übrigens paradoxerweise fast alle dem Ästhetizismus zuzurechnenden Werke. Diese Kritik fußt auf dem ab¬ strakten Gegensatz zur amoralischen Unverantwortlichkeit, auf der moralistischen Entscheidung. Auch oder gerade weil Claudio sich zu spät, erst an¬ gesichts des Todes, entscheidet: In der Entscheidung liegt der konstruktive, ideologische Kern dieses Werkes begründet.14 Doch war dies offensichtlich für unseren Autor eine zu einfache Lösung des Problems. Ein Symptom dafür ist, daß das Begriffspaar Treue-Entschei¬ dung in den anderen um den venezianischen Abenteurer zentrierten Ko¬ mödien wieder auftauchen wird. Es sind die ein Jahrzehnt nach Der Aben¬ teurer und die Sängerin geschriebenen Florindo-Stücke, und da vor allem Christinas Heimreise. Hier wird die Problematik Claudios in sehr zweideuti¬ ger Form, in kleinbürgerlich-komischem Kostüm wiederaufgegriffen. Der Abenteurer Florindo hat den treuherzigen Kapitän zum Gegenspie¬ ler, der am Ende Christina heiraten wird. Florindo sagt vom Kapitän, er sei „ein Mann, ein ganzer Mann“ (D IV, 194) - er benützt denselben Ausdruck, mit dem der „Schwierige“, Graf Kari Bühl, der Gräfin Helene zu verstehen gibt, was er nicht ist (D IV, 405) - er ist sehr männlich, sehr entschlossen, auch wenn er von Mal zu Mal zu etwas anderem entschlossen ist. So kann der Hausknecht, der einem Stück Nestroys entsprungen scheint, zu Recht behaupten: Sie sind immer entschlossen, Herr, Sie wissen nur nicht, zu was. (D IV, 196)

Der Kapitän ist ganz aus einem Holz geschnitzt. Er ist naiv, macht wenig Worte und heiratet Christina. Paradoxerweise wird Florindo, dem Aben-

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teurer, die Aufgabe zufallen, die Apologie der Ehe zu formulieren. Der Kapitän heiratet einfach. Casanova spricht von der Ehe. Und er macht es im selben Stil, den Kari Bühl verwenden wird, bilderreich (Philemon und Baucis) und mit hehren Worten: „Das ist ein Mysterium - kaum zu fassen ist es“ (D IV, 195). Die Ironie liegt nicht nur darin, daß Florindo so seine „Braut“ Christina auf elegante Weise loswird, sondern auch darin, daß der Abenteurer die Apologie der Treue spricht, daß nur er dazu fähig ist, wäh¬ rend die anderen sie leben müssen. Wer von Entscheidung und Treue spricht, lebt sie nicht, und wer sie lebt, ist sprachlos, stumm. Gerade weil er spricht, bleibt der Abenteurer zentral für die Hofmannsthalsche Welt, die von dem Versuch lebt, die sinnliche Leichtigkeit Casano¬ vas, die das Sprechen erleichtert, mit den Mächten in Einklang zu bringen, die Dauer und Identität verbürgen: die Moral, die Ehe. Der Schwierige ist das Resultat dieses risikoreichen Unterfangens.

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Der Schwierige

Graf Kari Bühl, der „schwierige“ Protagonist dieser Komödie1, die Hof¬ mannsthal in den Jahren 1910/11 entwirft und an der er hauptsächlich im Jahr 1917 arbeitet - die Uraufführung fand 1921 am Residenztheater in München statt -, ist eine Transformation des Abenteurers. Transformati¬ on, weil seine Eleganz nicht mehr an den Genuß gebunden ist wie in Weiden¬ stamm, sondern an einen sozial verbindlichen Verhaltenskodex des Adels (wenn auch dieser Kodex einige antiutilitaristische Züge aufbewahrt, die an die anarchische Großzügigkeit eines Casanova erinnern). Transformati¬ on, weil Graf Bühl, der von allen Frauen der adeligen Gesellschaft Wiens angebetete Junggeselle, mit Entschiedenheit die Notwendigkeit der „Mo¬ ral“, das heißt der Ehemoral, vertritt. Das Interessante an dieser Komödie ist gerade die Widersprüchlichkeit ihrer Absicht: die Eleganz einer noch dem 18. Jahrhundert nahestehenden Aristokratie mit den Instanzen des „Schicksals“ zu verknüpfen. Daher werden eine Reihe von Begriffen, die engstens verbunden sind mit dem moralischen Weg in Richtung „Schick¬ sal“, wie „Absicht“, „Entschluß“, „Notwendigkeit“ und so weiter, und die im Kontrast stehen zu der Eleganz und der Leichtigkeit des aristokrati¬ schen Gehabens des Helden, in den negativen Figuren kritisiert - und in den positiven erneut vorgeschlagen. In Hinsicht auf diese Funktion der negativen Nebenfiguren, die nicht umsonst Kari Bühl so oft ins Grübeln bringen, ist die Szene mit seinem Sekretär Neugebauer besonders aufschlußreich. (Schon der Name, wie der des „Preußen“ Neuhoff, weist ihn uns als homo novus aus, als einen Vertre¬ ter der drohenden neuen Zeit.) Um mit dem Ende der Szene zu beginnen: Nach dem Gespräch mit Neugebauer, der ihm mitteilt, er habe sein langes Verlöbnis mit der Be¬ schließerin des Schlosses Hohenbühl aufgeben müssen - „selbstverständ¬ lich in der vornehmsten und gewissenhaftesten Weise“ -, um der Verlobten seines gefallenen besten Freundes „eine Stütze fürs Leben zu bieten“ - die27

se neue Verlobte ist, welch ein Zufall!, „Tochter eines höheren Beamten“ -, fühlt Kari Bühl sich verlegen. Und das nicht, weil er sich die Vertraulich¬ keiten eines einfältigen und gewissenlosen Individuums hat anhören müs¬ sen, sondern weil er „nie ganz bestimmt weiß“, ob solche „das Recht“ haben oder nicht, ihm eine „Lektion“ zu erteilen (1,7). Karis Reflexionen am Ende dieser Szene wirken seltsam, unerwartet. Wie kann dieser moralisierende, brutale Kleinbürger Neugebauer für den aristokratischen Grafen zur mo¬ ralischen Instanz werden? Offensichtlich, weil jener sein Schuldgefühl weckt, und er tut dies mit großer Entschiedenheit: Allerdings war mein Bildungsgang ganz auf das Innere gerichtet, und wenn ich dabei vielleicht keine tadellosen Salonmanieren erwwben habe, so wird dieser Mangel vielleicht in den Augen eines wohlwollenden Beurteilers aufgewogen wer¬ den können durch Qualitäten, die persönlich hervorzuheben zu müssen meinem Charakter allerdings nicht leicht fallen würde. (1,7)

Die Qualitäten Neugebauers sind alle nach innen gerichtet, unsichtbar. Vielleicht ermessen Euer Durchlaucht doch nicht zur Genüge, mit welchem bitte¬ ren, sittlichen Ernst das Leben in unsern glanzlosen Sphären behaftet ist, und wie es sich hier nur darum handeln kann, für schwere Aufgaben noch schwerere einzu¬ tauschen. (1,7)

Auch wenn diese Klagen dem Grafen eine verdiente Lektion in Sachen Moral zu sein scheinen, so tendiert die ganze Szene natürlich dahin, in Neugebauer nur eine unglückliche, dünkelhafte und lächerliche Figur darzustellen. Schon sein „ganz auf das Innere“ gerichteter Bildungsgang hat einen nega¬ tiven Beigeschmack, bedenkt man Hofmannsthals Einverständnis mit Nietz¬ sches Lob der „Oberfläche“. Das Wort „Salonmanieren“ zeigt das Ressenti¬ ment des kleinen Angestellten gegen die Welt der Salons, der Konversati¬ on: Zu dieser Welt möchte er gehören, da sie ihm aber verschlossen bleibt, schmückt er seine Aufsteigermisere, seine „Notwendigkeit“, die Tochter eines höheren Beamten zu heiraten, mit moralischen Phrasen aus. Graf Bühl reagiert, wenn auch nicht ganz überzeugt, mit Bestürzung und Unschlüssigkeit auf die Worte seines Sekretärs, die seine Schuldgefühle wecken. Warum? Was für eine Lektion erteilt ihm Neugebauer? Auf den ersten Blick keine, wenn nicht die, sich von einem so dummen und schlecht¬ denkenden Individuum zu trennen. Aber bei näherem Hinsehen - Bühl selbst spricht doch von der „Lektion“ - bietet der Sekretär ihm mit seinem

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Verhalten ein freilich etwas verzerrtes Spiegelbild des eigenen. Neugebauer tut, was Kari tun wird. Beide befreien sich „aus moralischen Gründen“ von einer Frau, um eine andere zu heiraten, die „nobler“ ist. Die Moral des Sekretärs weckt Karis Schuldgefühle für seine Vergangenheit als Casanova. Und diese „Schuld“ wiederum rechtfertigt die Trennung von der amorali¬ schen Antoinette und das finale Verlöbnis mit der wohlerzogenen Tochter des Grafen Altenwyl, Helene. Die „Schuld“ dient Bühl dazu, seine Wünsche zu verschleiern. Die Lekti¬ on Neugebauers - wie Kari sie versteht, der Text ist viel ambivalenter und nuancenreicher - besteht darin, definitiv seine Beziehungen zu den Frauen zu klären, ein für allemal die Ambivalenzen gegen Helene, gegen Antoi¬ nette zu beenden, Schluß zu machen mit diesen erotischen „Konfusionen“, sich endlich als „verantwortlicher“ Mann zu verhalten. Aber dieses ganze moralische Programm steht im Widerspruch zu seinem tiefsten Wunsch: mit Helene von ihrer Beziehung zu reden. Redend verringert sich die Ver¬ antwortung, kann sich die Situation unmerklich verändern, wie Bühl sel¬ ber weiß: „Durchs Reden kommt ja alles auf der Welt zustande“ (11,14). Indem er sich dem Fluß der Konversation anvertraut, wird auch ein so pro¬ blematischer Herr wie Bühl, der die kommunikativen Möglichkeiten der Sprache anzweifelt, verleitet, seine Gefühle zu offenbaren. Aber dies wird der Effekt einer Nötigung, einer höheren Gewalt sein, keiner bewußten Strategie. Redend wird Kari Bühl seinen Wünschen nachkommen können, ohne auf seinen Zauber zu verzichten. Denn worin besteht der Zauber, der vom Grafen ausgeht? Seine „Ungeschicklichkeit“, sein „timider Hochmut“, sein „Verstecken¬ spiel“ (11,13) sind das genaue Gegenteil von „Absicht“. Darin besteht seine Eleganz, die die Gräfin Helene mit ihm teilt: „Ich find auch alles, wo man eine Absicht merkt, die dahintersteckt, ein bißl vulgär“ (11,1). Kari Bühl will keine Absichten haben. Deshalb gefällt ihm der Clown Furlani: Alle andern lassen sich von einer Absicht leiten und schauen nicht rechts und nicht links, ja sie atmen kaum, bis sie ihre Absicht erreicht haben: darin besteht eben ihr Trick. Er aber tut scheinbar nichts mit Absicht - er geht immer auf die Absicht der andern ein. (11,1)

Furlani ist nie „vulgär“, weil er immer auf die Absichten der anderen ein¬ geht. „Er ist förmlich schön vor lauter Nonchalance“ (11,1). Er ist ebenso¬ wenig wie Bühl in Eitelkeit erstarrt, jener Eitelkeit, die schon dem einfa¬ chen Akt des Redens innewohnt. „Das Reden basiert auf einer indezenten

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Selbstüberschätzung“ (11,14), sagt er zu Helene, die im selben Ton antwor¬ tet: „Wenn alle wüßten, wie unwichtig sie sind, würde keiner den Mund aufmachen.“ Die Eitelkeit des intentionalen Wortes triumphiert in der Figur des „preu¬ ßischen“ Baron Neuhoff und in abgemildeter, sympathischerer Form in der Figur des Neffen Stani. Der mystisch-pompösen, gewalttätigen Sprache Neuhoffs, die immer genau weiß, was sie will, setzt Kari Nonchalance und Liebenswürdigkeit entgegen. Aber diese Liebenswürdigkeit - man schreibt nicht mehr das 18. Jahrhundert - wird nun auch als Schwäche erlebt, und zwar nicht nur von Neuhoff, der sich in verächtliche Tiraden gegen die dekadente österreichische Welt im allgemeinen und gegen den Grafen Bühl im besonderen ergeht, sondern auch von Kari selbst. Es ist seine Liebens¬ würdigkeit, die ihn so verführbar macht. Den Augenblick genießen zu kön¬ nen, verführen und sich verführen lassen, ist nicht mehr eine Stärke wie für den Abenteurer, sondern etwas Beängstigendes, das zur Auflösung der eigenen Identität führt. Im Dialog mit Helene erklärt Kari Furlanis Lie¬ benswürdigkeit: HANS KARL: . . . wenn er einen Blumentopf auf der Nase balanciert, so balanciert er ihn auch, sozusagen aus Höflichkeit. HELENE: Aber er wirft ihn hinunter? HANS KARL: Aber wie er ihn hinunterwirft, darin liegt’s! Er wirft ihn hinunter aus purer Begeisterung und Seligkeit darüber, daß er ihn so schön balancieren kann! Er glaubt, wenn mans ganz schön machen tat, miißts von selber gehen. HELENE (vor sich): Und das hält der Blumentopf gewöhnlich nicht aus und fällt hinunter. (11,1)

Furlani tut alles aus Höflichkeit und vergißt sich selbst in dieser Liebens¬ würdigkeit. Die Selbstvergessenheit ist der Zustand, den Kari ersehnt, die¬ ses nur von den Absichten der anderen Bewegtwerden. Und wenn der Blu¬ mentopf das nicht aushält, was liegt daran? Paradoxerweise gewinnt Furlani gerade durch seine Liebenswürdigkeit, im extremen Verlorengeben der eigenen Wünsche, eine definierbare Iden¬ tität. Dies hat mit dem Paradox zu tun, das die Pantomime bestimmt. Wie Hofmannsthal in seinem Aufsatz Über die Pantomime schreibt, scheint der Schauspieler, indem er auf das Wort verzichtet, auch auf eine definierbare Identität zu verzichten; statt dessen aber läßt die Gebärde die Persönlich¬ keit erstrahlen, „und über die Maßen reichlich wird der scheinbare Ver¬ zicht auf Individualität aufgewogen“ (RA I, 504). Aber es handelt sich um

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eine extreme, in gesellschaftliche Normen schwer integrierbare Individua¬ lität, die für Graf Bühl nicht mehr lebbar ist, wie er auch die des immer schon ausgeschlossenen, a-sozialen Abenteurers nicht mehr leben kann. Der Abenteurer aber ist trotz der extremen Zersplitterung seines Lebens eine in sich gesammelte Figur. Vom Abenteurer als psychologischem Ty¬ pus schreibt Simmel: Die Kraft, deren er sicher ist, und das Glück, dessen er unsicher ist, gehen subjektiv doch zu einem Sicherheitsgefühl in ihm zusammen. Wenn es das Wesen des Genies ist, eine unmittelbare Beziehung zu den geheimen Einheiten zu besitzen, die in der Erfahrung und durch die Zerlegungen des Verstandes in ganz gesonderte Erschei¬ nungen auseinandergehen - so lebt der geniale Abenteurer, wie mit einem mysti¬ schen Instinkt, an dem Punkt, wo der Weltlauf und das individuelle Schicksal sich sozusagen noch nicht voneinander differenziert haben; darum hat der Abenteurer leicht einen „genialischen“ Zug.2

In dieser mystischen Genialität besteht die Affinität zwischen Abenteurer und Clown: Der Abenteurer läßt sich von der Situation verführen, er löscht sich selbst in ihr aus, der Clown geht nur auf die Wünsche anderer ein. Paradoxerweise kreieren beide mit schlafwandlerischer Sicherheit ihren eigenen Stil, ihre eigene Persönlichkeit, und nehmen ohne größere Schuld¬ gefühle das Zerbrechen der Blumentöpfe in Kauf, denen Helenes melan¬ cholische Sympathie gilt. Das ist ein Weg, den Kari in Furlani nur noch bewundern kann oder seiner eigenen Vergangenheit als Verführer zurechnen mag - auch Simmel bindet ja den Verführer an eine bestimmte Lebenszeit, die Jugend -, den er aber nicht mehr gehen kann. Für Kari gibt sich Identität nunmehr weder in der fatalistischen Vitalität eines Weidenstamm noch in der Liebenswür¬ digkeit eines Clowns. Die Verführung durch Höflichkeit, die Höflichkeit der Verführung erscheinen Kari Bühl nur noch als zersetzende Mächte. In den Notizen, die sich Hofmannsthal im Jahr 1910 zum Schwierigen macht, wird der für Graf Bühl charakteristische Zusammenhang zwischen Verführung und Identität folgendermaßen beschrieben: Er fürchtet sich vor Antoinette, weil er weiß, daß für ihn nie etwas erledigt ist. - Die Unmöglichkeit überzugehen, das Bewußtsein, er ist mit jedem Wesen ein Anderer (was wie Jesuitismus aussehen könnte). (D III, 447)

Es ist auch diese bei den männlichen Gestalten Hofmannsthals so häufig anzutreffende Angst vor der sich wiederholenden Transformation, vor dem

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Chamäleon in sich, die Kari die Kraft gibt, mit Entschiedenheit sein Leben als Casanova zu beenden und endlich die „Notwendigkeit“, die gesellschaft¬ liche Tradition und ihre Werte zu akzeptieren. Nur dank dieser Entschei¬ dung kann einer, „der mit jedem Wesen ein anderer ist“, hoffen, jemand bestimmter zu werden. Da die „Genialität“ des Abenteurers und die des Clowns ihm abhandengekommen ist, flieht Kari in eine „starke“ Rolle, die - und hierin liegt die Ironie dieser Komödie - sich erheblich der Uneleganz der Entscheidung und der Absicht annähert, von der er sich bei Baron Neuhoff so belästigt fühlt. Überzeugt von der Fälligkeit einer Entscheidung, hält Kari - welcher an den Wert des Wortes nicht glaubt, es vielmehr als indezent betrachtet seiner Ex-Geliebten Antoinette eine gewaltige und rhetorische Rede. Er will sie mit ihrem Mann versöhnen, und um das zu erreichen, wertet er die Beziehung, die er zu ihr hatte, ab. HANS KARL: Alles was geschieht, das macht der Zufall. Es ist nicht zum Ausden¬ ken, wie zufällig wir alle sind, und wie uns der Zufall zueinanderjagt und auseinandeijagt, und wie jeder mit jedem hausen könnte, wenn der Zufall es wollte. ANTOINETTE: Ich will nicht HANS KARL (spricht weiter, ohne ihren Widerstand zu respektieren): Darin ist aber so ein Grausen, daß der Mensch etwas hat finden müssen, um sich aus diesem Sumpf herauszuziehen, bei seinem eigenen Schopf. Und so hat er das Institut der Ehe gefunden, das aus dem Zufälligen und Unreinen das Notwendige, das Bleibende und das Gültige macht: die Ehe. (11,10)

Das „Notwendige“ könnte dazu dienen, die gewalttätigen und bürgerlichen Aspekte der Entscheidung, die in den Florindo-Komödien ironisiert wer¬ den, zu verklären. Aber es gelingt nicht ganz. Lhn Antoinette und sich selber von diesem Notwendigen zu überzeugen, kann Hans Karl nicht auf seine Gesten der Nonchalance und Liebenswür¬ digkeit zurückgreifen. Er muß in einem Atemzug reden, muß Antoinette unterbrechen, „ohne ihren Widerstand zu respektieren“, überzeugt von der absoluten Gültigkeit seiner Worte. Antoinette, „grande dame des achtzehn¬ ten Jahrhunderts“ (III,5) und daher der Sinnenwelt eines Casanova noch nicht entfremdet, findet diese Geschichte zynisch, die über alle Beziehun¬ gen zwischen Männern und Frauen den Zufall walten läßt und nicht die Affinität, die Neigung. Sie findet es unerträglich, alle mit den Sinnen er¬ faßbaren Unterschiede mit ihren Bedeutungen einfach auszulöschen: „Ich laß mir von dir den Ado nicht einreden. Ich mag seine Händ nicht. Sein

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Gesicht nicht. Seine Ohren nicht. (Sehr leise) Deine Hände hab ich lieb . . .“ (11,10). Eine zynische Geschichte ist das, die der Ehe eine heilige Notwen¬ digkeit verleihen muß, um aus dem „Zufälligen und Unreinen“ etwas Dau¬ erhaftes und Wertvolles zu machen. Und Hans Karl führt seine Rede über die Ehe fort, indem er über den Krieg spricht: Das ist eine heilige Wahrheit, die weiß ich - ich muß sie immer schon gewußt ha¬ ben, aber draußen ist sie erst ganz deutlich für mich geworden: es gibt einen Zufall, der macht scheinbar alles mit uns, wie er will - aber mitten in dem Hierhin- und Dorthingeworfenwerden und der Stumpfheit und Todesangst, da spüren wTir und wissen es auch, es gibt halt auch eine Notwendigkeit, die wählt uns von Augenblick zu Augenblick, die geht ganz leise, ganz dicht am Herzen vorbei und doch so schnei¬ dend scharf wie ein Schwert. Ohne die wäre da draußen kein Leben mehr gewesen, sondern nur ein tierisches Dahintaumeln. Und die gleiche Notwendigkeit gibts halt auch zwischen Männern und Frauen - wo die ist, da ist ein Zueinandermüssen und Verzeihen und Versöhnung und Beieinanderbleiben. Und da dürfen Kinder sein, und da ist eine Ehe und ein Heiligtum, trotz allem und allem - (11,10).

Krieg und sexuelle Beziehungen bedürfen der Heiligkeit. Dem tierischen Dahintaumeln im Schützengraben wird eine Notwendigkeit zugesprochen, „die geht ganz leise, ganz dicht am Herzen vorbei und doch so schneidend scharf wie ein Schwert“. Und so gewinnt der Krieg eine erhabene, sakra¬ mentale Bedeutung. Der zufälligen Beziehung zwischen den Geschlech¬ tern wird mit der heiligen Wahrheit der Ehe ein Ende gemacht. Das, was zwischen Frauen und Männern geschieht, ist tierisch, wie auch das, was im Krieg geschieht, aber man muß sich durch den Schein nicht täuschen las¬ sen, es hat seine erhabene Notwendigkeit. Die Affinität zwischen der Ehe - in ihrer zentralen Funktion, der der Fortpflanzung („da dürfen Kinder sein“) - und dem Tod, die versteckte, schreckliche Seite dieses Weges „zum Schicksal“, wird noch deutlicher in einem anderen Werk des Autors, einem Werk, das als eine Apologie der Fruchtbarkeit der Frau zum ausschließlichen Zweck des Auf baus der Fami¬ lie, des Staates gelesen werden kann. Es ist die Erzählung Die Frau ohne Schatten (1919), die ganz auf die Erzie¬ hung des nichtkonformen Paares, des Kaisers und der Fee, seiner Frau, hinzielt, die Erziehung zur Normalität, das heißt die Umwandlung einer schönen, aber unfruchtbaren Fee, einer Frau „ohne Schatten“, in eine frucht¬ bare, in eine Mutter. Nur wenn sie den Schatten erringt, kann die Kaiserin ihren Mann vor dem Los bewahren, zu einer steinernen Statue zu erstar-

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ren. Die ganze Erzählung beschreibt die Tortur einer Frau, ihre via crucis, um endlich Mutter zu werden und so den schon versteinerten Mann wie¬ der lebendig zu machen. Am Ende wird ihm ihre Umarmung das Leben wiedergeben, aber es ist eine Umarmung, die sich wie eine Selbstaufopfe¬ rung liest: Die glatte furchtbare fremde Natur des Steins drang in ihr Innerstes. Vor unbe¬ greiflicher Qual zerrütteten sich ihr die Sinne. Sie fühlte den Tod ihr eigenes Herz überkriechen, aber zugleich die Statue in ihren Armen sich regen und lebendig werden. (E, 434)

Und an den Tod - nur indem sie ihren eigenen Tod riskiert, kann die Kaiserin dem Mann das Leben wiedergeben - ist auch die Funktion des Gebarens gebunden. Die Kaiserin ist sich dessen bewußt: . . . ich habe meinen Herrn dergleichen sprechen hören mit einem seiner Vetrauten, er sagte: „Ich will nicht zu Gericht sitzen über die Meinigen und kein Bluturteil sprechen, ehe ich der Erde nicht mein Leben heimgezahlt habe.“ Es ist das Schatten¬ werfen, mit dem sie der Erde ihr Dasein heimzahlen. (E, 348)

Um Todesurteile fällen zu können, muß man die Erde wiederbevölkern. Aus dieser finsteren bevölkerungspolitischen „Theorie“ erwächst die Sakramentalisierung der Familie. Nur wenn er Nachkommen produziert, kann der Kaiser sein Recht über Leben und Tod sprechen. Wie Marlies Janz scharfsinnig feststellt: . . . das „Bluturteil“, der legalisierte Mord, wird durch seinen Status als Vater mög¬ lich. Die Kinder also werden gegen die Todesopfer des Kaisers aufgewogen: sie sind das Äquivalent für die Leichen, die er in Ausübung seiner kaiserlichen Macht pro¬ duziert.3

Entgegen der manifesten Absicht des Textes, entgegen der Schlußapotheose, welche bewußt an die des Ewigweiblichen des Goetheschen Faust erinnert, wird eine Verbindung hergestellt zwischen der Reduktion der Frau auf ihre Funktion als Gattin und Mutter und der Wiederherstellung der blutigen patriarchalischen Gewalt. Im Schwierigen ist solch archaische Konsequenz nicht möglich. Die Ver¬ flechtung der verschiedenen Figuren, der gesellschaftliche Ton der Komö¬ die erlauben sie nicht. Und tatsächlich - um auf die große Szene zwischen Antoinette und Kari zurückzukommen - fällt es Antoinette nicht schwer, 34

hinter diesen blutigen und pompösen Reden, die Kari Bühls üblichem Stil so unähnlich sind, nicht nur sein Interesse an der Kittung ihrer Ehe mit Ado zu sehen, sondern auch und vor allem seine eigenen uneingestande¬ nen Wünsche in bezug auf Helene. Wer für die tiefsinnigen Offenbarungen des Grafen Bühl Partei ergreift - und das tun die Interpreten dieses Lustspiels im allgemeinen4

dem bleibt

nichts anderes übrig, als Antoinette und ihre Oberflächlichkeit zu verur¬ teilen. Mir scheint aber, daß der Text anderes erzählt, daß Hofmannsthal Antoinette viel mehr Sympathie entgegenbringt - und nicht nur ihr, auch den anderen „grandes dames des 18. Jahrhunderts“, ihren Freundinnen -, als es zu hastige oder, weil auf das finale Verlöbnis fixiert, zu romantische Interpreten sehen. Die scharfsichtige Eifersucht Antoinettes begreift sehr wohl die versteckten Absichten Kari Bühls, Absichten, derer er jedoch nicht gewahr werden darf, um nicht zu verstummen. Er schafft es, mit so großer und uneleganter Überzeugung über die Ehe zu sprechen, weil er überzeugt ist, auf elegante Weise auf die Absichten anderer einzugehen - auf Ado Hechingen, der ihn gebeten hat, sein Fürsprecher bei Antoinette zu sein, auf seine Schwester Crescence, auf seinen Neffen Stani, der sich mit Hele¬ ne verloben will - wie der Clown Furlani. So gewinnt ein früh erwogener Titel für dieses Lustspiel - Der Basilisk seinen Sinn5. Ein mythisches Tier, welches erstarrt, wenn es sein Spiegel¬ bild erblickt: für den Grafen Bühl ist es lähmend, die eigenen Absichten zu kennen. Nur sich selbst betrügend kann er elegant bleiben und seinen Wünschen nachkommen. Am Ende wird es Helene sein, die ihm definitiv seine Absichten enthüllen und ihm die Interpretation liefern wird (aber wird es denn auch die richtige sein?). HELENE: Ich verstehe alles sehr gut . . . HANS KARL: Sie verstehen alles? Ich versteh ja selbst nicht . . . HANS KARL: Sie wissen das alles? . . . HANS KARL: Wie du mich kennst! . . . HANS KARL: Wie du alles weißt! (111,8) Kari fühlt sich verstanden, weil Helene ihm eine Beziehung verspricht, die auf ihrer (und damit seiner) Überlegenheit über alle anderen basiert. He¬ lenes ganze Rede wiederholt obsessiv die eigene Superiorität, ein Sprachverhalten, das, von Kari übernommen, snobistisch klingen würde. Von der ersten Szene an wird Helene mit dem Begriff der „Rasse“ assoziiert. Ihr allein wird ein undiskutierbarer, angeborener „Adel“ zugesprochen. Das

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ermöglicht es, ihr Sätze voll von Verachtung in den Mund zu legen, Sätze, die, von Kari gesprochen, seine Eleganz, seine Bonhomie zerstören würden. Helene verurteilt zum Beispiel mit ausgesprochner Härte die exzentrische Gräfin Edine: Edine, die von der therapeutischen Funktion der Lektüre bei erotischen Verstrickungen überzeugt ist und die vom Autor mit (selbst-)ironischer Bewunderung bedacht wird. Man denke nur an die wunderbaren Ratschläge, die sie Antoinette zur Wiedereroberung von Kari Bühl gibt: Du hast eben die ganze Gschicht von Anfang an viel zu terre ä terre angepackt. Die Männer sind ja natürlich sehr terre ä terre, aber deswegen muß eben von unserer Seite etwas Höheres hineingebracht werden. (11,6)

Dies ist ein Parallelprogramm zu dem unseres Helden. Doch wo Hans Karl das Geschlechterchaos mittels der Ehe sublimieren möchte, begnügt sich Edine, weniger rigide, mit einer Einladung zur intensiveren Lektüre. Ein Leseprogramm war die „Therapie“, die Hofmannsthal selbst für seine Freun¬ din Ottonie von Degenfeld, die an Depressionen litt, entwickelt hatte, mit dem eingestandenen Interesse, ihr über die Bücher näherzukommen (sie¬ he 6. Kapitel). Helene bringt für Edines Strategie kein Verständnis auf. Pardon, Papa, sie ist keine gescheite Frau, sie ist eine dumme Frau, die sich fürs Leben gern mit gescheiten Leuten umgeben möchte, aber dabei immer die fal¬ schen erwischt. (II,I)

„Aber wie sie die falschen erwischt, darin liegts!“, wäre man geneigt Karis Rede über die zerbrochenen Blumentöpfe Furlanis zu paraphrasieren. Die¬ se Nuancen wahrzunehmen, ist Helenes gesunder Menschenverstand nicht fähig. Bezeichnend ist ihr aggressiver Gebrauch des Wortes „vulgär“ und seiner Äquivalente. Kari benutzt diesen zum Sprachschatz des Snobs gehö¬ renden Ausdruck nur einmal, um die liebenswürdige Kunst Furlanis von der anderer, ungenannter Clowns zu unterscheiden. Helene antwortete darauf, indem sie die so eingeschränkte, kontingente Ansicht Karis in ein abstraktes Urteil verabsolutiert: „Ich find auch alles, wo man eine Absicht merkt, die dahintersteckt, ein bißl vulgär“ (11,1), oder, mit derselben Ver¬ achtung: „Es gehört viel Contenance dazu oder ein bißl Gewöhnlichkeit, um Ihre Freundin zu bleiben“ (11,14), oder: „Ich hätt nicht den kleinen Finger gerührt, um eine solche Frau von dir wegzubringen. Es wär mir nicht dafür gestanden“ (III,8). Mit diesem letzten Satz erhebt sich Helene über das gesamte weibliche Universum. Und so kann Kari gar nicht anders 36

als antworten: „Was ist das für ein Zauber, der in dir ist. Gar nicht wie die andern Frauen. Du machst einen so ruhig in einem selber“ (III,8). Man(n) muß sich ja ruhig fühlen, wenn sich als Abschluß der Verwirrungen die begehrte Frau über ihr ganzes Geschlecht stellt. Helene glaubt sich zur In¬ terpretin von Karis wahrem Wunsch zu machen: Begehren ist Ihre Natur. Aber nicht: das - oder das - sondern von einem Wesen: alles - für immer! Es hätte eine die Kraft haben müssen, Sie zu zwingen, daß Sie von ihr immer mehr und mehr begehrt hätten. Bei der wären Sie dann geblieben . . . Nach einer kurzen Zeit waren sie dir alle gleichgültig, und du hast ein rasendes Mitleid gehabt, aber keine große Freundschaft für keine: das war mein Trost. (III,8)

Helene entfaltet eine recht einfache Strategie, um das umherschweifende Begehren Karis in Richtung auf sie selbst zu kanalisieren. Aber ist das Pro¬ blem des Schwierigen nicht ein anderes? Nicht die Gleichgültigkeit gegen¬ über seinen Damen macht ihm Schwierigkeiten, sondern daß der Wunsch nach einer Geliebten sich immer wieder erneuern kann, weil „er weiß, daß für ihn nie etwas erledigt ist“ (D IV, 447). Die Instabilität des Begehrens selbst ist es, die seine Wiederkehr ermöglicht. Helene interpretiert als Des¬ interesse, als verachtungsvollen Frauenkonsum - eine nach der anderen -, einen viel fließenderen Zustand. Der Abenteurer kann Angst vor der Wie¬ derholung haben, weil er Angst hat, sich aufzulösen, keine Identität mehr zu besitzen. Doch die Langeweile, die Verachtung für die besessene „Ware“ bestimmen nicht sein Verhältnis zu den Frauen. Deshalb schützt Helene Kari nicht vor dieser Krankheit, sondern vor den Ängsten eines Chamäleons. Woher nimmt nun Helene ihre Macht, den Schwierigen seine zwar be¬ ängstigende, aber zweifellos auch angenehme Vergangenheit aufgeben zu machen? Worin besteht ihre Differenz zu den anderen Frauen? Natürlich in ihrer „Rasse“, in dem ihr von sich selbst, aber auch von den anderen Figuren zugesprochenen Adel. Das ganze so ambivalente und nuancenrei¬ che Lustspiel ist von der Thematik des Snobismus durchdrungen. Nur in¬ dem man Kari den anderen männlichen Figuren Hofmannsthals annähert, zum Beispiel Andreas aus Andreas oder die Vereinigten und damit dem Parve¬ nü und der Anziehungskraft, welche die hohe Gesellschaft auf ihn ausübt, gewinnt das Ballett der Figuren eine gewisse Logik. Nur so erklärt sich Karis definitive Konzentration auf Helene und das Ende seiner Existenz als Mann des 18. Jahrhunderts. Für Kari - aber nicht für Hofmannsthal - ist die Welt der Eleganz des 18. Jahrhunderts zu Ende. Für das Paar Kari-Helene mit seinem viktoria-

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nisch anmutenden Wahrheitsfanatismus gibt es keinen Raum mehr für die Konversation. In diesem Lustspiel inszeniert Hofmannsthal eine Entschei¬ dung zwischen zwei Typen von Weiblichkeit, die zwei wesentliche und ge¬ gensätzliche Züge des Protagonisten verkörpern. Helene repräsentiert sein Streben nach einem konstruktiven und moralischen Adel, Antoinette seine Neigung zu einer aristokratischen, sich jenseits von gut und böse ansie¬ delnden, dispersiven Sinnlichkeit6. Beide Frauenfiguren werden von Kari benutzt, um auf sie seine Spaltung zu projizieren. Aber der Text folgt die¬ ser Strategie nicht. Karis Äußerungen über Antoinette decken sich nicht mit Antoinettes „wirklichem“ Erscheinen im Text. Der verächtliche Ton in Helenes Reden bildet wiederum nicht nur einen Kontrast zu Karis Bonhomie, sondern ent¬ hüllt auch einen leicht hysterischen, labilen Zug an dieser Figur, den Hof¬ mannsthal in seinen Notizen benennt als den „prekären Seelenzustand Helenens, der in seelisches Kranksein leicht Umschlagen könnte“ (D IV, 447). Helene ist nicht die starke, stabile Frau, die Kari und Stani in ihr sehen. Ihre Arroganz, verbunden mit der Angst vor allem Körperlichen, Niedrigen erinnert an Hysterie. Treffend ist in diesem Zusammenhang Helenes Selbstbeschreibung, die gute Manieren und Diskretion als Verdrän¬ gungsmechanismus darstellt. Au fond können wir Frauen tun, was wir wollen, meinetwegen Solfeges singen oder politisieren, wir meinen immer noch was andres damit. - Solfeges singen ist indis¬ kreter, Artigsein ist diskreter, es drückt die bestimmte Absicht aus, keine Indiskre¬ tionen zu begehen. Weder gegen sich, noch gegen einen andern. (11,14)

Die Artigkeit, das genaueste Befolgen aller von der Gesellschaft vorgeschrie¬ benen Regeln, dient dazu, das „andre“ zu verstecken, das in die Beziehung zwischen Mann und Frau hineinfunkt und indiskret ist. Artigsein ist ein Imperativ, der Kindern auferlegt wird, nicht Erwachsenen. Ein Imperativ, der dazu dient, ihnen „gute Manieren“ einzutrichtern. Wenn Helene die¬ sen Ausdruck benutzt, so bekommt er eine regressive Bedeutung. Um je¬ nen erotischen Bodensatz der Kommunikation, der sie so ängstigt, zu ver¬ drängen, bleibt Helene nichts anderes übrig, als hysterisch zu regredieren. Ironisch ist es dann, daß es gerade diese Artigkeit ist, die Kari an Helene fasziniert: „Sie ist so deliziös artig, wie sonst nur alte Frauen sind“ (1,16). Kari sagt hier nicht - was näherläge - „wie sonst nur Kinder sind“, weil Helene für ihn die Reife, die mütterliche Führung bedeuten muß. Sie darf auf keinen Fall jene Zeichen von Regression zeigen, die sie in die Nähe 38

dessen brächten, wovon der Autor weiß, daß es ihre Krankheit ist. Gemein¬ sam aber ist beiden Bildern (alte Frau, Kind), daß sie das „andere“, die Erotik, ausschließen. Karis Meinung widerspricht dem Text auch in bezug auf Antoinette. Er liest in ihrem Gesicht den „stummen Vorwurf“: „Warum habts ihr mich alle dem fürchterlichen Zufall überlassen?“ (11,14). Doch Antoinette ist nicht nur zu Zeiten „verführbar“ - Karis eigene Schwäche -, sondern auch fähig, sich dem eigenen Instinkt anzuvertrauen, der ihr jene Kraft gibt, derer sich der Schwierige mit Hilfe eines starren Willens zur Moral versichern muß. Bezeichnend dafür sind die wunderbaren Szenen, in denen sie zuerst den aufdringlichen „preußischen“ Baron Neuhoff und dann ihren gutwilligen, aber anstrengenden Mann auf Distanz hält. Natürlich geht die Welt des 18. Jahrhunderts, die Welt der Soireen, der Konversation, des Abenteurers mit dem finalen Verlöbnis unter. Am Ende beginnt der anstrengende Weg in Richtung Schicksal, die Bestimmung des Subjekts aus der Kleinfamilie. Und so ist es kein nur harmonisches, aus¬ sichtsreiches Ende.7 Denn das Schicksal enthüllt sich in widersprüchlichen, vom Tod angehauchten Bildern. Man denke nur an Karis Vision im Schüt¬ zengraben, als Helene seine Frau war: „Das Ganze hat eher etwas Vergan¬ genes gehabt als etwas Zukünftiges“ (11,14), oder an die gleiche melancho¬ lische Disposition Helenes, die den Augenblick nicht leben kann, die Ge¬ genwart immer schon als vergangene, tote fühlt (11,14). Es ist die das ganze Lustspiel durchdringende Trauer um etwas, was zu Ende geht, um eine Welt, die es nicht mehr gibt, die einen apologetischen Schluß verunmög¬ licht. Helenes plötzlicher Aktivismus, ihre Entschiedenheit dient nur dazu, dieses Ende noch endgültiger zu machen.

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Der verrückte Künstler, der Politiker, der Geschäftsmann

In Ad me ipsum nennt Hofmannsthal verschiedene Wege zum „Schicksal“, zum „höheren Selbst“. Nicht nur das Kind, sondern auch die Tat, das Werk und das Opfer. Was diese Wege miteinander verbindet, ist die Fähigkeit, dem Augenblick Dauer zu verleihen. Wenn die wahre Schuld des „Toren“ Claudio in seiner Unfähigkeit bestand, „jeden einzelnen Augenblick - oder mehr als einzelne Augenblicke - durch den Überschwang ins Ewige zu he¬ ben“ (RA III, 612), so ist dem Künstler, der das Werk schafft, diese Schuld fremd. Im Bruchstück Der Tod des Tizian (1892) ist die Kunst, den Augen¬ blick zu leben, Zeichen der Größe des Malers: Er aber hat die Schönheit stets gesehen, Und jeder Augenblick war ihm Erfüllung. (GD I, 259)

Der Künstler erscheint so als der Bruder des Abenteurers, beide genießen den Augenblick und nicht den verdinglichten Besitz. Doch der Künstler ist dazu fähig, den Augenblick zu fixieren, während der Abenteurer vor der Erinnei'ung flieht und ihn in den menschlichen Beziehungen nicht nur die lähmenden Besitzmechanismen ängstigen, sondern auch ganz einfach die Dauer. Daher die negativen Seiten seines Charakters, die Hofmannsthal trotz aller Sympathie für ihn auch in Der Abenteurer und die Sängerin hervor¬ hebt, zum Beispiel die Angst, auch nur eine Gelegenheit zu verlieren. Weidenstamm selbst nennt sich ein „Kind“, des „Lebens Sklave“, unfähig „zu altern“ (GD I, 585). Von Tizian wird in Der Tod des Tizian gesagt, daß er die Wirklichkeit ge¬ nießt, aber als Maler, als ein Außenseiter, wie der Tor Ellis in Das Bergwerk zu Falun( 1899), der aus Liebe zur märchenhaften Bergkönigin auf sein nor¬ males Familienleben verzichtet. Auch dieses Werk ist seinem Autor zufolge die Analyse eines Künstlerlebens, „einer dichterischen Existenz“ (RA III, 608). Der Künstler findet das Schicksal, die Dauer, in seiner Arbeit und

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nur in ihr. Ein anderes Beispiel für diese Form der Existenz findet Hof¬ mannsthal im Schriftsteller Balzac. Im Jahr 1902, das Jahr des Chandosbriefes, sucht sich Hofmannsthal eine weitere historische Maske, um mit deren Hilfe seine Zweifel an einem har¬ monischen Bildungs- und Reifungsprozeß des Subjekts darzustellen. Eine Fiktion ist der Brief des elisabethanischen Lord, eine Fiktion ist das Ge¬ spräch Balzacs mit dem Orientalisten Hammer-Purgstall „in einem Döblin¬ ger Garten im Jahre 1842“. Der Titel lautet Über Charaktere im Roman und im Drama (E, 481-494). Den berühmten Romanautor fragt Hammer-Purgstall, warum er nicht daran denke, seinen glühenden Bewunderern auch Werke für das Theater zu schenken. Balzac antwortet auf diese Frage, die den Verlauf der ganzen Konversation bestimmen wird, indem er seine Theorie über den Unter¬ schied zwischen dramatischem und epischem Charakter entwickelt. Der dramatische Charakter ist eine Verengung des wirklichen. Was mich an dem wirk¬ lichen interessiert, ist gerade seine Breite. Seine Breite, welche die Basis seines Schick¬ sals ist. Ich habe gesagt, ich sehe nicht den Menschen, ich sehe Schicksale. (E, 485)

Und Schicksale darf man nicht mit Katastrophen verwechseln. Die Kata¬ strophen sind Sache des Dramatikers. Für den Romanautor Balzac bestimmt das Schicksal den Charakter, an den ein Shakespeare noch glauben konnte, ein Epiker dagegen nicht mehr. „Meine Menschen sind nichts als das Lackmuspapier, das rot oder blau reagiert. Das Lebende, das Große, das Wirkli¬ che sind die Säuren: die Mächte, die Schicksale.“ Doch was sind Schicksale, vielleicht die Feidenschaften?, fragt Hammer-Purgstall. Nehmen Sie dieses Wort, wenn Sie es vorziehn, aber Sie müssen es in einer noch nie dagewesenen Weite nehmen und dann wieder es so verengen, so ins Besondere ziehen, wie es noch nie gebraucht worden ist. Ich sagte: „die Mächte“. Die Macht des Erotischen für den, welcher der Sklave der Liebe ist. Die Macht der Schwäche für den Schwachen. Die Macht des Ruhmes über den Ehrgeizigen. Nein, nicht der Liebe, der Schwäche, des Ruhmes: seiner ihn umstrickenden Liebe, seiner individu¬ ellen Schwäche, seines besonderen Ruhmes. (E, 486)

Diese individuellen Schicksale machen aus den Charakteren im Roman Wahnsinnige, die gerade dank ihres Wahnsinns interessant werden. Doch warum sind die dramatischen Personen zu verengt, um Charaktere im Sin¬ ne Balzacs darzustellen? Denn auch für Balzac hat es ein faszinierendes Theater gegeben, ein Theater des „Chaos“, das der Elisabethaner: 42

Das Theater, auf dem alles vorkommt, alles. Alle Laster, alle Lächerlichkeiten, alle Sprechweisen . . . Lear auf der Heide, und der Narr neben ihm, und Edgar und Kent und die Stimme des Donners in ihre Stimmen verschlungen! (E, 483)

Offensichtlich waren die Elisabethaner dazu fähig, die Grenzen des drama¬ tischen Charakters zu sprengen und damit das Chaos, das Andersartige zu retten: Volpone, der sein Gold anbetet, und seine Diener, der Zwerg, der Eunuch, der Hermaphrodit und der Schurke! LTnd die Erbschleicher, die ihm ihre Frauen und ihre Töchter anbieten, die ihre Frauen und Töchter bei den Haaren in sein Bett ziehen! Und die dämonische Stimme der schönen Dinge, der verlockenden Besitz¬ tümer, der goldenen Gefäße, der geschnittenen Steine, der wundervollen Leuch¬ ter, so vermengt mit den Menschenstimmen. Ja, es hat einmal ein Theater gege¬ ben. (E, 483 f.)

Die elisabethanische Welt wird mit den Augen des Ästhetismus der Jahr¬ hundertwende betrachtet: erlesene Gegenstände, Edelsteine, Gold. Doch im Unterschied zu den schönen Dingen, die diejungen Ästheten Hofmanns¬ thals umgeben, sind die Schätze im Theater der Shakespearezeit keine er¬ erbten, sie erhalten ihren Wert nicht aus ihrem Eingebundensein in eine Kette von Generationen, die ein bestimmtes Verhalten, eine bestimmte Würde vorschreibt. Die Schätze befinden sich hier in den Händen Volpones und seiner Diener, die in nichts den stummen und auch im Haß würdevol¬ len Dienern des Kaufmannssohns des Märchens ähnlich sind. Volpones Die¬ ner würden ihrem Herrn keine Ehre machen, sie würden ihn nicht mit jener Atmosphäre stilisierter Ruhe umgeben, denn sie sind Zwerge, Eunu¬ chen, Hermaphroditen, Schurken. Es sind Außenseiter, die jeder traditio¬ nellen Harmonie schon durch ihre Körper Hohn sprechen. In dieser Be¬ schreibung besteht die Faszination des elisabethanischen Theaters in sei¬ nem amoralischen Chaos. Dieses Chaos, diese Masse an Merkwürdigkeiten und „Perversionen“ hält auch der unvermeidlichen Verengung durch die szenische Dramatisierung stand. Balzac radikalisiert die Tendenz zum Chaos der Elisabethaner, indem er auf die dramatische Struktur verzichtet und die Welt in ihrer Totalität als unendlichen Hintergund für die Handlun¬ gen seiner Verrückten nimmt. Seine Charaktere sind alle verrannt in ihre fixe Ideen, denn sie erleben nichts. Nichts dringt von außen ein, um ihre Persönlichkeit zu verändern, ihr Inneres ist ein sich selbst verzehrender Brand. „Es gibt keine Erlebnisse, als das Erlebnis des eigenen Wesens“ (E, 486). Hammer-Purgstall widerspricht dieser Theorie mit Worten, die das be43

rühmte Verdikt Goethes gegen die Romantiker aufnehmen - und der Be¬ zug zu Goethe durchzieht Hofmannsthals ganzes Leben und Werk

dem

„Pathologischen“ wird der Griff „ins bunte Menschenleben“ entgegenge¬ setzt (E, 491). Balzac hält dem ein weniger klassisches und mehr dionysi¬ sches Goethebild entgegen. Ein dionysischer Goethe, der in dem Zauber¬ schloß, das er die „Harmonie seiner Seele“ nannte, finstere Verliese hatte, „in denen Gefangene einem langsamen Tode entgegenwimmerten“. Doch er, der „Kleists Seele getötet“, „er geruhte, sie nicht zu hören, weil er groß war“ (E, 493). Hofmannsthal zitiert Goethe, den Schöpfer des „Bildungs¬ romans“, als Beispiel für seine Theorie vom Ende jeglicher „Bildung“. Das ist sehr aufschlußreich für die Radikalität, mit der sich Hofmannsthal von den pädagogischen Illusionen des 19. Jahrhunderts distanziert. Auf diese Radikalität ist das Fragmentbleiben seines einzigen Romans zurückzufüh¬ ren, den er - gegen Balzac - als Bildungsroman konzipiert hatte. Indem Hofmannsthal sich chamäleontisch mit Balzac identifiziert, macht er ihn zum Träger seiner de-konstruktivsten, a-sozialsten und dissonantesten An¬ schauungen. Es macht Sinn, daß diese Reflexion sich um die Figur des Künstlers dreht. Der Künstler ist der Verrückte par excellence, er lebt nur in seinem Werk, die einzige ihm erlaubte Erfahrung. Balzac vergleicht ihn mit dem Heizer eines Dampfschiffes, der immer gegen Abend für eine Viertelstunde an Deck kam: Sooft er heraufkam, taumelte er; er trank gierig einen großen Krug Wasser leer, er legte sich auf einen Haufen Werg und spielte mit dem Schiffshund, er warf ein paar scheue, fast schwachsinnige Blicke auf die schönen und fröhlichen Passagiere der Ersten Kajüte, die auf Deck waren, sich an den Sternen des südlichen Himmels zu entzücken; er atmete, dieser Mensch, mit Gier, so wie er getrunken hatte, die Luft, welche durchfeuchtet war von einer in Tau vergehenden Nachtwolke und dem Duft von unberührten Palmeninseln, der über das Meer heranschwebte; und er verschwand wieder im Bauch des Schiffes, ohne die Sterne und den Duft der ge¬ heimnisvollen Inseln auch nur bemerkt zu haben. Das sind die Aufenthalte des Künstlers unter den Menschen. (E, 486 f.)

Das Bild des Heizers im Maschinenraum ruft uns sofort das berühmte Jugendgedicht Hofmannsthals Manche freilich {GD I, 26) in die Erinnerung, wo die, die drunten sind, „wo die schweren Ruder der Schiffe streifen“, sterben müssen, während die anderen, die „bei dem Steuer droben“ woh¬ nen und „Vogelflug und die Länder der Sterne“ kennen, sich aber an die untei en „gebunden fühlen. In diesem Gedicht lebt der Intellektuelle „oben“ und versucht sich über die Tatsache zu trösten, daß andere im Dunkeln 44

arbeiten und sterben müssen, damit er „kennen“ kann. Im 1902 entstande¬ nen Gespräch dagegen ist es der Künstler, der im Bauch des Schiffes lebt, übrigens ohne darunter besonders zu leiden, denn das Wissen der Passa¬ giere Erster Klasse interessiert ihn nicht. Die Abwesenheit einer wenn auch schmerzlich erfahrenen Apologie der sozialen Pyramide macht auch das schlechte Gewissen, die Schuld überflüssig, die das Gedicht durchdringt. Nach Balzacs Meinung kann der Künstler kein Verhaltensmodell und keine Moral liefern, und doch kann er einen großen Einfluß auf das Be¬ wußtsein der Menschen nehmen, keinen konstruktiven, sondern einen dekonstruktiven. Er beteiligt sich am Prozeß der „Zersetzung“ dessen, was wir noch „Erlebnis“ nennen. Um 1890 werden die geistigen Erkrankungen der Dichter, ihre übermäßig gestei¬ gerte Empfindsamkeit, die namenlose Bangigkeit ihrer herabgestimmten Stunden, ihre Disposition, der symbolischen Gewalt auch unscheinbarer Dinge zu unterlie¬ gen, ihre Unfähigkeit, sich mit dem existierenden Worte beim Ausdruck ihrer Ge¬ fühle zu begnügen, das alles wird eine allgemeine Krankheit unter den jungen Männern und Frauen der oberen Stände sein. (E, 488)

Es ist die Geschichte seiner eigenen „Bildung“, die Hofmannsthal hier Balzac in den Mund legt. Das Gespräch Über Charaktere im Roman und im Drama registriert die Unmöglichkeit einer im Sinn des klassischen Individuums harmonischen Entwicklung der Persönlichkeit, aber auch die Unmöglich¬ keit sowohl der „glücklichen“ Kreativität des Künstlers, wie sie noch Tizian kannte, als auch des vollendeten Augenblicks des Abenteurers. Die Nähe der elisabethanischen Welt zu der des Abenteurers bezeichnet das Ende beider. Der Abenteurer wird in den Florindo-Komödien immer fetischisti¬ scher, gerade weil immer „zerstreuter“; er ist nicht mehr fähig, die Wirk¬ lichkeit in seiner sinnlichen Wahrnehmung zu organisieren, alles „mit ei¬ ner Zunge“ zu fühlen. Nun herrschen, eine die Kehrseite der anderen, Zerstreuung und Fixierung. In dieser Welt findet das Glück keinen Platz mehr. Vor allem nicht mehr jenes „hohe und naive Glücksgefühl“, das Goethe - in dem Teil der Auto¬ biographie, der der Jugendzeit in Straßburg und Sesenheim gewidmet ist und Stendhal in seiner Chartreuse de Parme darzustellen fähig waren. Ich lese seit einigen Tagen mit dem außerordentlichsten Vergnügen die „Chartreu¬ se de Parme“. - Stendhal ist ohne Zweifel dem Geist nach, der erste Autor unter den Franzosen des XIX. Jahrhunderts. In einer gewissen Weise muß man ihn noch über Balzac stellen. (Aufzeichnung aus dem Jahr 1922, RA III, 566 f.)

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Die Welt Stendhals, in der das Wunder des „hohen und naiven Glücksge¬ fühl“ statthaben kann, schafft es, sowohl den Fetischismus Balzacs als auch den konstruktiv-klassizistischen (dramatischen) Charakter von sich fernzu¬ halten. Wie Jean-Pierre Richard schreibt: Natürlich sein, heißt dann sich dem Wechsel hingeben, sich dem Schock, der Über¬ raschung und dem Vergessen aussetzen, nicht immer man selbst sein zu wollen und nicht immer voraussehbar zu sein. Der Held Stendhals hat keinen Charakter; er strebt nicht immer nach seiner Definition oder seinem Wesen, sondern lebt in den Tag hinein, je nach Moment und Zufall. Frei und geschmeidig gleitet er, wie der Roman, der seine Abenteuer berichtet, in einer ewigen Gegenwart.1

Doch dieser Autor, der alle Dualismen aufhebt, der Erkenntnis und Zärt¬ lichkeit zusammen sehen kann, ist mit den pessimistischen und strengen Reflexionen Hofmannsthals um 1902 nicht zu vereinbaren. Für diesen Hofmannsthal ist selbst die absolut nicht zärtliche, chaotische Seite Balzacs zu „glücklich“.2 Wenn für Balzac das Theater eine die Vielfältigkeit der Wirklichkeit erstickende Einrichtung ist, so versucht Hofmannsthal eben in diesen Jahren verzweifelt Dramen zu schreiben. Resultat sind die auf das griechische Altertum und seine Mythen zentrierten Tragödien, ihre Haupt¬ figuren sind Elektra und Ödipus. Es sind sicherlich Dramen, die um „Ver¬ rückte“ im Sinne Balzacs kreisen, vor allem Elektra, die als Hysterikerin im Sinne der Studien über Hysterie von Breuer-Freud konzipiert ist.3 Diese Dramen würde ich als Versuche sehen, für die Moderne die „edel¬ ste“ dramatische Gattung zu retten: die Tragödie. Einen ähnlichen Versuch unternahm, ein Jahrhundert früher, Heinrich von Kleist. Wie Kleist, wenn auch ohne ihn zu nennen, stellt sich Hofmannsthal in seinen Anmerkun¬ gen über Elektra zum klassizistischen Goethe. Als Stil schwebte mir vor, etwas Gegensätzliches zur „Iphigenie“ zu machen, etwas worauf das Wort nicht passe: „dieses gräcisierende Produkt erschien mir beim er¬ neuten Lesen verteufelt human“ (Goethe an Schiller). (RA III, 452)

Nichts geeigneter als Kleist, um den Stil der Iphigenie zu kontrastieren. Und so sind auch der schnelle und abgebrochene Rhythmus des Verses, die hypo¬ taktische Syntax, die an die Penthesilea erinnernde Häufung von Tier¬ metaphern, ja ganze metaphorische Felder eindeutig Kleistscher Proveni¬ enz. Zum Beispiel wenn Elektra Chrysothemis dazu bringen will, ihr bei der Ermordung Klytämnestras und Ägisths zu helfen, und ihr zu diesem

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Zweck ihre nur nach diesem Doppelmord mögliche Hochzeit vor Augen führt: Ich will mit dir in deiner Kammer sitzen und warten auf den Bräutigam, für ihn will ich dich salben, und ins duftige Bad sollst du mir tauchen wie der junge Schwan und deinen Kopf an meiner Brust verbergen, bevor er dich, die durch die Schleier glüht wie eine Fackel, in das Hochzeitsbett mit starken Armen zieht. (D II, 217)

Hier übernimmt Hofmannsthal nicht nur die Ambivalenz Erotik/Gewalt, die die ganze Penthesilea durchzieht, sondern auch das Bild des jungen Schwans der letzten Szene der Kleistschen Tragödie, wo Penthesilea sich nach ihrem „Duell“ mit Achilles erfrischt und dabei von Prothoe ermuntert wird: „Vortrefflich! / Das Haupt ganz unter Wasser, Liebe! So! / Und wie¬ der! So, so! Wie ein junger Schwan!

(V. 2830-2832). Oder auch in dem¬

selben Dialog Elektra/Chrysothemis: ELEKTRA: Mit meinen traurigen verdorrten Armen umschling ich deinen Leib, wie du dich sträubst, ziehst du den Knoten nur noch fester, ranken will ich mich rings um dich und meine Wurzeln in dich versenken und mit meinem Willen das Blut dir impfen! (D II, 216),

wo Hofmannsthal eine von Kleist im Dialog zwischen Homburg und Nata¬ lie in Der Prinz von Plomhurg verwendete Liebesmetapher ins Obsessiv-De¬ struktive wendet: HOMBURG: Schlingt Eure Zweige hier um diese Brust, Um sie, die schon seit Jahren, einsam blühend, Nach eurer Glocken holden Duft sich sehnt! NATALIE: - Wenn ich ins innre Mark ihr wachsen darf? (V. 602-607)

Die „Krankheit“ - die Hysterie und die linguistischen Obsessionen des Ri¬ valen Goethes - ist der Hintergrund zu dieser Wiedergewinnung der klassi¬ schen Tragödie im Zeichen der Tat. Wenn Goethe die Tragödie vermeidet, macht Kleist sie wieder möglich, indem er sie aber säkularisiert und die in

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der klassischen Tragödie von ihrer Nähe zum Göttlichen gezeichnete Schuld und Sühne in das nur menschliche Schicksal eines selbstzerstörerischen Subjekts4 wandelt. In Kleist findet wirklich das statt, was Balzac in den Unterhaltungen als das Spezifikum seiner Figuren bezeichnet. Sie sind le¬ bende Fackeln geworden, die „sich selber verzehren“ (E, 494). So wird Hofmannsthals Rückkehr zu Kleist plausibel, denn bei ihm findet er die Darstellung einer psychologischen Struktur, die ganz seiner Theorie vom Ende der Erfahrung entspricht. Diese psychologische Struktur nähert aber Balzac und Kleist noch in ei¬ nem weiteren Sinn einander an. Beide bewegen sich im Melodram, wie es Peter Brooks in The Melodramatic Imagination5 definiert. In Kleist gewinnt die Tragödie melodramatische Züge6, man denke nur an Die Familie Schroffen¬ stein mit ihren Verbrechen, ihren Geheimnissen, ihren kriminalistischen Motiven und ihrem düsteren Ringen zwischen Gut und Böse oder an die babylonische Großartigkeit, mit der Penthesilea sich, von Hunden und Ele¬ fanten „rings umheult“ (V. 2611), aufmacht zum Kampf mit dem wehrlo¬ sen Achilles. Wenn wir Peter Brooks’ These, daß die Psychoanalyse eine melodramati¬ sche Struktur aufweist, akzeptieren, dann erweist sich die gleichzeitige Ver¬ wendung sowohl Kleists als auch der Studien über Hysterie in der Elektra als durchaus logisch und notwendig im Rahmen von Hofmannsthals Wieder¬ entdeckung der Tragödie. Zum Bezug Psychoanalyse-Melodram schreibt Brooks: Man kann in der Psychoanalyse die systematische Verwirklichung der Ästhetik des Melodramas sehen, ihre Anwendung auf die dynamische Struktur der Psyche. Da¬ für spricht vor allem die psychoanalytische Auffassung vom Konflikt, der immer als ein radikaler, unlösbarer gedacht wird, der das Individuum zwar nicht zerstören muß, aber sicherlich bedroht. Dieses ist somit immer gezwungen, einen Weg zu finden, den Konflikt zu verringern oder zu beschwören. Die Dynamik der Verdrän¬ gung und der Wiederkehr des Verdrängten erinnert an den für das Melodram bezeichnenden Handlungsverlauf: Die Inszenierung wird bis zum Äußersten ge¬ trieben, die Beziehung zwischen dem Symbol und dem Symbolisierten kann, in der Hysterie z. B., weder kontrolliert noch gerechtfertigt werden. Der melodramatische Begriff des Bösen wird im Verlauf und in den Inhalten der Verdrängung wieder¬ eingeführt und nur teilweise dem Bereich des Ethischen entzogen: Das Unbewußte ist immer willig, sich als traitre zu verhalten.7

Kleist und die Psychoanalyse sollen dazu dienen, das Balzacsche Chaos zu reduzieren und zugleich seine dramatischen Aspekte für die Bühne zu ret-

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ten: die ethischen Schlachten, die Ermittlungen im Bereich der Moral, die für das Melodram charakteristisch sind. So hätten die Reduktion und Ver¬ dichtung, die sowohl Kleist als auch die Psychoanalyse vornehmen, diesel¬ be Funktion, nämlich die Konflikte zu versubjektivieren und zu radikalisieren, dabei die Hypertrophie der Bedeutungen jedes kleinsten Geschehens auf der Bühne zu rechtfertigen, um so in Dichte das zu gewinnen, was man an Ausdehnung gegenüber dem Roman verliert. Das starke Interesse, das Hofmannsthal für die Tragödie zeigt, hat eine ethische Basis und ist an seine Reflexion über die Möglichkeit der Tat ge¬ bunden. Die Tat als Weg in das Schicksal8. Paradoxerweise beweisen aber alle seine „Tragödien“ die Unmöglichkeit der Tat. Elektra, als echte Hyste¬ rikerin, handelt überhaupt nicht, sie wirkt nur, mit den Gesten, mit dem Tanz, auf ihren eigenen Körper ein. Es handelt dagegen der „gesunde“ Orest, ganz einfach, indem er tötet. Die Möglichkeit zu handeln, die den Menschen vor der Krankheit - der Hysterie, der chronischen Unentschie¬ denheit - schützen soll, gibt es für Hofmannsthal in den ersten Jahren unseres Jahrhunderts nur als Mord. In dem Entwurf zur ersten Neubear¬ beitung von Calderons La vida es sueno aus den Jahren 1901-1904 - die erste einer Serie, die bis zu Der Turm (1924-1926) führen wird - ruft Sigis¬ mund aus: Wozu hast du mich lesen gelehrt? wie kann ich die biblische und römische Ge¬ schichte anders nachleben als wie ein an der Glaswand herumzuckendes Insekt? also ist sie mir nutzlos! ich bin vollgestopft mit den eingeklemmten Reizen des Lebens! um mich ihrer zu entladen brauche ich eine ungeheure und symbolische Wollust: den Mord. (D III, 246)

Diese ungeheure symbolische Wollust - auf die Beziehung Symbol-Mord komme ich im nächsten Kapitel zurück - können sich die „kranken“ Hel¬ den der Tragödien nur wünschen, sie sind nicht fähig, sie zu leben. Auch nicht in dem anderen großen Drama, an dem Hofmannsthal arbeitet - und mit wieviel Leiden, sagen uns die Briefe dieser Zeit -, Das gerettete Venedig, die Bearbeitung einer Tragödie des englischen Autors des frühen 18. Jahr¬ hunderts Thomas Otway. Dieses Drama ist besonders interessant, wenn man es mit der Unterhaltung zwischen Balzac und Hammer-Purgstall in Ver¬ bindung setzt, denn hier versucht Hofmannsthal eine weite und chaotische Welt wieder zu schaffen, ein großes historisches Fresco, indem er von ei¬ nem Stück ausgeht, das Balzac als Erbe des großen elisabethanischen Thea¬ ters ansah - „Es gibt nachzuckende Blitze. Kennen Sie das .Gerettete Vene-

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dig‘ von Otway?“ (E, 484) - ein Stück, das seine Kraft daraus zog, noch an einen in sich abgerundeten Charakter zu glauben. Hofmannsthal zeigt nun in seiner Bearbeitung eigentlich die Unmög¬ lichkeit solcher in sich das Erhabene und das Komische vereinigender Cha¬ raktere, wie sie das Theater Shakespeares und seiner Zeit kannte. Und er zeigt auch, mit einer von Anfang an zum Scheitern verurteilten Revolte gegen den Senat von Venedig, die Unmöglichkeit der Tat. Während in Otways Drama politische Satire und tragische Elemente, komische und er¬ habene Szenen einander abwechseln, inszeniert Hofmannsthals Stefan Geor¬ ge gewidmetes Werk die ungemein traurige Geschichte einer Männerfreund¬ schaft, die zu einem Staatsstreich führen sollte, was aber scheitert. Sicher, das Scheitern ist auch bei Otway vorgesehen, aber dort ist die Atmosphäre eine völlig andere, weil den Nebenpersonen viel mehr Raum gegeben wird und weil der Konflikt und die Liebe zwischen den beiden Helden, Jaffier und Pierre, viel offener ausgetragen werden. In Jaffier, dem unentschiedeneren, sensibleren der beiden, könnte man ein Selbstporträt Hofmannthals sehen, der in diesem Trauerspiel seine Unfähigkeit - es mag auch Unwille gewesen sein - darstellt, zusammen mit dem älteren Freund Stefan George jene „sehr heilsame diktatur“ auf das deutsche Geistesleben auszuüben, wie dieser ihm vorgeschlagen hatte.9 Da die mißlingende Beziehung zwischen den beiden Männern zum obsessiven Zentrum der Tragödie wird, dienen die anderen Figuren, die die Vielfäl¬ tigkeit hätten garantieren sollen, nur dazu, dieses in die Farben des Blutes und der Verwesung getauchte Venedig noch mehr zu verdüstern. Die elisabethanische Vielfältigkeit der Töne ist aufgehoben, von der von Hofmanns¬ thals Balzac so blendend vorausgesehenen Fixierung besiegt. Diese Fixierung macht jegliche „Größe“ des dramatischen Charakters und mit ihr jede Freude am sprachlichen Ausdruck unmöglich.10 In Otways Dra¬ ma kann Pierre vor seiner Erdolchung durch den Freund - er will nicht von Hand der Häscher sterben, Jaffier wird ihm unverzüglich in den Tod folgen, sie sterben also zusammen - alles, was zu sagen ist, an einem öffent¬ lichen Ort, auf der Piazza sagen: Er drückt noch einmal energisch all seine Verachtung für die „Plebs“ und für den widerlichen Mönch, der ihn zur Reue bekehren will, aus und versöhnt sich endlich mit Jaffier. Bei Hof¬ mannsthal bereitet zwar Pieiie lange politische Reden gegen die Signoria vor, doch er wird diese Reden nicht halten können, da seine plötzliche, versteckte und wortlose Ermordung schon beschlossen ist. Er wird allein sterben, im (Bühnen-)Hintergrund, es ist die letzte Szene des Trauerspiels.

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Davor war schon Jaffier an der Wortbrüchigkeit der Signoria gestorben, wortlos, allein, und ohne daß sein Freund ihm seinen Verrat verziehen hät¬ te. Nicht nur führt die Tat zu einem Fiasko, dieses kann nicht einmal mehr ausgedrückt und in der Freundschaft zwischen den beiden Männern ei¬ nem Sinn zugeführt werden. Otways Stück dagegen endet mit Jaffiers Ge¬ liebten, die irreredend, von verschiedenen Personen, Jaffiers Geist und ei¬ ner „soft Music“ umgeben stirbt". Ffofmannsthals Dramen dieser Jahre, die erstrebten Tragödien, geben Balzac Recht, es sind Geometrien der Ver¬ zweiflung, kein Weg ins „Schicksal“. Das Problematische einer anderen Art Tat, eines anderen Weges in Rich¬ tung Schicksal, wird Hofmannsthal einige Jahre später in Die Briefe des Zu¬ rückgekehrten (1907, E, 544-571) darstellen. So wie das Gespräch zwischen Balzac und Hammer-Purgstall, wie der Chandos-Brief stellen auch diese Briefe

ein Experiment, eine Maske dar. Ihr Kern ist die existentielle Krise eines „kosmopolitischen Geschäftsmannes“ bei seiner Rückkehr nach Deutsch¬ land. Dieser gehört sicherlich zu den „oberen Ständen“, und seine Jugend fiel in die Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts, für die Balzac den Höhepunkt des Auflösungsprozesses der Charaktere vorausgesagt hatte. Nachdem der Geschäftsmann Jahre im Ausland verbracht hat, befällt ihm beim Anblick seiner zerfahrenen und zugleich „maniakalischen“ Lands¬ leute ein Gefühl von Unwirklichkeit und Veilorenheit. Dieses steigert sich so, daß er nicht mehr imstande scheint - doch ein einmaliges „Erlebnis“ wird ihn im letzten Augenblick retten -, seine wichtigen und ausgedehnten Geschäftsangelegenheiten zu verfolgen. Der Geschäftsmann bewahrte in sich ein Bild seiner Heimat, die aber nicht jenes Dorf in Oberösterreich war, in dem er seine Kindheit verbrach¬ te, genauer gesagt, sie war nicht nur dies. Sein Vater zeigte ihm oft Dürer¬ stiche. „Die Menschen, die Ochsen, die Pferde wie aus Holz geschnitzt. . . Die spitzen Häuser, die geschnörkelten Mühlbäche ... so unwirklich, so überwirklich.“ Für das Kind besaßen diese Blätter einen merkwürdigen Zauber, als wären sie verhext. Manchmal quälte ich den Vater, er solle die Mappe bringen lassen. Und manchmal war ich nicht dazuzubringen, noch ein Blatt mehr zu sehen, lief mittendrin fort und wurde gescholten. (E, 557)

Die Macht dieser Kupferstiche bestand darin, das „alte Deutschland“ dar¬ zustellen; diese Bilder aus der Vergangenheit verliehen der Gegenwart, die das Kind umgab, ihre Dichte. Die „überstarken Gebärden“ jener „über-

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wirklichen Ahnen“ werden zum Prüfstein für jegliches Geschehen, zum Paradigma für che Wahrnehmung des Alltags. So wird schon die bäuerliche Welt der Kindheit durch ein viel älteres Bild von Schönheit vermittelt. Schön ist die der Zeit entrissene, sofort ethisierte Geste, sie liefert Verhaltensmodelle, weil sie die Beziehung zur Natur, zum „Leben“ miteinschließt: . . . wieweit es Entgegenstemmen ist und wieweit Sichfügen, wo Auflehnung hinge¬ hört und wo Ergebung, wo Gleichmut am Platze ist und eine trockene Rede und wo Übermut und Lustbarkeit: dies Wesentliche, dies Wirkliche hinter dem Alltägli¬ chen, dies was die schlichten Elandlungen des Tages aus dem Menschen heraus¬ treibt, wie es aus dem Baum sein Rauhes und Süßes hervortreibt, Rinde und Blatt und Apfel -, dies, dies hatte meine Welt, wie jene Blätter es wissen, das weiß ich heute und wußte es damals: denn es lag in mir, daß ich das Wirkliche an etwas in mir messen mußte, und fast bewußtlos maß ich an jener schreckhaft erhabenen schwarzen Zauberwelt und strich alles an diesem Probierstein, ob es Gold wäre oder ein schlechter gelblicher Glimmer. (E, 559)

Dieses Paradigma zeigt seine Wahrnehmungs- und Abwehrfunktion wäh¬ rend der langen Reisen. Es reguliert das Verhalten des Geschäftsmannes und macht ihm die fremde Welt, in der er sich befindet, vertraut. Jedesmal wenn sein Blick auf etwas trifft, was in „die Seele“ schlägt, denkt er „Zuhau¬ se“. Und es sind vor allem die Gesten der Menschen, die diese Macht besitzen: ... es mag der große Zug sein, den sie manchmal in ihren Geschäften haben, in den U.S. meine ich, dieses wahnwitzig wilde und zugleich fast kühl besonnene „Hinein¬ gehen“ für eine Sache, oder es mag ein gewisses patriarchalisches grand air sein, ein alter weißbärtiger Gaucho, wie er dasteht an der Tür seiner Estancia, so ganz er selbst, und wie er einen empfängt, und wie seine starken Teufel von Söhnen von den Pferden springen und ihm parieren, und es mag auch etwas viel Unscheinbare¬ res sein, ein tierisches Hängen mit dem Blick am Zucken einer Angelschnur, ein Lauern mit der ganzen Seele, wie nur Malaien lauern können, denn es kann ein großer Zug darin liegen, wie einer fischt, und ein größerer Zug, als Du Dir möch¬ test träumen lassen, darin, wie ein farbiger Bettelmönch Dir die irdene Bettelschale hinhält - wenn etwas der Art mir unterkam, so dachte ich: Zuhause! (E, 546 f.)

Es sind perfekt vollendete Gesten, die ihm bekannt Vorkommen, weil sich in ihnen dieselbe Essenz auszudrücken scheint, die er als Kind in Dürers Kupfei Stichen fand. Diese Essenz hat zwei spezifische Züge: sie kann nur im Moment, blitzhaft erfahren werden, das Bild muß dabei aus seinem Kon-

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text gerissen werden, und sie wird nur durch das Auge aufgenommen, das ihr sogleich den Archetyp der Kindheit überstülpt. Einem so gearteten Blick ist jede Geste disponibel, alles wird heimatlich, der magische Moment scheint, um sich zu erfüllen, nur eine in sich nicht widersprüchliche Geste zu benötigen. Doch diese Harmonie ist ja schon dadurch garantiert, daß der Kontext ausgeschlossen ist, daß das Auge, indem es sich in den Dienst der Abwehr von Reflexion stellt, Kontinuität verhindert. Für eine Mytholo¬ gie des Blicks wird das Komplexe einfach, und jegliche Erfahrung des an¬ deren unmöglich, weil die Distanz einerseits in der Fixierung des anderen zu einem Bild unüberbrückbar wird, andererseits durch die Macht der Pro¬ jektion ausgelöscht scheint. Anstatt einer Öffnung gegenüber anderen Welten scheint sich eine fast imperialistisch zu nennende Haltung durch¬ zusetzen. Man könnte sie mit der von Roland Barthes in den Guides bleues auf gezeigten vergleichen: Ir Spanien zum Beispiel ist der Baske ein verwegener Seemann, der Ostspanier ein fröhlicher Gärtner, der Katalane ein geschickter Kaufmann und der Kantibrier ein gefühlvoller Gebirgsbewohner. Man findet hier den Virus der Essenz wieder, der im Grunde in jeder bürgerlichen Mythologie vom Menschen steckt.12

Die starre Bewahrung der kindlichen Muster, die das Fremde sich aneig¬ nen, ohne mit ihm in Berührung zu kommen, beginnt sich aufzulösen, wenn der Geschäftsreisende in die Heimat zurückkehrt und nun seine über die Jahre hinweg beibehaltenen Wahrnehmungsmuster mit der Wirklich¬ keit, aus der sie stammen, konfrontiert werden müssen. Seine Lebensweise im Ausland mit ihren sicheren und unveränderlichen Maßstäben hatte ihm ein fast instinktives, bewußtloses Existieren erlaubt. Die Rückkehr erschüt¬ tert das Gerüst, aus dem es gemacht war; die Selbstreflexion des Geschäfts¬ mannes, der bisher so froh gewesen war, nicht über sich selbst nachdenken zu müssen, beginnt mit einem Gefühl des Verlorenseins. So bin ich nach achtzehn Jahren wieder in Deutschland, bin auf dem Weg nach Österreich, und weiß selbst nicht, wie mir zumut ist. Auf dem Schiff machte ich mir Begriffe, ich machte mir Urteile im voraus. Meine Begriffe sind mir über dem wirk¬ lichen Ansehen in diesen vier Monaten verlorengegangen, und ich weiß nicht, was an ihre Stelle getreten ist: ein zerspaltenes Gefühl von der Gegenwart, eine zer¬ streute Benommenheit, eine innere Unordnung, die nahe an Unzufriedenheit ist und fast zum erstenmal im Leben widerfährt mirs, daß ein Gefühl von mir selbst sich mir aufdrängt. (E, 544)

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Nach einem Leben in einer anscheinend fremden Welt, die aber auf die präexistenten kindlichen Muster zurückgeführt wurde, wird die Schiffs¬ reise dazu benutzt, sich auf den Zusammenstoß mit der Wirklichkeit, die diese Muster gestellt hatte, geistig vorzubereiten. Das ungewohnte Reflek¬ tieren scheint aus einer verborgenen Angst, einer mahnenden Vorahnung herzurühren. Doch die rationalen Vorsichtsmaßnahmen („Auf dem Schiff machte ich mir Begriffe . . .“) versagen. Nicht nur erscheint ihm die Wirk¬ lichkeit in Atome aufgelöst, die alle Begriffe oder Urteile verunmöglichen, auch sein Selbstbild wird irreal. Ein traumatischer Schock: das Muster, das den exotischen Bildern, sie formend und sich einverleibend, Sinn verlieh, hält nun dem Vergleich mit dem real Existierenden, das ihm, wie er nun weiß, als Fundament diente, nicht stand. Diese Krise ermöglicht eine neue Selbsterfahrung. Er denkt (zum erstenmal?) an seine Kindheit, an sein Va¬ terland und an die Fremde. Kein schmerzloses Unterfangen, und es ist symptomatisch, daß dieser Zustand vom Geschäftsmann ausschließlich als Krankheit erfahren wird. Krankheit, weil sie eine Entfremdung von der Realität mit sich bringt, doch ist dies exakt die Erfahrung des Ethnologen: Und findet er sich plötzlich wieder diesseits des Zaunes, dann ist er ein anderer geworden, für den die einst heimische Welt viel von ihren Heimlichkeiten verloren hat. Aber wie eine sg/fctverständliche Welt keine verständliche Welt ist, so wird er jetzt vieles von seiner Welt zum erstenmal verstehen . . ,13

Der Geschäftsmann Hofmannsthals merkt, daß die vollendeten Gesten, die er während seiner Reisen (wieder)gesehen hat, bei seinen Landsleuten nicht mehr zu Hause sind. Und ohne Gesten finden sich auch keine Individuen mehr: „Wo soll ich eines Menschen Wesen suchen, wenn nicht in seinem Gesicht, in seiner Rede, in seinen Gebärden?“ (E, 551) Eine Geste drückt für ihn die ganze Person aus, und die Gesten der Deutschen sind prekär, unbestimmt. Sie sagen ihm nicht mehr den „nie ausgesprochenen Hinter¬ gedanken“ des Menschen. Seine einzige Lebensweisheit - „The whole man must move at once 11 - ist nicht mehr auf seine Landsleute anwendbar, die ihm zerstreut und widersprüchlich erscheinen: . . . ihre linke Hand weiß wahrhaftig nicht, was ihre rechte tut, ihre Kopfgedanken passen nicht zu ihren Gemütsgedanken, ihre Amtsgedanken nicht zu ihren Wissen¬ schaftsgedanken, ihre Fassaden nicht zu ihren Hintertreppen, ihre Geschäfte nicht zu ihrem Temperament, ihre Öffentlichkeit nicht zu ihrem Privatleben. (E, 552 f.)

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Hier wird eine alles durchherrschende Spaltung verurteilt, doch Hofmanns¬ thals Analyse bleibt dabei nicht stehen, dieses Syndrom ist nicht nur durch eine Spaltung - die es immer gegeben hat - gekennzeichnet, sondern vor allem durch die Zerstreuung und Zersplitterung. • • • in den kann ich mich nicht hineinfinden, der es selber nicht weiß, auf was er sich gestellt hat, der daliegt auf dem Leben wie ein Polyp, und mit dem einen Fangarm saugt er an jenem, mit dem andern an diesem, und das eine Glied weiß nichts vom andern, und haut man ihm eines ab, so kriecht er fort und weiß von nichts. (E, 554)

Wenn die sozusagen „klassische“ Spaltung auf ethische Antinomien Pflicht/Neigung zum Beispiel15 - gründete, so ist das, was den Heimkehrer vor allem zu irritieren scheint, das Fehlen einer auch nur rein theoreti¬ schen Synthese, das Fehlen eines Wissens von den Antinomien. Doch am Ende dieses Absatzes wird wieder das einfach Organische emphatisiert: der geizige Bauer, der ruchlose Pferdedieb, der Säufer, der nur mehr an seine Ginflasche glaubt. Die a-soziale Fixierung der Figuren Balzacs wird evoziert, aber sofort verwandelt in eine konstruktive, beruhigende Psychologie, die die Orientierung in einer diffusen Wirklichkeit erleichtern könnte. Die Enttäuschung über die Widersprüchlichkeit der „Bilder“ blockiert das Ver¬ ständnis für die Ursachen eines so brillant beschriebenen Syndroms. Denn für den Geschäftsmann ist die Widersprüchlichkeit der Deutschen die ein¬ zige Ursache für das Unwirklich- und Unheimlichwerden ihrer Welt. Hof¬ mannsthal verbindet sehr scharfsichtig die Nostalgie für eine quasi präka¬ pitalistische Sensibilität mit dem Beruf seines Helden. Wenn ihn sein „Ge¬ schäft“ und sein „eigenes erworbenes Geld“ nicht „ekeln“ sollen (E, 536), muß er eine imaginäre, einheitlich plastische Welt zur Verfügung haben, eine fast mittelalterliche Welt (Dürers Kupferstiche), in der jeder Beruf seine unbestrittene Würde besitzt, weil er einer konkreten, nützlichen Tä¬ tigkeit entspricht. Die Phantasie dieser organischen Konkretion kann vor der Wahrnehmung des Destruktionspotentials der Tätigkeit des „kosmo¬ politischen Geschäftsmanns“ schützen. Man könnte denken, daß ihm die Deutschen mit der ihnen eigenen Mischung von Sentimentalität und Grau¬ samkeit - die zu ihren imperialistischen Ambitionen passen: „. . . und re¬ staurieren ihre ehrwürdigen Dome zu Bierhäusern und treten halberschla¬ genen Chinesenweibern mit den Absätzen die Gesichter ein“ (E, 555) -, so wie sie der Zurückgekehrte in seiner harten Anklage sieht, im Grunde nicht so fremd sind, da er doch seine planetarischen „Geschäfte“ wie Sport be-

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treibt, ohne je über ihre Auswirkungen nachzudenken. Spiegelt er sich nicht in ihnen? Indiz für diese gegenseitige Nähe ist, daß der „Ekel“ vor seinen eigenen Geschäften ihn nur bei ihrem Anblick ergreift. An diesem Punkt kommt dem Heimgekehrten und seinen Aktivitäten (wieder) das Auge mit seiner Unmittelbarkeit, die jeglichen Widersprüche und „Ekel“ mit sich bringenden Kontext ausschließt, zu Hilfe. Der Geschäfts¬ mann schlendert vor einer entscheidenden Konferenz durch die Stadt. In einer stillen Seitenstraße sieht er das Plakat einer Ausstellung und betritt die Galerie. „Ich habe seit zwanzig Jahren kein Museum und keine Kunst¬ ausstellung betreten . .

beeilt sich der Geschäftsmann festzustellen, wie

um seine Fremdheit zur Kunst zu unterstreichen. Nur in einem Postskrip¬ tum nennt er den Maler, und schreibt seinen Namen falsch: Vinzenz van Gogh (E, 571).16 Was nun geschieht, ist die Revitalisierung einer gespenstisch, irreal, lebens¬ los gewordenen Welt. Die Farben bewirken dieses Wunder, in den Farben bricht das „innerste Leben“ der Dinge hervor, das ihr „Dasein“ sichert. Dinge und Menschen offenbaren in ihnen ihr „Wesen“, das sich dem Blick anbietet. Was in der Fremde die einfachen, erhabenen Gesten der Eingebo¬ renen waren, sind nun die Farben, weil sie die auf der Leinwand dargestell¬ ten Dinge wirklich machen, ja eigentlich mehr als wirklich, sie erscheinen „in der Wucht ihres Daseins“ und lösen dadurch die „fürchterlichen Zwei¬ fel an der Welt“ (E, 565). Der Wunsch, eine verlorengegangene Sensibilität wiederzuerlangen, wen¬ det sich ohne Unterschied auf die Farben oder auf die Bilder fremder Völ¬ ker, die in ihrer konkreten und farbigen Sinnlichkeit den unkonkreten, unpersönlichen und „farblosen“ Funktionsmechanismen der planetarischen Ökonomie zu widersprechen scheinen. Im kurzen Essay Tausendundeine Nacht (RA I, 362-369), den Hofmanns¬ thal ein Jahr vor Die Briefe des Zurückgekehrten verfaßte, fasziniert die orien¬ talische Märchenwelt dank ihrer „erhabenen Sinnlichkeit“. Es ist keine frem¬ de Welt, im Gegenteil: „. . . wir sind unter Geistern, unter Zauberern, unter Dämonen und fühlen uns wiederum zu Hause . . . verlieren uns im Medi¬ um der unfaßlichsten, naivsten Poesie und besitzen uns erst recht“ (RA I, 365 f.). Dieses Schwanken zwischen Verlust und Wiedergewinn des Bewußt¬ seins erlebt der Heimgekehrte vor den Bildern Van Goghs: „. . . das alles sah ich, daß ich das Gefühl meiner selbst an diese Bildei' verlor, und mäch¬ tig wieder zurückbekam, und wieder verlor!“ (E, 564 f.). Die Bilder stellen nichts Großartiges vor: „Bauernwagen mit magern Pferden auf einer Hut56

weide, ein kupfernes Becken und ein irdener Krug, ein paar Bauern um einen Tisch, Kartoffeln essend“ (E, 565). Für den Geschäftsmann in der Galerie wie für den Leser von Tausendundeine Nacht führt Kunst zu einer imaginierten Vereinigung zwischen „hoch“ und „niedrig“. Denn auch der Zauber von Tausendundeine Nacht verdankt sich der Präsenz der „niedrigs¬ ten“ Welt. Wir bewegen uns aus der höchsten in die niedrigste Welt, vom Kalifen zum Barbier, vom armseligen Fischer zum fürstlichen Kaufherrn, und es ist eine Menschlichkeit, die uns umgibt . . . (RA I, 363)

Der Geschäftsmann beschreibt in seinem letzten Brief eine nur durch ei¬ nen optischen Effekt, ohne kulturelle Vermittlung, hervorgerufene mysti¬ sche Erfahrung im Elafen von Buenos Aires, als er sich plötzlich von den grauen Wassern angezogen fühlte. Diese Farbe, die ein Grau war und ein fahles Braun und eine Finsternis und ein Schaum, in der ein Abgrund war und ein Dahinstürzen, ein Tod und ein Leben, ein Grausen und eine Wollust - warum wühlte sich hier vor meinen schauenden Au¬ gen, vor meiner entzückten Brust mein ganzes Leben mir entgegen, Vergangen¬ heit, Zukunft, aufschäumend in unerschöpflicher Gegenwart, und warum war die¬ ser ungeheure Augenblick, dies heilige Genießen meiner selbst und zugleich der Welt, die sich mir auftat, als wäre die Brust ihr aufgegangen, warum war dies Dop¬ pelte, dies Verschlungene, dies Außen und Innen, dies ineinanderschlagende Du an mein Schauen geknüpft? Warum, wenn nicht die Farben eine Sprache sind, in der das Wortlose, das Ewige, das Ungeheure sich hergibt, eine Sprache, erhabener als die Töne, weil sie wie eine Ewigkeitsflamme unmittelbar hervorschlägt aus dem stummen Dasein und uns die Seele erneuert. (E, 569 f.)

Auch die Erfahrung der Kunst findet nur im Augenblick statt: der Heimge¬ kehrte wird zwar ein Bild Van Goghs kaufen, es aber einem Kunsthändler zur Aufbewahrung geben, wie um das Erlebnis eines unwiederbringlichen Augenblicks zu horten. Der Geschäftsmann findet dank der Kunst wieder Kontakt zur Wirklich¬ keit, was ihm während der Konferenz dazu dienen wird, seine Geschäfte zu einem großartigen Abschluß zu bringen. Phantasie und Kalkül integrie¬ ren sich: Konferenzen von der Art, wo die Größe der Ziffern an die Phantasie appelliert und das Vielerlei, das Auseinander der Kräfte, die ins Spiel kommen, eine Gabe des Zusammensehens fordert, entscheidet nicht die Intelligenz, sondern es entscheidet

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sie eine geheimnisvolle Kraft, für die ich keinen Namen weiß. Sie ist manchmal bei den Klügeren, nicht immer. Sie war in dieser Stunde bei mir, so wie noch nie, und wie sie es vielleicht nicht wieder sein wird. Ich konnte für meine Gesellschaft mehr erreichen, als das Direktorium mir für den denkbar günstigsten Fall aufgelegt hat¬ te, und ich erreichte es, wie man im Traum von einer kahlen Mauer Blumen ab¬ pflückt. (E, 566 f.)

Gegen die „heuchlerische Exaltation der Schulstube“ {Der Dichter und diese Zeit, 1906, RA I, 58) schlägt Hofmannsthal eine Allianz zwischen Handel

und Kunst vor, wobei der Kunst die Aufgabe zugeteilt wird, Konflikte durch die Wiedergewinnung einer verlorenen Harmonie zu sanieren. Im Buch der Freunde finden wir ein Zitat Voltaires, das wohl diese Allianz ausdrücken

sollte: J’ai toujours reconnu l’esprit des jeunes gens, au detail qu’ils faisaient d’une piece nouvelle qu’ils venaient d’entendre; et j’ai remarque que tous ceux qui s’en acquittaient le mieux, ont ete ceux qui depuis ont acquis le plus de reputation dans leurs emplois. Tant il est vrai qu’au fond l’esprit des affaires et le verkable esprit des helles lettres est le meme. (RA III, 293)

Dienten aber nicht die „affaires“ Voltaire dazu, die „helles lettres“ zu entmythisieren, während hier, umgekehrt, die Kunst die Geschäfte mythisieren soll? - dies fragt man sich angesichts der kulturpolitischen Thesen der Brie¬ fe des Zurückgekehrten.

Die Verrückten Balzacs schufen kein organisches Universum, wie es das Kind in den Kupferstichen Dürers oder der Erwachsene im „gesunden“ südamerikanischen Patriarchat oder im Vitalismus der nordamerikanischen Geschäftsleute sah und das er in Deutschland wiederzufinden hoffte. Der Wille zum „Organischen“ kommt in Hofmannsthal immer dann zum Vor¬ schein, wenn er die künstlerischen und intellektuellen Instanzen mit de¬ nen der politisch-ökonomischen Elite kombinieren will, wenn er sich zum Zwischenhändler, zwischen der Welt der Kunst und der des Geschäfts ma¬ chen will, indem er beide mythisiert.

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Der elisabethanische Lord und der Dichter

Während in Die Briefe des Zurückgekehrten der Geschäftsmann den vitalen Bezug zur Welt dank eines Galeriebesuchs wiedergewinnt - und diese Vita¬ lität wird ihm während der Konferenz sehr nützlich sein

war eine so

praktische und pünktliche Nutzanwendung einer mystischen Erfahrung in Ein Brief (1902)1 nicht möglich gewesen. Die Differenz zwischen Alltag und

plötzlicher Erfahrung bleibt für Lord Chandos unaufhebbar. Nachdem er sich in die in seinen Kellern sterbenden Ratten hineingedacht hat, kehrt er in ein Leben „von kaum glaublicher Leere“ zurück, und es wird ihm schwer fallen, die „Starre“ seines „Innern“ vor seiner Frau zu verbergen (E, 470). Verschieden ist der Ausgang der beiden Texte, verschieden sind auch die in ihnen beschriebenen mystischen Erfahrungen. Verschieden sind die Bil¬ der, die ins Auge und in den Geist der beiden Männer fallen. Die zwei Pole, tote Alltäglichkeit - lebendiger Augenblick, die sich in Die Briefe des Zurück¬ gekehrten verbinden werden, bleiben in Ein Brief - der während der ersten

Ehejahre Hofmannsthals, drei Monate nach der Geburt seiner Tochter Chri¬ stiane, geschrieben wurde (auch hinter der Maske des Lords versteckt sich Autobiographie) - um so mehr gespalten, als sie anderes zu bezeichnen scheinen. Die Gattin, die Tochter, die lebenden Menschen um ihn rufen in ihm ein Gefühl des Todes hervor, die sterbenden Ratten, die Kadaver, die Verwesung geben ihm ein Gefühl von Vitalität. Für den Geschäftsmann, der in seine Heimat zurückkehrt, scheint es möglich, dank eines mystischen Blickes den „Ekel“ vor seinem Beruf zu überwinden, für Chandos bleibt die alltägliche Apathie unauflösbar. Man kann versuchen, die ausbleibende Versöhnung von Chandos auf die Art seines Blickes zurückzuführen. Chandos wird plötzlich von dem Anblick eines ganz banalen, alltäglichen Gegenstandes ergriffen - „Eine Gießkanne, eine auf dem Felde verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel. . .“ (E, 467) -, der Geschäftsmann dagegen nicht, für ihn sind gerade die alltäglichen Dinge Zeichen des Todes, der Unwirklichkeit:

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Zuweilen kam es des Morgens, in diesen deutschen Hotelzimmern, daß mir der Krug und das Waschbecken - oder eine Ecke des Zimmers mit dem Tisch und dem Kleiderständer so nicht-wirklich vorkamen, trotz ihrer unbeschreiblichen Gewöhn¬ lichkeit so ganz und gar nicht wirklich, gewissermaßen gespenstisch, und zugleich provisorisch, wartend, sozusagen vorläufig die Stelle des wirklichen Kruges, des wirklich mit Wasser gefüllten Waschbeckens einnehmend. (E, 561)

Die Dinge, denen er sich befreundet gefühlt hatte, waren ihm gespenstisch geworden. Aus diesem Zustand des Ekels für alles, was ihn umgibt, wird sich der Geschäftsmann in dem Augenblick retten, in dem sein Blick auf die Bilder Van Goghs fallen wird. Nicht die Gegenstände dieser Bilder beeindrucken ihn, sondern nur ihre Farben. Die Farben - „Die Farben der Dinge haben zu seltsamen Stunden eine Gewalt über mich“ (E, 567) - er¬ möglichen eine absolute, abstrakte und reine Erfahrung, die gerade dank ihrer Reinheit von jeglichem materiellen Bezug ein Gefühl mystischer Ein¬ heit ermöglicht. Wenn der Zurückgekehrte sich auf diese Weise mit ab¬ strakten, von materiellen Gegenständen entfernten Mächten identifiziert, so identifiziert sich dagegen Chandos mit den konkretesten Dingen, mit ihrem Ding-sein, ihrer Materialität, fast so, als hätte der Geschäftsmann des Jahres 1907 ein großes Bedürfnis nach einer idealisierten, abstrakten Lebenskraft, während der intellektuelle Lord fünf Jahre davor sich nach einem möglichst sinnlichen, konkreten Kontakt mittels des „reinsten“ der Sinne, des Auges, sehnt. Bevor er diesem Zustand einer nur von einzelnen ekstatischen Momen¬ ten erleuchteten Apathie verfiel, hatte Chandos den Plan eines großange¬ legten Werkes gehegt: Es lag ihm ich weiß nicht welche sinnliche und geistige Lust zugrunde: Wie der gehetzte Hirsch ins Wasser, sehnte ich mich hinein in diese nackten, glänzenden Leiber, in diese Sirenen und Dryaden, diesen Narcissus und Proteus, Perseus und Aktäon: verschwinden wollte ich in ihnen und aus ihnen heraus mit Zungen reden (E, 463)

Eine so geartete, sinnlich-geistige, erotisch-intellektuelle Beziehung zum Universum, zur kulturellen Tradition gehört Chandos’ Vergangenheit an, nun ist sie ihm unmöglich geworden. Vielleicht, weil sie die Haltung eines in die Welt der Bücher verschlagenen Abenteurers ist? Eine weitete Fiage, die dieser, an zweideutigen Geständnissen so reiche, Brief stellt, hat ihren Grund in dem Zeitloch, das sich zwischen der „Vergan¬

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und der „Gegenwart

Chandos aultut. Chandos ist nicht mehr

fähig, wie früher zu schreiben, doch thematisiert er die veränderte existen¬ tielle Situation nicht. Man kann sie sich nur deduzieren. Der junge Chandos lebte am Hof, jetzt dagegen ist Chandos verheiratet, lebt auf dem Land und hat eine Tochter. Auf diesen Wechsel, von einem dem Abenteurer Wei¬ denstamm ähnlichen Leben zu dem eines Familienvaters, geht der Brief nicht ein (ebensowenig wie die kaum mehr zu überblickende Sekundärlite¬ ratur zu diesem Text). Ob nicht vielleicht das Ende des Abenteurers die Krise des Schriftstellers bedingt? Chandos interpretiert sein Unbehagen nicht, er beschreibt es nur. Doch in der Beschreibung finden sich meines Erachtens wichtige Indizien für die Bejahung dieser Frage. Das erste Anzeichen der Krise ist seine Unfähigkeit, abstrakte Begriffe wie „Geist“, „Seele“ oder „Körper“ auszusprechen. Doch diese Abstrakta sind für ihn nicht an sich unaussprechlich, sondern nur, weil sie an ein Urteil gebunden sind, und ich glaube, daß diese ethische Bindung der Grund dafür ist, daß sich Chandos die Verwendung dieser Begriffe verbietet. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte „Geist“, „Seele“ oder „Kör¬ per“ nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenhei¬ ten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament, oder was Sie sonst wollen, ein Urteil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrak¬ ten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze. (E, 465)

Doch vielleicht waren im höfischen Leben die Urteile an das Machtspiel, an die Intrigen gebunden - man denke an die Ratschläge, die der Abenteu¬ rer Weidenstamm seinem Sohn Cesarino gibt: „Geh jung an einen Hof, und wenn du dort / herauskommst, bist du wie der Salamander, / der auch im Feuer atmet. Dort nur lernst du, / die Flatternde von vorne wild zu packen / an ihrem einzigen Büschel Haar, die Göttin / Gelegenheit! (GD I, 577) -, nicht an die Ethik eines „verantwortlichen“ Subjekts. Seit seinem mittelalterlichen Archetyp erscheint der Hof als „Spielfeld der Verführung, der Selbstdarstellung, der Sprache der Galanterie und der Fiktion, des eSprit und des wit, des Hindernisses und des Genusses, kurz: als radikaler Gegen¬ satz zu einem Bereich absoluter ethischer Werte“2. Das Schweigen des elisabethanischen Lords könnte sich aus seiner Unfä¬ higkeit erklären, sich eine starke, unveränderliche, eben nicht von der höfi¬ schen „Göttin Gelegenheit“ relativierte Ethik zu eigen zu machen, eine Ethik, die den jungen Generationen übermittelt werden sollte.

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Es begegnete mir, daß ich meiner vierjährigen Tochter Katharina Pompilia eine kindische Lüge, deren sie sich schuldig gemacht hatte, verweisen und sie auf die Notwendigkeit, immer wahr zu sein, hinführen wollte, und dabei die mir im Mun¬ de zuströmenden Begriffe plötzlich eine solche schillernde Färbung annahmen und so ineinander Überflossen, daß ich den Satz, so gut es ging, zu Ende haspelnd, so wie wenn mir unwohl geworden wäre und auch tatsächlich bleich im Gesicht und mit einem heftigen Druck auf der Stirn, das Kind allein ließ, die Tür hinter mir zuschlug und mich erst zu Pferde, auf der einsamen Hutweide einen guten Galopp nehmend, wieder einigermaßen herstellte. (E, 465)

Kinder erziehen, Werte vermitteln, all das, was dem Grafen Bühl zufolge der Preis für Treue und Ehe sein wird, ist für Chandos überhaupt kein Vergnügen, sondern eine immense, unerfüllbare Aufgabe. So kann man das, was auf einem ersten, oberflächlichen Blick hin als eine rein „sprach¬ liche“ Krisis scheinen könnte - so als ob dem Lord einfach so die Fähigkeit abhandengekommen wäre, Abstrakta auszusprechen

genauer als eine exi¬

stentielle Krise bestimmen, als einen Konflikt zweier konträrer Lebenswei¬ sen. Früher, als Höfling, als „Bruder“ des Abenteurers, mußte Chandos sicherlich keine ethischen Urteile und kein moralisches Verhalten vorfüh¬ ren. Was ist seine Idee, eine Sammlung Apophthegmata anzulegen, anderes als eine sensualistische Apotheose der a-moralischen Buntheit des Lebens: Hier gedachte ich die merkwürdigsten Aussprüche nebeneinanderzusetzen, wel¬ che mir im Verkehr mit den gelehrten Männern und den geistreichen Frauen unse¬ rer Zeit oder mit besonderen Leuten aus dem Volk oder mit gebildeten und ausge¬ zeichneten Personen auf meinen Reisen zu sammeln gelungen wäre; damit wollte ich schöne Sentenzen und Reflexionen aus den Werken der Alten und der Italiener vereinigen, und was mir sonst an geistigen Zieraten in Büchern, Handschriften oder Gesprächen entgegenträte; ferner die Anordnung besonders schöner Feste und Aufzüge, merkwürdige Verbrechen und Fälle von Raserei, die Beschreibung der größten und eigentümlichsten Bauwerke in den Niederlanden, in Frankreich und Italien und noch vieles andere. Das ganze Werk aber sollte den Titel „Nosce te ipsum“ führen. (E, 463)

Dem Genuß des Augenblicks des Abenteurers fügt der intellektuelle Lord die Selbsterkenntnis hinzu, zu der er aber nur mittels einer chaotischen Komplexität der Erfahrungen zu gelangen denkt, ohne Ausschließungen, ohne die fixierten Rollen, die dem Leben des Geschäftsmannes Authentizi¬ tät garantierten3. Chandos spürte die Authentizität, es war für ihn nicht notwendig, die Erfahrungen an einem ethischen Maßstab zu messen, um ihren Wert zu bestimmen.

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Das eine war wie das andere; keines gab dem andern weder an traumhafter überir¬ discher Natur, noch an leiblicher Gewalt nach, und so gings fort durch die ganze Breite des Lebens, rechter und linker Hand; überall war ich mitten drinnen, wurde nie ein Scheinhaftes gewahr. (E, 464)

Ein so beschaffenes Bild vom eigenen Leben, von der eigenen intellektuel¬ len Aktivität und Identität braucht sicherlich kein machtvoll rechtendes Ich. Es scheint daher unverständlich, warum Lord Chandos als erstes Krisensymptom gerade seine Unfähigkeit, Urteile abzugeben, nennt. Urteile wie: diese Sache ist für den oder jenen gut oder schlecht ausgegangen; Sheriff N. ist ein böser, Prediger T. ein guter Mensch; Pächter M. ist zu bedauern, seine Söhne sind Verschwender; ein anderer ist zu beneiden, weil seine Töchter haushälterisch sind; eine Familie kommt in die Höhe, eine andere ist im Hinabsinken. (E, 466)

All diese Urteile gründen auf einer allgemein verbindlichen Ethik, einem gesellschaftlichen Verhaltenskodex, und gerade dieser erscheint Chandos nun unbeweisbar, falsch und höchst fehlerhaft. Sicherlich ist sein vormali¬ ges intellektuelle Leben - ein Leben voll von Merkwürdigkeiten und Wi¬ dersprüchen, die sich aber in eine vitalistische Synthese integrieren lassen, ein Leben in der Welt der Elisabethaner, wie es sich Hofmannsthal vorstell¬ te - nur schwer mit der Moral des common sense zu vereinbaren, eine Moral, der sich Chandos nun unangemessen fühlt, wobei er seine Unfähigkeit als Krankheitssymptom interpretiert. Es ist aber ein verzweifeltes Unterfan¬ gen, common sense und Vielfältigkeit miteinander zu versöhnen, ebenso ver¬ zweifelt wie Hofmannsthals Versuch, die Vielfältigkeit des elisabethanischen Dramas und die monomanischen Schmerzen eines konstruktiven, morali¬ schen Individuums in Einklang zu bringen. So besteht nun die Chandos eigentümliche „Therapie“ darin, Vielheit zu zerstören, Differenzen zu unterdrücken, alles auf seine Essenz zu reduzie¬ ren, der moralischen Reduktion eine psychologistische entgegenzusetzen: das Leben, der Tod, die Liebe. Diese einzigen von Chandos gelebten Gefüh¬ le bilden sich in den von ihm als Krankheit gelebten Augenblicken. Er kommu¬ niziert dann mit etwas, was sich als Gegenteil zu den „nackten, glänzenden Leibern“ der „Sirenen und Dryaden“ liest, in die der junge Chandos sich hineinsehnte; mit dahinsiechenden, schmutzigen, leichenhaften Körpern. Diese stummen und manchmal unbelebten Kreaturen heben sich mir mit einer solchen Fülle, einer solchen Gegenwart der Liebe entgegen, daß mein beglücktes Auge auch ringsum auf keinen toten Fleck zu fallen vermag. (E, 469)

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Die Lebenden erscheinen wie Tote, und die Toten wie Lebewesen. Doch sind es keine toten Menschen, an die man sich erinnern könnte, sondern ganz einfach tote, stumme Materie. Von der großen Einheit von geistiger und körperlicher Welt, von „höfischem und tierischem Wesen“ (E, 464), ist nur mehr ein verzerrtes Körperlich-Tierisches übriggeblieben: ein Hund in der Sonne, ein Krüppel, eine Ratte, ein verkümmerter Apfelbaum, mor¬ sche Bretter, unter denen die Bauern nach den Regenwürmern zum An¬ geln suchen, eine tote Muräne. Die Poesie, die erotische Einheit mit den Gegenständen, ist nun an das Geringe dieser Gegenstände gebunden, an all das, was die Menschen seiner sozialen Schicht widerlich und lächerlich finden würden, wie der „die erhabensten Dinge beratende, weltbeherrschen¬ de Senat“ die Liebe des Crassus zu einem Fisch (E, 471). Was der arme Lord inszeniert, scheint fast eine Revolte zu sein: auf die konventionell-moralische Reduktion von Komplexität, die ihm sein Leben als verheirateter Landedelmann aufnötigt, reagiert er, indem er die Ener¬ gien seiner Einbildungskraft auf all das richtet, was der gesellschaftliche Kanon seiner Schicht ausgrenzt. In dieser Reaktion taucht wieder das soziale Schuldbewußtsein auf, das im Märchen der 672. Nacht die Form der Revolte der Diener gegen die Exi¬ stenz des Herrn annahm. Schuldbewußtsein, das der junge Chandos in seiner elisabethanischen Gesundheit - jener Epoche bunten Wahnsinns, die Balzac fasziniert - nicht kannte, wie es auch dem Abenteurer fremd war, und das der Geschäftsmann in die Leere eines harmonisierenden Blicks hat verdrängen können. Chandos ist dazu nicht fähig, er kann sein Leben als Herr nicht mit der erotischen Anziehung, die das Körperlich-TierischeSterbende auf ihn ausübt, in Einklang bringen. Ebensowenig kann er die Einsamkeit des Künstlers ä la Balzac akzeptieren, der seinen einzigen Ge¬ nuß in seinem Werk findet (und in der illegitimen Beziehung zu Frau von Hanska, deren gebieterisches Erscheinen die Unterhaltung zwischen Bal¬ zac und Hammer-Purgstall beendet). Denn Chandos ist auch ein geachte¬ ter Familienvater. In einem Brief vom 23. Januar 1907 an einen Schulfreund verteidigt Hof¬ mannsthal sein Jugendwerk gegen den Vorwurf des narzißtischen Ästhetismus: Seitdem ich . . . über Dreißig bin, Frau und Kind habe und mich dabei innerlich ebenso jung fühle als eh und je . . . seitdem weiß ich auch, weiß es aus mir und aus Dokumenten, die ich nun zu verstehen gelernt habe, daß die sonderbare, fast un¬ heimliche seelische Beschaffenheit, diese scheinbar alles durchdringende Lieblo¬ sigkeit und Treulosigkeit, die dich an mir so sehr befremdet und mich manchmal

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so sehr geängstigt hat - der „Tor und der Tod“ ist nichts als ein Ausdruck dieser Angst daß diese seelische Beschaffenheit nichts andres ist, als die Verfassung des Dichters unter den Dingen und Menschen.4

Wieder muß man betonen: es gibt keine Entwicklung, keine „Reifung“ bei Hofmannsthal, sondern nur ein Alternieren von verschiedenen, immer wie¬ derkehrenden Identifikationsmodellen. Der einzige Unterschied zu früher liegt in der Annahme jenes Gefühls von Fremdheit - das auch Chandos in der Beziehung zu seiner Familie kennt - als etwas „Normales“, das unwei¬ gerlich auch in dem späteren Schriftsteller wieder auftauchen wird. Der „reife“ Hofmannsthal fühlt es nicht anders: „Seitdem ich . . . über Dreißig bin, Frau und Kind habe und mich dabei innerlich ebenso jung fühle als eh und je“ - wobei „jung“ einen Gemütszustand wie den von Claudio in Der Tor und der Tod und den vom Kaufmannssohn im Märchen der 672. Nacht

umschreibt. Das Problem besteht offensichtlich, wie auch Ein Brief zeigt, darin, die an die Prä-Existenz gebundene Sinnlichkeit mit einer „norma¬ len“ Existenz, mit Frau und Kindern, zu vereinbaren. In dem eben zitierten Brief wird die Familie, die doch in Hofmannsthals Werken einen so wichtigen Platz einnimmt, als etwas Nebensächliches be¬ handelt, als etwas, das keinen Einfluß hat auf sein immergleiches Wesen, sein Dichter-Sein, etwas, was sich ihm einfach dazugesellt, ohne zu interfe¬ rieren. Die Familie scheint weder den Wunsch nach der „Anderen“, den doch Hofmannsthal selbst in Das Bergwerk zu Falun als Ursprung des künst¬ lerischen Schaffens dargestellt hatte, noch die unveränderliche, untreue Jugendlichkeit ä la Casanova zu beeinträchtigen. Es scheint aber nur so. Denn Hofmannsthal schreibt nach 1900 fast keine Gedichte mehr. Und er selbst bringt dieses Ende mit seiner veränderten Lebenssituation in Ver¬ bindung (wobei wir nicht vergessen sollten, daß Hofmannsthal als Dichter berühmt geworden ist). Meine Gedichte sind fast alle aus einer Zeit meines Lebens, aus der allereinsamsten: der zwischen meinem achtzehnten und einundzwanzigsten Jahr. Mitten aus dieser Einsamkeit heraus, die merkwürdig stark war und immer wie außen war, sind diese Gedichte entstanden - sie rufen ihre Liebe an das Dasein über diesen Gürtel von Einsamkeit hinüber - jetzt aber ist diese Zone von Einsamkeit nicht mehr da, es ist überall die Liebe verteilt, wenn auch noch in sehr unzulänglicher Weise, aber doch verteilt - und ich bin um vieles, unvergleichlich, glücklicher als damals. Aus dieser Verfassung heraus könnten vielleicht wieder Gedichte entstehen, ebenso reine und starke, aber ganz anders als die damaligen, und solche werden vielleicht noch ent¬ stehen, aber wahrscheinlich bin ich für diese noch nicht reif.5

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Wenn man diese zwei Aussagen Hofmannsthals zu seiner poetischen Pro¬ duktion miteinander verbindet, so kommt dabei heraus, daß sich die Poesie aus der Untreue, aus einem Mangel an Liebe und aus der Suche nach die¬ ser „über den Gürtel von Einsamkeit“ gerufenen Liebe herschreibt. Der „reife“ Hofmannsthal sieht diese Liebe überall „verteilt“, er spürt keinen Mangel mehr, ist deshalb auch glücklicher als früher, aber, gerade deshalb, auch unfähig, Gedichte zu schreiben. Chandos dagegen fühlt sich entfremdet, kalt, „lieb- und treulos“ gerade, wenn er von seiner Familie umgeben ist. Er ist in der für den Dichter typi¬ schen psychischen Verfassung starker Einsamkeit, schreibt aber keine Ge¬ dichte. Er versucht, seine Liebe für die unscheinbaren Lebewesen und Din¬ ge in einem Brief zu beschreiben, seine Liebe „rufen“, wie der junge Hof¬ mannsthal, kann er offensichtlich nicht. Der junge Chandos dagegen war glücklich und dichtete dank seines Glücklichseins, dank des Gefühls einer vitalen, kosmischen Verbundenheit mit der Welt, nicht aus der Einsamkeit heraus. Es ist wohl schwer zu bestimmen, wo Hofmannsthal sich besser versteckt, welche Maske ihm angemessener ist, die des englischen Lords oder das Bild, das er von sich in seinen Briefen zeichnet. Der ältere, stumme Chan¬ dos, der offensichtlich keinen der ihm nahestehenden Menschen liebt, hat wohl einige Ähnlichkeit mit dem jungen Loris, wie er den Freunden be¬ schrieben wird. Er ist ein Bild der Verzweiflung, der Verzweiflung eines Dichters. Aber was ist ein Dichter? Zu Beginn des Jahres 1903, einige Monate nach der Abfassung von Ein Brief, trifft Hofmannsthal in München Stefan George. Zusammen entschlie¬

ßen sie sich, eine Gedichtauswahl von Hofmannsthal herauszugeben. Nach der intensiv dramatischen Begegnung des siebzehnjährigen Hofmannsthal mit dem dreiundzwanzigjährigen George und den diversen Spannungen, die darauf folgten6, ist dies eine neuerliche Annäherung, die sich als trüge¬ risch erweisen wird, die aber sicherlich Hofmannsthal zu dem im selben Jahr verfaßten Gespräch über Gedichte inspiriert hat. Dieser Text ist eine Lau¬ datio auf die Poetik Stefan Georges, und möchte es dabei der Poesie tont court (die eigene miteinbegriffen) sein. Aus dieser erzwungenen Verbin¬

dung läßt sich die Schwierigkeit des Textes und damit die Schwierigkeit von Hofmannsthals Selbstdefinition als Dichter herleiten. Im Gedicht drückt sich jenes mystische Gefühl aus, von dem sich Chandos in den Augenblicken der Vereinigung mit den Dingen durchdrungen fühlt:

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das Ich löst sich auf, um sich dabei im Anderen intensiver zu fühlen. Für Chandos beschreibt sich dieser Zustand so: Es scheint mir alles, alles, was es gibt, dessen ich mich entsinne, alles, was meine verworrensten Gedanken berühren, etwas zu sein. Auch die eigene Schwere, die sonstige Dumpfheit meines Hirnes erscheint mir als etwas; ich fühle ein entzücken¬ des, schlechthin unendliches Widerspiel in mir und um mich, und es gibt unter den gegeneinanderspielenden Materien keine, in die ich nicht hinüberzufließen vermöchte. (E, 469)

Diese fähigkeit hinüberzufließen, in den anderen einzutauchen, wieder¬ holt einen den Abenteurer auszeichnenden Zug, doch ohne den Hauch von Geselligkeit, der diesen umgab. Das Sicheinfühlen erlaubt einem Wesen, das

sonst stumm und isoliert bliebe, zu einem andern zu fliehen. Die Verwand¬ lung hat im Gespräch über Gedichte dieselben Kennzeichen wie im Chandosbrief nur nimmt dort die Poesie den Platz des mystischen Erlebens ein. Nur der Poesie ist es erlaubt, statt in der engen Kammer unseres Herzens, in der ganzen ungeheuren, uner¬ schöpflichen Natur (zu) wohnen . . . Und aus allen ihren Verwandlungen, allen ihren Abenteuern, aus allen Abgründen und allen Gärten wird sie nichts anderes zurückbringen als den zitternden Hauch der menschlichen Gefühle. (E, 498)

Die Poesie überläßt sich diesem Abenteuer, weil sich in ihr das Subjekt verliert und sich nur wiederfinden kann, indem es diesen Verlust zum Äußersten treibt: Wollen wir uns finden, so dürfen wir nicht in unser Innerstes hinabsteigen: drau¬ ßen sind wir zu finden, draußen . . . Wir besitzen unser Selbst nicht: von außen weht es uns an, es flieht uns für lange und kehrt uns in einem Hauch zurück. Zwar unser „Selbst“! Das Wort ist solch eine Metapher. Regungen kehren zurück, die schon einmal früher hier genistet haben. Und sind sies auch wirklich selber wieder? . . . Genug, etwas kehrt wieder. Und etwas begegnet sich in uns mit anderem. Wir sind nicht mehr als ein Taubenschlag. (E, 497)

Die Rechtfertigung der Poesie liegt im Ausdruck dieser „menschlichen Gefühle“, der den Einzelnen gemeinsamen Empfindungen. Damit ihr die¬ se schwere Aufgabe gelingt, muß sie Hieroglyphen benutzen. In der Dis¬ kussion über ein um zwei Schwäne kreisendes Gedicht Hebbels sagt Gabri¬ el, der maßgebende von den zwei Gesprächspartnern:

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Schwäne, aber freilich gesehen mit den Augen der Poesie, die jedes Ding jedesmal zum erstenmal sieht. . . Gesehen mit diesen Augen sind die Tiere eigentliche Hiero¬ glyphen, sind sie lebendige geheimnisvolle Chiffren, mit denen Gott unaussprechli¬ che Dinge in die Welt geschrieben hat . . . Chiffren, welche aufzulösen, die Sprache ohnmächtig ist. . . Man müßte ein Gespräch wie dieses mit Kindern, mit Frommen oder mit Dichtern führen können. (E, 501)

Die Sprache kann diese Hieroglyphen - in denen nie „eine Sache für eine andere“ gesetzt wird - nicht auflösen. Man kann über sie nicht reden, wenn nicht in einer gleicherweise poetischen Sprache, die der Kinder, der From¬ men, der Dichter. Eine Sprache des „Herzens“, wie sie sich Chandos wünscht, eine Sprache, die Vereinigung ist, magische Vereinigung mit der Natur, die nichts anderes als eben diese Sprache ist, die sie verwendet, um uns an sich zu ziehen. Die Natur hat kein anderes Mittel, uns zu fassen, uns an sich zu reißen, als diese Bezauberung. Sie ist der Inbegriff der Symbole, die uns bezwingen. Sie ist, was unser Leib ist, und unser Leib ist, was sie ist. Darum ist Symbol das Element der Poesie, und darum setzt die Poesie niemals eine Sache für eine andere: sie spricht Worte aus, um der Worte willen, das ist ihre Zauberei. Um der magischen Kraft willen, welche die Worte haben, unsern Leib zu rühren, und uns unaufhörlich zu verwandeln. (E, 503)

Jeder dieser Begriffe - Natur, Körper, Symbol, Poesie und Wort - verweist auf einen anderen und ist letztendlich, in diesem unter dem Vorzeichen magischer Identität stehenden Diskurs, mit ihm austauschbar. Auch Chandos spricht vom Körper als Symbol, beziehungsweise als „Chiffre“: Es ist mir dann, als bestünde mein Körper aus lauter Chiffren, die mir alles auf¬ schließen. Oder als könnten wir in ein neues, ahnungsvolles Verhältnis zum ganzen Dasein treten, wenn wir anfingen, mit dem Herzen zu denken. Fällt aber diese sonderbare Bezauberung von mir ab, so weiß ich nichts darüber auszusagen; ich könnte dann ebensowenig in vernünftigen Worten darstellen, worin diese mich und die ganze Welt durchschwebende Harmonie bestanden und wie sie sich mir fühlbar gemacht habe, als ich ein Genaueres über die inneren Bewegungen meiner Einge¬ weide oder der Stauungen meines Blutes anzugeben vermöchte. (E, 469 f.)

Sein Körper, sein Blut und seine Eingeweide sind ihm ebenso unverständ¬ lich wie die Zustände von Bezauberung, in die er durch Dinge der Außen¬ welt versetzt wird. Doch gerade aus diesem Nichtverstehen entsteht Dich¬ tung, da sie sich doch, laut der im Gespräch entwickelten Theorie, der Un-

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fähigkeit der Sprache verdankt, die Hieroglyphen, die Symbole aufzulö¬ sen. So kann man sagen, daß der „kranke“ Chandos mehr Dichter ist als der „gesunde“; Dichter in der mythischen Bedeutung dieses Begriffs, so wie er im Gespräch definiert wird. In diesem Text sind die als Beispiel zitierten Gedichte fast alle von George, mit Ausnahme je eines Gedichts von Hebbel und Goethe. Eine Art Gedich¬ te, der der Gesprächspartner Clemens sehr vorsichtig eine etwas „schwüle Bezauberung“ vorwirft und der er die Leichtigkeit - „wie eine Mozartsche Melodie“ - der anakreontischen Poesie entgegensetzt (E, 504). Doch die uns heute nötige Poesie bleibe die, die eine Identifikation mit den furcht¬ baren tellurischen Mächten ermögliche. So wie für Chandos die Vereini¬ gung mit den Gegenständen, den unscheinbaren Tieren, eine Vereinigung mit einem nicht mehr individualisierten Körper, mit dem Kadaver (der Ratten, der Muräne) ist, so verdankt sich im Gespräch das Grundelement der Poesie, das Symbol, dem Tod, dem Opfer. Die Symboltheorie, die Hof¬ mannsthal Gabriel in den Mund legt, handelt vom angeblichen Ursprung der Menschheit, als der Urzeitmensch fühlte, „daß die Götter ihn haßten“. Da griff er, im doppelten Dunkel seiner niedern Hütte und seiner Herzensangst, nach dem scharfen krummen Messer und war bereit, das Blut aus seiner Kehle rinnen zu lassen, dem furchtbaren Unsichtbaren zur Lust. (E, 502)

Zu unterstreichen ist die plötzliche Umwandlung der „Götter“ einer poly¬ theistischen Urzeit in einen einzigen Gott, den „furchtbaren Unsichtba¬ ren“ der monotheistischen Religionen, den Vater. Worauf noch zurückzu¬ kommen sein wird. Halb unbewußt nimmt sich dann dieser Urzeitmensch, „in seiner niedern Hütte“, ein Tier vor. Unbewußt, denn er muß einen Augenblick geglaubt haben, in dem Tier gestorben zu sein, „nur so konnte das Tier für ihn sterben“ (E, 502). Das war das erste Symbol. Diese Symboltheorie, die Theodor W. Adorno wohl nicht zu Unrecht eine „blutrünstige“ nennt7, ist in unserem Zusammenhang interessant, weil sie die Sprache der Poesie an die Schuld bindet. Eine undefinierbare, geheim¬ nisvolle Schuld, die in Stellvertretung, durch ein stellvertretendes Opfer, das schon ein poetisches Symbol ist, gesühnt wird. Wie Chandos, der den Ratten in seinen Kellern Gift streuen läßt, um sich dann in sie einzufühlen, mit ihnen zu sterben? Ist nicht auch die Ekstase, die Chandos in diesem Augenblick fühlt, aus dem vollbrachten Sühneopfer zu erklären? Er sagt,

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daß er diese Gefühle nicht beschreiben könne, es fehlten ihm die Worte dieser Sprache, einer Sprache, setzt er hinzu, „in welcher ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten werde“ (E, 472). Es ist also eine Sprache der Verantwortung, des Rechts, der Schuld und damit auch der Sühne und des Opfers, des poetischen Opfers8. Verant¬ wortung und Schuld bleiben unbestimmt, ohne Worte, im Bereich des Ar¬ chaischen, der Lust nach dem Tod, doch man kann versuchen, sie anhand anderer Texte Hofmannsthals zu konkretisieren. Die Dichtung soll den Tod, einen besonderen, orgiastischen Tod insze¬ nieren. Der Mensch der Urzeit, der sterben will, „dem furchtbaren Un¬ sichtbaren zur Lust“, hat eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Sohn, der sich für den Vater opfert, in Dämmerung und nächtliches Gewitter, ein Text, der (weil zu verräterisch?) Bruchstück geblieben und von Hofmannsthal nie publiziert worden ist. Es ist ein düsterer und schreckenerregender Text, voller Sadismus - ge¬ genüber einer schwangeren Magd, einem an das Scheunentor genagelten Sperber -, dessen zentrales Motiv die Suche nach dem Vater ist. Der jugendli¬ che Held dieser Geschichte ist ein „ein uneheliches Kind und kennt seinen Vater nicht“ (E, 191). Diese Abwesenheit der Vaterfigur, die an das Mär¬ chen der 612. Nacht erinnert, ist Zeichen eines väterlichen Sadismus, der in

dem Bild des Sohnes, der sich von dem verborgenen, unerkennbaren Vater gekreuzigt fühlt, seinen Höhepunkt erreicht. Er suchte den Vater - auch in Hammerschlägen auf die Nägel, die den Leib des Sperbers am Holz kreuzigten, suchte er den Vater - und fand sich. So gekreuzigt war auch er durch den Vater, den Verächter seines Lebens. (E, 195)

Der Sohn als Opfer, der seinen Sadismus in männliche (der Sperber) aber auch in weibliche Bilder, mit deren Schwäche er sich identifiziert (die Schwangere), kondensiert. In Hinblick auf diesen Text erscheint die im Gespräch entwickelte Symboltheorie als Ausdruck einer gequälten Identifi¬

zierung mit dem „Vater“. Das erste Opfer, das das Symbol in die Welt schafft, findet zur Lust eines „furchtbaren Unsichtbaren“ statt, der an den unbe¬ kannten Vater in Dämmenmgund nächtliches Gewitter erinnert. Die Beschrei¬ bung der körperlichen Auswirkungen der Poesie - „In unserem Leib ist das All dumpf zusammengedrückt: wie selig, sich tausendfach der furcht¬ baren Wucht zu entladen“ (E, 504) -, die auf die Darstellung des Opfers folgt» ei scheint, im Hinblick auf das Vaterthema in Dämmerung und nächtli-

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ches Gewitter, als Phantasie einer orgiastischen Vereinigung mit dem Vater.

Marlies Janz, die, soweit ich weiß, als erste versucht hat, diese Nachtseiten Hofmannsthals systematisch zu entschlüsseln, schreibt dazu: „Die dichteri¬ sche Sprache wird aufgefaßt als Opferritual, in dem die Vereinigung mit dem Vater vollzogen werden kann.“9 Man muß die so häufige Wiederkehr des Opferthemas und der sado¬ masochistischen Kindheitserinnerungen im Werk Hofmannsthals - man denke nur an Der Turm, an die Skizze Age of Innocence, an den Kärntner Teil von Andreas oder die Vereinigten und, natürlich, an Ein Brief - im Lichte dieser männlichen Identitätsobsession interpretieren. Doch dies ist nicht der ganze Hofmannsthal, er transzendiert diese The¬ matik. Vor die Aufgabe gestellt, eine sich aus diesen Trieben nährende Spra¬ che zu verwenden, läßt Hofmannsthal Chandos verstummen, und er selbst wird nicht dazu fähig sein, derartige Gedichte zu schreiben. In dieser Unfä¬ higkeit liegt Hofmannsthals (eben nicht „schwüler“, sondern mozartscher)

Zauber.10 Im Gespräch über Gedichte ist die als Exempel vorgeführte Poesie von der des jungen Loris sehr verschieden. Nicht daß der Tod, die Angst, in seinen Gedichten nicht präsent wären, doch sie werden durch seinen ganz persön¬ lichen Stil verwandelt. Ein schon dramatischer, szenischer Stil, der an das Metaphernspiel des jungen, chamäleonhaften, elisabethanischen Chandos erinnert. Machen wir einen Vergleich. Zunächst das Gedicht Hebbels, das im Ge¬ spräch diskutiert wird, und Hebbel wird nicht zufällig in den Notizen zu Dämmerung und nächtliches Gewitter als Beispiel für den diesen Iext domi¬

nierenden Gemütszustand genommen (E, 191): Von dunkelnden Wogen Hinunter gezogen, Zwei schimmernde Schwäne, die gleiten daher: Die Winde, sie schwellen Allmählich die Wellen, Die Nebel, sie senken sich finster und schwer. Die Schwäne sie meiden Einander und leiden, Nun tun sie es nicht mehr: sie können die Glut Nicht länger verschließen, Sie wollen genießen, Verhüllt von den Nebeln, gewiegt von der Flut.

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Sie schmeicheln, sie kosen, Sie trotzen dem Tosen Der Wellen, die Zweie in Eins verschränkt: Wie die sich auch bäumen, Sie glühen und träumen, In Liebe und Wonne zum Sterben versenkt. Nach innigem Gatten Ein süßes Ermatten. Da trennt sie die Woge, bevor sies gedacht. Laßt ruhn das Gefieder! Ihr seht euch nicht wieder, der Tag ist vorüber, es dämmert die Nacht.

Liebe, Leidenschaft und Tod, alle Elemente des neuromantischen Symbo¬ lismus sind in diesem Gedicht, das die Kitschgrenze meines Erachtens reich¬ lich überschreitet, zu finden. Diese Schwäne dienen dazu, eine erotische Begegnung zu mythisieren, deren philiströse Banalität schon der Befan¬ genheit und der Verlegenheit zu entnehmen ist, die das ganze Gedicht durchziehen. Die zweite Strophe ist dafür besonders bezeichnend. In ihr wird der „psychologisch-moralische“ Konflikt der Schwäne dargestellt: sich wollen sich meiden (warum denn?), leiden aber daran und unterliegen end¬ lich ihrer Leidenschaft mit Worten („Sie wollen genießen“), die wie das hartnäckige Festhalten des Kleinbürgers an seinem Recht auf den allwö¬ chentlichen Rausch klingen: ein Recht, das zugleich aber auch eine mit Schuldbewußtsein gelebte Ausnahme bleiben muß, und so werden die Schwä¬ ne sich nie mehr sehen dürfen. Nehmen wir dagegen ein für den jungen Hofmannsthal charakteristi¬ sches, wenn auch nicht sehr bekanntes Gedicht: Großmutter und Enkel {l 899). „Ferne Nur in Woher „Kind,

ist dein Sinn, dein Fuß meiner Tür!“ weißt dus gleich beim Gruß? weil ich es spür.“

Was? „Wie Sie aus süßer Ruh Süß durch dich erschrickt.“ Sonderbar, wie Sie hast du Vor dich hingenickt. „Einst . . .“ Nein: jetzt im Augenblick! Mich beglückt der Schein -

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„Kind, was haucht dein Wort und Blick Jetzt in mich hinein? Meine Mädchenzeit voll Glanz Mit verstohlnern Hauch Öffnet mir die Seele ganz!“ Ja, ich spür es auch: Und ich bin bei dir und bin Wie auf fremdem Stern: Ihr und dir mit wachem Sinn Schwankend nah und fern! „Als ich dem Großvater dein Mich fürs Leben gab, Trat ich so verwirrt nicht ein Wie nun in mein Grab.“ Grab? Was redest du von dem? Das ist weit von dir! Sitzest plaudernd und bequem Mit dem Enkel hier. Deine Augen frisch und reg, Deine Wangen hell „Flog nicht übern kleinen Weg Etwas schwarz und schnell?“ Etwas ist, das wie ein Traum Mich Verliebten hält. Wie der enge, schwüle Raum Seltsam mich umstellt! „Fühlst du, was jetzt mich umblitzt Und mein stockend Herz? Wenn du bei dem Mädchen sitzt, Unter Kuß und Scherz, Fühl es fort und denk an mich, Aber ohne Graun: Denk, wie ich im Sterben glich Jungen, jungen Fraun.“ (GD I, 52-53)

Liebe und Tod auch hier, doch im Rahmen der Geselligkeit und des Dia¬ logs, in der Sprache der Konversation. Eine Konversation, wo die Bejahung

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der Leidenschaft und Verliebtheit Voraussetzung ist für Beleuchtung ihrer Nachtseite, des Todes. Die sterbende Großmutter verhält sich zu diesem Geschehen so wie sie sich verhielt, als sie ihren Mann heiratete, sie ist „ver¬ wirrt“, verliebt. Deshalb kann der Enkel in ihr seine Geliebte sehen, kann ihre Gesten wiedererkennen. In ihrer Verwirrung gibt die Großmutter dem Enkel Unterricht, sie lehrt ihn, den Tod im Leben zu akzeptieren, das „Graun“ vor dem Tod zu überwinden. Es ist dieselbe Lektion, die auch Goethe in der letzten Strophe des be¬ rühmten (im Gespräch zitierten) Gedichts Selige Sehnsucht gibt: Und solang du das nicht hast Dieses: Stirb und werde! Bist du nur ein trüber Gast Auf der dunklen Erde. (E, 508)

Diese Verse Goethes, die von Gabriel als Beispiel für die allein aktuelle Dichtung zitiert werden, haben meines Erachtens nichts mit der im Ge¬ spräch propagierten Poetik oder mit dem Gedicht Hebbels zu tun. Die kri¬

stallklare Bestimmtheit11, mit der die Beziehung Leben-Tod ausgeleuchtet wird, eine zwar pessimistisch-materialistische, aber überhaupt nicht trübe Haltung entfernt dieses Gedicht von denen der „schwülen Bezauberung“. Ein „trüber Gast“ in dieser Welt ist vielmehr derjenige, der die Affinität zwischen Leidenschaft und Tod nicht akzeptiert, wie etwa die Hebbelschen Schwäne in ihrem schwülen, stummen Konflikt zwischen Sinnlichkeit und ohnmächtiger Repression. Ein Unterschied, der übrigens auch einem kri¬ stallklaren Urteil Hofmannsthals zur deutschen Literatur zu entnehmen ist: „Die bedeutenden Deutschen scheinen immer unter Wasser zu schwim¬ men, nur Goethe wie ein einsamer Delphin streicht auf der spiegelnden Oberfläche dahin“ (RA III, 298). Diese Klarheit scheint mir auch Großmutter und Enkel auszuzeichnen. Die Großmutter ist nicht doktrinär, sie streut keine Lebensweisheiten aus. Ihre „Lehre“ entwickelt sich, wird ihr selbst nur während des Gesprächs klar: „Kind, was haucht dein Wort und Blick/Jetzt in mich hinein?“ Im Gespiäch über Gedichte ist der „Hauch“ Zeichen der mythischen Poesie - „Was uns not

tut, ist der Hauch“ sagt Gabriel -, die der Dichtung der Form, der Anakreontik, entgegengesetzt wird (E, 507). Hier drückt sich dagegen der „verstohlne Hauch“ in der Form der Konversation aus. Im Gespräch mit dem verliebten Enkel erfährt die Großmutter eine Ähn¬ lichkeit zwischen seinem Gemütszustand und dem, den sie einst als verlieb74

tes Mädchen erlebte und auch jetzt, als eine sich dem Tode nähernde alte Frau, verspürt. Weit entfernt ist der Ton dieses Gedichts von der archai¬ schen Welt des Gesprächs und von den mystischen Sehnsüchten Lord Chandos’12. Eine Entfernung, die daran denken läßt, daß die aus der Be¬ gegnung mit der Dichtung und der Persönlichkeit Stefan Georges - ein geliebtes, aber auch gefürchtetes Über-Ich, ein strenger Richter über die poetische Produktion des jungen Freundes - entstandenen Spannungen zwar einigen Konflikten (zum Beispiel dem Vater-Sohn-Konflikt) in Hof¬ mannsthals Persönlichkeit entsprachen, diese jedoch nicht ausschließlich bestimmten. Seine Gedichte verdanken sich anderen Motivkomplexen. Das Schweigen des Dichters Hofmannsthal wird somit auch mit der Annahme - und der gleichzeitigen gleichsam instinktiven Ablehnung - dieser Poetik und dieses Richters zu erklären sein13.

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Mrs. Ramsay versus Lord Chandos

Die Distanz zur Welt der „schwülen Bezauberung“, die wir in Großmutter und Enkel gesehen haben, verdankt sich einem ganz besonderen Frauen¬

bild, seiner fast therapeutisch zu nennenden Funktion. Dem Universum der traurigen Mystik des Lord Chandos opponiert eine Welt, die dem Weib¬ lichen Raum gibt. Auch einer weiblichen Mystik. Doch bevor ich diese Frauen Hofmannsthals analysiere, wird es gut und sicherer sein, mich einer Schrift¬ stellerin anzuvertrauen. Was unterscheidet die mystische Erfahrung des ver¬

hinderten Dichters Chandos von der Erfahrung der vielen „Mystikerinnen“ Virginia Woolfs? Die berühmten moments of being entstehen aus demselben Verlangen wie die ekstatischen Augenblicke des Lord Chandos, auch wenn sie einen ganz anderen Charakter haben. Nähe und Ferne zwischen diesen beiden Erfah¬ rungen zu bestimmen scheint mir nützlich, weil der Chandosbrief der Text Hofmannsthals ist, in dem in radikalster Weise den Obsessionen der männ¬ lichen Identität jegliche Versöhnung verweigert wird. Wie beschreibt dage¬ gen eine Frau die mystischen Momente einer Frau? Wenn sich für Chandos der Augenblick nur dank der Einfühlung in an¬ deres mit Leben füllt, so finden wir die Beschreibung einer analogen Er¬ fahrung sehr oft auch in den Romanen Virginia Woolfs, zum Beispiel in Die Fahrt zum Leuchtturm (1927). Die alle faszinierende Mrs. Ramsay, Frau

eines Philosophieprofessors und Mutter von acht Kindern, erlebt, während sie strickend am Fenster sitzt und zum Leuchtturm sieht, einen dieser moments of being, in dem sie sich etwas Leblosem zuwendet: einem vom Leucht¬

turm kommenden Strahl, der immer wieder aufleuchtet und erlischt. Oft wurde sie sich bewußt, daß sie so hier saß und schaute, hier saß und schaute, ihre Arbeit in der Hand, bis sie selbst das wurde, was sie anschaute, - dieses Licht zum Beispiel.1

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Das Berauschende an dieser Erfahrung besteht, wie für Lord Chandos, in der Überschreitung der als zu eng und erdrückend erlebten Grenzen der eigenen Persönlichkeit: sich verlieren, um sich wiederzufinden. Alles Sein und Tun, das sonst glitzernd und laut sich ausbreitete, verflüchtigte sich; und mit einer feierlichen Empfindung schrumpfte man dazu zusammen, man selbst zu sein, ein keilförmiger Kern von Dunkelheit, etwas für andere ETnsichtbares. Obzwar sie weiterstrickte und aufrecht dasaß - als das empfand sie sich selbst; und dieses Selbst war, nachdem es seine Bindungen abgestreift hatte, frei, die seltsam¬ sten Abenteuer zu haben . . . Und für alle Menschen, so nahm sie an, gab es immer dieses Gefühl unerschöpflicher Hilfsquellen; einer wie der andere: sie, Lily, Augustus Carmichael, mußten sie das Gefühl haben, unsre Erscheinung, alles das, woran wir erkennbar sind, sei einfach kindisch, darunter aber sei alles dunkel, breite sich aus, sei unermeßlich tief . . . Dieser Kern von Dunkelheit konnte überall hin, denn niemand sah ihn; niemand vermochte ihn aufzuhalten, dachte sie jubelnd. Da war nun Freiheit, da war Friede, da gab es, am willkommensten von allem, ein Sichsammeln, ein Ausruhen auf einem Fleckchen Beständigkeit. Nicht als man selbst fand man, nach ihrer Erfahrung, je Ruhe (hier vollbrachte sie etwas besonders Ge¬ schicktes mit ihren Stricknadeln), sondern als ein Keil von Dunkelheit. Indem man seine Persönlichkeit verlor, verlor man die Sorge, die Hast, die Unruhe; und immer kam ihr ein Ausruf des Triumphs über das Leben auf die Lippen, wenn die Dinge sich so zusammenfanden in diesem Frieden, dieser Ruhe, dieser Ewigkeit. (78 f.)

Dieses Gefühl von Aufhebung der Zeit finden auch Lord Chandos und der „kosmopolitische Geschäftsmann“ in einem optischen Effekt, doch in Mrs. Ramsay ist es eng mit ihrer gesellschaftlichen Existenz verbunden. Strikkend denkt sie an Menschen, die ihr lieb sind (Lily und Augustus Carmi¬ chael), so als ob sie mit ihnen reden würde. Chandos und der Geschäfts¬ mann leben diese Augenblicke als etwas von ihrem Alltagsleben völlig Ver¬ schiedenes, und diese Verschiedenheit erklärt die oftmalige Verwendung des Ausdrucks „unsagbar“ in der Beschreibung ihrer Erfahrung. Im Woolfschen Text ist die Unsagbarkeit eingedämmt, Mrs. Ramsay verliert sich nicht nur in ihrem mystischen Gefühl, sie denkt auch darüber nach. Reflexion und Vision schließen einander nicht aus. Sie denkt „jubelnd“. Doch kontrol¬ liert sie auch die Sätze, die ihr Mund ohne ihren Willen formt, sie überläßt sich nicht dem Automatismus. Und es (dieses Licht, M.L.W.) hob dann irgendeine Phrase herauf, die lange in ihrem Geist gelegen hatte wie dieses „Kinder vergessen nicht, Kinder vergessen nicht“, - die sie mehrmals wiederholte und ihr etwas hinzuzufügen begann. Es wird enden, es wild enden, sagte sie sich; es wird kommen, es wird kommen; und fügte dann plötzlich hinzu: Wir sind in Gottes Hand.

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Aber sogleich ärgerte sie sich, weil sie das gesagt hatte. Wer hatte das gesagt? Doch nicht sie? Sie war überlistet worden, etwas zu sagen, was sie nicht meinte. Sie hob den Blick von ihrem Strickzeug und begegnete dem dritten Strahl, und ihr schien, daß ihre Augen ihren eigenen Augen begegneten, die, wie nur sie allein forschen konnten, in ihrem Geist und Gemüt forschten und reinigend diese Lüge, jede Lüge daraus tilgten. (80)

Indem sie sich der Selbstreflexion überläßt, konzediert Mrs. Ramsay ihrer Selbstachtung, ihrer Zärtlichkeit für sich selbst, einen sagbaren Raum. Indem sie das Licht pries, pries sie sich selbst, ohne Eitelkeit, denn sie war streng, sie war wißbegierig, sie war schön wie dieses Licht. (80)

Auf diesem leuchtenden Bild ihrer selbst, ihrer Kraft, den Dingen auf den Grund zu gehen, gründet ihre erotische Beziehung zum Anderen, zur Wirk¬ lichkeit. Es war wunderlich, dachte sie, wie man sich, wenn man allein war, Dingen zuneigte, unbeseelten Dingen; Bäumen, Bächen, Blumen; fühlte, daß sie zu einem selbst wurden; fühlte, sie kannten einen, waren in gewissem Sinn man selbst; und daher eine unvernünftige Zärtlichkeit für sie empfand (sie blickte auf diesen lange¬ währenden, stetigen Strahl) wie für einen selbst. Da erhob sich dann - und sie schaute und schaute, ihre Nadeln in der Luft stillhaltend, - da erhob sich vom Grund des Gemüts, da stieg vom Weiher des eigenen Wesens ein Nebel auf, wie eine Braut ihrem Bräutigam entgegen. (80)

Während für Chandos Schönheit und Intensität, ebenso wie Reflexion und Erotik, einander ausschließen, bedingen sie sich für Mrs. Ramsay gegensei¬ tig. Doch diese Dame ist nicht die einzige in diesem Roman, die die mysti¬ sche Erfahrung kennt. Und es wird sinnvoll sein, die Chandos zugeschrie¬ benen Empfindungen mit denen einer ihm verwandteren Figur zu verglei¬ chen, eine Künstlerin wie er, die das Problem hat, die momentanen Intui¬ tionen der intensiven Augenblicke objektiv darzustellen. Es ist die Malerin Lily Briscoe. Nach zehn Jahren in das Sommerhaus zurückgekehrt - Mrs. Ramsay war inzwischen gestorben -, versucht ihre Freundin Lily das Bild zu vollenden, das sie an dem lang zurückliegenden Tag, der im ersten Teil des Romans beschrieben wird, begonnen hatte. Das Bild soll den Garten darstellen mit Mrs. Ramsay am Fenster sitzend, während sie ihrem Sohn ein Märchen vorliest. Auch der schöpferische Akt gründet auf Vision. Wie Mrs. Ramsay in ih-

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ren mystischen Augenblicken, so überläßt sich auch Lily Briscoe ihren visu¬ ellen Eindrücken. Doch dann muß anderes geschehen. Es geht dann dar¬ um, eine Vision aufzubauen, zu reagieren, was ja auch Mrs. Ramsay tat, als sie ihre Reaktionen auf ihren Wahrheitsgehalt hin untersuchte. Der opti¬ sche Eindruck und die Vereinigung, die er auslöst, genügen nicht. Lily Briscoe und Virginia Woolf sind nicht impressionistisch. Es handelt sich bei ihnen darum, „aus dem Augenblick etwas Dauerndes zu machen“ (198), und dazu bedarf es der Konstruktion. Virginia Woolf weiß, daß sie im Angesicht des Augenblicks nicht untätig bleiben darf, sondern mit einer kurzen, heftigen, hartnäckigen und doch überlegen-nach¬ denklichen Leidenschaft auf ihn antworten muß.2

Dieser Satz von Maurice Blanchot faßt sehr genau die spezifisch Woolfschen Charakteristika von Kreativität zusammen: kurz, heftig, hartnäckig und dennoch nachdenklich. Das ist die Haltung Lilys, wenn sie malt. Doch wenn Lord Chandos von seinen Empfindungen, von „einer liberschwellenden Flut höheren Lebens“ (E, 467), völlig übermannt wird, so hängt dies auch von den geliebten Gegenständen und von einer verschie¬ denartigen Beziehung zu ihnen ab. Chandos vereinigt sich mit den ster¬ benden Ratten, der Gießkanne, dem verkümmerten Apfelbaum, das heißt mit etwas, was seinem Alltagsleben völlig fremd ist. Lily Briscoe dagegen spürt eine intensive, aber distanzierte Zärtlichkeit für Mrs. Ramsay, die sie gut kennt. Chandos und der Geschäftsmann überwinden die Distanz zum Anderen, indem sie sich in es „hineinstürzen“, Lily Briscoe und Mrs. Ramsay ist eine Diskretion zu eigen, eine Bonhomie (um die von Hofmannsthal selbst bestimmten Charakteristika eines aristokratischen Verhaltens zu überneh¬ men), die Lord Chandos anscheinend nicht besitzt. Schließlich sieht Lily Briscoe Mrs. Ramsay am Fenster sitzen. Diese Erschei¬ nung erlaubt es ihr, das Bild zu vollenden: „Mrs. Ramsay! Mrs. Ramsay!“ rief sie, und sie spürte das Entsetzliche wiederkehren - etwas immerfort haben zu wollen und doch nicht zu haben. War sie immer noch imstande, einem das anzutun? Und dann, ganz ruhig, als hätte sie davon abgelas¬ sen, wurde auch dies ein Teil alltäglichen Erlebens, auf ein und derselben Ebene mit dem Sessel, mit dem Tisch. Mrs. Ramsay - es gehörte zu ihrer restlosen Güte ihr gegenüber - saß ganz einfach dort, in ihrem Lehnsessel, ließ ihre Nadeln flit¬ zen, an dem rotbraunen Strumpf strickend, und warf einen Schatten auf die Stufe. Sie saß ganz einfach dort. (248)

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Diese Szene zeigt ein zentrales Movens der Woolfschen Kreativität, die Er¬ innerung. Kunst wird zur Waffe gegen die Vergänglichkeit, gegen das Frag¬ mentarische, gegen den Tod. Doch um sich erinnern zu können, muß man sich der Zerstreuung, dem Verlust der Persönlichkeit anvertrauen können, wie Mrs. Ramsay. Zerstreuung und Konzentration alternieren, wie die Be¬ wegung der Wellen. Ohne Zerstreuung verhindert die Persönlichkeit mit ihren engen Grenzen die erotische Beziehung zum Objekt, die dieses allein wirklich macht, ohne konstruktive Konzentration verbleicht die Vision des Augenblicks, wird unbedeutsamer Rest. Unsagbarkeit, für Chandos und für den Geschäftsmann fast eine Authentizitätsgarantie von Erfahrung, garan¬ tiert für Lily Briscoe, für Virginia Woolf überhaupt nichts; Unsagbarkeit ist nur der Stachel, der zur Reaktion auffordert. Das Unsagbare wird durch eine kurze und zugleich hartnäckige Reflexi¬ on eingedämmt, doch nicht nur dadurch. Auch durch Plaudereien. Plau¬ dern ist der Zerstreuung nützlich, ist eine Art, sich zu verlieren, und besitzt deshalb einen Wert an sich, der einer auf wissenschaftliche Wahrheit fixier¬ ten Männerideologie nicht eingehen kann. Transley, ein junger, mißmutiger Nachwuchsakademiker, denkt während des Abendessens bei Ramsays: „Man bekommt nie etwas Besitzenswertes mit der Post“ - das war so das Zeug, das sie immer redeten. Sie brachten die Männer dahin, solches Zeug zu reden. Ja, es war hübsch genau wahr, dachte er, sie bekamen nie etwas Besitzenswertes, von ei¬ nem Ende des Jahres zum andern. Sie taten nichts als reden, reden, reden, essen, essen, essen. Die Weiber waren schuld daran. Die Weiber machten alle Zivilisation unmöglich - mit all ihrem „Charme“ und ihrer Albernheit! (107)

Tansley ist es, der es schafft, Lily Briscoe mit seinem entschiedenen „Frau¬ en können nicht malen, können nicht schreiben“ (196) zu ängstigen. Viele weibliche Figuren Virginia Woolfs kennen sowohl die Plauderei als auch die mystische Vision, man denke nur an Eleonor in The Years. Für sie gibt es keine scharfe Trennung zwischen diesen beiden Situationen. Beide sind notwendig. Nur weil sie fähig sind, sich in einer leeren Konversation zu verlieren, ist es ihnen auch gegeben, erhabene Visionen zu haben. Diese Plaudereien der etwas verwirrten Woolfschen Damen sind nun aber auch nicht das Gerede, das Lord Chandos so bestürzte. Sie reden nicht vom so¬ zialen Auf- oder Abstieg einer Familie, sie geben keine Urteile ab, haben keine Moral zu vertreten. Diese Damen kommen, wie die „bekloppte“ Mrs. Swithin in Between the Acts, vom Enkelkind und der Gefährlichkeit der Ma¬ sern auf den (aus dem Griechischen stammenden?) Ausdruck „auf Holz

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klopfen“ oder auf die Vorstellung, wie Piccadilly vor Millionen Jahren wohl ausgesehen haben muß, ganz von Rhododendren überwuchert. Plauderei und Mystik zusammen sehen zu können ist wohl eine spezi¬ fisch weibliche Fähigkeit. Chandos ist diese Möglichkeit nicht gegeben. Und doch ist sie eine für die Konstruktion jenes Ideals aristokratischer Bonhomie, das Hofmannsthal so sehr am Herzen lag - und das sich wesentlich von dem Georgeschen der Haltung unterscheidet -, grundlegende Eigenschaft. Um diese Seinsweise darstellen zu können, brauchte er die Frauen. Und so schuf er jene so merkwürdigen Frauengestalten, die im literarischen Wien der Jahrhundertwende ziemlich isoliert dastehen.

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Die adlige Mondfrau

Eine Frauenfigur, welche im Werk Hofmannsthals immer wieder auftaucht, könnte man als „adlige Mondfrau“ bezeichnen. „Adlig“, weil sie die Inkar¬ nation der von den männlichen Hauptfiguren so ersehnten Noblesse ist. „Mondfrau“, weil ihr Urbild die Prinzessin Eleonore d’Este im Torquato Tasso von Goethe ist. Deren Neigung für Tasso wird von der Freundin Eleonore Sanvitale mit den Strahlen des Mondes verglichen: Denn ihre Neigung zu dem werten Manne Ist ihren andern Leidenschaften gleich. Sie leuchten, wie der stille Schein des Monds Dem Wandrer spärlich auf dem Pfad zu Nacht: Sie wärmen nicht und gießen keine Lust Noch Lebensfreud umher. (V. 1954-59)1

Diese Sanftmut kommt aus dem Grauen der Prinzessin vor der Verführung - „Zu fürchten ist das Schöne, das Fürtreffliche / Wie eine Flamme, die so herrlich nützt, / Solange sie auf dem Herde brennt, / Solang’ sie dir von einer Fackel leuchtet, / Wie hold! wer mag, wer kann sie da entbehren? / Und frißt sie ungehütet um sich her,/ Wie elend kann sie machen!“ (V. 184046) - und vor dem unvermeidlichen Abklingen der (männlichen) Leiden¬ schaft - „Wir sind von keinem Männerherzen sicher, / Das noch so warm sich einmal uns ergab. / Die Schönheit ist vergänglich, die ihr doch / Al¬ lein zu ehren scheint. Was übrigbleibt, / Das reizt nicht mehr, und was nicht reizt, ist tot“ (V. 1030-34). Die Sanftmut ist aber auch aus der Krank¬ heit, der Schwäche erklärbar. In der Prinzessin herrscht, wie Ladislao Mittner schreibt, die „wehmütige und sanfte Resignation einer Seele, wel¬ che schmerzhaft in einem zu zarten und oft kranken Körper eingeschlos¬ sen ist“.2 Für Hofmannsthal ist die Figur der Prinzessin von großer Bedeutung. Er widmet ihr sogar ein kleines Prosastück, die Unterhaltung über den „Tasso“

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von Goethe (1906). Unter dem Zeichen des Mondes, in der Antike der keu¬

schen Göttin der Jagd Artemis zugeordnet, steht auch Maria im unvollen¬ deten Roman Andreas oder die Vereinigten. Maria - Alter-Ego der leidenschaft¬ lichen und galanten Mariquita3 (diese Spaltung finden wir schon in den beiden Leonoren des Tasso) - ist eine spanische Gräfin, die der junge Wie¬ ner Andreas von Ferschengelder im Todesjahr der Kaiserin Maria There¬ sia auf seiner Bildungsreise in Venedig trifft und in die er sich, wie auch in Mariquita - wenn auch ganz anders - verliebt. Für Andreas verkörpert Maria alteingesessene Aristokratie, seine Familie dagegen wurde erst vor kurzem geadelt. Der Snobismus der Eltern - auch die Bildungsreise ist Ausdruck der Anpassung an die Sitten der Adels geht auf den Sohn über, für den aber der „wahre“ Adel der spanischen Gräfin im genauen Gegensatz zu der von den Eltern angestrebten nur äu¬ ßerlichen Nobilitierung steht. Elegance und Vornehmheit, die Phantome, denen Andreas nachgelaufen ist, sind in Maria in ihrer höchsten Form verkörpert: als seelischer Adel. Jetzt kommen ihm die Wiener Gräfinnen nur als Marionetten vor, deren Bewegendes die Rasse ist. (E, 273)

Seine Phantome scheinen sich in Maria zu verkörpern. Der snobistische Traum von Andreas, die Liebe einer „eleganten Dame“, realisiert sich aber ganz anders, als er sich vorgestellt hatte. Er ahnt, daß Marias Liebe sich auf etwas beziehen muß, was ihm selbst in sich uner¬ reichbar, seiner Eitelkeit wie seiner Unruhe wie seinem Bewußtsein ganz entrückt ist. (E, 280)

Aber wie bestimmt sich denn diese Eleganz und Vornehmheit Marias? Maria - „immer in Halbhandschuhen, immer kalte Hände . . . verträgt Blumen¬ duft sehr schlecht (E, 276), „wünscht sich, eine Greisin zu sein, stellt sich gern als gestorben vor . . . hat Furcht vor Kindern“ (E, 294) - vermittelt Andreas das Gefühl, immer „dem feinsten und tiefsten Begriff des Indivi¬ duums

nachzugehen, denn „nach dieser Richtung ist Marias religiöser

Ästhetismus orientiert“ (E, 275). Ihr Grauen vor der Sexualität ist eins mit ihrem Grauen vor allem Ungeformten, allem Nicht-Individualisierten: vor der Konfusion. Dieses Grauen wird von Hofmannsthal mit den Ursachen ihrer Krankheit, dei Spaltung in Maria-Mariquita, in Verbindung gebracht. Nach einer „maßlosen“ Liebe verlassen, heiratet Maria einen Mann, den sie nicht liebt. Ihre psychische Krankheit beginnt an dem Tag, an dem sie, 84

ihren kranken Mann pflegend, plötzlich vom Fenster aus den ungetreuen Geliebten erblickt. Ihr Grauen entsteht aus der Frage: „wie ist es möglich, einen mit einem anderen zu vertauschen“ (E, 196). In einer nachfolgenden Version wird die Spaltung Marias deutlicher als Spaltung zwischen Körper und Geist motiviert. Da handelt es sich nicht mehr um den Konflikt zwi¬ schen einem ungetreuen Geliebten und einem unsensiblen Ehemann, son¬ dern da ist nur noch die Beziehung zu dem letzteren der Grund für Marias Krankheit: Maria ist mit einem Mann verheiratet, der abwechselnd arro¬ gant und servil ist, eine verächtliche Figur, die aber Marias Sinnlichkeit stimuliert. . . . was sie zerbrochen (disintegiert) hat ist die Unlogik in der Behandlung die der Mann ihr zuteil werden lässt - u. der Umstand dass sie ihn sinnlich liebt - u. allmäh¬ lich fürchtet wie ein Gespenst. Seine Rohheit gegen Diener, Zärtlichkeit gegen Thiere. Seine Art dann, die Verzei¬ hung zu erbetteln. (KA XXX, 192)

Maria liebt mit ihren Sinnen einen Mann, den sie fürchtet und den sie nicht achten kann. Die Verwechslung Ehemann/Geliebter und das Grau¬ en, das diese ihr in der früheren Version verursacht, ist nur aus einer grund¬ sätzlichen Spaltung zwischen Zuneigung und Sexualität erklärbar. Und so versucht Maria, den Körper zu „vergessen“. Gerade dieser manische Entschluß zu sublimieren, den Andreas in Maria spürt, läßt seine Liebe zu ihr entstehen. Das ist ein sehr wichtiger Mecha¬ nismus, der die Beziehungen aller Hofmannsthalschen männlichen Haupt¬ figuren zu den verschiedenen „adligen Mondfrauen“ bestimmt. Geheimnis um Maria: beim ersten Besuch Andreas’ macht sie eine ganz kleine hilf¬ lose Bewegung nach einer dunklen Ecke hinter ihrem Sofa, mit einer Unfreiheit um die Mitte des Leibes, - und in diesem Augenblick ahnt Andreas, daß es ein für ihn unauflösliches Geheimnis hier gibt, daß er diese Frau nie kennen wird, und fühlt, daß ihn hier die Unendlichkeit mit einem schärferen Pfeil getroffen, als je ein bestimmter Schmerz; er hat drei oder vier Erinnerungen, die alle diese pointe aceree de l’infini in sich tragen . . . fühlt diesen ungefühlten Schmerz, ohne zu wissen, daß er in diesem Augenblick liebt. (E, 273)

Diese Stelle sagt viel über das Geheimnis von Maria, aber vor allem über die Struktur des Wunsches von Andreas aus. Die „ganz kleine“ Bewegung Marias ist eine verwirrte, „hilflose“, nach einer „dunklen Ecke“. Maria ist gespalten. Ein Teil will fliehen, einer bleiben. Ihr Körper reagiert auf diese

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Spaltung mit Zeichen von „Unfreiheit“, von Unbeholfenheit. Und Andre¬ as ahnt ein Geheimnis. Er ist angezogen von dieser Hilflosigkeit, die seine Ritterlichkeit stimuliert, aber auch von dem Bewußtsein, nicht wirklich hel¬ fen, das Geheimnis nicht lüften zu können. Diese Hilflosigkeit finden wir in vielen weiblichen Figuren Hofmannsthals, sogar in offensichtlich so an¬ dersartigen wie Antoinette (im Schwierigen) oder der Kurtisane Nina (im Andreas). Aber in Maria wird die Hilflosigkeit durch „Unfreiheit“ verstärkt.

Maria ist nicht im Einklang mit ihren erotischen Wünschen. Während Antoinette und Nina sich von ihren körperlichen Empfindungen leiten lassen und sich nur gegenüber der „ethischen“ Welt des Mannes hilflos fühlen, ängstigt Maria vor allem ihr eigener Körper. Andreas fühlt sich unfähig, ihr zu helfen, fühlt, „daß er diese Frau nie kennen wird“. Aber gerade diese Sicherheit, daß er sie nie kennen wird, ist die Bedingung für seine Uiebe, für seinen Wunsch, sie zu heilen, was gera¬ de hieße, sie zu „kennen“. Diese Paradoxon lichtet sich erst, wenn man beachtet, daß Andreas sich in Maria spiegelt. Ihr Mangel ist sein Mangel. „Ihr graut vor der Liebe, welche mit Verwechslung arbeitet (sie erinnert an die Prinzessin aus dem Tasso)“ (E, 275), und vor ebenderselben physischen Liebe graut auch An¬

dreas. Ihr Geheimnis ist sein Geheimnis, das er lüften will, und dann wie¬ der doch nicht will. Es ist dies das Geheimnis vieler männlicher Figuren, mit denen Hofmannsthal sich identifiziert. Was beim Kaufmannssohn im Märchen der 672. Nacht im Dunklen bleibt und was auch der Schwierige nur

in ebenso sublimen wie nebelhaften Worten ausdrücken kann, zeigt sich in Marias „Geheimnis“ ziemlich frei: daß die Angst vor den Frauen und vor dem Körper dort entsteht, wo dieser als getrennt von den Gefühlen erfah¬ ren wird, grauenhaft abgeschnitten von der Sphäre der Emotionen. Maria bietet so dem Mann einen Spiegel, darin besteht eine ihrer „therapeuti¬ schen“ Funktionen, welche sie mit den anderen adligen Mondfrauen ver¬ bindet. Aber wie diese drückt sie auch den entgegengesetzten, auf eine mög¬ liche Integration von vornherein verzichtenden unmittelbareren Wunsch aus: eine Strategie zu finden, um mit der Sinnlichkeit alles, was ängstigt, zu unterdrücken, die perfekte Sublimation zu erreichen.4 Im Jahr 1906, vier Jahre nach dem Brief des Lord Chandos schreibt Hof¬ mannsthal die Unterhaltungen über den „Tasso“ von Goethe. Zwei befreundete Paare - ein Schriftsteller mit seiner Frau und ihre deutschen Gäste: ein Major und dessen Frau Helene, die als einzige vom Autor mit einem Na¬ men bedacht wird - haben zusammen im Burgtheater den Tasso mit dem

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berühmten Schauspieler Kainz in der Titelrolle gesehen. Nach Hause zulückgekehrt, diskutieren sie angeregt über das Stück, insbesondere aber über die Figur der Prinzessin. Das kleine Prosastück erzählt eben diese Unterhaltung und enthält auch den Text eines Manuskripts mit dem Titel Die Prinzessin, das dem Schriftsteller einige Monate nach diesem Abend anonym zugeschickt wird.

Während der Unterhaltung verhehlt die „Hausfrau“ nicht ihre Antipa¬ thie gegen die Prinzessin: Was will sie, und was will sie nicht? Den Leuten Kränze aufsetzen und ihnen halb¬ verdeckte Erklärungen machen und dann: Nicht weiter, Tasso! Viele Dinge gibts, Die man mit Leidenschaft ergreifen darf; Doch andre können nur durch Mäßigung Und durch Entbehren unser werden: So, sagt man, sei die Liebe, das bedenke wohl. Das soll goutieren, wer will. Ich mag sie nicht. Ich mag sie nicht. (E, 522 f.)

Für die Frau des Schriftstellers ist es Goethe nicht geglückt, die Figur der Prinzessin Eleonore d’Este sympathisch zu machen, und das gegen seine Absicht. Das „Metier“ habe ihn gezwungen, sie „reden“ zu lassen, „wo es ihre Sache wäre, sowohl als große Dame wie als eine schöne Seele, gerade nicht zu reden, schweigend, sich effacierend zu wirken und zu leiden“ (E, 523) wie Makarie im Wilhelm Meister oder Ottilie in den Wahlverwandtschaften. Für die Hausherrin leidet das ganze Drama an dieser Uneleganz. Während für den Major das Drama unrealistisch ist, weil Menschen in Gesellschaft weder sich noch die anderen so tief verstehen, ist es für die Frau des Schrift¬ stellers das Reden der Figuren selbst, das indiskret, vulgär und einer „wirk¬ lich guten Gesellschaft“ nicht angemessen ist. Macht man sich die Beob¬ achtung von Ladislao Mittner zu eigen, welcher die Differenz Tassos zu den anderen Figuren gerade in seiner Unwissenheit bezüglich der Kunst des Dialogs, des gesellschaftlichen Ethos der aristokratischen Konversation5 bezeichnet, so scheint die Exkommunikation der eifrigen Hausfrau noch mehr wie eine „Überinvestition“, wie ein verkrampfter Wunsch nach ei¬ nem Adel, von dem sie weder die Formen noch die Inhalte kennt. Wir finden in diesem Text eine ähnliche Konstellation wie im Schwieri¬ gen. Wie in diesem Drama die zukünftige Ehefrau Helene mit Verachtung

von der Vulgarität der anderen spricht - im Gegensatz zu Kari Bühl, der

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die verkörperte Bonhomie ist

so erhebt sich hier die Frau des Schriftstel¬

lers zur Richterin über die Vornehmheit der Figuren des Tasso, während ihr Mann diese verteidigt. Und da ist noch eine, die sie alle, besonders aber die Figur der Prinzessin verteidigt. Das ist die wirkliche Aristokratin des Quartetts, die Baronin Helene. Ihren Namen verdankt sie - wie übrigens auch die ambivalentere Helene im Schwierigen - der Freundin Helene von Nostitz, welche Hofmannsthal ein Jahr zuvor während einer Reise in Deutschland kennengelernt hat. Auch wenn wir in der Unterhaltung nicht mit Sicherheit erfahren, wer den Text Die Prinzessin geschrieben hat, der die Diskussion einige Monate später fortsetzt (der Major? seine Frau?), muß man ihn Helene zuschreiben. Und ein Hinweis in Hofmannsthals Brief¬ wechsel klärt alle Zweifel. Im Januar 1914 empfiehlt er der Freundin Hele¬ ne von Nostitz für eine Lesung in deren Haus „den Dialog über den Tasso - worin eine Frau vorkommt, die Helene heißt und die dann den Aufsatz über ,die Prinzessin“ einschickt!“6 Dieses kurze Manuskript betont die Vornehmheit der Prinzessin und ver¬ weist die harten Worte der Schriftstellersgattin in den Bereich des Snobis¬ mus. Wenn die Frage der letzteren war „Was will sie, und was will sie nicht?“, eine Frage des gesunden bürgerlichen Menschenverstandes, antwortet die Baronin mit der aristokratischen Ethik, der des Clowns Furlani: dem Ver¬ zicht auf jedes Streben. Sie ist eine Vestalin in einer Zeit, die Vestalinnen nicht mehr zuläßt. Ihre Asexualität - „a kind of moral sexlessness“ - strahlt eine „Liebesmöglichkeit ohne Grenzen, allseitig verströmend - und kaum mehr ein leiser Wunsch“ aus. Auch sie ist, wie Maria im Andreas, von der Krankheit gezeichnet, vom Schmerz und vom Fehlen einer Zukunft. Und wie sie bleibt sie großartig im Verzicht und daher unverstanden. Sie ist nicht so lieblich wie Ottilie in den Wahlverwandtschaften, sie dient nicht gern. „Zu dienen ist ihr versagt, und wodurch insinuiert sich schöner eine Frau, als wenn sie dient“ (E, 527). Die Figur der Prinzessin tritt aus dem natürli¬ chen Zusammenhang der Dinge. Nichts wollend, unbeweglich bleibend, läßt sie alle neben sich wie „Aventurier“ oder „Snobs“ erscheinen: „es liegt ein Triumph des ganzen Wesens, ein Triumph guter Rasse darin - aber ein gefährlicher, leicht ein bedauernswerter Triumph“ (E, 528). Die Prinzessin ist ein „ganzes“ Wesen. Wie Maria verteidigt sie ihre Ganz¬ heit, indem sie für diese Einheit paradoxerweise die Trennung von der Natur, vom Leben akzeptiert und deshalb krank und mitleidserrregend ist. Aber sie ist auch von „guter Rasse“. Wie kann sich der Begriff der „gu¬ ten Rasse“ mit dem Abscheu vor einem Leben, das als rein instinktmäßiges

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verstanden wird, vertragen? Oder - umgekehrt - wie können der Snob und der Abenteurer gemeinsam verabscheut werden? Man könnte sagen, daß die¬ ser Text in schwierigem Unterfangen versucht, den aristokratischen Be¬ griff der „guten Rasse“, wie Nietzsche ihn verwendet, mit dem goetheschen Klassizismus des edlen Verzichts zu verbinden. Und sehr geschickt gelingt ihm das auch, indem er die Prinzessin einerseits der antiken und a-moralischen Welt der Vestalinnen annähert, andererseits ihre Krankheit akzentu¬ iert und sie somit vom fatalen „erlaubt ist, was sich ziemt“ entfernt. Der Schriftsteller stimmt mit dem Manuskript völlig überein, fühlt seine Richtigkeit in dem Augenblick, in dem er es liest, wenn er es auch dem Major zuschreibt. Selbst nach einer aufmerksamen stilistischen Analyse gibt er nur widerstrebend zu, daß es auch von Helene verfaßt sein könnte. Für ihn kann der Satz: „wodurch insinuiert sich schöner eine Frau, als wenn sie dient?“ nicht von einer Frau geschrieben sein. „Das ist richtig und zugleich so kühl, fast ein wenig ironisch, aus so großer Distanz

(E, 530), womit er

die Distanz von der „Normalität“ des Weiblichen nicht nur für die Prinzes¬ sin, sondern auch für die preußische Baronin konstatiert, wohingegen sei¬ ne Frau voll und ganz dieser Normalität angehört. Indem er sie auffordert, ihre Ansicht über die Prinzessin zu ändern, weist er sie zurecht: „Denn so hübsch es ist, wenn man offen sagt, wie mans findet und sieht, so schrecklich ist ein starres Beharren nach der trotzigen, kindischen Seite hin“ (E, 531). Hofmannsthal inszeniert hier ein sehr galantes und ein wenig perfides Spiel. Der bürgerlichen und „kindischen“ Ehefrau setzt er die aristokrati¬ sche und intelligente Freundin entgegen, die schreiben kann, die zu Ironie und Stil fähig ist, so daß sie dem Schriftsteller beinahe nicht wie eine Frau vorkommt. Wie Maria, wie die Prinzessin und ein wenig auch wie Helene Altenwyl, die ihn anziehen, eben weil sie keine wirklichen Frauen sind. Hofmannsthal begegnet Helene von Nostitz und ihrem Mann, dem Ba¬ ron Alfred von Nostitz, das erste Mal am 29. April 1905. In einem Brief vom 15. Mai 1907 schreibt er ihr: . . . in einem gewissen Sinn, den Sie niemals zu ergründen brauchen und der Sie niemals bekümmern kann, brauche ich Sie sehr notwendig für mein Leben, für das Leben meiner Phantasie oder meiner Gedanken. (S. 37)

Und von der ersten Begegnung an wird das Bild dieser Adeligen unruhig durch seine Werke streifen. Die Unterhaltung über den „Tasso“ von Goethe ist wirklich ein Geschenk an sie, denn nicht nur ihr Name wird übernommen, sondern auch Merkmale ihrer Rede (die Gewohnheit, englische Sätze ein89

fließen zu lassen, die auch ihre Briefe kennzeichnet) und ihres Verhaltens (vor allem ihre Unfähigkeit, den Augenblick zu leben). 1912 schreibt sie an Hofmannsthal, daß sie erst jetzt das Gefühl habe, intensiver zu leben: „Ich hatte, besonders wie ich ganz jung war, etwas so Fernes in mir, daß ich sehr oft kaum die Gegenwart realisierte“ (15. 12. 1912, S. 123). Diese melancho¬ lische Nostalgie findet sich aber auch in ihren Erinnerungen Aus dem alten Europa7, die sie schrieb, als sie über 45 war. Und sie findet sich auch im Schwierigen, wo Helene der deutschen Baronin den Namen und alles, was an dieser Figur weder hochmütig noch konstruktiv ist, verdankt. Aber - und das scheint mir besonders wichtig, um den starken und auch widersprüchlichen Einfluß Helene von Nostitz’ auf Hofmannsthals litera¬ rische Phantasie aufzuzeigen - wenn ihre melancholischen Züge für Hele¬ ne Altenwyl übernommen werden, so tauchen im Briefwechsel Verhaltens¬ weisen, Sätze auf, die fast wörtlich im Dialog zwischen Kari Bühl und An¬ toinette Hechingen wiederkehren. 1912 muß zwischen Hofmannsthal und Helene von Nostitz eine Begegnung stattgefunden haben, die sie sehr an¬ genähert hat und nach welcher Hofmannsthal eine „innerliche Hemmung“ fühlt, ihr zu schreiben: „Ich war damals zu nah gekommen, Verantwortung lag auf mir, ich bereute freilich nichts, aber daran zu denken bedrückte mich. Ihr guter Brief hat es gelöst“ (16. 5. 1913, S. 125). „Ich bereu nichts“ wild Kari Bühl zu Antoinette über ihre Beziehung sagen (11,10). Und im vorhergegangenen Brief Helene von Nostitz’ findet sich dieser sibyllinische Satz: „Hoffentlich, nein, ich weiß, Sie werden sicher kommen, denn Sie wissen, daß es dazu gehört und gehören muß, daß Sie manchmal kom¬ men“ (11.5. 1913, S. 125), der an Antoinettes Bitte um Karis Hilfe und Nähe beim gewagten Unterfangen erinnert, ihre Ehe in Ordnung zu bringen. Helene von Nostitz geht wohl weit über die wohlerzogene Helene im Schwierigen hinaus, die mehr an die Frau des Schriftstellers als an die preu¬ ßische Baronin der Unterhaltung erinnert. Es ist gewiß nicht gewagt festzu¬ stellen, daß Helene von Nostitz und später auch Ottonie von Degenfeld, die beiden aristokratischen Freundinnen, für Hofmannsthals Vorstellungs¬ welt und literarische Produktion entscheidend gewesen sein müssen. Nach der eisigen Verzweiflung des Chandosbrief, die Erotik nur noch gegenüber den Dingen, den Pflanzen und den Tieren zuläßt, nach dem Kult mit der neurotischen Fixierung im Gespräch zwischen Balzac und Hammer-Purgstall oder in den „ethischen Tragödien“ - Elektra und Das gerettete Venedig - scheint das Bild dieser Damen, die, in beruhigender Entfernung, bereit sind, seine Galanterie anzunehmen und zu erwidern, die angenehme Seite der Meta-

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morphose, der Travestie, der Vielfältigkeit der Wünsche wieder ins Spiel zu bringen. Zu Beginn des Jahres 1905, wenige Wochen vor seiner ersten Begegnung mit Helene von Nostitz, schreibt Hofmannsthal eine kurze Rezension zu einer deutschen Ausgabe der Briefe Diderots an Sophie Volland. Hier phan¬ tasiert er über die ideale Beziehung eines „großen Mannes“ zu seiner Ge¬ liebten. Nicht so sehr allerdings über die Beziehung an sich als über ihr sichtbares Zeichen, über „seine“ Briefe an „sie“. Es sind weniger Liebes¬ briefe als Briefe an die Geliebte, deren Zweck darin besteht, sie zu unter¬ halten. Darin sieht Hofmannsthal ihre Einzigartigkeit. Dies ist ein wenig einzig: ein großer Mann, der seine Geliebte unterhalten will. Sie unterhalten, ganz einfach? Keineswegs sie martern, keineswegs sich in ihren fast erschreckten Augen gigantisch spiegeln, keineswegs sie - in Größe - verstimmen. Sondern wirklich, sie unterhalten. Wie sonderbar, welche gespenstische Komödie, daß nun diese Briefe voll enjouement, voll verve - oh, ich habe deutsch zu schrei¬ ben: voll verbindlicher Munterkeit, voll innerer Geselligkeit, voll halb gespielter Verspieltheit, voll Unanständigkeit, in der doch eine unendliche Wohlerzogenheit steckt, daß er mit diesen Briefen nun uns unterhält, die wir tot waren, als er und seine Geliebte lebten, und nun leben, da jene tot sind. (RA I, 346 f.)

Diderot will seine Geliebte „nur“ unterhalten, will sich oder sein Talent nicht in ihr spiegeln. Er mißbraucht sie nicht, um sich als großer Schrift¬ steller zu bestätigen. Der narzißtischen Pflichten enthoben, wird die Ge¬ liebte Adressatin seiner Galanterie. Anstatt sie mit den großartigen Kämp¬ fen des Genies zu erschrecken, wird sie Gegenstand seiner liebenswürdi¬ gen Aufmerksamkeit. Dieser Stil Diderots wird als etwas Vergangenes dargestellt. Im übrigen sind alle Schriften Diderots vergessen. Sie beunruhigen den „Philister“ nicht. Weil er sie nicht kennt. Sie erzürnen ihn nicht; denn niemand lobt sie vor ihm. Sie erregen ihn nicht zu dumpfem Widerstreben; denn er sieht keinen Lebenden, der aus ihnen Entzükkung trinkt. (RA I, 345)

Das achtzehnte Jahrhundert Diderots ängstigt nicht, weil es für die meisten tot ist. Es ist fast rührend zu sehen, wie Hofmannsthal versucht, selbst die¬ sen Tod ins Positive zu wenden. Es gibt nichts Entzückenderes zur Gesellschaft als Männer von Geist, die tot sind. Ihr Totsein ist wie ein leichter geheimnisvoller Flor über den Salon, indem man mit

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ihnen zusammensitzt. Wie feine Geistermusik, sordinierte Geigen, aus dem Hinter¬ grund. In ihren Reden aber ist ihr Totsein als eine entzückende Leichtigkeit, ein Ballwerfen mit den Lasten, die uns erdrücken, ein Tanzen um die Abgründe, die uns ängstigen. Die Gesellschaft der Toten ist süß wie Haschischträume.

Anrührend ist diese Bewertung in absentia einer idealen Gesellschaft. Sie erinnert an einen Satz aus dem Buch der Freunde: „Es ist hart, sich mit einer herrschenden Gesellschaft herumzuschlagen, aber härter, eine nicht vor¬ handene postulieren zu müssen“ (RA III, 279), aber Abwesenheit hat für Hofmannsthal auch etwas Produktives. Die Abwesenheit, der Tod verlei¬ hen jene Leichtigkeit, die ein „Ballwerfen mit den Lasten, die uns erdrükken“, erlaubt. Nur ein Bild aus der Vergangenheit kann das „Tanzen um die Abgründe, die uns ängstigen“, anführen. Diese Funktion von Vergan¬ genheit - ein Ort der Nostalgie, der dank seines Totseins die Schwere der Gegenwart leichter macht - entspricht der Unentschiedenheit Hofmanns¬ thals zwischen einer als ethisch-konstruktiv erfahrenen Gegenwart und ei¬ ner dispersiven Vergangenheit. Negation und Trauer um das Negierte durch¬ ziehen das gesamte Werk Hofmannsthals. So wie im Schwierigen die Welt des achtzehnten Jahrhunderts negiert und durch eine neue Sprache und eine moderne Moral ersetzt wird, wobei aber die gesamte Komödie eine hommage an die Konversation und die Geselligkeit ist, die die beiden Prot¬

agonisten am Ende negieren, so dient auch im Text über Diderot die Ver¬ knüpfung von Tod und Faszination dazu, das liebenswürdige Bild einer Welt und ihrer Verhaltensweisen zu malen, die der ethische Wille negieren muß. Das Totsein erlaubt die seltsamsten und widersprüchlichsten Verbin¬ dungen. Liebenswürdigkeit und Lust können zwar nur dank ihres Totseins eingeschmuggelt werden, doch wehrt diese Strategie einen weitaus schreck¬ licheren, deprimierenden Tod ab, den der Lähmung, der Unproduktivität, den Tod eines stummgewordenen Lord Chandos. Dieselbe Strategie findet sich auch im Briefwechsel mit einer anderen aristokratischen Freundin, mit Ottonie von Degenfeld. In ihr findet Hof¬ mannsthal eine Frau, die seine Galanterie annimmt, die glücklich ist, seine Briefe zu empfangen, die aber auch eine beruhigende Distanz einhält. Eine Distanz, die auch in den Umständen ihrer Begegnung im Dezember 1908 im bayrischen Neubeuern, wo sie mit ihrer Schwägerin lebt, begründet ist. Sie hatten sich schon 1906 kennengelernt, aber erst nach dieser Begeg¬ nung beginnt der Briefwechsel.8 Ottonie ist eine junge Witwe von 27 Jah¬ ren. Nach nur zwei Jahren Ehe hatte sie ihren Gatten verloren. Der Ner-

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venzusammenbruch nach seinem Tod im März 1908 ist noch nicht über¬ wunden. Von Anfang an steht ihre Beziehung unter dem Zeichen der ritterlichen und zugleich väterlichen Hilfe, die Hofmannsthal der jungen, kranken Witwe anbietet: . . . ich habe Sie mit solcher Kraft lieb gewonnen in der Stunde als Sie mir Ihr ungeheures Leid erzählten, und es lächelnd erzählten, in diesen Augenblicken hat etwas von mir Ihnen gehört, das noch nie jemandem gehört hat. (20. 1. 1911, S. 75)

LJnd Hofmannsthal beginnt seine Therapie. Er schickt ihr Bücher. Natür¬ lich nicht wahllos. Er macht ihr überlegte Listen mit verschiedenen, zu alternierenden Büchern: Memoiren, Briefe und Reflexionen, Klassiker. Er sagt ihr, wann und wie sie lesen soll, und versichert ihr, daß ihm diese Mühe nur Freude macht. Ich wäre glücklich, wenn Sie eine Form fänden, das (eine gewisse rastlose Halb¬ tätigkeit und Einteilungslosigkeit, M.L.W.) einzuschränken, eine tägliche Zeit fürs Lesen zu gewinnen, aber nicht die Zeit vor dem Einschlafen, ich bitte Sie um alles, nicht die . . . Ich denke nie mit Sorge an Sie, immer nur mit Freude. (30. 10. 1910, S. 38)

Er schickt ihr seine Bücher, seinen Novalis mit seinen Anmerkungen, schreibt Anmerkungen in einen Band Goethe, bevor er ihn ihr schenkt, und ist beunruhigt, als sie ihn bittet, ihr doch nicht so viele „teure“ Bücher zu „schenken“ (17. 12. 1910, S. 52): Ihre Bemerkung über Bücher-schicken macht mich etwas traurig. Ich kann sie we¬ der ignorieren noch verstehen. Ich hatte gehofft, wir verstünden einander in dieser Sache vollkommen gut, wüßten, daß es sich um einen Plan handelt, um etwas Über¬ legtes, sozusagen notwendiges, nicht um „Schenken“ . . . Man „schenkt“ shawls, Reisekoffer, Perlenschnüre, Möpse, Parfümflacons, aber man gibt jemandem Bü¬ cher, die er braucht, damit sie bei ihm sind. Ich war plötzlich ganz traurig, als ich den kleinen Satz las. Aber denken Sie jetzt darüber nicht nach, bitte, Liebe, nicht nach, sondern wir sprechen darüber. (22. 12. 1910, S. 53)

Diese lange Erklärung und Kritik Hofmannsthals, bei der er riskiert, sie zu beunruhigen - daher verbietet er ihr, darüber nachzudenken -, rechtfertigt sich aus dem Faktum, daß die Macht der Literatur die Substanz ihrer Be¬ ziehung berührt. Literatur dient einem Plan, einer Notwendigkeit. Sie soll

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auf die Psyche der Leserin wirken und tut dies auch, dank des Stils, der ihr Inhalt ist, aber auch dank der erotischen Beziehung, die sie zwischen dem Geber und der Empfängerin herstellt - „Indem sie ihre Gedanken hinneh¬ men und hingeben, kommunizieren die Menschen wie in den Küssen und Umarmungen; wer einen Gedanken aufnimmt, empfängt nicht etwas, son¬ dern jemanden“, lesen wir im Buch der Freunde (RA III, 254) -, eine Bezie¬ hung, die sich auch in der Auswahl der Autoren zeigt: Goethe vor allem, Hofmannsthals große Identifikationsfigur, und Lessing. Eine Heldin Lessings benutzt Hofmannsthal als magische Chiffre, um die koketten Seiten seiner Freundin wieder wachzurufen und zu stärken: Minna von Barnhelm. Er gibt Ottonie diesen Namen im ersten Brief nach einer gemeinsamen Reise von Stuttgart nach Erfurt im Januar 1911. Wie es scheint, war es eine der wenigen Begegnungen, bei der sie allein waren. Im Brief vom 4. Januar 1911, der mit „Nicht lesen, wenn Sie müde sind. Liegen lassen“ beginnt, hatte er ihr eine Liebeserklärung gemacht, sich selbst dabei aber subtilerweise als Subjekt gestrichen. Ich hab Sie lieb. Aber das „Ich“ in dem Satz ärgert mich - was geht Sie der an, der Sie lieb hat. Der, den Sie lieb hätten, ginge Sie was an. Man sollte es so sagen kön¬ nen: es hat Sie lieb. Und dann müßten Sie es fühlen können, so leise und bestimmt wie man die anderen Dinge fühlt, die unguten: die Leere, die Einsamkeit, die Schwe¬ re. (S. 54)

Auf diese Erklärung antwortet Ottonie mit dem Vorschlag zur gemeinsa¬ men Reise. Hofmannsthal nimmt an, obwohl ihn dieses Projekt etwas er¬ schreckt, und im ersten Brief nach dieser Begegnung ist aus der Gräfin das Fräulein aus Thüringen geworden. Liebe Gräfin, wenn Sie gelegentlich etwa reisen müssen und das Eisenbahnfähren schlecht vertragen, so kann ich Ihnen nichts so sehr empfehlen, als die Gesellschaft eines gewissen kleinen Thüringischen Fräuleins. (15. 1. 1911, S. 61)

Und für kurze Zeit wird Minna von Barnhelm die Maske sein, hinter der Ottonie von Degenfeld versteckt wird und sich selbst versteckt. Aber Minna erweist sich zu sehr als ein sinnliches Geschöpf der Aufklärung, um bei diesem zwar galanten, aber doch asketischen Spiel zwischen Hofmannsthal und der Gräfin Degenfeld mitzuspielen. Im übrigen verhält es sich mit der literarischen Maske wie mit dem Schreiben selbst: Briefe schreiben ist zwar beruhigend, weil die Distanz trotz der Annäherung bewahrt bleibt. Es kann

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aber auch Identitätskrisen hervorrufen, wenn man nämlich nicht mehr weiß, ob man selbst als Person oder ob nur die eigenen Briefe geliebt werden, als hätte die Literatur die Lust an ihrer Kupplerrolle verloren und den Platz des Liebhabers usurpiert. Hofmannsthal fragt sich besorgt, ob Ottonie ihn wohl auch sehen möchte. Oder ob sie vielleicht seine Briefe mehr als ihn selbst liebt. Aber um sich verständlich zu machen, benutzt er wiederum ein literarisches Bild: „Soll ich bitter eifersüchtig werden auf meine eige¬ nen Briefe wie der arme Lucidor?“ (Januar 1911, S. 67) Auf diese Frage, die Hofmannsthal selbst im folgenden Brief eine „dumme unnötige zu¬ dringliche Frage“ nennt, antwortet Ottonie nur im Tonfall wie Minna, der Intention nach dagegen eher wie die Prinzessin im Tasso oder Maria im Andreas'. Aber wenn ich nun grausam ehrlich bin, dann muß ich doch wohl sagen, ihn habe ich namenlos gern, aber ich liebe ihn nicht und seine Briefe habe ich nicht nur gern, sondern die liebe ich direkt.

Freilich bleibt ihr ein kleiner Zweifel: Aber dabei wird mir grade klar - wenn ich seine Briefe liebe, muß ich dann nicht seine Seele, sein Inneres Ich auch lieben, denn seine Briefe sind doch seine Seele?! ich weiß nicht, ich muß mir erst darüber klar werden. Leben Sie wohl. (18. 1. 1911, S. 69)

Die in den letzten Sätzen verwandten Ausdrücke müssen Hofmannsthal von der Vieldeutigkeit des Verbums „lieben“ überzeugt haben. Er entschul¬ digt sich. Aber er schickt trotzdem seiner hieratischen Freundin den Rosen¬ kavalier, die „Frau Marschallin“, eine galante Dame des 18. Jahrhunderts, von der er betont, sie sei eine enge Verwandte des Thüringischen Fräu¬ leins. Und indem er sich für seine Indiskretion entschuldigt, bestimmt er jenseits der Analogie einen Unterschied zwischen sich und dem Ferdinand in Lucidor (wo die Briefe, welche die Seele enthüllen, von einer anderen Frau als der geliebten Arabella sind, nämlich von Lucile, die als Junge ver¬ kleidet eben Lucidor ist). Aber da ist ja alles im Grund ganz anders, denn Ferdinand ist verliebt in Arabella und zudem liebt er die Seele, die in den Briefen ist und die er für Arabellas Seele hält . . .(20. 1. 1911, S. 74)

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Sowohl Hofmannsthal als auch Ottonie von Degenfeld gebrauchen die Wen¬ dung „die Seele lieben“, aber sie meinen damit wohl etwas völlig Verschie¬ denes. In dieser Erzählung nun, die Hofmannsthal gleich nach der ersten wirk¬ lichen Begegnung mit Ottonie in der Zeit vom September 1909 bis März 1910 verfaßt, entspricht die Tatsache, daß Lucile-Lucidor Fernando liebt in der endgültigen Fassung heißt dieser dann Wladimir -, daß sie ihm un¬ ter dem Namen ihrer Schwester Arabella die glühendsten Liebesbriefe schreibt und daß Arabella sich tagsüber ihm gegenüber kühl verhält, einer „ganz geheimen Spaltung auch in Wladimirs Wesen“. Seiner „Tagseite“ ent¬ sprechen ein trockener Hochmut und Ehrgeiz, seiner „Nachtseite“ hinge¬ gen eine „phantasievolle Sinnlichkeit, die sich etwa auch in ein Tier hinein¬ träumen konnte, in einen Hund, in einen Schwan“ (E, 181). An diese Seite, die mit seiner Pubertät verknüpft ist, denkt Wladimir nicht gern. Aber irgend etwas davon war immer in ihm, und diese verlassene, auch von keinem Gedanken überflogene, mit Willen verödete Nachtseite seines Wesens bestrich nun ein dunkles, geheimnisvolles Licht: die Liebe der unsichtbaren, anderen Arabella. (E, 181)

Um hochmütig und ehrgeizig sein zu können, hat Wladimir seine poly¬ morphe, chamäleonhafte Sinnlichkeit unterdrückt und so der Sprachlosig¬ keit überlassen. Eine Sinnlichkeit, die an die jungen, sadomasochistischen Männer wie den Kaufmannssohn in Das Märchen der 672. Nacht und den Andreas des Romanfragments erinnert, die wir aber aber auch in Lord Chandos wiederfinden. Eine wortlose, von jeglicher „menschlichen“ Zu¬ neigung abgespaltene Sinnlichkeit, die aber dafür auch globaler, weniger auf die „reife“ Sexualität fixiert ist, mit Hofmannsthals Worten: weniger terre ä terre. Lucidors Liebe läßt in ihm diese Sinnlichkeit wieder aufleben,

ohne Scham. Sie hilft ihm, sich mit seinen infantilen Phantasmen zu ver¬ söhnen. Wäre die Arabella des Tages zufällig seine Frau gewesen oder seine Geliebte gewor¬ den, er wäre mit ihr immer ziemlich terre ä terre geblieben und hätte sich selbst nie konzidiert, den Phantasmen einer mit Willen unterdrückten Kinderzeit irgend¬ welchen Raum in seiner Existenz zu gönnen. (E, 181)

Ich glaube, daß eben diese Aussöhnung mit den eigenen Phantasmen die „theiapeutische

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Hilfe darstellt, die der Ratgeber und Helfer Hofmanns-

thal sich seinerseits von Ottonie von Degenfeld erhofft. Und selbst in klein¬ sten Dosen versucht er diese zu erhalten. Deshalb kann er ihr nicht erlau¬ ben, in seinen Briefen nur und ausschließlich eine „Seele“ zu lieben. So weit wie die verliebte Lucidor kann und will er sich nicht wagen, aber er versucht doch für den Briefwechsel jenes Minimum an Sinnlichkeit zu ret¬ ten, das ihm die Übertragung erlaubt. (Ich wähle den Ausdruck Übertra¬ gung, um in der stark psychoanalytisch gefärbten Sprache von Lucidor zu

bleiben.) Da beweist sich Hofmannsthal als ein Meister der galanten Rheto¬ rik. Er beginnt zwar mit der Nennung ihres Körpers, doch anscheinend nur zu dem Zweck, die „Seele“ hervorzuheben: Es ist als ob Ihr Gesicht, Ihr Mund, Ihre Hände, Ihre Glieder nur durch Ihre Seele für mich überhaupt da wären, als ob die Seele den ganzen Körper einhüllte, so wie bei anderen Menschen umgekehrt der Körper die Seele einhüllt und diese nur selten aus ihm hervorbricht.

Dann aber besteht er auf etwas, was die „Seele“ transzendiert: Aber so leise, so zart - und ungezwungen leise, ungezwungen zart - es immer sein mag, es ist doch auch da, jenes andere, jene geheimnisvolle süße Hingezogenheit. (20. 1. 1911, S. 75)

Am Ende des Briefes, als letztes Argument, vertraut er ihr eine ideefixe aus seiner Jugendzeit an. Daß nämlich, wo die Hingezogenheit fehle, es nur die Abstoßung geben könne. Hofmannsthal spricht von seinen Erfahrun¬ gen mit ungeliebten Frauen, denen er vortäuschte, sie zu lieben, nur um ihnen „wohlzutun“. „Bis die Frau ihr Haar aufmachte und ich spürte, was in mir war“ (S. 76). Ottonie ist so freundlich zu bemerken, daß die briefliche Therapie eine gegenseitige sein muß: Sie schreibt ihm einen langen Brief voll von Erklä¬ rungen -

. aber dann wenn wir uns sehen, dann sprechen wir mal dar¬

über“ - und bestätigt ihm, daß, müßte sie zwischen Hingezogenheit und Abstoßung entscheiden, bei ihr selbstverständlich das erstere herrsche. Um ihn zu beruhigen, versichert sie ihm auch, sie habe keinerlei Neigung, irgend¬ jemanden zu heiraten: So wollen wir uns doch bitte bitte bleiben was wir uns sind . . . Ich sage mit der Marschallin: sei er nicht wie alle Männer sind, dann macht er mich unendlich glück¬ lich. (22. 1. 1911, S. 80)

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Hofmannsthal hatte sich so weit vorgewagt, ihr zu schreiben, es gebe zwei Gefahren für ihre Freundschaft. Die erste sei, daß sie heirate oder die Ge¬ liebte eines anderen Mannes werde - und darüber hat sie ihn ja beruhigt -, die zweite, daß Gerty, seine Frau, stürbe (20. 1. 1911, S. 78). Denn Gerty von Hofmannsthal spielt in diesem Beziehungssystem eine unersetzbare Rolle. Wenn in den Briefen an Helene von Nostitz Hofmannsthal das „manchmal sehr leidenschaftliche Gefühl“, sie für sein Leben zu brauchen, von dem Gefühl für „die Menschen, deren Tod mich am furchtbarsten treffen wür¬ de, wie meinen Vater und meine Frau und meine Kinder - das ist wieder ganz etwas anderes“ (15. 5. 1907, S. 37) unterschieden, das heißt die Welt, in der sich Erotik und Literatur vermischen, der Welt der Familie als ge¬ nealogische Kette entgegengesetzt hatte, so sind im Briefwechsel mit Ottonie von Degenfeld die beiden Welten nicht mehr so entschieden getrennt. Gerty ist eine „Freundin“, mit der man gerne plaudert, und sie ist nicht eifersüchtig: . . . schwätzte mit Gerty, die ist schon auch eine herzige Freundin, so lieb hab ich, wie sie von Ihnen spricht, so unbedingt lieb-habend und verstehend und gegen¬ über allem ganz ohne Grenzen, ohne Wissen-wollen . . . kurz wir sind schon komi¬ sche Leut alle miteinander. (13. 1. 1912, S. 194)

Die „komischen Leut“ sind freier als die anderen. Die freundschaftliche Ehefrau ist nicht Hindernis, sondern Voraussetzung für Freiheit. Ohne die vielen zeitbedingten Unterschiede aus dem Auge zu verlieren, könnte man dieses Beziehungsspiel mit jenen ausgefeilten Systemen des französischen 17. Jahrhunderts vergleichen, wo sich die Ehe aus Familieninteresse - was aber auch Affinität der Geburt, der Erziehung und eine mögliche Freund¬ schaft einschließt - und das Spiel der Leidenschaft ergänzen, welches ge¬ meinsam mit der Politik, von der es sich die Regeln leiht, den größten Teil der intellektuellen Energien des französischen Hofes bindet.9 Ja, man könnte diese Welten miteinander vergleichen, hätte sich nur die adlige Mondfrau nicht so dem stillen, leidenschaftslosen Mond verschworen. Gerty stibt nicht. Ottonie wird weder die Ehefrau noch die Geliebte eines anderen, aber in den Briefen Hofmannsthals schleicht sich des öfte¬ ren ein vorwurfsvoller Ton ein. Auch als „schöne Seele“ ist Ottonie ihm untieu. Im Laufe der Jahre wird ihr Haus ein Mittelpunkt für ihren weiten Freundeskreis. Am 29. März 1918 schreibt ihr Hofmannsthal: „Wie gut für Sie, im tief¬ sten Ernst, daß Christoph früh gestorben ist, eine Ehe ist zu etwas Schwe-

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res“ (S. 369) und teilt somit die Ansicht seines Freundes Rudolf Borchardt, der zur gleichen Zeit von Ottonie schreibt: Es ist doch schön, daß es Frauen gibt, die ohne eigentlich Mädchen zu sein, nur dadurch ihrer Aufgabe in der Welt genügen können, daß sie durch keinen Mann, weder Gatten noch Geliebten, festgelegt und abhängig gemacht werden. Sie kann man sich nur freitätig denken, jedes gebundene Verhältnis würde sie zerstören.10

Aber diese ungebundene Frau ist eben wirklich frei, und keine Anbetung aus der Ferne kann sie verpflichten. Hofmannsthal entdeckt, daß die Grä¬ fin zwar keinem Mann gehört, aber somit eben auch ihm nicht. . . . ich glaube, ich kann es auf die Dauer garnicht ertragen, Ihre Existenz so bestän¬ dig vermengt mit diesen andern Existenzen zu spüren, es ist mir grauenhaft. (29. 3. 1918, S. 369)

Ottonie steht für Hofmannsthal wie die Prinzessin aus dem Tasso unter dem Zeichen des Mondes. Sie hat keinen Willen, der sich auf den Instinkt verläßt. Aber hier experimentiert Hofmannsthal an sich selbst die Schmer¬ zen, die eine „schöne Seele“ einem Mann zufügen kann. Eine Existenz wie die von Ottonie, die allen, die sie umgeben, Zuneigung entgegenbringt, ist immer in Gefahr, zumindest in der Phantasie des eifersüchtigen Freundes, von anderen vereinnahmt zu werden. Hofmannsthal findet sich in Tassos Position wieder. Er möchte die Differenz ihrer Beziehung sehen. Sein Wunsch nach Aneignung läßt ihn, nach seinen Vorwürfen, einen Satz wie diesen formulieren: „Wie schön sind die Toten, so rein für sich allein.“ Womit er der Gräfin wahrhaftig den Tod wünscht. Anderthalb Jahre später, am 13. November 1919, beschreibt er sie und Gerty als reizende Frauen, weil sie keine Spuren in der Literaturgeschichte hinterlassen, weil sie keine wichtigen Briefe schreiben, weil ihre Biogra¬ phie „unklar, conturlos“ bleibt. . . . gar keine Vergleichsmöglichkeit mit der Frau von Stein und der George Sand! So waren einige von Goethes reizendsten Freundinnen, unter andern Minna Herlieb mit dem „runden Gesichtchen“, von der man fast nichts weiß, und die doch das Vorbild der Ottilie war, also sicher ein wunderbares aber ganz „uninteressantes“ Wesen. (S. 416)

Nach dem Brief vom 29. März 1918 gewinnt dieses „Kompliment“ eine noch finsterere Bedeutung. Nicht nur wäre Ottonie als Tote verfügbarer,

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sondern man darf selbst nach ihrem Tod nichts von ihr wissen. Als bloßer Spiegel für den männlichen Schriftsteller11 sind auch ihre Briefe „gottlob“ wenig interessant. Und nicht zufällig wird Ottilie zitiert, sie, die es liebt „zu dienen“, wie sie im Manuskript Die Prinzessin in der Unterhaltung über den „Tasso“ von Goethe definiert wird. Von Minna von Barnhelm ist herzlich we¬

nig übriggeblieben. Aber ich glaube nicht, daß man Hofmannsthal allein für diese sadisti¬ schen Ausbrüche verantwortlich machen kann. Es ist die kulturell tradierte Figur der „schönen Seele“, welche selbst für dieses Ende sorgt. Wenn sie mit ihrer Schwäche nicht mehr die ritterlichen Seiten des Mannes zu sti¬ mulieren versteht und sich zum geistigen Zentrum einer Gruppe von Freun¬ den wandelt, riskiert sie die Auflösung ihrer selbst als erotische Imago für den Autor. Wenn wir Lucidor als eine phantastische Wunscherfüllung Hof¬ mannsthals sehen können - der verliebten Frau gelingt es kraft ihrer Brie¬ fe, die an die Kindheitserotik gebundene Phantasie des Mannes zu aktivie¬ ren -, dann erscheint uns die adlige Mondfrau in ihrer ganzen Begrenzt¬ heit. Es gelingt ihr nicht, die infantile Erotik in Szene zu setzen, weil sie so „spärlich leuchtet“, und dieser Mangel an Wärme blockiert auch das Spiel mit dem Wort. Der mangelnde Glanz in den Briefen Ottonies von Degen¬ feld im Vergleich zu denen von Hofmannsthal hängt wohl nicht allein da¬ von ab, daß sie die intellektuell-literarischen Ambitionen einer George Sand oder Frau von Stein nicht kennt, sondern auch von der einfachen Tatsache, daß sie nicht verliebt ist. Man denke nur an den Briefwechsel Goethes mit Bettina Brentano. Da sind gerade die Briefe des „Dichterfürsten“ die „un¬ interessanten“, die unbedeutenden. (Bettina war keine „schöne Seele“, aber ebensowenig hätte sie mit einer „wichtigen“ Frau ä la George Sand oder Frau von Stein verglichen werden wollen). Die adlige Mondfrau kann, da ihr alle Begierden fremd sind, keine Brie¬ fe schreiben. Hofmannsthal empfindet darüber Genugtuung, riskiert aber dabei, das Szenarium für seine Phantasien zu verlieren.

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Das venezianische Edelfräulein

Die widersprüchliche Faszination, die in ihrer mystischen Askese die „adli¬ ge Mondfrau“ auf unseren Autor ausübt, bringt ihn auch dazu, ihr Gegen¬ teil zu verehren, die freie und galante Aristokratin. Beiden ist gemeinsam, daß sie keine „normalen“, bürgerliche Frauen sind. Aber die venezianische Welt des Andreas erinnert notwendigerweise auch an die Welt Goldonis, die schon in den Florindo-Komödien vorherrschte. Und so gibt es ein Mädchen, das vom Malteser mit Goldoni in Verbindung gebracht wird: Zustina. Dem Malteser Sacramozo ist „Goldoni (= die Welt Zustinas, das völlig Unmetaphysische)“ „furchtbar“ (E, 282). Und wir wis¬ sen auch aus dem Buch der Freunde, wie Hofmannsthal Goldoni einschätzte: „Goldoni: dichterische Hand, aber Eingeweide eines Philisters“ (RA III, 290). Zustina wäre somit eine neue Christina, die Heldin von Christinas Heimreise, die nur daran denkt, einen Ehemann zu erwischen, ohne aber

die bäuerliche Naivität zu besitzen, die dieser ihren Charme verleiht? So ist es wohl nicht, die Phantasie des Schriftstellers widerspricht den Meinun¬ gen Sacramozos. Genauer formuliert: Der Schreibprozeß verführt zu ei¬ nem galanteren weiblichen Porträt, als es die programmatisch-theoretischen Aufzeichnungen zum Roman möchten. Denn Zustina ist eine wenn auch verarmte Komteß, aber vor allem besitzt sie einen Stil, der aristokratisch ist. Sie präsentiert sich Andreas in einer Aufmachung, in der sich Schlampe¬ rei und Luxus vermischen: Sie rechnete unterweilen stehend das kleine Ausgabenbuch nach und bediente sich dazu eines winzigen Bleistifts, den sie in irgendeiner Locke ihres Toupets verbor¬ gen gehabt hatte; denn sie war frisiert wie zu einem Ball mit einem hohen Toupet und trug Tuchpantoffeln, einen Taffetrock mit Silberspitzen, oben aber eine karier¬ te Hausjacke, die ihr viel zu weit war und den reizenden schlanken, aber gar nicht kindlichen Hals völlig zeigte. (E, 240)

Offensichtlich ist sie keine distinguierte Erscheinung wie Maria oder wie

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Helene Altenwyl. In Zustinas Aufmachung widerspricht sich alles: das Ball¬ toupet dem in einer Locke verborgenen Bleistift, der Taffetrock mit Silber¬ spitzen den Pantoffeln und der karierten Hausjacke. Und zum Schluß auch ihr schlanker Hals, der gar nicht kindlich ist. Aber diese Widersprüche verraten eine große Unbekümmertheit und sind keinesfalls Zeichen eines verborgenen Konflikts, eines Mißtons im Charak¬ ter oder ganz einfach des schlechten Geschmacks. Im Gegenteil, sie sind Ausdruck einer Nonchalance, die sich dies und anderes erlauben kann, weil sie nicht von den Zweifeln des Snobs angenagt ist. Zustina ist sich ihrer Erscheinung sicher, weil sie sie als Ausdruck ihres Selbst, als Stil auffaßt. Und sie weitet diese Selbstachtung auf ihre ganze Familie aus. Die Elo¬ quenz ihres Vaters, des Grafen Gasparo - den sie auf den Markt zurück¬ schickt, weil der Fisch nicht frisch genug ist -, erfüllt sie mit Bewunderung und Stolz. Denn die Rede, die der Graf dem jungen Andreas Ferschengelder hält, besitzt gerade das, was der Geschäftsmann der Briefe des Zurückgekehr¬ ten in den Deutschen nicht mehr findet, die Richtigkeit der Nuancen: Wirklich war die Art, wie er die wenigen Sätze vorgebracht hatte, ein Meisterwerk von Anstand und Abstufung: Würde mischte sich in ihr mit Menschlichkeit, Ernst und Erfahrung war durch Zutraun gemildert. Der Ältere sprach zum Jüngeren, der Haus¬ herr zu seinem Gast, der vom Leben geprüfte Greis väterlich zum ungeprüften Jüng¬ ling und ein venezianischer Edelmann zum Edelmann: - das alles war darin. (E, 242)

Wenn in Die Briefe des Zurückgekehrten (oder im „preußischen“ Baron Neuhoff des Schwierigen) Würde ohne Menschlichkeit zu Brutalität wird und alle Gesten falsch erscheinen, weil das aufgelöste Subjekt ein Zentrum simulie¬ ren muß, zeigen hier die „wenigen Sätze“ eines venezianischen Grafen eine Vielzahl von Haltungen, die aber der Stil, diese mysteriöse Gabe, den rich¬ tigen Ton zu finden, zu harmonisieren weiß. Stil hat hier nichts mit der „organischen“ Einfachheit zu tun, die der Geschäftsmann so sehr an dem patriarchalischen Gaucho bewundert. Der Stil Zustinas oder des Grafen Gasparo gründet auf Widersprüchen und Vielfältigkeit. Er kann es sich leisten, die Differenzen und Nuancen in sich aufzunehmen. Zustina, die Andreas vor allem durch ihre Flinkheit und Vernünftigkeit beeindruckt hatte, „strahlt“ nun vor Bewunderung und Freude über die Eleganz, mit der sich ihr Vater auszudrücken versteht: War sie früher quecksilbern und eifrig gewesen, aber dabei trocken, so war sie nun erst ganz belebt von innen heraus, ihre Augen leuchteten, und ihr Mund bewegte

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sich mit einem unbeschreiblichen, kindlichen Eifer. Etwas in ihr ließ an ein Eichhörn¬ chen denken, doch war sie eine resolute brave kleine Frau. (E, 242)

Zustina gehört also nicht der Alltagswelt des common sense, der Welt Goldonis an, sondern sie besitzt eine „Seele“, wie ihre Zuneigung für ihren Vater und dann für Andreas zeigt, die aber mit ihrer praktischen Vernunft nicht kollidiert. In einer späteren Aufzeichnung aus den Jahren 1917-21 unter¬ streicht Hofmannsthal die ethische Valenz dieser Figur: Zulietta. höchst moralisch-vernünftig. Andres’ Beraterin in allen Dingen Sie spricht mit ihm über sein dummes Benehmen, seine fiemmungen. Sie lässt, als unwichtig und aussichtslos, ausser Erwähnung, dass sie ihn lieb hat. (KA XXX, 156)

Doch schon im Fragment Die Dame mit dem Hündchen aus den Jahren 1912— 13 erscheint Zustina als sehr komplexe Figur, zum Beispiel wenn sie Andreas davor warnt, sich Geldwechsel zum Akzeptieren aufschwatzen zu lassen: „. . . niemals, verstehen Sie mich.“ Einen Augenblick legte sie ihre Hand leicht auf Andreas’ Arm - es war ganz die gleiche Gebärde, die vorhin der Vater gehabt hatte, aber wie wahr ist das Sprichwort, wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht dasselbe. Es war eine so reizende kleine Hand und die mütterliche, frauenhafte Gebärde bezau¬ bernd. (E, 243)

Das Mädchen Zustina ist schon eine ganze Frau. Sie ist „mütterlich“ und „frauenhaft“, ihrer weiblichen Würde bewußt, wie ihre Schwester Nina, die von ihren Liebhabern lebt. In der venezianischen Welt Hofmannsthals grün¬ det Würde offensichtlich nicht auf einer bürgerlichen Ethik. Das Edel¬ fräulein Zustina sieht in der Tatsache, daß sie selbst, das heißt ihre Jung¬ fernschaft, der erste Preis einer Lotterie ist, keine Gefahr für ihre Selbst¬ achtung. Sie ist, ganz im Gegenteil, sehr stolz darauf, auf diese Weise die katastrophale finanzielle Situation ihrer Familie sanieren zu können. Ein derartiges Verhalten gründet auf einem sozialen Konsens - niemand sieht in ihrem Vorhaben etwas Ungehöriges, die Subskribenten der Lotte¬ rie gehören zu den geachtetsten Männern Venedigs -, aber vor allem auf der Art und Weise, mit der Zustina selbst diese Angelegenheit arrangiert. Zorzi, ein Bekannter der gräflichen Familie, spricht davon mit Andreas: Sie ist ein gutes Geschöpf und hat sich in den Kopf gesetzt, ihren Leuten aus dem Elend zu helfen. Sie sollten hören, wie schön sie über die Sache redet und welche

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Mühe sie sich mit der Subskription gegeben hat. Denn bei ihr muß alles nett und ordentlich zugehen. (E, 244)

Die Figur Zustina scheint mir geeignet zu sein, die Distanz auszumessen, die zwischen Hofmannsthal und anderen Schriftstellern der finis austriae besteht, eine Distanz, die zusammen mit den Weiblichkeitsbildern auch das Verhältnis Literatur-Wahrheit betrifft. Eine Erzählung Arthur Schnitzlers aus dem Jahre 1924, die jedoch zu Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts spielt, Fräulein Else', handelt von einem Mädchen, das sich in genau derselben Situation wie Zustina befindet: Ihre Familie steht vor ei¬ nem durch Geldmangel ausgelösten Zusammenbruch, den nur ihr schöner Körper abwenden könnte. Doch damit enden schon die Analogien. Die Geschichte läuft völlig anders ab. Else ist eine Tochter des höheren Wiener Bürgertums. Während sie mit ihrer Tante und ihrem Cousin auf Sommerfrische in San Martino di Castrozza weilt, erreicht sie zuerst ein Expreßbrief, dann ein Telegramm ihrer Mutter, das ihr die bevorstehende Verhaftung ihres Vaters wegen verun¬ treuter Mündelgelder für den Fall ankündigt, daß er bis zwölf Uhr des folgenden Tages nicht eine größere Summe auftreibt. Die Mutter bittet Else, alles zu versuchen, um vom reichen Herrn von Dorsday (ein assimilierter Jude wie Elses Eltern) die Summe geliehen zu bekommen. Die Erzählung ist mit der Technik des Inneren Monologs verfaßt, der aus den Gedanken, Phantasien und Assoziationen Elses besteht. Die Reden der anderen er¬ scheinen kursiv, was sie sagt, ist in Anführungszeichen gesetzt. Diese Tech¬ nik erlaubt es Schnitzler zu zeigen, wie Elses Verstand funktioniert. Lind es handelt sich hier um einen extrem regen Verstand. Else ist sehr intelligent und sehr hysterisch.2 Schnitzler weist ihr mehrere klassisch-hysterische Symptome zu: Übelkeit am Morgen, Ekelreaktion bei Anspielungen auf Sexuelles - „Pfui!“ oder „Wie unappetitlich!“ - Fixie¬ rung auf einzelne Körperteile - ihre „herrlichen Schultern“, die „schönen, schlanken Beine“ - bis zum regelrechten hysterischen Anfall zum Schluß: Else nackt im Musiksalon des Hotels, vor allen Gästen, anstatt wie ausge¬ macht vor Dorsday allein, der dieses von ihr als Gegenleistung für die drei¬ tausend Gulden verlangt hatte, die ihren Vater vor dem Gefängnis hätten retten sollen. Indem sie sich in der Öffentlichkeit nackt zeigt und so Dorsday „überlistet“, vollzieht Else ein acting out, das in einem unkontrollierbaren Lachen endet - ,„Ha, ha, ha!‘ Wer lacht denn da? Ich selber? ... Zu dumm, daß ich lache. Ich will nicht lachen, ich will nicht.“ (FE, 258) - und mit

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einer hysterischen Ohnmacht, während derer sie alles hört, sich aber nicht bewegen kann, mit Ausnahme des einen Mals, wo sie, von den anderen unbeobachtet, das Glas mit dem Veronal ergreift. Bei einem ersten Vergleich Zustinas mit Fräulein Else könnte man mei¬ nen, daß Fräulein Else eine realistische Figur sein soll, während Zustina in ihrem surreal gezeichneten Venedig, mit ihrer so merkwürdigen Ethik fast eine Märchenfigur zu sein scheint. Wenn wir aber Else mit den wirklichen Hysterikerinnen vergleichen, mit den klinischen Fällen Breuers und Freuds zum Beispiel, dann entdecken wir signifikante Unterschiede. Der erste Unterschied betrifft das Verhältnis der Affektivität zur Sexuali¬ tät. Trotz ihrer Ekelreaktionen bei Assoziationen aus dem Bereich der Se¬ xualität interessiert sich Else nur für Körper, nimmt nur diese wahr, hat sich nie verliebt: . . . war noch nie verliebt. Auch in Albert bin ich’s nicht gewesen, obwohl ich es mir acht Tage lang eingebildet habe. Ich glaube, ich kann mich nicht verlieben. Eigent¬ lich merkwürdig. Denn sinnlich bin ich gewiß. Aber auch hochgemut und ungnä¬ dig Gott sei Dank. (FE, 210)

Diese „Hysterikerin“ leidet sicherlich nicht unter ihren Verdrängungen, im Gegenteil scheint die „reine“, von Idealisierungen und verliebten Ambiva¬ lenzen freigehaltene Sexualität sie zu beruhigen. Die berühmte Heldin des Freudschen Bruchstück einer Hysterie-Analyse „Dora“ verliebt sich dagegen: in den Vater, die Tante, die Gouvernante, Frau K. (Dora wird sie trotz deren unloyalen Verhaltens nicht verraten), in Herrn K. und in Freud. Sicherlich wird sie diese Verliebtheiten mal entschiedener, mal weniger entschieden verdrängen, doch die Verdrängung wird nicht verhindern können, daß Dora für diese Personen in jeder Phase ihres „Falles“ Zuneigung und Interesse zeigt. Außerdem ist Dora, wie alle großen Hysterikerinnen, die Freud analy¬ sierte, stolz, ehrgeizig, kulturell sehr interessiert und ungeduldig, was die traditionellen Erwartungen ihrer Umwelt an ein Mädchen aus gutem Haus betrifft. Dora xeduziert ihr Bild von sich selbst nicht auf ihre körperliche Schönheit, obwohl sie natürlich auch kokett zu sein versteht. In der Szene am See macht ihr Herr K. eine Liebeserklärung, die mit denselben Worten beginnt, die er schon gegenüber der Gouvernante seiner Kinder verwendet hatte - „Sie wissen, ich habe nichts an meiner Frau“3 - und die Dora von der Gouvernante erfahren hatte. Dora gibt ihm eine Ohrfeige. Diese Geste ist nicht nur als Effekt der Kränkung, wie eine „dienende Person“ behandelt

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worden zu sein, zu verstehen - damit begnügt sich Freud4

sondern auch

als Widerstand gegen eine Auffassung der Beziehungen zwischen den Men¬ schen und speziell zwischen Männern und Frauen, die nur die Funktionali¬ tät der/des anderen im Auge behält. Helene Cixous schreibt dazu: Die Hysterikerin sagt mir: „Ich will alles“. Die Welt bietet ihr keine Menschen die ein „alles“ sind, es sind immer verkrüppelte „alles“. Das, was die Hysterikerin als Sehnsucht nach Totalität, Kraft, Unfehlbarkeit reflektiert, fordert die anderen auf eine ihnen unerträgliche Weise heraus, und hindert sie daran, in ihrer kleinen, engen Ökonomie zu funktionieren. Sie zersprengt ihr Kalkül. Zum Beispiel das Kalkül, das darin besteht zu sagen: „ich habe nichts an meiner Frau, und deshalb können Sie alles sein“, denn sie weiß, daß das nicht stimmt, sie weiß, was das falsche Nichts ist, u.s.w.5

Else nun weiß nicht einmal, was dieses „Ganze“ sei, sie hat es nie gewollt. Ihre Glücksphantasien bleiben dem Bild einer auf Ausbeutung basieren¬ den Beziehung zwischen den Geschlechtern völlig immanent. Es fehlt ihr völlig jene Alterität der Hysterikerin, die Freud dazu gebracht hat zuzuge¬ ben, nicht zu wissen, was „das Weib“ will.6 Schnitzler dagegen glaubt es zu wissen, und so schafft er oft Frauenfiguren, die ganz diesem „Wissen“ ent¬ sprechen. Der Scharfsinn Elses, ihre Fähigkeit, die Heuchelei in den menschlichen Beziehungen zu durchschauen, führt sie zur Identifikation mit angelesenen Heldinnen: aus Manon Lescaut, aus Die Kameliendame, aus Notre Coeur von Maupassant. Dann will sie für sich das Schicksal einer „freien Frau“. In einer sich wiederholenden Phantasie sieht sie sich auf den Marmorstufen einer Villa in Mentone ausgestreckt, umgeben von Bewunderern, sie wählt einen, die anderen stürzen sich aus Verzweiflung ins Meer. Dieser Phanta¬ sie folgt eine zweite, entgegengesetzte: den treuen Freund Fred zu heira¬ ten. Doch da kommen ihr Zweifel: Ach Fred ist im Grunde nichts für mich. Kein Filou! Aber ich nähme ihn, wenn er Geld hätte. Und dann käme ein Filou - und das Malheur wäre fertig. (FE, 220)

Der unerbittliche Scharfsinn Elses macht auch vor ihrer eigenen Person nicht halt: „Wenn Fred mich wirklich kennte, dann wäre es aus mit seiner Verehrung“ (FE, 220). Denn Elses Unglück ist es eben, keine a-moralische Frau, der Zweifel und Selbstverachtung fremd sind, keine Frau wie etwa Manon Fescaut sein zu können. Else verachtet sich selbst, verachtet vor allem ihre Verführbarkeit und daß sie sich von Körpern, nie von ganzen

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Menschen verführen läßt. Doch eine andere Beziehung zu ihrem eigenen Körper und zu dem der anderen kann sie sich nicht vorstellen. Hinter allen Gesten, hinter allen Gefühlen, entlarvt sie ein Interesse an Ausbeutung, vor allem an sexueller Ausbeutung. Ihre bei diesem Unter¬ nehmen aktivierte Intelligenz ist die ihres Autors. So wie Else macht auch Schnitzler, wenn er seine Wiener Bougeoisie beschreibt, die Entlarvung zum bevorzugten intellektuellen Modus. Er scheint dann zu glauben, mittels ei¬ ner kalten Klarsichtigkeit zu einem alles erklärenden Grund vorstoßen zu können. Dabei bleibt dann Schnitzler viel mehr als sein Doppelgänger Freud dem Positivismus des 19. Jahrhunderts verhaftet.7 Es setzt ein unendliches Vertrauen in die Skepsis. Die Übelkeit, die Else während ihrer Entlarvungen der Verhaltensweisen ihrer Mitmenschen, aber auch der eigenen Wünsche befällt, scheint aus dem Mangel an Alternativen, aus dem Gefangensein in einer sehr zählebi¬ gen Lebensform herzurühren, die auch die turbulentesten politischen Umstürze überlebt. Es ist sicher kein Zufall, daß der italienische Überset¬ zer des Fräulein Else, Antonio Baldini, im Jahr 1928 glaubte, es handle sich um eine in der Gegenwart - statt in den 90er Jahren des vergangenen Jahr¬ hunderts - spielende Erzählung. Elses Psychologie, ein Mädchen, das Baldini zufolge „zu hübsch ist, um Freundinnen zu haben“8, konnte im faschisti¬ schen, „männlichen“ Italien sehr gefallen. Ein Großteil der Welt Schnitzlers bleibt in dieser Lebensform gefangen, auch oder gerade dann wenn sie der Heuchelei der Ehe die „Wahrheit“ der Orgie entgegensetzt. Diese Alternative wird von Schnitzler oft angeboten, man denke an die Traumnovelle, an Das Bacchusfest oder an Das weite Land. In diesem Stück (1910) präsentiert der Arzt Dr. Maurer - Ärzte sind bei Schnitzler oft Sprachrohr seiner Theorien - der betrogenen Frau des Freun¬ des Hofreiter sein dualistisches Weltbild: Ich versichere Sie, Genia, nicht das geringste hätt’ ich einzuwenden gegen eine Welt, in der die Liebe wirklich nichts andres wäre als ein köstliches Spiel . . . Aber dann . . . dann ehrlich, bitte! Ehrlich bis zur Orgie ... Das ließ’ ich gelten. Aber dies Ineinander von Zurückhaltung und Frechheit, von feiger Eifersucht und erlo¬ genem Gleichmut - von rasender Leidenschaft und leerer Lust, wie ich es hier sehe - das find’ ich trübselig und grauenhaft - . . . Der Freiheit, die sich hier brüstet, der fehlt es an Glauben an sich selbst.9

Der Heuchelei, der Vermischung gegensätzlicher Gefühle - der psychischen Auflösung, die auch Hofmannsthal Angst macht - wird das Pathos der

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Wahrheit, eine Reduktion auf das Essentielle, die Klarheit der Orgie ent¬ gegengesetzt. Diesem Radikalismus, diesem Kult des Eigentlichen, der den Schein nicht in Betracht zieht, ihn im Gegenteil negiert, wodurch auch (doch das sieht der kluge Arzt nicht) das „köstliche Spiel“ negiert wird (die Orgie, nach der sich der Schriftsteller Felix im Bacchusfest sehnt, muß am näch¬ sten Morgen vergessen sein, man darf darüber nicht reden10), entspricht notwendig (und darin erweist sich Schnitzler als ein großer Realist) der Zusammenbruch der Person, die dieses Experiment, diese abstrakte Nega¬ tion auf sich nimmt. Schnitzlers „freie“ Frauen (auch Else glaubt ja mit ihrer großen Szene ihre Karriere als „Luder“ zu beginnen) schaffen es nicht, die Urteile der Gesellschaft über diese Alternative zu überwinden. Was die Gesellschaft über das „Luder“ und seine „Freiheit“ denkt, haben sie verin¬ nerlicht: „Wenn Fred mich wirklich kennte, dann wäre es aus mit seiner Verehrung“. Deshalb erwartet sie ein trauriges Schicksal. Welches übrigens auch die konträr veranlagte Frau, die „Verliebte“ trifft, sowohl die mütterli¬ che Frau wie etwa Frau Berta Garlan in der gleichnamigen Erzählung als auch das „süße Mädel“ der Vorstädte: beide Frauentypen fallen (als Heldin¬ nen der jeweiligen Werke, weiblichen Randfiguien gegenüber zeigt Schnitz¬ ler sich manchmal gnädiger) widerstandslos in die Netze des Verführers. Die Freundschaft, die Galanterie sind aus dieser Welt ausgeschlossen. Ein bißchen Stil bei den Frauen in ihren Beziehungen zu den Männern finden wir, mit Ausnahme seines letzten wunderbaren Stücks Im. Spiel der Sommer¬ lüfte, nur in den Arbeiten Schnitzlers, wo das Wiener Bürgertum nicht zu

Hause ist, wie Komtesse Mizi oder in den Casanovawerken Die Schwestern oder Casanova in Spa und Casanovas Heimfahrt.u Es ist wohl kein Zufall, daß sich

Schnitzler, um diese souveräneren Frauen zu finden, wie Hofmannsthal der Aristokratie oder dem 18. Jahrhundert zuwendet. Doch bleibt zu fra¬ gen, ob die Frauen des Wiener Bürgertums wirklich alle so waren, wie Schnitzler sie sah, oder ob sie nicht seinem Dualismus zum Opfer gefallen sind? Elses treuer Freund Fred ist zu „anständig“, um anziehend zu sein, eben¬ so wie Dr. Maurer in Das weite Land. Die „anständigen“ Männer, man den¬ ke auch an Prof. Wegrat und Dr. Reumann in Der einsame Weg, sind mei¬ stens ein bißchen farblos. Dem Dualismus Heuchelei-Wahrheit entspricht der von Verführung und Fairneß. Nur die Brutalität besitzt Charme. Ein gutes Beispiel dafür ist der Industrielle Hofreiter, ein untreuer, bei den Frauen sehr beliebter Ehemann, der nur aus einem darwinistisch gefärbten Konkurrenztrieb des Älteren gegenüber dem Jüngeren den Liebhaber sei-

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ner von ihm ungeliebten Frau erschießt. Die ausschlaggebenden Motive sind „natürliche“, biologische. Diese dualistische Struktur vieler Werke Schnitzlers betrifft nicht nur ihre inhaltliche Struktur, sondern auch die Erzähltechnik. Und hier wird der Vergleich mit Freud wieder interessant. An einer Stelle seiner Dora-Analyse entschuldigt er sich bei seinen Lesern, daß er diesen Bericht, der sich - wie andere Fallanalysen - wie ein Roman liest, komplizieren muß. Ich muß nun einer weiteren Komplikation gedenken, der ich gewiß keinen Raum gönnen würde, sollte ich als Dichter einen derartigen Seelenzustand für eine No¬ velle erfinden, anstatt ihn als Arzt zu zergliedern. Das Element, auf das ich jetzt hinweisen werde, kann den schönen, poesiegerechten Konflikt, den wir bei Dora annehmen dürfen, nur trüben und verwischen; es fiele mit Recht der Zensur des Dichters, der ja auch vereinfacht und abstrahiert, wo er als Psychologe auftritt, zum Opfer. In der Wirklichkeit aber, die ich hier zu schildern bemüht bin, ist die Kom¬ plikation der Motive, die Häufung und Zusammensetzung seelischer Regungen, kurz die Überdeterminierung Regel. Hinter dem überwertigen Gedankenzug, der sich mit dem Verhältnis des Vaters zu Frau K. beschäftigt, versteckte sich nämlich auch eine Eifersuchtsregung, deren Objekt diese Frau war - eine Regung also, die nur auf der Neigung zum gleichen Geschlecht beruhen konnte.12

Die Literatur muß Freud zufolge auf die Überdeterminierung, ohne die die klinische Fallgeschichte einer Hysterie nicht auskommen kann, verzich¬ ten. Diese der Literatur vorgeschriebene unübertretbare Grenze ist, wie Mario Lavagetto gezeigt hat, nicht auf moralische Bedenken Freuds, was homosexuelle Motive in der „Poesie“ betrifft, zurückzuführen, sondern auf seinen ästhetischen Geschmack, auf seine Vorliebe für die Erzählmodelle des 19. Jahrhunderts. Die Wahrheit der Analyse, ihr Fortschreiten, das nie geradlinig sein kann, die „Komplikation der Motive“ entfernt die Fall¬ geschichte von einem angeblich „poesiegerechten“ Konflikt.13 Denn Doras Begehren ist nicht einfach, sie begehrt nicht nur und immer ihren Vater. Trotz der scheinbaren Modernität den Inneren Monologs, dessen Ent¬ wicklung sich bekanntlich der in der Analyse verwendeten Technik des „frei¬ en Assoziierens“ verdankt14, hält sich nun Schnitzler in seinem Fräulein Else ganz ihm Rahmen der hinter Freud zurückfallenden Freudschen Ästhetik. Die Überdeterminierung des Symptoms findet hier keinen Raum. Elses Vaters ist der einzige geblieben, Substitute oder Alternativen sind nicht in Sicht. Er ist der einzige Mensch, in den Else verliebt, der ihr wichtig ist. Die Technik des Inneren Monologs dient also nicht dazu, die Handlungsstruktur so zu vervielfältigen und zu komplizieren, daß die Grundsteine der realisti-

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sehen Erzählung des 19. Jahrhunderts - die kausale Verknüpfung von Ur¬ sache und Wirkung und der Dualismus der Konflikte - ins Wanken kom¬ men. Deshalb ist auch Schnitzlers Hysterikerin trotz ihres Todes viel besser in die sie umgebende, von Männern dominierte Welt integriert als die gro¬ ßen Hysterikerinnen Freuds15; eine Welt, die Schnitzler manchmal nur ehr¬ licher will, das heißt bewußter über die hinter dem schönen Schein, hinter den Worten verborgene biologische Basis. Die Lust, die typisierten Sprech¬ weisen zu reproduzieren, die den Charme so vieler im Wiener Bürgertum angesiedelten Stücke Schnitzlers ausmacht, ist zuinnerst und unvermeid¬ bar mit der Zerstörung der Worte verbunden, mit ihrem Einverständnis zur gegenseitigen Zerstörung, um die grausamen Kämpfe der Triebe ans Licht treten zu lassen, die sich hinter der fälschenden Fassade der Sprache abspielen. Für den „aristokratischen“ Hofmannsthal, wie auch für Rilke, drückt sich in der Geste, im Wort der Mensch aus - wo dies nicht passiert, sind wir in einer irrealen, als sinnlos erfahrenen Welt, wie der Zurückgekehrte. Der Stil und die Anmut, die Zustina von allem, was sie betrifft, verlangt, ist keine schöne Maske, die dazu dient, etwas Finsteres, Furchtbares zu ver¬ stecken, sondern ist, wie die Maske in der Commedia dell’arte, Ausdruck der Person. So kann sie mit Grazie, ohne Selbstverachtung akzeptieren, in einer Lotterie verkauft zu werden, der Achtung vertrauend, die sie, ihre Familie und die Subskribenten umgibt. Die Kritiker haben Schnitzler oft als einen Realisten und Hofmannsthal als einen Nostalgiker charakterisiert.16 Mir scheint die Beschreibung, die Hofmannsthal selbst von ihrer Unterschiedlichkeit gibt, interessanter: Sie sind der irrende, leidende Mensch. Ich bin Spiegel der Welt.17

Paradoxerweise definiert sich Hofmannsthal selbst, während er das „Lei¬ dende“ am Realismus des Freundes erfaßt, als „Realist“, oder besser: als „Spiegel der Welt“, was vielleicht eine Erinnerung an Stendhal ist, der sich in Le Rouge et le Noir der Spiegelmetapher bedient, um den Roman zu defi¬ nieren: „un roman est un miroir qui se promene sur une grand route“18: Ein Spiegel, der die Form, die Oberfläche, die Galanterie, die Freundschaft reflektiert, sicherlich auch den Schmerz und den Tod, doch ohne den Ehr¬ geiz zu haben, dabei einen im Grunde beruhigenden, immer gleichblei¬ benden Kampf atavistischer Instinkte aufzudecken.

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Die galante Dame aus dem 18. Jahrhundert

In den ersten Jahren seiner Freundschaft mit Ottonie von Degenfeld schreibt Hofmannsthal Ariadne auf Naxos. „Ihre Ariadne“ nennt er sie in einem Brief vom 6. September 1911: Ihre „Ariadne“ gefällt allen Leuten, die es hören oder sehen dürfen, so sehr. Es freut mich so sehr, mir ist dann immer, wenn jemand so darüber spricht, als sähen wir einander an. - Bald schreiben, bitte!

Es ist nicht schwer, in der Geschichte von Ariadne, so wie Hofmannsthal sie in diesem Opernlibretto sieht, Spuren seiner Beziehung zu Ottonie zu finden. Die von Theseus verlassene Ariadne ist verzweifelt (wie Ottonie von Degenfeld nach dem Tod ihres Mannes), und nur die Liebe des Bacchus wird sie aus dieser Fixierung lösen und wieder ins Leben führen (Hof¬ mannsthals Traum). Die Wunscherfüllung, die der Autor sich in diesem Werk konzediert, aktiviert aber auch eine sehr komplexe Problematik un¬ heimlicher, weil unlösbarer Widersprüche: Treue-Vergessen, Starre-Ver¬ wandlung, Würde-Oberflächlichkeit, Tod-Leben.1 In einem Brief aus dem Jahr 1912 an Richard Strauss versucht Hofmannsthal diese Widersprüche zu formulieren: Verwandlung ist Leben des Lebens, ist das eigentliche Mysterium der schöpfenden Natur; Beharren ist Erstarren und Tod. Wer leben will, der muß über sich selber hinwegkommen, muß sich verwandeln: er muß vergessen. Und dennoch ist ans Be¬ harren, ans Nichtvergessen, an die Treue alle menschliche Würde geknüpft. (D V,

297) Im Libretto wird das Vergessen von Zerbinetta, die Treue von Ariadne per¬ sonifiziert. Mit großer Kunst entwickelt Hofmannsthal diese beiden oppo¬ nierenden Prinzipien, die zur Achse des Dramas werden. Die endgültige Fassung (1916) beginnt mit einem Vorspiel im Palais eines sehr reichen Man-

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nes, der, um seine Gäste mit der „heroischen Oper“ Ariadne, die er für diesen Abend bei einem jungen Komponisten bestellt hat, nicht zu sehr zu langweilen, beschlossen hat, die Oper und eine Tanzmaskerade gleichzei¬ tig aufführen zu lassen. So wird sich die edle und untröstliche Ariadne die Bühne mit der frivolen Zerbinetta teilen müssen. Während nun Ariadne sich den Tod herbeiwünscht - und sogar Bacchus wird von ihr zuerst für Charon, den Fährmann der Unterwelt gehalten -, versucht Zerbinetta sie mit der Unvermeidbarkeit der Verwandlung zu trösten: Noch glaub ich dem einen ganz mich gehörend, Noch mein ich mir selber so sicher zu sein, Da mischt sich im Herzen leise betörend Schon einer nie gekosteten Freiheit, Schon einer neuen verstohlenen Liebe Schweifendes, freches Gefühle sich ein! Noch bin ich wahr, und doch ist es gelogen, Ich halte mich treu und bin schon schlecht, Mit falschen Gewichten wird alles gewogen Und halb mich wissend und halb im Taumel Betrüg ich ihn endlich und lieb ihn noch recht! (D V, 207)

Im Brief an Richard Strauss wird Zerbinetta eine „gemeine Lebensmaske“ genannt, und das Adjektiv „gemein“ wird auf diesen Seiten, die dem Kom¬ ponisten die philosophische Struktur des Stückes erklären sollen, drei Mal verwendet, um Zerbinettas Welt zu definieren. Zerbinetta kann Ariadnes „Tiefe“ nicht verstehen, sie sieht in Ariadnes Begegnung mit Bacchus nur den Wechsel von einem Liebhaber (Theseus) zum nächsten. Doch Bacchus, der dem Zauber Circes, einer „dämonisierten Zerbinetta“, widerstanden hat, ist kein Don Juan, „Tier und Gott enthüllen sich in ihm“. Seine Liebe zu Ariadne birgt in sich die Notwendigkeit des „Schicksals“, denn er lebt wie sie im „Schicksal“ und nicht im „seelenlosen“ Vergessen wie Zerbinetta (D V, 298 f.). Und dennoch, beim genaueren Betrachten des Librettos tendieren die im Brief an Richard Strauss so klar formulierten Gegensatzpaare dazu, sich aufzulösen. Ariadne muß lernen zu vergessen, und Zerbinetta erscheint absolut nicht als „gemeine Lebensmaske“. Um sie schwebt derselbe Zau¬ ber, der auch den Abenteurer Weidenstamm-Casanova auszeichnete. Ganz so wie dieser lebt auch Zerbinetta jede neue Liebe de bonne foi, als einen Zauber:

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Doch niemals Launen, Immer ein Müssen! Immer ein neues Beklommenes Staunen. Daß ein Herz so gar sich selber, Gar sich selber nicht versteht! Als ein Gott kam jeder gegangen, Jeder wandelte mich um (D V, 207)

Auch Zerbinetta wird „verwandelt“ von einem „Gott“, auch wenn sie meh¬ rere dieser Götter kennengelernt hat. Auch ihr sind Absichten, Strategien, Berechnung fremd: Immer ein Müssen, Niemals Launen, Immer ein neues Unsägliches Staunen! (D V, 207)

Auf dieselbe Weise wie Casanova, rettet sich auch diese der Commedia dell’arte entnommene Figur dank ihrer Unwissenheit, dank ihrer bonne foi vor der Öde der Wiederholung. Das 18. Jahrhundert Casanovas und Zerbinettas hat für Hofmannsthal vor allem eine entscheidende Funktion: jedes Mal die starren ethischen Gegensätze zu überwinden, die sich in seinen theore¬ tischen Überlegungen und Ausführungen immer wieder einstellen. Denn das 18. Jahrhundert bedeutet vor allem Galanterie. Zu Beginn des unvollendeten Romans Andreas oder die Vereinigten erinnert sich der Held an eine österreichische Gräfin, die als Gegenbild zur vene¬ zianischen Welt, die ihn bald bezaubern wird, gelesen werden kann. Wäh¬ rend er durch Kärnten reitet und ihm sein teuflischer Diener Gotthelff die lasziven Abenteuer einer Gräfin von Pormberg erzählt, überläßt sich An¬ dreas erotischen Phantasien: Da sind sie auf einmal allein, ein ganz einsames Gemach, er mit der Gräfin allein, klafterdicke Mauern, totenstill. Ihm graust, daß es ein Weib ist und nicht mehr eine Gräfin, auch nicht der junge Kavalier, nichts Galantes, Ehrbares mehr, auch nichts Schönes, sondern ein wildes Tun, ein Morden im Dunkeln. (E, 211)

„Galantes“ und „Ehrbares“, die Hofmannsthal in der Deutung seines Li¬ brettos als Opposition Zerbinetta-Ariadne fassen will, werden hier zusam-

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mengedacht und dem puren Instinkt gegenübergesetzt. Die venezianische Welt kündigt sich an, die der Sinnlichkeit eine Form gibt, wodurch auch die Kurtisane galant und ehrbar wird. Fangen wir mit ihr an, mit der Kurtisane, im Roman heißt sie Nina und ist die ältere Schwester Zustinas. Andreas ist von ihrem „Ich-weiß-nicht-was von Hilflosigkeit und Frauenhaftigkeit“ bezaubert (E, 258). Nina ist also ebenso „hilflos“ wie die Gräfin Maria. Ihr häßliches Porträt, das Andreas beurteilen soll, dient dazu, die Eleganz und den Charme des Originals hervorzuheben. Auf dem Porträt waren die Augenbrauen von einer gemeinen Bestimmtheit, der Hals, den der Messerstich durchschnitt, üppig und dirnenhaft. Die Augen hafteten mit frechem kaltem Feuer auf dem Beschauer. (E, 258)

Ganz das Gegenteil zur echten, liebenswürdig zerstreuten und sanften Nina, die von ihren Liebhabern lebt, aber weder käuflich noch snobistisch ist: Sie lehnt die Bekanntschaft eines reichen und adeligen Wieners ab, nur weil sein Name - Graf Grassalkowicz - „wie ein recht gemeiner Fluch“ klingt, „und wie der Name, so wird auch der Träger sein“ (E, 245). Der Unter¬ schied zwischen einer österreichischen Gräfin und einer venezianischen Kurtisane ist eine Frage des Stils, denn Nina ist in ihrer Zerstreutheit unbe¬ stechlich und ganz. „Sie ist in jeder Sache ganz“, schreibt Hofmannsthal in seinen Aufzeichnungen aus dem Jahr 1925 (KA XXX, 215). Mariquita hingegen war nicht als „Ganze“ geplant, sie sollte nur die sinn¬ liche, instinkthafte Seite der asketischen Gräfin Maria darstellen, jene kör¬ perliche Hälfte, die am Schluß mit der „edleren“, geistigen vereinigt wer¬ den sollte. Noch im Jahr 1925 definiert Hofmannsthal die „Vereinigung“, das Ziel des Romans, folgendermaßen: Die Vereinigung - das gesellige Individuum die darin liegende Unsterblichkeit die Überwindung der Gegensätze von Hoch und Gemein von Körper u. Geist von Katholisch u. freigeistig von welscher Welt u. deutscher Welt. (KA XXX, 197)

Um diese „Vereinigung“ herstellen zu können, müßte Mariquita ein Ex¬ trem personifizieren, was sie aber nicht tut. Sie ist nicht amoralischer, „wil¬ der“ Instinkt, sondern schon „gesellig“, schon zivilisiert, wie Casanova. So wie dieser lebt sie nur für den Moment und hat die Kraft, Abenteuer 114

anzuknüpfen, „weil sie unbedingt frei ist“ (E, 295). Sie ängstigt wohl An¬ dreas, der sich in Marias Gesellschaft glücklicher fühlt (E, 279), aber er möchte Mariquita heiraten (E, 293). Wie im Fall Ariadne fällt die Diskre¬ panz zwischen den programmatischen Aussagen und dem literarischen Text auf: In der ersten Teilfassung des Romans wird die Mehrzahl der direkten Reden Mariquita zugeschrieben. Maria sagt nur einzelne Sätze, während von Mariquita längere Reden ausgearbeitet sind, gerade so, als ob die Lust sie niederzuschreiben - es handelt sich in der Mehrzahl um Reden gegen Maria - die rationale Reflexion zum gedanklichen Gerüst des Romans un¬ tergraben hätte. Während der Malteser die ihm eigene Philosophie erläu¬ tert und Maria fast des Sprechens unkundig scheint, überläßt sich Mariquita der Lust zu plaudern. Sie spricht von Maria wie von einer alten Hexe, setzt aber hinzu: . . . das war nur figürlich zu nehmen. Man muß die Menschen überhaupt nur figür¬ lich nehmen. Sie ist eine ganz hübsche Person, aber ein rechter Teufel ist sie doch. Gerade darum weil sie für einen Engel gehalten werden will. Aber das kann ich sagen: so durchschaut wird auf der Welt keine Frau, wie ich die durchschaue. Meine Blicke gehen unter die Haut. (E, 277)

Mariquita erforscht ihr Alter-Ego Maria - im Grunde interessiert sie sich nur für diese -, haßt aber den Wahrheitsbegriff, der zur religiösen Mystik Marias gehört. . wenn ich nur das dumme Wort nicht hören müßte! wenn ihr mich nur mit eurer Philosophie verschonen wolltet, - da die Welt doch „sozusagen eßbar“ ist. (E, 278)

Mariquita sollte für die unmittelbare Sinnlichkeit stehen, doch sie spricht, und ihre Abneigung gegen die Philosophie bringt sie dazu, ihre Philoso¬ phie zu formulieren. Auch die Beziehung Mariquitas zum Briefeschreiben ist interessant und läßt die Ambivalenz Hofmannsthals durchscheinen, den Konflikt zwischen seinem Wunsch zu (ver-)urteilen und dem Zauber, den seine eigenen Figu¬ ren auf ihn ausüben. Die Gewohnheit, Briefe zu schreiben, führt natürlich weg von der sprach¬ losen Welt des „reinen“ Instinkts. So hält auch Hofmannsthal fest: „Mariquita schreibt nie, schickt immer nur mündliche Posten; das Schi eiben ist nui zu embroullieren und compromittieren“ (E, 278). Für Mariquita scheint hier der Brief nur ein Hindernis für das direkte und eindeutige Verhältnis zwi-

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sehen Wunsch und Erfüllung, deshalb genügt ihr die Rede als Kommuni¬ kationsmittel. Aber in denselben Aufzeichnungen aus dem Jahr 1907 wer¬ den öfters Mariquitas Briefe genannt und in einem späteren Text, aus dem Jahr 1912, wird die „Geburt“ Mariquitas, ihre Befreiung von der asketi¬ schen Maria, durch ihre Fähigkeit, Briefe zu schreiben, angekündigt. Mariquita zu Andreas: „ich bin in dich vernarrt, weil du der erste warst, den ich bei meiner Befreiung gesehen habe. Ich weiß, daß du nichts so Besonderes bist, aber ich seh dich immer noch mit verzückten Augen, - es ist halt alles Zufall.“ - „an jenem Tag war ich zum ersten Mal ganz heraußen; - vorher verstand ich schon Briefe zu schreiben.“ (E, 294 f.)

Mit ihren Briefen bringt Mariquita Maria in Verlegenheit, auch weil es ga¬ lante Briefe sind, und Maria schreckt vor der Galanterie zurück. Doch schrei¬ bend verändert sich auch Mariquitas Charakter, sie verliert ihre Unmittel¬ barkeit. Ihre Waffen sind nicht mehr nur körperliche, sondern auch die der Verführung durch Worte: So erfährt Sinnlichkeit eine sprachliche Ver¬ mittlung.2 Mariquita erinnert an Antoinette im Schwierigen. Antoinette verführt durch ihr Geplauder. „Das ist ja ihr großer Charme, daß sie eine Konversation hat“ (1,8). Darüber sind sich Kari und sein Neffe einig. Eine Konversation, die niemals hohl oder vulgär wird und die keine Absichten kennt. Wie die von Mariquita: „Das Absichtslose manchmal an ihrem Schwätzen, das Ver¬ träumte.“ (E, 295). Auch in der Beziehung zum eigenen Körper besteht eine Affinität zwischen Antoinette und Mariquita. Für beide ist der Körper so einzigartig wie für Maria die Seele. „An Mariquita ist es jedes körperli¬ che Detail, was einzig und ewig scheint: das Knie, die Hüfte, das Lächeln. Sonst kümmert sie sich wenig um Einzigheit; sie glaubt nicht an die Unsterb¬ lichkeit der Seele“ (E, 275). Der Körper ist also nicht das Unbestimmbare, Tierische, Zufällige, wie für den jungen Andreas oder wie er vielleicht auch dem Grafen Bühl scheinen mag, sondern er besitzt für sich eine Identität. So sieht es auch Antoinette. Kari sagt von ihr zu Helene: „Ja, es ist ein charmantes, liebes Gesicht, aber es steht immer der ein und derselbe stum¬ me Vorwurf in ihm eingegraben: Warum habts ihr mich alle dem fürchter¬ lichen Zufall überlassen?“ (11,14) Aber das ist eine Interpretation, die dem verzweifelten Dualismus des Schwierigen entgegenkommt. Sie stimmt we¬ der zu Antoinettes Worten noch zu ihren Gesten. Ist es doch gerade ihre Fähigkeit, dem körperlichen Zeichen den Charakter von Einzigartigkeit zu verleihen, die Antoinette trotz ihrer ganzen Verführbarkeit eine schlafwand116

lerische Sicherheit gibt. Eine Sicherheit, die von der männlichen Willens¬ ethik nicht erschüttert werden kann. Deshalb ist Karis Versuch, sie mit ih¬ rem Mann zu versöhnen, so naiv, denn Antoinette läßt sich nicht von schö¬ nen Worten korrumpieren. Wenn Kari sie ermahnt, sich der Notwendig¬ keit, der Heiligkeit der Ehe zu unterwerfen, antwortet sie mit ihrer Notwen¬ digkeit: sie mag weder die Hände, noch das Gesicht, noch die Ohren ihres Mannes. Und weil ihr Karis Hände gefallen, wird sie fortfahren, ihn zu lieben (11,10). Der Dialog zwischen ihr und Kari ist deshalb so paradox, weil Antoinette, die „oberflächliche“ Frau, die nur dem Augenblick lebt und die ihr schlechtes Gedächtnis eingesteht, diejenige ist, welche die Erinnerung, die Dauer, die Treue verteidigt. Diese paar Tage damals in der Grünleiten sind das einzig wirklich Schöne in mei¬ nem ganzen Leben. Die laß ich nicht - Die Erinnerung daran laß ich mir nicht heruntersetzen. (11,10)

Gewiß, sie sagt auch, daß sie verführbar ist. Sie hat Angst vor dem Werben von Feri Uhlfeldt: „Ich hab gesagt, ich mag ihn nicht, er hat gesagt, ich kann nicht wissen, wie er als Freund ist, weil ich ihn noch nicht als Freund gehabt hab. Solche Reden verwirren einen so“ (II, 10). Aber später erscheint sie weiß Gott nicht als ein Opfer der Verführungsstrategien jedes Beliebi¬ gen, zum Beispiel eines entschiedenen deutschen Barons. Im hinreißenden Dialog mit Neuhoff befreit sich Antoinette von seinen insistierenden und gewaltsamen Avancen mithilfe einer einfachen, klaren und expressiven Sprache, die ganz das Gegenteil ist von der verblasenen, idealistischen des apologetischen Kari. ANTOINETTE: . . . Geben Sie sich keine Müh mit mir. Ich mag nicht! NEUHOFF (beugt sich zu ihr): Du sollst wollen! ANTOINETTE (steht auf): Oho! Ich mag nicht! Ich mag nicht! Denn das, was da aus Ihren Augen hervorwill und mich in seine Gewalt kriegen will, aber nur will! kann sein, daß das sehr männlich ist - aber ich mags nicht. Und wenn das Euer Bestes ist, so hat jede einzelne von uns, und wärs die Gewöhnlichste, etwas in sich, das besser ist als Euer Bestes, und das gefeit ist gegen Euer Bestes durch ein bisserl eine Angst. Aber keine solche Angst, die einen schwindlig macht, sondern eine ganz nüchterne, ganz prosaische. (Sie geht gegen die Treppe, bleibt noch einmal stehen.) Verstehen Sie mich? Bin ich ganz deutlich? Ich fürcht mich vor Ihnen, aber nicht genug, das ist Ihr Pech. Adieu, Baron Neuhoff.

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Sie ist sehr feministisch, diese „grande dame des achtzehnten Jahrhunderts“ (III,5). Gegen die dröhnende Männlichkeit des deutschen Barons führt sie das gesamte weibliche Geschlecht ins Feld, bis zur „Gewöhnlichsten“. Und sie erweist sich als unangreifbar, nicht weil sie stark ist, sondern aufgrund ihrer Schwäche, ihrer Angst. Aber diese Angst verbindet sich mit dem ge¬ sunden Menschenverstand, mit einem klaren Geist, der sich selbst treu und in keiner Weise romantisch oder masochistisch ist, auch wenn er die Gefah¬ ren der Romantik und des Masochismus kennt. Die Männlichkeit, die mit der weiblichen Schwäche rechnet, provoziert in Antoinette eben keine „Angst, die einen schwindlig macht“, sondern ganz im Gegenteil eine ernüchternde. Helene konnte auf dasselbe entschiedene und gewaltsame Werben von Neuhoff nur antworten: „Ich mag nicht diese mystischen Redensarten“ (11,13). Zum klaren, definitiven Wort, zur großen Szene ist die zahme und artige Helene nicht fähig.3 Man beachte nur die Regieanweisungen, die Antoinettes Rede skandieren. Wie sie aufsteht, wie sie dann aber zögert, um den „Todesstreich“ zu verabreichen. Es ist ein Duell, aus dem Antoi¬ nette als Siegerin hervorgeht. Aber es gibt auch Humor in Antoinettes Art zu fechten, in ihrem Argu¬ ment von der „ganz nüchterne(n), ganz prosaische(n)“ Angst. Und einen etwas verzweifelten Humor beweist sie auch in der nächsten Szene, wenn sie dem naiven und etwas aufdringlichen Romantizismus ihres Mannes Ein¬ halt zu bieten versucht: ANTOINETTE: Du hast so einen neuen Ton in deinen Reden. Wo hast du dir das angewöhnt? HECHINGEN: Der zu dir redet, das ist der, den du nicht kennst. Toinette, so wie er dich nicht gekannt hat! Und der sich nichts anderes wünscht, nichts anderes träumt, als von dir gekannt zu sein und dich zu kennen. ANTOINETTE: Ado, ich bitt dich um alles, red nicht mit mir, als wenn ich eine Speisewagenbekanntschaft aus einem Schnellzug wäre. (III,5)

Sicher werden Antoinette und Mariquita trotz ihrer Intelligenz, trotz ihrer „körperlich“ fundierten Identität, ihrer galanten Beziehung zur Sprache, in der Intention ihres Autors - und diese Intention zeigt sich in der Wider¬ sprüchlichkeit der Texte - in die Welt des Abenteurers relegiert, die a priori das „Schicksal“ und die „Erinnerung“ ausschließt. Es gibt vor allem eine Figur im Universum Hofmannsthals, der explizit erlaubt wird, die Leich¬ tigkeit des 18. Jahrhunderts mit einem Ernst zu verbinden, der sich nicht einer vom Körper abgespaltenen Ethik verdankt, eine Figur, die das Wun-

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der der Einheit zwischen Körper und Geist, Moment und Dauer, Lust und Erinnerung darstellt. Es ist die Marschallin im Rosenkavalier (1910), eine adelige Dame aus dem 18. Jahrhundert, die einen jungen Liebhaber (Octavian) hat, eine Liebe, die sie sowohl von Maria als auch von Mariquita, so¬ wohl von Antoinette als auch von Helene unterscheidet. Denn für die Marschallin existiert die Zeit, gibt es Vergangenheit, Ge¬ genwart und Zukunft, weder nur Vergangenheit, wie für Maria und Hele¬ ne, noch nur Gegenwart, wie für Mariquita und Antoinette, sondern Ver¬ gangenheit und Gegenwart mit einer schmerzlichen Klarheit, was die Zu¬ kunft betrifft. Es ist dieses Zeitbewußtsein, das der Marschallin ihren un¬ verwechselbaren Stil verleiht, die Verliebtheit läßt sie nicht ihre Welt ver¬ gessen, macht sie nicht blind, zum Beispiel für die narzißtische und eifer¬ süchtige Angeberei Octavians. OCTAVIAN (lustig): Der Feldmarschall sitzt im crowatischen Wald und jagt auf Bären und Luchsen, und ich sitz hier, ich junges Blut, und jag auf was? Ich hab ein Glück, ich hab ein Glück! MARSCHALLIN (indem ein Schatten über ihr Gesicht fliegt): Laß er den Feldmarschall in Ruh! Mir hat von ihm geträumt. OCTAVIAN: Heut nacht hat dir von ihm geträumt? Heut nacht? MARSC HALLIN: Ich schaff mir meine Träum nicht an. (D V, 14)

Oder später: Oh, sei Er jetzt sanft, sei Er gescheit und sanft und gut. Nein, bitt schön, sei Er nicht wie alle Männer sind. (D V, 40)

Am selben Tag wird der eifersüchtige und leidenschaftliche Octavian sich in die junge Bürgerliche Sophie Faninal verlieben, deren Vater seit kurzem in den Adelsstand erhoben worden ist, und die Marschallin wird dies, von dem sie hoffte, daß es nicht so bald geschehen würde, akzeptieren müssen. Den unvermeidbaren Verzicht hatte sie schon am Morgen vorhergesehen, als sie ihre Theorie der Leichtigkeit formulierte, die sehr im Stil des 18. Jahrhunderts und auch sehr im Stil Rilkes gehalten ist, man denke nur an das in denselben Jahren geschriebene Requiem für eine Freundin:

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. . . Wir haben, wo wir lieben, ja nur dies: einander lassen; denn daß wir uns halten, das fällt uns leicht und ist nicht erst zu lernen.4 Von dieser Leichtigkeit im „einander lassen“ versucht die Marschallin zum naiven und eifersüchtigen Octavian zu sprechen: Leicht muß nran sein: mit leichtem Herz und leichten Händen, halten und nehmen, halten und lassen . . . Die nicht so sind, die straft das Leben und Gott erbarmt sich ihrer nicht. (D V, 41) Indem das „Leben“ und „Gott“ in die Überlegung miteinbezogen werden, verleiht Hofmannsthal den Worten der Marschallin ein ethisches Gewicht, das die theresianische Leichtigkeit vor zu frivolen und oberflächlichen Nuancen schützt. Dieses ethische Gewicht fehlt dem zierlichen Paar OctavianSophie, das in seiner kindlichen Verwirrung fast rührend ist, „ganz poupee de Saxe“ kommentiert Hofmannsthal in einem Brief an Ottonie von Degen¬ feld (24. 1. 1911, S. 82) begeistert die Darstellung der Sophie in der Dres¬ dener Uraufführung. Da steht der Bub und da steh ich und mit dem fremden Mädel dort wird er so glücklich sein, als wie halt Männer Das Glücklichsein verstehn. In Gottes Namen. (D V, 102) Wo das „halt“ ein nicht gerade großes Vertrauen in die männliche Fähig¬ keit, glücklich zu sein, ausdrückt. Da ist sie sich mit dem Autor einig, der die Mesalliance zum Schluß in seinem Ungeschriebenen Nachwort zum Rosenka¬ valier so kommentiert: „Octavian zieht Sophie zu sich herüber - aber zieht

er sie wirklich zu sich und auf immer? das bleibt vielleicht im Zweifel“ (D V, 146). In einem Brief an Richard Strauss vom 12. Juli 1910 hatte er dem „romantischen“ Richard Strauss versucht klarzumachen, daß Sophie, und damit auch das junge Paar, zum Schluß nicht im Zentrum stehen darf. Wobei er sich sehr zu Recht auf das weibliche Publikum beruft: Sie ist ein recht hübsches gutes Dutzendmädchen, das ist ja der Witz der Sache der wahre Charme der Ausdrucksweise, ebenso wie der stärkere Charme der Per¬ sönlichkeit ist bei der Marschallin zu suchen. Eben daß Quinquin bei diesem verkreuzten Doppelabenteuer an die erste beste Junge gerät, das ist ja der Witz, der

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das Ganze zu einer Einheit macht, die beide Handlungen zusammenhält. Dabei bleibt die Marschallin die dominierende weibliche Figur . . . Wie sehr die Frauen, diesei wichtige Teil unseres Publikums, dies so empfinden und das ganze bunte Abenteuer aus dem Gesichtswinkel der Marschallin sehen, mögen Sie aus dem bei¬ gelegten Biief der Fiiistin Lichnowsky entnehmen, den ich gelegentlich zurücker¬ bitte. Und genau ebenso empfindet meine Frau, empfindet die Frau meines Verle¬ gers Fischer, die Fürstin Marie Taxis u.s.f.6

Wie ich aus den Reaktionen von Studentinnen, aber auch noch aus der Erinnerung meiner Schulzeit weiß, identifizieren sich auch junge Frauen nie mit Sophie, sondern immer mit der Marschallin: Was für Hofmannsthals Ingenium und für seine profunde Kenntnis der weiblichen Psyche spricht, aber auch für seine Fähigkeit, auf Frauen zu hören. Die Melancholie führt die Marschallin nicht zur Verzweiflung, noch über¬ fallen sie Scham und Schuldgefühle wegen ihrer ehelichen Untreue. All diese unangenehmen Gefühle werden angedeutet, doch es gelingt ihnen nicht, den Stil der Marschallin zu zersetzen. Dieser Stil besteht vor allem in einer großen Fiebenswürdigkeit anderen, aber auch sich selbst gegenüber, kein rigider Hochmut, aber Vertrauen in sich selbst und in den Fauf der Welt, eine Fiebenswürdigkeit, die höchstens ein wenig ironisch gefärbten Unmut zeigt, wenn sie sich betrogen sieht: MARSCHALLIN (von oben herab und ohne Octavian anzusehn): Hab jetzt einen montierten Kopf gegen die Männer so ganz im allgemeinen! (D V, 97)

Die Ethik der Marschallin gründet auf Erfahrung, nicht auf Verachtung, wie dagegen die Helenes im Schwierigen: gute Manieren allein würden die Marschallin zu sehr einschränken. Sie ist erfahren, sie kennt „die Männer“. Jene verallgemeinernden Aussprüche über das männliche Geschlecht, die für die Marschallin so charakteristisch sind, sind auch Zeichen ihrer Über¬ legenheit. Ihr erlaubt Hofmannsthal eine „Weisheit“, die umgekehrt, im Mund der Männer, zur Banalität würde. Denn die Marschallin will keine Ethik propagieren, sie philosophiert nicht wie der Malteser oder sogar Lord Chandos und Kari Bühl, wenn sie versuchen, ihre Krise zu überwinden. Es ist ein weibliches Vorrecht zu vereinfachen, zu generalisieren, indem man von „den Männern“ spricht, und die Marschallin macht von ihm in dem Bereich Gebrauch, in dem ihr Gesetz gilt, in dem der Geselligkeit.6 Auch in dieser Komödie inszeniert Hofmannsthal, wie in Der Schwierige

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und wie in dem geplanten, aber nur geplanten Ende von Andreas oder die Vereinigten einen Übergangsritus. Den Übergang von einer auf der Konver¬

sation, der Galanterie gegründeten tendenziell a-moralischen, unmetaphy¬ sischen Welt zu einer bürgerlichen. Letztere gründet auf einer starken Ethik, auf der sich im 19. Jahrhundert entwickelnden Kleinfamilie, die keinen Raum mehr läßt für galante Spiele, Konversationen und für die Unzahl von möglichen Beziehungen zwischen den verschiedensten Menschen. Die Faszination, die Hofmannsthals Werk ausübt, ist eng verknüpft mit dem Sinn, der diesem Übergang zugeschrieben wird. Auf den ersten Blick scheint dies ein Schritt in Richtung Sittlichkeit, eine Apologie von Werten, die man nicht anders als „bürgerlich“ bezeichnen kann: wegen der zentralen Funktion der auf die Zeugungsachse (ElternKinder) reduzierten Familie, die auf einer „Liebesheirat“ gründet7 und ei¬ nen Raum entstehen läßt, der ausschließlich privat und - zumindest in der Phantasie der Familienmitglieder8 - von der Öffentlichkeit der umgeben¬ den Welt strikt getrennt ist. So schließt die anvisierte Ehe zwischen Kari und Helene die Geselligkeit programmatisch aus, während die zwischen Octavian und Sophie - dem „fremden Mädel“, wie sie von der Marschallin genannt wird - sich im Unterschied zu den Ehen des ancien re'gime auf ei¬ nem sehr unstabilen Gefühl gründet: der erotischen Liebe.9 Doch diese Entscheidung für die bürgerliche Sittlichkeit entpuppt sich bei näherem Hinsehen als die Gelegenheit, eine völlig andersartige Welt zu be¬ schreiben, ein 18. Jahrhundert, das in seinen faszinierendsten, zugleich chaotischen und anmutigen Aspekten mit einer Nostalgie dargestellt wird, die der ethische, konstruktive Wille nicht auszulöschen fähig ist. Die Nostalgie, die sich dieser vergangenen Welt zuwendet, ist auch Nost¬ algie nach einer anderen, autonomeren Frau, einer Frau, die spricht. Hof¬ mannsthal schickt Ottonie von Degenfeld das Libretto zum Rosenkavalier in der Überzeugung, daß das „thüringische Fräulein“ (Minna von Barnhelm als Double Ottonie von Degenfelds) die Feldmarschallin gut aufnehmen wird: . . . und es wird gehofft, daß die beiden netten Frauen sich miteinander befreun¬ den werden um ihrer Verwandtschaft willen die sie doch irgendwo im innersten haben; trotz so verschiedenen Blutes, verschiedener Seelen und verschiedenen Ge¬ schickes. (Sie liegt darin daß sie beide sehr natürliche, sehr wahre und klare Wesen sind). (20. 1. 1911, S. 72)

Eine klare, weil vom Körper nicht abgespaltene Sprache zu sprechen ist die Prärogative der großen Frauen Hofmannsthals, der nicht zufällig ein Dra-

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nia übei Timon von Athen plante, wo dem kleinbürgerlichen, präfaschisti¬ schen Rhetor, der ein Bordellbesitzer und zugleich ein wilder Kämpfer für die Moral ist - „Ein braves Weib an seinem Herd“ (KA XIV, 90)10 -, die Hetäi e Bachis, von adeliger, aber illegitimer Geburt, entgegengesetzt wird, die einzige unter den Mitgliedern der aristokratischen Partei, die den Mut hat, Timon während eines seiner politischen Auftritte öffentlich entgegen¬ zutreten. Auch die Hetäre ist eine enge Verwandte der Marschallin. Im Buch der Freunde schreibt Hofmannsthal über Aspasia, die berühmteste Hetäre des klassischen Altertums: Philinen oder Manon Lescauts wird es immer und in allen Lebenslagen geben, aber die Aspasien sind selten genug; hier muß zu einer starken weiblichen Natur noch eine besondere Geistigkeit sich hinzufinden, aber eine solche, die nie auf eigene Hand agiert, sich vom Spiel der sinnlichen Anziehung nie entfernt, sondern die ganze Welt in dieses Spiel verflicht. (RA III, 252)

Wenn wir die Philinen und Manon Lescauts an Antoinette, Mariquita und Nina annähern - mit der gebotenen Vorsicht, denn auch diese Figuren besitzen, wie wir sahen, eine jeglichen Schematismus unterlaufende Kom¬ plexität -, so sind die Marschallin, die Sängerin oder auch Lucidor der Hetäre verwandt, sie besitzen jene geistige Sinnlichkeit, die ihnen ihre Ein¬ heit verleiht. Es sind die einzigen wirklich mit sich „vereinigten“ Figuren Hofmannsthals. Im Andreas hingegen erweist sich die Vereinigung als undurchführbar. Die geplante Hochzeit mit der kleinen Romana, Tochter eines alten Kärnt¬ ner Bauerngeschlechts, findet nicht statt. Die ersten Aufzeichnungen zum Andreas aus dem Jahre 1907, die unter dem Titel Venezianisches Reisetagebuch des Herrn von N (1779) zusammengestellt wurden, sehen vor, daß Andreas Romana wiedertrifft, doch bei dieser sei „die Scham nun ins Unendliche gesteigert, wie damals die Unbefangenheit“. Eine zweite Maria, die übri¬ gens auch unfähig ist, Andreas zu heilen, und auch bei Romana scheint kein Wiedergewinnen der vormaligen Unbefangenheit vorgesehen. Der letzte Satz dieses Entwurfs, der mit der Wiederbegegnung von Andreas und Romana auf der Alm endet, zeigt uns eine von seinem Anblick terrori¬ sierte Romana: „Romana verkriecht sich in den letzten Winkel, droht end¬ lich von droben nach außen hinabzuspringen“ (E, 286). In einer späteren Anmerkung aus dem Jahre 1913 findet man die zweifelnde Bemerkung: „mit Romana, sagt er sich, könnte es sein Himmel sein“. Jener Himmel,

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von dessen Schönheit er gerührt wird, „aber ohne das Gefühl des Selbst, auf welchem, wie auf einem Smaragd, die Welt ruhen muß“ (E, 308). Romana hätte Andreas die Gewinnung dieses Smaragdes des Selbstbe¬ wußtseins garantieren sollen, doch Romana wird in der Folge immer mehr Randfigur, das Interesse des Autors konzentriert sich immer mehr auf die Figuren der Spaltung, auf Maria-Mariquita. So gewinnt Andreas kein si¬ cheres „Gefühl des Selbst“, er wird kein freies und starkes Individuum mit einem beruhigend stabilen Selbstbild. Der Bildungsroman scheitert.11 So¬ wohl in bezug auf Andreas als auch in bezug auf seine weiblichen Gegen¬ spieler, Maria und Mariquita. Dieses Scheitern kann uns nicht verwundern. Für Andreas ist die Verei¬ nigung mit seinem männlichen Alter-Ego, dem Malteser Sacramozo un¬ möglich. Sacramoza trägt in sich die unheimlichsten Züge Stefan Georges: „Die Grösse und Grässlichkeit dieses Menschen wie ein Abgrund; das Aussermenschliche des Deutschen . . . Andreas’ Problem: ist das noch ein Mensch?“ (KA XXX, 187).12 Dabei erinnert er auch an den Proustschen Charlus: „In dem Malteser etwas von Charlus, gegen junge Feute: das brüske absprin¬ gende - der Wechsel von Hochmut u. fast Schmeichelei - die unendliche Aufmerksamkeit u. das gelegentlich Verletzende, u. mit Bewusstsein“ (KA XXX, 201). Die Bereicherung der Persönlichkeit Andreas’ mit diesen Ele¬ menten paßt schlecht zu dem utopischen Ausgang, der Ehe mit Romana. Für Maria-Mariquita wäre eine Vereinigung paradoxerweise nur dann mög¬ lich gewesen, wenn ihre Unterschiede in einer klaren Opposition geistige Askese/rein körperliche Sinnlichkeit festgemacht worden wären. Doch der Text, der uns das Bild einer galanten, sprechenden und schreibenden Mariquita vermittelt, droht die Vereinigung überflüssig zu machen. Die Hofmannsthalschen Figuren sind anscheinend nicht willens, sich in feste Charaktermasken einsperren zu lassen, und ebensowenig wollen sie sich der Versöhnung unterwerfen, sich „verbessern“, „entwickeln“, um etwas zu „werden“. In den Figuren der Marschallin, der Sängerin, Lucidors und in der Hetäre gelingt es Hofmannsthal, sich Vereinigung vorzustellen. Doch es ist be¬ zeichnenderweise eine weibliche Vereinigung. Für diese Figuren ist offen¬ sichtlich „das Gefühl des Selbst, auf welchem, wie auf einem Smaragd, die Welt ruhen muß“, nicht so wichtig. Deshalb gibt es für sie keine Bildung, kein Streben, der persönliche Stil ist einfach da, wie ein Geschenk: so als ob auf dieses harte, versteinerte Selbstbewußtsein nur die weiblichen Figuren verzichten können, wohingegen bei Andreas die Rührung durch die Schön-

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heit (des Himmels) einen Mangel spüren läßt, der durch ein starkes Selbst¬ bewußtsein ausgefüllt sein will. In der Welt Hofmannsthals, die so oft zum Alptraum tendiert, sind diese Frauen Lichtpunkte. Ein Literaturwissenschaftler wie Karl Bertau hat in ihnen „eine Knabenphantasie, die den ödipalen Konflikt, aus dem sie ge¬ boren ist, durch ein regressives Wunschbild meint auflösen zu können“, gesehen.13 Das mag schon richtig sein, aber jede neue Phantasie (auch eine „regressive“) ist erfreulich, wenn sie nur die bekannten männlichen Phan¬ tasien über Weiblichkeit erweitert, wenn sie die Opposition Mutter-Hure überwindet und - wie zur selben Zeit Fanziska zu Reventlow, die „rote Grä¬ fin“, die als geschiedene Frau ein Kind bekam, von dem sie nie den Vater sagen wollte14 - die Hetäre mit der Mutter zusammendenken kann. Diese Frauen Hofmannsthals sind ziemlich außergewöhnliche Figuren innerhalb der Wiener Kultur der Zeit, wenn wir nur an die berühmtesten Schriftsteller denken: Bei Schnitzler, der so auf die „Wirklichkeit“ der Wie¬ ner Bourgeoisie eingeschworen ist, kommen solche autonomen Frauen nur am Rande vor, auch bei Musil und wohl aus denselben soziologischen Grün¬ den - man denke nur an die beeindruckende Phänomenologie der Weib¬ lichkeit in Der Mann ohne Eigenschaften, an die lange Reihe der realen oder möglichen Geliebten Ulrichs, die alle von ihm irgendwie verachtet werden und alle an mehr oder weniger latenter Selbstverachtung leiden, wobei sich nur die schizophrene Clarisse rettet, die aber von der im Laufe des Romans verstummenden idealen Gattin Agathe ersetzt wird. Sogar Karl Kraus weigert sich, trotz seiner antibürgerlichen Haltung, sei¬ ner Liebe für die Prostituierte, die Hetäre zu akzeptieren. Für ihn ist sie nur Produkt der männlichen Verlogenheit: „Weil die geistig hochstehen¬ den Männer Griechenlands den Verkehr mit Hetären suchten, müssen die Hetären geistig hochstehende Frauen gewesen sein.“15 Die Ablehnung der Hetäre bedeutet Ablehnung der Galanterie. „Es ist eine schlimme Zeit, in der das Pathos der Sinnlichkeit zur Galanterie einschrumpft“ (54). Das „Pa¬ thos der Sinnlichkeit“ ist stumm, die Frau also ein Körper ohne Intellekt: „Mit Frauen führe ich gern einen Monolog. Aber die Zwiesprache mit mir selbst ist anregender“ (29). Deshalb ist die Prostituierte die Frau „an sich“. Wo Kraus die bürgerliche Hypokrisie entlarvt, bleibt er in ihrem sie konsti¬ tuierenden Dualismus, der Opposition Natur/Ethik, verfangen. Wenn in der bürgerlichen Presse die Frau janusköpfig erscheint, als Tugend (die Ehefrau-Mutter) und als Laster (die Prostituierte), so verteidigt Kraus sehr ritterlich die Wahrheit der Prostituierten - und das ehrt ihn -, doch rele-

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giert er damit die ganze Frau in den Bereich der stummen Natur. Ihr Zei¬ chen ist Sexualität ohne Sprache, ohne Bewußtsein, das Feld des „Geistes bleibt völlig dem männlichen Genie überlassen: „Ein Liebesverhältnis, das nicht ohne Folgen blieb. Er schenkte der Welt ein Werk“ (16). So kann es nicht verwundern, daß auch das Adjektiv „aristokratisch“ für Kraus eine sehr begrenzte Bedeutung hat, daß es zum Beispiel einen siche¬ ren Besitz bezeichnet, der von Generation zu Generation vererbt wird, aber nicht als Stil die Beziehung Mann-Frau betrifft. Die Welt der Aristokratie ist für ihn die Welt des Schlosses Janowitz, in dem die von ihm geliebte Baronin Sidonie Nädherny von Borutin lebt. Der Park von Janowitz wird von Kraus in seinen Briefen an Sidonie mit derselben Leidenschaft bedacht wie seine schöne Eigentümerin. Der Park ist eine Gegen¬ welt, in die der bürgerlich-jüdische Journalist sein Paradies auf Erden hinein¬ phantasieren kann, wo er sich regeneriert. Dieselbe Funktion kommt auch der Frau Baronin zu. Die Beziehung zwischen Kraus und Sidonie von Nä¬ dherny - „eine hinreißende Aristokratin, verwöhnt, frei und ruhelos, voll intellektueller Glut“16 - erweist sich bei der Lektüre des Briefwechsels als ein unendlicher Kampf gegen die Baronin, um sie als Muse eines genialen Man¬ nes in den Bereich der „reinen“, schweigenden Weiblichkeit zu bannen.1' Nike Wagner interpretiert in ihrem schönen Buch Geist und Geschlecht. Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne18 den Zauber, den die böhmi¬

sche Baronin auf Kraus ausübte, als Nostalgie für die Welt der Aristokratie des achtzehnten Jahrhunderts. Der richtige Platz für ihn „wäre in der Tat im vorbürgerlichen Zeitalter, in den kulturellen Salons des aristokratischen Frankreichs des 18. Jahrhunderts, eher gewesen als im Ringstraßen-Wien“.19 Ein 18. Jahrhundert ohne Galanterie? Mit Frauen, die zwar in der Erotik einen größeren Freiraum besäßen, aber sonst nichts? Frauen, die nur „Na¬ tur“ wären, ohne Gedanken, ohne Sprache, ohne Konversation? „Wenn eine Frau Gescheitheiten sagt, so sage sie sie mit verhülltem Haupt. Aber selbst dann ist das Schweigen eines schönen Antlitzes noch anregen¬ der“ (15). Madame du Deffand, die Fürstin von Choiseul, Julie de Lespinasse und Diderots Geliebte Sophie Volland hätten energisch protestiert.

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Die Sängerin

Hofmannsthal ist einer der wenigen Schriftsteller im Wien des Fin de siecle, der es wagt, den Frauen die Sprache zu lassen und so die tödlichstarren Oppositionen Ästhetik/Ethik, Körper/Geist, Sinnlichkeit/Treue zu unter¬ laufen. Die Sängerin Vittoria im Stück Der Abenteurer und die Sängerin (1898) ist unter seinen Frauengestalten vielleicht die komplexeste und mutigste. Vittoria überwindet die Opposition melancholischer Besitz/vergängliche Lust, die von den beiden Männern dargestellt wird: Vittorias Ehemann, der Patrizier Lorenzo Venier, und Weidenstamm-Casanova. Was sie von ihrem Mann unterscheidet, was er an ihr besonders liebt, ist ihre Fröhlichkeit. O hätte sie nur halb die Fröhlichkeit, die ihr im Auge quillt, mich lehren können . . . (GD I, 554)

Diese Fröhlichkeit zeichnet auch den Sohn Vittorias und Weidenstamms Cesarino aus, dessen Lachen schon die Mönche, die ihn erzogen, froh mach¬ te. Diese Fröhlichkeit erlaubt es Vittoria, ihre Fiktion, daß Cesarino ihr Bruder sei und Weidenstamm der Geliebte ihrer verstorbenen Mutter, aufrechtzuerhalten. Für sie ist nicht die moralische Kohärenz wichtig, son¬ dern das Resultat, das heißt ihr Glück und das Glück derer, die sie liebt. Ihrem ehemaligen Geliebten Weidenstamm, der sie heimlich besucht, nach¬ dem er sie im Theater erkannt hat, erklärt sie die Notwendigkeit zu lügen mit folgenden Worten: Allein muß nicht in dieser dunklen Welt sogar das Licht gewappnet gehen? Nun: wir wollen einen Harnisch von Musik anlegen und dann mutig alles tun, was uns gerecht und schön erscheint. Die Macht ist bei den Fröhlichen. Jetzt gute Nacht. (GD I, 549)

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Vittoria scheidet das Gerechte nicht vom Schönen, die Macht nicht von der Fröhlichkeit. Der Sängerin gelingt die Überwindung jener Dichotomien, die den Ästhetismus, auch und gerade in seiner Selbstkritik, definieren und eingrenzen. Vittoria gelingt diese Überwindung, weil für sie andere Werte wichtig sind. Begriffe wie das „Gerechte“, das „Schöne*, das „Wah¬ re“ bekommen in ihrem Mund eine vom „normalen“ Sprachgebrauch ganz verschiedene Bedeutung, und so verändern und verflüssigen sich auch die Beziehungen, die diese Begriffe untereinander eingehen. Das „Gerechte“ ist nur dann gerecht, wenn es glücklich macht, es ist nicht etwas schon Gegebenes, von einem Moralgesetz Vorgeschriebenes, und es gerät mit dem „Schönen“ nicht in Konflikt. Schönheit hat für Vittoria nichts mit der kalten, unmenschlichen Marmorschönheit des Ästhetismus zu tun, denn sie entspringt einer alles umfassenden Sensibilität, so wie Vittorias Kunst ihrer Leidenschaft entspringt. Ihr ist die Angst vor der Beziehung zu einem lebendigen Menschen und der daraus folgende Fetischismus mit den schönen Gegenständen völlig fremd. So ist auch Vittorias „Macht“ nicht die der jungen, melancholischen Ästheten Hofmannsthals. Sie bestimmt sich nicht als die gesellschaftlich-ökonomische Macht, die ein Herr an sei¬ nen Dienern ausübt und die, wenn der Herr sensibel ist, so selbstzerstöreri¬ sche Schuldgefühle auslöst. Ebenso verschwindet bei Vittoria die Opposition unfruchtbare Schönheit/ Mutterschaft, das Thema der Frau ohne Schatten (siehe Kap. 2). In jener Erzählung muß die Fee ihrem Gatten, dem Kaiser, Kinder schenken, sie muß bereit sein, sich dieser „erhabensten“ aller weiblichen Aufgaben zu opfern, denn auf dieser gründet der Staat mit seinem (tödlichen) Gesetz. Auch Vittoria ist eine Mutter, doch fehlen ihr die gesellschaftlich aner¬ kannten Attribute der Mutterschaft. Jene Macht ohne Freiheit, die Staat und Gesellschaft den Frauen als Müttern seit jeher zugestanden, kennt sie nicht. Denn alle glauben, Cesarino sei ihr Bruder. Ihr „unglückliches“ Schicksal (sie wird von Weidenstamm als junges Mädchen in schwangerem Zustand verlassen, ist gezwungen, ihre Mutterschaft zu verbergen, und ver¬ wandelt sich dann in die berühmte Sängerin und geachtete Ehefrau von Lorenzo Venier) bringt sie dazu, auf die affirmativen Seiten ihrer Mutter¬ rolle zu verzichten. Sie selbst hält sich für keine mustergültige Erzieherin ihres Sohnes, da sie ihn Weidenstamm mit folgenden Worten vorstellt: ... Es haben ihn fünf Städte und eine Schwester, die nichts kann als singen,

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so schlecht erzogen, daß er voll der Fehler der Jugend steckt, und leider voll des Zaubers, der für zu günstige Augen sie verhüllt. Je mehr ich von ihm rede, merk ich, kommt nicht er, nur meine Torheit an den Tag. (GD I, 509)

Und doch ist Cesarino „wohlgeraten“ - um einen Ausdruck Nietzsches zu verwenden

er ist ein junger, glänzender Casanova, aber im Unterschied zu

Weidenstamm verschleudert er seine Zeit und seine Erinnerungen nicht in der unermüdlichen Jagd nach neuen Abenteuern, denn er ist wie die Mutter Künstler und daher fähig, seine Phantasien in seinen Kompositionen zu verobjektivieren. Ohne zu einer bestimmten Moral erzogen worden zu sein, ohne je etwas „von dem Erz, das in dem Namen ,Vater* dröhnt und klingt“ (GD I, 587), erfahren zu haben, ist er paradoxerweise der ideale Sohn. In Hofmannsthals Werk, das die Beziehung Vater-Sohn sonst nur als eine quälende kennt, ist er der einzige gelungene Sohn: Cesarino, Sohn von Casanova-Weiden¬ stamm, der kein Vater sein will oder kann, und von einer Sängerin, die sich für unfähig hält, ein Kind zu erziehen, weil sie „nichts kann als singen“. Vittoria überwindet die Aporien des Ästhetismus und auch eine für das Drama des Fin de siede, für Ibsen, aber auch für viele Werke Schnitzlers fundamentale Spaltung, die zwischen Lüge und Wahrheit. Wenn „Wahr¬ heit“ keinen absoluten Wert mehr darstellt, wenn sie von der Zuneigung, die die Komplexität der Wirklichkeit zu sehen imstande ist, relativiert wird, dann löst sich die Lüge auf. Lorenzo, Vittorias Mann, führt den Diskurs der Wahrheit: Doch wenn in deinem Reden, deinem Schweigen so wie in einem Nest und einem Abgrund, wie Kröten, Lüge neben Lüge wohnt vom Anfang an, und immer - immer fort - wie’s möglich ist, entsetzlich möglich ist! was bleibt uns dann, Vittoria, daß wir beide fortleben können? sag, was bleibt Vittoria? (GD I, 560)

Er will wissen und besitzen. Obwohl er weiß, daß es gerade das Geheimnis ist, das ihn besonders an Vittoria fasziniert: Du warst die einzige Wirklichkeit in meinem Leben, die Veste, auf der ich meine Welt aufbaute - du beladen mit Geheimnissen, du das Geschöpf eines Lebens, von dem ich nichts wußte! (GD I, 559)

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Lorenzo leidet an den bekannnten Widersprüchen der Figur des jungen Melancholikers. Vittoria verteidigt gegen ihn ihre unveräußerliche Differenz. Ja, ich bin nicht dein Geschöpf, ich bin das Geschöpf des Lebens und beladen mit dem Abglanz überwundener Schmerzen. (GD I, 559)

Und sie will „ganz“ sein: LORENZO: Sag mir, was bin ich dir? VITTORIA: Du bist mein Mann. LORENZO: So bist du meine Frau, und Mann und Frau sagt man, sind eins. Mich dünkt, dies ist nicht so. VITTORIA: Du bist ein Ganzes, und auch ich bin ganz: und kann mich nur als Ganzes geben, nicht den Kranz auflösen, der mein Wesen ist. Was quälst du dich und mich mit solchen Worten? (GD I, 557)

Daß sie sich „ganz“ ihrem Mann gibt, bedeutet für Vittoria nicht, sich in ihm aufzulösen, ihn teilhaben zu lassen an allem, was sie als Person defi¬ niert. Vittoria ist nicht integrierbar in jene auf Platons Symposium zurück¬ gehende Phantasien von den zwei Hälften, „die armen Hälften, die sich zu einem Ganzen zusammenkleben müssen“, nennt sie Lou Andreas-Salome.1 Diese Phantasien begleiten dagegen die Suche nach der idealen Frau in Musils Der Mann ohne Eigenschaften, eine Suche der eigenen Selbstliebe im anderen, die nur bei der Schwester-Gattin Agathe ihre Ruhe findet, „weil keiner von ihnen sich selbst liebte, und sein früheres Leben, und weil sie für das, was ihnen im gewöhnlichen Sinn fehlte, ineinander Entschädigung suchten“.2 Vittoria widerspricht dieser kompensatorischen und eingrenzenden Be¬ ziehungslogik. Und da sie Lorenzo liebt, will sie für ihn weiterlügen. VITTORIA (in der Mitte allein, spricht sanft vor sich hin): Ich kann nicht sehn, wie sein Gesicht so blaß ist und so beladen mit verhaltnen Schmerzen. (indem sie weiterspricht, nimmt ihr Gesicht einen völlig veränderten Ausdruck von Aufmerksamkeit, beinahe von Strenge an) Um seinetwillen lüg ich bis ans Ende.

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Nun bin ich eine, die auf Dächern wandelt, wo kein Vernünftiger den Fuß hinsetzt: wer mich beim Namen anruft, bringt mich um. (GD I, 561)

Vittoria wird diese große Lüge, die ja ihr Schicksal, ihre Person schon von Anfang an bestimmte, mit großer Gewandtheit aufrechterhalten. Dazu braucht sie Aufmerksamkeit. Bei Hofmannsthal sind Liebe und Aufmerk¬ samkeit untrennbar miteinander verbunden: Andreas’ Aufgabe wäre es, „durch Liebe u. Aufmerksamkeit zu integrieren, was disintegriert ist“ (KA XXX, 190), im Buch der Freunde heißt es kurz und prägnant: „Aufmerksam¬ keit und Liebe bedingen einander wechselseitig“ (RA III, 249). Aber zu¬ gleich muß Vittoria auch dazu fähig sein, auf ihr Bewußtsein zeitweilig zu verzichten. Die so wohltätige Lüge wird nicht aufgedeckt, weil sich in Vittoria die Aufmerksamkeit gegenüber den Gefühlen anderer mit der selbstver¬ gessenen, nachtwandlerischen Sicherheit der Seiltänzer verbindet: „wer mich beim Namen anruft, bringt mich um“. Wir befinden uns hier in einer ganz anderen Welt als in den Dramen Ibsens (und zum Teil auch Schnitzlers), wo - wie etwa in Die Stützen der Gesellschaft - die Vergangenheit schicksalshaft in die Gegenwart einbricht

und diese durch das Aufdecken der Lüge, auf der ein in scheinbarer Si¬ cherheit verlaufendes Leben aufgebaut war, zerstört. Die Lüge kann dann höchstens, wie in Die Wildente, als „Lebenslüge“ für unvermeidbar erklärt werden: „Wenn Sie einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge nehmen, dann bringen Sie ihn gleichzeitig um sein Glück“, belehrt der Arzt Relling, ein Geistesbruder vieler Ärzte Schnitzlers, den starrköpfigen und naiven Idealisten Gregers Werle.3 In Der Abenteurer und die Sängerin bekommt das, was man gemeinhin un¬ ter Wahrheit versteht, eine neue Bedeutung. Die Lüge ist nicht mehr ihr starres und identifizierbares Gegenteil: Lüge ist nicht etwas, was der schwa¬ che Mensch nötig hat, um ein elendes Leben zu ertragen, sondern Zeichen einer vergangenen dramatischen Situation, die die Person gezeichnet hat und Teil ihrer selbst geworden ist. Diese Vergangenheit, die nach der Lüge verlangt, hat Vittoria nie besiegen können, denn Vittoria verfügt über ein unermeßliches Kräftereservoir: ihre Selbstachtung. Sie scheint eine von Nietzsche inspirierte Figur zu sein: „irgendeine Grundgewißheit, welche die vornehme Seele über sich selbst hat, etwas, das sich nicht suchen, nicht finden und vielleicht auch nicht verlieren läßt. - Die vornehme Seele hat Ehr¬ furcht vor sich.“* Doch sie könnte auch zu jener „Freimaurerloge leidenschaft-

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licher Seelen“ Stendhals gehören, denen „es am Ende zukommt, sich in einem vollen Besitz der Dinge wiederzufinden. Ihnen allein ist es gegeben zu genießen und zu erkennen, zu träumen ohne zu verfälschen, die Wirk¬ lichkeit dank der Phantasie wiederzufinden. Stendhals wunderbare For¬ mel dazu: ,über den Himmel die Welt erreichen.1“5 Dank dieser Beziehung intelligenter Sympathie zu Dingen und Menschen wird Vittoria nicht wie die verängstigten jungen Erben von der Melancho¬ lie überwältigt, sie ist aber auch keine Abenteurerin. Sie erinnert sich, im Unterschied zu Weidenstamm. Und sie braucht dazu keine moralische Ent¬ scheidung im Unterschied zum Ästheten Claudio in Der Tor und der Tod, der die Treue lernen will. Wie der verhinderte Künstler Kari Bühl, der sich vor Antoinette fürchtet, „weil er weiß, daß für ihn nie etwas erledigt ist“ (D IV, 447), so gesteht auch Vittoria sich ein, unfähig zu sein, eine Beziehung abzubrechen. Eine Kunst, in der Weidenstamm dagegen Meister ist. . . . Wie du sie verstehst, die Kunst, die ich im Leben nie erlernt, die Kunst, zu enden! Wer das kann, kann alles. Ich fing was an, da war ich sechzehn Jahr, und heute hats kein Ende - (GD I, 586)

Doch diese Treue, die Vittoria von Weidenstamm unterscheidet, wird von Hofmannsthal nicht als eine passiv erlittene Fixierung dargestellt. Wäh¬ rend der unentschlossene Kari Bühl sich dazu zwingt, mit der Vergangen¬ heit zu brechen, um ein verantwortliches Subjekt zu werden, verwandelt Vittoria ihre Neigung, sich immer wieder faszinieren zu lassen, in Kunst. Sie stellt die einzige Figur glücklicher Kreativität im Werk Hofmannsthals dar (wenn wir vom Tizian im Tod des Tizian absehen, der aber in einem düsteren und verpesteten Venedig als ein sterbender Meister ohne wirkli¬ che Schüler dargestellt wird), so als wäre es für Hofmannsthal leichter, sich die künstlerische Arbeit einer Frau als die eines Mannes vorzustellen. Vielleicht weil es einfacher ist, Kunst mit Erotik in einer weiblichen Figur zu verbinden, insofern eine Frau eher davon absehen kann, sich mit den „konstruktiven“ Werten zu messen? Oder weil sich so der Künstler Hof¬ mannsthal besser verstecken kann? In ihrem großen Dialog mit Weidenstamm spricht Vittoria von ihrem Gesang:

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Hast Du mich nicht singen gehört? Sie sagen, daß es finstrer und lichter wird in einer großen Kirche von meinem Singen. Sie sagen, meine Stimme ist ein Vogel, der sitzt auf einem Zweig der Himmelsglorie. Sie sagen, wenn ich singe, mischen sich zwei Bäche freudig, der mit goldnem Wasser, der des Vergessens, und der silberne der seligen Erinnerung. (GD I, 543 f.)

Sie selbst kann über ihre Kunst nichts sagen, sie wiederholt nur, was ihr Publikum sagt („sie sagen“). Vittoria, die Künstlerin, deren „Ich“ sich in ihrem Singen auflöst, kann nur von „außen“ gesehen werden, von den an¬ deren. Die zwei Bäche, der des Vergessens und der der Erinnerung, die sich freudig mischen, zeigen, daß sich hier Gegensätze auflösen. Die fixen Ideen der Monomanen Balzacs, des kosmopolitischen Geschäftsmannes, die Treue des Schwierigen verbinden sich in Vittorias Gesang mit der Augen¬ blickseuphorie des Abenteurers. Wobei Vittoria als Person nichts gewinnt, sie ist nur Mittel, sie ist leer, Produkt ihrer Liebe zu ihm, dem Abenteurer. In meiner Stimme schwebt die höchste Wonne auf goldnen Gipfeln, und der goldne Abgrund der tiefsten Schmerzen schwebt in meiner Stimme. Dies ist mein Alles, ich bin ausgehöhlt wie der gewölbte Leib von einer Laute, das Nichts, das eine Welt von Träumen herbergt: und alles ist von dir, dein Ding, dein Abglanz. Denn wie ein Element sein Tier erschafft, so wie das Meer die Muschel, wie die Luft den Schmetterling, schuf deine Liebe dies. (GD 1, 544)

Die Leidenschaft für Weidenstamm macht es Vittoria möglich, sich selbst zu vergessen, einen Raum zu schaffen, wo das Gold des „Vergessens

der

eigenen Person, die nach Mrs. Ramsays Intuition nur Sorge, Hast und Unruhe mit sich bringt, sich mit dem Silber der „Erinnerung“ mischt, aber nicht mit irgendeiner, etwa gekränkten Erinnerung, sondern einer „seli¬ gen“, in der auch die „tiefsten Schmerzen“ Glück bringen. Dieses Bild der Sängerin und ihrer Kunst unterscheidet sich sehr von dem der literarischen Tradition. Man denke zum Beispiel an E.T.A. Hoffmann, dessen Sängerinnen entweder reine und naive Jungfrauen mit

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sublimen Stimmen sind wie etwa Julia in den Lebens-Ansichten des Katers Murr oder teuflische Gesangsvirtuosinnen wie Giulietta in Die Abenteuer der Sylvester-Nacht. Beide verwenden ihre Stimme als Mittel: Julia, weil sie noch

keine Erfahrungen hat, denen ihre Stimme Ausdruck verleihen könnte, Giulietta, weil sie den Gesang rein instrumenteil als Verführungsmittel auffaßt. Ausnahmen sind Antonia in Rat Krespel und Donna Anna in Don Juan, doch ihr Gesang steht im Zeichen des Todes.5 Vittoria dagegen er¬

zählt in ihrem Gesang ihr Leben. Sie selbst ist leer wie eine Laute, aber ganz, und so kann auch ihr Gesang, der ihr Geheimnis hütet, etwas Einheit¬

liches sein. So einheitlich-ganz wie das Geheimnis der großen Liebenden Rilkes: In ihnen ist das Geheimnis heil geworden, sie schreien es im Ganzen aus wie Nach¬ tigallen, es hat keine Teile. Sie klagen um einen; aber die ganze Natur stimmt in sie ein: es ist die Klage um einen Ewigen. Sie stürzen sich dem Verlorenen nach, aber schon mit den ersten Schritten überholen sie ihn, und vor ihnen ist nur noch Gott.'

Wie Eloise, Gaspara Stampa, Sappho, Bettina Brentano „überholt“ auch Hofmannsthals Sängerin ihr Liebesobjekt. Leidenschaft schließt die Kennt¬ nis des anderen aus. Vittoria weiß es. Sie weiß auch, daß Lorenzo, ganz gegen seine entschiedenen Aussagen, die Wahrheit nicht brauchen kann. Dies ist ein mütterliches Wissen. Sie ist nicht nur Cesarinos, sondern auch Lorenzos Mutter. Diese Mütterlichkeit ist ein wesentlicher Zug Vittorias, der nicht nur für die Beziehung zu ihrem Sohn und zu ihrem Mann von Bedeutung ist, sondern auch für ihre Kunst. In Vittorias Reden verschlingen sich die „Kunst“ und das „Kind“. Der Vater, der seinen Sohn nicht „erkennt“, ist für sie wie der verblödete Kom¬ ponist Passionei, der seine eigene Musik nicht mehr wiedererkennt: „und der Musik erschuf - dann kommt ein Tag, / wo er sie nicht erkennt, und sich von ihr / wegwendet: also geschah es hier“ (GD I, 588). Weidenstamm fühlt sich seinem Werk, dem, was er ermöglicht hat - dem Gesang, der Sän¬ gerin, dem Sohn -, nicht verbunden. „Bin ich nicht die Musik, die er er¬ schuf, / ich und mein Kind?“ In Vittoria verbindet sich eine ungewöhnliche, a-soziale Mutterschaft mit der Leidenschaft der großen unglücklich Liebenden Rilkes, das Wissen der Mutterschaft mit den Phantasmen der Leidenschaft. Denn ohne Phantasma gäbe es nicht jenen Funken, der singen macht, und ohne Wissen, ohne Aufmerksamkeit für die Dinge, für die Menschen, gäbe es für Vittoria kei¬ ne Wirklichkeit. Und die Kunst selbst wäre aufgelöst, ein abstrakter, reiner

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Wahn. So verdankt sich Vittorias Leben einem gefährlich instabilen Gleich¬ gewicht zwischen der Sphäre der Totalität, der Kunst als einer von der Lei¬ denschaft geschaffenen „Zauberinsel“, und der Sphäre des Kontingenz, der alltäglichen Welt der Zuneigung und des Wissens, eine Welt, die nie etwas Vollständiges, nie eine Einheit sein kann. Cesarino, der Sohn, der Kompo¬ nist, ist die Brücke zwischen diesen zwei Welten. Wenn das Wissen, das sie von Weidenstamm gewinnt, ihn zu wirklich werden läßt, rettet Vittoria ihre Kunst und die ihres Sohnes, indem sie wissentlich die Leidenschaft von ihrem Objekt spaltet: ... ist Feuer nicht in uns was Feuer einst in seiner Seele war? Was gilt der Scheit, daran es sich entzündet: die Flamme ist dem höchsten Gott verbündet! (GD I, 588)

Da Vittoria nun versteht, daß Weidenstamm nur die Gelegenheit für das Entstehen der Musik in ihr, nicht die „Flamme“, sondern nur der „Scheit“ war, kann sie nun zum Schluß das große Lied der Ariadne singen, das sie „seit Jahren hat nicht singen wolln“, nicht die Klage um Theseus, sondern „die große Arie, wie sie auf dem Wagen / des Bacchus steht“ (GD I, 588). Nun erst kann sie ihre Lösung von Weidenstamm-Theseus vollziehen, weil sie ihn nicht mehr braucht, weil sie ihn mit dem „höchsten Gott“ er¬ setzt hat. „. . . die Flamme ist dem höchsten Gott verbündet“, dieser letzte Satz Vittorias - von ihr hört man dann nur noch die Stimme, die die große Arie singt -, der von der Kunst als einer Erotik ohne Gegenstand spricht, wirft aber auch ein neues Licht auf ihre Beziehung zu Weidenstamm, wie sie sich in den vorhergehenden gemeinsamen Gesprächen entwickelt. Vittoria kommt heimlich zu ihm (am Ende des 1. Aktes), sie liebt ihn noch, hat aber Angst vor der Wiederholung: . . , Denk an das Fürchterliche, das kam, als wir mit frevelhaftem Finger aufjagen wollten die verglühte Flamme. Denk an die Qual! Ich mein, ich muß vergehn vor Scham, wenn ich dran denke. Auf dem Rand des Bettes saßen wir wie bleiche Mörder! Denkst dus? . . . (GD I, 545 f.)

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Aber am folgenden Tag ist sie bereit, ihm mit ihrem Sohn und mit allem, was sie besitzt, zu folgen. Doch Weidenstamm ist zerstreut, schon mit einer neuen Frau beschäftigt. So zeigt sie ihm, was er verloren hat, sagt ihm, daß am Vorabend die kleine Vittoria von damals zu ihm gekommen war, die Mann und Sohn vollkommen vergessen hatte. Antonio, weißt du, wie ich gestern nacht zu dir kam? Nimm dirs als Erinnerung mit: ich kam, so sehr die Sklavin eines Zaubers, der von dir ausging - und doch nicht von dir -, daß ich kaum mehr die Mutter deines Kindes, kaum mehr ich selber war, die Sängerin, vielmehr dein Ding, dein törichtes Geschöpf, die kleine längst begrabene Vittoria. Ich bin sehr froh, daß du es nicht gespürt und mich mir selbst zurückgegeben hast. Ich könnt auch dafür danken, daß du schuld warst, daß ichs noch einmal spürte BARON (nähertretend): O Vittoria! VITTORIA (indem sie ihn mit einer leisen Gebärde abwehrt, leise): Vorüber. (GD I, 586 f.)

Es ist schon eine spöttische, etwas perfide Rache, dem Abenteurer, der dar¬ auf spezialisiert ist, immer die Gelegenheit zu ergreifen, klarzumachen, daß er zu spät gekommen ist. Vittoria inszeniert eine genau auf ihn zuge¬ schnittene Verführungssituation, und als er endlich versteht: „Vorüber“. Sie muß ihm ihre ganze Schwäche erzählen, um ihre Macht zu spüren, um ihn „schwach“ zu machen, um sich so ganz von ihm zu befreien und die große, lebensbejahende Arie der Arianna singen zu können. Vittoria ähnelt dem von Rilke gefeierten Frauentypus: Sie ist eine große Liebende und eine große Künstlerin. Doch um dies bleiben zu können, muß auch sie sich, wie die Marschallin, der vielfältigen weiblichen Erfah¬ rung anvertrauen, dem galanten Spiel mit den Verwechslungen, den klei¬ nen Rachezügen, dem in Ironie sich Luft machenden Ärger - sonst würde sie zu einer „schönen“, masochistischen „Seele“. Nur indem sie sehr reali¬ stisch wird, kann ihr Gesang Kunst bleiben. Während Weidenstamm in seiner erinnerungslosen Prä-Existenz gefan¬ gen bleibt, erweitert Vittoria, der Mystik zugeneigt wie Lord Chandos, ihr Ich, bis es sich in den Dingen auföst. Doch im Unterschied zum englischen

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Lord, der die Sensibilität des Künstlers besitzt, ohne einer zu sein, macht gerade dieses Sich-Auflösen aus Vittoria eine Künstlerin, eine leere, aber ganze „Laute“ für ihren Gesang. Die Schuld, das Opfer, die Scham, diese Grundlagen der Sprach- und Kunsttheorie Hofmannsthals, sind ihrer Kunst fremd. Denn die Erfahrung der Galanterie weiß sie vor dem Masochismus zu bewahren, und die zärtliche Aufmerksamkeit für die Ihrigen läßt sie nicht ihr „Geheimnis“ vergessen, ihr „Ganzsein“. In ihrer Leidenschaft, die zu Gesang wird, scheint Hofmannsthal eine paradoxe, ausschließlich weib¬ liche Möglichkeit darstellen zu wollen, Erinnerung und Erotik, Mystik und Galanterie zu vereinigen.

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Anmerkungen

Einleitung

1 Siehe Manfred PAPE: „Die strenge Forderung des Liebenden . . Stefan Geor¬ ges Nachwirkung in Hofmannsthals „Andreas“. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 264, 11. 11. 1977, S. 30.

Der Abenteurer und der melancholische Ästhet 1 Dieser Meinung war auch Ewald GRETHER (Die Abenteurergestalt bei Hugo von Hofmannsthal. In: Euphorion48, 1954, S. 171-209), dem William H. REY (Dichter und Abenteurer bei Hugo von Hofmannsthal. In: Euphorion 49, 1955, S. 56-69) energisch widersprach: „Das Erlebnis des Abenteuerlichen wird in Hofmannsthals Entwicklung fruchtbar als ein Durchgangsstadium auf seinem Weg in die Wirklichkeit, die sich für ihn jedoch weder in der bunten Flüchtig¬ keit des Lebens noch in dem abenteuerlichen Verwandlungsspiel des Geistes erschöpft. Mit der Erfahrung und Bejahung des Ethischen gewinnt der Dich¬ ter eine Position, die dem Abenteurer des Lebens oder des Geistes grundsätz¬ lich nicht zugänglich ist“ (S. 61). Wenn Grether die „konstruktiven“ Seiten un¬ seres Autors unberücksichtigt läßt und dagegen den a-moralischen Charakter des Künstler-Abenteurers unterstreicht, so haben dagegen Rey und dann vor allem Richard Alewyn, dessen Untersuchungen wir die Hofmannsthal-Renais¬ sance der fünfziger Jahre verdanken, meines Erachtens die von ethischem Vo¬ luntarismus durchdrungenen autobiographischen Äußerungen über- und die das ganze Werk durchziehenden Widersprüche und Persönlichkeitsspaltungen unterbewertet. Diese Sichtweise hat einen großen Einfluß auf die folgende Hofmannsthalforschung ausgeübt. Richard ALEWYN: Über Hugo von Hof¬ mannsthal. Göttingen 1958. 2 Der Abenteurer ist ein Außenseiter wie der englische Dandy, mit dem er eini¬ ge Eigenschaften teilt: die Fähigkeit, den Moment zu leben, undefinierbar und unvorhersehbar zu sein, was ihn von dem obsessiv imitierenden Snob un¬ terscheidet. Zur Figur des Dandy siehe Giovanna FRANCI: II sistema del Dan¬ dy. Wilde - Beardsley - Beerbohm. Arte e Artificio nell’Inghilterra fin-de-

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siede. Bologna 1977. Snobistische Züge zeigen dagegen bei Hofmannsthal viele „junge Herren“ in Veniers Nachfolge, auch wenn der Snobismus nicht ihr her¬ vorragendes Charaktermerkmal ist. Zur Analyse dieser Figuren und ihrer Äng¬ ste siehe vor allem Gotthart WUNBERG: Der frühe Hofmannsthal. Schizo¬ phrenie als dichterische Struktur. Stuttgart 1965, und Wolfram MAUSER: Hugo von Hofmannsthal. Konfliktbewältigung und Werkstruktur. Eine psychosoziologische Interpretation. München 1977. 3 Brief vom 5. Mai 1903 an Eberhard von Bodenhausen-Degener. Flugo von HOFMANNSTHAL: Briefe 1900-1909. Wien 1937, S. 108. 4 Zu dieser für die jungen Intellektuellen dieser Generation charakteristischen Konstellation siehe Wolf WUCHERPFENNIG: The „Young Viennese“ and their Fathers. Decadence and the Generation Conflict around 1890. In: Journal of Contemporary History 17, 1982, S. 21-49. 5 Carlo FERRUCCI: La sublimazione mortale. In: Nuova corrente 81, 1980, S. 6990 und 82-83, S. 23-54. 6 Hans MAYER: Hegel, „Herr und Knecht“ e la letteratura moderna. In: De Homine 38-40, 1971, S. 285-314 (hier S. 300). 7 Marlies JANZ: Marmorbilder. Weiblichkeit und Tod bei Clemens Brentano und Hugo von Hofmannsthal. Königstein/Ts. 1986. 8 JANZ (Anm. 7), S. 132. 9 Von der Bemerkung Schnitzlers ausgehend, daß diese Erzählung durch ihre Verwandlung in eine Aufzeichnung eines Alptraums an Stringenz gewonnen hätte, zeigt Dorrit Cohn, daß Hofmannsthal intuitiv die psychoanalytische Theo¬ rie der Traumdynamik vorwegnimmt. Dorrit COHN: „Als Traum erzählt“: The Case for a Freudian Reading of Hofmannsthal’s „Märchen der 672. Nacht“. In: Deutsche Vierteljahresschrift 54, 1980, S. 284-305. 10 JANZ (Anm. 7), S. 139. 11 Walter BENJAMIN: Das Passagen-Werk, hg. von Rolf TIEDEMANN. Frank¬ furt/M. 1983, Bd. 2, S. 679. 12 Ebenda. 13 Für Hermann Broch ist die Äthetizismuskritik von Der Tor und der Tod eine Kri¬ tik am Wiener Bürgertum. Dem Geschmack des Wien der „fröhlichen Apoka¬ lypse“ werde der Prozeß gemacht. So kann Broch dann im späteren Werk Hof¬ mannsthals nur eine Annäherung an eben diesen Geschmack des Wiener Bür¬ gertums sehen. Hermann BROCH: Hofmannsthal und seine Zeit. In: Gesam¬ melte Werke. Dichten und Erkennen. Essays, Bd. I, hg. von Hannah ARENDT. Zürich 1955, S. 43-181. Zu Brochs Position siehe Giulio SCHIAVONI: Broch. Firenze 1976. 14 Ich pflichte in diesem Punkt Hinrich C. SEEBA bei, der in seiner von Adornos ästhetischer Theorie beeinflußten Studie (Kritik des ästhetischen Menschen. Hermeneutik und Moral in Hofmannsthals „Der Tor und der Tod“. Bad Homburg-Berlin-Ztirich 1970) die Schwäche dieses Werkes in seiner moralistischen Kritik des Ästhetizismus ausmacht.

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Der Schwierige 1 D IV, 331-450. Es werden Akt und Szene angegeben. 2 Georg SIMMEL: Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlech¬ ter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais (1923). Berlin 1983, S. 19. 3 Marlies JANZ: Marmorbilder. Weiblichkeit und Tod bei Clemens Brentano und Hugo von Hofmannsthal. Königstein/Ts. 1986, S. 182. 4 Ich habe nur eine erfreuliche Ausnahme gefunden: Frederick Alfred LUBICH: Hugo von Hofmannsthals „Der Schwierige“: Hans Karl Bühl und Antoinette Hechingen unterm Aspekt der Sprache und Moral. In: Monatshefte für deut¬ schen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 77, 1985, S. 47-59. 5 Siehe dazu Martin STERN: Hofmannsthals verbergendes Enthüllen. In: Hugo von Hofmannsthal. Wege der Forschung, hg. von Sibylle BAUER. Darmstadt 1968, S. 77-86, S. 81. 6 Diesen Gegensatz finden wir schon in der ritterlichen Welt des 12. Jahrhun¬ derts in den Romanen Chretien de Troyes: „Im adelig-ritterlichen Universalismus scheinen zwei gegensätzliche Elemente zu koexistieren: auf der einen Sei¬ te die normativen Aspekte, die Wertskalen, der Geistesadel - Elemente, die pour cause der bürgerlichen Kultur zugerechnet werden können -, auf der an¬ deren Seite ein der Moral entzogenes weltliches Verhalten, das sich als Ge¬ schmack, öffentliche Darstellung der Person, aristokratischer Lebensstil be¬ greift.“ Mario MANCINI, Einleitung zu Erich KÖHLER: L’avventura cavalleresca. Bologna 1985, S. XXXIII. 7 „Vielleicht zelebrieren wir einen Neubeginn, auf den nichts folgt?“, fragt sich zu Recht Richard Exner in bezug auf die melancholische Abschiedsstimmung, die so oft die Verlobungen in Hofmannsthals Werk begleitet. Richard EXNER: Arabella: verkauft, verlobt, verwandelt? In: Hofmannsthal-Forschungen 8, 1985, S. 55-80, S. 59 f.

Der verrückte Künstler, der Politiker, der Geschäftsmann 1

Jean-Pierre RICHARD: Connaissance et tendresse chez Stendhal. In: J.-P. R.,

Litterature et Sensation. Paris 1954, S. 15-116, S. 36 1. 2 Die „geistige Heiterkeit“ und das „tiefe Behagen“ trotz eines Weltbildes, das „ebenso finster ist als das Shakespeares, und dabei um so viel wuchtender, trüber, schwerer durch seine eigene Masse“ werden von Hofmannsthal erst in seinem Aufsatz des Jahres 1908 unterstrichen (RA I, 386 u. 390). In den Jah¬ ren 1902-1905 erscheint Balzac fetischistischer und pathologischer. Zum Bal¬ zac des Jahres 1908 siehe Ernst Robert CURTIUS: Balzac. Bern 1923, der mehr die Atmosphäre der Comedie humaine als die einzelnen für das Gespräch so zen¬ tralen Charaktere hervorhebt. 2. Auflage 1951, S. 411-413. 3 Siehe Heinz POLITZER: Hugo von Hofmannsthals „Elektra“. Geburt der Tra¬ gödie aus dem Geiste der Psychopathologie. In: H. P.: Hatte Ödipus einen

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Ödipuskomplex? Versuch zum Thema Psychoanalyse und Literatur. München 1974, S. 79-105. Politzer findet in der Elektra Symptome des hysterischen An¬ falls, wie er von Charcot und Breuer-Freud beschrieben wurde. Bernd Lrban hat dagegen vor allem einen Unterschied zwischen Elektra und einer „wirkli¬ chen“ Hysterikern nachgewiesen, die Fähigkeit Elektras, sich zu erinnern. Bernd URBAN: Hofmannsthal, Freud und die Psychoanalyse. Quellenkundliche Un¬ tersuchungen. Frankfurt/M.-Bern-Las Vegas 1978, S. 37. Michael Worbs fin¬ det wiederum eine ganze Reihe von Übereinstimmungen zwischen Elektra und Breuers Patientin Berta Pappenheim (Anna O.), deren 1895 in den Studien über Hysterie von Breuer-Freud veröffentlichte Falldarstellung in Hofmannsthals Buchexemplar die meisten Anmerkungen aufweist. Michael WORBS: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. Frank¬ furt/M. 1983, S. 280-295. 4 Zur poetisch-formalen Funktion der Faszination, die Selbstzerstörung im Kleistschen Universum ausiibt, siehe Karl Heinz BOHRER: Augenblicksemphase und Selbstmord. Zum Plötzlichkeitsmotiv Heinrich von Kleists. In: K. H. B.: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt/M. 1981, S. 161-179. Marie Luise WANDRUSZKA: II terrore della distrazione. Sugli aneddoti di Kleist. In: M. L. W., La casa del consigliere Krespel. Figure di identitä nella letteratura tedesca. Bologna 1985, S. 31-45. 5 Peter BROOKS: The Melodramatic Imagination. New Haven-London 1976. 6 Melodramatische Züge, die in ihrer Häufung komische Effekte zeitigen kön¬ nen. Michael Möhring weist dies an den Kleistschen Erzählungen nach, in denen kontinuierlich Ausdrucksmittel der Unterhaltungsliteratur umfunktio¬ niert werden. Michael MÖHRING: Witz und Ironie in der Prosa Heinrich von Kleists. München 1972. Siehe auch Cesare CASES: La fortuna critica di Kleist. In: Quaderni Piacentini 3, 1981, S. 79-91. 7 BROOKS (Anm. 5), S. 263 in der italienischen Ausgabe: L’immaginazione melodrammatica. Parma 1985. 8 Zum komplexen Problem der Tat im Werk Hofmannsthals siehe Wolfgang NEHRING: Die Tat bei Hofmannsthal. Eine Untersuchung zu Hofmannsthals großen Dramen. Stuttgart 1966. 9 Brief Georges an Hofmannsthal aus dem Jahr 1902. Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal. München und Düsseldorf 1953, S. 150. Zu der komplexen Beziehung zwischen diesen beiden Autoren, die zwei einander ent¬ gegengesetzte Formen des intellektuellen Dichters im Fin de siede darstellen, siehe die trotz ihrer manifesten Parteinahme für George faszinierende Analy¬ se ADORNOs: George und Hofmannsthal. Zum Briefwechsel. In: T. W. A.: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. München 1963, S. 190-231. 10 Man ist versucht, Stefan George Recht zu geben, der im Dezember 1904, in einem Brief an Hofmannsthal, die Handlung der Dramen Shakespeares, die in dessen „leidenschaftlicher seele“ entstehe, von der in den Dramen seiner modernen Nachahmer unterscheidet, die sich nur aus „gedanklichem: aus abwickelungen bei diesen oder jenen Voraussetzungen“ bilde. Schärfer noch kriti¬ siert George die beiden Hauptfiguren der Hofmannsthalschen Tragödie: „Ihre

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beiden hauptgestalten können mich nicht überzeugen. Jaffier der am meisten zu reden hat haben Sie nur mit unleidlichen zügen ausgestattet, nirgends thut und sagt er andres als unleidliches, liebenswürdiges deuten Sie nur hie und da an. sogar unterstrichen aber man sieht nicht genug davon. So wird auch die freundschaft und handlungsweise Pierre’s unglaubwürdig.“ (Briefwechsel, Anm. 9, S. 224). George entziffert wohl die Funktion der beiden Charaktere: Indem Hofmannsthal Jaffier unsympathisch werden läßt und ihm die ganze Schuld an dem politischen Debakel zuschiebt, entschuldigt sich sein Autor bei George/Pierre für seinen Rückzug, für sein oftmaliges Zaudern bei Georges Allianz- und Freundschaftsangeboten. Doch indem er sich selbst masochistisch abwertet, wertet er auch seinen Freund ab. 11 Venice Preserved, V. Akt, letzte Szene. In: Roden NOEL (Hg.): Thomas Otway. London-New York 1893, S. 383 f. 12 Roland BARTHES: Mythen des Alltags. Deutsch von Helmut SCHEFFEL. Frankfurt/M. 1964, S. 60. 13 Hans Peter DUERR: Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivili¬ sation. Frankfurt/M. 1978, S. 160. 14 Zum kulturgeschichtlichen Hintergrund dieses Ausspruchs Addisons und zu seiner Funktion in Hofmannsthals Werken siehe Brian COGHLAN: „The whole man must move at once“: Das Persönlichkeitsbild des Menschen bei Hofmannsthal. In: Hofmannsthal-Forschungen 8, 1985, S. 29-47. 15 Roland BARTHES: Roland Barthes par Roland Barthes. Paris 1975, S. 146. 16 Vinzenz statt Vincent, ein gewollter Fehler im Erstdruck der Briefe, der dann vom Herausgeber der Werke Hofmannsthals korrigiert wurde. Otto Karl WERCKMEISTER (Hofmannsthal über van Gogh. In: O. K. W.: Ideologie und Kunst bei Marx und andere Essays. Frankfurt/M. 1974, S. 36-63, hier S. 38) weist noch andere Anzeichen der „Ignoranz“ des Geschäftsmannes nach.

Der elisabethanische Lord und der Dichter 1 Interessante Analysen dieses für das Verständnis von Plofmannsthals Werk so zentralen Textes bieten Claudio MAGRIS: La ruggine dei segni. Hofmanns¬ thal e la „Lettera di Lord Chandos“. In: C. M.: L’anello di Clarisse. Torino 1986, S. 32-62; Franco RELLA: Weininger nella cultura viennese del primo novecento. Wittgenstein, Hofmannsthal, Musil. In: F. R.. II silenzio e le parole. II pensiero nel tempo della crisi. Milano 1981, S. 11-66; Judith M. BRETT: Seif and Other in the Child’s Experience of Language: Hofmannsthal s „Let¬ ter of Lord Chandos“. In: International Review of Psycho-Analysis 8, 1981, S. 191-201. 2 Mario MANCINI: La gaia scienza: da Stendhal a Nietzsche. In: M. M.: La gaia scienza dei trovatori. Parma 1984, S. 77-136, hier S. 82. Siehe auch Adone BRANDALISE und Mario MANCINI: Corpo e rappresentazione nell’archetipo della corte. In: II Centauro, Nr. 15, 1985, S. 71-94.

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3 Hofmannsthal selbst wird aber ein Buch dieser Art schreiben und es im Jahr 1922 veröffentlichen; ein weiteres Argument gegen die Auffassung, die in sei¬ nem Werk eine „Entwicklung“ sehen will. Dazu Ferruccio Masini: „Man könn¬ te meinen, daß das von Lord Chandos gewünschte ,orphische‘ Buch sich im Grunde in der Dimension des so eigentümlich ausgewogenen Buchs der Freun¬ de verwirklicht, in dem Selbstanalyse sich in Dialog verwandelt, das instinktive Sicheinfühlen in andere Existenzen in Kommunikation, Geselligkeit, Kultur und geistige Vermittlung.“ Ferruccio MASINI: La „trionfale tristezza“ di Hugo von Flofmannsthal. In: F. M.: Gli schiavi di Efesto. L’avventura degli scrittori tedeschi del novecento. Roma 1981, S. 153-157, hier S. 156. 4 Hugo von FIOFMANNSTHAL: Briefe 1900-1901. Wien 1937, S. 253. 5 Brief an Dora von Bodenhausen vom 27. 10. 1911. Hugo von HOFMANNS¬ THAL - Eberhard von BODENHAUSEN. Briefe der Freundschaft. Berlin 1953, S. 128. 6 Spannungen, die auch aus der Rolle zu erklären sind, die die männliche Ho¬ mosexualität in der Phantasie (und nicht nur in der „Realität“) der europäi¬ schen Intelligenz des Fin de siede spielte. (Siehe Jens Malte FISCHER: Fin de siede. Kommentar zu einer Epoche. München 1978, S. 55 ff.) Der Eindruck dieser Bilder der Verführung und der Angst auf Hofmannsthal ist nicht nur im Briefwechsel mit George offensichtlich, sondern auch in anderen Schrif¬ ten, zum Beispiel in der Rezension der deutschen Ausgabe des De Profundis von Oscar Wilde (Sebastian Melmoth, 1905), die mit diesem Zitat endet: „Wer die Gewalt des Reigens kennt, fürchtet nicht den Tod. Denn er weiß, daß Liebe tötet.“ (RA I, 344). 7 Theodor W. ADORNO: George und Hofmannsthal. Zum Briefwechsel. In: Th. W. A.: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. München 1963, S. 190— 231, hier S. 227. 8 So wie sich das Symbol im Bereich der Verantwortung, der Gerechtigkeit, aus¬ bildet, so entsteht auch der Tanz, vor allem jener letzte, sprachlose und ent¬ setzlich freudige Tanz Elektras, aus dem vollbrachten Opfer. Ferruccio MASINI: La danza come giustizia. In: F. M.: La via eccentrica. Casale Monferrato 1986, S. 81-93, hier S. 89. 9 Marlies JANZ: Marmorbilder. Weiblichkeit und Tod bei Clemens Brentano und Hugo von Hofmannsthal. Königstein/Ts. 1986, S. 166. Zu Dämmerung und nächtliches Gewitter siehe auch Helen FRINK: Hugo von Hofmannsthal’s „Kna¬ bengeschichten“. In: Modern Austrian Literature 17, 1984, S. 37-47. 10 Vielleicht hat es nicht viel Sinn, Hofmannsthal vorzuwerfen, nicht Kafka ge¬ worden zu sein, was Walter Benjamin tut, der überhaupt von seinem Werk nur den Chandosbrief und das „Trauerspiel“ Der Turm gelten läßt. Siehe vor allem den Brief Benjamins an Adorno vom 7. 5. 1940, in: Walter BENJAMIN: Brie¬ fe, hg. von Gershom SCHOLEM und Theodor W. ADORNO. Frankfurt/M. 1978, 2. Bd. S. 852. 11 Heinz Kohut bestimmt die Grundhaltung von Selige Sehnsucht als positiven, kosmischen Narzißmus. Heinz KOHUT: The Search for the Seif. New York 1978 (italienische Ausgabe S. 105).

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12 In den frühen Essays des jungen Hof mannsthal läßt sich aber auch eine ande¬ re, „leichtere“, Poetik nachweisen. In Philosophie des Metaphorischen (1894) wird wie im Gespräch eine Diskussion zwischen Freunden über Poesie vorgestellt, doch statt von Symbolen spricht man von Metaphern. Die Metapher besitzt zwar dieselbe unheimliche Macht, ihren Urheber zu beherrschen, wie das Sym¬ bol des Gesprächs, doch ist ihr der Opfermythos mit seinem blutrünstigen Va¬ ter-Gott fremd. Statt dessen erscheinen großzügige Gottheiten, die „in den Häusern der Sterblichen funkelnde Geschenke als Pfänder ihrer Gegenwart hinterlassen“ (RA I, 192). Siehe dazu das Nachwort von Fernanda Rosso-Chioso zu ihrer Übersetzung einiger früher Essays Hofmannsthals: Fernanda ROSSOCHIOSO (Hg.): Filosofia del metaforico. Siena 1988, S. 51-75. 13 Inwiefern Hofmannsthals Bild von George und seiner Dichtung realistisch war oder nur Projektion, das ist eine andere Frage. Zu einem George der „Entsa¬ gung“, der auf „semantische Tröstungen“ - und damit wohl auch auf das orgiastische Opfer - verzichtet, siehe Massimo CACCIARI: Krisis. Saggio sulla crisi del pensiero negativo da Nietzsche a Wittgenstein. Milano 1978, S. 143158.

Mrs. Ramsay versus Lord Chandos 1 Virginia WOOLF: Die Fahrt zum Feuchtturm. Übersetzung von Herberth und Marlys HERLITSCHKA. Frankfurt/M. 1979, S. 79 f., im folgenden Seitenan¬ gabe im Text. 2 Maurice BLANCHOT: Der Gesang der Sirenen. Aus dem Französischen von Karl August HORST. Frankfurt/M. 1982, S. 139.

Die adlige Mondfrau 1 Johann Wolfgang GOETHE: Gesammelte Werke (Hamburger Ausgabe), hg. von Erich TRUNZ. München 1977, S. 126. 2 Ladislao MITTNER: Storia della letteratura tedesca. Dal pietismo al romanticismo (1700-1820). Torino 1964, S. 516. 3 Die Darstellung dieser Spaltung ist von der Untersuchung des Psychiaters Morton PRINCE (The Dissociation of a Personality. A Biographical Study in Abnormal Psychology. New York 1906) beeinflußt, die Hofmannsthal schon 1907 las. Siehe dazu Richard ALEWYN: Andreas und die „wunderbare Freun¬ din“. Zur Fortsetzung von Hofmannsthals Roman-Fragment und ihrer psych¬ iatrischen Quelle. 1955. Nun in R. A.: Über Hugo von Hofmannsthal. Göttin¬ gen 1967, S. 131-167. 4 Zu Hofmannsthals fortwährender Verführbarkeit durch Askese siehe Heinz POLITZER: Die letzten Tage des Schwierigen. Hofmannsthal, Karl Kraus und

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Schnitzler. In: Merkur XXVIII, 1974, S. 214-238: „Sein ganzes Werk lang hat¬ te der Priester die Priesterin gesucht“ (S. 218). 5 MITTNER (Anm. 2), S. 515. 6 Hugo von HOFMANNSTHAL - Helene von NOSTITZ: Briefwechsel, hg. von Oswalt von NOSTITZ. Frankfurt/M. 1965, Brief vom 23. 1. 1914, S. 129 (im folgenden Datum und Seitenangabe im Text). 7 Helene von NOSTITZ: Aus dem alten Europa. 1924 als Druck der Cranach Presse des Grafen Harry Kessler erschienen, in den folgenden Jahren von Helene von Nostitz in verschiedenen Neuauflagen ergänzt, wurde es 1978 im Insel Verlag, Frankfurt/M., von Oswalt von Nostitz neu ediert. 8 Hugo von HOFMANNSTHAL - Ottonie von DEGENFELD: Briefwechsel, hg. von Marie Therese MILLER-DEGENFELD. 2., erweiterte Auflage, Frankfurt/ M. 1986, S. 75 (im folgenden Datum und Seitenangabe im Text). 9 Niklas LUHMANN: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frank¬ furt/M. 1982, Kap. 5-9. 10 Ich zitiere nach der Einleitung von Theodora von der Mühll zum Briefwech¬ sel Hofmannsthal-Degenfeld (Anm. 8), S. 12. 11 Dieser Briefwechsel, der von Anfang an im Zeichen Goethes stand, offenbart auch den Wunsch Hofmannsthals, noch einmal jene Funktion der „hysteri¬ schen Leserin“ zu aktivieren, die Friedrich A. Kittier zufolge im Deutschland um 1800 das Entstehen der Funktion Autorschaft ermöglichte. „Hysterische Leserinnen“ findet Kittier viele, sowohl in der Öffentlichkeit - Literatur wur¬ de damals vor allem von Frauen gelesen, und die Pädagogen wurden nicht müde, die Damen vor der neuen Krankheit „Lesesucht“ zu warnen - als auch in der Literatur selbst: von unserer Prinzessin Leonore d’Este, deren Leben dank der Lektüre ihres Dichters einen Sinn bekommt, bis zur häuslichen und übersensiblen Veronika Paulmann aus E. T. A. Hoffmanns Goldenem Topf, die unaufhörlich Romane liest und an hysterischen Halluzinationen und Wein¬ krämpfen leidet. Friedrich A. KITTLER: Aufschreibesysteme 1800-1900. Mün¬ chen 1985, S. 131-154.

Das venezianische Edelfräulein 1 Arthur SCHNITZLER: Fräulein Else. In: A. S.: Casanovas Heimfahrt und an¬ dere Erzählungen (Das erzählerische Werk Bd. 5). Frankfurt/M. 1978 (abge¬ kürzt: FE). 2 Zur Beziehung zwischen der Hysterikerin der Pychoanalyse und der Figur El¬ ses siehe Victor A. OSWALD, Jr. und Veronica Pinter MINDESS: Schnitzler's „Fräulein Else“ and the Psychoanalytic Theorie of Neurosis. In: The Germanic Review 26, 1951, S. 279-288. Zum Verhältnis Freud-Schnitzler im allgemei¬ nen siehe Bernd URBAN: Arthur Schnitzler und Sigmund Freud. Aus den Anfängen des „Doppelgängers“. Zur Differenzierung dichterischer Intuition und Umgebung der frühen Hysterieforschung. In: Germanisch-Romanische

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Monatsschrift 24, 1974, S. 193-223. Bernd Urban beschreibt das autonome Interesse Schnitzlers an der Hysterie. Dieser hatte sogar im Jahr 1889, als er noch vorwiegend als Arzt arbeitete, seine klinischen Erfahrungen mit einigen Fällen hysterischer Aphonie veröffentlicht, die er, wie damals auch Freud, mit Hypnose behandelte. Dazu auch Renate WAGNER: Schnitzler. Eine Biogra¬ phie. Frankfurt/M. 1984, Kap. 3 u. 18 und Michael WORBS: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. Frankfurt/M 1983, Kap. III, 3. 3 Sigmund FREUD: Bruchstück einer Hysterie-Analyse. In: S. F.: Hysterie und Angst, Studienausgabe, Bd. VI, hg. von Alexander MITCHERLICH, Angela RICHARDS, James STRACHEY. Frankfurt/M. 1971, S. 83-186, hier S. 166. 4 FREUD (Anm. 3), S. 172. 5 Helene CIXOUS: Ritratto di Dora. Aus dem Französischen ins Italienische über¬ setzt von Luisa MURARO. Milano 1977, S. 10. Die Einleitung zu dem Thea¬ terstück, der dieses Zitat entnommen ist, fehlt in der französischen Ausgabe: Portrait de Dora. Paris 1976. 6 Daß die Figur Elses nicht sehr realistisch ist, muß Elisabeth Bergner, die große Schauspielerin, gespürt haben. In dem 1929 unter der Regie von Paul Czinner gedrehten Film stattete sie Else mit einem „hochgemuten“ Stolz und einer instinktiven, großzügigen Offenheit aus, was dann, aufgrund ihrer Isolation in einer verlogenen Umwelt, zu den unvermeidlichen Verletzungen führt. 7 Siehe auch WORBS (Anm. 2), S. 258. 8 Arthur SCHNITZLER: La signorina Else. Milano 1924, S. 8. 9 Arthur SCHNITZLER: Das weite Land. In: A. S.: Professor Bernhardi und andere Dramen (Das dramatische Werk, Bd. 6). Frankfurt/M. 1979, S. 97. 10 Arthur SCHNITZLER: Das Bacchusfest. In: A. S.: Komödie der Worte und andere Dramen (Das dramatische Werk, Bd. 7). Frankfurt/M. 1979, S. 97. Fe¬ lix plädiert für die „Wiedereinführung einer so schönen, einfachen, reinen Feier“ (S. 94). Zur Komödie der Worte, deren dritter Teil Das Bacchusfest ist, siehe auch Elisabeth WIESMAYR: Aus der alten Liebeswelt. Zu Schnitzlers „Komödie der Worte“. Programmheft des Wiener Akademietheaters, Spielzeit 1985/86. 11 Zu Schnitzlers Casanova siehe Giuseppe FARESE: Untergang des Ich und Be¬ wußtsein des Endes bei Arthur Schnitzler. In: Literatur und Kritik, 1982, S. 2532 und auch dessen Einleitung zur ital. Ausgabe von Casanovas Heimfahrt, Ar¬ thur SCHNITZLER: II ritorno di Casanova, Milano 1975, S. 135-149. 12 FREUD (Anm. 3), S. 132 f. 13 Mario LAVAGETTO: Freud, la letteratura e altro. Torino 1985, S. 252 ff. 14 WORBS (Anm. 2), S. 237-242. 15 Zum „subversiven“ Charakter der klassischen, aber auch der heutigen, mager¬ süchtigen Hysterikerin siehe Christina von BRAUN: Nicht ich. Logik, Lüge, Libido. Frankfurt/M. 1985. 16 So zum Beispiel Heinz POLITZER (Die letzten Tage des Schwierigen. Hof¬ mannsthal, Karl Kraus und Schnitzler. In: Merkur XXVIII, 1974, S. 214-238), der zu Schnitzler schreibt: „Er blieb ein Mediziner, der der Zeit, der apokalyp¬ tischen, den Puls fühlte; er nahm nur wahr, aber er sagte nicht wahr. Er ver-

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stand nur, verstand nur zu gut ... Er war mehr von dieser Welt als Hugo von Hofmannsthal . . (S. 232). 17 Bernd URBAN (Hg.), Arthur SCHNITZLER: Hugo von Hofmannsthal. .Cha¬ rakteristik aus den Tagebüchern1. In: Hofmannsthal-Forschungen 3, 1975, S. 26. 18 STENDHAL: Romanset Nouvelles. Bd. 1, hg. von Henri MARTINEAU. Paris 1952, S. 557.

Die galante Dame aus dem 18. Jahrhundert 1 Es ist dies eine für Hofmannsthal zentrale Thematik, die wir schon in Der weisse Fächer {1887) finden. Sie verdankt sich nicht der Bekanntschaft mit Ottonie von Degenfeld, ist aber wohl dank dieser wieder aktuell geworden: „Der Mensch wird in der Welt nur das gewahr, was schon in ihm liegt; aber er braucht die Welt, um gewahr zu werden, was in ihm liegt; dazu aber sind Tätigkeit und Leiden nötig“ (Buch der Freunde, RA III, 235) - und Zuneigung. 2 Deshalb überwinden meines Erachtens Maria-Mariquita den für die Weiblich¬ keitsbilder des Fin de siede typischen „literarischen Frauendoppeltypus (Hure/ Jungfrau)“, der dagegen nach Ursula Renner-Henke - die zu Recht als Bei¬ spiel für diesen Frauendoppeltypus die Erzählung Tonka von Robert Musil zi¬ tiert - auch die im Andreas dargestellte weibliche Spaltung beeinflussen soll. Ursula RENNER-HENKE: . . dass auf einem gesunden Selbstgefühl das ganze Dasein ruht . . .“. Opposition gegen die Vaterwelt und Suche nach dem wahren Selbst in Hofmannsthals „Andreas“-Fragment. In: Hofmannsthal-For¬ schungen 8, 1985, S. 233-312, hier S. 250. 3 Dieser wichtige Unterschied zwischen den beiden Frauen ist, soviel ich weiß, nur von Lubich bemerkt worden. Frederick Alfred LUBICH: Hugo von Hof¬ mannsthals „Der Schwierige“: Hans Karl Bühl und Antoinette Hechingen un¬ term Aspekt der Sprache und Moral. In: Monatshefte für deutschen Unter¬ richt, deutsche Sprache und Literatur 77, 1985, S. 47-59, hier S. 53. 4 Rainer Maria RILKE: Sämtliche Werke in zwölf Bänden, hg. von Ernst ZINN. Frankfurt/M. 1976, 2. Bd., S. 654. 5 Richard STRAUSS - Hugo von HOFMANNSTHAL: Briefwechsel, hg. von Willi SCHUH. Zürich 1964, S. 95. 6 Wie vor ihm Fontane will auch Hofmannsthal die Sprache der Geselligkeit wiederfinden, siehe Katharina MOMMSEN: Hofmannsthal und Fontane. BernFrankfurt/M.-Las Vegas 1978. 7 Auch wenn bei Hofmannsthal die Liebe der wahren Funktion der Ehe, der Fortpflanzung, untergeordnet wird. Die Ehe zwischen Sophie und Octavian (in Der Rosenkavalier), zwischen dem Kaiser und der Fee (in Die Frau ohne Schat¬ ten), zwischen Kari und Helene (in Der Schwierige), erscheint sicherlich als Liebes¬ ehe, aber vor allem als Form der ethischen Verpflichtung, sich fortzupflanzen. In einem Brief an Dora Michaelis vom 14. 6. 1902 erklärt Hofmannsthal, war¬ um er die Ehe an sich so hoch stelle und das „übermäßige Geschwätz von

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Individualitäten, von denen angeblich immer nur zwei in der ganzen Welt für einander passen - die sich natürlich nie kriegen“, für gering schätze: „Wir sind hauptsächlich Männer und Frauen, sind Kinder von Eltern und werden Eltern von Kindern, sind ganz geschaffen alle diese unendlichen Verhältnisse zu reali¬ sieren, - Individualitäten sind wir auch, aber freilich meist negative, positive höchst selten.“ Hugo von HOFMANNSTHAL: Briefe 1900-1909. Wien 1937, S. 76. 8 Laut Allan Janik und Stephen Toulmin ist diese Idee eines von der Gesell¬ schaft abgetrennten Raumes bezeichnend für die bürgerliche Familie im Wien der Jahrhundertwende, siehe Allan JANIK, Stephen TOULMIN: Wittgensteins Wien. Aus dem Amerikanischen von Reinhard MERKEL. München-Wien 1984, Kap. 2. Zu den Widersprüchen, die (heute noch) aus einer solchen Familienauffassung entstehen, siehe Richard SENNETT: Verfall und Ende des öffent¬ lichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Aus dem Amerikanischen von Rein¬ hard KAISER. Frankfurt/M. 1983. 9 Zu den Ende des 18. Jahrhunderts unternommenen, schmerzlichen und un¬ fruchtbaren Anstrengungen, die Institution der Ehe, die Dauer und soziale Identität garantiert, mit der Leidenschaft, die unweigerlich instabil ist, zusam¬ menzuzwingen, siehe wieder die Studie von Niklas LUHMANN: Liebe als Pas¬ sion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt/M. 1982, Kap. 5-9. Zur heuti¬ gen Variante dieser Mühe - eine obsessive Befragung der eigenen sexuellen Wünsche, um an diesen eine wie immer geartete „stabile Identität“ festzuma¬ chen - siehe Michel FOUCAULT und Richard SENNETT: Sexualität und Ein¬ samkeit. In: Von der Freundschaft. Michel Foucault im Gespräch. Übersetzt von Marianne KARBE und Walter SEITTER. Berlin o. J. (Merve Nr. 121), S. 25-53. 10 Ein bemerkenswerter Satz des Politikers Timon, für dessen demagogische Rhetorik sich Hofmannsthal von Büchner, von dessen Robespierre in Dantons Tod, hat inspirieren lassen (KA XIV, 561). 11 Zum Bildungsroman, einem problematischen „Erbe“, das die Fertigstellung des Andreas behinderte, siehe David H. MILES: Hofmannsthal’s Novel „Andreas . Memory and Seif. Princeton 1972. Zu den verschiedenen im Andreas auspro¬ bierten Modellen der „Selbstfindung“ siehe RENNER-RENKE (Anm. 2). 12 Das Bild Stefan Georges taucht in den Aufzeichnungen zum Andreas immer wieder auf, zum Beispiel: KA XXX, 145, 160, 161. Siehe dazu Manfred PAPE: „Die strenge Forderung des Liebenden . . .“ Stefan Georges Nachwirkung in Hofmannsthals „Andreas“, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 264, 11.11. 1977, S. 30. 13 Karl BERTAU: Romana und das Labyrinth. Versuch über Hofmannsthals Andre¬ as-Fragmente. In: Studi germanici N.F. XIX-XX, 1981-82, S. 267-284, hier S. 277. 14 Vgl. Franziska zu REVENTLOW: Das Männerphantom der Frau (1898) und: Viragines oder Hetären (ursprünglicher Titel: Was Frauen ziemt. 1899). In: Franziska zu REVENTLOW: Autobiographisches, hg. von Else REVENTLOW. München-Wien 1980, S. 451-481. 15 Karl KRAUS: Sprüche und Widersprüche. Frankfurt/M. 1973, S. 51 (im fol¬ genden Seitenangabe im Text).

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16 So beschreibt sie Cesare Cases in seiner Einleitung zur italienischen Ausgabe von Sittlichkeit und Kriminalität. Milano 1976, S. 38. 17 Karl KRAUS: Briefe an Sidonie Nädherny von Borutin. 1913-1936, hg. von Friedrich PFÄFFLIN. München 1974. 18 Frankfurt/M. 1982. 19 Ebenda, S. 173.

Die Sängerin 1 Fou ANDREAS-SALOME: In der Schule bei Freud, hg. von Ernst PFEIFFER. Frankfurt/M.-Berlin-Wien 1983, S. 50. 2 Robert MUSIF: Gesammelte Werke, hg. von Adolf FRISE. Reinbek bei Hamburg 1978, Bd. 4, Kap. 63, S. 1352. Zum platonischen Mythos siehe Bd. 3, Kap. 25, S. 903 ff. Vgl. zu dieser Thematik Rita CAFABRESE CONTE: Musil legge Rilke. In: Quaderni di lingue e letterature straniere dell’Universitä di Palermo, Nr. 3-4, 1978/79, S. 25-43. 3 Henrik IBSEN: Die Wildente, V. Akt. In H. I.: Dramen. Nach der Ausgabe von Georg BRANDES, Julius EFIAS und Paul SCHFENTHER: Henrik IBSEN: Sämtliche Werke in deutscher Sprache 1898-1904. München 1982,2. Bd., S. 238. 4 Friedrich NIETZSCHE: Jenseits von Gut und Böse (Aph. 287). In: F. N.: Wer¬ ke, hg. von Karl SCHLECHTA. München 1969, Bd. II, S. 750. 5 Jean-Pierre RICHARD: Connaissance et tendresse chez Stendhal. In: J.-P. R.: Litterature et Sensation. Paris 1954, S. 15-116, hier S. 114. 6 Zu Hoffmanns Sängerinnen siehe mein La casa del consigliere Krespel. Figure di identitä nella letteratura tedesca. Bologna 1985, Einl. u. Kap. 3. 7 Rainer Maria RILKE: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. In: R. M. R.: Sämtliche Werke in zwölf Bänden, hg. von Ernst ZINN. Frankfurt/ M. 1976, 11. Bd., S. 924. Zum Malte siehe Alberto DESTRO: Rainer Maria Rilke. I quaderni di Malte Laurids Brigge. In: II romanzo tedesco del Novecento, hg. von Giuliano BAIONI u. a. Torino 1973, S. 81-99. Zur Beziehung Hof¬ mannsthal-Rilke ist Hofmannsthals Bemerkung zu Kassner aufschlußreich und in ihrem bescheidenen Hochmut sehr sympathisch: „Er ist mehr als ich, aber Sie werden zugeben, daß er von mir kommt.“ Rudolf KASSNER: Rilke, hg. von Klaus E. BOIINENKAMP. Pfullingen 1976, S. 48. Siehe dazu Joachim W. STORCK: Hofmannsthal und Rilke. Eine österreichische Antinomie. In: Rilke heute. Beziehungen und Wirkungen, hg. von Ingeborg H. SOLBRIG und Joa¬ chim W. STORCK. Frankfurt/M. 1976, 2. Bd., S. 115-167.

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DATE DUE

Anhand einer typologischen Darstellung der männlichen und weiblichen Figuren bei Hugo von Hofmannsthal stellt Wandruszka dessen Entdeckung der nicht nur existentiellen, sondern auch poetologischen Notwendigkeit weiblichen Redens und Schreibens dar.

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