"Der hebräische Musikgeschmack": Lüge und Wahrhaftigkeit in der deutsch-jüdischen Musikkultur 9783412217792, 9783412223908

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"Der hebräische Musikgeschmack": Lüge und Wahrhaftigkeit in der deutsch-jüdischen Musikkultur
 9783412217792, 9783412223908

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»Der hebräische Kunstgeschmack«

KlangZeiten

Musik, Politik und Gesellschaft Band 12 Herausgegeben von

Detlef Altenburg Michael Berg Albrecht von Massow

»Der hebräische Kunstgeschmack« Lüge und Wahrhaftigkeit in der deutsch-jüdischen Musikkultur von

Melanie Kleinschmidt

2015 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch die Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: König David mit der Harfe (Mittelbild der Fresken aus dem Gartensaal des Ratsherrn Karl Sarasin-Sauvain), 1868, von Arnold Böcklin. Bildnummer: Art. 11674, Kunstmuseum Basel. © 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Lydia Penzel, Berlin Druck und Bindung: Strauss, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22390-8

Für meine Mutter (1958–1999)

7 Als ich im Dezember 2013 auf dem Bayreuther Abschlusssymposion der internationalen Vortragsreihe WagnerWorldWide 2013 den Vorschlag machte, die Judenfeindlichkeit Richard Wagners nicht nur auf kulturpolitische bzw. nationalistische Faktoren zu reduzieren, sondern sein tiefes, inneres Streben nach einer selbst empfundenen Wahrhaftigkeit als ursprüngliche Quelle seiner Weltwahrnehmung einzubeziehen, hatte sich binnen weniger Minuten die Zuhörerschaft unumkehrbar gespalten. Im Anschluss an meinen Vortrag erhielt meine These ebenso starke Zustimmung (interessanterweise vor allem von jüdischer Seite) wie Ablehnung, hier mit dem Hinweis auf meine vermeintliche Unachtsamkeit im Umgang mit der deutschen Geschichte des Antisemitismus. Besonders die ablehnenden Erwiderungen waren emotional stark eingefärbt. Überrascht hat mich die große Unterschiedlichkeit der Reaktionen jedoch keineswegs, vielmehr hat sie die Notwendigkeit unterstrichen, dieses Thema noch viel umfänglicher und in der gebotenen Sachlichkeit darzulegen. Wagners ausgeprägte Individualität verführt leicht dazu, seinen Antisemitismus und seinen Aufsatz über „Das Judenthum in der Musik“ als isoliertes Phänomen zu sezieren und es allenfalls noch im kulturpolitischen Kontext des 19. Jahrhunderts zu verankern. Das entspricht noch heute der gängigen Praxis, und auch mein Vortrag beerbte diese Herangehensweise. Die vorliegende Dissertation jedoch versteht Wagners Aufsatz als Anregung zu einer großen ideen-, kultur- und religionsgeschichtlichen Untersuchung zur Entwicklung der Judenfeindlichkeit im Musikbetrieb mit seinem vorläufigen Höhepunkt im 19. Jahrhundert. Der von mir vorgeschlagene Aspekt der Anspruchs an die (eigene) Wahrhaftigkeit konkret im Kulturschaffen Wagners zieht sich dabei als allgemeine Authentizitätsdiskussion durch das gesamte Buch und wird in seiner gesamten kulturhistorischen Entwicklung seit der Antike mitsamt seiner moralischen Facetten aufgenommen. Dadurch erst erschließen sich die fraglos bestehenden Zusammenhänge zwischen kulturellen Wahrhaftigkeitsansprüchen, religionsspezifischer künstlerischer Praxis und judenfeindlichen Einstellungen, welche in einer epochenbeschränkten Untersuchung unterschlagen würden. Die Arbeit leistet damit einen umfassenden, sachlichen Beitrag zum tieferen Verständnis der facettenreichen deutsch-jüdischen Kulturgeschichte und ihrer Dynamik. Jener sachliche, emotional ungetrübte Blick auf die Geschichte des Authentizitätsproblems in der deutsch-jüdischen Musikkultur ermöglicht es schließlich, das Phänomen von Wagners Antisemitismus nahtlos in einen Jahrhunderte währenden Vorlauf einzufügen und aufzuzeigen, welche ideengeschichtlichen Wege bei der Bewertung von jüdischem Kunstschaffen seit der Antike bis in das 19. Jahrhundert hinein beschritten wurden. Eine solche Übersicht bedarf nicht nur einer umfassenden interdisziplinären Breite, sie erfordert außerdem besondere Behutsamkeit bei der Annäherung an religionswissenschaftliche Problemstellungen und einen philologisch sauberen Umgang mit Quellen. All das hätte ich im Alleingang nie leisten können, und ohne Hilfe

8 wäre dieses Unterfangen zum Scheitern verurteilt gewesen. Mein aufrichtiger Dank gilt deshalb allen, die mich beim Verfassen meiner Dissertation in jeder erdenklichen Hinsicht unterstützt und an die Bedeutsamkeit der Arbeit geglaubt haben. Zuallererst danke ich dabei meinem Doktorvater Prof. Dr. Albrecht von Massow für seine inhaltliche, philosophische und moralische Unterstützung, der mich mit seiner Begeisterungsfähigkeit für mein Thema stets neu motivieren konnte und mit erheblicher Geduld eine Doktorandin mit einem Hang zu Widerworten ertragen hat. Dem Leo Baeck Institute in London und dem mittlerweile verstorbenen John Grenville als stellvertretenden Leiter verdanke ich ganz maßgeblich die Entstehung meines Buches, im Besonderen der unschätzbaren Hilfe des Research Professors Prof. Dr. Ulrich Charpa. Dass mein Vorhaben durch jüdische Wissenschaftler mitgetragen und hinsichtlich der deutsch-jüdischen Kulturgeschichte für längst überfällig erklärt wurde, hat mich bei meiner Arbeit entschieden bestärkt. Da sich allein von guten Absichten und langen Sätzen jedoch nicht leben lässt, bin ich dem Land Thüringen und der Weimarer Hochschule für Musik F RANZ LISZT zu großem Dank verpflichtet, die mich die ganzen drei Jahre über mit einem Graduiertenstipendium und schließlich mit einem Druckkostenzuschuss unterstützt und meine Arbeit damit stets als förderungswürdig eingeschätzt haben. Prof. Dr. Detlef Altenburg hat mich mit seiner gründlichen und hilfreichen Revision vor dem ein oder anderen Fauxpas bewahrt, herzlichen Dank! Die Zuarbeit, die der Böhlauverlag geleistet hat, war ebenfalls sehr hilfreich und ich danke besonders Herrn Harald Liehr, dass er mir während der verhältnismäßig langen Zeit bis zur Drucklegung mit Rat zur Seite gestanden hat. Pfarrerin Angela Fuhrmann hat sich als untypische Schwiegermutter bereitwillig durch mein Buch gearbeitet, um unzählige Tippfehler auszutreiben und meinen abenteuerlichen Ausflug in die Welt der hebräischen Sprache zu einem glücklichen Ende zu bringen. Danke dafür, ich weiß, dass es leichtere Abendlektüre gibt. Meinem Mann danke ich für seine (noch immer anhaltende) Geduld mit mir, seinen Anregungen und seiner Kritik. Als Kirchenmusiker hatte er immer einen weniger eingeengten Blick auf meine Arbeit als ich. Viele seiner freien Abende hat er mit der Durchsicht meines Manuskriptes verbracht. Ich sollte häufiger seine Orgelkonzerte besuchen. Den verschiedensten Cafés in Meiningen danke ich für die ebenso vorzüglichen wie auch dringend erforderlichen Koffeinstützen während des Schreibens, und Zerlina verdanke ich die notwendige Erdung zwischen allen gedanklichen Plagereien. Der größte Dank jedoch gilt meinen Töchtern dafür, dass es sie gibt. Bitte werdet keine Musikwissenschaftler. Meiningen im Juni 2014

Inhalt Vorüberlegung ...................................................................................................12 1. Begriffliche Betrachtungen ......................................................................16 1.1 1.2 1.3 1.4

Authentizität ..................................................................................................... 18 Epigonalität ....................................................................................................... 19 Originalität ....................................................................................................... 23 Wahrhaftigkeit .................................................................................................. 28

2. Ideengeschichtliche Vorgaben .................................................................34 2.1 2.2 2.3 2.4

Platons Ideenlehre und die Frage der Authentizität ..................................34 Das Authentizitätsproblem in der aristotelischen Mimesislehre ............36 Authentizitätsvorstellungen im frühen Christentum ...............................37 Emotio contra rationem in epistemologischen Überlegungen ...............39

3. Die Reformation und der‚,lügende, inauthentische Jude‛ ................42 3.1 3.2 3.3

Allgemeines ....................................................................................................... 42 Die Reformation als Grundlage für den Falschheitsvorwurf gegenüber der jüdischen Sprache ...............................49 Auswirkung der Diffamierungen auf kulturelle Bewertungen .................52

4. Allgemeine Auswirkungen auf die Bewertung der von Juden erbrachten kulturellen Leistungen .....................................56 5. Auswirkungen auf das Musikschrifttum ..............................................65 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6

Michael Praetorius ........................................................................................... 66 Athanasius Kircher ..........................................................................................68 Johann Mattheson ...........................................................................................69 Martini Gerbert ................................................................................................ 71 Johann Nikolaus Forkel .................................................................................73 Forkels Originalitätsbegriff ............................................................................86

6. Der frühe Nationalismus: Ursachen und die daraus folgende Inauthentizitätsemphase des ,Jüdischen‛ ................94 7. Nachahmung als Assimiliationswerkzeug ..........................................108

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Inhalt

8. Die öffentliche Wahrnehmung von musikkultureller Leistung der jüdischen Emanzipation in der ersten Generation . .115 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5

Generelle Akkreditierung und Diskreditierung ........................................115 Giacomo Meyerbeer: Kosmopolitismus versus romantischen Nationalismus .........................121 Meyerbeer und Ludwig Rellstab: Rellstab als Wegbereiter der antisemitischen Ästhetik Wagners? ...........132 Meyerbeer und Robert Schumann: Meyerbeerkritik = Judenkritik? ....................................................................142 Meyerbeer und Theodor Uhlig: Patriotismus trifft Rassentheorie ................................................................158

9. Exkurs I: Romantischer Protestantismus in seiner Gegnerschaft zu künstlerischer Tradition ..........................................165 10. Richard Wagner, „Das Judenthum in der Musik“ und Meyerbeer – Fragen nach Ursächlichkeiten ..............................169 10.1 10.2 10.3 10.4 10.5 10.6

Zum Verhältnis Wagner/Meyerbeer ............................................................171 Wagners Patriotismus/Nationalismus ........................................................177 Wagners Sozialismus .....................................................................................181 Wagners Rassismus ........................................................................................183 Wagners Wahrhaftigkeits- und Authentizitätsansprüche ........................185 Auslöser Uhlig ................................................................................................ 187

11. Exkurs II: Eklektizismus als Zuschreibung zwischen Epigonalität und dem Streben nach Authentizität ..........................191 12. Giacomo Meyerbeer: Die Hugenotten als Authentizitätsindikator .....................................198 12.1 Meyerbeers „fatal mekkernder Rhythmus“ ...............................................200 12.2 Die Frage nach Epigonalität ........................................................................209 12.2.1 Ein feste Burg ............................................................................................... 209 12.2.2 Epigonalität durch Eklektizismus .............................................................214 12.2.3 Meyerbeers Eklektizismus als Zuschreibung von ,jüdischer Uneigentlichkeit‛ ................................................................222 12.3 Inauthentizität durch Handlungsmotive ...................................................224 12.3.1 Zur Absichtlichkeit von Effekten ............................................................226 12.3.2 Der Effekt in den Hugenotten ..................................................................231

Inhalt

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12.4 Rossini und Beethoven in ihrer Zeugenschaft gegen die Theorie eines ,jüdischen, inauthentischen Effektes‛ .........................239

Reflexionen .....................................................................................................251 Quellenverzeichnis ........................................................................................257 Sekundärliteratur ...........................................................................................263 Siglen ................................................................................................................269

Vorüberlegung

In der »Neuen Zeitschrift für Musik« kam unlängst ein »hebräischer Kunstgeschmack« zur Sprache: eine Anfechtung und eine Vertheidigung dieses Ausdruckes konnten und durften nicht ausbleiben. Es dünkt mich nun nicht unwichtig, den hier zu Grunde liegenden, von der Kritik immer nur noch versteckt oder im Ausbruche einer gewissen Erregtheit berühr ten Gegenstand näher zu erörtern. Hierbei wird es nicht darauf ankommen, etwas Neues zu sagen, sondern die unbewußte Empfindung, die sich im Volke als innerlichste Abneigung gegen jüdisches Wesen kundgiebt, zu erklären, somit etwas wirklich Vorhandenes deutlich auszusprechen […].1

Diese Worte, niedergeschrieben von Richard Wagner unter dem Pseudonym Karl Freigedank, leiten einen der berüchtigsten Artikel im gesamten Musikschrifttum ein: „Das Judenthum in der Musik“, erschienen im September 1850 in der Neuen Zeitschrift für Musik in Leipzig. Neben zahlreichen Angriffen gegen das Judentum allgemein als auch konkret gegen Künstler wie Giacomo Meyerbeer, Felix Mendelssohn Bartholdy oder Heinrich Heine formuliert Wagner in dieser Publikation in erster Linie folgende Behauptung: Der Jude ist absichtlich, aber auch zwangsläufig epigonal sowie inauthentisch im Schaffen, im Fühlen, im Sein. Der Aufsatz ist nicht nur in direkter Zeitgenossenschaft vielfältig kritisiert und kommentiert worden, sondern dient bis heute als Ausgangspunkt verschiedener Untersuchungen, welche in erster Linie ein Verlaufsmodell des musikkulturellen Antisemitismus vom 19. Jahrhundert bis in die Zeit des Nationalsozialismus skizzieren. Nicht selten wurde und wird dabei Wagners Judenthum2 mitsamt seines Inauthentizitätsvorwurfes als Ausdrucksform von Wagners Antisemitismus eine entscheidende, sogar grundlegende Rolle für die antisemitische nationalsozialistische Ästhetik zugewiesen.3 Dem grundsätzlich zu widersprechen, stellt sich die vorliegende Untersuchung jedoch genauso wenig als Aufgabe wie eine Erörterung möglicher affirmativer Faktoren. Im Folgenden markiert Wagners Aufsatz deswegen zwar ebenso einen Höhepunkt antisemitischen Musikschrifttums, er wird hier allerdings nicht in seiner Eigenschaft als mögliche Basis für eine fatale Entwicklung, sondern – unter den Vorzeichen einer Authentizitätsdiskussion – als das Ergebnis einer kulturgeschichtlichen Bewegung besonderer Eigenart behandelt. Der Geschichte des antijüdischen Stereotyps vom ‚inauthentischen Juden‛ in ihrer 1

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Richard Wagner: „Das Judenthum in der Musik“, in: Neue Zeitschrift für Musik, 3. September 1850, Bd. 33, Leipzig, S. 101. Im Folgetext wird Wagners Aufsatz „Das Judenthum in der Musik“ mit Judenthum abgekürzt. Vgl. z.B. Joachim Köhler: Wagners Hitler. Der Prophet und sein Vollstrecker, München 1997; besonders bekannt ist hier Adornos Versuch über Wagner, in: Gesammelte Schriften, Bd. 13, Frankfurt am Main 2003, S. 11ff. Allgemeine Darstellungen zu Wagners Antisemitismus in schriftlichem und musikalischem Werk finden sich überdies in: Marc A. Weiner: Antisemitische Fantasien. Die Musikdramen Richard Wagners , Berlin 2000 (deutsche Ausgabe); Dieter Borchmeyer u.a. (Hrsg.): Richard Wagner und die Juden, Stuttgart 2000.

Vorüberlegung

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vollständigen Komplexität nachzuspüren, würde jedoch weit über den Radius einer letztlich musikwissenschaftlichen Arbeit hinausgehen. Deshalb setzt die für das Musikschrifttum relevante Erörterung ab der Zeit der Reformation ein, innerhalb welcher der ‚inauthentische Jude‛ des Mittelalters nachhaltig wiederbelebt und neu attribuiert wurde. Vor diesem Hintergrund nur kann der Kontext späterer kulturkritischer Schriften über das Judentum nachvollzogen werden, und der Jahrhunderte währende Weg zu Wagners Aufsatz ist, wie sich zeigen wird, weitläufig mit verschiedenen Autorennamen gepflastert. Die Debatte um die Wirkungsmacht des Artikels ist aus ebenso verständlichen wie aus berechtigten Gründen weitgehend unter ‚Wiedergutmachungsaspekten‛ geführt worden und mündet insofern in eine gewisse Einseitigkeit, als dadurch der komplexe Vorlauf – nicht nur der direkte – zur Entstehung des Aufsatzes partiell in den Hintergrund geraten ist.4 Die vorliegende Arbeit versteht sich deswegen als umfassende Suche nach Ursächlichkeiten, welche, um einer vertretbaren Genauigkeit zu entsprechen, das Feld der systematischen Musikwissenschaft unvermeidlich mit Aspekten der Religionswissenschaft und Philosophie anreichern. 5 Angestrebt wird damit weder der Versuch einer Relativierung des späteren nationalsozialistischen Kulturrassismus noch eine Apologie für Wagners groteske Polemik, sondern ein sachlicher Blick auf ein umfassendes Stück Kulturgeschichte. Obwohl Wagner seinen Aufsatz fast zwanzig Jahre später überarbeitet, ergänzt und 1869 als offenen Brief an Marie Muchanoff ohne Pseudonym erneut publiziert hat, wird die zweite Fassung im Folgenden nicht weiter berücksichtigt. Zwischen der ersten und der zweiten Drucklegung hat die zeitgenössische Debatte um das Judenthum, dessen Autorschaft sehr bald Richard Wagner zugeschrieben wurde, eine enorme Eigendynamik entwickelt und wurde von den verschiedensten Positionen befeuert, sodass sich 4

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Besonders verdient hat sich in diesem Punkt bereits Annkatrin Dahm mit ihrer Monographie Der Topos der Juden. Studien zur Geschichte des Antisemitismus im deutschsprachigen Musikschrifttum (Göttingen 2007) gemacht, in welcher sie durch sehr detaillierte Recherchearbeit antijüdische und antisemitische Musikschriften seit dem 18. Jahrhundert bis in die Zeit des Nationalsozialismus zusammenträgt. Unvermeidlich laufen deswegen einige der hier dargestellten Sachverhalte parallel, weil die einschlägigen Faktizitäten nicht untersuchungsrelevant sind. Jedoch ergibt sich mit der hier gestellten systematischen Frage nach der deutsch-jüdischen Authentizitätsproblematik ein grundlegender Unterschied, welcher sich unter anderem in der Methode niederschlägt. Nicht zuletzt weichen einige Einschätzungen bezüglich der Frage, was als Antisemitismus bzw. Abwertung der jüdischen Kultur zu beurteilen ist, in Dahms Monographie und der vorliegenden Arbeit voneinander ab, so dass in diesem Punkt die musikwissenschaftliche Wahrnehmung fruchtbar erweitert werden kann, da Dahms (musik-)historische Arbeit anderen Desideraten als die vorliegende systematische Untersuchung entspricht. Da die Arbeit verschiedene Disziplinen jenseits der Musikwissenschaft berührt, in manche auch etwas tiefer eintaucht, stellt sich abschnittsbezogen die Dilettantismusfrage. Ihr wird durch Anlehnung an entsprechende externe disziplinäre Vorgaben begegnet. Vor allem in der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Reformation und der ‚jüdischen Falschheit‛ hat sich Achim Detmers Monographie Reformation und Judentum. Israel-Lehren und Einstellungen zum Judentum bis zum frühen Calvin (Stuttgart 2001) als besonders hilfreich erwiesen.

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Vorüberlegung

eine entsprechende Auseinandersetzung in erster Linie mit dem fraglichen Zeitraum zwischen 1850 und 1869 beschäftigen müsste. Das ist jedoch nicht nur bereits verdienstvoll geleistet worden,6 es würde außerdem die hier formulierte Fragestellung zu Gunsten der Untersuchung sozialer Faktoren und Entwicklungen lediglich zweier Jahrzehnte in den Hintergrund drängen. Eine kulturhistorisch umfassende Darstellung muss sich deshalb mit der Entwicklung der antijüdischen Kulturkritik bis zur Publikation der ersten Fassung des Judenthums auseinandersetzen, da sich Wagner dabei noch unerkannt wähnte und seinen Aufsatz in einer gewissen gedanklichen Freiheit von Überlegungen das direkte gesellschaftliche Umfeld betreffend niedergeschrieben hat. Aus dieser Perspektive handelt es sich tatsächlich um die Schrift eines Karl Freigedanks. Für den letzten Teil der Arbeit ist dabei, um der weitgehend abstrakt geführten Diskussion eine zusätzliche Ebene zu gewähren, eine Auseinandersetzung mit musikalischer Konkretion vorgesehen. Dem Werk des Komponisten Giacomo Meyerbeer, welcher in Wagners Judenthum zwar nicht namentlich benannt, neben Mendelssohn aber als einziger Tonsetzer greifbar kritisiert bzw. diffamiert wird, ist aus mehreren Gründen der Vorzug zu geben: Anders als bei Mendelssohn muss zunächst nicht die Frage erörtert werden, ob und wenn ja, in welchem Umfang Meyerbeer tatsächlich als jüdischer Komponist begriffen werden kann. 7 Darüber hinaus liegt, wie nachgewiesen werden wird, dem einleitenden Satz aus Wagners Artikel nichts anderes zugrunde als eine über Jahre hinweg geführte Diskussion um Meyerbeers Oper Die Hugenotten. Die hier entscheidenden Rezensionen werden auch in der Annäherung an musikalische Konkretion berücksichtigt werden. 8 6

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Jens Malte Fischers vielbeachtete Monographie Richard Wagners „Das Judenthum in der Musik“ (Frankfurt, 2000) fragt einerseits nach dem zeitlich engeren Entstehungskontext des ersten Aufsatzes und verlagert andererseits gleichzeitig die schwerpunktmäßige Bedeutung auf die Wiederveröffentlichung 1869. Fischer fügt dabei die verschiedenen schriftlichen Re aktionen auf die Erstpublikation mit den geistigen Strömungen der Folgejahre um und in Wagner zusammen und schafft damit ein äußerst differenziertes und rundes Gesamtbild bei der Betrachtung um die Bedeutung von Wagners Aufsatz. Die im Folgenden geschilderte Sachlage zum direkten Entstehungsvorlauf der Erstfassung deckt sich mit Fischers Darstellung, verknüpft sich jedoch weiter gedacht mit der Jahrhunderte währenden Entwicklung, während Fischers Untersuchung sehr detailliert das 19. Jahrhundert seziert und der nicht unumstrittenen Frage nachgeht, inwiefern sich Wagners Ressentiments gegen die Juden im musikalischen Werk niedergeschlagen haben. Fischers Publikation sollte in jedem Fall als weiterführende Literatur zur kritischen Auseinandersetzung mit Wagners Antisemitismus beachtet werden. Die Frage nach Mendelssohns Judesein ist Gegenstand verschiedener Erörterungen gewesen, behandelt beispielsweise durch Alexander Ringer: „Felix Mendelssohn oder das Judentum in der Musik“ in: Felix Mendelssohn Bartholdy – Repräsentant und/oder Außenseiter. Fünf Vorträge zu den Kasseler Musiktagen 1991, Kassel 1993; zuletzt erst durch Wilhelm Seidel: „Mendelssohn und das Judentum“ in: Die Musikforschung (Hrsg. Oliver Huck), 1. Heft 2011 Kassel, S. 6ff. Meyerbeers Oper Die Hugenotten hat die unterschiedlichsten Kritiken nach sich gezogen, anerkennende ebenso wie niederschmetternde. Namhafte Kritiker sind hier u.a. Hector Berlioz, Franz Liszt oder auch Eduard Hanslick. Im Hinblick auf Wagners Judenthum werden

Vorüberlegung

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Um aber überhaupt sinnvoll die Frage nach Authentizität, nach Originalität oder nach Epigonalität stellen zu können und angemessen mit ihr umzugehen, muss für die grundlegenden Begriffe, die in der Arbeit begegnen, sowohl eine erläuternde Basis geschaffen als auch ein ideengeschichtlicher Entwurf geleistet werden. Dieser Aufgabe widmet sich der erste Teil der Arbeit. Im Konnex von jenen ge wonnenen begriffsgeschichtlichen Ideen des ersten Teils mit der musikalischen Betrachtung im letzten Teil der Abhandlung wird schließlich der Vorteil der gewählten Vorgehensweise deutlich, welche hoffentlich dazu beitragen kann, die Geschichte des antijüdischen bzw. antisemitischen Musikschrifttums mit einigen bislang weniger bedachten Aspekten zu bereichern.

jedoch nur jene Kritiken genauer betrachtet, welche in einen thematischen Zusammenhang zwischen Meyerbeers Oper, seinem Judesein und Wagners Aufsatz zu bringen sind, wobei Robert Schumanns Hugenotten-Kritik (welcher dieser Zusammenhang wenigstens stets zugeschrieben wurde) einen Schwerpunkt bildet.

1. Begriffliche Betrachtungen

Die Diskussion um einen Begriff erübrigt sich ohne Weiteres mit seinem stumm akzeptierten Absolutheitsanspruch. Glücklicherweise aber gilt für alle Begriffe die Eigenschaft der relativen Erfassung. Das ermöglicht im Weiteren eine Neueinführung und aufgeschlossene Betrachtung bereits gängiger Begriffe, die sich nur im ersten Eindruck und unter beträchtlichem Beistand von Intuition als eindeutig und unbesetzt darstellen. Außerdem gewinnen derart relativ reflektierte Begriffe eine hinlänglich explizite Position, indem sie mit ihren – gleichfalls als relativ behandelten – Antagonisten ein überschaubares Spektrum rahmen. Im ersten Teil der Arbeit wird deshalb die Nomenklatur, welche alle folgenden Überlegungen umgreift, vorgestellt werden. Zuvor jedoch einige kurze Bemerkungen zu den begriffsspezifischen Bewertungsaspekten: Die Frage nach ‚Authentizität‛ wurde in der gesamten Geschichte der ästhetisch-wertenden Betrachtungen von den Worten ‚Originalität‛, ‚Echtheit‛, ‚Eigentlichkeit‛ und ‚Genie‛ eskortiert. Die Zuordnung der Fragestellung zu Geistesoder Naturwissenschaften war für jene Begriffsfindungen jeweils unerheblich. Als umso relevanter für derart vollzogene Bewertungen entpuppten sich die – entsprechend negativ konnotierten – Begriffskontraste wie ‚Nachahmung/Imitation‛, ‚Mimesis‛, ‚Epigonalität/Epigonalismus‛ oder auch ‚Manierismus‛. Der Manierismus, hier in universeller, nicht in kunstgeschichtlicher Verwendung, beschreibt dabei eine besondere Imitationsform, insofern er sich auf den ersten Blick durch das Überspitzen vorgeblich authentischer Charakteristika vom bloßen Nachahmen zu unterscheiden scheint. Für die Bewertung jüdischen Kunstschaffens durch Nichtjuden spielte der Vorwurf des Manierismus seit jeher dank stereotyper Vorverurteilungen eine eigene Rolle und wird in der Arbeit wiederholt begegnen. Während die Begriffe ‚Manierismus‛ gemeinsam mit ‚Nachahmung‛ und ‚Epigonalität‛ folglich pejorativ verwendet wurden und werden, läuft die durchgängig positive Besetzung ihrer Antipoden ‚Originalität‛, ‚Echtheit‛ und ‚Genie‛ analog zur konventionellen Wahrnehmung dieser Begriffe. Die Entwicklung dieser positiven und negativen Besetzungen verdankt sich nicht nur (kunst)historischen und allgemein-ästhetischen Systemen oder, aus (natur)wissenschaftlicher Perspektive, der Wertschätzung individueller Impulse des Fortschritts. Dass diese Begriffe fernerhin ideologisch benutzt und geprägt wurden, darf nicht unberücksichtigt bleiben. Als unrühmliches Exempel ideologischer Verzerrung eines per se nicht wertenden Systematisierungsbegriffes hat sich die ‚Entartung‛ nach 1938 ihren ganz eigenen Namen gemacht. Ihre enge semantische Verwandtschaft zu den hier aufgeführten Begriffsgruppen ist kein Produkt des Zufalls. Die an diesen Tatbestand anknüpfende Überlegung, dass ein Artefakt sowohl durch mangelnde als auch durch zu ausgeprägte Abweichungen von seiner ‚origo‛ als inauthentisch und unecht eingeschätzt wird, verliert ihre Irritation, indem man ‚Entartung‛, ‚Manierismus‛

Begriffliche Betrachtungen

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und ‚Nachahmung‛ in Bezug auf ästhetische Normierung zunächst bedeutungsähnlich kategorisiert. Um aber die Begriffsdiskussion weiterführen zu können, ist die Enthebung aller Wertekonnotate, die durch ideologische Schattierungen und/oder soziale Einschläge den jeweiligen Begriffen angeheftet wurden, unerlässlich und fordert theoretisch sogar in zweiter Instanz eine Substituierung besetzter durch (bislang) neutrale Begriffe. Vor allem vor dem Hintergrund, dass die zu diskutierenden Begriffe seit den Vorsokratikern bis heute nicht nur einen Bewertungs-, sondern auch einen Bedeutungswechsel vollzogen haben, wird dieses Erfordernis unterstreichen. Wenn im weiteren Verlauf also von ‚Authentizität‛, von ‚Originalität‛, ‚Genie‛ und ‚Echtheit‛ die Rede ist, so ist damit jenes Attribut gemeint, das heute – etwas neutraler – durch Kreativität oder schlicht Schöpfungskraft Synonyme findet. Zunächst scheint der bereits aufgeworfene Kontrast, der sich durch die Verben ‚creo‛ und ‚imitor‛ ergibt, verstärkt. Da eine (diesseitige) Kreation jedoch keine Neuerschaffung, wohl aber eine Kombination und Rekombination als Schöpfung meint, ist die Imitation nunmehr in jedem Produktionsprozess, sei er ‚genial‛ oder nur ‚nachahmend‛, integriert. Indem die Imitation Element der Kreativität, als Menge a von B wird, zersetzt sie die Antinomie von a und B, obwohl a und B ungleich bleiben. Dieser Ansatz des Begriffsverständnisses ist, wie sich in der ideengeschichtlichen Auseinandersetzung zeigen wird, keineswegs neu. Bevor diese ideengeschichtliche Annäherung jedoch geleistet werden kann, muss das Feld der zum Teil bereits genannten Begriffe mit ihren Bedeutungen und Bedeutungswechseln konkret abgesteckt werden. Wenn im Folgenden dementsprechend von Authentizität, Originalität, von umgebenden Begriffsgruppen und von deren Antonymen die Rede ist, wird damit in erster Linie den heutigen Entsprechungen stattgegeben. Zwar ist es unerlässlich, einzelne Kernbegriffe auf ihre Herkunft, Geschichte und mögliche Bedeutungsänderungen zu prüfen, aber ein gründlicher etymologisch-enzyklopädischer Abriss jedes einzelnen hier gebrauchten Begriffes kann aus naheliegenden Gründen nicht geleistet werden, da es sich nicht mit der inhaltlichen Gewichtung einer musikwissenschaftlichen Arbeit verträgt. Da sich die Betrachtung der ästhetischen Bewertung des ‚authentischen‛ Kunstschaffens und des Topos der ‚jüdischen Falschheit‛, bis er sich in der Musikgeschichtsschreibung niederschlägt, über einen Zeit rahmen von fast 2000 Jahren erstreckt, liegt es auf der Hand, dass innerhalb dieser Spanne Begriffsverschiebungen und Konnotatswechsel statthatten. Um dabei den semantischen roten Faden des Begriffs der ‚Lüge‛ bzw. der ‚Falschheit‛ nicht zu verlieren, werden dementsprechend außerhalb der Zitate die heute gültigen und geläufigen Bezeichnungen und Bedeutungen benutzt.

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Begriffliche Betrachtungen

1.1 Authentizität Dieser Begriff, der ein elementares Moment dieser Arbeit ausmacht, lässt sich weder durch seine Ideengeschichte noch durch seine heutige Verwendung reibungslos nutzen. ‚Echtheit‛, ‚Aufrichtigkeit‛ und ‚Wahrhaftigkeit‛ sind unter anderem heute gebräuchliche Synonyme für ‚Authentizität‛ und werden durch ihre semantischen Entsprechungen sowohl in der Arbeit als auch in ausgewählten Zitaten und Quellen als solche verwendet. Festzuhalten bleibt allerdings, dass sich der entsprechende Synonymcharakter durch den jeweiligen Volksgebrauch, nicht etwa durch ähnliche Begriffsgeschichte oder -herkunft ergibt. Der Begriff ‚Authentizität‛ nimmt nicht zufällig gewählt durch die formulierte Themenstellung eine essentielle Funktion ein, sondern leitet sich aus dem ab, was gemeinhin als authentisch bezeichnet wird, im Alltag begegnet und eine entsprechend Eignung für die Formulierung der Problematik aufweist. Dabei steht der innere, emotive Bereich dessen, dem Authentizität zuschreibbar ist, im Vordergrund. Die mittlerweile selbstverständliche Erhebung von Kriterien, die für die Authentizitätsbestimmung auf die inneren Zustände eines Individuums abheben, entspricht jedoch der ursprünglichen Bedeutung von ‚authentisch‛ höchstens noch im übertragenen Sinne. Tatsächlich wird mit Authentizität, abgeleitet vom griechischen αὐθεντικός (authentikós) ursprünglich lediglich eine Qualität bezeichnet, die sich auf die Echtheit oder Verbürgtheit der Quelle eines Artefakts bezieht. Über den ästhetischen Wert dieses Artefakts besagt das Qualitätsurteil ‚authentisch‛ der Herkunft nach also nicht das Geringste. Diese Entsprechung ist auf die darstellende Kunst insofern auch heute noch leichter anwendbar, als z.B. ein Gemälde im Sinne von ‚original‛ als authentisch und nicht als nachgemacht gelten kann und diese Unterscheidung wenigstens für den Wert (nicht zwingend den künstlerischen) sinnvoll ist. In Bezug auf Kompositionen wäre das Prädikat ‚authentisch‛ in dieser Bedeutung auf die allermeisten musikalischen Darbietungen nicht anwendbar: Lediglich die Skizzen und Reinschriften der jeweiligen Komponisten dürften als authentisch gelten. Die literale Bedeutung der ‚Authentizität‛ im Sinne von Echtsein wurde aus ästhetischer Perspektive erst mit der Existenzphilosophie von einer Art innerer Wahrhaftigkeit abgelöst. Hier markiert Martin Heidegger mit seinem Terminus des ‚Eigentlichen‛, der später von Adorno und dessen Jargon der Eigentlichkeit grundlegend kritisiert worden ist, erstmals die innewohnende Qualität eines Artefakts. 1 Dieser neu gewonnene Ansatz, in welchem Authentizität mit dem Anspruch an innere Wahrheit geknüpft wird, weist bei Heidegger noch nicht die moralische

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Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie (Hrsg. Joachim Ritter), Bd.1: „Authentisch“, Basel 1989.

Begriffliche Betrachtungen

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Komponente auf,2 welche schließlich von Adorno eingeführt wird 3 und bis heute als obligatorischer Aspekt der Authentizität als ästhetischer Begriff nicht mehr wegzudenken ist. In der Gegenwartssprache existiert der Authentizitätsbegriff noch seinem Ursprung gemäß als Herkunftsindikator, aber auch parallel als handlungsmoralischer Parameter. Beide Bedeutungen müssen voneinander unterschieden werden, und in der weiterführenden Untersuchung wird, wenn nicht anders gekennzeichnet, der Authentizitätsbegriff im zweiten Sinn aufgegriffen werden.

1.2 Epigonalität Den Authentizitäts- und Originalitätsgedanken kontrastiert in modernen Auffassungen der Begriff der Epigonalität, der sowohl um seine wandlungsreiche Konnotatsgeschichte als auch wegen seiner keineswegs eindeutigen Verwendung in und nach der zu untersuchenden Kernzeit, im 19. Jahrhundert, Beachtung verdient. Wagners Vorwurf gegen die Juden, insbesondere gegen Mendelssohn und Meyerbeer, in ihrem Kunstschaffen epigonal und somit inauthentisch zu agieren, ist hinlänglich bekannt. Diese negative ethische Bewertung von Epigonalität ist allerdings erst ein Phänomen des 19. Jahrhunderts, das bereits vor Wagners Einschätzung als ästhetisches Urteil Fuß fassen konnte.

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„Unzureichend angezeigt in der Uneigentlichkeit, sofern ja die Eigentlichkeit nicht moralisch-existenziell verstanden werden soll, sondern fundamentalontologisch als Anzeige des Da-seins, in dem das Da bestanden wird in je einer Weise der Bergung der Wahrheit (denkerisch, dichterisch, bauend, führend, opfernd, leidend, jubelnd).“ Martin Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 65 („Vom Ereignis“), Beiträge zur Philosophie, Frankfurt 1936-1938, S. 302. Adorno misst der Authentizität sogar die Möglichkeit bei, als Instrument der Gesellschaftserziehung wirksam zu werden: „Ästhetische Authentizität ist gesellschaftlich notwendiger Schein: kein Kunstwerk kann in einer auf Macht gegründeten Gesellschaft gedeihen, ohne auf die eigene Macht zu pochen, aber damit gerät es in Konflikt mit seiner Wahrheit, mit der Statthalterschaft für eine kommende Gesellschaft, die Macht nicht mehr kennt und ihrer nicht mehr bedarf.“ Th. W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, in: Gesammelte Schriften, Bd. 12 (Hrsg. Rolf Tiedemann), Frankfurt/Main 2003, S. 196. Zu Adornos Verquickung von Authentizität und Moral vgl. z.B. auch Paralipomena und Noten zur Literatur. In den Noten zur Literatur definiert er die kunstästhetische Authentizität demgemäß: „Nicht nur ist das Wort [Authentizität] ungebräuchlich; die Bedeutung, die es in dem Zu sammenhang annimmt, in den ich es zog, ist keineswegs durchaus sichergestellt. Es soll der Charakter von Werken sein, der ihnen ein objektiv Verpflichtendes, über die Zufälligkeit des bloß subjektiven Ausdrucks Hinausreichendes, zugleich auch gesellschaftlich Verbürgtes verleiht. Hätte ich einfach „Autorität“ gesagt, also ein wenigstens eingebürgertes Fremdwort, so wäre dadurch zwar die Gewalt bezeichnet worden, die solche Werke ausüben, nicht aber das Moment von deren Berechtigung kraft einer Wahrheit, die schließlich auf den gesellschaftlichen Prozeß zurückverweist“. Bemerkenswert ist hierbei, dass Adorno mit dem Postulat nach „gesellschaftlicher Verbürgtheit“ den Authentizitätsbegriff partiell zu seinem Ursprung zurückführt. In: Noten zur Literatur, (Gesammelte Schriften Bd. 11) S. 231.

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Begriffliche Betrachtungen

Ohne Abwertung, im Gegenteil, sogar mit einer gewissen Würdigung 4 bezeichnete der griechisch-antike ‚ἐπίγονος‛ (epigonos) ursprünglich den Nachkommen im rein biologischen Sinne, ausgehend von den im Gegensatz zu ihren Vätern erfolgreichen Nachkommen im Krieg zwischen Eteokles und Polyneiopkes. Wann die epigonoi erstmalig kulturell thematisiert wurden, kann nicht ganz geklärt werden, aber es scheint sicher, dass die motivische Behandlung der ‚Nachgeborenen‛ in der vor-homerischen Zeit keine Rolle gespielt hat. In den wichtigsten homerischen Werkzuschreibungen lässt sich dieser Begriff nicht finden. Offenbar entstand in jener Epoche jedoch ein mittlerweile verschollenes Epos, das als Fortsetzung der Thebais gedacht war und für welches der Begriff der epigonoi titelgebend fungierte.5 Seine Autorschaft ist bislang nicht eindeutig geklärt. Eine Tragödie mit gleichem Namen, auch zum größten Teil unbekannt, wurde ebenfalls von Sophokles verfasst. Als bekanntestes Beispiel darf sicher Aischylos‛ Bezug auf die Epigonen in seinem Schauspiel der Sieben gegen Theben gelten, obwohl der Begriff im Werk selbst keine Verwendung findet. Die Epigonen, ganz unspektakulär als Abkömmlinge begriffen, wurden in ihrer Eigenschaft als solche weder ethisch noch ästhetisch negativ bewertet. Natürlich schwingt bereits in der Handlung der Thebais die Nachfolgeschaft im nicht-biologischen Sinne mit, insofern die Söhne in die sprichwörtlichen Fußstapfen ihrer Väter treten. Hinter dem Stolz, der sich nach den antiken Niederschriften noch lange Zeit an die Weitergabe von Profession, Gesinnung und dergleichen von Generation zu Generation geknüpft hat, verbirgt sich in noch keiner Weise das ‚Anstößige‛ der mittlerweile gängigen Beimischung von vermeintlich mangelnder Reflexion des Tradierten. 6 Erst im ausgehen4

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Neben der Schilderung der ruhmvollen Epigonoi in Aischylos‛ Werk begegnet der positiv konnotierte Epigone in der antiken Dichtung u.a. bei Pindar („Damals, als von Argos ge kommen waren beim zweiten Zuge die Epigonen. So sprach er, da sie kämpften: „Von Natur leuchtet hervor das adlige Wesen von den Vätern her in den Söhnen“. In: Pindar: Dichtungen - „Pythien“, Leipzig 1965, S. 109, Übers. Wilhelm Haupt) und Euripides („So wird es kommen. Epigonen wird man euch in Hellas nennen, und die Nachwelt wird euch preisen: So rühmlich sollt ihr euch, mit Götterhilfe, schlagen!“ In: Euripides: Werke in 3 Bänden - „Die Hilfeflehenden“, Hrsg. u. Übers. Dietrich Ebener, Weimar 1979, S. 320). Vgl. Timothy Gantz: Early Greek Myth . A Guide to Literary and Artistic Sources , Baltimore 1997. Was nicht bedeuten soll, dass die bloße Nachahmung als kulturelles Phänomen in ihrer Offensichtlichkeit in irgendeiner Weise hoch geschätzt wurde, im Gegenteil: Schon in der posthomerischen Epoche galten allzu plagiierte Handlungen im Kunstbetrieb als Zeichen mangelnder Schöpfungskraft, allerdings natürlich ohne literalen Bezug auf die Epigonen. Bei Horaz ist deshalb von einem ‚imitator‛, dem Nachahmer, zu lesen, der die Nachahmung im schlechtesten Sinne betreibt: „Nec circa vilem patulumque moraberis orbem:/ Nec verbum verbo curabis reddere fidus/Interpres: nec desilies imitator in artum/Unde pedem proferre pudor vetet, aut operis lex.“ („Es steht ja Dichtern frei, sich aus bekannten Sachen,/Durch Witz und Kunst und Fleiß ein Eigenthum zu machen./Dafern die Feder nur nicht allzu sklavisch schreibt,/Und Uebersetzern gleich, an Worten kleben bleibt./Ein Thor ahmt ängstlich nach, mit kläglichem Bemühen,/Wo er sich endlich schämt den Fuß zurückzuziehen.“) Anzumerken ist dabei, dass auch Horaz Nachahmung als solche – hier als inhaltliche – keineswegs durchweg verurteilt, sondern vielmehr die ‚geschickte Nachahmung‛

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den 18. Jahrhundert und nicht zufällig antipodisch zum damals aufkommenden Geniebegriff vollzieht sich die pejorative Besetzung des Wortes. Der Nachkömmling, der gezwungen oder gar bequem genug ist, das Tradierte ohne Hinterfragen zu übernehmen, ist ein sperriges Motiv für das Originalgenie, 7 das sich als ideell autark begreift. So unschicklich diese Bequemlichkeit und Unselbstständigkeit auch gewertet werden, bezieht sich der Epigonalvorwurf gegen jüdische Darbietungen jedoch auf den Absichtlichkeitscharakter, der hinter der Epigonalität vermutet wird (vgl. dazu auch gründlicher unter Wahrhaftigkeit Kapitel 1.4). Das im Zeitalter des Originalgenies ohnehin aus der Mode gekommene und bestenfalls durch Unvermögen entschuldigte Nachahmungswirken gewinnt durch Vorsätzlichkeit das Prädikat ‚unerhört‛. Carl Immermanns gesellschaftskritischer Roman Die Epigonen greift bezeichnenderweise das vermeintliche Epigonalverhalten der jüdischen assimilierten Schicht in ihrem sozialen Duktus auf. 8 Martin Gubser, der nicht nur Immermanns Epigonen auf stereotype Antisemitismen untersucht hat, erläutert das Phänomen jüdischer Epigonalität vor dem Hintergrund überzogenen Assimilationsbestrebens. Dabei mischt sich Epigonalität mit einer Art Manierismus: Vor allem gegen Mitte, aber bereist auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts tauchen das männliche Klischee des „Parvenüs“ und als weibliches Pendant die „Salondame“ auf. Ebenfalls dazu zu zählen ist der mauschelnde „Ostjid“, ein proletarischer jüdischer Trödelhändler. Er ist ein unangenehmer und vorlauter Mensch, der seine auch von ihm selbst als inferior empfundene Herkunft möglichst schnell durch weltmännisches Gehabe – und sein Verständnis davon muß sich nicht unbedingt mit dem der Mehrheit decken – vergessen ma chen will. „Parvenü“ und „Salondame“, in ihrer Art keineswegs weniger lächerlich als der „Ostjid“, betreiben einen großen Aufwand, um dazuzugehören, wovon sie qua Herkunft

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fordert, was wiederum auf den ästhetischen Anspruch der katharsis in der griechischen Tragödie verweist und an anderer Stelle behandelt wird. Horaz: De arte poetica (Von der Dichtkunst), hier in der Übersetzung von Johann Christoph Gottsched ( Versuch einer kritischen Dichtkunst durchgehends mit den Exempeln unserer besten Dichter erläutert , Leipzig 1751, S. 25). Dementsprechend kritisiert Goethe 1808 durch die Klage des Mephistopheles die damals seit Generationen bestehende Starrheit der Jurisprudenz und maskiert damit die Forderung nach eigenen Impulsen, das Alte zu überwinden und Neues zu schaffen: „Es erben sich Gesetz‛ und Rechte/Wie eine ew‛ge Krankheit fort,/Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte/ Und rücken sacht von Ort zu Ort./ Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage;/ Weh dir, daß du ein Enkel bist!“ Die Bedeutungsverschiebung des Epigonen, hier als „Enkel“, wird deutlich – nicht länger wird damit ein Nachfahre im genealogischen, sondern einer im ideellen Sinne bezeichnet. In: Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Eine Tragödie, Hamburger Ausgabe, Bd. 3, Hamburg 1949, S. 64. Carl Immermann: Die Epigonen, Berlin 1865. Gleich zu Beginn des Romans tritt die Analogisierung von Epigonalität im Sinne bloßer Nachfolge und moralischer Unterlegenheit in den Vordergrund; Epigonalität lebt hier im Dunstkreis von Täuschung und Lüge: „Ich wün sche nichts, ich verlange nichts; die Zeit der Täuschungen ist für mich vorbei. Tummelt Ihr Euch immerhin umher zwischen Schein und Irrthum, nur hofft nicht, in mir einen Nachfolger zu finden.“Ebd., Bd. 1, S. 4.

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Begriffliche Betrachtungen ausgeschlossen sind. Es ist nicht unbedingt falscher Schein, der dadurch entsteht – ihr eifri ges Bemühen nach gesellschaftlich Höherem drückt sich vielmehr in Geschmacklosigkeit aus, in einem Übermaß an ästhetischem und kulturellem Anspruch, wo gelassene Ausgewogenheit richtig wäre, mit einem Wort: in unangemessenem Verhalten. Die Stereotypen funktionieren auch hier verläßlich: Wer sich der kulturellen und gesellschaftlichen Maßstäbe von Geburt an sicher sein darf, findet die oft haarscharfen Differenzen zwischen Vorgabe und „jüdischem“ Nachahmungsversuch – stets ein bisschen zu bunt, zu laut, zu neu oder zu reichhaltig – mit großer Wahrscheinlichkeit amüsant.9

Zu behaupten, dass diese sozialen Nachahmungsversuche auf jüdischer Seite de facto nicht statthatten, kann auf einen Philosemitismus hindeuten, der eine konstruktive Debatte im Voraus bereits untergräbt. Die Anerkennung dieser Tatsache erlangt hingegen vor allem dann besondere Bedeutung, wenn man sie im Zusammenhang mit den Epigonalvorwürfen bei jüdischem Musikschaffen betrachtet, wie beispielsweise Hartmut Wecker die Epigonalität mit dem jüdischen Komponisten Ignaz Brüll kontextualisiert hat. 10 Zwar verdankt sich, wie noch dargelegt wird, das Klischee vom epigonal komponierenden Juden nicht den zum Teil grotesken Assimiliationsbemühungen, 11 dennoch betten die Vorwurfsmomente, die sich gerade im 19. Jahrhundert durch die eben dargelegten sozialen Vorgänge ergeben, jene ein, welche sich auf die vermeintlich epigonalen Kompositionen, aber auch auf die von außen noch weniger eindeutig als epigonal einzuschätzende Handlung des Komponierens beziehen. 9

10

11

Martin Gubser: Literarischer Antisemitismus – Untersuchungen zu Gustav Freytag und anderen bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, Wallstein 1998, S. 120. Die hier zu leistende Betrachtung fasst das Werk Ignaz Brülls (1846 – 1907) nicht durch den gesetzten zeitlichen Rahmen, der bis ca. 1850 angelegt ist. Wecker exerziert am Beispiel Brülls eine Analyse des jüdischen musikkulturellen Epigonalismus und schafft eine direkte Verbindung zwischen dem Phänomen des epigonalen Komponierens bei Brüll, das er mu siktheoretisch/analytisch in seinem Werk darlegt, und der jüdischen Herkunft des Komponisten. Wecker erkennt folgerichtig, dass vor diesem Hintergrund der polemische Aufsatz Wagners eine gewisse Aussagekraft besitzt, wobei die möglichen stichhaltigen Sachlichkeiten jedoch von der großen emotionalen Geste Wagners, welche sich primär als ethische Instanz versteht, erstickt werden. Wecker schreibt dazu: „Die Bereiche der Kunst und Kultur ermög lichten eine relativ vorbehaltlose Assimilation an die bürgerliche Gesellschaft, zwangen aber dazu, den Konsens mit dieser Geschmacksträgerschicht aufrechtzuerhalten. Das implizierte einen weitgehenden Verzicht auf Originalität im Sinne eines Fortschreitens zu immer extre meren kompositionstechnischen Folgerungen unter dem Diktat des ästhetischen Gewissens. Für Brüll bedeutete das letztlich die Preisgabe der historischen Authentizität seiner Werke und hatte zur Folge, daß er schließlich in andauernder Selbstwiederholung erstarrte und zum Epigonen seiner selbst wurde. In bezug auf Brüll ist es durchaus möglich, Wagners Pamphlet „Das Judenthum in der Musik“, das im Grunde eine Beschreibung musikalischer Epigonalität darstellt, ernstzunehmen, allerdings nur insofern, als es sich dort um sachliche Feststellungen und nicht um polemische Tiraden handelt.“ Auf engem Raum begegnen hier bezeichnenderweise die Schlagwörter ‚Epigonalität‛, ‚Authentizität‛ und ‚Originalität‛. Hartmut Wecker: Der Epigone: Ignaz Brüll – ein jüdischer Komponist im Wiener BrahmsKreis, Pfaffenweiler 1994, S. 16. Vgl. Hanni Mittelmann: Sammy Gronemann (1875-1952), Frankfurt/Main 2004, S. 80f.

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Mit seinem „Bekenntnis“ hat der jüdische Schriftsteller Karl Kraus das Epigonentum erstmalig im 20. Jahrhundert ein Stück weit aus seiner Herabsetzung herausgeführt, indem er die Ursprungsbedeutung, vermischt mit anklingender Resignation, einbezieht und sie auf paradoxe Weise mit dem Sinn eines schöpferischen Aktes versieht. Das Bekenntnis, Epigone zu sein und Traditionen wahren zu wollen – hier deutlich auf die Bewahrung der Sprache bezogen – wird von Stolz genährt. 12

1.3 Originalität Eine wirklich gültige Definition für den Begriff der ‚Originalität‛ finden zu können, ist ein vergleichsweise aussichtsloses Unterfangen. Zwar lässt sich durch ihre konkreter formulierbaren Kontraste wie Kopie oder Epigonalität eine schwammige Abgrenzung der Originalität ziehen, da sie sich aber in der hier stattfindenden kunsthistorischen Betrachtung in großen Teilen mit dem ‚Originalgenie‛ überlappt, wird ihr metaphysischer Charakter nur umso stärker betont. Ähnlich wie bei der Authentizität ist die mittlerweile schwächer konnotierte Bedeutung von Originalität unproblematisch, aber für die ästhetische Untersuchung kaum relevant: Durch das Prädikat der Originalität wird ein Artefakt als autonom gegenüber etwaigen Vorgängern klassifiziert und unterscheidet sich dadurch von einer Reproduktion. Der Schwachpunkt dieser schlichten Bestimmung lässt sich mit der Problematik des Authentizitätsbegriffes vergleichen – nicht nur Artefakten, sondern auch (kunstschaffenden) Individuen soll Originalität zuschreibbar sein. Damit verliert die Definition ihre Gültigkeit. Immerhin die Etymologie bereitet keine Schwierigkeit: Die lateinische ‚origo‛ bezeichnet zunächst nicht mehr als die Herkunft eines Gegenstandes und schafft damit in gewisser Weise erst die Voraussetzung für die Kategorie des ‚authentikós‛. Schließlich lässt sich die Frage nach der Echtheit nicht ohne die Frage nach der Herkunft klären. Als immanenter, angeborener Wesenszug kam die Originalität vermutlich im 14. Jahrhundert durch die Predigten über die Erbsünde (peccatum originale) in den deutschen Sprachgebrauch. 13 Mit den Adjektiven ‚original‛ und ‚originell‛, die im Sinne einer Wesenscharakterisierung zum Teil bis heute synonym verwendet werden, bezeichnet dementsprechend das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm „äuszerlich oder innerlich etwas ursprüngliches, selbständiges oder sonderbares an sich habend und zeigend“ .14 12

13

„Ich bin nur einer von den Epigonen,/die in dem alten Haus der Sprache wohnen./Doch hab‛ ich drin mein eigenes Erleben,/ich breche aus und ich zerstöre Theben./Komm‛ ich auch nach den alten Meistern, später,/so räch‛ ich blutig das Geschick der Väter./Von Rache sprech‛ ich, will die Sprache rächen/an allen jenen, die die Sprache sprechen./ Bin Epi gone, Ahnenwerthes Ahner./Ihr aber seid die kundigen Thebaner!“ Karl Kraus: „Bekenntnis“, in: Ausgewählte Gedichte, München 1920, S. 40. Ingeborg Saur: „Originalität“ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie , Lemma „Originalität“, Bd. 6, Basel 1984, S. 1373.

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Durch die Etablierung der Verknüpfung von Originalität mit innerer Konstitution ist es nur noch ein Katzensprung zum Kunstideal des Originalgenies, dessen Maxime das Kunstschaffen das 19. Jahrhundert durchwirkt. Man muss sicher darauf hinweisen, dass sich das Postulat nach Originalität im Laufe der Begriffsentwicklung keineswegs nur auf das Gebiet der Kunstästhetik beschränkt hat, sondern gleichfalls und mit besonderem Schwerpunkt auf der ‚inventio‛ in der Philosophie und in den Naturwissenschaften zu finden war. Aber zum einen war die für uns heute selbstverständliche Trennung von Kunst, Geistes- und Naturwissenschaften bis zum 19. Jahrhundert noch nicht disziplinär eindeutig vollzogen und zum anderen ist es der Sache dienlicher, bei der Untersuchung des Ästhetikproblems bei der Kunst zu verweilen. Wenn im Text also lapidar von ‚Kunst‛ die Rede ist, sollte vermerkt bleiben, dass mit ‚Kunst‛ ein rekursiv eingeführter Begriff für die ‚schönen Künste‛ gilt. Mit einer Emphase auf ebendiese ‚schönen Künste‛ hat Kant bereits 1790 den Originalitätsbegriff verbunden und elementar zur Verknüpfung von ‚original‛ und ‚Genie‛ beigetragen.15 In seinem System des transzendentalen Idealismus lässt Schelling wiederum die Forderung nach einem Traditionsbruch anklingen, nach einem Durchbrechen der nur scheinbar festgelegten Reihe, um Originalität zu erwirken. Damit skizziert sich womöglich bereits der Kerngedanke, durch welchen sich das Authentizitätsproblem im Kunstschaffen erschließen lässt. Wenn die erste Konstruktion der Philosophie Nachahmung einer ursprünglichen ist, so werden alle ihre Konstruktionen nur solche Nachahmungen sein. Solange das Ich in der ursprünglichen Evolution der absoluten Synthesis begriffen ist, ist nur eine Reihe von Handlungen, die der ursprünglichen und notwendigen; sobald ich diese Evolution unterbreche, und mich freiwillig in den Anfangspunkt der Evolution zurückversetze, entsteht mir eine neue Reihe, in welcher frei ist, was in der ersten notwendig war. Jene ist das Original, diese die Kopie oder Nachahmung.16 14

15

16

Jacob und Wilhelm Grimm (Hrsg.): Deutsches Wörterbuch (DWB), Lemma „originell“, Bd. 13, Leipzig 1971, S. 1348f. „Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt. Da das Talent, als ange bornes produktives Vermögen des Künstlers, selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: Genie ist die angeborne Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt. Man sieht hieraus, daß Genie 1) ein Talent sei, dasjenige, wozu sich keine bestimmte Regel geben läßt, hervorzubringen: nicht Geschicklichkeitsanlage zu dem, was nach irgend einer Regel gelernt werden kann; folglich daß Originalität seine erste Eigenschaft sein müsse. 2) Daß, da es auch originalen Unsinn geben kann, seine Produkte zugleich Muster, d.i. exemplarisch sein müssen; mithin, selbst nicht durch Nachahmung entsprungen, anderen doch dazu, d.i. zum Richtmaße oder Regel der Beurteilung, dienen müssen.“ Sehr veranschaulichend verbindet Kant hier auf diese Weise den Originalitätsbegriff in seiner ursprünglichen Bedeutung als Nicht-Kopie mit dem immanenten „ingenium“, das v.a. auf ästhetischer Ebene Bedeutung erlangen kann. In: Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft“, in: Kant Werke in 12 Bänden , Bd. 10, Hrsg. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/Main 1977, S. 242. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transzendenten Idealismus in: Sämtliche Werke, Bd. 2, Hrsg. K. F. A. Schelling, Stuttgart 1856-1881, S. 71.

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Die Antinomie von Traditionalität und Originalität, die Schelling damit herstellt, ist außerordentlich bezeichnend und phrasiert ein Kriterium für das gegenüber traditionellen vermeintlichen Selbstverständlichkeiten unabhängige Originalgenie. Wenn Schelling in seinem System ursprünglich und original17 analogisiert, charakterisiert er damit nichts anderes als eine Entität, die sich aus sich selbst speist. Ohne je gedacht zu sein, entsteht sie aus sich heraus: „Original nennt man nur etwas, wovon man erst einen Begriff erhält, dadurch daß es wirklich ist, also das, wo die Wirklichkeit der Möglichkeit zuvorkommt.“18 Die Ursprünglichkeit als Originalität kann folgerichtig nur eine angeborene sein, und so betrachtet man (oder sich) das Originalgenie als ein geborenes, nicht geschaffenes. Neben der Traditionalität polarisiert der Originalitätsbegriff damit die Kunst im klassischen Sinne: eine durch Mühe und Fleiß erworbene Fähigkeit. Dass der etwa bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts außerordentlich positiv besetzte Begriff schließlich Einbußen erfahren hat, ist hinlänglich bekannt. In Bezug auf jüdisches Kunstschaffen führte diese Entwicklung sogar zu diesem sich prima vista paradox darstellenden Phänomen, dass, nachdem jüdischen Komponisten lange Zeit mangelnde Authentizität bzw. Originalität unterstellt, ihnen mit einem Mal zu viel Originalität bzw. Entartung vorgeworfen wurde. Von „Originalitätswut“ in der Kunst ist schon bei Kierkegaard die Rede, 19 Nietzsche erklärt sie als ‚allzumenschliche‛ Angst vor der Konvention: Die künstlerische Konvention. - Dreiviertel Homer ist Konvention; und ähnlich steht es bei allen griechischen Künstlern, die zu der modernen Originalitätswut keinen Grund hatten. Es fehlte ihnen alle Angst vor der Konvention; durch diese hingen sie ja mit ihrem Publi kum zusammen. Konventionen sind nämlich die für das Verständnis der Zuhörer eroberten Kunstmittel, die mühvoll erlernte gemeinsame Sprache, mit welcher der Künstler sich wirklich mitteilen kann. […] Für gewöhnlich wird das Originale angestaunt, mitunter sogar angebetet, aber selten verstanden; der Konvention hartnäckig ausweichen heißt: nicht verstan den werden wollen. Worauf weist also die moderne Originalitätswut hin ?20

Der Schritt zur Einschätzung als Entartung, also als zu originell, ist kein großer mehr. Die Abqualifizierung von Originalität hat, wohl mit dem Höhepunkt des Geniekultes, Einzug in die Ästhetikfrage des ausklingenden 19. Jahrhunderts gehalten. Diese vorerst ästhetische Entwicklung reflexartig politisieren zu wollen, ist, 17 18 19

20

Ibid., Bd. 3, S. 802. A.a.O. „Da aber viele eine entschiedene Vorliebe für Plaudern und Schwatzen haben, so hört man auf der Straße und in Gesellschaften und liest in Büchern mancherlei, was unverkennbar eine Originalitätswut an sich trägt, die, auf das Leben übertragen, die Welt mit einer Menge von Kunstprodukten bereichern würde, von denen eins lächerlicher als das andre wäre.“ Søren Kierkegaard: Entweder-Oder, Leipzig 1885, S. 556. Friedrich Nietzsche: „ Die künstlerische Konvention“ in: Menschliches, Allzumenschliches, in: Werke, Bd. 1, Wien 1954, S.925.

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obwohl sich Ästhetikkriterien immer auch sozialen Strömungen verdanken, ein riskantes Unterfangen. Isoliert betrachtet, beschreibt der Entartungsbegriff ganz klar eine Antithese zur Originalität. Der Komponist August Halm, der neben musikpädagogischen auch eine Reihe musikphilosophischer Schriften verfasst hat und den Zwang zur Originalität ablehnte, 21 unterschied bereits zwischen den bis dato eher synonym verwendeten Adjektiven ‚original‛ und ‚originell‛, wobei seine Definition von ‚originell‛ schon in Richtung des reinen Wortsinnes von ‚entartet‛ tendierte. Ich lehne nämlich die überall sonst verkündete Pflicht, originell zu sein, gänzlich ab auch für den, der beachtet zu werden verlangt. Man glaubt heute kaum mehr an die Musik selbst als eine geistige Realität, und hält sich dafür an die mehr körperliche einzelner musikalischer Geister, der Komponisten-Persönlichkeiten. Ich glaube aber weit mehr an die erstere, und so wünschte ich ganz gewiß der Musik ihre Originalität, ihre Ursprünglichkeit... Somit nenne ich das Seltsame, Nie-dagewesene nicht schon Original, mag es auch vielen „originell“ scheinen, und halte das Abenteuern in der Musik für billig und eitel .22

Der Unterschied zwischen ‚original‛ als unverfälschte Ursprünglichkeit (hier ganz im Sinne von Schelling) und ‚originell‛ als eine Art Deformierung oder Überbordung des Originals deutet eine allmählich erreichte Toleranzgrenze der Erfüllung des Originalitätspostulats an – und schlägt damit den Bogen zu der zuvor so vehement abgelehnte Traditionalität. Spätestens mit dem 20. Jahrhundert herrscht in Bezug auf die Bedeutung von Originalität große Unklarheit – die pejorativen Einschläge verheddern sich mit den positiven Konnotaten, und als Systematisierungskriterium taugt der Begriff längst nicht mehr. Besonders bezeichnend dafür sind Adornos ästhetische Betrachtungen, die zwei Dinge belegen: 1. Die Ablehnung von Originalität eignet sich nicht als Parameter einer politischen Zuordnung, wie es die Nähe des Entartungsbegriffes zur NS-Ideologie implizieren könnte. 2. Der Originalitätsbegriff hat jede mögliche Eindeutigkeit verloren. So schreibt Adorno:

21

22

„Oberflächliches Betrachten wurzelt in unserer Überschätzung des Originellen, Einmaligen, Außerordentlichen; wie es auch, in Wechselwirkung, diese Überschätzung wieder nährt.“ In: August Halm: Nachlassschriften, Deutsches Literaturarchiv, Marbach, Konvolute Notizen und Aufzeichnungen vermischten Inhalts, Protokollnummer 69.446, Akte 2. August Halm: „Von meinem Schaffen”, in: Von Form und Sinn der Musik , gesammelte Aufsätze, Hrsg. Siegfried Schmalzried, Wiesbaden, 1978, Musikalische Erziehung (1) (1906), S. 299.

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Wegen des Moments des nicht schon Dagewesenen war das Geniale mit dem Begriff der Originalität verkoppelt: „Originalgenie“. Allbekannt ist, daß die Kategorie der Originalität vor der Geniezeit keine Autorität ausübte.23 Bedingungen des Charakteristischen scheinen überlieferte Kategorien, wie Einfall und Originalität. Beide sind mit Grund in Verruf geraten.24

Nun besagt gewiß isolierte Originalität, zumal die vulgäre Vorstellung, daß einem Melodien einfallen, die anderen noch nicht eingefallen sind, nicht viel. Sie geht denn auch fast unweigerlich selber in die Schablone der Selbstnachahmung über.25 Nur Dilettanten verwechseln die tabula rasa mit Originalität. 26 Das Neue ist Erbe dessen, was vordem der individualistische Begriff der Originalität sagen wollte, den mittlerweile jene ins Feld führen, die das Neue nicht wollen, es der Unoriginali tät, alle avancierte Form der Uniformität bezichtigen.27

Die angeführten Zitate belegen Adornos Ablehnung des tradierten Originalitätsbegriffes und seine Forderung nach dessen Neubesetzung, nach einer methodisch gründlicheren Behandlung. Er lehnt den Begriff aufgrund seiner Entwicklung jedoch nicht einfach nur ab, sondern behandelt ihn mit der gleichen Inkonsequenz, die er Anderen in seinen Schriften vorwirft. Ohne weitere Ausführung, Eingrenzung oder Ergänzung nutzt er den Begriff nahezu reflexionslos und beinahe floskelhaft als bloßes Epigonalantonym und positiv für ästhetische Urteile: Der korrespondierende letzte Satz ist von nicht geringerer Originalität der Konzeption. 28 Die Originalität und Gestaltungskraft des jungen Brahms ist, ihrem eigenen Recht und ihrer vollen Tragweite nach, bis heute kaum recht gesehen worden; […]. 29 Das zweite etwa, eine Peripetie, jenem Typus zugehörig, zu dem unter Schönbergs Händen das Scherzo wurde, ist nur ein auskomponiertes Diminuendo höchster Originalität: der Ausbruch klingt rasch ab und läßt einen nächtlich ruhigen und tröstlich schließenden Nachsatz übrig.30

23 24 25 26 27 28

29 30

Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, in: Gesammelte Schriften (GS), Bd. 7, S. 257. Adorno: „Kriterien der neuen Musik“, in: Musikalische Schriften I-III, GS, Bd. 16, S. 201. Ibid. Adorno: „Ästhetische Theorie“, in: GS, Bd. 7, S. 71. Adorno: „Paralipomena“, in: GS, Bd. 7, 402. Adorno: „Aus dem Ersten Mahler-Vortrag“, in: Musikalische Schriften V, in:GS, Bd. 18, S. 586. Adorno: „Schöne Stellen“, in: Musikalische Schriften V, in: GS, Bd. 18, S. 711. Adorno: „Arnold Schönberg (1874-1951)“, in: Kulturkritik und Gesellschaft I/II, in: GS, Bd. 10, S. 176.

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Was bleibt, ist mangelnde Eindeutigkeit. Nicht nur hat sich die Bedeutung des Begriffes über die Jahrhunderte immer wieder verschoben, nicht nur ist er innerhalb eines festgesetzten Zeitrahmens unterschiedlich aufgefasst worden. Was die eigentliche Essenz von Originalität ausmacht, war stets an subjektive Wahrnehmung geknüpft, möglicherweise noch bescheidener formuliert: Die Einschätzung von Originalität läuft zu guter Letzt in die individuelle Geschmacksfrage über. Insofern sich Originalität also nicht banal als das Pendant zur Epigonalität verstehen lässt, sind für die Einschätzung vermeintlicher Originalität, im Unterschied zu einer vermeintlichen Kopie, nur sehr vage Anhaltspunkte für einen Kriterienkatalog geltend zu machen.

1.4 Wahrhaftigkeit Besonders aufschlussreich für die zu behandelnde Problematik nimmt sich abschließend die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Wahrhaftigkeit aus. Das historische Wörterbuch der Philosophie weist in seinem Artikel zur Wahrhaftigkeit explizit auf die Problematik, die eingangs bereits angedeutet wurde: „Wahrhaftigkeit“ bildet zusammen mit „Aufrichtigkeit“, „Ehrlichkeit“, „Redlichkeit“, „Wahrheitsliebe“ und „Authentizität“ ein nicht ohne Schwierigkeiten zu differenzierendes Wortfeld .“31

Die historische Entwicklung und Besetzung dieses Begriffes verweisen auf einen grundlegenden Spannungsbogen, in welchem sowohl Aufrichtigkeit und Wahrheit als auch Lüge und Falschheit ihren Ort finden. Zwar werden die scheinbaren Gegensätzlichkeiten stets unter die allgemeingültige Prämisse des tugendhaften Handelns gesetzt, dennoch verlieren die solcherart gegebenen Antworten auf die Frage nach dem Wesen der Wahrhaftigkeit nur wenig von ihrer Irritation – ob Wahrhaftigkeit letztlich an Wahrheit geknüpft sein muss, ob also nicht zuletzt die authentische (Selbst-)Darstellung ganz auf Scheinbarkeiten verzichten muss, um als tugendhaft zu gelten, ist eine Frage, die offenbar am ehesten durch persönlichen Moralgeschmack als durch kategorische Verfemung zu beantworten ist. Trotzdem soll die Frage hier, vor allem wegen ihrer möglichen Gültigkeit für Kunstschaffen, gestellt werden. Vor dem Hintergrund einer Diskussion zwischen Sokrates und Hippias über die viel zitierte Listigkeit des Odysseus hat bereits Platon in seinem Hippias minor die Frage nach Moral ausgeklammert, sogar das Täuschungstalent, das sich im nicht-wahrhaftigen Handeln findet, für unter gewissen Umständen tugendhaft erklärt.32 Der Gedanke ist ebenso konsequentialistisch wie simpel: Hätte Odysseus dem Zyklopen Polyphem seinen wahren Namen genannt und damit wahrhaftig 31

32

Urs Thurnherr: „Wahraftigkeit“, in: „Historisches Wörterbuch der Philosophie (Joachim Ritter Hrsg.), Bd. 12, Basel 2005, S. 44. Hippias Minor, in: Platon: Sämtliche Werke, Bd. 1, Berlin 1957.

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gehandelt, wäre er wohl mitsamt seiner Mannschaft im Hades gelandet. Man muss aber, um Platons Apologie des Unwahrhaftigen zu begreifen, nicht zwingend Homer bemühen. Platon modelliert einen ganz und gar logischen Gedanken, der vor allem in Bezug auf Kunstschaffen Beachtung verdient. Indem man absichtsvoll nicht wahrhaftig ist, zum Beispiel vorsätzlich epigonal komponiert, ist man ein besserer Künstler als jener, der ganz ohne Absicht die gleiche Handlung vollzieht, also trotz aller Mühe nur epigonal komponieren kann. 33 Übertragen auf den Vorwurf der mangelnden Authentizität bei jüdischen Komponisten sähe das platonische Modell des Hippias II folgendermaßen aus: 1. Der absichtsvoll epigonal komponierende Jude ist zwar inauthentisch bzw. nicht wahrhaftig, aber gerade deshalb kunstfertig. 2. Der unbewusst epigonal komponierende Jude kann sich zwar keines großen Talentes rühmen, ist aber dafür aufrichtig und wahrhaftig. Auf diese Weise betrachtet, wäre einem jüdischen Komponisten, der vermeintlich epigonal komponiert, die Kunstfertigkeit oder die Aufrichtigkeit abzusprechen, jedoch nie beides zur gleichen Zeit – und die Praxis für den Vorwurf von 1. begegnet tatsächlich besonders nachdrücklich in den später zu untersuchenden Kritiken in Bezug auf den jüdischen Komponisten Giacomo Meyerbeer. Als moralphilosophisches Gegenmodell für die Behandlung der Wahrhaftigkeit in der attischen Philosophie muss die kategorische Ablehnung der Unaufrichtigkeit nach Kant, ganz in der augustinischen Tradition, geltend gemacht werden. Die größte Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst, bloß als moralisches Wesen betrachtet (die Menschheit in seiner Person), ist das Widerspiel der Wahrhaftigkeit: die Lüge (aliud lingua promptum, aliud pectore inclusum gerere). Daß eine jede vorsätzliche Unwahrheit in Äußerung seiner Gedanken diesen harten Namen (den sie in der Rechtslehre nur dann führt, wenn sie anderer Recht verletzt) in der Ethik, die aus der Unschädlichkeit kein Befugnis hernimmt, nicht ablehnen könne, ist für sich selbst klar. 34

Nicht nur verdeutlicht sich in dieser Aussage die hinreichend bekannte Einstellung Kants gegenüber moralischem Fehlverhalten. Gleichzeitig unterscheidet er, 33

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„Sokrates: Also auch die unvorsätzlich fehlende Seele ist schlechter als die vorsätzliche? Hippias: Im Schießen, ja. Sokrates: Wie aber in der Heilkunde! Ist nicht die welche vorsätzlich Übles an Leibern anrichtet, heilkundiger? Hippias: Ja. Sokrates: Besser also ist sie in dieser Kunst als die nicht heilkundige? Hippias: Besser. Sokrates: Und wie die tonkundigere, sei es auf der Leier oder Flöte und so in allem übrigen was Künste und Wissenschaften betrifft, wird nicht überall die bessere vorsätzlich das schlechte und unrühmliche tun und also fehlen, die schlechtere aber unvorsätzlich? Hippias: So zeigt es sich.“ In: Ibid., S. 125. Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten, Königsberg 1797, S. 387.

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indem er zu Recht die Lüge mit vorsätzlicher Unwahrheit gleichsetzt, Wahrheit von Wahrhaftigkeit. Wenn Richard Wagner in seinem Aufsatz wiederholt von Täuschungen des jüdischen Kunstschaffenden gegenüber dem Rezipienten spricht, unterstellt er damit genau das, was Kant hier auf das Schärfste verurteilt – die vorsätzlich geleistete, also absichtsvolle Lüge (wobei der Vorgang des Lügens stets Absicht voraussetzt). Diese Unterscheidung zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit wird auch im späteren Verlauf der Untersuchung, nämlich im Kontext der Reformation, nicht unerheblich sein. Ein ‚sich täuschender Jude‛ ist demnach wahrhaftig, ein ‚täuschender Jude‛ hingegen ein zu verurteilender Lügner, obwohl die Wahrheit in beiden Fällen gleichermaßen zu kurz kommt. Die Frage nach der Kunstfertigkeit tritt hier zugunsten der moralischen Komponente in den Hintergrund und kontrastiert damit das platonische Modell, welches das nicht-wahrhaftige Handeln insofern als das tugendhaftere vorsieht, als hier die Tugenden als Fertigkeiten begriffen werden. Wenn auch das Theoretisieren um Wahrhaftigkeit vor allem mit Blick auf die Kategorienstiftung erhellend und notwendig ist, so bleibt es doch die Antwort auf die Frage schuldig, was – um die Frage nach Wahrhaftigkeit wirklich konkret anwenden zu können – tatsächlich ‚nicht-wahrhaftiges Komponieren‛ ist, welche Kriterien dafür eingeführt werden sollten und wie sich letztlich eine zuverlässige Überprüfbarkeit darstellen könnte. Um die Frage nach Wahrhaftigkeit mit der moralischen Problematik des Epigonentums zu verknüpfen, bieten sich beispielsweise folgende Überlegungen an: 1. Indem ein Komponist einen Stil absichtlich kopiert, handelt er nicht wahrhaftig, weil er eine bereits vollzogene Leistung als erstmalig umgesetzte Idee proklamiert. 2. Indem ein Komponist einen Stil absichtlich kopiert, handelt er nicht wahrhaftig, weil er seinen eigenen Stil nicht mitteilt. 3. Indem ein Komponist durch seine Komposition absichtlich bestimmte Emotionen beim Rezipienten affizieren will, welche er jedoch selbst entweder zum Zeitpunkt der Komposition oder generell nicht empfindet, handelt er nicht wahrhaftig. Von allen Punkten ist 1. sicherlich der in sich bestüberprüfbare und klarste, obwohl das nicht viel heißen soll. So könnte man Mozart ohne Weiteres Stilkopien vorwerfen, weil seine frühen Sinfonien für einen Musiklaien nicht ohne Schwierigkeit von Haydns Kompositionen zu unterscheiden sind. Dass dieser Vorwurf ausgemachter Unsinn wäre, versteht sich von selbst, er wirft aber damit die Frage auf, wo und wann eine Stilkopie eigentlich beginnt. Zeitnahe Kompositionen ähneln sich zwangsläufig in Form und Stil, ohne sich dabei gegenseitig zu kopieren. Man kann schon zuverlässiger von einer Kopie sprechen, wenn z.B. ganze Melodiefragmente in einer anderen Komposition auftauchen, aber berücksichtigt man

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die Tatsache, dass die abendländische Kompositionstradition auf ‚nur‛ zwölf Töne begrenzt ist, lässt sich die zufällige Dopplung einer Idee nicht absolut sicher ausschließen, zumal bei einem Kopievorwurf die Beweispflicht (bis heute) den Nachweis erfordert, dass der vermeintliche Plagiator das ‚Original‛ kannte, um die Absichtlichkeit aufzuzeigen. Sind die Ähnlichkeiten zwischen zwei Stücken überwältigend, lohnt diese Art der Rabulistik freilich nicht, wenn damit auch nicht geklärt ist, ab welcher konkreten Relation zwischen Stück A und dem scheinbar kopierten Stück B jenes als epigonal gilt. Für 1. lässt sich also festhalten, dass ein als epigonal zugeordnetes Werk nicht durch einen bestimmten Schwellenwert, sondern durch fließend kumulative Charakteristika als solches wahrgenommen wird und es damit eines konkreten Kriteriums mangelt. Um als epigonal komponiert beurteilt zu werden, ist ein Stück ferner von der Analogietoleranz und dem Grad der Werkkenntnis des Rezipienten abhängig – da es nicht den Rezipienten schlechthin gibt, lässt sich auch hierfür keine verlässliche Aussage treffen. Für 1. lässt sich außerdem im Gegensatz zu 2. ein weiteres Problem formulieren: Dass sich ein Komponist innerhalb seines Œuvres auf sich selbst bezieht, entspricht bis heute gängiger Praxis. Ihm deshalb Nachahmung im schlechtesten Sinne vorzuwerfen, wäre allerdings absurd. Dieses Phänomen tritt in der Musikgeschichte in vielen Formen auf, so z.B. bei Johann Sebastian Bachs Parodieverfahren, in anderer Weise bei Franz Schuberts Forellenquintett oder seinem 2. Variationssatz vom Quartett Der Tod und das Mädchen, welche sich jeweils auf bestehende Vertonungen beziehen, bis hin zu Wagners ausschweifend praktizierter Leitmotivik, die streng genommen genauso in der Kategorie ‚Selbstzitation‛ rangieren muss. Auch heute ist es für viele Musiker Usus, ihr Frühwerk aufzugreifen und zu überarbeiten, solche sogenannten Remakes tragen keinerlei musikästhetisch anrüchigen Charakter. Für 1. und gleichermaßen 2. lässt sich außerdem eine andere Beurteilungsschwierigkeit ausmachen. Indem ein Werk oder ein Stil wenigstens partiell kopiert wird, drückt der Komponist damit nicht zuletzt seine Wertschätzung des Originals aus. Dass diese Art der Rückbesinnung erst mit dem aufkeimenden musikgeschichtlichen Historismus des 19. Jahrhunderts einhergehen konnte, erklärt sich von selbst. Und wenn Wagner in seinem Aufsatz dieses historische Denken an Mendelssohn als typisch epigonal kritisiert, 35 so hätte er wenigstens in diesem Punkt bei seinem Schwiegervater die Hände über dem Kopf zusammenschlagen müssen: Franz Liszts Faszination für Beethovens Werk war dem Apologeten des Gesamtkunstwerkes hinreichend bekannt, und Liszts Klaviertranskription von Beethoven-Sinfonien lassen sich, obwohl sie absolut als autonome Kompositionswerke gelten, beim besten Willen nicht als vorbildlos beschreiben. 36 Obwohl Liszt 35

36

Vgl. Richard Wagner: „Das Judenthum in der Musik“, in: NZfM, Bd. 33, S. 109. Wenn nicht anders angegeben, gilt im Folgenden für die Zitation aus der NZfM Franz Brendel als Herausgeber. Ungeachtet seiner sonst so scharf formulierten Forderung des ‚Originalgenies‛ zimmerte sich Wagner, um für sich in Liszt ein gültiges Abbild eben jenes schaffen zu können, eine Erklärung für Liszts wiederholte rückwärtige Bezugnahme, welche vor allem im Vergleich mit der Verurteilung Mendelssohns durch Wagner nicht wenig konstruiert wirkt:

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wohl auch durch die Intensität seiner Bezugnahme auf andere Komponisten und Kompositionen eine einzigartige Rolle in der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts spielt, blieb dieses Verfahren natürlich nicht ungeteilt. So muss z.B. Charles Gounods Ave Maria, das sich Bachs Wohltemperiertem Klavier verdankt und in Geschmacksfragen die Rezipienten sicher spalten mag, in der gleichen Tradition des wörtlichen ‚Epigonalkomponierens‛, das trotzdem Wahrhaftigkeit atmet, gedacht werden, wie auch Maurice Ravels Orchestrierung von Modest Mussorgskis Bilder einer Ausstellung oder Max Regers Klaviertranskriptionen von Bachs Brandenburgischen Konzerten. Noch weniger originell mag Georg Friedrich Händels Umgang mit bereits bestehender italienischer Vokalmusik anmuten. Die Liste ließe sich sicher beliebig fortsetzen, und natürlich muss der jeweilige kompositionsgeschichtliche Hintergrund hinreichend berücksichtigt werden, wenn es darum geht, jene etwas salopp zusammengetragenen Formen des Wiederaufgriffs im Einzelnen zu analysieren. Die genannten Beispiele verweisen jedoch sehr deutlich auf die Schwierigkeit, die sich bei einem als selbstverständlich vorausgesetzten Zusammenhang zwischen Epigonalität und mangelnder Wahrhaftigkeit ergibt. Natürlich entschärft die unverblümte Bezugnahme auf bereits bestehende Werke den Epigonalcharakter einer Komposition, insofern der Komponist ganz offensichtlich einen Tribut formuliert und an fremdem Federschmuck kein oder kaum Interesse zu zeigen scheint. Trotzdem lässt sich im Sinne von 2. auch bei einem nicht kenntlich gemachten Stilkopierversuch nicht schlechthin von Unehrlichkeit bei der Mitteilung des eigenen Stils sprechen. Denn indem entweder durch den offen ausgedrückten Hommagegedanken oder durch den Versuch, unerkannt einen gefälligen Stil zu kopieren, der eigene Geschmack und das persönliche Musikempfinden mitgeteilt werden, kann von vollkommener Unwahrhaftigkeit kaum mehr die Rede sein. „Dagegen frage ich alle Die, welche in vertrautem Kreise z. B. das 106. oder 111. Werk Beethoven‛s (die zwei großen Sonaten in B und C) von Liszt spielen hörten, was sie vorher von diesen Schöpfungen wußten und was sie dagegen nun von ihnen erfuhren? Wenn es eine Reproduktion war, so war diese doch unbedingt mehr werth, als alle die Beethoven re produzirenden Sonaten, die als Nachahmung jener noch schlecht verstandenen Werke von unseren Klavierkomponisten „produzirt“ worden sind. Dieß war nun einmal die eigenthümliche Art der Liszt‛schen Bildung, daß er, was Andere mit Feder und Papier zu Stande brachten, am Klavier von sich gab; wer aber wollte leugnen, daß auch der größte und originellste Meister in seiner ersten Periode nur reproduzirte? Nur ist hier zu bemerken, daß, so lange selbst das größte Genie nur noch reproduzirt, seine Arbeiten nie den Werth und die Bedeutung der reproduzirten Werke und ihrer Meister sich aneignen können, sondern voller Werth und volle Bedeutung hier erst mit der Kundgebung der bestimmten Originalität eintritt. Somit übertraf aber die Thätigkeit Liszt‛s in seiner ersten, reproduktiven Periode alles hierin früher Geleistete, weil er dabei den Werth und die Bedeutung der Werke seiner Vorgänger erst in das vollste Licht stellte, und sich dabei nahezu auf dieselbe Höhe mit dem reproduzirten Tonsetzer schwang.“ Richard Wagner: „Über Franz Liszt‛s Symphonische Dichtungen“, in: Sämtliche Schriften und Dichtungen (SSuD), Bd. 5, Leipzig 1911, S. 185187.

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Punkt 3 ist hingegen weitaus leichter nachzuvollziehen, zumal das damit zusam menhängende Motiv des Komponisten – zumeist der Versuch, die Popularität des eigenen Werks zu steigern – ganz bequem zu unterstellen ist. So überzeugend sich hier Ursache und Wirkung von Unaufrichtigkeit gegenüberstehen, umso delikater nimmt sich hier die Nachweisbarkeit aus. Natürlich bleibt fraglich, ob beispielsweise all jene Wiener Operettenkomponisten durch ihre Kompositionen stets ihre inneren Einstellungen und Empfindungen wiedergegeben haben, ob sie sich tatsächlich so häufig in einen Taumel aus Leichtigkeit, Frivolität und Lebensfreude hineingegeben haben, wie die vertonten Libretti transportieren. Nachzuweisen, dass sich das Gefühlsleben der Komponisten tatsächlich ganz anders, sogar situativ gegenteilig darstellte, grenzt allerdings an Unmöglichkeit. Wenn Richard Wagner demnach den ‚empfindungsunfähigen Juden‛ an seinen inauthentischen Kompositionen zu erkennen glaubt, so mangelt es vor allem an der Relation zwischen den Vergleichsmomenten, wie beispielsweise zwischen einer Oper des jüdischen Komponisten Giacomo Meyerbeer und einer Operette des nicht-jüdischen Komponisten Franz von Suppè. Aus der Perspektive des begonnenen 21. Jahrhunderts und mit Blick auf die breitflächig konsumierte Popularmusik scheint der Gedanke an die publikumsgefällige Komposition, die höchstens marginal authentische Emotionen transportiert, dafür aber umso stärker evozieren soll, in hohem Maße akzeptiert zu sein und in der Breite längst nicht mehr auf künstlerische oder moralische Verurteilung zu stoßen. Zwar haben sich Wahrhaftigkeit und Gefälligkeit per se noch nie ausgeschlossen, dennoch war im 19. Jahrhundert die Vorstellung eines Originalgenies mit einem starken inneren Ringen um den wahrhaftigen Selbstausdruck verbunden, sodass jeder Verdacht auf mangelndes Streben nach Wahrhaftigkeit den künstlerischen Wert eines Werkes beeinträchtigen musste. Dass aber ausgerechnet die ausstehende Untermauerung dieses Verdachts der heikle Punkt ist, der für die Bewertung eines Kunstwerkes vor dem Hintergrund der Wahrhaftigkeitsfrage im besten Fall an die begrenzte Verlässlichkeit der eigenen Intuition verweist, wurde hinreichend dargestellt.

2. Ideengeschichtliche Vorgaben

2.1 Platons Ideenlehre und die Frage der Authentizität Ideengeschichtlich zeichnete sich schon die Philosophie der griechischen Antike durch eine bewertungsfreie Behandlung jener Prinzipien aus, mehr noch: Sowohl aus ethischer wie aus ästhetischer Perspektive war die Abgrenzung zwischen Originalität und Nachahmung nahezu marginal bis irrelevant. Platons Modell der de facto unübersetzbaren Idee des Ontologischen gegenüber ihrer mangelhaften, auf die menschliche Wahrnehmung abgestimmte Übertragung in die stoffliche Welt 1 raubt der Frage nach Authentizität jede Grundlage: Sofern das Begreifen und/oder Darstellen des ‚Echten‛ zwar als erstrebenswert, aber in seiner Vollendung gleichwohl utopisch ermessen wird, kann ein Artefakt bestenfalls durch mehr oder weniger offenbare Nachahmung klassifiziert werden, jedoch niemals durch die Diskrepanz zwischen Originalität, also der platonisch realiter unausführbaren Idee, und ihrer letztlich inauthentischen, diesseitigen Übersetzung. Aus dieser Position heraus lohnt die Diskussion um Echtheit sicherlich nicht, selbst die allgemeine Frage nach wahrer Erkenntnis in Verbindung mit Wahrnehmung müsste postwendend als belanglos abgetan werden. Um den Anspruch auf eine Begriffsklärung dennoch zu wahren, begegnet man dem platonischen, nicht widerlegbaren Modell am besten in der Form, die sich grundsätzlich gegenüber allen skeptizistischen Ansätzen – und Platons Gleichnis tendiert vom epistemologischen Standpunkt her in diese Richtung – empfiehlt: man ignoriert sie. Das soll keiner Geringschätzung gleichkommen, im Gegenteil: Das Modell im Hinterkopf zu behalten, erfüllt sogar eine notwendige Funktion zur Relativierung. Jedoch ändern die teilweise konstruierten Zweifel an allem Seienden nichts an den Tatbeständen, denen sich der Mensch fraglos ausgesetzt sieht. Etwas nonchalant formuliert, ist eine Konzentration auf diese Tatbestände also sehr vernünftig, andernfalls würde man bereits an der Frage scheitern, ob man den eigenen Wahrnehmungen trauen kann, was wiederum jede weiterführende Überlegung für nichtig erklären würde. Ohne die Bedingung, dass, selbst für den Fall, dass jedwede einzelne Wahrnehmung in Frage gestellt werden, man aber auf das Ganze gesehen in einer überwiegend verlässlichen Wahrnehmungswelt existieren kann, ist kein stabiler Lebensvollzug möglich.2 Dies lässt sich leicht auch für höherstufige Feststellungen ausdehnen, die zum Beispiel Wahrnehmungsvergleiche und begriffliche Anreicherungen aufweisen.3 In den Kontexten, in denen sich der Mensch integriert findet, kann demnach eine relativ gesicherte Auffassung von Kreativität und Nachah1

2 3

Vgl. Platons berühmtes Höhlengleichnis in Platon: Der Staat, 7. Buch, in: Sämtliche Werke, Bd. 2, Berlin 1940. Vgl. Alvin I. Goldman: Knowledge in a Social World, Oxford 1997. Angemerkt sei, dass Platon in dieser höherstufigen Dimension den Skeptizismus selbst wieder zu Gunsten der Ideenlehre außer Kraft setzt.

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mung existieren. Da die Nachahmung bereits als Komponente der Kreativität gekennzeichnet wurde, ist zu erfragen, in welcher Ausprägung das Element jeweils einen Teil des Ganzen ausmacht. Man kann davon ausgehen, dass, je geringer ein offensichtlicher Anteil der Nachahmung den Schöpfungsprozess ausmacht, der Kontrast zwischen Kreativität und Imitation umso schärfer begriffen wird, was letztendlich dazu führt, dass beide Begriffe für gewöhnlich antagonistisch empfunden und verwendet werden. Platon selbst gibt eine mögliche Antwort auf die Frage, auf welche Weise die Nachahmungsintensität – also der Grad der Epigonalität im Kunstschaffen, was hier als vorrangig relevant bewertet wird – gemessen werden kann. Dennoch ist diese Antwort auf allgemeines Musikschaffen nicht ohne Probleme übertragbar. In seinem Ion führt er aus, dass eine Kunst (hier im eigentlichen Sinne als téchne) umso inauthentischer wird, je weiter sie sich von der zu behandelnden Materie entfernt. Natürlich greift Platon nicht auf den expliziten Begriff ‚Inauthentizität‛ zurück, jedoch nutzt er die semantische Entsprechung bei der Bewertung homerischer Dichtung, wenn er moniert, dass der Rhapsode allenfalls ein Dolmetscher der Dolmetscher sei.4 Die Leistung eines Malers, der einen Sonnenuntergang fixiert, wäre hier nicht nur als nachahmend, sondern als relativ inauthentisch zu bezeichnen: Allenfalls ein Physiker, der sich auf Optik und die Wellen- und Strahlenproblematik des Lichts spezialisiert hat, könnte sich authentisch zu diesem Sonnenuntergang äußern. Wollte ein inspirierter Dichter gar passende Zeilen zu diesem Bild verfassen, würde er damit noch inauthentischer als der Maler selbst handeln – er steht in der ‚Authentizitätskette‛5 noch weiter hinten. Übertragen auf kompositorische Beispiele wären davon u.a. Sergei Rachmaninows oder Max Regers Tondichtungen betroffen, für welche Arnold Böcklins Gemälde Die Toteninsel Pate stand, natürlich auch Paul Dukas‛ Der Zauberlehrling, ebenso Till Eulenspiegels lustige Streiche von Richard Strauss und etliche andere Kompositionen. Platon hätte demnach eine programmatische Komposition unter diesen Vorzeichen vermutlich ohne zu zögern als eindeutig inauthentisch bezeichnet und Hector Berlioz gefragt, ob er wirklich authentisch berichten könne, wie das persönliche Erleben einer Hinrichtung sei, wie er es in seiner Symphonie fantastique suggeriert. Jene Bewertung des ‚Inauthentischen‛ birgt dennoch keine Wertung und besagt nichts über den moralischen oder kunstfertigen Grad der Nachahmung; sie ist in der Nutzung durch Platon lediglich exemplarisch für eine logische Folgerung.

4

5

„Sokrates: Verkündigt nun nicht ihr Rhapsoden uns wiederum die Worte der Dichter? Ion: Auch darin hast du recht. Sokrates: Ihr werdet also Verkündiger der Verkündiger und Dolmetscher der Dolmetscher?“ Platon: „Ion“ in: Sämtliche Werke, Bd. 1, Berlin 1940, S. 138. Vgl. dazu auch die Beschreibung des Magnetkonzeptes im Ion in: Ibid.; S. 136ff.

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2.2 Das Authentizitätsproblem in der aristotelischen Mimesislehre Während Platon noch die ‚Echtheit‛ als praktisch nicht wahrnehm- oder darstellbar erklärt, nimmt schon Aristoteles das Prinzip der Nachahmung in seinen Diskussionen positiv und als ergreifbar auf und verzichtet – ähnlich seinem Vorgänger – ganz selbstverständlich auf eine ethische Bewertung der Nachahmung. Das gelingt ihm, indem er sie als völlig notwendiges Element des Schöpfungs- und Darstellungsprozesses beschreibt. Aristoteles‛ gesamte Poetik setzt den nachahmenden Vorgang (mimesis) der künstlerischen Produktion, vor allem der Darstellung von Gefühlen gleich, und dass Aristoteles der besonders gelungenen Imitation von „Jammer“ und „Schauder“ eine übergeordnete kathartische Funktion zuschreibt, ist hinlänglich bekannt. Aristoteles‛ Forderung kennzeichnet auf den zweiten Blick eine Paradoxie: Es geht nicht darum, möglichst viel Authentizität 6 durch Nachahmung zu gewinnen, sondern um die Förderung der authentischen Imitation im modernen Sinne von Lebensnähe. Zu einem solchen Anspruch kann man nur gelangen, indem man dem Mimesisbegriff keinen negativen Mitklang beimischt. Aristoteles sieht also von einer ethischen Bewertung der Mimesis als Vorgang ab, was jedoch nicht ausschließt, dass er das Ergebnis der Mimesis erstens ästhetisch als mehr oder weniger authentisch und daraus resultierend auch ethisch durch die erfüllte oder unerfüllte soziale bzw. kathartische Funktion beurteilt. Das Selbstverständnis, mit dem Aristoteles den Vorgang der Nachahmung als Teil der menschlichen Kreativität als naturgegeben und erforderlich vorstellt, gewinnt er durch folgende Beobachtung: […] sowohl das Nachahmen selbst ist den Menschen angeboren - es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, daß er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachah mung erwirbt - als auch die Freude, die jedermann an Nachahmungen hat.7

In Aristoteles‛ Poetik werden zwei Ebenen zur Echtheits- und Nachahmungsfrage unterschieden: Auf der ersten Ebene wird Nachahmung zum Kunstschaffen vorausgesetzt, auf der zweiten, darunter liegenden wird subtextuell eine Authentizitätsvorstellung eingeführt, die vor allem für den Rezipienten relevant ist – damit ist der Produzent der Mimesis aus der Pflicht entlassen, selbst Rezipient seiner Darstellung zu sein. So banal diese Feststellung auch anmutet, umso entscheidender ist sie für den weiteren Verlauf der Begriffsdiskussionen. Vor allem auf den schon im 18. Jahrhundert wesentlich geprägten Geniebegriff im Kontext der Au6

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Obwohl der Begriff der Authentizität heute im absoluten Sinne aufgefasst wird, charakterisiert die durch Aristoteles beschriebene Mühe um eine glaubhafte Darstellung Nuancen im Ergebnis. Deswegen wird, was das allgemeine Authentizitätsverständnis irritieren mag, an dieser Stelle nicht absolut zwischen authentisch und inauthentisch unterschieden, sondern der Begriff quantitativ behandelt. Aristoteles: Poetik, Kapitel 4 „Die zwei Ursachen der Dichtkunst“, (Übersetzung v. M. Fuhrmann), Ditzingen 1994.

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thentizität ist eine solche Auffassung nicht übertragbar: Authentizität gilt dann nur als gegeben, wenn der (Kunst-)Produzent seine Darstellungen emotional selbst nachvollzieht, erst in zweiter Linie – wenn überhaupt – wird nach dem Effekt auf den nicht-schaffenden Rezipienten gefragt.8 Diese Umkehrung, diese Schwerpunktverlagerung der Rezeption, entspricht im Groben der Dipolarität von Universalismus (Rezipienten sind nicht Produzenten, womit ein Produkt von vielen ‚authentisch rezipiert‛ werden kann) und Partikularismus (der Rezipient ist in erster Linie Produzent, wodurch sich die Möglichkeit der absolut ‚authentischen Rezeption‛ lediglich auf den Produzenten beschränkt). Dieses Modell wird sich parallel im später erfolgenden Vergleich der jeweiligen Intensität der Subjektbezogenheit im Judentum und Protestantismus niederschlagen und markiert somit eine entscheidende Antithetik. Dass die jeweils dominierende Religion enorm auf die ästhetischen und ethischen Anforderungen an künstlerischen Darstellungen einwirkt, erklärt sich von selbst. Der extreme Bewertungswandel des durch Aristoteles noch so naturgemäßen und für die Erkenntnisgewinnung unerlässlichen Wesens der Nachahmung im Christentum unterwirft sich diesem Phänomen.

2.3 Authentizitätsvorstellungen im frühen Christentum Nichts Schändlicheres, als ich damals, der ich selbst jenen Menschen missfiel, da ich mit unzähligen Lügen den Erzieher, die Lehrer und Eltern täuschte, alles aus Hang zum Spiel, nichtiger Schaulust und spielerischer Nachahmungssucht.9

Spiel und Nachahmung, aus biologischer Sicht die Grundsteine für jeden Lernund Entwicklungsprozess und damit gleichzeitig die Basis für den ontogenetischen Fortschritt, werden im Christentum nach Augustinus abgewertet. Sicherlich besetzt Augustinus in seinen Bekenntnissen ‚selbst‛ für einen Christen ganz allgemein eine markant-submissive Position, umso mehr eignet sich dieses Extrem, den Bewertungswandel der Nachahmung unter den jeweilig führenden ideologischen Systemen zu veranschaulichen. Der Authentizitätsbegriff unter Augustinus kann nur auf eine Weise ausgelegt werden: als der wahrhaftige Glaube an den einen Gott. Anders als bei Platon, der zwar die ‚echte‛ Erkenntnis gleichfalls als nichtmenschgegeben bebildert, dabei jedoch vom Menschen ausgeht, gewinnt man nun in der christlichen Vorstellung der ‚Authentizität‛ einen neuen Begriff: die Wahrheit. Das Konzept der aletheia ist kein neues, sondern wurde schon durch vorso8

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Gadamer geht in seiner ästhetischen Betrachtung deshalb sogar so weit, der griechisch-antiken Tradition das abzusprechen, was wir heute gemeinhin unter ‚Kunst‛ verstehen: „Aber zunächst ist es klar, daß keine unmittelbare Hilfe von den Griechen erwartet werden kann, wenn sie im besten Fall das, was wir „Kunst“ nennen, als eine Art Nachahmung der Natur verstehen. Solche Nachahmung hat freilich nichts von der naturalistischen oder realisti schen Kurzschlüssigkeit moderner Kunsttheorie.“ In: Hans Georg Gadamer: Die Aktualität des Schönen, Stuttgart 2006, S. 17. Aurelius Augustinus: Bekenntnisse, (Übersetzung von Georg Rapp), Stuttgart 1838, S. 24.

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kratische Philosophen behandelt.10 Dennoch unterscheidet sich dieser Wahrheitsbegriff von der ‚christlichen Wahrheit‛ ungemein. Die ‚Wahrheit‛ im Christentum qualifiziert sich nicht im eigentlichen Sinne als Instrument oder Ziel des Erkenntnisgewinns, sondern manifestiert sich vielmehr als personales Konzept. Gott und Wahrheit werden synonym verwendet, und durch den damit verbundenen vordergründigen Charakter der gefühlten (und nur dadurch erfahrbaren) Wahrheit stellt der Begriff keinerlei Ansprüche an verifizierbare (so überhaupt möglich) Grundlagen der individuellen Erkenntnisgewinnung. Aber Lügen sprachen sie, von dir nicht nur, der du in Wahrheit die Wahrheit bist, auch von den Elementen dieser Welt, deiner Schöpfung, über welche ich selbst die wahreren Lehren der Philosophen verlaßen mußte, seit ich die Liebe fand zu dir, mein bester Vater, du Schönheit aller Schönheiten. O Wahrheit, Wahrheit, wie seufzte mein Herz nach dir, als jene mir mit Wort und Schrift so viel und häufig von dir sprachen! 11 Aber darin sündigte ich, daß ich nicht in dir, daß ich in deinen Kreaturen, in mir und den andern, Lust, Herrlichkeit und Wahrheit suchte, und damit in Schmerz, Verwirrung und Irrthum sank.12 […] die Wahrheit aber, die bist du.13

Diese religiöse Entrücktheit, ohne welche sich der Anspruch einer gefühlten Wahrheit nicht rechtfertigen ließe, ist grundlegend für die christliche Kategorisierung von „gut“ und „schlecht“ oder „wahrhaftig“ und „falsch“. Waren bis dahin Wahrheit und Erkenntnis noch insofern kausal aneinander geknüpft, als Erkenntnis Wahrheit voraussetzt (man kann nichts erkennen/wissen, was unwahr ist), verquicken aus christlicher Perspektive beide Begriffe. Bezogen auf das (Kunst-)Schaffen bedeutet diese Entwicklung, dass der Produzent, um ‚Authentizität‛, in diesem Falle ‚Wahrheit‛, vermitteln zu können, selbst absolute Erkenntnis über sein Produkt gewonnen haben muss. Ein nicht-gläubiger Mensch kann dementsprechend durch sein Kunstschaffen keine ‚authentischen‛ Gefühle (in diesem Fall religiöse Erkenntnis) bei anderen auslösen. Diese klare Folgerung verweist auf das Kernproblem, das sich mit der ästhetischen Bewertung von Kunstschaffen unter dem Aspekt der Authentizität eng verbindet. Begründet durch den christlichen, neu formulierten Anspruch der Wahrheit wurde sein Radius seit Augustinus nicht mehr verändert und fand seinen Höhepunkt im 19. Jahrhundert. 10

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Indem Parmenides beispielsweise in seinem Lehrgedicht „Über das Sein“ der aletheia (Wahrheit) die doxa (Meinung) gegenüberstellt, schafft er eine Antonymform, die sich gleichfalls bei Platons Erkenntnisdeutungen niederschlägt. Heideggers späterer Versuch, sich der aletheia durch den Begriff der „Unverborgenheit“ zu nähern, soll an dieser Stelle nicht weiter erhellt werden. Augustinus: Bekenntnisse, S. 64. Ibid., S. 26. Ibid., S. 76.

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Dennoch unterscheidet sich das vor-aufklärerische Christentum in der ästhetischen Bewertung von inneren Zuständen von seinen früheren Strömungen in einem Punkt ganz besonders. In den Jahrhunderten bis zur Aufklärung mag der Mensch Erkenntnis/Wahrheit gewonnen haben, indem er Gott erkennt und dadurch erst die ‚wahrhaftige‛ Position seiner selbst und seines Schaffens in der Unterwerfung gegenüber Gott einnehmen kann, 14 später jedoch verschärft sich der – für ästhetische Bewertungen ohnehin problematische – Individualismus zugunsten des einzelnen Menschen, seiner Intention und seines Fühlens im 19. Jahrhundert enorm. Der Mensch, der sich als selbst-gefühlter Teil Gottes begreift, steht außerhalb jedes Bewertungs- und Kritiksystems. Verlässliche Angaben über das Erkennen von ‚Echtheit‛ lassen sich dadurch nicht länger treffen. Die schon bei Augustinus deutlich gewordene Ablehnung des kognitiven statt emotiven Bemühens zur Erkenntnisgewinnung beseelt den Authentizitätsbegriff im Christentum bis heute. So verwundert es entsprechend kaum, dass auch bei Augustinus ästhetische Überlegungen zu ‚wahrem‛ Kunstschaffen und Musizieren zu finden sind, die, ganz der Tradition innerer Einstellungen verpflichtet, Kunstfertigkeit als reines Handwerk nur gering schätzt und umso resoluter Wahrhaftigkeit und Authentizität fordert: Wer nämlich ein Lob singt, der lobt nicht nur, sondern lobt mit großer Freude; wer ein Lob singt, der singt nicht nur, sondern liebt dabei jenen, dem er singt. Im Wortlaut des Lobes bildet sich die Huldigung ab, im Gesang aber der Eindruck der Liebe .15

2.4 Emotio contra rationem in epistemologischen Überlegungen Auch knapp eintausend Jahre nach Augustinus hat sich vom grundlegenden Erkenntnisanspruch im Christentum nur wenig geändert. Wo die Gelehrsamkeit meist Scholastik hieß und zunächst einmal dazu diente, theologische Dogmen zu festigen, hat sich das Prinzip „Gott = Wahrheit“ erhärtet und bewährt. Denn sowie Gott das Innere mit der Wahrheit berührt hat, so wirft sich das Licht in die Kräfte und der Mensch versteht alsdann mehr als ihm jemand lehren könnte.16

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Noch Bachs nahezu routiniertes, oft als Namensersatz gebrauchtes „Soli deo gloria“ betont das damalige Selbstverständnis der Konstellation von Individuum/Werk und Gott. „Qui enim cantat laudem, non solum laudat, sed etiam hilariter laudat; qui cantat laudem, non solum cantat, sed ita amat eum, quem cantat. In laude confitentis est praedicatio, in cantico amantis affectio.” Augustinus: Enarrationes in Psalmos (Ps. 72), in: Opera omnia post Lovaniensium Theologorum Recensionem castigata denuo ad Mss. Codices Gallicanos, Vaticanos, Belgicos, etc: Studio Monachorum Ordinis Sancti Benedicti e Congregatione S. Mauri, Bd. 4,Teil 1, Paris 1835, S. 1077. Diese und die folgenden Übersetzungen im Text wurden, wenn nicht anders angegeben, von der Autorin gefertigt. Meister Eckhart: „Predigten“, Vom Unwissen, in: Meister Eckharts mystische Schriften (Hrsg. Gustav Landauer), Berlin 1902, S. 25.

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Indem hier aus dem Schaffen Meister Eckharts zitiert wird, soll der bedeutende Theologe und Philosoph in erster Linie insofern die scholastische Strömung repräsentieren, als sich seine mystizistische Auffassungen zur Gotteserfahrung eher noch gemäßigt ausrichtet. Ein Abriss über die gesamten Erkenntnis- und Argumentationsansätze der Scholastik würde an dieser Stelle zu weit führen, weswegen die für diese Betrachtung vorrangig relevante Facette der Wahrnehmung von Echtheit/Wahrhaftigkeit in den Fokus gerückt wird. Dass die christliche Position die eigene Erkenntnis als grundlegend für die Vermittlung des Echten/Wahren versteht, ist bereits aufgezeigt worden, und somit legitimiert sich die Verknüpfung von Einsicht und Authentizität. Ebenso deutlich wurde der Anspruch betont, mit welchem schon im vierten Jahrhundert der christliche Glaube den Erkenntnisgewinn reflektiert: über das gefühlte Verstehen. Wo kognitive Erkenntnis durch gefühltes Begreifen abgelöst wird, muss gleichfalls der Verstand als Mitarbeiter der gefühlten Erkenntnis dienen: Die andere [Kraft] heißt Verstand, intellectus. Diese Kraft vergleicht man dem Sohne. An der sollst du auch einen goldenen Ring haben, nämlich Erkenntnis, damit du Gott zu allen Zeiten erkennen sollst.17

Insofern Erkenntnis Wahrheit voraussetzt, vermengt die christliche Tradition auf fast trinitarische Weise jenes, was sich mit dem ‚Echten‛ verbindet: Gott als Absolutum – Sohn/Wahrheit – heiliger Geist/Erkenntnis. Dass Diskussionen und Überlegungen zu dem Wahrheits- und Echtheitsbegriff dennoch ohne explizit religiösen Bezug, dafür mit einer Gewichtung auf Rationalität auch im 13. Jahrhundert vollzogen wurden, soll an dieser Stelle gleichfalls betont werden. Die Adäquationstheorie des Thomas von Aquin steht dabei ganz in der Tradition von Aristoteles’ Semantik in De interpretatione und enthebt ihn des spezifisch christlichen Charakters zugunsten einer rein sachlichen Verhältnisbestimmung. Gemäß des Korrespondenzprinzips von erkennendem Verstand und erkanntem Tatbestand wird dabei vom Schaffenden kein emotionales Einstellen erwartet: Wenn aber der Verstand Richtschnur und Maß der Dinge ist, besteht Wahrheit in der Übereinstimmung der Dinge mit dem Verstand; so sagt man, der Künstler verfertige ein wahres Kunstwerk, wenn es seiner Kunstvorstellung entspricht.18

Obwohl dieses zwar lapidar anmutende Postulat indes Schwierigkeiten für die Bewertung von Kunst zum Beispiel durch die Problematik einer externen Überprüfbarkeit der „Kunstvorstellung“ integriert, sollen diese hier nicht diskutiert werden. Für die Fragestellung zum Authentizitätsproblem von jüdischem Kunstschaffen 17 18

Ibid., Von Gott und der Welt, S. 123. Thomas von Aquin: Über sittliches Handeln/Summa Theologiae , Teil 1, Quaestio 21/2, Ditzingen 2001.

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unter den Vorzeichen innerer Einstellungen und des Epigonalitätsvorwurfes ist die thomistische Tradition derweil eher unerheblich. Nachdem also nachgewiesen wurde, dass die Frage nach Epigonalität und Echtheit für die Bewertung von Kunst in der griechisch-aristotelischen Tradition keine Rolle gespielt hat, sondern erst mit dem aufkommenden Christentum die Einschätzung von Authentizität als an einen inneren Zustand gebunden zum Tragen kam, soll die Dissonanz zwischen Judentum und Christentum, die sich vor diesem Hintergrund ergibt, in der Auseinandersetzung um den Echtheitsbegriff im Weiteren kurz religionsgeschichtlich ausgeführt werden.

3. Die Reformation1 und der ‚lügende, inauthentische Jude‛

3.1. Allgemeines Die Geschichte der Judendiskriminierung beginnt lange vor der Geburt Christi, und im Laufe vieler Jahrhunderte wurde das jüdische Feindbild je nach Relevanz für den Aggressor um eine Vielzahl Stereotypen ausgebaut. 2 Ab dem dritten Jahrhundert modellierte sich allmählich das Christentum als bedeutendster Antagonist zum Judentum. Durch das seit dem frühen Mittelalter zugunsten des Christentums vorliegende Machtgefälle zwischen Kirche und Synagoge wurden die noch heute bekannten und oftmals mit christlicher Sakralität konnotierten Unterstellungen gegenüber den Juden popularisiert. Die Vorwürfe kennzeichneten den Juden vom Ritualmörder christlicher Knaben und Hostienschänder über den Christusmörder und Marienhasser bis hin zum klischee-überladenen Brunnenvergifter.3 Das klandestine Wirken des Juden gegen den aufrechten Christen zieht sich durch die Vorwürfe einerseits als roter Faden, schafft damit eine Verknüpfung aller Anschuldigungen und verweist andererseits insofern auf die Schwierigkeit der Ankläger, diese verborgenen Agitationen zu belegen, als es diese Schwierigkeit auch gleichzeitig rechtfertigt. Vor dem Hintergrund der versteckten Verbrechen musste den Juden eine ganz grundlegende Disposition zur Unehrlichkeit zu eigen gemacht werden; die still vorausgesetzte ‚jüdische Falschheit‛ stellte den Unterbau für alle antisemitischen Klischees bereit. Für die vorliegende Betrachtung tragen die verschiedenen Bezichtigungen keine Relevanz. Die vermeintliche Unehrlichkeit der Juden ist es vielmehr, die hier in Bezug auf ihre Ursachen und Auswirkungen bis hin zur Kunstbewertung überprüft werden soll. Die Betrachtung erfolgt mit dem Reformationsbeginn, seit welchem die bislang als selbstverständlich angenommene und nicht weiter diskutierte Falschheit der Juden dezidierter formuliert wurde. Der Topos des ‚falschen Juden‛ als solcher verdankt sich zwar, wie dargelegt, nicht der Reformationsbewegung. Dennoch hat sie durch ihr Beharren auf innere Zustände eines Individuums diesen Stereotyp mit einer solchen Selbstverständlichkeit tradiert und erweitert, dass sich seine Wirkung nachhaltig und über mehrere Jahrhunderte entfalten konnte.

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Einen sehr gründlich erarbeiteten Überblick zur wechselseitigen Dynamik zwischen der Reformation und dem Judentum bietet Achim Detmers Monographie Reformation und Judentum. Israel-Lehren und Einstellungen zum Judentum bis zum frühen Calvin (Stuttgart 2001), die für ein tieferes Verständnis des Themas ‚Judentum und Reformation‛ zur eingehenden Lektüre einlädt. Vgl. Die Religion in Geschichte und Gegenwart (Hrsg. Kurt Galling), Lemma „Antisemitismus“, Bd. 1, 3. Auflage, Tübingen 1956-1965, S. 456ff. Vgl. Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, Vorwort zu Bd. 7, 4. Auflage, Leipzig 1897, S. 6.

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Überblickend lassen sich zwei reformatorische Kernvorwürfe zur vermeintlichen Falschheit/ Inauthentizität der Juden aufnehmen: 1. Der Jude lügt, indem er nicht konvertiert, weil er den messianischen Jesus leugnet. 2. Der Jude lügt, indem er konvertiert. Antisemitische Texte nähern sich beiden Anschuldigungen (insbesondere der ersten) aus sehr unterschiedlichen Richtungen, die, wenn man sie folgerichtig besieht, den Juden eine Zwangslage schaffen, in welcher letzten Endes jede Handlung als heuchlerisch und falsch erfasst werden muss. Dadurch führen 1. und 2. notwendig zu: 3. Der Jude lügt. Ad 1. Wo die katholische Kirche ihre antijüdischen Ausrichtungen noch mit der Anklage gegen die „Jesusmörder“ legitimierte, 4 rückte die Reformationsbewegung von äußeren Handlungen zugunsten innerer Einstellungen ab. Zwar bleibt das Verbrechen des Mordes an dem Messias auch nach Auffassung des frühen Protestantismus bestehen, als eigentliche Verfehlung wird den Juden jedoch in erster Linie ihre vermeintliche Unfähigkeit, die Wahrheit als solche – und zwar als neutestamentliches Wort Gottes – zu erkennen (a) bzw. anzuerkennen (b). Denn obwohl die Reformation nach eigener Überzeugung dem Judentum die Möglichkeit bietet, auf Äußerlichkeiten zu verzichten, um allein aus einem intrinsischen Bedürfen und Verstehen die ‚wahre Religion‛ mit den Protestanten zu teilen, gelingt ihr ebenso wenig die Judenmission wie dem Katholizismus. Dabei verfolgten die Juden die Reformationsbewegung anfänglich mit keiner geringen Zuversicht: Die innerreformatorische Forderung des sola scriptura und der Ruf ‚ad fontes‛ führte auf der Seite der protestantischen Christen zu einem neuen, respektvollen Umgang mit der hebräischen Schrift und Sprache. So äußerte sich Rabbi Abraham b. Eliezer ha-Levi angesichts der beginnenden Reformationsbewegung hoffnungsvoll: […] Eine große Menge hat sich mit ihm [Luther] verbunden … und er nähert sich nach und nach der Religion Mose … die Zwangsgetauften erheben ihr Haupt, und den Juden wurde Licht und Freude.5

Tatsächlich aber mühten sich die Reformatoren natürlich nicht aus reiner Judenfreundlichkeit um eine christliche Akzeptanz der jüdischen Kultur, sondern er4

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Karl Erich Grözinger: „Die Gottesmörder“, in: Antisemitismus. Vorurteile und Mythen (Hrsg. H.J. Schoeps u. J.D. Schlör), München 1995, S. 57-66. Rabbi Abraham b. Eliezer ha-Levi: Die messianische Erwartung im Judentum (um 1525), Übertragung. J. Maier, S. 163.

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warteten unter Darlegung und Nachweis der ‚Falschheiten‛ der jüdischen Exegese der Tora die Bekehrung der Juden zum lutherischen Glauben. 6 Als die große Bewegung erhoffter und erwarteter Konversionen ausblieb, verhärtete sich die Position der lutherischen Reformatoren stark zu Ungunsten der Juden. Denn dass das Neue Testament in seiner Eigenschaft als Quelle göttlicher Wahrhaftigkeit nicht anerkannt, fehlinterpretiert oder gar ignoriert werden könnte, war nach protestantischer Ansicht ohne bewussten, sogar böswilligen Vorsatz nicht denkbar. Entweder hatten also die Hebräer zwar die Erkenntnis der Autorität Jesu gewonnen, doch sie leugneten sie um ihrer Tradition willen (a), oder sie waren innerlich derart ‚verdorben‛ und ‚verfälscht‛, dass sie nicht einmal das jedem Menschen erfahrbare wahrhaftige Wort Gottes aufnehmen und begreifen konnten (b). Position (a) wird dabei von christlicher Seite weit ausgeprägter postuliert als Position (b), denn die unterstellte Falschheit der Juden lässt sich an (a) durch den zwingenden Absichtscharakter viel deutlicher herausstellen. Zwar unterscheiden sich die Konsequenzen von (a) und (b) faktisch nicht in der äußerlichen Darstellung – in beiden Fällen verweigern sich die Juden Jesu als dem vorhergesagten Messias –, jedoch korrespondiert (b) insofern mit der gerade für den Protestantismus erheblichen Bedeutung auf innere (Glaubens)Zustände, als die Juden zwar falsch, dennoch wahrhaftig handeln. Sie lügen nicht, sie irren lediglich, da eine Lüge die Kenntnis und Leugnung von Wahrheit voraussetzt. „Errasse humanum est [...]“, ein bloßer Irrtum lässt sich moralisch nicht verurteilen. Das geflügelte Wort, das nicht zuletzt durch den Kirchenvater Augustinus überliefert wurde, gilt auch für die Reformatoren, genauso aber auch der zweite, weniger bekannte Teil der Maxime von Augustinus: „ [...] sed in errore perseverare diabolicum.“7

Übertragen auf die nicht nur anfängliche, sondern hartnäckige Weigerung der Juden, Jesus als Autorität anzuerkennen, ergibt sich über den reinen Irrtum hinaus hinreichend Raum zur moralischen Verurteilung der ‚jüdischen Falschheit‛. Spätestens durch die reformatorischen Bemühungen, die von den Rabbinern vermeintlich falsch ausgelegte hebräische Schrift ‚richtig‛ zu deuten, hätte den Juden nach Ansicht der Reformatoren die Möglichkeit offen gestanden, ihren Irrtum, so denn (b) vorliegt, einzusehen und zu tilgen. Nicht zuletzt deshalb war zu Beginn der Reformation eine ambivalente Bewertung des jüdischen Wirkens durch die Reformatoren gegeben, welche die jüdische Kultur vor Christi Geburt der jüdischen Kultur nach der Verbreitung des Neuen Tes6

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Optimistisch verließ sich Luther beispielsweise auf die Wirkung seiner Lehre auf die Juden: „Hie will ichs dis mall lassen bleyben, bis ich sehe, was ich gewirckt habe.“ Vgl. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Weimar 1883-2005, Bd. 11, S. 336. „Irren ist menschlich, jedoch auf dem Irrtum zu bestehen, ist teuflisch.“ Augustinus in sei nen „Sermones“, überliefert von Jacques Paul Migne, in: Patrologia Latina, Bd. 38, Paris 1844-1858 S. 901.

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taments kontrastiv entgegenstellte. Christliche Hebraisten begegneten der überlieferten vorchristlichen hebräischen Schrift, der hebraica veritas8, durchaus mit dem größten Respekt und kommen nach deren Studium darin überein, dass nur die jüdische Verstocktheit, Vermessenheit und Boshaftigkeit dafür verantwortlich gemacht werden können, das Neue Testament nicht als folgerichtige Weiterführung des Tanachs anzuerkennen. Diese Exegesekritik lässt sich beispielshalber bei dem Hebraisten Valentin Krautwald nachweisen, der versicherte: Entscheidender als der Geist der Rabbiner ist uns der Geist Christi, er lehrt untrüglicher die Wahrheit als der Rabbiner Unstimmigkeiten. Die scholastische und sophistische Dummheit ist vertrieben worden: es folgt, wenn der Herr es nicht verhüten wird, die rabbinische und jüdische Falschheit.9

So riefen die Reformatoren dazu auf, sich die hebräische Schrift und Sprache gründlich und eingehend anzueignen, um die offensichtlichen exegetischen Fehlleistungen der Juden vor allem hinsichtlich der Anerkennung des Neuen Testaments zu korrigieren. Melanchthon unterstrich die Forderung: Wie die auf der Bundeslade thronenden Engel sich gegenseitig ansahen und durch ihre Flügel verbanden: auf diese Weise harmonieren die Schriften des Alten und des Neuen Testaments. Das Alte ist der Ursprung des Neuen, wie der Psalm sagt: Lobpreist Gott von den Quellen Israels. 10 8

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Zur Klärung dieses Begriffs s. z.B. Klaus Haacker: Hebraica Veritas: die hebräische Grundlage der biblischen Theologie als exegetische und systematische Aufgabe , Wuppertal 1989. „Presentior est nobis Christi spiritus quam rabini; certius docet de veritate quam illorum discordia. Explosa est scolastica et sophistica stulticia: succedet, nisi providerit dominus, rabinica et judaica perfidia.“ in: Quellen zur Geschichte der Täufer (Hrsg. M. Krebs u. H. G. Rott), Bd. 26, Leipzig 1959, S. 171. Melanchthon knüpft mit diesem Zitat an den Psalm 68, 27. Der lateinischen Version liegt der hebräische Vers ‫( במקהלות ברכו אלהים יהוה ממקור ישראל‬bemakehalot barachu elohim adonai mimekor Jsrael) zugrunde. Die Formulierung, wie sie Melanchthon in Bezug auf die Speisung des NT aus dem AT herstellt, spielt durchaus problematisch mit dem literarischen und metaphorischen Sinn des hebräischen Originals. „Mimekor Jsrael“ hat den Wortsinn „von den Quellen Israels“ und die bildhafte Bedeutung „die aus Israel stammen/die zu Israel gehören“. Der Humanist Melanchthon nimmt den literalen Sinn korrekt auf, hält sich an die Vulgata-Übersetzung „in ecclesiis benedicite Deo Domino de fontibus Israhel“, bezieht sich aber auf einen anderen metaphorischen Sinn von „fons“ in der Bedeutung einer schriftlichen Vorgabe – gemäß dem humanistischen Leitspruch ‚ad fontes‛, welcher vor allem der Herkunft von Schriftstücken entspricht. Melanchthon, der mit dieser Aussage die Notwendigkeit zum Erlernen des Hebräischen betonen will, setzt sich zwar unbeabsichtigt, aber zwangsläufig selbst dem Vorwurf aus, den er gegenüber den Juden formuliert hat: mangelhafte Sprachkenntnisse, um die ‚hebraica veritas‛ erkennen zu können. Es sei angemerkt, dass dieser sich geradezu ironisch darstellende Lapsus keinen Einzug in die Lutherbibel gehalten hat: Luther übersetzt dem hebräischen Original gemäß „ihr vom Brunnen Israels“.

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Und weiter heißt es bei ihm: Das Neue ist das Licht des Alten: und das Zusammenfügen beider Teile ist vonnöten, um beide zu verstehen. Weil jedoch die Juden die Auffassung von Christi und der Apostel zurückweisen und nicht von ihren Wahnvorstellungen von der Herrschaft über die Welt ablassen wollen, beharren sie auf den Irreführungen, die von Betrügern ersonnen wurden. 11 Und das sollte als nicht unerheblicher Grund dafür angesehen werden, diese Sprache zu erlernen, weil es für uns erforderlich ist, uns für die Widerlegung der Täuschungen durch die Juden zu rüsten.12

Die angeführten Bemerkungen akzentuieren die Geisteshaltung der Reformationsströmung bezüglich der jüdischen Jesusleugnung deutlich als (a), was, wie bereits angedeutet, das weit ausgeprägtere moralische Vergehen darstellt. Denn durch die endlich im Zuge der Reformation verbreitete ‚richtige‛ und ‚eigentliche‛ Lesart der hebraica veritas hatte nach Ansicht der Reformatoren jeder Jude nicht nur die Gelegenheit, sondern auch die Pflicht, sich von der Falschheit seiner Haltung zu überzeugen. Da trotz des Angebotes des ‚besseren Wissens‛ die Judenmission weiterhin einen nur sehr geringen Erfolg verzeichnete, konnte nur (a) vorliegen. Diese ihrer Natur gemäß absichtsvoll geleistete Lüge lässt sich moralisch natürlich leichter verurteilen – nicht zuletzt heißt es im den Juden verbindlichen Dekalog der Tora: „Du sollst kein falsch Zeugnis reden [wider deinen Nächsten].“13 und nicht etwa „Du sollst nicht irren.“ Die für die Reformatoren unverzeihliche Leugnung des Heilands und bestehende Falschheit der Juden rechtfertigte nicht nur deren Diskriminierung und Verurteilung. Luther folgerte sogar: Was ists denn auch wunder, das sie Gottes zorn zerstöret sampt Jerusalem, Tempel, Gesetz, Fürsthentumb, Priesterthumb jnn die asche gelegt, sie unter alle Heiden zurstrewet und nicht aufhöret zu plagen, so lange sie die Göttliche verheissung und erfüllung jnn jrem un glauben und ungehorsam lügen straffen und lestern. […] So haben wir dennoch unserm glauben damit wol bestettigt, das uns jre faule, unnütze lüge und falsch geschwetze nichts schaden konnen. Und wo sie nicht richtig auff dis Argument mit euch reden, sondern zur 11

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„Ut in arce foederis stantes Angeli sese mutuo contuebantur, et alas iungebant: ita veteris et novi Testamenti monumenta congruunt. Vetus est fons novi, ut inquit Psalmus: Benedicite Deo de fontibus Israel. Novum est lumen veteris: et collatio utriusque ad utrunque intellegidendum necessaria est. Cum autem aspernentur Iudaei interpretationem Christi et Apolustorum, et sua somnia de mundi imperio, nolunt abiicere, retinent corruptelas ad impostoribus excogitatas.“ In: Corpus Reformatorum, Bd. 11: „Philippi Melanchthonis opera quae supersunt omnia“ (Hrsg. C. G. Bretschneider u. a.) , Halle 1834-1860, 873, 40-50. „Neque haec levis causa existemetur discendae huius linguae, quod instructos nos esse oportet ad refutanda deliramenta Iudaeorum.“ Ibid., 874, 31-33. Luther-Bibel, 2. Buch Mose (Ex 20, 16). Der soziale bzw. juristische Sinn des Verbots bleibe hier unbeachtet.

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seiten aus fladdern auf andere teidung, wie sie pflegen, da lasst sie faren und gehet davon. Denn jr daran mercken künd, das sie mit teidingen und lügen umb geben .14

Die absichtsvolle Lüge durch die Juden scheint also solcherart wenigstens für Luther und die Reformatoren untrüglich geleistet und bewiesen. Somit ist nachgewiesen, dass für 1. (a) und (b) galt, und zwar primär, indem (b) für die Reformatoren das moralisch problematischer zu bewertende (a) variierte. Dennoch muss festgehalten werden, dass die angestrebte Judenmission natürlich nicht vollends wirkungs- und fruchtlos blieb. Indem sich der Jude jedoch taufen ließ, war sein moralisches Dilemma noch längst nicht aufgehoben und überwunden. Für 2. (Der Jude lügt, indem er sich taufen lässt) gelten wie für 1. zwei verschiede ne Annäherungen, welche den Juden als Lügner ‚enttarnen‛, wobei jedoch nur die erste Position klar nachweisbar ist. Analog zum inquisitorischen Misstrauen gegenüber dem Marranentum15 wertet jene Position nämlich den Konvertiten als Heuchler, der im Stillen seinen ‚heidnischen‛ Bräuchen nachhängt.16 Melanchthon, obwohl ihm als Reformator an der Judenmission viel gelegen 14

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Martin Luther: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe , Bd. 50, Weimar 1914, S. 323. In Luthers wirkungsmächtiger Abhandlung „Von den Juden und jren Lügen“ (1542) wird insgesamt auf noch drastischere und polemischere Weise das Judentum herabgesetzt und explizit – allein bereits durch den Titel – auf die für Luther unstrittige maßlose Falsch heit der Juden verwiesen. Das spanische Judentum war im 14./15. Jahrhundert massivem Konversionszwang und Massentaufen ausgesetzt, die solcherart konvertierten Juden wurden als ‚Marranen‛ bezeichnet. Geknüpft an den durchweg pejorativ verwendeten Begriff sind zwei Eigenschaften: Zum einen dient er als drastische Herabsetzung der Juden, da er wahrscheinlich dem portugiesischen ‚Marrão‛ entlehnt ist, was schlicht ‚Schwein‛ bedeutet und sowohl als Bezeichnung den Menschen entwürdigt als auch die Juden damit beschämt, genau das zu sein, was ihnen am unreinsten, was ihnen trejfe ist. (Die eigentliche Etymologie ist jedoch noch nicht vollständig beleuchtet worden.) Andererseits bezieht sich dieser Begriff grundsätzlich auf den Status eines Scheinchristen, der sein Judesein keineswegs aufgegeben hat. Wurde einem solchen Marranen die Praxis jüdischer oder wenigstens scheinbar jüdischer Rituale nachge wiesen, drohte ihm der Tod. Vgl. dazu: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 8 (Epoche des gesteigerten Elends und Verfalles), Leipzig 1890-1909, S. 303ff. Bemerkenswert ist, dass sich die Bezeichnung das Marranen bis heute unter einem Bewertungswechsel erhalten hat – so bezeichnet noch Klaus Briegleb im Vorwort seiner Biographie Heinrich Heine, jüdischer Schriftsteller in der Moderne Heine als einen Marranen. Dieser Punkt wird in dieser Untersuchung später gesondert betrachtet werden. Vgl. ibid., Wiesbaden 2005, S. 5ff. Eine mögliche zweite Position ergibt sich, wenn man in Betracht zieht, dass sich dem kon vertierten Juden insofern eine Unaufrichtigkeit unterstellen lässt, indem er offenbar mühelos seinen früheren Glauben abzustreifen in der Lage ist. Dieses Problem wird zwar nicht in direkter Zeitgenossenschaft Luthers thematisiert, es findet dennoch einige Zeit später seinen publizierten Ausdruck, wenn Ernst Traugott von Kortum in seiner Abhandlung Über Judenthum und Juden: hauptsächlich in Rüksicht ihres Einflusses auf bürgerlichen Wohl stand (Nürnberg 1795) seine Überlegungen bezüglich einer möglichen Unaufrichtigkeit des Konvertiten gegenüber seinem alten Glauben darlegt (S. 249).

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haben muss, blieb schließlich gegenüber den konvertierten Juden skeptisch. Auf den konvertierten theologischen Polemiker Johannes Pfefferkorn bezieht sich die Einschätzung Melanchthons, der behauptete: „ In Köln war ein gewisser Jude ein solcher Betrüger, dass er vorgab, die christliche Religion angenommen zu haben“ .17 Abgesehen von den persönlichen und privaten Hintergründen, 18 welche ganz offensichtlich die Antipathie Melanchthons gegenüber Pfefferkorn verstärkt haben, zielt diese Beurteilung nicht etwa, wie zu erwarten gewesen wäre, auf ein mögliches, äußerlich erkennbares Fehlverhalten Pfefferkorns, sondern hebt auf die unterstellte innerliche Falschheit ab. Auch Erasmus von Rotterdam19 bezichtigte Pfefferkorn und dessen durchaus undurchsichtige Konversionsgrundlage nicht nur der Heuchelei, sondern deutete Pfefferkorns Christwerdung als untrügliches Indiz für dessen alle Mittel heiligende Boshaftigkeit: Ich will auf der Stelle vergehen, wenn jener mit einem anderen Vorsatz für seine Benetzung mit dem Wasser gesorgt hat [sich hat taufen lassen], als um mit größtem Schaden gegen die Christen zu wüten und uns, indem er uns ganz mit seinem jüdischen Gift versetzt, zu verderben. […] Jetzt erst, nachdem er sich als ein Christ verkleidet hat, handelt er wie ein wah rer Jude, jetzt entspricht er seiner Abstammung .20 17

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„Fuit in urbe Colonia Agrippina impostor quidam Iudaeus, quo simulabat se amplecti reli gionem Christianam.“ in: Corpus Reformatorum, Bd. 11, „Philippi Melanchthonis opera quae supersunt omnia“, S. 27f. Pfefferkorn erlangte zweifelhaften Ruhm, als er nach überraschender Konversion als Joseph Pfefferkorn vom Judentum zu Johannes Pfefferkorn zum Christentum und unter Schutz der Kölner Dominikaner 1511 Schmähschriften gegen den Talmud und die Juden veröffentlichte. Gerade der Angriff gegen die hebraica veritas lief den Reformatoren zuwider, und Johannes Reuchlin, ein Großonkel Melanchthons, erwiderte den Angriff mit theologischen Gegenschriften und verteidigte den Wert der jüdischen Kultur und des Talmuds. Der Streit sollte sich noch einige Jahre zuspitzen, eher er 1514 in den epistolae obscurorum virorum (Dunkelmännerbriefen) eskalierte. Vgl. dazu: Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 9, S. 65ff. und Die Religion in Geschichte und Gegenwart , Bd. 5, S. 1074ff., zu den epistolae obscurorum virorum ibid.: Bd. 2, S. 533. Pfefferkorns Forderung, den Talmud zu verbrennen, bewegte Erasmus, der den Begriff der hebraica veritas einführte, natürlich zu einer besonders ausgeprägten Aversion gegen nämlichen Hebraisten. „Disperem nisi ille se non alio consilio tingendum aqua curavit, nisi ut maiore pernicie grassaretur in Christianos, et nobis admixtus universum populum suo Iudaico veneno inficeret […] Nunc demum verum agit Iudaeum, postaequam Christiani personam induit, nunc suo respondet generi.“, 1517 Erasmus an Willibald Pirckheimer in: Briefwechsel Bd. 3 (Hrsg. Emil Reicke), München 1989, S. 204. In Guido Kischs aufschlussreicher Schrift Erasmus‛Stellung zu Juden und Judentum in der Reihe Philosophie und Geschichte wird der sonst eher unbeachtete Antisemitismus des Humanisten erhellt. In Bezug auf das Marranentum und die Unterstellung der geheuchelten Konversion lässt sich darin z.B. der Ausspruch Erasmus‛ finden: „Unter dem Deckmantel der Verteidigung des Glaubens wird die Welt mit Raub erfüllt. Spanien hat viele geheime Juden, Deutschland sehr viele, die von Natur aus oder durch Kriege geübt der Räuberei zuneigen. Dieses Gesindel wird erst Deutschland, dann den übrigen Erdkreis überschwemmen.“ Vgl. ibid., Tübingen 1969, S. 8f.

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Mit nicht weniger Häme und Misstrauen begegnete man anderen prominenten Konvertiten. Der zu dieser Zeit namhafte jüdisch-stämmige und früh zum Christentum konvertierte Wittenberger Hebraist Matthäus Adrianus wird beispielsweise durch Melanchthon als ‚Pseudochristen‛ be- und verurteilt.21 Auch Luther nahm am Hebräisch-Professor, der offenbar zu ungestümen Argumentationen neigte, Anstoß und verwies neben den Unterstellungen auf fachliche Unzulänglichkeiten auf die für Luther unüberwindbare Differenz zwischen einem ‚echten‛ Christen und einem Konvertiten: „Schließlich hat mich der in theologischen Fragen höchst ungebildete Mensch verspottet und sogar herausgefordert“ .22 Dass Adrianus überdies für Luther den Beweis erbrachte, das ‚wahre‛ christlichprotestantische Wesen trotz Konversion nicht verstehen, also nicht nachempfinden zu können, unterstreicht Luthers Einschätzung, wonach die grundlegenden reformatorischen Grundsätze der sola gratia und sola fide trotz ihrer vermeintlichen Unanfechtbarkeit von Adrianus offenbar in Frage gestellt wurden. Luther beruft sich hier auf eine ähnliche Einschätzung durch Johannes Sylvius Egranus: „Aber er ist mir auch deshalb ein Feind geworden, weil er sich darüber beklagt, dass ich gelehrt haben soll, dass gute Taten nichts wert seien, sondern allein der Glaube zähle. […] Er ist völlig nutzlos und sollte schnell entlassen werden“.23

Nicht viel besser erging es Adrianus‛ Vorgänger, dem vermeintlichen Konvertiten Johann Böschenstein, der zwar mit starkem Zulauf an der Universität Wittenberg als Hebräisch-Professor tätig war, aber dort mit Luther aneinander geriet, sodass Luther ihm schließlich sein Christsein abgesprochen hat. 24

3.2 Die Reformation als Grundlage für den Falschheitsvorwurf gegenüber der jüdischen Sprache Wenn im späteren Verlauf der Arbeit von den ästhetischen Bewertungen jüdischen Kunstschaffens die Rede ist, wird sich die Kritik an der jüdischen Sprache als solche sowie an der durch den Juden gebrauchten deutschen Sprache als maßgebliches Vorwurfsmoment herauskristallisieren. Die Kritik an der jüdischen Sprache, die sich als außermusikalisches und entsprechend fasslicher interpretierbares Mitteilungsinstrument nicht auf äußere Handlungen bezieht, rangiert durch ihre Verquickung mit kultureller Leistung auf einer höhergeordneten Ebene in der antijü21

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„Nam de Adriano ψεῦδοχρἰστω, sive mavis Hebreo, ex aliis intelleges.“, in: Melanchthons Briefwechsel. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe , Bd. 1, Hrsg. Heinz Scheible, Stuttgart 1991, S. 262. „Denique insultavit mihi atque adeo provocavit homo indoctissima in re Theologica.“ D. Martin Luthers Werke, Bd. 2, S. 211. „De Adriano nostro eadem retulit nobis Egranus, sed et mihi factus est hostis, causans, quod docuerim opera bona nihil valere sed solam fidem. […] Inutilis est prorsus, ac cito di mittendum.“ in: D. Martin Luthers Werke, Bd. 2, S. 211. „[...] quo ille noster Bossenstein nomine christianus, re vera iudaeissimus […].“ („[…] ein Namenschrist, in Wahrheit völlig jüdisch […]”), in: Ibid., Bd. 1, S. 368, 11-14.

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dischen Geschichte als das triviale handlungsorientierte Misstrauen, das den stereotypen Juden parallel begleitet. Wie weiter oben in der Hebraismusfrage der Reformation herausgestellt wurde, ist während der Reformation dem hebräischen Urtext (wenigstens zum großen Teil) eine Autorität zugeschrieben worden, welche die Reformatoren den jüdischen Hebraisten ihrer Zeit in der Frage nach fachlicher Kompetenz keineswegs mehr zugestanden. Die vermeintlich mangelnde Befähigung der Juden, ihre eigene Sprache fehlerfrei zu rezipieren und wiederzugeben, wird in erster Linie durch die während der Reformation verbreitete Exegesekritik an den jüdischen Schriftgelehrten untermauert. Luthers Unzufriedenheit mit den jüdischen Wittenberger Hebraisten wird mit deren Jüdischsein zwar nicht begründet, jedoch stets verschränkt, sodass wenigstens diese Kausalität angedeutet wurde: Weil Person A nicht einfach Hebraist, sondern jüdischer Hebraist ist, muss umso mehr von vermindertem hebräischen Sprachverständnis ausgegangen werden. Die Tatsache, dass sich die Reformatoren, zum Teil darum bemüht, diesen Sachverhalt im Dunkeln zu lassen, bei Hebraistikfragen fast ausschließlich die Hilfe von Rabbinern erboten, 25 mag unter diesen Umständen paradox wirken. Aber es ist kein ungewöhnliches psychologisches Phänomen, diesem zum Verdruss der Reformatoren bestehenden Abhängigkeitsverhältnis mit unangemessener Aggression zu begegnen, um sich selbst der eigenen Unabhängigkeit zu versichern (welches im Verhältnis Wagner/Meyerbeer unter gar nicht so verschieden gesetzten Vorzeichen erneut begegnet). Und letztendlich gilt den Reformatoren die ausbleibende Konversion der Juden hinlänglich als Beweis und Ursache für den Vorwurf des falschen Schriftverständnisses. Dass die Nicht-Anerkennung von Jesus als dem Messias als rechtfertigend für die Verständniskritik mitschwingt, ist selbstverständlich und bereits thematisiert worden – begegneten die Juden ihrer Schrift mit sprachlicher Fachkompetenz, bestünde das ‚Leugnungsproblem‛ nicht. Luther bringt diese Überlegung verbunden mit der Kritik an Adrianus auf den Punkt: „ Er verhöhnt meine Reden, ist entschlossen, mir das Evangelium zu erklären, er, der seinen Mose nicht begreift.“26

Als wahrscheinlich zutreffend lässt sich hier vermuten, dass Luthers wenig freundliche Einschätzung durch das saloppe „Mose“ auf den gesamten Pentateuch abzielt, was Adrianus als fachlich äußerst inkompetent diskreditiert. Die Meinung Luthers, der die Juden als „ Gottes worts Feinde“27 beurteilt, hat sich zweifellos langfristig und ungemindert in der Allgemeinwahrnehmung verankert. Man muss wohl festhalten, dass dröhnende Polemik von prominenter Seite, nur weil sie erkennbar unsachlich ist, längst nicht ihre Wirkkraft einbüßt. Luthers Verantwortlichkeit für den Epigonalitätsvorwurf gegen die Juden darf sicher weder allgemein noch in Bezug auf die Sprachkritik unterschätzt werden. In seinem brachialen 25 26

27

Vgl. Achim Detmers: Reformation und Judentum, S. 70f., S. 115. „Conciones meas insectatur, paratus me docere Evangelium, qui Mosen suum non intellegit.“ D. Martin Luthers Werke, Bd. 2, S. 192, 42-44. Ibid. Bd. 53 („Von den Jüden und iren Lügen“), S. 436.

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Schem Hamphoras erörtert Luther die Frage des jüdischen Sachverstands mit einer Schärfe, die sich nicht länger um ein angemessenes Niveau bemühte. Den Umgang der Juden mit ihrer Schrift und Sprache kommentierte er entsprechend: Es ist hie zu Wittemberg an unser Pfarrkirchen eine Saw jnn stein gehawen, da ligen junge Ferckel und Jueden unter, die saugen, Hinder der Saw stehet ein Rabin, der hebt der Saw das rechte bein empor, und mit seiner lincken hand zeucht er den pirtzel uber sich, bueckt und kuckt mit grossem vleis der Saw unter dem Pirtzel jnn den Thalmud hinein, als wolt er was scharffes und sonderlich lesen und ersehen.28

Wenn man, anders als Luther selbst, etwas Neutralität bewahren will, darf die An merkung zur Urheberschaft des Reliefs nicht unterlassen werden – Luther bezieht sich auf eine Darstellung aus dem Hochmittelalter, für deren Entstehung er kaum verantwortlich gemacht werden kann. Sie belegt überdies die Langlebigkeit eines Klischees, das Luther zwar nicht in die Welt gesetzt, ihm wohl aber allzu bereitwillig zu einer Renaissance verholfen hat. Diese Kritik an der jüdischen Handhabung von Schrift und Sprache hebt im doppelten Sinn auf eine vermeintliche Falschheit ab: Sowohl die linguistische Unzulänglichkeit der Juden als auch die Bereitschaft der Rabbiner, mutwillig falsche Schriftdeutungen zu lehren und zu verbreiten, werden durch das Relief selbst sowie durch Luthers Interpretation unterstellt. Dass Luther aber auch ohne äußere Anregung mit – wie man anerkennen muss – nicht wenig Fantasie und Allegorie eigene Bilder für die Schriftkompetenz der Juden zeichnen konnte, wird an anderer Stelle deutlich. Mutet die eben durch Luther beschriebene Analogie zwischen dem Kirchenrelief und der jüdischen Exegese bereits geschmacklos genug an, so setzte der Reformator noch mühelos nach: Ich verfluchter Goi kan nicht verstehen, woher sie solch hohe kunst haben, on das ich mus dencken, Da Judas Scharioth sich erhenckt hatte, das ihm die Darme zurissen und, wie den erhenckten geschicht, die Blase geborsten, Da habe die Jueden villeicht jre Diener mit guelden kannen und silbern schüsseln dabey gehabt, die Judas pisse (wie mans nennet) sampt dem andern Heiligthump aufgefangen, darnach unternander die merde gefressen und gesoffen, davon sie so scharffsichtig augen kriegt, das sie solche und dergleichen Glose jnn der Schrifft sehen, die weder Mattheus noch Jsaias selbs, noch alle Engel, schweige wir verfluchten Goijm sehen koennen.29

Fast geht der Kerngedanke, so man dazu geneigt ist, ihn als solchen zu benennen, unter der Vielzahl der Herabwürdigungen und dem beißenden Duktus unter, aber dass die lutherische Polemik nicht zuletzt der Kultur- und Sprachkompetenz der Juden nachhaltig zu Schaden gereicht hat, darf als erwiesen betrachtet werden. Als weiteren Beweis für die Verstrickung von falsch gebrauchter Sprache und heimtückisch geleisteter Lüge konstruierte Luther nicht nur Inhalte und Deutungen, 28 29

Ibid. („Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“), S. 600. Martin Luther: Sämmtliche Werk: nach den ältesten Ausgaben, Bd. 32, Erlangen 1842, S. 343.

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sondern sogar durch ihn beobachtete und dergestalt interpretierte phonetische Phänomene in der jüdischen Sprache: Ebenso thun sie uns Christen auch: wenn sie uns empfahen, so wir zu ihnen kommen, und verkehren das Wort, seid Gott willkommen, und sprechen: „Sched wil kom“, das ist, Teufel komm, oder, da kommt ein Teufel. 30Weil wir nun das Hebräisch nicht verstehen, üben sie also ihren Grimm heimlich an uns, daß wir meinen, sie reden freundlich mit uns, so flu chen sie uns das höllische Feuer und alles Unglück. […] Nun wissen sie sehr wohl, daß sie solches aus lauter Haß und Muthwillen lügen […].31

Mit ein wenig Spott könnte man hier auf die Einbruchsparanoia eines Diebes verweisen: Luther, der den Juden stets Diabolität, sogar satanische Personifizierung zuschreibt, unterstellte nun ausgerechnet den ‚Teufeln‛ seine eigene Praxis.

3.3 Auswirkung der Diffamierungen auf kulturelle Bewertungen Auf welche Weise sich die Unterstellungen des mangelnden Sprachverständnisses nachhaltig ausgewirkt haben, beweist ein historisch bislang eher unbeachtetes Detail, das sich mit dem zuvor erwähnten Hebraisten Johannes Böschenstein verbindet und hier als Abschluss für die Reformationsproblematik dient. Aufgrund seines paradigmatischen Charakters soll an dieser Stelle etwas ausführlicher auf diesen Fall eingegangen werden. Dass Luther Böschenstein, wie schon belegt, als „ völlig jüdisch“ bezeichnet hat, ist nur ein Teil der Diffamierung, der sich Böschenstein ausgesetzt sah. Es muss an dieser Stelle sicher nicht wiederholt darauf hingewiesen werden, dass die Zuschreibung jüdischer Charakteristika und/oder Herkunft hier nur aus Perspektive eines Antisemiten als ‚üble Nachrede‛ gelten kann. Dabei handelt es sich keineswegs um eine Einmaligkeit oder um eine missglückte Metaphorik Luthers, um eine vermeintliche theologische Diskrepanz in Worte zu hüllen, denn die Nachsa-

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Aller Wahrscheinlichkeit nach bezieht sich Luther mit „sched“ auf die ‫שדים‬, die Shedim, Dämonen und Götzen des frühen jüdischen Glaubens, die sowohl als schädlich und zerstörerisch als auch mitunter als hilfreich angesehen wurden. Luthers Gleichsetzung der Shedim mit ‚Teufel‛ ist an dieser Stelle unsachgemäß. In der Tora werden sie lediglich einmal (Deut. 32, 17) explizit erwähnt, in den Psalmen 106 und 91 findet sich jeweils das Morphem. Interessanterweise übersetzt Luther dort nicht mit ‚Teufel‛, sondern mit ‚Götzen‚ bzw. ‚Feldgeistern‛ (1545) und widerspricht sich damit selbst. Die Wahrscheinlichkeit also, dass hinter den unleugbar existenten Eigenarten in der Aussprache der Juden böswillige Absichten ver steckt sind, kann in diesem Fall als kaum zutreffend betrachtet werden. (Die irritierende Form der ‫ שדים‬entspricht wahrscheinlich keinem wirklichen Plural, sondern einer Lautentsprechung zu einem akkadischen Gott (Sedu) – Vgl. dazu Dan Ben-Amos: „On Demons“, in: Creation and re-creation in Jewish thought: Festschrift in Honor of Joseph Dan (Hrsg. R. Elior u. P. Schäfer), Tübingen 2005, S. 27-38.) Martin Luther:„Von den Jüden und iren Lügen“ in: D. Martin Luthers Werke: kritische Gesamtausgabe, Bd. 53, S. 514.

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ge der angeblich jüdischen Natur Böschensteins scheint zu einem lebensbegleitenden Thema des Hebraisten geworden zu sein. So sagte er selbst: Hat sieh aber begeben, das ein gaistlich person mich dargeben, ich seye ain getaufften Jud, und mein vatter sey ain hochgelerter Raby undern Juden gewesen, darumb sey ich wider die Bilder und Gemäl, das man sy nit machen oder brauchen soll etc. Des muss ich mich (Gott verzeyhe mirs) verantwurten, nit von meinen wegen, sonder meiner freuudtschafft und meinen nachkumenden gepluet zu gut. Und ich sag also, mein lieber vater sälig ains gar alten geschlechts der stat Stain am Reyu underhalb Costenz geboren und herkommen, ist gut Heinrich Böschenstein und noch heut, auff Datum diser schrifft, meines vatters bruders suu gut Klöwe Böschenstain und Batt Böschenstain, noch disen tag zu Stain vischer seind, heuslich und Burgerlich da wouend. Das red ich nit darumm, ob ichjoch (wie der Bruder von mir sagt) ains Juden sun were, mich dester verwürflicher vor got schätzen, dann ich wayss das got kein person besonder ansieht, aber ainyeder, der gotfurcht und würkt die ge rechtikeit, er sey welches geschlechts oder volks er wolle, der ist angenem got dem herren, aber ich muss dannocht meinen nachkommen zu gut disen argkwon umbstossen. 32

Ohne dass Böschenstein ihn namentlich erwähnt, werden dennoch aller Wahrscheinlichkeit nach Luther oder Sebastian Münster als jene „ gaistlich person“ bezeichnet. So soll Luther sogar konkret dem Hebraisten unterstellt haben, „ er sey den bilden feind auß jüdischer angeborner art“ 33. Somit wird erneut grundlegend auf der einen Seite der Vorwurf der jüdischen Herkunft mit der Bezichtigung fachlicher Inkompetenz vermengt. Vermutlich wurde Luthers Behauptung, die nicht nur unter den Reformatoren einen autoritären Charakter getragen haben dürfte, von dem Hebraisten und Franziskaner Sebastian Münster gleichfalls tradiert, indem er Böschenstein einen „baptizatus judaeus“,34 einen getauften Juden, nannte. Schließlich schlug Melanchthon noch viele Jahre nach der geäußerten Behauptung, dass Böschenstein lediglich ein getaufter Jude sei, in die gleiche Kerbe, indem er die auf einen finanziellen Vorteil abhebende Arbeit des Hebraisten mit dem Topos der ‚jüdischen Habgier‛ analogisierte, um damit den Nachweis von Böschensteins ‚jüdischer Innerlichkeit‛ zu erhärten.35 Obwohl Böschenstein die Zuschreibung seiner Person als jüdisch heftig dementierte und offenbar sogar seine christliche Herkunft aus Esslingen nachweisen konnte,36 fruchtete die Kolportage seiner Gegner nachhaltig und hat bis heute zu 32

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Ludwig Geiger: Das Studium der hebräischen Sprache in Deutschland vom Ende des XV. bis zur Mitte des XVI. Jahrhunderts, Breslau 1870, S. 49. In: Andreas Osiander d.Ä. Gesamtausgabe, Bd. 1 (Hrsg. Gerhard Müller), Schriften und Briefe, Gütersloh 1975ff., S.71. Joseph Perles: Beiträge zur Geschichte der hebräischen und aramäischen Studien , München 1884, S. 27f. „Fuit hic quidam Iudaeus, letor [sic!] linguae Hebraeae, qui erat sacerdos, qui dicebat: quid hic agam? Habeo 10 aureos, ego possum plus habere in otio Ratisbonae, et simul frui gratuito victo apud meos populares.“ Vgl.: Corpus Reformatorum , Bd. 25, S. 611. „Also (nämlich den reinen christlichen Glauben) haben mich meine frummen altern, vatter und mein liebe mutter gelert, die frumm geborn Christen seind gewesen, das ich mit ainem

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einer gewissen Irritation geführt. 37 Auffallend an den Spätfolgen und deshalb für die hier vorliegende Betrachtung besonders interessant ist die Verknüpfung, die sich offensichtlich nolens mit der Charakterisierung Böschensteins als jüdisch ergeben hat: Die Eignung des Hebraisten, mit Sprache sowohl intuitiv als auch fachlich korrekt umzugehen, wurde in Frage gestellt und zwar erst, nachdem er als jüdisch ‚denunziert‛ wurde. Im großen Bogen gedacht, verweist diese damals gängige Assoziation deutlich auf die zu behandelnde Problematik des jüdischen Authentizitätsproblems, insofern jede Form von kultureller Leistung dem ‚jüdischen Geist‛ aberkannt wurde. Im Fall Böschensteins lässt sich der entsprechende Niederschlag bis in das 19. Jahrhundert verfolgen. So kann man beispielshalber in einem Text über die Reformation von 1862 Folgendes über den Gelehrten, der zu seiner Zeit – abgesehen von der Perspektive genannter Reformatoren – als außerordentlich kompetent galt, lesen: […] das Hebräische docirte Johann Böschenstein, ein getaufter Jude, aber ohne Geist und Methode; nach seiner heimlichen Entweichung nach Wittenberg sah sich Melanchthon genöthigt, seine Lehrtätigkeit auch auf diese Sprache auszudehnen […].38

Es muss sicher kaum darauf verwiesen werden, dass der Autor dieses Textes auf Angaben von Quellen verzichtet hat. Böschensteins vermeintliche Geistlosigkeit wird in einer Laudatio auf Luthers Bibelübersetzung bereits 1835 auf ähnliche Weise thematisiert: Luthers Beispiel der Bibelübersetzung regte bald auch andere Theologen auf zu gleicher Arbeit, und Böschenstein […] versuchte [...] gar bald, den Ruhm, Dolmetscher der heiligen Schrift zu sein, auch für sich zu gewinnen. Wären nur aber die Proben [seiner] Uebersetzungskunst besser gewesen, nicht zu rauh, zu unteutsch, als daß sie jemand mit Nutzen hätte brauchen können.39

Als besonders kennzeichnend nimmt sich in dieser Beschreibung das Prädikat „unteutsch“ aus. Da aus gutem Grund zu bezweifeln ist, dass auch nur ein gültiges Kriterium für die Zuordnung eines Werkes als ‚deutsch‛ im ästhetischen Sinne,

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Ersamen Rat der stat Esslingen, und der stat Stayn in Schweytz, genugsam beweysen mag.“ Ludwig Geiger: Das Studium der hebräischen Sprache in Deutschland vom Ende des XV. bis zur Mitte des XVI. Jahrhunderts, Breslau 1870, S. 49. So heißt es beispielsweise noch im 2005 bei der OUP erschienenen Buch Introduction To Old Yiddish Literature: „The questions of his [Böschensteins] origin has provoked great discussion.“, ohne dass der Autor dabei eine deutliche Stellung einnehmen kann. Jean Baumgarten: Ibid., Oxford 2005, S. 10. Selbst in der sonst so gründlich gearbeiteten Monographie Reformation und Judentum Achim Detmers von 2001 wird Böschenstein in die Reihe jüdischer Konvertiten eingegliedert. Vgl. Ibid., S. 29. Julius Hartmann u.a. (Hrsg.): Leben und ausgewählte Schriften der Väter und Begründer der lutherischen Kirche, Eberfeld 1862, S. 9. Heinrich Schott: Geschichte der teutschen Bibelübersetzung D. Martin Luthers und der fortdauernde Werth derselben, Leipzig 1835, S. 76.

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also als streng immanenter Wesenszug ohne äußeren Bezug, der auf einen bewussten Nationalgedanken des Künstlers verweisen könnte, aufzeigbar ist, soll an dieser Stelle auf eine ästhetische Auseinandersetzung mit dem Prädikat ‚deutsch‛ verzichtet werden. Das entlässt jedoch nicht aus der Pflicht, den Konnotaten, welchen jene Kritiker offenbar ausgesetzt waren, nachzuspüren. Indem Böschenstein, ein geborener deutscher Christ, als getaufter Jude gehandelt wird, geschieht Erstaunliches: Seine kulturelle Arbeit wird für vernachlässigbar erklärt. Der Fall ist insofern besonders aufschlussreich, als er deutlich die Kausalität aufdeckt: Nicht weil Böschenstein ein Jude ist, leistet er kulturell Minderwertiges, sondern weil Böschenstein zum Juden ‚wurde‛, wird seine kulturelle Leistung retrodiktiv als minderwertig betrachtet. Was das für das gesamte Authentizitätsproblem im jüdischen Kulturschaffen bedeutet, lässt sich leicht ausmalen. Deswegen ist besondere Vorsicht geboten, wenn man sich der Ursächlichkeit der Problematik nähern möchte – wo kein sachlicher Hintergrund, wohl aber das Motiv der Niedertracht besteht, lässt sich nicht ohne Weiteres argumentieren. Andererseits, und das sollte sicher eine Überlegung wert sein, verweist allein die Möglichkeit, dass einem Individuum bzw. dessen Wirken das Etikett ‚jüdisch‛ ohne Akzeptanzschwierigkeiten verliehen werden konnte und kann, auf die Frage, ob ‚das Jüdische‛, was immer dieser Grobbegriff bezeichnet, als Charakteristikum zwar in einer Form besteht, dabei jedoch keineswegs an einen Juden geknüpft sein muss resp. gleichfalls durch einen Nichtjuden vorgewiesen werden kann. Mögliche Kriterien, die sich aus der in der vergangenen Geschichte geleisteten Zuordnung zum Jüdischen/Nichtjüdischen für einen solchen Konkretisierungsversuch ergeben, werden später vorgestellt werden.

4. Allgemeine Auswirkungen auf die Bewertung der von Juden erbrachten kulturellen Leistungen

Wenn im Folgenden verschiedene Einstellungen zu den Kulturleistungen des Judentums vorgestellt werden, wird auf eine Unterscheidung zwischen dem Antijudaismus und dem sich aus ihm entwickelten Antisemitismus hingewiesen werden, die in diesem Zusammenhang sinnvoll erscheint. Die vorausgehend geschilderten Ressentiments gegenüber den Juden im Zuge der Reformation und unter den Vorzeichen des Christentums allgemein erfordern diese Unterscheidung insofern noch nicht, als sie solcherart kontextuell grundsätzlich als antijüdisch einzuordnen sind. Jene Befangenheit gegenüber dem Jüdischen, die sich mit dem Antijudaismus verbindet, lässt sich auf die religiöse Tradition reduzieren, die in erster Linie durch das Christentum kontrastiert wird. Wie bereits dargelegt, begreift das Christentum die Leugnung des messianischen Jesus als Leugnung der Wahrheit. Der antijüdisch argumentierende Kritiker fühlt sich demzufolge im Regelfall dem Christentum verbunden und nährt seinen Antijudaismus mit den für ihn geltenden metaphysischen Gegebenheiten, welche anzuzweifeln einem Sakrileg gleichkäme. Naturgemäß konnte sich der Antijudaismus nur so lang als gesellschaftlich etabliertes Phänomen erhalten, wie das Christentum als generelle Autoritätsinstanz wahrgenommenen und beurteilt wurde. Spätestens mit und nach der Aufklärung ebbten deshalb die antijüdischen Attacken ab, um in antisemitische Einstellungen einzufließen. Der antisemitische Ansatz unterscheidet sich vom antijüdischen in erster Linie durch eine national orientierte bzw. patriotische Haltung, welche stark mit einem herkunftsbezogenen Überlegenheitsgefühl korreliert. Um eine Legitimation für dieses Überlegenheitsgefühl zu gewinnen, das sich nicht länger meta physischen Umständen verdanken kann, wird wörtlich und in diesem Zusammenhang nahezu paradoxerweise als antipodisches Moment auf die physische Ebene ausgewichen. Dabei wird die Herkunft an vermeintlich feststehende Anlagen geknüpft, welche stets die Vorzüge der einen Nation/des einen Volkes (Herkunftsnation des beurteilenden Antisemiten) gegenüber der anderen (jüdischen) betont. Der Umstand, dass die jüdische Diaspora keinen Staat repräsentieren kann, wird darüber hinaus als zusätzlich abträglich eingeschätzt. Natürlich gestaltet sich der Übergang des Antijudaismus zum Antisemitismus als außerordentlich fließend, und jede Form trägt implizit stets auch Elemente der anderen. Deswegen wird in einigen historischen Betrachtungen diese Unterscheidung nicht vorgenommen, 1 was angesichts der zahlreichen Mischphänomene durchaus sinnvoll sein kann. In diesen Fällen ist etwas gröber von allgemeinem Antisemitismus oder auch von Judenhass/-feindlichkeit die Rede, wobei vor allem die letzten beiden Varianten prägnant und zweckmäßig sind. Eine ästhetische Betrachtung wie diese muss jedoch notwendigerweise die Frage nach den jeweiligen Motivationen stellen, inso1

Vgl. beispielsweise den Artikel „Antisemitismus“ von Walter Holsten, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, (Bd. 1, S. 456ff).

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fern es nicht nur um die bloße Feststellung einer judenfeindlichen Einschätzung geht. Vor dem Hintergrund der Authentizitätsproblematik ist deshalb zu erfragen, auf welche Weise der Vorwurf des falschen, inauthentischen bzw. epigonalen Handelns seitens der Juden trotz dieses Paradigmenwechsels formuliert und ‚begründet‛ werden konnte. Dass die Juden lügen, dass sie absichtsvoll Falsches behaupten, dass sie die Sprache verstümmeln und keine ‚Echtheit‛ innehaben, ist spätestens mit und nach der Reformation zur selbstverständlichen Einschätzung bei christlichen Gelehrten etabliert. Wo der nicht religiös motivierte, tendenziell völkische Antisemitismus, der sich grundsätzlich eher als Xenophobie fassen lässt, mit diversen Stereotypen und Klischees agiert und deshalb auf jede (vermeintlich) sachliche Argumentation verzichtet, bedarf es in akademischen Zirkeln wenigstens einer Art Rechtfertigung, sei sie auch konstruiert.2 Bei der Betrachtung jener ‚Rechtfertigungen‛ ist die jeweilige Kausalumkehrung allerdings bemerkenswert und einer Petitio principii gleichzusetzen. Sie begegnet grundsätzlich vor dem Hintergrund der Bewertungsproblematik jüdischen Schaffens nicht selten: Jemand denkt und fühlt nachweislich mindestens anteilig antisemitisch und bewertet aufgrund dieser Disposition jüdisches Schaffen als unecht/minderwertig und nicht etwa, weil er durch sachliche, unbelastete Auseinandersetzung mit dem Werk zu diesem Ergebnis gelangt ist. Wenn im Folgenden die Bewertung jüdischen Kulturschaffens und jüdischer Innerlichkeit durch nachreformatorische Gelehrte vorgestellt wird, kann dem natürlich nur in Teilen stattgegeben werden. Deswegen werden exemplarisch jene Einstellungen herausgegriffen, die insbesondere für das Authentizitätsproblem Relevanz tragen. Auf diese Weise kann aber besonders deutlich herausgearbeitet werden, warum sich im 19. Jahrhundert die antijüdische Polemik gegen jüdische Komponisten zum Teil geradezu zum Gemeinplatz entwickeln konnte. Schließlich zieht sich die abwertende Haltung gegenüber dem Jüdischen ganz ungemindert aus der vor-aufklärerischen Epoche bis weit über sie hinaus. So bestand beispielsweise für Blaise Pascal, der sich bekanntlich als großer Fürsprecher des Christentums auszeichnete, kein Zweifel an der Unaufrichtigkeit und Verlogenheit der Juden, die er immerhin insofern zu respektieren versteht, als sie die nach seiner Ansicht notwendige Grundlage für das Christentum schufen. Den Beweis hierfür sieht er allein schon durch die Schrift erbracht und legt ihn dar, indem er aus dem Johannesevangelium und dem zweiten Thessalonicherbrief zitiert: Was den Glauben an die wahren Wunder hindert, das ist der Mangel an Liebe. „Ihr glaubt nicht, sagt Jesus zu den Juden, denn ihr seid meine Schafe nicht.“ (Joh. 10. 26.) Was den Glauben an die falschen erweckt, ist auch der Mangel an Liebe. „Dafür, daß sie die Liebe 2

Das Phänomen der aufkommenden Wissenschaftlichkeit der geistesgeschichtlichen Moderne im Zusammenhang mit einer vermeintlichen Plausibilitätsstiftung (aufgrund einer bis dato mangelnden Versachlichung) spiegelt sich durchaus in Heinrich Kramers Hexenhammer (Speyer 1486), welcher als Pseudoverwissenschaftlichung die Notwendigkeit und die Methode der Hexenverfolgung in die Moderne ‚hinüberrettet‛.

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Allgemeine Auswirkungen zur Wahrheit nicht haben angenommen, daß sie selig würden, darum wird ihnen Gott kräftige Irrthümer senden, daß sie glauben der Lüge.“ ( 2Thess 2, 10f.) 3

Pascal nutzte die Charakterisierung, die Paulus den Juden zukommen lässt, um den thessalonischen Christen deren ‚heidnisches‛ Verhalten zu erklären. Aufschlussreich ist in dieser Beurteilung die mit großer Selbstverständlichkeit lancierte Verknüpfung von mangelnder Aufrichtigkeit mit mangelnder Innerlichkeit. Pascal deutete dabei den neutestamentlichen Brief nach eigenem Empfinden, denn was Pascal wortwörtlich zwischen den Zeilen versteckte, lässt sich so im Text nicht finden. Zwar ist von der mangelnden Liebe der Juden die Rede, jedoch nicht als einer solchen per se, sondern lediglich bezogen auf die Liebe zur Wahrheit. Pascal erweitert diesen ohnehin durch das Christentum etablierten Vorwurf um die Allgemeingültigkeit. Damit handelt er ganz entsprechend in der Denktradition des Augustinus, der, wie bereits beschrieben, gleichfalls Gott, Liebe und Wahrheit als nahezu austauschbare Begriffe verwendet. Auf diese Weise entlässt sich Pascal freilich geschickt selbst aus der Beweispflicht: Wo zwischen metaphysischen Begriffen und inneren Einstellungen laviert wird, ergibt sich gar nicht erst die Frage nach der Nachweisbarkeit. Das einzige feststehende Faktum lässt sich auf die moralisch nicht bewertbare Aussage begrenzen, dass die Juden Jesus nicht als ihren Messias anerkennen – und damit schließt sich der Kreis zu den Grundlagen des christlichen Antisemitismus, insbesondere zu den bereits ausgeführten Dynamiken der Reformation, die auf dieser Grundlage zu gleichen Ergebnissen geführt haben wie Psacals Überlegung. Jedoch fußen die hierbei vermeintlich deduktiv gewonnenen, pauschalen Einsichten über das innere jüdische Erleben auf einer objektiv nicht belegbaren Prämisse und verlieren somit vor dem Hintergrund der Logik ihre Gültigkeit: Jesus ist der Messias → Die Juden lehnen Jesus als Messias ab → Die Juden verkennen die Wahrheit → Weil die Juden nicht in der Lage sind, die Wahrheit zu erkennen, folgt daraus umso mehr, dass Jesus der Messias sein muss. Ein klassischer Zirkelschluss. Um über den Wahrheitsgehalt des ersten Satzes zu diskutieren, ist hier sicher nicht der rechte Ort, noch wäre es der Sache dienlich. Zu verzeichnen ist darum nur, dass sich die Argumentation Pascals lediglich auf eine nicht belegbare These stützt und ihr Inhalt deshalb nicht als Faktizität gehandelt werden kann.

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Blaise Pascal: Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände (ca. 1660), übersetzt von Karl Adolf Blech, Berlin 1840, S. 345.

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Etwas anders stellt sich hingegen die Kulturkritik jüdischen Schaffens bei Voltaire 4 dar. Voltaire, dessen antijüdische Mentalität5 ebenso bekannt ist wie sein aufklärerisches Denken, das eine Zuordnung von Voltaires Einstellung als agnostisch bis deistisch gestattet, beruft sich naturgemäß nicht auf verkannte Erfüllungen von Prophetie und den daraus resultierenden Mangel an Liebe und Wahrheit unter den Juden, sondern setzt seine Kritik im Dictionnaire vergleichsweise faktisch an: Die Juden waren niemals Naturphilosophen noch Mathematiker noch Astronomen. Sie waren so weit davon entfernt, öffentliche Schulen für die Ausbildung der Jugend zu gründen, dass ihre Sprache nicht einmal einen Begriff kannte, um eine solche Einrichtung zu bezeichnen.6 4

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Dass bei der vorliegenden Überlegung, die sich mit der Grundproblematik des deutsch-jüdi schen Kulturverständnisses auseinandersetzt, französische Denker wie Pascal und Voltaire zitiert werden, ist im entsprechenden historischen Rahmen zu verstehen und plausibel darlegbar. So zeichnet sich das kulturelle Denken des Barock in Deutschland durch eine erhebliche Freundlichkeit gegenüber französischer Kultur aus, die sich v.a. in den gehobenen gesellschaftlichen Kreisen in einer breiten Rezeption französischer Kultur äußerte. Umgekehrt war in jener Zeit der kulturelle Einfluss Deutschlands auf Frankreich gleichfalls in höherem Maß ausgeprägt, als es später der Fall sein sollte. Insofern ist die Annahme, dass die damali gen französischen Philosophen sowohl durch deutsche Einflüsse geprägt waren und gleich zeitig in Deutschland ein breites Publikum fanden und damit selbst prägend wirkten, keinesfalls unlegitimiert. Vgl. dazu auch: Dieter Langewiesche: Föderative Nation, München 2000, S. 54, S. 181; ebenso Annett Volmer: Presse und Frankophonie im 18. Jahrhundert, Leipzig 2000, S. 42ff. Voltaire bedient in seinem Artikel „Juden“ in vermeintlich sachlicher Ummantelung die selben antisemitischen Klischees, die zu seiner Zeit bereits seit Jahrhunderten kursierten: So bezeichnet er die antiken Juden als Kinderschänder und -mörder, als Kannibalen, als Sodomiten, als Götzendiener und – natürlich – als Betrüger (Voltaire: „Juifs“ in: Dictionnaire philosophique, verschiedene Ausgaben, am zugänglichsten ist hier die digitale Version: http://www.artistasalfaix.com/doc/.pdf/Voltaire%20-%20Dictionnaire%20philosophique.pdf). Wirft man einen Blick in seine Biographie, scheint, neben seiner ihm eigenen massiven Aversion gegen alles konkret Religiöse, seine antisemitische Haltung gleichfalls auf einem Ereignis zu fußen, bei welchem ein jüdischer Geldwechsler den Philosophen um einen Batzen Geld gebracht haben muss – für den am eigenen Kapital nicht völlig desinteressierten Voltaire eine schmerzhafte Erfahrung. Vgl. dazu: Heinrich Graetz: „Voltaire und die Juden“, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums , Hrsg. Zecharias Frankel, Breslau 1868, S. 162. Durch die Kenntnis dieses Vorfalles wirkt ein klischeelastiges Detail von Voltaires „Rede eines Juden“, in welcher er versucht, die jüdische Religion der Lächerlichkeit preiszugeben und den Juden wiederholt autonom erlangte kulturelle Leistungen abspricht, etwas plausibler; Voltaire betont in der Rede den vermeintlich rechtswidrigen Umgang der Juden mit dem Geld, indem er den Juden sagen lässt: „Zehn von unseren zwölf Stämmen gehen für immer zugrunde. Die beiden anderen sind zerstreut und fälschen Geld.“ In: Voltaire: Streitschriften (Hrsg. Martin Fontiu), Berlin 1981, S. 391. Zuletzt darf die Tatsache nicht vernachlässigt werden, dass Voltaire das Judentum als Manifestation einer Art ‚Urmutter‛ des durch ihn verachteten Christentums betrachtete und es somit in den unrühmlichen Stand eines religiösen Grundübels erhob.

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Allgemeine Auswirkungen Sie fragen nun, ob die alten Philosophen und Gesetzgeber von den Juden gelernt haben oder die Juden von ihnen. Diese Frage müssen wir an Philon weitergeben: Er hat einge räumt, dass vor der Übersetzung der Septuaginta die Fremden absolut keine Kenntnis von den Büchern dieses Volkes gehabt haben. Die großen Völker können ihre Gesetze und ihre Kenntnisse nicht von einem kleinen Volk, unbedeutend und versklavt, erlangt haben. 7 Schlussendlich können wir sie nur als unwissendes und ungesittetes Volk betrachten [….] Trotzdem sollten wir sie nicht verbrennen.8

Im Dictionnaire portatif wird im Artikel „Juifs“ (Juden) die Kulturgeschichte des hebräischen Volkes durch Voltaire auf eine Weise beleuchtet, die darauf abzielt, dessen Irrelevanz herauszuheben. Die Betonung auf die in der Antike tatsächlich wenig rezipierten Kulturleistungen der Juden lässt sich insofern als antijüdisch deuten, als eine Vielzahl anderer Bevölkerungsgruppen zum damaligen Zeitpunkt nicht einmal über ein gültiges Schriftsystem verfügten und vor allem in der Gegenüberstellung zur hellenistischen Kultur eine etwas trübere Position einnehmen müssten – dennoch wird keiner anderen Gruppe als den Juden im Dictionnaire der mangelnde Progress vorgehalten (beispielsweise war das gallische bzw. keltische Runensystem, mit welchem Voltaires eigene Vorfahren zu jener Zeit mutmaßlich gearbeitet haben, der hebräischen Schrift in Bezug auf Komplexität unterlegen). Trotzdem greift Voltaire in dem Artikel, möglicherweise intuitiv und allzu überdeckt mit der antijüdischen Färbung, ein Charakteristikum der Juden auf, das sich nicht ohne Weiteres abtun lässt und einen maßgeblichen Hinweis auf eine minimale Sachlichkeit in der Authentizitätsfrage liefert: Voltaire schätzt die Juden als ein von anderen lernendes Volk ein. Zwar erhält diese Beurteilung, wie im angeführten Zitat besonders deutlich wird, einen sehr fahlen Beigeschmack, indem hier der Lernende zum unfähigen Plagiator degradiert wird. Aber trotz ihres plakativen Antijudaismus handelt es sich bei Voltaires Unterstellung einer kulturellen ‚Leihmentalität‛ keineswegs um bloße Bezichtigung, und wenn im Laufe der Arbeit wiederholt der jüdische bewahrende Traditionalismus aufgegriffen wird, der ‚die Juden‛ als von anderen, aber auch von sich selbst eine lernende Gemeinschaft charakterisiert, findet das von Voltaire abwertend beschriebene Phänomen damit seine neutrale Entsprechung. 6

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„Les Juifs ne furent jamais ni physiciens, ni géomètres, ni astronomes. Loin d’avoir des écoles publiques pour l’instruction de la jeunesse, leur langue manquait même de terme pour exprimer cette institution.“ In: Voltaire: Œuvres Complétes, Bd. 7, Dictionnaire Philosophique 1, „Juifs“, Paris 1835, S. 754ff. „Vous demandez ensuite si les anciens philosophes et les législateurs ont puisé chez les Juifs, ou si les Juifs ont pris chez eux. Il faut s’en rapporter à Philon: il avoue qu’avant la traduction des Septante les étrangers n’avaient aucune connaissance des livres de sa nation. Les grands peuples ne peuvent tirer leurs lois et leurs connaissances d’un petit peuple obscur et esclave.” Ibid. Mit „Philon” ist Philon von Alexandrien gemeint, ein bedeutender hellenistisch-jüdischer Philosoph aus dem 1. Jh. n. Chr. „Enfin vous ne trouverez en eux qu’un peuple ignorant et barbare [...] «Il ne faut pourtant pas les brûler.»” A.a.O.

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Es bietet sich nach den ausgeführten Bewertungen an, als deutsches ‚Aufklärungspendant‛ in der Frage nach den kulturellen Leistungen der Juden Immanuel Kant heranzuziehen. Der dem Christentum weit näher als Voltaire stehende Aufklärer hinterfragt in erster Linie die moralische Leistungsfähigkeit des Judentums, welches er im Gegensatz zum Christentum nicht als ‚echte‛ Religion, sondern als lebloses Regelwerk verstanden wissen will.9 Damit schon spricht er den Juden ein intrinsisches moralisches Bedürfnis ab, was vor allem vor dem Hintergrund von Kants inhaltlicher Schwerpunktsetzung einem vernichtenden Urteil gleich kommt. Trotzdem hält der herausragende Philosoph, den man wegen seiner Nähe zu Moses Mendelssohn unterschwellig stets, wenn auch irrtümlich 10 als judenfreundlich einschätzt, eine mögliche emotionale Durchsetzung seiner Argumentation zurück und bedient sich jener sachlich durchaus gestützten Kritik, die bereits Voltaire nutzt: der Tendenz der antiken Juden, fremde Kulturleistungen zu adaptieren. Das Judentum war vor Anfange und selbst dem schon ansehnlichen Fortgange des Chris tentums ins gelehrte Publikum noch nicht eingetreten gewesen, d.i. den gelehrten Zeitgenossen anderer Völker noch nicht bekannt, ihre Geschichte gleichsam noch nicht kontrolliert, und so ihr heiliges Buch wegen seines Altertums zur historischen Glaubwürdigkeit gebracht worden.11 [Das] Judentum [war] in einem Zustande, wo diesem sonst unwissenden Volke schon viel fremde (griechische) Weisheit zugekommen war, welche vermutlich auch dazu beitrug, es durch Tugendbegriffe aufzuklären […].12

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„Der jüdische Glaube ist, seiner ursprünglichen Einrichtung nach, ein Inbegriff bloß statutarischer Gesetze, auf welchem eine Staatsverfassung gegründet war; denn welche moralische Zusätze entweder damals schon, oder auch in der Folge ihm angehängt worden sind, die sind schlechterdings nicht zum Judentum, als einem solchen, gehörig. Das letztere ist eigentlich gar keine Religion, sondern bloß Vereinigung einer Menge Menschen, die, da sie zu einem besondern Stamm gehörten, sich zu einem gemeinen Wesen unter bloß politischen Gesetzen, mithin nicht zu einer Kirche formten; vielmehr sollte es ein bloß weltlicher Staat sein, so daß, wenn dieser etwa durch widrige Zufälle zerrissen worden, ihm noch immer der (wesentlich zu ihm gehörige) politische Glaube übrig bliebe, ihn (bei Ankunft des Messias) wohl einmal wiederherzustellen.“ Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft, aus: Kant: Werke in 12 Bänden (Hrsg. Wilhelm Weischedel), Bd. 8, Frankfurt 1977, S. 790. 10 Kants antijüdische Einstellung lässt sich an verschiedenen Äußerungen des Philosophen nachweisen. Als wohl bekannteste wie auch bezeichnendste darf die folgende gelten, welche im Reisetagebuch von 1789 des zeitgenössischen Theologen Johann Friedrich Abegg festgehalten wurde: „Es wird nichts daraus kommen, solange die Juden Juden sind, sich beschneiden lassen, werden sie nie in der bürgerlichen Gesellschaft mehr nützlich als schädlich werden. Jetzo sind sie die Vampyre der Gesellschaft.“ Johann Friedrich Abegg: Reisetagebuch von 1789, Frankfurt/Main 1976, S. 190. 11 Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft , S. 837. 12 Ibid., S. 792.

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Auch hier mag die gesonderte Hervorhebung des antiken Judentums als kulturleihendes Volk irritieren, wenn man einen Vergleich zu anderen zeitgenössischen Gruppen anstrebt, obwohl einzuräumen ist, dass sich das Judentum sowohl als nationale Einheit als auch als religiöser Verband gegenüber anderen antiken Völkern als besonders langlebig auszeichnet und möglicherweise deshalb für eine kulturelle Sektion anbietet. Mit dieser Überlegung schließt sich allerdings bereits an dieser Stelle ein Kreis, der im Laufe der weiteren Untersuchung noch differenzierter ausgeleuchtet werden wird. Indem sich die Juden als ‚lernendes Volk‛ begreifen und damit einem erweiterten Traditionalismus die Hand geben, ergibt sich in der jüdischen Kultur die Möglichkeit auf eine Stringenz und Homogenität, die sich schließlich als ursächlich für die oft als offensive Abgrenzung interpretierte Beharrlichkeit jüdischer Religions- und Kulturinhalte verstehen lässt. Dass ein ‚lernendes Volk‛, das seine Kenntnisse seinen Vorgängern verdankt, nach der Auffassung Kants grandios an seiner Selbstaufklärung gescheitert sein muss, erklärt sich, wenn man Kants Diktum „ Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“13 als allgemeingültiges Handlungsprinzip dem Sachverhalt der jüdischen Lern- und Lehrmentalität entsprechend unterlegt. Demnach könnte echter Erkenntnisgewinn nur aus sich selbst heraus geleistet werden und alles Tradierte verlöre seine Autorität. Diese Geisteshaltung korrespondiert trotz ihrer Ermangelung eines jenseitig-metaphysischen Gestänges erstaunlich gut mit dem bereits dargelegten selbstbezogenen Erkenntnisgewinn bei Augustinus, welcher, solange lediglich von außen veranlasst, als nicht authentisch zu bewerten ist. Der ‚lernende Jude‛ bleibt dabei wieder kaum mehr als ein inauthentischer Epigone. Der das Kant‛sche Moralprinzip grundsätzlich kritisierende Philosoph Jakob Friedrich Fries teilt wenigstens Kants Einschätzung der jüdischen Kulturleistung, wenn auch in einem deutlich unsachlicheren Duktus und grundlegend verschieden motiviert. In seiner Rezension zu Friedrich Rühs‛ Schrift „Ueber die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht“14 greift Fries 1816 den antisemitischen Duktus auf, um schließlich zu beteuern: Kein Unbefangener kann verkennen, daß schon die Umbildungen alter Mythologien zu Ebräischen Familiengeschichten, wie sie in der Tora enthalten sind, mit dem Geiste ihrer Krämerkaste und mit Rabbinismus verfälscht sind. Wo hat ein anderes Volk auf ähnlicher Bildungsstufe solche elende, für die Dichtung bedeutungslose, heilige Geschichten, die überall mit angerühmten Diebereyen durchwirkt sind? […] Für das übrige Volk ist nun aber diese Kaste die schädlichste von allen, denn sie lebt ohne eigene Mühe von fremder Arbeit, gibt weder materiell, noch geistig eine productive Arbeit, 13 Immanuel Kant: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung“ (1784), in: Kant Werke in 12 Bänden, Bd. 11, Hrsg. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/Main 1977, S. 53ff. 14 Friedrich Rühs: Ueber die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht , Berlin 1816.

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schmiegt sich also nur als Schmarotzerpflanze oder Blutsauger an ein fremdes Leben an und entkräftet dieses.15

Dass die Bewertung jüdischer Kulturleistung zu Beginn des 19. Jahrhunderts wie bei Fries einen beträchtlich schärferen Ton erfährt als ihre Vorgänger aus der Aufklärung oder früherer Epochen, dass die antijüdische Kritik zunehmend in einen Antisemitismus umgeformt wurde, ist auf den beginnenden Emanzipationsprozess der jüdischen deutschen Bürger zurückzuführen. Die den Juden dadurch ermöglichte aktive Teilhabe am politischen und kulturellen Leben Deutschlands gestattet ihren Kritikern nicht länger die Reduktion des Judentums auf seine vergangene hebräische Tradition. Dementsprechend begegnet hier nicht länger ein Antijudaismus, der grundlegend die Juden in ihrer Einstellung als ‚auserwähltes Volk‛ und ihre Ablehnung des jesuanischen Messias kritisiert, sondern ein patriotisch bzw. nationalistisch motivierter Antisemitismus, der die Juden zunehmend als minderwertiges Volk gegenüber dem ‚deutschen Bürgertum‛ begreift. Dieser Umstand wirkte sich auf gleiche Weise auf die Geschichte des Musikschrifttums aus und wird im Anschluss thematisiert werden. Zusammenfassend lässt sich die hier kurz angerissene Geschichte der allgemeinen Bewertung der kulturellen Leistungen des Judentums mit ihren wesentlichen epocheabhängigen Merkmalen erfassen, die stets einen mehr oder minder stark entwertenden Effekt innehatten:

1. Während der Reformation galt die hebräische Tradition als hebraica veritas, die nachchristlichen Juden hingegen als unwahrhaftig und falsch (Erasmus/Luther/Melanchthon). (antijüdisch) 2.

Der christlichen Denktradition und ihrem Absolutheitsanspruch in Bezug auf den messianischen Jesus verpflichtet, bewerteten nachreformatorische Gelehrte die Juden als wahrheitsfern und verlogen (Pascal). (antijüdisch)

3.

Während der Aufklärung rückte der religiöse Aspekt in den Hintergrund, um das altertümliche Schrifttum der Juden als geraubt, also als unecht, als unbedeutend und die antiken Juden als abhängig von den kulturellen Leistungen anderer zu charakterisieren (Voltaire/Kant). (Übergang antijüdisch zu antisemitisch)

15 Jakob Friedrich Fries: „Rezensionen zur angewandten Philosophie I – Philosophische Rechtslehre/Politik Nr. 26: F. RÜHS u.a“., in: Jakob Friedrich Fries – Sämtliche Schriften , Bd. 25, Aalen 1996, S. 161., S. 163. Besonders kennzeichnend ist hier die inhaltliche Korrespondenz zwischen Fries‛ und Kants bereits zitierter privater Einschätzung des ‚,Jüdischen‛ als blutsaugend.

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Allgemeine Auswirkungen

4. In der völkischen ‚Nationalromantik‛16 wurde letztlich nicht mehr zwischen antikem und modernem Judentum unterschieden (Rühs/Fries), sondern beide Gruppen ohne Differenzierungswillen als kulturell parasitär und schädigend kategorisiert – später erfolgte rassische Zuschreibungen fügen sich hier nahtlos ein. (antisemitisch)

16 Wenn hier und im Folgenden von ‚Nationalromantik‛ die Rede ist, bezieht sich der dahinter stehende Gedanke nicht auf die so bezeichnete architektonische Stilistik, sondern stellt den Versuch dar, die romantischen Volksempfindungen des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts und das mit ihnen verbundene Sehnen nach einem nationalen Gemeinschaftsge fühl, in einem Begriff zu integrieren.

5. Auswirkungen auf das Musikschrifttum

Dass sich diese allgemeinen Bewertungen jüdischen Kulturschaffens auch im musikästhetischen Bereich konkretisieren lassen, ist eine logische Folge. Neben den bekannteren und weniger bekannten antisemitischen Ausfällen gegen jüdische Einzelpersonen/Komponisten, wie durch Wagner, bestehen allerdings auch allgemeine Bewertungen bzw. Verurteilungen, die sich auf jüdisches Musikschaffen beziehen und teilweise unbeachtet geblieben sind. Ganz folgerichtig tauchen die Einschätzungen bezüglich des Musikschaffens moderner Juden erst mit dem 19. Jahrhundert auf. Erst mit den ersten Emanzipationsversuchen wurde es den Juden wieder möglich, aktiv an einem breiteren gesellschaftlichen Kulturschaffen zu partizipieren, was Musik einbezieht. Im Wesentlichen lässt sich für die antisemitische bzw. antijüdische Haltung eine thematische Überdachung für die Beziehung zwischen den Juden und der Musik erfassen: Der Jude kann von der Musik nicht lassen, obwohl sie durch ihn krankt. Das Grimm-Märchen „Der Jude im Dorn“, das ca. 1815 schriftlich fixiert wurde und dem aktuellen Volksgeist entsprechend auf kein ‚Judenklischee‛ verzichten mag, weist eine aufschlussreiche Passage vor, welche mit diesem Urteil übereinstimmt: Da kroch der Jud’ in den Busch und wie er mitten drin stack, zog mein Knecht seine Fiedel und geigte, fing der Jud’ an zu tanzen und hatte keine Ruh, sondern sprang immer stärker und höher; der Dorn aber zerstach seine Kleider, daß die Fetzen herum hingen und ritzte und wundete ihn, daß er am ganzen Leibe blutete. „Gotts willen, schrie der Jud’, laß der Herr sein Geigen seyn, was hab’ ich verbrochen?“ Die Leute hast du genug geschunden, dachte der lustige Knecht; so geschieht dir kein Unrecht, und spielte einen neuen Hüpfauf. Da legte sich der Jud’ auf Bitten und Versprechen und wollte ihm Geld geben, wenn er aufhörte, allein das Geld war dem Knecht erst lange nicht genug und trieb ihn immer weiter, bis der Jud’ ihm hundert harte Gulden verhieß, die er im Beutel führte und eben einem Christen abgeprellt hatte. Wie mein Knecht das viele Geld sah, sprach er: „unter dieser Bedingung ja,“ nahm den Beutel und stellte sein Fiedeln ein; darauf ging er ruhig und vergnügt weiter die Straße. Der Jud’ riß sich halb nackicht und armselig aus dem Dornstrauch, überschlug, wie er sich rächen möchte, und fluchte dem Gesellen alles Böse nach.1

Die hier begegnende scheinbar selbstverständliche Assoziation von Juden und ihrer Beziehung zu Musik, der sie einerseits dienen wollen, andererseits jedoch keinen ‚gesunden‛ Zugang zu ihr finden können, wurzelt in den musikästhetischen Betrachtungen, die im 19. Jahrhundert für jüdisches Musikschaffen selten freundliche Worte fand. Ehe sich diese deutlich antisemitische Grundeinstellung gegenüber jüdischem Musikschaffen ganz stabil im Musikschrifttum etablieren konnte, 1

Brüder Grimm: „Der Jud‛ im Dorn“ in: Kinder und Hausmärchen, Bd. 2, Göttingen 1857 (7. Auflage), S. 123f.

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beruft sich die Betrachtung jüdischen Musikschaffens zunächst lediglich auf die Leistungen der antiken Hebräer. Es ist folglich zu beobachten, dass die durch die Reformation hindurch erhalten gebliebenen Stereotype des ‚Jüdischen‛ in der Musikgeschichtsschreibung erst dann nach und nach ihren Niederschlag fanden, als die Juden mit ihrer Tonkunst nicht länger als ‚altertümliches Totenvolk‛ subsumiert wurden, sondern sie entschiedener ihren Platz in der gegenwärtigen Kulturlandschaft Deutschlands einforderten. Als besonders erhellend lässt sich dabei feststellen, dass innerhalb weniger Jahre eine zunächst – jedenfalls im Vergleich zu unverhohlenem Antijudaismus – recht objektiv gestaltete Bemühung um eine historische Darstellung vor dem Hintergrund zunehmender antisemitischer Tendenzen in der Öffentlichkeit und parallel zur jüdischen Emanzipation in ein antisemitisches Schema abrutscht, welches letzten Endes die Tonkunst des antiken Judentums herabsetzt. Um dem Eindruck einer historisch sauber verlaufenen Nachfolgsamkeit vorzubeugen, darf der Hinweis nicht fehlen, dass, obwohl die tatsachenorientierte Musikgeschichtsschreibung ohne die Schärfe antisemitischer Argumentationen de facto bestand, das sie ablösende antijüdische Musikschrifttum zum Teil schon parallel, beziehungsweise in der rein antisemitischen Denktradition schon im engeren Vorfeld existierte. Bildlich dargestellt ist spätestens gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein Schnittpunkt zu denken, ab welchem die antisemitischen Bewertungen der antiken Juden die zaghaften Versuche einer neutralen Musikgeschichtsschreibung nachhaltig erstickte.

5.1 Michael Praetorius Als eine der früheren überlieferten Quellen zur ursprünglich musikgeschichtlich gerahmten Bewertung des Musikschaffens der antiken Juden, welches sowohl mit seiner metaphysischen alttestamentlichen Verbindung als auch mit seinen praktischen Eigenarten systematisiert wurde, kann Michael Praetorius‛ Syntagma musicum (1614ff.) angesehen werden. Praetorius hat in ihm nicht nur die Geschichte der Instrumentenkunde, seine Gedanken zur Aufführungspraxis und die allgemeine Musikgeschichte umfassend dargestellt, sondern auch die Musizierpraxis alter Völker und ihrer Kulte mithilfe der ihm zugänglichen Quellen eingehend beschrieben. Seine Aufmerksamkeit widmet er somit unter anderem der antiken hebräischen Musikkultur, ihren Instrumenten, Psalmen/Vertonungen sowie ihrer Eigenart, Melodieführungen mittels eigener Akzente zu notieren. Betrachtet man Praetorius‛ Schrift hinsichtlich der sich anschließenden Folgebewertungen anderer Autoren, schimmert bereits in diesem frühen Werk ein Phänomen durch, das für sich allein genommen zunächst wenig Aussagekraft besitzt, dessen Bedeutung in den Folgebetrachtungen aber immer klarer zutage tritt. Es bildet sich nämlich eine bemerkenswerte Parallele zu dem ab, was durch die Reformation in Bezug auf die alttestamentliche hebräische Sprache schon vorzeitig er-

Auswirkungen auf das Musikschrifttum

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folgt war: Jene Überzeugung, die bereits der Renaissance als Idealisierung vergangener Kulturen anhaftet, bewog in abgeschwächter Form die frühe Musikgeschichtsschreibung, in der antik-jüdischen Musikkultur eine musikalische Analogform der hebraica veritas, wie sie bereits im Zusammenhang mit dem theologischen Schrifttum beschrieben wurde, zu vermuten. So auch im Syntagma: „David hat als erster den Geist des Zitherspiels empfangen sowie als erster Psalmen komponiert und aufgeschrieben.“2

Wenn Praetorius als Protestant im ersten Band seines Syntagmas also darauf verweist, dass die ursprünglichen Psalmen, die dem Gotteslob dienen, unter ande rem der Feder Davids entsprungen sind, dass sein Instrumentalspiel beseelt war (was wiederum auf eine Authentizitätsthese im Sinne einer direkt durch Gott diktierten Eingebung verweist) und die musikalische Tradition des antiken jüdischen Volkes sowohl vielfältig als auch professionell war, reiht er sich möglicherweise nicht zufällig in das reformatorische Denken, welches der vorchristlichen jüdischen Kultur besondere Echtheit attestierte. Kurz: Die musikkulturellen Leistungen der alten Hebräer wurden als authentisch bewertet. Die darin möglicherweise erfahrbare ‚Nachwirkung‛ einer theologischen hebraica veritas verliert sich jedoch bald mit dem zeitlichen Abstand zur Reformation auf protestantischer Seite. Demgegenüber steht die Authentizitätsproblematik bei den modernen Juden. Anders als zur Zeit der späteren jüdischen Emanzipation wird damals das moderne Judentum kaum als aktiv kulturell schaffend wahrgenommen und jede Bewertung dieser Gruppe kann sich allenfalls auf die Eindrücke eines Synagogenbesuches, in vielen Fällen sogar eher auf entsprechende Gerüchte beziehen. Um jedoch besonders emphatisch auf den Authentzitätscharakter der antik-jüdischen musikkulturellen Leistungen zu verweisen, ist den Autoren als kontrasttaugliches Gegenmodell das moderne Judentum mit seiner Eigenart, eben jene Echtheit verloren zu haben, brauchbar. Praetorius hält dementsprechend fest, dass: „ […] bei den modernen Juden die Akzente und Melodien der Psalmen und anderer Gesänge des alten Testaments nicht mehr fortbestehen […].“3

Dahinter eine affektive Form des Antijudaismus vermuten zu wollen, ginge wohl zu weit. Immerhin handelt es sich bei dieser Feststellung um eine sachliche, ganz ohne weiterführende Bewertungen dieses Umstandes, obschon eine mögliche gedachte Abwertung des modernen Judentums beim Autor nicht auszuschließen ist. Solang sie sich aber in Praetorius‛ Schriften nicht eindeutig nachweisen lässt, ist eher dazu geraten, den erwähnten Verlust der hebraica veritas bei den moder2

3

„David primus spiritum psallendi accepit, primusque Psalmos composuit et scripsit […]“ Michael Praetorius: Syntagma musicum, Wittenberg 1615, Bd. 1 (De musica sacra), 4. Teil, Kapitel 1 („De Musica Chorali“), S. 2. „[…] apud Iudaeos modernos non constare de accentibus et melodys Psalmorum, aliarum que cantionum veteris testamenti, nec titulis quibusdam Psalmis praefixit.“ Ibid., Kapitel 4, S. 13.

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nen Juden als eine hingestellte Faktizität anzuerkennen. Trotzdem hält bereits auf diesem Weg der Niederschlag des bereits allgemein bestehenden Authentizitätsproblems des Judentums in das Musikschrifttum Einzug.

5.2 Athanasius Kircher Die Musikgeschichtsschreibung des 17. Jahrhunderts, welche sich um eine fundierte Darstellung der hebräischen Musikkultur bemüht, lässt sich allerdings nicht allein auf Praetorius‛ Wirken begrenzen. So beschreibt der Universalkirchengelehrte Athanasius Kircher auf seiner Suche nach allgemeinen und kosmologischen Weltzusammenhängen, die sich in einer enormen Themenvielfalt manifestierte, u.a. die Kohärenz von Physik und Metaphysik und zwar in seiner Musurgia universalis (1650) speziell jene von der Beschaffenheit des menschlichen Körpers und der Wirkung von Musik. Dabei ist er, wie sein protestantischer Vorgänger auf diesem Feld, darum bemüht, das Wissen über die antike Musikgeschichte zusammenzutragen und einen gültigen Überblick zu schaffen. Auch in seiner Schilderung des hebräischen Musikschaffens konturiert sich der Gedanke an eine musikalische hebraica veritas, welcher Praetorius‛ Beschreibung sogar übersteigt: „Es besteht kein Zweifel daran, dass die hebräische Musik zur Zeit Davids und Salomons ganz und gar vollendet war.“4

Die Psalmen beurteilte Kircher auf eine Weise, die keinen Zweifel an Kirchers Überzeugung sowohl in Bezug auf die Echtheit als auch auf die Wahrhaftigkeit der antik-jüdischen Tonkunst lässt: Weil sie [Rhythmus und Metrum] also in den Psalmen Davids so gut, so geeignet und genau waren, muss man sagen, dass die Psalmen selbst echte Lieder waren, nicht nur echt, sondern auch in hohem Maße anmutig.5

Anders als im Syntagma und in späteren Einschätzungen sucht man allerdings in der Musurgia neben der Verdeutlichung der überlegenen alt-hebräischen Musikkultur vergeblich nach einem Hinweis auf einen Mangelzustand bei den modernen Juden. Warum Kircher davon abgesehen hat, ist nachträglich nicht mehr zuverlässig festzustellen. Räumt man einer vorsichtigen Spekulation etwas Platz ein, ließe sich darüber mutmaßen, ob ein jesuitischer Gelehrter, der einem Orden entstammte, in welchem innere Zustände möglicherweise zugunsten einer nüchternen Wissenserweiterung eher nachrangig bewertet wurden, tatsächlich Frustration über die vermeintliche innere Fehleinstellung der nachchristlichen Juden empfunden haben mag und ob es Kircher dementsprechend für nötig erachtet hätte, auf 4

5

Nullu dubio est, quin Musica Hebraeorum tempore Dauidis et Salomonis fuerit perfectissima […]. Athanasius Kircher: Musurgia universalis, Rom 1650, S. 60. Cum ergo in Dauidis Psalmis tam bene, tam apposite, et exacte fiant, dicendum psalmos ipsos esse vera carmina, nec solum vera, sed et elegantissima . Ibid., S. 61.

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eben jene ‚jüdische Falschheit‛ auf verschiedenen Ebenen zu verweisen, wo sich die inhaltliche Gewichtung vielmehr auf das vorchristliche Judentum ausrichtet. Einzig die Frage nach der Herkunft der davidischen Psalmen streift allenfalls die Authentizitätsproblematik, insofern Kircher festhält, dass nicht allen Psalmen trotz entsprechender Überschreibung Davids (bzw. Moses/Salomos/Asaphs) Urheberschaft zugeschrieben werden kann. Die Täufer sagen in unserem Jahrhundert, dass das Buch der Psalmen nicht David, sondern den Jüngeren jener Juden nach Christi Geburt zuzuschreiben sei.6

Diese Ansicht Kirchers, welche übrigens auch von Praetorius geteilt wurde, 7 fügt sich allerdings in eine Reihe ähnlicher religionswissenschaftlicher Einschätzungen,8 die bis heute gelten und nicht als antisemitisch oder antijüdisch bewertet werden können.

5.3 Johann Mattheson Erheblich weniger dezent und bereits jenseits eines faktenorientierten Musikschrifttums, wie es von Kircher im ausgehenden 17. Jahrhundert noch praktiziert wird, nimmt sich die Beurteilung der jüdischen Musikkultur durch Johann Mattheson aus, den man mühelos als einen Autor beschreiben kann, der sich nicht nur auf verschiedenen Gebieten als kenntnisreicher Gelehrter einen Namen gemacht hat, sondern auch durch den christlichen bzw. lutherischen Glauben erfüllt war. Sein Musicalischer Patriot (1728) entpuppt sich als außerordentliches Füllhorn, das etliche Hinweise auf Matthesons Stellung zum jüdischen Musikschaffen preisgibt. Sicher muss man berücksichtigen, dass sich der Patriot in seiner Eigenschaft als wöchentlich erscheinendes Periodikum weniger einem historisch-objektiven musikschriftlichen Überblick verpflichtet fühlt, sondern vielmehr eine Sammlung von Gedanken und Meinungen Matthesons zu verschiedenen musikalischen Gebieten darstellt. Sein teilweise sehr populistischer Charakter ist durch diesen Umstand schnell erklärt, trotzdem gewährt er andererseits dadurch einen umso tieferen Einblick in Matthesons Denken. In diesem Sammelsurium einer sachlichen Musikgeschichtsschreibung nicht unbedingt verpflichtet, bezieht sich Mattheson in seinem Patrioten folglich deutli6

7

8

„Anabaptistae nostro hoc seculo aiunt librum Psalmorum non a Dauide, sed a Recentioribus quibusdam Iudaeorum post mortem Christi fuisse conscriptum.” Ibid., S. 57. „Atque, poeticé, ac organicé psallendi studio, Psalmi non soluta et libera, sed ligata et nu meris astricta oratione sunt a Davide conscripti. […] quia vero non unum adhibuit Propheta carminis genus, sed varia, ideo factum est […].” Praetorius: Syntagma Musicum, Bd. 1, Teil 4, Kapitel 1, S. 86. Vgl. z.B. Walter Dietrich (Hrsg.): König David, biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt: 19. Kolloquium (2000) der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, Stuttgart 2003, S. 634f.

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cher auf einen von ihm beschriebenen Ist-Zustand der jüdischen Musikkultur, wobei die erwähnten antiken hebräischen Leistungen nicht gewürdigt, sondern erstens in Frage gestellt und zweitens allenfalls als Instrument zur Herabsetzung der modernen jüdischen Kultur genutzt werden: Moses war ein Meister-Sänger […]. Doch folget daraus mit nichten, daß die alten Juden (vielweniger die neuen) es mit der Figuralmusic so weit gebracht haben sollten, als wir Christen. Was man heutiges Tages bey den Juden höret, ist so aus der Art geschlagen, und von einer wahren Melodie abgewichen, daß man darin weder Geschmack noch Artigkeit mehr findet. Die Juden bekennen selbsten, wie Abarbanel sagt, daß sie, durch die Zeit und vielfältige Vertreibung, die rechte Melodie verlohren haben. Hebräische Raritäten wollen zwar von einigen ausgewiesen werden, als ob solche aus dem Altherthum herstammeten; allein sie sehen gar nicht darnach aus.9 So singen alle Juden noch heutigen Tages, und die es am schlechtesten machen, halten doch einen Tact, geben ihre Methode für was Uraltes aus, und richten ihre Jugend, nicht ohne sonderbaren Fleiß, darauf ab.10

Dass hier eine Reinform des Antijudaismus begegnet, wird nicht nur im ersten Zitat deutlich, in welchem Mattheson der jüdischen Musikkultur die christliche als überlegene entgegensetzt und mit dem Hinweis auf die „ aus der Art geschlagen[en]“ Musik eine Vorwegnahme des späteren Entartungsbegriffes ahnen lässt. Mattheson, der in seinem Werk wiederholt auf den für ihn ganz und gar maßgeblichen Gedanken Luthers hinwies, nämlich jenen, dass Musik in erster Linie dem Lob Gottes dienen und an entsprechende Innerlichkeit geknüpft sein solle, weist den Juden genau vor dem Hintergrund vermeintlich falscher Innerlichkeit die Unfähigkeit zu, durch ihren jüdischen Glauben das Wesen von Musik überhaupt wahrhaftig erfassen und darstellen zu können: Weil wir Christen nun, im Neuen Testament, die Erfüllung solcher Zusage [die Erfüllung Gottes Wortes] wircklich erlebt haben, so lieget uns ja mehr ob, als den Jüden, mit Freuden, mit Dancken, mit Harffen, mit Psaltern, mit neuen Liedern, mit schallenden Saitenspielen vor sein Angesicht zu kommen.11

Der Vorwurf der ‚jüdischen Falschheit‛ und mangelnder Authentizität, die sich nach Auffassung Matthesons gleichwohl im jüdischen Musikschaffen niederschlagen, wird auf diese Weise bündig auf den Punkt gebracht. Darüber hinaus wird hier besonders deutlich herausgestellt, wie enorm sich die reformatorische Ansicht über den ‚falschen Juden‛ auf ein für sich genommen theologisch eher randständiges Gebiet wie das des Musikschrifttums auswirkt. Und dass im Falle Matthesons der Antijudaismus, wie er im seinem Schreiben über 9 10 11

Johann Mattheson: Der musicalische Patriot, Hamburg 1728 (Jahresband), S. 38. Ibid., S. 252. Ibid., S. 263.

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Musik zu beobachten ist, ein theologisches Fundament aufweist, belegt Matthesons eindeutige Äußerung zu den ‚fehlgeleiteten Juden‛: Ich merke aber, daß alles bisher-vorgebrachte noch nicht zureichen will, die niedrig-gesinnten auf den rechten Weg zu bringen […].12

Eine antijüdische Musikgeschichtsschreibung ist somit zu Beginn des 18. Jahrhunderts bereits vollständig erblüht.

5.4 Martin Gerbert Ehe die antijüdische Musikgeschichtsschreibung mit Johann Nikolaus Forkel in einen antisemitischen Duktus verfällt, soll an dieser Stelle zunächst ein entgegengesetztes Beispiel hinzugezogen werden, welches durch seine so offensichtliche Diskrepanz zum Folgefall hervorragend dazu geeignet ist, die kausalen Verknüpfungen der Authentizitätsproblematik mit dem Protestantismus und der Innerlichkeitsforderung herauszuheben. Wo nämlich die Reformationsbewegung als Säkularisierung des traditionsverpflichteten Katholizismus empfunden werden kann, verliert sich im Zuge der Aufklärung und im Allgemeindenken mehr und mehr jene Ehrfurcht, die ein ‚Durchschnittsprotestant‛ angesichts der Wurzeln seiner Religion empfunden haben mag. Und das ist letztlich nur konsequent gedacht: Die auch durch die Reformatoren akzentuierte Reibungsfläche zwischen Katholizismus und Protestantismus ist, im Sinne Sigmund Freuds gemutmaßt, möglicherweise als jener ‚Vatermord‛ zu kennzeichnen, der dem später folgenden ‚Großvatermord‛ – der Ablehnung des antiken und modernen Judentums – essentiell kaum nachsteht. Der Katholizismus sieht sich diesem Progress in jener Zeit nicht ausgesetzt und kann seiner ‚Familientradition‛ nicht zuletzt unter der Berücksichtigung des 4. Gebotes – Vater und Mutter zu ehren – nachkommen. So hat zwar der moderne Jude aus katholischer Sicht seine Authentizität durch die Ablehnung des Messias eingebüßt, dem antiken Judentum als Quelle des Christentums hingegen ist kein Schnitzer, welcher die Glaubwürdigkeit des Volkes zu mindern vermag, anzulasten. Die Hinnahme der Tatbestände (bzw. der vermeintlichen Tatbestände) ohne de facto besonders kritisches Hinterfragen der Zusammenhänge ist folglich ein Charakteristikum, das sich in der Musikgeschichtsbetrachtung des benediktinischen Fürstabt Martin Gerbert erkennen lässt. Forschung verläuft vor diesem Hintergrund unter der gegebenen Prämisse, dass die alttestamentlichen Schilderungen als Faktum hinzunehmen sind, und unterliegt nicht etwa, wie später bei Forkel, der Frage, inwiefern die ohnehin etwas spärliche Quellenlage zur antik-hebräischen Musikkultur aus zeitgenössischer Sicht fehlverstanden werden könnte. Gerbert beschäftigt sich sowohl in seinem Werk De cantu et musica sacra, a prima ecclesiae aetate us12

Ibid. S. 38.

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que at praesens tempus (1774) als auch in seinen Scriptores ecclesiastici de musica sacra potissimum (1784) neben anderen Themen mit der hebräischen Musik, wobei er sich im De Cantu um einen musikgeschichtlichen Abriss bemüht, in den Scriptores hingegen u.a. seine persönliche Einstellung zur isrealitischen Musikkultur skizziert. Beiden Werken liegt unvermeidlich ein religiöser Tenor zugrunde, was sich leicht mit Gerberts Position als Fürstabt einer Benediktinerabtei in Zusammenhang bringen lässt. Seine Darstellung der hebräischen Musikgeschichte zeichnet sich dabei als Häufung einiger der bis dato gewonnenen Einsichten zum Thema aus, die Gerbert systematisch und gelegentlich kurz kommentiert als Zitationen mit einem jeweiligen Verweis auf Herkunft und Verfasser aufnimmt. Aufschlussreich ist dabei die Wahl der Verfasser, deren Ansichten mit der Einstellung Gerberts offenbar parallel laufen und grundsätzlich als freundlich gegenüber dem Thema zu beschreiben sind. So zitierte Gerbert u.a. den franko-flämischen Komponisten Johannes Martini in Bezug auf die vorchristliche jüdische Tonkunst: „ Sie [die Musik] war damals zweifelsohne vollkommen.“13 Die Würdigung der hebräischen Musik, die Gerbert durch seine Zitationen ausdrückt, begrenzt sich dabei nicht auf das Wirken Davids bzw. Salomos, welches üblicherweise als Paradigma als auch als Klimax der hebräischen Musikkultur angesehen wurde, sondern erstreckt sich auf die gesamte Musikkultur des Volkes Israel: Weil allerdings die Sitten und Bräuche von Moses und den Israeliten auch vorher größtenteils von den Erzvätern angewendet wurden, wie man durch viele Beispiele zeigen kann, wird deshalb die Folgerung wiederholt, dass die Lobgesänge und die Musik nicht erst da mals einen Ort in den Gottesdiensten erhalten haben. Bei den Hebräern wurde die Musik schon immer für das Gotteslob verwendet.14

Damit unterscheidet sich Gerberts Denkweise deutlich von späteren Meinungen jener, die Davids Psalmendichtungen bestenfalls als nicht überzubewertende kulturelle Ausnahme der antik-jüdischen Kultur klassifizieren. Die Bewertung der hebräischen Musikkultur als tugendhaft und authentisch ergibt sich aus Gerberts Position regelrecht zwangsläufig, insofern er sie alleinig als Werkzeug zum Preisen Gottes versteht. Hier begegnet erneut der augustinische Ge danke, nach welchem Gott als Wahrheitssynonym jenen Dingen Authentizität verleiht, die einen Bezug zu Gott vorweisen. Diese katholische und nicht erst seit Augustinus über viele Jahrhunderte lebendig gehaltene Denktradition unterscheidet 13

14

„Tunc temporis citra dubium fuit perfectissima.“ Martin Gerbert: De cantu et musica sacra, a prima ecclesiae aetate usque at praesens tempus , Bd. 1, Buch 1, St. Blasien 1774, S. 8, nach Martinis Angabe zitiert aus: Johannes Martini: Historiae musicae Italice editae, Teil 4, S. 13. „Cum vero Moysis et Israelitarum mores et instituta, antea etiam pleraque a Patriarchis fuerint adhibita, ut multis exemplis ostendi potest, argumentum inde repitur, hymnos et musica non tum demum in religionis officiis locum accepisse. Apud Hebraeos musicae usus iugis fuit in dei laudibus.“ Martin Gerbert: Ibid., S. 3.

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sich grundlegend von den protestantischen Subjektbezügen, nach welchen eine nach außen vollzogene Geste längst nicht so viel Aussagekraft besitzt wie der damit zu kontextualisierende Geisteszustand des Subjekts. Die katholische Spiritualität ist dem Mystizismus entsprechend weit gewogener, und so erklären sich ohne Weiteres Gerberts Ausführungen zum Kunstschaffen Davids in den Scriptores, welche eine ungetrübte Bewunderung zum Ausdruck bringen: Und so hat uns Gott, der Herr, durch seinen Diener David ein Heilmittel erschaffen, dessen Süße durch das Lied geschmeckt werde und das wirksam genug ist, um durch seine Kraft die Wunden der Sünder zu heilen.15

Diese Einschätzung bezieht sich auf den Facettenreichtum der Psalmen, in welchen sich nach Gerberts Auffassung für jeden Menschen, ungeachtet seiner Le bensweise und -umstände, der jeweils angemessene und zweckmäßige Zuspruch finden lässt, um den Menschen näher an Gott heranzuführen. Vor diesem Hintergrund kann folglich kein Zweifel an der Authentizität der antiken jüdischen (Musik-)Kultur bestanden haben.

5.5 Johann Nikolaus Forkel Als Forkel, dessen Wirken von Matthesons musikästhetischen Schriften beeinflusst wird, 1788 seine bedeutende und herausragend recherchierte Allgemeine Geschichte der Musik veröffentlicht, vollzieht sich für den Leser im Abschnitt über die Musik der alten Hebräer, die dem Umfang nach übrigens keineswegs stiefmütterlich behandelt wird, eine für jene Zeit geradezu paradigmatische Verknüpfung von tatsachenbemühtem Musikhistorismus und längst nicht mehr unterschwelligem Antijudaismus/Antisemitismus. Zwar mag sich Forkels Schrift gegen Matthesons erheblich schärfer verfassten Patrioten deutlich verträglicher ausnehmen, trotzdem muss man dagegen halten, dass es sich bei der Allgemeinen Geschichte um kein bloßes Meinungsblatt, sondern um ein wissenschaftliches Werk handelt, das – nicht zu Unrecht – den Anspruch erhebt, mit objektiven Tatbeständen zu überzeugen. Insofern lässt sich eine antijüdische Zuspitzung in der Musikgeschichtsschreibung feststellen, welche, wie unter den allgemeinen Bewertungen zum jüdischen Kulturschaffen dargelegt, in gleicher Weise einen Verlauf vom Antijudaismus zum Antisemitismus einschlägt. Die Motivation für Forkels Argumentation kann dabei als Parallelphänomen zu Kants/Voltaires Einstellung zum Jüdischen gehandelt werden und kennzeichnet in der Musikgeschichtsschreibung den Übergang von der antijüdischen zur antisemitischen Bewertung, insofern Religiosität als Motor für Forkels musikwissenschaft15

„Dominus itaque Deus noster per David servum suum confecit potionem, quae dulcis esset gust per cantionem et efficax ad curanda vulnera peccatorum per suam virtutem […]“, Martin Gerbert: Scriptores ecclesiastici de musica sacra potissimum, St. Blasien 1784, S. 10.

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liche Ambitionen im Gegensatz zu einem sachlichen Theoretisieren allenfalls eine untergeordnete Position besetzt. Gerade weil Forkel als eine musikwissenschaftliche Kapazität, die am Ende des 18. Jahrhunderts ihresgleichen sucht, seine Kritik in Sachlichkeit hüllt und der Leser die antisemitischen Fingerzeige ohne emotionale Überbordung seitens des Autors rezipieren kann, ist sein Werk möglicherweise als beträchtlich wirkungsmächtiger einzuordnen, als es der impulsiv und ungezügelt verfasste Aufsatz Richard Wagners Jahrzehnte später gewesen ist, welcher letztlich ‚lediglich‛ etwas ausdrückt, was sich bereits vollzogen hatte. Wenn man Wagners Schmähschrift als vorläufige Kulmination des antisemitischen Musikschrifttums begreift, erhält die Fragestellung nach den etablierten Grundlagen jener Geisteshaltung eine besondere Gewichtung. Aus diesem Grund soll im Folgenden Forkels Werk insbesondere unter dem Aspekt seiner möglichen Wirkungsmacht bezüglich der deutsch-jüdischen Authentizitätsproblematik detailliert überprüft werden. Man muss Forkel buchstäblich Taktik unterstellen, wenn er seine Abhandlung über die antik-jüdische Musik geradezu wohlwollend beginnt und auf die vermutliche hebraica veritas verweist – allein dieser Akt der Vermutung ist jedoch ein anderer, als den (unterstellten) Tatbestand der hebraica veritas zu würdigen, wie es seine Vorgänger getan haben: Ohngeachtet die Hebräer unter den alten Völkern ihrer Musik wegen vorzüglich berühmt waren, und uns nicht bloß von weltlichen Geschichtsschreibern, sondern hauptsächlich von den Verfassern der Bibel ungemein viel der prachtvollen Anwendung derselben bey ihrem Gottesdienste gesagt wird, so sind wir nach einem Zeitraum von mehrern Jahrtausenden doch nicht im Stande, uns von der wahren Beschaffenheit derselben eine richtige Vorstellung zu machen.16 Ohne diesen lebendigen Odem ist alles todt, und jedes Schriftzeichen nur ein leerer Schatten von dem, was er eigentlich bezeichnen soll. […] Allein die Musik muß leben, das heißt: sie muß klingen, oder sie ist keine Musik.17 Kein alter Schriftsteller, selbst die Bibel sagt uns nichts mehr, als daß ihre Musik sehr prächtig, ausdrucksvoll, kurz sehr vortrefflich gewesen sey. 18

Die ersten beiden Paragraphen des Kapitels über die hebräische Musik überschreibt er dementsprechend mit § 1 Eine richtige und sichere Vorstellung von der Musik der Hebräer ist unmöglich. § 2 Man muß sich mit den davon übrig gebliebenen Nachrichten begnügen. 19

16 17 18 19

Johann Nikolaus Forkel: Allgemeine Geschichte der Musik, Bd. 1, Leipzig 1788, S. 99. A.a.O. Ibid., S. 100. Ibid., S. 14.

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Diese Zusammenfassungen sind gleichermaßen angemessen wie inhaltlich korrekt und spiegeln den Anspruch eines Wissenschaftlers, jenseits von Vermutungen eine objektiv bestehende Sachlage ermitteln zu wollen. Forkels Herangehensweise, die sich zunächst als kritische Reflexion vermeintlicher, jedoch letztlich unbewiesener Tatbestände darstellt, mag aus der Perspektive von wünschenswertem wissenschaftlichen Arbeiten auf den ersten Blick begrüßenswert erscheinen: Nicht länger soll ein ‚Vorurteil‛, auch nicht ein positiv besetztes, im Musikschrifttum bedenkenund endlos wiederholt werden, wo eine saubere Grundlagenschaffung möglicherweise erst aussteht. Auf diese Weise findet der Autor zu dem durchaus legitimen Gedanken: Fast alle Schriftsteller über die hebräische Musik, deren nicht wenige sind, halten sich in ihren Endurtheilen darüber, so sehr an das bloße Wort der Nachrichten, und nehmen so wenig Rücksicht auf die wahre Natur der Sache, daß man sich in der That darüber wundern muß. Weil man nun von keiner Musik irgend eines Volks so glänzende Nachrichten hat, als von der Musik der Hebräer, so halten sie sie auch fast einmüthig für die schönste, vollkom menste und ausdruckvollste, die man nur je gehabt, oder noch haben mag.20

Wo ein gründlich wissenschaftlich arbeitender Forscher womöglich bislang fremdgeleistete Ergebnisse aus jenem Grund ignoriert, um eine tabula rasa für die eigenen Erkenntnisse zu schaffen, geht es Forkel jedoch gerade nicht um diese Offenheit, die am Ende sogar das Vorurteil als Faktizität hätte bestätigen können, im Gegenteil – das Ergebnis steht wohl bereits im Vorfeld der vermeintlich geleisteten Forschung fest. Denn indem Forkel jenes Argument bemüht, dass tatsächlich keine genaue Aussage zur Beschaffenheit der hebräischen Musik geleistet werden kann, ist seine Aufhebung des positiven Vorurteils zugunsten des Konstruierens einer negativen Einschätzung, die seinen Ausführungen bald folgt, mindestens ebenso unzulässig, wenn nicht noch mehr: Die zwar spärliche, dennoch existente Quellenlage schildert die hebräische Musikkultur immerhin als positiv zu bewerten und nicht umgekehrt. Hier jedoch verweist Forkels Auswahl hinsichtlich derjenigen kompilierten Quellen, die er für brauchbar hält, unter dem Mantel der eigenen Objektivität klar auf die Erwartungshaltung des Autors, so dass von einer tatsächlich ergebnisoffenen Bestandsanalyse nicht die Rede sein kann. Nach seinen einleitenden Worten widmet sich Forkel zunächst der hebräischen Instrumentalmusik und verknüpft ihre Betrachtung mit dem Vorwurf der Epigonalität, wie er bereits bei Kant begegnet ist: Sollten die Hebräer das einzige Volk jener Zeit und Gegend gewesen seyn, deren Instrumen te anders beschaffen waren? Dies widerspricht […] aller Wahrscheinlichkeit. Hierzu kommt noch, daß die Hebräer bekanntlich kein erfinderisches Volk waren, sondern sich in ihren meisten Gewohnheiten vorzüglich nach den Egyptiern und Chaldäern richteten .21 20 21

Ibid., S. 146. Ibid., S. 147.

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Streng genommen handelt es sich auch hierbei weniger um Kritik als um Kalkül, um den folgenden Einschätzungen den Weg zu ebnen. Indem sich Forkel bei sei nen Mutmaßungen auf keine zuverlässige Quelle beziehen kann, räumt er immerhin ein, dass die hebräische Instrumentalkultur lediglich „ wahrscheinlich“ kein Kriterium vorzuweisen vermochte, das es in einen Status des Besonderen hätte erheben können. Gesagt ist damit grundsätzlich nichts. Der unbewiesene Vorwurf mangelnder Authentizität greift dabei zunächst lediglich in die Handwerkskunst, insofern der Instrumentenbau als geliehen gemutmaßt wird. Die Brücke zwischen handwerklicher und kultureller Inauthentizität schafft Forkel durch die Behauptung, dass die Juden „kein erfinderisches Volk waren“, was in erster Linie auf einen intellektuellen Mangelzustand der Juden verweist. Die Kritik richtet sich also nicht direkt gegen die Art und Weise des Instrumentenbaus, sondern gegen die unterstellte geistige Haltung der Juden als Grundlage. Forkel suggeriert damit eine für ihn unbedingte Konsequenz: Wessen Geist nicht innovativ genug arbeitet, um ‚authentische Instrumente‛ zu bauen, der taugt erst recht nicht für die Erbringung wahrhaft kultureller Leistung. Indem Forkel dementsprechend als nächstes nachzuweisen versucht, dass die hebräische Musik- und Instrumentalkultur vor allem aus seiner zeitgenössischen Perspektive als rückständig und unkultiviert zu bewerten sei, widerspricht er allerdings, freilich ohne Absicht, seiner Ausgangsthese: Die meisten Instrumente der Hebräer findet man nicht nur jetzt im Oriente, sondern auch unter dem Landvolke in den meisten Gegenden von Europa. […] Durch mehrere Jahrhunderte des Mittelalters hindurch waren diese und ähnliche Instrumente auch noch unter der damaligen Art kultivirten Klasse der Europäer gebräuchlich […]. Ist es denn so sehr zu verwundern, daß […] ihre Kunstwerkzeuge auf uns gekommen, und so lange von uns beybehalten worden sind, als sie dem Grad und der eigenen Art unserer Kulturen angemessen waren? - Oder ist es zu verwundern, daß sie noch von derjenigen Menschenklasse beybehalten werden, deren Kultur der Kultur der erwähnten Völker vielleicht noch jetzt ähnlich ist?22

Bei genauerer Betrachtung dieser Sätze drängt sich dem Leser der Eindruck einer gewissen Absurdität auf. Forkel vermengt nicht nur die Epochen zu undifferenziert in einem Kapitel, in welchem er sich der antiken hebräischen Instrumentalmusik widmet und gewissermaßen den vorchristlichen Juden den Umstand anlastete, dass die modernen Juden noch immer das traditionelle Instrumentarium nutzen – was im Übrigen die Geisteshaltung seiner Zeit, nach welcher Authentizität und konsistente Traditionalität kaum zu vereinbaren sind, veranschaulicht. Er bewilligt seinem eigenen Kulturkreis außerdem umstandslos das, was er noch kurz zuvor den Hebräern vorgeworfen hat: die Adaption kulturfremder Instrumente. Während sich im Vorfeld das nicht erfinderische Volk bei anderen Kulturen geradezu unverfroren bedient, war es später im Mittelalter die „ kultivirte Klasse der Europäer“, welche nach Forkels Einschätzung ganz ohne moralische Einbußen 22

Ibid. S. 149.

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die hebräischen „Kunstwerkzeuge“ übernommen und genutzt hat. Dieser offensichtliche argumentative Widerspruch ist nicht der einzige Aspekt, der Forkels Musikgeschichtsbetrachtung der hebräischen Kultur anfechtbar erscheinen lässt. Der Vergleich zwischen Forkels zeitgenössischer und der davidischen Musikkultur, den der Autor zu Ungunsten der Juden im letzten Teil des Zitats anstrebt, entpuppt sich ohne großen Interpretationsaufwand als Selbstdemontage der eigenen Behauptung. Indem Forkel nämlich betont, dass die hebräische Instrumentalkultur allenfalls mit dem Grad der mittelalterlichen europäischen Kultur korrespondiert und keinesfalls dem gegenwärtigen, fortgeschrittenen Zustand der mitteleuropäischen Musikkultur zu vergleichen ist, spricht der Autor den vorchristlichen Juden ihre Kunstfertigkeit entgegen seiner Intention mitnichten ab. Denn subtextuell gesteht er mit seinem Vergleich der antik-jüdischen Musikkultur zu, eine Kunstfertigkeit erreicht zu haben, welche das mittelalterliche Europa erst mehr als 2000 Jahre später erlangt hat.23 In der fortschreitenden Betrachtung der hebräischen Musikkultur durch den Autor werden, nachdem eingangs der Anschein wissenschaftlicher Fundiertheit erweckt wird, zunehmend merkwürdigere ‚Beweise‛ für die Nichttauglichkeit jener Kultur angeführt. Forkel folgt dabei einer Strategie, nach der er den Juden ein Zugeständnis für das literarische Schaffen macht, um an anderer Stelle – beim musikalischen Schaffen – umso vehementer auf Inkompetenz zu pochen. Die Schönheit der hebräischen Poesie in Gedanken und Bildern hat viele Schriftsteller verleitet, zu behaupten, daß die Musik dieses Volks einen ähnlichen Grad von Vortrefflichkeit gehabt haben müsse.24

Zwar verfügt Forkel über beachtliche Bildung und Wissen, vor allen Dingen in musikalischen Belangen, aber dass er sich tiefer greifend mit der hebräischen Literatur auseinandergesetzt hat, ist ebenso so fraglich wie der Umstand, dass er der hebräischen Sprache umfassend mächtig gewesen sei. Vielmehr ist zu vermuten, dass er der antiken Dichtkunst keine solche Bedeutung beigemessen hat wie jenen Belangen, welche sich mit seiner musikalischen Profession verbinden. Hätte man es hier mit einem tendenziell antijüdisch/antisemitisch gesinnten Schriftsteller zu 23

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An anderer Stelle vergleicht Forkel wörtlich die hebräische Musikkultur mit der sich viel später ereigneten europäischen Choraltradition: „Nach meiner Meynung hat die Musik der Hebräer nicht einmal denjenigen Grad von musikalischer Schönheit gehabt, welchen unser Choralgesang hat […].“ Zwar gesteht Forkel der hebräischen Leistung keine vollkommene Gleichheit zu den Chorälen im Grad der Kunstfertigkeit zu, jedoch ist der Ausspruch erstens in hohem Maße doxographisch und zweitens bezeichnet allein diese Maßstabsetzung die hebräische Musik als vorzeitig und zukunftsweisend. Allein die genutzte Formulierung von „nicht einmal denjenige[m] Grad musikalischer Schönheit“ irritiert den Leser – es stellt sich die Frage, ob dahinter absichtlich eine allgemeine Abwertung des Choralgesangs ver steckt wurde. Ibid. S. 161. Ibid., S. 151.

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tun, der sich nur marginal mit Musik beschäftigt, wäre seine Schlussfolgerung vermutlich umgekehrt ausgefallen: Die davidische Musik mag zwar sicher schön und authentisch gewesen sein, die hebräische Poesie jedoch weist keinen besonderen Wert vor. Immerhin legen einige zeitgenössische Einschätzungen anderer Autoren zur hebräischen Literatur diesen Verdacht nahe. 25 Das Zugeständnis der Überlegenheit der hebräischen Poesie, insbesondere der Psalmen, bildet jedoch die Grundlage für Forkels eigenwillige Beweisführung. So fährt er nämlich fort: Und überhaupt, wie kann ein und eben derselbe Boden zweyerley Früchte zugleich tragen? […] Sowohl hieraus, als aus den angeführten Beyspielen von der Trennung des poetischen und musikalischen Talents bey alten und neuern Dichtern, schließe ich nun, daß David, gerade deswegen weil er ein so vortrefflicher Dichter, fast nothwendig ein schlechter Musikus gewesen sein muß. Der nämliche Fall mag es auch mit Salomon gewesen seyn […]. 26

Mit anderen Worten: Wer A beherrscht, kann unmöglich gleichzeitig B beherrschen. Diese Haltung korrespondiert durchaus generell mit Forkels ästhetischem Anspruch, wonach Musik und Sprache zwar gemeinsamen Ursprungs, in dem was sie jeweils ausdrücken jedoch strikt zu trennen seien. 27 Und dass es von je her ein Spezialisierungsbestreben unter den Menschen gegeben hat, das sich unter anderem in der Wahl der Profession niederschlägt, versteht sich wohl fraglos auch für Forkel. Es wird aus Forkels Argumentation jedoch nicht ersichtlich, weshalb ein Mensch mit offensichtlich künstlerischer Begabung sein Talent nur auf einem Gebiet einsetzen können sollte. Zwar benennt Forkel in seinem Argumentationsverlauf einige Schriftsteller, die sich durchaus dazu bekennen, der Musik kaum etwas abgewinnen zu können – daraus allerdings ein gültiges Inspirationsgesetz ableiten zu wollen, hat mit Wissenschaftlichkeit nicht viel zu tun. 28 Weder das Schreiben 25

26 27

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„Allerdings hat die hebräische Poesie manches Eigenthümliche, das sie von den Dichtungs arten andrer Völker, besonders abendländischer Nationen merklich unterscheidet.“ Gottlob Wilhelm Meyer: Versuch einer Hermeneutik des Alten Testaments , Lübeck 1800, S. 177. Weiterhin zitiert Johann August Ernesti den englischen und umstrittenen Bischof Robert Lowth aus dessen Werk De sacra poesi Hebraeorum (1775), um sich anschließend mit dieser Aussage kritisch auseinanderzusetzen, mit folgenden Worten: „Es war auch die hebräische Poesie in Vergleichung mit der ausgearbeiteten Poesie der Griechen und Lateiner nicht voll kommen, und man könne sie den Hebräern also auch absprechen.“, Oxford 1775, S. 84. Johann Nikolaus Forkel: Allgemeine Geschichte der Musik, Bd. 1, S. 152. Vgl. u.a. Julia Cloot: Geheime Texte, Berlin 2001, S. 87; oder Jacob De Ruiter: Der Charakterbegriff in der Musik, Stuttgart 1989, S. 42 („Studien der deutschen Ästhetik der Instrumentalmusik. Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft“, Bd. 29); bzw. als Primärquelle als stets wiederkehrendes Motiv u.a. in Forkels Allgemeiner Geschichte. Zumal sich damit ein völlig anderer Sachverhalt darstellt: Keiner der von ihm benannten und vermeintlich besonders unmusikalischen Schriftsteller (Dudley Pope, Jonathan Swift, Joseph Addison) wäre wohl je auf die Idee gekommen, sein kompositorisches Talent unter Beweis zu stellen (Forkel: Allgemeine Geschichte der Musik, S. 151.). Aus Forkels Quellverweis wird deutlich, warum überproportional englische Autoren und nicht etwa Landsmänner des anglophilen Autors als etwas unrühmliche Beispiele gewählt wurden: Forkels Lektü re zweier Beschreibungen von Händels Leben (durch Johann Mattheson und Charles Bur-

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noch das Komponieren sind Künste, die sich nachweislich ausschließen würden. Das Phänomen hingegen, nach welchem Menschen musischer Begabung zu einer gewissen Breite in ihrem Ästhetisierungsbedürfnis neigen, sollte Forkel vertraut gewesen sein (auch wenn es für eine Bekanntschaft zwischen ihm und dem hierfür besonders einschlägigen E.T.A. Hoffmann als Dichter und Komponisten zum Zeitpunkt der Publikation zu früh war). 29 Eine der Beweisführung dienende Einzelaufzählung der Bekanntschaften jener Personen, die im Falle Forkels hätten vorliegen und welche seine Aussage hätten widerlegen können, muss in diesem Fall jedoch gar nicht geleistet werden, obwohl es im Stile des Autors gewesen wäre. Indem sich Forkel nämlich auf eine Zeit bezieht, in welcher sich, wie sich unter anderem am griechischen Rhapsodentum feststellen lässt, 30 Dichtung und Musik ganz selbstverständlich die Hand reichten, kann von der „ Trennung des poetischen und musikalischen Talents bey alten Dichtern“ kaum mehr die Rede sein. Der frühe Aufklärer und Literaturtheoretiker Johann Christoph Gottsched wusste schon einige Jahre vor Forkels Spekulation zu dieser Fragestellung Folgendes beizutragen: Kurz, so sind die Poesien der allerältesten Völker in der ganzen Welt beschaffen gewesen. Ein Poet aber und ein Musikus, das war damals einerley: weil viele Sänger sich ihre Lieder selbst macheten, und die Dichter die ihrigen selbst sungen. Daher kam denn nachmals die Gewohnheit, daß die Poeten ihre Leyern, Cithern, Seyten, Flöthen und Schalmeyen immer anredeten, wenn sie gleich nicht selber spielen konnten. Weil nämlich die Alten beydes zu gleich gekonnt hatten.31

Argumentiert man nun im Sinne Forkels, ließe sich, nachdem immerhin die technische Kunstfertigkeit beider Disziplinen – Poesie und Musik – als vereinbar dargestellt wurde, daraufhin dagegen halten, dass im Fall einer Vereinigung wenigstens eine dieser Disziplinen zugunsten der anderen nicht authentisch praktiziert werden könne. Jenes Argument wäre jedoch mehr als hypothetisch, zumal Forkel darauf verzichtet, Kriterien für die „ Schlechtigkeit“ Davids bzw. Salomos Musik zu benennen. Aus diesem Grund lässt sich an diesem Punkt seine Aussage kaum wei-

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ney) ließ ihn auf die Namen mitsamt zugehörigen Anekdoten stoßen. Inhaltlich ist Forkels Schlussfolgerung dennoch nicht stringent, denn indem gar kein Interesse an einer Materie vorhanden ist, lässt sich nicht schlechterdings behaupten, dass Interessierte gleichfalls talentlos seien. Inwiefern die genannten Autoren der Musik wirklich fremd waren, ist überdies ein eigener Punkt, der vermutlich kritische Betrachtung verdient. Wo Forkel das Argument qualitativer Ausschließlichkeit für eine antijüdische Argumentationstaktik nutzt, wäre es sicherlich interessant gewesen, Wagner um seine Meinung zu dieser Behauptung zu befragen – immerhin zählt er zu den wenigen Opernkomponisten, die es sich leisten konnten, auf einen Librettisten zu verzichten. Bekannt ist hier beispielsweise der Vorsokratiker Xenophanes, der sich nicht nur um seine philosophischen Ansichten, sondern auch um Elegien, Epen und sein musikalisches Talent als fahrender Sänger verdient gemacht hat. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst durchgehends mit den Exempeln unserer besten Dichter erläutert, Leipzig 1751, S. 72.

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ter erörtern – festzuhalten bleibt sicher, dass Forkels ‚Beweisführung‛ weder aus wissenschaftlicher noch aus kulturhistorischer Perspektive Gültigkeit beanspruchen kann. Sie korrespondiert lediglich mit dem ‚Forschungsergebnis‛, das für Forkel bereits zu Beginn seiner Auseinandersetzung mit der hebräischen Musik feststeht.32 Schließlich verbindet Forkel seine Kritik an der hebräischen Musik mit einer Abwertung der Musikkultur der modernen Juden, und wo er eingangs seiner Betrachtung den Quellenmangel zur alten hebräischen Musik noch als vermeintlichen Aufruf zur Neutralität gestaltet, übt er sich an diesem Punkt längst nicht mehr in selbst auferlegter Zurückhaltung: Was uns die neuern Juden von der Vortrefflichkeit und Schönheit der alten Davidischen Musik sagen, ist alles unzuverläßig und unsicher. Aus ihren meisten Beschreibungen, die sie davon gemacht haben, sieht man allzudeutlich, daß sie in einer solchen Sache nicht Richter seyn können. Sie sind so unwissend in musikalischen Dingen, und so eingenommen von allem, was ihren Gottesdienst betrift, daß ihre Erzählungen davon nothwenig mit Uebertreibungen und Vorurteilen angefüllt seyn müssen. Die meisten halten die alte Davidische Mu sik für so schön, daß sie sie mit der, welche in den jetzigen Synagogen gebräuchlich ist, nicht einmal vergleichen mögen. Die wahre, schöne, Davidische Musik, sagen sie, sey verloren gegangen.33

Der Vorwurf mangelnder Authentizität wird hier gleich auf zwei Arten zum Ausdruck gebracht: Einerseits wird angezweifelt, dass je „ Vortrefflichkeit und Schönheit“ in der hebräischen Musikkultur geherrscht haben, dennoch auf der anderen Seite gleichzeitig betont, dass die modernen Juden sowohl keine Kenntnis mehr über die „wahre, schöne Musik“ vorweisen als auch grundsätzlich „unwissend in musikalischen Dingen“ seien. Durch Forkels explizite Bezugnahme auf das moderne Judentum gibt sich schließlich jene Quelle zu erkennen, aus welcher sich Forkels bislang wenig galante Einschätzung der hebräischen Musik speist – aus der reinen Ablehnung der modernen Juden. Ein anderer Versuch Forkels, die Mangelhaftigkeit der hebräischen Musik nachzuweisen, erklärt sich durch den nun offensichtlichen antijüdischen Unterbau Forkels gedanklicher Struktur: In den Synagogen selbst ist die heutige jüdische Musik nichts, als entweder ein musikali sches Beten, welches in einerley Ton gleichsam gebrummt oder gemurmelt wird, oder (wenn der Chor einfällt) ein fürchterliches Geschrey. Wenn diese Art des Gesangs ein Ueberbleibsel aus den alten Davidischen Zeiten ist, und sich bis auf uns, aller Wahrscheinlichkeit 32

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Zu ähnlicher Einschätzung gelangte bereits Wilhelm Heinse (1746 – 1803) und kommentierte Forkels Herangehensweise an die Bewertung der Musik antiker und fremder Nationen bündig und treffend als „teleologisches Denken“. Wilhelm Heinse: Die Aufzeichnungen 1784 – 1803/Kommentarband zu Band II (Hrsg. Markus Bernauer u.a.), Wien 2005, S. 636. Forkel: Allgemeine Geschichte der Musik, Bd. 1, S. 161.

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nach, von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt hat, so muß es um die Musik der alten Hebräer eine erbärmliche Sache gewesen seyn.34

Die Jahrtausende währende Geschichte der Juden, ihren kulturellen Rückschlag durch die Zerstörung des Tempels, ihre Diaspora und nicht zuletzt ihre mehr als problematisch zu bewertende Stellung als soziokulturelle Gruppe im deutschsprachigen Raum zu ignorieren, um somit behaupten zu können, dass sich die hebräische Kultur ungebrochen und mühelos hätte tradieren können, kann nur die Basis für Forkels sehr leichtfertig formuliertes Urteil gebildet haben. Spätestens an diesem Punkt hat Forkel vermutlich alle Zurückhaltung gegenüber dem Judentum verloren und trägt in einem Guss all jene vermeintlichen Belege vor, welche eine Wertschätzung der hebräischen Kultur im Allgemeinen als auch speziell im musikhistorischen Kontext unmöglich machen sollen: Kurz, selbst mit dem unmittelbaren Unterrichte des Himmels blieb die Kultur dieses Volks in jeder Rücksicht doch so weit zurück, daß es kaum unter die Zahl der kultivirten Nationen gerechnet zu werden verdiente. Die Geschichte der Kultur aller Völker bezeugt es, daß auch die Musik nur in gesellschaftlicher Vereinigung mit andern Künsten, Wissenschaften und Sitten, nach und nach vollkommener wurde; soll die Musik der Hebräer allein, wider alle Erfahrung, wider alle Vernunft, ohne alle Hülfsmittel, ohne Wissenschaften, ohne Sitten, ohne feine Gefühle des Herzens, ohne gute Instrumente, ohne eine singbare Sprache, ohne eine musikalische Schreibkunst, ohne Theater, und selbst ohne die Vergünstigung, das geringste in den einmal eingeführten und bekannten Melodien zu ändern, dennoch vollkommen gewesen seyn?35

Ehe der Absatz in seiner ganzen antisemitischen Färbung beim Leser aufgenommen werden kann, lässt bereits ein Aussagedetail stutzen: In einem der vorher an geführten Zitate versichert Forkel noch, dass weder David noch Salomo wegen ihres bestehenden dichterischen Talentes gute Musiker gewesen sein können mit der Begründung, dass „ein und eben derselbe Boden nicht zweyerley Früchte zugleich tragen“ könne. Bedenkt man, dass der Autor genau jene Behauptung im Hinblick auf das jüdische Volk mit folgendem Zusatz versehen hat: „ Was beym einzelnen Menschen im Kleinen gilt, kann auch bei ganzen Nationen im Großen gelten […]“36, um etwas später dagegen festzustellen, dass „[d]ie Geschichte […] bezeugt […], daß auch die Musik nur in gesellschaftlicher Vereinigung mit andern Künsten […] nach und nach vollkommener wurde“,

bleibt natürlich die Frage offen, wie es nach Forkels Auffassung um die einseitige Leistungsfähigkeit eines ‚kulturellen Bodens‛ tatsächlich bestellt ist. Aber dieser etwas unklare Aspekt am Rande ist es nicht, der angesichts Forkels Gesamteinschätzung des jüdischen Volkes frappiert. Denn es kommt fraglos keiner Untertreibung gleich, diesen Absatz in Forkels Schrift als hinlänglich ausfallend zu benennen. Komprimiert werden hier nicht nur die Vorwürfe, die Wagner einige Jahr34 35 36

Ibid., S. 162. Ibid., S. 172. Ibid, S. 152.

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zehnte später in aller Breite ausgewälzt zum Ausdruck bringt, sondern es wird auch das gesamte jüdische Volk mitsamt seiner Geschichte diskreditiert. Gerade vor dem Hintergrund des Anspruchs auf Wissenschaftlichkeit, die keinen Populismus nähren, sondern grundlegend die musikhistorische Forschung stützen soll, lässt sich Forkels Schrift eine ganz andere Wirkungsmacht zuschreiben als Wagners Aufsatz, insofern sie sich seit ihrem Erscheinen als Standardwerk versteht und mit ihr bis heute und in Teilen unkritisch gearbeitet wird. 37 Aus heutiger Perspektive und mit entsprechender Distanz ist die Möglichkeit zur kritischen Betrachtung von Forkels Werk kein außergewöhnlicher Beitrag und bereits vielfach geleistet worden, natürlich in erster Linie in Bezug auf Forkels polemische Auseinandersetzung mit Christoph Willibald Gluck. 38 Im 19. Jahrhundert aber spielt vor allem die Allgemeine Geschichte der Musik eine maßgebliche Rolle im nationalen und internationalen Musikschrifttum und fungiert als Fundament zahlreicher musik- und religionswissenschaftlicher Abhandlungen, wodurch Forkels Einschätzung der hebräischen Musikkultur späteren Betrachtungen über diesen Gegenstand den Boden bereitet hat.39 37

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In der sachlich geführten Diskussion um die sakralen hebräischen Musikinstrumente wird z.B. ganz allgemein auf Forkels Schrift verwiesen (Gianfranco Miletto: Glauben und Wissen im Zeitalter der Reformation. Der salomonische Tempel bei Abraham ben David Portaleone (1542 – 1612), Berlin 2004, S. 24). Ein anderes Beispiel stellt die Einschätzung von Forkels Beschreibung des antiken Musikschaffens durch E. Fubini dar: „What is striking in the first published volumes is the work‛s extraordinary scope, which include all music history from its mythical beginnings. […] With Forkel, histography left its infancy behind and opened itself to new and more complex points of view.“ Enrico Fubini: Music and Culture in Eighteenth-Century Europe (übers. Bonnie J. Blackburn), Chicago 1994, S. 70. Ähnliche Beispiele aus heutiger Zeit lassen sich in großer Anzahl finden und unterstreichen nicht etwa mangelnde kritische Reflexion durch die Autoren, sondern verweisen auf die bestehende Schwierigkeit, Forkels Polemik losgelöst von seiner beachtlichen sachlichen Leistung als Musikhistoriker zu bewerten. „Hier wird bereits früh deutlich, daß man Forkel seine oft beißende und pedantische Kritik übelgenommen […] hat, besonders die fortwährenden Schmähungen Glucks und Voglers in Forkels gedruckten Schriften haben ihrem Urheber begreiflicherweise erheblich geschadet. Für besonders klug kann man sie auch heute nicht halten […].“ Martin Staehlin: „Musikalische Wissenschaft und musikalische Praxis bei Johann Nikolaus Forkel“, in: Musikwissenschaft und Musikpflege an der Georg-August-Universität in Göttingen , Göttingen 1987, S. 24. Ähnlich kritische Gedanken von Wilhelm Langhans bereits 1884: „ Noch 1778 […] hatte einer der bedeutendsten dortigen Autoritäten, der Göttinger Musikgelehrte Forkel, in seiner „musikalisch kritischen Bibliothek“ die Werke Gluck‛s einer schonungslosen Kritik unterworfen, und auf 157 Seiten den Unwerth derselben […] zu beweisen versucht.“ Wilhelm Langhans: Die Geschichte der Musik des 17., 18., und 19. Jahrhunderts , Leipzig 1882-1887, S. 74. So vertrieb z.B. 1837 der Charles Knight Verlag (London) die Bibel mit historischen Anmerkungen, unter welchen u.a. zu lesen war: „Forkel considers it more than probable that the Hebrews had not a particular tune for each poem. We find this want of sufficient melodies in all ancient nations, among whom music had attained only a moderate degree of cultivation.“ Auch Forkels These, nach welcher sich die Qualität der antik-hebräischen Musikkul-

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Bis heute wird das Musikschrifttum Forkels vor dem Hintergrund einer möglichen Grundlagenschaffung für die nationalistischen musikästhetischen Betrachtungen des 19. Jahrhunderts äußerst kontrovers diskutiert, und selbstverständlich ist festzuhalten, dass Forkels Vorlage keine Kausalitätszwangsläufigkeit impliziert.40 Trotzdem wäre es auf der einen Seite zu leichtfertig, dem Autor seine nachweislich patriotische Gesinnung abzusprechen41 und ihn damit aus historischen Betrachtungen, die einer bestimmten Bewegung über einen längeren Zeitraum folgen, zu entlassen. Auf der anderen Seite würde eine Apologie zugunsten Forkels genau das Gegenteil ihrer Absicht bewirken: Forkel würde in ein modernes natio-

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tur vom modernen Judentum ganz ohne Einschränkung ableiten lassen müsse, wird als zutreffend behandelt und zitiert: „ In General, says Forkel, popular manners and customs are so durable and unchangeable a nature, are propagated from nation to nation, on similar occasions and in similar manner, that I am very much inclined to believe that not only the Hebrew custom of the superscriptions to the hymns and songs, but also many other peculiarities belonging to them, existed through the greater part of the middle ages, and even subsist in modern times.“ In: The Holy Bible: according to the authorized version, containing the old and new testaments: with original notes, and pictorial illustrations , Bd. 2, London 1836, S. 545. Auch aus England und dem 19. Jahrhundert stammt eine weitere Einschätzung der hebräischen Instrumentalkultur, die sich auf Forkels Schrift stützt: „The instruments of the Hebrews, for instance, were for the most part, as Forkel well observes, of rat tling, clashing, noisy kind, and therefore evince that their music was in a very imperfect state.“ Was die Meinung des Autors zur Kulturleistung des modernen Judentums angeht, offenbart er sie dem Leser leicht, wenn er fortfährt: „Whoever has visited a Jewish syn agogue will understand me […].“ In: Edward Robinson: The Biblical repository, Bd. 3, Andover 1833, S. 513. Ebendieses Zitat Forkels in wörtlicher Übersetzung wird 1853 auch von R.B. Blackader aufgenommen, um damit eine weitere Bibeledierung zu illustrieren (Robert Blanks Blackader: The English Bible, authorized version: newly divided into paragraphs , London 1853, S. 35). Vermutlich lässt sich der deutsche Ursprung jenes Zitats, das auf den unvollkommenen Zustand der hebräischen Musik verweist, auf die Arbeit von W. de Wette zurückführen. In seinem Commentar über die Psalmen heißt es: „Die Instrumente der Hebräer waren nämlich, wie Forkel gut bemerkt, meist klappernder, schmetternder, rauschender Art und lassen daher auf einen sehr unvollkommenen Zustand der Musik schließen.“ In: Wilhelm Martin L. de Wette: Commentar über die Psalmen in Beziehung auf seine Uebersetzung derselben, Heidelberg 1829 (3. Auflage), S. 74. Matthias Pape ‚verteidigt‛ Forkel beispielsweise resolut, wenn er sagt: „Es werden unhaltbare Kontinuitätslinien konstruiert, wenn über die deutsche Musikgeschichtsschreibung vom Patriotismus des ausgehenden 18. Jahrhunderts (Johann Nikolaus Forkel), der vor dem von der Französischen Revolution ausgehenden Nationalismus liegt, einen Bogen zum völkischen Nationalismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts geschlagen wird […].“ Matthias Pape: „Versailles – Weimar – Potsdam. Die nationalpolitischen Voraussetzungen der Musikforschung im Dritten Reich“, in: Musikforschung Faschismus Nationalsozialismus, Referate der Tagung auf Schloss Engers (Hrsg. Isolde v. Foerster u.a., Gesellschaft für Musikforschung), Mainz 2001, S. 17. Deutet man die durch Pape kritisierte „Kontinuitätslinie“ als Zwangsläufigkeitsträger, ist Papes Ablehnung ohne Zweifel berechtigt. Dass sich jedoch trotz vieler Verästelungen eine Kontinuität zwischen subjektivem Patriotismus, dem Sehnen nach nationaler Identität und dem schließlich dem deutschen Staat zugehörigen Nationalismus nachzeichnen lässt, ist offenkundig. Einzelne Punkte aus diesem Strang herauszugrei fen, mag ohne eine Plausibilitätsdarlegung willkürlich anmuten, ist aber selbst dann legi-

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nalistisches Licht gerückt, in das er – nicht nur wegen des Anachronismus – nicht gehört. Seine ästhetischen Überlegungen, die eng an den Nationalbegriff geknüpft sind, lassen sich nicht ohne seine selbst gelieferten Hinweise auf Natur und Kultur auswerten noch lässt sich, wie bereits nachgewiesen wurde, der Einfluss von Forkels Werk auf die historische Musikwissenschaft bzw. auf musikästhetische Kontroversen des 19. Jahrhunderts von der Hand weisen. Deswegen wird an dieser Stelle allen möglichen kritischen Stimmen zum Trotz Forkels Haltung gegenüber Fragen der Nationalität und der Bewertung von Kulturschaffen als exemplarisch für die allgemeine deutsche Geistesströmung der Bürgerschicht des ausgehenden 18. Jahrhunderts aufgegriffen und mitsamt ihren generalisierten Verflechtungen von Authentizität, Identität und Nationalität dargestellt. Durch seinen wahrgenommenen Aufklärungsauftrag, aber auch durch seinen stets durchschimmernden romantischen Patriotismus lässt sich Forkels Geisteshaltung als Brücke von der Aufklärung zur Romantik beurteilen. 42 Es wäre falsch anzunehmen, dass seine offensichtliche Aversion gegen die hebräische Kultur im bloßen Antisemitismus wurzelt. Denn wo sich die Abneigung lediglich auf die jüdische Tradition beschränkt, begegnet an erster Stelle ein Antijudaismus, der sich vom aus ihm gewachsenen Antisemitismus insofern unterscheidet, als das Moment der persönlichen Nationalität üblicherweise keine übergeordnete Position besetzt. Im Fall von Forkel hingegen lässt sich eine deutliche Präferenz der deutschen Kultur beobachten, die sich vor allem im Vergleich mit jenen Kulturen niederschlägt, welche als nicht ‚europäisiert‛ gelten, was wiederum als exemplarischer kulturästhetischer Anspruch für Forkels Zeitgenossenschaft betrachtet werden muss. Forkels Abwertung der chinesischen Tradition unterstreicht diese Einstellung:

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tim. Im Fall Forkels liegt die Plausibilität jedoch auf der Hand, und der durch Pape explizit kritisierte Anselm Gerhard (a.a.O.) hält mit einer gewissen Entschiedenheit, die sich durch die dargelegte Plausibilität begründet, an seiner Wahrnehmung von Forkel als nationalori entiertem Autor unter Bezugnahme auf Papes Kritik fest: „Zwar habe ich mich kürzlich belehren lassen müssen, Forkels Patriotismus habe rein gar nichts mit dem „völkischen Nationalismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts“ zu tun. Dennoch scheint es mir zumindest irritierend zu sein, wie leichtfertig Forkel im Dienst für diese „Nation-Angelegenheit“ mit völlig haltlosen Übertreibungen arbeitet, die implizit jede andere Nationalkultur abwerten. Anselm Gerhard: „Die Vorherrschaft der deutschen Musik nach 1945 – eine Ironie der Geschichte“, in: Deutsche Leitkultur Musik? Zur Musikgeschichte nach dem Holocaust (Hrsg. Albrecht Riethmüller u.a.), Stuttgart 2006, S. 15. Forkels ausgesprochene Euphorie für das Wirken Bachs in Verbindung mit der Herkunft dieses ‚Originalgenies‛ ließ beispielsweise Friedrich Blume in Bezug auf Forkels Bachmonographie zu dieser lapidaren Feststellung hinreißen: „Bach tritt in die Beleuchtung des nationalen Tonheroen.“ Vgl. Friedrich Blume: Syntagma musicologicum, Bd. 2, Kassel 1973, S. 428. Eine weniger kritische, dafür gründliche Analyse der Forkel‛schen Methode zur aufklärerischen Aufbereitung seines Textes hat Oliver Wiener 2009 in seiner Dissertation Apolls musikalische Reisen: Zum Verhältnis von System, Text und Narration in Johann Nicolaus Forkels Allgemeiner Geschichte der Musik (1788-1801) vorgestellt (Mainz 2009).

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So sprechen die neuern Chinesen, freylich unrichtig, aber doch mit viel Ueberzeugung, daß es nicht möglich ist, ihnen ihren Irrthum begreiflich zu machen. Sie sind Opfer von Vorurtheilen einer Erziehung, die sie lehrt, daß alles was wirklich gut sey, sich bey ihnen finde, und daß die von ihren Vorältern erfundene Musik die vollkommenste in der Welt sey. Sie erkennen ferner nur ihre groben und stumpfen Organe für Richter ihrer Gefühle, und werden uns beständig auslachen, wenn wir sie überreden wollen, daß ihre Musik, um gut zu seyn, nach denen Regeln eingerichtet seyn müsse, die wir in Europa beobachten. 43

Die ästhetische Einschätzung ist eindeutig: Damit sich die musikalische Kultur eines Volkes das Prädikat ‚gut‛ verdient, muss sie der europäischen Musikkultur gleichen. Im Übrigen bedient sich Forkel bei der Einschätzung der chinesischen Musikkultur fast wörtlich des gleichen Argumentes, welches er im analogen Sinne für das jüdische Musikschaffen verwendet hat: Zwar behaupten die neuern Chinesen, ihre alte weit vortrefflichere Musik sey verloren ge gangen. Da sie aber zugleich von hundert andern Dingen versichern, daß sie noch jetzt völ lig so beschaffen sind, wie sie vor mehrern Jahrtausenden waren, […] so hat man den vorgeblichen Verlust ihrer alten Musik vielleicht nur für einen leeren Vorwand zu halten, womit sie die von einigen Europäern für sehr mangelhaft erklärte Beschaffenheit ihrer neuern Mu sik nur einigermaaßen beschönigen wollen.44

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Forkel: „Von der Musik der Chineser“, in: Musikalischer Almanach, Leipzig 1784, S. 263. Kritisch betrachtet u.a. Peter Revers Forkels Resümee und hält fest: „Die „Landesmusik der Chinesen“ - so schreibt Forkel - „ist noch jetzt, wie sie vor vielen Jahrhunderten war; noch eben so steif, so unmelodisch und sonderbar, als man sich dieselbe nur denken kann, und als sie in ihrer ersten Kindheit nur immer gewesen seyn mag“. Konstatiert Forkel eine – trotz des hohen Niveaus musiktheoretischer Reflexion – stagnierende musikalische Praxis Chinas, die eine „Vervollkommnung dieser Kunst“ verhindert habe und daher im Kindheitsstadium ihrer ästhetischen Entwicklung verblieben sei, so wird damit vordergründig ihr Stellenwert in der Geschichte der Musik definiert.“ In: Peter Revers: Das Fremde und das Vertraute: Studien zur musiktheoretischen und musikdramatischen Ostasienrezeption , Stuttgart 1997, S. 44; Forkel zitiert aus: Forkel: Ibid., S. 233f. Im Ausland hingegen werden For kels musikalische Betrachtungen z.T. noch relativ unkritisch übernommen, was einmal mehr auf den nicht zu unterschätzenden Einfluss des Musikhistorikers auf die bis in die heutige Zeit hineinreichende Musikgeschichtsschreibung verweist. Im Falle der Diskreditierung der chinesischen Musik ist beispielsweise bei Gramit zu lesen: „Johann Nicolaus Forkel, for instance, published several articles describing the music of a variety of cultures during the 1770s and 1780s, including both the ancient Egyptians and the Chinese. […] Forkel‛s view of China is more subtle but equally revealing [im Vergleich zur Einschätzung der ägyptischen Kultur]. David Gramit: Cultivating music: the aspirations, interests, and limits of German musical culture, 1770-1848, London 2002, S. 35. Forkel: Allgemeine Litteratur der Musik oder Anleitung zur Kenntniß musikalischer Bücher, welche von den ältesten bis auf die neusten Zeiten bey den Griechen, Römern und den meisten neuern europäischen Nationen sind geschrieben worden , Leipzig 1792, S. 32.

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In dieser Schrift erwähnt der Autor freilich nicht, dass er selbst zu jenen wenigen zitierten Europäern zählt, welche die chinesische Musik für mangelhaft erklären. Die Parallele zur Einschätzung der jüdischen Musikkultur ist dabei allemal bemerkenswert. Dem Vergleich zur europäischen modernen Musik hält nach Forkels Ansicht auch die griechische Kultur nicht stand, wobei er immerhin einen höheren Grad des antiken Kulturschaffens der Griechen anerkennt: Nach der Unterjochung der Griechen ist ihre Musik nichts mehr gewesen. Demohngeachtet kultivirten sie die Kunst noch unter den römischen sowohl als ihren eigenen Kaisern; auch beschäftigen sie sich noch damit unter der türkischen Regierung; aber ihre Musik ist nun so weit davon entfernt, von der übrigen Welt als Muster der Vortrefflichkeit angesehen zu werden, daß sie niemand mehr schön findet, als sie selbst.45

Die Stränge, die durch die verschiedenen Beurteilungen Forkels an diesem Punkt zusammenlaufen, konturieren bereits ein nationalistisches, mindestens aber patriotisches Denken, das durch andere Äußerungen eine greifbare Form gewinnt. Die Ablehnung fremdländischer, nicht-europäischer Leistungen korrespondiert dabei jedoch zu oberflächlich mit der Diskreditierung der jüdischen Kultur, um Forkels Haltung lediglich als ‚nationalromantisch‛ zu benennen – die Abwertung der antiken und der modernen Juden geschieht bei Forkel auf eine solcherart massive Weise, dass sie sich mit seinen übrigen kritischen Betrachtungen nicht vergleichen lässt und die Kennzeichnung als ‚antisemitisch‛ rechtfertigt.

5.5.1 Forkels Originalitätsbegriff Die Untersuchung jener Formulierungen, die Forkels Haltung zum Patriotismus klarer umreißen, greift ohne Umschweife in die eingangs eingeführte Begriffsdiskussion und stellt dabei einige der vorgestellten Begriffe bzw. ihrer Synonyme vor. Ehe diese Begriffe im Detail aufgegriffen werden, soll zunächst Forkel als Nationalromantiker zu Wort kommen. Der Musikhistoriker, der sich unter anderem als erster Biograph Johann Sebastian Bachs eine Namen machte, überschreibt diese Darstellung mit den einschlägigen Worten: „ Ueber Johann Sebastian Bach's Leben, Kunst und Kunstwerke. Für Patriotische Verehrer Echter Musikalischer Kunst.“46

Herausstechend ist hier sicherlich die selbstverständliche Verknüpfung von Patriotismus und dem Gespür für ‚Echtheit‛. Die Zuschreibung des ‚Echten‛ steckt dabei genau das ab, was heute als ‚authentisch‛ empfunden wird und bildet damit den Gegensatz zu alledem, was Forkel für das jüdische Musikschaffen vorsieht. Eine terminologisch signifikante Position nimmt Forkels Biographie auch in Verbindung mit dem Originalitätsgedanken ein, was im Anschluss beleuchtet wird. Warum Forkel der deutschen Musik gegenüber allen anderen den Vorzug gibt, erklärt er in seiner Allgemeinen Litteratur. Hier begegnet wie bei seiner Be45 46

Forkel: Musikalisch-kritische Bibliothek, Gotha 1779, S. 186. Forkel: Ueber Johann Sebastian Bach‛s Leben, Kunst und Kunstwerke, Leipzig 1812.

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schreibung der hebräischen Musik erneut das, was man mit spitzer Zunge als ‚Strategie‛ bezeichnen könnte, indem er die Fragestellung nahezu bescheiden lanciert, um sich schließlich rhetorisch der gegenteiligen Ausgangsaussage zu nähern: Die deutsche Musik hat das meiste von den Ausländern entlehnt. Sie unterscheidet sich nur durch eine fleißige Arbeit, regelmäßige Ausführung der Sätze, und durch die Tiefsinnigkeit, die sie in der Harmonie anwendet. Der deutschen Musik sind die Kirchenstücke am meisten eigen, die von ausnehmendem Nachdruck rührend und erbauend sind. Die Deutschen wissen vor allen Nationen das Clavier mit der größten Stärke und nach der wahren Natur desselben, am beßten auszuüben. In den Compositionen für dieses Instrument unterscheidet sich die deutsche Musikart von den übrigen sehr merklich. Die Herstellung des guten Geschmacks in der Musik ist ein Werk der Deutschen. Sie haben die italiänische und fran zösische Musikarten ausgebessert, und vornehmlich der ersten eine so ansehnliche Gestalt gegeben, als kein Italiäner selbst noch jemals ihr zu geben vermögend gewesen. Selbst die italienische [sic!] Musik, so wie wir sie jetzt in den Werken der größten deutschen Komponisten finden, ist deutscher Abkunft.47

Natürlich nimmt sich diese Darstellung im Vergleich zur hebräischen Musikkultur insofern inkonsistent aus, als Forkel den Deutschen die „Entlehnungen“ in ihrer Musikkultur von anderen Völkern nicht nur nachsieht, sondern dies darüber hinaus als Grundlage für die Vervollkommnung jener offenbar unvollkommenen „Entlehnungen“ durch die Deutschen erachtet. Ein Akt, den Forkel den Juden nicht zugestanden und ihnen darüber hinaus des bloßen Verdachts wegen auf ähnliche „Entlehnungen“ das Prädikat „nicht erfinderisch“ verliehen hat. Welche ästhetischen Kriterien Forkel überdies für die „harmonische Tiefsinnigkeit“ vorsieht, die an dieser Stelle eine Authentizitätsverwandtschaft nahe legt, wird im Text nicht ersichtlich. Dass Forkel die ‚deutsche Musikalität‛ tendenziell für anlagebedingt hält und demzufolge verschiedenen Völkern von Natur aus unterschiedliche Eigenschaften beimisst – was eine genetische Prädisposition für die Qualität des Kulturschaffens impliziert –, offenbart sich unter anderem in einer Rezension Forkels, welche A General History Of Music48 des englischen Musikhistorikers Charles Burney zum Gegenstand hat. Die Kritik, die Forkel gegen Burney formuliert, verwundert vor dem Hintergrund zweier Tatbestände: Zum einen schätzt Forkel Burneys Schaffen durchaus, attestiert ihm sogar Originalität, 49 zum anderen teilen beide Musikhistoriker ihre Einstellung bezüglich der ‚Unvollkommenheit‛ im jüdischen Musikschaffen; Forkel selbst verweist in seiner Allgemeinen Geschichte auf Burney als eine der Quellen seiner Forschungsarbeit. Aus diesen Gründen unterstreicht Forkel sein Bedauern, das er mit seiner Rezension verbindet 50 – dessen ungeachtet ist die Kritik für Forkel insofern unabdingbar, als Burneys Darstellung dem deut47 48

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Forkel: Allgemeine Litteratur, S. 507f. Charles Burney: A General History of Music From the Earliest Ages to the Present Period , London 1789. „Dr. Burney hat sehr viele vortreffliche musikalische Werke herausgegeben. Ist originell und gelehrt.“ Forkel: Musikalisch-kritische Bibliothek, Bd. 3, S. 316.

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schen Musikschaffen weder eine überragende Stellung in der internationalen Musikkultur zuweist noch darüber hinaus die durch Forkel angedeutete Anlagentheorie für wahrscheinlich erachtet. Forkel argumentiert: Die ganze Art, in der ein für unsere Kunst so wichtiges Unternehmen behandelt wurde, und die Menge von nicht nur übereilten, sondern gänzlich falschen dort befindlichen Urtheilen, verrieth nicht nur schon zum voraus, daß Hr. Burney für sein Unternehmen zu arm an wahren gründlichen musikalischen Kenntnissen sey, sondern gab auch hinlänglichen Grund zu befürchten, daß er einen großen Nebel von gewissen Nationalvorurtheilen noch nicht genug vertrieben haben möchte, um im Stande zu seyn, wenigstens aus demjenigen Theil seine Geschichte, welcher die neuere Zeit, und insbesondere uns Deutsche angeht, etwas besseres als eine ärgerliche Chronik zu machen.51

Natürlich mutet es ein wenig sonderbar an, wenn ausgerechnet Forkel einem anderen Autor „Nationalvorurtheile“ unterstellt und diesen Umstand mit dem Mangel an „wahren musikalischen Kenntnissen“ begründet. Da sich Burneys vermeintliche „Nationalvorurtheile“ nach Forkels Auffassung ungünstig auf die Darstellung der deutschen Musikkultur auswirken, fällt die Reaktion Forkels mit entsprechender Entrüstung aus: Noch mehr: was läßt sich von den Kenntnissen eines Mannes hoffen, der von der innern Beschaffenheit der Kunst noch so wenig weiß, daß er im Stande ist, folgendes Urtheil nie derzuschreiben? „ich fand freylich nicht, daß er eine sehr feurige Einbildungskraft hatte, allein in der vollstimmigen Manier, worinn die Deutschen zu spielen pflegen, ist auch nicht viel Gelegenheit, welche zu zeigen.“ Kann wohl jemand Dillettantenmäßigere Begriffe vom Innern der Kunst haben, als unser musikalischer Geschichtsschreiber, der doch ein Doctor der Musik ist, hier zeigt? […] Weiter: was für Erwartung darf man sich von einer allgemeinen Geschichte der Musik ma chen, deren Verfasser noch von so lächerlichen und eine ganze Nation beleidigenden Vor urtheilen angesteckt ist, daß er sich nicht scheuet, folgende Stelle niederzuschreiben: „Ueberhaupt erhellet deutlich, daß nicht Natur sondern Kultur es macht, daß die Deutschen so allgemein Musik verstehen; und ein genauer Betrachter der menschlichen Natur, der lange unter diesem Volk lebte, hat gesagt, daß wenn es angebohrnes Genie gebe, Deutschland ge wiß nicht der Sitz desselben sey, ob man gleich zugeben müsse, daß geduldiger Fleiß und Application darinn zu Hause gehören.“ 52

Diese Worte bringen den Kernpunkt der Diskrepanz der ästhetischen Anschauung beider Autoren zum Vorschein und pointieren Forkels Postulat: Der Qualitätsgrad 50

51 52

„Wie schade ist es doch, daß es bey unsern Unternehmungen beynahe immer an irgend einem nothwendigen Teil fehlen muß, und daß es auch hier grade an dem allernothwendigsten, an dem allerunentbehrlichsten hat fehlen müssen!“ Forkel: Musikalisch-kritische Bibliothek, S. 118. A.a.O. Ibid., S. 119f.

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der Musikkultur eines Volkes/eines Individuums ist weniger eine Frage der Kultur als vielmehr gebunden an die Natur. Da Forkel die Natur eines Individuums ganz offenbar von dessen Herkunft abhängig macht, lässt sich jene Einstellung aus rückwärtsgewandter Perspektive bereits als kleiner Ausblick auf eine Rassenlehre verstehen, nach welcher die deutsche Nation (der Arier) den übrigen – zunächst einmal kulturell – überlegen ist. Bei Forkel zeichnet sich eine Verwebung jener Begriffe ab, die im 19. Jahrhundert und darüber hinaus als Basis für den nationalbezogenen Geniekult dienen. Die Verknüpfung von Anlage und Originalität bzw. Originalgenie zelebriert Forkel beispielsweise ausführlich in seinem Bachtext, ohne dabei zu vergessen, regelmäßig auf die Herkunft des Komponisten hinzuweisen. Zur Anlage ist dabei unter anderem zu lesen: Wenn es je eine Familie gegeben hat, in welcher eine ausgezeichnete Anlage zu einer und eben derselben Kunst gleichsam erblich zu seyn schien, so war es gewiß die Bachische. Durch sechs Generationen hindurch haben sich kaum zwey oder drey Glieder derselben gefunden, die nicht die Gabe eines vorzüglichen Talents zur Musik von der Natur erhalten hatten […].53

Diese angeführte Stelle verdeutlicht besonders präzise, warum Forkel Burneys Einschätzung, nach welcher musikalisches Genie in der Kultur (z.B. durch Fleiß) und nicht etwa in der Natur begründet liegt, so massiv entgegenhält. Die Natur ist der Ursprung aller Authentizität: Nicht Eigenschaft, sondern vielmehr eine Folge ihrer Eigenschaft ist, daß die Bachische Me lodie nie veraltet. Sie bleibt ewig schön und ewig jung, wie die Natur, aus welcher sie ent sprungen ist.54

Bricht man Forkels bislang hier geleisteten Beurteilungen auf einige wesentliche Punkte herunter, begegnet man einem Antonymepaar, das bereits in der allgemeinen Begriffsdiskussion behandelt wurde: Epigonalität und Originalität. Indem die Juden nach Einschätzung des Autors wenig erfinderisch sind und ihre Kulturleistungen grundsätzlich durch fremde Völker inspiriert wurden, erfüllt sich in ihrem Fall der Sachverhalt der Epigonalität. Demgegenüber steht die europäische, insbesondere die deutsche Kultur, die vor allen Dingen durch einen Repräsentanten wie Bach mit ‚Originalität‛ zu überzeugen weiß. Das Werk von Bach, der bei Forkel als Paradigma des deutschen Originalgenies diskutiert wird, verknüpft nach Meinung des Autors all jene Aspekte, welche die jüdische Kulturleistung kontrastieren. Neben der Natur und der Herkunft ist es in erster Linie die Originalität, welche Forkel Bach in hohem Maße anrechnet: Nicht alle Bachische Melodien sind indessen von dieser Art. Obgleich überall dieselbe Originalität der Gedanken herrscht, so sind doch die Melodien seiner so genannten freyen 53 54

Forkel: Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke , S. 10. Forkel: Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, S. 31.

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Auswirkungen auf das Musikschrifttum Compositionen so offen, klar und deutlich, daß sie […] auch von den ungeübtesten Zuhörern verstanden, und ihres innewohnenden Geistes wegen sogar gefühlt werden können.55 So wie seine Melodie im Ganzen ein solches Gepräge von Originalität hat, so haben es auch selbe so genannten Passagen im Einzelnen […].56

In diesem als auch im folgenden Zitat benennt Forkel bei genauerer Betrachtung ein für ihn ausschlaggebendes Kriterium, das Originalität kennzeichnet: Verständlichkeit beim Rezipienten. Wenn ein Künstler Werke in großer Anzahl geliefert hat, die sämmtlich von der verschie densten Art sind, die sich von den Werken aller andern Componisten jedes Zeitalters unter scheiden und den höchsten Reichthum der originellesten Gedanken, so wie den lebendigsten, jeden, er sey Kenner oder Nichtkenner, ansprechenden Geist mit einander gemein haben, so ist es wohl keine Frage mehr, ob ein solcher Künstler ein wirklich wahres großes Kunst-Genie gewesen sey oder nicht.57

Der Faktor der Verständlichkeit greift in die umfassende ästhetische Fragestellung nach den Grundlagen des Musikverstehens, was eine eigene Betrachtung verdient, bereits vielfach debattiert worden ist58 und aus diesem Grund hier nur höchst marginal berührt werden kann. Forkels Darstellung impliziert dabei eine Kausalität, welche auf die allgemeine Verständlichkeit einer Komposition abzielt: 1. 2. 3.

Die Natur ist basal und schafft das Genie. Das Genie produziert originelle Werke. Die werkimmanente Originalität führt beim Rezipienten zu uneingeschränktem Werkverständnis.

Dieser musikästhetische Ansatz zur Interpretation der Wirkungsweise jener Werke, die durch ein ‚Originalgenie‛ geschaffen wurden, ist zunächst unproblematisch. Es ergibt sich jedoch eine Problembehaftung dieses Konzeptes durch zwei Ergänzungen, die Forkel vornimmt. Zum einen hebt er an anderer Stelle fast beiläufig seine Darstellung des naturgegebenen Genies auf und gibt damit seine Theorie – fraglos ohne Absicht – einer gewissen Widersprüchlichkeit preis. Über Johann Christian Bach berichtet er nämlich: Johann Christian, der sogenannte Mayländische, nachher Londonsche Bach hatte als jüngster Sohn zweyter Ehe das Glück nicht mehr, seines Vaters Unterricht zu genießen. Der Bachische Originalgeist ist daher in keinem seiner Werke zu finden. Er ist dagegen ein Volkscomponist geworden, der zu seiner Zeit allgemein beliebt war.59 55 56 57 58 59

Ibid., S. 30. Ibid., S. 31. Ibid., S. 65. So z.B. von Hans Heinrich Eggebrecht: Musik verstehen, Wilhelmshaven 1999. Forkel: Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, S. 79.

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Unfreiwillig stützt diese Einschätzung Burneys These, wonach Originalität aus Kultur gespeist wird. Und dem Leser verbleibt ein Rest Irritation – wenn es entgegen Forkels ursprünglicher Aussage schließlich doch einer Art Kultivierung durch ein anderes Genie bedarf, um einen Originalgeist entfalten zu lassen, stellt sich selbstverständlich die Frage, warum im Falle Johann Sebastians die naturbedingte Veranlagung, die nicht auf die Ausgestaltung durch ein anderes Originalgenie angewiesen scheint, als hinreichend gelten soll, Johann Christian hingegen, welcher immerhin Sohn des Genies ist, ohne die Wirkungsmacht seines Vaters keine vollständige Entwicklung seiner Originalität voranbringen kann. Zwar argumentiert Forkel durchaus dahingehend, dass die Natur kultiviert werden müsse, damit sich ebenjene Entfaltung vollziehen könne: Das grösste Genie, mit dem unwiderstehlichsten Triebe zu einer Kunst, ist seiner ursprünglichen Natur nach nie mehr als Anlage, oder ein fruchtbarer Boden, auf welchem eine Kunst nur dann recht gedeihen kann, wenn er mit unermüdeter Sorgfalt bearbeitet wird. Fleiß von dem eigentlich erst alle Kunst und Wissenschaft kommt, ist hierzu eine der ersten und er lässlichsten Bedingungen. Durch ihn wird das Genie nicht nur der mechanischen Kunstmittel mächtig, sondern er reizt auch nach und nach die Urtheilskraft und das Nachdenken auf an Allem, was er hervorbringt, Theil zu nehmen.60

Dennoch bleibt auch in dieser Erläuterung die Frage unbeantwortet, warum sich die Originalität Bachs trotz entsprechender Anlage im Sohn nicht herausbilden konnte, obwohl durchaus hinreichende Kultivierung statthatte. Oder etwas unbefangener spekuliert: Wenn im Falle Johann Christians die Anlage erst der ‚Berührung‛ des ursächlichen Originalgenies bedarf, um selbst zur vollendeten Originalität zu reifen, hätte der Kontakt zwischen Johann Christian und seinem älteren Bruder Carl Philipp Emanuel als ‚Katalysator‛ ausreichen müssen. Carl Philipp, dessen musikalische Bildung im Gegensatz zu der des Bruders weit nachhaltiger durch die väterliche Erziehung geprägt wurde, nahm sich der gründlichen Ausbildung von Johann Christian an und hätte dadurch den Bachischen Originalgeist in diesem fruchtbaren Boden verwurzeln können, sogar müssen, um Forkels Argumentation zu folgen. Dass dieser Prozess nach der Einschätzung Forkels jedoch nicht erfolgt ist, muss als Feststellung hingenommen werden, ohne dass eine Begründung erwartet werden kann – auch wenn sich an dieser Stelle das platonische Ringmodell als Inspirationstheorie als analogisierbares Muster anbietet. 61 Deswegen soll dazu der Befund genügen, dass sich Forkels Originalitätstheorie grundsätzlich auf die Anlage eines Individuums richtet. Ein problematischer Umgang mit dem Originalitätsbegriff, wie Forkel ihn gebraucht, entwickelt sich, sobald er auf eine Schaffensähnlichkeit zwischen unterschiedlichen Individuen abzielt. Denn wenn Forkel, wie eben dargelegt, dahingehend argumentiert, dass sich die Originalität bei den Söhnen Bachs nur dann 60 61

Ibid., S. 66. Vgl. das Magnetenkonzept des Ion in der ideengeschichtlichen Auseinandersetzung.

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durchzusetzen vermochte, wenn sie unter dem starken Einfluss des ‚ursprünglichen Originalgeistes‛ – Bach selbst – standen, wird natürlich die Frage aufgeworfen, ob Originalität und Epigonalität in ihren ästhetischen Betrachtungen wenigstens in diesem Falle näher beieinander liegen, als man vordergründig ahnt. Forkel exponiert nämlich Wilhelm Friedemanns Talent auf eine Weise, welche bei bestimmter Lesart die Unterscheidung zwischen Originalität und Epigonalität längst nicht mehr mühelos fassen lässt: Ich habe oben gesagt, dass Bach's Söhne sich unter seinen Schülern am meisten ausgezeichnet haben. Der älteste, Wilh. Friedemann, kam in der Originalität aller seiner Gedanken seinem Vater am nächsten. […] Fein vorgetragen, wie er selbst sie vortrug, müssen sie nothwen dig jeden Kenner entzücken. Nur Schade, dass er mehr fantasirte und in der Fantasie bloss nach musikalischen Delicatessen grübelte, als schrieb. Die Anzahl seiner schönen Composi tionen ist daher nicht gross.62

Die Nähe zwischen Originalität und Epigonalität, die sich hier wenigstens mit einer vagen Grundlage interpretieren lässt, ist sicherlich erstaunlich. Zudem sich natürlich in der Betonung dessen, dass ein Kenner nötig sei, um sich von der Musik entzücken zu lassen, also um sie zu verstehen, wo Forkel kurz zuvor noch die Ansicht vertreten hat, dass sich Originalität durch allgemeine Verständlichkeit beim Rezipienten, „er sey Kenner oder Nichtkenner“, auszeichne, in diesem Zusammenhang hinreichend widersprüchlich ausnimmt. Nicht zuletzt ist es die Quantifizierung des Begriffes ‚Originalität‛, mit der sich nur etwas sperrig umgehen lässt, wie es in der Begriffsdiskussion bereits angedeutet wurde. Diese Umstände sind es, welche auch Goethe in seinem Bemühen zusetzen, Forkels Beschreibung von Originalität nachzuvollziehen und ihn 1829 seinen Freund, den Komponisten Carl Friedrich Zelter, fragen lassen: Was heißt denn das, wenn Forkel sagt: Friedemann sey seinem Vater in der Originalität am nächsten gekommen? Ist das eine Logik? Was ist Originalität? Friedemann war original oder er war es nicht. Im ersten Falle ist er von Natur ursprünglich was er ist und hat darin keinen über, keinen neben sich; denn je näher er einem vor ihm wäre, um desto weniger ist er Original. Erklären Sie mir Ihren Forkel besser, es soll Ihr Schade nicht seyn. Wie wollte man aber vom alten Bach sagen: er sey Original, wenn er einem über sich nahe käme? Oder von Homer, vom Sophokles, vom Shakespeare?63

Goethes Irritation verdankt sich der Unklarheit, mit welcher Forkel seinen Origi nalitätsbegriff lanciert. Konkret lässt sich jene Ratlosigkeit, die den Rezipienten der Forkel‛schen Originalitätstheorie begleitet, auf zwei Faktoren reduzieren, welche einerseits diametrale Positionen besetzen und doch andererseits in Forkels Er -

62 63

Forkel: Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, S. 44. Johann Wolfgang von Goethe in: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1796 bis 1832, Bd. 5, Berlin 1834, S. 209.

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läuterung stets so eng verwoben werden, dass es für deren Entschlingung einer gewissen Aufmerksamkeit bedarf: Entweder ist Originalität nämlich ein quantitativ zu behandelnder Begriff, nach welchem Originalität umso stärker wirkt, je intensiver sie mit der Originalität eines anderen Individuums vergleichbar ist und somit den Beigeschmack der Epigonalität mit sich führt (a), oder Originalität ist ein absoluter Begriff, der auf Inkommensurabilität aufgebaut ist und sich in erster Linie überhaupt dadurch definiert, dass er völlig autonome Originalität impliziert (b).Forkel trennt jedoch (a) und (b) nicht. Er wendet bei Johann Sebastian Bach Modell (b) an, um bei dessen Söhnen nach Modell (a) zu verfahren, was den Leser notwendig irritiert. Wäre Modell (a) das gültige und übertrüge man es auf die Einschätzung, die Forkel dem jüdischen Kulturschaffen zukommen lässt, ließe sich die mutmaßliche Orientierung der Juden an der ‚originalen‛ ägyptischen und chaldäischen Kultur durchaus als ‚originell‛ deuten, insofern der Geist der Originalität dadurch tradiert würde. Der inkonsistente Ansatz Forkels, mit dem er sich der ästhetischen Diskussion um Originalität nähert, ist in diesen Aspekten nicht gründlich genug ausgearbeitet, um ihn konsequent auf kulturelles Schaffen anwenden zu können. Eine weitere Ergänzung, welche die Rezeption des Konzepts problematisch gestaltet, ist Forkels Verknüpfung von Natur und Herkunft/Nation, was bereits durch mehrere Zitate belegt wurde. Deswegen soll im Folgenden die Vernetzung von patriotischen Einstellungen und abwertenden Beurteilungen jüdischen Schaffens am Beispiel Forkels etwas detaillierter ausgeführt und der Frage nachgegangen werden, inwiefern die Überlappungen der nationalen und religiösen Strukturierungen des Judentums den Vorwurf mangelnder Authentizität fördern konnten.

6. Der frühe Nationalismus: Ursachen und die daraus folgende Inauthentizitätsemphase bei der Bewertung des Jüdischen

Forkels Haltung bietet einen schnörkellosen Brückenschlag zu einer Analyse jener patriotischen Strömungen, die allgemein zur Fundierung des Authentizitätsproblems der Juden beigetragen haben. Deswegen wird im Folgenden, ausgehend von Forkels nationalbetonter Arbeit, der Versuch einer allgemeinen Darstellung der politischen Geisteshaltungen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts angestrebt, die insbesondere vor dem Hintergrund des Postulats nach ‚echtem Patriotismus‛ den Juden jedwede Authentizität absprachen und damit fraglos eine weitere Ursächlichkeit für den Topos des ‚falschen Juden‛ mit sich trugen. Der ausgeprägte Patriotismus des Autors, von dem hier die Rede ist, lässt sich nicht nur in den einleitenden Worten seines Bachtextes erkennen, sondern rahmt ihn gleichermaßen als Schlussformel, wenn Forkel den Leser abschließend wissen lässt: Und dieser Mann – der größte musikalische Dichter und der größte musikalische Declamator, den es je gegeben hat, und den es wahrscheinlich je geben wird – war ein Deutscher. Sey stolz auf ihn, Vaterland; sey auf ihn stolz, aber, sey auch seiner werth !1

Was sich auf den ersten Blick als innige Vaterlandsliebe deuten lässt, untermauert zwar nicht die Darstellung von Forkel als einen Autor, der das Deutschtum mit spezifischen natürlichen Anlagen verbindet, führt aber zu dem Heiklen, das jener Verbindung innewohnt: Wenn sich ein Volk bzw. eine Nation von einer anderen Nation nicht durch Kultur, sondern in erster Linie durch Natur unterscheidet, liegt in der absichtsvollen Besetzung eines ‚Siegertreppchens‛ eine gewisse Infamie, insofern eine solche Anlagetheorie die Überwindung der Natur nicht vorsieht. Wo sich Authentizität zunehmend als dargestelltes Gefühlsmoment verstehen lässt, ist die Einschätzung Forkels bezüglich des ‚deutschen Fühlens‛ besonders aufschlussreich. Er hält nämlich fest, dass „ […] deutsche Kunst deutschen Gefühlen entspricht.“2

Natürlich könnte sich – hypothetisch gedacht – eine Nation, die sich anlagenmäßig durch eine ausgeprägtere „Tiefsinnigkeit“ auszeichnet, ohne Weiteres durch eine Verschiedenartigkeit der Gefühle von anderen Nationen abheben. Was jedoch die Wesensart der „deutschen Gefühle“ ausmacht, bzw. auf welche Weise sie sich in der „deutschen Kunst“ niederschlägt, sind Überlegungen, die Forkel nicht weiter konkretisiert. Fest steht dabei aber sicher, dass man einem Autor, der die zutiefst inneren Zustände eines Menschen – seine Gefühle – an dessen Nationalzugehörigkeit fest1 2

Forkel: Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, S. 69. Forkel: Allgemeine Musikalische Zeitung, Leipzig Jahrgang 1812, S. 189.

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macht, bequem ein patriotisches bzw. je nach Kontext nationalbezogenes Denken unterstellen kann, welches die Bewertung kultureller Leistungen einbezieht. Freilich ist die Überschreibung der Einstellung Forkels als ‚nationalromantisch‛ nur ein Näherungsversuch, das zu benennen, was intuitiv begriffen wird. Nuancen sind dabei so zahlreich wie auch überlappend – ob man diese Geisteshaltung letztlich als patriotischen Aufruf oder als überbordenden Nationalstolz verstehen möchte, ändert an der Strömung, die sie begünstigt hat, nicht das Geringste, obwohl man sich hüten sollte, von einer unvermeidbaren Konsequenz zu sprechen. Forkels Vermengung von Patriotismus und Nationalismus ist insofern besonders relevant, als er im Zusammenspiel mit Forkels Antisemitismus eine eigene Qualität hinsichtlich der verschiedenen Kunst- und Kulturbewertungen entwickelt hat. Sieht man diesen Nationalismus also als ein den Antisemitismus begünstigendes Phänomen, ohne dabei die beiden Begriffe zu undifferenziert ineinander fließen zu lassen, stellt sich die Frage nach der Ursächlichkeit. Natürlich spielen Faktoren, welche die zeitlichen Kontexte des Autors ‚psychologisieren‛ können, eine erheblich Rolle, und es kann nicht zu empfehlen sein, sie zu missachten. Denn in sofern das Xenophobe besonders dort greifen kann, wo das Fremde fremd bleibt, ist eine grundlegend wohlwollende Einstellung Forkels gegenüber jenen Kulturen, deren Zugang ihm beträchtlich erschwert ist, kaum denkbar. Die Ablehnung des Fremden korreliert dabei jedoch nicht notwendig mit der Überhöhung des Vertrauten, obwohl ein Mindestmaß an Würdigung der ‚eigenen‛ Leistungen die Voraussetzung für jene Aversion bildet. Es ist also zu erfragen, warum sich die übersteigerte Wahrnehmung und Beurteilung der deutschen Kunst ganz selbstverständlich in Werken wie Forkels etablieren konnte. Und obwohl Forkel sicherlich eine gesonderte Position in der nationalgewichteten Darstellung der ‚deutschen Musik‛ zugestanden werden muss, die sich wenigstens aus der signifikanten Bedeutung für das historische und moderne Musikschrifttum ergibt, stellt seine patriotische Gesinnung selbstverständlich alles andere als eine Ausnahmeerscheinung in der bürgerlichen Geisteshaltung des ausgehenden 18. Jahrhunderts dar, was nicht zufällig mit den Einflusseinbußen der christlichen Religionen durch die Aufklärung einhergeht.3 Eine Deutungsmöglichkeit lässt – wie Forkel 3

Aus diesem Grund wurde zu Beginn der Betrachtung von Forkels antisemitischer Kulturbe wertung dessen Motivation als eine solche charakterisiert, die sich im Gegensatz zu den Intentionen von Forkels Vorgängern durch einen Mangel an religiöser Grundlage auszeichnet. B. Herrmann und B. Thums schreiben dazu: „Mit dem Bedeutungsverlust des Konfessionalismus im späteren 18. Jahrhundert gingen religiöse Gefühle und Sinnvorstellungen auf die Kollektive ‚Nation‛ beziehungsweise ‚Volk‛ über; die „organisierte Ethnizität“ begann, die „organisierte Religion“ abzulösen. Diese ethnizistische „Ersatzreligion“ trug auch den Patriotismus.“ In: Britta Herrmann, Barbara Thums: Ästhetische Erfindung der Moderne? Perspektiven und Modelle 1750 – 1850, Würzburg 2003, S. 79. In der Säkularisierung der subjektimmanenten religiösen Bedürfnishaftigkeit verbirgt sich offensichtlich der Zugang zum Verstehen jenes Prozesses, der den Antijudaismus zum Antisemitismus gedeihen ließ: Die menschliche Eigenart, das Eigene auf Kosten der Beurteilung des Fremden/nicht Zuge hörigen auf metaphysische Weise zu überhöhen, bedarf keiner konkreten Struktur, sondern wird sowohl durch religiöse als auch durch staatliche, genauso aber auch durch rein private

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selbst vorgeschlagen hat – eine Analogisierung zwischen Individuum und dessen Sekundär- oder noch weiter gefasster Gruppe zu: Es handelt sich um ein bekanntes Phänomen, nach welchem A umso vehementer auf etwas beharrt, für welches eine für A immanente Verunsicherung besteht. Übertragen auf den Nationalstolz (wie er an dieser Stelle behelfsmäßig bezeichnet wird), der sich im ausgehenden 18. Jahrhundert beobachten lässt, verweist dieses Einstellungsmuster wohl auf nicht weniger als auf ein tief sitzendes Bedürfnis nach nationaler Identität, die sich auf eben jene Weise darstellen möge. Denn wenn man die dezentralisierten, föderalistischen Rahmenbedingen des Heiligen Römischen Reiches berücksichtigt, die sich, so es Deutschland angeht, im 18. Jahrhundert zunehmend auf die Polarisierung zwischen der Habsburger Monarchie und dem Königreich Preußen begrenzen, ist der Wunsch nach einem einheitlichen Deutschland, das sich vor allen Dingen mit prägnanten Charakteristika skizzieren lässt, mühelos nachvollziehbar. Und solange an diesem Punkt die Realität noch scheitert, taugt das, was als Wunsch bleibt, in erster Linie als Projektionsfläche, die mit Idealisierungen besetzt werden kann.4 Der dieserart geformte Überhöhungswunsch korrespondiert nicht nur mit dem Bedürfnis nach dem Beleg der eigenen (nationalen) Kompetenz, sondern dient gleichermaßen der Abgrenzung gegenüber anderen, zwangsläufig als minderwertig beurteilten Leistungen, was z.B. auf das Spannungsfeld zwischen deutscher und französischer Sprachkultur jener Zeit verweist. 5 Der frühe Nationa-

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Organisationen befriedigt. Unter jenen Vorzeichen, nach welchen die Ablehnung des Jüdischen, die sich je nach Kontext konfessionell oder patriotisch/nationalistisch manifestiert, in erster Linie aus einem generellen Überhöhungsbedürfnis gespeist wird, ist die Unterscheidung zwischen antijüdisch und antisemitisch nahezu irrelevant. Dieser Umstand verdeutlicht, warum Forkel, der im Musikschrifttum den Übergang einer antijüdischen zu einer antisemitischen Einstellung markiert, nicht als Einschnitt zu verstehen ist, sondern er vielmehr folgerichtig ein beständiges Muster bewahrt. Entsprechend halten z.B. V. Kronenberg und E.-W. Böckenförde fest: „Der Reichspatriotismus des späten 18. Jahrhunderts war von anderer Qualität als der Enthusiasmus der Humanisten im frühen 16. Jahrhundert und als das patriotische Festhalten am Reich in den Krisen des 30jährigen Krieges und in den Kriegen Ludwig XIV. Die Stimmungen und die politischen Situationen waren grundverschieden und dennoch knüpften sich die politischen Sehnsüchte immer wieder an jenes halbimaginäre „Reich“, dem es bis 1806 nicht gelungen war, moderner Staat zu werden und gerade deshalb seine sakrale Aura bewahrte und zum Identifikationspunkt werden konnte. Als das Reich zusammenbrach und der Nationalstaat unerreichbar blieb, flüchteten sich die Deutschen - „gedankenvoll und tatenarm“ (Hölderlin) – in das Reich der Ideen und sie spendeten sich selbst Trost, mit den Worten Schillers von 1797 „indem das politische Reich wankt, hat sich das geistige immer fester und vollkommener gebildet“.“ In: Volker Kornenberg, Ernst-Wolfgang Böckenförde: Patriotismus in Deutschland: Perspektiven für eine weltoffene Nation, Wiesbaden 2006, S. 76. Bei J. Echternkamp ist in diesem Zusammenhang vom Begriff einer „Genese des Frühnationalismus“ (S. 41ff.) zu lesen, dessen Konnotation eine Brücke zwischen einem tendenziell harmlosen Patriotismus und dem schon schärfer behafteten Nationalismus des 19. Jahrhun derts zu schlagen vermag. Die kulturelle Vorherrschaft durch französische Einflüsse bildet dabei zwar einen bemerkenswerten Aspekt, der die Entwicklung „Frühnationalismus“ begünstigt hat, jedoch lassen sich die Ursachen für seine Entfaltung nicht allein darauf redu zieren. Echternkamp überlegt dazu: „Die Achsen des Koordinatensystems, das der kulturel-

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lismus und der romantische Patriotismus, wie sie in Schriften wie denen Forkels erkennbar sind, kennzeichnen ein fast verzweifeltes Ringen nach Authentizität durch Identität, und indem die Identität zum Teil durch eine Art gedachte Isolation gegenüber anderen, vermeintlich unterlegenen Kulturen genährt wird, ergibt sich der offensive Charakter des deutschen Kulturpatriotismus, den Heine 1836 schließlich fast resigniert und gleichermaßen ironisch in seiner romantischen Schule konstatiert.6 Um die Gründe für diesen Kulturpatriotismus zu fassen, welcher eine ausschlaggebende Funktion für spätere antisemitische Einschätzungen gegenüber jüdischem Kulturschaffen erfüllt,7 muss noch einmal der Bogen zum allgemeinen aufkommenden Nationalismus in seiner besonderen Ablehnung der Juden als Teil der Nation geschlagen werden. Die folgenden Überlegungen werden deshalb keiner allgemein historischen bzw. politischen Zusammenfassung gerecht, welche alle für den

6

7

len Selbstdeutung diente, verschoben sich spätestens seit den 1770er Jahren. In synchroner Hinsicht verlagerten sich die Fixpunkte des bildungsbürgerlichen Wertekanons von den im höfischen Leben dominierenden französischen Vorbildern im Bereich der Sprache, der Literatur und des Theaters zu neuen Normen, die unabhängig von Gewichtungen im einzelnen Geltung aus ihrer Kongruenz mit dem Nationalcharakter gewannen.“ Jörg Echternkamp: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770-1840), Frankfurt/Main 1998, S. 133. „Wir hätten auch den Napoleon ganz ruhig ertragen. Aber unsere Fürsten, während sie hofften, durch Gott von ihm befreit zu werden, gaben sie auch zugleich dem Gedanken Raum, daß die zusammengefaßten Kräfte ihrer Völker dabei sehr mitwirksam sein möchten: man suchte in dieser Absicht den Gemeinsinn unter den Deutschen zu wecken, und sogar die allerhöchsten Personen sprachen jetzt von deutscher Volkstümlichkeit, vom gemeinsamen deutschen Vaterlande, von der Vereinigung der christlich-germanischen Stämme, von der Einheit Deutschlands. Man befahl uns den Patriotismus, und wir wurden Patrioten; denn wir tun alles, was uns unsere Fürsten befehlen. Man muß sich aber unter diesem Patriotismus nicht dasselbe Gefühl denken, das hier in Frankreich diesen Namen führt. Der Patriotismus des Franzosen besteht darin, daß sein Herz erwärmt wird, durch diese Wärme sich ausdehnt, sich erweitert, daß es nicht mehr bloß die nächsten Angehörigen, sondern ganz Frankreich, das ganze Land der Zivilisation, mit seiner Liebe umfaßt; der Patriotismus des Deutschen hingegen besteht darin, daß sein Herz enger wird, daß es sich zusammenzieht wie Leder in der Kälte, daß er das Fremdländische haßt, daß er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur ein enger Deutscher sein will. Da sahen wir nun das idealische Flegeltum, das Herr Jahn in System gebracht; es begann die schäbige, plumpe, ungewaschene Opposition gegen eine Gesinnung, die eben das Herrlichste und Heiligste ist, was Deutschland hervorgebracht hat, nämlich gegen jene Humanität, gegen jene allgemeine Menschenverbrüderung, gegen jenen Kosmopolitismus, dem unsere großen Geister, Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Jean Paul, dem alle Gebildeten in Deutschland immer gehuldigt haben.“ Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden, Bd. 5, Berlin und Weimar 1972, S. 32f. Dabei soll noch einmal betont werden, dass eine Art Kulturpatriotismus zwar nahezu unerlässlich für die Abwertung jüdischen Kunstschaffens ist, was vor allem am Musikschrifttum des 19. Jahrhunderts nachgewiesen wird, aber auch, dass sich umgekehrt nicht folgern lässt, jeder deutsche Kulturpatriot hinge antisemitischem Gedankengut nach. Wo A unter Um ständen bedingend zu B führen kann, ist A dennoch ungleich B und muss nicht zwangsläu fig in B münden.

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politischen Antisemitismus relevanten Einflüsse und Bewegungen detailliert darstellen kann, sondern verbinden sich mit jenen Aspekten, die nicht zuletzt in der jeweiligen subjektiven Wahrnehmung das Authentizitätsproblem der Juden als nationales Politikum konstituieren, um schließlich die kulturellen Bewertungen als inauthentisch zu legitimieren. Wie aufgezeigt werden wird, läuft die Einschätzung der Juden, die sich um die Rolle des deutschen Staatsbürgers bemühen, als inau thentisch und nur auf den eigenen Vorteil bedacht bemerkenswert parallel zu dem, was sich bewertend in Wagners Aufsatz in Bezug auf das Schaffen jüdischer Künstler finden lässt. Aus diesem Grund soll vorab der Entwicklung des Entwurfes der Juden als ‚inauthentische Staatsbürger‛ nachgegangen werden: Hält man zunächst dem vorgegriffenen Nationalstolz, der sich mit einem Staat verbindet, welcher praktisch erst gegründet werden muss, jene Prämissen entgegen, unter welchen die Juden als Volk und Nation im ausgehenden 18., aber auch im gesamten 19. Jahrhundert zu begreifen waren, wird ein Gefüge sichtbar, das nach den Ansprüchen ‚nationaler Originalität‛ als inauthentisch wahrgenommen werden könnte und wurde. Auf den ersten Blick verbinden die äußeren Umstände zwar beide Gruppen – nämlich das Sehnen bzw. Erwarten eines autonomen Staates – der Umgang mit diesem Umstand lässt sich jedoch nicht mehr analogisieren. Während die Juden auch im beginnenden 19. Jahrhundert auf die messianische Erfüllung warten, welche in der Re-Etablierung eines jüdischen Staates gipfeln würde, leben sie in vielen Ländern der Welt als Teil einer Gesellschaft, die sie zumeist nur widerwillig – wenn überhaupt – akzeptiert. In dieser Zeit, als eine Vermischung der antijüdischen und antisemitischen Einstellungen die Wahrnehmung der Juden in der Öffentlichkeit bestimmt, ist es einerlei, auf welche Weise die Juden ihre Verbundenheit zu ihrem Heimatland darstellen – es wurde in aller Regel nachteilig mit dem Verweis auf Unaufrichtigkeit ausgelegt. Der Tatbestand, dass Juden generell als zwar staatenlose, aber dennoch eigene Nation zusammengefasst wurden, unterstreicht die Hauptproblematik, die sich ergibt, wenn man die Juden des 18. und 19. Jahrhunderts als deutsche Bürger begreifen möchte: Es konturiert sich dabei ein Phänomen, das in etwa der modernen ‚doppelten Staatsbürgerschaft‛ vergleichbar ist – die Zugehörigkeit verbindet sich jedoch in diesem Falle mit einem Staat, der sich schwer damit tut, den Juden volle Bürgerrechte anzuerkennen und mit einem anderen Staat, welcher kaum mehr ist als ein gedachter. In dieser Dopplung wurzelt das Vorwurfsmoment gegen den ‚inauthentischen Juden‛ als Bürger. Jede patriotische Geste seitens der Juden verliert in dem Augenblick ihr Gewicht, in welchem eine antijüdische Betrachtung als Maßstab gilt, wie sie hier 1807 erfolgt ist: Ueberhaupt ist es eine Lächerlichkeit erster Classe, darüber zu streiten, ob der Jude ein ehr licher Mann, ein moralisches Wesen u.s.w. seyn könne; denn die Sache ist in sich selbst unmöglich, sobald man bedenkt, daß das mosaische Gesez, dem er sich mit Leib und Seele un-

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terwarf, ihn zwar in Beziehung auf den ideellen Judenstaat, welcher nirgends vorhanden war, moralisirte, dafür ihn aber auch in Beziehung auf die Gesellschaft, in welcher er sich wirklich befande, auf das allervollkommenste demoralisirte und zum entschiedensten Egoisten machte. Erst von dem Augenblick an, wo der Jude sein Blut für das Vaterland verspritzt, wird er anfangen, ein moralisches Wesen zu werden […].8

Die Besonderheit, die sich mit der jüdischen Religion verbindet, nämlich das ursprüngliche Kompositum von Nation und Religion, wird dabei allen Juden angelastet und somit jeder Patriotismus, den Juden gegenüber ihrem Heimatland empfinden könnten, a priori abgesprochen. Die Wahrnehmung antisemitischer Personen kann offensichtlich als hinlänglich selektiv beurteilt werden, denn dass patriotische Bemühungen seitens der Juden existiert haben, die in Ermangelung eines ‚eigenen‛ Staates dem auch in ihnen bestehenden Bedürfnis nach nationaler Identifikation durch intensive Teilnahme an allem, was ihr Heimatland anbelangte, entgegenkamen, steht außer Frage. Die preußische Judenschaft teilte beispielsweise Staatskanzler Hardenberg 1810, also einige Jahre bevor eine für sie wirklich gültige Wehrpflicht eingeführt wurde, ihre uneingeschränkte Loyalität mit, die bis zum freiwilligen Kriegsdienst reicht: Weder in unserer Religion, noch in unseren Zeremonial- oder Ritualgesetzen gibt es, oder soll es irgend ein Hindernis geben, eine noch so schwere Pflicht, welche Vaterland oder Staatsgesetze fordern, unerfüllt zu lassen.9

Dabei handelte es sich keineswegs um leere Worthülsen; eine Vielzahl preußischer Juden beteiligte sich freiwillig an den napoleonischen Kriegen, 10 und ihre Leistungen wurden zum Teil durch militärische Auszeichnungen anerkannt. 11 Darüber hinaus wurden beispielsweise schon 1809 in einem jüdischen Blatt „Patriotische Gedanken und Wünsche“ formuliert, welche sowohl die Regierung weise heißen als auch zur Dankbarkeit ihr gegenüber aufrufen. Die Forderung veranschaulicht deutlich eine Einstellung, welcher die Verschmelzung patriotischer Gefühle gegenüber dem Heimatland als auch dem Bedürfnis nach religiöser Loyalität gelungen ist:

8 9

10

11

In: Ernst Ludwig Posselt Hrsg.: Europäische Annalen, Bd. 2, Tübingen 1807, S. 75. Brief vom 1. Februar 1810 aus: Ludwig Geiger: Die deutschen Juden und der Krieg , Berlin 1915, S. 19. Vgl. Ludwig Geiger: Die deutschen Juden und der Krieg , S. 24, 40, 73, auf Seite 68/69 heißt es: „Alle Juden, nicht nur die Angehörigen des stehenden Heeres, der Reserve und Landwehr, sind dem Rufe zu den Waffen freudig gefolgt, aber auch viele Tausende haben sich freiwillig gestellt. Ohne Murren, mit einem Gefühl heroischer Freude, haben Eltern ihre Kinder, Hunderte alle ihre Söhne, Gattinnen ihre Gatten hergegeben. Die Begeisterung, die heldenmäßige Gesinnung hat, wie die Nationen überhaupt, so auch die Juden ergriffen.“ Vgl. Ulrich Wyrwa: Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich – Bd. 67 Schriftenreihe der wissenschaftlichen Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, London 2003, S. 203.

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Laßt uns daher, liebe Glaubensgenossen! unser Herz zum Ewigen erheben; ihm wonnevoll für dieses Gute danken; und seelenfroh Regenten segnen, die unser Wohl so liberal befördern!12

Trotzdem bleibt in der judenfeindlichen Denktradition des aufkommenden Nationalismus die Geisteshaltung fest verwurzelt, nach welcher Juden zu patriotischen Gefühlen nicht in der Lage seien (inauthentisches Fühlen) bzw. Juden, wenn sie nach außen eine offensichtlich patriotische Handlung vollziehen, dabei allenfalls nach ihrem persönlichen Vorteil trachten (inauthentisches Handeln). Die Grundlage für beide Haltungen wird, wie aus den Europäischen Annalen bereits zitiert wurde, in erster Linie aus der Annahme gespeist, dass sich alle Juden dem – lediglich ideellen – Judenstaat verpflichtet fühlen, was jedes weitere Pflichtgefühl mutmaßlich ausschließt. Die Auslassungen jener Zeit über die vermeintlich ‚inauthentische Staatsbürgerschaft‛ der Juden sind zahlreich und werden jeweils vom gleichen Tenor bestimmt. In so ferne könnte man sagen, daß, wenn es irgendwo Patriotismus giebt, man ihn unter den Juden suchen müße. Dieser Gemeingeist, der dem Juden von seiner Kindheit an eingeflößt wird, auf dem alle seine sittliche Vorschriften Beziehung haben, und der eine nothwendige Folge seines Separatismus ist, wird durch seine Abgeschiedenheit von der Welt, und sein wirklich contemplatives Leben genährt, und zur Hervorbringung der größten Wirkungen erhöhet. Man beobachte den Juden in seinem Hause und auf öffentlichen Plätzen, oder in der Halle seiner Synagoge, und nirgends wird man ihn über andere Gegenstände reden hören, als über solche, die Bezug auf irgend ein dem Ganzen oder dem Einzelnen Vort heil oder Nachtheil bringendes Geschäft haben. […] Er nimmt weder die Partey des Einen, noch des Andern: ob der Staat, in dem er lebt, davon Vortheil oder Schaden hat, kümmert ihn nicht, denn sein Vaterland ist die Welt; nur in so ferne er vielleicht dabey irgend ein vortheilhaftes Geschäft machen kann, spricht er davon, und wenn er den Weg dazu gefunden zu haben glaubt, verfolgt er ihn mit einer Standhaftigkeit, und erlangt seinen Zweck mit einer Leichtigkeit, die jedem andern Unternehmer unerreichbar seyn würde. 13

Die Argumentation ist ein Zirkelschluss: Der Jude kann deshalb kein echter Staatsbürger sein, weil er ein Jude ist – würde er jedoch aufrichtige Vaterlandsliebe empfinden, wäre er kein Jude mehr. Unzählige Darstellungen kreisen sich in vergleichbarer Weise um diesen Argumentationsring und gleichen dabei verblüffend jener Diskussionsstruktur, innerhalb welcher bereits hunderte Jahre zuvor über die ‚Echtheit‛ der Juden geurteilt wurde. Lag während der Reformation das Augenmerk verstärkt auf der Frage, wie authentisch ein getaufter Jude sein könne, wiederholt sich das Muster in kleinerem Umfang im Zusammenhang mit dem deutschen Patriotismus. Das christliche Religionskonzept spielt in beiden Fällen eine 12

13

Anonym: „Patriotische Gedanken und Wünsche“ in: Sulamith. Zeitschrift zur Beförderung der Kultur und Humanität unter der jüdischen Nation , Hrsg. David Fränkel, Dessau Jahresband 1809, S. 413. Ernst Traugott von Kortum: Über Judenthum und Juden: hauptsächlich in Rücksicht ihres Einflusses auf bürgerlichen Wohlstand, Nürnberg 1795, S. 93f.

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grundlegende Rolle als antagonistisches Prinzip, und ihr wird, trotz zunehmender Säkularisierung und Aufklärung, ausgerechnet bei der Frage nach ‚wahrem Patriotismus‛ eine Schlüsselfunktion zugewiesen. So hat beispielsweise der durchaus objektiv argumentierende Hegel in seiner Allgemeinen Judenbekehrung, oder die Möglichkeit die Juden, mit Vernunft und Billigkeit, zu Christen, und, zu nützlichern und glücklichern Staatsbürgern, zu machen (Gießen 1792) die These unterstützt, wonach das Christsein (und zwar hier im Gegensatz zum Judesein) maßgeblich für die Qualität des staatsbürgerlichen Handelns sei. In einer Rezension des Textes ist überdies zu lesen: Zu hoffen stände wohl noch ein allgemeiner Uebertritt der Juden zum Christenthume. Zu wünschen wäre er ohnehin, in sofern jedem rohen Volke Bildung und Aufklärung zu seiner eigenen Glückseligkeit zu wünschen ist. Auch vortheilhaft wäre er, weil ein gebildetes Volk brauchbarer im Staate ist, als ein rohes und mit Vorurtheilen beladenes. 14

Dem Juden wird nachgesagt, deswegen ein untauglicher, ein inauthentischer Staatsbürger zu sein, weil er das Gesetz seiner Religion höherrangig als das geltende Staatsgesetz behandelt, obwohl in allen anklagenden Schriften kein Beispiel für eine solche Kollision beider Prinzipien aufgeführt wird. Stattdessen wird allgemein darüber spekuliert, warum es nur so sein kann, dass sich der Jude als verräterisch und unaufrichtig erweisen muss: Man sagt, daß das trennende Ceremonialgesetz der Juden, ihr für unser Clima so wenig, als feste und bindende Beschäftigung taugende Temperament, ihre noch immer mit fanatischer Sehnsucht erwartete Ankunft eines Messias und Rückkehr nach Palästina sie immer zu unsichern Unterthanen mache, die keiner wahren patriotischen Theilnehmung und Bürgertu gend fähig seyn, und daß ihre schwärmererische Erwartungen wenigstens von unruhigen Köpfen können benutzt, und allemal dem Staate gefährlich werden. 15

Juden besetzen auf diese Weise nach Ansicht der verschiedenen Autoren eine Abseitsposition, aus der sie sich nur durch Aufgabe ihres Judeseins befreien können. Die Zwangsläufigkeit, die sich durch die Zuschreibungen ergibt, verdeutlichen, dass die Stereotypbesetzung des Jüdischen als inauthentisch in den knapp vierhundert Jahren seit der Reformation nicht die geringste Erosion erfahren hat. Nicht weil Person A diesen und jenen Charakterzug trägt, nicht weil sich Person A als Individuum im Alltag als Ausführender abzulehnender Handlungen entpuppt, begegnet man Person A mit Aversion. Sondern: Weil alle Personen A-x jüdisch sind, werden sie ohne Rücksicht auf individuelle Ausrichtungen missbilligt. Das mutet vor allem im subjektbezogenen 19. Jahrhundert sonderbar an. Und wo einige Au-

14 15

In: Carl. E. Bohn (Hrsg.): Neue Allgemeine deutsche Bibliothek/Anhang, Kiel 1798, S. 30. In einer Rezension des Aufsatzes „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ (1781) von Christian Conrad Wilhelm von Dohm, in: Ibid. Bd. 59, (Hrsg. Friedrich Nicolai), Berlin/Stettin 1784, S 28.

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toren noch nach Jahrhunderten die Taufe der Juden fordern, gibt es gleichfalls jene Stimmen, die das ‚Problem‛ durch eine Taufe längst nicht behoben sehen: Die ganze Untauglichkeit der Juden, welche angenommen werden muss, […] kann doch durch die Taufe nicht mit einemmale weggenommen werden! Es fragt sich also, was hätte der Staat zu thun, wenn die ganze jüdische Nation auf einmal den Entschluss fasste, sich taufen zu lassen? Oder, da dies wohl nie geschehen wird, was ist zu thun, wenn einzelne Juden Christen werden? Ist es weise, billig, vortheilhaft, die Einschränkungen, denen man sie ihrer angestammten Unart wegen unterwerfen musste, sofort aufzuheben, und sie den übrigen Bürgern gleichzustellen?16

Der Jude als der ewig Außenstehende, für welchen es keine ‚Lösung‛ gibt – das vermeintliche Dilemma erfährt im beginnenden 19. Jahrhundert allmählich und nicht zufällig vor dem Hintergrund der jüdischen Emanzipation eine einsetzende Kulminierung. Das Moment der Nichtzugehörigkeit der Juden, welches vor allem in der Diskussion um die Fähigkeit als ‚echter Staatsbürger‛ zu agieren eine besondere Gewichtung erfährt, manifestiert sich dabei aus antisemitischer Perspektive, wie mehrfach dargelegt, im Bereich der nationalen Zugehörigkeit. Die gleichzeitig bestehende antijüdische Betrachtung sieht die Juden dem moralischen Menschengeschlecht nicht zugehörig. Somit würde eine Integration der Juden in eine nicht-jüdische Gesellschaft stets fehlschlagen. Für Juden blieb durch die Zerstörung kein Staat, keine Gesellschaft mehr. So hat der Unrei ne keinen Theil mehr am Staate Gottes, an dem Umgang, der Gemeinschaft, der Gesellschaft der Engeln und seligen Geistern. Er ist kein Bürger, kein Glied des Himmels mehr. […] Er ist wie enterbet und aller Vorzüge des ewigen Reiches beraubet.17

Der Jude wird als ein Mensch beschrieben, der an keiner ‚gesunden‛ Gesellschaft partizipieren sollte, damit sie nicht ‚verdorben‛ werde. Natürlich deutet diese Einstellung bereits die Problematik dessen an, was dem kulturschaffenden Juden im 19. Jahrhundert widerfährt – die Domäne des echten Fühlens und der authentischen Selbstdarstellung ist unter diesen Vorzeichen die letzte, innerhalb welcher dem Juden aus antisemitischer und antijüdischer Perspektive eine Teilhabe legitimiert werden kann. Eine weitere Besonderheit, die sich mit dem jüdischen Glauben verbindet, wird durch die gemeinsame und international verwendete Sprache gebildet, welche in weniger freundlichen Einschätzungen einen zusätzlichen Keil zwischen den ‚echten Deutschen‛ und den Juden treibt. Die Prädikatisierung von ‚international‛ 16

17

Allgemeine Literatur-Zeitung (Ausgabe Juni 1799), unter „kleinere Schriften“ (anonymus), Jahresband (2. Bd.), Leipzig 1799, S. 751. Edilbert Menne: Neubearbeitete Predigtentwuerfe auf alle Sonntage , Augsburg 1791, S. 420.

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wird dabei nahezu antithetisch zu ‚national‛ begriffen, und insofern trotz Ermangelung eines jüdischen Staates eine internationale, also eben nicht konkret auf die Heimatnation bezogene Überdachung in Form der synagogalen hebräischen Sprache den Juden auf der ganzen Welt einen verbindenden Raum bietet, markiert sie damit gleichermaßen eine Abgrenzung zur heimatlichen Kultur. Die Besonderheit in der Nutzung der hebräischen Sprache im beginnenden 19. Jahrhundert liegt in ihrer Verfassung, die man salopp als ‚halbtot‛ überschreiben könnte, was vor allem für den nicht-jüdischen Außenstehenden eine Eigentümlichkeit birgt: Weit entfernt von ihren Wurzeln hat sich die ursprünglich hebräische Sprache zu einer Chimäre zwischen einer geschriebenen, unbelebten Gelehrtensprache und völlig anders behandelten, sich weiterhin entfaltenden Volkssprache entwickelt, welche unzählige Ausrichtungen vorweist18 und sich in Deutschland bis zum beginnenden 19. Jahrhundert aktiv und mehrheitlich gesprochen im Jiddischen niederschlägt.19 Die mangelnde Authentizität wird den Juden in ihrer Art zu sprechen dabei auf doppelte Weise vorgeworfen, und zwar ohne einen notwendig antijüdischen oder antisemitischen Hintergrund: 1. 2.

Der Jude entstellt die hebräische Sprache, insofern er sie inauthentisch nutzt. Der Jude entstellt die deutsche Sprache, indem er sich ihrer auf unvollkommene Weise bedient.

Kurios ist dieser Vorwurf insofern, als er sich in beiden Fällen auf das Jiddische bezieht, welches sich mitsamt seinen hebräischen Wurzeln unter dem Einfluss der deutschen Sprache entwickelt hat. Ehe beide Punkte etwas detaillierter geprüft werden, wird kurz die Notwendigkeit erläutert, welche gebietet, das Authentizitätsproblem in der Zuschreibung des ‚Jüdischen‛ im Zusammenhang mit der Beurteilung der jüdischen Sprache zu fokussieren. Da die Sprache eines Volkes eng mit dessen Kulturentwicklung verknüpft ist und insbesondere ästhetische Musikbetrachtungen stets mit der Frage nach dem Um18

19

„Man mag es nehmen, wie man will, die hebräische Sprache hat das Eigene, noch immer eine Art lebendiger Volkssprache, und zu gleicher Zeit todte, Gelehrtensprache zu sein, wozu denn, von christlicher Seite, noch das Studium derselben, der Lektüre der heil. Schrift wegen, kommt. Während sie in den Ländern der slawischen und muhamedanischen Völker noch vielfach im Munde der jüdischen Masse lebt, und sich in der Gegenwart rasch bewegt, ist sie bei den jüdischen Gelehrten der germanischen Welt noch eine stark benutzte Handhabe des schriftlichen Ausdrucks – man denke nur an die zahllosen Atteste für Lehrer, Au toren und Bettler, die immerfort cursiren […]“ in: Allgemeine Zeitung des Judenthums – literarisches homiletisches Beiblatt No. 13, (Hrsg. Ludwig Philippson), Leipzig 1839, S. 1. Für eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Thema s. z.B. Arndt Kremer: Deutsche Juden, deutsche Sprache – jüdische und judenfeindliche Sprachkonzepte 1893-1933 , Berlin 2007; Michael Brenner: Jüdische Sprachen in deutscher Umwelt – Hebräisch und Jiddisch von der Aufklärung bis in das 20. Jahrhundert (wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft Leo Baeck Institut in der Bundesrepublik Deutschland), Göttingen 2002.

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gang mit Sprache verwoben sind (vgl. Forkel), fungiert die Bewertung der jüdischen Sprechpraxis und des jüdischen Schrifttums als maßgebliches Element für die Einschätzung von kultureller Authentizität. Indem schließlich Wagner 1850 als wesentliches Moment der kulturellen Inauthentizität der Juden mit deren Sprache nachzuweisen versucht, bedient er sich einer Polemik, deren Urheber er nicht ist: Ungleich wichtiger, ja entscheidend wichtig ist jedoch die Beachtung der Wirkung auf uns, welche der Jude durch seine Sprache hervorbringt; und namentlich ist dieß der wesentliche Anhaltspunkt für die Ergründung des jüdischen Einflusses auf die Musik. - Der Jude spricht die Sprache der Nation, unter welcher er von Geschlecht zu Geschlecht lebt, aber er spricht sie immer als Ausländer.20

Die Ansichten, die mit 1. und 2. korrespondieren, etablierten sich aus naheliegenden Gründen ohne ein Zutun Wagners in nicht wenigen Köpfen der bildungsbürgerlichen Schicht des 18. und 19. Jahrhunderts in Deutschland. So ist 1792 in der Allgemeinen Literatur-Zeitung zu lesen: Sie [die Juden] brachten ihre verderbte Sprache nach England und Holland, nach Pohlen und Russland, und erhielten sie von dorther noch verderbter wieder zurück. […] So entstand und erhielt sich eine völlig regellose, vermischte und ungebildete Sprache unter den Juden, der wir den Namen Judendeutsch beylegen […]. 21

Die hier genutzte Terminologie lässt bereits zu diesem Zeitpunkt Töne anklingen, welche knapp 150 Jahre später als kulturpolitische ästhetische Einschätzung des jüdischen Wirkens in drastischerer Form begegnen. Von ‚verderbt‛ ist die Rede, und in der Verbindung des hier stets begleitenden Gedanken der ‚Originalität‛ ist es eben jene ‚Verderbtheit‛, welche erst einer ‚Originalität‛ bedarf, um ihre schädliche Wirkkraft zu entfalten. Das ‚Original‛ ist, wie durch 1. und 2. beschrieben, sowohl als die hebräische als auch als die deutsche Sprache zu verstehen. Schließlich ist es nichts anderes als das Jiddische, das ‚Judendeutsch‛, welches Goethe mit seiner Beschreibung zu fassen versucht: […] denn indem ich mir das barocke Judendeutsch zuzueignen und es eben so gut zu schreiben suchte, als ich es lesen konnte, fand ich bald, daß mir die Kenntniß des Hebräischen fehlte, wovon sich das moderne verdorbene und verzerrte allein ableiten und mit einiger Si cherheit behandeln ließ.22

Die Einschätzung des Jiddischen als ‚verderbtes, modernes Hebräisch‛ muss dabei keiner bewusst formulierten Geringschätzung gleichkommen, sie charakterisiert vielmehr mit gewisser Selbstverständlichkeit als auch einer zeitgemäßen Termino20 21 22

Richard Wagner: Das Judenthum in der Musik, S. 103. Allgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 253 vom 24. September 1792, Jena, S. 1. Johann Wolfgang von Goethe: Werke, vollständige Ausgabe letzter Hand , Bd. 24 („Aus meinem Leben – Dichtung und Wahrheit“), Stuttgart/Tübingen 1829, S. 197.

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logie genau jene Irritation, die sich für den nicht-jüdischen Außenstehenden leicht ergeben kann, wenn er sich erstmals mit der jiddischen Sprache konfrontiert sieht. Die Zuschreibung des ‚Verderbtseins‛ verbindet sich nicht zufällig mit dem im 20. Jahrhundert benutzten Begriff der ‚Entartung‛; beides verbindet sich mit einer Verzerrung (vgl. Goethe) des Ursprünglichen. Indem Isaak Markus Jost, ein jüdischer Historiker des 19. Jahrhunderts, selbst auf das Prädikat der ‚Entartung‛ zurückgreift, um den Sprachlernprozess von David Gans darzustellen, wird deutlich, dass es sich bei diesen Begrifflichkeiten wie ‚verderbt‛ und ‚entartet‛ um kaum mehr als eine ästhetische Bewertung handelt: Die deutsche Sprache lernte der Jude nur in dem eigenthümlichen Dialecte, der vom Rheine her, mit halbfranzösischen Ausdrücken und Wendungen entartet, herüber gekommen war, kennen […].23

Auch andere Einschätzungen von jüdischer Seite fanden teilweise recht ablehnende Worte für das im 19. Jahrhundert teilweise noch etablierte Judendeutsch, und einige Autoren erklären dabei gleichfalls die phonetischen Besonderheiten als zu überwinden: Denn wenn wir schon die Muttersprache im Allgemeinen angenommen haben, warum sollten wir nun uns nicht auch ihrer Schriftzüge allgemein bedienen? Besonders da die jüdischdeutschen oder hebräisierenden Charaktere, und jene Buchstaben, deren wir uns dabey als Vocales, vorzüglich nach der corrupt polnisch-deutschen Aussprache bedienen, nicht geschickt sind alle in der deutschen Sprache vorkommende Töne nach Gebühr auszudrücken. Ein rein deutscher Aufsatz oder Brief mit jüdisch-deutschen Lettern gedruckt oder geschrieben, kommt mir eben so komisch vor, als ein nach der neuesten Mode gekleideter europäi scher Elegant mit einem Turban auf dem Kopfe und Sandalien auf den Füßen einhergehend. Und wahrlich, wozu diese Schriftzüge, die weder hebräisch, noch deutsch sind […] ?24

Anzumerken ist bei dieser Ausführung, dass die Zuschreibung des Corrupten nicht weniger ist als der Hinweis auf die Verderbtheit einer Sache, und auch die jüdischen Autoren attestieren dem Judendeutsch, als ein Durcheinander der hebräischen und der deutschen Sprache keiner völlig zu genügen. Auch Moses Mendelssohn macht keinen Hehl aus seiner Ablehnung des Jiddischen und teilt sich 1782 dem Freund Ernst Ferdinand Klein ganz dem Aufklärungsauftrag entsprechend mit:

23

24

Isaak Markus Jost: Geschichte der Israeliten seit der Zeit der Maccabaer bis auf unsre Tage , Bd. 8, Berlin 1828, S. 251. Peter Beer: Josephus Flavius‛ Geschichte der Juden: von ihrer Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft bis zur Zerstörung des zweyten Tempels, Wien 1808, S. 18.

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Ich fürchte, dieser Jargon hat nicht wenig zur Unsittlichkeit des gemeinen Mannes beigetra gen, und verspreche mir sehr gute Wirkung von dem unter meinen Brüdern seit einiger Zeit aufkommenden Gebrauch der reinen deutschen Mundart. Wie würde es mich kränken, wenn die Landesgesetze selbst jenem Mißbrauche beider Sprachen gleichsam das Wort redeten!25

Die Ablehnung des Jiddischen ist also nicht ohne Weiteres als ein eindeutiger Hinweis auf Antijudaismus bzw. Antisemitismus zu deuten, sondern entspricht einem auf beiden Seiten gezeichneten Idealbild, das sich der beginnenden Assimilationsbewegung verdankt. Zeitgenössische Einschätzungen, die von nicht-jüdischer Seite geleistet wurden und zu einem ähnlichen Ergebnis gelangen, sind dementsprechend nur nach genauer Prüfung als antisemitisch zu kennzeichnen. Man muss also genau unter scheiden zwischen einer reinen Sachbewertung, welche moralische Komponenten ausschließt, und den antisemitischen Einschlägen, welche die dargestellten Sachverhalte für eigene Zwecke missbrauchen. Wo vor allem die ‚Entartung‛ im Sprachgebrauch nach 1945 stark konnotiert ist, lässt sich die durch Jost und Beer dargestellte Verwendung als Beispiel dafür gebrauchen, wie sich der Anspruch an Originalität auch ohne tiefer greifende Bewertung einer Volksgruppe niederschlagen kann. Die Übergänge zu unverhältnismäßigen Aburteilungen sind jedoch fließend, was mittlerweile zu jener Vorsichtshaltung geführt hat, die sachliche Einschätzungen, wie sie weiter oben geleistet wurden, ohne Rücksicht auf den Autor, schnell in den Verdacht der ‚Heikelkeit‛ rücken lässt. Recherchiert man in Periodika, die noch vor Josts oder Beers Zeitgenossenschaft publiziert wurden, erhärtet sich der Eindruck eines fließenden Übergangs zwischen sachlicher Darstellung und Polemik: In Anlehnung unsrer Sprache aber machten sie es wie alle Fremdlinge; die vermischten sie mit der ihrigen und sprachen das, was sie aus der Uebung erlernten, äußerst unrichtig aus. […] so wird es sich leicht erklären lassen, wie die deutsche Sprache, in seinem Munde, solch eine barbarische Form behalten konnte.26

Die Unausweichlichkeit, die sich vor allem für sozial schwächer gestellte Juden durch die Emanzipation mit dem zum Teil nicht unproblematischen Erwerb der deutschen Sprache verbindet, lässt sich nur mit einem nahezu aggressiven philosemitischen Hintergrund leugnen. Zu unterscheiden ist deshalb zwischen der sachbezogenen Feststellung, welche keine ethische Beurteilung anbietet, und der Verwertung derselben als alleinige Grundlagenschaffung für infame Unterstellungen, wie es im letzten und im folgenden Zitat deutlich wird.

25 26

Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften, Bd. 13 (Briefwechsel III), Berlin 1977, S. 80. Allgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 253 vom 24. September 1792, Jena, S. 1.

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Als Akt der Böswilligkeit interpretiert beispielsweise die Fürstlich-Hessen-Darmstädtische Verordnung von 1785 die Nutzung der judendeutschen Sprache durch die Juden: Gerichtliche und viele andere Beobachtungen haben die mannichfaltige Nachtheile anschaulich gemacht, welche der Gebrauch der ebräischen und jüdisch-teutschen Sprache mit sich führt, den sich die Juden […] erlaubt haben; des Mißstandes nicht zu gedenken, daß tolerirte Menschen der herrschenden Nation in so vielen Fällen entweder unverständlich bleiben, oder sie zur Erlernung jener todten und verdorbenen Sprache fast nöthigen wollen. 27

Wie ein roter Faden durchzieht die ‚Verderbtheit‛, die sich nach Auffassung verschiedener Autoren während und nach der Aufklärung mit der jüdischen Sprache verbindet,28 als maßgebliches Urteil die verschiedenen Schriften und belegt hinreichend, inwiefern auf linguistischer Ebene – also einer im Wesentlichen kulturellen – die Einschätzung der Juden als inauthentisch mit Selbstverständlichkeit vollzogen wurde. Das Bild des die deutsche Sprache unzulänglich ‚nachahmenden‛ Juden bildet der antisemitischen Einschätzung der Juden als generell unoriginell und kulturell epigonal eine allzu taugliche Grundlage des polemischen Argumentierens, welche sich besonders durch den Mangel an Differenziertheit auszeichnet. Auf diesen Argumentationsduktus ist zurückzuführen, dass sich bis heute eine Diskussion um die Schwierigkeiten der Juden in der kulturellen Verankerung im deutschsprachigen Raum des 19. und 20. Jahrhunderts nicht ganz unproblematisch gestaltet und mitunter zu rasch judenfeindliche Tendenzen unterstellt werden. Das Moment der Nachahmung ist dabei womöglich das relevanteste und soll im Folgenden in seinen verschiedenen Facetten etwas eingehender betrachtet werden.

27

28

In: Etwas über die bürgerliche Verfassung und Verbesserung der Juden, gesammlet von Carl Georg von Zangen, Gießen 1799, S. 57. So ist beispielsweise Johann Gottfried Herder als einer der prominenteren Judenkritiker zu beurteilen, der die ‚Inauthentizität der jüdischen Sprache‛ im Falle des Judendeutsches auf die „jüdischen Sprachverderber“ zurückführt. Vgl. Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke – Zur Religion und Theologie (Bd. 17), Stuttgart/Tübingen 1830, S. 141. Die ‚Verderbtheit‛ der jüdischen Sprache ist darüber hinaus freilich ein Topos, der auf eine ähnlich lange Geschichte zurückblicken kann, wie die Diffamierung der Juden im Allgemeinen (vgl. dazu z.B. die hier geführte Diskussion um die Inauthentizität der Juden unter Luther). Vor dem Hintergrund der Einschätzung des zeitgenössischen kulturellen Schaffens durch die Juden erfährt dieser Gemeinplatz jedoch erst ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert seine besondere Gewichtung, die sich bis in den Nationalsozialismus erhalten hat.

7. Nachahmung als Assimilationswerkzeug

Ist es in Bezug auf die Einschätzung des Judendeutsches und auf die v.a. im ersten Teil des 19. Jahrhunderts durchaus bestehende Sprachproblematik bei den Juden im deutschsprachigen Raum schon heikel genug, die Grenze zwischen faktenbezogenen Feststellungen und geschickt geführter Polemik zu präzisieren, scheint die Unterscheidung zwischen der vorgeworfenen und der eingestandenen Nachahmung der umgebenden Kultur durch die Juden ungleich schwieriger. Sinnvoll ist es deshalb sicher, der Frage nachzugehen, inwiefern auf jüdischer Seite das Nachahmungsmoment reflektiert wurde. Würde man aus heutiger Sicht die Juden des beginnenden 19. Jahrhunderts als eine in sich nicht geschlossene, ‚anorganische Masse‛ bezeichnen, erhielte diese Einschätzung aufgrund der nahen Verwandtschaft zur nationalsozialistischen Terminologie, welche dem Judentum das ‚Anorganische‛ und ‚Ungesunde‛1 anheftet, sehr schnell die Etikettierung der Judenfeindlichkeit. An den damals herrschenden Gegebenheiten ändert die deshalb angeratene Vorsicht jedoch wenig, und so ist 1837 seitens jüdischer Gelehrten zu lesen: Mit der Zerstreuung der Juden in alle Welttheile, mit dem Verluste ihrer Selbstständigkeit und ihrer Heimath, betraten dieselben die politische Laufbahn von Neuem. Sie waren wieder zurückgeworfen in den ungesellschaftlichen Zustand, sie waren wieder eine formlose, anorganische, atomistische Masse […].2

Eine Autonomie der Juden ließ sich nach jüdischer Einschätzung und trotz des bestehenden Bedauerns darüber durch die Diaspora nicht aufrecht erhalten, erst recht keine kulturelle. Zwar gelten grobe Formen, welche alle jüdischen Gruppen untereinander verbindet3 – in erster Linie seien hier noch fortbestehende Traditionen religiöser Praxis und Lehre genannt – eine umfassende eigenständige Soziokultur hat sich aus den genannten Gründen jedoch nicht autonom entwickeln können. Vielmehr sehen sich die Juden des 19. Jahrhunderts einer kulturellen Heteronomie ausgesetzt, die für sie im Zusammenhang einer wenigstens individuellen autonomen Kulturentwicklung maßgeblich ist. Diese Heteronomie wird im nämlichen Text betont:

1

2

3

Vgl. z.B. diverse Prädikatisierungen des Jüdischen durch Joseph Goebbels. (Beispielsweise: „Sonst geht Europa an der jüdischen Krankheit zu Grunde.“ Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 2, München 2006, S. 47.) „Was heißt das Judenthum?“, in: Allgemeine Zeitung des Judentums , (Hrsg. Ludwig Philippson u.a.), Berlin 1837 (Heft 1), S. 2. „Das Judenthum ist eine Erscheinung, die, im frühesten Alterthum wurzelnd, durch den Bildungsproceß von Jahrtausenden gegangen, viele verschiedene Formen angenommen, ohne daß sich nicht eine ganz eigenthümliche und standhaft, gleiche innere Richtung darin erkennen ließe.“ A.a.O.

Nachahmung als Assimilationswerkzeug

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Ist dies die reine, innere Tendenz, die in der Gegenwart noch längst nicht gelöst, aber ganz klar zu erkennen ist, so mußten natürlich die äußern Umstände und Verhältnisse mannigfaltig darauf einwirken, da die Juden nicht, wie früher, unabhängig und sich selbst überlassen, ihren Bildungsgang nehmen konnten, sondern in völliger Abhängigkeit von den Völkern, in deren Mitte sie lebten, waren.4

Insofern die jüdischen Bürger abhängig von der sie umgebenden Kultur leben, entwickelt sich nach Ansicht des Autors ganz zwangsläufig das Phänomen der Nachahmung. Diese Folgerichtigkeit unterscheidet sich jedoch ganz erheblich von den Darstellungen, welche antisemitische Positionen als ursprüngliches Nachahmungsmotiv beschreiben. Die antisemitische Position verbindet die Zwangsläufigkeit mit dem Umstand des Judeseins und nährt damit rassenpolitische Ansätze. Eingebettet in derartige Überlegungen wäre demnach die Behauptung, dass eine deutsche, nicht-jüdische kulturelle Minderheit unter den gleichen Umständen keine Nachahmungsbestrebungen der sie umgebenden Kultur entwickeln würde. Aus jüdischer Perspektive ergibt sich die Zwangsläufigkeit der Nachahmung hingegen als eben solche – als zwangsläufig und damit völlig unabhängig von der sie betreffenden Gruppe: Die kulturelle Minderheit gewinnt ihre Form aus der mehrheitlichen Kultur und gibt dabei immerhin minimal wechselwirkend einige Spezifika zurück. Dieser Vorgang lässt sich leicht mit dem physikalischen Prozess der Diffusion vergleichen, bei welchem das Konzentrationsgefälle insofern ausgeglichen wird, als der dominierende Stoff den schwächer konzentrierten durchwirkt, andererseits aber selbst schwach mit ihm vermengt wird. Dieser Prozess der Transkulturalisierung5, der sich aus der zuvor bestehenden Interkulturalität ergibt, ist auf nicht-jüdischer Seite dann zu beobachten, wenn die explizite Auseinandersetzung mit dem Judentum jenseits der politischen, philosophischen und historischen Gebiete ihren Niederschlag im nicht-jüdischen Kunst- und Kulturschaffen findet, was im 19. Jahrhundert und auch schon davor an unzähligen Beispielen nachzuweisen ist.6 Der maßgebliche Teil der Nachahmungen bzw. Übernahmen erfolgte 4 5

6

A.a.O. Als Begriff eingeführt von Wolfgang Welsch, dabei in der Hauptsache bezogen auf kulturre levante Phänomene der Globalisierung, wird hier wegen seiner beträchtlichen Deckungsgleichheit im Kontext der deutsch-jüdischen Kulturentwicklung des 19. Jahrhunderts angewendet. Welschs Ausführungen dazu sind u.a. nachzulesen in: „Transkulturalität – Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen“ ( Information Philosophie, Lörrach 1992, S. 5-20) oder „Transkulturelle Gesellschaften“ (Kultur in Zeiten der Globalisierung. Neue Aspekte einer soziologischen Kategorie, Frankfurt/Main 2005, S. 39-67). Vgl. dazu z.B. Franz Theodor Wangenheim: Der Jude des 19. Jahrhunderts, Roman in 2 Bänden, Leipzig 1835; ebenso die literarisch verarbeitete Bedeutung hebräischer Schriftzeichen in Anette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche (Ditzingen 1992); Carl Spindler: Der Jude. Deutsches Sittengemälde aus der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts (Stuttgart 1827), 4 Bände; natürlich auch die schon früher erfolgte literarische Auseinandersetzung mit der jüdischen Kultur in Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise (1779) u.v.m. Darüber hinaus gilt selbstverständlich auch die Übernahme jiddischer Ausdrücke in die deutsche Sprache als weiteres Indiz für die eben nicht einseitig erfolgte Aufnahme einer Kultur in die andere. In das Deutsche Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm

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natürlich der Relation der kulturellen Konzentration entsprechend in der Umkehrung. Diesem Phänomen ethisch abwertend begegnen zu wollen, ist aufgrund seiner Zwangsläufigkeit unzulässig. Achad Ha'am, der Begründer des Kultur-Zionismus, stellt im ausgehenden 19. Jahrhundert in seinem bis heute bedeutsamen Aufsatz „Nachahmung und Assimilation“ sowohl rück- als auch ausblickend fest, dass jüdische Assimilationsbestrebungen auf der Nachahmungsgrundlage allenfalls eine positive Beurteilung erfahren dürfen und sollten. Sein Aufsatz ist insofern für die hier vollzogene Untersuchung von besonderer Relevanz, als er einen essentiellen Einblick in die jüdische Wahrnehmung der Epigonalitätsproblematik gewährt; aus diesem Grund werden die entscheidenden Passagen in ihrer Gesamtheit zitiert. Einführend in seine Ab handlung stellt Achad Ha'am die bislang etablierte Zuordnung des Nachahmens als negativ zu bewertenden Prozess in Frage: Mit dem Worte „Nachahmung“ bezeichnen wir — zumeist in ungünstigem Sinne — alles, was der Mensch spricht und tut, denkt und empfindet, nicht aus der Tiefe seiner Eigenart heraus, nicht als notwendige Folge aus dem Zustande seiner seelischen Kräfte und ihres Verhältnisses zur Außenwelt, sondern infolge der in ihm eingewurzelten Neigung, es anderen gleich zu tun, es selbst so zu machen, nur weil andere es so machen. […] [S]o genügt doch schon ein wenig Nachdenken, um die Richtigkeit der Grundtatsache anzuerkennen, dass diese hässliche Eigenschaft in der Tat eine der Grundlagen der menschlichen Gesellschaft bildet, ohne welche diese weder entstehen, noch nach ihrer Entstehung sich hätte entwickeln können. Dies ist ja auch ganz natürlich. Denn waren die Menschen so beschaffen, dass sie in keinem Punkte voneinander beeinflusst würden, sondern ein jeder „aus der Tiefe seiner Eigenart heraus“ denken und handeln würde, ohne irgendeine fremde geistige Macht auf sich einwirken zu lassen, — wie wären dann je solche Menschen zu konventionellen, so zialen Gütern gelangt, zu festen Gesetzen und Sitten, zu allgemeinen religiösen und sittlichen Begriffen und dergleichen Dingen mehr, die in ihrer Gesamtheit zwar alle natürliche Folgen aus allgemeinen Ursachen sind, aber in ihren Einzelheiten besondere individuelle Ursachen voraussetzen? […] Und so wäre der Mensch ohne Sprache geblieben und hätte sich nie aus dem tierischen Zustande empor gerungen.7

Eine so geartete Auseinandersetzung mit der Frage nach einer überhaupt bestehenden ethischen Bewertbarkeit von Nachahmung, welche als Gegenstück die völlig autonome Schaffung eines Individuums „aus der Tiefe seiner Eigenart heraus“ postuliert, deckt sich mit der in der allgemeinen Begriffsdiskussion vorgestellten Überlegung, dass eine diesseitige ‚Originalkreation‛ de facto nicht denkbar ist, sondern jeder Schöpfungsakt eine Rekombination bereits bestehender Faktoren markiert. Hier wird Originalität als absoluter, nicht wie in einer Vielzahl kunstästhetischer

7

haben dabei u.a. Begriffe wie ‚schäkern‛, ‚Schlamassel‛ oder auch ‚kabbeln‛ Einzug gehalten. Achad Ha'am verfasste den Aufsatz „Nachahmung und Assimilation“ 1893, hier in der deutschen Übersetzung von Israel Friedländer in: Die Welt, Hrsg. Leon Kellner in Wien, Nr. 38 1901, S. 9f., Nr. 39 1901, S. 4ff.

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Betrachtungen als quantitativer Begriff gehandhabt (dem völlig entsprechend wurde in der Diskussion um Forkels Originalitätsbegriff Goethes Auffassung zitiert). Um sinnvoll an einer Gesellschaft teilnehmen zu können, argumentiert Achad Ha'am, bedarf es eines verbindenden Elements für alle Bürger, das ihre produktiven und moralischen Handlungen bündelt: Um daher der ganzen Gesellschaft ein einheitliches Gepräge zu geben, ist es notwendig, dass ein gemeinsamer Mittelpunkt existiere, der imstande ist, sich alle Herzen zu unterwerfen […].8

Dieses verbindende Element speist sich, Achad Ha'am zufolge, aus dem, was bereits besteht, und nicht aus dem, was erst noch entwickelt werden kann. Den gemeinsamen Mittelpunkt der Nachahmung bildet dann lediglich die Vergangenheit, die Gesamtheit jener „zentralen Männer“, die zu ihren Lebzeiten ihr persönliches Gepräge der ganzen Gesellschaft aufdrückten.9

Die Besinnung auf einen schon vorliegenden Wertekanon, auf Leistungen der verschiedenen Lebens- und Berufsfelder modelliert nach Achad Ha'am eine sinnvolle Gesellschaftsgrundlage, welche allen Individuen zugänglich ist. Nicht zufällig verläuft diese Einschätzung parallel zu dem ausgeprägten Traditionsbewusstsein, das der jüdischen Religion eigen ist. Insofern Traditionalität nicht als Gegenmodell zur Originalität, sondern als deren Grundlage verstanden wird, erklärt sich das unbefangene ‚Eingeständnis‛ zur Notwendigkeit der Nachahmung. Achad Ha'am unterscheidet dabei allgemein zwischen zwei Nachahmungstypen, wobei der eine auf dem anderen aufbaut: die Nachahmung aus Bewunderung/Würdigung, die er hier als ‚Selbstentäußerung‛ bezeichnet, und die Nachahmung, die auf Konkurrenz abzielt. Wenn die Nachahmung der Selbstentäußerung, die die „Ahnen“ zum Mittelpunkt hat, die retardierende Kraft bildet, die die Gesellschaft in ihrem Bestande festhält, so stellt die Nachahmung der Konkurrenz zwischen ihren Individuen die impulsive Kraft dar, die sie immer weiter vorwärts treibt, nicht durch gewaltsame Eruptionen und plötzliche Erschütterungen, sondern durch geringe, aber ununterbrochene Änderungen, die im Laufe der Zeit zu einer großen Summe anschwellen und die von den „Ahnen“ gezogenen Schranken durchbrechen.10

Auch hier wird durch den Typus der ‚selbstentäußernden Nachahmung‛ der Bogen zurück zu einer eingangs vollzogenen Erwägung geschlagen, die unter dem Punkt Wahrhaftigkeit bereits andeutet, dass eine Nachahmung, welche sich auf 8 9 10

A.a.O. Ibid., S. 10. A.a.O.

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Respekt und Würdigung eines Produktes bzw. Produzenten zurückführen lässt, insofern nicht als völlig inauthentischer Akt gelten kann, als der Nachahmende deutlich eine Position bezieht, die über seine innere Einstellung Auskunft erteilt. Achad Ha'am charakterisiert das nachahmende Judentum Deutschlands zunächst als Prototypen der ‚Selbstentäußernden‛ und liefert ein mögliches Motiv für den weiter oben mit der Diffusionsanalogie beschriebenen Prozess einer kulturellen Übernahme: Steht hingegen die eine Gesellschaft in ihren körperlichen oder geistigen Kräften hinter der anderen um viele Grade zurück, so daß sie beim Anblick dieser ihrer Gegnerin notwendig ihre eigene Nichtigkeit und das Gefühl der Selbstentäußerung empfinden muß, dann treibt sie diese Selbstentäußerung zur Nachahmung der anderen, nicht zum Zwecke der Ausprägung ihrer eigenen Individualität, sondern bloß aus „demütiger Verehrung“, und deswegen ist die Nachahmung eine vollständige, ohne jegliche Abänderung. 11

Die spiegelbildliche Nachahmung, die hier gekennzeichnet wird, verdankt sich dabei in erster Linie einer materiellen Notwendigkeit, die nur wenige oder gar keine individuellen geistigen Spezifika zulässt. Sie wird durch Achad Ha'am als wenig fruchtbar gedeutet. Er bevorzugt vielmehr jenes Nachahmungsmodell, dessen Zwangsläufigkeit zwar auch zunächst in der ‚Selbstentäußerung‛ begründet liegt, welches aber in der intrinsisch motivierten Weiterführung und Überwindung dessen erst sein ausgeprägtes Entwicklungspotential aufweisen kann: Tatsachen dieser Art bringen schließlich in den meisten Fällen dazu, dass die Führer der Gesellschaft endlich — wohl ihnen, wenn es noch rechtzeitig geschieht — ein Einsehen haben und zur Überzeugung gelangen, dass nicht die Nachahmung an und für sich die Assimilation bewirkt, sondern dass es die Selbstentäußerung ist, die vermittels der Nachahmung die Assimilation herbeiführt, dass man daher, anstatt der Nachahmung Einhalt zu tun, die Selbstentäußerung an sich überwinden muss, und zwar gleichfalls vermittels der Nachahmung, aber in Form der Konkurrenz.12

Achad Ha'ams weiterführende Argumentation verweist auf Parallelen, die auf transkultureller Ebene Phänomene der Nachahmung gebildet haben, und betont damit ihre Regelmäßigkeit – die gegenwärtige Perspektive ließe darüber hinaus eine Vielzahl an Ergänzungen zu. Der Autor spannt den Gedanken von der Antike bis zu seiner Gegenwart: In dieser Weise gestaltete sich die Nachahmung im Altertum bei den Römern in ihrem Verhältnis zur hellenischen Kultur, und in der neueren Zeit bei den Russen in ihrem Verhältnis zur Zivilisation des Westens. Beide begannen in gleicher Weise mit der Selbstentäußerung vor der fremden geistigen Macht und kopierten daher vollständig die fremde Lebensweise, die Art des Denkens, Sprechens und Handelns. Patrioten, wie der römische Cato, die dem 11 12

Die Welt, Nr. 39 1901, S. 4. Ibid. S. 4-5.

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Strom der Nachahmung einen Damm entgegensetzen wollten, hatten nur teilweisen und vorübergehenden Erfolg.13

In Achad Ha'ams Aufsatz wird an dieser und an anderen Stellen betont, dass die reine Nachahmung als vollkommene Kopie, welche ohne Anreicherung bzw. überhaupt Kenntnisnahme der eigenen Kultur weder dazu geeignet ist, zur Entwicklung der nachgeahmten oder der eigenen Kultur beizutragen, noch dauerhaft beständig sein kann. Achad Ha'am sieht zwei Entfaltungsmodelle vor, die sich aus der ‚selbstentäußernden Nachahmung‛ speisen: die Absorption der schwächeren in die stärkere Kultur oder die Stärkung der nachahmenden Kultur bei paralleler auf Nachahmung basierender Konkurrenzentwicklung. Das Assimilationsbestreben der jüdischen Kultur, welches Achad Ha'am zufolge zunächst dem Konzept der Selbstentäußerung entspricht und demgemäß mit ausgeprägten Akten der Nachahmung arbeitet, geht nach Ansicht des Autors dabei als gestärkte Kultur aus den Bewegungen des 19. Jahrhunderts hervor und kann erst durch die intensive und durch Nachahmung vollzogene Auseinandersetzung mit der fremden Kultur eine gewisse Autonomie wiedererlangen. Als sich aber lebenserfahrene Patrioten erhoben und die Nachahmung in die Gestalt der Konkurrenz hinüberzuleiten begannen, um dadurch die fremde geistige Macht, die die Selbstentäußerung verursacht hatte, im Leben ihres Volkes gemäß seiner Eigenart auszuprägen, da hörte die Selbstentäußerung von selbst auf, und die Nachahmung trug nur noch zur Stärkung des nationalen Selbstgefühles bei. Dies ist auch der Grund, weshalb das jüdische Volk in der Zerstreuung bestehen geblieben und trotz der ihm innewohnenden Nachahmungssucht in den anderen Nationen nicht aufgegangen ist.14

Aufschlussreich ist Achad Ha'ams Darstellung auch insofern, als sie eine spezifische Form von Patriotismus auf jüdischer Seite andeutet – nicht etwa die Sorge deutscher nicht-jüdischer Patrioten, welche die ‚Verunreinigung‛ der deutschen Kultur durch nachahmende Juden befürchten, wird angeführt, sondern der jüdische Patriotismus, der dem Nachahmungsphänomen mit gleicher Skepsis gegenübersteht, dabei jedoch durch den Nachahmungsprozess die vollständige Auflösung der jüdischen Kultur argwöhnt. Der Autor betrachtet diese Befürchtung jedoch als überflüssig und attestiert den Juden Souveränität gerade durch Nachahmung. Als nun die Annäherung eintrat und ungehindert zunahm, da stellte es sich regelmäßig heraus, daß die Befürchtungen der Patrioten und ihre Isolierungsmaßregeln grundlos und unnötig waren, weil das jüdische Volk nicht bloß eine große Nachahmung sucht, sondern auch eine große Nachahmungskunst besitzt. Was der Jude nachahmt, ahmt er g u t nach, und in

13 14

A.a.O. A.a.O.

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kurzer Zeit gelingt es ihm, jene fremde Kraft, die ihn früher zur Selbstentäußerung getrieben hatte, sich vollständig zu eigen zu machen.15

Achad Ha'am bietet eine Problemlösung für die ethische Anrüchigkeit in der jüdisch-deutschen Konstellation, die sich mit dem Epigonalitätsphänomen verbindet, indem er an der Unterscheidung zwischen ‚banaler‛ und ‚weiterführender‛ Nachahmung festhält und dem Judentum die für die ‚weiterführende Nachahmung‛ notwendige Qualifikation zuschreibt. Damit entlässt er seine Religionsgemeinschaft aus dem Vorwurf der mangelnden Authentizität. Hervorzuheben sind zweierlei Sachverhalte, die durch die Ausführungen Kontur gewinnen konnten: 1.

Das Phänomen der Nachahmung durch deutsche Juden im 19. Jahrhundert wurde sowohl auf nicht-jüdischer als auch auf jüdischer Seite registriert, dabei jedoch weitgehend unterschiedlich bewertet.

2. Die jüdische Seite argumentiert mit der Notwendigkeit zur Nachahmung, sowohl um kulturelle Authentizität zu entwickeln als auch zur Wahrung ihres autonomen ‚Restbestands‛. Im weiteren Verlauf wird das Modell des kulturell ‚nachahmenden Juden‛, wie ihn die nicht-jüdische Perspektive beschreibt, anhand der ‚ersten Generation‛ jüdischer Musiker, die wirkungsmächtig das Konzertleben Europas im Zuge der Emanzipation belebt hat, insbesondere am Beispiel des Komponisten Giacomo Meyerbeer konkretisiert. Dabei soll sowohl Achad Ha'ams Aufschlüsselung Anwendung finden – in erster Linie bei der Frage nach ‚banaler‛ oder ‚weiterführender‛ Nachahmung – als auch die Argumentationsstringenz, die bis zu Wagners Vorwurf reicht, Meyerbeer komponiere seiner jüdischen Natur gemäß aus Langeweile heraus, ohne inneres Bedürfen, sich selbst und andere täuschend und unfähig, ein wahres Kunstwerk zu vollbringen.16

15 16

A.a.O. Richard Wagner: „Das Judenthum in der Musik“, S. 110.

8. Die öffentliche Wahrnehmung von musikkultureller Leistung der jüdischen Emanzipation in der ersten Generation

8.1 Generelle Akkreditierung und Diskreditierung Beziehen sich bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Betrachtungen auf das musikkulturelle Schaffen im Judentum notwendig auf die vorchristliche Kultur, allenfalls auf synagogale Traditionen, erweitert sich im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert die Einschätzung auf zeitgenössische und breiter rezipierte Leistungen der Juden. Die jüdische Emanzipation, die in Europa zunächst der Französischen Revolution geschuldet war, da die Französische Nationalversammlung 1791 die Gleichstellung aller Juden im französischen Hoheitsgebiet verkündete, erreichte mit dem durch Hardenberg verabschiedeten Judenedikt 1812 schließlich einen großen Teil Preußens. Somit entfaltete sich neben anderen Gleichstellungen auf sozialer und professionsbezogener Ebene für die deutschen Juden die Möglichkeit, aktiv die kulturelle Gestaltung der Gesellschaft mitzuentwickeln. Die erste Generation jener Juden, welche die Entwicklung der jüdischen Emanzipation im musikkulturellen Gebiet miterleben und voranbringen, rekrutierte sich dabei unter anderem aus namhaften Gestalten der Musikgeschichte wie Ignaz Moscheles, Giacomo Meyerbeer und Jacques Fromental Halévy. Ihr Wirken wurde in weiten Teilen positiv beurteilt, ihre Kompetenz als beispielhaft für eine gelungene Integration gedeutet. Die Lektüre verschiedener zeitgenössischer Einschätzungen jüdischer Musiker zeichnet dabei jedoch ein mindestens ambivalentes Bild. Bereits parallel zu den freundlichen Bewertungen und Jahre vor Wagners Aufsatz verweist eine Vielzahl von Schriften auf die zunehmende antisemitische Entwicklung, was sich vor allen Dingen am Beispiel Meyerbeers, dessen Kritiker radikale und sachlich unvereinbare Gegenpositionen besetzen, konstatieren lässt. An wohlwollenden Urteilen gegenüber den kulturellen Leistungen der emanzipierten Juden mangelt es indessen nicht – 1836 ist in den Annalen der gesammten Theologie zu lesen: Daß die Juden gar wohl fähig sind, auch außer ihrem Schachergeschäft etwas Bedeutendes zu leisten, daß es ihnen weder an Anlagen zum Gewerbefleiß, noch zu Talenten zu Wissenschaft und Kunst fehle, dafür bürgt nicht blos ihre frühere Geschichte bis zum Untergang ihres Staates, das bezeugen uns auch mehrfache glückliche Versuche zu ihrer Versittlichung und Naturalisation [Emanzipation, M.K.] in der letzten Zeit. Mit glücklichem Erfolg haben in der Ukraine und anderwärts Judencolonien sich auf den Ackerbau gelegt, und Moses Mendelsohn, Spinoza, Moses Kuh, Friedländer etc. glänzen als helle Sterne am Himmel un-

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serer Wissenschaft. Mit wahrem innern Beruf wandten sich Michel Beer der Dichtkunst, Mayer Beer und Moscheles der Musik zu.1

Der hier ganz selbstverständlich formulierte Konnex von „ wahrem innern Beruf“ und dem Musikschaffen Meyerbeers und Moscheles‛ erfährt in den später angeführten judenfeindlichen Einschätzungen mit der auf die jüdische Herkunft abzielenden Argumentation eine rigorose Umkehrung. Solcherart konträr geleistete Einschätzungen positionieren sich außerhalb jeder validen Beurteilung und bezeichnen kaum mehr als einen Akt der Spekulation. Zu der Wahrhaftigkeit einer inneren Berufung kann aus nahe liegenden Gründen keine zuverlässige Aussage getroffen werden, dennoch dient eine wie auch immer geartete Zuschreibung, die auf die Innerlichkeit eines Künstlers abzielt, als Indiz für die Haltung des Autors gegenüber dem jeweiligen Kunstschaffen, sodass damit ein Qualitätsurteil gewonnen wird. 1842 wird die Laudatio und positive Qualitätszuschreibung in Bezug auf jüdische Musiker erweitert: Wie in der neuen Zeit an vielen Orten, vorzüglich aber zu Wien, Prag und Pest, der Gottesdienst der Juden durch Musik veredelt wurde, ist bekannt genug. Interessant ist aber gewiß, daß unter den neuern Juden diese Kunst mit außerordentlichem Erfolge betrieben wird, und daß sogar die ausgezeichnetsten Musikkoryphäen der Neuzeit dem Judenthume angehörten oder noch angehören. Wir nennen nur Meyerbeer, Halevy und Mendelssohn-Bartholdy, Moscheles, Herz, Gusikow, Levi, Ernst, so wie die angestellten ersten Sängerinnen in Paris, Mad. Garcia, Demois. Falcon und Demois. Nathan .2

In der biblisch-geschichtlichen Darstellung der hebräischen Musik von 1834 werden den Werken von Moscheles und Henri Herz mit dem Hinweis auf die Ent wicklung einer neuen jüdischen Musikkultur „ himmlische Zaubertöne“3 bescheinigt, aber auch ohne den expliziten Verweis auf die jüdische Herkunft Moscheles‛ wird sein Wirken in der Breite außerordentlich zustimmend aufgenommen. Die Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung charakterisiert beispielsweise 1825 das virtuose Spiel des Musikers als ein „ feines, pikantes, oft phantasiereiches und dabei so zartes, so empfindungsvolles“,4 sodass der Autor zu dem Schluss kommt, 1

2

3

4

Annalen der gesammten theologischen Literatur und der christlichen Kirche überhaupt , Bd. 6, (Hrsg. Bauer, Böhm u.a.), Bayreuth 1836, S. 197. Bei der Nennung von Modes Mendelsohn ist nicht ganz klar, ob sich der Autor hier auf den haskalischen Philosophen oder, was der Schreibweise eher entsprechen würde, auf den 1783 geborenen deutsch-jüdischen Autor bezieht. Joseph Wertheimer: Die Juden in Oesterreich, 2. Bd., Leipzig 1842, S. 113. Bei dem Autor handelt es sich um einen österreichischen Juden. Peter J. Schneider: Biblisch-geschichtliche Darstellung der hebräischen Musik , Bonn 1834, S. 67. Einer der drei Pinto‛s (anonymes Pseudonym): „II Recensionen“, in: Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung, Bd. 2 (Hrsg. Adolf Bernhard Marx, der hier aber nicht die Autorschaft trägt), Berlin 1825, S. 341.

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[…] dass Herr Moscheles ein Musiker von Geburt ist, nicht blos ein gemachter, und dass er etwas schaffen kann, nicht blos machen.5

Erneut begegnet hier eine Aussage zur der Anlage eines Künstlers, die ohne Umschweife als antipodisch zu einer geistlosen Nachahmungsunterstellung verstanden werden darf, und auch der hier genannte Aspekt des empfindungsvollen Spiels setzt als Beurteilung eben das voraus, was die antisemitische Perspektive einem jüdischen Künstler umstandslos abspricht: die Befähigung zu wahrhaftigem Fühlen. Unter der Herausgeberschaft von Gustav Schilling wird Moscheles‛ Klavierspiel in der Encyklopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften eine ähnliche ‚musikalische Wahrhaftigkeit‛ beglaubigt, die sich bereits im Jugendalter abzeichnete: Dieser [der Lehrer M.K.] führte den Knaben zu Mozart's Compositionen, die derselbe bald mit einer Sicherheit und einem Feuer vortrug, daß er schon damals Kunstverständige in Erstaunen setzte, und sein einsichtsvoller Lehrer, des ernsten Eifers seines Scholaren froh, kein Bedenken trug, ihm Händel's und Seb. Bach's strengere Werke vorzulegen, deren er sich ebenfalls mit Feuer und glücklich eindringendem Kunstverstande bemächtigte.6

Nicht nur die musikalische Praxis und Virtuosität des Musikers werden in diesem Artikel gelobt, auch sein kompositorisches Schaffen wird als vortrefflich herausgestellt: Jene Etuden, die wir für sein reichstes und gediegenstes Werk halten, zeigen den hohen Sinn, der sich in dieser zweiten Hälfte seines Künstlerlebens entfaltet, am klarsten. Keine ist unter ihnen, die nicht neben einer wahrhaft neuen Erfindung und einer mächtigen Aufgabe für den Virtuosen einen ganz bestimmten durchgeführten Charakter oder eine besondere Idee offenbarte, die dem Componisten mehr oder weniger klar vorschwebte […] .7

Die Emphase der wahrhaft neuen Erfindung, welche nach Ansicht des Autors jede Etüde von Moscheles durchzieht, steht auch in diesem Fall für nichts anderes als für das Gegenteil einer Nachahmungs- und Inoriginalitätsunterstellung. Die Liste der positiven Beurteilungen jüdischer Musiker im ersten Teil des 19. Jahrhunderts ließe sich beliebig fortsetzen, wobei nicht nur ihr Schaffen als beson5 6

7

A.a.O. Gustav Schilling (Hrsg): Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften: oder Universal-Lexicon der Tonkunst, Bd. 5, Stuttgart 1841, S. 9. Der Artikel selbst wurde von Adolf Bernhard Marx verfasst, Komponist und Musiktheoretiker jüdischer Herkunft. Durch die nicht-jüdische Herausgeberschaft und ‚Absegnung‛ dieses Artikels (wie gleichermaßen und in entsprechender Umkehrung der abwertende Artikel über Meyerbeer von Ludwig Rellstab in Schillings Lexikon akzeptiert wurde) ergibt sich allerdings eine Art ‚Neutralisierung‛ der Frage nach der Herkunft des Autors, sodass die Akkreditierung von Moscheles‛ Leistung keinerlei ‚jüdische Exotik‛ trägt. Ibid., S. 10.

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ders authentisch, sondern auch deren Persönlichkeit wiederholt als angenehm und unverfälscht geschildert werden.8 Dieser Ansatz entspricht jedoch nicht der Absicht dieser Untersuchung. Die im letzten Teil dargebrachten Belege für die Akkreditierung jüdischen zeitgenössischen Musikschaffens dienen vielmehr einer Beweisführung, die darauf abzielt, dass die z.T. zeitlich parallel abgefassten niederschmetternden Kritiken, die sich vorrangig mit Meyerbeers, aber auch dem allgemeinen jüdischen Kunstschaffen auseinandersetzen, bezüglich der Theorie der angeborenen ‚jüdischen Unzulänglichkeit‛ schon in den damaligen Verhältnissen keine Gültigkeit beanspruchen und aus diesem Grund in diesem Zusammenhang vernachlässigt werden können. Nur konkret formulierte Kritikpunkte, die keiner pauschalen Anlagetheorie anhängen, können auf eine mögliche Gültigkeit hin überprüft werden. Die Schwierigkeit besteht dabei in der zumeist vollzogenen Verknüpfung zwischen Kritik und Anlagetheorie, und vor allem im ‚Fall Meyerbeer‛ bedarf es einiger Achtsamkeit, um jene Verstrickungen zu lösen. Ein 1843 in den Unterhaltungsblättern für gebildete Stände in Novellenform geschildertes und vorgeblich real erlebtes Gespräch zwischen dem Autor 9 und einem getauften Juden entspricht exakt jenem Argumentationsduktus, dessen Überprüfung wegen einer vermeintlichen Beweislast durch die ‚jüdische Anlage‛ vernachlässigt werden kann. Ähnlich wie später auch Karl Freigedank mangelt es in diesem Fall dem Autor an der Courage, diejenigen Personen, die er angreift, beim 8

9

So schildert August Schmidt 1844 seine Begegnung mit Meyerbeer als ein für ihn bedeutsa mes Ereignis: „Jetzt ist Meyerbeer ganz theilnehmend, ganz herzlich, seine Worte sind so natürlich, so ungeschminkt, man wird hingerissen von seinem liebenswürdigen Benehmen, man vergißt dem berühmten Tondichter, dem Abgott der Pariser, dem Stolz Deutschlands gegenüber zu sein […].“ Wiener Allgemeine Musik-Zeitung (Hrsg. A. Schmidt u. F. Luib), Bd. 4, Wien 1844, S. 574. Der Autor der Novelle „Der getaufte Jude“ wird mit Jean Charles angeben. Unter diesem Pseudonym publizierte der romantische deutsche Schriftsteller Karl Johann Braun von Braunthal, der in Böhmen als Archivar in Opotschno seinen Unterhalt verdiente. Bekannt ist er in erster Linie als Librettist von Conradin Kreutzers Oper Das Nachtlager in Granada. Seine Novellen, wie die hier zu besprechende, wurden z.T. als seine „schwächsten Erzeugnisse“ eingeschätzt (Vgl. Allgemeine Deutsche Biographie, Artikel „Braun“, Bd. 3, Leipzig 1876, S. 275). Bemerkenswert in dem Zusammenhang der hier zu behandelnden Problema tik ist womöglich seine Konversion vom Katholizismus zum Protestantismus im Jahre 1829 (Vgl. Constant Wurzbach: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich , 2. Bd., Wien 1857, S. 122/1). Dieser Umstand plausibilisiert aus psychologischer Perspektive Braunthals Forderung nach einer authentischen Innerlichkeit. Sein deutlich formuliertes Gefühlspostulat lässt den Autor nicht nur die vermeintlich gefühllose Intellektualität der Juden und ihre damit verbundenen kulturellen Leistungen herabsetzen, sondern es bescheinigt auch Mozarts Schaffen einen Mangel an ‚Innerlichkeit‛, was Braunthals ästhetischem Empfinden zuwiderläuft. Er fragte: „Warum findet man denn auch nicht die Komponisten von damals, z. B. den gefeierten Mozart trivial? Glaubt man denn nicht, dass es Mozart an drei Kleinigkeiten: Leidenschaft, Geist und Begeisterung gefehlt habe?“ („Nachrichten“, in: Allgemeine Musikalische Zeitung Nr. 46 , 16. November 1842, Bd. Jahrgang 44, Hrsg. Friedrich Rochlitz, Leipzig, S. 920.)

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Namen zu nennen – mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit bezieht er die Ausführungen zu den „jüdischen Tonsetzern und Virtuosen“ auf Meyerbeer und Moscheles. Zunächst aber lässt er seinen Gesprächspartner, einen getauften Juden, ganz allgemein erklären, wie sich das jüdische Wesen vermeintlich realiter darstellt. Der Autor teilt sich im Dialog die Rolle des unbescholtenen, tendenziell judenfreundlichen und etwas unerfahrenen Gutmenschen zu, dessen Kenntnislosigkeit durch das ‚aufrechte Geständnis‛ des „getauften Juden“ aufgehoben wird. „Ich habe doch selbst edelfühlende Juden kennen gelernt -“ „Was wollen sagen Ausnahmen, was werden beweisen schöne Beispiele? Das Herz des Juden ist todt, die Grabschrift können Sie lesen in seiner lauernden Miene, im Hohneszuge um seinen Mund, in jeder seiner Gesten. Betrachten Sie mich selbst. Ich bin nun Christ und – haben die schrecklichen Merkmale von angestammtem Haß, Spott, Ingrimm, selbstsüchtigem Schmerz und Dünkel sich schon aus meinen Zügen verloren? Kann ich sie wegwaschen mit meinem Strome Goldes – ?“ Bei dieser überraschenden Wendung des Gespräches erschrak ich freudig; solche Selbstverl äugnung und Wahrheit hatte ich diesem so geckenhaft erscheinenden Manne nicht zugetraut. […] „Nicht ohne Grund heißt es in seiner Lehre, daß der Jude nicht aufhören kann, Jude zu seyn. Ich bin Christ geworden aus Überzeugung, aber nur innerlich; mein äußerer Mensch wird Israel angehören, bis er im Tode bricht, und erst meiner Enkel Aussehen wird ein christliches seyn.“10

Hier stellt sich eine der frühen Überlegungen mit rassenbezogenem Inhalt vor, welche die bereits bestehende Anlagetheorie bezüglich der Innerlichkeit – in diesem Fall dient dafür die Betonung der emotionalen Defizienz und Inauthentizität der Juden – um einen signifikanten Phänotypen erweitert, der sich hier vor allem mutmaßlich in der Mimik niederschlägt. Indem weiterhin angenommen wird, dass der Phänotyp in Abhängigkeit von der zugehörigen Religion steht und entsprechend ontogenetisch veränderlich ist, impliziert diese Darstellung außerdem ein aus heutiger Sicht sonderbar anmutendes lamarckistisches Konzept, das zum Zeitpunkt der Publikation wissenschaftlich noch nicht widerlegt worden war. Entsprechend geht der Autor davon aus, dass sich die durch die Konversion vermeintlich ontogenetisch erworbenen phänotypischen Merkmale in noch stärkerem Maße in den Filialgenerationen entfalten. In der weiteren Ausführung kontrapunktiert der altbekannte Topos der christlichen Wahrhaftigkeit den vermeintlichen Mangel an jüdischer Authentizität, obwohl der theoretisch-theologische Aspekt des Christentums für den getauften Deutschen, wie er in den vorangegangenen Jahrhunderten noch eine entscheidende Rolle gespielt hat, durch die im 19. Jahrhundert zunehmende Eigenkonfessio10

Karl Johann Braun von Braunthal: „Der getaufte Jude“, in: Bohemia – Ein Unterhaltungsblatt (Hrsg. Gottfried Haase), Nr. 98, Prag 1843, S. 1.

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nalität, die zum Teil eher lose oder gar nicht mit christlicher Dogmatik verknüpft wird, stark in den Hintergrund gerückt ist. Nichtsdestoweniger ist eine der christlichen Dogmatik entsprechende Geisteshaltung in Bezug auf die ‚jüdische Falschheit‛ derart nachhaltig etabliert worden, dass sie mühelos Einzug in die keineswegs kirchennahen Unterhaltungsblätter für gebildete Stände halten konnte. „Sie sehen, ich staune; was wäre denn also nach Ihrer Meinung das dem Juden Fehlende, was verschlöße ihm das innerste Heiligthum der Kunst, denn der Geist der Negation allein kann ihn davon nicht so gewaltsam zurückweisen; was also fehlt ihm zum ächten Künstler wesen?“11

Auf diese Weise lanciert der Autor, sich selbst freilich ganz ‚sauber‛ und vermeintlich unbedarft darstellend, die für ihn eigentlich relevante Fragestellung und lässt sich durch den „getauften Juden“ aufklären, dessen Identität wenig aufschlussreich mit Freiherr von ***12 angegeben wird und sich dadurch schon im Publikationszeitraum einer Überprüfung entzieht: „Das Princip der Liebe, die Seele des Christenthums. Jedes wahre Kunstprodukt ist ein Werk der Liebe; der Jude kennt die wahre Liebe nicht, denn im Froste der Spekulation ist erkaltet sein Herz und das himmlische Feuer der Kunst vermag nicht zu schmelzen das tausendjährige Eis um seine Brust. Indem er sich hingibt mit ganzer Seele an das Christenthum, nimmt er auch allmählich die Liebe in sich auf, aber auch nur allgemach […]. “13

An Deutlichkeit steht diese Ausführung dem Duktus eines Karl Freigedank in nichts nach. Und der Brückenschlag zu den musikschaffenden Juden vollzieht sich nahtlos: „Aber die ausgezeichneten jüdischen Tonsetzer und Virtuosen und Schauspieler?“ „Tonsetzer? Wie viel ist an der Musik Wissenschaft und wieviel Kunst? Können Sie mir das sagen? Virtuosen? - Da haben Sie wieder die Technik, und wie wenige dieser Virtuosen spielen mit mehr Seele, als die schon liegt im Instrumente selbst?“14

Die vermeintlich defizitäre innerliche Wahrhaftigkeit der Juden wird als offensichtlich gewertet und auf das Musikschaffen übertragen – keine emotive, sondern eine ausschließlich verstandesmäßige Basis soll den jüdischen Musikern für ihr Schaffen dienen, Wissen(schaft) wird als antithetisch zur Kunst verstanden und kalkulierte Absicht statt eines inneren Bedürfen sowohl dem Virtuosen als auch dem Komponisten unterstellt. Wo die antisemitische Position sonst die Traditionalität als Charakteristikum der jüdischen Religion als Indikator auf die deshalb vermeintlich zwangsläufige Epigonalität deutet, erweitert sich ihr Repertoire in 11 12 13 14

Ibid., S. 2. Ibid., S. 1. Ibid., S. 2. A.a.O.

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solchen Betrachtungen um den Vorwurf der Intellektualität, der hier für innere Kälte und Absenz jedes wahren Gefühles steht. Wagner vermengt in seinem Aufsatz sieben Jahre später schließlich beide Topoi. Darstellungen, wie die hier von Braunthal geleistete, qualifizieren sich für keine argumentative Auseinandersetzung, sie überzeugen weder durch ihren pauschalisierenden Charakter noch durch den Mangel an Konkretion, der im Zusammenhang mit den Vorwürfen auffällt. Sie sind allenfalls dafür geeignet, Gleichgesinnte in ihren festgelegten Ansichten zu stärken. Im Zuge der Meyerbeerkritiken erge ben sich dagegen neben dem schwammigen Vorwurf des ‚jüdischen Komponierens‛ konkrete Anhaltspunkte, die erheblich präziser als die Auszüge der eben zitierten Novelle untersucht werden können.

8.2 Giacomo Meyerbeer: Kosmopolitismus versus romantischen Patriotismus/Nationalismus Ehe die Kritik an Meyerbeers Werk ihren vorläufigen und unrühmlichen Höhepunkt in Wagners Aufsatz findet, erfährt der Stil des Komponisten, vor allem während seiner Pariser Schaffensperiode, in Deutschland bereits eine mindestens ambivalente Bewertung, die sich zum Teil mit den Vorwürfen Wagners deckt. Zu unterscheiden ist dabei jedoch stets die Grundlage der formulierten Kritik, denn wo im Falle Wagners einzelne Kritikpunkte unlösbar an Meyerbeers Judesein gebunden sind, lässt sich daraus nicht folgern, wie es mitunter zu leichtfertig getan wurde, dass das antisemitische Motiv in den Meyerbeerkritiken ein generelles sei. Vielmehr ist es die kosmopolitische Haltung des Komponisten, die einige seiner Landsleute mitunter verstört hat, wenigstens aber stets registriert und kommentiert wurde. Ein Kosmopolit demonstriert per definitionem kein übermäßiges patriotisches oder nationalistisches Auftreten, und aus nationalistischer Perspektive des 19. Jahrhunderts ist eine kosmopolitische Grundhaltung ebenso unfruchtbar wie eine jüdisch-isolierte, insbesondere wegen ihres für napoleonsatte Patrioten bestehenden fahlen Beigeschmacks der Frankophilie. Beide Mentalitäten jedoch gleichzusetzen, ist nicht zulässig, obwohl zwischen dem Judesein der entsprechenden sozial höher gestellten Schicht und einem nach außen getragenen Kosmopolitismus im 19. Jahrhundert eine nicht zu ignorierende Korrelation nachweisbar ist. Kosmopolitismus kann im engeren Sinne als ein verbreitetes Kennzeichen gelten, das dem finanziell besser gestellten Juden des 19. Jahrhunderts zu eigen ist, dabei fügen sich aber weder Kosmopolitismus und Judesein entgegen der damals etablierten Vorstellung15 unvermeidlich aneinander, noch schließen sich Kosmopolitismus und Nicht-Judesein in irgendeiner Form aus. Die zu jener Zeit herrschende 15

Brockhaus‛ Konversationslexikon zitiert dahingehend den preußischen Kultusminister (1840-1848) Johann Albrecht Eichhorn: „Es gebe sehr viele moderne Juden, welche den Kosmopolitismus predigen; das weise aber gerade auf die Lücke in ihrem Glauben hin: es fehle ihnen das Vaterland.“ Die Gegenwart: Eine encyklopädische Darstellung der neuesten Zeitgeschichte für alle Stände, Bd. 3, Leipzig 1849, S. 258.

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tendenziell negative Behaftung des Kosmopolitismus, die vor allem von der patriotisch-nationalistischen Perspektive getragen wird, ist sowohl mit der heutigen Konnotation als auch mit der ihres ‚Vorgängerkosmopolitismus‛, der mit dem humanistischen Bildungsideal verwoben ist, nur sehr bedingt vergleichbar und war als Zuschreibung, trotz ihrer vergleichsweise dezent gehaltenen Negativität, eher schädlich als zuträglich. Meyerbeer als Paradigma des Kosmopoliten ist beispielhaft allen damit verbundenen Konsequenzen ausgesetzt – sowohl in Bezug auf seinen Personalstil als auch auf sein Werk und seine Person betreffende Kritiken. Ehe die Fragestellung jedoch die mit Meyerbeer diesbezüglich verbundenen Konkretionen berührt, soll zunächst ein deutlicheres Bild von der Öffentlichkeitswahrnehmung des Kosmopoliten im selbstverständlichen Patriotismus gezeichnet werden. Georg Schlosser lässt bereits 1783 in seinen Kleinen Schriften Eugenius den Freund Cleomathus fragen: Wo ist sein Patrioten-Geist hin, seit dem er Cosmopolit wurde? Wo ist sein Gefühl edler Offenherzigkeit hin, seitdem er unter so vielen Masken, selbst die Maske tragen mußte? 16

Der Kosmopolitismus wird hier als Indiz der Unaufrichtigkeit und damit im weiteren Sinne der Inauthentizität gedeutet, der Mangel eines ‚wahrhaftigen Bekenntnisses‛ nicht nur zur Heimat, sondern sogar sich selbst gegenüber als feststehend empfunden. Dass Wagner etliche Jahre später dem Kosmopoliten Meyerbeer ebenfalls vorwirft, nicht nur andere, sondern auch sich selbst zu betrügen, 17 ist in diesem Zusammenhang sicherlich aussagekräftig. Georg Heinrich Pertz stellt 1850 hingegen folgende Staatswissenschaftliche Betrachtung an: Der Cosmopolit ist unter den Staatsbürgern was der Polyhistor unter den Gelehrten, der eine gehört allen Staaten und thut für keinen nichts, der letzte treibt alle Wissenschaften und leistet in keiner nichts.18

Die Abwertung, die dem Kosmopoliten hier im gleichen Atemzug wie dem Universalgelehrten widerfährt, spricht deutlich für sich und beschreibt treffend die romantische Skepsis, die jenen begegnet, welche sich nicht mit ‚innerer Wahrhaftigkeit und Berufung‛ einem einzelnen Gegenstand widmen – es erklärt sich von selbst, dass diese Skepsis auch hinsichtlich einer möglichen künstlerischen Eklektik bzw. einer nicht erkennbar verbindlichen Stilistik gilt. Hier greifen sehr anschaulich die Begriffe des Karussells der damaligen Pejorationen ineinander: Kos16 17

18

Johann Georg Schlosser: Kleine Schriften, 3. Teil, Basel 1783, S. 11. „Dieser täuschende Komponist geht sogar so weit, daß er sich selbst täuscht, und dieses vielleicht ebenso absichtlich, als er seine Gelangweilten täuscht.“ Richard Wagner: „Das Judenthum in der Musik“, S. 110. Georg Heinrich Pertz: Das Leben des Ministers Freiherrn vom Stein , Bd. 2, Berlin 1850, S. 445.

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mopolitismus, Universalgelehrtheit, der damit verbundene Traditionalismus, Intellektualität. Zu ergänzen ist dieser Reigen schließlich noch durch ‚das Jüdische‛. Dafür, dass eine konstitutive Kopplung von Kosmopolit- und Judesein verfehlt ist, spricht unter anderem die 1808 in Jena gegründete und nicht-jüdische Zeitschrift Der Kosmopolit, welche bereits mit ihrem Erscheinen vorsichtig die Diskrepanz zwischen Patriotismus und Kosmopolitismus aufzuheben versucht. Der Herausgeber kündigt in der ersten Ausgabe an: Der Kosmopolit soll den Patrioten nicht verdrängen; aber er soll ihn vor Einseitigkeit be wahren […]. Der Gegenstand dieser Zeitschrift ist universell, wie die Welt; doch wird sie das deutsche Volk und dessen große Angelegenheiten nie aus dem Auge verlieren. 19

Dass der Herausgeber allerdings schon damals keine Zustimmung für sein Vorhaben in der Breite erwartet hat, lässt sich durch die Verdeckung seines Namens vermuten. Etwa zehn Jahre zuvor etabliert sich in Halle eine Zeitschrift mit gleichem Namen und dem Zusatz eine Monatsschrift zur Beförderung wahrer und allgemeiner Humanität, und auch hier versteht der Herausgeber die kosmopolitische Weltanschauung als eine der einseitig nationalorientierten gegenüber stehend und verknüpft sie seiner Zeit entsprechend mit dem Interesse am Humanismus. In der ersten Ausgabe ist zu lesen: Der Charakter des Kosmopoliten ist Unparteilichkeit, Wahrheitsliebe und Freimüthigkeit. Er sucht nur das Wahre, Nützliche, Schöne und Edle, - das allgemeine große Ziel der Menschheit, – wahre Humanität zu befördern, und kennt in diesem Geschäfte keine persönlichen oder Nebenrücksichten, von welcher Art sie auch immer seyn mögen.20

Wo während der Aufklärung der Kosmopolitismus im Sinne der europäisch-humanistischen Bildungstradition mit dem Anspruch an Wahrhaftigkeit verbunden wird, assoziiert im 19. Jahrhundert die patriotische bzw. nationalistische Seite einen weiter oben herausgestellten Gegensatz, welcher innere Wahrhaftigkeit ausschließt. Das Streben nach einer kosmopolitischen Grundhaltung als klassisches Ideal, welches die Akkreditierung antiker Kulturen ebenso einschließt wie im weitesten Sinne die Anerkennung eines für alle verbindlichen Naturrechts, erlebt in der deutschen Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts durch namhafte Repräsentanten21 eine Aufwertung, die nicht von Dauer ist. Und obwohl das Konzept des Kosmopolitismus22 im aufgeklärten Deutschland keineswegs als ein jüdisches ver19 20

21

22

Der Kosmopolit – Eine Quartal Schrift, erstes Quartal 1808 (Jena), Hrsg. Seidler, S. 1f. Der Kosmopolit, eine Monatsschrift zur Beförderung wahrer und allgemeiner Humanität , Bd. 1 (Hrsg. Christian Daniel Voss), Halle 1797f, S. 1. Genannt seien hier beispielsweise Immanuel Kant, Christoph Martin Wieland, Gotthold Ephraim Lessing und Johann Gottfried Herder. Eine systematisch-historische Darstellung des Kosmopolitismus kann in dieser Stelle nicht geleistet werden; schon im Altertum wird jene Geisteshaltung als ein ethisch wertvolles Modell entwickelt. Der Begriff des Weltbürgers, des κοσμοπολίτης, ist nach Diogenes Laertius auf den Kyniker Diogenes zurückzuführen, welcher, nach seiner Heimat befragt, geantwor -

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standen werden kann, entspricht von außen betrachtet die Entwurzeltheit des Judentums auch während und nach der Emanzipation schon beinahe einem notgedrungenen Kosmopolitismus, der sich im Einzelnen niedergeschlagen hat. Eine Übertragbarkeit des inneren Kosmopolitismus, welcher aus nationalistischer Sicht keine ‚wahre Vaterlandsliebe‛ gestattet, auf alle Juden im deutschsprachigen Raum wird jedoch durch den bereits geschilderten Patriotismus vieler Juden des beginnenden 19. Jahrhunderts unmöglich gemacht. Überdies unterscheidet sich der jüdische, ideelle Kosmopolitismus grundlegend vom humanistischen Ideal, insofern er sich – allerdings nur unter dem religiösen und eben nicht dem heimatländischen Gesichtspunkt – eher mit einer Notwendigkeit als mit einer Freiwilligkeit verbindet. Der jüdische Publizist Abraham M. Tendlau begreift den Kosmopolitismus als dem natürlichen Menschen innewohnend und drückt seine jüdische Sicht auf das Weltbürgertum in seinem Buch der Sagen prosaisch aus: Als Gott den Menschen schuf aus Erdenstaub/Da nahm er Staub von allen Erdenenden/Aus Ost und West und Süd und Nord zugleich/Auf daß der Erdensohn all überall/Wohn er kommen mag, zu Hause sei/Auf daß die Erde nicht im Westen spreche/Wenn sterbend sich ein Erdensohn aus Osten/In ihrem Mutterschoße betten möchte:/ „Ich nehm Dich nicht auf, Du Sohn des Ostens!/Du bist aus meinem Schooße nicht genommen.“

Wohin des Menschenfuß ihn tragen mag/Wo immer seine Stunde kommt zu scheiden/Da findet er all überall die Mutter/Da ruft all überall dieselbe Stimme:/ „O komm, mein Kind, in meinen Schooß zurück!“23

Das hier beschriebene alles umspannende Gefühl der Zusammengehörigkeit bezieht sich erst an zweiter Stelle auf die Menschen und unterstreicht den Wunsch des jüdischen Autors nach einer gesicherten Heimat im geographischen Sinne – wenn das ganze Erdenrund als Heimat dient, verliert sich das Gefühl der Heimatlosigkeit. Die entscheidende Frage, die sich mit dem jüdischen Kosmopolitismus verbindet, ist dabei wohl jene, ob sich der kosmopolitische Jude, so wie in Tendlaus Bild als Wunsch formuliert, tatsächlich überall heimisch fühlen kann oder, indem er nur fortwährend nach der Erfüllung trachtet, eine von Hoffnung genährte Art ‚unzureichender Weltbürgerschaft‛ annimmt. Diese Fragestellung berührt jedoch nur die inneren Einstellungen und Empfindungen eines Menschen und kann, weil keine zuverlässige Antwort – erst recht nicht mit entsprechender zeitlicher Distanz – zu liefern ist, nur als diese Überlegung stehen bleiben. Die sich damit verbindenden Spekulationen sind indes auch im 19. Jahrhundert nicht wenige, und die Analogie, die sich zwischen einem getriebenen, entwurzelten jüdischen Kosmopoliten und dem Ahasvermythos ergibt, wird gleichfalls thematisiert.

23

tet haben soll: „Ich bin ein Weltbürger.“ Abraham Tendlau: „Der Weltbürger“ in: Das Buch der Sagen und Legenden jüdischer Vorzeit, Stuttgart 1845 (2. Auflage), S. 311.

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In einem Roman drückt Karl Wartenburg 1859 jene Assoziation folgendermaßen aus: […] dort trieb sich herrenlos wie ein verlaufener Pudel, etwas Hellseherei und thierischer Magnetismus, gleich daneben etwas Emancipation des Fleisches umher, und mitten hindurch lief wie Ahasver, der ewige Jude, der nimmer Ruhe und Rast finden kann, ein seiner Lösung vergebens harrendes Problem der socialen Frage, dem unmittelbar auf dem Fuße etwas neblige Kosmopolitik und graue Politik folgte...24

Auch Wagner deutet in den späteren Jahren, seiner Denktradition entsprechend, den Kosmopolitismus als Indiz des Entwurzeltseins sowohl unter geographischen, wichtiger aber noch unter sozialen Aspekten, 25 was seine Ästhetikkritik von Meyerbeers Stil sinnvoll ergänzt. Die Schwierigkeit, die sich mit einer sachlichen Auseinandersetzung mit der Kritik an Meyerbeers Kosmopolitismus, der sich gleichsam im Werk niederschlägt, verbindet, liegt wohl in der engen Verzahnung verschiedener Umstände begründet, die auf den ersten Blick kaum voneinander lösbar scheinen. Deswegen soll im Folgenden ganz explizit zwischen diesen zwei Fragen unterschieden werden: 1.

Verdankt sich Meyerbeers Kosmopolitismus seinem jüdischen Hintergrund?

2.

Ist eine patriotisch/national motivierte Kritik an Meyerbeers kosmopolitischem Stil als antisemitisch zu bewerten?

Um für 1. einen wirklich plausiblen Kontext zu schaffen, bedarf es der Einführung verschiedener Stränge, von denen jeder nur für sich genommen nicht vollständig zu überzeugen vermag bzw. teilweise eine Verneinung der Frage nahelegt. Es können drei Überlegungsansätze zur möglichen Verquickung von Meyerbeers Jude- und Kosmopolitsein vorgestellt werden: Die finanzielle Absicherung (a), der vermeintlich unüberwindbare jüdische Expatriotismus (b) und eine entsprechende Prägung durch das jüdische Elternhaus (c). (a) Meyerbeers nach außen gelebter Kosmopolitismus findet seinen vergleichsweise moderaten Auftakt 1810 in der Lehrfahrt des 19-jährigen von Berlin nach Darmstadt und wird ganz klar durch das finanzielle Polster der Familie Beer ermöglicht. Dass das Händler- und Bankiersgewerbe jener Zeit, durch welches die Familie Beer sowohl väter- als auch mütterlicherseits zu beachtlichem Wohlstand gelangt ist, in der historischen Entwicklung überdurchschnittlich häufig durch Ju24 25

Karl Wartenburg: Die Väter der Stadt, Bd. 1, Leipzig 1859, S. 167. „Wer dagegen von seinem Stamme losgerissen ist, der Kosmopolit - dieses nichtige Gespenst! - woher will der Liebe zu den Menschen hernehmen??“ Richard Wagner: Das Braune Buch. Tagebuchaufzeichnungen 1865 bis 1882: „Weltgeschichte enttäuschendes Dokument menschlichen Wirkens“ (12/1873), Mainz 1975, S. 236.

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den repräsentiert wird, sollte sicher nicht unberücksichtigt bleiben, daraus auf der anderen Seite einen offenkundigen Zusammenhang zwischen dem Judentum und Meyerbeers Kosmopolitismus ableiten zu wollen, ist problematisch. Die materielle Absicherung als notwendige Bedingung für eine unkomplizierte Reiseplanung rangiert in diesem Kontext als mittelnd zwischen dem jüdischen Bankiershintergrund und dem gelebten Kosmopolitismus. Zöge man in diesem Fall somit das Judentum als ursächlich für den Kosmopolitismus Meyerbeers in Betracht, könnte man dennoch keine Zwangsläufigkeit behaupten. Indem formuliert wird: Jüdischer Bankiershintergrund → finanzielle Absicherung → Möglichkeit zur Formung kosmopolitischer Lebensumstände, bildet die finanzielle Absicherung die notwendige, der jüdische Hintergrund dennoch nicht mehr als eine hinreichende Bedingung. Sie würde durch den Hintergrund einer erfolgreichen industriellen oder adeligen, nicht-jüdischen Familie des 19. Jahrhunderts gleichermaßen erfüllt. Eine kausale Unbedingtheit zwischen Meyerbeers religiöser Herkunft und seiner kosmopolitischen Lebensform kann in dieser Frage also nicht angenommen werden, obwohl die weiter oben formulierte Relation zwischen dem jüdischen familiären Hintergrund Meyerbeers und dessen Lebensweise bestehen bleibt. (b) Eine andere Verknüpfung zwischen Meyerbeers Haltung und seinem jüdischen Hintergrund ließe sich andererseits durch eine nachhaltig erfolgte Prägung vermuten; bei diesem grundsätzlich spekulativen Unterfangen ist verständlicherweise zu Vorsicht geraten. Dem Wunsch seiner Mutter entsprechend eng – wenigstens dem nach außen getragenen Bekenntnis nach – an die mosaische Religion gebunden, zieht Meyerbeer keine Konversion in Betracht.26 Die jüdische Prägung Meyerbeers ist an vielen Punkten seines Lebens nachweisbar, 27 und in Bezug auf seinen Kosmopolitismus stellt sich natürlich die Frage, inwiefern der jüdische Topos der Heimatlosigkeit seinen Anteil am Lebensverlauf des Komponisten trägt. Mit dem weiter oben beschriebenen nationalistischen Klischee verbindet sich im Fall Meyerbeers die Korrelation zwischen seinem Jude- und seinem Kosmopolitsein als eine kausale Verkettung, welche sogar als anlagebedingt angenommen würde – auszuschließen wäre in diesem Fall eine tendenziell patriotische Haltung der jüdischen Familie. Dennoch ist eine mögliche kosmopolitische Prägung Meyerbeers, die aus 26

27

Dass Meyerbeer das eigene Judesein dabei jedoch mindestens als ambivalent empfunden hat, wird in einem Brief des Komponisten an Heinrich Heine verdeutlicht – beide Männer teilten zwar die Konfession, was Anlass zu gemeinsam vollzogenen Betrachtungen über das Judentum bot, dennoch gestaltete sich ihre Bekanntschaft phasenweise als durchaus proble matisch. Meyerbeer bezieht sich auf allgemeine antijüdische Invektiven, wenn er den Freund an seinen Gedanken teilhaben lässt: „Was ist zu tun? Keine Pommenade de Lion, keine Graisse d‛ours, ja nicht einmal das Bad der Taufe kann das Stückchen Vorhaut wieder wachsen lassen, das man uns am 8. Tag unsres Lebens raubte: und wer nicht am 9. Tage an der Operation verblutet, dem blutet sie das ganze Leben lang nach, bis nach dem Tode.“ Heinz u. Gudrun Becker: Giacomo Meyerbeer. Ein Leben in Briefen , Wilhelmshaven 1983, S. 118. So bat der Komponist beispielsweise seine Mutter 1849 um den jüdischen Segen seines „Propheten“. Ibid., S. 180.

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nationalistischer Perspektive mutmaßlich mit der jüdischen Entwurzeltheit einhergeht, mindestens aus dem Vorwurf der Heimatverachtung zu entlassen. Der Patriotismus sieht im jüdischen Kosmopolitismus seine Umkehrung und würde im Fall Meyerbeers ähnlich argumentieren. Gegen eine kosmopolitische im Sinne einer anti-patriotischen Prägung durch das Elternhaus sprechen jedoch einige Punkte. So macht beispielsweise der spätere Astronom und Bruder Meyerbeers, Wilhelm Beer, als überzeugter Patriot von sich reden, als er ab 1813 für einige Jahre als Freiwilliger und mit bemerkenswertem Engagement an den Befreiungskriegen teilnimmt.28 Darüber hinaus offenbart sich in gleichem Maße die vaterlandsfreundliche Haltung der Mutter Meyerbeers, Amalia Beer, indem sie ihren Beitrag durch die hingebungsvolle Pflege der in den Befreiungskriegen Verwundeten leistet und dafür mit einer Verdienstmedaille geehrt wird. 29 Nicht zuletzt sollte erwähnt werden, dass auch der Vater Meyerbeers, Jacob Herz Beer, einen Teil seines Vermögens dem „vaterländischen Berliner Verein zur Verpflegung hülfloser Krieger der Berliner Garnison“ vermacht.30 Der jüdische Kosmopolitismus, der aus nationalistischer Perspektive als ein zwangsläufiger und dem jüdischen Entwurzeltsein geschuldet verstanden wird, kann im Fall Meyerbeers folglich nicht als zutreffend verstanden werden. (c) Ein dritter Gesichtspunkt, der für 1. Relevanz beanspruchen könnte, steht abermals und im weiteren Sinne mit einer möglichen charakteristischen jüdischen Prägung im Zusammenhang. Hierbei tritt der religiöse Aspekt jedoch so weit in den Hintergrund, dass er sich lediglich auf die Facette der Traditionalität, die insbesondere dem orthodoxen Judentum zu eigen ist, 31 reduziert. Auch bei dieser Überlegung ist unbedingt festzuhalten, dass weder die Traditionalität ein explizit jüdisches Phänomen ist, noch die jüdische Familie des 19. Jahrhunderts zwangs28

29

30 31

Vgl. z.B. Franz Gräffer: Jüdischer Plutarch: oder biographisches Lexikon der markantesten Männer und Frauen jüdischer Abkunft, mit besonderer Rücksicht auf das österreichische Kaiserthum, Wien 1848, S. 32. Ihre Leistung wurde offiziell im „Gedenkblatt an Amalie Beer“, in der Vossischen Zeitung, Nr. 147 vom 27. Juni 1855, 1. Beilage, gewürdigt. Vgl. Sulamith, Jg. 7 (1825/1833), Nr. 1, S. 135. Das Gebot zum Bewahren und zur sinnvollen Anwendung der Tradition lässt sich insofern als talmudische Vorgabe verorten, als die Struktur des Talmuds auf die Sinnhaltigkeit der Überlieferung abzielt. In den Sprüchen der Väter (Pirke Awot I,1) heißt es entsprechend: „Moses empfing die Torah am Sinai. Und von Moses kam sie auf Josua und von Josua auf die Ältesten und von den Ältesten auf die Propheten und von den Propheten auf die Männer der Großen Ratsversammlung.", was für sich die Wertschätzung einer tradierten und konsequenten Abfolge nachdrücklich betont. Die rabbinische Formulierung der shalshelet ha-kabbalah („Kette der Überlieferung“, zugeschrieben Gedaliah Ibn Yachya) bezeichnet die Charakteristik des Talmud als Addition der rabbinischen Auslegung von Torastellen. Die jüdische Vorstellung der Intakthaltung der Traditionskette lässt sich ungebrochen bis in das 19. Jahrhundert und darüber hinaus nachvollziehen, z.B. bei Joseph Zedner: Auswahl historischer Stücke aus hebräischen Schriftstellern vom zweiten Jahrhundert bis auf die Gegenwart (Berlin 1840), wo gleichermaßen mit dem Begriff der shalshelet ha-kabbalah gearbeitet wird (S. 272-4).

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läufig einen starken Traditionsbezug aufweist, auch wenn beide Phänomene überdurchschnittlich stark korrelieren. 32 Begreift man das Moment der Tradition als ein im positiven Sinne konservatives, also bewahrendes, und betrachtet es mit Blick auf ein entsprechendes Erziehungsmodell, wird leicht ein Ideal sichtbar, das jenem des kosmopolitischen Humanismus gleichzusetzen ist. Die Würdigung kultureller Leistungen, welche nicht nur anderen Kulturkreisen, sondern auch zurückliegenden Epochen entstammen, erfordert eine traditionalistische Geisteshaltung, welche den eigenen zeitlichen und kulturellen Kontext als Teil des Ganzen begreift. Die Tradierung der vielfältigen antiken Anschauungen bildet in einer solchen Erziehung ein wesentliches Element und führt im besten Fall zu einer Offenheit und Wertschätzung gegenüber fremden Kulturen, die wenigstens einen ‚inneren Kosmopolitismus‛ ermöglichen, welcher für den nach außen gelebten wiederum die Grundlage bildet. Legt man das jüdische Gebot zur Traditionalität und zur Bewahrung bereits geleisteter Verdienste als einen möglichen Aspekt der Erziehung Meyerbeers zugrunde, wird eine ähnlich geformte Kausalität sichtbar, wie sie bereits unter (a) dargestellt wurde. Jean Schucht, einer der ersten Meyerbeerbiographen, schildert in seinem Werk neben einer Vielzahl lebendiger Eindrücke, die er durch die persönliche Bekanntschaft mit dem Komponisten gewinnen konnte, das jüdische Elternhaus als prädestiniert für die Formung eines humanistischen als auch aufklärerischen Erziehungsideals: Blicken wir in Meyerbeers Vaterhaus, […] so finden wir, außer Reichthum an Geld und Gut, auch die Werke der klassischen Schriftsteller und Componisten und in der Familie das eifrigste Streben nach Kenntnissen und geistiger Bildung. […] Die Eltern, der jüdischen Religion angehörig, standen auf der Bildungshöhe der Zeit; sie hatten sich jene humane Geistesbildung angeeignet, welche vorzugsweise von Herder, Schiller und vielen andern Schriftstellern unserer klassischen Literaturperiode gepredigt und befördert wurde. 33 Der Vater wählte hauptsächlich deshalb einen christlichen Hauslehrer, um seinem Erstgeborenen nicht nur eine gründliche wissenschaftliche Bildung zu geben, sondern auch über die engen confessionellen Schranken zu erheben. In Folge seiner freien Denkungsart sollte seinen Kindern überhaupt eine universelle, wahrhaft humane Geistesbildung zu Theil werden. […] Außer den gewöhnlichen Elementargegenständen erhielt er [Meyerbeer M.K.] frühzeitig Unterricht in fremden Sprachen. Es ward Hebräisch, Griechisch, Lateinisch, Italienisch und Französisch getrieben, letzte beide Sprachen redete er so gewandt wie die Italiener und Franzosen […]. Dabei studirte er sehr gründlich und mit großer Vorliebe Welt- und Literaturgeschichte. Die großen Dichter der Culturvölker aller Zeiten wurden gelesen, die heroischen Geistesthaten bewundert und die Seele mit Gedanken des Ruhms und der Unsterblichkeit erfüllt. 34 32

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Vgl. Mosche Zimmermann: Die deutschen Juden 1914 – 1945, Bd. 43 der Enzyklopädie deutscher Geschichte, München 1997, S. 88. Jean F. Schucht: Meyerbeer‛s Leben und Bildungsgang, seine Stellung als Operncomponist im Vergleich zu den Tondichtern der Neuzeit, Leipzig 1869, S. 63. Ibid., S. 76f.

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Diese umfangreiche humanistische Bildung, die Meyerbeer in seiner Jugend genießt, lässt sich, vor allem dank ihres philologischen Schwerpunktes, unbedenklich als fundamental für die Entwicklung eines geistigen Kosmopolitismus verstehen. Damit ergibt sich folgende Kausalitätslinie: jüdisch-traditionalistischer Hintergrund → umfassende humanistische Bildung → kosmopolitische Geisteshaltung. Nicht vernachlässigen sollte man in diesem Fall jedoch eine weitere Ursächlichkeit: Erst indem das Elternhaus über die nötigen Mittel verfügt, ist es in der Lage, seinen Kindern jene umfassende humanistische Bildung, vor allen Dingen mittels prominenter Hauslehrer, angedeihen zu lassen. Wie unter (a) dargestellt, gilt auch hier der jüdisch-traditionalistische Familienhintergrund Meyerbeers allenfalls als hinreichende Bedingung, deren Erfüllung eine entsprechende Erziehung mit sich bringen kann. Jeder andere traditionsorientierte Hintergrund, sei er auch individuell intrinsisch und ohne familiäre Aufhängung entfaltet, würde dieser Bedingung gleichermaßen gerecht. Ein ergänzender Ansatz, der für die Frage nach der Kausalität von Meyerbeers Kosmopolitismus sinnstiftend sein kann, weist zwar keinen offensichtlichen Bezug zum jüdischen Hintergrund des Komponisten auf, sollte aber dennoch Beachtung finden. Indem die finanzielle Absicherung und die auf Weltoffenheit abzielende Erziehung eine Basis für die Entwicklungsmöglichkeit einer kosmopolitischen Geisteshaltung bilden, bedarf es letztlich eines real erlebten Bedürfnisses, um dieser Haltung auch praktisch gerecht zu werden. Zieht man die erste, bereits erwähnte Fahrt Meyerbeers nach Darmstadt in ihrer Motivation als symptomatisch für die Mehrzahl der später erfolgten Reisen heran, kristallisiert sich ein Beweggrund, der einer vermeintlichen immanenten Inauthentizität entgegensteht. Meyerbeers Sehnen und Streben nach der Entfaltung einer eigenen, seinem Inneren entsprechenden Musiksprache führen ihn über Darmstadt hinaus nach Italien, schließlich nach Frankreich. Ein Suchender ist er hier, 35 aber kein von Unerfülltheit geplagter ‚ewiger Jude‛, sondern einer, der schließlich in Paris im Zuge der Amalgamierung seiner vielfältigen Eindrücke und Prägungen einen internationalen und damit seinen persönlichen Musikausdruck findet. 36 Der kosmopoliti35

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So tröstet der Komponist 1814 seinen Vater, der um die baldige Heimkehr des Sohnes gebe ten hat: „Allein Du weißt es, daß ich dazu von jeher für ganz unerläßlich die gründliche Kenntnis des französischen und italienischen Theaters rechnete und deshalb kann ich mich unter keiner Bedingung entschließen eher nach Berlin zurückzukommen, als bis ich diese beiden Reisen gemacht habe. Ich finde das meiner musikalischen Überzeugung nach unumgänglich notwendig, und würde daher meine Reise in diesem Augenblick um keinen Preis der Welt aufhalten, müßte ich sie auch zu Fuß machen, hätte ich gegen die Wut aller Elemente zu ringen.“ Heinz und Gudrun Becker: Giacomo Meyerbeer. Ein Leben in Briefen, Wilhelmshaven 1983, S. 40. Armin Schuster betont dementsprechend Meyerbeers innere Entsprechung, die mit der italienischen Musiksprache einhergeht, und schildert den nachhaltigen Eindruck, den Rossinis Oper Tancredi bei dem jungen Komponisten hinterlassen hat: „Beim Hören des Trancredi tat sich für Meyerbeer eine neue Welt auf. Diese Musik, die von Lebenskraft, Leidenschaft, aber auch Empfindsamkeit gekennzeichnet ist, äußerte sich in einer Kunstform und -spra -

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sche Komponist artikuliert in seiner Suche nach der persönlichen musikalischen Wahrheit eine ‚Eigentlichkeit‛, welche die ihm zeitlebens vorgeworfene mangelnde ‚Echtheit‛ und ‚Unwahrhaftigkeit‛ eindeutig kontrastiert. Dass aus jüdischer Perspektive überdies weder der Kosmopolitismus als solcher noch Meyerbeers kompositorischer Internationalismus erwartungsgemäß einen Makel bergen, verdeutlicht ein 1837 an Meyerbeer adressierter Artikel des jüdischen Publizisten August Lewald, dessen Kommentar formal der Rezension einer Hugenotten-Aufführung auf deutschem Boden und der damit verbundenen technischen Schwierigkeiten entspricht. In Bezug auf Meyerbeers stilistische Eigenheit schreibt Lewald: Nicht als Vorwurf spreche ich es hier aus: Sie sind kein deutscher Componist. Gluck lebte auch in Frankreich und schuf dort; allein Gluck blieb auch in Paris, was er in Wien gewesen war; die Wälder des Fichtelgebirges und die Luft, die er dort eingesogen, blieben ihm treu, mitten in den Festen des Versailler Hofes; Ihre ganze Bildung war hingegen cosmopolitisch; schon als Berliner; dann Ihr väterliches Haus, nach größtem geselligen zuschnitte, die frü hen Berührungen mannichfachster Art, die frühen Reisen, das lange Verweilen unter Fremden. Nein! Sie sind kein deutscher Componist; aber zu Ihrem Troste sey es gesagt, Mozart ist es auch nicht […].37

Mit dem Bezug auf Mozart betont Lewald den Widerspruch zwischen kompositorischem Freigeist und nationalistischer Beengtheit und lenkt seine Überlegung auf das Gebiet sardonischer Ironie: […] und am Ende würde vielleicht von irgend einem verschrobenen Kopfe aus Mozarts ehrlichem Namen seine jüdische Abkunft herausbuchstabirt, und wie er eigentlich Moses geheißen.38

Lewald begreift in seinem Artikel den Kosmopolitismus Meyerbeers sowohl stilistisch als offenkundig als auch als eine folgerichtige Entwicklung, die sich aus Meyerbeers familiärer Verwurzelung ergibt. Berücksichtigt man Lewalds Einschätzung, die sich mit verschiedenen noch darzulegenden Zuschreibungen ergänzt, nach welchen Meyerbeers Stil mindestens kosmopolitisch, zum Teil eklektisch bis hin als epigonal empfunden und beschrieben wird, ermöglicht sich eine Anwendung von Achad Ha'ams Theorie der Nachahmung. Besieht man die an Meyerbeer angelegte Skala, besetzt der durch Lewald konstatierte Kosmopolitismus ein Ende, wohingegen Wagners pauschal formulierte Unterstellung einer durch den

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che, die ihm auf Anhieb die seine zu sein schien.“ Armin Schuster: Die italienischen Opern Giacomo Meyerbeers, Bd. 1, Marburg 2003, S. 18. August Lewald: „An Herrn Meyerbeer“, in: Europa, Stuttgart 1837, S. 448. Die literarische Zeitung bekennt sich durch ihren bündigen Titel zu einer deutlich weltoffenen Position, in diesem Fall besteht ein offenkundiger Zusammenhang zwischen der Religion des jüdischen Herausgebers, der teils jüdischen Redakteure und ihrer Wertschätzung des Kosmopolitismus. A.a.O.

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jüdischen Hintergrund zwangsläufigen Epigonalität das andere Ende markiert, so wird ein Feld gewonnen, welches im konkreten Zusammenhang mit Meyerbeers Schaffen komplett als Segment dessen verstanden werden kann, was Achad Ha'am als konkurrierende Nachahmung und damit der selbstentäußernden Nachahmung überlegen sieht. Kein kritischer Autor unterstellt Meyerbeer eine explizite Übernahme der Melodiebögen, Instrumentierungen, inhaltlichen Verläufe o.ä. von anderen Komponisten, schlechtestenfalls wird eine stilistische Abfärbung festgehalten und abgewertet. Meyerbeer entwickelt die jeweiligen Einflüsse zu einem Stil, der deutlich dem Komponisten zugeordnet werden kann. Dadurch lässt sich im Sinne von Achad Ha'am von einer stilistischen Weiterentwicklung sprechen, welche durch ihren Konkurrenzcharakter dazu befähigt ist, das musikalische Kunstschaffen generell voranzutreiben. 39 Meyerbeers Kosmopolitismus ist also vor dem Hintergrund der Authentizitätsdiskussion im Kunstschaffen als wegweisend für eine fruchtbare und ‚originelle Nachahmung‛ zu deuten – ein Paradoxon, das sich auflöst, wenn man wie Achad Ha'am jede kunstschaffende Handlung als auf irgendeine Weise nachahmend begreift. Auf die Frage, inwiefern sich Meyerbeers Kosmopolitismus dabei seinem jüdischen Hintergrund verdankt (1.), ist in der weiter oben erfolgten Auseinandersetzung folgende Antwort gefunden worden: Es lassen sich die hier vorgestellten Überlegungen insofern zusammenfassen, als durchaus ein Zusammenhang zwischen Meyerbeers Kosmopolitismus und seiner (formalen) Religionszugehörigkeit besteht. Dieser Zusammenhang ist dabei jedoch kein notwendiger, sondern schlägt sich, wie unter (a) und (c) ausgeführt, als eine begünstigende Bedingtheit nieder. Vor allen Dingen besteht keine anlagebedingte Disposition, die den Juden dem Ahasvermythos entsprechend unstet ‚umherirren‛ lässt, wie es antisemitische Einstellungen des 19. Jahrhunderts nahelegen. 40

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40

Meyerbeer, dem u.a. eine stilistische Nähe zu Rossini oder Auber nachgesagt wird (Vgl. z.B. Otto Gumprecht: Musikalische Charakterbilder: Schubert, Mendelssohn, Weber, Rossini, Auber, Meyerbeer, Leipzig 1869, S. 299), belebt und erweitert das Feld musikalischer Schöpfungen, als 1861 den genannten Komponisten der Auftrag erteilt wird, einen Marsch für die Londoner Weltausstellung zu verfassen. Sich ihrer situativen Konkurrenzsituation bewusst, entfalten sie jeweils völlig unterschiedliche Formen und Färbungen für das zu bear beitende Sujet, die eine breite kompositorische Palette abdeckten: Auber entscheidet sich für eine Ouvertüre, Verdi verfasst eine Cantate und Meyerbeer eine Marsch-Suite. Diese kompositorische Breite ist es, welche nach der Theorie von Achad Ha'am als konstruktiv einzuordnen ist, obwohl bzw. weil Meyerbeers stilistische Nähe zu den anderen Komponisten als nachahmend im weiterentwickelnden Sinne verstanden werden kann (Vgl. Hermann Mendel: Giacomo Meyerbeer. Eine Biographie, Berlin 1868, S. 93). In einer religionswissenschaftlichen Abhandlung von 1857 ist beispielsweise zu lesen: „Den ke man sich den ganzen, dem Juden angeborenen Abscheu vor jeder Gemeinschaft mit so absolut gemeinen, communen Gevölk, den Gojim [Nichtjuden].“ Gustav Volkmar: Die Religion Jesu und ihre erste Entwickelung nach dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft , Leipzig 1857, S. 138.

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Um für die unter 2. formulierte Fragestellung („Ist eine patriotisch/national motivierte Kritik an Meyerbeers kosmopolitischem Stil als antisemitisch zu bewerten?“) nach der Zulässigkeit der Zuschreibung ‚antisemitisch‛ im Zusammenhang mit der Meyerbeerkritik eine fundierte Annäherung zu finden, sollen im Folgenden verschiedene Kritiken, die im weitesten Sinne auf Meyerbeers kosmopolitischen, also übernationalen bzw. eklektischen Kompositionsstil abzielen, in ihren jeweiligen Kontexten überprüft werden. Der Chronologie entsprechend wird als erstes Ludwig Rellstabs scharfe Kritik am Werk Meyerbeers samt ihrer zum Verständnis notwendigen Motive dargestellt werden.

8.3 Meyerbeer und Ludwig Rellstab: Rellstab als Wegbereiter der antisemitischen Ästhetik Wagners? Der Musikkritiker und Dichter Ludwig Rellstab widmet einen beträchtlichen Teil seiner niederschmetternden Kritiken Meyerbeer und etabliert sich als einer der erbittertsten Kritiker des Komponisten. Seine breit rezipierte Kritik übt einen nachhaltigen Einfluss auf die entsprechenden zeitgenössischen Ästhetikbetrachtungen aus, und Rellstabs Gegnerschaft zu Meyerbeer muss als ähnlich bedeutsam gewichtet werden wie jene, die Schumann und Wagner mit Meyerbeer verbindet. Ehe die verschiedenen, miteinander verflochtenen Motive dieses Agierens grob unterschieden werden, bietet sich ein von Rellstab selbst geliefertes Detail als Ausgangspunkt für eine Reflexion an. In seiner Autobiographie von 1861 findet der Kritiker nur wenige Worte für den Komponisten, berichtet aber von einer frühzeitigen und einprägsamen Konfrontation, in welcher er beschreibt, dass der acht Jahre ältere Meyerbeer „[…] in meinen frühesten Knabenjahren stets unter der Bezeichnung „der kleine Beer“ zum höchsten Muster von meinem Vater vorgehalten wurde […].“ 41 Es lässt sich leicht ausmalen, dass ein derartiger und wiederholt bemühter Vergleich, dazu gedacht, Rellstabs Lernfleiß zu beflügeln, beizeiten zu einem Frustrationserleben des Dichters geführt und den Grundstein für die andauernde Aversion gegenüber Meyerbeer gelegt haben kann. Mehr als eine Vermutung kann diese Überlegung zwar nicht beschreiben, sie liefert aber gleichwohl einen möglichen und plausiblen Aufhänger für die späteren Kritiken. Als besonders nachhaltig ist Rellstabs Eintrag über Meyerbeer in der Encyklopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften (1835)42 einzuschätzen, in welchem er nicht nur Meyerbeers kosmopolitische 41 42

Ludwig Rellstab: Aus meinem Leben, Bd. 1, Berlin 1861, S. 83. Vgl. dazu Jean Schucht: „Man denke an Rellstab! Dieser größte, gehässigste Gegner Meyerbeers schrieb früher lauter Invectiven und scheute sich nicht, die schändlichsten Verläumdungen in die Welt zu schleudern […]. In Schillings Lexikon der Tonkunst hat er eine Bio graphie veröffentlicht, die man nur als einen gehässigen Schmähartikel bezeichnen kann, so daß sich die Redaction später veranlaßt fand, im Supplementband eine unpartheiischere Biographie von anderer Feder andrucken zu lassen.“ ( Meyerbeer‛s Leben und Bildungsgang, S. 60.) Bis heute wird jedoch der Artikel Schillings Autorschaft zugeschrieben (vgl. z.B.

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Stilistik seinem persönlichen Geschmack entsprechend als eine Abtrünnigkeit von der deutschen Kunst43 bezeichnet, sondern explizit fremdländische Musikkultur als unwahrhaftig abtut: Die Critik war einstimmig über alle diese Ereignisse, daß sie nämlich völlig der verkehrten Bahn der neueren italienischen Musik, wie diese allen Ernst, aller Tiefe, aller dramatischen Wahrheit, Hohn spricht, gefolgt waren […].44

In ähnlich patriotischer Weise zitiert Rellstab den Komponisten und Freund Meyerbeers Carl Maria von Weber in dessen mutmaßlicher Ansicht über die italienischen Einflüsse in Meyerbeers Werken: Es ist wahrlich Jammer und Schande um Meyerbeer, daß der Durst nach äußeren Erfolgen ihn so ganz auf diese verkehrte Seite der Kunst gelenkt hat; denn er hatte ein großes, tiefes, deutsches Talent […] Und jetzt schreibt er all das verfluchte Zeugs, nur um der elenden Mode zu huldigen und in Italien den Beifall einer Masse zu ärndten, die er verachten sollte.45

Schließlich vollführt Rellstab mithilfe der in diesem Artikel formulierten Kritik an Meyerbeer einen mächtigen Hieb gegen jene neue Ästhetik, die seinem konservativen und heimatbezogenen Empfinden zuwider läuft und vermengt seinen Frust angesichts dieser Ästhetikentwicklung mit dem Vorwurf inauthentischen Komponierens in doppelter Hinsicht: Das nicht-deutsche als auch das absichtsvolle Tonsetzen werden gleichermaßen verurteilt: Ueberall ist deutsche Wahrheit, deutscher Ernst der Kunst dem gedankenlosesten Scheine einer ausgearteten fremden Aftermuse [Götze M.K.] geopfert. Und auch nicht einmal den Werth seiner italienischen und französischen, aus eigenthümlichem Talent und nationaler Bildung hervorgegangenen, Werke haben die Arbeiten Meyerbeers, denn sie wollen dasjenige künstlich und mit Absicht erreichen, was ihnen Natur, wenn gleich auch entartete, verflachte ist.46

43

44 45

46

Heinz und Gudrun Becker: Giacomo Meyerbeer. Ein Leben in Briefen , S. 119). Dabei lässt sich Schilling zwar insofern zur Verantwortung ziehen, als er den Artikel unter seiner Herausgeberschaft gebilligt hat, was als aufschlussreich in Bezug auf seine Einstellung zu Meyerbeer verstanden werden könnte. Trotzdem kann der Kreis der Meyerbeerkritiker größere Konkretion gewinnen, indem er um eine vermeintlich anonyme Komponente (vgl. Annkatrin Dahm: Der Topos der Juden, S. 100) bzw. die Person Schillings reduziert wird. Rellstab als Autor des Artikels „Beer“ in: Encyklopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften, Bd. 1 (Hrsg. Gustav Schilling), Stuttgart 1835, S. 508. Ibid., S. 507. A.a.O. Problematisch gestaltet sich die Glaubwürdigkeit jener zugeschrieben Aussage insofern, als Rellstab angibt, mit jener Ansicht Webers erst im Gespräch mit Schilling konfron tiert worden zu sein. Wo hier Faktizität aufhört und Kolportage beginnt, lässt sich nicht zu verlässig bestimmen. Sicher ist jedoch, dass diese mutmaßliche Äußerung von Weber Rellstabs Darstellungsabsichten untermauert und ihnen unmittelbar entspricht. Ibid., S. 510.

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Die hier angesprochene Verknüpfung von Musik und Entartung fällt sofort in den Blick wie auch der dargestellte Antagonismus von Kunst und Natur und die gleichzeitige und selbstverständliche Analogisierung von ‚deutsch‛ und ‚Wahrheit‛. Grundsätzlich liegt damit in komprimierter Form die komplette spätere kunstbezogene NS-Terminologie vor – jedoch fehlt, um von einer antisemitischen Ästhetik sprechen zu können, der entscheidende Knotenpunkt zum Jüdischen. Der in den Nationalismus überfließende Patriotismus, wie er hier begegnet, ist trotz seiner geistigen Nähe nicht dem Antisemitismus gleichzusetzen. Betrachtet man Rellstabs Kritik an Meyerbeer als nationalistisch und nicht als antisemitisch intendiert, eröffnet sich ein anderer und umfassenderer Zugang zu Rellstabs Denkart, die im Umkehrschluss dennoch keineswegs als eine rein judenfreundliche47 gewertet werden sollte. Berücksichtigt man aber, dass in der Rellstab‛schen Meyerbeerkritik kein wiederkehrender Hinweis auf die jüdische Herkunft des Komponisten zu finden ist, wohl aber die italienischen und französischen Einflüsse im Besonderen gerügt werden, zeichnet sich das Bild eines überzeugten Patrioten, das sich auf vergleichbare Weise in Rellstabs Autobiographie wiederfinden lässt. Unter den Lehrern des Werderschen Gymnasiums war es vorzüglich Spillecke, der die Ge müther der Jugend zu begeistern trachtete, indem er durch den Glanz, die Hoheit, womit er die Heroen deutscher Geschichte, die strahlenden Größen des Kaiserthums zu erleuchten suchte, die Vaterlandsliebe entflammte. Sie durchglühte unsere Brust, und dadurch schlug von selbst die Flamme des Hasses gegen die Unterdrücker des Vaterlandes empor. 48 […] 47

48

Als Schriftsteller nimmt sich Rellstab unter anderem des Sujets der Juden an, die von ihm auf verschiedene Weise behandelt wurden. In der Breite entspricht seine literarische Aufarbeitung der öffentlichen Judenwahrnehmung, die, vor allem bezüglich des nicht assimilierten Juden, keine großen Sympathien hegt. In einem seiner Romane lässt er beispielsweise einen am Boden liegenden Verwundeten mit letzter Kraft einen Juden als Angreifer und Mörder seiner Freunde identifizieren, der Jude, hier mit Arglist und übermäßiger Falschheit gestaltet, verlegt sich nach Schwüren und Eiden, welche die eigene Religion und Kinder einschließen, auf seine Unschuld angesichts der erdrückenden Beweislast auf heuchlerisches Flehen um Gnade (Vgl. Gesammelte Schriften 1812, Bd. 4, Leipzig 1860, S.260f.). In seiner Novelle Die Juliustage bedient Rellstab in ähnlicher Form das gängige Klischee des geldgierigen und verräterischen Juden (Algier und Paris im Jahre 1830, Bd. 2 Die Juliustage, Berlin 1831, S. 155). Auf der anderen Seite lässt er in seiner Novelle Der Student einen alten Juden, zur Konversion zum Christentum aufgefordert, mit folgendem milde stimmenden Gleichnis einen Christen antworten: „ Und wenn Ihr zwei liebe Aeltern hättet, Vater und Mutter, arm und geschmäht, die Euch aber erzogen und gepflegt hätten und es käme zu Euch ein Aelternpaar, das da sagte: Siehe, wir sind reich, sind geehrt, wir sind auch gut und fromm, und frömmer als deine Aeltern, verlaß sie und sei unser Sohn! Was thätet Ihr? Johannes schwieg verwirrt. Mein Glaube, fuhr der Jude fort, hat mich getröstet; er war meine Stütze, meine Hoffnung, mein Schirm sechzig Jahre! Soll ich ihn verlassen? Verläßt ein Sohn seinen Vater, eine Tochter ihre Mutter? “ In: Garten und Wald: Novellen und vermischte Schriften von Ludwig Rellstab, Leipzig 1861, S. 153. Rellstab: Aus meinem Leben, Bd. 1, Berlin 1861, S. 154.

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Dies Alles aber hatte auch seine politische Wurzel, seinen politischen Hintergrund; denn im Geiste sahen wir uns stets als die Bekämpfer der Franzosen und wir erglühten von der Hoffnung, daß in unsern bewunderten Helden des Turnplatzes die Bezwinger des Weltbezwin gers aufwuchsen!49

Rellstabs Einstellung wird folglich seit der Jugend vom Patriotismus begleitet, teilweise auch geführt. Und obwohl Frankophobie und Antisemitismus insbesondere in der post-napoleonischen Zeit nicht selten ineinander übergreifen 50 und zum gleichen Katalog der Pejorativa wie Intellektualität, Kosmopolitismus und ihrer Konnotatsverwandten zählen, ist eine gedachte Gleichsetzung im Fall Rellstabs aufgrund bestenfalls impliziter Hinweise nur eine Unterstellung. Indem man Rellstabs Frankophobie berücksichtigt, konturiert sich ein plausibles Modell seiner Meyerbeerkritik, für welches kein unterstellter Antisemitismus bemüht werden muss.51 In der von Rellstab herausgegebenen Musikzeitschrift Iris im Gebiete der Tonkunst kommentiert der Kritiker 1839 einige Liedvertonungen nach deutschen Texten durch Meyerbeer wie folgt: Drei deutsche Lieder hat M e y e r b e e r hier nicht componirt, d.h. den Sinn derselben durch Musik ausgedrückt, sondern, wenn man sich am gelindesten ausdrücken will, in die französische Salon-Musiksprache übersetzt. Er hat ein Spielwerk mit der Singstimme getrieben, wobei ihr eigentlichstes Element, der Ausdruck des Gefühls, der Gemüthszustände, wie man das nicht anders erwarten konnte, ganz unberücksichtigt geblieben ist. Hätte der Componist französische oder italienische Texte gehabt, so möchten wir ihm dieses Spiel zu Gute halten, die diese einmal nicht anders behandelt werden und sein wollen. Allein – er versuche doch ums Himmels Willen nicht mehr, etwas D e u t s c h e s zu machen; er bringt nichts hervor als eine Verzerrung, die dabei noch dazu oft nur recht flache, triviale Grund züge hat. Seinem Vaterlande ist er einmal ganz entfremdet; er vermag es durchaus nicht mehr, irgend etwas Deutsches, was tiefer greift, als in die seichte Sphäre des „Amusements“, zu schaffen.52

Kaum noch kommentiert werden müssen die solcherart dargestellten Zusammenhänge zwischen ‚Eigentlichkeit‛ und ‚Gefühl‛, die im Text ihre Umkehrung in der ‚flachen französischen Salon Musik‛ finden. Flachheit und Tiefe, französische Ästhetik und deutsche Kunstwahrhaftigkeit – Meyerbeers Judesein wird faktisch nicht berührt. Die divergierenden musikästhetischen Vorstellungen beider Männer, Rellstabs und Meyerbeers, speisen sich aus einer jeweils persönlichkeitsbedingten Quelle, welche auf der anderen Seite im gleichen Maße die jeweils unterschiedlichen Nationaleinstellungen nährt. Es lässt sich demnach nicht behaupten, 49 50

51 52

Ibid., S. 158. Vgl. z.B. York-Gothart Mix: „Kulturpatriotismus und Frankophobie. Die Stereotypisierung nationaler Selbst- und Fremdbilder in der Sprach- und Modekritik zwischen Dreißigjährigem Krieg und Vormärz (1648-1848)“, in: Arcadia - Internationale Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Bd. 36, Berlin 2001, Heft 1, S. 156–186. Wie beispielsweise in Dahms Topos der Juden geschehen (S. 100ff.). Rellstab in: Iris im Gebiete der Tonkunst, Berlin 1839, S. 162.

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dass Rellstabs Patriotismus ursächlich für dessen Kunstauffassung sei, noch, dass sich der internationale Schaffensstil Meyerbeers der Weltoffenheit des Komponisten verdankt. Vielmehr beschreiben beide Phänomene, Kunstauffassung und politische Haltung, eine jeweils folgerichtige Konsequenz aus der persönlichkeitsverankerten Einstellung. Jean Schucht vermittelt in diesem Sinne seinen Eindruck von der Bekanntschaft mit Rellstab, welcher in seinem Wirken als Kulturredakteur der Vossischen Zeitung eine Vielzahl von wirkungsmächtigen Meyerbeerkritiken verfasst hat: Rellstab war geistvoll und kenntnißreich, demzufolge beherrschte er einen großen Theil des Publikums mit seiner Kunstansicht. Seine Partheilichkeit, seinen Haß gegen die Tondichter der Neuzeit müssen wir als eine bedauerliche Verirrung betrachten. Sein bitterer Groll gegen Meyerbeersche Musik ward also durch seine Kunstansicht dictirt und wahrscheinlich durch des Componisten abgeschlossenes Verhalten genährt. 53

Natürlich ist Rellstab damit nicht aus einem größer gedachten Kontext zu entlassen, welcher kunstästhetische Entwicklungen in ihrer Verflechtung mit der Erstarkung des Antisemitismus berücksichtigt. Und verständlicherweise frappieren die von Rellstab geleisteten Zuschreibungen Meyerbeers als ‚effekthaschend‛, ‚unwahrhaftig‛ und ‚undeutsch‛ vor allem durch ihre offensichtliche Nähe zu Wagners Einschätzung des Juden Meyerbeer. Rellstabs Kritik dabei jedoch als unbedingte Grundlage für die Erstarkung eines kulturellen Antisemitismus interpretieren zu wollen, führt sicher zu weit. Erst in Verbindung mit antisemitischen Topoi lässt sich von einer solchen Wirkungsmacht der Rellstabkritik sprechen. Da der Kritiker diese Zusammenhänge nicht geliefert hat, überhaupt in seinen Rezensionen der explizite Bezug zum Judentum völlig fehlt, darf er in der Frage nach der Entwicklung des antisemitischen Musikschrifttums allenfalls als patriotischer bzw. nationalistischer Verfechter ‚deutscher Werte‛, nicht aber als direkter Vorgänger Wagners verstanden werden. Dabei mangelt es im groben Zeitrahmen um die Mitte des 19. Jahrhunderts durchaus nicht an Einschätzungen, in denen die Kritik an Meyerbeers Personalstil und seinem Judesein vernetzt wird (und die dabei nicht Wagners Feder entstammen). Im Literaturblatt von 1860, herausgegeben vom zunehmend nationalistisch tönenden Literaturkritiker Wolfgang Menzel, ist beispielsweise zu lesen: Meyerbeer verrieth sich als Jude, der von allen Nationen profitirte, daher nicht im Stande war, deutsche Musik als solche gegenüber der italienischen und französischen zu vertreten.54

In einer Kulturbetrachtung von 1839 wird gar aus vermeintlich jüdischer Perspektive argumentiert, um jüdischen Bürgern, die am kulturellen Leben partizipieren, die Legitimation durch ihre Religionszugehörigkeit abzusprechen: 53

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Jean Schucht: Meyerbeer‛s Leben und Bildungsgang, seine Stellung als Operncomponist im Vergleich zu den Tondichtern der Neuzeit, S. 61. In: Literaturblatt (Hrsg. Wolfgang Menzel), Stuttgart 1860, S. 407.

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Man hat in der jüngsten Zeit bewiesen, […] daß Meyerbeer keineswegs an Erfindung, Origi nalität und Geschmacksreinheit sich mit unsern Heroen in der Musik messen könne […]. […] Man betrachtete sie [jüdische Kulturschaffende M.K.] vom streng jüdischen Standpunk te als Leute, die weder Fisch noch Fleisch, weder Jude noch Christ waren, als Leute, die sich nicht selten ihres Judenthums schämten und ihre große geistige Kraft nicht den Bedürfnissen und der Aufklärung ihrer Nation widmeten, sondern sie ihrer eigenen Eitelkeit wuchern ließen.55

Es muss kaum eigens erwähnt werden, dass der Nachweis zur Untermauerung des vermeintlich ‚streng jüdischen Standpunktes‛ nicht geliefert wird. Der Schriftsteller Gustav Kühne wiederum schlägt Alarm angesichts des ‚Eindringens‛ von Juden wie Meyerbeer in die christliche Kultursphäre: In andern Gebieten regten sich andere Talente des Judenthums, um in die christliche Kultur einzugreifen; die Christen hatten vergessen, dem Juden die Welt der Kunst zu verschließen. Das Judenthum fing an zu musiciren. Meyerbeer bringt Katholizismus und Protestantismus auf die Bühne und zerreibt die Gegensätze mit Pauken und Trompeten an einander, nicht der Wille, sondern sein Instinct und sein raffinirendes Talent nöthigen ihn dazu, die religiösen Elemente zu musikalischen Zwecken abzunutzen.56

Auch hier werden die Prädikate wie ‚jüdisch‛ und ‚unaufrichtig‛ am Beispiel des Musikschaffens von Meyerbeer miteinander verzahnt – eine Methode, auf die Rellstab verzichtet hat. Rellstabs heimatbezogene Abwertung Meyerbeers ähnelt, wie dargelegt, Wagners Einschätzung in Vielem,57 weswegen die Verführung groß ist, seinem Musik55

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Hermann Marggraf: Deutschland‛s jüngste Literatur- und Culturepoche: Characteristiken , Leipzig 1839, S. 262f. Ferdinand Gustav Kühne: Weibliche und männliche Charaktere, Bd. 2, Leipzig 1838, S. 378f. Kühnes Skeptizismus gegenüber dem jüdischen Kulturschaffen lässt sich jedoch nicht als rein antisemitisch motiviert ausmachen. Nicht nur formuliert Kühne unter Bezugnahme auf die jüdische Herkunft des Komponisten seine Wertschätzung gegenüber Mendelssohns Schaffen (a.a.O.), er ist auch gleichzeitig mit dem bereits thematisierten jüdischen Publizisten August Lewald befreundet und übernimmt später die Herausgeberschaft von Lewalds Europa. Es liegt bei Kühne also allenfalls eine Art inkonsistenter Antisemitismus vor, welcher wiederum als beinahe typisch für den frühen Antisemiten des 19. Jahrhunderts gelten kann. Wenn Wagner behauptet: „Meyerbeer war durch seine Gleichgiltigkeit gegen den Geist jeder Sprache und durch sein hierauf begründetes Vermögen, ihr Äußerliches mit leichter Mühe sich zu eigen zu machen (eine Fähigkeit, die durch unsere moderne Bildung dem Wohlstande überhaupt zugeführt ist) ganz darauf hingewiesen, es nur mit der absoluten, von allem sprachlichen Zusammenhange losgelösten Musik zu thun zu haben. Außerdem war er dadurch fähig, überall an Ort und Stelle den Erscheinungen in dem bezeichneten Entwicke lungsgange der Opernmusik zuzusehen: er folgte immer und überallhin seinen Schritten.“ (Richard Wagner: Die Oper und das Wesen der Musik, in: SSuD, Bd. 3, Leipzig o.J. (1911) S. 294), schlägt er in die gleiche Kerbe wie Rellstab, der Meyerbeers Musik mangelnde Tiefe und durch Bildung ermöglichte kosmopolitische Beliebigkeit vorwirft sowie der Profitabili-

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schrifttum wenigstens unter Auslassung der antisemitischen Bezüge eine der beeinflussenden Vorreiterrollen in Bezug auf Wagners eigene Polemik zuzuschreiben. Am stichhaltigsten lässt sich dabei mit dem keineswegs entspannten Verhältnis beider Männer argumentieren, das eine auf Respekt basierende Adaption der Auffassungen Rellstabs von Meyerbeer durch Wagner sehr wahrscheinlich ausschließt, zumal der Höhepunkt von Rellstabs Meyerbeerkritik in eine Zeit fällt, in welcher Wagner Meyerbeer noch mit unverhohlener Bewunderung begegnet. Belegt ist außerdem, dass Wagner Rellstabs journalistischem Schaffen außerordentlich ablehnend gegenüberstand.58 Es scheint, so man einen Zusammenhang zwischen der Wagner‛schen und der Rellstab‛schen Meyerbeerkritik unterstreichen möchte, auf die Feststellung einer gemeinsamen musikalischen Ästhetik hinauszulaufen, die gemeinhin als ‚deutschtümelnd‛59 umrissen wird. So die patriotistisch-nationalistische Ästhetik eine mögliche oder auch nötige Voraussetzung für eine antisemitische ‚Aufstockung‛ bildet, ist die Umkehrung dennoch abfolgenparadox und nicht zulässig: Der völkische Antisemitismus des 19. Jahrhunderts impliziert zumeist Patriotismus/Nationalismus, jener jedoch nicht zwingend Antisemitismus. Die bereits erfolgte Betrachtung von Forkels Allgemeiner Geschichte der Musik ist im Zusammenhang mit dem antisemitischen Musikschrifttum auch nur deshalb zulässig, weil neben den deutlich patriotischen Einfärbungen der Tatbestand des Antijudaismus/Antisemitismus in weiten Teilen erfüllt wird. Obwohl also Wagners Schmähschrift als patriotisch und antisemitisch mit Rellstabs ‚deutschtümelnder‛ Musikkritik nicht völlig gleichzusetzen ist, bestehen zwei weitere verbindende Elemente zwischen den Autoren – die Pseudonympraxis als auch der inkonsistente Umgang mit den eigenen vermeintlich unerschütterlichen Prinzipien. Interessant sind diese Überlappungen insofern, als sie auf einen bestimmten psychologischen Archetypen verweisen, der sich eben nicht nur in der vielfach und kontrovers diskutierten Persönlichkeit Wagners niederschlägt, und das große Spannungsfeld abstecken, auf welchem die Ansprüche an die eigene 58

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tät halber als dem allgemeinen, gewöhnlichen Geschmacksdiktat unterworfen. So schreibt Wagner 1836 an Robert Schumann: „Rellstab wird etwas darin [in einem Aufsatz] behandelt; - es ist nöthig, daß man ihm einmal etwas zu Leibe geht, - Sie glauben nicht, was der Mensch hier in BERLIN für Schaden anrichtet.“ (Richard Wagner: Sämtliche Briefe (SB), Bd. 1 (Hrsg. Gertrud Strobel u. Werner Wolf), Leipzig 2000, 3. Auflage, S. 274). Wagner bezieht sich hier auf einen Aufsatz, in welchem er Rellstab nach eigener Aussage polemisch begegnet; bislang existiert keine Überlieferung dieser Niederschrift, da sich Schumann weigerte ihn abzudrucken. Wagners Opern erfahren z.B. 1855 in der Berliner Musikzeitung eine entsprechende Prädikatisierung: „Nein. Das ist nicht die Oper der Zukunft. Das ist Flucht aus der Gegenwart hinaus, die dem Geiste des deutschen Künstlers seine großen allgemeinen Interessen bot, eine Vergangenheit in der wir einst, werdende Jünglinge, des ewigen Römerns und Hellenis trens müde, wenigstens deutschthümlend träumen konnten und vaterländlichen Boden unter uns zu fühlen stolz waren.“ E. Kossat in: Berliner Musik Zeitung Echo , Berlin 1855, S. 45. Charakteristisch ist die auch hier angedeutete ästhetische Antithetik von humanistischem Kosmopolitismus und Patriotismus.

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Wahrhaftigkeit und Geradlinigkeit mit der Realität kollidieren. Wenn später von Projektionsflächen, die dem Antisemiten einen Umgang mit eigenen Schwächen ermöglichen, die Rede ist, sind es genau jene Details, die einen tieferen Zugang ermöglichen. Den im 19. Jahrhundert keineswegs ungebräuchlichen Rückgriff auf Pseudonyme im Umfeld intellektueller Autorenschaften60 praktiziert Rellstab, indem er sein Alter Ego als ‚Freimund Zuschauer‛ agieren lässt. Anders als bei Wagners Handhabe seines K. bzw. Karl Freigedank etabliert Rellstab sein Pseudonym jedoch nicht, um einen einmaligen polemischen Vorstoß in vorläufiger Anonymität zu wagen. Dass Rellstab dieses Pseudonym dennoch mit gewissen Vorsichtsüberlegungen gewählt und genutzt hat, lässt sich anhand der Wirkung seines satirischen Romans Henriette, oder die schöne Sängerin mutmaßen.61 Was die augenfällige Analogie zwischen einem ‚freimündigen Zuschauer‛, der das Beobachtete in Kultur- und Alltagsleben unverblümt wiedergibt, und einem ‚freidenkenden Karl‛, dessen klares Denken keine Scheuklappen trägt, anbelangt, mag das dahinter liegende Motiv das verbindende Element gewesen sein, der Gedanke an eine inhaltliche durch Wagner vollzogene Nachahmungshandlung bei der Frage nach der Pseudonymwahl ist vermutlich zu verwerfen.62 Dabei bergen natürlich beide Pseudonyme durch ihre Aussage eine gewisse Paradoxie: Es wird angestrebt, das eigene Denken und Meinen in freier Form und unzensiert zu äußern – jedoch am liebsten anonym. Das Beharren auf der eigenen Wahrhaftigkeit, auf ‚deutsche Wahrheit‛ wird, indem man sich der selbst eingestandenen Notwendigkeit eines Pseudonyms unterwirft,63 natürlich nachhaltig untergraben. 60

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So sollte der Vollständigkeit halber darauf hingewiesen werden, dass sich auch der zuvor zitierte Autor Uscher Ginzberg dieser Praxis unter Nutzung seines Pseudonyms Achad Ha'am, mit dem er sich als ‚Einer aus dem Volk‛ zu erkennen gibt, bedient hat. Dabei hat er unter diesem Deckmantel zwar seine kulturzionistischen Ansichten darstellen, nie jedoch einen persönlichen Angriff formulieren wollen. Diese kritische Darstellung (Henriette, oder die schöne Sängerin: eine Geschichte unserer Tage, Leipzig 1826) ging als Pasquinade zu Lasten der 1808 geborenen Henriette Sontag sowie anderer weithin bekannter Persönlichkeiten. Der „Criminalsenat des königlichen Kammergerichts“ ordnete daraufhin 1828 an, den „Denunciat etc. Rellstab wegen schwerer Verbal-Injurien […] ausserordentlich mit dreimonatlichem Festungsarrest zu bestrafen […].“ In: (Jahrbücher der gesammten deutschen juristischen Literatur , Bd. 11 (Hrsg. F. C. K. Schunck), Erlangen 1829, S. 144. Zumal sich Wagner mit seinem K. Freigedank nicht zum ersten Mal in die Welt der Pseud onyme bewegt hat: Als William Drach (1833 u. 1869), Canto Spianato (1834), H. Valentino und W. Freudenfeuer (beide 1841) publizierte er bereits, ehe er Freigedank das Leben ein haucht. Neun Jahre vor Freigedanks Aufsatz bildeten Freudenfeuers Pariser Amüsments, veröffentlicht in der Europa (Stuttgart 1841, 2. Bd., S. 577ff.), bereits die Ouvertüre zur Wagner‛schen Meyerbeerkritik. Rellstab selbst hat sich vermutlich nie schriftlich zur Nutzung seines Pseudonyms geäußert. Wagners heftiges Dementi hingegen, ein Pseudonym für „Das Judenthum in der Musik“ aus Angst vor möglichen Reaktionen gebraucht zu haben, lässt in der folgenden Erklärung das zuvor Verneinte schließlich doch als Motiv erkennen: „Nicht aus furcht, sondern um zu

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Im Zusammenhang mit einer Authentizitätsdiskussion spricht dieses Vorgehen freilich für sich. Wo ein beinahe überzogenes Insistieren auf künstlerischer und menschlicher Wahrhaftigkeit beobachtet werden kann, lässt sich leicht folgern, dass für den Fordernden der gleiche Anspruch gilt. Wagner hat sich nicht zuletzt mit der ästhetisch-kritischen Darstellung seines Gesamtkunstwerks als Paradigma einer geeinten Wahrhaftigkeit und Authentizität, als Originalgenie empfunden und ist sich selbst diesem Anspruch somit gerecht geworden; Rellstab strebte mit spitzer Feder, scharfer Beobachtungsgabe und ungebrochenem Patriotismus nach schriftstellerischer Wahrhaftigkeit und konnte auf diese Weise seinem Authentizitätsanspruch entsprechen. Indem beide Männer in der Musik Meyerbeers eine Uneigentlichkeit konstatieren, generieren sie dabei stets einen Zusammenhang mit einer vermeintlichen inneren Unstetheit des (für Wagner: jüdischen) Komponisten, die sich ihrer Einschätzung nach äußerlich unter anderem im Fortgang aus der Heimat nachweisen lässt. Rellstab findet für diese Charaktereigenschaft Meyerbeers die schon genannte Bezeichnung der „ Abtrünnigkeit“, Wagner spricht von „Freundes-verrath“.64 Als überschreibendes Phänomen ließe sich aus den Schilderungen Wagners und Rellstabs der Vorwurf einer Beliebigkeit herausarbeiten, welche eine Prinzipientreue – sei sie kompositorischer oder zwischenmenschlicher Natur – unmöglich macht. Problematisch wird der Umgang mit dem durch Rellstab und Wagner formulierten verbindlichen Anspruch auf Authentizität, wenn man ihn, wie sie es im Fall Meyerbeers getan haben, spiegelbildlich und unter Ausschluss der bereits dargestellten Pseudonymproblematik auf die persönliche Ebene der Kritiker überträgt. Dabei entpuppt sich nämlich die Unversöhnlichkeit mit Meyerbeers ‚Inauthentizität‛, die vermeintlich ohne jedes wahre Gefühl dem Modediktat und dem Gebot der Kapitalmehrung gehorcht, als eigenes Defizit. Wagners komplexes bzw. inkonsistentes Verhältnis zu den Juden ist ebenso hinlänglich bekannt wie seine Gewissenhaftigkeit, mit welcher er potentielle Einnah-

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vermeiden, daß von den Juden die frage in das nackte Persönliche verschleppt würde, erschien ich pseudonym. Ich hegte einen lang verhaltenen groll gegen diese Judenwirthschaft, und dieser Groll ist meiner natur so nothwendig, wie galle dem blute.“ (vgl. Richard Wagner: SB, Bd. 3, S. 544) Hinzu kommt, dass er wohl ursprünglich plante, als R. (Richard?) Freigedank in Erscheinung zu treten und seinem Freund dem Diplomaten Karl Ritter, auf dessen Vornamen er sich schließlich doch kurzfristig festlegte, diesen Entschluss entschieden erklärte: „Der name R. Freigedank soll als gültig ausgegeben werden: daß alle welt errathen wird, der artikel sei von mir, macht nichts aus: ich vermeide dennoch durch den finguirten namen einen unnützen scandal, der absichtlich herbeigeführt sein würde, wenn ich meinen wirklichen namen unterschriebe. Solten die Juden auf den unglücklichen einfall kommen, die sache gegen mich in das persönliche hinüberzuziehen, so würde es ihnen sehr übel bekom men, da ich mich nicht im mindesten fürchte […].“ (Richard Wagner: SB Bd. 3, Leipzig 1983, 2. Auflage, S. 384) Offensichtlich hat Wagner zu diesem Zeitpunkt seine eigene Courage überschätzt. Richard Wagner: Die Oper und das Wesen der Musik in: SSuD, Bd. 3, S. 295.

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mequellen und Optionen, die einen persönlichen Vorteil versprachen, nachging. Wenn später von der Beziehung zwischen Wagner und Meyerbeer die Rede ist, wird konkreter auf diesen Sachverhalt eingegangen werden, für den Moment sei lediglich im Fall Wagners der Tatbestand eines gewissen Opportunismus festgestellt, der ihn gerade vor dem Hintergrund der Meyerbeerkritik mit Rellstab verbindet. Wenn andererseits in der Musikgeschichtsschreibung sehr prosaisch von einer späteren Aussöhnung zwischen Meyerbeer und Rellstab die Rede ist, welche in der Macht der Meyerbeer‛schen Musik wurzelt,65 ist das kaum mehr als eine euphemistische Umschreibung einer Inkonsequenz Rellstabs, der die zunächst so verhasste und heftig kritisierte Musik Meyerbeers in Aussicht auf einen finanziellen Vorteil durch eigene Zuarbeit voranbrachte. Nachdem 1842 das Berliner Opernhaus niederbrannte, wurde Meyerbeer, zu jener Zeit in Berlin weilend, damit beauftragt, eine dem Anlass entsprechende Oper für die Wiedereröffnung des Hauses zu erarbeiten. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. bestand auf Rellstabs Arbeit am Libretto, um den patriotischen Schliff der Oper zu gewährleisten, die unter dem Titel Ein Feldlager in Schlesien die historischen Kontexte der Schlesischen Kriege unter Friedrich dem Großen thematisiert. Meyerbeer, nicht zuletzt durch persönliche Vorbehalte nicht hinreichend von Rellstabs literarischer Kompetenz überzeugt, beauftragt im Stillen seinen langjährigen und ihm freundschaftlich verbundenen Librettisten und Dramatiker Eugène Scribe mit der Niederschrift des Librettos, um anschließend Rellstab die Übersetzung und Versifikation des Textes aus dem Französischen zuzuweisen. 66 Rellstab zögert nicht und akzeptiert beides: die mit dem Auftrag verbundene Aufstockung seiner finanziellen Mittel, die sich vor allem durch die gerade neu eingeführte Tantiemenzahlung als nicht geringfügig ausnimmt, sowie das Angebot, seine als die eigentliche Autorschaft anzugeben. Kurioserweise erfüllt Rellstab damit zwei jener Vorwürfe, die er zuvor im Zusammenhang mit Meyerbeer formuliert hat: Die Verleugnung ‚innerer Wahrhaftigkeit‛ des Geldes wegen und das vermeintlich ‚verlogene‛ Tonsetzen, das Rellstab in Anspielung auf die Aufmachung als „ Toilettenlüge“67 bezeichnet und bezüglich einer von außen sinnfälligen Unaufrichtigkeit durch sein eigenes Wirken als eine Art Textplagiator weit übertrifft. 65

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So z.B. in Schuchts Meyerbeerbiographie: „Dergleichen Bekehrungen sind vielfach vorgekommen. Man denke an Rellstab und andere zahlreiche Kritiker und Künstler, welche die Macht der Töne von ihrem Judenhaß und Vorurtheil befreit hat.“ Vgl. Meyerbeer‛s Leben und Bildungsgang, S. 201. Vgl. z.B. Heinz und Gudrun Becker: Giacomo Meyerbeer. Ein Leben in Briefen, S. 141. Als Rechtfertigungsgrundlage seiner Meyerbeerkritik beschreibt Rellstab seine Rezeptionsästhetik: „Von jeher ist der Red. der Iris der geschworene Feind aller jener Salon-Koketterie, Raffinerie und Carricatur gewesen, die sich für Bildung und Gefühl geben will, jener Schminke und Schnürbrüsten und sonstigen Toilettenlügen, die geistig und leiblich für Wahrheit und Natur gelten sollen: und gerade für diese Welt denkt, fühlt (wenn dabei etwas zu fühlen ist), lebt und schreibt Meyerbeer. Darum erscheint uns Alles wie Marionetten, wie herausgeputzte Wachsfiguren, die von weitem unter blendender Beleuchtung einen Moment täuschen, in der Nähe aber desto frazzenhafter erscheinen.“ Iris, 1839, S. 162.

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Nach diesem ‚Sündenfall‛, welcher Rellstab ein Stück von Meyerbeers Erfolg garantiert hat, nimmt sich Rellstabs Meyerbeerkritik zunehmend versöhnlicher bis anerkennend aus, was sogar Meyerbeer stutzen lässt.68 Es stellt sich bei der Betrachtung dieser Entwicklung – zunächst die resoluten Entladungen in Form diverser Anschuldigungen, dann die Milde und Versöhnlichkeit – natürlich die Frage, ob das grundlegende Motiv in der Kritik Rellstabs ganz lapidar als Neid zu benennen ist. Zwar mögen die ästhetischen Ansprüche beider Männer unüberbrückbar gewesen sein, letztlich ist es aber Meyerbeers Erfolg, vor allem im Ausland, der Rellstab (und andere Kritiker) veranlasst hat, seine Landsleute über die vermeintlich wahre Beschaffenheit von Meyerbeers Werk aufzuklären. Indem Rellstab schließlich selbst von der ‚inauthentischen‛ Musik, der mutmaßlich jede Tiefe fehlt, profitiert, verstummt sein Protest – was im Hinblick auf die eigene Wahrhaftigkeit nicht weiter kommentiert werden muss.

8.4 Meyerbeer und Robert Schumann: Meyerbeerkritik = Judenkritik? In der Diskussion um Schumanns Meyerbeerkritik wird Schumann seit Jahren eine Rolle zugewiesen, die er bei näherer Betrachtung höchstens partiell erfüllt. Am Beispiel Schumanns lässt sich besonders nachhaltig darlegen, warum gerade nach 1945 die Notwendigkeit besteht, ästhetische Problemstellungen zunächst außerhalb eines politischen Rahmens zu positionieren, ehe eine zu vorschnelle Verknüpfung weitere Einsichten in die Motivformung durch einen politisch anrüchigen Anstrich unmöglich macht. Dabei sind zwei Dinge zu hinterfragen: 1. 2.

War Schumann Antisemit? Basiert Schumanns Meyerbeerkritik auf Antisemitismus?

Für 2. trägt die Beantwortung auf 1. insofern Relevanz, als sich dadurch, je nach Aspekt, verschiedene Annäherungen eröffnen. Wenn Schumann keine antisemitischen Ressentiments gehegt hat, ist 2. dementsprechend umschweiflos zu verneinen. Legen jedoch Schumanns Äußerungen den Verdacht auf Antisemitismus nahe oder belegen ihn sogar, ist umso vorsichtiger mit 2. zu verfahren, da eine antisemitische Geisteshaltung die Basis für die Kritik an einem jüdischen Komponisten sein kann, es aber trotz einer gewissen Wahrscheinlichkeit keineswegs sein muss. In Teilen ist in der systematischen musikwissenschaftlichen Auseinanderset68

Ein vom Publikum mit sehr zurückhaltender Zustimmung aufgenommenes Kooperationsprojekt von Meyerbeer und dessen Bruder Michael Beer kommentiert Rellstab 1846 so un gewohnt lobend, dass Meyerbeer selbst in seinem Tagebuch notiert: „Die Staatszeitung, die Spenersche & die Vossische Zeitung sprechen sich heute alle sehr günstig über meine Musik zum Struensee [Schauspiel] aus. Rellstab hat mich noch nie so sans reserve gelobt....“ Vgl. Heinz und Gudrun Becker: Giacomo Meyerbeer, Briefwechsel und Tagebücher (1846-1849), Berlin 1985, S. 113.

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zung mit diesen Fragen zu undifferenziert verfahren worden, was mitunter zu einer Umkehrung einer logischen Kausalität geführt hat – weil Schumann Meyerbeer kritisiert hat, hängt ihm das Etikett der Judenfeindlichkeit an. 69 Jene übereilte Zuweisung speist sich zweifellos aus dem nach 1945 gereiften Schuldgefühl, das eine deutsche Geschichtsbetrachtung nur ungern in Einzelphänomene aufgliedert und stattdessen, das ‚Ergebnis‛ vorwegnehmend, verschiedene Strömungen miteinander vermengt, was zur Folge hat, dass zum Beispiel die Begriffe Patriotismus bzw. Nationalismus und Antisemitismus heute eine ähnlich negative Konnotation erfahren und streckenweise synonym behandelt werden.70 Die Tatsache, dass Nationalismus und Philosemitismus bzw. deutsch-jüdischer Nationalismus und Patriotismus vereinbar waren und sind, ist bereits konstatiert worden und verbietet deshalb auch im Folgenden eine Gleichsetzung von Nationalismus und Antisemitismus, welche sich bis auf die ästhetische Ebene erstreckt. Die Quellenlage für die Beantwortung der Frage 1. zeichnet ein überaus mehrdeutiges Bild von Schumanns Einstellung zu den Juden, was angesichts realer Umstände, welche die Anwendung eindimensionaler Schemata kaum gestatten, nicht überrascht. Dennoch ist es unter Berücksichtigung aller Indizien mindestens fragwürdig, Schumann als Antisemiten einzuordnen. Als besonders beweislastig wird in dieser Frage Schumanns populärer Tagebucheintrag gewertet, an Clara gerichtet und auf Felix Mendelssohn Bartholdy abzielend: 69

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So z.B. geschehen in Dahms Topos der Juden: „Wenngleich beide Rezensionen unterschiedliche Opern Meyerbeers besprechen, so zeigt sich gerade durch eine ähnliche Struktur der Anschuldigungen wie auch in der polemischen Schärfe, dass das negative Urteil weniger auf die Werke an sich, sondern vielmehr auf die Person Meyerbeers und seine jüdische Herkunft zielte.“ Ibid., S. 108. In ihrer gründlich recherchierten Arbeit verweist Dahm zu Recht auf die ästhetische Spannung zwischen dem ‚deutschen‛ Originalitätsanspruch und einem übernationalen breiten Musikgeschmack, bleibt aber bei aller durchaus erhellender Spekulation den Nachweis schuldig, dass Schumanns Ästhetik eine explizit antijüdische ist. Wolfgang Boettichers Monographie (Robert Schumann. Einführung in Persönlichkeit und Werk , Würzburg 1941) hat dabei über Jahrzehnte nachhaltig dazu beigetragen, Schumann als einen Antisemiten zu zeichnen – so stellt er das Verhältnis zwischen Mendelssohn und Schumann als angespannt, sogar aversiv dar und begründet es mit der angeblichen Selbstbekundung Mendelssohns, dass ihn sein „rassischer und biologischer Sinn“ davon abhielte, die wahre deutsche Tiefe ebenso zu erkennen wie Schumann (S. 256). Dass Boetticher dabei Zitate und Briefe fälschte, um Schumann als Antisemiten zu ‚veredeln‛, verbessert den Stand des Komponisten nur etwas – die Verbindung von Robert Schumann und dem Prädikat ‚antisemitisch‛ konnte sich über Jahre erhalten und ist bis heute nicht völlig korrigiert worden. Zur Diskussion um Boettichers Fälschungen vgl. z.B.: Eric Werner: Mendelssohn. Leben und Werk in neuer Sicht, Zürich 1980, S. 285. Wie z.B. bei Thomas Haury: „Darüber hinaus ist in der Gemeinschaftsvorstellung ,Nationʼ der Antisemitismus als Potenz und Tendenz immer schon angelegt […].“ Th. Haury: Antisemitismus von Links - Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR, Hamburg 2002, S. 104. Kritisiert wird diese Feststellung einer vermeintlichen Zwangsläufigkeit u.a. von Wolfgang Frindte in: Inszenierter Antisemitismus: eine Streitschrift, Wiesbaden 2006, S. 141.

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Klara sagte mir, daß ich gegen Mendelssohn verändert schiene; gegen ihn als Künstler gewiß nicht – das weißst du – hab’ ich doch seit Jahren so viel zu seiner Erhebung beigetragen, wie kaum ein Anderer. Indeß – vergessen wir uns selbst nicht zu sehr dabei. Juden bleiben Ju den; erst setzen [?] sie sich zehnmal, dann kömmt der Christ. Die Steine, die wir zu ihrem Ruhmestempel mit aufgefahren, gebrauchen sie dann gelegentlich um auf uns damit zu werfen.71

Hier begegnet eine Verknüpfung des ‚abstrakten‛ mit dem ‚konkreten‛ Juden, die im öffentlichen Leben des 19. Jahrhunderts einen eigenen Topos bildet. Es ist anzunehmen, dass diesem Eintrag eine persönliche Stimmungstrübung Schumanns vorausging, die sich mit Mendelssohn verbunden hat. Wenn Schumann vom Ruhmestempel spricht, den die Nichtjuden den Juden gebaut haben sollen, benutzt er diese Allegorie als totum pro parte, um ein Muster zu beschwören, das Schumanns Unterstützung für Mendelssohn als unbedingt kennzeichnet. Es darf sicherlich unterstellt werden, dass sich Schumann des Nichtzutreffens dieses vermeintlichen Regelfalls bewusst war – denn dass die deutschen Juden keineswegs auf das allgemeine Wohlwollen und den Beistand seitens der nichtjüdischen Bevölkerung hoffen konnten, verstand sich auch für Schumann. Indem er ‚die Juden‛, also Mendelssohn, „gelegentlich mit Steinen werfen“ lässt, formuliert Schumann nicht ohne jeden Sarkasmus eine verspürte Enttäuschung, vielleicht auch ein Gefühl von Undankbarkeit, was aber vor allem im situativen Kontext berücksichtigt werden muss. Schließlich ist Schumann weit davon entfernt, in seinen Briefen und Tagebüchern in regelmäßige Tiraden gegen seinen Freund Mendelssohn auszubrechen, mit dem ihn natürlich auch eine gewisse Konkurrenzsituation verbunden hat. Schumann begegnet hier seinem Freund privatim mit einer gewissen Bissigkeit, die er mit einem wahrnehmbaren Augenzwinkern und antijüdischen Klischees ausschmückt. Berücksichtigt man dabei den Umstand, dass diese höchst inoffizielle Anmerkung, in der Annahme verfasst, nie von Mendelssohn entdeckt zu werden, keine massive Boshaftigkeit vorweist und führt man sich außerdem vor Augen, dass diese Zeilen gerade durch ihre Einmaligkeit im außerordentlich umfassenden Schrifttum Schumanns hervortreten, sollten sie nicht überbewertet werden. Indem sich Schumann eines gewissen Spotts gegenüber den Juden bedient, dieser aber von der Freundschaft zu Mendelssohn72 gerahmt ist, stellt sich die Frage, ob einem Menschen eine Stichelei gestattet ist, mag sie auch geschmacklos sein, ohne dass daraus ein Politikum abgeleitet werden muss. Abgesehen von neutral gehaltenen Anmerkungen zur jüdischen Herkunft einiger Zeitgenossen Schumanns ist die oben angeführte Äußerung die einzige ihrer 71

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Robert Schumann: Tagebücher, Bd. 2 (Hrsg. Gerd Nauhaus u. Georg Eismann), Leipzig 1971ff., S. 122f. Dass Schumann Mendelssohn trotz dessen durch den Vater veranlassten Konversion als Juden und nicht als Christen wahrnimmt, ist, so man persönliche Einstellungen außen vor lässt, insofern als legitim zu bewerten, als die halachische Matrilinearität einen Juden nie aus seinem Judesein entlässt.

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Art, die eine abwertende Position besetzt und mit Konkretion verknüpft ist. Andere antisemitisch interpretierbare Phrasen, 73 welche durch Schumann verfasst wurden, beschreiben dagegen das Phänomen des abstrakten Jüdischen, 74 welches dank mangelnder Personalkonkretion eine ideale Projektionsfläche antisemitischer Zuschreibungen bildet. Am aussagekräftigsten ist dabei eine emotional stark beladene Stellungnahme Schumanns gegenüber seinem zukünftigen Schwiegervater Friedrich Wieck, die er gegenüber Clara wie folgt formuliert: Mir ist's manchmal gar nicht als wüßt' ich von Musik. Es ist ja wie unter Schacherjuden ein Leben.75

Unverkennbar ist hier der Zorn, dem Schumann Luft zu schaffen versucht, indem er nach einer Analogie sucht, die möglichst negativ besetzt ist. Wieck hat zuvor Schumann und auch der eigenen Tochter in radikaler Weise zugesetzt und die Verbindung der beiden über Jahre und um jeden Preis verhindern und verbieten wollen – schließlich waren unerfüllbare Geld- bzw. Einkommensforderungen an den Komponisten gestellt worden, die bei Schumann aus nachvollziehbaren Gründen ein starkes Frustrationsgefühl ausgelöst haben. Indem er Wieck in diesem Zusammenhang als einen Juden bezeichnet, 76 bedient er sich mit voller Absicht des tradierten Stereotyps des raffgierigen Juden, um die Schwere des Vorwurfes zu unterstreichen und möglicherweise eine Überspitzung zu phrasieren. Dadurch bezieht er sich nicht etwa auf eine konkrete Erfahrung, sondern gibt ein Bild wieder, das seinerzeit als ein selbstverständlicher Gemeinplatz steht. 77 Bemerkenswert ist die 73

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In ihrem Aufsatz „Geld oder Liebe“ greift Janina Klassen weitere Äußerungen Schumanns auf und überprüft sie hinsichtlich ihres Antisemitismuspotentials. Dabei betont sie die un lösbare Verflechtung von antisemitischen Invektiven und ästhetischen Einstellungen, wie sie auch im Schrifttum Schumanns ihren Niederschlag finden. Für Klassens Fragestellung, die sich in erster Linie mit der Verwobenheit ästhetischer und politischer Phänomene verbindet, ist es irrelevant, „[o]b Schumanns Äußerungen spontane, durch momentane Mißstimmungen evozierte ,Ausrutscherʼ waren oder ob ihnen eine grundsätzlich judenfeindliche Gesinnung zugrunde lag […].“ Die hier vorliegende Untersuchung macht sich jedoch die Frage nach Schumanns Antisemitismus gerade vor dem Hintergrund der Meyerbeerkritik zum Gegenstand und soll deshalb eine der Quellenlage entsprechende größtmögliche Klarheit erzielen. Vgl. Janina Klassen: „Geld oder Liebe – Antijüdische Metaphorik in ästhetischen Schriften und im Gefühlsdiskurs um 1840 am Beispiel von Robert Schumann“, in: Musikwelten - Lebenswelten: jüdische Identitätssuche in der deutschen Musikkultur , Bd. 9 der Reihe Jüdische Moderne, (Hrsg. Beatrix Borchard und Heidy Zimmern), Köln 2009, S. 173180. Beschrieben u.a. von Jean-Paul Sartre in seinem „Portrait de l’antisémite“ (1945). Clara und Robert Schumann: Briefwechsel, Bd. 3 (Hrsg. Eva Weissweiler), Frankfurt 2001, S. 870. Auch an anderer Stelle benutzt Schumann den Ausdruck ‚Juden‛, um Claras familiären Hintergrund zu fassen – Ibid., Basel 1984, Bd. 1, S. 170. Der Topos des geldaffinen Juden hat sich über viele Jahrhunderte mit großer Selbstverständ lichkeit bis in die Moderne erhalten, was einerseits einer historischen Faktizität entspricht, andererseits trotz der bestehenden Unvermeidlichkeit stets großen Widerwillen evoziert hat.

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dabei verwendete Klimax, die den Juden in die „ Schacherjuden“ mutieren lässt und durch den Wechsel im Numerus die empfundene Empörung betont. Ein „ Schacherjude“ ist jedoch per definitionem geldgierig, und der Gebrauch dieses – freilich ungalanten – Begriffes verweist möglicherweise auf einen Anhaltspunkt zu Schumanns Einstellung: Wo ein überzeugter Antisemit die Verknüpfung von Geldgier und Judesein als völlige Selbstverständlichkeit empfindet, braucht es, wie es sich beispielsweise an Wagner nachweisen lässt, 78 keiner Emphase oder Erklärung; ‚der Jude‛ als solcher wäre in seiner Begrifflichkeit hinreichend negativ besetzt. Für Schumann erfüllt ‚der Jude‛ jedoch offenkundig nicht in ausreichendem Maß das Kriterium einer Herabsetzung, sodass er ihn durch die „ Schacherjuden“ konkretisieren muss. Judenfreundlich ist seine Formulierung in keinem Fall, aber die Spanne zwischen tief empfundener Judenfreundlichkeit bis hin zum überbordenden Judenhass darf nicht unverhältnismäßig verdichtet werden, und es muss die Überlegung gestattet sein, ob alles, was nicht judenfreundlich ist, im Gegenzug als antisemitisch eingeschätzt werden sollte. Diese Frage muss insbesondere dann gestellt werden, wenn in nur geringem Maße einer antisemitischen Geisteshaltung entsprochen wird, die sich in zeitgenössischen Autorenschaften erheblich schärfer

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Ihn als realitätsentbehrendes Klischee abzutun, würde der Sache jedoch genauso wenig gerecht wie die Akzeptanz einer Pauschalverurteilung (einen gründlichen Einblick in diese Thematik bietet z.B. Arthur Prinz, Avraham Barkai: Die Juden im deutschen Wirtschaftsleben, Bd. 43 der Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts , Tübingen 1984). Dass dieses Stereotyp vor und zu Schumanns Zeit einer kaum kritisierten Denktradition entspricht, belegen diverse öffentlichkeitswirksame Publikationen, denen sich die Intellektuellenschicht kaum entzogen hat. Im Systematischen Handbuch der Staatswirthschaft ist z.B. zu lesen, dass „bey den Juden die Art des Wuchers vorzüglich häufig ist, daß sie Waaren statt baaren Geldes zu einem ungeheuren Preis geben, und nachher wohl selbst wieder um ein Spottgeld an sich kaufen […].“ (Friedrich Benedict Weber: Systematisches Handbuch der Staatswirthschaft: mit vorzüglicher Rücksicht auf die Literatur derselben, Bd. 1, Berlin 1804, S. 421). Auch in der Allgemeinen Literaturzeitung von 1808 ist zu lesen, dass „der Neigung der Juden zum Wucher Einhalt zu thun [sei]“. ( Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahre 1808, Bd. 2, Halle 1808, S. 901). Im Unterhaltungsblatt für Freunde des Schönen und Nützlichen wird 1827 andererseits verurteilt, dass „Männer, welche das Judenthume nur aus dem neuen Testamente […] kennen, […] urtheile über den Geist des Judenthums [fällen]“, und „den Schacher-Juden mit dem Judenthume [verwechseln].“ ( Iris – Unterhaltungsblatt für Freunde des Schönen und Nützlichen , Jahrgang 1827, Bd. 2, Hrsg. Ludwig Brönner, Frankfurt 1827, S. 735). Im letzten Fall wird gerade im Zusammenhang mit einem Toleranzpostulat die Unterscheidung zwischen dem ‚Schacherjuden‛ und den Juden per se unterstrichen, was zwar die Existenz der erstgenannten und unbeliebten Gruppe einräumt, sie aber gleichzeitig aus der Annahme eines Regelfalles entlässt. Wagner hat sich und seinem Freund Theodor Uhlig bekanntermaßen nach der pseudonymen Veröffentlichung seines Aufsatzes „Das Judenthum in der Musik“ die Frage gestellt, ob Franz Brendel, der Herausgeber der Neuen Zeitschrift für Musik, Wagners Zeilen entsprechend vergüte. Wagner, sich durchaus bewusst, dass er mit seinem Ansinnen seine eigene antisemitische Haltung parodieren musste, wählte dazu folgende Formulierung: „Wird er mir das Judenthum honoriren? Verzeihe mir diese jüdische frage, allein eben die Juden sind dar an schuld, daß ich an jeden heller Verdienst denken muß!“ Richard Wagner: SB, Bd. 3, Wiesbaden/Leipzig 1967, S. 427.

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manifestiert, was sich vor allen Dingen im Vergleich mit Wagners und Theodor Uhligs, aber auch rückblickend mit Matthesons und Forkels Einschätzungen des jüdischen Kulturschaffens verdeutlicht. Hinterfragt man die politischen Einstellungen Schumanns, um einem möglichen Antisemitismus auf die Spur zu kommen, nimmt sich die ausschließliche Suche nach Argumenten, die für die Ablehnung des Jüdischen sprechen, als unvollständig aus. In gleichem Maße müssen diejenigen Umstände und Hinweise berücksichtigt werden, die zu einer Entlastung Schumanns im Zuge dieser ‚Anklage‛ beitragen können. Dabei spielt die erwähnte Freundschaft zwischen Schumann und Mendelssohn, der durch Schumann nachweislich als Jude benannt wurde, eine Rolle, die gleichwohl nicht überbewertet werden sollte: Trotz Mendelssohns halachischer Zugehörigkeit zum Judentum gestattet ihm die väterliche Konversion eine Art ‚protestantischer Übertünchung‛, welche immerhin die Patenschaft für Marie Schumann, die Erstgeborene des Künstlerehepaares, ermöglicht. 79 Die Freundschaft zum jüdischen Komponisten und Geigenvirtuosen Joseph Joachim hingegen etabliert Schumann viele Jahre, ehe sich Joachim 1855 taufen lässt, 80 was aus rein sachlicher Perspektive deutlich gegen einen in welcher Form auch immer fest verankerten Antisemitismus Schumanns spricht. Zwar besteht spätestens seit der öffentlichkeitswirksamen Auseinandersetzung mit Wagners inkonsistentem Antisemitismus81 mitunter die Tendenz, den privaten und unkomplizierten Umgang eines mutmaßlichen Antisemiten mit einem oder mehreren Juden erst recht als belastendes Indiz zu deuten,82 aber auch hier muss die Relation im Vergleich gewahrt werden: Bei Joachim handelte es sich eben nicht um einen ‚Alibijuden‛, sondern es reichte die Verbundenheit der Familie Schumann zu Joachim so tief, dass es ihrem Wunsch entsprach, ihm die Patenschaft für ihren Sohne Felix zu übertragen, was durch die zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollzogene Konversion jedoch nicht realisiert werden konnte. Eine ähnliche Innigkeit und lebenslange Freundschaft gilt gleichfalls für die Beziehung Schumanns zum jüdischen Komponisten Ferdinand Hiller. 79

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Vgl. z.B. Berthold Litzmann: Clara Schumann, ein Künstlerleben nach Tagebüchern und Briefen, Bd. 2 (Ehejahre, 1840-1856), Leipzig 1920, S. 85. Vgl. Janina Klassen: Clara Schumann: Musik und Öffentlichkeit, Köln/Weimar 2009, S. 240. So z.B. bei Herman Van Campenhout: Die bezaubernde Katastrophe: Versuch einer WagnerLektüre, Würzburg 2005, S. 108ff. Ähnlich argumentiert Hans Joachim Hinrichsen hinsichtlich des antisemitischen Unterbaus der Judenfreund- bzw. -bekanntschaften von Hans von Bülow und Wagner: „Wie weit all diese öffentlichkeitswirksamen Verhaltensweisen taktischer Natur waren oder nicht, wird nicht immer leicht zu klären sein […]. Und Wagner hat sich zu Levi als Bayreuther Festspieldirigent bekannt. Gerade dies aber – in Bezug auf Wagner wie auf Bülow häufig als Entlas tungsgrund vorgetragen – macht die Sache nicht besser, sondern eher noch beklemmender. Denn gerade das Festhalten an dem Komplex eines musikalischen Judentums bei Praktizierung zahlloser individueller Ausnahmen trug zur Immunisierung des Konzepts gegen jegliche Form rationaler Gegenargumentation nachhaltig bei.“ Hinrichsen: „Musikalische Interpretation und antisemitisches Rezeptionsparadox“ in: Musikwelten – Lebenswelten, S. 191.

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Nicht zuletzt aber steht das Bekenntnis Schumanns zum jüdischen Pianisten und Komponisten Ignaz Moscheles in einer Deutlichkeit, die keinen Federstrich an einer Zeichnung von Schumann als überzeugten Antisemiten zulässt. Schumanns Bewunderung für den jüdischen Künstler entspringt dabei nämlich weder einer intimeren Bekanntschaft, wie man die Zuneigung ‚trotz‛ des jüdischen Hintergrunds bei den Freundschaften zu Mendelssohns, Joachims oder Ferdinand Hillers erklären könnte – wollte man auf einem Antisemitismus Schumanns insistieren, der wie im Falle Wagners die persönlichen Bekanntschaften ausschließt. Noch lässt sich andererseits über die Eindeutigkeit von Moscheles‛ Judesein streiten, der, anders als Mendelssohn, Hiller und Joachim, 83 zeitlebens der jüdischen Religion nicht nur nominell anhing, sondern sie auch aktiv praktizierte. Der 16 Jahre jüngere Schumann bezeugt seine Verbundenheit zu Moscheles von Kindheit an und revidiert seine hohe Meinung nie – dabei schließt seine Bewunderung für den jüdischen Komponisten ebenso fachliche Kompetenz als auch Persönlichkeitsstruktur ein. Als besonders maßgeblich werden dabei folgende Zeilen bewertet, die der Komponist 1830 an seine Mutter richtet: In drei bis vier Jahren hoff' ich so weit wie Moscheles zu sein. Weißt Du noch, wie wir in Karlsbad im Konzert nebeneinander saßen und Du mir freudig zuflüstertest: „Moscheles sitzt hinter uns!“? Wie ihm dann alle achtend aus dem Weg gingen und wie er so beschei den durch die Menschen ging. Ich will mir ihn in allem zum Vorbild machen.84

Dieses Bekenntnis, das nie widerrufen wurde, lässt sich nicht mit der Überzeugung eines Antisemiten zusammenführen, und auch die fachliche Hochschätzung Moscheles‛ wird durch Schumann stets betont. Folgt man zusammenfassend den Ausführungen zu 1., ohne sie mit weiteren Vermutungen oder Unterstellungen in welche Richtung auch immer anzureichern, ist Schumanns Einstellung gegenüber dem Judentum zwar nicht präzise zu fassen, auszuschließen ist aber ein tief verwurzelter Antisemitismus, der die Ansichten, Lebensweise und allgemeine Geisteshaltung des Komponisten grundlegend steuert.85 Die teilweise leichtfertig formulierten antijüdischen bzw. antisemitischen Stereotypen, vor allem im Zusammenhang mit dem nichtjüdischen Wieck, gestatten auf der anderen Seite keine Zuordnung Schumanns als ausgesprochenen Juden83

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Vgl. Jacob Katz: Richard Wagner: Vorbote des Antisemitismus , Königstein/Taunus 1985, S. 143. Richard Münnich (Hrsg.): Aus Robert Schumanns Briefen und Schriften , Weimar 1956, S. 76. Zu bedenken ist immerhin außerdem, dass sich der Kreis um die Davidsbündler, als dessen Mitinitiator Schumann genannt werden kann, mit seinem klaren Bekenntnis zum alttestamentlichen und jüdischen David schwer als Antisemiten denken lässt. Zwar wird Davids Kampf gegen die Philister bei der Namensgebung des Bundes in die stark abgewandelte Begriffsbedeutung des 19. Jahrhunderts transportiert, die historische Gestalt des König David dürfte einem überzeugten Antisemiten jedoch nur sehr bedingt als Vorbild dienlich sein – schon Forkels Antijudaismus macht vor David nicht halt.

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freund. Die Nutzung dieser gängigen Klischees findet jedoch in einem Rahmen statt, der überschaubar ist und nicht weiter ausgebaut wird. Insgesamt ergibt sich dementsprechend das Bild eines Menschen, der sich nie maßgeblich reflektierend mit der Frage nach der eigenen Einstellung zum Jüdischen auseinandergesetzt hat. Dieser Umstand verweist auf ein mangelndes inneres Bedürfnis, was wiederum für eine tendenziell neutrale Grundhaltung steht, welcher weder eine ausgesprochene Judenfreund- noch eine Judenfeindschaft zuzuordnen ist. Das Heranziehen konkreter Beziehungen in Schumanns Leben legt dabei wiederum eine gewisse Judenfreundlichkeit nahe. Dieser Befund ist vor allen Dingen in Bezug auf 2. („Basiert Schumanns Meyer beerkritik auf Antisemitismus?“) insofern interessant, als die aktuelle Diskussion um Schumanns Meyerbeerkritik Auswüchse zu verbuchen hat, deren Grundlagen weit jenseits einer sachlichen Auseinandersetzung um einen möglichen Antisemitismus bei Schumann zu suchen sind.86 Nimmt man für 1. also eine grundsätzlich 86

Schumanns Hugenotten-Kritik besetzt in ihrer extremen Polemik und Schärfe eine herausstechende Position im kritischen Musikschrifttum des 19. Jahrhunderts und dient dementsprechend bis heute als Gegenstand einer Vielzahl von Betrachtungen. Es ist dabei zulässig und wünschenswert, dass auch über spekulative Methodik eine Motivationserhellung angestrebt wird, allerdings darf nicht von Fakten gesprochen werden, wo sie nicht nachweislich bestehen. Joachim Köhler hat beispielsweise zu einer Analogie gefunden, deren Rechtmäßig keit als Tatbestand nicht erfüllt wird: „Es war der Romantiker Schumann, der dem Publikumserfolg von Meyerbeers Hugenotten einen gehässigen Verriss mit Todeswunsch hinterherschickte, in dem Wagners spätere Perfidien ansatzweise vorweggenommen waren. […] Es kann nicht ärger kommen, man müßte denn die Bühne zu einem Galgen machen, und dem äußersten Angstschrei eines von der Zeit gequälten Talentes folgt im Augenblicke die Hoff nung, daß es besser werden muß.“ Was, entschlüsselt, nichts anderes besagen wollte als der Schluß von Wagners „Judenthum“: Nur Ahasvers Tod bringt allen Erlösung. Auch Hitler teilte diese Ansicht.“ (ders.: Wagners Hitler – Der Prophet und sein Vollstrecker , München 1997, S. 373.) Köhler induziert hier unverhältnismäßig: Schumanns emotional stark eingefärbte Ablehnung der Meyerbeer‛schen Ästhetik und sein Wunsch, dieser Musik den ‚Todesstoß‛ versetzen zu wollen, wird als Aufruf zur Tötung des Juden Meyerbeer mitsamt dem Rest seiner Religionsgemeinschaft gedeutet. Nicht nur fehlt in der gesamten HugenottenKritik jeder explizite Verweis auf Meyerbeers Judesein, es muss außerdem der Kontext be rücksichtigt werden: Schumanns Hugenotten-Kritik bildet Teil einer Schrift, die in der zweiten Hälfte eine Aufführung des Paulus von Mendelssohns thematisiert. Das Oratorium wird als „blühende Landschaft“ gelobt, und Schumann schließt seine Doppelbetrachtung wie folgt ab: „Und jetzt zu einem Schlussurteil über zwei Männer und ihre Werke, die die Richtung und Verwirrung der Zeit am schärfsten charakterisieren, zu gelangen. Ich verachte diesen Meyerbeerschen Ruhm aus dem Grunde meines Herzens; seine Hugenotten sind das Gesamtverzeichnis aller Mängel und einiger wenigen Vorzüge seiner Zeit. Und dann – laßt uns diesen Mendelssohn-Paulus hochachten und lieben, er ist der Prophet einer schönen Zukunft, wo das Werk den Künstler adelt, nicht der kleine Beifall der Gegenwart […].“ (Schumann im Vorangegangenen zitiert aus: „Fragmente aus Leipzig“, in: Neue Zeitschrift für Musik, Leipzig 5. September 1837, (Hrsg. Robert Schumann), Bd. 7, S. 73). In Schu manns Kritik werden also die Werke zweier jüdischer Komponisten gegenüber gestellt, und dass Schumann Mendelssohn als Juden betrachtet hat, wurde bereits nachgewiesen. Dementsprechend zu behaupten, Schumann fordere in seiner Hugenotten-Kritik den Tod der Juden-

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neutrale Haltung an, stellt sich die Frage, warum 2. betreffend die Schumann‛sche Meyerbeerkritik bis heute dazu verführt hat, Schumann als Antisemiten darzustellen. Die Antwort auf diese Frage ist in Schumanns Ästhetik zu suchen, die in Verbindung mit Meyerbeer vor allem in Schumanns Hugenotten-Kritik, aber auch im Kontext von Kritiken nicht-jüdischer Komponisten und Werke Aufschluss gibt. Zunächst muss festgehalten werden, dass Schumanns ästhetischer Patriotismus eine kosmopolitische Stilistik, wie von Meyerbeer gepflegt, unter keinen Umständen legitimieren kann. Tragischerweise verknüpft Schumann den Anspruch an Wahrhaftigkeit und Originalität so nachhaltig an ein Deutsch- und Christsein, dass der offenkundige Patriotismus vor allem deshalb leicht als Antisemitismus interpretierbar ist, weil er beinahe mit den gleichen Topoi arbeitet. Vor allem unter den Vorzeichen der Epigonalitätsproblematik, die sich spätestens im Aufsatz Wagners als vermeintlich jüdisches Spezifikum darstellt, rügt und verurteilt Schumann mit ausdrücklicher Schärfe den kosmopolitischen Stil Meyerbeers, den er als kaum mehr denn als Epigonalitätszeugnis und Originalitätsarmut verstanden wissen will. So schreibt Schumann in seiner berüchtigten Kritik zu Meyerbeers Hugenotten: Meyerbeers äußerlichste Tendenz, höchste Nichtoriginalität und Stillosigkeit sind so bekannt wie sein Talent, geschickt zu appretieren, glänzend zu machen, dramatisch zu behandeln, zu instrumentieren, wie er auch einen großen Reichtum an Formen hat. Mit leichter Mühe kann man Rossini, Mozart, Herold, Weber, Bellini, sogar Spohr, kurz die gesamte Musik nachweisen.87

Der Epigonalitätsvorwurf ist hier an die für Schumann offenkundige Einflussnahme anderer Komponisten auf Meyerbeers Stil geknüpft – der Frage nach der Stichhaltigkeit dieser Feststellung und zweitens nach der moralischen Bewertbarkeit einer solchen wird an späterer Stelle nachgegangen. Als maßgeblich wird jedoch zunächst Schumanns Aversion gegen eine kompositorische ‚Buntheit‛ erfasst, welche als direkte Umschreibung einer Eklektik begriffen werden muss. Spätestens hier offenbart sich Schumanns Patriotismuspostulat – denn der mit der Eklektik einhergehende kompositorische ‚Verfall‛ wurzelt nach der Auffassung des Kritikers ganz zweifelsohne im Mangel der gelebten heimatländischen Zugehörigkeit, was grundsätzlich nicht falsch gefolgert ist.

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heit, ist unter diesen Umständen mindestens folgewidrig. Dessen ungeachtet hat Köhlers Interpretation in der musikwissenschaftlichen Landschaft Fuß fassen können, und die Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft e.V. (Bayreuth) fasst Köhlers vorschnelles Urteil in einer Rezension auf ihrer Homepage für alle am Thema Interessierte zusammen: „Und als übler Antisemit, der bereits für die Vernichtung der Juden votiert hat, wird auch Robert Schumann zitiert.“ (http://www.siegfried-wagner.org/html/rezprophet.html, Tag des Zugriffs: 14. 10. 2010). Diese Verselbstständigung des leichtfertig formulierten Vorwurfs, Schumann sei ein ausgesprochener Judenhasser, ist bedenklich und führt vor Augen, wie unerlässlich eine präzise Quellenarbeit gerade vor dem Hintergrund eines so heiklen Themas ist. Robert Schumann: „Fragmente aus Leipzig“, in: NZfM, (Hrsg. Robert Schumann), Bd. 7, S. 74.

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Schumann formuliert demgemäß seine Forderung nach kompositorischer Tiefe: Und hier kann man nichts, als dem Komponisten zuzurufen, sich seines Zieles klar bewußt zu werden, damit, was Eigenthümliches von höherer Hand in ihn gelegt, sich nicht noch mehr zerstreue und verwerfe, wie dies z.B. bei Meyerbeer der Fall, der, ein eigentlicher Repräsentant seiner Nation, ohne Heimat und Vaterland, nach und nach von allen Völkern zu seiner Kunst geliehen.88

Auf den Punkt gebracht, ergibt sich eine simple Lesart, welche Folgendes beinhaltet: Solang ein Komponist seiner Heimat verbunden bleibt, leistet er ‚echte‛ Kunst, wobei Schumanns Inspirationstheorie metaphysisch aufgehängt scheint. Schumanns Annahme, dass ein Kosmopolitismus zwangsläufig in stilistischer Eklektik mündet, ist dabei keineswegs unplausibel – lediglich die herabsetzende Bewertung jener Stilistik und die daraus gefolgerte vermeintliche Konsequenz für die Inspirationsqualität sind dabei eine Frage des persönlichen Empfindens und dürfen keine allgemeine Gültigkeit einfordern. Die Verschmelzung eines Eklektiknachweises mit einem Epigonalitätsvorwurf liegt hier völlig offen und unterstreicht Schumanns Widerwillen gegen Meyerbeers Werk. Aber trotz der erneuten Betonung einer Ablehnung der Meyerbeer‛schen Musik schimmert hier die Anerkennung des grundsätzlich bestehenden Talentes mit, wie sie auch einen Teil der Hugenotten-Kritik bildet. Damit erklärt sich das vermeintliche Dilemma, welches Schumann im Fall Meyerbeer annimmt und mit zwei Tatbeständen unterlegt: die deutsche Herkunft und der Erfolg Meyerbeers in Frankreich. Das von Schumann durchaus zugestandene Talent des Komponisten wäre aus nationalistischer Perspektive ideal dazu geeignet, die Kultur anderer Nationen zu prägen und auf einer Überlegenheit des ‚deutschen Stiles‛ zu beharren. Meyerbeer allerdings nimmt aus dieser Sicht am ehesten die Rolle eines Renegaten ein, indem er erstens der Heimat den Rücken zuwendet, sich zweitens selbst den Kulturen anderer Nationen ‚unterwirft‛, indem er jeweils stilistische Färbungen aufnimmt, und drittens als eine Art französischer Nationalkomponist Erfolge in Paris feiert, fern von Heimat und Vaterland. Friedrich Gustav Jansen, der einen erheblichen Teil seiner musikwissenschaftlichen Forschung Robert Schumann widmete, weiß 1883 das Bild Schumanns um einige Details zu ergänzen, welche Schumanns Enttäuschung im Zusammenhang mit Meyerbeers nationaler ‚Abtrünnigkeit‛ unterstreichen:

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Robert Schumann: Gesammelte Schriften (Bde. 3 u. 4), Leipzig 1854, S. 157. Ohne Zweifel bezieht Schumann den ‚eigentlichen Repräsentanten seiner Nation‛ hier auf die deutsche Herkunft Meyerbeers und nicht etwa auf ein nationales Judentum, was einen gegenteiligen Sinn ergeben würde. Andernfalls könnte die Gegenüberstellung von ‚eigentlicher Nation‛ und dem Verlust bzw. der Abwendung von Heimat und Vaterland in diesem Kontext keinen Sinngehalt beanspruchen.

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[Es] stand in der Leipziger Zeitung vor Kurzem: Meyerbeer habe sich in Dresden über eine Messe Reissiger's sehr anerkennend ausgesprochen. Ist es nicht indignirend, einem Pariser Componisten, dessen Ruf als Meister unter guten Musikern noch keineswegs feststeht, als Gewährsmann für die Güte eines deutschen zu nennen, der wenigstens als brav und tüchtig von Allen längst anerkannt ist?89

Hier, wie an anderen Stellen, bemüht Schumann eine ästhetische Antithetik von deutscher und französischer Musik. Meyerbeer wird als Pariser Componist klassifiziert, weniger jedoch wegen seines Wirkorts, sondern vielmehr aufgrund seiner Stilistik. Jansen zitiert Schumann in einer aufschlussreichen Formulierung: Meyerbeer ist wenigstens ein g e b o r n e r Deutscher. Seinen Bußgang, gestehen wir, hätten wir am liebsten vermißt; Himmel, wie kann der Mann häßlich componiren.90

Tatsächlich misst Schumann also der Herkunft Meyerbeers eine Bedeutung im positiven Sinne bei: Wenn Meyerbeer schon nicht ‚deutsch‛ komponiert, so wurde er doch wenigstens in Deutschland geboren. Die verheerende ästhetische Einschätzung scheint durch den Aspekt des genuinen Deutschseins eine leichte Linderung zu erfahren, und jeder Versuch, Schumanns Antipathie religiös verankern zu wollen, muss hier scheitern: Kein Antisemit spricht als eine Art Minimalexkulpation von einem gebornen Deutschen, wenn es bedeuten würde, den darin inkludierten geborenen Juden anzuerkennen. Ob Schumanns Annahme der deutschen Überlegenheit dabei eine rassenbezogene ist, kann nicht eindeutig geklärt werden – die Emphase der ‚deutschen Geburt‛ verleitet zwar zu einer solchen Spekulation, kann aber genauso als Hinweis auf eine der Umgebung entsprechende mutmaßliche ästhetische Prägung eines Individuums ohne jeden anlagentheoretischen Erklärungsansatz gedeutet werden. Die ‚künstlerische Apostasie‛ gegenüber einem möglichen Nationalstil, um einer kosmopolitischen Ästhetik zu folgen, ist aus dieser Perspektive freilich frevlerisch. Diese Abscheu gegenüber dem bloßen Verdacht auf Kosmopolitismus oder gar Eklektizismus wird dabei demgemäß keineswegs auf die Kritik an Meyerbeer beschränkt, sondern zeigt sich, eben weil Schumann nicht den Juden, sondern den Komponisten Meyerbeer ablehnt, gleichfalls in Verbindung mit Kritiken an nichtjüdischen Tonsetzern, welche sich nach Ansicht Schumanns des stilistischen Verstoßes des Eklektizismus im Sinne eines ‚Internationalstils‛ schuldig gemacht haben. Der Kritiker urteilt demgemäß: Sein Quintett ist ein Gemisch von französischem und deutschem Geblüt, nicht unähnlich der Muse Meyerbeer's, der freilich von allen europäischen Nationen borgt zu seinem Kunst-

89

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Friedrich Gustav Jansen: Die Davidsbündler. Aus Robert Schumann ‛s Sturm- und Drangperiode, Leipzig 1883, S. 243. A.a.O.

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werke. […] Ich aber lobe mir meine Muttersprache, rein gesprochen, jeden Ausdrucks fähig, kräftig und klangvoll.91

Das Heranziehen der ‚gelobten Muttersprache‛, die einen Kontrapunkt zum ‚vermischten deutschen Geblüt‛ bildet, schafft einen Antagonismus, der für Schumann ohne jede Mühe zu attribuieren ist: Der Internationalismus mitsamt all seinen Bedeutungsähnlichkeiten wie dem Kosmopolitismus verweist auf künstlerischer Ebene auf Eklektizismus, Inauthentizität und Oberflächlichkeit. Der Patriotismus hingegen, hier als deutscher gedacht, ist erhaben über jede Uneindeutigkeit und verleiht dem Kunstwerk Tiefe, Wahrhaftigkeit und Ausdrucksfülle. Schumann reichert den Topos der ‚deutschen Wahrhaftigkeit‛ zusätzlich mit christlicher Innerlichkeit an, deren Verknüpfung an den französischen, kosmopolitischen Musikgeschmack seinem Empfinden nach völlig ausgeschlossen ist. In seiner Hugenotten-Kritik schreibt er dementsprechend: Schwelgen, beten und morden, von weiter nichts steht in den Hugenotten: vergebens würde man einen ausdauernd reinen Gedanken, eine wahrhaft christliche Empfindung darin suchen.92

Die Forderung nach innerer Authentizität, nach christlich gefasster Darstellung eines christlich-historischen Dramas wird nach Ansicht des Kritikers sowohl durch das von Scribe verfasste Libretto als auch durch die Musik Meyerbeers kontrastiert. Das Gegenteil von ‚christlich‛ und ‚wahrhaftig‛ wird dabei jedoch nicht durch ‚jüdisch‛, sondern ganz folgerichtig und unkompliziert durch ‚nicht-christlich‛ und ‚unwahrhaftig‛ gewonnen. Das vermeintlich Nicht-Deutsche der Hugenotten wird in gleichem Maße angegriffen und der ‚deutschen Wahrhaftigkeit‛ gegenüber gestellt. So hält Schumann allein die dynamische Handlung der Oper, welche mit allerlei amourösen Strängen gespickt ist, für zu anstößig und oberflächlich, um von einem ‚tiefgründigen Deutschen‛ verstanden und gebilligt zu werden: Und dies läßt man sich alles gefallen, weil es hübsch ist in die Augen fällt und von Paris kömmt – und ihr deutschen sittsamen Mädchen haltet euch nicht die Augen zu? 93 91 92

93

Robert Schumann: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Berlin 1875, S. 21. Robert Schumann: „Fragmente aus Leipzig“, in: NZfM, (Hrsg. Robert Schumann), Bd. 7, S. 74. A.a.O. Die mutmaßliche Unsittlichkeit der Hugenotten muss überdies einen wunden Punkt Schumanns berührt haben, welcher zu diesem Zeitpunkt nicht nur in einem problematischen und von Entbehrungen geprägten Verhältnis zu Clara Wieck steht, sondern von den Geistern seiner eigenen Vergangenheit eingeholt wird: Zwar ist bis heute strittig, ob Schumann einer Syphiliserkrankung erlag, dass jedoch eine solche Infizierung grundsätzlich möglich und auch für den Komponisten wahrscheinlich gewesen war, ist nichts anderes als das Ergebnis eines ‚moralischen Fehlverhaltens‛, welches Schumann in seiner Kritik so restriktiv ablehnt. Vgl. dazu Bernhard R. Appel: Robert Schumann in Endenich (1854-1856). Krankenakten, Briefzeugnisse und zeitgenössische Berichte , Mainz 2006, S. 450.

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Auch hier ist die geschmackliche Gegenüberstellung nicht etwa ‚jüdisch und deutsch‛ sondern ‚französisch und deutsch‛. Dabei ist es auf der anderen Seite die deutsche Herkunft Meyerbeers, die Schumanns Verständnis zusetzt, und so spottet er im Zusammenhang mit Meyerbeers Instrumentationstechnik: Er setzt nach solchen Prasselstellen gleich ganze Arien mit Begleitung eines einzigen Instrumentes, als ob er sagen wollte: „Seht, was ich auch mit wenigem anfangen kann, seht, Deutsche, seht!“ Einigen Esprit kann man ihm leider nicht absprechen .94

Diese Unterstellung Schumanns impliziert auf den zweiten Blick eine Motivation Meyerbeers, die nicht ganz eindeutig zugeordnet werden kann. Die Hugenotten, ursprünglich in der Pariser Oper mitsamt ihrer Requisite und ihrer Zuhörerschaft beheimatet, werden hier von Schumann als Aufführung auf deutschem Boden rezensiert, und es lässt sich leicht vermuten, dass hierin der Bezugspunkt zum un terstellten Aufruf an die Deutschen verborgen liegt. Damit greift Schumann subtextuell die vermeintliche innere Einstellung Meyerbeers während des Kompositionsvorganges auf: Meyerbeer, der nach und mit seinen Pariser Erfolgen nie wirklich Fuß in Deutschland fassen konnte, ist hier ein Entwurzelter, der sich vor allen Dingen nach Anerkennung in seiner Heimat sehnt und fast trotzig auf eine Akzeptanz seines Stils pocht. Ein Dementi dieser Schumann‛schen Unterstellung kann allerdings nicht völlig gelingen – zu gezielt legt Schumann hier den Finger an die Wunde Meyerbeers, der tatsächlich bis zum Ende seines Lebens unter der Ablehnung seiner Musik in seiner Heimat zu leiden hatte. 95 Schumanns Forderung nach deutscher Nationalmusik lässt sich dementsprechend nicht nur in der Kritik am Werk Meyerbeers aufspüren, sie durchzieht seine ästhetischen Schriften ganz grundlegend und unterscheidet dabei nicht zwischen dem jeweiligen religiösen Hintergrund der Komponisten. Über Peter Joseph von Lindpaintners Die Genueserin schreibt Schumann 1839: Man nennt das hier eine deutsche Musik; sie ist es aber im Grunde nicht, sondern, wie Alles von Lindpaintner, einnehmend im ersten Augenblick, klar und leicht verknüpft, und namentlich in der Instrumentierung klangvoll und glänzend. Dabei herrscht der deutsche gesunde Sinn im Ganzen allerdings vor, weshalb wir auch gern in die dem Componisten höchst ehrenvolle Anerkennung einstimmen, die ihm vom Publikum an allen drei Abenden zu Theil geworden, und die Oper allen deutschen Bühnen zur Aufführung empfehlen. 96

Der „gesunde deutsche Sinn“ in der Musik, den Schumann vor allem im französischen Musikgeschmack aufgehoben sieht, findet Schumann nicht nur durch Meyerbeer verletzt. Seine Kritik an Halévys Die Jüdin schlägt in eine ähnliche Kerbe wie die Stilkritik an Meyerbeer, bemerkenswert ist indes, dass Schumann 94

95 96

Robert Schumann: „Fragmente aus Leipzig, in: NZfM, (Hrsg. Robert Schumann), Bd. 7, S. 74. Vgl. Hermann Mendel: Giacomo Meyerbeer: Eine Biographie, S. 23. Robert Schumann: „Tagesbegebenheiten“, in: NZfM, 12. 3. 1839, Leipzig 1839, S. 4.

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dem jüdischen Halévy mehr Wahrheit und Tiefe als dem nicht-jüdischen Auber zugesteht: Wir mussten unsere Ohren suchen, so viele tausende Accorde summten in kurzer Zeit an einem vorbei. Gewisse Formeln der neuen französischen-italienischen Schule sind so allge mein geworden, daß man nicht weiß, wem sie eigentlich angehören; solche allgemeine Monotonie findet sich am meisten. Geistloser als die Musik Auber's, und unendlich weniger melodiös als die Bellini's, entschädigt sie indeß hier durch mehr Wahrheit, dort durch mehr Fleiß.97

Wäre Schumanns Meyerbeerkritik also einem Antisemitismus geschuldet, ließe sich mit etwas Mühe jenes kritische Urteil gegenüber Halévys Jüdin dem gleichen Umstand zuschreiben. Da Schumann aber ganz offensichtlich die Charakteristika der „neuen französischen-italienischen Schule“ als solche heftig angegriffen und abgelehnt hat, darf das Gesamtspektrum seiner Kritikpunkte, welche die Stile von Meyerbeer und Halévy nur als Teilmenge vorsieht, nicht außer Acht gelassen werden.98 Wenn Schumanns Kritik an den religiösen Hintergrund und nicht an einen vorherrschenden Stil gebunden ist, wäre eine mögliche positive Beurteilung des Werkes eines jüdischen Komponisten grundsätzlich ausgeschlossen. Da aber der sich in den Werken jeweils unterschiedlich manifestierende Personalstil eines Komponisten nicht so stet ist wie dessen religiöse Zugehörigkeit, ist zu erklären, dass Schumann auch lobende Worte für Halévy findet, 99 Aubers Stumme von Portici hingegen, schlechthin für die von Meyerbeer so verweigerte Grand opéra stehend, nur Schelte erhält.100 Berücksichtigt man den Umstand, dass jene neue französisch-italienische Ästhetik überdurchschnittlich anteilig von Juden begünstigt bzw. gebilligt wird, ergibt sich die Antwort auf die Frage, warum die affektive Ablehnung der musikalischen Franko- bzw. Italophilie auf den ersten Blick als antisemitisch fehlgedeutet wird.101 Robert Schumann: „Vermischtes“ in: NZfM 5. Januar 1836 (Leipzig), Bd. 4, S. 8. Niemöller folgt in seinem Aufsatz „Robert Schumann und Giacomo Meyerbeer“ einer vergleichbaren Argumentation und beschließt seine Betrachtung demgemäß mit folgenden Worten: „Insgesamt ergibt sich so ein Bild von den Beziehungen zwischen Schumann und Meyerbeer, das man entgegen manchen älteren Darstellungen durchaus nicht mehr so eindimensional sehen darf, das außerdem im Zusammenhang mit der Entwicklung von Schumanns Musikanschauung hinsichtlich der Vorstellung einer „nationalen Musik“, zumindest bei der Oper, kontextual zu sehen ist. Eine Spannung zwischen französischer und deutscher Romantik ist jedenfalls im Verhältnis Schumanns zu Meyerbeer nicht zu übersehen.“ Klaus Wolfgang Niemöller: „Robert Schumann und Giacomo Meyerbeer. Zur rezeptionsästhetischen Antinomie von deutscher und französischer Romantik“, in: Ute Bär (Hrsg.): Robert Schumann und die französische Romantik, Mainz 1997, S. 106. 99 Robert Schumann: Tagebücher II, Hrsg. Gerd Nauhaus, Leipzig 1987, S. 429. 100 „Die Musik gar zu roh, gemütlos, dabei abscheulich instrumentiert.“ Ibid., S. 284. 101 Tatsächlich korreliert bis zu einem bestimmten Maße das Judesein des 19. Jahrhunderts mit einer gewissen Frankophilie, was in erster Linie dem politischen Hintergrund geschuldet ist: Wo das Judenedikt von 1812 den preußischen Juden zwar nominell, aber grundsätzlich 97

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Schumanns ästhetisches Postulat, das auf innere Wahrhaftigkeit drängt und jeden Verdacht auf inauthentische Epigonalität gnadenlos verfolgt, zeigt sich besonders deutlich im Zusammenhang mit Meyerbeers Stilistik, was andererseits jedoch nicht bedeuten soll, dass sich damit jeder weitere Explikationsversuch für die bestehende Aversion erübrigt hätte. Wie auch im Kontext mit Wagner spielen persönlichkeitsimmanente Aspekte eine Rolle, welche über bloße Geschmacksfragen hinausreichen, ebenso selbstverständlich in Schumanns Meyerbeerkritik wie offenkundige Motive, welche kaum einer hintergründigen Analyse bedürfen; der nächstliegende Gedanke ist unter Umständen bereits ausreichend. Besonders im Zusammenhang mit den völlig verschiedenartig gestalteten Lebensumständen der Komponisten Meyerbeer und Schumann rückt die Frage nach der Einstellung zum finanziellen Hintergrund in den Fokus. Schumann, der einen beträchtlichen Teil seines Lebens unter der Bedrohung finanziell weniger gesicherter Umstände zu leiden und nicht zuletzt deshalb zehrende Jahre in Bezug auf seine Verbindung mit Clara Wieck zu ertragen hatte, kontrastiert sehr deutlich Meyerbeers Hintergrund, welcher sich nicht nur durch das finanzielle Polster der Familie Beer, sondern auch durch die einträglichen Opernerfolge in Paris auszeichnet. Dennoch wäre es zu trivial, blanken Geldneid als ein Motiv Schumanns zu benennen. Erst in der Verbindung mit dem Werk und dem Erfolg Meyerbeers kann sich die eigentliche Missgunst, vielleicht auch die Fassungslosigkeit aus der Perspektive Schumanns entfalten: Nicht weil Meyerbeer kompositorisch Herausragendes leistet, mehren sich sowohl Reputation als auch Einkommen maßgeblich, sondern obwohl Meyerbeer kompositorisch Minderwertiges leistet. Für Schumann, der sich selbst als vollkommen gegensätzlich betrachtet (oder betrachten möchte), nämlich als tiefgründig und dem inneren Bedürfnis verpflichtet und nicht des Geldes wegen komponierend, kommt diese vermeintliche Ungebührlichkeit einem persönlichen Schlag gleich. Man kann sicher davon ausgehen, dass Schumann, wie sich auch bei Rellstab annehmen lässt, Meyerbeer trotz entsprechender Werkkenntnis erheblich weniger oder gar keine Beachtung geschenkt hätte, wären die Werke des Opernkomponisten nicht von so durchschlagendem Erfolg gekrönt gewesen. Zwar ergibt sich für Schumann gerade in der Verbindung zwischen Erfolg und ‚nauthentischer Musik‛ die verheerende Rezeptionsästhetik, unmissverständlich fassbar ist Schumanns Konzept der Originalität dennoch nicht. Dass die deutsche Herkunft eines Komponisten hier als conditio sine qua non gelten muss, liegt schleppend zu mehr Rechten verhalf, hat, wie bereits dargelegt, der Beschluss der Französi schen Nationalversammlung schon am 27. September 1791 sehr nachhaltig zur Gleichstellung der Juden beigetragen. In den später von Napoleon besetzten Gebieten hat sich dieser Vorstoß zur jüdischen Emanzipation nachhaltig fortsetzen können. Die jüdische Frankophilie speist sich also aus einer französischen (relativen) Judenfreundlichkeit, und es ist demgemäß kein Zufall, dass sich die Alliance Israélite Universelle als übernationale jüdische Organisation 1860 in Frankreich gegründet hat (was im weiteren Sinne wiederum dem Kosmopolitismusgedanken entspricht).

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zwar auf der Hand, eine hinreichende Bedingung – wie Schumanns Einstellung zu Meyerbeer unterstreicht – stellt sie dabei jedoch nicht. Folgt man den wenigen Andeutungen, die Schumann in Bezug auf ein für ihn gültiges Konzept der Originalität liefert, lässt sich der Eindruck eines Menschen gewinnen, für den in der tiefsten Tiefe große Unsicherheit im Zusammenhang mit einer Selbsterfüllung eines solchen Konzepts besteht. Vielsagend ist dabei Schumanns kurzer Tagebucheintrag von 1838, der eine Begegnung mit Mozarts Sohn schildert: Donnerstag in der Früh in der Augustinerkirche Requiem v. Mozart für Mikschik. Ich stand neben Mozart's Sohn; ich dachte daran, wie ich auch den Faust neben Göthes Enkel gesessen, und wie wir recht tapfre Epigonen.102

Schumann verflicht hier die ursprüngliche auf die Nachkommenschaft bezogene mit der später konnotierten Bedeutung des Epigonalen und gesteht im gleichen Atemzug, wahrscheinlich nicht ohne jeden Sarkasmus, eine eigene Epigonalität ein, welche sich als Bürde jener offenbart, die ein kulturelles Erbe zu tragen haben. Wo hier die „recht tapfren Epigonen“ noch fast beiläufig und selbstverständlich Erwähnung finden, setzt sich Schumann in der Korrespondenz mit Liszt nachdrücklicher und besonnener mit einer Problematik auseinander, die für ihn nicht ohne Bedeutung ist – die Frage nach Originalität im reinsten Sinne. Gleicht sich aber mancher musikalischer Zug in dem, was wir komponiert, so nennen Sie es Philister oder wie Sie wollen – alle verschiedenen Kunstepochen haben dasselbe aufzuweisen, und Bach, Händel, Gluck, später Mozart, Haydn, Beethoven sehen sich an hundert Stellen zum Verwechseln ähnlich (doch nehme ich die letzten Werke Beethovens aus, obgleich sie wieder auf Bach deuten). G a n z o r i g i n a l i s t k e i n e r.103

Diese Feststellung, welche sich nur auf den ersten Blick auf die Ahnenreihe musikgeschichtlicher Größen bezieht, verweist auf die in der Begriffsdiskussion unter Originalität geleistete Überlegung und muss letztlich für Schumann selbst gelten. So gesehen ergibt sich mit der Meyerbeeraversion eine ideale Projektionsfläche für eigene Unzulänglichkeitsbefürchtungen, schließlich muss Schumann unter Anwendung seiner eigenen Kriterien gerade im Vergleich mit Meyerbeers kosmopolitischer Stilistik keinen Epigonalitätsvorwurf fürchten. In der Gesamtheit ergibt sich bei der Frage nach der Beziehung Schumanns zu Meyerbeer das Bild eines komplexen Verhältnisses, das jenseits antisemitischer Ressentiments vor allen Dingen von musikästhetischen Kontroversen und persönlichkeitsverankerter Befangenheit geprägt wird.

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Schumann: Tagebücher II, S. 74. Richard Münnich (Hrsg.): Aus Robert Schumanns Briefen und Schriften , Weimar 1956, S. 289.

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8.5 Theodor Uhlig und Meyerbeer: Patriotismus trifft Rassentheorie Mehr als zehn Jahre nach Rellstabs und Schumanns öffentlichkeitswirksamen meyerbeerkritischen Äußerungen ist eine deutliche Markierung zum unverhohlenen antisemitischen Musikschrifttum in der Neuen Zeitschrift für Musik wahrnehmbar, welches sich einführend und nachhaltig durch Theodor Uhlig und schließlich in all seiner perfiden Rhetorik durch Wagner vollzieht. Aber auch hier ist eine Stringenz erkennbar, der eine Verschärfung zugrunde liegt. Wo Schumann Meyerbeers Hugenotten konkret und mit expliziten Stellenangaben kritisiert, führt Uhlig diese Praxis vor allem im Zusammenhang mit Meyerbeers Propheten zwar fort,104 jedoch unter Einbezug der jüdischen Herkunft des Komponisten. Wagner verzichtet schließlich auf jede Konkretion und ergeht sich in allgemeinen Unterstellungen bezüglich des jüdischen Kunstschaffens. Als Aufhängung der Kritik an Meyerbeers Opern dient Uhlig eine Gegenüberstellung von Gesang und Sprache, was wiederum in komplexerer Weise von Wagner aufgegriffen wird. In der Auseinandersetzung mit Achad Ha'ams Nachahmungsmodellen wurden die Klischeebesetzungen und realen Hintergründe des Judendeutsches ausführlicher thematisiert, und die längst etablierte Pejoration der Sprache der Juden ist es, die hier im Zusammenhang mit Uhligs Meyerbeerkritik begegnet. Erstaunlich ist die Zuschreibung eines unzulänglichen Judendeutsches zur Familie Beer (oder auch Mendelssohn) insofern, als gerade die assimilierte Oberschicht der Juden zwar des Hebräischen kundig war, aber die Nutzung des Jiddischen rigoros ablehnte, um sich stattdessen der Pflege eines reinen Hochdeutsches zu verschreiben. 105 Meyerbeers Kosmopolitismus geht dabei fast selbstverständlich mit einer gewissen Polyglottie einher, die einen unterstellten jiddischen Schwerpunkt ausschließt. Nicht zuletzt unterstreicht die Korrespondenz Meyerbeers zu seiner Mutter das Hochdeutsch als Muttersprache des Komponisten im wörtlichen Sinne. 106 Dementspre104

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Vgl. z.B. Theodor Uhlig: „Der Prophet von Meyerbeer“ in: NZfM, Leipzig 5. Februar 1850, Bd. 32, S. 49ff. In diesem Zusammenhang soll „Mose Dessau‛s Deutsch“ Erwähnung finden, welches der haskalische Philosoph (Moses Mendelssohn) vor allem durch seine Bibelübersetzung in ‚reiner Mundart‛, nämlich in hebräischen Lettern gehaltenes Hochdeutsch, unter seinen Zeitund Glaubensgenossen etablierte. Was dabei vor allem für die deutschen Juden gilt, war – und ist – für die Juden östlicherer Herkunft jedoch noch längst keine Selbstverständlichkeit, sodass das Klischee des ‚Ostjuden‛, der sich durch seine Zugehörigkeit einer sozial schwächeren Schicht sowie durch die ungebrochene Nutzung des Jiddischen auszeichnet, das Bild des intellektuellen westlichen Juden stark kontrastiert (Vgl. Otto F. Best Mameloschen: Jiddisch – Eine Sprache und ihre Literatur, Frankfurt/Main 1973, S. 142f). Judenkritische Betrachtungen haben beide Bilder jedoch häufig zugunsten ihrer Aussage vermengt, was sich ganz paradigmatisch im Fall Uhlig/Meyerbeer wiederfinden lässt, wenn Uhlig möglicherweise wider besseres Wissen Meyerbeer als einen ‚Ostjuden‛, der sich durch „jüdisches Gemauschele“ verrät, charakterisiert. Wobei diese Mutmaßung sicher mit Vorsicht betrieben werden muss. Tatsache ist, dass keine Augenzeugenberichte zur privat gepflegten Konversation des innersten Kreises der Familie

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chend ist Uhligs Benennung eines „ hebräischen Kunstgeschmacks“107 insofern rassentheoretisch zu begreifen, als er ihn im Zusammenhang mit Meyerbeers Stilistik mit einer vermeintlich anlagebedingten Eigenart des Sprechens verknüpft, ohne die Frage zu erörtern, ob Meyerbeer tatsächlich Jiddisch gesprochen hat oder nicht. Uhlig scheut sich dabei nicht, Schumanns Hugenotten-Kritik seinem rassenbezogenen Anliegen dienstbar zu machen und interpretiert – wie Andere nach ihm – eine von Religion losgelöste Geschmacksfrage als Kritik am jüdischen Kunstschaffen: In der Musik vieler jüdischer Componisten giebt es Stellen, die fast alle nichtjüdischen Mu siker im gewöhnlichen Leben und mit Bezugnahme auf die allbekannte gemeine jüdische Sprechweise als Judenmusik, als ein Gemauschele oder als Dergl. bezeichnen. […] Eben so wenig wie die ihnen analogen Sprechweisen hat man diese Tonweisen schön oder nur erträglich da finden können, wie sie wie bei Meyerbeer ganz unmittelbar an das erinnern, was ich nicht anders, denn als „Judenschule“ zu bezeichnen weiß. Robert Schumann spricht in Bezug auf zahlreiche Stellen in den Hugenotten von einem „eigenthümlich mekkernden Rhythmus“, der vornehmlich Meyerbeers Musik auszeichnet […].108

Indem seine Kritik in einem unsachgemäßen Zusammenhang gebraucht wird, stützt Schumann hier unfreiwillig Uhligs und somit auch Wagners Behauptung der jüdischen anorganischen Bewegung, die sich zunächst in der Sprechweise und schließlich im Musikschaffen niederschlägt. Das von Uhlig nahezu durchweg ver-

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Beer vorliegen, allerdings auch keine Indizien, die gegen eine ausschließliche Nutzung des Hochdeutschen sprechen, welches die Familienmitglieder standesgemäß und nicht zuletzt in den erhaltenen Briefen praktizieren. Berndt W. Wessling kommt in seiner Meyerbeerbiographie freilich zu einem anderen Schluss und behauptet: „Im Hause Beer wurde offiziell „Berliner Beamtendeutsch“ gedalbert, während man unter der Hand kräftig jiddelte. Meyerbeer hat Zeit seines Lebens mit besonders vertrauten Freunden die „Redeweise der Vorväter“ geübt, und auch mit seiner Mutter möchte er vorzugsweise „Rahels Singsang“ erprobt haben.“ (Vgl. Berndt W. Wessling: Meyerbeer – Wagners Beute – Heines Geisel , Düsseldorf 1984, S. 39.) Diese Einschätzung zieht ihre Wirkung noch in zeitgenössische Betrachtungen hinein, wie z.B. in Deborah Hertz: How Jews became Germans - The History of Conversion and Assimilation in Berlin (Dexter/Michigan 2007, S. 104.). Das ist insofern problematisch, als Wessling keine stützende Quelle zu nennen vermag. Darüber hinaus ist bei der Rezepti on von Wesslings Schriften – ähnlich zur ‚Quellenarbeit‛ von Wolfgang Boetticher – zu besonderer Vorsicht geraten, da der Autor nachweislich einen großen Teil seiner verfassten Biographien mit nicht existenten Quellen und falschen Informationen angereichert hat (Vgl. Karl Corino: Gefälscht!: Betrug in Politik, Kultur, Wissenschaft, Kunst und Musik , Frankfurt/Main 1990, S. 330-341). Es ist durchaus ratsam, der vorliegenden Meyerbeerbiographie mit entsprechender Skepsis zu begegnen – immerhin kann es dem Autor lockend erschienen sein, den berühmten Opernkomponisten mit dem einen oder anderen exotischen Aspekt zu schmücken. Vor dem Hintergrund der deutsch-jüdischen Authentizitätsdiskussion und der Frage nach ‚jiddischer Schuld‛ und rassistischen Theorien wäre eine solche Phantasterei unter dem Deckmantel der Wissenschaft natürlich außerordentlich fatal. Theodor Uhlig: „Zeitgemäße Betrachtungen“, in: NZfM, 23. April 1850, Bd. 32, S. 169. Theodor Uhlig: „Zeitgemäße Betrachtungen – Außerordentliches“, in: NZfM, 23. Juli 1850, Bd. 33, S. 30.

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wendete Vokabular kündigt bereits überdeutlich von einem Antagonismus, der etwa 80 Jahre später in der NS-Ästhetik gipfelt – Originalität synonymisiert Gesundheit, der „hebräische Kunstgeschmack“ dagegen verkörpert Unnatürlichkeit. Uhligs Einschätzungen leisten endgültig den Brückenschlag zwischen antisemitischer Ästhetik und anlagetheoretischer Rassenpolitik. Zum Kompositionsstil Meyerbeers äußert sich Uhlig entsprechend pauschal: Meyerbeer's Art der musikalischen Wiedergabe kennt man wohl allgemein und zur Genüge aus seinen Opern: Robert und die Hugenotten; sie ist auch im Propheten die nämliche; stets eine charakteristische, aber stets auch eine charakteristische im besonderen Sinne des Componisten. Niemals hat derselbe in dieser Beziehung die Mißgriffe der Italiener begangen, sehr häufig jedoch Eigenthümlichkeiten dargelegt, welche ihm von vielen Seiten den Vorwurf der Unnatur und des Raffinements zugezogen.109

Insbesondere die Prädikatisierung der „Unnatur“, die vom „Raffinement“ flankiert wird, fällt dabei in den Blick. Das „ Raffinement“ gilt hier als künstlich im schlechtesten Sinne, als Artefakt, nicht aus intrinsischen Bedürfnissen, sondern durch Kalkül erzeugt. Dadurch besetzt es den höchsten Status einer Künstlichkeit, welcher wiederum durch die Zuschreibung der „ Unnatur“ unterstrichen wird. Darüber hinaus findet sich im „Raffinement“ eine Konnotatsverwandtschaft zur Intellektualität, welche, wenn dazu gebraucht, eine negative Einschätzung einzuführen, für die Absenz von Gefühl und Wahrhaftigkeit steht. Uhlig sagt Meyerbeer mit neutestamentlichem Bezug „Schlangenklugheit“ nach110 und nennt ihn in seiner Kritik 109 110

Theodor Uhlig: „Der Prophet von Meyerbeer“, in: NZfM, 5. Februar 1850, Bd. 32, S. 49. Theodor Uhlig: „Zeitgemäße Betrachtungen“, in: NZfM, Bd. 32, 30. April 1850, S. 177. Bei der Interpretation dieser Formulierung ist Vorsicht geboten: Dahm deutet das zusammengesetzte Substantiv als in hohem Maße abwertend, indem sie sich auf seinen ersten Teil bezieht und auf das Matthäusevangelium verweist, in welchem Jesus den Schriftgelehrten und Pharisäern mangelnde innere Wahrhaftigkeit vorwirft und sie „Schlangen und Otterngezücht“ (Mt 23, 33) heißt (Dahm: Der Topos der Juden, S. 38). Als viel plausibler aber nimmt sich ein anderer Interpretationsansatz aus, wenn man Uhligs Phrase im Ganzen besieht: „Wir bekämpfen Meyerbeer aus Grundsatz und zwar seines Wollens wegen, das uns um so schädlicher und verwerflicher erscheint, als sein unbestreitbares musikalisches Talent in Verbindung mit einer starken Portion Schlangenklugheit ihm einen großen Einfluss auch auf diejenigen gesunden Naturen sichert, die zwar im Leben grundsätzlich mit dieser Schlangenklugheit das Taubenohnefalsch verbunden wissen wollen, in Sachen der Kunst je doch weniger sehen, als es in Sachen des Lebens und jenes Taubenohnefalsch bei Meyerbeer mit allzuviel Bereitwilligkeit voraussetzen.“ (s.o.) In der Verbindung der „Schlangenklugheit“ mit dem „Taubenohnefalsch“ erst zeigt sich der eigentliche Hintergrund von Uhligs Zeilen, welche sich auf eine Ansprache Jesu zu seinen Jüngern bezieht: „Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe; darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben.“ (Mt 10, 16) Die „Schlangenklugheit“ ist also keineswegs als herabsetzende Einschätzung zu bewerten, insofern sie einen maßgeblichen Teil ei nes gewünschten Handelns bestimmt. In der Absenz des „Taubenohnefalsch“, welche Uhlig bei Meyerbeer diagnostiziert wissen will, entfaltet die durchaus notwendige „Schlangenklugheit“ nach Ansicht des Kritikers jedoch einen schädlichen Effekt.

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dementsprechend einen „Pfiffikus“,111 dessen rein kognitiv gespeistes Streben nach äußeren Effekten als künstlich und unnatürlich abzulehnen und einer ‚natürlichen Innerlichkeit‛ entgegenzusetzen sei. Uhligs Einschätzung läuft hier in Teilen parallel zu Schumanns Eindruck der Meyerbeer‛schen Musik, unterscheidet sich in anderer Hinsicht jedoch maßgeblich. Der Hinweis auf die „ Mißgriffe der Italiener“ ist mühelos als Patriotismusindikator deutbar, was Uhlig mit Schumann verbindet. 112 Der Schumann‛schen ästhetischen Zuordnung entgegenstehend ist jedoch die „ Charakteristik“, die Uhlig Meyerbeer attestiert und damit den Pfad der kritischen Vorgabe verlässt. Wenn Originalität wie im Sinne Schumanns durch den Vorwurf der Eklektik und damit verbundener Epigonalität ausgeschlossen ist, lässt sich keine ‚Eigentlichkeit‛ eines persönlichen Stils feststellen, wie es Uhlig tut, wenn er Meyerbeers Komposition „Charakteristik“ bescheinigt. Obwohl er den Kosmopolitismus Meyerbeers anerkennt,113 folgert Uhlig daraus keinen Epigonalitätsvorwurf, sondern verteidigt den Komponisten sogar vor diesem Hintergrund: […] von einigen Seiten sagt man Meyerbeer nach, mit Vielem, was die Musik seiner neuesten Oper enthält [Der Prophet M.K], sich selbst wiederholt, mit Einigem andere Componisten bestohlen […] zu haben. […] Die obigen Nachreden aber finden wir theils lächerlich, theils ungerecht.114

Was diese Aussage in Bezug auf die Authentizitätsproblematik des jüdischen Musikschaffens bedeutet, ist durchaus bemerkenswert: Uhlig formuliert, obwohl er im Gegensatz zu Schumanns und Rellstabs Einschätzung das für ihn ästhetisch Problematische am Meyerbeerwerk in Teilen rassenbezogen begründet, einen erheblich schwächeren Vorwurf der Inauthentizität, insofern die Epigonalitätsunterstellung entfällt. Die Inauthentizität wird hier ‚lediglich‛ bezüglich der Motivation Meyerbeers behauptet, was auch bei Schumann der Fall ist. Die Gesamtentwicklung, so man eine stringente Dynamik bis hin zu Wagner annimmt, demonstriert also eine Verästelung, die eine sich gleichmäßig entfaltende Kulmination ausschließt. Sowohl Schumann/Rellstab als auch Uhlig ergänzen den Vorwurf der 111 112

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A.a.O. Besonders deutlich wird Uhligs Nationalemphase in der Ablehnung der französischen Opernkultur, welche Uhlig mit Meyerbeer verwoben bzw. durch ihn repräsentiert sieht, im Artikel „Zeitgemäße Betrachtungen – Außerordentliches“ (in: NZfM, 23. Juli 1850, Bd. 33, S. 32): „Die Partie steht also keineswegs gleich – weder zwischen dem reichen und dem armen Operncomponisten, noch zwischen der ausländischen und der einheimischen Oper in Deutschland, noch endlich zwischen Frankreich und Deutschland überhaupt. […] So aber ist es, so war es, und so wird es bleiben – wenigstens so lange bleiben, als wir Deutschen die Narren bleiben, die wir bisher waren […].“ Meyerbeer steht im Gesamttext für den „reichen, ausländischen Operncomponisten“, dessen Erfolg sich nicht zuletzt der Gutmütigkeit der mutmaßlich wahrhaftigen und weniger kapitalorientierten Deutschen verdankt. Theodor Uhlig: „Noch einmal der Prophet von Meyerbeer“, in: NZfM, Leipzig 26. Februar 1850, Bd. 32, S. 81ff. Ibid.: „Zeitgemäße Betrachtungen“, Seite 177.

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Inauthentizität im Fall Meyerbeers auf der gleichen Basis um verschiedene Faktoren: a) Schumann/Rellstab: inauthentisches Motiv bei Kunstschaffen (mangelnde innere Wahrhaftigkeit/Effektheischerei/Kapitalorientierung) + inauthentisches Komponieren (Epigonalität/kosmopolitischer Eklektizismus) b) Uhlig: inauthentisches Motiv bei Kunstschaffen + rassentheoretisch bzw. antisemitisch begründete Verknüpfung von kompositorischen Schwächen mit jüdischer Herkunft des Komponisten Wagner greift schließlich jene Aspekte in ihrer Gesamtheit auf und entwickelt daraus ein bis dahin einzigartiges Konzept antisemitischer Ästhetik. Trotz der Selbstverständlichkeit, mit welcher Wagner die durch Uhlig formulierten rassenbezogenen Überlegungen als Vorlage aufgreift, blieb Uhligs Einschätzung nicht ohne kritische Resonanz, und ihr ist vielleicht zu verdanken, dass sich die auf das Judentum bezogene inhaltliche Differenz der Kritiker Uhlig und Wagner deutlicher fassen lässt. Was für Wagner nämlich ein nicht zu ignorierendes Politikum bedeutet, stellt trotz der rassentheoretischen Aufhängung bei Uhlig bestenfalls ein Seitenstück seiner Kritik dar. In der Rheinischen Musikzeitung wird Uhligs Prophetenrezension durch einen zunächst anonymen Verfasser mit ironischer Schärfe ihrerseits rezensiert, wobei der Autor für die Begriffseinführung des „hebräische[n] Kunstgeschmack[s]“ nur die lapidar-sarkastischen Worte findet: „Freilich, der Jude durfte nicht unerwähnt bleiben […].“115 Uhlig wiederum, der sich und seine Kritik denunziert sieht, holt zu einem argumentativen Gegenschlag aus, um sich und seine Kunstansicht mit keineswegs geringerer Schärfe, dafür jedoch ohne die ironische Auflockerung seines Kontrahenten zu verteidigen. Neben allgemeinen ästhetischen Fragen berührt er dabei auch den indirekt formulierten Vorwurf des Antisemitismus und erwidert: So weit die Beschränktheit des Ungenannten; seine Böswilligkeit beweist er dagegen durch die Art, wie er meine Aeußerung über hebräischen Kunstgeschmack aus der Betrachtung „Dramatisch“ anführt. In dieser Betrachtung war der Ausdruck auf gewisse Declamationsweisen, auf das Metrum gewisser Meyerbeer'scher Tonphrasen bezogen: das aber erwähnt der Ungenannte gar nicht und so schwebt bei ihm meine Aeußerung entweder in der Luft – dann muß man sie für einen ungerechtfertigten Ausfall auf das Volk Israel halten – oder sie bezieht sich auf das, was er ihr vorausschickt und das ist ganz verschieden von dem, was ich ihr voraus geschickt habe.116 115

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Anonymus: „Welcher ist der wahre Prophet?“, in: Rheinische Musik-Zeitung für Kunstfreunde und Künstler, Köln 6. Juli 1850, S. 6f. In der Ausgabe vom 10. August gibt sich Ludwig Bischoff als Autor jener und der Folgebetrachtung zu erkennen, und zwar nicht zu letzt deshalb, um Uhligs Unterstellung zu widerlegen, eine Streitschrift für das Judentum könne nur durch einen Juden verfasst worden sein. Theodor Uhlig: „Zeitgemäße Betrachtungen“, in: NZfM , 23. Juli 1850, Bd. 33, S. 30. Uhligs Selbsterklärung bleibt dem Herausgeber der Rheinischen Musik-Zeitung natürlich nicht

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Ob Uhligs Selbsterklärung tatsächlich seiner inneren Überzeugung entspricht oder als taktischer Versuch, die Wogen zu glätten, gewertet werden muss, lässt sich kaum zuverlässig sagen – fest steht aber, dass er sich öffentlich dazu bekennt, seine rassenbezogene Überzeugung lediglich auf einen kleinen Aspekt des jüdischen Musikschaffens, nämlich jenen der Rhythmisierung, zu begrenzen, ohne dem Judentum grundsätzlich und unbillig zu nahe treten zu wollen. Damit steht er in seiner Einschätzung weit hinter Wagner, der dem jüdischen Kunstschaffen nicht nur jede Absicht auf Wahrhaftigkeit abspricht, sondern auch jede Befähigung dazu. Die Frage, die sich angesichts dieser Relation aufdrängt, ist ebenso unvermeidlich wie ausgesprochen prekär: Kann Uhligs rassenbezogene Überlegung, die nur einen geringen Teil seiner grundsätzlich nicht niederschmetternden Meyerbeerkritik streift, im gleichen Atemzug pauschal als ‚antisemitisch‛ benannt werden wie Wagners Ästhetik oder werden dadurch Relationen verwischt, deren Wahrung für eine so weit als möglich sachliche Annäherung unerlässlich sind? Eine alle Aspekte berücksichtigende Antwort auf diese Frage kann hier nicht erbracht werden, wohl aber darf die Annahme gelten, dass Antisemitismus in schwächerer und stärkerer Ausprägung unterschieden werden darf und soll. 117 Letzten Endes

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unentdeckt, und durchaus scharfsinnig bezieht Bischoff Stellung zu verschiedenen inhaltlichen Punkten der Meyerbeerkritik. Darunter kommentiert er explizit die Frage nach der Relevanz von Meyerbeers jüdischem Hintergrund für dessen kompositorisches Schaffen: „T. U. begründet die christlich-musikalische Lehre von der neu entdeckten Judenmusik nicht etwa auf den Nationalcharakter des Volkes, was doch noch einigen Sinn haben könnte, sondern auf ihren Dialekt, auf ihre Sprechweise! […] Ich halte dies für eben so unrichtig, als wenn Jemand umgekehrt z.B. die Langweiligkeit Ihres Stils auf das Christenthum schieben und sie aus dem Analogen des allgemein bekannten Geplärre der alten Weiber in der protestantischen Kirche erklären wollte. Der Stil ist Mensch – nicht wahr? Zur Sache schlagen wir vor: man gebe diejenigen Stellen, welche man in Mendelssohn und vielen andern tüchtigen Componisten jüdischer Confession für Judenmusik erklärt, genau an, denn mit dem allgemeinen Geschwätz von metrischer Gestaltung und melodischen Tonfällen ist nichts gesagt. Finden sich nun diese charakteristischen Stellen nicht bei allen jüdischen Componisten, so fällt dadurch allein schon die Behauptung, dass sie auf dem Judaismus, beziehungsweise der Judenschule, beruhten, in ihr Nichts zurück, und jene musikalischen Wendungen sind dann nur Eigenthümlichkeiten von Individuen. Stellen wir ihnen nun aber vollends ähnli che Wendungen und Rhythmen aus christlichen Tonsetzern zur Seite, und gelingt uns dies, so ist die ganze Lehre von der sogenannten Judenmusik eine Phantasie, welche eben so aus Vorurtheilen hervorgegangen ist, wie viele andere gehässige Behauptungen ähnlicher Art.“ (Rheinische Musik-Zeitung: „T U“, 10. August 1850) Diese Erwiderung ist eine direkte Ablehnung rassentheoretischer Ästhetik und argumentiert sinnvoll im Rahmen einer möglichen Logik. Erwähnenswert ist sicher auch, dass Bischoff später als erklärter Gegner der Wagnerästhetik von sich Reden macht. Als ein wenig ironisch gilt zudem Uhligs beständig wiederholter indirekter Vorwurf der anonymen Autorschaft, wenn man auf der anderen Seite berücksichtigt, dass Bischoff wiederum gezwungen ist, die Person Uhligs als „Herr T. U.“ zu benennen, da Uhlig selbst den Schritt aus der Halbanonymität nicht vollzogen hat (Rheinische Musik-Zeitung: „T U“, 10. August, 1850, S. 48f.). In der RGG wird Antisemitismus entsprechend weitfassend definiert: „Der A. umfaßt die ganze Skala von Gefühlen und Verhaltensweisen gegen die Juden zwischen instinktiver Aversion, die keinem Juden ein Haar krümmen möchte, bis zu einem Haß, der sich die planmä-

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ließe sich überdies nur schwer die Theorie einer kulturellen Kulminationsbewegung halten, wenn alle von Wagner vorgebrachten Antisemitismen im Bereich des Musikschrifttums längst kommuniziert worden wären, obgleich festgehalten werden muss, dass Forkels judenbezogene Äußerungen ganz erheblich schärfer und polemischer gefasst ist als Uhligs Meyerbeeranalyse und damit dem Wagner‛schen Geist trotz größerer zeitlicher Distanz deutlich näher steht. 118

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ßige Ausrottung aller Juden zum unverrückbaren Ziele setzt.“ Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Auflage, Bd. 1, Tübingen 1956 – 1965, Artikel „Antisemitismus“, S. 456. Von Bedeutung ist dabei natürlich die Konkretionsdifferenz der Kritiker Forkel und Wag ner: Indem sich Forkel auf kein zeitgenössisches jüdisches Kunstschaffen, geschweige denn namentlich auf einen Komponisten, sondern in seiner Kritik notwendig auf eine vorchrist liche Kultur beziehen kann, lässt sich die seinem Schrifttum unterlegte Polemik erheblich leichter formulieren und ist damit in ihrer Intensität nicht parallel mit Wagners Invektiven vergleichbar.

9. Exkurs I: Romantischer Protestantismus in seiner Gegnerschaft zu künstlerischer Tradition

Ehe sich die Untersuchung der Entwicklung des Authentizitätsproblems in der deutsch-jüdischen Musikkultur Richard Wagners Kritik als namentlich letzte und damit dem vorläufigen Höhepunkt des antisemitischen Musikschrifttums des 19. Jahrhunderts nähert, sollen hier noch einige allgemeine Überlegungen ihren Raum finden. Die vorliegende Betrachtung hat vor allem in ihrem ersten Teil einen Zusammenhang zwischen antijüdischen Zuschreibungen, die sich mit der Frage nach innerer und äußerlicher Wahrhaftigkeit verbinden, und dem aufkommenden Protestantismus herausgearbeitet und ihn in der fortlaufenden Überprüfung mit der Konfession und der Kritik antijüdischer Musikschriftsteller wie bei Mattheson oder Forkel verknüpft. Besieht man die bislang aufgeführten Kritiken zu Meyerbeer unter dem Aspekt des Wahrhaftigkeitspostulats, das im Zusammenhang mit Uhlig und Wagner schließlich mit Meyerbeers Judesein verflochten ist, muss gleichermaßen auffallen, dass alle bislang angeführten Kritiker als Protestanten zu benennen sind.1 Besondere Bedeutung trägt die Konfession überdies im Falle Schumanns, dessen kompositorische und ästhetische Romantikentsprechung mit dem Protestantismus des Komponisten vermengt wird. Die Subjektbezogenheit, welche eine zentrale Rolle der romantischen Weltanschauung besetzt, korrespondiert über weite Strecken mit dem Subjektverständnis des Protestantismus, welcher im Gegensatz zum Katholizismus dem Einzelnen insofern mehr Bedeutung zuschreibt, als die individuelle innere Einstellung gegenüber metaphysischen Ontologien bis hin zu Gott ausschlaggebend ist und nicht durch äußere, subjektunabhängige Handlungen überschrieben werden kann. Schumanns romantische 1

Neben Forkels, Matthesons und Schumanns hinlänglich bekanntem Protestantismus ist Rellstabs Religionszugehörigkeit u.a. auf die Taufkirche seiner Familie (St. GeorgienKirche/Berlin) zurückzuführen (Rellstab: Aus meinem Leben, S. 15; Fliegende Blätter aus dem Rauhen Hause zu Horn bei Hamburg: Organ des Central-Ausschusses für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche, Bd. 7, (Hrsg. Johann Hinrich Wichern), Hamburg 1850, S. 145) und Uhligs protestantischer Hintergrund lässt sich durch das Wurzener Taufbuch nachweisen (Taufbuch der Kirchgemeinde Wurzen , Jahrgang 1822, getauft auf Gottlob Sigismund Theodor Uhlig, S. 81/Nr. 35). Wagners Eigenkonfessionalität, wel che in Anlehnung an Wagners Schopenhauerrezeption lebensbejahende christliche Konzepte ebenso einschließt wie lebensverneinende buddhistische, geht dabei über das, was Protestantismus im eigentlichen Sinne bezeichnet, weit hinaus, obwohl er nominell diesem Glauben anhing, der eine wesentliche Grundlage für seine Individualansicht bildet. Aus Cosimas Aufzeichnungen geht überdies hervor, dass die Familie Wagner den Protestantismus einem ‚echten Deutschsein‛ zugrunde legt, was wiederum erhellend vor dem Hintergrund der gesamten Authentizitätsdiskussion ist: „Gestern bei stürmischem Regen wanderte ich ihm entgegen; wie er mich von der Ferne sah, sang er [Wagner] laut: „Eine feste Burg ist unser Gott.“ Immer fester wird in mir der Entschluß, die Kinder protestantisch werden zu lassen. - Die Reformation hat den deutschen Geist gerettet, und meine Kinder sollen ächte Deutsche werden.“ Cosima Wagner: Tagebücher, (Hrsg. Martin Gregor Dellin), Bd. 1, München 1976/77, S. 397.

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und stilistische Neigung zu einem gewissen ‚harmlosen‛ Mystizismus unterstreicht dabei eine protestantische Subjektfreiheit, wie sie auch bei Wagner zu finden ist: Quasi als Weiterentwicklung des ‚Protestes‛ gegen eine den Individualismus ablehnende Religion sind es hier die romantisch-protestantischen Eigenkonfessionen, welche dem Subjekt eine übergeordnete Position gewähren. Der auf innere Wahrhaftigkeit drängende Protestantismus spielt dementsprechend trotz zunehmender Säkularisierung im 19. Jahrhundert keineswegs eine untergeordnete Rolle bei der Fragestellung nach der Authentizität von allgemeinem bzw. jüdischem Kunstschaffen. Die dem Protestantismus zugrunde liegende Forderung nach Innerlichkeit, Individualität und geistiger Innovation wird im Musikschaffen gleichermaßen künstlerisch gespiegelt, wie sie jedoch auch durch eine katholische extreme Gegenposition ihren Antagonisten findet: im Cäcilianismus. Die auf das Concilium Tridentinum zurückzuführende kirchenmusikalische Reformbewegung, welche über den ‚Umweg‛ des stilo antico schließlich im ausgehenden 18. sowie im 19. Jahrhundert ein eigenes musikalisches Genus bildet, 2 ist auf eine Weise als traditionalistisch zu begreifen, die ein mögliches jüdisches Traditionsbewusstsein im Sinne einer vorliegenden und absichtsvollen Epigonalität weit überragt. Die Abkehr von einer zunehmend anthropozentrischen Theologie, wie sie im fortschreitenden Protestantismus begegnet, führt auf dem Gebiet der Tonkunst folgerichtig zu einer Ästhetik, welche individualimmanente Einstellungen und somit auch die Frage nach innerer Wahrhaftigkeit nachrangig behandelt. Natürlich herrschen auch innerhalb der Cäcilianismusbewegung verschiedene Positionen, die stark im bestehenden reaktionären Element auseinanderdriften. 3 Als ganz unspezifische Überschreibung aber zeichnet sich die cäcilianistische Ästhetik durch ihren bewussten Bezug auf bereits bestehende Formen und Werke der katholischen Kirchenmusik (welche selbstverständlich protestantische kirchenmusikalische Elemente wie Choräle einbezieht) sowie durch die teilweise kaum veränderte Tradierung derselben aus. Bemerkenswert ist das Phänomen des Cäcilianismus im Zusammenhang mit der hier geführten Diskussion um Authentizität im jüdischen Musikschaffen insofern, als hier zwei orthodoxe Religionsmodelle – das orthodoxe Judentum und der Katholizismus als eine Art ‚orthodoxes Christentum‛ – ihren jeweils religionstypischen Traditionsbezug zwar unterschiedlich stark, dennoch zweifelsfrei im Kulturschaffen nachweisbar dokumentieren. Der Cäcilianismus 2

3

Zur Vertiefung der hier äußerst grob umrissenen Darstellung des Caecilianismus ist u.a. zu empfehlen: Hubert Unverricht (u.a.): Der Caecilianismus: Anfänge, Grundlagen, Wirkungen: Internationales Symposium zur Kirchenmusik des 19. Jahrhunderts , Tutzing 1988; Karl Gustav Fellerer: Geschichte der katholischen Kirchenmusik (2 Bde.), Kassel 1976. Wenn sich auf der einen Seite Haller, Nekes oder Krutschek durch ein stark historisierendes Kompositionspostulat einen Namen machten, kontrastieren u.a. Ambrosius Kienle und Ignaz Mitterer diesen Anspruch trotz gemeinsamer Überzeugungen, indem ihre Werke Tradition und Progress synthetisieren. Vgl. Karl Gustav Fellerer: „Cäcilianismus“, in Musik in Geschichte und Gegenwart, (Hrsg. Ludwig Finscher u.a.) Bd. 2, Kassel2 1995, Sp. 621-626. Die alte Musik in Geschichte und Gegenwart wird im Folgenden mit MGG 1 abgekürzt (Hrsg. Friedrich Blume u.a., Kassel 1949ff.), die neue mit MGG 2 (Hrsg. Ludwig Finscher u.a., Kassel 1995).

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wurde dementsprechend genauso wenig unproblematisch rezipiert, wobei der Kritik jedoch das ideologische Moment fehlt. Bezüglich einer Wahrhaftigkeitsanforderung, die mit der unterstellten Epigonalität jüdischen Musikschaffens analogisierbar ist, können allerdings offensichtliche Parallelen in der Kritik bzw. Rezeption nachgewiesen werden. Ein Konzert des Frankfurter Cäcilienvereins, in welchem unter anderem Passionsfragmente von Bach4 und Choräle von Nikolaus Decius erklangen, wird 1829 in Marx‛ Berliner allgemeinen musikalischen Zeitung dementsprechend kommentiert: Der Eindruck des Ganzen ist indess kein religiös-erhebender: diese Musik ist mehr vornehm als menschlich-innig, sie will weniger empfunden als studirt sein, und ist ohne […] symbolische Wärme […].5

Die Stärke der Analogien spricht für sich. Auch hier begegnet der Topos der Gelehrtheit, welcher innere Authentizität ausschließt und eng mit religiösem Traditionsbewusstsein verwoben scheint.6 Dieses Beispiel soll genügen, um jene Parallele zu verdeutlichen, welche die Kritiken in Bezug auf jüdisches Tonsetzen mit dem vermeintlichen katholischen kirchenmusikalischen ‚Regress‛ verbindet. Aber so lockend die inhaltliche Gleichsetzung auch scheint, muss hier ganz deutlich zwischen den verschiedenen ‚Epigonalitätsintensitäten‛ unterschieden werden, was am besten unter Einbezug von Achad Ha'ams Modell gelingt. Stellt man nämlich die vorgeschlagenen Nachahmungsmodelle gegenüber, ergeben sich klare Positio4

5

6

Eine weitere Schnittmenge zwischen katholisch-reaktionärer Kirchenmusik und jüdischem Traditionsbewusstsein ergibt sich durchaus im Zusammenhang mit Felix Mendelssohn, der nicht nur 1836 den Frankfurter Cäcilienverein leitete, sondern 1829 maßgeblich an der ‚Wiederbelebung‛ von Bachs Matthäuspassion beteiligt war. Die Bearbeitung der These jener Parallelität ist indes zu komplex, um hier vollzogen zu werden. Anonymus: „Frankfurter Cäcilienverein“ , in: Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung , (Hrsg. Adolf Bernhard Marx), 6. Jahrgang, Berlin 1829, S. 245. Der Aufführungsbericht wurde vom Herausgeber verfasst, was kurz thematisiert werden darf: Marx, jüdischer Herkunft und 1819 getauft, steht hier dafür ein, dass eben nicht alle Juden, auch nicht alle assimilier ten Juden der Oberschicht, trotz möglicherweise ähnlicher Bildungsvita eine Parallelität der Ästhetik vorweisen müssen und dass bei jedem legitimen Versuch, Gemeinsamkeiten verschiedener Individuen benennen zu wollen, stets das persönliche Moment zu berücksichtigen ist: Nicht jeder Jude denkt, fühlt und handelt zwangsläufig ‚bewahrend‛, und umgekehrt ist, wie wiederholt in der Arbeit dargelegt, der Sinn für Tradition, wie er z.B. bei Felix Mendelssohn zu konstatieren ist, gleichermaßen als ein nicht-jüdisches Phänomen anzunehmen. Aufschlussreich dazu ist auch Peter Sühring: „Kontrapunktische Kindheit der Musik geschichte – Adolf Bernhard Marx’ geschichtsphilosophische These vomnotwendigen Ende des Kontrapunkts nach Bach“, in: Philosophie des Kontrapunkts, (Hrsg, Ulrich Tadday), München 2010, S. 48-59. Wobei hier natürlich die Ästhetik der Interpreten sowie die Ästhetik des Komponisten gleichermaßen kritisiert werden – es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Bachs Werk 1829 keinen überragenden Stand in der Öffentlichkeit genoss. Die Rückbesinnung auf Bach wird hier jedoch gleichermaßen als ‚gefühllos‛ charakterisiert, indem zur Kenntnis genommen wird, dass die Möglichkeit religiös-erhebende Musik aufzuführen nicht aus zeitgenössischer (Selbst-)Bekenntnismusik geschöpft wird.

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nen: Die „selbstentäußernde Nachahmung“, welche Fortschritt tendenziell ausschließt, um in größerem Umfang die Tradition zu wahren, wird hier durch die cäcilianistische Ästhetik verkörpert, wohingegen das jüdische Nachahmungsbestreben das bislang Geleistete insofern würdigt, als es dort als Grundlage für nach vorn gerichtetes Schaffen dient und damit als „konkurrierende Nachahmung“ gelten kann. Der Absichtlichkeitscharakter einer vorliegenden oder unterstellten Epigonalität ist dabei ebenso zu differenzieren. Der Cäcilianismus ist in der Fremdbetrachtung durch die nach außen erklärte Absichtlichkeit sowie die durch eine umfassende Interessengruppe vertretene Gemeinschaftlichkeit bei der Forderung nach kultureller Rückbesinnung von einer möglichen kunst-moralischen Anrüchigkeit viel eher freizusprechen. Das jüdische Traditionsbewusstsein hingegen, das stets individuell schimmert und nicht als teilweise etablierte Gruppenästhetik nahezu subjektiv und damit von außen betrachtet willkürlich Regeln bezüglich des Verhältnisses von Bewahren und Fortschritt aufstellt, macht sich in der Frage nach Epigonalität stärker angreifbar. Dadurch ergibt sich der zunächst paradox anmutende Umstand, dass Epigonalität umso weniger anrüchig wirkt, je stärker und absichtlicher sie gestaltet ist. Ursächlich für dieses Phänomen ist dabei der jeweils gestellte Anspruch: Indem in einer direkten Nachahmungshandlung per definitionem weniger Selbstanteile involviert sind als in einem individuellen Schaffensprozess, welcher kein explizites Vorbild benennt, ist das Wahrhaftigkeitspostulat folgerichtig als gering einzuschätzen. Vor allem indem das cäcilianistische Bestreben nach Rückbesinnung namentliche Vorbilder wie Palestrina oder andere benennt, steht es außerhalb einer Angreifbarkeit, die sich nicht zuletzt aus der Möglichkeit ergibt, dass eine nicht vollzogene Benennung eines möglichen personalen Vorbildes dazu führen kann, dass ein Rezipient mit wenig umfassender Werk- oder Stilkenntnis die erbrachte Leistung ausschließlich dem inspirierten bzw. epigonal handelnden Komponisten zuschreibt. Zusammenfassend lässt sich dennoch, wenn auch grob vereinfacht, festhalten, dass die aus protestantisch-kunstästhetischer Perspektive bestehende ‚Verwerflichkeit‛ kultureller Traditionalität ohne überwiegende Selbstanteile weder aus jüdisch-orthodoxer noch aus katholisch-konservativer Sicht mitgetragen wird. Der Protestantismus überträgt nicht zuletzt in Verbindung mit einer zunehmenden Säkularisierung die auf individuelle Innerlichkeit bezogene Bewegung auf das kunstästhetische Empfinden im 19. Jahrhundert, was durch jede Form des künstlerischen Traditionalismus kontrastiert wird.

10. Richard Wagner, „Das Judenthum in der Musik“ und Meyerbeer – Fragen nach Ursächlichkeiten Ganz im Sinne des weiter oben konstatierten protestantischen Selbstanspruchs auf innere Wahrhaftigkeit agiert schließlich auch Wagner, sogar vor dem Hintergrund einer psychologischen Disposition in besonderem Maße, wenn er für seine Kritik an Meyerbeer die gesamte Palette der Zuschreibungen und Vorwürfe nutzt. Zwar muss streng zwischen Ursache und Auslöser unterschieden werden, dennoch lässt sich in der freundschaftlichen Verbindung der Männer Uhlig und Wagner sowie der ihnen gegebenen Möglichkeit, ihre gemeinsamen Ideen in der Breite zu publizieren, deutlich das auslösende Moment für Wagners Aufsatz finden. Trotzdem ist hier nicht von einer stringenten und absehbaren Entwicklung zu sprechen, die ursächlich und auslösend für Wagners Meyerbeeraversion und seinem kollektiven Antisemitismus gelten kann. Die Antipathie zu Meyerbeer verschränkt sich dabei durchaus mit Wagners antijüdischer Attitüde, dennoch sind beide Phänomene in ihrer Entstehung voneinander zu unterscheiden. Immerhin findet Wagner nie solch allgemeine euphorische Worte für das Judentum, wie er sie anfänglich für Meyerbeer gefunden hat. Fest steht andererseits jedoch, dass Meyerbeers Judesein für Wagner dann erst Bedeutung trägt, als sich Wagner längst von Meyerbeer – sowohl stilistisch als auch menschlich – distanziert hatte und nicht mehr auf einen Vorteil jener Verbindung spekulieren konnte. Ab diesem Moment vermengen sich Wagners Meyerbeerkritik und Wagners Antisemitismus. Seine Einstellung zu Meyerbeer durchläuft dementsprechend eine Entwicklung, deren Eckpunkte derart entgegengesetzte Ansichten zu Meyerbeer markieren, dass sie bereits vielfach als Gegenstand musikwissenschaftlicher Betrachtungen gedient haben. 1 Aus diesem Grund ist die vorliegende Untersuchung nur als winziger Abriss der Wagner/Meyerbeerdynamik zu verstehen, die in erster Linie nach Wagners Rolle des umfassenden Bewegungszeitraums der deutsch-jüdischen Kulturbewertung fragt und sie dabei in der Chronologie nach Uhlig aufnimmt. Und tatsächlich ist der inhaltlich zurückgelegte Weg zwischen folgenden beiden Aussagen gewaltig: Meyerbeer schrieb Weltgeschichte, Geschichte der Herzen und Empfindungen, er zerschlug die Schranken der National-Vorurtheile, vernichtete die beengenden Grenzen der Sprachidiome, er schrieb Thaten der Musik, - Musik, wie sie vor ihm Händel, Gluck und Mozart geschrieben, - und diese waren Deutsche, und Meyerbeer ist ein Deutscher.2 Als Jude hatte er keine Muttersprache, die mit dem Nerve seines innersten Wesens untrennbar verwachsen gewesen wäre: er sprach mit demselben Interesse in jeder beliebigen modernen Sprache und setzte sie ebenso in Musik, ohne alle andere Sympathie für ihre Eigent1

Vgl. z.B. Gunhild Oberzaucher-Schüller, Marion Linhardt, Thomas Steiert: Meyerbeer – Wagner. Eine Begegnung, Wien/Köln/Weimar 1998.

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Richard Wagner: „Über Meyerbeer‛s ‚Hugenotten‛“, in: SSuD, Bd. 12, Leipzig 1911, S. 26. Dieser Artikel entstand um 1840/1841 und wurde auf eigenen Wunsch zu Lebzeiten des Komponisten nicht veröffentlicht.

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Richard Wagner, „Das Judenthum in der Musik“ und Meyerbeer

hümlichkeiten, als die für ihre Fähigkeit, der absoluten Musik nach Belieben untergeordnet zu werden.3

Der Vorwurf des Opportunismus reicht bekanntlich im Falle Wagners über den bloßen Verdacht hinaus, jedoch speist sich Wagners Meyerbeeraversion aus verschiedenen Faktoren und beschränkt sich nicht auf die Fragen nach Missgunst und einer möglichen bzw. so empfundenen Selbsterniedrigung Wagners vor dem Pariser Komponisten, um der eigenen Karriere Schwung zu verleihen. Insofern eine introspektivische Annäherung an Wagners Motive nicht möglich ist, bleiben nur nach außen formulierte Standpunkte sowie deren Verknüpfung mit biographischen Etappen des Komponisten, um wenigstens ein vages Bild bezüglich der Entwicklung seiner Meyerbeeraversion zeichnen zu können, welche gleichfalls Einblick in die Ausprägung seines Antisemitismus gestattet und schließlich die Frage nach den Entstehungsfaktoren für das Judenthum eröffnet. Wenn also, wie angedeutet und weiter unten ausgeführt, das Zürcher Exil mitsamt seinen unmittelbaren zeitlichen Kontexten wie Uhligs Publikationen als auslösendes Moment für die Niederschrift von Wagners Artikel konstatiert wird, lassen sich darüber hinaus verschiedene mögliche Ursächlichkeiten für die Entstehung von Wagners Antisemitismus aufzählen. Selbstverständlich ist dieses Vorgehen ein spekulatives und nur auf äußerlich erkennbaren Faktoren basierend, insofern kein externer Zugriff auf die inneren Zustände eines Individuums möglich ist – erst recht nicht nach einer solchen zeitlichen Distanz, wie hier gegeben. Zusammenfassend lassen sich die möglichen Auslöser und Ursächlichkeiten sowohl für Wagners ‚allgemeinen‛ als auch sein am Beispiel Meyerbeers explizit formulierter Antisemitismus auf folgende Faktoren in der entsprechenden Chronologie herunterbrechen, sodass die vorläufige Gipfelung im Judenthum einer plausiblen Entwicklung entspricht: a) Das Verhältnis Wagner/Meyerbeer b) Wagners Patriotismus/Nationalismus c) Wagners Sozialismus d) Wagners Rassismus 3

Richard Wagner: Oper und Drama, in: SSuD, Bd. 3, S. 293. Entstanden – wie auch „Das Judenthum in der Musik“ – um 1850 in Zürich. Passagen aus Oper und Drama werden hier und im Folgenden aus den SSuD zitiert, was jedoch hinsichtlich der textlichen Absicherung nicht ganz unproblematisch ist. Die von Klaus Kropfinger kritisch kommentierte Ausgabe von Oper und Drama wurde deshalb zum korrigierenden Vergleich der fraglichen Stellen herangezogen, dabei haben sich jedoch keine textlichen Unstimmigkeiten ergeben. Die SSuD enthalten demnach für die vorliegende Untersuchung keine textkritischen Stolpersteine. Die kommentierte Ausgabe wird allerdings aufgrund ihrer „behutsam modernisierten“ (Kropfinger, S. 398), mittlerweile jedoch auch schon wieder veralteten Schreibweise von Wagners Schrift hier nicht zitiert. Klaus Kropfinger (Hrsg.): Oper und Drama, bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 2008.

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e) Die Frage nach eigener und fremder Wahrhaftigkeit und die zunehmend getriebene Suche nach ‚dem Einen, Wahren‛ f) Uhligs Publikationen in der Neuen Zeitschrift für Musik im ersten Halbjahr 1850

10.1 Zum Verhältnis Wagner/Meyerbeer Tatsächlich darf Wagners frühes Bittgesuch bei Meyerbeer 4 nicht als unaufrichtiger Opportunismus gelten, da Wagners unverblümt formulierte Bewunderung für den Komponisten vor dem Hintergrund Wagners damaliger Ästhetik ganz offenbar innerlich mitgetragen wurde. Die Schilderung seiner erhofften Karriere und kompositorischen Entwicklung, die Wagner im Oktober 1834 seinem Freund Theodor Apel zukommen lässt, deckt sich auffällig mit markanten Eckpunkten der Meyerbeerbiographie und muss Wagner demzufolge als erstrebenswerter Lebensentwurf gegolten haben: Meine Feen müssen durch die Aufführung an 3 bis 4 guten Theatern dazu dienen, mir einen ehrenvollen Vorwurf für mein Liebesverbot zu machen, das ich während dieser Zeit fertig bringe; mit dieser Oper muß ich dann durchschlagen, und Ruf u. Geld gewinnen; ist mir es geglückt, beides zu erlangen, so ziehe ich mit Beidem und mit Dir nach Italien, und dies zwar im Frühjahr 1836. In Italien komponire ich dann eine italienische Oper, u. wie es sich macht, auch mehr; sind wir dann braun u. kräftig, so wenden wir uns nach Frankreich, in Paris komponire ich dann eine französische Oper, und Gott weiß, wo ich dann bin! Wer ich dann bin, das weiß ich; - kein deutscher Philister mehr. Diese meine Carrière muß auch die Deinige sein. Das einzige, was diesen Plan vernichten kann ist nur das Unglück, d.h. der Mangel an Glück; ich habe mir nun aber einmal vorgenommen, auf das Glück zu bauen .5

Nicht ein Buchstabe dieser Mitteilung weist auf den Wagner von 1850. Der Mangel an Glück, der für Wagner hier als einzig mögliches Hindernis bei der Realisierung seines Curriculums denkbar ist, mag in der Tat keine unerhebliche Rolle in Wagners Sinneswandel gespielt haben. Immerhin nämlich fiel der 1837 erfolgte erste Versuch einer Kontaktaufnahme mit Meyerbeer in eine für Wagner heikle Zeit, in welcher ihn die Stadt Königsberg wegen seiner nie beglichenen Verschuldung bei verschiedenen Bürgern gerichtlich belangt hat. Meyerbeer steht in jener Zeit für das, was Wagner sowohl notwendig als auch erstrebenswert scheint: Erfolg als Komponist, finanzielle Absicherung und Wertschätzung durch Mitmenschen. Dass Meyerbeer ein Jude ist, spielt noch längst keine Rolle, wichtig ist aber sicher, dass sich hier bereits das Geld – eines der Wagnerschen Leitmotive, sowohl künst 4 5

Richard Wagner 1837 an Meyerbeer, vgl. Wagner: SB, Bd. 1, S. 323. Richard Wagner an Theodor Apel: SB, Bd. 1, S. 168. Hier darf freilich nicht verschwiegen werden, dass Wagners auf Erfolg abzielender Lebensentwurf, an dem er Apel teilhaben lässt, durchaus Beschwichtigungscharakter trägt, insofern Apel in jenem Zeitabschnitt wiederholt als Gläubiger Wagners in Erscheinung tritt.

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lerisch verarbeitet als auch privatmenschlich erlebt 6 – mit dem Menschen Meyerbeer verbindet und dadurch mit einem unfreiwilligen Gegenmodell zu Wagners Vita, sodass die später relevante Ergänzung von Meyerbeers Judesein geradezu willkommen sein musste. Schließlich ist es kein ungewöhnliches Phänomen, aus der Not eine Tugend zu machen. Wo der finanzielle Erfolg trotz aller Mühe ausbleibt, gerät der scheinbar ohne großen inneren Aufwand komponierende und jenseits aller Geldsorgen lebende Künstler – später Jude – schnell zum Feindbild, bis man sich schließlich selbst davon überzeugt hat, diesen Lebensentwurf grundsätzlich zu verurteilen. Dass jedoch eben jener Lebensentwurf zunächst mitnichten missbilligt wurde, belegt das weiter oben angeführte Zitat. Hochgradig spekulativ ist zwar die Frage, ob bzw. inwiefern sich Wagners Ästhetik unter einer hinreichend finanziellen Absicherung entwickelt hätte, auszuschließen ist aber keineswegs, dass sich Wagners Einstellungen bei entsprechenden Werkerfolgen in Paris vor allem in Blick auf antisemitische Ressentiments grundlegend anders hätten entfalten können. Wagners fast übertriebene Bewunderung für Meyerbeer, wenigstens als solche formuliert, entwickelt sich nicht zufällig ab jenem Zeitpunkt in eine andere Richtung, als Wagner ab 1842 in Dresden mit seinem Rienzi erste Erfolge erzielen kann, aber auch hier steht der Schatten Meyerbeers über dem Erfolg, der erst durch die Protektion des Pariser Komponisten gedeihen konnte. Die Bemühungen der Jahre in Paris sind insgesamt als wenig fruchtbar einzuschätzen, was den Investitionsaufwand Wagners – nicht nur den finanziellen – gewaltig schmälert. Seinen Eindruck einer Abhängigkeit, die sich de facto insbesondere mit Meyerbeer verbindet, verlagert Wagner zunächst noch auf die allgemeinen und widrigen Umstände und beginnt schon im September 1841, sein Unglück als Glück zu preisen: Wäre ich eines von jenen frivolen Geschöpfen der heutigen Mode, hätte ich irgend eine glänzende Gabe für den Salon, so würde es mir wohl möglich gewesen sein, mich in diese oder jene Coterie hineinzupoussiren, die mich endlich vielleicht auch ohne inneres Verdienst gehoben haben würde. - Wohl darf ich sagen: Gott sei Dank, daß ich dazu nicht ge macht war! Wen ich noch auf diesem Wege reussiren gesehen habe, habe ich verachten müssen! Mich hat ein so unwiderstehlicher Ekel für diese Nichtswürdigkeiten erfaßt, daß ich mich wirklich glücklich preise, ihnen keinen Geschmack abgewonnen zu haben. - Was mir für Paris nun noch übrig bleibt, ist, die Quelle eines mühsamen Verdienstes, die ich mir bei einem hiesigen Musikverleger geöffnet habe, für meinen kärglichen Unterhalt zu benutzen, zu warten, bis mir Glück und Umstände dahin verhelfen, wohin ich will.7

Tatsächlich nämlich war Wagner noch im Mai 1840 durchaus willens gewesen, entgegen seiner eigentlichen Absicht eine salonfähige einaktige Oper zu verfassen, die sich dem Ballett zu unterwerfen hätte: 6

7

Vgl. z.B. Hanjo Kesting: Das Pump-Genie. Richard Wagner und das Geld , Frankfurt/Main 1993. In: SB, Bd. 1, S. 518.

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Hr. Habeneck hatte mir nämlich vorher einmal vorgestellt, daß, wenn ich mich einem Auteur, wie Hrn. Scribe, günstig bekannt machen könnte, ich auf diesem Wege am ersten einmal zu etwas kommen dürfte; er wußte nämlich, daß die Administration der Oper wünsche, kleinere 1actige Opern zu haben, um für Ballet-Abende nicht Acte aus großen Opern herausreißen zu müssen; - daß nun, da die eigentlichen Herren der Oper sich nicht sonderlich mit dergleichen Kleinigkeiten beschäftigen könnten, mir es am ersten gelingen könnte, eine solche Oper zur Annahme zu bringen, so bald ich einen AUTEUR für mich habe, der mir ein LIBRETTO anvertraue. Dieß leuchtete mir sehr ein, u. ich beschloß diese Gelegenheit zu benützen, um mich diesen Herren bekannt zu machen […]. 8

Wagners Aversion gegen die „ frivolen Nichtswürdigkeiten“ richtet sich hier noch nicht gegen Meyerbeer, wohl aber bereits gegen das ihn kontextualisierende Umfeld. Ein Jahr später schon und demnach mit entsprechender zeitlicher und räumlicher Distanz sowie der allmählichen Lösung aus seiner Abhängigkeit erklingen erste kritische Töne in Bezug auf die Person Meyerbeers, dabei noch unter dem Deckmantel der Würdigung. Ein an Gottfried Anders gerichtetes Schreiben thematisiert die Hilfsbereitschaft zweier Männer: Ich kenne auf dieser Welt nur zwei Menschen, die Dir im rechten Sinne wahrhaft förderlich werden könnten: der eine ist Meyerbeer: er - ein Musiker mit 60,000 Thaler jährlicher Ein künfte, den ich aber bei allen guten Eigenschaften, die ihm vorzugsweise zuzugestehen sind, dennoch für unfähig halte, großherzig genug zu sein, um ernstlich in das Auge gefaßt werden zu können. Der Andere, liebster Freund, bin ich, wenn mir das Glück beschieden sein sollte, glänzend zu reüssiren.9

Wodurch Meyerbeer die Zuschreibung des Mangels einer gewissen Großherzigkeit verdient, wird nicht ganz klar, vermutlich aber beginnt Wagner hier bereits, sein Pariser Scheitern auf die vermeintlich nicht hinreichend geleistete Unterstützung durch Meyerbeer zurückzuführen, der Wagner zwar nie einen Gefallen schuldete, ihm aber dennoch mit verschiedenen Empfehlungsschreiben und Ratschlägen zur Seite stand, was letztlich Wagners Erfolg in Deutschland erheblich begünstigt hat. Meyerbeers ‚Schuld‛ mag sich hierbei insofern darstellen, als er nicht jeden durch Wagner vorgeschlagenen Termin einer Begegnung wahrgenommen hat bzw. hat wahrnehmen können und auch nicht mit äquivalenter Euphorie auf Wagners Schreiben reagiert hat – ihm diese Umstände trotz seines mehr als förderlichen Wirkens anzulasten, könnte sich durchaus aus dem zweifellos bestehenden Narzissmus Wagners gespeist haben. Besondere Bedeutung trägt für Wagner selbstverständlich die Uraufführung seines Rienzi, und als er seinen Nächsten in flüchtigen ersten Zeilen vom durchschlagenden Erfolg seiner Oper berichtet, ist es wiederum Meyerbeer, dessen Nennung nicht fehlen darf und der als offenkundiger Vergleichspunkt herhält:

8 9

Ibid., S. 385f. In: SB, Bd. 2, S. 112f.

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Na, liebste Kinder! In aller Eile u. Abspannung muß ich heute Euch doch wenigstens mit einer Zeile melden was gestern vorgefallen ist. Es wäre mir lieber, Ihr erführet es von einem Anderen, - denn ich muß Euch sagen, - daß noch nie, wie mir Alle versichern, in Dresden zum ersten Male eine Oper mit solchem Enthusiasmus aufgenommen worden ist, als mein Rienzi. Es war eine Aufregung, eine Revolution durch die ganze Stadt; - ich bin viermal tu multuarisch gerufen. Man versichert mir, daß Meyerbeer's Succes bei seiner hiesigen Aufführung der Hugenotten nicht im Vergleich zu stellen sei mit dem meines Rienzi. 10

Wagners Sehnsucht, sich gegen den Ratgeber, den Förderer durchzusetzen, muss enorm gewesen sein, und regt zu psychoanalytischen Spekulationen an, die den Mythos des Urvatermordes umkreisen. Kurze Zeit später weist Wagners Bild von Meyerbeers Ästhetik sowie seine damit verbundene Einstellung in eine deutliche Richtung, als er, in Erinnerung an die Pariser Zeit, den jüdischen Freund Samuel Lehrs im April 1843 an seinen Gedanken teilhaben lässt: Aber nichts mehr von Paris! Dies muß ich für alle Ewigkeit im Rücken liegen lassen: - europäisch können wir Opern-Componisten nicht sein, - da heißt es - entweder deutsch oder französisch! Man sieht es ja, was so ein Hans-Narre, wie der Meyerbeer uns für Schaden macht; - halb in Berlin, halb in Paris bringt er nirgends etwas zu Stande, am allerwenigsten in Berlin […].11

Die Möglichkeit des Fehlschlags in Paris muss Wagner stets präsent gewesen sein, und indem diese Möglichkeit durch Meyerbeers Triumphe scharf kontrastiert wird, bietet sich Wagner ein Erklärungsansatz für das vermeintliche eigene Versagen in der Umkehrung der Vorzeichen: Nicht, weil Wagners Werk unzulänglich sein könnte, findet es keine Plattform, sondern weil Meyerbeers Musik allzu gefällig und intendiert wirkt, wird sie mit großem Applaus aufgenommen. Wagners Beobachtung ist dabei sicherlich nicht als komplette Fehlwahrnehmung einzuschätzen, problematisch dürfte vielmehr der Umstand gewesen sein, dass Wagners anfänglich rückhaltlose Begeisterung für Meyerbeer einer Art eigener ‚Erkenntnis‛ weicht, wobei das Abhängigkeitsverhältnis jedoch nach wie vor von Bestand ist. So also verwundert es keineswegs, wenn Wagner 1843 Schumann wissen lässt: Uebrigens stimme ich Ihnen in Allem bei, was Sie - Ihrer jetzigen Kenntnisnahme nach über meine Oper sagen; nur das Eine hat mich erschreckt, u. - ich gestehe es Ihnen - der Sa che selbst wegen, erbittert: daß Sie mir so in aller Ruhe hin sagen, manches schmecke oft nach - Meyerbeer. Vor Allem weiß ich gar nicht, was überhaupt auf dieser weiten Welt „Meyerbeerisch“ sein sollte, außer vielleicht raffinirtes Streben nach seichter Popularität: etwas wirklich Gegebenes kann doch aber nicht „Meyerbeerisch“ sein, da in diesem Sinne Meyerbeer ja selbst nicht Meyerbeerisch, sondern Rossinisch, Bellinisch, Auberisch Spontinisch ETC. ETC. ist. Gäbe es aber wirklich etwas Vorhandenes, Consistentes - was „Meyerbeerisch“ zu nennen wäre, wie man etwas „Beethovenisch“ oder meinetwegen „Rossinisch“ nennen kann, so gestehe ich, müßte es ein wunderbares Spiel der Natur sein, wenn ich aus 10 11

Ibid., S. 167. Ibid., S. 234.

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dem Quelle geschöpft hätte, dessen bloßer Geruch aus weiter Ferne mir zuwider ist; es wäre dies ein Todesurtheil über meine Productions-Kraft, und daß Sie es aussprechen zeigt mir deutlich, daß Sie über mich durchaus noch keine unbefangene Gesinnung haben, was sich vielleicht aus der Kenntnis meiner äußeren Lebensverhältnisse herleiten läßt, da diese mich allerdings zu dem Menschen Meyerbeer in Beziehung gebracht haben, durch die ich ihm zu Dank verpflichtet worden bin.12

Es ist mehr als wahrscheinlich, dass Wagner mit seiner Rückkehr nach Deutschland danach trachtet, die letzten Reste des Abhängigkeitsverhältnisses zu Meyerbeer zu überwinden; die in der Öffentlichkeit wahrgenommene Verknüpfung Meyerbeer/Wagner jedoch ist so leicht nicht aufzuheben. So liest man noch 1844 mit wenig Überraschung sogar von einer stilistischen Ähnlichkeit beider: Der Componist hat sich Meyerbeer's System anzueignen gewußt, ein System, das aus der Musik ein mathematisches Rechenexempel macht, nur tritt es bei Wagner grasser hervor als bei Meyerbeer. […] Wagner hat mit den modernen, französischen Operncomponisten begriffen, daß man sich die Masse des Publicums, als diejenig, die die tüchtigsten Hände zum Applaudiren hat, zu Freunden halten müsse; so hat er denn auch zum Ersten für die Masse geschrieben. […] Wenn Richard Wagner kein Dichter weder im Worte noch in der Musik ist, was ist der denn? Ein spekulativer Kopf, der unsere Zeit begriffen zu haben glaubt, und demnach handelt. […] überhaupt, müßte ich mich sehr täuschen, wenn wir nicht bald das Verderbliche des letzteren auf das Gebiet der Oper noch mehr verpflanzt sähen, als es in Cola Rienzi schon geschehen ist. Eben weil ein solcher Schritt die verderblichsten Folgen haben kann, ist es heilige Pflicht einer unabhängigen Kritik, dagegen zu protestiren.13

Erstaunlich: In dieser Kritik begegnen die Zuschreibungen der Geldgier, der inauthentischen Effekthascherei, der Verderbtheit und schädlichen, zersetzenden Wirkung der Musik und der Intellektualität jenseits von wahrem Fühlen. Hier wird wieder einmal mehr überdeutlich, dass die Frage nach subjektiv empfundener Ästhetik nicht unüberlegt mit kulturpolitischen Ansichten vermengt werden sollte. Wäre Wagner jüdischer Herkunft, hätte sich die oben genannte Kritik vermutlich längst als antisemitische Schmähschrift einen Namen gemacht. Auf Wagners Unabhängigkeitsbedürfnis kann sie jedoch ihre Wirkung auch nicht verfehlt haben. Denn noch 1844, als sich Wagners Erfolg trotz seines Rienzi schleppend vollzieht, richtet sich Wagner erneut an Meyerbeer und bittet um Hilfe in eigener Sache. In einem Brief an Karl Gaillard berichtet Wagner 1845 von 12

13

Wagner in einem Brief an Schumann (25. Februar 1843) in: SB, Bd. 2, S. 222f. Zwar sollte man das taktische Moment in Wagners Mitteilung nicht unberücksichtigt lassen, da dieser Brief an Schumann gerichtet ist, der sich bekanntlich neben seinen bestehenden Ressentiments gegenüber Wagner ebenso als kein großer Freund Meyerbeers verstand. Trotzdem bzw. vielleicht gerade deshalb weist der Inhalt des Briefes auf eine Ehrlichkeit in der eige nen Meinung, die Wagner erst Jahre später u.a. in Oper und Drama öffentlich zu formulieren wagt. Theodor Hagen (Joachim Fels): „Cola Rienzi von Richard Wagner“, in: NZfM, 18. April 1844, S. 1f.

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den Schwierigkeiten, an seinen bislang einzigen Opernerfolg anzuknüpfen, den er in Berlin zu wiederholen gedenkt: Meierbeer versprach mir Hand u. Kopf daran zu setzen, diese Oper auf das Baldigste den Berlinern vorzuführen. Noch setze ich in die Redlichkeit seiner Gesinnungen gegen mich keinen Zweifel, der immer noch nicht beseitigte Grund für die Unmöglichkeit der Auffüh rung meiner Oper - der Mangel eines Heldentenor's - ist aber wohl im Stande mich im All gemeinen zur Verzweiflung zu bringen.14

Fast drohend bzw. vorwegnehmend deutet Wagner bereits seinen anstehenden Gesinnungswechsel an, als wüsste er längst, dass seine endgültige Abnabelung von Meyerbeer nur durch eine drastische innere Gegenbewegung zu vollziehen ist. Aber noch 1846 erreicht ein Bittgesuch nach dem nächsten Meyerbeer, Wagner, dessen Naturell kaum als submissiv verstanden werden kann, sieht sich dabei zwangsläufig in einer Rolle, die ihm zuwider gewesen sein muss. So schreibt er an Meyerbeer: Mein hochverehrter Gönner, Sie haben an mir einen furchtbaren Plaggeist. Kaum vermuthe ich Sie mit einiger Sicherheit in Berlin angekommen, wo Ihrer bereits zwei meiner Bittschreiben harrten, so sende ich noch ein Drittes ab: Gott verzeihe mir's. Wer nun aber einmal Ihre übergroße Güte kennt, der möchte ohne Ihre segensreiche Unterstützung nichts gerne unternehmen. Um Sie aber wenigstens nicht durch Weitschweifigkeit zu ermüden, komme ich sogleich zur Sache. 15

1846 schließlich reduziert sich die Funktion Meyerbeers für Wagner endgültig auf diejenige des hilfreichen Sekundanten, wie ein Schreiben an Alwine Frommann offenbart: Will mir Meyerbeer nutzen, so soll er machen daß er Operndirector in Berlin wird; außerdem könnte er mir auch Tausend Thaler borgen […].16

Die durch Wagner vielbeschworene Freundschaft zu Meyerbeer wird nun mit dem ersten Kritikpunkt belastet, jenem der Ästhetik. Wagner bewegt sich zunächst zwischen zwei Ebenen, die er strikt trennt: die menschliche und die ästhetische. An Eduard Hanslick schreibt er dementsprechend 1847: Was mich um eine Welt von Ihnen trennt ist Ihre Hochstellung Meyerbeer's; ich sage dies mit vollster Unbefangenheit, denn Meyerbeer ist mir persönlich sehr befreundet, u. ich habe allen Grund ihn als liebenswürdigen, theilnehmenden Menschen zu schätzen. Aber wenn ich Alles zusammenfasse, was mir als innere Zerfahrenheit u. äußere Mühseligkeit im Opern-Musikmachen zuwider ist, so häufe ich dies in den Begriff „Meyerbeer“ zusammen, 14 15 16

Richard Wagner: SB, Bd. 2, S. 430f. Ibid., S. 480. Ibid., S. 524.

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u. dies um so mehr, weil ich in der Meyerbeer'schen Musik ein großes Geschick für äußerliche Wirksamkeit erkenne, die um so mehr die edle Reife der Kunst zurückhält, als sie mit aller Verläugnung der Innerlichkeit in jeder Farbe zu befriedigen sucht: - wer sich in das Triviale verirrt, der hat es an seiner edleren Natur zu büßen; - wer es aber absichtlich aufsucht, der ist - glücklich, denn er hat es an nichts zu büßen.17

Fraglich ist natürlich, ob man das Werk eines „liebenswürdigen Menschen“, mit dem man sehr befreundet ist, im gleichen Atemzug als dem eigenen Naturell als „ zuwider“ einschätzen kann. Wahrscheinlicher ist, dass Wagner im nach außen formulierten Zugeständnis der Sympathie die Legitimation zur Werkkritik findet und, ungeachtet der eigentlichen inneren Zustände, notwendig die eigene Zuneigung zu Meyer beer betonen muss. Tatsächlich verheißt Wagners kurz darauf verfasste Mitteilung an seine damalige Frau Minna Planer, welcher er in Bezug auf die eigenen inneren Zustände gewiss den gründlichsten Einblick gewährte, nicht unbedingt wahre, innige Freundschaft: „Heute bin ich bei Meyerbeer zu Tische! Der reist bald ab; - desto besser !“18 Wagners Aversion gegen Meyerbeer muss sich demnach noch vor 1847 gebildet haben und zwar sowohl im Zusammenhang mit den Schwierigkeiten der eigenen Etablierung in Frankreich und Deutschland als auch mit der zunehmenden Ablehnung der Meyerbeer‛schen bzw. Pariser Ästhetik. Nach 1847 nimmt Wagners Interesse an Meyerbeer insofern ab, als er ihn weder um weitere Gefälligkeiten bittet noch seine Einstellung zu Meyerbeer gegenüber Anderen thematisiert. Sein Lohengrin-Projekt, der Tod seiner Mutter und die beginnende Freundschaft zu Franz Liszt sind einige jener Umstände, welche Wagners Leben nach 1847 prägen, in erster Linie jedoch sind Wagners politische Ambitionen zu nennen, die um 1849 speziell im Dresdner Maiaufstand gipfeln und sicherlich einen eigenen Beitrag zur Entwicklung von Wagners politischen Anschauungen geleistet haben. Die sich während der 1840er anbahnende Antipathie Wagners gegenüber Meyerbeer erfährt nach außen hin erst nach 1849 ihre kulturpolitische und damit fatale Komponente – fast ließe sich hier von einem unglücklichen Zufall sprechen, dass Meyerbeer ein Jude ist. Indem nämlich Meyerbeers Judesein Wagner schließlich die nahezu ideale Möglichkeit bietet, den früheren vorgeblichen Freund mit dem Verweis auf vermeintliche Tatbestände, welche die persönliche Beziehung beider nicht berühren, degradieren zu können, werden die Stränge von persönlicher Abneigung und Antisemitismus nach 1849 miteinander verflochten, ohne dass sie zuvor bemerkenswerte Berührungspunkte aufgewiesen hätten.

10.2 Wagners Patriotismus/Nationalismus Die Frage nach der Entwicklung eines Patriotismus/Nationalismusgefühls bei Wagner ist nur mühevoll aus der Gesamtverschränkung relevanter Faktoren, die 17 18

Ibid., S. 538f. Ibid., S. 573.

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für den Aufsatz 1850 die Grundlage bilden, zu lösen, dennoch soll an dieser Stelle der Versuch gewagt sein. Wie in den vorangegangenen Kapiteln mehrfach festgehalten wurde, steht der deutsche Patriotismusgedanke per se keineswegs für eine antisemitische Grundhaltung, sondern entfaltet eine mögliche schädigende Wirkung erst in der Vernetzung mit anderen Einstellungen. Da jedoch Antisemitismus zumeist mit übermäßigem Patriotismus/Nationalismus korreliert, lohnt der Blick auf Wagners Entwicklung, welche im Vergleich zu einer Einstellung, wie sie z.B. durch Forkel oder Schumann gepflegt wurde, zu überraschen versteht. Wie im Zusammenhang mit Wagners Haltung gegenüber Meyerbeer bereits aufgezeigt wurde, war Wagner 1834 weit von einer möglichen nationalistischen Einstellung entfernt: In Italien komponire ich dann eine italienische Oper, u. wie es sich macht, auch mehr; sind wir dann braun u. kräftig, so wenden wir uns nach Frankreich, in Paris komponire ich dann eine französische Oper, und Gott weiß, wo ich dann bin! Wer ich dann bin, das weiß ich; - kein deutscher Philister mehr.19

Der „deutsche Philister“ steht hier natürlich für den unreflektierten Kunstkonsumenten bzw. -produzenten jenseits aller Wahrhaftigkeit, welcher ohne innere Notwendigkeit oder Wertschätzung dem jeweils bestehenden kulturellen Modediktat folgt. Dass Wagner die italienischen und französischen Einflüsse als notwendig betrachtet, um sich aus der ‚deutschen Philisterei‛ zu lösen, kann kaum als Argumentation eines Nationalisten betrachtet werden. Unzählige Hinweise im Schrifttum Wagners betonen seine Abneigung gegen das Philistertum und unterstreichen seinen Anspruch, der ‚eigentlichen‛ Sache dienen zu wollen. Auch seine autobiographischen Skizzen zeichnen einen Menschen, der auf der Suche nach wahrhaftigem Kunstausdruck territoriale Grenzen nicht akzeptiert: Damals war ich einundzwanzig Jahre alt, zu Lebensgenuß und freudiger Weltanschauung aufgelegt; „Ardinghello“ und „das junge Europa“ spukten mir durch alle Glieder: Deutschland schien mir nur ein sehr kleiner Theil der Welt. Aus dem abstrakten Mystizismus war ich herausgekommen, und ich lernte die Materie lieben. Schönheit des Stoffes, Witz und Geist waren mir herrliche Dinge: was meine Musik betraf, fand ich beides bei den Italienern und Franzosen. Ich gab mein Vorbild, Beethoven, auf; seine letzte Symphonie erschien mir als der Schlußstein einer großen Kunstepoche, über welchen hinaus Keiner zu dringen vermöge und innerhalb dessen Keiner zur Selbstständigkeit gelangen könne. 20

Für das nationalistische Moment sind jene künstlerischen Selbstaussagen allerdings nicht explizit erhellend, sondern verbinden sich, was relevanter ist, mit Wagners Forderung der ‚Eigentlichkeit‛, die er schließlich zunehmend vor dem Hintergrund eines ‚eigentlichen Deutschseins‛ als basal erachtet – dieser Punkt jedoch ist der entscheidende. Denn dadurch ergibt sich folgende These: Die Deutschen 19 20

In: SB, Bd. 1, S. 168. Richard Wagner: Autobiographische Skizzen, in: SSuD, Bd. 1, S. 10.

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bargen als bereits bestehende Nation keine übermäßige Attraktion für Wagner, welche den Komponisten dazu hätte veranlassen können, in unmäßigem Patriotismus oder Nationalismus zu baden. Natürlich deutet jedoch z.B. Wagners 1841 verfasste Rezension der französischen Variante des Freischütz prima vista auf ein vermeintlich unheilvolles Deutschtum: O, mein herrliches deutsches Vaterland, wie muß ich dich lieben, wie muß ich für dich schwärmen, wäre es nur, weil auf deinem Boden der „Freischütz“ entstand! Wie muß ich das deutsche Volk lieben, das den „Freischütz“ liebt, das noch heute, an die Wunder der naivesten Sage glaubt, das noch heute, im Mannesalter, die süßen, geheimnißvollen Schauer empfindet, die in seiner Jugend ihm das Herz durchbebten! Ach, du liebenswürdige deutsche Träumerei! Du Schwärmerei vom Walde, vom Abend, von den Sternen, vom Monde, von der Dorfthurmglocke, wenn sie sieben Uhr schlägt! Wie ist der glücklich, der euch versteht, der mit euch glauben, fühlen, träumen und schwärmen kann! Wie ist mir wohl, daß ich ein Deutscher bin!21

Drei Dinge aber müssen hier Berücksichtigung finden:

1. Wagner schafft seiner Euphorie vor dem Hintergrund der ersten umfassend erfolgreichen deutschen Oper Raum, dem Genre, das ihm das bedeutsamste ist, dem er sich am meisten verbunden fühlt und auf welchem Gebiet er auf ähnlichen Erfolg hofft, wie er Weber gegönnt war. Der deutsche romantische Mystizismus, der hier beschworen wird, bildet ein wesentliches Element in Wagners frühen Werkbildungen und angesichts des in den 1840ern noch immer bestehenden Freischütz-Erfolges gestattet sich Wagner die Hoffnung auf die Würdigung seiner eigenen künstlerischen ‚Wahrhaftigkeit‛. 2. Die französische Modifikation des Freischütz durch Berlioz, der von Wagner zwar durchaus geschätzt wurde, erscheint dem Leipziger Komponisten als zu verurteilende Entstellung und Misshandlung der Originaloper,22 sodass er sich aufgerufen fühlt, eine patriotische Lanze für Webers Oper zu brechen. 3. Besonders maßgeblich: Wagner urteilt hier aus der Fremde und weilt in Frankreich, dessen Operninszenierungen im ästhetischen Spannungsfeld weitab der deutschen Opernkultur zu suchen sind. Wagner ist zweifelsohne geplagt von Heimweh und Sehnsucht nach vertrautem Boden – sowohl geographisch als auch kulturell. Unter Berücksichtigung der genannten Punkte lässt sich Wagners Brief an die Heimat, der seinem Duktus gemäß nicht gerade von sachlicher Distanziertheit 21 22

Richard Wagner: Autobiographische Skizzen, in: SSuD, Bd. 1, S. 220 Dieß, meine deutschen Landsleute, wäre eine schöne und wohlverdiente Strafe für die Mis handlungen, die hier unser lieber, lieber „Freischütz“ erlitt […]. Richard Wagner: „Le Frei schütz“ in: SSuD, Bd. 1, S. 240.

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und gezügelter Emotionalität spricht, kaum als überzeugender Beleg für einen möglichen überbordenden Nationalismus Wagners deuten, obwohl seine Präferenz des ‚Deutschen‛ wenigstens musikästhetisch feststeht. Gerade unter der Berücksichtigung von 3. ergibt sich eine bemerkenswerte Verschränkung zweier Faktoren: das bereits erwähnte Heimweh in Verbindung mit der ebenfalls kurz thematisierten Suche nach ‚dem Wahrhaftigen‛. Dass hier Deutschland als Ideal der zu beschreibenden Projektionsfläche dient, ergibt sich umstandslos aus der räumlichen Distanz – das Entfernte, Unerreichbare wird idealisiert. Auf durchaus hintergründige Weise erkennt Wagner seinen eigenen dabei greifenden Mechanismus zehn Jahre später sehr genau und gibt eine entsprechende und aufschlussreiche Mittheilung an meine Freunde: Ich hatte mich von Paris auf das Land zurückgezogen, und trat von hier aus wieder in erste Berührung mit meiner deutschen Heimath. Mein Rienzi war in Dresden zur Aufführung angenommen worden. Diese Annahme galt mir im Allgemeinen für ein fast überraschend aufmunterndes Liebeszeichen und einen freundlichen Gruß aus Deutschland, die mich um so wärmer für die Heimath stimmten, als die Pariser Weltluft mich mit immer eisigerer Käl te anwehte. Mit all' meinem Tichten und Trachten war ich schon ganz nur noch in Deutschland. Ein empfindungsvoller, sehnsüchtiger Patriotismus stellte sich bei mir ein, von dem ich früher durchaus keine Ahnung gehabt hatte. Dieser Patriotismus war frei von jeder politischen Beifärbung; denn so aufgeklärt war ich allerdings schon damals, daß das politische Deutschland, etwa dem politischen Frankreich gegenüber, nicht die mindeste An ziehungskraft für mich besaß. Es war das Gefühl der Heimathlosigkeit in Paris, das mir die Sehnsucht nach der deutschen Heimath erweckte: diese Sehnsucht bezog sich aber nicht auf ein Altbekanntes, Wiederzugewinnendes, sondern auf ein geahntes und gewünschtes Neues, Unbekanntes, Erstzugewinnendes, von dem ich nur das Eine wußte, daß ich es hier in Paris gewiß nicht finden würde. Es war die Sehnsucht meines fliegenden Holländers nach dem Weibe, - aber, wie gesagt, nicht nach dem Weibe des Odysseus, sondern nach dem erlösenden Weibe, dessen Züge mir in keiner sicheren Gestalt entgegentraten, das mir nur wie das weibliche Element überhaupt vorschwebte; und dieß Element gewann hier den Ausdruck der Heimath, d.h. des Umschlossenseins von einem innig vertrauten Allgemeinen, aber einem Allgemeinen, das ich noch nicht kannte, sondern eben erst nur ersehnte, nach der Verwirklichung des Begriffes „Heimath“; wogegen zuvor das durchaus Fremde meiner früheren engen Lage als erlösendes Element vorschwebte, und der Drang, es aufzufinden, mich nach Paris getrieben hatte. Wie ich in Paris enttäuscht worden war, sollte ich es nun auch in Deutschland werden. Mein fliegender Holländer hatte allerdings die neue Welt noch nicht entdeckt: sein Weib konnte ihn nur durch ihren und seinen Untergang erlösen. 23

Nahtlos fügt Wagner seine patriotische Regung an das Sehnen nach dem ‚Eigentlichen‛ bis hin zu übersexueller Unerlöstheit. Dem Kernmotiv von Wagners Wahrhaftigkeitspostulat kommen diese Zeilen deshalb besonders nahe – Wagner ist hier bestenfalls ein patriotischer Utopist, kein politischer Nationalist: Nicht das Bestehende, sondern das Ersehnte und möglicherweise nie zu Erreichende gilt als un23

Aus Oper und Drama, in: SSuD, Bd. 4, S. 267f.

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umstößliches Ideal, sowohl in Bezug auf den Heimatbegriff als auch auf alle anderen relevanten Lebensfelder.24

10.3 Wagners Sozialismus Andere Aspekte in Wagners Biographie, die seinen Antisemitismus als nicht nationalistisch begründet plausibel darstellen, ergeben sich unter anderem durch die ständig wiederholten Schmähungen, die Wagner seinem Heimatland angedeihen lässt, da es den Ruhm des Komponisten nur sehr schleppend voranbringt. Insbesondere aber muss ab 1849 und damit kurz vor der Niederschrift seines berüchtigten Artikels der nach dem radikaldemokratischen Dresdner Maiaufstand Geflohene ein mindestens ambivalentes Verhältnis zu seiner Heimat entwickelt haben. Sein mit diesem Ereignis verbundener politischer Ausdruck, der eben keine Berührungspunkte mit rechtspopulistischem Nationalismus aufzuweisen vermag, erhellt die Wagner-spezifische Antisemitismusdebatte ungemein: Mit den sozialistisch-materialistischen linksgelagerten Gesinnungen sympathisierend hat sich Wagner mit seiner eigenen Kapitalismuskritik einen nahezu folgerichtigen und keineswegs ungewöhnlichen Weg zum Antisemitismus gebahnt, wobei die hier vorliegende Intensität natürlich eine eigene Klasse bildet. Unter der Reihe jener Sozialisten/Ökonomen, deren Konzepte Wagner rezipierte und in Teilen übernahm, sind namentlich die Einflüsse Pierre-Joseph Proudhons und Michail Bakunins anzuführen, insofern sie wohl in besonderer Weise zum politisch motivierten Antisemitismus Wagners beigetragen haben, wobei zum Letztgenannten sogar eine persönliche Verbindung bestand, die sich unter anderem an der gemeinsamen Teilnahme am Maiaufstand manifestierte.25 Das Ausmaß von Proudhons eklatantem Antisemitismus, welcher Wagners damaliger Judenfeindlichkeit in nichts nachsteht, sondern sie sogar durch die unverhüllte Forderung nach Vernichtung 24

25

Aus Wagners Sehnsucht nach dem ‚Eigentlichen‛ ergibt sich zwar kein realer politischer Nationalismus, wohl aber eine Haltung, die ihn mit dem Nationalismus verbindet: die Ablehnung des Kosmopolitismus. Diese Einstellung modelliert sich besonders klar in den späteren Jahren Wagners und trägt deshalb für die vorliegende Betrachtung keine essentielle Be deutung; sie soll jedoch gleichfalls nicht unterschlagen werden. So ist beispielsweise 1873 zu lesen: „Wer dagegen von seinem Stamme losgerissen ist, der Kosmopolit - dieses nichtige Gespenst! - woher will der Liebe zu den Menschen hernehmen??“ (Richard Wagner: Das Braune Buch. Tagebuchaufzeichnungen 1865 bis 1882 , Zürich 1975, S. 236). Auch Wagners nicht spannungsarmes Verhältnis zum späteren Schwiegervater Franz Liszt spiegelt sich in seiner jovialen Kritik: „ Meinen unfreiwilligen Pariser opernprojecten wünsche ich eben so aufrichtig ausweichen zu können. Im grunde hat mich nur Liszt in diese collision gebracht: dieses moderne weltkind, das übrigens seine vortrefflichen eigenschaften hat […].“ (vgl. Wagner: SB, Bd. 3, S. 124). Dennoch ist zu berücksichtigen, dass Wagners v.a. sich später manifestierende Ablehnung des Kosmopolitismus zweifellos an Wagners Suche nach der einen Wahrhaftigkeit geknüpft ist – die sich bis zum Schluss jedoch in Bezug auf Wagners Frage nach der ‚wahrhaftigen‛ Nation nicht beantworten lässt. Wagner betont sicher nicht zufällig sein menschliches und künstlerisches Interesse an Bakunin. (Vgl. Wagner: SB, Bd. 2, S. 674).

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auf drastische Weise überbietet, offenbart sich in seiner Reinform zwar erst nach dem Tod des Soziologen,26 belegt aber umso nachdrücklicher, wie leicht sich die sozialistisch-anarchistische Haltung mit einer antisemitischen verknüpfen lässt. Wagner greift Proudhons sozialistische Argumentationen wiederholt auf. 27 In der Bekanntschaft zu Bakunin modelliert sich eine ähnliche Übernahme sozialistischer Einstellungen, die einer antikapitalistischen Judenfeindlichkeit einen idealen Nährboden bereiten. Wenn von der niederschmetternden kulturellen Einschätzung der Juden durch Wagner in dessen Artikel „Das Judenthum in der Musik“ die Rede ist, darf genau deshalb nicht vergessen werden, dass hier gleichermaßen ein Stück sozialistisch fundierte Kapitalismuskritik begegnet. Vergleicht man Bakunins Einstellung, welche der jüdischen Welt das Wesen einer ausbeuterischen Sekte und eines „Blutegelvolks, als fressenden Parasiten“28 zuschreibt, mit den Zeilen von Wagners Judenthum, Der Jude ist nach dem gegenwärtigen Stande der Weltdinge wirklich bereits mehr als emanzipirt: er herrscht, und wird so lange herrschen, als das Geld die Macht bleibt, vor welcher all' unser Thun und Treiben seine Kraft verliert.29

lässt sich die geistige Verwandtschaft in sozialpolitischen Fragen nicht übersehen. Der ostinate Verweis auf den Zusammenhang von Juden und Geld in Wagners Werken lässt leicht erraten, wie er demzufolge nach der Rückkehr aus Frankreich Meyerbeers Rolle im Musikgeschäft sieht: Spätestens jetzt bildet die Korrelation von Meyerbeers kapitalfundiertem Hintergrund und Meyerbeers Judesein für Wagner eine nicht mehr auflösbare Verflechtung – die Projektionsfläche für das ethische und kulturelle ‚Übel‛ ist geschaffen. Wo das Geld ist, findet sich der moralische Verfall. Wagners Pariser Erfahrungen, welche letztlich einen zwangsläufigen Zusammenhang von ‚inauthentischer Musik‛ und finanziellem Erfolg implizieren, runden seinen Eindruck bzw. Wunsch nach moralischer Überlegenheit ab. Seine folgenschwere Beteiligung am Dresdner Maiaufstand bildet vor dem Hintergrund jener politischen Interpretation seines Handelns ein passendes Mosaiksteinchen in Bezug auf die Entstehungsgeschichte seines Artikels. Ohne diesen Ansatz wäre mit seinem politischen Handeln etwas sperrig umzugehen: Immerhin nämlich diente der Dresdner Maiaufstand im Zusammenhang mit der Revolution von 1848/1849 gleichfalls als Anstoß einer voranschreitenden judikativen Emanzipation der Juden, welche hier eine erste Möglichkeit gefunden haben, sich als Gruppe aktiv an der Politik zu beteiligen. Neben diesen äußerlichen pro-jüdischen Umbrüchen entwickelt sich im Revolutionskontext eine Judenfeindlichkeit, die zu ei26

27

28 29

Besonders ausführlich wird die Verbindung Proudhon/Antisemitismus in folgender Monographie beleuchtet: Frédéric Krier: Sozialismus für Kleinbürger: Pierre Joseph Proudhon Wegbereiter des Dritten Reiches, Köln/Weimar 2009. Vgl. verschiedene Ausführungen in: Richard Wagner: Mein Leben (erster, zweiter und dritter Teil), Hrsg. Martin Gregor-Dellin, München 1963. Michael Bakunin: Gesammelte Werke, Bd. 3, (Hrsg. Max Nettlau), Berlin 1924, S. 209. Richard Wagner: „Das Judenthum in der Musik“, in: NZfM Bd. 33, S. 102.

Richard Wagner, „Das Judenthum in der Musik“ und Meyerbeer

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ner Art ersten ‚antisemitischen Bewegung‛ geführt hat.30 Dass Wagner von diesen Eindrücken und Vorgängen unberührt geblieben sein soll, ist nicht anzunehmen und erweitert das Spektrum ausschlaggebender Faktoren zum wachsenden Antisemitismus Wagners vor 1850. Es lässt sich also festhalten, dass Wagners politische Entwicklung und Stellungnahme mitsamt der Gipfelung in der Agitation von 1849 keinen unwesentlichen Beitrag zu Wagners kultur-politischem Antisemitismus geleistet haben. Dabei speist sich die Judenfeindlichkeit aus keiner rechts-nationalistischen Quelle, sondern liegt einer sozialistisch-antikapitalistischen Geisteshaltung zugrunde. Damit stellt sich einmal mehr die unvermeidliche Frage nach dem Neidkonzept und danach, wie sich Wagners politische Einstellungen unter den Vorzeichen von bedeutendem finanziellen Erfolg entfaltet hätten.

10.4 Wagners Rassismus Wo schon Uhlig mit dem Hinweis auf einen „ hebräischen Kunstgeschmack“ tendenziell rassistisch argumentiert, steht Wagner dieser Vorgabe in nichts nach. Wagners späterer Rassismus in Bezug auf eine deutsch-jüdische Charakterisierung lässt sich mit Uhligs Andeutungen nicht im Mindesten vergleichen, wenn er 1881 die Vorzüge der ‚arischen Rasse‛ lobt31 und der ‚jüdischen Rasse‛ deutlich den Kampf ansagt, indem er verkündet: […] dass ich die jüdische Race für den geborenen Feind der reinen Menschheit und alles Edlen in ihr halte: dass namentlich wir Deutschen an ihnen zu Grunde gehen werden, ist gewiss, und vielleicht bin ich der letzte Deutsche, der sich gegen den bereits alles beherrschenden Judaismus als künstlerischer Mensch aufrecht zu erhalten wusste. 32

Dass die ‚jüdische Rasse‛ überdies zwangsläufig phänotypische Gemeinsamkeiten aufweist, ist für den älteren Wagner nicht zu bezweifeln, und seine spätere Schilderung der ersten Begegnung zwischen ihm und Meyerbeer bezeugt einen völlig unverkappten Rassismus: Er machte in jeder Hinsicht auf mich einen vorteilhaften Eindruck, wozu sein damals vom Alter noch nicht in der bedenklichen Weise, wie es bei jüdischen Physiognomien gewöhnlich eintritt, erschlaffter, namentlich durch eine schön geformte Umgebung der Augen sehr hoffnungweckender Gesichtsausdruck entscheidend beitrug.33

Zum Publikationszeitpunkt seines Judenthums war Wagner jedoch einer solch drastischen Gesinnung, mindestens aber ihrer Ausformulierung noch weit ent30 31

32 33

Vgl. Shulamit Volkov: Die Juden in Deutschland 1780 – 1918, München 1994, S. 107ff. Richard Wagner: Briefwechsel mit König Ludwig II (Hrsg. Winifred Wagner), Bd. 3, Karlsruhe 1936, S. 208. Ibid., S. 230. Richard Wagner: Mein Leben, Teil 1, S. 179.

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fernt. Dennoch klingen im Judenthum Töne an, die unter der Berücksichtigung ihres Bezugs zur Natur deutlich rassistische Züge tragen. So ist von der „ widerlichen Besonderheit der jüdischen Natur“ 34 zu lesen, die trotz Erziehung und Bildung nicht zu überwinden, weil im wörtlichen Sinne ‚natürlich‛ sei: […] was von Seiten der höheren, reflectirenden jüdischen Intelligenz hier geschah, ist aber eben nur ein, seiner Natur nach fruchtloses Bemühen von Oben herab, welches nach Unten nie in dem Grade Wurzel fassen kann, daß, dem gebildeten Juden, der eben für seinen Kunstbedarf die eigentliche Quelle des Lebens im Volke aufsucht, der Spiegel seiner intelligenten Bemühungen als diese Quelle entgegenspringen könnte.35

Besonders nachdrücklich beschreibt Wagner am Beispiel Felix Mendelssohn Bartholdys die Auswirkung der ‚jüdischen Natur‛, die durchdringend genug sei, um ein parallel bestehendes ‚natürliches Talent‛ zu zersetzen: […] aller Widerspruch dieses Wesens in sich selbst und uns gegenüber, alle Unfähigkeit desselben, außerhalb unseres Bodens stehend, dennoch auf diesem Boden mit uns verkehren, ja sogar die ihm entsprossenen Erscheinungen weiter entwickeln zu wollen, steigern sich zu einem völlig tragischen Konflikt in der Natur, dem Leben und Kunstwirken des frühe verschiedenen Felix Mendelssohn Bartholdy. Dieser hat uns gezeigt, daß ein Jude von reichster spezifischer Talentfülle sein, die feinste und mannigfaltigste Bildung, das gesteigertste, zartestempfindende Ehrgefühl besitzen kann, ohne durch die Hilfe aller dieser Vorzüge es je ermöglichen zu können, auch nur ein einziges Mal die tiefe, Herz und Seele ergreifende Wir kung auf uns hervorzubringen, welche wir von der Kunst erwarten […].36

Der Aspekt des Rassismus ist also bereits um 1850 kein zu unterschätzender und schlägt sich neben zahlreichen anderen genannten Faktoren in Wagners Aufsatz nieder. Damit zeichnet sich sehr plastisch die Verdichtung und Verschmelzung jener Stränge, die in den vorangegangenen Jahrzehnten zum Teil noch unverbunden auf den kulturellen Antisemitismus verwiesen haben. Wagner vereint hier den Rassismus, wie er von Uhlig in Bezug auf jüdisches Musikschaffen lanciert wurde, mit dem Postulat nach einer Überlegenheit der ‚eigentlichen‛, namentlich der deutschen Musik, ohne dabei in jenen Patriotismus zu verfallen, wie er bei Forkel oder Schumann zu konstatieren ist. Der Gedanke der eigenen Überlegenheit, der hier nicht nationalistisch formuliert werden kann, fehlt dennoch auch bei Wagner nicht und wird in erster Linie auf musikalischer Ebene vollzogen, wo er sich mit dem Anspruch an Wahrhaftigkeit und Authentizität verbindet.

34 35 36

Richard Wagner: „Das Judenthum in der Musik“, in: NZfM, Bd. 33, S. 104. Ibid., S. 106. Ibid., S. 107.

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10.5 Wagners Wahrhaftigkeits- und Authentizitätsansprüche In Bezug auf die vermeintlich überlegene Authentizität deutscher Musik – so es hier quantitativ umschrieben werden kann – fügen sich aus Wagners Perspektive verschiedene Faktoren aneinander, welche wiederum eng mit dem Charakter des Komponisten verstrickt sind. Wenn sich – neben dem stets begleitenden Gedanken an die Absicherung finanzieller Verhältnisse, welcher äußeren Umständen geschuldet war – ein inneres, freies Leitmotiv im Wesen und Werk Wagners ausma chen lässt, muss es unbedingt als seine Forderung nach Authentizität beschrieben werden. Jene berührt alle Lebensaspekte: künstlerisches Schaffen, die geistige und körperliche Verbindung von Mann und Frau, die gewählte Lebensform. Dabei ist nicht anzunehmen, dass hier, wie viel wahrscheinlicher in Bezug auf Wagners Verurteilung eines kapitalorientierten Lebens- und Arbeitsstils, die Not zur Tugend gemacht wurde. Der Pariser Rückschlag ließe sich rekursiv zwar leicht als auslösendes Moment eines Wahrhaftigkeitsprinzips deuten, insofern Wagners ‚eigentliches‛ Werk keine Anerkennung findet und der Komponist fast selbstschützend zu dem Schluss kommen musste, dass inmitten einer heuchlerischen Kulturlandschaft sein wahrhaftiges Wesen nicht wurzeln konnte. Aber schon Jahre zuvor verändert ein einschneidendes Ereignis Wagners Weltwahrnehmung und bietet einen plausiblen Deutungsansatz für die Entwicklung von Wagners Wahrhaftigkeitsforderung, die sich am massivsten in der Charakterisierung der unterschiedlichen Frauen- und Liebesmodelle in Wagners Opern niederschlägt: Wagner wird von seiner eigenen Frau Minna hintergangen und 1837 vorläufig von ihr verlassen. Besonders prekär ist hier der Umstand, dass sich der von Geldsorgen geplagte Komponist durch einen Konkurrenten geschlagen sieht, welcher als außerordentlich vermögender und kulturinteressierter Kaufmann das darstellt, 37 was Wagner zeitlebens verächtlich als „Philister“ bezeichnet. Damit bündeln sich bereits 1837 jene Topoi, die bis zuletzt Wagners Authentizitätsdenken umkreisen: Kunst, Geld und Frauen. Dass sich Wagners Sehnen nach ‚wahrer Heimat‛ ebenso fließend in das skizzierte Bild einfügen lässt und völlig nahtlos mit den genannten Punkten verbindet, wurde bereits hinreichend belegt. An weiteren Selbstbekundungen den Wahrhaftigkeitsanspruch betreffend mangelt es indes keineswegs. So lässt Wagner sicher nicht zufällig aus dem Zürcher Exil und kurz nach der Veröffentlichung seines Artikels den Freund Uhlig wissen: Zum unglück habe ich nun aber die wahrhaftigkeit zu meiner religion gemacht: ich kann keine wissentlichen lügen mehr begehen […].38

Das hier versteckte Selbstlob überrascht weniger, und die Frage, wie im Gegenzug eine unwissentliche Lüge begangen werden soll, kann hier auch nicht erörtert wer37 38

Vgl. Richard Wagner: Mein Leben, S. 147. Richard Wagner: SB, Bd. 4, S. 112.

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den, obwohl Wagners Aussage damit den interessanten Aspekt enthält, dass allein ein Irrtum bereits als ethisch unsauber gilt (was als moralische Überlegung im Zusammenhang mit der Reformationsbewegung bereits aufgegriffen wurde). Wahrhaftigkeit als ein Religionssubstitut aufzufassen, ist, auch wenn Wagner vermutlich in erster Linie des dramatischen Effekts wegen diese starken Worte gewählt hat, eine aufschlussreiche Einstellung, die all das Unwahrhaftige kontrastieren soll, was alternative gängige Lebens- und Religionsmodelle anbieten. Damit formuliert Wagner mit dem eigenen Wahrhaftigkeitsanspruch einen unüberbietbaren und für alle Belange geltenden Status. Auch in Bezug auf das eigene Kunstschaffen findet Wagner deswegen in einem Brief an Hanslick von 1847 deutliche Wor te, welche die eigene Authentizität, wenigstens aber den Wunsch, jene nach außen darzustellen, unterstreichen: Je mehr ich mit immer bestimterem künstlerischen Bewußtsein produzire, je mehr verlangt es mich einen ganzen Menschen zu machen; ich will Knochen, Blut u. Fleisch geben, ich will den Menschen gehen, frei u. wahrhaftig sich bewegen lassen […]. 39

Was sich damit andeutet, ist natürlich nichts anderes als Wagners Konzept des Gesamtkunstwerkes, der wahrhaftigen Ganzheitlichkeit und entspricht damit durchaus dem, wonach Wagner bereits in den früheren Schaffensjahren künstlerisch trachtet. Dass sich Wagners dramatisches Wahhaftigkeitskonzept überdies mit dem Erscheinungsbild der Pariser „Geldmusik“ massiv reiben musste, steht außer Frage – Wagner selbst gestattet sich dabei sicherlich nur so viel eigene Authentizi tät, erst dann offen gegen diese ihm widerlaufenden Strukturen anzugehen, als er sich in Paris keine Hoffnung mehr auf einen wie auch immer gearteten Erfolg machen kann. Ein 1842 verfasstes Schreiben an Schumann allerdings legt die Vermutung nahe, dass er die ‚Unaufrichtigkeit‛ des Pariser Opernbetriebes, welcher neben musikalischen Inhalten mindestens ebenso am profitablen Verkauf interessiert ist, schon früh als solche empfunden hat, und ausgerechnet bezüglich seines „ innigverehrten Herrn und Meisters“40 Meyerbeer lässt er Schumann wissen: Er [ Halevy] ist offen und ehrlich und kein absichtlich schlauer Betrüger wie Meyerbeer. Daß Sie aber auf diesen nicht schimpfen! Er ist mein Protector und - Spaß bei Seite - ein liebenswürdiger Mensch.41

Dass der Bruch mit der Heimat einen ethischen Neuanfang markieren soll, entspricht Wagners Wunsch – vielleicht sogar als letzte und endgültige Geste, die den eigenen unwahrhaftigen Opportunismus im Umgang mit Meyerbeer auflösen soll 39 40

41

Richard Wagner: SB, Bd. 2, S. 535f. Vgl. z.B. den Brief an Meyerbeer vom Januar 1840. „Mein innigverehrter Herr und Meister!“ In: Richard Wagner: SB, Bd. 1, S. 378. Ibid., S. 576.

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In meiner Dresdener Stellung war ich der schwankendste, unsicherste Mensch: von Außen beruhigt, nur wenn ich Heuchler war, - von Innen unfähig, sobald ich wahrhaftig ward. Das ist zu Ende, und keine Lebenssorge ist jetzt mehr im Stande die innere Harmonie meines Wesens zu stören.42

Es lässt sich leicht darüber spekulieren, ob Wagners Niederschrift des Artikels zum gewachsenen Eindruck des Komponisten beigetragen hat, zunehmend wahrhaftig und frei von äußeren Umständen, die zur Heuchlerei nötigen, agieren zu können. Insgesamt ergibt sich bei der Frage nach Wagners eigener Authentizität neben seinem Authentizitätsanspruch auf jeden Fall ein mehr als ambivalentes Bild: Natürlich kann Wagners eigenes Verhalten vor allem im Zusammenhang mit dem gesamten Wagner/Meyerbeer-Komplex für das Prädikat ‚authentisch‛ nur als äußerst unzulänglich beschrieben werden. Auch Wagners Pseudonymnutzung in seinem Artikel steht dabei für sich, was bereits erörtert wurde. Andererseits dienen die Inauthentizitätsvorwürfe gegenüber Anderen, insbesondere gegenüber Meyerbeer, dabei umso mehr als Projektionsfläche eigener Schwächen, ganz analog zum Verweis auf die vermeintliche Geldgier der jeweils Anderen. Die Publikation seines Artikels deutet auf den Versuch Wagners, seiner Gesinnung gemäß authentisch zu handeln, und die damit vollzogene endgültige Abnabelung von Meyerbeer lässt sich unter dem Aspekt des Wahrhaftigkeitsgedanken ebenso plausibel einfangen: Gerade durch ihre Schärfe und beißende Polemik erst können die Zeilen Wagners der völlig konträr gewichteten Bewegung der grenzenlosen Unterwerfung 43 entgegenwirken – diese Plausibilität gilt freilich nur für Wagner und für keinen Dritten.

10.6 Auslöser Uhlig Möglicherweise wäre das Judenthum ohne die Einbettung, die Uhligs Artikel bietet, nie in der Form erschienen oder zumindest weniger scharf. Der meyerbeerbezogene Publikationsverlauf beider legt jedoch die Überlegung nahe, dass, abgesehen von allen vorausgesetzten Ursächlichkeiten, Wagner durch Uhligs öffentliches Handeln in eine Dynamik geraten ist, die sich konsequent bis zum Erscheinen des Judenthums verfolgen lässt. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Wagners Mitteilung an Uhlig vom 27. Juli 1850 aus seinem Zürcher Exil: 42 43

Ibid., Bd. 3, S. 506. Größer kann schließlich die Selbstdemütigung für einen mutmaßlich nach Dominanz Trachtenden kaum gestaltet sein, als sie Wagner 1840 in der bekannten Mitteilung an Meyerbeer formuliert: „Ich werde ein treuer, redlicher Sclave sein, - denn ich gestehe offen, daß ich Sclaven-Natur in mir habe; mir ist unendlich wohl, wenn ich mich unbedingt hingeben kann, rücksichtslos, mit blindem Vertrauen. Zu wissen, daß ich nur für Sie arbeite u. strebe, macht mir Arbeit u. Streben bei weitem lieber u. werthvoller. Kaufen Sie mich darum, mein Herr, Sie machen keinen ganz unwerthen Kauf!“ Richard Wagner: SB, Bd. 1, S. 388.

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Ich habe mir seit meiner zurückkunft nach Zürich sämmtliche nummern dieses ersten halben jahres der neuen zeitschrift f.M. verschafft, und nicht nur alle Deine aufsätze darin, sondern auch das meiste andere gelesen. Zuerst las ich nur Deine aufsätze: sie haben mich über alle begriffe erfreut, und mehr als das, sie haben mich oft auch belehrt. Ich danke Dir sehr. Du bist meister in Deiner sache, ich kann Dir nichts weiter sagen. Deine gründlichkeit ist vernichtend, und niemand, der grütze im kopfe hat, wird sich mit Dir einlassen […].44

Uhligs Meyerbeerportraits fallen in den durch Wagner benannten Zeitraum, und noch im Juli als letzte aktuelle Ausgabe, die Wagner damit vorliegt, werden im Artikel „Außerordentliches“ Meyerbeer bzw. der französische Musikgeschmack und die praktische Umsetzung desselben durch Uhlig kritisiert. Wagner kann nun dank Uhligs ‚Vorarbeit‛ seine Abhandlung in jener Polemik verfassen, die ihm die passende scheint, ohne befürchten zu müssen, dass sie auf ‚unvorbereitete‛ Rezipienten trifft. Und dennoch: Dem schumannfeindlichen Wagner behagt der Gedanke wenig, ausgerechnet in der Neuen Zeitschrift für Musik das Werk Uhligs fortsetzen zu müssen, jedoch jede alternative Publikationsmöglichkeit wäre für Wagner erstens nicht so publikumswirksam und zweitens wohl mit einem schwer kalkulierbaren Kostenaufwand verbunden – was trotz Wagners ‚antisemitischen Idealismus‛ einen herben Beigeschmack gehabt hätte. 45 So zeichnet er lieber sich und den mutmaßlich geistesverwandten Uhlig als verkannte Propheten und führt seine Überlegung im weiter oben genannten Brief fort: Welches ist nun Deine stellung? Blicke in die n.z.f.m. und Du wirst sie zu Deinem entsetzen erkennen! Deine artikel sind nicht einmal von denen gelesen worden, die neben Dir in dieselbe zeitschrift schreiben, sonst würde der Schumannist wenigstens gegen Dich polemisirt haben. Wer hat Dich nun verstanden? - Liebster, bekenne, daß wir beide verrückt sind! Wohl begreife ich, daß ein blatt mit etwas mehr anstand und etwas weniger schweinerei redigirt 44 45

Ibid., Bd. 3, S. 365f. Als sich nach Fertigstellung seines Artikels schließlich die Frage nach der Publikationsmöglichkeit stellt, schreibt Wagner an Karl Ritter am 24. August 1850: „Hier hast Du das manuscript: gieb es Uhlig, wenn er nach Weimar kommen sollte, kommt er nicht, so schicke es ihm alsbald dahin wo er sich gegenwärtig aufhält. Ich habe es - wie Du sehen wirst - bei der abschrift noch mannigfach colorirt. Nun meine wünsche in bezug auf das erscheinen! Bestimmt ist der artikel seiner anlage nach für die Brendel‛sche „neue Zeitschrift für Musik“. Ob Brendel sich getrauen wird den consequenzen desselben in seiner zeitschrift die spitze zu bieten, weiß ich nicht. Hat er furcht, so ist er ein esel! - Das muß ihm deutlich gemacht werden! - Will er es aber, so muß er den artikel in einer nummer ganz und vollständig geben: er mag einen viertelbogen - wenn es nöthig ist - dazu geben. Ist ihm dieß zu ungewöhnlich, so würde ich mich nur sehr ungern dazu verstehen, ihn getrennt in zwei num mern erscheinen zu lassen: das wäre aber das äußerste, eine noch weitere verzerrung verbiete ich ganz und gar. Will Brendel das nicht, so möge der aufsatz vollständig als extrabeilage gleichsam gegen insertionsgebühren - gedruckt, und der nächsten nummer beigegeben werden. Die kosten hierfür schaffe ich schon herbei. Will er sich gar nicht damit abgeben, so muß Uhlig suchen, es als besondere broschüre herauszubringen. Für diesen fall müßte am eingange des artikels etwas geändert werden.“ Richard Wagner: SB, Bd. 3, S. 383.

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werden kann: ich sehe die absolute nothwendigkeit nicht ein, warum in ein und demselben journal das höchste und das niederträchtigste ganz zugleich gesagt werden müßte, und bin deshalb der meinung, daß Du doch nach einem anderen blatte Dich umsehen solltest: ob Du aber irgend wo viel besser daran sein wirst, das muß ich stark bezweifeln […].46

Mit dem Gefühl, in Uhlig einen Verbündeten und die notfalls erforderliche Rückendeckung durch einen Redakteur der Neuen Zeitschrift für Musik zu wissen, welcher bereits durch sachliche und musiktheoretische Überlegungen seine fachliche Kompetenz unter Beweis gestellt hat, 47 ergeben sich vermutlich für Wagner – gerade aber auch durch die räumliche Distanz – 1850 Anlass und Gelegenheit, den in ihm schwelenden antisemitischen kulturpolitischen Überzeugungen öffentlich stattzugeben. Dabei muss jedoch auch berücksichtigt werden, dass das um 1849/1850 äußerlich sehr bewegte Leben Wagners innerlich seine Entsprechung fand. Durch unveränderliche Umstände zum Weggang gezwungen, scheint Wagners Bedürfnis, eine bedeutende Handlung aus freiem Stück heraus zu vollziehen, nicht gering gewesen zu sein. Durchaus innerlich getrieben, sucht Wagner die Mitteilung zum Freund Uhlig: So quälte auch mich jetzt die wahl, was ich zunächst thun wollte: sollte ich eine neue dichtung verfassen, ein buch oder aufsätze schreiben? Ich kam mir so willkürlich und mein ganzes thun so unnütz und unnöthig vor. Wurde ich mir - eben durch die unschlüssigkeit hierüber selbst klar, und konnte ich mir bei dieser klarheit nur elend vorkommen, so fand ich dafür nur auch bestätigung in der wahrnehmung der wirkung meiner schriften. Daß sie im allgemeinen gar nicht weiter beachtet würden, setzte ich bereits voraus: daß sie aber auch von den wenigen aus unserer eignen partei, die sie beachteten, meist gar nicht einmal verstanden wurden, das habe ich endlich nur mit tiefem seufzen wahrnehmen können. Das vorurtheil steckt so grundfest, daß nur das leben selbst es brechen kann: nur ein wirklicher künstler, und zwar ein künstlerischer mensch, kann hier begreifen worum es sich handelt, kein anderer aber, und habe er den besten willen dazu. Wer soll auch aus unsrem künstlerisch-egoistischen nachahmungshandwerkertreiben z.b. die naturgemäße stellung der bildenden kunst zur unmittelbaren rein menschlichen kunst begreifen können? 48

Der hier formulierte dringende, aus psychologischer Perspektive fast kindliche Wunsch, etwas zu vollbringen, was deutlich wahrnehmbar resoniert wird, mag als einer der Auslöser für die Entscheidung zur Niederschrift des Judenthums gewesen sein. Die lokale Abgeschiedenheit vom Leipziger Geschehen kann hier doppelt begünstigt haben: Zum einen reduziert sie die Scheu vor direkter Reaktion, insofern eine wirkliche Direktheit zur Leserschaft nicht gegeben ist, auf der anderen Seite verstärkt sie das Verlangen, die Wahrnehmung der eigenen Person bzw. in diesem Fall der persönlichen Meinung in der Heimat nachhaltig zu ermöglichen. Das Zusammenwirken der Summe dieser Gegebenheiten inklusive Uhligs 46 47

48

Ibid., S. 367f. Vgl. z.B. Theodor Uhlig: „Die Wahl der Tactarten“ in: NZfM, 22. Juli u. 15. August 1849, Bd. 31, S. 53ff. u. S. 74ff. Richard Wagner: SB, Bd. 3, S. 362f.

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bereits geleisteter ‚Vorarbeit‛ werden mit großer Wahrscheinlichkeit keinen geringen Beitrag zum Publikationszeitpunkt, zur gewählten Plattform sowie zur Schärfe von Wagners Aufsatz geleistet haben. Nicht zuletzt natürlich offenbart Wagner seinen Bezug zu Uhligs Artikel, indem er seinen mit diesen aufschlussreichen Worten einführt: In der »Neuen Zeitschrift für Musik« kam unlängst ein „hebräischer Kunstgeschmack“ zur Sprache […].49

Der „hebräische Kunstgeschmack“, von Uhlig ‚erfunden‛, dient Wagner als Aufhängung, als Auslöser, sogar als Plausibilitätsgrundlage für den eigenen Artikel. Mit Freigedanks Überlegungen hat das antijüdische bzw. antisemitische Musikschrifttum, wie es hier mitsamt seiner Entstehungsgeschichte untersucht wurde, schließlich zur Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Höhepunkt erreicht, welcher erst einige Jahrzehnte später im 20. Jahrhundert übertroffen wird. Sowohl die jeweiligen einzigartigen Aspekte dieses Aufsatzes als auch die allgemeineren beteiligten Entwicklungsstränge wurden gründlich untersucht und haben sowohl die Notwendigkeit als auch die Schwierigkeit unterstrichen, individuelle Prozesse aus etablierten Gemeinplätzen herauszulösen. Der folgende und letzte Teil der Arbeit versteht sich insofern als Perspektivwechsel, als das in den zuletzt zitierten Kritiken vorrangig behandelte Objekt – näm lich Meyerbeer inklusive seines Personalstils – hier nur als Abstraktum Raum gefunden hat. Die Frage, inwiefern dabei angemessene von inadäquaten Beurteilungen unterschieden werden können, war demzufolge nicht befriedigend zu beantworten. Natürlich birgt gerade das Wagnis einer solchen etwaigen Kriterienbildung keine geringe Brisanz: Solange das Objekt ein abstraktes bleibt, lassen sich gewissermaßen aus sicherer Entfernung Überlegungen anstellen. Doch sobald subjektive Eindrücke eingeflochten werden, welche nicht zuletzt die ebenso lapidare wie problematische Frage des persönlichen Geschmacks berühren, ist große Vorsicht vor einem zu schnell formulierten Gültigkeitsanspruch geboten. Dennoch kann und muss die vorliegende Arbeit diesen Schritt aus der unkonkreten Abstraktion wagen, wenn dem Versuch stattgegeben werden soll, ein vollständiges Bild der Rahmenbedingungen des antisemitischen und ebenso vermeintlich antisemitischen Musikschrifttums zu zeichnen. Bevor aber das zu untersuchende Werk – Meyerbeers Grand opéra Die Hugenotten – mitsamt seines Kontextes konkret besehen wird, sollen zunächst einige überleitende Überlegungen zu denjenigen musik- bzw. kunstästhetischen Aspekten geleistet werden, die sich im weiteren Verlauf mit der Betrachtung des Werkes verbinden.

49

Richard Wagner: „Das Judenthum in der Musik“, in: NZfM, Bd. 33, S. 101.

11. Exkurs II: Eklektizismus als Zuschreibung zwischen Epigonalität und dem Streben nach Authentizität

Wenn in den sich anschließenden Überlegungen in besonderer Gewichtung Die Hugenotten unter Einbeziehung einiger ihrer Kritiken thematisiert werden, bündeln sich die von verschiedenen Autoren geleisteten Einschätzungen unter der ablehnenden Überschreibung der stilistischen Nachahmung, was im heutigen Sprachgebrauch als Eklektizismus beschrieben wird. Um mit diesem Begriff, vor allem in seiner Konkretheit im Zusammenhang mit Meyerbeer, sinnvoll umgehen zu können, muss vorab geklärt werden, welche verschiedenen Einstellungen sich unter dieser Benennung zusammenfassen lassen. Tatsächlich begegnet das Phänomen des Eklektizismus als Sonderform der Nachahmung, was im Folgenden herausgestellt werden wird. Insofern aber der Eklektizismus eine Methodenbeschreibung ist, welche nicht zwangsläufig eine Aussage über die inneren Einstellungen des Anwenders ermöglicht, hebt sich die Diskussion um den Begriff über die im ersten Teil der Arbeit erfolgte ab und kann erst im Kontext mit der Analyse von kompositorischen Praktiken näher beleuchtet werden: Eklektizismus sollte als Methode begriffen sein, wohingegen Originalität bzw. (In)Authentizität zunächst einmal auf die inneren Zustände eines Menschen verweisen. So lässt sich Eklektizismus als nach außen getragene Handlungsmöglichkeit als ein Indiz für eine entsprechende innerliche Einstellung interpretieren, was konkret bedeutet, dass sich eine eklektische Kompositionspraxis aus einem Hang zur Epigonalität speisen kann. Dementsprechend und ohne die bestehende Differenz von Eklektizismus und Epigonalität zu berücksichtigen ist Meyerbeers Arbeit teilweise gewertet worden. Tatsächlich laufen die Zuschreibungen von Epigonalität und Eklektik im praktischen Sprachgebrauch, wenn auch sicherlich in differierendem Vokabular, derart ineinander, dass sich ohne eine halbwegs klare Deutung des Begriffes jeder Interpretationsansatz der musikalischen Phänomene festfahren muss. Zu klären wäre dabei zunächst, ob die Begrifflichkeit des Eklektizismus als Unterkategorie der Epigonalität zu fassen ist, insofern sie immerhin die Nachahmung und Vermischung verschiedener Stilistika beschreibt, oder ob sie autonom stehen sollte – diese grundsätzliche Überlegung skizziert bereits maßgeblich die problematische Komponente, die sich mit einer angestrebten Begriffsklärung verbindet. Tatsächlich steht das Wort in seiner Übersetzung, das sich vom griechischen Partizip ἐκλεκτός (ausgewählt) bzw. Verb ἐκλέγω (auswählen) ableitet, für einen als problematisch zu bewertenden Selektionsvorgang. Ähnlich den Epigonen, wenn auch vermutlich einige hundert Jahre später, findet der Begriff des Eklektizismus erst in später Neuzeit seinen Weg in künstlerisch-kulturelle Betrachtungen. Seine erste nachweisbare Anwendung fällt vermutlich in die Zeit des 3. Jahrhunderts nach Christus, als Diogenes Laertius durchaus kritisch die Ausrichtung der Sekte unter dem Philosophen Potamon aus Alexandria als eklektisch cha-

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rakterisiert.1 Bereits hier schwingt im Begriff des Eklektizismus eine Abwertung mit, welche sich heute umgangssprachlich am ehesten mit dem sogenannten ‚Rosinenpicken‛ beschreiben lässt. In der Encyclopédie von Denis Diderot und Jean Baptiste d‛Alembert wird der Begriff des Eklektizismus 1755 erstmals und ausgesprochen ausführlich bearbeitet, ehe er sich ein halbes Jahrhundert später fest im Repertoire künstlerischer Zuschreibungen verankert. In der Encyclopédie wird zunächst der Begriff Eclectique als ein Phänomen der medizinischen Methodik beschrieben, 2 ehe er im Folgelemma vom Eclectisme unterschieden wird, wo philosophische/geisteswissenschaftliche und historische Aspekte beleuchtet werden. Im Artikel Eclectisme schimmert ebenfalls eine fachliche Abwertung des Eklektikers durch: „ […] [D]er Eklektiker […] ist ein Mensch, der nicht als Meister seiner Sache anerkannt ist. “3, wobei andererseits Eklektizismus und (das Streben nach) Wahrhaftigkeit keineswegs als sich gegenseitig ausschließend begriffen werden, wenn dem Eklektiker eine gewisse Ähnlichkeit mit dem nach Wahrheit trachtenden Skeptizisten zugeschrieben wird: „ Die Eklektiker und die Skeptiker haben insofern eine Übereinstimmung aufgewiesen, als sie mit niemandem konform gingen, weil sie mit nichts völlig einverstanden waren […] .“4 Überhaupt scheiden 1

2

3 4

Vgl. Hist. Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, S. 423. Dass sich in Potamon aus Alexandria tatsächlich ein Zeitgenosse von Diogenes Laertius finden lässt, ist allerdings insofern umstritten, als die im 10. Jahrhundert verfasste Suda, ein komplexes byzantinisches Lexikon, die Lebenszeit des Potamon auf das 1. Jahrhundert nach Christus datiert – was letztlich bedeuten würde, dass Diogenes Laertius die frühere Einschätzung eines Dritten übernommen und somit im weitesten Sinne ‚nachahmend‛ gehandelt hat. Als Sonderform des Begriffes soll hier der sogenannte medizinische Eklektizismus nicht verschwiegen werden, welcher sich insofern grundlegend von seinen Begriffsverwandten wie dem philosophischen, allgemein geisteswissenschaftlichen oder künstlerischen Eklektizismus unterscheidet, als hier die Vielzahl der verschiedenen Therapien, Medikationen und Gesundheitslehren bezeichnet wird, die vom Einzelnen ohne übergeordnetes System angewendet wurden oder werden und dadurch am ehesten einem methodischen Pluralismus entspricht. Damit umschreibt der Begriff einen ‚teleologischen Eklektizismus‛, dessen Schwerpunkt entsprechend pragmatisch und eher randständig zu inneren Einstellungen und kulturellem Selbstanspruch orientiert ist. Georg Rapp, Tübinger Medizinprofessor und Direktor der Universitätsklinik, fasst 1853 diese Unterscheidung bündig zusammen: „Man machte mir mündlich öfters den Vorwurf des Eklektizismus, ein Vorwurf der wohl in einem philosophischen System, aber nicht in einer Wissenschaft, welche auf dem empirisch induktiven Wege fortschreitet, gemacht werden kann; ich halte im Gegentheil einen prüfenden Eklektizismus in einer Naturwissenschaft für nothwendig, und es wäre sehr wünschenswerth, wenn ähnlich wie früher in der Philosophie heutzutage die einzelnen medizinischen Richtungen durch einen neuen Plotin oder Proklus zu einem konsequenten Ganzen vereinigt würde.“ Georg Rapp: Die medizinische Klinik und ihr Verhaeltniss zur praktischen Medizin , Tübingen 1853, S. 32. „[…] l’éclectique […] est un homme qui ne reconnoît point de maître.“ De nis Diderot, Jean Baptiste le Rond d‛Alembert: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. 5, Paris 1755, S. 270.

„Les Eclectiques & les Sceptiques ont eu cette conformité, qu’ils n’étoient d’accord avec personne; ceux-ci, parce qu’ils ne convenoient de rien [...]. “ A.a.O.

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sich in der Frage nach der Bewertbarkeit vom Phänomen des Eklektizismus, der in erster Instanz auf die Ähnlichkeiten unterschiedlicher philosophischer Schulen bezogen wurde, die Geister seit Jahrhunderten: Die Einen halten ihn für schadhaft und inauthentisch, die Anderen sehen gerade im Prozess einer sinnvoll gehaltenen Auswahl ein adäquates Mittel zur Wahrheitsfindung.5 Was die Einschätzung von Musikschaffen angeht, können die verschiedenen Positionen unproblematisch analogisiert werden. Im Lexikon der Kunst wird vom Architekten Gottfried Semper darauf verwiesen, dass insbesondere der architektonische Eklektizismus eng mit dem aufkommenden Historismus verwoben und sein Schwerpunkt deswegen im 19. Jahrhundert zu setzen sei 6 – auch hier ist die Übertragung auf musikhistorische Prozesse ebenso umstandslos möglich. Die musikästhetische Relevanz des Begriffes lässt sich dabei vermutlich um 1803 erstmals nachweisen, als Johann Gottfried Seume ihn prosaisch nutzt: Die Musik war eklektisch und gab Reminiszenzen, war aber sehr gefällig und schon mehr italienisch als deutsch.7

Das eingeschobene aber weist bereits hier den problematischen Beigeschmack des Wortes aus, ohne dass Eklektizismus explizit abgewertet wird. Um den Begriff des Eklektizismus, insbesondere bei der Frage nach Musikschaffen, als Phänomen der stilistischen Nachahmung fassbar vom Begriff der Epigonalität abheben zu können, lohnt ein Blick auf die Ebenen: Wo der vorgeworfenen Epigonalität nicht selten eine konkrete Nachahmung wie nachweisbare Gesten/Zitate o.ä. zugrunde liegt, was stilistische Momente zwangsläufig einschließt, verzichtet Eklektizismus in aller Regel auf eine solche Konkretion und rangiert deswegen auf der übergeordneten stilistischen Ebene. Bestenfalls ließe sich also von einer semantischen Verwandtschaft beider Begriffe sprechen, wobei die empfundene Eklektik, welche im epigonalen Schaffen liegen kann, nicht in der gleichen Intensität als schöpferisch gilt wie reiner Eklektizismus. Dennoch überlappen sich beide Begriffe nicht unerheblich, zumal es zuletzt eine Frage der persönlichen Einstellung ist, ob Eklektizismus bereits im strengen Sinne als reine 5 6

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A.a.O. „Die eklekt. Schöpfungen bezeugen zwar ein versiertes Kunsthandwerk, sind aber nicht mehr aus einer starken Lebensmitte der Gesellschaft erwachsen. Im MA hat es zwar wiederholt einzelne Rückgriffe auf alte Formen, anscheinend jedoch keinen E. gegeben. Ob die teilweise Mischung von got. und Renaissanceformen in der Nachgotik E. gen. werden kann, ist noch offen. Insofern bleibt E. als Begriff für den pluralist. Historismus des 19. Jh. mit seinem Nebeneinander „einer Walhalla à la Parthenon, einer Basilika à la Monreale, eines Boudoirs à la Pompej, eines Palastes à la Pitti, einer byz. Kirche oder gar eines Basars in türk. Geschmacke« (G. Semper).“ Lexikon der Kunst: „Eklektizismus“, Bd. 2, Leipzig 1987ff, S. 295. Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 (1. Teil: Gräz), Köln 1962, S. 215.

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Epigonalität zu bewerten ist oder eben doch sehr viel schwächer schimmert. Ein weiterer Ansatz für eine Unterscheidung ergibt sich allerdings durch folgende Überlegung: Wollte man die Nachahmung eines Stiles als epigonal bezeichnen, würde man wohl intuitiv genau diese Beschränkung berücksichtigen – nämlich dass der Epigone einen Stil, nicht mehrere Stile im gleichen Werk nachahmt. Indem sich der Eklektizist durch die Nachahmung und Vermischung mindestens zweier Stile jedoch ganz nachdrücklich zu seinem Handeln bekennt und nicht etwa danach trachtet, seine Nachahmung zu verbergen, kommt ihm aus moralischer Perspektive eine andere Bewertung zu als dem Epigonen. 8 In einem Lehrbuch der Ästhetik von 1809 beschreibt der Autor zudem den Übergang von Originalität (Genialität) und Eklektizismus als fließend: Die vorhandenen Muster des Schönen in Poesie, Musik und zeichnender Kunst müssen nur den Genius aufwecken, und bei der äussern Vollendung der Form als Kanon dienen. Wer zu viel und zu lange sieht, der verliert das Vertrauen auf sich selbst, und indem er sich Fremdes aneignen will, bleibt er ewig von diesem Fremden abhängig. Daher erklärt sich, warum auch genialische Menschen sich so leicht zur Manier verirren konnten, und mit all ihrer Kraft in dem Eklektizismus untergingen.9

Hier entspricht Eklektik also dem Verlust des persönlichen Selbstausdrucks und wird entsprechend abgewertet, was sicher nicht zufällig den Postulaten des Geniekultes des 19. Jahrhunderts entspricht. Spannt man schließlich den Bogen vom künstlerischen Eklektizismus thematisch über die allgemeinen politischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts und sieht in der Frage nach der Authentizität jüdischen Wirkens und Seins den Verknüpfungspunkt, ergibt sich ein zunächst arbiträrer Aspekt, der jedoch im Zusammenhang mit den kulturell einschlägigen Begriffen des 19. Jahrhunderts wie Originalität, Genialität, Organität, Authentizität bzw. in der Gegenüberstellung zu Entartung, Vermischung, Verderbtheit oder auch von Patriotismus/Nationalismus zu Kosmopolitismus leichten Zugang gewährt: Wo der (nicht zwangsläufig) patriotische/nationalistische Rassist der Romantik die vermeintlich überlegene und reine Rasse der Arier durch die durchmischte bzw. durchmischende jüdische Rasse entgegengesetzt sieht, läuft die Einschätzung einer reinen und ‚organischen‛ kompositorischen Stilistik im Vergleich zum Eklektizismus, die verschiedene Strömungen miteinander vermengt, sicherlich parallel. Keineswegs ist es also als Zufall zu verstehen, dass sich beispielshalber Richard Wagner abwertend über das Phänomen des Eklektizismus äußert und auf der anderen Seite seine Forderung nach dem Gehalt einer ‚Reinheit‛ gleichermaßen auf rassische Fragen überträgt, wenn

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Wobei dem mutmaßlichen Epigonen natürlich, wie unter Epigonalität besprochen, beispielsweise durch die Schaffung einer Hommage (womöglich inklusive entsprechender Widmung) o. ä. genauso wenig a priori moralische Fragwürdigkeit unterstellt werden kann. Aloys Wilhelm Schreiber: Lehrbuch der Ästhetik, Heidelberg 1809, S. 14.

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er die arische Rasse durch die ‚Vermischung‛ mit der jüdischen gefährdet sieht. In Cosimas Tagebüchern ist zu lesen: Beim Frühstück kommt er wieder auf die Racen-Frage und sagt, durch die Frauen würden sie verändert, z.B. wenn ein Arier eine Semitin heirate, käme diese kreolische Race zum Vor schein […].10

Wenn Wagner an anderer Stelle seine Einstellung zur Tanzkunst erläutert und ihren Wert dadurch massiv gemindert sieht, dass sie sich verschiedenen stilistischen Einflüssen geöffnet hat, unterstreicht er damit nichts anderes als seine Ablehnung eines Phänomens, das seiner Ansicht nach über keine konsistente „ Eigenthümlichkeit“ verfügt und durch die Aufnahme verschiedener Strömungen all das preisgibt, was als wahr zu benennen wäre: Die Tanzkunst gab in ihrer Trennung von der wahren Musik und namentlich auch von der Dichtkunst, nicht nur ihre höchste Fähigkeit auf, sondern sie verlor auch von ihrer Eigent hümlichkeit […]. Ihr Verfahren ist daher immer nur ein absichtsvolles, künstliches Nachahmen, Zusammensetzen, ein Ineinanderschieben, keineswegs aber Zeugen und Neugestalten; ihr Wesen ist das der Mode, die aus bloßem Verlangen nach Abwechselung heute dieser, morgen jener Weise den Vorzug giebt.11

In den antijüdischen Zuschreibungen von absichtsvoller Epigonalität und Nachahmung nimmt der Vorwurf des Eklektizismus insbesondere im Zusammenhang mit Meyerbeer, jedoch auch allgemein formuliert wie bei Wagner, eine übergeordnete Stellung ein, worauf noch detaillierter eingegangen werden wird. Wenn weiter oben behauptet wurde, dass Eklektizismus per se als Handlungsoption auf eine innere Einstellung verweisen kann, aber keineswegs muss, soll ergänzend zur Begriffsbetrachtung auf eine naheliegende Verkettung von Eklektizismus und dem ihm übergeordneten inneren Zustand hingewiesen werden: Nicht nur der Wunsch nach umfassender Bildung/Erweiterung der eigenen Werkkenntnis können mit der Praxis des Eklektizismus korrelieren, sondern auch das komplexe Phänomen des Kosmopolitismus/Internationalismus lässt sich dem leicht überordnen. Immerhin werden hier auf kompositionstechnischer Ebene genau jene Eigenschaften benötigt, die gleichermaßen dem Kosmopolitismus zugrunde liegen und bereits beschrieben wurden – Offenheit für andere Kulturen/Stile, der Mangel an innerer Festlegung bezüglich eines vermeintlich überlegenen Duktus usw. Der Kosmopolitismus korrespondiert dabei über weite Strecken mit dem, was heute als soziales Phänomen der Urbanität abgesteckt wird, und nicht zufällig wird in der Relation häufiger denjenigen Komponisten Eklektizismus unterstellt, welche tatsächlich ‚(groß-)städtisch‛ geprägt sind oder waren.12 Wo die Zuschreibung des Eklektizis10 Cosima Wagner: Die Tagebücher, Bd. 2, S. 905. 11 Richard Wagner: „Die Tanzkunst“, in: SSuD, Bd. 3, S. 78f. 12 Besonders populär ist in diesem Zusammenhang das ästhetische Konfliktpotential in den Kreisen um Johannes Brahms und Anton Bruckner. Brahms einen inoriginellen Eklektizis-

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mus bis heute tendenziell pejorativ intendiert ist, bestehen, ähnlich der Epigonalität, gleichfalls gegenteilige Strömungen, und es überrascht sicher nicht, dass Adorno, der in seinen Schriften durchaus als Agent der Urbanität in Erscheinung tritt, in einem Aufsatz über Alexander von Zemlinsky aus einer anti-nationalistischen Perspektive heraus eine Lanze für den Eklektizismus bricht: Kurz, Manier und Eklektizismus sind kein Makel des individuellen Vermögens sondern historische Male. Daß man mit beidem unverdrossen abwertend operiert, beweist nur, wie weit das ästhetische Denken hinter der konkreten Kunst zurückblieb; wie hilflos es ans ideologische Erbe sich klammert.13

Auch den ästhetischen Versuch, Eklektizismus als misslungene Synthese zu fassen,14 kritisiert er harsch: Nicht umsonst klingt das Wort Synthese - Gegenbegriff von Manier wie von Eklektizismus – schal.15

Es lässt sich folglich leicht feststellen, dass Eklektizismus als reines Phänomen nicht nur von einer vermeintlichen Be- bzw. Abwertungszwangsläufigkeit trennbar sein kann, sondern auch, dass eine Forderung nach dieser Trennung sinnvoll ist. Denn indem man Eklektizismus als Tatbestand, nicht als Wertung anführt, lässt er sich in der Konkretheit, wie ihr später entsprochen wird, verschiedenen Komponisten, besonders aber Meyerbeer, Eklektizismus bestenfalls ohne emotionale oder moralische Kriterien nachweisen – und nicht etwa mit Infamie unterstellen. Heinrich Heine, der schwerlich als Antisemit zu beschreiben ist, formuliert beispielshalber ohne weitere Ausführung die für sich stehende und quasi-aphoristische Aussage: „Der Eklektizismus in der Musik wurde durch Meyerbeer eingeführt“ .16

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mus zuzuschreiben, wäre zwar mehr als ungerecht, dennoch ist es seinem kompositorischen Umgang mit Tradition zu verdanken, dass seine Gegnerschaft zu solchen Einschätzungen gelangt ist. (Vgl. Constantin Floros: Brahms und Bruckner, Leipzig 1980, S. 38). Umgekehrt verweist Bruckners absolute Jenseitigkeit von Urbanität (welche auch im Mangel einer kos mopolitischen Ausbildung begründet liegt) auf das Ideal des autarken ‚Originalgenies‛, welches wiederum im Widerstreit mit einem erkennbaren kompositorischen Traditionalismus steht. (Vgl. Manfred Wagner: Anton Bruckner. Sein Werk, sein Leben, Wien 1995, S. 63, S. 72.) Dieses Spannungsfeld begrenzt sich freilich nicht auf Fragen der ästhetischen Rezeption, sondern speist sich gleichermaßen aus politischen und wirtschaftlichen Aspekten. Gründlich analysiert wird dieses Phänomen durch Hans-Joachim Hinrichsen und Laurenz Lüttegen (Hrsg.): Bruckner – Brahms. Urbanes Milieu als kompositorische Lebenswelt im Wien der Gründerzeit: Symposien zu den Zürcher Festspielen 2003 und 2005, Kassel 2006. Adorno: „Zemlinsky“ (Musikalische Schriften II: Quasi una fantasia ), in: Gesammelte Schriften, Bd. 16, S. 352. So z.B. bei Willy Tappolet, Lemma „Honneger“: „Nicht Eklektizismus, sondern Synthese beherrschte seine Gestaltung.“, MGG 1, Bd. 6, S. 690. Adorno: „Zemlinsky“, S. 351. Ernst Elster (Hrsg.): Heinrich Heines sämtliche Werke , Bd. 7 (Börne, Prosaische Nachlese), Leipzig/Wien 1896,S. 428.

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Ohne auf die teilweise komplexen Details der facettenreichen Bekanntschaft beider Männer – Heine und Meyerbeer – näher eingehen zu wollen und damit über eine mögliche Intention bzw. zugrunde liegende Wertung der Aussage zu spekulieren, steht diese Behauptung im zitierten Zusammenhang für sich und verdeutlicht, so darf man unterstellen, durchaus Heines Position. Ließe man sich dabei auf den Versuch ein, den hier zugeschriebenen Eklektizismus nicht als moralisch/fachlich bewertend aufzunehmen, sondern als reine Feststellung eines für Heine gültigen Tatbestandes, wäre nur eine Schlussfolgerung möglich: Meyerbeer vermischt in der Wahrnehmung des Schriftstellers als erster Komponist in seinem Œuvre verschiedene Stile besonders sinnfällig miteinander. Auf welche Weise er das tut, also ob an-/organisch, un-/synthetisch, in-/originell, in-/authentisch usw., lässt sich allein aus der Äußerung Heines nicht entnehmen. Löst man sich also von der Vorstellung, dass die Aufnahme und Vermengung verschiedener Stile, was in der Kunstgeschichte bis heute unter dem Begriff des Eklektizismus noch am adäquatesten beschrieben wird, mit dieser Bezeichnung zwangsläufig eine Ent- bzw. Abwertung erfahren muss, ist ein weit unbefangenerer Umgang mit diesem Begriff möglich, als es mitunter geleistet wird. Unter dem Artikel „Giacomo Meyerbeer“ liest man dementsprechend in der MGG 1: Daß sich in Meyerbeers Schaffen sowohl deutsche als auch ital. und frz. Stilmerkmale nachweisen lassen, ist seit langem bekannt. Nur läßt es sich schwer mit hist. Objektivität vereinigen, die Stilsymbiose eines Mozart als Europäismus zu feiern und dies. Erscheinungen bei Meyerbeer als Eklektizismus abzuwerten.17

Möglicherweise ließe sich die in diesem Punkt bestehende – und berechtigte – Irritation des Autors genau dadurch mildern: Indem verdeutlicht wird, wie nahe der hier zitierte Europäismus (was freilich nichts anderes als eine weitere semantische Verwandte von Internationalismus bzw. Kosmopolitismus ist) als übergeordnete geistige Haltung zur Praxis des Eklektizismus steht, verengt sich die vermeintliche Kluft zwischen beiden Prädikaten erheblich. Wollte man dem auf diese Weise leichter zu attestierenden Eklektizismus eine Bewertung beigeben, müsste man sich letztlich auf die Ebene des Handwerks und auf die des persönlichen Geschmackes begeben – der reine Tatbestand des Eklektizismus hingegen könnte so nicht länger als Indiz für schlechte kompositorische Praxis gedeutet werden.

17 Heinz Becker: „Giacomo Meyerbeer“ in: MGG 1, (Hrsg. Friedrich Blume u.a.), Kassel 1949ff., Bd. 9, S. 255f.

12. Giacomo Meyerbeer: Die Hugenotten als Authentizitätsindikator Bevor im weiteren Verlauf der Frage nach Authentizität/Inauthentizität/Epigonalität u.ä. bezüglich der Meyerbeer‛schen Oper Die Hugenotten nachgegangen wird, soll kurz der notwendige methodische Ansatz beleuchtet werden. Wird ein Gegenstand auf seine Wahrhaftigkeit hin untersucht, bieten sich, wie bereits mehrfach thematisiert wurde, zwei Möglichkeiten: Man geht entweder von der Prämisse aus, dass lediglich die Prädikate authentisch/inauthentisch existieren, oder man gesteht quantitative Abstufungen zu, welche zwar letztlich der Sprachlogik widersprechen, in der Praxis aber weit verbreitet sind – allein gängige Formulierungen wie besonders in-/authentisch1 korrespondieren mit dem zweiten Fall. In der Untersuchung der Hugenotten bietet sich nicht zuletzt deshalb die zweite Methode an, weil sie als der Gattung Oper zugehörig und dadurch mit anderen Genrebeispielen vergleichbar sind. Diese Kommensurabilität ist gerade dann hilfreich, wenn einzelne mutmaßlich in-/authentische Aspekte kritisiert bzw. beschrieben werden. Deswegen stehen im Folgenden einzelne Facetten der Oper, welche die Frage nach Authentizität beleuchten, nicht nur für sich, sondern sollen, so möglich, durch einen Blick auf das allgemeinere Opernspektrum eine festere Verankerung finden, sodass letztlich eine möglicherweise geleistete Prädikatisierung wirkliche Gültigkeit beanspruchen kann. Schließlich ergeben sich bei den Hugenotten mitunter Authentizitätsprobleme (wie der innere Zustand der Interpreten), welche keineswegs besonders typisch für Meyerbeers Werk sind, sondern grundsätzlich bezüglich nahezu aller Werke des Operngenres thematisiert werden können. Die Wahl der Hugenotten als zu untersuchendes musikalisches Werk mag auf den ersten Blick willkürlich erscheinen, jedoch verbindet sich mit dieser Oper und ihrem Komponisten eine beispiellose Vielzahl von Berührungspunkten der unterschiedlichen geleisteten Kritiken, dass es folgerichtig und plausibel ist, ihr den Vorzug zu geben. Insbesondere ein Detail, so vermeintlich marginal es sich zunächst auch darstellt, darf in seiner Wirkungsmacht keinesfalls unterschätzt werden: Wie in der vorhergegangenen Untersuchung dargelegt, war es Schumanns Hugenotten-Kritik, welche, wenn auch absichtslos, einer nachfolgenden antisemitischen Musikästhetik den Unterbau geliefert hat. Fast selbstverständlich wurde Schumanns Einschätzung eines „ fatal mekkernden Rhythmus“ als Indiz des „hebräischen Kunstgeschmack“ durch Uhlig fehlgedeutet. Aber auch Wagner schlägt in die gleiche Kerbe und fehlinterpretiert Schumann, ohne ihn konkret zu benennen, als Vorläufer der eigenen Ästhetik, was ihm wiederum wenigstens partiell als Legitimation von Freigedanks Aufsatz dient. Des besseren Überblicks wegen erfolgt eine kurze Zusammenfassung der beispiellosen Karriere von Schumanns Zitat: 1

Beispielsweise wird schon 1830 Hethum von Korykos in einem gleichnamigen Artikel in einer Allgemeinen Encyklopädie der Wissenschaften und Künste attestiert, „besonders authentisch“ über die Tataren zu berichten. In: Ibid., Bd. 7 (JHrsg. Johann Samuel Ersch u.a.), Lemma „Hethum“, Leipzig 1830, S. 412.

Die Hugenotten als Authentizitätsindikator

1. Schumann attestiert den Hugenotten 1837 einen „fatal

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mekkernden, unan-

2

ständigen Rhythmus“, ohne sein Urteil mit dem jüdischen Hintergrund des

Komponisten zu kontextualisieren.

2. Theodor Uhlig vermittelt seiner Leserschaft im Frühjahr/Sommer 1850 diese Einschätzung Schumanns als Prädikatisierung einer „ Judenschule“3 und führt in diesem Zusammenhang die verhängnisvolle Formulierung des „hebräischen Kunstgeschmacks“4 ein. 3. Wagner nutzt nur wenige Wochen darauf schließlich Uhligs Wortlaut des „hebräischen Kunstgeschmacks“, um ihn zu verteidigen und damit seinen Artikel zu lancieren. Ferner abstrahiert Wagner noch 1869 5 Schumanns ursprüngliche Kritik nahezu in eine Entstellung und schafft sich damit einen unumstößlichen Zusammenhang zwischen Schumanns „ mekkernden Rhythmus“ und Meyerbeers Judesein: Ein warnendes Beispiel […] war […] Meyerbeer, der durch die Pariser Oper bereits in so bedenklicher Weise zu gewissen semitischen Accentuationen in der Musik verleitet worden war, daß die „Gebildeten“ einen Schreck davor bekamen.6

Bei den im Plural und in Anführungsstrichen zitierten „Gebildeten“ handelt es sich naheliegenderweise um Schumann, den Wagner vermutlich aus verschiedenen Gründen nicht namentlich nennen wollte, nicht zuletzt wohl aufgrund der bestehenden Antipathie zwischen beiden. Die Verselbstständigung des ursprünglichen Kritikkontextes ist dabei jedoch ebenso einmalig wie auf unglückliche Weise nachhaltig. Auch wenn die Wirkungsmacht jenes Schumannzitates bzw. der Schumannrezension nur als – wenn auch nicht unbedeutender – Mosaikstein in der Gesamtbetrachtung des antisemitischen Musikschrifttums allgemein als auch konkret bezogen auf Meyerbeer steht, ergibt sich dennoch ganz unwillkürlich die Frage nach der Plausibilität dieser Einschätzung: Worauf genau bezieht sich Schumanns Urteil des „mekkernden Rhythmus“ bzw. ist die Ursache von Schumanns subjektivem Eindruck objektiv nachweisbar? Diese Frage stellt einen Teil der sich anschließenden Analyse dar. Darüber hinaus werden all jene Ansätze thematisiert, welche sich sowohl allgemein als auch konkret mit der Frage nach der Authentizität der Meyerbeer‛schen Oper verknüpfen – musikalische Momente werden dabei ebenso berücksichtigt wie die (musika2

3 4

5

6

Robert Schumann: „Fragmente aus Leipzig“, in: NZfM, (Hrsg. Robert Schumann), Bd. 7 (1837), S. 74. Theodor Uhlig: „Außerordentliche Betrachtungen“, in: NZfM, Bd. 33, 23. Juli 1850, S. 30. Theodor Uhlig: „Zeitgemäße Betrachtungen – Dramatisch“, in: NZfM, Bd. 32, 23. April 1850, S. 170. In jenem Jahr veranlasste Wagner sicher nicht zufällig ebenfalls einen erneuten Druck seines Judenthums in erweiterter und noch radikalerer Fassung. Richard Wagner: „Über das Dirigieren“, in: SSuD, Bd. 8, S. 315f.

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lische) Charakterentwicklung, und selbstverständlich werden ebenso die relevanten Handlungsmotive, Effekte und Affekte beleuchtet, die sich mit Entstehung und Darstellung der Hugenotten verbinden. Schumanns Hugenotten- und Wagners allgemeine Judenkritik werden dabei, so sie in einer gewissen Explizitheit hierfür dienlich sind und in ihrer auslösenden Eigenschaft für antisemitische Folgebetrachtungen besonders schwer wiegen, als Vergleichsmoment herangezogen.

12.1 Meyerbeers „fatal mekkernder Rhythmus“ Begibt man sich auf die Suche nach Anhaltspunkten, welche ursächlich für den Eindruck des Kritikers gewesen sein müssen, scheint es zunächst ein Leichtes zu sein, die entsprechenden Stellen der Partitur auszumachen. Im Ganzen liest sich Schumanns abwertendes Zitat nämlich: Was ihm aber durchaus angehört, ist jener berühmte, fatal mekkernde, unanständige Rhythmus, der fast in allen Themen der Oper durchgeht; ich hatte schon angefangen, die Seiten aufzuzeichnen, wo er vorkömmt (S. 6, 17, 59, 68, 77, 100, 117), ward's aber zuletzt überdrüssig.7

Die Angabe von Seitenzahlen ist jedoch, so sehr Schumanns Konkretionsversuch auch zu begrüßen ist, ohne das Wissen um den dazugehörigen Notendruck bezugsfrei und deswegen nahezu wertlos. Unglücklicherweise nämlich hat Schumann darauf verzichtet, den Herausgeber des Klavierauszugs 8 zu benennen, mit welchem er seine Kritik erarbeitet hat. Da der derzeitige Forschungsstand bislang keine zuverlässigen Informationen in dieser Frage anbieten kann,9 erscheint es ratsam, auf jene Art Spekulation zu 7

8

9

Robert Schumann: „Fragmente aus Leipzig“, in: NZfM, (Hrsg. Robert Schumann), Bd. 7 (1837), S. 74. Dass er mit einem Klavierauszug und nicht mit einer Partitur gearbeitet hat, ist aus verschiedenen Gründen anzunehmen, in erster Linie gilt hier die Praktikabilität: Für einen Rezensenten ist die Arbeit mit einer Partitur schlicht zu umständlich und war deswegen nicht etabliert. Darüber hinaus gibt Schumann selbst einen Hinweis zu diesem Sachverhalt, indem er die Seite 6 als die erste benennt, welche den fatal mekkernden Rhythmus aufzeigt. Im Falle einer vorliegenden Partitur entspräche diese Angabe jedoch ganz editionsunabhängig noch dem ruhigen und unaufgeregten ersten Teil der Ouvertüre, womit eine Partitur als Rezensionsgrundlage ausscheidet. So geben weder der Briefwechsel zwischen Schumann und den Häusern Schlesinger und Breitkopf & Härtel Aufschluss über eine mögliche Leihgabe bzw. einen Kauf eines Klavier auszugs. Beide Verlage kommen jedoch insofern als einzige mögliche in Frage, als sie vor 1837 einen französischen (Schlesinger, Plattennr. 2136) bzw. französisch-deutschen (B&H, Plattennr. vermutlich 5720) Auszug herausgeben haben. Da Schumann den französischen Text zitiert und aus begreiflichen Gründen der regionalen Verwurzelung dem Haus Breitkopf & Härtel besonders nahe stand, lässt sich als sehr wahrscheinlich annehmen, dass er mit dem entsprechenden Leipziger Auszug gearbeitet hat. Trotzdem besteht bislang darüber

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verzichten, welche die angegebenen Seitenzahlen um jeden Preis einer entsprechenden Stelle dem persönlichen Eindruck nach zuordnen wollen. Diese Vorgehensweise würde jeden in die prekäre Lage bringen, Schumanns Urteil einerseits zu übernehmen, es andererseits mit eigenen Eindrücken zu vermengen und so möglicher weise Schumann konkrete Kritik unterstellen, die er nie geleistet hat. Ganz aussichtslos muss der Versuch, etwas Licht in die Frage nach dem „mekkernden, unanständigen Rhythmus“ zu bringen, dennoch nicht bleiben. Es bietet sich nämlich an, mit jenen Konkretionen zu arbeiten, die durchaus und trotz der Editionsproblematik bestehen. Zum einen ist Schumanns Angabe der Seite 6 erhellend, andererseits aber ist sein Hinweis, dass jener Rhythmus in fast allen Themen der Oper zu finden sei, ebenso aufschlussreich. Beide Hinweise lassen sich fruchtbar miteinander koppeln, sodass sich einige Überlegungen ergeben. Wenn Schumann Seite 6 als diejenige benennt, auf welcher der mekkernde Rhythmus erstmalig begegnet, lässt sich sie sich im Gegensatz zu allen anderen Seiten deshalb zuordnen, weil sie in verschiedenen Ausgaben des 19. Jahrhunderts 10 stets die erste Seite nach der Ouvertüre ist. Die Ouvertüre kann in ihrer Länge trotz unterschiedlicher Edition kaum verändert werden, da keine Sprache bzw. die Frage berücksichtigt werden muss, ob sie ein- oder zweisprachig abgedruckt werden soll. Die Ouvertüre selbst bietet fast ausschließlich in variierten Formen den cantus firmus des lutherischen Chorals Ein feste Burg ist unser Gott, des Weiteren ergibt sich mit dem rhythmischen Charakter der Ouvertüre keine Analogie zu Schumanns Urteil des „ mekkernden Rhythmus“. Daraus resultiert eine offenkundige Zuordnung der Seite 6, an welcher Stelle die Handlung der Oper durch den katholischen Grafen Nevers eröffnet wird, nachdem die Ouvertüre im 12/8-Takt und im Fortissimo mit einem Abwärtspizzicato auf der neuen Dominante E-Dur abebbt. Mit dem Tonartenwechsel von Es- nach A-Dur vollzieht sich ebenfalls ein Taktwechsel zum geraden 4/4-Takt, welcher durch schnörkellose Viertel-Pizzicati eingeführt wird. Schon im dritten Takt verlassen Melodie (Nevers/Bariton) und die Begleitung der Streicher den geraden Rhythmus, indem die zweite Hälfte des Taktes triolisch gestaltet wird. Damit ergibt sich mitsamt des Auftaktes folgende Figur, die sich auf ähnliche Weise mehrfach wiederholt: (Meyerbeer: Die Hugenotten)

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keine absolute Sicherheit, zumal sich auch im Nachlass Schumanns kein Klavierauszug der Hugenotten finden lässt. Darüber hinaus ist der Klavierauszug von Breitkopf & Härtel aus den Jahren 1836/1837 bisher in keinen Staats- oder Hochschulbibliotheken zu finden gewesen, sodass ein möglicher Abgleich bis jetzt noch nicht vollzogen werden konnte. Z.B. in der französischen Ausgabe von Brandus & Cie./Schlesinger (Plattennr. 9209, Paris ca. 1860, Reprint von 1836) oder die deutsche Fassung von Breitkopf & Härtel o.J. (um 1880).

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Berücksichtigt man, dass der Text hier, vor allem in der Originalsprache, fast durchweg syllabisch eingebunden ist 11 und dass mit der Vorgabe von q = 116 ein hinreichend bewegtes Tempo gilt, lässt sich verstehen, warum der Solist gezwungen ist, die Triolen sehr zügig und präzise zu artikulieren, sodass sich der Staccatoeindruck fortsetzt, der durch die Vorgabe der Auftaktviertel entsteht. Die für Schumann daraus offensichtlich folgende onomatopoetische Assoziation zum Meckern (einer Ziege) ist, so man dem Grimmschen Wörterbuch folgt, im 19. Jahrhundert noch viel enger an eine wenig gelungene künstlerische Darstellung gebunden als in jüngerer Zeit.12 In diesem Fall also lässt sich Schumanns Eindruck auf folgende Faktoren begrenzen: 1. 2.

Die klare Viertelvorgabe einer Geradtaktigkeit wird zugunsten bewegter Triolen stark kontrastiert und aufgehoben. Die syllabische Vertonung des Textes unterstreicht die abrupte Zerteilung des melodischen Bogens.

Zu 2. ist jedoch anzumerken, dass die Beifügung eines Textes nicht unabdingbar für Schumanns Empfinden gewesen sein muss, da sich nach Ansicht des Kritikers eben jener „mekkernde, unanständige Rhythmus“ durch fast alle Themen der Oper zieht, was gesanglose Passagen einschließt. Wenn man also unterstellt, dass Schumann jene Takte als meckernd und unanständig rhythmisiert wahrgenommen hat, welche das originäre Schwerpunktgefüge oder die binäre Orientierung der Taktart verlassen bzw. durch eine so empfundene Temposteigerung variieren, lassen sich in den Hugenotten verschiedene Stellen anführen, welche analog zur oben beschriebenen Passage verlaufen. Vor allem in der 11

12

Obwohl die Einbindung des jeweiligen Textausschnittes dem Nachvollzug zusätzlich dienlich sein könnte, wird hier und an den folgenden Stellen ganz bewusst auf die textliche Ergänzung verzichtet: Nicht der Text ist in den zitierten Stellen kritisiert worden, sondern ausschließlich die Musik, und obwohl das Sujet bzw. Scribes Arbeit gleichfalls an anderen Stellen Schmähworte durch Schumann findet, soll schließlich die rhythmische Charakterisierung auf ihr ‚Meckerpotential‛ hin untersucht werden. Insofern sollte die Angabe genügen, dass der Text in beiden Sprachen zum größten Teil syllabisch durch die Musik gefasst wurde. Der Frage nach inhaltlicher Angemessenheit wird durch eine jeweilige handlungskontextuelle Rahmengebung entsprochen. So unüblich sich diese Methodik möglicherweise auch ausnimmt, darf nicht vergessen werden, dass es immer die Musik Meyerbeers ist, welche harsche Kritik erfahren hat, nie explizit ein Wort-Ton-Verhältnis, sondern bestenfalls im groben Handlungskontext. Wenn sich die Musik als (unterstelltes) absolutes Moment tatsächlich nicht textsepariert betrachten ließe, wäre eine Kritik an der Kompositionstechnik Meyerbeers gleichfalls unmöglich. Da letztere jedoch mehrfach geleistet wurde, muss auch der hier beschriebenen Analyseversuch gestattet werden. So zitiert das Wörterbuch beispielsweise Heinrich Heine: „wenn er in den soiréen von Paris seine schlechten romanzen meckert.“ oder auch Karl Gutzkow: „während ich mich in Ren nes barbieren liesz, meckerte jemand auf der strasze den jungfernkranz aus dem freischütz in deutscher sprache.“. Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm , Bd. 12, Lemma meckern, Göttingen/Berlin, 1965ff.

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Kombination von Triolen, Synkopen und/oder Punktierungen kann sich dieser Eindruck verstärken. Die im Folgenden zitierten Stellen können deswegen zwar als paradigmatisch verstanden werden, andererseits muss erneut betont werden, dass sie keineswegs zwingend mit jenen Rhythmisierungen korrespondieren müssen, auf welche sich Schumann in seiner Kritik bezieht. So begegnet beispielsweise im dritten Akt (Finale vor dem Hochzeitszug) als erneuter Kontrast nach langsamen Tonrepetitionen in der Melodie (getragen durch den katholischen Grafen St. Bris/Bariton) erneut eine triolische Rhythmisierung und verkappte Punktierungen. Das Orchester unterlegt die Ankündigung des Hochzeitszuges durch St. Bris seinerseits mit rhythmisch markanten Triolen und kurzen Pausen: (Meyerbeer: Die Hugenotten)

Auch hier ergibt sich durch eine ausgeprägte Syllabik und die Vorgabe von q = 120 ein ähnliches musikalisches Moment wie im ersten Zitat. In diesem Zusammenhang lässt sich gleichfalls der Soldatenchor zu Beginn des dritten Aktes nennen, der im 9/8-Takt einen martialischen Trommelklang nachahmt. Dabei wird schließlich ein rhythmisches Gefüge entwickelt, welches zwar nicht triolisch notiert ist, durch die Takt- und Artikulationsvorgabe aber deutlich triolisch formuliert wird und durch die monotone syllabische Wiederholung möglicherweise besonders nah an das herankommt, was Schumann als einen meckernden Rhythmus empfunden hat: (Meyerbeer: Die Hugenotten, Soldatenchor a-cappella)

(usw.) Im folgenden Zitat steigert sich dieser Effekt noch einmal, indem nach einer triolischen Hinführung die Figur einer punktierten Achtel mit sich anschließender Sechzehntel mehrfach wiederholt wird.

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Die Hugenotten als Authentizitätsindikator

Deswegen liegt dieser Formulierung eine gewisse ‚Ruckhaftigkeit‛ inne (q = 162), was möglicherweise Schumanns Eindruck entspricht. Raoul, der protestantische Held der Oper/Tenor, ruft hier im fünften Akt und mitten im Geschehen der Bartholomäusnacht seine Brüder/Chor zu den Waffen, sodass sich eine antiphonische Entwicklung dieses Schlachtrufes ergibt:

(Meyerbeer: Die Hugenotten, Akt IV)

Auch im letzten Beispiel trägt die vorherrschende Syllabik 13 erheblich zur weiter oben charakterisierten Wahrnehmung bei. Jedoch begrenzt sich Schumann, wie bereits dargestellt, nicht auf das Prädikat „ mekkernd“, welches für eine gewisse rhythmische Stoßhaftigkeit steht, die sich in den Hugenotten durchaus finden lässt. Anders als der Deutungsansatz für Schumanns Attribuierung eines mekkernden Rhythmus gestaltet sich nämlich die Frage nach der damit vermeintlich verbundenen Unanständigkeit als besonders problematisch, wobei hier womöglich die Überlappung zwischen einer antisemitischen Ästhetik und derjenigen Schumanns am größten ist. Zunächst ist festzuhalten, dass sich die für Schumann zeitnahe Bedeu13

Im Übrigen widerspricht Meyerbeers Schwerpunkt auf einer syllabischen Ausgestaltung seiner Oper Wagners Pauschalurteil, nach welchem ein jüdischer Komponist unvermeidlich zu Melismen neige: „Ist dieses Zurückgehen auf den Volksquell bei dem gebildeten Juden, wie bei jedem Künstler überhaupt, ein absichtsloses, durch die Natur der Sache mit unbewußter Nothwendigkeit gebotenes, so trägt sich auch der hier empfangene Eindruck ebenso unbe absichtigt, und daher mit unüberwindlicher Beherrschung seiner ganzen Anschauungsweise, auf seine Kunstproduktionen über. Jene Melismen und Rhythmen des Synagogengesanges nehmen seine musikalische Phantasie ganz […] ein […].“ Richard Wagner: SSuD, Bd. 5, S. 77.

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tung einer Unanständigkeit bereits in jene zwei Aspekte gliedert, welche auch heute noch gültig sind: Die Konnotation zu einer wie auch immer gearteten Frivolität als auch eine (dem gesellschaftlichen Stande entsprechende) Unangemessenheit.14 Es ist als wahrscheinlich anzunehmen, dass sich Schumanns Eindruck einer Anstößigkeit der rhythmischen Ausgestaltung der Melodien mit dem Inhalt der Oper verbindet, für welchen der Kritiker jene Worte gefunden hat: Im dritten Act vermischt sich die liederliche Tendenz mit der heiligen […] und ihr deutschen sittsamen Mädchen, haltet euch nicht die Augen zu ?15

Schumann kontrastiert hier die Liederlichkeit mit einer unterstellten deutschen Sittsamkeit, was einerseits erneut Schumanns nationalistische Färbung betont, andererseits aber auch Schumanns Abwertung jener französischen Opernästhetik verdeutlicht, welche mit einer gewissen Pikanterie spielt. Neben der Anstößigkeit, die sich für den Kritiker vor allem durch den Inhalt der Oper ergibt, lässt sich die Unanständigkeit streckenweise ebenso als (situative) Unangemessenheit begreifen, wobei hier natürlich subjektive Eindrücke gespiegelt werden. So lässt sich, etwas zwanglos formuliert, tatsächlich von einem wiederkehrenden inkongruenten Wort-Ton-Verhältnis sprechen, wenn man den Anspruch auf eine ‚musikalische Authentizität‛ der Charaktere erhebt. Es offenbart sich vor allen Dingen dann, wenn man die französische Grand opéra mit der deutschen romantischen, also mutmaßlich ‚innerlichen‛ Oper vergleicht, wie es Schumann wohl implizit gehandhabt hat. Besieht man dann beispielsweise jene Situation im zweiten Akt, in welcher der protestantische ‚Held‛ Raoul ein blutiges Duell mit dem katholischen Grafen St. Bris und damit Satisfaktion erwartet, erscheint die musikalisch geschilderte Euphorie und Freude beider Seiten nicht ganz der bedrohlichen Situation entsprechend16:

14 15

16

Vgl. DWB, Bd. 24, Lemma Unanständigkeit, Sp. 166-172. Robert Schumann: „Fragmente aus Leipzig“, in: NZfM, (Hrsg. Robert Schumann), Bd. 7, S. 74. Im Falle der Darstellung eines Notenzitats, das sich über mehr als ein System (welches dann den Gesang repräsentiert) erstreckt, gilt Folgendes: Die zwei Systeme der unteren Akkolade umfassen im Sinne eines Klavierauszugs den Orchesterklang, welcher dann nicht im Zitat bzw. hinführenden Text spezifiziert wird, wenn keine hervorzuhebenden Instrumentationsund Artikulationscharakteristika zu berücksichtigen sind. Gleiches gilt auch für die Dynamik und das Tempo, welche grundsätzlich, wenn nicht im Zitat bzw. im hinführenden Text anders angegeben, als moderat zu verstehen sind. Alle darüber liegenden Systeme stehen in der entsprechenden Tonhöhenordnung für solistischen bzw. Chorgesang. Generell ist dennoch der Nachvollzug durch Tonträger zu empfehlen.

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(Meyerbeer: Die Hugenotten, Akt II)

Derlei rhythmische Wendungen samt ähnelnder Harmonisierung lassen sich in den Hugenotten mehrfach nachweisen, und insbesondere im Zusammenhang mit tödlicher Bedrohung/Gewaltausschreitungen können sie dank des verspielten, fröhlichen Charakters der tänzelnden Punktierungen beim Rezipienten ohne Weiteres den Eindruck einer Unangemessenheit vermitteln. Dabei ist jedoch als Überlegung gleichermaßen denkbar und nicht unwahrscheinlich, dass Meyerbeer eben jene musikalische Erwartungswidrigkeit instrumentalisiert, um die Problematik von religiösem Fanatismus und männlicher Gewaltbereitschaft zu konkretisieren, sodass von einer kontextbezogenen musikalischen Inauthentizität nur dann die Rede sein kann, wenn man in diesem Fall den doppelten Boden des Zynismus unberücksichtigt ließe. Jedoch ergibt sich bei der Darstellung von Gewalt und Tod auf der Bühne, egal in welcher Form, grundsätzlich ein weiteres Authentizitätsproblem, welches sich keineswegs auf Meyerbeer beschränken lässt: Dass beim Inter preten der jeweilige innere Nachvollzug jeder emotional beladenen Szene schwer zu prüfen, auch nicht stets zu fordern ist, wurde bereits im ersten Teil der Unter suchung thematisiert. Dass die innere Anteilnahme und damit erst die ‚vollkommene‛ Authentizität des Komponisten hingegen bei jeder Phrase gegeben sein muss, um die Musik als wahrhaftig gelten zu lassen, ist eine unerfüllbare Auflage – der ‚komponierte Tod‛ einzelner Opernfiguren existiert seit den Anfängen des musikalischen Dramas, und auch ein Komponist wie Wagner, welcher nicht immer zimperlich mit seinen Protagonisten verfahren ist (auch wenn sein dargestelltes Sterben hier in vielfacher Weise ein kompliziertes Erlösungskonzept bedient), kann nicht völlig authentisch den Moment des Todes mitgetragen haben. Der von Schumann gebrauchte Begriff der ‚Unanständigkeit‛ steht allerdings auch in einer etwas loseren Assoziationskette, welche sich in einer antisemitischen Betrachtungsweise ganz selbstverständlich entwickeln kann, sodass eine Verbin-

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dung zwischen einem „fatal mekkernden, unanständigen Rhythmus“ und „semitischen Accentuierungen“ (Wagner) erkennbar wird. Tatsächlich nämlich sind ‚jüdische Frivolität‛17 als auch das unvermeidlich zum Scheitern verurteilte Bemühen des Juden, sich eines Vorteiles wegen ‚anständig‛ zu verhalten,18 gemeinhin als etablierte Topoi in der antisemitischen Denkweise des 19. Jahrhunderts fest verankert. Wenn Wagner also die Hugenotten als Paradigma jüdischen Kulturschaffens bewertet, spielen die durch Schumann problematisierten Faktoren der Unanständigkeit gleichfalls hinein. Die abschließende Überlegung zur kritisierten Rhythmisierung der Hugenotten führt den Blick auf ein musikästhetisches Feld, auf welchem der Rahmen für an-/organische bzw. un-/reine rhythmische Gestaltung abgesteckt wird. Wenn zuvor der wiederholte Wechsel einer rhythmisch binären Taktgestaltung zu einer triolischen als eines jener Charakteristika herausgearbeitet werden konnte, welches bei Schumann vermutlich den Eindruck von Meckern und Unanständigkeit erweckt hat, berührt diese Feststellung eine keineswegs unerhebliche Spannungsproblematik, wie sie sich schließlich in der Arbeit Wagners manifestiert. Dort nämlich finden sich explizit jene Protagonisten durch eine triolische musikalische Einbettung definiert, welche Wagners Einstellung entsprechend als Projektionsfläche der Mangelhaftigkeit im weitesten Sinne dienen, darunter der Inauthentizität, der verschlagenen Falschheit19 und nicht zuletzt der ‚anorganischen Bewegtheit‛. Besonders anschaulich wird dieses Phänomen am Beispiel Alberichs im Ring des Nibelungen (Rheingold) beschrieben, dessen Bewegungen, mit denen er den Rheintöchtern geschickt hinterher klettert, von Wagner als koboldartig beschrieben werden (I. Aufzug Takt 231). Die wiederkehrenden Triolen, welche Alberichs Klettern untermalen, suggerieren inhomogenes, widernatürliches Vorwärtskommen:20 17

18

19

20

Schon 1711 schildert Johann Andreas Eisenmenger jüdische Männer und Frauen als gelöst von einer verbindlichen Sexualmoral und berichtet in seiner antijüdischen Schrift von promisken Praktiken jüdischer Bürger. Eisenmenger: Entdecktes Judenthum, Königsberg 1711, S. 431f. So lässt Carl Immermann seinen Wilhelm aus den Epigonen die entsprechenden Worte finden: „Jude bleibt Jude, und der Christ muss sich mit ihnen vorsehn, am meisten, wenn sie sich liebevoll anstellen. Sie sind allesammt freigelaßne Sclaven, kriechend, wenn sie etwas haben wollen, trotzig, wenn sie es erlangten, oder wenn sie merken, daß es nicht zu erlan gen steht.“ Immermann: Die Epigonen, Bd. 2, S. 344. Triolen scheinen für Wagner besonders dienlich für die Darstellung des Schlechten und Unehrlichen gewesen zu sein. So trägt beispielsweise Klingsor ( Parsifal), der in verschiedenen Betrachtungen als Variante des moralisch zweifelhaften Alberich erachtet wird, in seinem Sangesstil als wesentliches Charakteristikum die Triolen (II. Aufzug ab Takt 154), und auch Kundry wird in der gleichen Oper, wenn ihre Motive offensichtlich von moralischer Fragwürdigkeit genährt werden, triolisch gefasst (z.B. II. Aufzug, Takt 957ff.). Sofern man der Deutung dieser Triolen genug Freiraum lässt, verweist sie überdies auf die ‚Dreibeinigkeit‛ Ahasvers, der in verschiedenen Darstellungen seine ewige Wanderschaft mit Gehstock antritt. Die Diskussion um einen etwaigen ethischen Interpretationsansatz bei der

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(Wagner: Das Rheingold, I. Aufzug, Takt 235ff.)

Auch Alberich selbst steht hier für rhythmische Inhomogenität, die sich durch eine ‚Zerhackung‛ ergibt, welche vom Wechsel binär/tertiär, Syllabik, vom raschen Tempo und vom ruckhaften Innehalten lebt: (Wagner: Das Rheingold, I. Aufzug, Alberich: „Garstig glatter glitschriger Glimmer! Wie gleit ich aus!“)

hastig

Dass Alberich dabei in der mehrheitlichen Deutung als personifizierte Projektionsfläche jener Attribute gilt, welche Wagner als besonders ‚jüdisch‛ und als abzulehnen beschrieben hat,21 ergänzt das Gesamtbild nachhaltig. Vor allem die Zuschreibung der anorganischen Bewegtheit – sei sie personell gebunden oder als allgemeines kompositorisches Konzept zu verstehen – verbindet sich bequem mit antijüdischen Stereotypen der Neuzeit, welche die jüdische Physiognomie als unzulänglich beschreiben. Berücksichtigt man jene – einzeln für sich genommen kaum tragende – Details, fällt es leichter zu begreifen, wie sich Schumanns Kritik an Meyerbeers Rhythmisierung nahtlos in eine antisemitische Musikästhetik fügen konnte, was besonders nachhaltig bei Wagner geschehen ist, und warum es Wagner dementsprechend leicht fiel, den „ fatal mekkernden, unanständigen Rhythmus“ zu „semitischen Accentuationen“ zu entwickeln.

21

Frage nach dem Einsatz von Triolen gewinnt dabei an wirklicher Komplexität, wenn man den Bedeutungswandel der Dreiteiligkeit seit dem Mittelalter berücksichtigt: Immerhin galt das Verhältnis von 1:3 dank Trinitätsanalogie ursprünglich als perfectus und die seit dem 14. Jahrhundert mit der ars nova auftretende Mensur von 1:2 als imperfectus – im 19. Jahrhundert ist diese Vorgabe freilich längst jenseits aller Verbindlichkeit. Besonders nachhaltig ist hier Adornos Interpretation. Adorno: Die musikalischen Monographien: I Sozialcharakter in: Gesammelte Schriften Bd. 13, S. 21.

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12.2 Die Frage nach Epigonalität: 12.2.1 Ein feste Burg Neben Schumanns folgenschwerer Kritik an der rhythmischen Ausgestaltung der Oper markiert der Vorwurf der Epigonalität gegenüber Meyerbeer einen weiteren wesentlichen Kritikpunkt und verbindet antisemitisch intendierte Kritik mit einer solchen, die das Judentum unbeachtet lässt. Wie weiter oben herausgestellt, begeg nen in Bezug auf Meyerbeers Hugenotten bzw. der allgemeinen Stilistik des Komponisten verschiedene Zuschreibungen. So spricht zunächst Rellstab Meyerbeer Originalität ab,22 Schumann ergänzt diesen Vorwurf, indem er konkret die Komponisten (Rossini, Mozart u.a.) benennt, auf welche sich Meyerbeer nach Auffassung des Kritikers in seinem Schaffen bezieht, 23 Uhlig tritt hingegen als ein Meyerbeerkritiker in Erscheinung, welcher dem Komponisten Originalität zugesteht24 und Wagner formuliert in seinem Aufsatz schließlich die Behauptung, dass ein jüdischer Tonsetzer grundsätzlich keine andere Wahl habe, als epigonal zu komponieren. Im Zusammenhang mit seiner Analyse von Mendelssohns Kompositionstechnik versichert Wagner zudem, dass es die vermeintlich besonders fassbare Tonsprache Johann Sebastian Bachs sei, die den jüdischen Komponisten zur Nachahmung anrege25 – all diesen Behauptungen soll, wenigstens in Grundzügen, am Beispiel der Hugenotten nachgegangen werden. Wagners letztgenannte Behauptung, wonach ein jüdischer Komponist generell dazu neigen müsse, sich an der ‚formalen Sprache‛ Bachs zu orientieren, wird dabei als erster zu untersuchender Punkt aufgegriffen. Wo sich im Oratorienschaffen Mendelssohns mehr als fruchtbar darüber diskutieren lässt, inwiefern hier mögliche Einflüsse durch Bach erkenn- und/oder nachweisbar sind26 (ohne dass von einer Epigonalität die Rede sein muss), bietet eine 22

23 24 25

26

„[…] er bringt nichts hervor als eine Verzerrung, die dabei noch dazu oft nur recht flache, triviale Grundzüge hat.“ Rellstab in: Iris im Gebiete der Tonkunst, Berlin 1839, S. 162. Vgl. Kapitel 8, Fußnote 87. Vgl. Kapitel 8, Fußnote 114. „Bei diesem Verfahren ist es noch bezeichnend, daß der Komponist für seine ausdrucksunfähige moderne Sprache besonders unseren alten Meister Bach als nachzuahmendes Vorbild sich erwählte. Bach‛s musikalische Sprache bildete sich in der Periode unserer Musikgeschichte, in welcher die allgemeine musikalische Sprache eben noch nach der Fähigkeit individuelleren, sicheren Ausdruckes rang: das rein Formelle, Pedantische haftete noch so stark an ihr, daß ihr rein menschlicher Ausdruck bei Bach, durch die ungeheure Kraft sei nes Genie‛s eben erst zum Durchbruche kam. Die Sprache Bach‛s steht zur Sprache Mozart‛s und endlich Beethoven‛s in dem Verhältnisse, wie die ägyptische Sphinx zur griechischen Menschenstatue: wie die Sphinx mit dem menschlichen Gesichte aus dem Thierleibe erst noch herausstrebt, so strebt Bach‛s edler Menschenkopf aus der Perücke hervor.“ Richard Wagner: „Das Judenthum in der Musik“ in: NZfM ,Bd. 33, S. 109. Vgl. dazu auch August Reissmann: Felix Mendelssohn-Bartholdy: Sein Leben und seine Werke, Berlin 1867, S. 114.

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mögliche Übertragung dieses Phänomens auf Meyerbeers Hugenotten und nicht etwa auf die geistlichen Werke des Komponisten prima vista keinerlei Anknüpfungspunkte. Jedoch gerade vor dem Hintergrund unterstellter Epigonalität ist es das musikalische Leitthema der Oper, welches ein Ausklammern von Bach letztlich nicht gestattet: der lutherische Choral Ein feste Burg ist unser Gott, welcher bei Bach durch die gleichnamige Kantate (BWV 80) besondere Beachtung gefunden hat.27 Selbstverständlich muss bei der Frage nach einem möglichen Einfluss durch Bach berücksichtigt werden, dass nicht nachgewiesen ist, wie umfangreich Meyerbeers Kenntnis vom Bach-Werk war, welches zur Entstehungszeit der Hugenotten mit keiner solch großen Selbstverständlichkeit rezipiert wurde, wie es schon 20 Jahre später der Fall war. Andererseits kann die Übereinstimmung in der rhythmischen Interpretation beider Fassungen als kein unerhebliches Indiz für eine Bekanntschaft von Meyerbeer mit Bachs entsprechendem Choral aufgefasst werden. Denn dass sich Meyerbeer bei der Bearbeitung ‚seiner‛ festen Burg nicht direkt an Luthers Fassung orientiert hat, beweist die (im 19. Jahrhundert übliche) Mensurierung des Chorals, welche sich genau mit Bachs deckt. Eine Bekanntschaft mit Bachs Fassung des cantus firmus ist deshalb leicht unterstellbar, auch, weil verschiedene Biographen eine umfangreiche Kenntnis von Bachs Werk nahelegen.28 Letztlich spricht außerdem das kleine Ganzton-Melisma auf Burg im ersten Stollen für eine Bekanntschaft mit der Bach‛schen Setzung, da sie weder in der früheren noch in der späteren Lutherfassung zu finden ist. Meyerbeers erste harmonische Einbettung dieses cantus firmus vollzieht sich bereits mit den ersten Klängen der Oper; die Ouvertüre beginnt mit einem Satz des Chorals, der von Bläsern getragen wird. Im späteren Verlauf der Oper ertönt das Leitthema wiederholt mit wechselnder textlicher Unterlegung, vor allem im Kontext mit dem protestantischen Fundamentalisten Marcel, dem Diener Raouls. Schumann hat in seiner Hugenotten-Kritik durchaus Anspruch auf den protestan-

27

28

Dass Meyerbeer den lutherischen, aber mensurierten Choral gewählt hat, um eine protestantische Innerlichkeit im Frankreich des späten 16. Jahrhunderts darzustellen, ist zwar anachronistisch, kann aber andererseits als Bekenntnis zur heimatlichen Prägung gedeutet werden: Meyerbeer nutzt den außerordentlich ‚deutschen‛ Choral sicherlich nicht absichtslos ‚falsch‛ im entsprechenden Kontext, innerhalb dessen die Verarbeitung einer Choralmelodie von Mattheus Greiter („Es sind doch selig alle die“), welche während der Hugenottenzeit nach Frankreich kam, insofern weit angemessener gewesen wäre, als sie sich mit der Unterlegung von Théodore de Bèzes Text („Que Dieu se montre seulement“) zum bekanntesten Trutzlied der Hugenotten etablieren konnte. Vgl. z.B. Hermann Mendel: Giacomo Meyerbeer, S. 112f.; Jean Schucht zitiert Meyerbeer sogar wie folgt: „Bach und Händel [repräsentiren] mir das Luthertum mit seiner Verstandes richtung in Glaubenssachen.“ In: Meyerbeer‛s Leben, S. 377.

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tischen Choral erhoben29 und impliziert damit eine Unrechtmäßigkeit Meyerbeers, die sich durch dessen Be- und Verarbeitung des Chorals ergibt: Ich bin kein Moralist; aber einen guten Protestanten empört's, sein theuerstes Lied auf den Bretern abgeschrieen zu hören […].30

Schumann kritisiert hier freilich in erster Linie die Skrupellosigkeit Meyerbeers, den Inhalt des Chorals für die eigene, vermeintlich durchweg profane Sache nutzbar zu machen. Der Vorwurf an Meyerbeer, das musikalische Sujet des Chorals für eigene Zwecke zu ‚missbrauchen‛, es also zu ‚stehlen‛, verbindet sich dabei eng mit einer Epigonalitätskritik, wodurch die Frage nach dem dazu notwendigen Raub, den der Nichtprotestant Meyerbeer dabei unterstellterweise an der protestantischen Christenheit begeht, hinsichtlich eines ebenfalls musikalischen Diebstahls auf mehreren Ebenen untersucht werden muss. Zunächst ist der – am ehesten zu beantwortenden – Frage nachzugehen, ob im Umgang mit dem Choral von einer kompositorischen Epigonalität im engeren Sinne gesprochen werden kann, wie von Wagner suggeriert, wenn er dem jüdischen Tonsetzer die Übernahme der Bach‛schen Tonsprache anlastet. Dabei müssen zwei Elemente berücksichtigt werden: a) die Melodie b) die Harmonie Zu a) lässt sich ohne große Anstrengung die Antwort finden: Die Melodie wurde nahezu unverändert übernommen, sie wurde bei Meyerbeer lediglich in eine andere Tonart gesetzt (Bach: D-Dur, Meyerbeer: Es-Dur) und die Tondauern wurden verdoppelt. Trotzdem/deswegen kann nicht von Epigonalität gesprochen werden. Hier muss das Motiv berücksichtigt werden – Meyerbeer suchte nicht nach einer besonders eingängigen Melodie, um sie für eigene Zwecke jenseits ihrer Ursprungsbedeutung zu nutzen, sondern verwendet den Choral als Gesamtheit. Der lutherische Choral steht hier wie dort für den lutherischen Glauben, der Ruf nach der festen Burg, der sich unter anderem mit dem protestantischen Kampfgeist während der Bauernkriege verbindet, gilt auch bei Meyerbeer als protestantischer Ruf nach Stärke, als Hoffnung auf Sieg über die Katholiken. Gleiches gilt für die 29

30

Was natürlich bei einer genaueren Betrachtung nicht als völlig legitim gelten kann: Die Au torschaft des Chorals wird zwar Luther zugeschrieben (wobei allerdings nur der Text mit Si cherheit aus der Feder des Reformators stammt, der Ursprung der Melodie ist nicht eindeutig geklärt), jener wiederum stützte sich dabei auf den alttestamentlichen Psalm 46 („ […]Gott ist unsre Zuversicht und Stärke. Eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. […]“) Wenn Meyerbeer als Jude also die Melodie eines Chorals verwendet, den ein Protestant verfasst hat, welcher sich dabei durch jüdisches Kulturschaffen inspirieren ließ, kann nicht ohne Weiteres von einem eindeutigen „Besitzstand“ gesprochen werden. Robert Schumann: „Fragmente aus Leipzig“, in: NZfM, (Hrsg. Robert Schumann), Bd. 7, S. 73.

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Marseillaise, die der Komponist, wenigstens in Teilen, als thematischen Antipoden zum Choral (und damit ebenso anachronistisch) in seinen Hugenotten verwendet. Wollte man hier von Epigonaliät sprechen, müsste beispielsweise Tschaikowskis 1812 Ouvertüre aus gleichem Grund als epigonal gelten, Humperdincks Hänsel und Gretel wäre aufgrund der hohen Dichte bekannter Kinderlieder noch größerer Kritik ausgesetzt, und streng genommen müsste demnach auch das gesamte barocke Parodieverfahren, wie es u.a. bei Bach oder Händel begegnet, als epigonal und inoriginell überschrieben werden. Und um in der Konkretheit sakraler Elemente in größeren Werken zu bleiben: Besieht man sich beispielsweise den Lebenslauf des Dresdner Amen, müssten einige der größten Komponisten des 19. Jahrhunderts als Epigonen etikettiert werden, zumal es in seinen Übernahmen nie auf die Melodie beschränkt wurde, weil die charakteristische Harmonik zentral ist. Neben den jüdischen Komponisten Mendelssohn und Mahler, die dem Dresdner Amen auf jeweils unterschiedliche Weise in ihrem Schaffen Tribut gezollt haben, hat Bruckner die Wendung in seiner 9. Sinfonie thematisiert, und kein anderer als Wagner hat sie sogar besonders intensiv als Heiligstes in seinem Heiligsten verwendet: als das Gralsmotiv im Parsifal. Die Aufzählung ähnlicher Beispiele ließe sich beliebig fortführen. Was nun also die direkte Übernahme einer Melodie mitsamt ihres Ursprungskontextes betrifft, lässt sich unter Bezugnahme auf den ersten Teil der Arbeit ohne weitere Erklärungsnöte der Vorwurf der Epigonalität ausschließen: Meyerbeer hat keinen geistigen Raub an Bach (oder Luther) begangen. Als durchaus erhellende Nebenbemerkung soll an dieser Stelle darüber hinaus Meyerbeer selbst zitiert werden, der die Verwendung des Chorals als sehr aufrichtigen Versuch – und nur als solchen – deutet, der Innerlichkeit des Protestantismus zu entsprechen und seinen Einfall vor dem Hintergrund von Schumanns Kritik verteidigt: Freilich, wenn der Choral zur Opernarie gemacht würde (wie der Verfasser dieses Aufsatzes sagt), so wäre das wirklich ein Skandal. Allein wenn grade im Gegenteil dieser Choral als Gegensatz der weltlichen Musik stets streng und kirchlich behandelt ist, wenn er als Anklang aus einer bessern Welt, als Symbol des Glaubens u. Hoffens immer nur als Anrufung bei drohender Gefahr oder in den Momenten der höchsten Erregung ertönt und sich in einzelnen Anklängen zwar durch das ganze Stück zieht, aber immer nur im Munde derjenigen Person (der Diener Marcel), welche als Repräsentant eines einfachen, aber unerschütterlichen frommen Glaubens, ja als Märtyrer gezeichnet ist, so ist, dünkt mich, eine solche Behandlung eher Heiligung als Entweihung eines Kirchengesanges zu nennen. 31

Die stilistische Einbettung des Chorals seit seinem ersten Erklingen in der Ouvertüre, welche im weiteren Verlauf einen der Ansatzpunkte für die Frage nach Eklektizismus bilden wird, ist in ihrer barocken Anlehnung also durchaus absichtsvoll 31

Heinz und Gudrun Becker: Giacomo Meyerbeer. Ein Leben in Briefen, 1983 Wilhelmshaven, S 114f.

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vollzogen worden, um einer Authentizität zu entsprechen, welche Musik und Inhalt im Sinne Meyerbeers stimmig miteinander verschränkt. Was b) angeht, ist die Frage nach einem möglichen Epigonalismus noch leichter zu klären. Bachs bekanntester Satz des Chorals lässt sich der gleichnamigen Kantate (Abschlusschoral, die erste Textzeile lautet hier: „Das Wort sie sollen lassen stahn“) entnehmen und leicht in ein funktionales Verhältnis mit Meyerbeers Satz aus dem Ouvertürenbeginn bringen. Dabei genügt es schon, den ersten Teil des Stollens zu analysieren:

Bach:

T

S3

T

T3

Meyerbeer: T

Tp

S

T

D75

T

DD5 D

Tp

S

D

DD

D

DD

D

Berücksichtigt man, dass durch die Melodievorgabe bestimmte Funktionen nahezu unausweichlich stehen (z.B. zu Beginn Tonika zum Grundton, Doppeldominante hinführend zur Quinte der Dominante), erhält man eine eher geringe Schnittmenge analoger Funktionszuweisungen, zumal Meyerbeer im weiteren Verlauf u.a. mediantische Klänge (wie durch Dominantparallelvarianten) in die Harmonisierung des Chorals mischt, was für die Bach‛sche Setzung noch längst nicht zeitgemäß war. Eine Epigonalität ist also auch in der Frage nach der Harmonisierung auszuschließen: Meyerbeers Satz ist auf seine Weise ebenso authentisch wie Bachs und bezieht sich weder konkret auf den alten Meister noch ahmt er allgemein eine barocke harmonische Verkettung nach. Auffällig ist allein, dass insofern von einer Analogie in der Setzung des cantus firmus die Rede sein kann, als sich Meyerbeer bewusst auf einen traditionellen mehrstimmigen Vokalsatz bezieht, was für eine Opernouvertüre nicht gerade typisch ist.32 Der durch die choraliter gehaltene Einbettung vollzogene Bezug auf den Ursprung der Melodie kann dabei durchaus als anachronistisch empfunden werden, 33 was ohne Umschweife zum 32

33

Ausgerechnet Wagners Tannhäuserouvertüre jedoch weist als Pilgerchorzitat eine ähnlich choraliter gehaltene und durch Bläser instrumentierte Introduktion auf und dürfte damit als eines der bekanntesten Werke gelten, welches einen analogen Beginn zur Hugenotten-Ouvertüre vorstellt. Meyerbeer verwendet die choraliter gehaltenen Passagen dabei jedoch in enger Verknüpfung mit der inhaltlichen Ebene der Oper: Insbesondere die Figur des protestantisch-fundamentalistischen Marcels stimmt wiederholt den cantus firmus des Chorals an, und der ‚überholte‛ und ‚entwicklungsresistente‛ Stil parallelisiert die Weigerung Marcels, sich anderen religi-

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nächsten Punkt führt: zur Frage nämlich, ob eine stilistische Breite als epigonal zu bewerten ist.

12.2.2 Epigonalität durch Eklektizismus Nachdem Wagners Pauschalbehauptung, dass Bachs Tonsprache einen jüdischen Komponisten zur Nachahmung anrege, im Fall der Hugenotten widerlegt wurde, bleibt ein weiterer untersuchbarer Aspekt des Epigonalitätsvorwurfes. Wenn Schumann unterstellt, dass sich in den Hugenotten die gesamte Musik, nachweisen ließe, dabei jedoch keine entsprechenden Stellen benennt, bleibt wieder einmal kaum mehr Raum als für Spekulationen, denen an dieser Stelle deshalb stattgegeben werden kann, weil eine Konkretion auf Seite A eine ebensolche auf Seite B erfordert und damit bis zu einem gewissen Grad objektivierbar wird. Nicht nur Schumann kritisiert explizit eine unterstellte Epigonalität im Sinne eines Eklektizismus im Schaffen Meyerbeers, Wagner formuliert in seinem Aufsatz implizit den gleichen Vorwurf gegenüber dem Pariser Opernkomponisten, wenn er behauptet: Wie in diesem Jargon [Jiddisch] mit wunderlicher Ausdruckslosigkeit Worte und Konstruktionen durch einander geworfen werden, so wirft der jüdische Musiker auch die verschiedenen Formen und Stylarten aller Meister und Zeiten durch einander. Dicht neben einander treffen wir da im buntesten Chaos die formellen Eigenthümlichkeiten aller Schulen angehäuft.34

Noch deutlicher beschreibt Wagner seine Aversion durch seinen Eindruck von den Hugenotten in Oper und Drama: Meyerbeer wollte dagegen ein ungeheuer buntscheckiges, historisch-romantisches, teuflisch-religiöses, bigott- wollüstiges, frivol-heiliges, geheimnißvoll-freches, sentimental-gaunerisches dramatisches Allerlei haben, um an ihm erst Stoff zum Auffinden einer ungeheuer kuriosen Musik zu gewinnen, - was ihm wegen des unbesieglichen Leders seines eigentlichen musikalischen Naturells wiederum nie wirklich recht gelingen wollte. Er fühlte, daß aus all' dem aufgespeicherten Vorrathe musikalischer Effektmittel etwas noch gar nicht Dagewesenes zu Stande zu bringen war, wenn er, aus allen Winkeln zusammengekehrt, auf einen Haufen in krauser Verwirrung geschichtet, mit theatralischem Pulver und Kolophonium versetzt, und nun mit ungeheurem Knall in die Luft gesprengt würde. […] Nichts war ihm daher wichtiger, als wirre Buntheit und buntes Durcheinander, und der lustige Scribe mußte blutschwitzend ihm den dramatischen Wirrwarr auf das Allerberechnetste zusammenstellen, vor dem nun der Musiker mit kaltblütiger Sorge stand, ruhig überlegend, auf welches Stück Unnatur irgend ein Fetzen aus seiner musikalischen Vorrathskammer so auffallend

34

ösen Strömungen zu öffnen und eine persönliche Weiterentwicklung zuzulassen. Insofern dient der vermeintliche musikalische Anachronismus dem Handlungskontext, andererseits ergibt sich diese sinnstiftende Deutung erst mit dem Einbezug der sprachlichen Ebene. Richard Wagner: „Das Judenthum in der Musik“, in: NZfM, Bd. 33, S. 106.

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und schreiend wie möglich passen dürfte, um ganz ungemein seltsam und daher - „charakteristisch“ - zu erscheinen.35

Wagners Kritik lässt sich auf drei Schlagwörter reduzieren: Eklektizismus, (absichtsvoller) Effekt und die daraus folgende „ Unnatur“ (wobei das in Anführungszeichen gehaltene Prädikat charakteristisch synonym zur „Unnatur“ im Sinne von mangelnder und deswegen vorgegaukelter Originalität verstanden werden muss). Der so bezeichneten „Unnatur“ muss vor dem Hintergrund einer Antisemitismusdiskussion mit besonderer Aufmerksamkeit begegnet werden – dem wurde im Laufe der Untersuchung bereits mehrfach entsprochen. An dieser Stelle soll deshalb zunächst der vorgeworfene Eklektizismus und im Anschluss die unterstellte Effekthaftigkeit konkret überprüft werden. Bezüglich Meyerbeers Eklektizismus behauptet Wagner 1843 bekanntlich: […]etwas wirklich Gegebenes kann doch aber nicht „Meyerbeerisch“ sein, da in diesem Sin ne Meyerbeer ja selbst nicht Meyerbeerisch, sondern Rossinisch, Bellinisch, Auberisch Spontinisch ETC. ETC. ist.36,

was gleichermaßen als unterstellte Epigonalität sowohl im konkreten als auch im stilistisch-eklektizistischen Sinne interpretierbar ist.37 Besonders aufschlussreich aber ist im Zusammenhang mit dem durch Wagner und andere Kritiker vorgeworfenen Eklektizismus der positiv beurteilte Eklektizismus, wie er sich in Wagners früher und unveröffentlichter Hugenotten-Kritik finden lässt. Die absolute Gegensätzlichkeit in der Beurteilung des jeweils gleichen Phänomens stützt den unter Exkurs II formulierten Vorschlag insofern, als sich eine Be- und Entwertung des Eklektizismus selbst für direkt Involvierte als keine konstante Angelegenheit und abhängig von deren persönlicher Lebenssituation (im weiteren Sinne auch von deren politischer Einstellung) erweist. So kommen35 36 37

Richard Wagner: Oper und Drama, in: SSuD, Bd. 3, S. 300f. Wagner: SB, Bd. 2, S. 222. Notwendig verliert die Behauptung Wagners, dass Meyerbeers Stil in erster Linie dem Stile Rossinis ähnele, nicht wenig Glaubwürdigkeit, wenn man sich verdeutlicht, dass Wagner auch Rossini einen ‚wahren‛ Stil abgesprochen und den Komponisten als ebenso nachahmend beschrieben hat wie Meyerbeer, obwohl Wagners Wertschätzung von Rossini grundsätzlich nicht gering war: „Der diesem Dufte nun, unnatürlich wie er war, wieder einen Körper gab, der, nachgemacht wie er war, doch wenigstens so täuschend wie möglich jenen natürlichen Leib nachahmte, der einst diesen Duft aus seiner natürlichen Fülle, als den Geist seines Wesens, in die Lüfte aussandte; der ungemein geschickte Verfertiger künstlicher Blumen, die er aus Sammt und Seide formte, mit täuschenden Farben bemalte, und deren trockenen Kelch er mit jenem Parfümsubstrate netzte, daß es aus ihm zu duften begann, wie fast aus einer wirklichen Blume; - dieser große Künstler war Joachimo Rossini.“ In: Oper und Drama in: SSuD, Bd. 3, S. 250.

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Die Hugenotten als Authentizitätsindikator

tiert Wagner Meyerbeers Eklektizismus im Artikel, der später von Julius Kapp mit „Über Meyerbeer‛s Hugenotten“ überschrieben wurde: Betrachten wir die Erscheinung Meyerbeer's, so werden wir so wohl ihrer Tendenz als zumal auch ihren äußeren Zügen nach unwillkürlich an Händel und Gluck erinnert und selbst ein wesentlicher Theil in der Richtung und Bildung Mozart's scheint sich hier wiederholt zu haben. Vor allen Dingen ist nie aus dem Auge zu verlieren, daß jene Deutsche waren, wie dieser es ist; denn in jenem elenden, denationalisirten Zustande Deutschlands ist zumal der Grund der äußeren Schicksale, Verhältnisse, Züge jener Kunsterscheinungen zu finden, die mit ihrer inneren Bedeutung so sehr zusammenhingen. 38

Und tatsächlich erinnern einige Meyerbeer‛sche Wendungen unter anderem an Mozarts Stilistik, was aber nur deswegen besonders auffällt, weil sie als Einzelphänomene aufblitzen – was letztlich wiederum bedeutet, dass von einem konkreten und stilistisch festgelegten epigonalen Gedanken keine Rede sein kann. Beispielsweise lässt Meyerbeer im zweiten Akt die Begleitung des Chors der badenden Frauen eine Wendung nutzen, welche, vor allem im Zusammenhang mit der weichen Instrumentierung (hohes Holz, Streicher) deutlich in Richtung Mozart verweist – es folgt die Zusammenfassung ohne Streicher-Sechzehntel, welche die Kadenz lautmalerisch mit Wellenbewegungen unterlegen: (Meyerbeer: Die Hugenotten, Akt II)

Diese in der Dreistimmigkeit gehaltene Wendung entspricht durchaus der Stilistik Mozarts, der sie unter anderem in seiner c-Moll Messe verwendet, wenn auch im entgegengesetzten Tongeschlecht: (Mozart: c-Moll Messe KV 427 – „Quoniam tu solus“ (Gloria))

Jene Analogie soll eine partielle stilistische Ähnlichkeit verdeutlichen, welche keineswegs als beabsichtigtes Zitat steht. Noch vagere, aber wahrnehmbare Assoziationen mit Mozarts Stilistik ergeben sich beispielsweise auch im vierten Akt während der Schwurszene – wenn Chor und Solisten im rhythmischen Unisono zu einem 38

Richard Wagner: SSuD, Bd. 12, S. 22.

Die Hugenotten als Authentizitätsindikator

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getragenen und gewaltigen Fortissimo ansteigen, ist es kein weiter Weg zu Mozarts Rex tremendae. Überhaupt durchzieht die gesamte Oper eine Geste der Wiener Klassik, ohne dass sie dominiert – und eben dadurch besondere Präsenz erlangt. Selbst die Instrumentierung weist mitunter deutliche Einflüsse durch jene Stilrichtung auf, beispielsweise wenn hohes Holz (hier die Oboe) auf ganz typische Weise die Kadenzentwicklung antizipiert: (Meyerbeer: Die Hugenotten – Akt IV, Schwur und Schwerterweihe) Ob.

Wie die weiter oben angeführten Zitate steht dieses keineswegs für eine reine Nachahmung bestimmter Melodiefragmente und/oder Harmonisierungen, sondern ist vielmehr den Einflüssen der Wiener Klassik und der italienischen Opernschule zuzuschreiben, welche sich im Werk Meyerbeers niederschlagen, vor allem aber dürfte Meyerbeers ungebrochene Bewunderung für Mozart einen wesentlichen Aspekt jener stilistischen Nähe bilden (was, wie im ersten Teil der Arbeit bereits dargelegt, durch seinen Hommagecharakter eine eigene Form der Authentizität birgt). Wenn Schumann also Mozart als konkretes ‚Opfer der Meyerbeer‛schen Epigonalität‛ anführt, erfüllt der Wiener Komponist dabei nicht viel mehr als eine Stellvertreterfunktion für dessen zeitgenössische Musikepoche. Wie außerdem bereits festgestellt wurde, ziehen jene Passagen gerade deshalb besondere Aufmerksamkeit auf sich, weil sie in den Hugenotten mit einem Gesamtgefüge verwoben sind, welches ganz und gar nicht als stilistisches Beispiel der Wiener Klassik gelten kann. Die Frage nach dem ‚eigentlichen‛ Kompositionsstil in den Hungenotten wird dadurch nicht gerade erhellt – bzw. andererseits durchaus konkretisiert: Das Aufeinandertreffen verschiedener Kompositionstechniken ist in Meyerbeers Schaffen leicht zu beobachten und korreliert vermutlich mit Schumanns Vorwurf, in den Hugenotten sei die gesamte Musikgeschichte nachweisbar. So ist die saubere Ausführung eines barocken Kontrapunktes in der Oper keine Seltenheit, bereits in der Ouvertüre erklingt in der Setzung des cantus firmus die erste Polyphonie: (Meyerbeer: Die Hugenotten – Ouvertüre, Ausschnitt)

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Die Hugenotten als Authentizitätsindikator

Natürlich stehen die polyphonen Klänge hier für keinen vielschichtigen Kontrapunkt und weisen allenfalls zaghaft in Richtung einer Dreistimmigkeit – Meyerbeer deutet vielmehr eine barocke Kompositionsstilistik an, als dass er sie nachhaltig ausschöpft.39 Wie die Gesten der Wiener Klassik bilden die kontrapunktischen Beimischungen in den Hugenotten keine übergeordnete Stilistik, sondern erklingen als Einzelphänomene, was abermals ihre Eindrücklichkeit unterstreicht. Im Finale des ersten Aktes schimmert sogar ein Fugato durch, welches durch seine stilistische Auffälligkeit einen ausdrücklich barocken Geist transportiert: (Meyerbeer: Die Hugenotten – Finale Akt I, Solostimmen/Männer)

Bei genauerer Betrachtung des Fugatos verdeutlicht sich die Absicht des Komponisten, eine stilistische Facette einzubringen, ohne die Form der Fuge als solche durchexerzieren zu wollen: Von einer klassischen Dux/Comes-Form (GrundstufeOberquinte/Unterquarte etc.) kann keine Rede sein, vielmehr wird das Thema zunächst auf der gleichen Stufe wiederholt, ehe es in der 3. Stimme um eine kleine Terz und in der 4. Stimme um eine große Terz nach oben gerückt wird. Die Ver39

Was Schumann wiederum nicht unkommentiert gelassen hat: „Was nun jenen eingeflochtenen Choral anlangt, worüber die Franzosen außer sich sind, so gesteh‛ ich, brächte mir ein Schüler einen solchen Contrapunct, ich würde ihn höchstens bitten, er möcht‛ es nicht schlechter machen künftighin.“ Robert Schumann: „Fragmente aus Leipzig“, in: NZfM, (Hrsg. Robert Schumann), Bd. 7, S. 74.

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nachlässigung der strengen Form dient hier dem Effekt einer deutlichen Steigerung und ist sicher nicht mangelnder Kompositionskompetenz geschuldet, sondern verbindet absichtsvoll die barocke Geste mit der zunehmenden Eindringlichkeit der Musik, zumal die längere Pause, die ihr vorausgeht, als auch der stilistische Wechsel als solcher dem Versuch eines besonderen Aufmerksamkeitseffekts geschuldet sind. Dieser stilistische Ausbruch zu einem gewissen Eklektizismus hin ist damit auf seine Weise durchaus als einfallsreich zu bezeichnen, zumal die musikalische Steigerung ihre Klimax in einem homophonen Fortissimo findet, welches jenseits einer barocken Harmonik einzuordnen ist: (Meyerbeer: Die Hugenotten – Finale Akt I, Singstimmen)

s6 D T Die Kontrastierung eines Quasi-Fugatos durch eine stilistisch stark divergierende und modulierende Kadenz (wo allein die hinführende Subdominantenfunktion nicht als einfache Subdominante zu fassen ist, sondern durch die – trotz Dur-Tonika – kleine Terz und eine die Quinte ersetzende Sexte sehr nachdrücklich den Eindruck eines Neapolitaners als Bestandteil einer Dur-Kadenz vermittelt) markiert genau das, was sich durchaus als ‚Meyerbeer‛sch‛ bezeichnen ließe, und kann vor dem Hintergrund der im ersten Teil geführten Diskussion um Originalität und Authentizität als originell überschrieben werden. Dass das Erklingen polyphoner Figuren in einer frühromantischen oder jüngeren Oper eine besondere Wirkungsmacht ihr eigen nennen kann, verdankt sich dabei der stilistischen Erwartungswidrigkeit und wird als Phänomen ganz bewusst eingesetzt – nicht nur bei Meyerbeer, geschweige denn ausschließlich im jüdischen Kunstschaffen findet es seine Anwendung, wie weiter unten herausgearbeitet werden wird. Wenn also von einer Stilkritik die Rede ist, welche Epigonalität bzw. Eklektik vorwirft, muss der umgekehrte Blick auf den Kritiker gleichfalls gestattet sein. So lässt sich der Tatbestand der stilistischen Eklektik gleichfalls und umstandslos bei Wagner attestieren, welcher mit seinem Postulat der formelfreien, ‚organischen Melodie‛40 in seiner Musiktheorie in gegenteilige Richtung weist, 40

„Der Musiker, der, sowie er in diese Form eintrat, nicht mehr erfinden, sondern nur noch variiren konnte, war somit von vornherein jedes Vermögens zur organischen Erzeugung der Melodie beraubt; denn die wahre Melodie ist, wie wir sahen, selbst Äußerung eines inneren Organismus; sie muß daher, wenn sie organisch entstanden sein soll, gerade eben auch ihre Form sich selbst gestalten, und zwar eine Form, wie sie ihrem inneren Wesen zur bestimmtesten Mittheilung entsprach. Die Melodie, die hingegen aus der Form konstruirt wurde, konnte nie etwas Anderes, als Nachahmung derjenigen Melodie sein, die sich eben in jener Form ursprünglich aussprach.“ Wagner in: Oper und Drama in: SSuD, Bd. 3, S. 314.

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wenn er Kontrapunkt und Polyphonie in sein Opernschaffen einbezieht – hier interessieren vor allem das in Bezug auf Meyerbeer zeitnähere Werk. Die bekannte Prügelfuge aus den Meistersingern, deren polyphone Form als inhaltliches Ausdrucksmittel des allgemeinen Chaos steht, oder auch das in der gleichen Oper beheimatete Quintett („Selig wie die Sonne“), dessen Gleichwertigkeit der beteiligten Stimmen handwerklich absolut überzeugend mit Wagners romantischer und breiter Harmonik verknüpft wird, sind mit ihrer Entstehungszeit für den Zweck eines stilistischen Vergleiches etwas zu weit von Karl Freigedank entfernt, welcher kriti siert, dass Meyerbeer aufgrund seiner Religionszugehörigkeit zwangsläufig „die verschiedenen Formen und Stylarten aller Meister und Zeiten durch einander“ 41 werfe. Im Tannhäuser jedoch, welcher in seiner ersten Fassung noch einige Jahre vor Wagners Aufsatz in Dresden entstand, nutzt Wagner Polyphonie in Reinform. 42 Als Tannhäuser von Wolfram, Walter, Biterol und anderen mit dem Chor der Ritter die Aufforderung und Erlaubnis erhält, nach Rom zu pilgern, setzen die Streichinstrumente einen Kontrapunkt zu dem gesungenen Nebeneinander von cantus firmus und autonomen Stimmen: (Wagner: Tannhäuser – II. Aufzug „Mit ihnen sollst du wallen“)

41 42

Richard Wagner: „Das Judenthum in der Musik“, in: NZfM, Bd. 33, S. 106. Dabei setzt Wagner nicht wenig auf die eigene Fähigkeit und spricht in einem Brief an den Freund Uhlig (12. Oktober 1852) von seinem eigenen „erstaunlichen Talent für Polyphonie“. Richard Wagner: SB, Bd. 5, S. 73-74.

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Die hier genutzte Polyphonie dient einem außermusikalischen Inhalt, und sicherlich müssen verschiedene Faktoren – wie die Darstellung einer anstehenden Wanderschaft mit ungewissem Ausgang, der enge Bezug zu katholischer Sakralität usw. - für einen Interpretationsansatz berücksichtigt werden, wenn man Wagners stilistischen ‚Ausbruch‛ hier als beispielhaft anführt. Der Tatbestand jedoch bleibt als solcher: Auch in Wagners Werken besteht ein Stilpluralismus, welcher freilich die Unterschrift des Komponisten trägt. In einem solch komplexen Werk wie einer Oper ist stilistischer Abwechslungsreichtum allerdings keine Besonderheit, und auch in anderen Genrebeispielen wird man in Bezug auf Polyphonie fündig. Besonders populär ist hierfür beispielshalber der Auftritt der Geharnischten aus Mozarts Zauberflöte, welcher – im Gesamtkontext stilistisch eher untypisch – ebenfalls kontrapunktisch gehalten ist: (Mozart: Die Zauberflöte – Auftritt der Geharnischten, Streicher)

(usw.) Natürlich verbinden sich hier zwei zu berücksichtigende Umstände: Erstens nutzt Mozart die Polyphonie quasi-programmatisch, indem er damit der Sakralität der Situation entspricht und ein Klangbild von Traditionalität beschwört und zweitens ist die Einflechtung polyphoner Elemente in größere musikalische Werke jenseits der Kirchenmusik, wo sich der Bezug zum Christentum bis heute ganz selbstverständlich unter anderem mit einer kontrapunktischen Kompositionspraxis verbindet, seit dem galanten Stil durchaus als Pflichtübung zu verstehen, die das kompositorische Handwerksgeschick belegt. Insbesondere der zweite Punkt beansprucht bis in die Moderne hinein ungebrochene Berücksichtigung bei musikalischen Betrachtungen. Zusammenfassend lassen sich Die Hugenotten tatsächlich als beispielhaft für eine kompositorische stilistische Breite begreifen, allein die Ouvertüre gewährt einen vielsagenden Einblick in die Strömungen, die sich in der Oper verbinden: Neben den choraliter gehaltenen Einschüben erklingt gleichermaßen der galante

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Stil, Polyphonie wird ebenso angedeutet wie nicht zuletzt das typisch schwungvolle und beckendominierte Fortissimo in dem Nebeneinander von italienischen Operneffekten und der französischen Grand opéra im Stile einer Stretta. Leicht lässt sich dieses Nebeneinander dann als Eklektizismus beschreiben, wenn man, wie im Exkurs II vorgeschlagen, eine mögliche bewertende Konnotation mit jener Überschreibung exkludiert.43

12.2.3 Meyerbeers Eklektizismus als Zuschreibung von ‚jüdischer Uneigentlichkeit‛ Abschließend bleibt die Frage nach der besonders nachdrücklichen Zuschreibung des Eklektizismus bei Meyerbeer insofern offen, als sich, wie bereits dargelegt, das Phänomen einer gewissen stilistischen Breite insbesondere im Opernschaffen des späten 18. bzw. des 19. Jahrhunderts nicht einzig auf Meyerbeers Schaffen begrenzen lässt. Zu beantworten wäre sie demnach am ehesten mit dem Hinweis auf die, mangels besserer Umschreibung, Intensität des Eklektizismus, was unglücklicherweise die Schwelle zum subjektiven Eindruck überschreitet. Immerhin lässt sich nur dann der Eindruck von Epigonalität und Eklektizismus empfinden, wenn beim Rezipienten eine gewisse Werk- (Epigonalität) bzw. allgemeine stilistische Kenntnis (Eklektizismus) vorliegt, wobei der Eklektizismus dabei sehr viel leichter konstatiert werden kann als konkrete Epigonalität. Wenn also die durch verschiedene Autoren aufgestellte Behauptung im Raum steht, dass Meyerbeer in besonderem Maße eklektisch komponiert hat, sollte dies nicht kurzerhand seine Verurteilung als simple Aversion, als antithetische Geschmacksäußerung oder gar als Antisemitismus finden, sondern zunächst – und zwar ohne den Einbezug möglicher 43

Dass diese eklektizistische Technik, namentlich in der Ouvertüre, allerdings sehr negativ kritisiert wurde, lässt sich am Beispiel des Heimatdichters Anton Wilhelm Florentin von Zuccalmaglio („Kein schöner Land“) darstellen, welcher unter dem Pseudonym des Dorfküsters Gottschalk Wedel nur wenige Tage nach Schumanns Hugenotten-Kritik gleichfalls in der NZfM zur Sache publizierte (was in Anbetracht der fast analogen Abwertung und der winzigen Zugeständnisse wohl über den bloßen Motivverdacht hinausgeht, den Freund Schumann in der Sache zu sekundieren): „[…] wir haben abgerissene, aneinander geleimte Gedanken nur, die den Namen Ouverture ewig nicht verdienen, wir haben ein Eröffnungsgeräusch, wie‛s die alten italienischen Meister setzen mußten, um durch irgend einen Lärm den Pöbel zum Schweigen zu bringen […].“ Durchaus als Anspielung auf Schumanns Kritik zu verstehen und gleichermaßen den nämlichen patriotischen Gedanken tragend bemerkt Zuccalmaglio schließlich in seinem fingierten Gespräch mit fiktiven Teilnehmern im Stile der Davidsbündler: „Lärm ist das vorherrschende auch in dieser Oper, sie ist ein Feuerwerk, in der allerhand, theils fremde, theils eigene Melodieen bunt durch einander, ohne Zusam menhang abbrennen, und dabei gewaltig knackern und knallen. Wohl thut einem Deutschen zu sehen, daß dieser blühende Unsinn merklich kühler aufgenommen worden, als in Frankreich, wo man so viel Großes von ihm faselt. […] Auch Lichtaugenblicke treffen wir oft, in denen uns klar wird, was der Tonsetzer hätte erreichen und schaffen können, wenn er nicht um die Gunst des Haufens geworben […].“ In: NZfM („Deutsches Repertorium“), 8. September 1837, Bd. 7, S. 86.

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addierter Abwertungen – als die Zuschreibung verstanden werden, die damit vollzogen wird: Meyerbeers Werk weist den Einfluss verschiedener Stile auf. Aber gerade indem Meyerbeer dadurch wiederholt eine stilistische Nähe zu Mozart, Rossini, Auber und anderen zeitnahen Komponisten zugeschrieben wird, welche untereinander durchaus unterscheidbar sind, lässt sich in der Tat von einer stilistischen ‚Eigentlichkeit‛ Meyerbeers sprechen, welche sich dementsprechend nicht in jeder kurzen musikalischen Phrase, sondern erst mit einem gewissen Überblick festhalten lassen kann. Zu dem addiert sich natürlich eine Vielzahl stilistischer Elemente, welche aus keinem Fremdeinfluss gespeist werden und eindeutig als ‚typisch‛ für Meyerbeers Werk stehen, wie beispielsweise die überdurchschnittlich hohe Häufung von Kurzsequenzen. Auch andere Kritikpunkte, die im Zusammenhang mit den Hugenotten formuliert wurden, sind im weiteren und nicht-wertenden Sinne nichts anderes als das Konstatieren einer bestimmten und einzigartigen Charakteristik der Kompositionstechnik. Wenn beispielsweise weiter unten eine Auseinandersetzung mit der unterstellten ‚Effektheischerei‛ (Schumann/Wagner) in Meyerbeers Musik erfolgt, beschreibt die Ablehnung der Kritiker dennoch nichts anderes als ein stilistisches Merkmal, welches sogar im Kritikzusammenhang explizit Meyerbeer zuzuordnen ist. Unbeantwortet ist in der Kontroverse um Meyerbeers Eklektizismus letztlich noch die Frage, ob sich dieses Phänomen bei Meyerbeer, wie von Wagner unterstellt, dem Judesein des Komponisten verdankt. Im Grunde wurden die verschiedenen Aspekte, die für die Beantwortung dieser Frage relevant sind, im bisherigen Text bereits zusammengetragen und lassen sich wie folgt verknappen: 1.

2.

3. 4.

Die Tatsache, dass Meyerbeer als einer der ersten Komponisten besonders nachhaltig in Bezug auf die Vermischung verschiedener Stile umgegangen ist, wurde und wird, teils abwertend, teils freundlich anerkennend, teils neutral, von verschiedenen Kritikern schon vor 1850 festgestellt. Das Phänomen des Eklektizismus bzw. Stilpluralismus konnte sich im kunsthistorischen Zusammenhang erst mit dem aufkommenden Historismus vollends entfalten, dessen Anfänge in die Wirkungszeit des Komponisten fallen. Eine kosmopolitische/anti-nationalistische Grundeinstellung ist für die Praktik des Eklektizismus besonders förderlich, und diese Haltung kann bei Meyerbeer als gegeben angenommen werden. Um verschiedene Stile erkennbar miteinander verflechten zu können, ist eine umfassende musikalische Bildung erforderlich, welche sich gleichermaßen bei Meyerbeer nachweisen lässt.

Inwiefern 3. und 4. mit Meyerbeers Judesein korrelieren können, wurde bereits ausführlich dargelegt – was bedeutet, dass Meyerbeers formale Religionszugehörigkeit (nicht aber sein persönlicher Glaube), aus dem Gesamtgeflecht der eklektizismusbezüglichen zusammenführenden Faktoren zwar nicht entlassen werden, ge-

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nauso wenig aber als conditio sine qua non gelten kann. Der wohl entscheidende Faktor, nämlich dass Meyerbeer, salopp formuliert, zur richtigen Zeit am richtigen Ort mit seiner Musik den Nerv der Menschen getroffen hat, hängt wohl weniger mit Meyerbeers Religion zusammen. Schließlich sind alle Meyerbeerkritiken nur deshalb möglich und teilweise nötig, weil der Komponist solch bemerkenswerten Erfolg erzielen konnte, allein Die Hugenotten wurden in den Jahren nach der Uraufführung mehr als eintausend Mal in Paris aufgeführt: In Meyerbeers Stil und in seinem Eklektizismus bildet sich also nicht der stilistisch fragwürdige und deshalb gar unverständliche Jude Meyerbeer, sondern der – zum größten Teil nicht-jüdische – Geschmack des Publikums ab. Diese lapidare und durch andere Autoren bereits vielfach formulierte Feststellung führt zum nächsten Block in der Frage nach der Authentizität der Hugenotten. Zur Frage nämlich, ob Handlungsmotive von außen als in-/authentisch beurteilt werden können und ob ein auf diese Weise womöglich ermittelter Authentizitätsgrad auf das Produkt übertragbar ist.

12.3 Inauthentizität durch Handlungsmotive In den angeführten Kritiken, welche Die Hugenotten als inauthentisch ablehnen, werden regelmäßig Schlagwörter bemüht, die sich nur prima facie auf die Musik beziehen und auf den zweiten Blick erkennen lassen, dass die Autoren Aussagen bezüglich der inneren Einstellung von Meyerbeer während des Kompositionsprozesses in den Raum stellen. So ist wiederholt von Effekten die Rede, von Kapital mehrung, von musikalischer Gefallsucht jenseits eines ‚wahren‛ Ausdruckes. Die im Laufe der Untersuchung bereits beschriebene und besonders ausgeprägte antikapitalistische Einstellung Wagners als auch Schumanns Aversion gegen die Macht des Geldes kontrastiert Meyerbeer als Partizipant des kapitalorientierten Pariser Opernbetriebes recht anschaulich und damit den schwärmenden Idealismus des in jeder Hinsicht autark schaffenden Originalgenies. Zwar kann hier nicht den Ansprüchen einer gründlichen Betrachtung der Entwicklung des französischen Kulturbetriebes mitsamt seinen soziologischen Zusammenhängen entsprochen werden, da der Schwerpunkt der Folgebetrachtungen in der musikalischen Analyse gesetzt ist, einige grundlegende Hinweise im Zusammenhang mit Wirtschaftlichkeit und ‚unwahrhaftigen‛ Motiven aber dürfen nicht unterschlagen werden. So verschränken sich die Vorwürfe der Inauthentizität der Handlungsmotive auf verschiedenen Ebenen miteinander, ohne dass sie einzeln völlig autonom wirksam sind. Im Einzelnen zirkeln die unterstellten Motive und ihre Konsequenzen wie folgt: a) Wunsch nach Kapitalmehrung/Erfolg (innerlich) b) →Erkenntnis der Notwendigkeit zur Entsprechung des Publikumsgschmacks (innerlich) c) → kalkulierte Überlegung nach Umsetzung jener Entsprechung (innerlich)

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d) → wirkungsvoller und gefälliger Kompositionsstil durch Opulenz, Eklektizismus, Effekte etc. (äußerlich) e) → durchschlagender Erfolg (äußerlich) f) → Kapitalmehrung/wachsender Erfolg (äußerlich) g) → Wunsch nach weiterer Kapitalmehrung/Erfolgswachstum (innerlich) usw. Über die Frage, in welchem Umfang Meyerbeers Wunsch nach Kapitalmehrung bzw. künstlerischer Anerkennung ausgeprägt waren, lässt sich aufgrund der berührten Innerlichkeit zwar nur spekulieren (was im nächsten Kapitel ansatzweise erfolgt), das für die Kritiker bestehende moralische Problem ergibt sich aber erst in der Zusammenwirkung von unterstelltem Motiv und daraus folgender Handlung: Weder Schumann noch Wagner (noch ein anderer Künstler) hätten und haben eine angemessene Vergütung ihrer Kunst und eine entsprechende Anerkennung ihrer Person ausgeschlagen. Meyerbeer unter diesen Umständen also a) bzw. g) absprechen zu wollen, wäre reinste Verklärung. Dieser Punkt ist jedoch der einzige der innerlichen, welcher sich unsperrig unterstellen lässt. Zu behaupten, dass b) und c) als einzige Option zu d) führten, ist deshalb unzulässig, obwohl eine entsprechende Erwägung sicher gestattet ist. Zu überlegen ist dann jedoch andererseits genauso, dass die abwertenden Kritiken von jenen formuliert wurden, deren eigenes ästhetisches Empfinden jenseits von d) verankert und denen die Vorstellung von einer inneren Entsprechung zu d) nicht denkbar ist, was wiederum zu der – aus jener Perspektive – konsequenten Folgerung führt, dass d) absichtsvoll und inauthentisch erwirkt wurde. Klammert man b) und c) jedoch aus, sucht nach einer alternativen Kausalität (wobei eine in Bezug auf Meyerbeers Eklektizismus bereits beschrieben wurde) oder geht sogar so weit, d) mit einer wahrhaftigen inneren Entsprechung des Komponisten zu verbinden, ergibt sich nicht länger eine moralische Fragwürdigkeit in Bezug auf künstlerische Wahrhaftigkeit im Konnex von a) und d). Die Kritiken ließen sich damit allenfalls, aber durchaus legitim, auf die Frage des Geschmacks reduzieren. Als Faktizität können tatsächlich nur a), d), e) und f) gelten, wobei die geleisteten Kritiken an d) vermutlich nicht unerheblich aus e) und f) gespeist wurden. Unbestritten bleibt mit d) die herausragende Wirkung, welche Meyerbeers Musik auf das Publikum erzielt und analog dazu die konstante Kritik an der Effektarbeit des Komponisten. Die Tatsache, dass Meyerbeer einen besonders intensiven Umgang mit dem musikalischen Effekt gepflegt hat, lässt sich auch durch die apologetischste Geste nicht wegwischen – was ohnedies kein konstruktiver Beitrag wäre. Sinnvoll ist es vielmehr, den Effekt in Meyerbeers Musik nicht nur zu akzeptieren, sondern ihn im Zusammenhang mit seiner Kritik zu untersuchen.

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12.3.1 Zur Absichtlichkeit von Effekten Bei etwas näherer Bekanntschaft mit Meyerbeers Opernschaffen, welches trotz der Entwicklung zur französischen Grand opéra ganz deutlich in der italienischen Tradition steht, stellt sich beinahe die Frage, warum das Beharren der Kritiker auf dem Phänomen kalkulierter Effekte in den Hugenotten überhaupt problematisch ist – das Spiel mit den Effekten ist nicht nur offensichtlich, es ist in seiner Tradition geradezu selbstverständlich und, wie wenigstens im Ansatz nachgewiesen werden wird und sich überdies fast von selbst erklärt, auch im 19. Jahrhundert keineswegs singulär ein Meyerbeerphänomen. Problematisch ist die Konstatierung von absichtlich komponierten Effekten jedoch deshalb, weil sowohl Schumann als später auch Wagner Die Hugenotten unter völlig andere Prämissen stellen, als es ihr Kontext eigentlich gestattet, und das Aufzeigen des Phänomens damit zur klar negativ intendierten Abwertung verkommt – und zur stets mitschwingenden Implikation, dass der Komponist bzw. Jude zu echten Gefühlen nicht in der Lage sei. Im Folgenden werden einige ausgewählte, unter anderem auch bereits angeführte, meyerbeer- bzw. Hugenotten-kritische Zitate zusammengestellt, welche die für die Kritiker bestehende Problematik des effektvollen Komponierens als Indiz mangelnder wahrhaftiger Gefühle unterstreichen: Rellstab beschreibt sich 1839 als überzeugter Feind: […] jener Schminke und Schnürbrüsten und sonstigen Toilettenlügen, die geistig und leiblich für Wahrheit und Natur gelten sollen: und gerade für diese Welt denkt, fühlt (wenn da bei etwas zu fühlen ist), lebt und schreibt Meyerbeer. Darum erscheint uns Alles wie Marionetten, wie herausgeputzte Wachsfiguren, die von weitem unter blendender Beleuchtung einen Moment täuschen, in der Nähe aber desto frazzenhafter erscheinen. 44

Gustav Kühne 1839: […]Meyerbeer bringt Katholizismus und Protestantismus auf die Bühne und zerreibt die Gegensätze mit Pauken und Trompeten an einander […].45

Schumann 1837: Meyerbeer nagelt das Herz auf die Haut und sagt: „seht, da ist es, mit Händen zu greifen“. […] jeder Tact ist überdacht, über jeden ließe sich etwas sagen. Verblüffen oder kitzeln ist Meyerbeers höchster Wahlspruch und es gelingt ihm auch beim Janhagel. […] Und dann ist's denn eine Kunst, mit solchen Mitteln an so einer Stelle eine Wirkung hervorzubringen? Ich tadle nicht das Aufbieten aller Mittel am richtigen Orte; man soll aber nicht über Herrlichkeit schreien, wenn ein Dutzend Posaunen, Trompeten, Ophykleiden und hundert im Unisono singende Menschen in einiger Entfernung gehört werden können. […] Er setzt 44 45

In: Iris, 1839, S. 162. Gustav Kühne: Weibliche und männliche Charaktere, Bd. 2, S. 379.

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nach solchen Prasselstellen gleich ganze Arien mit Begleitung eines einzigen Instrumentes, als ob er sagen wollte: „seht, was ich auch mit Wenigem anfangen kann, seht, Deutsche, seht!“ Geist kann man ihm leider nicht absprechen.46

Sehr viel vorsichtiger bringt Uhlig 1850 seine Kritik an, die letzten Endes jedoch unter dem vagen Prädikat der „Eigenthümlichkeit“ die gleichen Zuschreibungen der unnatürlichen Effektschaffung umkreist: Meyerbeer's Art der musikalischen Wiedergabe kennt man wohl allgemein und zur Genüge aus seinen Opern: Robert und die Hugenotten; sie ist auch im Propheten die nämliche; stets eine charakteristische, aber stets auch eine charakteristische im besonderen Sinne des Componisten. Niemals hat derselbe in dieser Beziehung die Mißgriffe der Italiener begangen, sehr häufig jedoch Eigenthümlichkeiten dargelegt, welche ihm von vielen Seiten den Vorwurf der Unnatur und des Raffinements zugezogen. 47

Obwohl sich die Liste erheblich verlängern ließe, wird bereits an diesem Punkt deutlich genug, dass sich die Problematik des beabsichtigten musikalischen Effektes aus der deutsch-romantischen Perspektive keineswegs marginal ausnimmt. So sollen lediglich noch der Jude Heine und der Antisemit Wagner in dieser Frage zu Wort kommen, wobei die grundlegende gedankliche Ähnlichkeit beider nicht einfach als unerheblicher Zufall gedeutet werden darf. Wagner tritt 1850 das Kausalitätsprinzip zu Gunsten der eigenen Rhetorik mit Füßen: Das Geheimniß der Meyerbeer'schen Opernmusik ist - der Effekt. Wollen wir uns erklären, was wir unter diesem »Effekte« zu verstehen haben, so ist es wichtig, zu beachten, daß wir uns gemeinhin des näherliegenden Wortes »Wirkung« hierbei nicht bedienen. Unser natürliches Gefühl stellt sich den Begriff »Wirkung« immer nur im Zusammenhange mit der vorhergehenden Ursache vor: wo wir nun, wie im vorliegenden Falle, unwillkürlich zweifelhaft darüber sind, ob ein solcher Zusammenhang bestehe, oder wenn wir sogar darüber belehrt sind, daß ein solcher Zusammenhang gar nicht vorhanden sei, so sehen wir in der Verlegenheit uns nach einem Worte um, das den Eindruck, den wir z.B. von Meyerbeer'schen Mu sikstücken erhalten zu haben vermeinen, doch irgendwie bezeichne, und so wenden wir ein ausländisches, unserem natürlichen Gefühle nicht unmittelbar nahe stehendes Wort, wie eben dieses »Effekt« an. Wollen wir daher genauer Das bezeichnen, was wir unter diesem Worte verstehen, so dürfen wir »Effekt« übersetzen durch »Wirkung ohne Ursache«. 48

Wo Wagner Meyerbeer das Evozieren (vermeintlich) nicht selbst empfundener Gefühle nachträgt, setzt Heine 1837 vielmehr mit einem Explikationsversuch an und bezieht sich im Folgenden auf Meyerbeer: 46

47 48

Robert Schumann: „Fragmente aus Leipzig“, in: NZfM, (Hrsg. Robert Schumann), Bd. 7, S. 74. Theodor Uhlig: „Der Prophet von Meyerbeer“, in: NZfM, Bd. 32, S. 49. Richard Wagner: Oper und Drama, SSuD, Bd. 3, S. 301.

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Die Bildung vernichtet bei dem Künstler jene schroffe Färbung, jene Ursprünglichkeit der Gedanken, jene Unmittelbarkeit der Gefühle, die wir bei rohbegrenzten, ungebildeten Naturen so sehr bewundern.49

Was sich bei Heine so kontextfrei nicht leicht als Lob oder Kritik deuten lässt, ergibt sich im Zusammenhang. Im nämlichen Brief an Lewald, worin Meyerbeer als auch die Pariser Oper allgemein thematisiert werden, heißt es weiter: In den »Hugenotten« offenbart sich endlich Meyerbeer ohne Scheu; mit unerschrockenen Linien zeichnete er hier seinen ganzen Gedanken, und alles, was seine Brust bewegte, wagte er auszusprechen in ungezügelten Tönen. Was dieses Werk ganz besonders auszeichnet, ist das Gleichmaß, das zwischen dem Enthusiasmus und der artistischen Vollendung stattfindet, oder, um mich besser auszudrücken, die gleiche Höhe, welche darin die Passion und die Kunst erreichen; der Mensch und der Künstler haben hier gewetteifert, und wenn jener die Sturmglocke der wildesten Leidenschaften anzieht, weiß dieser die rohen Naturtöne zum schauerlich süßesten Wohllaut zu verklären.50

Heine konstatiert in Meyerbeers Zivilisiertheit also keineswegs einen Nachteil, geschweige denn, dass er ihm innere Wahrhaftigkeit abspricht. Er stellt schlicht fest, dass ein zivilisierter Mensch kein ursprünglich-natürlicher, kein ‚roher‛ Mensch ist und mit Gefühlsaufwallungen maßvoll umzugehen weiß, anstatt sich lustvoll jedem inneren Ausbruch von Zorn, Ekstase, Euphorie, Religiosität etc. sowohl äußerlich als auch in direkter Übertragung auf seinen künstlerischen Selbstausdruck hinzugeben. Heine, welcher die eigene Zivilisiertheit durch seinen Wortwitz und durch die mit Ironie übertünchten gelegentlichen Aggressionen seiner Texte explizit unter Beweis stellt, generiert damit ein kulturanaloges Produkt zu demjenigen Meyerbeers. Wenn Heine dem Komponisten also eine gewisse emotionale Überlegtheit attestiert, kritisiert er nicht als Antisemit, sondern urteilt als nahe stehender Mensch. Alle angeführten Zuschreibungen zur mangelnden Gefühlsauthentizität Meyerbeers verbindet dabei eins: Sie stammen aus dem romantischen, kapitalismusfeindlichen gesellschaftlichen Teil Deutschlands des 19. Jahrhunderts, und sie legen entsprechende ästhetische Maßstäbe an Meyerbeers Musik – nicht primär das Publikum, sondern der Musikschaffende soll ‚wahrhaftig‛ fühlen. Insofern Meyerbeers Musik jedoch bewusst Effekte einsetzt, um Affekte zu evozieren, korrespondiert sie in Teilen mit den Ansprüchen der völlig unromantischen und bereits besprochenen aristotelischen Katharsislehre. Dabei ist die musikalische Effekttechnik freilich keine originäre Erfindung Meyerbeers, sondern zieht sich als Topos 49

50

Heinrich Heine an August Lewald: „Über die französische Bühne“ (9. Brief), in: Werke und Briefe in zehn Bänden, Bd. 6, Berlin und Weimar 1972, S. 73. Ibid., S. 67.

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der musikalischen Affektenlehre, welche unter dem Einsatz bestimmter Effekte in der Musik entsprechende Affekte beim Rezipienten herbeizuführen sucht, seit ihrem Schwerpunkt im Barock durch die Jahrhunderte, wobei jedoch Meyerbeers Umgang mit Effekten als besonders nachdrücklich – und als wirksam – zu be schreiben ist. Jener Effekt hat, wie dargestellt, zu wiederholten, teilweise recht niederschmetternden Kritiken geführt, andererseits gewiss wesentlich dazu beigetragen, den Erfolg der Meyerbeer‛schen Kompositionen, dabei insbesondere den Erfolg der Hugenotten, zu sichern. Ehe der Blick auf konkret zitierbare Stellen geworfen wird, muss zunächst die Feststellung erfolgen, dass, wie so oft vorgeworfen, Meyerbeers Musikschaffen mitsamt seiner ständigen Nähe zum Effekt tatsächlich dem Geschmack des Publikums entspricht. Diese Feststellung darf jedoch allein deshalb nicht problematisiert werden, weil nicht zuverlässig ermittelt werden kann, ob Meyerbeers und der Publikumsgeschmack divergent waren – womit ein vermeintlich inauthentisches und unwahrhaftiges Handlungsmotiv wegen mangelnder Überprüfbarkeit unberücksichtigt bleiben kann. Jeder Vorwurf gegen Meyerbeer, er komponiere zu absichtsvoll, um den Gustus des zahlenden Publikums zu befriedigen, impliziert die Behauptung, dass Meyerbeers ‚eigentliche‛ Ausdrucksweise ohne den Wunsch, dem Publikum zu entsprechen, eine ganz andere gewesen wäre. Zwar fehlt dieser Behauptung eine glaubwürdige Evidenz, aber es mangelt ihrer auch in der Umkehrung – allein Meyerbeers finanzielle Unabhängigkeit macht eine entsprechende äußere Not unwahrscheinlich. 51 Dennoch bleibt die Offensichtlichkeit der musikalischen Effekte in den Hugenotten ein Faktum, welches, je nach Position des Betrachters, durchaus kritisch aufgenommen werden kann. Neben einigen weiter unten angeführten musikalischen Details, welche in sich Effekte tragen, mag sich dasjenige Publikum, welchem der französische Opernbetrieb völlig fremd ist, von der Effekthaftigkeit der opulenten 51

Heine stellt in diesem Zusammenhang die Überlegung an, dass Meyerbeers Abhängigkeit zwar nicht auf sachliche Zwänge zurückzuführen sei, wohl aber auf Meyerbeers tief sitzendes Bedürfnis, als Mensch und als Komponist von anderen geschätzt zu werden: „Ich liebe keineswegs diese Oper, dieses Meisterwerk der Zagheit, ich sage der Zagheit, nicht bloß in betreff des Stoffes, sondern auch der Exekution, indem der Komponist seinem Genius noch nicht traut, noch nicht wagt, sich dem ganzen Willen desselben hinzugeben, und der Menge zitternd dient, statt ihr unerschrocken zu gebieten. Man hat damals Meyerbeer mit Recht ein ängstliches Genie genannt; es mangelte ihm der siegreiche Glaube an sich selbst, er zeig te Furcht vor der öffentlichen Meinung, der kleinste Tadel erschreckte ihn, er schmeichelte allen Launen des Publikums und gab links und rechts die eifrigsten Poignées de main, als habe er auch in der Musik die Volkssouveränität anerkannt und begründe sein Regiment auf Stimmenmehrheit, im Gegensatze zu Rossini, der als König von Gottes Gnade im Reiche der Tonkunst absolut herrschte. Diese Ängstlichkeit hat ihn im Leben noch nicht ver lassen; er ist noch immer besorgt um die Meinung des Publikums, aber der Erfolg von „Robert le Diable“ bewirkte glücklicherweise, daß er von jener Sorge nicht belästigt wird, wäh rend er arbeitet, daß er mit weit mehr Sicherheit komponiert, daß er den großen Willen seiner Seele in ihren Schöpfungen hervortreten läßt. Und mit dieser erweiterten Geistesfreiheit schrieb er die „Hugenotten“, worin aller Zweifel verschwunden, der innere Selbstkampf aufgehört und der äußere Zweikampf angefangen hat, dessen kolossale Gestaltung uns in Erstaunen setzt.“ Ibid., S. 66f.

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Ausstattung, der teilweise abrupten Stimmungswechsel, der Masse der Mitwirkenden und sicherlich auch jener der unkommentierenden Funktion des Balletts erschlagen fühlen. Und wenn Schumann die „ Schwelgerei von badenden Frauen“52 kritisiert, ist es diese scheinbare Handlungsirrelevanz jener Szenen, die irritiert. Gleichermaßen ließe sich die Frage stellen, inwiefern das Zigeunerballett im dritten Akt die Handlung entscheidend voranbringt oder das unvermittelt eingefügte Ballett im fünften Akt zwischen dramatischen Liebesschwüren und der verzweifelten Aussicht auf Tod den Inhalt sinnvoll trägt – wenn man willens ist, die Notwendigkeit eines Balletts als integralen Bestandteil der Grand opéra auszublenden. Das Kernproblem lässt sich also als Frage der Hör- und Seherfahrung und durch den bedingenden Umgebungskontext beschreiben: Eine französische Grand opéra auf den Brettern einer technisch weit weniger ausgereiften deutschen Bühne aufzuführen, ist in jeder Hinsicht ein Wagnis: ein ästhetisches, ein technisches, ein organisatorisches, ein finanzielles. Indem Meyerbeer dieses Wagnis 1837 in Leipzig eingegangen ist, ist eine so niederschmetternde Kritik wie die diesbezügliche von Schumann zwar nicht abseh-, aber auch nicht undenkbar. Aber nicht nur die äußerliche Opulenz der Oper, der Szenenabfolgen und der Spartendichte sind in den Hugenotten als Faktoren des Effektes zu nennen, die Oper lebt ebenso vom innermusikalischen Effekt. Ehe sich jedoch die ungegenständlichen Überlegungen zu Meyerbeers innermusikalischer Effektarbeit fortsetzen, sollen in diesem Zusammenhang einige Stellen der Hugenotten zitiert werden,53 damit der behandelte Gegenstand ein wenig aus seiner Abstraktheit gelöst und die im Raum stehende Behauptung des absichtlichen Effekts in Meyerbeers Musik geprüft werden kann.

52

53

Robert Schumann: „Fragmente aus Leipzig“, in: NZfM, (Hrsg. Robert Schumann), Bd. 7, S. 74. In jener Szene des zweiten Aktes kontrastiert das sanft gezeichnete Bild der Königin Margarethe, deren weibliche Gefolgschaft im Schoße der Natur ein Bad nimmt, die vorangegangenen Eindrücke männlich-archaischer Religionsdogmen. Für den weiteren Verlauf der Oper ist dieser durch Kontrast erzielte Effekt keineswegs leer: Nicht weniger als die Gegenüberstellung von borniertem Monotheismus (Männer) und liberal-religiösem Pan(en)theismus (Frauen) wird hier vollzogen – ein Antipodentum, welches sich als roter Faden durch die gesamte Oper zieht. Die in der Effektdiskussion angeführten Zitate sind hier als Stellvertreter für eine Vielzahl anderer zitierbarer Passagen zu betrachten – die Auswahl der hier besprochenen Zitate basiert dabei auf ebenso subjektiven Eindrücken, wie es letztlich jene sind, die den jeweiligen Kritiken zugrunde liegen.

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12.3.2 Der Effekt in den Hugenotten Tatsächlich findet sich in der Ouvertüre, die ausschnittsweise das musikalische Material der Oper verdichtet und charakterisiert, bereits eine Häufung von musikalischen Effekten, welche, wenigstens in groben Zügen, etwas genauer vorgestellt werden sollen. Zunächst ist dabei der im vorangegangenen Abschnitt der Arbeit thematisierte Eklektizismus zu benennen, welcher schon in der Ouvertüre nachweisbar und dem natürlich ein gewisser Effekt nicht abzusprechen ist. Besonders prägnant aber ist die Bearbeitung des Chorals Ein feste Burg im Vergleich vom ersten zum letzten Teil der Ouvertüre, bei welchem allein die beachtliche Temposteigerung von q = 84 zu q = 116 durch die Halbierung der Notenwerte des cantus firmus verstärkt wird, sodass im folgenden Auszug von jeweils fünf Takten das zweite Beispiel doppelt so umfangreich ist wie das erste: (Cantus firmus zu Beginn der Ouvertüre/Bläser)

(Cantus firmus im letzten Teil der Ouvertüre/volles Orchester)

Der Effekt einer radikalen Steigerung im Laufe der Ouvertüre wird hier, abgesehen von der deutlichen Tempozunahme durch die Diminution, durch mehrere Faktoren ermöglicht: Die Melodie steigt um zwei Oktaven, die im Piano gehaltene Harmonie wird zugunsten eines gewaltigen Fortissimo-Unisonos aufgelöst und die Schwerpunktverlagerung des letzten Teils, der im Gegensatz zum ersten alla breve gehalten ist, ergänzt den Eindruck eines sich andeutenden Höhepunktes. Als besonders effektvoll erweist sich darüber hinaus der im Beispiel nicht mitzitierte Einsatz vom Becken, das die Schwerpunkte nachhaltig mitträgt. Dadurch ergibt sich ein schwungvoller, geradezu martialischer Eindruck des Chorals, welcher tatsächlich jenen Zuhörer erheblich irritieren kann, der den Choral fest im gemäßigten, sakralen Kontext verankert hat. Nicht zuletzt speist sich der Effekt der Bearbeitung des cantus firmus durch die Gegensätzlichkeit beider Beispiele, die durch ihren einführenden und abschließenden Charakter als Rahmen fungieren. Innerhalb dieses Rahmens wird der cantus firmus, unterbrochen von überleitenden Einschüben, als Quasi-Continuo auf ganz verschiedene Weisen gefasst, was trotz der bestehenden Geradtaktigkeit durchaus im allerweitesten Sinne an die Kompositionstechnik einer Ciaconne/Passacaglia erinnert und gleichermaßen dem Effekt

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dienlich ist. Die letzte, furiose Bearbeitung des cantus firmus in der Ouvertüre wird außerdem durch eine sequenzierte Klimax als Melodieabschnitt des cantus firmus auf den Tönen c, d, e, fis lanciert, was durch die dadurch ausgelöste zunehmende Spannung ebenfalls als musikalischer Effekt gilt: (Meyerbeer: Die Hugenotten – Ausschnitt Ouvertüre, vereinfachte Darstellung)

(usw.) Fasst man also jene musikalischen Phänomene des Effektes zusammen, die in der Ouvertüre begegnen, ergibt sich bereits das fast vollständige Repertoire der musikalischen Effekte der gesamten Oper: Die Arbeit mit Kontrasten, extreme und teilweise perkussiv unterlegte Dynamiken, häufige Stimmungs- und Stilwechsel, Zunahme der Dringlichkeit durch kurze, meist steigende Sequenzen. Was die Ouvertüre natürlich noch nicht ermöglicht, ist die effektvolle Ausgestaltung der Solistenpartien, die Meyerbeer im Verlauf der Oper schließlich nachholt. Das folgende Zitat steht dabei nur als eine von vielen anführbaren Stellen in der Oper, wobei der Anspruch an die Frauensoli grundsätzlich etwas höher gestellt ist. Die kurze Kadenz ist Teil des Duetts zwischen Margarethe und Raoul, während welchem Margarethe Stellung gegen die Annäherungen Raouls bezieht: (Meyerbeer: Die Hugenotten – II. Akt, Kadenz (Margarethe) aus Duett „Wer bist du himmlisch schönes Wesen“)

Die Leistung, die ein Sopran vollbringen muss, um die Spanne vom c'' zum h von mehr als zwei Oktaven innerhalb zweier Takte zu bewältigen, fordert nicht nur große sängerische Souveränität, sondern vermittelt, auch durch den Sprung von knapp zwei Oktaven zu Beginn des zweiten Taktes, einen effektreichen Höreindruck. Die Wirksamkeit ergibt sich durch die große tonhöhenbezogene Differenz und entspricht damit dem allgemeinen Effektgebot der Kontrastierung.

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Meyerbeer begrenzt die Entsprechung dieses Gebotes dabei nicht auf die Parameter Tonhöhe/Tondauer/Dynamik im Kleinen, sondern zelebriert sie auch in größerer Form, wenn er beispielshalber im dritten Akt den rhythmisch spannungsreichen Chor der Soldaten (welcher bereits im Zusammenhang mit dem „ mekkernden Rhythmus“ zitiert wurde) direkt und ohne Takt/Tonartenwechsel in die mit dolce e legato überschriebene Litanei katholischer Mädchen übergehen lässt. (Meyerbeer: Die Hugenotten – III. Akt, Soldatenchor/Männerchor, Auszug)

ff (Meyerbeer: Die Hugenotten – III. Akt, Litanei Frauenchor, Beginn)

Hier wird der Kontrast sowohl durch die Gegenüberstellung der Stimmfächer und in besonderer Form durch die Gegensätzlichkeit der Artikulation und Tondauern (kurze Töne; staccato ↔ lange Dauern; legato) ermöglicht, und indem im letzten Teil der Nummer beide Chöre übereinandergelegt werden, lässt sich tatsächlich von einer effektvollen ‚Synthese‛ sprechen. Einen besonders greifbaren effektorientierten Tonsatz beweist Meyerbeer in der Schwur und Schwerterweiheszene im vierten Akt, in welcher die katholischen Ritter unter der Leitung von St. Bris zu einem hinterhältigen Überfall auf Raoul und seine Glaubensbrüder aufgewiegelt werden und Mönche anschließend die Waffen für den bevorstehenden Kampf weihen. Meyerbeer greift hier besonders tief in sein Effekterepertoire und streckenweise wird auf einem sehr hohen dynamischen Pegel dabei dem entsprochen, was Schumann als zu opulentes Orchesterwerk, als „Prasselstelle“, als „hundert im Unisono singende Menschen“ 54 kritisiert hat. Und obwohl jene Szene im vierten Akt für Schumanns Kritik geradezu paradigmatisch ist, urteilt Schumann über sie: Manches Bessere, auch einzelne edlere und großartigere Regungen könnte, wie gesagt, nur der blinde Haß wegläugnen; […] so interessiert […] im vierten Act die Schwerterweihe durch größere Eigenthümlichkeit […].55

Die attestierte Eigenthümlichkeit kommt in der hier gebrauchten Bedeutung dem Begriff der Originalität, der ursprünglichen (musikalischen) Idee sehr nah, und 54

55

Robert Schumann: „Fragmente aus Leipzig“, in: NZfM, (Hrsg. Robert Schumann), Bd. 7, S. 74. A.a.O.

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Schumanns Anerkennung dieser Szene vermag gerade im Zusammenhang mit seiner übrigen Einschätzung der Hugenotten ein wenig zu irritieren. So zitiert und variiert der Chor in einer gewaltigen Unisonostelle mit effektvoller Chromatik in der voll-orchestralen Begleitung den Beginn der Marseillaise: (Meyerbeer: Die Hugenotten – IV. Akt, Schwur und Schwerterweihe)

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Berücksichtigt man, dass Schumann Meyerbeers Umgang mit der französischen Nationalhymne wenig galant eine „ ausgestutzte Marseillaise“56 geheißen hat, stellt sich natürlich die Frage, warum er die Schwur- und Schwerterweihszene gesondert belobigt – eine Überlegung wäre, dass sich der Rezipient im vierten Akt der Oper bereits drei Akte in die vorherrschende Stilistik eingewöhnen konnte und der Effekt, vor allem wenn er schon in der Ouvertüre mitunter etwas unvermittelt begegnet, in der inneren Kritik stets vorausgesetzt und mitgedacht wird, wodurch andererseits erst der Höreindruck für die dem Effekt untergeordneten Ebenen geschärft werden kann. Letztlich aber lässt sich natürlich nicht feststellen, welche subjektiven ästhetischen Kriterien Schumann angelegt hat. Dass diese Szene tatsächlich eine der effekthaltigsten der ganzen Oper ist, kann nicht bezweifelt werden. Nicht nur der wiederholte Beckenschlag, der jedes chromatische Anschwellen auf der Zählzeit drei pointiert, fungiert als Faktor des Effektes, auch der (hier dynamische) Kontrast als Effektmittel wird in dieser Szene wirkungsvoll eingesetzt: Nachdem das katholische Marseillaise-Thema im Fortissimo-Unisono mit einem letzten und durchdringenden Beckenschlag abrupt endet, führen die Streicher mit zurückhaltenden, vereinzelten Achteln weniger als einen Takt in eine völlig kontrastive musikalische Stimmung. Die Streiter besiegeln ihr nächtliches, geheimes Vorhaben und bestärken sich darin, sie gemahnen sich gegenseitig zur Vorsicht. Musikalisch wird die Szene zunächst quasi-antiphonisch (Frauen- gegen Männerchor) mit einer weichen, zaghaften Instrumentierung im Pianissimo gesponnen (unterstützt von Streichern und leisen Trillern im hohen Holz), welches schließlich diminuiert, um nach einer kurzen Pause mit einem schlagartigen, mächtigen homophonen Fortissimo in Chor und Orchester einen Effekt par excellence zu modellieren: (Meyerbeer: Die Hugenotten – IV. Akt; Schwur und Schwerterweihszene)

56

Robert Schumann: „Fragmente aus Leipzig“, in: NZfM, (Hrsg. Robert Schumann), Bd. 7, S. 74.

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Die letzten vier Takte, welche nicht nur dynamisch diminuieren, sondern auch melodisch anti-klimatisch die Spannung nach unten führen und sich schließlich jählings entladen, verdeutlichen besonders eindrücklich das, was Schumann als zu bewusste Kontrastsetzung kritisiert hat. Wie in der Untersuchung von Meyerbeers Eklektizismus lässt sich das absichtsvolle Spiel mit dem musikalischen Effekt nicht banal als zu verurteilendes Phänomen abtun, auch nicht aus Perspektive der Kritiker. Es gibt keine etablierte musikalische Form, welche nicht wenigstens intuitiv und im Ansatz den noch aus dem Barock tradierten Regeln der Affektenlehre entspricht, und jede musikalische Großform lebt vom Kontrast. Nicht ohne Grund sind in aller Regel die Sätze einer Sinfonie durch ihren Charakter untereinander deutlich zu unterscheiden, selbst die Sonatenhauptsatzform kultiviert mit ihrem Gebot der antithetischen Doppelthematik nicht weniger als den Effekt durch Kontrast. Doch trotz der historischen und ästhetischen Legitimation wird, wie weiter oben dargestellt, insbesondere der Effekt in den Hugenotten kritisiert. Wagner urteilt: […] er [Meyerbeer, M.K.] mußte erst allen gesunden Sinnes für dramatische Handlung be raubt werden, ehe er in den „Hugenotten“ sich zum bloßen Kompilator dekorativer Nüan cen und Kontraste hergab […].57

Um also in Bezug auf den Effekt die den Hugenotten beschiedene Ablehnung zu erklären, muss die Analogie zum Phänomen ihres Eklektizismus gebildet werden: Nicht der Umstand, dass in den Hugenotten Effekte erkenn- und spürbar sind, ist hier kritikursächlich, sondern vielmehr die geballte Häufung und die abrupten Wechsel der Effekte. Trotz des Postulates der deutschen Affektenlehre, wonach sich die Leidenschaften durchaus abwechseln sollen, wird eine zu dichte Reihung abgelehnt. So ist in Quantz‛Versuch einer Anleitung zu lesen: Wer nun dergleichen Fehler nicht begehen will; der gewöhne sich bey Zeiten, weder zu simpel, noch zu bunt, zu singen oder zu spielen; sondern das Simple mit dem Brillanten immer zu vermischen. Mit den kleinen Auszierungen gehe er um, wie man mit dem Gewürze bey den Speisen zu thun pfleget; und nehme den, an jeder Stelle herrschenden Affect zu seiner Richtschnur: so wird er weder zu viel noch zu wenig thun und niemals eine Leiden schaft in die andere verwandeln.58

Jener Vorschlag, der sich auf die Musizierpraxis bezieht, ist in seiner Entsprechung auf kompositorisches Schaffen übertragbar und verdeutlicht bereits im Ansatz, welches Problem sich für Kritiker wie Wagner hinter der Effektkonzentration verbirgt: der Mangel an innerer Einlassung. 57 58

Richard Wagner: Oper und Drama, in: SSuD, Bd. 3, S. 299f. Johann Joachim Quantz: Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen , Breslau 1780, S. 83f.

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Ein möglicherweise sehr aufschlussreicher Ansatz zu dieser ästhetischen Problematik geht auf Hans Georg Nägeli zurück, der 1826 Effekt und Stimmung gegenüber stellt: Die Kunst erscheint dem Menschen und wirkt auf ihn unter der Form des Raumes als Plastik oder bildende Kunst, unter der Form der Zeit als Musik. Dort erzeugt sie in ihm Affek te, hier Stimmungen. Der Affekt ist der Stimmung entgegengesetzt, er ist bindend, sie ent bindend, er sondernd, sie verallgemeinernd. Der Affekt hebt die Stimmung auf, die Stimmung vernichtet den Affekt.59

Grundsätzlich lässt sich über Nägelis Theorie und seine weiteren Ausführungen dazu zwar streiten, die Gegenüberstellung von Affekt (als Ergebnis des Effektes) und Stimmungen ist jedoch in jedem Fall zu beachten. Vergleicht man beispielsweise die raschen Gefühlswechsel- und -äußerungen der Charaktere in den Hugenotten60 mit der emotionalen Konstanz jener Figuren, wie sie in Wagners Opernschaffen begegnen,61 lässt sich die von Nägeli angedeutete Richtung nachzeichnen. Ungleich schwerer ist es auch, über einen längeren Zeitraum hinweg eine bestimmte musikalische Stimmung zu schaffen und lebendig zu halten, als durch kurze Einwürfe bestimmte Effekte zu erzielen. Zwar steht außer Frage, dass Meyerbeers handwerkliche Kompetenz das Schaffen musikalischer Stimmungen umfasst hat, jedoch geht eine subtile Stimmung, wie durch Nägeli beschrieben, leicht im Effekt unter. Der Eindruck, den die effektreiche Ästhetik der französischen Grand opéra auf der deutsch-romantischen Seite hinterlassen hat, musste also mit einer gewissen Unvermeidlichkeit auf diesem Spannungsfeld der Authentizität enden.

59

60

61

Hans Georg Nägeli: Vorlesungen über Musik: mit Berücksichtigung der Dilettanten , Stuttgart 1826, S. 29f. Unter dieser Überschrift wäre beispielsweise Raoul zu nennen, der, wie sich Schumann in seiner Kritik empört, erst von seiner Liebe zu einer schönen Unbekannten berichtet, kurz darauf seine Liebe zu Margarethe beschwört, um endlich in Valentine seine Erfüllung zu finden – die er aber zunächst wegen eines Missverständnisses angewidert wegstößt, um schließlich an ihrer Seite sterben zu wollen. Einzig die fragwürdigen Charaktere sind es wiederum, die sich durch emotionale Wechselhaftigkeit und einer damit implizierten Inauthentizität charakterisieren lassen: Da wären zum Beispiel Alberichs Buhlen um die Rheintöchter, ehe seine äußerliche Zuneigung abrupt in Hass umschlägt, oder auch Kundrys beständiger Wechsel von manischen Zuständen, hysterischem Schreien und Lachen bis zu völliger Erschöpfung. Die emotionale Unbeständigkeit wird hier ganz offensichtlich instrumentalisiert, um das Bild der Unberechenbarkeit, aber auch der Unaufrichtigkeit zu zeichnen.

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12.4 Rossini und Beethoven in ihrer Zeugenschaft gegen die Theorie eines ‚jüdischen, inauthentischen Effektes‛ Wenn im vorangegangenen Teil von der Effektarbeit Meyerbeers, von seinen möglichen und unterstellten Handlungsmotiven und der Differenz verschiedener Ästhetiken gesprochen wurde, ist ein Aspekt dabei unberührt geblieben: Meyerbeers Judesein. Die Frage, ob Meyerbeers Umgang mit dem musikalischen Effekt in irgendeiner Weise – vielleicht analog zu seinem Eklektizismus – mit seiner Religionszugehörigkeit verknüpft sein könnte, stellt sich allerdings weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick. Hätte Meyerbeer Die Hugenotten in ihrer Form in Berlin oder Leipzig komponiert und dort uraufgeführt, ohne auch nur je italienischen oder Pariser Boden betreten zu haben, müssten in der Tat verschiedene Explikationsbemühungen angestrebt werden, um die dadurch gegebene stilistische Einzigartigkeit sinnvoll einzuordnen. Da aber von einer entsprechenden Singularität des effektvollen Musikschaffens auch im nichtjüdischen Umfeld Meyerbeers keine Rede sein kann, scheidet die Konstruktion eines Konnex von Religionszugehörigkeit und jener spezifischen Stilistik aus. Wenigstens skizzenhaft wird im Anschluss einem exemplarischen Vergleich stattgegeben. Der kosmopolitische Kompositionsstil Meyerbeers, besonders geprägt durch die italienische Musik und schließlich in Paris fußend, weist, wie vielfach konstatiert und kritisiert, eine gewisse Nähe zu Gioachino Rossinis Ausdrucksweise auf, und das sogar mit einer gewissen Unvermeidlichkeit, wenn man sich die gemeinsame musikalische Verwurzelung, den Wirkungsort beider und die verselbstständigenden Prozesse der Pariser Oper vor Augen führt. So beinhaltet beispielsweise die Oper des nicht-jüdischen Komponisten Gioachino Rossini Mosè in Egitto, knapp zwanzig Jahre vor Meyerbeers Hugenotten als italienische Oper verfasst und einige Jahre später zur Grand opéra umgearbeitet, eine Vielzahl jener musikalischen Aspekte, die in den Hugenotten-Kritiken als meyerbeertypisch dargestellt wurden. Ein oberflächlicher Blick allein in das Finale des ersten Aktes des Mosè offenbart einige der im Zusammenhang mit den Hugenotten behandelten Eindrücke und Effekte, welche durch Dynamikschwankungen, Artikulationsvarianz, allgemeine Kontraste, stilistische Abwechslung oder auch durch rhythmische Komplexität geformt werden. So findet der als äußerst effektvoll zu benennende Beckenschlag, der in den Hugenotten auf nachdrückliche Weise kultiviert wird, ebenfalls im Mosè, dabei besonders in den Finali seine Anwendung. Allein im ersten Teil des ersten Finales erfolgt in den anderthalb Takten, in welchen der Faraone (Bass), unterstützt von einem Orchesterapparat im Fortissimo, das e' als Dreiviertelnote hält, sieben Mal ein Beckenschlag. Auch im weiteren Verlauf des Finales steuert das Becken erheblich zum musikalischen Effekt bei, der streckenweise durch chromatische Aufwärtsbewegungen der Bassinstrumente verstärkt wird. Im zitierten

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Beispiel akzentuiert das Becken jeden harmonischen Schlag des vollen Orchesters, welches das Fortissimo der Solisten und des Chores begleitet: (Rossini: Mosè in Egitto – Finale Akt I)

Auch die dynamische Kontrastarbeit des Mosè steht den Hugenotten in nichts nach. Der beständige Wechsel von gewaltigem Chor- und Orchesterfortissimo mit einer besonders cantabilen und weichen a cappella-Setzung der Solistenstimmen im ersten Finale des Mosè entspricht ästhetisch genau jenen Eindrücken der Hugenotten, welche Schumann als absichtsvolle Gegenüberstellung von „Prasselstellen“62 mit Phrasen der schlichten Instrumentierungen kritisiert hat – und geht durch den absoluten Charakter aufgrund der völligen Absenz von orchestraler Begleitung sogar noch darüber hinaus. Besonders wirksam ist der Einsatz des instrumentalen Kontrastes im zweiten Teil des Finales, wenn mitten im stürmenden, aufgebrachten Orchester, welches vornehmlich durch rasende Streicher den sich plötzlich ergießenden Feuerregen beschreibt, ein kurzer, sehr ruhiger Einschub durch das Holz erfolgt, welcher lediglich mit einem leisen, bedrohlichen Grollen der Pauken unterlegt wird und dessen Harmonik und Instrumentierung 63 durchaus an den sinfonischen Tonsatz der Wiener Klassik erinnert: (Rossini: Mosè in Egitto – Finale Akt I)

Im Anschluss an den Einschub toben die Streicher im Fortissimo weiter – die Nachdrücklichkeit dieses Effektes durch Kontrastierung kann nicht bestritten werden. Darüber hinaus ist jene keineswegs mozartferne Wendung nicht die einzige ihrer Art im Finale.

62

63

Robert Schumann: „Fragmente aus Leipzig“, in: NZfM, (Hrsg. Robert Schumann), Bd. 7, S. 74. Genauso ist hier aber auch die Prägung Rossinis durch die italienische Traditionslinie der Banda erkennbar.

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Rossini, der der Wiener Klassik nicht nur zeitlich noch näher steht als Meyerbeer, sondern sich in seinem Werk offen zu seiner stilistischen Verwurzelung in ihr bekennt, greift für die extensive Schlusskadenz der Stretta des Finales auf eine Wendung zurück, welche, wenn auch in der dynamischen Entgegensetzung, jener sehr ähnlich ist, die im Zusammenhang mit Meyerbeers Eklektizismus und Mozartnähe zitiert wurde (Chor der badenden Frauen): (Rossini: Mosè in Egitto – Finale Akt I)

Die Schlüssigkeit der hier zu führenden Argumentation wird spätestens damit besonders deutlich, dennoch kann die ‚Beweisführung‛ noch weiter konkretisiert werden. Der bei Meyerbeer spezifisch kritisierte „ mekkernde Rhythmus“ ist im vorangegangenen Teil bereits auf bestimmte Determinanten wie scharf phrasierte Punktierungen oder triolische Rhythmisierungen reduziert worden, welche sich im Mosè gleichermaßen nachweisen lassen. Fünf Gesangssolisten beschreiben in der Hälfte des Finales eine Kombination aus einer grundzügigen Polyphonie und einem durchbrochenen Satz (im Wechsel vom Faraone/Bass mit Osiride/Tenor), deren Rhythmisierung nicht weniger ‚meckert‛ als jene, die im Zusammenhang mit Meyerbeer zitiert wurden: (Rossini: Mosè in Egitto – Finale I)

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(usw.) Auch die ternäre Schwerpunktsetzung fehlt keineswegs. Über weite Strecken der Stretta wird mit homophonen und dynamisch imposanten Blöcken durch Chor und Solisten ein Dreivierteltakt beschrieben, dessen Tempo so rasch angesetzt ist, dass jeder Takt als Ganze empfunden und geschlagen wird. Wenn schließlich die Trompete auf jede Viertel ein c in die Klangwucht hineinschmettert, ergibt sich ganz klar eine triolische Wahrnehmung, bei welcher, in entsprechender Interpretation, durch die jeweils nachgezogenen, sehr kurzen Achtel im Chor (hier: untere Akkolade) der Eindruck einer gewissen Zerhackung mitschwingen kann: (Rossini: Mosè in Egitto – Finale I)

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Zusammenfassend lässt sich leicht festhalten, dass sich bestimmte musikalische Phänomene, die bei Meyerbeer in heftige Kritik geraten sind, in Teilen gleichermaßen bei Rossini nachweisen lassen. Das soll erstens weder bedeuten, dass Meyerbeers Stil mit jenem von Rossini allzu leicht zu verwechseln sei – natürlich bestehen im musikalischen Werk beider ebenso eklatante stilistische Unterschiede. Genauso wenig soll angedeutet werden, dass Rossini bei den großen Meyerbeerkritikern Schumann und Wagner nur Zustimmung erfahren hätte, im Gegenteil. So urteilt Schumann als mitunter impulsiver Florestan: Rossini ist der trefflichste Decorationsmaler, aber nehmet ihm die künstliche Beleuchtung und die verführende Theaterferne und sehet zu, was bleibt. 64

Und auch Wagner, dessen Kritik an der ‚Uneigentlichkeit‛ der Musik von Rossini bereits zitiert wurde, war, bis er den Komponisten schließlich 1860 erstmals persönlich traf, nicht vollends von der Authentizität seiner Musik überzeugt, und obwohl er ihn als Künstler grundsätzlich sehr schätzte, lesen sich seine Beurteilungen nicht immer kritikfrei. Zu der Ouvertüre zum Wilhelm Tell äußert sich Wagner 1841: Sehr bewundert wird die Ouvertüre zu „Guillaume Tell“ von Rossini, wie selbst auch die zu „Zampa“ von Herold, offenbar, weil das Publikum hier sehr amüsirt wird, und wohl auch, namentlich in der ersteren, originelle Erfindung unläugbar sich bewährt: eine wahrhaft künstlerische Idee ist da aber nicht mehr vorhanden, und der Geschichte der Kunst gehören solche Erscheinungen nicht mehr an, wohl aber der der theatralischen Gefallsucht .65

Der entscheidende Faktor in der Beurteilung der Musik von Rossini liegt dabei in der – selbstverständlichen – Abwesenheit von verbundenen Zuschreibungen des ‚Jüdischen‛. Bei Schumann wäre sie selbst bei einem entsprechenden Hintergrund zwar ohnehin nicht zu erwarten gewesen, aber bei Wagner verkehrt sich ohne diese Aufhängung sogar die Bewertung ähnlicher Phänomene. Unterstellt er dem jüdischen Komponisten noch, dass er mangels eigener Originalität zwangsläufig dem Formalismus vergangener Epochen nachhängt, was schließlich in einen inoriginellen Eklektizismus mündet, begreift er die Nähe Rossinis zur Wiener Klassik, namentlich zu Mozart, vielmehr als notwendige Verbesserung von Mozarts Mangelhaftigkeit: Auch bei Mozart fand er [Rossini] jedoch nur diese Nahrung, wenn das ihm Verwandte, Ge sunde, Reinmenschliche als Dichtung zur Vermählung mit seiner ganz musikalischen Natur sich ihm darbot, und fast war es nur glücklicher Zufall, wenn wiederholt diese Erscheinung 64

65

Robert Schumann als F---n (Florestan): „Grobes und Feines“, in: NZfM, 11. August 1834, Bd. 1, S. 150. Richard Wagner: Ein deutscher Musiker in Paris („Über die Ouvertüre“), in: SSuD, Bd. 1, S. 199.

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ihm entgegen kam. Wo Mozart von diesem befruchtenden Gotte verlassen war, da vermochte auch das Künstliche jenes Duftes sich nur mühsam, und doch nur ohne wahres, nothwendiges Leben, wiederum künstlich zu erhalten; die noch so aufwandvoll gepflegte Melodie erkrankte am leblosen, kalten Formalismus, dem einzigen Erbtheile, das der früh Verscheidende seinen Erben hinterlassen konnte, da er im Tode eben sein - Leben mit sich nahm. […] Blickte er auf die heimische italienische Oper und das Werk der Erben Mozart's, nichts An deres gewahrte er, als wiederum den Tod, - den Tod in inhaltslosen Formen, als deren Leben ihm die Melodie aufging, - die Melodie schlechtweg, ohne alle das Vorgeben von Charakter, das ihn durchaus heuchlerisch dünken mußte, wenn er auf Das sah, was ihm Unfertiges, Gewaltsames und Halbes entsprungen war. Leben wollte aber Rossini, und um dieß zu können, begriff er sehr wohl, daß er mit Denen leben müsse, die Ohren hatten, um ihn zu hören. Als das einzige Lebendige in der Oper war ihm die absolute Melodie aufgegangen: so brauchte er bloß darauf zu achten, welche Art von Melodie er anschlagen müßte, um gehört zu werden. Über den pedantischen Parti turenkram sah er hinweg, horchte dahin, wo die Leute ohne Noten sangen, und was er da hörte, war Das, was am unwillkürlichsten aus dem ganzen Opernapparate im Gehöre haften geblieben war, die nackte, ohr gefällige, absolut melodische Melodie, d.h. die Melodie, die eben nur Melodie war und nichts Anderes, die in die Ohren gleitet - man weiß nicht warum, die man nachsingt - man weiß nicht warum, die man heute mit der von gestern ver tauscht und morgen wieder vergißt - man weiß auch nicht warum, die schwermüthig klingt, wenn wir lustig sind, die lustig klingt, wenn wir verstimmt sind, und die wir uns doch vorträllern - wir wissen eben nicht warum. Diese Melodie schlug denn Rossini an, und - siehe da! - das Geheimniß der Oper ward offenbar.66

Es bedarf keines großen Fantasieaufwands, um Vermutungen darüber anzustellen, wie sich Wagners Einstellung zu Rossini bei einem entsprechenden jüdischen Hintergrund des italienischen Komponisten dargestellt hätte und auf welche Weise die Nähe zu Mozart in diesem Fall interpretiert worden wäre. Aufschlussreich sind dabei jedoch auch Wagners Einschätzungen bezüglich des zweiten ‚Zeugen‛ im Kasus der ‚jüdischen Inauthentizität durch Effekte‛; nämlich Beethoven. Der Name dieses (in erster Linie) deutschen Komponisten fügt sich nicht ohne Probleme in die Ästhetik, die durch Rossini und Meyerbeer beschrieben wird, erst recht nicht in entsprechende gesellschaftliche Kontexte, von den grundlegend auseinanderstrebenden Lebensumständen ganz zu schweigen. Und genau deshalb eignet sich Beethovens Musik in besonderer Weise als Vergleichsmoment – es ließe sich keinen Moment sinnvoll von ‚jüdischer Inauthentizität‛, von kapitalorientierter Gefallsucht und von inoriginellem Formalismus, gespeist aus dem Mangel einer eigenen Tonsprache, reden, wenn die bei Meyerbeer kritisierten musikalischen Momente eine Entsprechung bei Beethoven fänden, dem stets eine den aufgereihten Vorwürfen radikal entgegen gerichtete Einstellung zugeschrieben wurde und wird. Und dennoch ist dem so: An seiner neunten Sinfonie, hier vor allem am letzten Satz, scheiden sich bis heute die Geister. Die Kontroverse über 66

Wagner: Oper und Drama, in: SSuD, Bd. 3, S. 250ff.

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den ästhetischen Wert dieser Sinfonie wird bereits in, sogar vor der Zeitgenossenschaft Meyerbeers deutlich. So rezensiert das Morgenblatt für gebildete Leser 1841: Wir hörten […] die berühmte oder berüchtigte neunte aus D-moll […]. Wir beugten uns vor manchem Kunstreichen, Schönen, zählten aber die unendlichen Längen, als hätte der taube Tondichter immer und immer sein eigenes Werk hören wollen und nicht gehört, und machten vor der noch unläugbaren Mißlungenheit des eingeschalteten Freudenliedes und seiner Trivialität das Kreuz.67

Die Prager Musikkritik hingegen bricht bereits vier Jahre zuvor eine Lanze für Beethoven: Nur ein Unnüchterner […] kann bei sorgfältigem Studium der 9. Symphonie Plan, Tiefe des Gefühls, schöpferische Phantasie und Einheit der Idee vermissen. Wenigstens hält das gebildete Publikum der meisten Residenzstädte Europa's gerade die 9. Symphonie – nicht für das Werk eines geistesverwirrten Trunkenboldes – sondern für den Schwanengesang eines durch die heiligsten Ideen begeisterten Sehers. Der arme Beethoven wird von Einigen, die nur klar nennen, was ihnen einleuchtet, und nur konsequent, was in ihre Schulhefte paßt, sogar für einen – Narren gehalten. Aber es hat mit diesem Worte von jeher die anmaßende Kurzsichtigkeit Männer brandmarken wollen, denen die folgenden Jahrhunderte als Bildnern der Menschheit die tiefste Achtung zollten. Ich für meinen Theil bin der innigsten Ueberzeu gung, daß Beethovens 9. Symphonie meist neben den unsterblichen Werken eines Homer oder Shakespeare genannt werden wird.68

Fest steht in jedem Fall, dass Beethoven 1824 eine einzigartige Fülle an musikalischem Material in den letzten Satz seiner letzten Sinfonie einbindet und, was noch viel wichtiger ist, dass der dadurch erzielte Effekt nicht minder spektakulär ist als jener, der in den Hugenotten begegnet. Mit voller Absicht muss, um von einer solchen – für manche möglicherweise skandalösen – Analogie des musikalischen Effektes sprechen zu wollen, zunächst alles Kontextualisierende und der Hermeneutik Dienliche ausgeblendet werden; die biographische Umgebenheit der Werkentstehung ebenso wie allgemein Rezeptions- und Kompositionsgeschichtliches. Verkürzt ergibt sich im letzten Satz von Beethovens Sinfonie eine Reihung all je ner Phänomene und Effekte, welche durch die Hugenotten-Kritiker entschiedene Ablehnung erfahren haben – und das nicht über ein mehraktiges und -stündiges Werk gestreut, sondern relativ komprimiert auf knapp eintausend Takte (wenngleich dieser Umfang für den Satz einer klassischen Sinfonie enorm ist).

67

68

In: Morgenblatt für gebildete Leser (Hrsg. Hermann Hauff), Stuttgart 15. März 1841, Bd. 31, S. 252. In: Bohemia: oder Unterhaltungsblätter für gebildete Stände , Prag 14. März 1837, S. 4.

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Im Einzelnen lassen sich folgende Phänomene benennen: 69 1.

2. 3.

Effekt durch Kontrast (dynamischer Kontrast, Kontrast durch Instrumentierung, Kontrast durch die Aneinanderreihung einzelner, z.T. unverbundener Blöcke, Kontrast durch Wechsel und Verschmelzung der Parameter Orchesterwerk, Solisten, Chor – auch hier: gewaltige Chor/Orchesterunisoni neben kaum oder gar nicht begleiteten solistischen Einschüben etc.) Stilpluralismus (Polyphonie inklusive Fugati/Doppelfuge, Kontrapunkt, Belcanto, empfindsamer Stil, romantische Harmonisierung usw.) effektvolle Prägnanz (stoßartige rhythmische Pointierungen, z.T. ausschweifender Becken- bzw. Schlagwerkeinsatz)

Die Auflistung ist ebenso zutreffend wie selbsterklärend – wenn Wagner in seinem Aufsatz implizit diese Punkte an Meyerbeer als inauthentisch und judentypisch kritisiert, stellt sich die Frage, wie er sich gegenüber Beethovens letzter Sinfonie positioniert hat. Die Frage nach Positionierung interessiert gleichermaßen im Zusammenhang mit Schumanns Einstellung, welcher, wenn auch nicht auf kulturpolitischer, sondern ‚nur‛ auf ästhetischer Ebene, all jene Phänomene ebenso harsch abgelehnt hat. Schumanns Auffassung ergibt sich allein durch den Namen desjenigen Rezensenten, den Schumann als Alter Ego über eine Aufführung dieser Sinfonie 1835 berichten ließ – Florestan erfüllt neben der Funktion von Schumanns Wahlverwandtschaft immerhin keine geringere als die der männlichen Hauptfigur in Beethovens Fidelio. Und wie Florestan über Beethovens letzte Sinfonie urteilt, ist ebenso dürftig wie aufschlussreich – im Grunde nämlich gar nicht. Florestan rügt Eusebius nach dem ‚gemeinsamen‛ Aufführungsbesuch: Eusebius, sagte ich wirklich ruhig, unterstehst du dich auch, Beethoven zu loben? Wie ein Löwe würde er sich vor euch aufgerichtet und gefragt haben: Wer seid ihr denn, die ihr das wagt? – Ich rede nicht zu dir, Eusebius, du bist ein Guter – muß denn aber ein großer Mann immer tausend Zwerge im Gefolge haben? Ihn, der so strebte, der so rang unter unzähligen Kämpfen, glauben sie zu verstehen, wenn sie lächeln und klatschen? Sie, die mir nicht Rechenschaft vom einfachsten musikalischen Gesetz geben können, wollen sich anmaßen, einen Meister im Ganzen zu beurtheilen? Diese, die ich sämmtlich in die Flucht schlage, lass' ich nur das Wort Contrapunct fallen – diese, die ihm vielleicht das und jenes nachempfinden und nun gleich ausrufen: o, das ist so recht auf unser Corpus gemacht – diese, die über Ausnahmen reden wollen, deren Regeln sie nicht kennen – diese, die an ihm 69

Wegen der voraussetzbaren Bekanntheit, der leichten Zugänglichkeit dieses Werkes und der Vielzahl der bereits geleisteten Betrachtungen wird an dieser Stelle auf einen zitatgebundenen Analyseansatz verzichtet und nur der Umfang der Effekte benannt. Für eine elementare Analyse dieser Sinfonie vgl. z.B. Dieter Rexroth: Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 9 dMoll, op. 125. Einführung und Analyse, München 1979.

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nicht das Maß bei sonst gigantischen Kräften, sondern eben das Uebermaß schätzen, – seichte Weltmenschen, – wandelnde Werthers Leiden – rechte verlebte großthuige Knaben – diese wollen ihn lieben, ja loben? – Davidsbündler, im Augenblick wüßt' ich Niemanden, der das dürfte […].70

Das Schweigen berichtet von Ergriffenheit jenseits der Worte und, was besonders wichtig ist, von Bewunderung jenseits des Anspruches auf absolutes Verständnis. Schumann, der sich in der Tradition des deutschen Musikschaffens versteht und sich entsprechend mit den Konterfeis von Bach und Beethoven umgibt, 71 drückt dabei mit wenigen Worten das aus, was Wagner zeitlebens beschäftigte – die Frage, wie die letzte Sinfonie des großen Beethoven ästhetisch zu bewerten sei. Um hingegen Wagners Verhältnis zu Beethoven und zu seiner neunten Sinfonie zu fassen, müssen verschiedene Ereignisse berücksichtigt werden. In seiner Biographie beschreibt Wagner seine ersten Eindrücke, denen er in Bezug auf das Wesen und Werk Beethovens ausgesetzt war: In mir entstand bald ein Bild erhabenster überirdischer Originalität, mit welcher sich durchaus nichts vergleichen ließ.72

Wo bei Schumann die deutsche Herkunft Beethovens besondere Bedeutung trägt, ist es bei Wagner die Originalität, die das höchste Prädikat bildet. Beethoven dient dem fast noch kindlichen Wagner als Inbegriff des Originalgenies, erheblich ver tieft durch die Begegnung beider in den jungen Jahren Wagners, und auf dieser Basis nur erfolgen die Kritiken Wagners. Sowohl Wagners frühe intensive Auseinandersetzung mit Beethovens Sinfonie durch ihre Abschrift als auch die 1846 73 erfolgte Aufführung derselben unter seiner Leitung haben die Nähe des Komponisten zu diesem Werk Beethovens enorm vergrößert. Rückblickend schreibt Wagner: Da wie erwähnt auch der Musikunterricht nichts bei mir fruchtete, fuhr ich in meiner will kürlichen Selbsterziehung dadurch fort, daß ich mir die Partituren meiner geliebten Meister abschrieb, wobei ich mir eine später oft bewunderte zierliche Handschrift erwarb. Soviel ich weiß, werden noch jetzt meine Abschriften der C-moll-Symphonie und der Neunten Symphonie Beethovens als Andenken bewahrt. Diese Neunte Symphonie Beethovens ward zum mystischen 70

71 72 73

Robert Schumann: „Fastnachtsrede von Florestan – gehalten nach einer Aufführung der letzten Symphonie von Beethoven“, in: NZfM, Bd. 2 (10. April 1835), S. 117. Janina Klassen: Clara Schumann: Musik und Öffentlichkeit, Köln/Weimar 2009, S. 185. Wagner: Mein Leben: Erster Teil (1813-1842), S. 37. Die Vorbereitungsarbeit zur Aufführung hat Wagner als außerordentlich fruchtbar empfunden, aber auch partiell als problematisch: „Nach der andern Seite hin bestand für diesen Winter mein Hauptunternehmen in einer äußerst sorgfältig vorbereiteten, im Frühjahr am Palmsonntag zustand gebrachten Aufführung der Neunten Symphonie von Beethoven. Diese Aufführung brachte mir sonderbare Kämpfe und für meine ganze weitere Entwickelung sehr einflußreiche Erfahrungen ein.“ Vgl. Richard Wagner: SSuD, Bd. 2, S. 50.

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Anziehungspunkt all meines phantastisch-musikalischen Sinnens und Trachtens. Was mich zuerst zu ihr hinzog, war die damals gewiß nicht nur unter den Leipziger Musikern gültige Meinung, daß dieses Werk von Beethoven bereits im halben Wahnsinn geschrieben worden sei: sie galt als das Non-plus-ultra alles Phantastischen und Unverständlichen, und dies war Grund genug, mich zur Erforschung dieses Dämoniums leidenschaftlich anzuregen. Diese Symphonie mußte das Geheimnis aller Geheimnisse enthalten […].74

Hier verläuft Wagners Einschätzung vergleichbar zu derjenigen Schumanns: Die Sinfonie ist prima facie nicht zu entschlüsseln, und ihr Moment der Unverständlichkeit zeichnet sie im positiven Sinne aus. Etliche Jahre, ehe Wagner selbst die Leitung der Sinfonie übernimmt, wohnt er 1831 einer Probe der Sinfonie bei, wobei der letzte Satz unter der Leitung von August Pohlenz erklingt. Er schildert seine Eindrücke: […] nachdem die drei ersten Sätze glattweg wie eine Haydnsche Symphonie, so gut es ging, vom Orchester für sich hergespielt worden waren, erschien nun Pohlenz, um, statt eine ita lienische Arie, ein Vokalquartett oder eine Kantate zu dirigieren, diesmal das schwierigste al ler Vorhaben für einen Dirigenten, die Leitung dieses so höchst komplizierten und nament lich in seinem einleitenden Instrumentalteile so rätselhaft zersetzten Tonstückes zu übernehmen. Unvergeßlich blieb mir aus einer ersten Probe, welcher ich hiervon beiwohnte, der Eindruck des sorgfältig ängstlichen Dreivierteltaktes, durch welchen die wild aufschreiende Fanfare, womit dieser letzte Teil beginnt, unter Pohlenz' schwerem Taktschwunge zu einem wunderbar hinkenden Galimathias wurde. Dieses Tempo war gewählt worden, um mit dem Vortrage des Rezitatives der Baßinstrumente nur irgendwie auszukommen; dennoch gelang dies nie. Pohlenz schwitzte Schweiß und Blut, das Rezitativ kam immer nicht zustande, und ich geriet wirklich in bange Zweifel, ob Beethoven in Wahrheit nicht doch Unsinn geschrieben hätte: der Kontrabassist Temmler, ein gedienter Veteran des Orchesters, hochherzig und grob, brachte es zwar endlich durch seine energische Mahnung an Pohlenz, er möge den Taktstock lieber fortlegen, dahin, daß das Rezitativ wirklich vor sich ging; dennoch begann seit der Anhörung dieses letzten Teiles unter Umständen, die ich mir für jetzt nicht erklären konnte, in mir ein demütigender Zweifel daran zu keimen, ob ich dieses ganze seltsame Tonstück wirklich verstanden hätte oder nicht.75

Hier deuten sich bereits erste Zweifel an – Wagner gerät nicht nur in Unruhe über die Frage, ob er die Sinfonie jemals richtig verstanden habe, sondern fragt sich gleichermaßen, ob diese rätselhafte Sinfonie Beethovens tatsächlich als besonders beispielhaft für das Wirken eines Originalgenies verstanden werden sollte und nicht etwa als barer „Unsinn“. 1846, als Wagner die Leitung der Sinfonie in Dresden übernimmt, bekennt er sich wiederum nachdrücklich zur absoluten Erhabenheit der Sinfonie und ahnt in ihr „die Krone des Beethoven'schen Geistes“, 76 wiewohl er gleichermaßen ihre Rätselhaftigkeit noch immer einräumt. So erklärt er, dass

74 75 76

Richard Wagner: Mein Leben Bd. 1, S. 42f. Ibid., S. 64f. Richard Wagner: „Zu Beethoven‛s Neunter“, in: SSuD, Bd. 12, S. 203.

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[…] dieses Werk bisher noch in die Ferne eines geheimnißvollen, wunderbaren Räthsels entrückt blieb, zu dessen erhebender Lösung es aber gewiß nur einer vollkommen geeigneten Gelegenheit und eines kräftigen, muthigen Sinnes für die erhabenste und edelste Richtung der Kunst bedarf […].77

Den Mut, den Wagner als notwendig zum Verstehen der Sinfonie erachtet, benennt er nicht umsonst: Tatsächlich muss er ‚den Mut haben‛, sich ohne jeden Zweifel für jenes Werk zu verbürgen, welches den tonsprachlichen Ansprüchen Wagners auf den ersten Blick derart entgegenstrebt, damit er einen Schritt weiter in Richtung des persönlichen Verstehens gehen kann. Natürlich berücksichtigt Wagner hier die Umstände und den allgemeinen Entstehungskontext des Werkes – gerade weil der letzte Satz der Sinfonie auch im Schaffen Beethovens von solcher Einzigartigkeit geprägt ist, interpretiert Wagner das Werk als besonderen Ausdruck von Authentizität und nicht etwa von Gefallsucht und Effektheischerei, wie es ihm das Gesamtwerk Meyerbeers suggeriert. Allein, reduziert auf das musikalische Moment und ohne gängige Interpretationskontexte, ähnelt die Tonsprache des letzten Satzes einem Meyerbeer stärker als einer der vorangegangenen Sinfonien Beethovens. Wagner hat demnach fast keine andere Wahl, als eigenes Nichtverstehen einzuräumen, wenn er sich selbst das ‚Originalgenie Beethoven‛ bewahren will, was durchaus aufrichtig gedacht ist: Die Spannung zwischen dem, was Beethoven für Wagner bedeutet und der Ästhetik seiner letzter Sinfonie, kann, wenn Wagner seine eigene Ästhetik nicht verleugnen will, nur in einer Art Kapitulation münden. Für die vorliegende Untersuchung zwar schon außerhalb des relevanten Zeitrahmens, aber in der Gesamtbetrachtung nicht uninteressant, liest sich in diesem Zusammenhang ein Hinweis aus Wagners Abhandlung Über das Dirigieren von 1869: Ich hatte mir die Partitur dieser Symphonie selbst kopirt, und ein Klavierarrangement zu zwei Händen davon ausgearbeitet. Wie erstaunt war ich, von der Aufführung derselben im Gewandhause nur die allerkonfusesten Eindrücke zu erhalten, ja durch diese endlich mich so sehr entmuthigt zu fühlen, daß ich mich vom Studium Beethoven's, über welchen ich hierdurch völlig in Zweifel gerathen war, für einige Zeit gänzlich abwendete. 78

Wagner findet schließlich die Lösung des Geheimnisses in der Interpretation des Werkes – eine weitere Aufführung führt ihn wieder zurück zum bewunderten Genie Beethovens: Von der allergründlichsten Belehrung jedoch ward es für mich, endlich von dem sogenann ten Konservatoir-Orchester in Paris im Jahre 1839 die zuletzt mir so bedenklich gewordene „neunte Symphonie“ gespielt zu hören. Hier fiel es mir denn wie Schuppen von den Augen, 77 78

A.a.O. Richard Wagner: SSuD, Bd. 8, S. 270.

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was auf den Vortrag ankäme, und sogleich verstand ich, was hier das Geheimniß der glücklichen Lösung der Aufgabe ausmachte.79

Von kritikloser Bewunderung über Zweifel am Sinn des Werkes weiter zur eigenen Ermannung, sich gänzlich auf die Erhabenheit des Werkes einzulassen, bis hin zum Eindruck absoluter Konfusion, was zum Abwenden von Beethoven geführt hat, um schließlich, fast knopfdruckartig, die „ Lösung“ des Beethoven‛schen „Geheimnisses“ auf Seiten der Interpreten, nicht beim Komponisten zu finden – Wagner mäandert ruhelos, fast getrieben von einer Seite zur anderen des weiter oben beschriebenen Spannungsfeldes. Was sich aus der skizzierten Problematik hinsichtlich Beethovens letzter Sinfonie ableiten lässt, ist zweierlei. Erstens: Wagner lehnt die Tonsprache Meyerbeers weder bzw. keineswegs ausschließlich wegen dessen Religionszugehörigkeit oder menschlicher Befindlichkeiten ab, sondern befindet, wie sich durch seine Irritation in Bezug auf Beethovens Sinfonie offenbart, eine eklektizistische und/oder effektorientierte Stilistik tatsächlich für ästhetisch bedenklich. Und – entscheidend – zweitens: Das Phänomen des überbordenden musikalischen Effektes lässt sich, selbst aus Perspektive Wagners, weder auf die Judenschaft noch aber auf die Ästhetik der italienischen bzw. französischen Oper des 19. Jahrhunderts reduzieren. Wagner billigt das Phänomen bei Beethoven letztlich nur wegen seines Entstehungskontextes, was die Persönlichkeit und Werkgeschichte Beethovens einschließt und wodurch der Moment des überzeichneten musikalischen Effekts in der Gesamtheit stark relativiert wird. Meyerbeers effektreiche Tonsprache, die ihm dem Vorwurf mangelnden authentischen Fühlens einbrachte und zu welcher man sich freilich geschmacklich positionieren mag, wie man will, kann unter Berücksichtigung der Werke zeitgenössischer nicht-jüdischer Tonsetzer nicht als Phänomen genuin-jüdischen Kunstschaffens interpretiert werden. Im Ganzen gleicht diese Feststellung fast einer apriorischen Selbstverständlichkeit – und dennoch fügt sich diese abschließende Untersuchung nur durch ihre Explizitheit als letztes Puzzleteil in die Gesamtbetrachtung des Authentizitätsproblems in der deutsch-jüdischen Musikkultur.

79

Ibid., S. 271.

Reflexionen Die geschilderten und besprochenen Ressentiments gegenüber der Person und dem Werk Gioachino Meyerbeers markieren in dieser Untersuchung den Abschluss der Betrachtung zur Entwicklung des Authentizitätsproblems in der deutsch-jüdischen Musikkultur. Dabei verlaufen, wie dargestellt, menschliche Faktoren, Fragen nach Religionszugehörigkeit, Widersprüchlichkeiten und nicht zuletzt der ebenso banale wie problematische Aspekt des persönlichen Geschmacks untrennbar ineinander, woraus sich bequem die Eigenheit der untersuchten Entwicklung ableiten lässt: Der zeitgenössische kultur- bzw. musikschaffende Jude des 19. Jahrhunderts lässt sich aus antijüdischer bzw. antisemitischer Sicht nicht aufwandslos mit der über die Jahrhunderte kultivierten Schablone des ‚inauthentischen Juden‛ überspannen. Wo, stark vereinfacht, die Reformationsbewegung das Bild des ‚inauthentischen Juden‛ aufgreift und nährt, bezieht sie sich neben der unterstellten inneren Kondition auf die jüdische Ausdrucksform. Dieser Topos wirkt nun bis in die Moderne hinein und wird wirkungsmächtig in Richard Wagners Aufsatz paraphrasiert. Wagners Rückgriff auf reformatorische Erklärungen überbrückt mit seiner Übertragung auf neuzeitliches jüdisches Kulturschaffen jedoch eine Spanne, innerhalb welcher judenkritische Kommentare keineswegs fugenlos ineinandergreifen. Ein grundlegendes Problem ergibt sich dabei aus der verallgemeinernden Unterstellung einer fortschrittsfeindlichen Diaspora der Juden, welche Moral und Kultur einschließt. Indem – nicht zuletzt auf Spekulationsbasen wie bei Johann Nikolaus Forkel – die musikkulturelle Leistung der alttestamentlichen Juden als kümmerlich, epigonal und somit als inauthentisch überschrieben wird, entsprechen betreffende Kritiker damit nicht nur in Ausschnitten einer protestantischen Haltung, die nach religiöser Identität und damit nach Abgrenzung trachtet, sondern bilden den Nährboden für die Zeit jener Kritiken, welche sich auf zeitgenössisches, nicht auf alttestamentliches jüdisches Musikschaffen beziehen. Dabei ist die festgestellte Diskrepanz zwischen katholischen und protestantischen Autoren bemerkenswert: Der bewahrende Traditionalismus des orthodoxen Judentums wird im Katholizismus gespiegelt, wodurch die Vorwürfe wie jene der Inauthentizität durch Epigonalität und andere auf katholischer Seite nicht in der Form vertieft werden wie auf protestantischer Seite. Wo die Betrachtungen katholischer Autoren wie Athanasius Kircher und Martin Gerbert das vorchristliche jüdische musikalische Gotteslob als eine Art musikalischer hebraica veritas anerkennen und sie den Folgebetrachtungen über Instrumentenbau, Psalmgesang u.a. zugrunde legen, distanziert sich das protestantische Musikschrifttum, hier repräsentiert von Johann Nikolaus Forkel und Johann Mattheson, von der Idee einer gemeinsamen Spiritualität und (ver)urteilt aus dieser Position heraus. Während sich diese Attitüde auf Beurteilungen des jüdischen Kunstschaffens auf die Zeit der Emanzipation überträgt, manifestiert sich parallel dazu durch den

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Reflexionen

katholischen Cäcilianismus die äußerliche Entsprechung des Kultur bewahrenden Charakters einer orthodoxen Religion, welche durch die tendenziell stärkere Subjektbezogenheit in protestantischen Kulturbetrachtungen kontrastiert wird. Zwar kann nicht davon die Rede sein, dass die protestantische Kirchenmusik keine Restaurationsbestrebungen zu verzeichnen hat, in einer zentralisierten und formellen Analogie zum katholischen Cäcilianismus ist jene jedoch nicht zu verorten. Das talmudische Konzept des Bewahrens und Zurückgreifens auf bereits Geleistetes läuft hier bemerkenswert parallel und bildet sich idealerweise in erzieherischer Kleinform ab, wodurch die jüdische Oberschicht des beginnenden 19. Jahrhunderts ihrer Nachkommenschaft eine umfassende Bildung gekoppelt an die Anerkennung früherer Leistungen ermöglicht. Dieses Phänomen ist und war freilich kein singulär jüdisches, allerdings ist es auch ein jüdisches, und wenn die Frage nach den Ursächlichkeiten von Traditionsbewusstsein gestellt wird, darf dieser Aspekt nicht unterschlagen werden. Das nach Autarkie trachtende Originalgenie des 19. Jahrhunderts, welches möglicherweise nur als Idee existiert, weist in seinem Ringen um Selbstausdruck jede zu deutlich erkennbare Struktur von Rückbesinnung, besonders in der Form von Nachahmung, von sich und sieht sich in höherem Maße als Überwinder und Erneuerer als derjenige, der bereits Bestehendes als Grundlage zum weiteren Aufbau nutzt. Autoren wie der 1856 geborene Achad Ha'am machen allerdings auf die für sie bestehende Notwendigkeit zur Nachahmung aufmerksam, um eine Kultur sinnvoll vorantragen zu können, was bei Achad Ha'am im weiteren Sinne die Notwendigkeit der jüdischen Assimilation durch Nachahmung berührt. Er lehnt jedoch eine selbstentäußernde Nachahmung zu Gunsten eines Konkurrenzmodells ab, welches sich mühelos in einen Entwurf für Musikschaffen übersetzen lässt. Die Kritik am jüdischen Komponisten des 19. Jahrhunderts, unzählige Male und unter anderem von Hermann Marggraf, Gustav Kühne, Theodor Uhlig und nicht zuletzt durch Richard Wagner formuliert, operiert dabei mit dem oft expliziten, stets aber impliziten Vorwurf des Epigonalismus, wie er in den entsprechenden Schriften des 18. Jahrhunderts als Charakteristikum der alttestamentlichen Juden dargestellt wurde – und spätesten ab diesem Punkt offenbart sich die absolute Sperrigkeit einer direkten Übertragung als auch das einem solchen Übertragungsversuch innewohnende Verhängnis. So ist Wagners Aufsatz von 1850 zwar sicherlich in einer Traditionslinie der Kritik am jüdischen Kulturschaffen zu verankern, ihm aber neben der historischen Stringenz des bloßen Phänomens auch eine inhaltliche zugestehen zu wollen, kann nicht funktionieren. Der assimilierte, nicht selten getaufte und an der Gesellschaft aktiv teilhabende Jude des 19. Jahrhunderts kann nicht als kulturelles Pendant zum alttestamentlichen Juden begriffen werden. Aus diesem Grund weicht der Antijudaismus fast notwendig einem Antisemitismus, welcher sich auf

Reflexionen

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rassentheoretische Zuschreibungen verlagert. Im Musikschrifttum begegnet dieser Typus spätestens, wenn auch noch subtil, in der Schrift Uhligs. Wagners Beharren auf dem kulturell erfahrbaren Rassenunterschied zwischen Juden und Ariern spricht dann für sich. In noch größere Plausibilitätsnot gerät die historische Fortführung des Topos jüdischer Inauthentizität schließlich im Nationalsozialismus, wenn die Behauptung inauthentischen und inoriginellen Komponierens in einen Entartungsvorwurf umschlägt, welcher wiederum per definitionem die Unterstellung von ‚zu viel Originellheit‛ in sich trägt. Einzig verbindend zwischen beiden Behauptungen ist der Mangel an ‚Eigentlichkeit‛ – allerdings nähern sich dabei beide Einstellung aus völlig entgegengesetzten Positionen. In diesem, bezogen auf den relativ kurzen Zeitraum, nahezu abrupten und derart extremen Umschwung zeigt sich besonders deutlich, warum eine pauschale Zuschreibung ‚jüdischer Inoriginalität‛ (zu wenig Originalität) bzw. ‚jüdischer Entartung‛ (zu viel Originalität) jeder Glaubwürdigkeit entbehren muss. Am Beispiel Arnold Schönbergs dokumentiert sich schließlich die Plausibilitätszwangslage des Antisemitismus: Das Ressentiment gegen die Juden verlangt, eine antisemitische und abwertende Ästhetik zu formulieren, und nicht etwa ein sepezifisch ‚jüdischer Stil‛ begründet jene Ressentiments. Nur so ist zu erklären, dass sich das Inauthentizitätsmodell mangelnder Originalität des 19. Jahrhunderts einige Dekaden später in sein Gegenteil verkehrt – würde hier tatsächlich eine inhaltliche Stringenz herrschen, wäre nicht Schönberg aufgrund einer vermeintlichen ‚Entartung‛ diffamiert, sondern beispielsweise der nicht-jüdische Igor Strawinsky kritisiert worden, welcher sich mit seinem Klassizismus viel stärker einer Epigonalität ‚schuldig‛ gemacht hat, als es bei Schönberg je hätte der Fall sein können. Dieser Zirkelschluss modelliert sehr deutlich die teleologische Praxis sowohl des romantischen Antisemitismus als auch der nationalsozialistischen Ästhetik, welche sich damit selbst jede Glaubwürdigkeit rauben. Im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Ästhetik tendieren die Bewertungskonzepte nach 1945 noch immer leicht dazu, eine patriotische bzw. nationalistische Haltung nicht nur als notwendige Bedingung für eine antisemitische Einstellung zu bewerten, sondern beide Positionen mitunter sogar als bedeutungsgleich zu behandeln. Als besonderes Problem konnten deswegen die Einschätzungen der Parallelverläufe von Patriotismus, Nationalismus und Antisemitismus ausgemacht werden, was besonders nachhaltig die Notwendigkeit zur Differenzierung unterstreicht, weil eine gegebene Parallelität nicht einfach für eine Wesensgleichheit von Patriotismus, Nationalismus und Antisemitismus steht. So lässt sich nicht jedem Antisemiten des 19. Jahrhunderts ein ausgeprägter Nationalismus anheften, noch weniger muss jede deutlich nationalistische Gesinnung für eine Antisemitismuskorrelation stehen. Die Kritiken Ludwig Rellstabs und Robert Schumanns belegen die nicht bestehende Zwangsläufigkeit einer solchen Wechselbeziehung (wobei sich allerdings gezeigt hat, dass eine Eklektizismusfeindlichkeit im Sinne eines Abzielens auf das Bewahren kultureller ‚Reinheit‛ in Teilen analog mit

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Reflexionen

einer politischen Xenophobie läuft – allerdings ohne dass jene Xenophobie unvermeidlich als Antisemitismus übersetzt werden muss oder darf). Der betroffene Blick nach 1945 hat hier in Teilen unsauber erfasst, was Tatbestand ist und was Projektion: Dass Schumann noch heute streckenweise als Antisemit behandelt wird, ist dabei ein unerfreuliches Ergebnis und fordert umfassende Korrektur. 1 Kritik an einem Juden a priori als antisemitische Handlung zu verurteilen, diskriminiert nicht nur den Kritiker, sondern reduziert den Juden einzig auf sein Judesein. Wenn Meyerbeer als Komponist kritisiert wird, sei es auch polemisch, sollte nicht die Ebene der Profession mit jener der Religionszugehörigkeit ausgetauscht werden. Schumanns Kritik an Meyerbeer ist zu Recht als zu scharf und schädigend getadelt worden, aber sie drückt gleichzeitig nicht weniger als ein tiefes ästhetisches Bedürfnis aus, welches weit jenseits von Meyerbeers oder anderer Effekthaftigkeit lebt. Unter diesem Gesichtspunkt wenigstens lohnt der zweite Blick auf und in die berüchtigte Kritik. Es hat sich auch gezeigt, wie wenig ratsam es ist, vor dem Hintergrund der gängigen Praxis, kulturgeschichtliche Strömungen der Handhabung halber durchaus generalisierend zusammenzufassen, aus Gründen des vermeintlichen heiklen Charakters des Umgangs mit der jüdischen Kultur explikative Überschreibungen zu verweigern. Das auch im Elternhaus sozial gestärkter jüdischer Familien de facto praktizierte Traditionsbewusstsein lässt sich leicht im Fall Meyerbeers, aber auch Felix Mendelssohns als eine der Grundlagen für die kosmopolitische, internationale und europäische Haltung ausmachen, und die Praxis einer akkreditierenden Nachahmung als Basis und Keimzelle eigener Leistungen ist eng damit verbun den, erst recht im aufkommenden musiktheoretischen Historismus des 19. Jahrhunderts. Man darf dieses Phänomen mit der jüdischen Orthodoxie, hier im Sinne einer prägenden, auf Bewahrung abzielenden Erziehung, in Verbindung bringen, ohne sich einem Pauschalisierungsvorwurf ausgesetzt zu sehen. Namhafte Erscheinungen wie Wolfgang Amadeus Mozart oder Franz Liszt stehen neben einer beträchtlichen Anzahl etwas weniger bekannter nicht-jüdischer Komponisten dafür ein, dass eine innerliche Offenheit, welche sich im kosmopolitischen Werk abbildet, in dieser Frage selbstverständlich keine genuin jüdische Einzigartigkeit darstellt. Genauso wenig ließe sich dieses Phänomen auf alle jüdischen Kleinstrukturen innerhalb der Emanzipation übertragen. Räumt man aber ein, dass ein bestimmter Hintergrund von finanzieller Absicherung und bewahrendem Traditionalismus eine der Möglichkeiten beschreibt, welche als Basis für einen kosmopolitischen bzw. breiten oder partiell zurückgreifenden Kompositionsstil fungieren kann, darf man auf einen Zusammenhang zwischen Meyerbeers und auch Felix 1

Eine systematische Annäherung an die Auseinandersetzung mit Schumanns unterstelltem Antisemitismus leistet hier z.B. Ulrich Charpa in: „Anti-Semitism as Mental Mechanism. A Model Suggested by Some Similarities between 19 th Century Anti-Semitisms in Music and Science”, in: English and German Nationalist and Anti-Semitic Discourse , (Hrsg. S. Baumgarten, F. Rash und D. Wildmann.), Oxford 2011.

Reflexionen

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Mendelssohns Herkunft und der entsprechenden Tonsprache hinweisen (wobei hier alles andere als eine Stilnivellierung beider gemeint ist). Mendelssohns berühmter Ausspruch an den Lehrer Zelter darf deswegen hier nicht unbeachtet bleiben, weil darin all die im Laufe der Betrachtung gesammelten Aspekte bezüglich der Nachahmung prägnant formuliert werden – von der Begriffsdiskussion, über Achad Ha'ams Nachahmunsmodell bis hin zur Geisteshaltung bestimmter Elternhäuser, welche dem bewahrenden Traditionalismus Toleranz und Offenheit für neue Strömungen zur Seite stellen: Freilich kann mir Niemand verbieten, mich dessen zu erfreuen und an dem weiter zu arbeiten, was mir die großen Meister hinterlassen haben, denn von vorne soll wohl nicht jeder wieder anfangen; aber es soll auch ein Weiterarbeiten nach Kräften sein, nicht ein todtes Wiederholen des schon Vorhandenen […].2

Damit ergibt sich aber nicht, wie durch judenkritische Schriften nahegelegt, eine konstitutive Verbindung von Judesein und inauthentischem Epigonalismus – dem unter diesen Vorzeichen schaffenden Komponisten öffnet sich grundsätzlich die Möglichkeit, nicht mehr und nicht weniger epigonal und auch nicht mehr oder weniger original als seine (in diesem Sinne) Geistesverwandten Mozart und Liszt produktiv zu werden. Was sich damit andeutet, ist ein mögliches Nebeneinander von Originalität und Epigonalität, auch wenn dies zunächst einem Paradoxon gleicht. So wie in der Begriffsdiskussion um Originalität muss auch hier verfahren werden: Es gibt keinen Schwellenwert, kein Alles-Oder-Nichts-Prinzip, sondern ein graduelles Wahrnehmen, welches zuletzt abhängig vom Rezipienten, nicht vom Komponisten ist. So kann es sein, dass sich bei einem Komponisten, welcher ge meinhin als ‚original‛ gilt, epigonalistische Praktiken nachweisen lassen, wie es einem mutmaßlichen Epigonen durchaus gelingen kann, einen ‚originellen Wurf‛ zu landen. Nicht nur die Graduierung der Wahrnehmung ist hier relevant, es darf genauso wenig die personale innerliche Wandelbarkeit ausgeklammert werden: Ein ‚epigonaler Komponist‛ – unerheblich, welchen Hintergrunds – muss nicht als solcher sein Werk begonnen bzw. beendet haben. Und wenn man einkalkuliert, wie zu Beginn der Arbeit als auch im Aufsatz von Achad Ha'am dargelegt, dass das Nachahmungsmoment auf jedem Lebensfeld, auch oder sogar erst recht auf dem kulturellen, als absolut essentiell begriffen werden sollte, verliert sich leicht die mittlerweile etablierte negative Konnotation des Epigonalen. Es muss möglich sein, eine epigonale Praxis eines Künstlers als reinen Tatbestand zu benennen, ohne damit eine implizite Abwertung zu formulieren. Eine eventuelle Bewertung des Tatbestandes muss hier separat begründet werden. Für den Eklektizismus als eine der möglichen Praktiken, welche auf eine epigonale Einstellung des Künstlers verweisen kann, gilt Ähnliches, wenn auch der Eklektizismus mit keiner entsprechenden Unvermeidlichkeit steht wie ein wie auch immer gearteter Epigonalismus als solcher. Damit wären die Benennungen von Epigonalität und/oder Eklektizis2

Felix Mendelssohn Bartholdy: Briefe aus den Jahren 1830 bis 1847 (Hrsg. Paul Mendelssohn Bartholdy), Leipzig 1870 (2. Auflage), S. 72.

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Reflexionen

mus ohne religionsbezugnehmende Inhalte von ihrer Nähe zu einer antisemitischen Ästhetik dauerhaft enthoben. Der Frage nach Authentizität im Musikschaffen könnte dadurch auf ‚neutralem Boden‛ ganz neu begegnet werden.

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Siglen GS MGG 1 MGG 2 NZfM SB SSuD RGG

= Gesammelte Schriften (Adorno Gesamtausgabe) = Musik in Geschichte und Gegenwart, Kassel 1949ff. = Musik in Geschichte und Gegenwart, Kassel 1995 = Neue Zeitschrift für Musik = Sämtliche Briefe (Wagner Briefwechsel) = Sämtliche Schriften und Dichtungen (Wagner Gesamtausgabe) = Religion in Geschichte und Gegenwart

KL ANGZEITEN MUSIK , POLITIK UND GESELLSCHAF T HERAUSGEGEBEN VON DETLEF ALTENBURG, MICHAEL BERG UND ALBRECHT VON MASSOW



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