Nach den prinzipiellen Fragen zur Grundlegung des Bonner Forschungsprojekts, die im vorherigen Band dieser Reihe diskuti
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German Pages 474 [484] Year 2018
Table of contents :
INHALT
Vorbemerkung
Die Geschichte der Musik und Musikkulturin Danzig und Westpreußen – Eine Einführung
INTRODUKTION
Geteilte Vergangenheit – gemeinsame Erinnerung? Öffentliche und wissenschaftliche Diskurse über die Multikulturalität Danzigs
Zusammenfassung
Streszczenie
Abstract
MUSIKGESCHICHTLICHER HAUPTTEIL I
Deutscher Orden und Musik
Zusammenfassung
Streszczenie
Abstract
Liturgische Musikhandschriften des Deutschen Ordens in und aus Preußenland
Zusammenfassung
Streszczenie
Abstract
Ausgewählte musikalische Manuskripte und Drucke aus der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kulturregion des unteren Weichsellandes
Zusammenfassung
Streszczenie
Abstract
Der Musikdruck in Danzig, Elbing und Thorn während der Frühen Neuzeit
Zusammenfassung
Streszczenie
Abstract
Danzig bis zu den Polnischen Teilungen: Ein Zentrum musikkulturellen Austausches
Zusammenfassung
Streszczenie
Abstract
Violin making in Gdansk (Danzig/Gdańsk), especially in the 17th and 18th centuries
Abstract
Streszczenie
Zusammenfassung
Annex
Zwischen Ost und West – Kultur und Politik in PreußenKöniglich-Polnischen Anteils im Zeitalter der Aufklärung
Zusammenfassung
Streszczenie
Abstract
Mal in dieser Gasse, mal in jener … – Die Irrfahrten der Polyhymnia durch Danzig zur Zeit von Daniel Chodowiecki
Zusammenfassung
Streszczenie
Abstract
Mehrsprachige adlige und bürgerliche Soziabilität im Königlichen Preußen bzw. in Westpreußen zwischen 1750 und 1850. Aspekte der regionalen Musikkultur und der Herausbildung ‚nationaler‘ Repertoires
Zusammenfassung
Streszczenie
Abstract
Sängervereine in Westpreußen zwischenVormärz und Reichsgründung
Zusammenfassung
Streszczenie
Abstract
Quellen zur Musikkultur der Stadt Thorn (Toruń) in der Zeit der Polnischen Teilungen: Das Musikleben der Deutschen im 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts
Zusammenfassung
Streszczenie
Abstract
KULTURWISSENSCHAFTLICHES INTERMEZZO
‚Provinz‘ – ‚Heimat‘ – ‚Nation‘. Die Inventarisation von Bau- und Kunstdenkmälern in Danzig und Westpreußen (1879-1945) und ihre Bearbeitung in der BRD
Zusammenfassung
Streszczenie
Abstract
Danzig – unverwechselbar? Imaginierte Soundscape, bürgerliches Musikleben und musikalische Individualitäten einer historischen Stadt im 19. und 20. Jahrhundert
Zusammenfassung
Streszczenie
Abstract
MUSIKGESCHICHTLICHER HAUPTTEIL II
Das Projekt eines ‚Nationaltheaters‘ in Graudenz und die staatliche Förderung von deutschen Gesangvereinen: Schlaglichter auf die Musik- und Kulturpolitik in Westpreußen zwischen 1905 und 1912
Zusammenfassung
Streszczenie
Abstract
„Dem Lied zur Ehr, dem Feind zur Wehr!“ –Die Sängerschaft Normannia zu Danzig (1905-1935)
Zusammenfassung
Streszczenie
Abstract
Die Klavier- und Harmoniumbauer Joseph und Max Lipczinsky in Lauenburg (Lębork) und Danzig (Gdańsk)
Zusammenfassung
Streszczenie
Abstract
Quellen zur deutschen Musikkultur in Toruń (Thorn) während der Zwischenkriegszeit
Zusammenfassung
Streszczenie
Abstract
„Lied im Grenzlandkampf als Stärkung des Deutschtums“ – Das deutsche Laienchorwesen in Danzig und im Gebiet der vormaligen Provinz Westpreußen während der Zwischenkriegszeit
Zusammenfassung
Streszczenie
Abstract
Willibald Omankowski als Opern- und Konzertkritiker. Zum Danziger Musikleben um 1925
Zusammenfassung
Streszczenie
Abstract
Anhang
Das Thorner Stadttheater als Musikbühne in der Zeit des Zweiten Weltkrieges
Zusammenfassung
Streszczenie
Abstract
Grundzüge der Musikpflege in der Landsmannschaft Westpreußen und im Bund der Danziger
Zusammenfassung
Streszczenie
Abstract
Die Musikkultur der deutschen Minderheit in Gdańsk (Danzig) und dem Gebiet der ehemaligen Provinz Westpreußen
Zusammenfassung
Streszczenie
Abstract
MUSIKETHNOGRAFISCHE CODA
Aspekte der kaschubischen Musikkultur
Zusammenfassung
Streszczenie
Abstract
Pomeralia (Pomorze Gdańskie) as a cultural borderland – German influences in Kashubian folk music, with emphasis on the period between mid-19th century and 1918
Abstract
Streszczenie
Zusammenfassung
ERGÄNZENDE INFORMATIONEN
Autorinnen und Autoren
Personenregister
Ortsregister
Abbildungsverzeichnis
Beiträge zur Geschichte der Musik und Musikkultur in Danzig und Westpreußen Herausgegeben von Erik Fischer
BAND Franz Steiner Verlag
Berichte des interkulturellen Forschungsprojektes „Deutsche Musikkultur im östlichen Europa“
Erik Fischer (Hrsg.) Beiträge zur Geschichte der Musik und Musikkultur in Danzig und Westpreußen
Berichte des interkulturellen Forschungsprojekts „Deutsche Musikkultur im östlichen Europa“ ——————————— Herausgegeben von Erik Fischer
Band 5
Erik Fischer (Hrsg.)
Beiträge zur Geschichte der Musik und Musikkultur in Danzig und Westpreußen
Redaktion: Alexander Kleinschrodt und Gerhard Müller
Franz Steiner Verlag
Gefördert vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages
Die graphische Gestaltung der Umschlagillustration, die von Marcus Chwalczyk, Mülheim an der Ruhr, stammt, beruht auf einer Aufnahme von der großen Orgel der Kathedrale von Oliva. Der Fotograf, Zbigniew Michalak, Köln, hat dieser Verwendung freundlicherweise zugestimmt. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2018 Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-09325-5 (Print) ISBN 978-3-515-12110-1 (E-Book)
Inhalt
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INHALT
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ix Die Geschichte der Musik und Musikkultur in Danzig und Westpreußen – Eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xi INTRODUKTION
Jörg Hackmann Geteilte Vergangenheit – gemeinsame Erinnerung ? Öffentliche und wissenschaftliche Diskurse über die Multikulturalität Danzigs . . . . . . . . 3 Zusammenfassung | Streszczenie | Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 MUSIKGESCHICHTLICHER HAUPTTEIL I
Vom Spätmittelalter bis zur deutschen Kaiserzeit Udo Arnold Deutscher Orden und Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Zusammenfassung | Streszczenie | Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Anette Löffler Liturgische Musikhandschriften des Deutschen Ordens in und aus Preußenland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Zusammenfassung | Streszczenie | Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Ewa Laskowska-Kwiatkowska Ausgewählte musikalische Manuskripte und Drucke aus den ehemaligen westpreußischen Gebieten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Zusammenfassung | Streszczenie | Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Detlef Haberland Der Musikdruck in Danzig, Elbing und Thorn während der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Zusammenfassung | Streszczenie | Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Klaus-Peter Koch Danzig bis zur Phase der Polnischen Teilungen : Ein Zentrum musikkulturellen Austausches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Zusammenfassung | Streszczenie | Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
Inhalt
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Benjamin Vogel Violin making in Gdansk (Danzig, Gdańsk), especially in the 17th and 18th centuries . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Abstract | Streszczenie | Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Annex : – Luthiers in Gdansk recorded between ca. 1550 and 1950 . . . . . . . . 115 – The most prominent luthiers in Gdansk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Karin Friedrich Zwischen Ost und West – Kultur und Politik in Preußen Königlich-Polnischen Anteils im Zeitalter der Auf klärung . . . . . . . . . . . . . 120 Zusammenfassung | Streszczenie | Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Jerzy Marian Michalak Mal in dieser Gasse, mal in jener … – Die Irrfahrten der Polyhymnia durch Danzig zur Zeit von Daniel Chodowiecki . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Zusammenfassung | Streszczenie | Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Hans-Jürgen Bömelburg Mehrsprachige adlige und bürgerliche Soziabilität im Königlichen Preußen bzw . in Westpreußen zwischen 1750 und 1850 . Aspekte der regionalen Musikkultur und der Herausbildung ‚nationaler‘ Repertoires . . 151 Zusammenfassung | Streszczenie | Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Christian Pletzing Sängervereine in Westpreußen zwischen Vormärz und Reichsgründung . . . 167 Zusammenfassung | Streszczenie | Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Katarzyna Grysińska-Jarmuła Quellen zur Musikkultur der Stadt Thorn (Toruń) in der Zeit der Polnischen Teilungen : Das Musikleben der Deutschen im 19 . und am Anfang des 20 . Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Zusammenfassung | Streszczenie | Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 KULTURWISSENSCHAFTLICHES INTERMEZZO
Katja Bernhardt ‚Provinz‘ – ‚Heimat‘ – ‚Nation‘ . Die Inventarisation von Bauund Kunstdenkmälern in Danzig und Westpreußen (1879–1945) und ihre Bearbeitung in der BRD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Zusammenfassung | Streszczenie | Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
Inhalt
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Peter Oliver Loew Danzig – unverwechselbar ? Imaginierte Soundscape, bürgerliches Musikleben und musikalische Individualitäten einer historischen Stadt im 19 . und 20 . Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Zusammenfassung | Streszczenie | Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 MUSIKGESCHICHTLICHER HAUPTTEIL II
Das zerklüftete 20 . Jahrhundert Jürgen W. Schmidt Das Projekt eines ‚Nationaltheaters‘ in Graudenz und die staatliche Förderung von deutschen Gesangvereinen : Schlaglichter auf die Musikund Kulturpolitik in Westpreußen zwischen 1905 und 1912 . . . . . . . . . . . 259 Zusammenfassung | Streszczenie | Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Harald Lönnecker „Dem Lied zur Ehr, dem Feind zur Wehr!“ – Die Sängerschaft Normannia zu Danzig (1905–1935) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Zusammenfassung | Streszczenie | Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Krzysztof Rottermund Die Klavier- und Harmoniumbauer Joseph und Max Lipczinsky in Lauenburg (Lębork) und Danzig (Gdańsk) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Zusammenfassung | Streszczenie | Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 Aleksandra Kłaput-Wiśniewska Quellen zur deutschen Musikkultur in Toruń (Thorn) während der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Zusammenfassung | Streszczenie | Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Helmke Jan Keden „Lied im Grenzlandkampf als Stärkung des Deutschtums“ – Das deutsche Laienchorwesen in Danzig und im Gebiet der vormaligen Provinz Westpreußen während der Zwischenkriegszeit . . . . . . . 315 Zusammenfassung | Streszczenie | Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 Jens Stüben Willibald Omankowski als Opern- und Konzertkritiker . Zum Danziger Musikleben um 1925 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Zusammenfassung | Streszczenie | Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Anhang : Chronologische Übersicht über die Musikkritiken . . . . . . . . . . . . . 348
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Inhalt
Marek Podlasiak Das Thorner Stadttheater als Musikbühne in der Zeit des Zweiten Weltkrieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Zusammenfassung | Streszczenie | Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Sarah Brasack Grundzüge der Musikpflege in der Landsmannschaft Westpreußen und im Bund der Danziger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Zusammenfassung | Streszczenie | Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Klaus Näumann Die Musikkultur der deutschen Minderheit in Gdańsk (Danzig) und dem Gebiet der ehemaligen Provinz Westpreußen . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Zusammenfassung | Streszczenie | Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 MUSIKETHNOGRAFISCHE CODA
Witosława Frankowska Aspekte der kaschubischen Musikkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Zusammenfassung | Streszczenie | Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 Dawid Martin Pomeralia (Pomorze Gdańskie) as a cultural borderland – German influences in Kashubian folk music, with emphasis on the period between mid-19th century and 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 Abstract | Streszczenie | Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 ERGÄNZENDE INFORMATIONEN
Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454
Vorbemerkung Die Forschungsstelle zur ‚Deutschen Musikkultur im östlichen Europa‘ war 2004 an der Universität Bonn eingerichtet worden und erfuhr dort – ebenso wie die zugehörige Publikationsreihe – durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien eine großzügige Förderung. In diesem Rahmen rückte 2007 das Problemfeld ‚Musikgeschichtsschreibung und Erinnerungskultur‘ für zwei Jahre in den Fokus der Arbeitsinteressen. Dabei wurde im Sinne einer kritischen Selbstreflexion zunächst überprüft, welche wissenschaftlichen Voraussetzungen und thematischen Konstellationen den Diskurs über eine ‚Deutsche Musikkultur im östlichen Europa‘ bestimmen. Der zweite Teil dieses Projektsegments wandte sich danach einem konkreten historischen Gegenstandsbereich zu: der Musik und Musikkultur Danzigs und Westpreußens. Gerade dieser Bereich bot reiche Möglichkeiten, bruchlos an die bis dahin verfolgten grundsätzlichen Überlegungen anzuknüpfen. ‚Westpreußen‘ lässt sich in weit geringerem Maße denn die anderen ehemaligen preußischen Provinzen als in sich geschlossenes Siedlungsgebiet verstehen, sondern trägt vielmehr die Signaturen einer jahrhundertelangen deutschpolnischen Beziehungsgeschichte. Das ‚Land an der unteren Weichsel‘ wird von einer nicht hintergehbaren Interkulturalität bestimmt, die sich in wechselhaften, exemplarisch zu nennenden historischen Konstellationen ausgeprägt und zur Formierung höchst divergenter Praktiken und Diskursmuster geführt hat. Diese prinzipiell binationale deutsch-polnische Perspektive wirkte sich auch auf die redaktionelle Disposition des vorliegenden Bandes aus. Bislang war zu deutschen und englischen Abstracts der Aufsätze nur dann noch eine weitere Zusammenfassung hinzugefügt worden, wenn es sich bei dem Beitrag um eine Übersetzungen aus einer dritten Sprache handelte. Nun aber bildete das Polnische nicht nur in einigen Fällen – als ‚dritte‘ Sprache – das Herkunftsidiom der beteiligten Forscherinnen und Forscher, sondern wurde als Trägerin eines internationalen Dialogs für den Gesamtzusammenhang konstitutiv. Diese sprachliche Symmetrie ist nun zumindest symbolisch gewährleistet, indem jeder ‚Zusammenfassung‘ und jedem ‚Abstract‘ ausnahmslos ein ‚Streszczenie‘ an die Seite gestellt worden ist. (Diese ‚Symmetrie‘ soll freilich nicht vorschnell überdecken, dass das kulturelle Profil der Region an der unteren Weichsel wesentliche Konturen auch durch das Kaschubische erhält.) – Die Konzentration auf eine geschlossene, überschaubare Region sowie deren binationale Prägung haben zudem die Entscheidung nahegelegt, in den Band nicht nur ein Verzeichnis der Personen, sondern auch ein Ortsregister zu integrieren. Eine alphabetische Auflistung der genannten Orte vermag für sich schon wichtige Auskünfte über die hier zu entdeckende individuelle ‚westpreußische‘ Topographie, über deren – nicht allein zufallsbedingte – Schwerpunktbildungen oder auch weiße Flecken, zu geben. Vor allem aber kommt der Konzeption von kognitiven Karten (‚mental maps‘) im deutsch-polnischen Kontext eine wohl kaum zu unterschätzende Bedeutung zu.
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Erik Fischer
Deshalb erschien die zweisprachige Erschließung der Ortsnamen in einem Register dringend geboten, damit der interkulturelle Dialog auch bei der geographischen Orientierung nicht durch Sprachbarrieren behindert wird. Bei Forschungsprojekten ergeben sich des Öfteren zeitliche Verwerfungen; nicht selten vertrösten Herausgeber die Beiträgerinnen und Beiträger von Jahr zu Jahr – und zuweilen kommt ein lange geplanter Band dann auch gar nicht mehr zustande. Bis an diese kritische Grenze ist auch die vorliegende Publikation gelangt. Nachdem alle Beiträge vorlagen, konnten die redaktionellen Arbeiten 2014 weitestgehend abgeschlossen werden. Zu dieser Zeit setzte allerdings eine Reihe von internen Problemen ein, durch die eine weitere Bearbeitung blockiert wurde. Erst längere Zeit später ließ sich das Vorhaben wieder neu beleben. Damit war zugleich jedoch der heikle Punkt erreicht, an dem sich eigentlich die Aufgabe gestellt hätte, alle 25 Beiträge neuerlich einer durchgängigen Aktualisierung zu unterziehen. Da sich dieses Unterfangen aber auf verschiedenen Ebenen als schlichtweg undurchführbar erwies, stellte sich somit die Alternative, Aufsätze zu veröffentlichen, in denen der aktuelle Forschungsstand nicht lückenlos berücksichtigt wird, – oder aber auf die Drucklegung insgesamt zu verzichten. Angesichts der größeren Zahl von Beiträgen, die grundlegende historische Zusammenhänge erschließen, sowie im Blick auf die sonst kaum in einer vergleichbaren Dichte gebotenen Vielschichtigkeit der thematischen Aspekte entschieden sich alle Beteiligten letztlich, die unbestreitbaren Nachteile der verzögerten Veröffentlichung in Kauf zu nehmen, um die Projektergebnisse zumindest in dieser Form der Öffentlichkeit zugänglich machen zu können. Wenn die Publikation jetzt tatsächlich vorgelegt werden kann, ist dies mithin ganz wesentlich den Autorinnen und Autoren zu verdanken, die – nicht anders als der Franz Steiner Verlag – den Bearbeitungsprozess konstruktiv gefördert und die Phasen der Stagnation verständnisvoll und geduldig hingenommen haben. Einen beachtlichen Anteil am Gelingen des Bandes kommt zudem den beiden Redakteuren Alexander Kleinschrodt und Gerhard Müller zu, die alle Texte redaktionell eingerichtet und auch sprachlich-stilistisch vereinheitlicht haben. Zeitweilig waren als Mitglieder der Bonner Forschungsstelle auch Sarah Brasack, Anna Kozok und Annelie Kürsten an diesen anspruchsvollen Tätigkeiten beteiligt. Großer Dank schließlich gebührt wiederum Dirk Kohlhaas, weil er die bearbeiteten Beiträge nochmals eingehend geprüft, nach Vorarbeiten von Alexander Kleinschrodt und Anna Kozok die Register erstellt und nun schon zum fünften Male die Abbildungen optimiert sowie den gesamten Text eingerichtet und für den Druck vorbereitet hat. Bonn, im Februar 2018
Erik Fischer
Erik Fischer (Bonn/Deutschland)
Die Geschichte der Musik und Musikkultur in Danzig und Westpreußen – Eine Einführung Im Jahre 1931 erschienen zwei gewichtige Beiträge zur Erforschung der Musikkultur im ‚deutschen Osten‘. Zum einen publizierte der „Westpreußische Geschichtsverein“ als 15. Band seiner „Quellen und Darstellungen“ eine umfangreiche „Geschichte der Musik und Musikpflege in Danzig“; ihr Autor ist Hermann Rauschning, der der Nachwelt weniger als Musikwissenschaftler denn als erster Danziger Senatspräsident der NSDAP und nachmaliger scharfer Kritiker des NSRegimes erinnerlich geblieben sein dürfte.1 Der renommierte Königsberger Verlag Gräfe und Unzer veröffentlichte zum anderen eine „Geschichte der Musik in Ost- und Westpreußen“; sie stammte aus der Feder von Joseph Müller-Blattau, der zu dieser Zeit als außerordentlicher Professor für Musikwissenschaft an der Albertina wirkte.2 Diese beiden – die bis dahin erbrachten Quellen- und Einzelforschungen zusammenfassenden – Monographien nahmen bald den Rang von Standardwerken ein und bilden bis heute Referenzpunkte für eine als eigenständig gedachte ‚westpreußische‘ Musikgeschichte: Während Rauschning die städtische Musikkultur der (zeitweiligen) Provinzhauptstadt Danzig aufarbeitet, erschließt Müller-Blattau anscheinend die Provinz insgesamt – und verfolgt dabei sogar das weit gesteckte Ziel, von den „echt musikgeschichtlichen Tatbeständen“ ausgehend, „die Selbständigkeit der Musikgeschichte und die innere Festigkeit und Geschlossenheit ihrer Entwicklung inmitten der allgemeinen Geistesgeschichte“ zu erweisen.3 Bei einer genaueren Betrachtung zeigt sich allerdings, dass dieses Vorhaben schwerlich umgesetzt wird. Abgesehen von gelegentlichen Bemerkungen zur Musikgeschichte Elbings, der Herbert Gerigk 1929 eine umfangreiche Studie gewidmet hatte4, konzentriert sich Müller-Blattau weitgehend auf Danzig und – vor allem – auf Königsberg. Rauschnings Darstellung, deren historischer Bogen sowieso nur bis ins frühe 19. Jahrhundert, „bis zur Auflösung der Kirchenkapel1 2 3 4
Hermann Rauschning. Geschichte der Musik und Musikpflege in Danzig. Von den Anfängen bis zur Auflösung der Kirchenkapellen. Danzig 1931 (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte Westpreußens. Bd. XV). – Ein Neudruck ist, hg. von der Nicolaus-Copernicus-Vereinigung, 2017 in Münster/Westfalen erschienen. Joseph Müller-Blattau. Geschichte der Musik in Ost- und Westpreußen von der Ordenszeit bis zur Gegenwart. Königsberg i. Pr. 1931. Ebd. S. 5. Herbert Gerigk. Musikgeschichte der Stadt Elbing. Teil I: Bis zum Ausgang der polnischen Zeit. Elbing 1929 (= Elbinger Jahrbuch. Zeitschrift der Elbinger Altertumsgesellschaft und der Städtischen Sammlungen zu Elbing. H. 8).
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Erik Fischer
len“, gespannt ist und somit Danzig als Hauptstadt der Provinz kaum noch tangiert, sieht den städtischen Raum auch in den früheren geschichtlichen Phasen nicht im Kontakt mit dessen Umland: das Zentrum gewinnt weder Ausstrahlungskraft für die Region noch nimmt es seinerseits Impulse aus der Peripherie auf. Aus unterschiedlichen Perspektiven geben beide Autoren mithin zu erkennen, dass die Musikgeschichte Danzigs für sich als autarker Prozess beschrieben werden kann und (im Sinne Müller-Blattaus) eine hohe „innere Festigkeit und Geschlossenheit ihrer Entwicklung“ aufweise. Angesichts des breit dokumentierten, überregional vernetzten und künstlerisch bedeutenden Musiklebens dieser Stadt erscheint es folglich plausibel, dass entsprechende Aktivitäten und Institutionen an anderen Orten des unteren Weichsellandes leicht als quantité négligeable eingeschätzt werden. Trotz dieser weitgehenden Konzentration auf das kulturelle Zentrum – und dies gilt mutatis mutandis auch für die Beschäftigung mit Königsberg – legt Müller-Blattau offenbar großen Wert darauf, im Titel seiner Monographie nicht die dominierenden Städte, sondern die jeweiligen Provinzen zu nennen, sie zudem durch die Konjunktion ‚und‘ zusammenzubinden und derart als gleichgewichtig einzuführen. Diese enge Verknüpfung scheint einerseits historisch legitimiert zu sein, beginnt die Darstellung doch mit der „Musik zur Zeit des Deutschen Ordens“5, in der die beiden späteren Provinzen noch integrierende Teile eines politisch, sozial und kulturell einheitlichen Territoriums gewesen sind. Andererseits ist die Betonung der Kohärenz gerade retrospektiv geboten: Nachdem durch den Versailler Vertrag hier „blutende Grenzen“6 entstanden seien, geht es nun darum, die im deutschen Narrativ entworfene, bis ins 20. Jahrhundert hinein kontinuierlich fortbestehende Einheit des Preußenlandes historiographisch festzuhalten und für spätere Generationen zu dokumentieren. Diese leitende Intention bestätigt nicht zuletzt der Kontext dieser Studie. Sie erschien als Sonderdruck aus der ambitionierten Sammelpublikation „Deutsche Staatenbildung und deutsche Kultur im Preußenlande“, die der Landeshauptmann der Provinz Ostpreußen ebenfalls im Jahre 1931 herausgegeben hat.7 Die Konstruktion einer ‚westpreußischen‘ Musikgeschichte entsprach freilich nicht nur den kulturpolitischen Bedürfnissen der Zwischenkriegszeit8, sondern 5 6 7
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Müller-Blattau (wie Anm. 2). S. 7-20. Ebd. S. 162. Vergleichbare Absichten verfolgt auch Hermann Rauschning, der das „Vorwort“ seiner Studie (wie Anm. 1) unumwunden mit dem Satz eröffnet: „Danzigs musikalische Vergangenheit darf als ein ausdrucksvolles Zeugnis des rein deutschen Kulturcharakters des Stadtstaates, vor allem während der Zugehörigkeit zum polnischen Staate, ein allgemeines Interesse beanspruchen“ (S. IX, im Neudruck S. XIX). Die hohe Bedeutung, die der Musik von den Nationalsozialisten beigemessen wurde, zeigt der Sammelband, den August Goergens unter dem Titel Danzig-Westpreußen. Ein deutsches Kulturland 1940 in Danzig herausgegeben hat. Als 3. Folge der Kulturpolitischen Schriftenreihe für den Reichsgau DanzigWestpreußen wendet sich der Band im Untertitel den drei Bereichen Bildende Kunst – Schrifttum – Musik zu. Hugo Socnik übernimmt es dort (S. 131-165), die Musikgeschichte Westpreußens darzustellen, und fordert abschließend, gerade auch in der Musik „dem Westpreußengau das verloren gegangene
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gewann erst recht nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Verlust der deutschen Ostgebiete eine wichtige Funktion. Insbesondere die Flüchtlinge und Vertriebenen beriefen sich nachdrücklich auf die Kulturleistungen der Deutschen in den früheren Siedlungsgebieten, und in diesem Zusammenhang galt es, möglichst auch für Westpreußen eigenständige ‚Geschichten‘ der einzelnen Schönen Künste vorweisen zu können. Dabei lag es nahe, für den Bereich der Musik zunächst an die historiographische Tradition anzuknüpfen: 1968 wurde, angeregt von Walther Hubatsch, das ‚Standardwerk‘ Müller-Blattaus ohne substantielle Veränderungen wiederaufgelegt.9 Gut zwanzig Jahre später unterzog sich dann Franz Kessler der Aufgabe, im Rahmen eines Sammelbandes eine neue „Musikgeschichte Westpreußens“10 zu verfassen. Der letzte deutsche Organist an St. Marien, der sich durch seine wissenschaftlichen Studien und praktischen Ausgaben um die Erschließung, Bewahrung und Verbreitung der Danziger Musik unschätzbare Verdienste erworben hat, folgt dabei naturgemäß der Gravitation des überragenden Zentrums Danzig. Immerhin aber nutzt er eine Reihe von älteren Quellen sowie von neueren Erträgen der Forschung11, auf deren Basis er nun auch häufiger auf Parallelentwicklungen in Elbing oder Thorn zu verweisen vermag. So kohärent sich Franz Kesslers Beitrag auch mit den drei weiteren Darstellungen der genannten Publikation – der Musikgeschichte Pommerns, Ostpreußens und der baltischen Lande – zu einem Tableau der deutschen Musikkultur in Nordosteuropa verbindet, sollte solch ein Arrangement ebenso wenig wie MüllerBlattaus Verknüpfung von Ost- und Westpreußen dazu verleiten, die strukturellen Unterschiede zwischen Westpreußen und den anderen Provinzen zu unterschätzen. In deutlicher Differenz zu Ostpreußen, erst recht zu Schlesien, aber auch zu Pommern weist ‚Westpreußen‘ als deutscher Kulturraum eine hohe Instabilität auf. Erst mit der Einrichtung der Provinz (1772) bzw. mit deren ein Jahr später vorgenommenen Benennung durch Friedrich II. ergab sich überhaupt eine Perspektive, dass aus diesem Land, das ethnisch, sprachlich, konfessionell wie gesellschaftlich von erheblicher Heterogenität geprägt war, eine kohärente Region hätte erwachsen können. Die relativ späte Chance für die Bewohner, eine auf ‚Westpreußen‘ bezogene kulturelle Identität zu entwickeln, wurde zudem noch
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geistige Gesicht wiederzugeben“, und zwar „als Ausdruck“ einer „in ihren Grundlagen erneuerten und vertieften Gemeinschaft“ (S. 161). Joseph Müller-Blattau. Geschichte der Musik in Ost- und Westpreußen. Zweite, erg. und mit 15 Abb. vers. Aufl. Wolfenbüttel/Zürich 1968. Franz Kessler. „Musikgeschichte Westpreußens“. Musikgeschichte Pommerns, Westpreußens, Ostpreußens und der baltischen Lande. Hg. Werner Schwarz/Franz Kessler/Helmut Scheunchen. Dülmen 1989 (= Die Musik der Deutschen im Osten Mitteleuropas. Bd. III). S. 53-103. Neben Kesslers eigenen Studien sei hier exemplarisch zumindest auf die zahlreichen Personal-Artikel der MGG (der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart ) sowie auf den ersten Band der Geschichte der Orgelbaukunst in Ost- und Westpreußen von 1333 bis 1944 von Werner Renkewitz und Jan Janca (Würzburg 1984) verwiesen. – Für die musikwissenschaftliche Regionalforschung ist es von großer Wichtigkeit, dass, nachdem Jan Janca und Hermann Fischer auch die beiden Teile des II. Bandes (Berlin 2008 bzw. Köln 2015) haben fertigstellen können, die grundlegende Geschichte der Orgelbaukunst inzwischen vollständig vorliegt.
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Erik Fischer
durch tiefgreifende Verschiebungen der territorialen Einheiten bzw. administrativen Ordnung gemindert: Erst 1878 gewann die Provinz Westpreußen mit ihrer Hauptstadt Danzig eine klare Kontur, – die aber schon 1919/20 vollständig nivelliert wurde. Unter dieser Voraussetzung wird hinlänglich klar, wie stark die Rede von einer – zumal exklusiv deutschen – Musikgeschichte Westpreußens auf Konstruktionen beruht. Joseph Müller-Blattaus Konzept, eine kontinuierliche Entwicklung mit der Zeit des Deutschen Ordens einsetzen zu lassen, resultiert beispielsweise aus einer anachronistischen Erschleichung. Die Brüchigkeit des Verfahrens, Westpreußen als Kategorie für musikalische – historische wie kulturelle – Einheitsbildungen zu nutzen, erweist sich ebenso auf der anderen Seite der Zeitleiste. Franz Kessler, der übrigens schon auf die Rückbindung an die Ordenszeit verzichtet und erst Mitte des 15. Jahrhunderts, mit dem „ausgehenden Mittelalter“12 einsetzt, bemüht sich, die Musikgeschichte aufgrund der einschlägigen Provenienz einzelner Komponisten und Musiker bis in seine eigene Gegenwart hinein fortzuschreiben. Dabei zeigt sich freilich erneut die konstitutive Schwerpunktbildung innerhalb der angeblich westpreußischen Musik: Die genannten Komponisten stammen ausnahmslos aus Danzig und hätten selbst kaum akzeptiert, zugleich als schöpferische Vertreter der Provinz in Anspruch genommen zu werden. Darüber hinaus sollte bei allen Versuchen, eine spezifisch westpreußische Kultur als eine fortzeugende, über das Kriegsende von 1945 hinauswirkende Kraft zu erweisen, bedacht werden, dass die entscheidende historische Zäsur bereits 1919/20 gesetzt worden war. Wer das Flucht- und Vertreibungsgeschehen im Umkreis des Kriegsendes auch für die untergegangene Provinz Westpreußen beansprucht, bezieht sich damit – zumeist stillschweigend – auch auf die fatale Brückenfunktion des von 1939 bis 1945 bestehenden nationalsozialistischen ‚Reichsgaus‘. Pointiert ausgedrückt, wäre demgegenüber aber festzuhalten, dass 1945 und in den Folgejahren nicht ‚Westpreußen‘ diese Region verließen, sondern Bürger der Freien Stadt Danzig, Bewohner Pommerns und Ostpreußens13 sowie Mitglieder der deutschen Minderheit in Polen. Angesichts der bislang erwähnten territorialen Formationen, die sich historisch im Land an der unteren Weichsel herausgebildet haben, erscheint es angeraten, diesen Prozess in einem knappen Aufriss noch einmal zusammenhängend darzu-
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Kessler (wie Anm. 10). S. 53-58. Wie rasch die nach dem Inkrafttreten des Versailler Vertrags vorgenommene Neuordnung der deutschen Verwaltungsstrukturen sich im musikhistorischen Diskurs niedergeschlagen hat – oder, im Umkehrschluss, welche geringe Verbindlichkeit ‚Westpreußen‘ bis zum Beginn der Zwischenkriegszeit als kulturelle Größe hatte entfalten können –, belegt Herbert Gerigk, der in der „Vorbemerkung“ seiner Musikgeschichte der Stadt Elbing (wie Anm. 4) das bescheidene Ziel formuliert, dass seine Arbeit „nur ein kleiner Baustein zu der grossen Aufgabe einer Musikgeschichte Ostpreussens sein [will und kann]“ (S. 3).
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stellen14. Dazu sollen sechs Kartenskizzen verhelfen, die einzelne Phasen dieser Entwicklung exemplarisch veranschaulichen (sie finden sich auf der Ausklapptafel nach S. xvi). Das erste Paar soll einen Überblick über die Vorgeschichte der nachmaligen Provinz Westpreußen ermöglichen. – Die Karte I/1 gibt einen Eindruck vom Territorium des Deutschen Ordens, das im Wesentlichen der Ausdehnung der späteren Provinzen Ost- und Westpreußen entsprach. Mit kaiserlicher und päpstlicher Billigung begann der Orden 1231, das masowische Kulmerland und das Gebiet der Prußen östlich der unteren Weichsel zu erobern. Die in sieben Jahrzehnten gewonnene Landesherrschaft festigte er, indem er den Hochmeistersitz 1309 nach Marienburg verlegte. Durch die Etablierung eines Rechtssystems und einer effektiven Verwaltung sowie durch die Einführung von funktionstüchtigen ökonomischen Strukturen – unter Einschluss einer eigenen Münzprägung – wurde Preußen dauerhaft an die westeuropäische Kultur angeschlossen. – Seit dem späteren 19. Jahrhundert wurden diese Leistungen des Deutschen Ordens undifferenziert der ‚deutschen‘ Kultur zugerechnet und zunehmend der Rechtfertigung preußischer Herrschaftsansprüche dienstbar gemacht. Die Skizze I/2 gibt das Terrain wieder, das in Polen als ‚Prusy Królewskie‘ (‚Königliches Preußen‘) vertraut ist. (Die ebenfalls gebräuchliche Bezeichnung ‚Prussia Occidentalis‘ sollte keineswegs vorschnell mit den deutschen Vorstellungen von ‚West-Preußen‘ zusammengebracht werden.) Der Name ‚Prusy Królewskie‘ erinnert an die mehr als 300-jährige Geschichte der Region im polnischen Staatsverband, denn von 1454 bis 1772 war das Land an der unteren Weichsel mit der Polnischen Krone verbunden. Der ‚Bund vor Gewalt und Unrecht‘, der ‚Preußische Bund‘, zu dem sich 1440 in Marienwerder 19 Städte, unter ihnen Danzig, Elbing und Thorn, sowie 53 Adlige zusammengeschlossen hatten, kündigte dem Hochmeister des Deutschen Ordens 1454 den Gehorsam auf und unterstellte sich stattdessen aus freien Stücken dem polnischen Monarchen als höchster staatlicher Instanz. Durch die Union von Lublin (1569) wurde das ‚Königliche Preußen‘ dann allerdings zu einem integralen Bestandteil von PolenLitauen, der I. Rzeczpospolita. Bei der Großmachtpolitik, die Russland, Österreich und Preußen gegenüber der staatspolitisch und militärisch geschwächten polnisch-litauischen Adelsrepublik betrieben, verfolgte Friedrich II. vorrangig das Ziel, eine Landbrücke zum östlichen Preußen zu schaffen. Dies gelang ihm mit der Unterzeichnung des Petersburger Vertrages im August 1772, durch den er den größten Teil des Königlichen Preußen sowie den sogenannten Netzedistrikt mit der Stadt Bromberg erwarb. Aus diesen (noch geringfügig erweiterten) Gebieten wurde eine neue Provinz gebildet, die 1773 vom König den Namen ‚Westpreußen‘ erhielt. Im Rahmen der 14
Diese Erläuterungen sollen zugleich die einzelnen Beiträge dieses Bandes entlasten, die sonst, dem individuellen Themenausschnitt entsprechend, jeweils für sich Fragmente aus der Geschichte des unteren Weichsellandes hätten exponieren müssen.
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Erik Fischer
Zweiten Teilung Polens (1793) konnte Preußen auch noch die Städte Danzig und Thorn annektieren. In dieser quasi abgerundeten Form hatte die neue Provinz jedoch nur bis zum Jahre 1807 Bestand. Nach der Napoleonischen Zeit und dem Wiener Kongress wurde sie zwar – ohne den Netzedistrikt – restituiert, schon 1824 aber wurde ihr Regierungssitz nach Königsberg verlegt, und 1829 verlor sie ihre Eigenständigkeit in toto, denn nunmehr wurde sie in die Ost- und Westpreußen vereinigende Provinz ‚Preußen‘ eingegliedert. Erst 49 Jahre später erstand schließlich ‚Westpreußen‘ mit seiner Provinzhauptstadt Danzig aufs Neue. Aufgrund dieser verwickelten Geschichte hat das Land an der unteren Weichsel ab 1772 mannigfach wechselnde Aggregatzustände angenommen, und die fein differenzierten Verschiebungen der Zuordnungen und Abhängigkeiten sind für die Territorialgeschichte dieser Region von erheblicher Bedeutung. Im Kontext des intendierten makrostrukturellen Vergleichs würde eine detaillierte Darstellung aber eher verwirren denn nützen. Deshalb soll dieser ganze Prozess hier ausgeklammert bleiben. Am Beginn der zweiten, vierteiligen Karten-Gruppe steht vielmehr die Skizze II/1: Mit der von 1878 bis 1919/20 bestehenden Provinz Westpreußen hält sie einerseits den Kulminationspunkt der gesamten vorherigen Entwicklung fest und gibt zugleich die Konturen der Grenzen und der internen Gliederung in Stadt- und Landkreise wieder, auf die sich wohlgemerkt alle Äußerungen beziehen müssten, in denen nach 1920 unmissverständlich von der historischen Provinz Westpreußen gesprochen werden soll.15 Schon ein flüchtiger Blick auf die Kartenskizze II/2 gibt zu erkennen, warum Westpreußen zum Inbegriff für die einschneidenden Veränderungen geworden ist, die das Deutsche Reich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges hinnehmen musste; denn die territoriale Neuordnung durch den Versailler Vertrag war für diese Provinz besonders folgenreich. Die Provinzhauptstadt Danzig und Teile ihres Umlandes wurden unter der Bezeichnung ‚Freie Stadt Danzig‘ zum Freistaat erklärt. Die südwestlichen Kreise Schlochau und Deutsch Krone sowie der westliche Teil des Kreises Flatow bildeten mit kleineren Restgebieten der bis dahin bestehenden Provinz Posen die ‚Grenzmark Posen-Westpreußen‘. In vier östlichen Kreisen – Marienburg, Stuhm, Marienwerder und Rosenberg – wurde am 11. Juli 1920 eine Volksabstimmung durchgeführt. Da das entsprechende Votum mit 92,4 % eindeutig ausfiel, blieben diese Kreise beim Deutschen Reich. Sie gehörten nun zusammen mit der Stadt und dem Kreis Elbing als ‚Regierungsbezirk Westpreußen‘ zur Provinz Ostpreußen. Der größte Teil Westpreußens schließlich wurde der Republik Polen zugesprochen und bildete fortan die ‚Woiwodschaft Pomorze‘ (im Deutschen: ‚Pommerellen‘) mit der Hauptstadt Toruń (Thorn). Durch diesen ‚Korridor‘ wurde Ostpreußen vom Reichsgebiet abgetrennt. 15
Die hohe Verbindlichkeit dieser territorialen Formation für das Verständnis von ‚Westpreußen‘ soll auch dadurch zum Ausdruck gebracht werden, dass sie quasi als Erinnerungsspur in die Karten der nachfolgenden historischen Schnitte eingeblendet wird.
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Die Bestimmungen des ‚Versailler Diktats‘ wurden in Deutschland als unnatürlich und demütigend empfunden. In den Folgejahren wanderte über eine Million Deutsche aus den polnisch gewordenen Gebieten ab. Die dort Verbliebenen wurden genötigt, bis 1925 die polnische Staatsangehörigkeit anzunehmen. Das deutsch-polnische Verhältnis blieb auch weiterhin brisant, und die andauernden Konflikte lieferten späterhin dem nationalsozialistischen Deutschland willkommene Argumente, um den revisionistischen Forderungen nach einer Regelung der Danzig- und Korridorfrage Nachdruck zu verleihen. Nach dem Überfall auf Polen machten sich die neuen Machthaber deshalb zügig daran, die annektierte Region wieder dem deutschen Herrschaftsbereich einzugliedern. Bereits am 26. Oktober 1939 wurde der – wenige Tage später in ‚Reichsgau DanzigWestpreußen‘ umbenannte – ‚Reichsgau Danzig‘ etabliert und einem ‚Reichsstatthalter‘ unterstellt. Die Karte II/3 zeigt diese Neuordnung, die das Gebiet der Freien Stadt Danzig, den bis dahin ostpreußischen Regierungsbezirk Westpreußen und den größten Teil der 1938 eingerichteten polnischen Woiwodschaft Großpommerellen zusammenfasste. Dadurch wurden dem ‚Reichsgau‘ im Südosten sogar die Kreise Lipno und Rypin zugeschlagen, die selbst vor dem Ersten Weltkrieg noch nicht zum Deutschen Reich gehört hatten. Als Abschluss der zweiten Folge veranschaulicht die Skizze II/4 die – über mehrere tiefgreifende Gebiets- und Verwaltungsreformen hinweg erreichte und seit dem 1. Januar 1999 geltende – Aufteilung des unteren Weichsellandes in die heutigen polnischen Woiwodschaften. Diese Karte verdeutlicht eindringlich, warum ‚Westpreußen‘, und zwar im strikten Unterschied zu Pommern, Schlesien oder auch Ostpreußen16, auf heutigen Landkarten kein Pendant mehr findet. Diese Provinz ist als in sich geschlossene Region nicht mehr erkennbar, sondern gänzlich untergegangen: Sie bildet zwar einen größeren Teil von ‚Pommern‘ (Pomorze)17, aber auch die nördliche Hälfte von Kujawien-Pommern. Zudem gehören die westlichen Kreise Flatow (Złotów) und Deutsch Krone (Wałcz) nunmehr zu Großpolen bzw. West-Pommern; und die Kreise Neumark (Nowe Miasto Lubawskie) und Rosenberg – mit der neuen Kreisstadt Iława (Deutsch Eylau) – sowie vor allem die Stadt Elbing (Elbląg) sind jetzt der Woiwodschaft Ermland und Masuren mit der Hauptstadt Olsztyn (Allenstein) zugeordnet. – 16 17
Selbst wenn die Provinz Ostpreußen heute zum Staatsgebiet dreier Länder gehört, bleibt bei allen kartographischen Darstellungen die spontane Wiedererkennbarkeit ihrer früheren Struktur fraglos gewahrt. Dass die Woiwodschaft, der heute ein erheblicher Teil der früheren Provinz Westpreußen angehört, ‚Pomorze‘ heißt, könnte im Deutschen leicht zu Missverständnissen führen. Deshalb sei an dieser Stelle bereits darauf hingewiesen, dass im Polnischen zunächst das gesamte Gebiet zwischen Oder und Memel als ‚Pomorze‘ bezeichnet wird. Gegenüber der hier in Frage stehenden Woiwodschaft ‚Pomorze‘ wiederum wird einerseits das – die Region des deutschen ‚Pommern‘ meinende – ‚westliche Pommern‘ (‚Pomorze Zachodnie‘), andererseits das ‚östliche Pommern‘ (‚Pomorze Wschodnie‘) abgegrenzt, dem im Deutschen ‚Ostpreußen‘ entspricht. Die Missverständlichkeit des in zweifachem Sinne verwendeten Begriffs ‚Pomorze‘ wird häufig dadurch gemildert, dass die Region der Woiwodschaft ‚Pomorze‘ auch spezifizierend als ‚Danziger Pommern‘ (‚Pomorze Gdańskie‘) bezeichnet wird.
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Erik Fischer
Ungeachtet dieses ‚Untergangs‘ ist die Kontur der ehemaligen Provinz, die auch in dieser Skizze noch auftaucht, allerdings nicht bedeutungslos geworden: Zum einen kennzeichnet sie einen deutschen Erinnerungsort für Menschen, die aus dieser Region stammen und für deren Familien dieses Land oft jahrhundertelang Heimat gewesen war. Andererseits markiert die getönte Fläche einen historischen Zusammenhang, dem im heutigen Polen sogar wieder stärkere Beachtung geschenkt wird. Da dem kulturellen Erbe und der gemeinsamen deutsch-polnischen Geschichte ein wachsendes Interesse entgegengebracht wird, bietet das frühere Westpreußen für die heutigen Bewohner durchaus auch einen wichtigen Orientierungsraum. In ihrer Sukzession ermöglichen die sechs Karten einen – wie auch immer verkürzenden – Schnelldurchgang durch die Territorialgeschichte des unteren Weichsellandes. Darüber hinaus lässt sich das Tafelbild aber auch als horizontale Schichtung von zwei ‚Friesen‘ betrachten. Der obere veranschaulicht dann die dominierende deutsche historiographische Perspektive auf ‚Westpreußen‘, während die Folge der unteren drei Skizzen die spezifisch polnische Sichtweise auf die entscheidenden Tendenzen der regionalen Entwicklungsgeschichte widerspiegelt. An die Prozesse, die jeweils in diesen beiden Schichten der Tafel exemplarisch festgehalten werden, heften sich nationale Narrative, die schwerlich miteinander kompatibel sein können. Diese Beobachtungen erhellen nochmals unmittelbar die Probleme, von denen die eingangs charakterisierten deutschen ‚Standardwerke‘ zur Musikgeschichte Westpreußens gezeichnet sind: Vergeblich trachten sie zum einen danach, dem Land eine offensichtlich nicht gegebene territoriale Festigkeit zu verleihen, die derjenigen der anderen ostdeutschen Provinzen ebenbürtig wäre; zum anderen – und vor allem – arbeiten sie sich an der unlösbaren Aufgabe ab, Westpreußen als ein homogenes, allein von der deutschen Kultur bestimmtes Gebiet zu erweisen, bei dem gleichsam der untere ‚Fries‘ gänzlich ausgeblendet bleiben muss. Die Einsicht in diese Defizite hat der Disposition des vorliegenden Sammelbandes wichtige Impulse verliehen. Im Sinne der traditionellen Orientierung an der ‚deutschen Musikkultur im östlichen Europa‘ wird neben der vertrauten eigenständigen Einheit ‚Danzig‘ zwar weiterhin von ‚Westpreußen‘ gesprochen. Damit ist aber nicht mehr primär die explizit ‚deutsche‘ Provinz gemeint, sondern das Land an der unteren Weichsel, das in sehr unterschiedlichen Diskursen z.B. der Musik-, Kultur-, Sozial- oder Ideologiegeschichte eine zentrale Rolle spielt und dabei regelmäßig auch unter dem Aspekt der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte betrachtet werden muss. Damit sucht das Konzept zumindest tendenziell einen Anschluss an die ausdifferenzierten methodischen Reflexionen zu finden, die auf eine „moderne Historiographie Ost- und Westpreußens“18 hinzielen. In 18
Hans-Jürgen Bömelburg. „Die moderne Historiographie Ost- und Westpreußens als multiperspektivische Geschichte einer ostmitteleuropäischen Region. Gefahren und Chancen im Europa der Nationen“. Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands 52 (2007 ). S. 9-26.
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diesem Kontext erläutert Hans-Jürgen Bömelburg eine der leitenden Prämissen, von denen eine tragfähige Regionalgeschichtsschreibung ausgehen sollte: Nicht das – vielfach erst im Zeitalter des Nationalismus konstruierte und mit scharfen Grenzen versehene – Territorium kann als ein fixer und invariabler Bezugspunkt der Forschungspraxis dienen, sondern sinnvoller scheint ein offener Raumbegriff, in dem die Region jeweils neu für einzelne Forschungsprobleme definiert werden muss.19
Im methodisch erheblich bescheideneren Rahmen der historischen Musikforschung konnte aus dieser Anregung zunächst der Versuch abgeleitet werden, die unterschiedlichen ‚Aggregatzustände‘ des Landes weder in eine Hierarchie zu bringen noch zwischen ihnen teleologische Zusammenhänge herzustellen. Zudem wurde darauf geachtet, dass konkrete Forschungsprobleme in allen Konstellationen – im ‚Königlichen Preußen‘ nicht anders als in der Zwischenkriegszeit oder im ‚Reichsgau‘ – angesiedelt sind. Des Weiteren sollten sich die musikgeschichtlichen Fragestellungen nicht mehr vorzüglich auf Kompositionen, auf ‚Werke‘, konzentrieren, die in schriftlicher Form vorliegen – und möglichst bis in die Gegenwart hinein wirken. Stattdessen richteten sich die Interessen verstärkt auf die lebendige, verschiedene Lebensbereiche umfassende ‚Musikkultur‘. Unter dieser Voraussetzung rücken nun Formationen wie die polnische Adelsgesellschaft in den Fokus, und folkloristische Praktiken finden ebenso Berücksichtigung wie die vielfältigen Phänomene des Laienmusizierens, insbesondere bei den Sängervereinigungen. Gerade in diesem Kontext werden dann auch politische Dimensionen sowie ideologische Funktionalisierungen innerhalb der nationalen, ethnischen, konfessionellen und nicht zuletzt sprachlichen Konflikte greifbar, die vom Kaiserreich bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges zu den Hauptsignaturen ‚Westpreußens‘ gehören. Schließlich erwies sich die innerhalb der vorhergehenden Projektphase bereits erprobte Rückbindung an diskurstheoretische Überlegungen als hilfreich, denn in einzelnen Beiträgen geht es auch jetzt nicht primär um die Frage nach einer musikalischen ‚Substanz‘, sondern vor allem darum, welche Musik – beispielsweise bei den Mitgliedern der Landsmannschaft oder der deutschen Minderheit – jeweils als ‚westpreußisch‘ oder ‚deutsch‘ kommuniziert wird. Bei der Realisierung des Vorhabens konnte ein Ensemble von 25 Beiträgen zusammengetragen werden.20 Von ihnen sind 20 den historischen Phasen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bzw. der Entwicklung innerhalb des 20. Jahrhunderts zugeordnet. Dabei geht es freilich nicht um eine sich kontinuierlich entfaltende ‚Geschichte‘, sondern um eine schematisch nutzbare Reihungsform, die im Durchgang durch die einzelnen Beiträge den häufigen Wechsel der 19 20
Ebd. S. 17. Der größte Teil der Beiträge geht auf Kongress-Referate zurück, die auf der Internationalen Arbeitstagung Die Geschichte der Musikkultur in Danzig und Westpreußen. Perspektiven einer transnationalen Forschung gehalten wurden. Diese Tagung fand vom 11. bis zum 13. September 2008 an der Abteilung für Musikwissenschaft der Universität Bonn statt.
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methodischen und disziplinären Perspektiven eher hervorheben denn kaschieren soll. Diese beiden historischen Hauptteile umrahmen ihrerseits zwei kulturwissenschaftliche Untersuchungen: die eine erschließt das auch für die regionale Musikkultur zentrale Spannungsverhältnis von ‚Provinz‘, ‚Heimat‘ und ‚Nation‘ von der Warte der Kunstgeschichte aus, die andere gibt den Blick frei auf eine kulturwissenschaftliche Musikologie, die sich auch den ‚Sound Studies‘ zuwendet und dann (im Sinne von R. Murray Schafer. The Soundscape. Our Sonic Environment and the Tuning of the World. New York 1977) den Klang-Qualitäten von Orten und Räumen, deren ‚Soundscape‘, nachzuspüren vermag. Eingeleitet wird die gesamte Aufsatzfolge von grundlegenden Beobachtungen zur dialektischen Verschränkung von deutscher und polnischer Historiographie sowie zu den Aussichten, nach den Konflikten der vergangenen Jahrhunderte zu tragfähigen Modalitäten einer gemeinsamen Erinnerung zu gelangen. Am Ende des Bandes finden sich schließlich zwei Beiträge, die sich eigens mit der kaschubischen ‚Volksmusik‘ beschäftigen: sie problematisieren einerseits deren ‚Authentizität‘ und gehen andererseits der Physiognomie dieser spezifischen folkloristischen Grenzlandkultur nach. Die Disposition dieses Sammelbandes zeigt somit durchaus, dass die Forschungsarbeiten weiterhin an der Kategorie der ‚deutschen Musik‘ im östlichen Europa orientiert gewesen sind, dass sich aber bei der Beschäftigung mit dem exemplarischen Fall ‚Westpreußen‘ zugleich die interkulturellen Aspekte in den Vordergrund gedrängt haben und ergänzende methodische Orientierungen fruchtbar zu machen waren. Auf diesem Wege ist dann auch der Konstruktionscharakter der traditionellen musikgeschichtlichen Narrative unübersehbar geworden. Damit hat das Projekt zu Danzig und Westpreußen, das auf konkrete musikhistorische Studien gerichtet war, auf diesem Felde nicht nur neuerliche Möglichkeiten, sondern auch die Grenzen des eigenen Basis-Ansatzes erprobt – und darf deshalb mit Recht als gleichgewichtiges Pendant zu der vorhergehenden Arbeitsphase gelten, die – um die kritische Selbstreflexion des Forschungsbereichs insgesamt bemüht – zu strukturell vergleichbaren Ergebnissen gelangt ist.21
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‚Deutsche Musikkultur im östlichen Europa‘: Konstellationen – Metamorphosen – Desiderata – Perspektiven. Hg. Erik Fischer. Stuttgart 2012 (= Berichte des interkulturellen Forschungsprojektes „Deutsche Musikkultur im östlichen Europa“. Bd. IV).
INTRODUKTION
Jörg Hackmann (Szczecin/Polen)
Geteilte Vergangenheit – gemeinsame Erinnerung? Öffentliche und wissenschaftliche Diskurse über die Multikulturalität Danzigs Als Axiom der in den letzten Jahren wie Pilze nach dem Regen sich ausbreitenden historischen Forschung zum kollektiven Gedächtnis gilt gemeinhin, dass gemeinsam erfahrene Vergangenheit unterschiedlich erinnert wird, wobei die Trennlinien zwischen den Erinnerungsgemeinschaften entlang nationaler, ethnischer, religiöser bzw. anderer kultureller Grenzen verlaufen.1 Die Beobachtungen zur Auflösung ständisch-territorialer Gemeinschaften, die in die Formierung von sozialen Schichten oder Klassen mündete, sowie zur religiösen und sprachlichkulturellen Ausdifferenzierung in der Neuzeit weisen in dieselbe Richtung: Mit der Ausprägung unterschiedlicher Identitäten formt sich das jeweilige kollektive Gedächtnis mit eigenen Blickrichtungen auf die Vergangenheit. Freilich werden – zumindest in öffentlichen Debatten – ähnlich intensiv in der letzten Zeit auch gegenläufige Entwicklungen erörtert: Wenn sich Individuen oder Gruppen mit unterschiedlichem kulturellem (Migrations-)Hintergrund in neue gesellschaftliche Zusammenhänge integrieren (sollen), dann brauchen sie identitätsstiftende Orientierungspunkte, und diese haben ihre Fundamente nicht zuletzt in der Aneignung kultureller Phänomene.2 Allerdings wird in öffentlichen Debatten kollektive Erinnerung in der Regel in einem nationalen Rahmen gesehen, sie erscheint daher als ein Hindernis für transnationale Integrationsprozesse. Um es mit Goethes bekannten Versen zu sagen: „Amerika, du hast es besser/Als unser Continent, das alte,/[…] Dich stört nicht im Innern,/Zu lebendiger Zeit,/Unnützes Erinnern/ Und vergeblicher Streit“.3 Hier soll jedoch der Überlegung nachgegangen werden, ob die Rolle des kollektiven Gedächtnisses nicht auch aus einer entgegengesetzten Blickrichtung betrachtet werden kann: Können sich unterschiedliche Gemeinschaften in einer 1
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Ein Überblick über die Forschungsliteratur zu den Fragen des kollektiven Gedächtnisses würde den Raum einer Fußnote und den Umfang des Textes sprengen. Vgl. stellvertretend Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Hg. Nicolas Pethes/Jens Ruchatz. Reinbek 2001 (= Rowohlts Enzyklopädie. Bd. 55636), bes. S. 308ff., 329-332; Astrid Erll. Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart 2005; Cultural Memory Studies: an International and Interdisciplinary Handbook. Hg. Astrid Erll/Ansgar Nünning/Sara B. Young. Berlin, New York 2008. Vgl. dazu die Überlegungen von Thomas Serrier. „Formen kultureller Aneignung: Städtische Meistererzählungen in Nordosteuropa zwischen Nationalisierung und Pluralisierung“. Nordost-Archiv N.F. 15 (2006). S. 13-23. Johann Wolfgang von Goethe. „Den Vereinigten Staaten“. Zahme Xenien IX. Zitiert nach: Goethes Werke (Weimarer Ausgabe). 1. Abt. Bd. 5. Weimar 1893. S. 137.
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Jörg Hackmann
Region in gleicher Weise erinnern oder gemeinsame Erinnerungen konstruieren und damit eine neue Gedächtnisgemeinschaft jenseits nationaler Grenzen konstituieren, wie es Andreas Lawaty formuliert hat?4 Um diese Fragestellung soll es im Folgenden am Beispiel Danzigs gehen, da dort die zu erörternden Phänomene in besonders deutlicher Weise hervortreten.
I Die erste Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, lautet: Wann wird die Multikulturalität5 Danzigs zu einem Problem öffentlicher und historiographischer Diskurse? Dafür müssen wir zunächst festhalten, dass es sich bei dem Nebeneinander kulturell verschieden geprägter Gemeinschaften zweifelsohne um den Normalfall der vormodernen (wie auch der modernen) Geschichte handelt. Zum Problemfall wird Multikulturalität erst mit den Homogenisierungsansprüchen moderner Staaten und Nationen. Insofern ist der Hinweis auf ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Vielfalt in der hier zu betrachtenden Region zwar nicht unwichtig, um die Ausgangslage zu beschreiben, für sich allein genommen ist das bloße faktographische Registrieren solcher Vielfalt jedoch noch nicht aussagekräftig, solange nicht die Interaktionen zwischen den unterschiedlichen Gruppen politisch und gesellschaftlich relevant werden. Als Analysekategorien für die gesellschaftlich-politischen Implikationen interkultureller Beziehungen können vor allem ‚Hegemonie‘ und ‚Anerkennung‘ betrachtet werden. Zweifelsohne finden sich Hinweise auf das Zusammenleben von verschiedensprachigen Gruppen in der Region und ebenso auf konkurrierende Herrschaftsansprüche schon früh, und zwar durchaus in politisch relevanten Kontexten. Zu nennen sind hier etwa die frühneuzeitlichen Landesbeschreibungen Preußens wie etwa von Caspar Hennenberger 6, in denen Preußen als eine Region mit einer prußischen und deutschen Geschichte dargestellt wird. Insbesondere 4
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Vgl. dazu die folgende Rezension: Andreas Lawaty. „Peter Oliver Loew, Christian Pletzing, Thomas Serrier, Hg.: Wiedergewonnene Geschichte. Zur Aneignung von Vergangenheit in den Zwischenräumen Mitteleuropas“. Osteuropa 6 (2008). S. 433-436. Zum Begriff und seiner politischen Relevanz vgl. vor allem: Charles Taylor. Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt a. M. 1993; Will Kymlicka. Multikulturalismus und Demokratie. Über Minderheiten in Staaten und Nationen. Hamburg 1999. Vgl. auch Theorizing Multiculturalism. A Guide to the Current Debate. Hg. Cynthia Willett. Malden/MA 1998; sowie in kulturwissenschaftlicher Perspektive Multicultural States: Rethinking Difference and Identity. Hg. David Bennett. London 1998. – In Anknüpfung an diese Diskussionen verwende ich hier den Begriff Multikulturalität, obwohl im Deutschen das Adjektiv ‚multikulturell‘ in wissenschaftlichen Diskursen besser durch ‚polykulturell‘ oder ‚plurikulturell‘ ersetzt werden sollte. Caspar Hennenberger. Kurtze und warhafftige Beschreibung des Landes zu Preussen. Item: Der alten Heidnischen Undeutschen Preussen, sampt irer Religion Göttern Bäpsten und Pfaffen: Aberglauben Stenden Sitten Kriegsrüstung Sterben vnd Begrebnis etc. Wie sie es nach irer gewonheit ehe und dann sie durch den Orden gezwungen vnd zum christlichen Glauben bekert worden sind in allerley stücken gehalten haben. Letztlichen eine Kurtze Austeilung des Landes wie dasselbige in der Heidenschafft ehe es der Orden bezwungen genannt vnd bewonet worden. Auch was für Schlösser vnd Stedte in jderm Fürsthentum gelegen sind. Königsberg in Preussen 1584.
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bei der Konstruktion von Ursprungsmythen wurde der polyethnische Charakter der Region zwischen Deutschen, Dänen, Schweden, Wenden, Prußen und Polen diskutiert und reflektiert, wobei die Akzentsetzungen und Abgrenzungen jeweils unterschiedlich waren.7 So hoben die deutschsprachigen Danziger Autoren zumeist den gotisch-germanisch-deutschen Ursprung der Stadt hervor.8 In Christoph Hartknochs Alt- und Neuem Preußen 9 wurde dagegen die mythische und historische Multikulturalität zum zentralen Element seiner politischen Theorie, sollte sie hier doch als Argument für die Zugehörigkeit Preußens zur Rzeczpospolita dienen. Andere – wie Caspar Schütz – wiederum maßen der Konstruktion von Ursprungsmythen, die den polyethnischen Charakter hervorhoben, keine größere Bedeutung bei und nahmen die vorchristliche Bevölkerung lediglich als Barbaren wahr.10 Dagegen äußerte sich der Danziger Syndikus Gottfried Lengnich negativ über die preußisch-polnischen politischen Beziehungen, allerdings ging es ihm vornehmlich um die Kritik an den Konsequenzen, die die Integration des Königlichen Preußen in die Verfassungsstruktur der polnisch-litauischen Adelsrepublik nach 1569 seinem Urteil nach gezeitigt hatte. In seiner monumentalen Geschichte der preussischen Lande Königlich Polnischen Antheils betonte er, die polnischen Unionsbestrebungen hätten „die [preußische] Nation so an Sprache, Sitten, Regiments-Form, Vorrechten unterschieden, mit einem Volcke vermischet, […] mit dem sie ohne Abbruch solcher ihrer besonderen Rechte, vereinbahret war, und nur einen König gemein hatte.“11 7
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Vgl. dazu Jörg Hackmann. „Preußische Ursprungsmythen. Entstehung und Transformationen vom 15. bis ins 20. Jahrhundert“. Preußen in Ostmitteleuropa. Geschehensgeschichte und Verstehensgeschichte. Hg. Matthias Weber. München 2003 (= Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa. Bd. 21). S. 143-171. – Das ‚Wenden‘-Problem ist in diesem Kontext besonders interessant, da sich in seiner Diskussion ebenfalls die Geschichte der deutsch-slawischen Beziehungen spiegelt. Vgl. Roland Steinacher. Studien zur vandalischen Geschichte. Die Gleichsetzung der Ethnonyme Wenden, Slawen und Vandalen vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert. Diss. Wien 2002. Etwa bei: Reinhold Curicke. Der Stadt Dantzig historische Beschreibung worinnen von dero Uhrsprung, Situation, Regierungs-Art, geführten Kriegen, Religions- und Kirchen-Wesen außführlich gehandelt wird. Amsterdam, Dantzig 1687. S. 1-4; Philippus Clüverus. Germaniae Antiqvae Libri tres. Leiden 1616. Bd. 3. S. 34. Christoph Hartknoch. Alt- und Neues Preußen Oder Preussischer Historien Zwey Theile. Frankfurt, Leipzig 1684. Caspar Schütz. Historia Rervm Prvssicarvm, Das ist Warhaffte vnd eigentliche Beschreibung der Lande Preussen, jrer gelegenheit, namen vnd teilunge, Von den eltesten Koenigen an, derselben Regierung vnd Heidnischer Auffopfferung, Auch vom Vrsprung des Deudschen Ordens, vnd was sich bey eines jeglichen Hohmeisters leben vnd Regierung zugetragen hat, Vom ersten bis zum letzten, Darinnen auch Die Ankunfft vnd erbawung der Koeniglichen Stad Dantzig, vnd wie sie von Jaren zu Jaren zugenommen, fleissig vnd mit allen vmbstenden beschrieben vnd angezeiget wird. Zerbst 1592. Fol. 3. Gottfried Lengnich. Geschichte der preussischen Lande Königlich Polnischen Antheils. 9 Bde. Danzig 17221755. Bd. 1. S. 88. Aus der Literatur zu Lengnich sei hingewiesen auf: Włodzimierz Zientara. Gottfried Lengnich. Ein Danziger Historiker in der Zeit der Aufklärung. 2 Bde. Toruń 1995-1996; Stanisław Salmonowicz. „Gotfryd Lengnich. Szkic do potretu uczonego [Gottfried Lengnich. Skizze zu einem Portrait des Gelehrten]”. Od Prus Książęcych do Królestwa Pruskiego. Studia z dziejów prusko-pomorskich [Vom Herzoglichen Preußen zum Königreich Preußen. Studien aus der pommersch-preußischen Geschichte]. Hg. Stanisław Salmonowicz. Olsztyn 1992. S. 72-102; Karin Friedrich. „Gottfried Lengnich (1689-1774) und die Aufklärung in Preußen königlich-polnischen Anteils“. Fördern und Bewahren. Studien zur europäischen Kulturgeschichte der frühen Neuzeit. Hg. Helwig Schmidt-Glintzer. Wiesbaden 1996 (= Wolfenbütteler Forschungen. Bd. 70). S. 107-118. – Vgl. außerdem für die Historiographie zu Danzig und Preußen stets auch: Jörg Hackmann. Ostpreußen und Westpreußen in deutscher und polnischer Sicht.
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Jörg Hackmann
Aus diesen Beobachtungen zur frühneuzeitlichen Historiographie, bei der eigentlich auch die konfessionellen Fragen berücksichtigt werden müssten, ist einerseits festzuhalten, dass die Hinweise auf interethnische Kontakte wie auf kulturelle Differenzen primär politisch motiviert waren: Lengnich setzte sich für die Erhaltung bzw. Wiederherstellung der politischen Sonderstellung Preußens innerhalb der Rzeczpospolita ein, er war jedoch kein Vorläufer eines ‚clash of cultures‘ in Gestalt eines überzeitlichen deutsch-polnischen Gegensatzes. Andererseits, und das ist eine zweite wichtige Feststellung, wurde Lengnich bereits wenige Jahre nach seinem Tode gerade in diesen Zusammenhang – der Begründung eines fundamentalen Gegensatzes durch den Hinweis auf kulturelle Unterschiede – gestellt. So zeichnete der Königsberger Historiker Ludwig von Baczko Ende des 18. Jahrhunderts, gestützt auf Lengnichs Darstellung, ein düsteres Bild von der polnischen Oberhoheit im Königlichen Preußen, unter der politischer und kultureller Niedergang vorgeherrscht hätten; es sei eine „traurige Geschichte“, so Baczko, wie „das Land im Ganzen herabsank; Ungerechtigkeit, Gewalt und Bedrückung überall herrschte; Cultur, Wissenschaft und Künste allgemach entflohen“.12 Auch diese Darstellung stand – zumindest entfernt – noch in einem politischen Kontext: der Rechtfertigung der Annexion Pommerellens und Danzigs durch den brandenburgisch-preußischen Staat in den Teilungen Polens 1772 und 1793. Zugleich zeichnete sich hier jedoch eine Umdeutung politischer und konfessioneller Konflikte hin zu einem grundlegenden kulturellen Gegensatz ab, aus dem dann schon der historisch gar nicht so originelle Samuel Huntington hervorlugt.13 Dieser Faden zieht sich von da ab bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Selbst wenn man zwischen den jeweiligen zeitgenössischen Urteilen und späteren Interpretationen oder Umdeutungen trennt, so bleibt dennoch die Frage, ob nicht in den frühneuzeitlichen Diskursen bereits deutsche nationalistische Narrative präfiguriert wurden, die aus dieser historischen Tiefendimension einen nicht unerheblichen Teil ihrer Wirkungsmächtigkeit bezogen.14
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Landeshistorie als beziehungsgeschichtliches Problem. Wiesbaden 1996 (= Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien. Bd. 3). Ludwig von Baczko. Geschichte Preußens. 6 Bde. Königsberg 1792-1800. Bd. 4. S. 21. Zu Baczko vgl. Thomas Studer. „Ludwig von Baczko – Schriftsteller in Königsberg um 1800“. Königsberg. Beiträge zu einem besonderen Kapitel der deutschen Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts. Hg. Joseph Kohnen. Frankfurt a. M. 1994. S. 339-425. Samuel Huntington. Kampf der Kulturen. The Clash of Civilizations. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Berlin 1996; seine historischen Ausführungen zu Europa stützen sich auf William Wallace. The Transformation of Western Europe. New York 1990. Zur Persistenz frühneuzeitlicher Vorurteile vgl. vor allem Hubert Orłowski. ‚Polnische Wirtschaft‘. Zum deutschen Polendiskurs der Neuzeit. Wiesbaden 1996 (= Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund. Bd. 21).
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II Der Weg von kulturellen Unterschieden als Argument in konkreten politischen Konflikten hin zur grundlegenden Politisierung kultureller Differenz lässt sich durch einen Blick auf deutsche und polnische Danzig-Diskurse im langen 19. Jahrhundert nachzeichnen. Im Kontext der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte bildet dabei das Jahr 1772 eine Zäsur: Das friderizianische Preußen zog das Kulturgefälle als Argument zur Annexion Westpreußens heran und ließ dahinter das traditionelle Argument dynastischer Ansprüche zur Begründung von Expansionen verblassen.15 Die Ursprünge des Begriffs ‚deutscher Kulturträger‘ sind in seiner affirmativen wie in seiner negativen Verwendung hier zu suchen. Danzig kam jedoch erst mit der Zweiten Teilung Polens 1793 unter preußische Herrschaft, und ein preußisch-deutsches Geschichtsbild formte sich erst nach der Napoleonischen Besatzung und der erneuten Übernahme durch Preußen auf dem Wiener Kongress. Reflexe der Danziger Abneigung gegen die preußische Annexion und eines aus den stadtrepublikanischen Traditionen gespeisten Überlegenheitsgefühls waren noch Jahrzehnte später zu spüren. Die Kronzeugin ist hier Johanna Schopenhauer, die in ihren posthum 1839 herausgegebenen Erinnerungen eindringlich die – freilich ohnmächtige – Aversion der Danziger gegen die kommenden Herrscher schilderte: „Der Bürgerschaft […] nie erstorbener, republikanischer Sinn erwachte mächtiger denn je. […] Die Bürger, gleichviel, ob vornehm und reich oder arm und gering, suchten einander in Beweisen ihrer patriotischen Gesinnungen zu überbieten.“16 In der Danziger Geschichtsschreibung, die Peter Oliver Loew mit Blick auf Gotthilf Löschins 1822/23 veröffentlichtes Hauptwerk als „altväterlich“ bezeichnet17, wich die historische Bindung an die Adelsrepublik nach 1815 einem Sich-Abfinden mit den neuen Verhältnissen, nicht jedoch einer borussischen Euphorie, wie sie in der ostpreußischen Historiographie anzutreffen ist.18 Nach 1831 setzte sich dann allerdings ein Diskurs durch, der den deutschen Charakter der Stadt akzentuierte, wodurch zugleich polnische Versuche zur Wiederherstellung des verlorenen Staates zurückgewiesen werden sollten: Das Denkmal Augusts III. im Artushof wurde 1831 anlässlich des Besuchs des Kronprinzen 15
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Vgl. dazu jetzt Hans-Jürgen Bömelburg. Friedrich II. zwischen Deutschland und Polen: Ereignis- und Erinnerungsgeschichte. Stuttgart 2011 (= Kröners Taschenausgabe. Bd. 331). S. 89-94. Johanna Schopenhauer. „Jugenderinnerungen“. Ihr glücklichen Augen. Jugenderinnerungen, Tagebücher, Briefe. Hg. Rolf Weber. Berlin 1978. S. 29-274, S. 173f. Zu Entstehung und Überlieferung des Textes vgl. Monika Schneikart. „Von der Schwierigkeit für Frauen, aus dem Haus zu gehen. Raumsemantik und Geschlechterordnung in Johanna Schopenhauers Autobiographie“. Ostpreussen – Westpreussen – Danzig. Eine historische Literaturlandschaft. Hg. Jens Stüben. München 2007 (= Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa. Bd. 30). S. 353-378, S. 355-358 mit weiteren Verweisen. Peter Oliver Loew. Danzig und seine Vergangenheit 1793-1997. Die Geschichtskultur einer Stadt zwischen Deutschland und Polen. Osnabrück 2003 (= Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau. Bd. 9). S. 73. Hackmann. Ostpreußen und Westpreußen (wie Anm. 11). S. 71-82.
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Jörg Hackmann
Friedrich Wilhelm in die Ecke geschoben. Die Danziger Adressen an den Deutschen Bund wie den preußischen Ministerpräsidenten Anfang April 1848 unterschieden sich nicht von den nun durchweg antipolnischen Einstellungen der deutschen Öffentlichkeit im preußischen Osten19, wie sie vor allem aus Wilhelm Jordans berühmter Rede in der „Polendebatte“ der Paulskirche bekannt ist20, die nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel gekommen ist. Bevor wir die zunehmende Nationalisierung des deutschen Danzig-Bildes weiterverfolgen, sollten wir noch einen kurzen Blick auf die polnische Wahrnehmung der Stadt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts werfen. Hier verfestigte sich die Perspektive der frühen Teilungszeit zu einem polnischen master narrative, dessen Wirkung bis weit in das 20. Jahrhundert reichte: Danzig sei aufgrund gemeinsamer wirtschaftlicher Interessen und ungeachtet aller sprachlichen, kulturellen und religiösen Unterschiede der Adelsrepublik politisch stets treu geblieben.21 Diesem Entwurf eines polnischen Danzig-Konzepts ließ sich die Multikulturalität der Hafenstadt mit ihrem niederländischen Straßenbild und englischen Kauf…leuten, die Julian Ursyn Niemcewicz 1817 in seinen „historischen Reisen“22 konstatierte, in identitätsbildender Hinsicht problemlos einpassen. Etwas anders verhielt es sich mit der bei Tomasz Święcki23 erkennbaren Argumentation, Danzig gegenüber Polen politischen und wirtschaftlichen Egoismus zuzuschreiben, in der bereits spätere antagonistische Anschauungsmodelle anklingen. In den 1860er Jahren setzte sich der deutsch-nationalistische stadtgeschichtliche Diskurs, der sich spätestens seit 1848 abgezeichnet hatte, allgemein durch: Hans Prutz, der Königsberger Historiker, sah 1868 nun in der Verteidigung der Stadt gegen Slaven und Polen Danzigs historische Aufgabe.24 In dieser These schimmert zweifelsohne Heinrich von Treitschkes Essay über das Deutschordensland Preußen von 186225 durch, das rasch zum leitenden Narrativ der deutschen Historiographie zum preußischen Osten wurde, aber auch das deutsche Bild der baltischen Region präfiguriert hat. Abweichende Erzählungen konnten 19 20
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Peter Oliver Loew. Danzig und seine Vergangenheit (wie Anm. 17). S. 92f. Michael G. Müller/Bernd Schönemann. Die ‚Polen-Debatte‘ in der Frankfurter Paulskirche. Darstellung, Lernziele, Materialien. Frankfurt 1991; Günter Wollstein. Das ‚Großdeutschland‘ der Paulskirche. Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848/49. Düsseldorf 1977. Vgl. exemplarisch: Maria Bogucka. Das alte Danzig. Alltagsleben vom 15. bis 17. Jahrhundert. Leipzig 1980. S. 233ff. Julian Ursyn Niemcewicz. Podróże historyczne po ziemiach polskich między rokiem 1811 a 1828 odbyte [Historische Reisen durch die polnischen Länder zwischen 1811 und 1828]. Paryż, Petersburg 1859. S. 248-268. Tomasz Święcki. Hystoryczna wiadomość o ziemi pomorskiey, mieście Gdańsku, oraz żegludze y panowaniu Polaków na Morzu Bałtyckim [Historische Nachricht über das pommerellische Land, die Stadt Danzig und über die Seefahrt und die Herrschaft der Polen auf der Ostsee]. Warszawa 1811. Hans Prutz. „Danzig, das nordische Venedig. Eine deutsche Städtegeschichte”. Historisches Taschenbuch. Hg. Friedrich von Raumer. 4. Folge. 9. Jg. (1868). S. 137-246. Vgl. Loew. Danzig und seine Vergangenheit (wie Anm. 17). S. 78. Heinrich von Treitschke. „Das Deutsche Ordensland Preußen“. Preußische Jahrbücher 10 (1862). S. 95151 (noch wiederholt nachgedruckt). Vgl. Dieter Hertz-Eichenrode. „Heinrich von Treitschke und das deutsch-polnische Verhältnis“. Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 41 (1993). S. 45-89.
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nun keinen ähnlichen Stellenwert mehr erlangen. In Danzig selbst war es der deutsch-jüdische Gymnasiallehrer Paul Simson, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Kontext zunehmender nationaler Kontroversen die Kontinuität des deutschen Charakters hervorhob, den Westpreußen und Danzig trotz der Bedrohungen unter polnischer Herrschaft bewahrt hätten. Nach 1454, so schrieb Simson, habe die „Vernichtung deutschen Wesens“ gedroht, und der Kampf um die preußischen Privilegien sei zum Kampf um das Volkstum geworden, der bereits vom „höheren Standpunkte der Staatsraison“ geprägt war.26 Damit sei die Auseinandersetzung von vornherein eine nationale gewesen, unabhängig davon, ob die Bewohner „den Gedanken des Deutschtums“ bewusst oder unbewusst vertraten.27 Angesichts polnischer Fremdherrschaft wurde die deutsche „Geschichte der Heimat“28 zur Geschichte des Widerstands gegen Polen. „Ein trauriges Bild für den Deutschen“ sei es, so Simson, „das die nächsten Jahrhunderte in Westpreussen dem Betrachter darbieten. Aber es erhebt auch, in diesem Elende den Mannesmut und die Opferwilligkeit deutscher Bürger kennen zu lernen, die sich bewusst dem über sie hereinbrechenden Schicksal entgegenstemmen.“29 Danzig habe – obwohl „politisch eine polnische Stadt geworden“ – „sein Deutschtum sich zu bewahren gewusst. Deutsch ist es geblieben durch die ganzen drei Jahrhunderte, da es mit dem polnischen Reich verknüpft war, bis es im Jahre 1793 auch politisch wieder eine deutsche Stadt wurde.“30 Wie Simson betrachtete auch der erste Danziger Archivdirektor Max Bär die Geschichte des Königlichen Preußen als einen Kampf um das deutsche Volkstum und versuchte, die Annexion durch Friedrich II. als politische Notwendigkeit zur Rettung des Deutschtums darzustellen: Die Kolonisationspolitik Friedrichs habe nicht nur der Peuplierung und „der Hebung des polnischen Volkes durch deutsches Vorbild“ gedient, sondern auch der „Stärkung des durch dreihundertjährige Polenherrschaft geschwächten Deutschtums.“31 Die nun derart offen postulierte Hegemonie der deutschen (und implizit protestantischen) Kultur in Danzig verstärkte auf der polnischen Seite zwangsläufig Gegenbewegungen, in denen – sowohl von Polen in Danzig als auch außerhalb der Stadt – nun die Berücksichtigung und Anerkennung der polnischen Kompo-
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Paul Simson. „Westpreußen und Danzigs Kampf gegen die polnischen Unionsbestrebungen in den letzten Jahren des Königs Sigismund August (1568-1572)“. Zeitschrift des Westpreußischen Geschichtsvereins 37 (1897). S. 1-176, S. 7, 9. Zu Simson vgl. auch Loew. Danzig und seine Vergangenheit (wie Anm. 17). S. 138-142. Simson. „Westpreußen und Danzigs Kampf“ (wie Anm. 26). S. 9. Ebd. S. 6. Ebd. S. 144. Paul Simson. „Danzig im 13jährigen Kriege von 1454-1466“. Zeitschrift des Westpreußischen Geschichtsvereins 29 (1891). S. 1-110, S. 110. Max Bär. Westpreußen unter Friedrich dem Großen. 2 Bde. Leipzig 1909 (= Publikationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven. Bd. 83/84). Bd. 1. S. 317.
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nenten in der Geschichte Danzigs eingefordert wurden.32 Als literarischer Bezugspunkt konnte in diesem Kontext Adam Mickiewicz’ „Pan Tadeusz“ dienen, in dem der Richter den Trinkspruch ausbrachte: „Danzig, die Stadt, die einst unser, unser auch bald wieder sein wird!“33 Möglicherweise hat Peter Oliver Loew seine Befunde etwas überzeichnet, wenn er behauptet, Danzig sei vor dem Ersten Weltkrieg kein polnischer Erinnerungsort gewesen34; denn im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts kam es durchaus zu einer Wiederentdeckung Danzigs durch polnische Historiker und Schriftsteller.35 Genannt sei hier exemplarisch der Literaturhistoriker (und Rektor der Krakauer Universität) Stanisław Tarnowski, der 1882 in seinem Reisebericht aus dem ‚Königlichen Preußen‘ auf Danzig einging.36 Er beschrieb die Stadt zunächst mit den Augen eines vom Ostseebad Zoppot aus nach Danzig reisenden Flaneurs, um dann polnische Spuren wie etwa Wappen aufzuspüren und kollektive polnische Erinnerungen zu verorten. Den deutschen Charakter der Stadt unterstrich er zwar mehrfach, grenzte ihn aber zugleich von preußischen Einflüssen ab und beschrieb dann seine Suche nach der polnischen Bevölkerung in der Stadt, die er in genau einem Haushalt der städtischen Oberschicht fand.37 Schließlich fragte er sich, ob Danzig denn Teil eines wieder erstehenden polnischen Staates sein könne. Wir sehen bei Tarnowski somit eine erweiterte Perspektive, die die Bindungen der Stadt an Polen auf verschiedenen Feldern reflektiert, ohne dabei sogleich in nationale Ausschließlichkeit zu verfallen. Und noch ein weiteres Spezifikum ist zu erkennen, auch wenn diese Feststellung auf den ersten Blick etwas weit hergeholt erscheinen mag: Aus der Perspektive des flanierenden Fremden zeichnet sich eine von der optisch-ästhetischen Wahrnehmung der Architektur und des Stadtbilds geprägte diskursive Einheit ‚Danzig‘ ab, die jenseits primär politischer Faktoren – wie der Berufung auf die Polen stets treue Stadt oder des Nachweises von Spuren einer autochthon polnischen Bevölkerung – angesiedelt ist. Bemühungen um differenziertere Zugänge lassen sich freilich auch bei deutschen Autoren entdecken, die ebenfalls nicht ausnahmslos dem dominierenden Argumentationsmuster (wie etwa von Simson) folgten. So schrieb beispielsweise der Danziger Stadtschulrat und langjährige Vorsitzende des Westpreußischen Ge32
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Zu nennen ist hier Szymon Askenazy. „Sprawy gdańskie [Danziger Angelegenheiten]“. Wczasy historyczne [Historische Ausflüge]. Bd. 2. Warszawa 1904. S. 205-240. Weitere Nachweise bei Loew. Danzig und seine Vergangenheit (wie Anm. 17). S. 206-211. Hier zit. nach der Übersetzung von Hermann Buddensieg: Adam Mickiewicz. Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen. München 1963. S. 122. Loew. Danzig und seine Vergangenheit (wie Anm. 17). S. 211. Weitere Beispiele bei Irena Fabiani-Madeyska. Odwiedziny Gdańska w XIX wieku [Besuche in Danzig im 19. Jahrhundert]. Gdańsk 1957; vgl. auch Jerzy Samp. Gdańsk w relacjach z podróży, 1772-1918 [Danzig in Reiseberichten, 1772-1918]. Gdańsk 1991 (= Uniwersytet Gdański. Zeszyty naukowy. Rozprawy i monografie. Bd. 152). Stanisław Tarnowski. „Z Prus Królewskich [Aus dem Königlichen Preußen]“. Przegląd Polski [Polnische Umschau] (1882). S. 309-372. Auch erschienen als ders. Z wakacyj [Aus den Ferien]. Bd. 2. Kraków 21904. Tarnowski. „Z Prus Królewskich” (wie Anm. 36). S. 370.
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schichtsvereins Rudolf Damus 1893 in seiner Schrift zum 100. Jahrestag der Inkorporation Danzigs in den preußischen Staat, dass die Danziger damals „weit davon entfernt waren, ihre Ergebung an Preußen als eine deutsch-patriotische That anzusehen“.38 Die Akzentuierung dieses Faktums ist deshalb bemerkenswert, weil es in der sonst vorherrschenden borussischen Perspektive ausgeblendet blieb. Hinzuweisen ist auch auf deutschsprachige katholische Autoren wie Josef Pawlowski, die einen breiteren Blick auf die Stadtgeschichte entfalteten, indem sie nicht zuletzt die Vielfalt der ansässigen Konfessionen betonten. In diesem Sinne hob der Buchhändler Bernhard Lehmann hervor, dass nach dem Sieg der Reformation die Katholiken doch weiterhin einen nicht unerheblichen Teil der Danziger Bevölkerung gebildet hätten und dass die Mitglieder dieser Konfession durch ihre Duldungsfähigkeit und aufgrund ihrer oftmals kaschubischen Provenienz sogar tiefer mit der Stadt verwurzelt gewesen seien als die häufiger von außen zugezogenen Protestanten.39 Wenn wir die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg hinsichtlich ihrer Grundtendenzen zu charakterisieren versuchen, wird das Bild allerdings nicht von einer Pluralisierung oder Verbreiterung der Perspektive bestimmt, und erst recht zeichnete sich kein Dialog zwischen deutschen und polnischen Autoren ab; vielmehr wurden die Verhältnisse von gänzlich entgegengesetzten Kräften beherrscht: Welche Schärfen und Zuspitzungen die Texte dieser Zeit prägten, sei zumindest an einem kurzen Ausschnitt aus einem Bedrohungsszenario veranschaulicht, das Simson 1897 in den Preußischen Jahrbüchern entworfen hat: Auf deutschem Kulturboden, der durch die Arbeit so vieler Generationen deutscher Erbbesitz geworden war, wollte damals [zwischen 1569 und 1793] der Pole herrschen […], und auch heute […] sind die Ansprüche der Polen, die doch als Staat zu existiren [sic!] aufgehört haben, nicht verstummt, ja vielleicht lauter denn je wird von ihrer Seite verkündet, daß Westpreußen ein polnisches Land, die Weichsel ein polnischer Fluß, Danzig eine polnische Stadt sei.40
III Bereits vor dem Ersten Weltkrieg waren mithin wichtige Wahrnehmungs- und Argumentationsmuster präfiguriert worden, die für die deutsche Ostforschung und die polnische Westforschung während der gesamten Zwischenkriegszeit be38
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Rudolf Damus. Festschrift zur hundertjährigen Gedenkfeier der Vereinigung Danzigs mit dem Königreiche Preußen im Jahre 1793. Danzig 1893. S. 5. – Im Übrigen teilte Damus freilich Simsons Einschätzung. Josef N. Pawlowski. Geschichte der Provinzial-Hauptstadt Danzig von den ältesten Zeiten bis zur Säcularfeier ihrer Wiedervereinigung mit Preußen 1893. Volksschrift in Skizzen, allen Westpreußen zur Erinnerung an die Vergangenheit ihrer Hauptstadt gewidmet. Danzig 1893; Hans Wistulanus [= Bernhard Lehmann]. Geschichte der Stadt Danzig. Danzig 1891. Beide Schriften wiedergegeben nach Loew. Danzig und seine Vergangenheit (wie Anm. 17). S. 186. Paul Simson. „Stanislaus Hosius“. Preußische Jahrbücher 89 (1897). S. 326-347, S. 326.
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stimmend blieben. Gleichwohl führte die beziehungsgeschichtliche Konsequenz des Umbruchs von 1918/19 auf beiden Seiten zu tiefer greifenden diskursiven Modifikationen und Profilierungen. Blicken wir zunächst auf die deutsche Historiographie: Dort setzte sich gerade in der Geschichte Westpreußens und Danzigs eine volksgeschichtliche Orientierung durch, die sich allein auf die Geschichte des Deutschtums konzentrierte und sich von der politisch nun nicht mehr zweckmäßigen borussischen Perspektive absetzte. Die Kennzeichen dieses Paradigmenwechsels zur Volksgeschichte im Kontext der „deutschen Ostforschung“41 waren zum einen eine Radikalisierung der einseitigen deutschtumsgeschichtlichen Orientierung und zum anderen eine fundamentale Politisierung der Geschichtsschreibung, die eine sachliche Betrachtung der Regionalgeschichte in ihren Beziehungen zu Polen nicht mehr zuließ und eine bewusste Einseitigkeit nicht nur billigend in Kauf nahm, sondern auch von den wissenschaftlichen Historikern nachdrücklich forderte. Bezeichnend für diese Instrumentalisierung der Historiographie ist eine Publikation mit dem Titel Der Widersinn des polnischen Korridors 42, die 1926 unter dem Pseudonym Johann Fürst erschien. Ein Blick in Danzigs Geschichte von Erich Keyser enthüllt den Ursprung des Namens. Es handelt sich um einen Danziger Ratsherrn des 16. Jahrhunderts, von dem Keyser den Ausspruch überlieferte: „Der Erdboden im Lande kann es nicht leiden, daß die Polen über die Preußen regieren und Gewalt an ihnen üben.“43 Hinter dem Pseudonym verbargen sich Karl Josef Kaufmann, Erich Keyser und Walther Recke, die Archivare des Staatsarchivs Freie Stadt Danzig.44 Diese spielten auch in institutioneller Hinsicht eine zentrale Rolle, denn sie waren maßgeblich daran beteiligt, der deutschen Ostforschung auch eine eigene institutionelle Struktur zu geben, die sich, wenn man von Königsberg absieht, vor allem außerhalb der Universitäten organisierte. Mit der Zentralisierung der Ostforschung durch Albert Brackmann im Rahmen des Preußischen Geheimen Staatsarchivs in Berlin und der Gründung der dort angesiedelten Nord- und Ostdeut41
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Michael Burleigh. Germany Turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich. Cambridge 1989; vgl. dazu Stefan Troebst. „Historische Osteuropaforschung im Dritten Reich“. Archiv für Sozialgeschichte 31 (1991). S. 599-605; sowie für weitere Hinweise Jörg Hackmann. „‚Deutsche Ostforschung‘ und Geschichtswissenschaft“. ‚Deutsche Ostforschung‘ und ‚polnische Westforschung‘ im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Disziplinen im Vergleich. Hg. Jan M. Piskorski/Jörg Hackmann/Rudolf Jaworski. Osnabrück, Poznań 2002 (= Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung. Bd. 1). S. 26-45, mit weiteren Hinweisen zur Forschungsliteratur; vgl. außerdem German Scholars and Ethnic Cleansing (1920-1945). Hg. Ingo Haar/Michael Fahlbusch. New York/NY 2004. Johann Fürst [pseud.]. Der Widersinn des polnischen Korridors. Ethnographisch, geschichtlich und wirtschaftlich dargestellt. Eine Entgegnung auf die Schrift von Dr. Sławski: Polens Zugang zum Meere und die Interessen Ostpreußens. Berlin 1926. Erich Keyser. Danzigs Geschichte. Danzig 21929. S. 93; vgl. Jörg Hackmann. „‚Der Kampf um die Weichsel‘. Die deutsche Ostforschung in Danzig von 1918-1945“. Zapiski Historyczne [Historische Aufzeichnungen] 58 (1993). S. 37-58, S. 39. Diese hatten 1919 Denkschriften gegen die Abtretung Westpreußens an Polen vorgelegt: Karl Josef Kaufmann. Das Verhältnis der Deutschen, Polen und Kaschuben in Westpreußen. Danzig 1919; ders. Das staatsrechtliche Verhältnis Danzigs zu Polen von 1454-1772 und 1807-1814. Danzig 1920; Erich Keyser. Die Bedeutung der Deutschen und Slawen für Westpreußen. Danzig 1919. Vgl. in diesem Kontext auch Walther Recke. Danzig und der deutsche Ritterorden. Bremen 1925 (= Hansische Volkshefte. H. 8).
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schen Forschungsgemeinschaft verloren die Danziger Initiativen zwar an Bedeutung, namentlich Erich Keyser trat jedoch weiterhin als einer der profiliertesten und entschiedensten Verfechter der volksgeschichtlichen Ostforschung hervor. Seine Narration der Geschichte Danzigs setzte auf Kürze und politische Zuspitzung. In seiner Geschichte Danzigs, die erstmalig 1921 erschien, wollte Keyser „die Geschichte zum Zeugen“ anrufen für die politische Zukunft der Stadt: In der schweren Zeit, die wir jetzt durchleben müssen, wollte ich […] die Bedingungen aufzeigen, unter denen Danzig einst zu dem Mittelpunkt ausgebreiteter wirtschaftlicher Verbindungen und wertvoller kultureller Leistungen geworden ist […]. Diese Bedingungen sind aber von den Tagen an, aus denen die erste Kunde von seinem Dasein zu uns dringt, niemals andere gewesen als die, welche die einheimische Bevölkerung der Stadt auch als Forderung der Gegenwart wiederholt hat: die ungestörte Erhaltung der altererbten deutschen Kultur […] und schließlich die unbedingte Sicherheit vor der Verwicklung in die politischen Händel und Wirren Osteuropas, […] eine Gefahr, die, wie die Geschichte lehrt, nur bei vollster politischer Unabhängigkeit von den Staaten des Ostens, Polen und Rußland, verhütet werden kann.45
Keyser ging es jedoch um mehr als nur um politische Geschichte, nämlich um den ethnisch-exklusiven deutschen Charakter der gesamten Stadt, den er als überzeitliches Phänomen darstellte: „Stärker noch als die politische Bevormundung durch den polnischen König“, so schrieb er, „lehnte die deutsche Bevölkerung der Weichselstadt jede Einwirkung aus der ihr fremdartigen Kulturwelt des Ostens mit aller Entschiedenheit ab.“46 Ähnlich argumentierte auch der zeitweilig in Danzig lehrende Germanist Heinz Kindermann, der die Danziger Barockliteratur „auch dort, wo nicht ausdrücklich davon die Rede ist, […] als Hüterin und Künderin deutscher Art und deutscher Lebensgestaltung, als […] kunsthandwerkliche Abwehr im Kampf gegen jede Überfremdung“47 sah. Für die Erörterung des Königlichen Preußen wurde das Argumentationsmuster der Unterdrückung unter polnischer Herrschaft, das schon bei Simson zu erkennen war, um die Komponente „gewaltsame Entdeutschungen“48 erweitert. 45 46
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Erich Keyser. Danzigs Geschichte. Danzig 1921. S. 5f. Ebd. S. 97; zu Keyser vgl. Hermann Aubin. „Zu den Schriften von Erich Keyser“. Studien zur Geschichte des Preußenlandes. Festschrift für Erich Keyser zu seinem 70. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern. Hg. Ernst Bahr. Marburg 1963. S. 1-11. – Aubins Würdigung steht freilich noch ganz im Kontext der deutschen Ostforschung der ersten Nachkriegszeit; vgl. dazu Hackmann. Ostpreußen und Westpreußen (wie Anm. 11). S. 170, 183-187; Willi Oberkrome. Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945. Göttingen 1993 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. Bd. 101). S. 60ff., 143f., 197f.; vgl. auch Alexander Pinwinkler. „Volk, Bevölkerung, Rasse, and Raum. Erich Keyser’s Ambiguous Concept of a German History of Population, ca. 1918-1955“. German Scholars and Ethnic Cleansing (wie Anm. 41). S. 86-99. Heinz Kindermann. „Die Danziger Barockdichtung“. Danziger Barockdichtung. Hg. ders. Leipzig 1939 (= Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen, Reihe Barock. Ergänzungsband). S. 7-41, S. 41. Karl Josef Kaufmann. „Die Wirkung der polnischen Herrschaft auf die deutsche Besiedlung in Westpreußen (gewaltsame Entdeutschungen)“. Die Tagungen der Jahre 1923-1929. Hg. Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung. Leipzig [o. J.]. S. 163ff.; ders. „Der Rückgang des
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Mit Blick auf Danzig ging es nun darum, „deutsches Volkstum trotz polnischer Herrschaft“49 nachzuweisen. Hier ist vor allem Theodor Schieders Arbeit Deutscher Geist und ständische Freiheit im Weichsellande 50 zu nennen. Schieder wollte an die Stelle des deutschen Elements als Objekt polnischer Unterdrückung das ganzheitliche Bild „einer deutschen Grenzlandschaft“ setzen, „die jahrhundertelang zwar vom deutschen Reichskörper getrennt war, aber ihm innerlich doch stets zugehörig blieb“.51 Die Stände – und nicht zuletzt die Vertreter der großen Städte – seien, so Schieder, „in der Abwehrstellung gegen die polnischen Unionsbestrebungen der stärkste Bürge für deutsche Art, deutsches Recht und Volkstum in Preußen“52 geworden. Abgesehen davon, dass sich das nur behaupten ließ, indem der zur Rzeczpospolita neigende Adel gänzlich ausgeblendet wurde, reduzierte sich die Interpretation der frühneuzeitlichen Verhältnisse hier auf ihre vermeintlichen Auswirkungen auf die Nationalitäten-Statistiken der Moderne. Welche Konsequenzen die historische Rückprojektion aktueller revisionspolitischer Interessen und die Ideologisierung der Geschichtsschreibung zeitigten, lässt sich besonders plastisch bei Keyser erkennen, der sich 1939 zu folgenden Thesen verstieg: Der einzigartigen Bedeutung, welche das deutsche Volkstum im Weichsellande seit langem besaß, entsprach […] seine kulturelle Leistung. Selbst wenn alle anderen Quellen von der Anwesenheit der deutschen Siedler in den Städten und Dörfern des Weichsellandes schweigen sollten, würden ihre Werke von ihnen zeugen, und zwar nicht nur von ihrem Dasein, sondern auch von ihren überragenden Fähigkeiten. Denn alles, was von menschlicher Arbeit aus jenen Jahrhunderten [vor 1772] erhalten ist, ist allein ihnen zu verdanken. Es gibt an der Weichsel kein Baudenkmal und kein Kunstwerk, keinen Kanal und keinen Deich, keine Burg und keine Kirche, keinen Stadtgrundriß und keine Dorfanlage, die nicht von Deutschen geschaffen sind. Vor ihrer Ankunft war das Land, soweit der Boden nicht noch die Schätze der ostgermanischen Kultur verbarg, wüst und leer. Es ist auch später keine einzige kulturelle Leistung von anderen als Deutschen vollbracht worden.53
Es ist unschwer zu erkennen, dass diese volksgeschichtliche Ideologisierung die Historiographie in eine Sackgasse führte und letztlich die gesamte geschichtswis-
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Deutschtums in Westpreußen zu polnischer Zeit (1569-1772). Seine Ursachen und Wirkungen“. Der ostdeutsche Volksboden. Aufsätze zu den Fragen des Ostens. Hg. Wilhelm Volz. Breslau 21926. S. 306-324. Erich Keyser. Geschichte des deutschen Weichsellandes. Leipzig 1939. S. 118; vgl. Hackmann. „Der Kampf um die Weichsel“ (wie Anm. 43). S. 46. Theodor Schieder. Deutscher Geist und ständische Freiheit im Weichsellande. Politische Ideen und politisches Schrifttum in Westpreußen von der Lubliner Union bis zu den polnischen Teilungen. Königsberg i. Pr. 1940 (= Einzelschriften der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung. Bd. 8). – In den Akten der Publikationsstelle beim Geheimen Staatsarchiv in Berlin (Bundesarchiv Berlin, R153/1084), wurde die Studie unter dem bezeichnenden Arbeitstitel „Das Deutschtum in Westpreußen bis 1772“ geführt; vgl. Jörg Hackmann. „‚An einem neuen Anfang der Ostforschung‘. Bruch und Kontinuität in der ostdeutschen Landeshistorie nach dem Zweiten Weltkrieg“. Westfälische Forschungen 46 (1996). S. 232-258, S. 235. Schieder. Deutscher Geist und ständische Freiheit (wie Anm. 50). S. 3. Ebd. S. 8f. Keyser. Geschichte des deutschen Weichsellandes (wie Anm. 49). S. 122.
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senschaftliche Produktion den Maximen der nationalsozialistischen Polenpolitik unterwarf. Ein geordneter Rückzug war hier, wie wir noch sehen werden, nicht mehr möglich. Auf der polnischen Seite versuchte zunächst Szymon Askenazy in seiner 1919 erschienenen und auf der Pariser Friedenskonferenz vorgelegten Schrift Danzig und Polen die polnischen Territorialforderungen historisch zu untermauern. Er schrieb dort über Danzig vor der Zweiten Teilung Polens (1793): Mehr denn je schätzte auch Danzig das Glück seiner Zugehörigkeit zur Rzeczpospolita. Aber gleichzeitig erschauderte die Stadt mehr denn je vor der Annexion durch das verhasste Preußen, nach so vielen bitteren Qualen, die ihr seit einer Reihe von Jahren von Friedrich dem Großen auferlegt worden waren. Und erneut zeigte sich, dass – wie stets – das gemeine Volk Danzigs, die Kleinbürger und Arbeiter, von dem erbittertsten Widerwillen gegen Preußen durchdrungen und Polen treu ergeben war; dieses Volk bewahrte am stärksten die uralten Traditionen der ursprünglichen Freiheit und der Abrechnung mit dem Kreuzrittertum und auch die größte Beimischung des uralten, hartnäckigen polnischkaschubischen Bluts.54
Askenazys Sicht auf die Danziger Geschichte ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Kurze Zeit zuvor hatte er die Geschichte Danzigs noch als am Rande Polens liegend betrachtet.55 Die veränderten Rahmenbedingungen seit 1918 verliehen nun auch der polnischen Historiographie eine politische Bedeutung: Askenazy wollte das historische Recht Polens auf die staatliche Zugehörigkeit Danzigs herausstellen. Dafür war die weitgehend unpolitische Perspektive Tarnowskis nun nicht mehr tauglich, an ihre Stelle trat eine polemische Sichtweise, die in ihrem Kern aber ebenfalls auf den dichten Beziehungen zwischen Danzig und Polen beharrte. Bei Askenazys Konzentration auf die politische Perspektive bildete der Hinweis auf die ‚polnisch-kaschubischen‘ Unterschichten als Parteigänger Polens nur ein Argument unter vielen. Dennoch gewann das ethnische Moment in dieser Zeit an Bedeutung. Es wurde beispielsweise von Stefan Żeromski in seinem Roman Seewind 56 1922 literarisch umgesetzt und nahm auch großen Raum ein in Wacław Sobieskis Darstellung der Geschichte Pommerellens und Danzigs.57 54
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Szymon Askenazy. Gdańsk a Polska [Danzig und Polen]. Warszawa [u.a.] 1919 [Neudruck Toruń 1997]. S. 73; die Erstausgabe erschien 1919 in polnischer, französischer, englischer und deutscher Sprache; das vorliegende Zitat wurde vom Verf. aus dem Polnischen übersetzt. – Zu Askenazy vgl. Piotr Wróbel. „Szymon Askenazy (1865-1935)“. Nation and History. Polish Historians from the Enlightenment to the Second World War. Hg. Peter Brock/John D. Stanley/Piotr Wróbel. Toronto 2006. S. 221245; Henryk Barycz. „Szymon Askenazy wśród przeciwieństw i niepowodzeń życiowych i naukowych [Szymon Askenazy inmitten von Widrigkeiten und Misserfolgen im Leben und in der Wissenschaft]“. Hg. ders. Na przełomie dwóch stuleci. Z dziejów polskiej humanistyki w dobie Młodej Polski [An der Wende zweier Jahrhunderte. Aus der Geschichte der polnischen Geisteswissenschaften in der Zeit des ‚ Jungen Polen‘]. Wrocław 1977. S. 237-311. Loew. Danzig und seine Vergangenheit (wie Anm. 17). S. 144. Stefan Żeromski. Wiatr od morza [Seewind]. Warszawa 1946 [Nachdruck 1996]. Wacław Sobieski. Der Kampf um die Ostsee von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Leipzig 1933 (= Memoiren [sic!] des Baltischen Instituts. Bd. 13). S. 1-51; eine kürzere polnische Fassung erschien zuvor un-
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Nach der Etablierung der Freien Stadt Danzig konnte das ethnische Argument freilich auch gegen Danzig eingesetzt werden: Die Stadt, so schrieb Sobieski 1933, habe sich bereits im 15. Jahrhundert völkisch von Polen getrennt und so einen prinzipiellen Gegensatz zum polnischen Staatswesen entwickelt.58 Eine solche gewissermaßen Anti-Danziger Perspektive spielte jedoch eine geringere Bedeutung als das Narrativ, das auf Verbindungen zwischen der Stadt und Polen setzte. Dies blieb, wie sich bei Askenazy abgezeichnet hatte, in den Gleisen des skizzierten traditionellen Deutungsmusters: Zum einen wurde die Gegnerschaft zum Deutschen Orden und die politische ‚Treue‘ der Stadt zum polnischen König herausgestellt, die als Ausdruck eines polnischen Nationalbewusstseins galt. Zum anderen wurden wirtschaftsgeschichtliche Aspekte, vor allem der Zusammenhang zwischen der Getreideproduktion in Polen-Litauen und dem Export nach Westeuropa von Danzig aus, hervorgehoben – so etwa in dem Sammelband Danzig. Geschichte und Gegenwart aus dem Jahre 1928. Dort hielt Stanisław Kutrzeba fest, dass die wirtschaftliche Bindung der Stadt an Polen noch stärker als die politische gewesen sei.59 Selbst Anhänger der Nationaldemokratie, wie insbesondere Wacław Sobieski, der die „deutsche Flut“ während der Herrschaft der Sachsenkönige scharf kritisierte, nahmen keine ausschließlich ethnozentrische Perspektive auf die Danziger Geschichte ein.60 Vielmehr ging es den polnischen Historikern darum, vor allem die engen kulturellen Beziehungen zwischen Danzig und der Adelsrepublik aufzuzeigen. So wollte etwa Łukasz Kurdybacha in einer Auseinandersetzung mit Theodor Schieder zeigen, dass die Danziger Gelehrten enge Beziehungen zu polnischen Magnaten und dem König Stanisław August Poniatowski unterhielten.61 Letztlich prägten zwei Aspekte den polnischen Danzig-Diskurs nach 1918: Einerseits die frühneuzeitliche Multikulturalität Danzigs und andererseits der Bedeutungsverlust der Stadt im preußischen Staat
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ter dem Titel Walka o Pomorze [Der Kampf um Pommerellen]. Poznań 1928. Zu Sobieski vgl. Henryk Barycz. Historyk gniewny i niepokorny. Rzecz o Wacławie Sobieskim [Ein zorniger und hochmütiger Historiker. Der Fall Wacław Sobieski]. Kraków 1978; Zdzisław Pietrzyk. „Wacław Sobieski (1872-1935)”. Nation and History (wie Anm. 54). S. 246-259. Żeromski und Sobieski kannten sich aus gemeinsamen Warschauer Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg und beeinflussten sich wechselseitig; vgl. Sobieski. Der Kampf um die Ostsee. S. 4. Sobieski. Der Kampf um die Ostsee (wie Anm. 57). S. 90. Stanisław Kutrzeba. „Handel i przemysł do 1793 roku [Handel und Gewerbe bis 1793]“. Gdańsk. Przeszłość i teraźniejszość [Danzig. Geschichte und Gegenwart]. Hg. ders. Lwów 1928. S. 129-171, S. 130. – Kritisch mit dieser polnischen Perspektive versuchte sich im Rahmen der Ostforschung auseinanderzusetzen: Detlef Krannhals. Danzig und der Weichselhandel in seiner Blütezeit vom 16. zum 17. Jahrhundert. Leipzig 1942 (= Deutschland und der Osten. Quellen und Forschungen zur Geschichte ihrer Beziehungen. Bd. 19). Sobieski. Der Kampf um die Ostsee (wie Anm. 57). S. 186. Ähnliches gilt für Roman Lutman. „Historja Gdańska do roku 1793 [Geschichte Danzigs bis zum Jahr 1793]“. Gdańsk. Przeszłość i teraźniejszość (wie Anm. 59). S. 35-128, S. 81. Łukasz Kurdybacha. Stosunki kulturalne polsko-gdańskie w XVIII wieku [Die kulturellen Beziehungen zwischen Polen und Danzig im 18. Jahrhundert]. Gdańsk 1937 (= Studia Gdańskie. Bd. 1).
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nach 181562; beide Argumente ließen sich im Sinne gegenwärtiger polnischer Interessen deuten. An rhetorischer Schärfe standen Askenazy oder Sobieski auf der polnischen Seite Autoren wie Kaufmann oder Keyser deutscherseits gewiss in nichts nach. Gleichwohl dürfen doch gewichtige Unterschiede zwischen den deutschen und polnischen Diskursen nicht übersehen werden: Zum einen war die polnische Position in politisch-institutioneller Hinsicht schwächer, da sie weit weniger zentral organisiert und staatlich gefördert wurde als ihr deutsches Pendant. Zum anderen nahmen ethnohistorische Argumente in der polnischen Geschichtsschreibung keine derart dominierende Position wie in der deutschen Ostforschung ein, und selbst dort, wo sie verwendet wurden, bezogen sie sich in der Regel auf nichtdominante ethnische Gruppen. Es ging mithin nicht wie auf deutscher Seite um die Untermauerung einer vermeintlichen kulturellen (und ethnischen) Hegemonie, sondern primär um Ansprüche auf Anerkennung innerhalb eines Geschichtskonzepts, das vor allem die Wechselbeziehungen zwischen Deutschen und Polen akzentuierte. Wenn man von polnischer Westforschung in Analogie zur deutschen Ostforschung spricht, dann sollte man diese Unterschiede vor Augen haben.63 IV Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte sich das deutsch-polnische Verhältnis so fundamental geändert, dass die Historiker auf beiden Seiten darauf unweigerlich reagieren mussten. Diese Zäsur ließ nun offenbar werden, dass sich – wie bereits erwähnt – die deutsche Danzig-Historiographie (und nicht zuletzt Erich Keyser) in eine Sackgasse manövriert hatte, aus der nur eine Umkehr hätte herausführen können, zu der sich jedoch kaum einer der Ostforscher öffentlich bekennen mochte. Stattdessen hoffte man anscheinend, dass die von der Volkstumsideologie getränkten Schriften, namentlich aus den Jahren zwischen 1939 und 1945, bald in Vergessenheit gerieten. Zudem konnte die 1950 in der Bundesrepublik neubegründete Ostforschung, zu der Keyser als einer ihrer Wortführer gehörte, nun auf den Ost/West-Gegensatz setzen und im Zuge der Auseinander-
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Roman Lutman. „Historja Gdańska w latach 1793-1918 [Geschichte Danzigs in den Jahren 17931918]“. Gdańsk. Przeszłość i teraźniejszość (wie Anm. 59). S. 172-184. Zu dieser Diskussion vgl. Jan M. Piskorski. „Volksgeschichte à la polonaise. Vom Polonozentrismus im Rahmen der sogenannten polnischen Westforschung“. Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit. Hg. Manfred Hettling. Göttingen 2003. S. 239-271; Jörg Hackmann. „Volksgeschichten in Osteuropa? Anmerkungen zu einem Vergleich nationaler Historiographien in Deutschland und Ostmitteleuropa“. Historische West- und Ostforschung in Zentraleuropa zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Verflechtung und Vergleich. Hg. Matthias Middell/Ulrike Sommer. Leipzig 2004 (= Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert. Bd. 5). S. 179-201.
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setzung mit der Sowjetisierung Ostmitteleuropas die alten Ziele weiterverfolgen.64 Die daraus resultierende (west-)deutsche Danzig-Historiographie verdient freilich kaum unsere Aufmerksamkeit; denn abgesehen von kunst- und architekturgeschichtlichen Arbeiten gab es kaum neue Impulse – im Gegenteil, das alte deutschtumsgeschichtliche Narrativ wurde noch enger und starrer, und die Fragwürdigkeit der politischen Konzeption, das Geschehen seit der Flucht und Zwangsaussiedlung der deutschen Bevölkerung zu ignorieren, zeigte sich am Fall Danzigs mit besonderer Klarheit.65 Im Unterschied zu den deutschen Historikern war es für deren polnische Kollegen leichter, an die Narrative vor 1939 anzuknüpfen und sie an die neue Situation anzupassen. Zwei Pfade zeichneten sich dabei ab: Der eine, radikalere führte zu der Forderung, die deutschen Spuren quasi zu löschen. In diesem Sinne äußerte sich beispielsweise Kazimierz Piwarski, der den Ansatz von Askenazy kritisierte und postulierte, Danzig müsse nun „in Seele und Blut“ slawisch werden66, wie es vor 1309 gewesen sei. Zum anderen wurde versucht, die Kontinuität der engen Beziehungen zwischen Danzig und Polen zu akzentuieren; so formulierte z.B. Marian Pelczar: „Wir sind hier nicht neu und fremd, sondern mit der Stadt durch Jahrhunderte verbunden.“67 Diese zweite Einstellung setzte sich letztlich durch, wobei im Vordergrund die Sammlung all jener Tatsachen stand, die auf Beziehungen Danzigs zu Polen hinwiesen. Eine sich von diesem Polonitätsbezug lösende, umfassendere Betrachtung der Kulturgeschichte Danzigs, wie sie dann von Gerard Labuda 1970 eingefordert wurde68, blieb jedoch noch längere Zeit ein Desiderat. Für die Anlage und Entwicklung solch eines Paradigmas war insbesondere der Ansatz von Maria Bogucka förderlich: Auf der Grundlage ihrer (der materialistischen Geschichtstheorie entspringenden) wirtschaftsgeschichtlichen Kritik an der vom deutschen Patriziat geprägten „Schmarotzerstadt“ – einem aus dem Poem Flis von Sebastian Klonowic von 1595 entlehnten Bild69 – wandte sie sich in ihren alltagsgeschichtlichen Publikationen den sozial und poli64
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Mittlerweile sind einige Studien zur bundesdeutschen Ostmitteleuropaforschung erschienen: Zunächst Hackmann. „‚An einem neuen Anfang der Ostforschung‘“ (wie Anm. 50); seit 2005 liegen mehrere Monographien vor: Eduard Mühle. Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung. Düsseldorf 2005 (= Schriften des Bundesarchivs. Bd. 65). S. 391-432; Corinna R. Unger. Ostforschung in Westdeutschland. Die Erforschung des europäischen Ostens und die Deutsche Forschungsgemeinschaft, 1945-1975. Stuttgart 2007 (= Studien zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Bd. 1); sowie Thekla Kleindienst. Die Entwicklung der bundesdeutschen Osteuropaforschung im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik. Marburg 2009 (= Materialien und Studien zur OstmitteleuropaForschung. Bd. 22). Die einzige Publikation, in der sich eine gewisse Reflexion der Entwicklung nach 1945 fand, ist Keysers posthum erschienenes Werk: Erich Keyser. Die Baugeschichte der Stadt Danzig. Köln 1972 (= Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart. Bd. 14). Kazimierz Piwarski. Dzieje Gdańska w zarysie [Geschichte Danzigs im Grundriss]. Gdańsk 1946; hier zitiert nach der Neuausgabe Gdańsk 1997. S. 12. Marian Pelczar. Polski Gdańsk [Das polnische Danzig]. Gdańsk 1947. S. 180; zitiert nach Loew. Danzig und seine Vergangenheit (wie Anm. 17). S. 376. Gerard Labuda. „Gdańsk jako ośrodek kultury w przeszłości [Danzig als kulturelles Zentrum in der Vergangenheit]“. Rocznik Gdański [Danziger Jahrbuch] 29/30 (1970). S. 5-13. Zitiert nach Loew. Danzig und seine Vergangenheit (wie Anm. 17). S. 380.
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tisch nicht dominanten Schichten zu und konzipierte die frühneuzeitliche Stadtgeschichte derart als ein Kapitel in der Geschichte der multikulturellen Adelsrepublik.70 Polonität und Multikulturalität ließen sich auf diese Weise bruchlos miteinander verbinden. Der entscheidende Impuls zu einem neuen Blick auf die Danziger Geschichte kam nach dem Zweiten Weltkrieg aber nicht in erster Linie von den akademischen Historikern, sondern aus der sich in Danzig neu formierenden polnischen Gesellschaft: Ihr ging es um die symbolische Aneignung des städtischen Raums, und das hieß vor allem um die Projektion einer historischen Folie auf die vorgefundene Wirklichkeit. In den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses geriet dabei die Frage, wie mit der historischen Bausubstanz bzw. ihren Relikten umzugehen sei. V Dieser Wiederaufbau Danzigs führte – wie am Beispiel der Rechtstadt gezeigt werden soll – sowohl in den deutschen als auch polnischen Danzig-Diskursen gleichsam zu einer Peripetie. Anders als etwa in Stettin, wo sich die Polonität der Stadt ausschließlich durch einen modernen Wiederaufbau definierte, hatte sich in Danzig bereits unmittelbar nach Kriegsende eine äußerst lebhafte Diskussion darüber entfaltet, wie mit der historischen Stadt zu verfahren sei.71 Die Diskussion oszillierte zwischen der Forderung nach einer völlig neuen Bebauung und dem Plädoyer für einen Wiederaufbau ‚im historischen Geist‘. Die erste Position begründete der Publizist Edmund Osmańczyk damit, dass die Danziger Kultur antipolnisch gewesen sei. Daraus folgerte er, die Aufgabe Polens müsse es sein, die Stadt als polnisches Hafenzentrum neu zu bauen.72 Für die zweite Position 70
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Maria Bogucka. Das alte Danzig. Alltagsleben vom 15. bis 17. Jahrhundert. Leipzig 1980. S. 13; vgl. außerdem Maria Bogucka. Szkice gdańskie (XV-XVII w.) [Danziger Skizzen (15-17. Jahrhundert)]. Warszawa 1957; des Weiteren die Beiträge der Autorin in: Historia Pomorza [Geschichte von Pomorze]. Hg. Gerard Labuda. Bd. 2,1. Poznań 1976. S. 536-642; Historia Gdańska [Geschichte Danzigs]. Hg. Edmund Cieślak. 3 Bde. Bd. 2. Gdańsk 1982. S. 176-259, 330-351, 403-585. Vgl. dazu Jacek Friedrich. „Die Diskussion über den Wiederaufbau von Danzig in den Jahren 19451948“. Mare Balticum (1999). S. 24-34; ders. Neue Stadt in altem Gewand. Der Wiederaufbau von Danzig 1945–1960. Wien 2010 (= Visuelle Geschichtskultur. Bd. 4); vgl. außerdem Lech Krzyżanowski. „Gdańsk [Danzig]“. Zabytki urbanistyki i architektury w Polsce. Odbudowa i konserwacja [Städtebauliche und architektonische Denkmäler in Polen. Wiederaufbau und Konservierung]. Hg. Wiktor Zin. Bd. 1: Miasta historyczne [Historische Städte]. Warszawa 1986. S. 95-104. – Zu berücksichtigen sind in diesem Kontext die biographischen Hintergründe der Architekten und Denkmalpfleger; vgl. dazu die folgende Sammlung von Erinnerungsberichten: Wspomnienia z odbudowy Głównego Miasta [Erinnerungen an den Wiederaufbau der Rechtstadt]. Hg. Izabella Trojanowska/Izabella Greczanik-Filipp. 2 Bde. Gdańsk 1997. Zitiert nach Friedrich. „Die Diskussion über den Wiederaufbau“ (wie Anm. 71); ein prägnantes Zitat findet sich bei Henryk Tetzlaff. „Czy i gdzie Gdańsk powinien być odbudowany? [Ob und wo Danzig wiederaufgebaut werden sollte]“. Dziennik Bałtycki [Ostsee-Tageszeitung] 25.07.1947 [in der Übers. des Verf.]: „An Stelle des alten Handelszentrums Danzig, an Stelle seiner winkligen und dunklen Sträßchen bauen wir ein modernes Wohnviertel mit breiten Kommunikationsarterien voller Sonne und Luft, mit Gärten und Grünanlagen, die sich breit an den malerischen Kanälen und Gewässern der früheren Innenstadt erstrecken. […] Die so aufgebaute Stadt Danzig, die ‚einst unsere‘
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traten etwa der Architekt und Vizestadtpräsident Władysław Czerny und der Publizist Jan Kilarski schon unmittelbar nach 1945 ein.73 Daneben gab es allerdings auch Überlegungen – etwa von Henryk Tetzlaff –, die Innenstadt nicht neu aufzubauen, sondern sie leer zu lassen, was man gewissermaßen als ‚Modell Kaliningrad‘ bezeichnen könnte. Allerdings hatten die beiden konträren Positionen in der unmittelbaren Nachkriegszeit doch etwas gemeinsam, waren sie doch einer Rhetorik verpflichtet, die – gleich ob sie die Rekonstruktion oder den völligen Neubau des historischen Stadtzentrums intendierten – den polnischen Charakter der Stadt entschieden voraussetzten.74 Die Entscheidung zugunsten der Orientierung am historischen Stadtbild, die schließlich 1947 auf einer Tagung der polnischen Denkmalpfleger in Danzig fiel, begründete der leitende polnische Denkmalpfleger Jan Zachwatowicz so: Die große Aufgabe besteht darin, das alte Danzig an die Erfordernisse der Moderne anzupassen. Danzig ist von polnischer Kultur durchtränkt. Dank der Tatsache, dass es einst für verschiedene europäische Kulturen das Tor nach Polen war, gibt es hier zahlreiche europäische Kulturdenkmäler. Es handelt sich nicht nur um polnische Kulturdenkmäler, deswegen dürfen wir unsere Hochschätzung nicht nur auf jene Objekte beschränken, die unmittelbar mit Polen verbunden sind.75
Damit erweiterte er die enge polonitätszentrierte Perspektive und verschaffte zugleich der Denkmalpflege für die Begründung einer neuen polnischen Identität der Stadt eine zentrale Position.
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war und die erneut ‚unsere‘ wird, wird uns mehr Anerkennung vor den Augen der Welt bringen, als wenn wir aus den Trümmern seine zweifellos romantischen und zweifellos schönen, aber fremden und veralteten mittelalterlichen Formen heben müssten.“ Zitiert nach Wiesław Gruszkowski. „Spór o odbudowę Gdańska ze zniszczeń 1945 roku [Der Streit um den Wiederaufbau Danzigs nach den Zerstörungen von 1945]“. Gdańsk w gospodarce i kulturze europejskiej [Danzig in der europäischen Wirtschaft und Kultur]. Hg. Marian Mroczko. Gdańsk 1997. S. 141-179, S. 151; vgl. auch [o.A.] „Zestawienie propozycji lokalizacji nowego centrum społecznego Gdańska według różnych autorów na przestrzeni lat 1950-1952 [Zusammenstellung der Vorschläge zur Lokalisierung des neuen gesellschaftlichen Zentrums Danzigs nach verschiedenen Autoren während der Jahre 1950-1952]“. Architektura 8 (1953). S. 196. Von seinen Schriften seien genannt: Jan Kilarski. Gdańsk. Poznań 1937 [Ndr. Warszawa 1995]; ders. Gdańsk, miasto nasze. Przewodnik po Gdańsku starym i nowym [Danzig, unsere Stadt. Führer durch das alte und neue Danzig]. Kraków 1947. Zu seinen Aktivitäten 1945 vgl. Friedrich. Neue Stadt (wie Anm. 71). S. 25f. Deutlich wird das nicht zuletzt bei Czerny, der als Vertreter des Wiederaufbaus auf das Terrain des einstigen Deutschordensschlosses ein Hochhaus setzen wollte; zu seinen Plänen von 1945/46 vgl. Gruszkowski. „Spór o odbudowę Gdańska“ (wie Anm. 72). S. 154f.; „Zestawienie propozycji lokalizacji“ (wie Anm. 72). Zitiert nach Friedrich. „Die Diskussion über den Wiederaufbau“ (wie Anm. 71); zu den Planungen von 1947-1948 vgl. Gruszkowski. „Spór o odbudowę Gdańska“ (wie Anm. 72). S. 155-159; Jerzy Stankiewicz/Bohdan Szermer. Gdańsk. Rozwój urbanistyczny i architektoniczny oraz powstanie zespołu Gdańsk-Sopot-Gdynia [Danzig. Städtebauliche und architektonische Entwicklung und das Entstehen der Agglomeration Danzig-Zoppot-Gdingen]. Warszawa 1959. S. 269-278; Bohdan Szermer. Gdańsk – przeszłość i współczesność [Danzig – Geschichte und Gegenwart]. Warszawa 1971. S. 99-104. Für die urbanistische Konzeption der Innenstadt fanden 1950 und 1951 zwei Wettbewerbe statt, vgl. ebd. S. 98.
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Die Unterschutzstellung der Rechtstadt als städtebauliches Denkmal 1947 und die 950-Jahr-Feier im selben Jahr leiteten dann den Wiederaufbau ein. Seine Ausführung freilich beruhte nicht allein auf den Sachentscheidungen der Denkmalpflege, sondern – da für die Realisierung des Wiederaufbaus allein der Zakład Osiedli Robotniczych [Betrieb für Arbeitersiedlungen] zuständig war76 – auf einer vielfachen Interaktion zwischen den Ansprüchen modernen Wohnungsbaus einerseits und konservatorischen Prinzipien andererseits. Für den Aufbau der Häuser hatte Władysław Czerny schon frühzeitig das Prinzip propagiert, auf den alten Fundamenten zu bauen, so dass sich die Neubauten an der tradierten horizontalen wie vertikalen Stadtstruktur orientieren sollten.77 Tatsächlich wurde dieser Grundsatz in Danzig jedoch in vielen Fällen durch das Einbringen von Stahlbetonfundamenten durchbrochen.78 Bei dieser Form des Vorgehens war die vollständige Rekonstruktion einfacher als die Restaurierung und Einbeziehung erhaltener Bauteile, von dekorativen Elementen der Fassaden und Beischlägen abgesehen, die von den Denkmalpflegewerkstätten mit großem Aufwand wiederhergestellt wurden.79 Die Denkmalpflege konzentrierte sich unter diesen Voraussetzungen – weniger aus fachlichen Überlegungen80, als vielmehr aus den politischen wie finanziellen Rahmenbedingungen heraus – auf die Rekonstruktion der Fassaden, mit Ausnahme nur weniger, bedeutender Bürgerhäuser wie dem Uphagenhaus oder dem Löwenschloss in der Langgasse. Der Aufwand der Fassadenrekonstruktion differierte dabei deutlich zwischen dem Zentrum der Rechtstadt mit den Straßenzügen von Langem Markt (Długi Targ) und Langgasse (ul. Długa), Jopen- und Brotbänkengasse (ul. Piwna, ul. Chlebnicka) und schließlich der Frauengasse (ul. Mariacka) einerseits und den übrigen Straßenzügen andererseits. Aus dieser Arbeitsteilung beim Wiederaufbau resultierte, dass die Fassadengliederung, selbst da, wo sie, wie in den zentralen Straßenzügen, die unterschiedlichen Geschoss-
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Der Wohnungsbau war dem Betrieb für Arbeitersiedlungen untergeordnet, der im Mai 1948 die Danziger Direktion für den Bau von Arbeitersiedlungen ins Leben rief und zugleich neben privaten Bauherrn auch die Wohnungsbaugenossenschaften eliminierte; vgl. dazu: Jacek Friedrich. Neue Stadt in altem Gewand (wie Anm. 71). Kap. 2. – Auch in Breslau wurde der Wiederaufbau der Altstadt in ähnlicher Weise durchgeführt; vgl. Edmund Małachowicz. Stare Miasto we Wrocławiu. Rozwój urbanistyczno-architektoniczny, zniszczenia wojenne i odbudowa [Die Altstadt in Breslau. Städtebaulicharchitektonische Entwicklung, Kriegszerstörungen und Wiederaufbau]. Warszawa, Wrocław 21985. Władysław Czerny. „Krytyka projektowania Gdańska [Kritik an den Entwürfen für Danzig]“. Architektura 2 (1955). S. 52ff. Mitteilung von Wiesław Gruszkowski, Zoppot (1995). Eine Quellenübersicht über die Arbeit der Danziger Denkmalpflege enthält: Katalog der PKZDokumentationen der Denkmäler West- und Nordpolens 1951-1993. Hg. Staatliches Unternehmen Werkstätten für Denkmalpflege. Warszawa 1995. S. 170-224. Vgl. hier etwa die kritischen Bemerkungen von Jerzy Stankiewicz. „Uwagi o odbudowie zespołu zabytkowego Gdańska [Bemerkungen zum Wiederaufbau des Danziger Denkmalensembles]“. Ochrona Zabytków [Denkmalschutz] 12 (1959). Nr. 3/4. S. 153-172; ders. „Odbudowa zabytkowych zespołów Gdańska po 1945 r. [Der Wiederaufbau der Denkmalensembles in Danzig nach 1945]“. Ochrona Zabytków 32 (1979). Nr. 3. S. 177-190.
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höhen in der Disposition der Fenster aufnahm, mit der ursprünglichen horizontalen wie vertikalen Gliederung in Wohneinheiten nicht mehr zusammenfiel. Dieser Sachverhalt muss hier jedoch nicht im Detail verfolgt werden, denn wichtiger als der Hinweis auf die Ambivalenz zwischen einem modernen Wiederaufbau und der Rekonstruktion historischer Fassaden ist vielmehr die Tatsache, dass der Wiederaufbau in der Öffentlichkeit als durchaus stimmig empfunden wurde: Die Wiederherstellung und Verbesserung des Stadtbildes veranschaulichten, wie vorteilhaft sich die Verbindung Danzigs mit Polen auswirkte, und die Historizität der Fassaden wurde akzeptiert, obwohl ihr Kulissencharakter nicht nur den Fachleuten, sondern auch vielen Publizisten durchaus deutlich war. Das galt aber nicht nur für die polnische, sondern auch für die westdeutsche Öffentlichkeit. In zahlreichen Publikationen aus dem Milieu der Vertriebenen wurde auf den Wiederaufbau Bezug genommen, und zwar zunehmend positiv.81 In diesen Reaktionen lassen sich bereits deutliche Spuren einer Entwicklung entdecken, die im deutsch-polnischen Verhältnis den Weg zu einem Modus der gemeinsamen Erinnerung gebahnt hat. In die gleiche Richtung wiesen auch die Kooperationen zwischen der deutschen und der polnischen Denkmalpflege. Zwar unterschieden sich die deutschen Bemühungen während der Zwischenkriegszeit von den späteren polnischen darin, dass die einen das deutsche Danzig herausstellen wollten, während für die anderen das ‚goldene‘ Zeitalter der Zugehörigkeit zur Adelsrepublik im Vordergrund stand. Selbst dieser Gegensatz war jedoch erheblich geringer als derjenige, der zwischen den Historikern ausgetragen wurde, da hier primär Fragen der kunstgeschichtlichen Beurteilung, der Konservierung, des Rückbaus moderner Veränderungen und der Einheitlichkeit von Fassaden im Vordergrund standen. Im Rückbau von Gebäuden aus den Gründerjahren des kaiserzeitlichen Kapitalismus wie in der Wiederherstellung von Fassaden in ihrer vermeintlich ursprünglichen Gestalt82 sind zahlreiche Parallelen zu erkennen. Neben Kontakten der polnischen Denkmalpfleger zu ihren deutschen Vorgängern, die es nicht nur zwangsweise in der unmittelbaren Nachkriegszeit gab83, spielte auch der Rückgriff auf deutsche Denkmalinventare, Dokumentationen und Bilddokumente eine Rolle. Diese Konvergenz zeigt sich beispielsweise an der ‚Korrektur‘ des Stadtbilds in der Neugestaltung des Verlaufs des Damms (Grobla) I-IV, die den Blick auf das nördliche Querschiff der Marienkirche freigab und früheren Vorschlägen des deutschen Denkmalpflegers Otto
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Details bei Loew. Danzig und seine Vergangenheit (wie Anm. 17). S. 464-467. Vgl. Erich Volmar. Danzigs Bauwerke und ihre Wiederherstellung. Danzig 1940. Abb. 9-64. – Hier wäre ein Vergleich zu anderen Altstädten, etwa der Lübecks, interessant; vgl. dazu Harald Bodenschatz. „120 Jahre Altstadterneuerung in Lübeck“. Jahrbuch Stadterneuerung (1992). S. 37-70. Willi Drost und Erich Volmar wurden noch einige Zeit nach Kriegsende als Experten von polnischer Seite für die Suche nach ausgelagerten Kunstgegenständen eingesetzt; vgl. Loew. Danzig und seine Vergangenheit (wie Anm. 17). S. 395.
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Kloeppel folgte.84 Am prägnantesten ist jedoch der Fall des Uphagenhauses, das bereits seit 1911 als Museum fungierte und dem diese Funktion in den ersten Planungen für den Wiederaufbau nach 1945 erneut zugewiesen wurde. Da sich die Innenausstattung und die kriegsbedingte Inventarisierung erhalten hatten, begann man in den 1980er Jahren mit der Rekonstruktion des Hauses, die 1998 abgeschlossen wurde. Ihr Ziel war es, so die Leiterin des Hauses, „dass das Funktions- und Raumprogramm eines städtischen Wohnhauses wiederhergestellt wird, das einst einem reichen Danziger Patrizier gehörte.“85 VI Solche Konvergenzen ergeben sich in den letzten Jahrzehnten immer häufiger und begünstigen in der polnischen wie in der deutschen Erinnerungskultur die Herausbildung übereinstimmender Figurationen. Seit einiger Zeit hat in Danzig die Kritik an der Architektur des (Wieder-)Aufbaus zugenommen; die öffentliche Diskussion richtet sich dabei nun wie im Falle des Theaters auf dem Kohlenmarkt (Targ Węglowy) auch deutlich gegen eine dezidiert moderne Architektur in der Rechtstadt und hat zugleich eine deutliche Neubewertung des ‚preußischen‘ Danziger Historismus vorgenommen, der bislang mit Missachtung gestraft worden war. Kritische Positionen bestimmen beispielsweise die Debatte um die Neubebauung der Milchkannengasse (ul. Stągiewna)86 sowie die Forderung nach der Wiederherstellung des Danziger Hofs, eines Hotels im Stil der Danziger Neorenaissance, an der 1998 ein Architekturwettbewerb zur Neubebauung des Kohlenmarktes scheiterte. Zudem hat sich eine Diskussion darüber entsponnen, wie mit dem Wiederaufbau der fünfziger Jahre zukünftig zu verfahren sei.87 Die Wiederbebauung der Querstraßen ist ein kleines, aber bedeutsames Indiz für das Abgehen von der Konzeption des sozialistischen Wiederaufbaus und der historistischen Rekonstruktion von Danzigs ‚goldenem‘ (polnischen) Zeitalter einerseits und der Hinwendung zur bürgerlichen Stadtstruktur andererseits. Für diese Neuorientierung gegenüber dem alten Danzig, das sowohl bürgerlich als auch preußisch-deutsch war, spricht auch der Erfolg der Publikationen, die – mit herausgegeben von Donald Tusk – unter dem Titel Był sobie Gdańsk [Einst in Danzig] Reproduktionen von Fotos aus Familienalben der Zeit vor 1939 bieten. Mit die84
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Vgl. Otto Kloeppel. Danzig am Scheideweg. 1628-1928. Festgabe zum 300jährigen Noch-Bestehen des Langgartertores. Danzig, Berlin 1928 [auch in: Ostdeutsche Monatshefte 8 (1928). S. 891-909]. Ewa Barylewska-Szymańska. „Das Uphagen-Haus – Geschichte und Wiederherstellung eines Patrizierhauses“. Mare Balticum (1999). S. 50-58. Vgl. beispielsweise Małgorzata Omilanowska. „Rekonstruktion statt Original – das historische Zentrum von Warschau“. Informationen zur Raumentwicklung 37 (2011). Heft 3-4. S. 227-236, S. 234f. Vgl. dazu O przyszłości miast historycznych. Zapis debaty [Über die Zukunft historischer Städte]. Hg. Nadbałtyckie Centrum Kultury. Gdańsk 2000; Miasto historyczne w dialogu ze współczesnością [Die historische Stadt im Dialog mit der Gegenwart]. Hg. Janusz Bogdanowski. Gdańsk 2002.
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sen Bildern, die im kommunikativen Gedächtnis der früheren Bewohner eine zentrale Position einnahmen, möchte Tusk die Perspektive der polnischen Bürger auf das (sonst häufig ignorierte) Leben der Deutschen in der Vorkriegszeit hin öffnen; darüber hinaus begründet er seine Absicht, ein Bewusstsein für die Kontinuität der Stadtgeschichte wecken zu wollen, nachdrücklich mit Danzigs besonderem politisch-historischem Profil: Die großen Danziger Revolten der 70er und 80er Jahre stärkten bei vielen Bewohnern die Überzeugung von der Außergewöhnlichkeit der Stadt. Es war wohl gerade die Rückkehr der großen Geschichte an die Mottlau, die es meiner Generation erlaubte, die Komplexe und Vorurteile abzuwerfen und mit Courage auf die Vergangenheit Danzigs zu schauen. Wir fühlten uns umso freier, je tiefer wir Wurzeln schlugen und je stärker wir Kontinuität erstrebten. Vielleicht haben die Danziger deshalb mit solcher Ergriffenheit jedes wiederaufgebaute Bürgerhaus an der Langen Brücke, den Helm des Stockturms, das Glockenspiel von St. Katharinen begrüßt und mit solchem Eifer Danziger Erinnerungen auf den Marktständen des Dominiks gesucht?88
Der Wiederaufbau der zerstörten Rechtstadt und die ihn begleitenden Debatten haben somit für die polnische wie die deutsche Gesellschaft jeweils gegenläufige Effekte hervorgerufen – die beiden Seiten die Möglichkeit gaben, gegenüber der Stadt und ihrer Geschichte letztlich eine gemeinsame Position einzunehmen. Auf der polnischen Seite hatte zunächst, trotz der weit gefassten Konzeption des Wiederaufbaus, eine Aneignung von Danziger Geschichte und Kultur im ethnozentrischen Sinne dominiert; die Konstruktion des kollektiven Gedächtnisses nach 1945 beruhte – wie bereits Peter Oliver Loew konstatiert hat89 – auf der Behauptung einer kontinuierlichen lokalen Polonitätsgeschichte. Seit dem Ende der Volksrepublik ist dann aber auch die Integration von solchen städtebaulichen Elementen zu beobachten, die lange Zeit als Symbole der preußischen – und mithin antipolnischen – Herrschaft und Gesellschaft galten. Noch deutlicher wird dieser neue Modus der Aneignung in einer soziokulturellen Umorientierung: Nicht mehr das einfache Volk, sondern die stadtbürgerlichen Eliten prägen die Leitvorstellungen der Danziger Gesellschaft nach 1989. Der frühere ‚polnische‘ Danzig-Diskurs ist so zu einem spezifischen ‚Danziger‘ Danzig-Diskurs geworden – bei dem der aufmerksame Beobachter freilich dessen rekonstruktiven Charakter bemerken wird. Auf der deutschen Seite hingegen hat die visuelle Wahrnehmung der neuen ‚alten‘ Stadt ganz offensichtlich die Verarbeitung des Verlusts und damit zugleich die Akzeptabilität jener diskursiven Re-Konstruktion gefördert. Das Bild der Stadt und ihrer Geschichte wird in Deutschland – und zwar mittlerweile auch im Kreis der Vertriebenen – in zunehmendem Maße von der polnischen Erinne88
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Był sobie Gdańsk [Einst in Danzig]. 5 Bde. Hg. Donald Tusk/Wojciech Duda/Grzegorz Fortuna/ Konrad Nawrocki. Gdańsk 1996-1997. Bd. 1. S. 6. Loew. Danzig und seine Vergangenheit (wie Anm. 17). S. 367.
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rungsproduktion geprägt. ‚Multikulturalität‘ als Synthesis deutscher und polnischer Einflüsse, zu denen dann selbstverständlicher Weise auch kaschubische Elemente hinzugerechnet werden können, bietet allenthalben ein gemeinsames, konfliktfrei zu nutzendes Passepartout für den Zugriff auf Danziger Geschichte.90 Dabei sind Ergänzungen dieses Diskurses – wie z.B. hinsichtlich niederländischer oder jüdischer Anteile – freilich jederzeit möglich. Offenbar entwickelt sich hier eine ‚gemeinsame‘ Erinnerung von Gruppen, deren unmittelbare Kontakte kaum vor das Jahr 1960 zurückreichen, die aber willens sind, gemeinsame Orientierungspunkte – wie die Bürgerkultur des 18. und 19. Jahrhunderts oder das Alltagsleben während der Freistadtzeit – zu entdecken, zu akzeptieren und wertzuschätzen. Darin bestätigt sich ein weiteres Mal, dass es sich bei kollektiver Erinnerung vornehmlich um soziale Konstruktionen handelt. „Individuelle wie kollektive Vergangenheit […] werden in sozialer Kommunikation beständig neu gebildet“.91 Im Gegensatz zu dem öffentlichen Interesse an Geschichte erscheint die Meinungsführerschaft der professionellen Historiker an den hier beschriebenen Prozessen und Diskussionen rückläufig. Gerade die Möglichkeit, die konkrete, ‚wiedererstandene‘ Stadt sinnlich wahrzunehmen und die gemeinsame Arbeit an den Schichten der historischen Materie haben dazu beigetragen, die master narratives von der deutschen kulturellen Hegemonie bzw. von der polnischen Rückkehr auf ursprünglich polnische Gebiete zurückzudrängen. Die Steine sprechen eben weder Deutsch noch Polnisch – noch irgendeine andere Sprache. Dabei sind allerdings die gesellschaftlichen wie politischen Implikationen, die dem ‚Passepartout‘ der Multikulturalität innewohnen, weiterhin im Auge zu behalten: ‚Multikulturalität‘ bietet zwar diskursiv den Entwurf eines gemeinsamen Erinnerungsraumes und eröffnet heuristisch die Chance, einen ganzheitlichen Blick auf die Geschichte der Stadt zu werfen, darf aber keinesfalls als universell gültiges historiographisches Konzept missverstanden oder gar dogmatisiert werden. ____________________ Zusammenfassung Schon die frühe, bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts reichende Danziger Historiographie gibt Hinweise auf das Zusammenleben von verschiedensprachigen Gruppen wie auf konkurrierende Herrschaftsansprüche; solch eine Einführung von kulturellen Unterschieden wird aber erst danach grundlegend politisiert: Bereits das friderizianische Preußen begründet die Annexion Westpreußens im Jahre 90
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Schon ein flüchtiger Blick auf die Konzeption und Durchführung der Millenniumsfeier 1997 könnte reiches, vielfältiges Anschauungsmaterial für diese Tendenzen entdecken. Harald Welzer. Das kommunikative Gedächtnis: Eine Theorie der Erinnerung. München 2002. S. 44.
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1772 primär mit dem Kulturgefälle zu Polen, und im 19. Jahrhundert wird dann immer offener die Hegemonie der deutschen (und implizit protestantischen) Kultur in Danzig postuliert, wodurch auf der polnischen Seite Gegenbewegungen hervorgerufen werden, in denen die Anerkennung der polnisch geprägten Komponenten eingefordert und späterhin sogar politisch-territoriale Ansprüche erhoben werden. Ungeachtet einiger Bemühungen auf beiden Seiten, zu einer differenzierteren Sicht zu gelangen, sind damit die diskursiven Grundtendenzen für die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg fixiert; und solche antagonistischen Wahrnehmungs- und Argumentationsmuster bleiben – oft in nochmals verschärfter Polemik – auch während der Zwischenkriegszeit bestimmend. Während sich die kulturelle und historische Aneignung Danzigs nach 1945 dann zunächst an einer kontinuierlichen lokalen Polonitätsgeschichte orientiert, bietet die weit gefasste Konzeption des Wiederaufbaus auch für die deutsche Seite schon bald spezifische Anknüpfungspunkte, sich in dieser ‚neuen alten Stadt‘ quasi wiederzuentdecken: ‚Multikulturalität‘ als Synthesis deutscher und polnischer Einflüsse, zu denen dann freilich auch kaschubische Elemente hinzugerechnet werden können, bietet nun allenthalben ein konfliktfrei zu nutzendes Passepartout für den Zugriff auf Danziger Geschichte. Offenbar hat sich hier eine ‚gemeinsame‘ Erinnerung von Gruppen entwickelt, deren unmittelbare Kontakte kaum vor das Jahr 1960 zurückreichen, die aber willens sind, gemeinsame Orientierungspunkte zu entdecken, zu akzeptieren und wertzuschätzen. Streszczenie Dzielona przeszłość – wspólne wspomnienie? Dyskursy publiczne i naukowe w temacie wielokulturowości Gdańska Już wczesna, sięgająca połowy XVIII w. historiografia Gdańska wskazuje na ślady potwierdzające wspólne życie władających różnymi językami grup jak również na konkurencyjne roszczenia do panowania; jednak tego typu wprowadzenie różnic kulturowych ulega później zasadniczej polityzacji. Już Prusy fryderycjańskie uzasadniły aneksję Prus Zachodnich w 1772 r. głównie przepaścią kulturową względem Polski a w XIX w. coraz bardziej otwarcie postulowana była hegemonia niemieckiej (i zawoalowanej protestanckiej) kultury w Gdańsku, wskutek czego po stronie polskiej powstawały ruchy przeciwne, w których żądano uznawania polskich komponentów a w późniejszym czasie nawet wysuwano roszczenia polityczno-terytorialne. Niezależnie od pewnych starań po obu stronach zmierzających do uzyskania zróżnicowanej perspektywy, w ten sposób utrwaliły się podstawowe dyskursywne tendencje dla dziesięcioleci przed I wojną światową; i takie antagonistyczne wzorce pojmowania i argumentacji pozostają decydujące – często w jeszcze bardziej zaostrzonej polemice – również w okresie międzywojennym. Podczas gdy kulturowe i historyczne zawłaszczenie Gdańska po 1945 r. jest zorientowane na ciągłą lokalną historię polonijną, szeroko ujęta koncepcja odbu-
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dowy zaczyna wkrótce również dla strony niemieckiej oferować specyficzne punkty wyjścia dla ponownego odnalezienia się w tym ‘nowym starym mieście’: ‘Wielokulturowość’ jako synteza niemieckich i polskich wpływów, do których można oczywiście zaliczyć również elementy kaszubskie, oferuje teraz na każdym kroku passepartout z dostępem do historii Gdańska z możliwością bezkonfliktowego skorzystania. Wyraźnie rozwinęło się tu ‘wspólne’ wspomnienie grup, których bezpośrednie kontakty ledwie sięgają lat przed 1960, jednak gotowych do odkrycia, zaakceptowania i docenienia wspólnych punktów orientacyjnych. Abstract Separate Past – Common Memory? Public and scientific discourse about the multicultural character of Gdansk The early Danziger Historiographie, which stretches back to the mid-18th century, provides evidence as to the coexistence of different language-speaking groups as well as competing bids for supremacy; such an introduction of cultural differences was fundamentally politicised only thereafter. Already in Frederician Prussia, the annexation of West Prussia in 1772 was justified primarily due to the cultural gap with Poland, and in the 19th century the hegemony of German (and Protestant, implicitly) culture was postulated with increasing openness. This resulted in counter-movements on the Polish side, in which the recognition of Polish components was promoted and, later, political-territorial claims were made. Despite several attempts on both sides to reach a more differentiated view, the basic discursive tendencies during the decade preceding World War I are fixated on this; such antagonistic patterns of perception and argumentation remain determinative – often in more exacerbating polemic – even during the time between the World Wars. While the cultural and historical appropriation of Gdansk following 1945 is oriented towards a continuous local Polish history, the broadly defined concept of reconstruction also offers specific links for the German side as well, which can be more or less rediscovered in this ‘new old city’. ‘Multiculturalness’ as a synthesis of German and Polish influences, to which Kashubian elements can also certainly be added, now offers a conflict-free passepartout for access to Gdansk’s history everywhere. Apparently, a ‘common’ memory developed here between groups whose direct contact hardly reaches back prior to 1960, but who are willing to discover, accept, and value common orientation points.
MUSIKGESCHICHTLICHER HAUPTTEIL I
Udo Arnold (Bonn/Deutschland)
Deutscher Orden und Musik Der Deutsche Orden wurde während des Dritten Kreuzzuges 1190 im Heiligen Land gegründet. Christliche Kreuzfahrer errichteten bei der Belagerung der Hafenstadt Akkon ein Hospital, das von einer Hospitalgemeinschaft betreut wurde. Nach Einnahme Akkons etablierte sich das Hospital als feste Einrichtung in der Stadt. Im Zuge der neuen Mittelmeerpolitik des Stauferkaisers Heinrich VI. erfuhr es 1198 die Umwandlung in eine Rittergemeinschaft. Daraus entwickelte sich innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte ein geistlicher Ritterorden – wie die älteren Templer und Johanniter – als dritter großer Ritterorden der Kreuzzugsepoche.1 Trotz der Umwandlung hat der Deutsche Orden – wie auch die Johanniter – die Hospitalaufgabe beibehalten. Sie trat jedoch in den Hintergrund neben dem Heidenkampf. Allerdings blieb sie eine der wesentlichen ideologischen Grundlagen des Ordens über alle Wandlungsphasen der nächsten acht Jahrhunderte hinweg. Was den Deutschen Orden gegenüber anderen Ritterorden auszeichnete, war eine Tendenz zur Territorialbildung. Sein Hochmeister Hermann von Salza sammelte zwischen 1209 und 1239 entsprechende Optionen im Heiligen Land, im Königreich Armenien, im Königreich Ungarn, in Spanien im Zuge der Reconquista, in Preußen und Livland (dem heutigen Lettland und Estland) im Zuge von Heidenkampf und Mission. Von nachhaltigem Erfolg, bis ins 16. Jahrhundert, erwies sich dieser Ansatz freilich nur in Preußen und Livland. Dort kam es zu einer Territorialbildung, die in Preußen zu einem in ganz Europa anerkannten, mächtigen Staatswesen führte. Der zu Beginn des 14. Jahrhunderts nach Preußen übersiedelte Hochmeister des Ordens wurde zu einem Territorialfürsten, vergleichbar mit Herzögen und Königen seiner Zeit. Die Meister stammten normalerweise aus dem niederen Adel oder der Ministerialität. Unter dem hochadeligen Hochmeister Herzog Luther von Braunschweig setzte im ersten Drittel des 1
Als Grundlagenliteratur sei verwiesen auf: 800 Jahre Deutscher Orden. Ausstellung des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg in Zusammenarbeit mit der Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens. Ausstellungskatalog. Hg. Gerhard Bott/Udo Arnold. Gütersloh, München 1990; gute deutschsprachige Zusammenfassungen der mittelalterlichen Geschichte des Ordens zuletzt Klaus Militzer. Die Geschichte des Deutschen Ordens. Stuttgart 22012; Jürgen Sarnowsky. Der Deutsche Orden. München 2007. Der folgende Beitrag stellt eine Vorstudie dar zu einer größeren Arbeit, die sowohl den Orden in Livland als auch seinen deutschen Zweig bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts einbezieht. Der bereits fertige Teil zu Preußen hat etwa den dreifachen Umfang und enthält die hier drastisch reduzierten Einzelnachweise, weitere Fakten sowie die Einordnung der nur als Fakten mitgeteilten Phänomene.
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14. Jahrhunderts jedoch eine Verfürstlichung des Hochmeistertums ein. Das Ergebnis war eine Residenz und eine Hofhaltung ähnlich wie bei weltlichen Fürsten, auch wenn es sich um einen geistlichen Orden handelte. Das galt erst recht gegen Ende der preußischen Ordenszeit, als 1498 mit Friedrich von SachsenMeißen wieder ein hochadeliger Hochmeister und mit ihm eine deutlich verweltlichte Hofhaltung nach Preußen kam – eine Entwicklung, die sich unter seinem Nachfolger Albrecht von Brandenburg-Ansbach fortsetzte und hier ebenfalls zu einem intensivierten Musikleben führte. Von Bedeutung ist, dass im Zuge der allgemeinen neuzeitlichen Entwicklung auch im Deutschen Orden die Individualität der Mitglieder zunehmend deutlicher hervortrat – ein Prozess, der anhand der Quellen seit der Mitte des 14. Jahrhunderts belegbar ist, auch wenn Ordensritter und Ordenspriester bis ins 16. Jahrhundert ihrer Regel verpflichtet blieben. Abgesehen von seinem Gelübde – Ehelosigkeit, Gehorsam gegenüber den Oberen und persönlicher Armut – unterschied sich ein Ordensritter daher kaum noch von seinen ‚weltlichen‘ adeligen Standesgenossen. Innerhalb dieses historischen Rahmens bewegt sich mein Thema. Ich stelle vier Funktionsfelder vor: Musik in der geistlichen Gemeinschaft, in der kämpfenden Truppe, als Mittel zu Repräsentation und Unterhaltung sowie als Ausdrucksmittel des Individuums.2
1. Musik in der geistlichen Gemeinschaft Musik war und ist in der christlichen Kirche fester Bestandteil der Liturgie. Somit gehörte auch für einen Ritterorden, der wie alle anderen Orden primär eine geistliche Gemeinschaft sein wollte3, Musik zum normalen Tagesablauf. Ursprünglich beachtete der Deutsche Orden den Ritus der Kanoniker vom Hl. Grab in Jerusa-
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Grundlegend, wenngleich um viele Details, vor allem um Nachweise ergänzbar: Josef Müller-Blattau. Geschichte der Musik in Ost- und Westpreußen. Königsberg 1932. S. 7-20 [Nachdruck Wolffenbüttel 1968]. Aus seinem Ansatz schöpft die Literatur bis heute, großenteils mit denselben Beispielen. Während meiner Arbeit am Thema erschien Paweł Gancarczyk. „Kultura muzyczna zakonu krzyżackiego w Prusach [Die Musikkultur des Deutschen Ordens in Preußen]”. Fundacje artystyczne na terenie państwa krzyżackiego w Prusach [Kunststiftungen auf dem Gebiet des Deutschordenstaates in Preußen]. Tom II. Eseje. Hg. Barbara Pospieszna. Malbork 2010. S. 269-282. Sein Schwerpunkt liegt im sakralen Bereich, der militärische wird nicht berührt. Den Mangel an Quellen aus dem Orden versucht er auszugleichen durch Einbeziehung der diözesanen und städtischen Überlieferung. – Im Folgenden habe ich eine Sachdifferenzierung sowie eine Differenzierung nach Musikern bzw. Instrumenten zugrunde gelegt. Dabei sind in der umfangreicheren Fassung alle existierenden Quellenbelege genutzt. Die Musiker der Städte werden nicht aufgenommen, sofern sie nicht im direkten Kontakt zum Orden stehen. Ebenso klammere ich die von den Kreuzfahrern mitgebrachten Musiker aus. Vgl. Udo Arnold. „Der Deutsche Orden als geistliche Gemeinschaft“. Imagines Potestatis. Insignien und Herrschaftszeichen im Königsreich Polen und im Deutschen Orden. Katalog der Ausstellung im Schlossmuseum Marienburg 8. Juni–30.September 2007. Red. Janusz Trupinda. Malbork 2007. S. 9-15.
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lem. Um 1240 übernahm er den noch vorläufigen Ritus der Dominikaner. Auf dieser Grundlage schuf er schließlich auch eigene Liturgiebücher.4 1257 bestätigte Papst Alexander IV. dem Deutschen Orden die eigene liturgische Grundlage für die Messe und das Offizium des gesamten Kirchenjahres, den Liber Ordinarius, im Deutschen Orden Notula Dominorum Teutonicorum genannt.5 Diese Notula blieb im Kern Basis für die folgenden Jahrhunderte, auch wenn sie im 14. Jahrhundert ergänzt und im 15. Jahrhundert korrigiert wurde.6 Im Liber Ordinarius wurden in erster Linie die Textanfänge der liturgischen Teile angegeben, allerdings sind etliche Partien auch mit Musik notiert. Musik stellte bei der Ausführung der Messe einen wesentlichen Bestandteil dar. Am wichtigsten war dabei der gregorianische Choral, den die Kirche vorschrieb. Er wurde als „musikalische Einkleidung der lat.-sprachigen liturgischen Texte“ 7 einstimmig und instrumentenfrei ebenfalls in lateinischer Sprache gesungen. Dementsprechend waren die Ausführenden die Priesterbrüder und ihre Schüler. Das galt sowohl in den Kapellen der Kommenden als auch in den von Ordenspriestern geführten Pfarren. So schrieb bereits die Ordensregel des 13. Jahrhunderts den Gesang in der Messe nach den Ordensbüchern vor: „si singen unde lesen nach den brevieren unde buchen, die nach dem orden geschriben sint“8. Nicht aus einer Statutenhandschrift, jedoch vom gleichzeitigen Chronisten und Hochmeisterkaplan Nikolaus von Jeroschin wird berichtet, dass Hochmeister Luther von Braunschweig (1331-1335) befahl, in den Ordenskonventen eine Frühmesse zu halten „und ouch ordentliche di singen mit den noten“9. In den Vorschriften der Venien, also der Kniebeugen während Messe und Stundengebet, wird immer wieder deutlich, an welchen Stellen und wie intensiv der Gesang im Ordensbuch vorgeschrieben war. Auch in späteren Gesetzen lässt sich dies verfolgen. Notiert wurden die Gesänge teilweise im Missale, vor allem aber im Antiphonar oder Cantionale und dem Graduale, welche die gesungenen Messteile enthielten. Hinzu kam das Sequentiar mit in die Messe zusätzlich einzufügenden Gesängen, wollte man sie festlicher gestalten. Überliefert sind etliche dieser Messbücher, wenngleich nicht eindeutig dem Orden zuzuschreiben.10 Aus dem Orden 4
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Vgl. die Beiträge von Ewald Volgger im Abschnitt „Der Orden in der Kirche: Liturgie und Ablass“. 800 Jahre (wie Anm. 1). S. 409-421. Vgl. Anette Löffler. „Neue Erkenntnisse zur Entwicklung des Liber Ordinarius (Notula) OT. Handschriften und Fragmente des Normcodex in Stuttgart, Danzig und Berlin“. Preußische Landesgeschichte. Festschrift für Bernhard Jähnig zum 60. Geburtstag. Hg. Udo Arnold/Mario Glauert/Jürgen Sarnowsky. Marburg 2001 (= Einzelschriften der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung. Bd. 22. Hg. Udo Arnold). S. 137-150. Der Liber Ordinarius ist von ihr zum Druck vorbereitet. Vgl. Volgger. „Der Orden in der Kirche“ (wie Anm. 4). Bruno Stäblein. „Choral“. Musik in Geschichte und Gegenwart. Bd. 2. Kassel 1952. Sp. 1265-1303. Sp. 1265f. Die Statuten des Deutschen Ordens. Hg. Max Perlbach. Halle 1890. Regel 8. S. 34. Nikolaus von Jeroschin. „Di Kronike von Pruzinlant“. Hg. Ernst Strehlke. Scriptores rerum Prussicarum. Hg. Theodor Hirsch/Max Töppen/Ernst Strehlke. Bd. 1. Leipzig 1861 [ND Frankfurt a. M. 1965]. S. 623. Vgl. 800 Jahre (wie Anm. 1). S. 414ff. mit Abb.: Antiphonar und Cantionale aus Danzig, 15. Jh.; Beschreibung der Handschrift zuletzt in Fundacje (wie Anm. 2). Katalog Wystawy. S. 18 mit Abb.; Gradua-
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kommt eine Vielzahl von erhaltenen Fragmenten, die häufig aus dem 14. Jahrhundert stammen. Es handelt sich – bei knapp 400 überlieferten – um etwa 120 Missale-Handschriften, 55 Graduale, 40 Breviere, knapp 30 Antiphonare, etwas über 20 Psalter und knapp 20 Sequentiare. Sie zeigen – sofern in den Fragmenten erhalten – die übliche Neumierung auf vier roten Zeilen in Quadrata- bzw. Hufnagelnotation.11 Natürlich gab es viel mehr liturgische Bücher, als die heutige Restüberlieferung vermuten lässt. In allen Bücherverzeichnissen aus Ordenshäusern sind Liturgica aufgeführt, die sich auch großenteils identifizieren lassen. So machte um 1439 der Bestand an Liturgica im Hochschloss der Marienburg, also dem eigentlichen Konvent, etwa 45% des Gesamtbuchbestandes aus, Bibeln und andere Theologica nur etwa 31%.12 Neben der Messe standen für einen Orden die Stundengebete, zu denen sich alle Brüder in der Kapelle versammelten. Noch im Heiligen Land, also vor 1291, beschloss das Generalkapitel des Ordens, „daz die priester in unsern husern ir [tag]zit singen mit noten“; nur in Notfällen durften die Stundengebete gesprochen werden. Wenig später, wohl 1292, wurde die Vorschrift erweitert: Die Stundengebete sollten überall dort „mit noten“ gesungen werden, wo ein Priester und ein oder mehrere Schüler vorhanden waren. Hochmeister Dietrich von Altenburg (1335-1341) veränderte die Vorschrift: In allen Häusern, in denen zwei Priester und zwei Schüler seien, sollten täglich Gottesdienst und alle Tagzeiten gehalten werden „mit der notin“; in kleinen Häusern wurde die Verpflichtung reduziert, doch ebenfalls „mit den noten“ vorgeschrieben.13 Noch am Ende des 15. Jahrhunderts entwarf der hochmeisterliche Kanzler Dr. Michael Sculteti für den Großkomtur eine Denkschrift, nach der die Visitatoren darauf achten sollten, dass Terz, None, Vesper und Complet gesungen würden, ebenso das Hochamt und an allen Feiertagen – nicht zuletzt den Marienfesttagen – Frühmesse und Hochamt.14 Für den Gesang der Tagzeiten wurde ebenfalls das Antiphonar benutzt, hinzu kamen eigene Brevierhandschriften.15
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le aus Pelplin, 14. Jh. Dieses Graduale datiert Gancarczyk auf die 70er Jahre des 13. Jhs. (im selben Band, S. 271; vgl. auch seine Abb. 2). Vgl. Anette Löffler. Fragmente liturgischer Handschriften des Deutschen Ordens im Historischen Staatsarchiv Königsberg. Teil I, II und III. Lüneburg 2001, Marburg 2004 und 2009 (= Einzelschriften der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung. Bd. 18, 24 und 28. Hg. Udo Arnold). Auflistung Teil III, Sachverzeichnis; Beispiele mit Abb. in Teil III. Vgl. Arno Mentzel-Reuters. Arma spiritualia. Bibliotheken, Bücher und Bildung im Deutschen Orden. Wiesbaden 2003 (= Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen. Bd. 47. Hg. Michael Knoche). S. 393. Statuten (wie Anm. 8). S. 136, V Nr. 1; S. 141 Nr. 10; S. 150 Nr. 16. Visitationen im Deutschen Orden im Mittelalter. Teil I: 1236-1449. Teil II: 1450-1519. Hg. Marian Biskup/Irena Biskupowa (Red. Udo Arnold). Marburg 2002 und 2004 (= Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens. Bd. 50/I und II = Veröffentlichungen der Internationalen Historischen Kommission. Bd. 10/I und II. Hg. Udo Arnold). Hier Teil II. Nr. 223. S. 249f. Nachweis bei Löffler. Fragmente (wie Anm. 11). Teil III. Sachverzeichnis. Für sie gilt dieselbe Charakterisierung wie für die Messhandschriften.
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Wie jene Vorschriften eingehalten wurden, lässt sich nur schwer feststellen. Ein Bericht über die Ordnung sowohl der Tagzeiten als auch der Messen in Marienburg zwischen 1410 und 1454 gibt für den Hochmeistersitz Auskunft. Die Tagzeiten wurden alle gesungen. Das galt erst recht für hohe Festtage und anlässlich der Beichttage; dabei „pflag man ouch alle geczeiten noch undirscheit der feste [den Festen gemäß] langsam, nicht jagende czu singen“. Der Gesang geschah ausdrücklich „ane orgel, ausgenomen die irste [erste] metten czu Weynachten, Ostern und Pfingsten; czu den pflag man czu orgeln czum letzten responsorio“.16 Als Deutschmeister Eberhard von Seinsheim in Preußen weilte, hielt er fest, was die Visitatoren in Preußen, vom Hochmeister 1441 ausgesandt, nach ihrer Rückkehr berichtet hatten. Dabei bemängelte er, dass Gotts dinst in allen hewßeren nicht gehalden mith singen unde mith leßen, als wol pilliclichen were unde die hewssere wol vormughen unde woe in ethlichen hewßeren unde conventen gesyngeth wirt, so geett es noch unornlich zu mith balde singhen und dergleichen [Gottesdienst nicht in allen Häusern mit Singen und mit Lesen gehalten werde, wie es angebracht wäre, und in Häusern, die es können und wo in etlichen Häusern und Konventen gesungen wird, da geht es aber unordentlich zu mit manchmal Singen und dergleichen].17
Dementsprechend erließ Hochmeister Konrad von Erlichshausen eine Vorschrift, worin er einschärfte, dass der Gottesdienst Tag und Nacht – das heißt sowohl Messen als auch Tagzeiten – „mit singen unde leßen, […] nach unsirs Ordens nottil [Notula, Liber Ordinarius] singende unde leßende zcu allen geczeiten gehalden werde“18. Die nächste Visitation zwischen 1442 und 1446 stellte fest, dass der Priesterbruder in Roggenhausen die Hochfeste nach des Ordens Gewohnheit singe, wie es auch in Marienburg gehalten wurde. In Rehden wurden Frühmesse, Hochamt und Vesper gesungen, ebenso in Althaus und Graudenz. In Strasburg klappte das offenbar trotz zweier Priester und zweier Schüler nicht so recht, denn auch wenn man eigentlich Frühmesse und Hochamt sang, so heißt es doch: „Wen sie hulfe han [wenn sie Unterstützung haben], so singen si; wen si nicht hulfe han, so lesen si.“ In Thorn dagegen wurden alle Tagzeiten gesungen, während in Brathean, Golub, Schönsee und Papau die Tagzeiten teilweise sogar ausfielen.19 Der Gesang bei der Messe und bei den Stundengebeten war nicht zuletzt eine wichtige Aufgabe der Schüler.20 Dabei ist genauer als bisher zu unterscheiden 16
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Vgl. Sławomir Jóźwiak/Waldemar Rozynkowski. „Porządek liturgiczny na zamku w Malborku w pierwszej połowie XV wieku. Zródło do dziejów liturgii w zakonie krzyżackim [Die liturgische Ordnung auf der Marienburg in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Eine Quelle zur Geschichte der Liturgie im Deutschen Orden]”. Zapiski Historyczne 73 (2008). S. 617-626, Edition der Quelle S. 624ff. Visitationen (wie Anm. 14). Teil I. S. 161 [nach 22.09.1442]. Ebd. Nr. 114. S. 194 [um 1442-1446]. Visitationen (wie Anm. 14). Teil I. Nr. 115. S. 197-201 [nach 1442-1446]. Vgl. zu den Schülern zuletzt Mentzel-Reuters. Arma spiritualia (wie Anm. 12). S. 96-101. Die Aufgabe des Gesangs wird dort nicht genannt.
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zwischen Chorschülern des Ordens und anderen Schülern. In den Städten oder an den Kathedralen der dem Orden inkorporierten Bistümer gab es eigene Schulen in deren Verantwortung.21 Die städtischen Schüler erhielten vom Hochmeister Konrad von Jungingen (1393-1407) bei dessen Umzügen häufig Geldgeschenke22; oft sangen sie auch vor ihm.23 In Marienburg gab es vielleicht eine gewisse Regelmäßigkeit an besonderen Tagen. Dazu kamen sie auch in die Kapelle des Hochmeisters24, wie bereits 1400, als sie dort „eyne messe songen […] vor herzogen Wytowdts [von Litauen] frouwe“, und wenige Wochen später erneut am Sonntag nach Mariä Himmelfahrt.25 Inwieweit es sich bei diesen Schülerauftritten in seiner Kapelle um eine besondere musikalische Vorliebe des Hochmeisters handelt, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, doch wenn er eine Mark gab „dem caplan zu Papow [Papau], der so wol sang zam [wie] die nachtigal“26, dann lässt das schon auf eine besondere Wertschätzung der Musik schließen. Die Chorschüler des Ordens sind freilich ebenfalls zu differenzieren. Zum einen gab es erwachsene Schüler, zum andern ‚Schülerchen‘. Einen erwachsenen Schüler konnte der Hochmeister mit einem größeren Reisegeld nach Rom oder Prag senden.27 Ein älterer Schüler war nach entsprechender Ausbildung sogar in der Lage, eine Pfarre zu übernehmen, wie im Jahre 1400 der Frühmessschüler Johannes.28 Daneben gab es kleine Schüler – die Schülerchen –, die in Marienburg ausdrücklich als „uf deme huse“29 bezeichnet werden, also in der Marienburg lebend, quasi im Internat. Zuständig für sie war wahrscheinlich der Chorkaplan.30 Auch in der Komturei Osterode gab es 1437/38 Schülerchen.31 Schüler wie Schülerchen wurden selbstverständlich an den Tagzeiten des Ordens und den Messen beteiligt.32 Die Zahl der Schüler in den Ordenshäusern können wir nicht abschätzen – als Nichtprofessen finden sie in den Visitationsberichten normalerweise keine Erwähnung. Nur für das Kulmerland sind sie 21
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Vgl. anhand der älteren Literatur Klaus Wolfgang Niemöller. Untersuchungen zur Musikpflege an den deutschen Lateinschulen vom ausgehenden Mittelalter bis um 1600. Regensburg 1969 (= Kölner Beiträge zur Musikforschung. Bd. LIV. Hg. Karl Gustav Fellerer); Preußen, Baltikum und Polen. S. 115-141, für das Mittelalter S. 115ff. Eine Vielzahl von Belegen in Das Marienburger Tresslerbuch der Jahre 1399-1409. Hg. [Erich] Joachim. Königsberg 1896. Das Sachregister ist nicht zuverlässig, die Edition muss für viele Betreffe komplett gelesen werden! Vgl. ebd. S. 79, 163, 288, 307ff., 324, 358. Vgl. ebd. S. 179f., 383. Ebd. S. 80, 83. Ebd. S. 366. Vgl. ebd. S. 20, 301. Vgl. ebd. S. 86. Ein ‚Frühmessschüler‘ versah seine Aufgaben während der Frühmesse. Ebd. S. 16. Nachgewiesen 1409; vgl. ebd. S. 530. Ebenfalls 1411 und 1417: Das Ausgabebuch des Marienburger Hauskomturs für die Jahre 1410-1420. Hg. Walther Ziesemer. Königsberg 1911. S. 10, 288. Vgl. Das große Zinsbuch des Deutschen Ritterordens (1414-1438). Hg. Peter G. Thielen. Marburg 1958. Nr. 228. S. 78. Die Marienburg-Quelle (wie Anm. 16) sowie die Visitationsvorschrift um 1442-1446 (wie Anm. 18) machen deutlich, dass der Gesang normale Schüleraufgabe darstellte. Diese Aufgabe galt als vordringlich.
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nach 1442 in einem Visitationsbericht genannt: In Roggenhausen, Brathean, Golub, Schönsee und Papau gab es je einen Schüler, in Rehden, Strasburg, Thorn und Graudenz zwei, in Althaus sogar drei.33 In anderen Komtureien hat es ebenfalls Schüler gegeben, so in Elbing, Balga, Königsberg und Osterode. Noch am Ende des 15. Jahrhunderts wird von der Existenz von Chorschülern selbstverständlich ausgegangen, wenn die Visitatoren bestimmen sollen, wie viel Priesterbrüder, Kapläne und Chorschüler in jedem Ordenshaus zu sein haben34: In Königsberg sollten vier Chorschüler leben, ebenso in Brandenburg, Preußisch Mark, Balga, Preußisch Holland, Rhein, Osterode, Memel und Ragnit – damit in allen preußischen Komtureien, wo es also auch Konvente gab. Gesang war ebenfalls üblich bei öffentlichen Prozessionen. 1242 eroberte der Orden die Burg Sartowitz und fand dabei das Haupt der hl. Barbara, welches nach Kulm überführt wurde. Während der Chronist Peter von Dusburg vor 1326 nur berichtet, dass „clerus et populus cum solenni processione occurrens eas [die Reliquien] ad ecclesiam portaverunt“35, schmückt sein Übersetzer Nikolaus von Jeroschin den Vorgang aus.36 Diese Darstellung entsprach einer feierlichen Prozession in der Zeit um 1340, zu der der Gesang sowohl der Geistlichen als auch der volkssprachliche Leis gehörten. Der Gesang bei Messe, Tagzeiten und Prozessionen war nachschaffende Musik, übernommen in vorhandener gregorianischer Form, und dürfte keine ordensspezifischen Besonderheiten in der Ausführung besessen haben. Die Reichhaltigkeit der zumindest fragmentarischen Überlieferung zeigt jedoch, dass der Orden in Messe wie Tagzeiten die volle Breite des Kirchengesangs praktizierte.37 Gegenüber den Formen der Gregorianik ist die Polyphonie des 15. Jahrhunderts in Preußen nur ganz schwach belegt, die Überlieferung stammt aus Danzig und den Zisterzienserklöstern Oliva und Pelplin – sie ist offenbar im Deutschen Orden nicht angekommen.38 Auch auf diesem Felde ist somit keine eigene Komposition eines Ordenspriesters überliefert. Die Ordenspriester waren neben der Einhaltung der Liturgie dafür zuständig, dass die liturgischen Bücher für die Gesangspraxis in Ordnung gehalten, wenn nötig erneuert wurden. In einem Fall sollte der Psalter „notiert“ werden – ob es sich dabei um Noten handelte oder doch nur um Paginierung oder Anbringung von Paragraphenzählung39, muss offen bleiben. Es bleibt festzuhalten, dass der Deutsche Orden zwar eine eigene Liturgie besaß, die auch in Preußen galt, jedoch die musikalische Gestaltung durch seine 33 34 35 36 37 38
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Wie Anm. 19. Visitationen (wie Anm. 14). Teil II. S. 249. Peter von Dusburg. „Chronicon terrae Prussiae“. Scriptores I (wie Anm. 9). S. 21-219, S. 70. Jeroschin. „Kronike“ (wie Anm. 9). S. 378f. Vgl. das Initienregister bei Löffler. Fragmente III (wie Anm. 11). Vgl. Gancarczyk. „Kultura” (wie Anm. 2). S. 274f. Auffallend ist auch die vergleichsweise nicht sehr große Zahl von nachweisbaren Sequentiaren; vgl. oben bei Anm. 11. Letzteres vermutet der Herausgeber im Register des Tresslerbuchs (wie Anm. 22).
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Priester und Schüler sich in den üblichen Bahnen der römischen Kirche bewegte und keine Besonderheiten, wie etwa eigene Messkompositionen, kannte. Das Organon in der Messe war keineswegs üblich, und eine modernere Form, durch Heranziehung auch anderer Instrumente als der Orgel, lässt sich nur einmal belegen.40
2. Musik in der kämpfenden Truppe Die neuzeitliche Militärmusik hatte mittelalterliche Vorläufer, deren wichtigste Funktion die Signalgabe vor oder während des Kampfes war. Dazu nutzte man Trommeln, Pfeifen, Trompeten und Posaunen. Aus der spätmittelalterlichen Kriegführung sind solche Signalinstrumente nicht wegzudenken.41 Das gilt auch für die Kriege, die der Orden führte. Freilich setzte er hierbei nicht seine eigenen Ordensbrüder ein, sondern bediente sich entlohnter, üblicherweise über einen längeren Zeitraum fest angestellter Musiker. Ihre besonders wichtige Aufgabe war das „Anblasen“ zum Angriff, welches nicht nur eine Signalfunktion besaß, sondern – was chronistisch überliefert ist – ebenfalls eine psychologische Wirkung erzielen sollte.42 So zeigt auch ein Kaminfries in der Marienburg zwei Kampfszenen von Lanzen- und Schwertkampf, begleitet von anblasenden Trompetern und weiteren Musikern.43 Offenbar gab manchmal der Leiter eines Kriegszuges, in diesem Fall Hochmeister Dietrich von Altenburg 1336 während der Erstürmung einer feindlichen Burg, selber das entscheidende Signal.44 Das psychologische Moment war gleichfalls 1410 gegeben, als die polnischlitauischen Truppen nach ihrem Sieg bei Tannenberg die Marienburg belagerten. Der ungarische König kündigte Entsatz an, was die Belagerten so stärkte, dass sie „lysin [ließen] bosunen und pfyffen“ und regelmäßige Ausfälle wagten.45 Da die Ordensbrüder den Heidenkampf als Gottesdienst auffassten, zogen immer auch Priesterbrüder mit in den Krieg, um die Messe zu feiern und somit die Ordensbrüder auch hier mit ihrer gewohnten Liturgie, einschließlich der Gesänge, zu begleiten. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn die Brüder nach erfolgreicher Erstürmung der litauischen Burg Kauen (Kaunas/Kowno) 1362 den Gesang anstimmten: Crist ist erstanden.46 Im Unterschied zu Liturgie, Stundengebet und Prozession handelt es sich nicht um ein lateinisches, sondern wohl um das 40 41
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Vgl. Tresslerbuch (wie Anm. 22). S. 81. Vgl. Walter Salmen. Der fahrende Musiker im europäischen Mittelalter. Kassel 1960 (= Die Musik im alten und neuen Europa. Bd. 4. Hg. Walter Wiora). S. 121. Die Chronik Wigands von Marburg. Scriptores (wie Anm. 9). Bd. 2. 1863/1965. S. 453-662, S. 496. Zbigniew Jerzy Przerembski. Tematyka muzyczna w dekoracjach zamku malborskiego [Musikthematik in der Dekoration des Marienburger Schlosses]. Studia Zamkowe IV. Malbork 2012. S. 167-188. Abb. 10. Scriptores I (wie Anm. 9). S. 646. Fortsetzer Johanns von Posilge. Scriptores (wie Anm. 9). Bd. III. 1866/1965. S. 321. Wigand von Marburg (wie Anm. 42). S. 537. Vgl. Krzysztof Kwiatkowski. „Prolog und Epilog temporis sanctis. Die Belagerung Kauens 1362 in der Beschreibung Wigands von Marburg“. Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 57 (2008). S. 238-254.
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älteste deutsche geistliche Lied, das die Ordensritter wie auch die übrigen Kämpfer sicher nicht erst im Orden gelernt hatten.47 Bei der Schlacht von Tannenberg 1410 hat der Orden gleichfalls dieses Lied angestimmt, als der Hochmeister selbst in den Kampf zog. Die Aussage des Chronisten lautet dazu: „der koning [von Polen] was gewichen, also das dese [die Ordenstruppen] sungen: »Crist ist entstandin«.“48 Der Orden hatte offenbar geglaubt, den Sieg in greifbarer Nähe zu haben. Das Lied wurde also als Siegeshymnus betrachtet. 3. Musik zu Repräsentation und Unterhaltung Zur Hebung der Bedeutung eines Amtes, einer Persönlichkeit oder einer besonderen Handlung spielte Musik stets eine wichtige Rolle.49 Dem Deutschen Orden stellte sich in diesem Kontext die Frage nach der allgemeinen Stellung seines Repräsentanten in der Gesellschaft und der Notwendigkeit, diese Stellung innerhalb der Gemeinschaft wie nach außen gebührend zu zeigen. Das zielte in erster Linie auf den Hochmeister. Neben der visuellen Bedeutungshebung gegenüber anderen Brüdern durch das reich ausgestaltete Hochmeisterkreuz auf der Kleidung erfolgte eine solche, nachdem der Hochmeister im 14. Jahrhundert nach Preußen übersiedelt war, mit Sicherheit auch auditiv. Er residierte dort als Territorialherr, verbunden mit der Verfürstlichung des Amtes seit Luther von Braunschweig. Damit wuchs ihm eine Repräsentationspflicht zu, die ohne Musiker nicht denkbar war. Er stand in der Marienburg einem Hof vor, der sich nur durch das Fehlen der Frauen von einer weltlichen Hofhaltung unterschied. Daraus ergaben sich allerdings gewisse Unterschiede, gerade im Bereich der höfischen Unterhaltung und Vergnügungen; anscheinend gab es für die Ritter keinen Rahmen, innerhalb dessen sie sich selbst als Sänger hätten hervortun können, sind doch „eigene musikalische Schöpfungen aus den Reihen der Deutsch-Ordensritter […] nicht bekannt und waren auch wohl nie vorhanden.“50 Davon abgesehen galt für die Marienburg aber grundsätzlich dasselbe wie für andere, weltliche Höfe, nicht zuletzt im Hinblick auf die Spielleute.51 47
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Vgl. Walther Lipphardt. „Christ ist erstanden. Zur Geschichte des Liedes“. Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 5 (1960). S. 96-114. Johann von Posilge Fortsetzung (wie Anm. 45). S. 310. Für den genauen Hinweis danke ich Sven Ekdahl herzlich. Walter Salmen führt ihn ohne Nachweis und genaue Charakterisierung des Gesangs an. Vgl. ders. Die Schichtung der mittelalterlichen Musikkultur in der ostdeutschen Grenzlage. Kassel 1954 (= Die Musik im alten und neuen Europa. Bd. 2. Hg. Walter Wiora). S. 55. Vgl. u.a. Meta Niederkorn-Bruck. „Ordinarium missae – proprium missae – Fest am geistlichen Hof “. Höfe und Residenzen geistlicher Fürsten. Strukturen, Regionen und Salzburgs Beispiel in Mittelalter und Neuzeit. Hg. Gerhard Ammerer [u.a.]. Ostfildern 2010 (= Residenzenforschung. Bd. 24). S. 229-251. Zutreffend Salmen. Schichtung (wie Anm. 48). S. 120. Sofern nicht näher über ihr Instrument definiert, verwende ich diesen Begriff im Folgenden als Synonym für Musiker, ohne Berücksichtigung der im Mittelalter sich ergebenden sozialen Differenzierung. Vgl. Salmen. Der fahrende Musiker (wie Anm. 41). S. 28f.
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Wenn im Folgenden versucht wird, Repräsentation und Unterhaltung zu unterscheiden, so waren dies doch keine prinzipiellen Gegensätze. Sobald Unterhaltung nicht nur ‚kammermusikalisch‘, also eher privat stattfand, sondern einen größeren Kreis innerhalb des Ordens betraf oder gar Gäste einschloss, stellte sie automatisch einen Teil der allgemeinen Repräsentation dar. Wenn die Beispiele vorwiegend aus der Zeit von 1398 bis 1409 stammen, so liegt das an der einmalig günstigen Quellenlage in Form des vom Tressler am Hof des Hochmeisters in Marienburg geführten Ausgabenbuches, das minutiös selbst kleinste Ausgaben verzeichnet – eine parallele Quelle im deutschen Sprachraum ist nicht bekannt. Wichtige, auf Repräsentation zielende Ereignisse innerhalb des Ordens waren auch außerhalb des liturgischen Raumes selbstverständlich mit Musik verbunden. Dazu gehörte der Beginn der Amtsführung eines Hochmeisters. Nachweisen lässt sich das erstmals anlässlich der Wahl Ulrichs von Jungingen (1407-1410) anhand der Entlohnung von Spielleuten; entweder waren es sehr viele oder sie hatten ihre Sache sehr gut gemacht, denn sie erhielten 11½ Mark (eine Summe, die näherungsweise dem Gegenwert von drei Pferden entsprach).52 Anlässlich eines Kapitels 1399 erhielten 32 Spielleute 16 Geldrische Gulden. Auch im Folgejahr wurden Spielleute aus Anlass eines (preußischen Regional-)Kapitels in Elbing entlohnt, desgleichen 1401, 1402 (sogar zweimal), ebenfalls 1403, sodann 1404. 53 1406 spielten zwei städtische Pfeifer auf, 1408 beim ersten Kapitel zwei Fiedler, beim zweiten wurden dafür sechs Paar Spielleute und ein blinder (Lied-)Sprecher bezahlt, und beim dritten gab es ein musikalisches Großaufgebot: zwei Pfeifer und ein Posaunist aus Livland, zwei Pfeifer und zwei Posaunisten aus Elbing, insgesamt 5 Trompeter und ein blinder Liedsprecher. Beim Kapitel nach dem Kriegszug gegen das Dobriner Land 1409 begnügte man sich mit acht Pfeifern und Trompetern.54 Ende 1409 erschienen die Bischöfe von Ermland und Pomesanien beim Hochmeister mit Spielleuten. Der 1404 in Preußen weilende Erzbischof von Riga und Ordenspriester Johann von Wallenrod hatte offenbar eigene Spielleute, die vom Hochmeister ein Geldgeschenk erhielten: ein Pfeifer in Grebin und mehrere Spielleute in Marienburg.55 Als 1402 Bischof Johann Herzog von Oppeln das dem Orden inkorporierte Bistum Kulm zugunsten des bisherigen Hochmeisterkaplans und Domherrn in Kulm Arnold Stapel aufgeben musste, wurde dies mit „fedelern“ festlich begangen. 1405 fand auf der Marienburg sogar eine zweifache Bischofsweihe statt. Wer die Bischofsweihe vornahm, ist nicht überliefert, doch steht zu vermuten, dass es u.a. der Bischof von Pomesanien und Deutschordenspriester Johannes Mönch 52 53 54 55
Vgl. Tresslerbuch (wie Anm. 22). S. 429. Vgl. ebd. S. 41, 86, 111, 190, 196, 278, 314. Vgl. ebd. S. 379, 501, 505, 513, 591. Vgl. ebd. S. 34, 320, 344.
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tat, denn unter dem musikalischen Aufgebot anlässlich der Feier waren auch seine Musiker.56 Lässt sich für diese Ereignisse aufgrund der Eigenart der Quellenüberlieferung nur die Beteiligung fremder Spielleute feststellen, so verfügte der Hochmeister selbstverständlich auch über eigene Musiker. Den ersten Nachweis haben wir für 1343 mit drei Ministrels [Liedsänger], etwas später sind sie in den Reiserechnungen der Kreuzfahrer erwähnt: 1363 in Marienburg und in Königsberg, 1368/69 in Marienburg, 1387 in Königsberg.57 Zwischen dem Orden und Großfürst Witold von Litauen bestanden bereits seit den 80er Jahren des 14. Jahrhunderts gute Beziehungen. Mehrfach war er im Ordensland, seine Gattin Ona besuchte ebenfalls Preußen. Der Hochmeister schickte bei der Gelegenheit (wohl eigene) Spielleute zu ihr, offenbar als Begleitung.58 Normalerweise dürften sie aber in seiner Umgebung geblieben sein und ihn begleitet haben.59 Zu Beginn des 15. Jahrhunderts ist sogar ein Verantwortlicher für das Musikgeschehen auf der Marienburg nachweisbar, mit Namen Pasternak, ein Kumpan von ihm hieß Hensil. Sie waren beritten und organisierten die Auftritte fremder Spielleute.60 Für ihre angemessene Repräsentation ließ ihnen der Hochmeister eigens Wappen anfertigen.61 Wie viele Instrumente Pasternak spielte, wissen wir nicht; mit Sicherheit war er Fiedler.62 Auch nach dem Wechsel im Amt des Hochmeisters blieb er in seiner Funktion; allerdings erhielten die Musiker „des nuewen meysters woppen“.63 Wenige Monate nach Amtsantritt des neuen Hochmeisters wurden sie neu eingekleidet, ein Jahr darauf noch einmal.64 Später lässt sich Pasternak nicht mehr nachweisen. Ob auch er zu den Gefallenen von Tannenberg 1410 gehörte? Obwohl die Schlacht von Tannenberg eine deutliche Zäsur in der Entwicklung des Ordens in Preußen darstellte, hat sich im Repräsentationsbedürfnis wie im Wunsch nach Unterhaltung wohl wenig geändert. Zwar haben wir so großartige Quellen wie das Tresslerbuch der Jahre 1398-1409 nicht mehr, doch darf man von einem Fortleben eigener Musiker des Hochmeisters ausgehen. Zum Ende des 15. Jahrhunderts, als mit Herzog Friedrich von Sachsen als Hochmeister Ansätze der Renaissance in Preußen Einzug hielten, war daraus eine regel56 57
58 59 60 61 62 63 64
Vgl. ebd. S. 171, 363. Walter Salmen. „Die musikgeschichtliche Bedeutung einiger Litauerfahrten des 14. Jahrhunderts“. Zeitschrift für Ostforschung 6 (1957). S. 531-539, S. 537; Werner Paravicini. Die Preußenreisen des europäischen Adels. Teil I. Sigmaringen 1989 (= Beihefte der Francia. Bd. 17/1). S. 266, Anm. 18. Vgl. Tresslerbuch (wie Anm. 22). S. 25. Vgl. Ausgabebuch (wie Anm. 30). S. 224. Vgl. Tresslerbuch (wie Anm. 22). S. 40f., 60, 160, 183, 196, 312, 314, 398. Vgl. ebd. S. 102. Vgl. ebd. S. 482. Vgl. ebd. S. 458. Vgl. ebd. S. 482, 528, 585.
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rechte Hofkapelle geworden. Friedrichs Nachfolger Albrecht von BrandenburgAnsbach übernahm sie und führte sie als weltlicher Herzog weiter.65 Die Musiker des Hochmeisters gehörten natürlich zu seinem Gefolge, wenn er die Residenz verließ. Das geschah vor allem während der Umzüge, bei denen er sich als Landesherr präsentierte, zuerst nach seinem Regierungsantritt. Vorweg zogen auch beim Hochmeister Pfeifer, Trompeter, Posaunisten und Trommler.66 Bei einer solchen Gelegenheit wurden die Musiker von den jeweiligen Gastgebern ebenfalls mit Geschenken bedacht. Besonders aufwendig ging es zu, wenn sich zwei Herrscher trafen. 1402 kam es zu einer Zusammenkunft des Hochmeisters mit dem polnischen König Władysław II. Jagiełło im Grenzgebiet bei Thorn. Der König hatte ein großes musikalisches Aufgebot mitgebracht, wie die Geldgeschenke des Hochmeisters ausweisen. Hinter dem königlichen Aufwand wollte der Hochmeister keineswegs zurückstehen. Das eigene musikalische Gefolge stockte er deshalb durch freie oder städtische Spielleute kräftig auf. Auch als der Orden 1405 das Land Dobrin an den polnischen König übergab und Hochmeister und König sich erneut bei Thorn trafen, ging es nicht ohne Musiker: polnische Pfeifer, der russische Fiedler des Königs, Pfeifer des Erzbischofs von Gnesen und die Pfeifer des Herrn Thomke – sie alle erhielten ein Geldpräsent. Als sich 1402 einige Wochen nach dem Treffen mit dem polnischen König der Hochmeister mit dem Herzog von Masowien in Strasburg an der Grenze traf, ging es zwar weniger aufwendig zu, doch die musikalische Repräsentation fehlte ebenfalls nicht: Der Herzog erschien mit eigenen Pfeifern; ebenso waren Fiedler beteiligt.67 Am Ende des Jahrhunderts war es nicht anders. Als der 1498 neugewählte Hochmeister Johann von Tiefen auf der Rückreise von der Eidesleistung vor dem polnischen König Kasimir II. durch Masowien kam, wurde er mit Pauken und Trompeten von Herzog Johann von Masowien empfangen, und während des Festmahls wurde „musicirt, gesungen, gepfiffen, die Laute geschlagen“68. Zu den sogenannten ‚Preußenfahrten‘ bzw. ‚Litauerreisen‘ kamen viele Kreuzfahrer nach Preußen. Obwohl Spielleute in den zeitgenössischen Berichten nicht immer erwähnt werden, „so dürfen wir doch fast stets damit rechnen, daß […] auch mindestens ein Musikant mitgenommen wurde“69. Denn neben das Moment der Repräsentation trat gleichberechtigt das der Unterhaltung – es galt, auch die Langeweile zu bekämpfen. Die Kreuzfahrer wollten im Allgemeinen auf der Marienburg dem Hochmeister, der keineswegs immer an den Litauerreisen beteiligt war, ihre Aufwartung machen. Dort empfing man sie wohl ebenfalls mit 65 66
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Die Angaben beruhen auf Müller-Blattau. Geschichte (wie Anm. 2), jedoch ohne Quellenbelege. Allgemein Klaus Neitmann. Der Hochmeister des Deutschen Ordens in Preußen – ein Residenzherrscher unterwegs. Untersuchungen zu den Hochmeisteritineraren im 14. und 15. Jahrhundert. Köln 1990 (= Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz. Bd. 30. Hg. Werner Vogel/Iselin Gundermann). S. 45. Vgl. Tresslerbuch (wie Anm. 22). S. 169. Johannes Voigt. Geschichte Preußens. Bd. 9. Königsberg 1839. S. 177. Salmen. „Die musikgeschichtliche Bedeutung“ (wie Anm. 57). S. 535.
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Musik. Es dürfte auf der Marienburg einen regelrechten Wettstreit der Musiker gegeben haben, die Repräsentation des Hochmeisters und seiner Gäste wetteiferte miteinander.70 Anschließend zogen sie weiter zum eigentlichen Sammelpunkt Königsberg, dem Sitz des Obersten Marschalls, der normalerweise die Reisen anführte. Wie es dort weiterging, können wir nur aus den Reiserechnungen der Kreuzfahrer erschließen, eine Überlieferung für den Ordensmarschall bzw. den Konvent Königsberg existiert nicht. Allerdings lebten die Kreuzfahrer in den drei Städten Königsberg (Altstadt, Kneiphof, Löbenicht), nicht auf der Ordensburg, und dementsprechend spielte sich das Leben während des Wartens auf die Reise in den städtischen Herbergen ab; der Orden war an diesem Leben so gut wie gar nicht beteiligt. Das Zentrum höfischer Kultur in Preußen stellte sowieso die Marienburg dar, nicht der Konvent zu Königsberg. So hat beispielsweise Oswald von Wolkenstein, einer der bedeutendsten Sänger am Ende des 14. und in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, der Herzog Albrecht von Österreich begleitete und mehrere Jahre in Preußen blieb, in Königsberg keine musikalischen Spuren hinterlassen oder von dortiger Musik berichtet.71 Auf der Marienburg gaben sie sich ein Stelldichein – Liedsprecher, Sänger, Spielleute. Sicher kamen etliche mit Aufträgen, als Boten, offiziell oder inoffiziell. Fahrende sahen viel, hörten viel, konnten viel berichten. So ist die Grenze zwischen Sprechern, Spielleuten, Herolden und Spionen kaum klar zu ziehen.72 Manche kamen einzeln, manche zu zweit oder zu mehreren und dienten immer auch der Unterhaltung. Als Einzelgänger, manchmal auch mit einem Knecht – sicher wenn sie blind waren –, dürfen wir die Sprecher bzw. Liedsprecher ansehen. Sie kamen recht regelmäßig auf die Marienburg. Auffällig sind die deutlichen Unterschiede der Geldgeschenke. Ob sich darin ein Qualitätsunterschied niederschlug? Die Quelle sagt dazu nichts, sie erwähnt allenfalls äußerliche Merkmale wie Blindheit oder Einäugigkeit.73 Als einzige musikalische Besonderheit findet Erwähnung, dass ein Sprecher „sang als eyn nachtegal“74. Sonst wird nur ein Liedsprecher oder ein 70
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72 73 74
Hierüber fehlen allerdings Quellen. Dementsprechend werden die Musiker der Kreuzfahrer hier nicht aufgenommen, sofern nicht der ausdrückliche Quellenbezug zum Marienburger Hof gegeben ist. Vgl. eine Auf listung der Musiker der Kreuzfahrer ebd. S. 535f. Vgl. Die Lebenszeugnisse Oswalds von Wolkenstein. Edition und Kommentar. Hg. Anton Schwob. Bd. 1. 1382-1419. Wien 1999. Nr. 5 mit den Nachweisen anhand des Tresslerbuch (wie Anm. 22). S. 36. Z. 31 und S. 193. Z. 24f.: Er musste sich 1399 beim Orden Geld leihen und wurde 1402 aus der Herberge gelöst. Müller-Blattau. Geschichte (wie Anm. 2). S. 13 und ihm folgend Werner Schwarz. „Musikgeschichte Ostpreußens“. Musikgeschichte Pommerns, Westpreußens, Ostpreußens und der baltischen Lande. Hg. Franz Kessler/Helmut Scheunchen. Dülmen 1989. S. 105-134, S. 107 meinen zwar, er habe die Ordensritter mit Gesang und Instrumentenspiel unterhalten, wofür auch die Übernahme der Herbergskosten 1402 spräche, doch lässt sich das nicht nachweisen. Vgl. Salmen. Der fahrende Musiker (wie Anm. 41). S. 129f. Die Herolde klammere ich aus, da ihre musikalische Betätigung nur anhand des Titels sich nicht nachweisen lässt. Vgl. Tresslerbuch (wie Anm. 22). S. 357. Z. 19 (1405); S. 505. Z. 10. Ebd. S. 360 Z. 5f. (1405) und oben S. 36.
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Sprecher vermerkt, selten mit Namen.75 Davon zu unterscheiden sind solche, die zwar als Sprecher bezeichnet sind, aber wohl primär andere Aufgaben wahrnahmen, als Boten ihrer Herren, die gute Beziehungen zum Orden pflegten, teilweise sogar selber in Preußen waren. Wenn der Hochmeister in Preußen unterwegs war, zog eine eingeschränkte Hofhaltung mit. Dementsprechend kamen dann auch die Fahrenden zu ihm: Liedsprecher in Königsberg, im Gebiet Balga, in Mewe, in Danzig, in Partenschin bei Graudenz, in Graudenz, erneut in Danzig, in Oliva sowie schließlich in Stargard.76 Der Liedsprecher hat seinen Vortrag nicht nur verbal gehalten, sondern durchaus in einem gewissen Tonus, vielleicht sich auch selbst instrumental begleitet, so dass er eigentlich ein Sänger war. Gesang wird allerdings außerhalb des kirchlichen Bereiches selten erwähnt, es sei denn von Schülern oder einmal von Jungfrauen in Graudenz; eine Ausnahme bot sicher auch eine Frau, „die of eyn lyer [Leier, also Drehleier] sang“, und von Gesang begleitet waren wohl auch die Tanzmaiden, die vor dem Hochmeister in Grebin und Königsberg tanzten.77 Gerne wüssten wir etwas vom Repertoire der Sänger und Liedsprecher, doch dazu lassen sich nur Vermutungen anstellen. Da die Buchüberlieferung des Ordens biblizistisch und historisch ausgelegt war, fehlte eine weltliche Dichtung wie das Heldenepos. „Es konnten […] außer vagen Anklängen an die höfische Dichtung weder eine Vorgeschichte noch eine Nachwirkung für diese Literatur nachgewiesen werden.“78 Da bot sich für die Sprecher und Sänger ein Feld, das sie beherrschten und das bei den Rittern von Hause her bekannt und beliebt war. Demgegenüber schied der Minnesang a priori aus, es sei denn in der sublimierten Form der Marienlyrik.79 Eine breite Palette gab es hinsichtlich des instrumentalen Vortrags: Spielleute allgemein, dann im Besonderen Pfeifer, Trompeter, Posauner, Fiedler und Lautenschläger. Dabei ist bei den sogenannten ‚Spielleuten‘ zu vermuten, dass sie mehrere Instrumente beherrschten, während bei den übrigen ihr einziges oder Hauptinstrument genannt sein dürfte. Wie bei den Sprechern so lassen sich auch bei den Spielleuten verschiedene Gruppen feststellen: Die einen kamen auf die Marienburg, die anderen machten dem Hochmeister bei seinen Umritten die Aufwartung. Selten sind Namen überliefert, eher Herkunftsgebiete. Manchmal wird erwähnt, dass sie bestimmte Instrumente spielten, wie 1403 „spilluthen mit
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77 78 79
Vgl. ebd. S. 366. Z. 23 (1405); S. 417. Z. 21 (1407); S. 470. Z. 4 (1408); S. 325. Z. 18 (1404). Vgl. ebd. S. 180. Z. 39 (1402); S. 250. Z. 22 (1403); S. 270. Z. 24 (1403); S. 308. Z. 40; S. 404. Z. 10 (1406) und S. 509. Z. 24 (1408, dieselben?); S. 534. Z. 8 und Z. 14; S. 551. Z. 32. Vgl. oben bei Anm. 23-25 und Tresslerbuch (wie Anm. 22). S. 33, 358, 310, 490. Mentzel-Reuters. Arma spiritualia (wie Anm. 12). S. 62. Vgl. Udo Arnold. „Die Frau im Deutschen Orden“. Stationen einer Hochschullauf bahn. Festschrift für Annette Kuhn zum 65. Geburtstag. Hg. Udo Arnold/Peter Meyers/Uta C. Schmidt. Dortmund 1999. S. 261-276, S. 269-271.
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den floyten“, oder dass sie gemeinsam mit Sprechern auftraten.80 Daneben gab es die Spielleute fremder Herren, die wie bei den Sprechern auch oder in erster Linie Boten ihrer Herrschaft waren, falls sie sich nicht nur eine wohlklingende Herkunft andichten wollten. Von den oben bereits aufgeführten Instrumentalisten mit besonderem Instrument tauchen am häufigsten die ‚Pfeiffer‘ auf.81 Dabei ist freilich nicht eindeutig festzulegen, welches Blasinstrument genau sie spielten: „‚Pfeiffer‘ sein bedeutete zumeist, daß man mit allen Blasinstrumenten umzugehen vermochte.“82 Da sie, wie auch Trompeter und Posauner, wichtig waren sowohl für die Kriegführung als auch für die repräsentative Erscheinung eines Fürsten, stehen sie in besonderer Beziehung zu diesen beiden Bereichen, weniger zum Komplex der Unterhaltung. Für sie ist die Chance auf eine feste oder längerfristige Anstellung an einem Hof größer als bei anderen Spielleuten oder Sprechern. So erscheinen sie in den Quellen teils in fester Zuordnung zu einem Fürsten oder einer Stadt, teils suchen sie offenbar, sich einem möglichen Arbeitgeber zu empfehlen, teils gehören sie aber auch als Akteure der Ordensspionage an. Selten reisten sie alleine. Manchmal ist ihre Herkunft angegeben, kaum der Name.83 Seltener als Pfeifer werden Trompeter („trompeler“, „troppeler“) genannt, auch wenn sie öfters mit den Pfeifern gemeinsam auftraten. Interessanterweise tauchen Trompeter erstmals 1408 auf, sei es beim Bischof von Pomesanien, dem Erzbischof von Gnesen oder bei Großfürst Witold von Litauen. Im Folgejahr erschienen drei Paar in Marienburg, und auch zum Kapitel in Elbing wurden in diesem Jahr Trompeter verpflichtet.84 Die Repräsentation wurde lauter und eindringlicher als zuvor. Ebenfalls nicht sehr viele, wenngleich frühere Belege haben wir für Posauner. Der früheste ist die Darstellung des Zuges von Herzog Albrecht von Österreich 1377, der offenbar Posauner im Gefolge hatte, der nächste eine Gesandtschaft des ungarischen Königs 1402, die mit einem Posauner gekommen war.85 1404 ist erstmals einer für Elbing nachweisbar. Offenbar waren Posauner eher selten. Der Orden bediente sich ihrer nachweislich 1406; sie begleiteten einen Ordenstrupp gegen Moskau. Als der Hochmeister 1409 in das polnische Dobriner Land einfiel, begleitete ihn der Bläsertrupp unter Führung von Swowe, ein Posauner war dabei.86 Jetzt treten diese Instrumentalisten in den Quellen häufiger auf. Zum Kapitel nach Elbing kamen im Jahre 1408 neben Pfeifern auch drei Posauner, einer 80 81
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Tresslerbuch (wie Anm. 22). S. 255, 313. ‚Pfeifer‘ kann auch als Oberbegriff benutzt worden sein, wie etwa 1510 der „pfeiffer, der do uf der lawtten schlug“; siehe unten Anm. 93. Salmen. Der fahrende Musiker (wie Anm. 41). S. 130. Gancarczyk. „Kultura” (wie Anm. 2). S. 276 vermutet, dass es sich um Schalmeibläser handelte, da Trompeter eigens genannt seien. Eine Vielzahl von Belegen findet sich im Tresslerbuch (wie Anm. 22), in meiner ausführlichen Fassung nachgewiesen. Vgl. Tresslerbuch (wie Anm. 22). S. 468, 479, 505, 543, 591. Vgl. Scriptores (wie Anm. 9). Bd. II. 1863/1965. S. 163; Tresslerbuch (wie Anm. 22). S. 175f. Vgl. ebd. S. 557, 578, 588.
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davon aus Livland, 1409 wurde einem offenbar in Marienburg angestellten ein kleines Handgeld gegeben.87 Wie die Trompeter so treten auch die Posauner chronologisch erst nach Sprechern, Sängern, Spielleuten und Pfeifern auf, wobei offenbleibt, ob es sich dabei um ein Überlieferungsproblem handelt oder ob beide Instrumente sich erst später in Preußen und beim Orden durchsetzten. Ihre Verwendung fanden sie jedenfalls sowohl im militärischen Bereich als auch zu Zwecken der Repräsentation und Unterhaltung. Ganz wenige Belege haben wir für Pauker („tromper“). 1404 wird ein blinder „tromper“ genannt, der in Marienburg erschienen war, 1408 acht Paar und vier Paar in Danzig.88 Das späte Auftreten in den Quellen ist bemerkenswert; sogar in der Kriegführung, wo man sie der Lautstärke wegen am ehesten vermuten könnte, finden wir im 14. Jahrhundert nur Pfeifer oder ein Horn, erst ab 1406 die lauteren Posaunen und Trompeten. Leisere Töne wurden von anderen Musikern angeschlagen, auch wenn sie keineswegs grundsätzlich ‚Kammermusiker‘ waren: die Fiedler. Sie traten auf sowohl im kirchlichen Bereich, etwa als die litauische Großfürstin in Marienburg weilte, als auch zur Repräsentation bei besonderen Ordensereignissen wie beim Bischofswechsel in Kulm und einem Kapitel in Elbing oder anlässlich einer Tagfahrt mit dem masowischen Herzog. In der Regel, wenn auch nicht ausschließlich dienten sie der Unterhaltung. Wie bei den übrigen Musikern können wir verschiedene Gruppen erkennen. Einige kamen sicher im Auftrag ihres Herrn, als Boten, andere, um in Preußen ihr Glück zu versuchen. Sie alle suchten gerne den Hochmeister in Marienburg oder Stuhm auf.89 Natürlich kam der Hochmeister am häufigsten auf seinen Umritten mit Fiedlern in Berührung. Bei der Gelegenheit bemühten sich alle Fahrenden, vor dem Landesfürsten aufzuspielen und ein Geldgeschenk von ihm zu erhalten.90 Bei den Fiedlern ist noch auffälliger als bei den Pfeifern, dass sie fast nie alleine unterwegs waren, sondern immer zu mehreren auftraten, manchmal auch gemeinsam mit Pfeifern. Fast schon in den privaten Bereich gehören die Lautenschläger. Dementsprechend gibt es für den Anfang des 15. Jahrhunderts vergleichsweise wenige Belege. In der Marienburg erscheinen sie nur selten91, spielen aber durchaus häufiger vor dem Hochmeister bei seinen Umritten.92 Sie reisen in der Regel ebenfalls zu mehreren. Auch in der Mitte des 15. Jahrhunderts lassen sich nochmals Lautenschläger nachweisen, ebenso zu Beginn des 16. Jahrhunderts; Albrecht von Brandenburg stellte 1524 einen Hoflautenisten namens Georg aus Passau ein.93 Auf87 88 89 90 91 92 93
Siehe oben S. 40 und Tresslerbuch (wie Anm. 22). S. 536. Vgl. ebd. S. 313, 484. Vgl. ebd. S. 107, 250, 303, 357, 359f., 395, 417, 479. Vgl. ebd. S. 107, 170, 237, 245, 309, 365, 368, 404, 473, 491, 499, 509, 530, 549, 551. Vgl. ebd. S. 307, 407, 540. Vgl. ebd. S. 256, 469f., 480f., 486. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin. Historisches Staatsarchiv Königsberg. OF 196 (Rechnungen des hochmeisterlichen Rentmeisters Franz Bussen von Michaelis 1507 bis Michaelis
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fällig ist jedoch, dass das typische Instrument zum Auftritt vor Damen, welches diese oft auch selber spielten, beim Orden insgesamt fast gar nicht vertreten ist – die musikalische Kultur im Orden sieht eben anders aus als an weltlichen Höfen. Die Instrumente entsprachen klangästhetisch und funktional dem Standard der Zeit.94 Dabei sind grundsätzlich laute und leise Instrumente zu unterscheiden: die Bläser – mit Ausnahme der Flöten – gehören zu den lauten, alle anderen zu den leisen. Der Einsatz in der Kriegführung verlangte eine präzise Tongebung sowie einen weittragenden Ton. Ideal dafür waren mit dem Aufkommen der Blechbläser die Hörner, Posaunen und Trompeten. Im Orden begegnen Instrumente normalerweise nur in Verbindung mit den jeweiligen Musikanten; es wird stets von Pfeifern, Trompetern, Posaunern, Paukern, Fiedlern und Lautenschlägern gesprochen – was sich im Rahmen des im 14./15. Jahrhundert Üblichen bewegt. Eine Besonderheit stellt die Erwähnung eines Clavichords sowie eines Portativs dar. Beide Instrumente – sie dienten speziell für das Spiel am Hof – sandte der Hochmeister im Jahre 1408 als Geschenk an die litauische Großfürstin Ona95, was im Ordenskontext übrigens den einzigen Hinweis auf ein Clavichord darstellt. Stationär eingesetzt wurde normalerweise die Orgel, auch in Form des Portativs. 1401/02 wird eine Orgelreparatur in der Marienburger Konventskapelle erwähnt. Auch einige Jahrzehnte später existierte diese Orgel noch.96 1405 ließ sich Konrad von Jungingen eine neue Orgel in seiner Kapelle bauen.97 1411 war dort eine kleinere Reparatur erforderlich.98 In der Konventskapelle in Schlochau ist für das Jahr 1437 ebenfalls eine Orgel nachweisbar.99 Auch in der Konventskirche zu Königsberg, wo seit 1457 der Hochmeister residierte, ist für den Beginn des 16. Jahrhunderts eine Orgel belegt.100 Schließlich gab es 1513 in der Kapelle des Ordenshauses Labiau ein Positiv.101 Wahrscheinlich hat es weitere Orgeln gegeben, doch sind sie in den Quellen nicht überliefert.
1508). Fol. 109 r: „VI ß [Schilling] dem lauttenschlaer zu Rastenburg“. Ebd. OF 198 (Rechnungen des hochmeisterlichen Rentmeisters Franz Bussen 1510). Fol. 51 r: „X marg geben dem pfeiffer, der do uf der lawtten schlug“; ich danke herzlich Dieter Heckmann für die Übermittlung der Texte. Abweichend zitiert bei Hans-Peter Kosack. Geschichte der Laute und der Lautenmusik in Preußen. Kassel 1935 (= Königsberger Studien zur Musikwissenschaft. Bd. 17. Hg. Joseph Müller-Blattau). S. 3, vgl. auch S. 5f., 8. 94 Vgl. Salmen. Der fahrende Musiker (wie Anm. 41). S. 212-219 auf europäischem Hintergrund. Gancarczyk. „Kultura“ (wie Anm. 2). S. 278f. weist zu Recht auf die Gruppierung in „laute“ und „leise“ Instrumente hin. 95 Vgl. Tresslerbuch (wie Anm. 22). S. 476. 96 Vgl. ebd. S. 129, 145, 178; vgl. auch oben S. 35. 97 Vgl. Tresslerbuch (wie Anm. 22). S. 342. 98 Vgl. Ausgabebuch (wie Anm. 30). S. 33. 99 Vgl. Das große Zinsbuch (wie Anm. 31). S. 286. 100 Vgl. Werner Renkewitz/Jan Janca. Geschichte der Orgelbaukunst in Ost- und Westpreußen von 1333 bis 1944. Bd. I. Würzburg 1984 (= Bau- und Kunstdenkmäler im östlichen Europa. Bd. 2). S. 12. 101 Regesta Historico-Diplomatica Ordinis S. Mariae Theutonicorum. Pars I: Index Tabularii Ordinis S. Mariae Theutonicorum. Regesten zum Ordensbriefarchiv. Bd. 3. S. 1511-1525. Bearb. Erich Joachim. Hg. Walther Hubatsch. Göttingen 1973. Nr. 19706.
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4. Musik als Ausdrucksmittel des Individuums Erste Ansätze zu einem stärker individuellen Musizieren finden wir im 14. Jahrhundert bei Hochmeister Luther von Braunschweig. Er tat etwas Ungewöhnliches: Bei der Messe sang er öfter im Chor mit, da er die Noten sehr wohl zu gestalten wusste.102 Man wird hier nicht nur persönliche Begabung, sondern auch die Einstellung zu den artes liberales im Gegensatz zu den ritterlichen Tugenden und schließlich, in der zunehmenden Zusammenführung dieser beiden Bereiche wohl auch die tatsächlichen Ansprüche an den König in Rechnung stellen müssen103,
und damit auch explizit den mit Königen verwandten und ihnen in Preußen ebenbürtigen Hochmeister einbeziehen dürfen. Wie sehr die Bedeutung der Musik im Orden auch von den individuellen Vorlieben der jeweiligen Hochmeister abhängig war, zeigt das Beispiel Konrads von Jungingen und seines Nachfolgers Ulrich von Jungingen: Während Konrad offensichtlich Musikliebhaber war, der häufig vor sich singen und spielen ließ, ist nach seinem Tod nachgerade eine Zäsur hinsichtlich der Spielleute zu konstatieren, die nunmehr wesentlich seltener auftreten. Stattdessen finden wir neue Akzente: Jagd und Spiel; 1408 tauchen Brettspiel und Spielverluste des Hochmeisters im Tresslerbuch auf.104 Das Zurücktreten der Musik bei Ulrich, mithin der Unterschied in den Vorlieben beider Hochmeister, ist dabei wohl nicht nur eine Frage der Altersdifferenz zwischen dem Älteren und dem Jüngeren gewesen.105 Musiker im Refektorium des Konventes sind dann sicher bereits als Entfernungsvorgang gegenüber der Ordensregel anzusehen. Desgleichen muss ein Vortrag des Minnesängers Hugo von Montfort oder Oswalds von Wolkenstein im späten 14. Jahrhundert eindeutig in den Bereich der Unterhaltung eingeordnet werden, die schon eine erheblich stärkere Ausprägung von individuellen Interessen und Neigungen der Ordensbrüder voraussetzt, als sie die über 100 Jahre ältere Ordensregel eigentlich vorsieht. Erst recht gilt das für das Vorhandensein von Instrumenten wie der Laute, denn infolge der geringen Tragfähigkeit des Tons kam solche Musik nur für einen kleinen Kreis – oder gar den Hochmeister alleine – infrage. Mit der Übernahme des Hochmeisteramtes durch einen Reichsfürsten, durch Herzog Friedrich von Sachsen-Meißen im Jahre 1498, auf die eingangs schon 102 „Sepius in choro cantabat, quum notas novit dulciter modulare.“ Wigand von Marburg (wie Anm. 42). S. 487. 103 Niederkorn-Bruck. „Ordinarium“ (wie Anm. 49). S. 313. 104 Vgl. Tresslerbuch (wie Anm. 22). S. 491, 499, 507ff., 514. 105 Gancarczyk. „Kultura” (wie Anm. 2). S. 279 beurteilt das genau umgekehrt und sieht in Ulrich den Musikliebhaber; er macht es allerdings nur an dem Geschenk von Portativ und Clavichord für die Gemahlin Witolds fest (siehe oben bei Anm. 95), worin ich eher ein politisches Mittel denn den Ausdruck von Musikliebhaberei sehe.
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hingewiesen wurde, tritt – zumal in Verbindung mit den formellen Repräsentationspflichten – die individuelle musikalische Ausgestaltung des eigenen Lebenskreises noch intensiver hervor. Zum Kreis seiner prunkvoll fürstlichen Hofhaltung gehören auch Instrumentisten (Trompeter und Pauker) unter einem obersten Trompeter, vor allem aber vier Choralsänger, die der Hochmeister sich aus seiner Heimat mitbrachte, um den Gottesdienst durch Gesang zu verschönen. An ihrer Spitze stand ein gewisser Heinz Hesse. Außerdem befanden sich in der persönlichen Umgebung des Herzogs noch ein Lautenschläger und ein Organist, der die kleine Orgel im Schloß zu spielen hatte. Als der Hochmeister dem Amt entsagte, blieb die Kapelle der Sänger und Instrumentalisten doch bestehen.106
Diese Tendenz setzte sich unter seinem Nachfolger Albrecht von BrandenburgAnsbach fort, der zur Fastnacht 1518 ein Turnier veranstaltete. Darin trafen sich Unterhaltung und Repräsentation natürlich ebenfalls, nun allerdings in einer der Ordensregel absolut zuwiderlaufenden Form. Hatten noch zur Fastnacht 1413 die Ordensherren in Elbing lediglich dem Turnier zugeschaut, so veranstalteten sie nun selber eins, mit dem Hochmeister an der Spitze. Beim Einzug waren die „trummeter“ dabei, zum Beginn ließ man wie bei einem Schlachtangriff „uffblaszen“, ebenso zum Ende.107 Ein sehr viel privaterer Bereich begegnet uns in der offensichtlichen Zuneigung zum Lied, wie sie gleichfalls für Albrecht von Brandenburg-Ansbach überliefert ist. Vermutlich vor 1522 erschien ein Einblattdruck „Ein liedt wie der Hochmeister in Preusen Mariam anruft“. Nach intensiver Diskussion ist es dem Hochmeister selber als Dichter zugeschrieben und auf 1519 datiert worden.108 Dem Marienlied an die Seite stellt Spitta drei weitere Lieder, die vermutlich auch von Albrecht verfasst wurden. Besonders interessant ist das Albrecht-Lied von etwa 1522-1524, zu dem auch eine Notenüberlieferung mit einem dreistimmigen Satz existiert. (Von wem er wiederum stammt, lässt sich leider nicht entscheiden.109) In den Albrecht-Texten ist die Grundstimmung einer intensivierten, ‚reformatorischen‘ Spiritualität bereits deutlich erkennbar. Erhard von Queis, Bischof des dem Orden inkorporierten Bistums Pomesanien, lässt diese neue Haltung schließlich auch hinsichtlich der Messe und deren musikalischer Rahmung zum Zuge kommen. In seinen Themata Episcopi Riesenburgensis, dem Reformationsprogramm für sein Bistum zum 1. Januar 1525, erklärte er unter Punkt 13: 106 Müller-Blattau. Geschichte (wie Anm. 2). S. 20. Kosack (wie Anm. 93). S. 5 schreibt ihm „nur einen Trompeter, einen Pfeifer und den Cantor Valten mit dessen Jungen“ zu, ebenfalls ohne Nachweis. 107 Vgl. die Turnierordnung und den Verlauf in Scriptores (wie Anm. 9). Bd. 5. 1874/1965. S. 327-330, S. 328f. 108 Friedrich Spitta. „Beiträge zur Frage nach der geistlichen Dichtung des Herzogs Albrecht von Preussen [Tl.] I.“. Altpreußische Monatsschrift 46 (1909). S. 253-277, Abdruck S. 257ff. 109 Vgl. auch Tl. II. Altpreußische Monatsschrift 47 (1910). S. 50-112, Druck S. 93-98. Original des Albrecht-Lieds. Zwei Blätter mit Text und dreistimmigem Satz. Geheimes Staatsarchiv Berlin. Historisches Staatsarchiv Königsberg. OBA 27776; vgl. Regesta (wie Anm. 101). Für die genaue Fundstelle nach Altsignatur danke ich herzlich Dieter Heckmann.
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„Es sollen die Gesänge und Gebete in der Kirche deutsch gehalten werden, damit es jedermann verstehe. Das Salve Regina soll man nicht singen, denn es gereicht Gott zur Verkleinerung.“110 Mit dem Durchbruch der Reformation endete die Zeit des Deutschen Ordens in Preußen. Die Würdigung seiner Leistungen und Wirkungen im Blick auf die Musik ist in der älteren Literatur nicht gerade überschwänglich ausgefallen, doch diese Autoren haben verkannt, dass das Land gegenüber dem Westen Europas einen Nachholbedarf von mehreren Jahrhunderten hatte und der Landesherr ein geistlicher Orden, kein weltlicher Herrscher war. Leider haben wir mit Ausnahme der liturgischen Zeugnisse keine musikalische Überlieferung aus dem Orden, was die Wertung sonst erleichtern würde. Wir können daher auch nicht sagen, welches Repertoire überhaupt – und insbesondere am hochmeisterlichen Hof – gespielt wurde und wer als Komponist anzusprechen ist. In jedem Falle hat es sich bei den Musikern nicht um Ordensbrüder, sondern um weltliche Spielleute im festen Sold des Ordens sowie um Fahrende gehandelt, die die Kompositionen von außen mitbrachten. Aber gerade hier liegt ein Verdienst für das ganze Land. Erst der Orden eröffnete entsprechende Möglichkeiten, indem er durch die Errichtung einer Landesherrschaft, durch die Repräsentation der Herrschaft in einer Person und an einem Ort, nicht nur ein militärisches, sondern auch ein kulturelles Zentrum schuf. Dabei waren die landesherrlichen und militärischen Aufgaben stets mit der Dimension des Religiösen verschränkt, was selbstverständlich die kulturelle Entwicklung insgesamt nachhaltig prägte. Die Trägerschicht geistlicher Ritter pflegte mit den Künsten einen rein rezeptiven Umgang; anders als in der Architektur hat der Deutsche Orden hinsichtlich der Musik bis ins frühe 16. Jahrhundert hinein somit keinerlei Spezifika entwickelt, sondern stets nur die allgemeinen Tendenzen der jeweiligen Zeit nachvollzogen. Die Musikkultur blieb somit in gewisser Weise – wie genau genommen letztlich auch der Orden selbst – ein ‚Import‘-Phänomen. ____________________ Zusammenfassung Gegenüber anderen Ritterorden zeichnete den Deutschen Orden (OT) sein Streben nach einer Territorialbildung aus. Nachdem sein Hochmeister Hermann von Salza zwischen 1209 und 1239 eine Reihe entsprechender Optionen gesammelt hatte, war diesem Ansatz neben Livland auch in Preußen ein anhaltender Erfolg beschieden. Dort führte er sogar zur Konstitution eines bis Anfang des 16. Jahrhunderts bestehenden und in ganz Europa anerkannten, mächtigen Staatswesens. 110 Urkundenbuch zur Reformationsgeschichte des Herzogthums Preußen. Hg. Paul Tschackert. Bd. 2. Leipzig 1890 (= Publicationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven. Bd. 24). Nr. 300.
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Der 1309 nach Preußen übersiedelte Hochmeister des Ordens wurde zu einem Territorialfürsten, vergleichbar mit Herzögen und Königen seiner Zeit, und sein Sitz bildete nicht nur ein militärisches, sondern auch ein kulturelles Zentrum, das somit für die Entfaltung einer differenzierten Musikkultur eine herausragende Bedeutung gewann. – In der Liturgie besaß die Musik im Deutschen Orden eine feste Funktion. Als Glied der römischen Kirche hatte er Anteil an der Musik innerhalb der allgemeinen kirchlichen Entwicklung. Dies galt primär für die Messe, in der er zwar eine eigene Liturgie, nicht jedoch eigene Kompositionen ausformte, in vergleichbarer Weise ebenfalls für die Stundengebete, auch wenn insgesamt großer Wert auf die musikalische Gestaltung der Gottesdienste gelegt wurde. Diese Tendenz zum engagierten und kompetenten, aber rein rezeptiven Umgang mit Musik ist ebenso in allen anderen Lebensbereichen – im Kontext der kämpfenden Truppe oder bei der Repräsentation staatlicher Macht nicht anders als bei den Formen der Unterhaltung oder den Bemühungen, Musik als individuelles Ausdrucksmittel zu nutzen – zu beobachten: Der Deutsche Orden hat hinsichtlich der Musik im engeren Sinne keine Spezifika entwickelt, sondern stets nur die allgemeine Entwicklung der jeweiligen Zeit nachvollzogen – wenngleich mit durchaus interessanten Einzelergebnissen. Deshalb ist es letztlich angemessen, von Musik ‚im‘ Orden, nicht jedoch von Musik ‚des‘ Ordens zu sprechen. Streszczenie Zakon krzyżacki i muzyka W odróżnieniu od innych zakonów rycerskich, zakon krzyżacki (OT) dążył do podporządkowywania sobie nowych terytoriów. Po zgromadzeniu przez wielkiego mistrza zakonu, Hermanna von Salza, pomiędzy rokiem 1209 a 1239 szeregu odpowiednich opcji, dążenia te trwale zrealizowano obok Inflantów także w Prusach. Tam udało mu się nawet założyć silne państwo, które istniało do początku XVI wieku i było uznawane w całej Europie. W roku 1309 siedzibę wielkiego mistrza zakonu przeniesiono do Prus. Mistrzowie zakonu byli panami feudalnymi i władcami ziemskimi, porównywalnymi ze współczesnymi im książętami i królami, a ich siedziba była nie tylko centrum władzy militarnej, ale także centrum kulturalnym, które to centrum nabrało wielkiego znaczenia w dziedzinie rozwoju kultury muzycznej. – W zakonie krzyżackim muzyka odgrywała ugruntowaną rolę w liturgii. Jako ogniwo kościoła rzymskiego, zakon miał swój udział w muzyce, przyczyniając się do jego ogólnego rozwoju. Zjawisko to dotyczyło głównie mszy świętej, w której zakon ukształtował co prawda swoją własną liturgię, ale nie wytworzył własnej kompozycji; w porównywalnym stopniu zjawisko to obejmowało także liturgię godzin, nawet, jeśli większą wagę przykładano do muzycznej oprawy właśnie mszy świętych. Tę tendencję do zaangażowanego i kompetentnego, chociaż czysto receptywnego pojmowania muzyki, można zauważyć zarówno we
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wszystkich innych obszarach życia – tak w kontekście walczącego rycerstwa lub reprezentowania władzy państwowej, jak i w formach rozrywki, lub starań o wykorzystywanie muzyki jako indywidualnego środka wyrazu. W ścisłym rozumieniu zakon krzyżacki nie nadał muzyce żadnych szczególnych cech, lecz zawsze podążał za ogólnymi, charakterystycznymi dla danych czasów, trendami, – chociaż z kilkoma interesującymi efektami. Dlatego można ostatecznie mówić o muzyce ‚w‘ zakonie, ale nie można mówić o muzyce zakonu. Abstract The Teutonic Order and music The Teutonic Order (OT) was distinct from other medieval orders of knighthood in its efforts to establish a territorial basis. The Teutonic Order’s Grand Master Hermann von Salza collected a series of suitable options to this end between 1209 und 1239. Afterwards the order’s territorial aspirations enjoyed lasting success in both Livonia and Prussia, where it even established a powerful territorial political system recognised throughout Europe until the beginning of the 16th century. Resettling in Prussia in 1309, the Grand Master of the Teutonic Order became a territorial prince, a status comparable to that of dukes and kings of the time. His seat of power was both a military and a cultural centre which gained significant importance for the development of a distinct musical culture. – Music was an integral part of the liturgy in the Teutonic Order, and as a part of the Roman Catholic Church the order played its own musical role within the church’s overall ecclesiastical development. This role was played primarily at Mass, expressed in the order’s own liturgy but not in the form of its own compositions. The order’s music served a comparable function for the Liturgy of the Hours, although in general the musical arrangement of the Mass was the priority. This tendency toward a committed, skilled but purely receptive association with music can be observed in the same way in every other aspect of life in the order, be it within the context of its combat troops, the representation of political power, forms of entertainment or the efforts to use music as an individual means of expression. In regard to music in a more closely defined framework, the Teutonic Order did not develop any unique specifics. Instead, it consistently only reflected the general development of the respective period, although still managing to produce thoroughly interesting results from time to time. This is why it is ultimately appropriate to speak of the music ‘in the’ order, but not of the music ‘of the’ order.
Anette Löffler (Frankfurt am Main/Deutschland)
Liturgische Musikhandschriften des Deutschen Ordens in und aus Preußenland1 In kaum einer Region hat der Deutsche Orden so viele, auch heute noch sichtbare Spuren hinterlassen wie in der ehemaligen Ballei Preußen mit der Marienburg als zeitweiligem Sitz des Hochmeisters. Diese Spuren lassen sich vor allem in den vielen ehemaligen Pfarrkirchen auf dem Land fassen, aber auch in der typischen Architektur der Ordensburgen in den Städten.2 Eine weitere Manifestation der Ordensherrschaft liegt mit den liturgischen Handschriften des Ordens vor, die sich hauptsächlich im Lande selber erhalten haben.3 So existiert in der Stadt Gdańsk (Danzig) heute eine erhebliche Anzahl liturgischer Handschriften, welche für den Orden geschrieben wurden. Darüber hinaus gibt es weitere Handschriften und Fragmente, die in dieser Region entstanden sind und in der Ordensliturgie verwandt wurden. Im Folgenden werden die Bestände der Marienbibliothek in Danzig (heute in der Biblioteka Gdańska Polskiej Akademii Nauk [Bibliothek der Polnischen Akademie der Wissenschaften Danzig]), der Handschriftenfragmente aus dem Historischen Staatsarchiv in Königsberg, heute im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK) in Berlin, sowie die Handschriften in der Bibliothek des Priesterseminars in Pelplin herangezogen. Vertiefende Untersuchungen wenden sich sodann den Sequenzen sowie den Reimoffizien in den liturgischen Handschriften zu; und in kurzen, abschließenden Bemerkungen rücken letztendlich auch noch die Bestände an Liturgica in den Kirchen und Konventen des Deutschen Ordens in den Blick. Die bisherige Forschung hat festgestellt, dass ein hoher Anteil liturgischer ‚Literatur‘ für Preußen typisch sei; dies ergibt sich wohl aus der Tatsache der umfangreichen seelsorgerischen Pflichten des Ordens.4 Ein Überblick über die Bibliotheken in Preußenland bis 1500 im Allgemeinen findet sich bei Ralf Päsler, der sie alphabetisch auflistet und kurze Angaben zum Inhalt und zur Existenz von 1
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Wegen des Quellenumfangs wird das zu untersuchende Gebiet nicht auf das Land an der unteren Weichsel eingeschränkt, sondern auf das gesamte Ordensland Preußen ausgedehnt. Christofer Herrmann. Mittelalterliche Architektur im Preussenland. Untersuchungen zur Frage der Kunstlandschaft und Kunstgeographie. Petersberg 2007. Anette Löffler. „Die Liturgie des Deutschen Ordens in Preußen“. Cura animarum. Seelsorge im Deutschordensland Preußen. Hg. Stefan Samerski (= Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands. Bd. 45). Köln, Wien, Weimar 2013. S. 161-184. Heinz Finger. „Untersuchungen zur Geschichte der Bibliothek des Deutschen Ordens in Mergentheim, Teil I“. Gutenberg-Jahrbuch (1980). S. 330f.; Die Kirche im Dorf. Ihre Bedeutung für die kulturelle Entwicklung der ländlichen Gesellschaft im „Preußenland“, 13.-18. Jahrhundert. Hg. Bernhart Jähnig. Berlin 2002.
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Bücherverzeichnissen gibt.5 Speziell von den Deutschordensbibliotheken handelt die vor einigen Jahren erschienene Habilitationsschrift von Arno Mentzel-Reuters.6 Das mittelalterliche Kirchenwesen in Danzig war in starkem Maße durch den Deutschen Orden geprägt. Die 997 erstmals erwähnte Danziger Burg war bis zum Jahr 1294 die Residenz der Herzöge von Pommerellen und wurde 1308 dem Deutschen Orden unterstellt7, der dort ab 1340 für den Danziger Komtur und seinen Konvent ein Schloss errichtete. Die Kapelle der Ordensburg, ein Nachfolgebau der herzoglichen Kapelle, wurde 1455 nach der Lösung Danzigs aus der Deutschordensherrschaft abgerissen. In der Altstadt Danzig entstand ein Suburbium slawischer Kaufleute und Handwerker. In den Jahren 1184/85 findet die Pfarrkirche St. Katharina Erwähnung, außerdem die Kirche St. Bartholomäus, die nach 1456 als Pfarrkirche fungierte. 1351 existierte außerdem die Heilig-Leichnam-Kirche als Filial von St. Marien. Daneben gab es in der Altstadt diverse Kapellen, deren Patronat der Deutsche Orden innehatte. Eine weitere St. Bartholomäus-Kirche, ein Filial der Pfarrkirche St. Katharinen, gab es in der Danziger Jungstadt. Die Rechtstadt Danzig besaß mit der 1238/39 erbauten Pfarrkirche St. Marien die größte Kirche Danzigs. Dort gelegen war auch ihr Filial St. Gertrud. In der zur Rechtstadt gehörigen Neustadt und Vorstadt gab es außerdem diverse Hospitäler und weitere Kapellen.8 Weiterhin besaßen die großen Orden, zu nennen sind hauptsächlich Dominikaner und Franziskaner, Niederlassungen mit Ordenskirchen. Für Danzig sind mehrere Bibliotheken des Deutschen Ordens bekannt. Die kleinste dürfte diejenige der Komturei gewesen sein, die im Jahr 1416 29 Handschriften besaß, worunter sich neun deutsche befanden.9 Einen geringfügig größeren Buchbestand hatte die Kirchenbibliothek St. Petrus, eigentlich eine Kirchen- und Schulbibliothek.10 Heute werden die verbliebenen, stark homiletisch beeinflussten Bände in der Biblioteka Gdańska Polskiej Akademii Nauk aufbe-
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Ralf G. Päsler. Deutschsprachige Sachliteratur im Preußenland bis 1500. Untersuchungen zu ihrer Überlieferung. Köln 2003 (= Aus Archiven, Bibliotheken und Museen Mittel- und Osteuropas. Bd. 2). S. 53-81. Arno Mentzel-Reuters. Arma spiritualia. Bibliotheken, Bücher und Bildung im Deutschen Orden. Wiesbaden 2003 (= Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen. Bd. 47). S. 105-383. Peter Kriedte. Die Herrschaft der Bischöfe von Wloclawek in Pomerellen, von den Anfängen bis zum Jahr 1409. Göttingen 1974 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte. Bd. 40); Ernst Manfred Wermter. „Stadt und Kirche in Danzig während des späten Mittelalters. Versuch einer Kollegiatsstiftsgründung 1508. – Vergleichbare Strukturen und Beziehungen zu Preußen, Pommern, Mecklenburg, den Burgundischen Niederlanden, Oberschwaben und der Schweizerischen Eidgenossenschaft“. Zur Siedlungs-, Bevölkerungs- und Kirchengeschichte Preußens. Lüneburg 1999 (= Tagungsberichte der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung. Bd. 12). S. 173f. Eine Übersicht bei Wermter. „Stadt und Kirche in Danzig“ (wie Anm. 7). S. 185ff. Das Große Ämterbuch des Deutschen Ordens. Hg. Walther Ziesemer. Danzig 1921. S. 694. Paul Simson. Geschichte der Schule zu St. Petri et Pauli in Danzig. Bd. I: Die Kirchen- und Lateinschule 14361817. Danzig 1904.
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wahrt.11 In den preußischen Bistümern sowie im Ermland (heute Warmia) gab es außerdem noch weitere Kirchenbibliotheken. Hier ist etwa an die Kirchenbibliotheken in Graudenz (Grudziądz), Thorn (Toruń), Elbing (Elbląg) oder Culm (Chełmno) zu denken.12
Die Marienbibliothek in Danzig Um 1413 gründete der Deutschordenspriester Andreas Slommow, der von 1398 bis 1438 die Pfarre von St. Marien versah, die Bibliothek.13 Die Bestätigung des Hochmeisters Heinrich von Plauen ließ nicht lange auf sich warten; eine entsprechende Urkunde datiert vom 24. Juni 1413. Aus dem Besitz von Slommow lassen sich heute noch vier Codices in den Beständen der Marienbibliothek nachweisen: eine theologisch-philosophische Sammelhandschrift (Ms. Mar. F 239) sowie Handschriften mit Texten des Konzils von Pisa (Ms. Mar. F 266), des Paulus Orosius (Ms. Mar. F 311) sowie von Boethius (Ms. Mar. Q 7).14 Bis auf den ersten Codex stammen alle diese Bücher aus dem 15. Jahrhundert. Das Interesse von Slommow an Konzilstexten stammte nicht von ungefähr, denn er nahm als Gesandter am Konzil von Basel teil.15 Nach Andreas Slommow versah vermutlich Johannes Zager den Dienst an St. Marien.16 In insgesamt 17 Handschriften legte Zager Inhaltsverzeichnisse an. Außerdem bedachte er einen Teil dieser Handschriften mit Marginalglossen und Kommentaren. Bislang waren die Handschriften im Pfarrhaus aufbewahrt worden. Dies änderte sich nach 1450 durch die Stiftung von Katharina und Johann Meydeburg. Nach dem Tode seiner Frau vermachte der Danziger Ratsherr Johann Meydeburg der Priesterbruderschaft von St. Marien die Allerheiligenkapelle, die Katha11
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Eine Auflistung dieser Bücher bei Sigrid Krämer. Handschriftenerbe des deutschen Mittelalters. München 1989 (= Mittelalterliches Handschriftenerbe. Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz. Ergbd. 2). S. 162f. Hanns Bauer. „Bildungs- und Bibliothekswesen im Ordenslande Preußen“. Zentralblatt für Bibliothekswesen 46 (1929). S. 391-406, S. 404. Sehr gut und ausführlich zur Bibliothek des samländischen Domkapitels in Königsberg Päsler. Deutschsprachige Sachliteratur (wie Anm. 5). S. 61-69. Zu Culm auch Księga czynszów Fary Chełminskiej [Das Buch der Mietzahlungen der Culmer Pfarrkirche] (1435-1496). Hg. Zenon Hubert Nowak/Janusz Tandecki. Toruń 1994. S. 27. Nr. 261. Friedrich Schwarz. „Die Marienbibliothek in Danzig“. Ostdeutsche Monatshefte 8 (1927). S. 391-398; Otto Günther. Die Handschriften der Kirchenbibliothek von St. Marien in Danzig. Danzig 1921 (= Katalog der Danziger Stadtbibliothek. Bd. V). S. 2. Zu Slommow siehe auch Johannes Helmrath. Das Basler Konzil 1431-1449. Forschungsstand und Probleme. Köln 1987 (= Kölner Historische Abhandlungen Bd. 32). Günther. Die Handschriften (wie Anm. 13). S. 260-265, 325-340, 436 und 470f. Helmrath. Das Basler Konzil (wie Anm. 13). S. 270f. Zum Lebenslauf von Slommow und seiner Tätigkeit auf dem Basler Konzil siehe auch Ludwig Dombrowski. Die Beziehungen des Deutschen Ordens zum Basler Konzil bis zur Neutralitätserklärung der deutschen Kurfürsten. Phil. Diss. Berlin 1913. Beilage 4. S. 240-247. Dombrowski gibt als Nachfolger von Slommow im Jahre 1438 Andreas Ruperti an. Vgl. ders. Die Beziehungen des Deutschen Ordens (wie Anm. 15). S. 240f.
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rina als Erbschaft zugefallen war17, damit dort eine Bibliothek eingerichtet werde. Die ‚Allerheiligenbibliothek‘, wie sie gelegentlich auch genannt wurde, stand spätestens 1462 an ihrem neuen Aufenthaltsort. Ein Zeitgenosse Meydeburgs war der Altarist und Vikar Heinrich Calow, der 34 Jahre seinen Dienst an St. Marien wahrnahm. Wie Zager legte er in über 50 Handschriften Inhaltsverzeichnisse an. Daneben ließ er die heute teils noch erhaltenen Titelschilder auf den Handschriften anbringen. Calow dürfte deshalb als der Initiator der Einbandherstellung zu betrachten sein, die hauptsächlich in den Danziger Einbandwerkstätten des älteren und jüngeren Drachenbuchbinders – so genannt nach dem Hauptmotiv der in diesen Werkstätten verwandten Einbandstempel – vorgenommen wurde.18 In der Werkstatt des älteren Drachenbuchbinders wurden sechs liturgische Handschriften des Deutschen Ordens eingebunden: drei Breviere, zwei Missalia und ein Diurnale.19 Einen Einband des jüngeren Drachenbuchbinders weisen drei Missalia auf.20 Wiederum Slommow vergleichbar, besaß auch Heinrich Calow vier Handschriften: eine theologische Sammelhandschrift der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts (Ms. Mar. F 133), eine 1421 in Culm geschriebene homiletische Sammelhandschrift (Ms. Mar. F 253), einen Codex des Decretum Gratiani aus dem 13. Jahrhundert (Ms. Mar. F 275) sowie die Poetria nova des Galfredus Anglicus (Ms. Mar. Q 9).21 Drei spätmittelalterliche bzw. neuzeitliche Bücherverzeichnisse der Danziger Marienbibliothek haben bzw. hatten sich in den Beständen erhalten. Als Kriegsverlust gilt das älteste Verzeichnis, das sich in Ms. Mar. F 314 befunden hatte.22 Dieses Verzeichnis ist in Form einer jüngeren Abschrift jedoch überliefert. Das Original wies zwei Schreiberhände auf, die auf die Zeit um 1460/70 sowie in den Anfang des 16. Jahrhunderts datieren. Der ältere Teil führt überwiegend Handschriften auf, deren Zahl sich auf 59 beläuft; sie werden zumeist in Pergamentund Papiercodices unterteilt und in eine systematische Ordnung gebracht; der jüngere Teil des Verzeichnisses nimmt die Handschriften und Drucke demgegenüber in der Reihenfolge der Erwerbung auf. Die Anlage dieses Teils erfolgte in Untergruppen mit den Buchstabensignaturen A bis Z. Die Buchstaben A bis L umfassen auch Texte, die aus dem älteren Teil hierher übernommen worden sind. Die Buchstaben M bis Z sind mit Inkunabeln und Drucken sowie mit Hand17 18
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Günther. Die Handschriften (wie Anm. 13). S. 3ff. Günther. Die Handschriften (wie Anm. 13). S. 42-55. Zu den Danziger Einbandwerkstätten siehe Ilse Schunke/Konrad von Rabenau. Die Schwenke-Sammlung gotischer Stempel- und Einbanddurchreibungen, nach Motiven geordnet und nach Werkstätten bestimmt und beschrieben. Berlin 1979 und 1996 (= Beiträge zur Inkunabelkunde. Bde. 3.7 und 3.10 [hier Bd. 3.10]). S. 60-65. Es sind dies die Handschriften Ms. Mar. F 396, Ms. Mar. F 399, Ms. Mar. F 402, Ms. Mar. Q 16, Ms. Mar. O 10 sowie Ms. Mar. O 18. Ms. Mar. F 91, Ms. Mar. F 284 und Ms. Mar. F 403. Günther. Die Handschriften (wie Anm. 13). S. 125-128, 296-303, 354f. und 473ff. Günther. Die Handschriften (wie Anm. 13). S. 30-35.
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schriften belegt, wobei letztere im Gegensatz zu denen unter den Buchstaben A bis L keine Angaben zu dem Beschreibstoff der Codices aufweisen. In der Mitte des 17. Jahrhunderts wurde ein weiteres Bücherverzeichnis angelegt, das in Ms. Mar. F 339 überliefert ist.23 Der Schreiber übernahm die systematischen Abteilungen aus dem älteren Verzeichnis und erweiterte sie, indem er beispielsweise überprüfte, ob die Handschriften noch im Bestand vorhanden waren, und fehlende Exemplare mit ‚deest‘ o.ä. kennzeichnete. Das dritte Verzeichnis stammt schließlich von der Hand des Danziger Bürgermeisters Johann Nathanael Ferber aus dem Jahre 1694. Er ließ die Bücher nach Formaten aufstellen, so steht beispielsweise der Buchstabe ‚F‘ in der heutigen Signatur für ‚Folio‘, ‚Q‘ für ‚Quart‘, oder ‚O‘ für ‚Oktav‘. Auf Ferber gehen zudem die heute noch gültigen Signaturen der Handschriften und Drucke zurück. Die ehemalige Danziger Marienbibliothek weist heute mit 22 liturgischen Handschriften des Deutschen Ordens den größten geschlossenen Bestand an Liturgica aus Preußenland auf.24 Diese Codices befinden sich seit 1912 als Depositum in der Stadtbibliothek zu Danzig bzw. der nunmehrigen Biblioteka Gdańska Polskiej Akademii Nauk.25 Otto Günther wies diese in seinem Katalog der Danziger Handschriften bereits dem Deutschen Orden zu. Die Bestimmung des entsprechenden Ritus gewann er aus einem Vergleich mit den liturgischen Ordensinkunabeln, die dem Liber Ordinarius (der ‚Notula‘) folgten. Infolgedessen setzte Günther auch zu den Danziger Handschriften die Bestimmung secundum notulam dominorum Teutonicorum hinzu, obwohl er sie selbst nicht mit dem Liber Ordinarius verglichen hatte. Zwei Gruppen von liturgischen Codices können grundsätzlich unterschieden werden: solche des Messdienstes und solche des Chordienstes. Insgesamt 14 Handschriften des Messdienstes sind in den Danziger Beständen heute vorhanden, davon zwölf Codices Missalia.26 Ein Missale enthält alle gesungenen, gesprochenen und gebeteten Messtexte des Kirchenjahres. Es ist meist in Proprium de tempore, Proprium de sanctis, Commune sanctorum, Missae speciales sowie 23 24
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Günther. Die Handschriften (wie Anm. 13). S. 57-61. Einige Abbildungen siehe bei 800 Jahre Deutscher Orden. Hg. Gerhard Bott/Udo Arnold. Gütersloh 1990. Kap. VI.5. S. 410-415. Zu den liturgischen Büchern des Deutschen Ordens in den Pfarreien Culm, Pomesanien, Ermland und Leslau vgl. Waldemar Rozynkowski. „Krzyżackie księgi liturgiczne w parafiach diecezji: Chełmińskiej, Pomezańskiej, Warmińskiej oraz Wŀocŀawskiej po 1466 roku [Liturgische Schriften des Deutschen Ordens in den Pfarreien der Diözesen Kulm, Pomesanien, Ermland und Leslau nach 1466]“. Kościół w Polsce. Dzieje i Kultura [Kirche in Polen. Geschichte und Kultur]. Bd. 4. Hg. Jan Walkusz. Lublin 2005. S. 237-246. Zum Vergleich über die Büchersammlung des Dekanats Kulmsee Waldemar Rozynkowski. „Księgozbiór parafii dekanatu chełmżyńskiego w świetle najstarszej wizytacji z 1641 roku [Büchersammlung der Pfarreien des Kulmer Dekanats im Lichte der ältesten Visitation im Jahre 1641]“. Folia Torunensia 2002. 2-3. S. 177-181. Das Depositum umfasst insgesamt 276 Handschriften sowie 122 Inkunabeln. BGPAN [= Biblioteka Gdańska Polskiej Akademii Nauk] Danzig, Ms. Mar. F 59, Ms. Mar. F 61, Ms. Mar. F 80, Ms. Mar. F 87, Ms. Mar. F 91, Ms. Mar. F 284, Ms. Mar. F 332, Ms. Mar. F. 333, Ms. Mar. F 399, Ms. Mar. F 400, Ms. Mar. F 401, Ms. Mar. F 402 und Ms. Mar. F 403.
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Votiv- und Totenmessen unterteilt. Häufig werden die gesungenen Teile auch mit Neumen versehen. Eine Spezialhandschrift des Messdienstes ist das Cantionale, das mit einem Exemplar als 14. Codex in den Danziger Beständen vorkommt.27 Es enthält ausgewählte Texte aus dem Graduale, und zwar alle dem Kantor vorbehaltenen Sologesänge. Weiterhin sind acht Handschriften des Chordienstes überliefert, nämlich sechs Breviere, ein Diurnale und ein Kollektar.28 In einem Brevier befinden sich analog zum Missale alle gesungenen, gesprochenen und gebeteten Teile des Offiziums. Es ist gleichfalls in Proprium de tempore, Proprium de sanctis und Commune sanctorum unterteilt. Meist werden den Texten ein Psalterium und ein Hymnar vorangestellt. Ein Diurnale ist ein Auszug aus einem Brevier, in dem nur die Tagzeiten (Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper) Berücksichtigung finden.29 Ein Kollektar schließlich enthält die Tagesorationen, die der Priester außerhalb der Messe beim Chorgebet zu beten hatte.30 Überdies gibt es im Danziger Bestand Sonderformen liturgischer Handschriften. An erster Stelle zu nennen ist hier der bereits erwähnte und beim Deutschen Orden auch ‚Notula‘ genannte Liber Ordinarius. Dabei handelt es sich um einen Normcodex, der die liturgischen Eigenheiten des Ordens verbindlich festlegte und regelte.31 Er besteht aus einem Ordinarium missae und einem Ordinarium officii, die sich wiederum im Aufbau jeweils in Proprium de tempore, Proprium de sanctis und Commune sanctorum scheiden. Der Danziger Liber Ordinarius ist von besonderer Bedeutung, weil außer diesem Exemplar (mit der Signatur Ms. Mar. Q 72) nur noch ein weiteres komplettes in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart sowie ein Fragment im GStA PK in Berlin nachweisbar sind.32 Zusätzlich ist in Danzig noch eine sogenannte Correctio Notulae überliefert, welche Änderungen und Zusätze enthält, die sich zwischenzeitlich innerhalb der Überlieferung ergeben hatten, und zudem auch Abschreibefehler verbessert oder Eigenmächtigkeiten der Bischöfe und Diözesen wieder tilgt. Die Correctio Not-
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BGPAN Danzig, Ms. Mar. F 406. BGPAN Danzig, Ms. Mar. F 166, Ms. Mar. F 218, Ms. Mar. F 396, Ms. Mar. Q 16, Ms. Mar. O 10, Ms. Mar. O 17, Ms. Mar. O 18 und Ms. Mar. Q 150. BGPAN Danzig, Ms. Mar. O 18. BGPAN Danzig, Ms. Mar. Q 150. Anette Löffler. „Neue Erkenntnisse zur Entwicklung des Liber Ordinarius (Notula) OT. Handschriften und Fragmente des Normcodex in Stuttgart, Danzig und Berlin“. Preußische Landesgeschichte. Festschrift für Bernhart Jähnig zum 60. Geburtstag. Hg. Udo Arnold/Mario Glauert/Jürgen Sarnowsky. Marburg 2001. S. 137-150. Ebd. S. 148ff. Die Fragmente sind beschrieben bei Anette Löffler. Fragmente liturgischer Handschriften des Deutschen Ordens im Historischen Staatsarchiv Königsberg. Bd. I. Lüneburg 2001 (= Einzelschriften der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung. Bd. 18); dies. Fragmente liturgischer Handschriften des Deutschen Ordens aus dem Historischen Staatsarchiv Königsberg/Preußen. Bd II. Marburg 2004 (= Einzelschriften der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung. Bd. 24) [hier Nr. 154 und Nr. 155]; dies. Fragmente liturgischer Handschriften des Deutschen Ordens im Historischen Staatsarchiv Königsberg/Preußen. Bd. III. Marburg 2009 (= Einzelschriften der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung. Bd. 28).
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ulae ist heute ebenfalls nur noch in drei – nun allerdings vollständigen – Exemplaren erhalten, und zwar in Danzig, Stuttgart und Brüssel.33 Weiterhin existieren noch zwei Handbücher der Priesterbruderschaft St. Marien.34 In beiden Codices, Ms. Mar. F 308 und Ms. Mar. Q 2, befinden sich hauptsächlich Vigiliae defunctorum sowie Marienmessen. Die Priesterbruderschaft von St. Marien besaß im Übrigen auch noch ein Missale, das dem Ritus des Deutschen Ordens folgt; es umfasst 34 Blätter und enthält Präfationen und Spezialmessen.35 Von vier der genannten liturgischen Handschriften ist die Zugehörigkeit zu einem konkreten Altar rekonstruierbar. Ms. Mar. F 80, ein Missale, wurde 1433 von Nikolaus Lich geschrieben: Explicit liber missalis per manus Nicolai Lich sub anno MCCCC tricesimotercio.36 Vermutlich handelt es sich bei Nikolaus Lich um ein Mitglied des Danziger Konvents.37 Weiterhin befindet sich auf dem vorderen Spiegel ein Eintrag, der die Besitzverhältnisse konkretisiert: Iste liber spectat ad altare sancti Johannis in ecclesia beate uirginis Marie.38 Bei Ms. Mar. F 332, einem weiteren Missale aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, handelt es sich um das Exemplar des Brigitten-Altars.39 Diese Zuordnung ergibt sich aus Notizen des 16. Jahrhunderts, die auf dem vorderen Spiegel stehen. Bereits Theodor Hirsch bemerkte, dass der Brigitten-Altar erst im Jahr 1456 gestiftet wurde. Daraus folgerte er, dass sich die Handschrift zunächst im Ordens- bzw. Kirchenbesitz von St. Marien befunden habe und erst anschließend der entsprechenden Altarstiftung zugeeignet worden sei. Die Handschrift Ms. Mar. F 399 war nach einem aus dem Beginn des 16. Jahrhunderts stammenden Eintrag im Vorderdeckel das Exemplar des MargaretenAltars, der gleichzeitig den Altar der Beutler-Zunft darstellte.40 Die aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts stammende Handschrift gilt als Kriegsverlust. Dem Georgs-Altar zugerechnet wird letztlich Ms. Mar. 403, wie eine Notiz aus dem Jahre 1504 bezeugt.41 Bei der herausragenden Stellung des hl. Georg als 33
34 35 36 37
38 39 40 41
Löffler. „Liber Ordinarius“ (wie Anm. 31). Bes. S. 143 und 145f. Der Stuttgarter Text befindet sich in der WLB Stuttgart, HB I 158, 111 versoa bis 123 versoa und die Danziger Correctio in der BGPAN Danzig, Ms. Mar. Q 10. Zur Brüsseler Correctio siehe jetzt Anette Löffler. „Das Brevier des Johannes de Ketgh. Die verschlungenen Wege der Handschrift Hs. 19004 der KBR Brüssel“. Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein. Nr. 210 (2007). S. 45-60. Zur Danziger Priesterbruderschaft Theodor Hirsch. Die Ober-Pfarrkirche von St. Marien in Danzig. Danzig 1843. S. 175-193, bes. S. 175-187. BGPAN Danzig, Ms. Mar. F 333. Günther. Die Handschriften (wie Anm. 13). S. 100. Mario Glauert. „Vorbemerkungen zu einer Prosopographie der Priesterbrüder des Deutschen Ordens in Preußen“. Kirchengeschichtliche Probleme des Preussenlandes aus Mittelalter und Früher Neuzeit. Marburg 2001 (= Tagungsberichte der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung. Bd. 16). S. 103-130. Hirsch. Die Ober-Pfarrkirche (wie Anm. 34). S. 453. Ebd. S. 463; Günther. Die Handschriften (wie Anm. 13). S. 438ff. Hirsch. Die Ober-Pfarrkirche (wie Anm. 34). S. 457; Günther. Die Handschriften (wie Anm. 13). S. 449ff. Hirsch. Die Ober-Pfarrkirche (wie Anm. 34). S. 378; Günther. Die Handschriften (wie Anm. 13). S. 454ff.
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Patron des Deutschen Ordens ist durchaus zu erwarten, dass für den entsprechenden Altar eine eigene Handschrift angeschafft worden ist.42 Von den 22 liturgischen Handschriften der Danziger Marienbibliothek sind lediglich drei eindeutig vor der Bibliotheksgründung geschrieben worden. Die Codices Ms. Mar. Q 150, Ms. Mar. O 17 und Ms. Mar. O 18 stammen alle aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts und müssen somit ursprünglich für einen anderen Konvent des Deutschen Ordens angefertigt worden sein. Erst eine vierte Handschrift (Ms. Mar. F 402), die an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert entstanden ist, könnte möglicherweise schon unmittelbar für die Bibliothek geschrieben worden sein. Das 15. Jahrhundert bildet dann den deutlichen Überlieferungsschwerpunkt. Auf den Jahrhundertbeginn werden die Codices Ms. Mar. F 166 und Ms. Mar. F 396 angesetzt. In diesem Zeitraum ergaben sich für den Deutschen Orden tiefgreifende politische Veränderungen, die mit der Schlacht und der Niederlage des Ordens bei Tannenberg/Grünfelde (Grunwald) im Jahr 1410 verbunden sind. Mit dreizehn Handschriften wurde das Gros an Liturgica in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts geschrieben, zu einer Zeit also, die bereits durch den allmählichen Niedergang der Ordensherrschaft gekennzeichnet gewesen sein dürfte.43 Sehr gering ist infolgedessen die Anzahl an Codices aus der zweiten Jahrhunderthälfte. Lediglich das auf 1475 datierte Brevier Ms. Mar. O 10 stammt noch aus dieser Zeit. Die beiden verbleibenden Handschriften werden von Günther ganz allgemein in das 15. Jahrhundert datiert.44
Die Fragmente aus dem Historischen Staatsarchiv Königsberg In den Beständen des GStA PK in Berlin befinden sich heute ca. 30% der Bestände aus dem Historischen Staatsarchiv Königsberg. Diese sind in der XX. Hauptabteilung des GStA PK einzusehen. Bei den Fragmenten handelt sich hier um Blätter (oder Blattteile) von Handschriften, die als Bucheinband verwendet wurden und bislang in der Forschung völlig unbekannt waren.45 Diese Makulatur befindet sich hauptsächlich an den Ämter- und Rechnungsbüchern der verschiedenen
42
43 44 45
Dazu Udo Arnold. „Georg und Elisabeth. Deutschordensheilige als Pfarrpatrone in Preußen“. Die Rolle der Ritterorden in der Christianisierung und Kolonisierung des Ostseegebietes. Thorn 1983 (= Ordines militares. Bd. 1). S. 69-78. BGPAN Danzig, Ms. Mar. F 59, Ms. Mar. F 61, Ms. Mar. F 80, Ms. Mar. F 87, Ms. Mar. F 91, Ms. Mar. F 284, Ms. Mar. F 332, Ms. Mar F 333, Ms. Mar. F 399, Ms. Mar. F 400, Ms. Mar. F 401, Ms. Mar. F 403 und Ms. Mar. Q 16. BGPAN Danzig, Ms. Mar. F 218 und Ms. Mar. F 406. Auch komplette liturgische Handschriften können neu entdeckt werden, dazu bspw. Marta Czyżak/ Arkadiusz Wagner. „Odnaleziony modlitewnik chełminskięgo wikbolda Dobilsteina“. Zapitsky historiczne 78 (2013). Nr. 2. S. 99-116.
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preußischen Ämter, aber auch an Bänden des Herzoglichen Briefarchivs (HBA) oder des Etat-Ministeriums.46 Die Bearbeitung der liturgischen Handschriftenfragmente des Königsberger Bestandes ist inzwischen abgeschlossen.47 Insgesamt konnten drei Inkunabelund 383 Handschriftenfragmente identifiziert werden. – Unter den drei Inkunabelfragmenten befanden sich zwei Blätter aus dem Missale des Deutschen Ordens, das 1499 bei Georg Stuchs in Nürnberg gedruckt worden war.48 Dieses Missale ist nur sehr selten überliefert. Eine pauschale Unterteilung der 383 Fragmente ergab ein eindeutiges Übergewicht im Messdienst. 222 Fragmente gehören in diese Kategorie. Von diesen folgen 183, also nahezu 75%, der Liturgie des Deutschen Ordens (OT). Eine Spezifizierung dieser Fragmente zeigt, dass mit 135 (OT: 115) die Missalia am stärksten belegt waren. Danach folgen Gradualia mit 63 (OT: 56) sowie Sequentiare mit 19 Fragmenten (OT: 17). Dem Chordienst können 133 Fragmente zugeordnet werden, darunter allerdings nur gut die Hälfte (69 Fragmente) mit Ordensliturgie. Ähnlich wie beim Messdienst ist auch hier die Anzahl der Codices mit allen Texten, d.h. den Brevieren, mit 65 Fragmenten (OT: 38) am höchsten. Ihnen folgen Fragmente aus Antiphonaren mit 42 Nachweisen (OT: 26), aus Psalterien mit 24 Nachweisen sowie aus zwei Hymnaren, die beide dem Deutschen Orden zugehören. Eine ganze Reihe der in Frage stehenden Fragmente verdiente sicherlich eine speziellere Charakterisierung. Zumindest einige von ihnen sollen im Folgenden exemplarisch vorgestellt werden. Von einem Antiphonar aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts ließen sich drei Doppelblätter und drei einzelne Blätter identifizieren.49 Inhaltlich umfassen sie Texte des Temporale (Teile von Ostern) und des Sanktorale (Teile aus den Heiligenfesten im Dezember, Januar und August). Diese relativ große Anzahl von Fragmenten erlaubt den Rückschluss, dass dem Buchbinder offensichtlich große Teile dieses Codex als Bindematerial zur Verfügung gestanden haben müssen. Einige Fragmente weisen aufgrund inhaltlicher Besonderheiten in bestimmte Ordensregionen. Ein Fragment aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts bietet beispielsweise Festformulare des Utrechter Raumes (Translatio Agnetis, Evortus).50 (Dieses Fragment wird in Abbildung 1 des Tafelteils reproduziert.* ) Ein anderes Blatt aus dem späten 13. Jahrhundert benennt exakt die Unterschiede in 46
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Folgende Ämterbücher weisen Makulatur auf: Dirschkeim, Dollstädt, Fischhausen, Grünhof, Hohenstein, Insterburg, Liebemühl, Lochstädt, Morungen, Neuhausen, Ortelsburg, Osterode, Preußisch Eylau, Preußisch Holland, Rastenburg, Schaaken, Soldau, Tapiau, Taplacken und Waldau. Löffler. Fragmente II (wie Anm. 32); dies. Fragmente III (wie Anm. 32) Löffler. „Ein neues Fragment aus dem Missale des Deutschen Ordens von 1499“. Gutenberg-Jahrbuch (2008). S. 81-86. Im dritten Fragmentband tragen diese beiden Fragmente die Signaturen D 1 und D 2. Löffler. Fragmente I (wie Anm. 32). Nr. 47–50, mit weiterer Literatur; dies. Fragmente III (wie Anm. 32). Nr. 353-354. Löffler. Fragmente I ( wie Anm. 32). Nr. 117, mit weiterer Literatur. Die Abbildungen zu diesem Beitrag folgen nach S. 76 in einem gesonderten Tafelteil.
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den Heiligenfesten des Monats Dezember, die sich zwischen der Liturgie der Dominikaner, auf der diejenige des Deutschen Ordens ursprünglich fußt, und der daraus entwickelten Form der Deutschordensliturgie ergeben haben.51 In das Bistum Samland weisen gleich mehrere Fragmente. In zwei Brevieren aus dem zweiten Drittel bzw. dem Ende des 14. Jahrhunderts wird dessen Patron, Adalbert, mit einem Reimoffizium bzw. Messoffizium besonders hervorgehoben.52 Das Gleiche gilt für ein weiteres Brevier des späten 14. Jahrhunderts, das ebenfalls ein Reimoffizium zu Adalbert aufweist.53 Mit dem Fragment Nr. 18 existiert ein Doppelblatt aus einem Missale festivum des frühen 15. Jahrhunderts.54 Von diesem Handschriftentyp ist lediglich ein komplettes Exemplar in Stuttgart bekannt.55 Von einem Benediktionale episcopale des Deutschen Ordens aus dem zweiten Drittel des 14. Jahrhunderts fanden sich vier zusammengehörige Fragmente.56 Solch eine Quelle enthält die dem Bischof vorbehaltenen Handlungen, und dieser Typus existiert im Orden nur ein einziges Mal. Einzelne Exemplare finden sich mithin nur äußerst selten, so dass jetzt zumindest eine weitere, wenn auch nur bruchstückhafte Überlieferung greifbar geworden ist. Inhaltlich umfassen die Blätter Ausschnitte von Epiphanias bis Pfingsten. Für den Deutschen Orden ist auch das erhaltene Fragment eines Chorbreviers nicht unbedingt typisch57 (Abbildung 2 im Tafelteil), da die Kirchen und Konvente des Ordens meist nur wenige Priesterbrüder aufwiesen. Die Zuordnung ‚Chorbrevier‘ ergibt sich aus der Größe dieses Blattes mit 450 × 335 mm, da dieses Format üblicherweise mehreren Priesterbrüdern erlaubte, aus diesem Buch vorzutragen. Das aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts stammende Brevier enthält das Formular zur Jungfrau Margareta. Mit dem Fragment Nr. 315 schließlich ist ein Kollektar aus dem letzten Viertel des 14. Jahrhunderts nach51
52 53 54
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Löffler. Fragmente II (wie Anm. 32). Nr. 289; dazu auch dies. „Dominikaner oder Deutscher Orden? – Ein liturgisches Fragment dokumentiert die Adaptation des Ritus“. Preußenland 41 (2003). Nr. 2. S. 39-43. Löffler. Fragmente II (wie Anm. 32). Nr. 199 und Nr. 290. Löffler. Fragmente III (wie Anm. 32). Nr. 337. Löffler. „‚Wie sîe sûlen kûmen zu Gotes dîneste‘. Die liturgischen Fragmente im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz zu Berlin (HS 94 und 95)“. Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 34 (1997). S. 313-344, S. 326f.; dies. „Möglichkeiten und Grenzen bei Identifizierung und Auswertung liturgischer Fragmente am Beispiel der Königsberger Fragmente des Deutschen Ordens“. Musik in Mecklenburg. Beiträge eines Kolloquiums zur mecklenburgischen Musikgeschichte. Hg. Karl Heller/Hartmut Möller/ Andreas Waczkat. Hildesheim 2000. S. 52-68, S. 64f; dies. „Die liturgischen Fragmente aus den Beständen des Historischen Staatsarchivs Königsberg in Berlin. Neue Erkenntnisse zur Liturgiegeschichte des Deutschen Ordens“. Kirchengeschichtliche Probleme des Preussenlandes aus Mittelalter und Früher Neuzeit. Marburg 2001 (= Tagungsberichte des Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung. Bd. 16). S. 131-162. S. 148ff. WLB Stuttgart, HB XVII 15. Diese Handschrift ist beschrieben in: Die Handschriften der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Reihe II. Bd. 6 (Codices musici: HB XVII 1-28). Beschrieben von Clytus Gottwald. Wiesbaden 1965. S. 21f. Zu Nr. 28 Löffler. Fragmente I (wie Anm. 32). S. 40f., mit weiterer Literatur. Zu Nr. 323, 369 und 370 vgl. dies. Fragmente III (wie Anm. 32). Löffler. Fragmente II (wie Anm. 32). Nr. 277.
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weisbar, in dem hauptsächlich Orationen aus der Quadragesimalzeit wiedergegeben sind.58 Auch aus den liturgische Handschriften, die nicht dem Ritus des Deutschen Ordens folgen, sind einige von besonderem Interesse. So fand sich das Doppelblatt eines Missale der Brandenburger Kirche mit Ausschnitten aus dem Sanktorale des Monats Januar aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts.59 Das Formular des Bischofs Theodardus weist im Fragment Nr. 113 auf ein Antiphonar der Lütticher Kirche.60 Das Reimoffizium von Ludmilla in einem Brevier des 13./14. Jahrhunderts deutet auf Prag.61 Eines der ältesten Fragmente – aus dem 12./13. Jahrhundert – scheint aus der Diözese Bamberg zu stammen.62 Zu den ausgesprochen ungewöhnlichen Stücken zählen überdies vier Einzelblätter aus einem Graduale (Cantionale), das ins späte 15. Jahrhundert gehört und in Nordwest-Frankreich entstanden sein dürfte.63 Neben diesen Texten existieren natürlich auch Fragmente, die den Liturgien anderer Orden, z.B. denjenigen der Franziskaner oder Dominikaner, folgen.64 Neben den insgesamt 355 Fragmenten des Mess- bzw. Chordienstes lassen sich insgesamt 28 Sonderhandschriften identifizieren. Hierzu zählen z.B. zwei Fragmente des Liber Ordinarius des Deutschen Ordens, die das Spektrum erheblich erweitern.65 Die ältesten Fragmente stammen aus dem 12. Jahrhundert, können wegen ihres Alters somit nicht der Liturgie des Deutschen Ordens folgen, während dies für 14 der dem 13. Jahrhundert zugehörigen Fragmente, davon zwölf aus dem MessBereich, gilt. Sie erweitern den Fundus an sehr alten Texten ganz erheblich, denn bislang waren lediglich fünf Handschriften aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts bekannt. Diese werden heute in Stuttgart, Weissenburg, Bamberg, Darmstadt und Laon aufbewahrt.66 Von den Fragmenten aus dem 14. Jahrhundert sind 174 der Deutschordensliturgie verpflichtet, von denen wiederum 112 Texte der Messe aufweisen. Aus diesem Zeitraum sind bislang elf liturgische Ordenshandschriften bekannt gewesen. Dem 15. Jahrhundert schließlich sind 93 Fragmente des Deutschen Ordens zuzuweisen, die überwiegend (77) aus dem Mess-
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64 65 66
Löffler. Fragmente III (wie Anm. 32). Löffler. Fragmente I (wie Anm. 32). Nr. 32, mit weiterer Literatur. Ebd. Nr. 113. Das Fragment stammt aus dem 14./15. Jahrhundert. Ebd. Nr. 120. Löffler. Fragmente II (wie Anm. 32). Nr. 270. Löffler. Fragmente III (wie Anm. 32). Nr. 344-347. Dazu weiterhin dies./Ulrike Spyra. „Die Fragmente eines wiedergefundenen Graduales (Cantionale) aus den Beständen der Stadtbibliothek Königsberg“. Berichte und Forschungen 18 (2010). S. 9-26. So etwa Nr. 127, Nr. 170, Nr. 226 oder Nr. 331. Löffler. „Liber Ordinarius“ (wie Anm. 31); dies. Fragmente II (wie Anm. 32). Nr. 154 und Nr. 155. WLB Stuttgart, HB I 166; Pfarrarchiv Wissembourg, Hs. 1; SB Bamberg, Msc. Lit 41; ULB Darmstadt, Hs 872; Bibl. Mun. Laon, Hs 260.
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Bereich stammen. Aus diesem Jahrhundert sind ansonsten am meisten Liturgica überliefert, denn es handelt sich hierbei um mindestens 26 Codices. Interessant ist die Zusammensetzung des OT-Bestandes auch hinsichtlich der Neumierung. Von den 14 Fragmenten aus dem 13. Jahrhundert sind zwölf neumiert. Auch unter der Makulatur, die aus dem 14. und 15. Jahrhundert stammt, sind meist neumierte Fragmente zu finden. Hier liegen die Anteile bei 115 von 174 bzw. bei 57 von 93. (Mit dem Jahre 1499 ist dann auch die jüngste der Datierungen erreicht.) Die Art, in der die liturgischen Fragmente neumiert werden, folgt in Preußenland nur bedingt den Tendenzen, die sich bei den Balleien im Reich erkennen lassen. Dort verwendet der Deutsche Orden sehr früh – also schon im späten 13. Jahrhundert – Quadratnotation, was mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Ableitung seiner Liturgie von den Dominikanern zurückgeführt werden kann; in Preußen hingegen weisen die meisten Fragmente, die mehrheitlich dem 14. Jahrhundert angehören, Hufnagelnotation auf (Abbildung 3 im Tafelteil). In den wenigen Fragmenten des 13. Jahrhunderts wiederum tauchen deutsche oder St. Galler Neumen auf. In den liturgischen Ordenshandschriften des 15. Jahrhunderts finden dann Quadratnotationen Verwendung.
Die Handschriften in der Bibliothek des Priesterseminars in Pelplin Weitgehend unbeachtet waren bislang vier Handschriften geblieben, die der Liturgie des Deutschen Ordens folgen und heute in Pelplin aufbewahrt werden. Es handelt sich hierbei um ein Graduale und drei Antiphonaria. Das Graduale mit der heutigen Signatur L 35 wurde in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts geschrieben. Dieser Codex ist immerhin die älteste der heute noch bekannten liturgischen Ordenshandschriften aus Preußen. Der Festkanon des Graduale weist spezifische Merkmale auf. So findet sich jeweils ein Formular für das Fest von Dorothea als auch eines für die Translation der hl. Elisabeth. Das Translationsfest wird meist mit dem Festgrad eines duplex festum angegeben, und oftmals wird dann auch auf das Formular der Elisabeth im November verwiesen; dass die Translation hier Berücksichtigung findet, illustriert die besondere Verehrung, die Elisabeth in Preußen häufig entgegen gebracht wird.67 Das Formular für Dorothea hinwieder ist erst recht an die Region gebunden. Zudem lässt sich gerade an ihm die für die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts hohe Aktualität dieses 67
Anette Löffler. „Elisabeth in der Liturgie des Deutschen Ordens“. Elisabeth von Thüringen und die neue Frömmigkeit in Europa. Frankfurt 2008 (= Kulturgeschichtliche Beiträge zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit. Bd. 1). S. 133-149. Zu Elisabeth vgl. auch Arnold. „Georg und Elisabeth“ (wie Anm. 42). S. 69-78; ders. „Elisabeth und Georg als Pfarrpatrone im Deutschordensland Preußen. Zum Selbstverständnis des Deutschen Ordens“. Elisabeth, der Deutsche Orden und ihre Kirche. Festschrift zur 700jährigen Wiederkehr der Weihe der Elisabethkirche Marburg 1983. Marburg 1983 (= Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens. Bd. 18). S. 163-185, S. 166f.
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Codex ablesen, denn das Fest Dorotheas wurde erst in diesem Zeitraum in die Ordensliturgie aufgenommen. Die Integration soll unter Hochmeister Winrich von Kniprode (1351-1382) durchgeführt worden sein.68 In dessen Gesetzen findet sich allerdings kein entsprechender Hinweis. Überdies enthält das Graduale, was gemeinhin eher als ungewöhnlich gelten darf , ein Sequentiar. Dessen Bestand ist für die Präferenzen innerhalb des Deutschen Ordens durchaus charakteristisch und umfasst Texte zu den Festen von Andreas (Deus in tua virtute)69, Nikolaus (Sanctae dei pontifex)70, Stefan (Hanc concordi famulatu)71, Johannes apostolus ( Johannes Jesu Christo)72, Conversio Pauli (Dixit dominus ex Basan)73, Inventio sanctae crucis (Laudes crucis attollamus)74, Johannes ante portam latinam (Verbum dei, deo natum)75, Johannes baptista (Sancti baptistae)76, Petrus und Paulus (Petre summe Christi pastor)77, Divisio apostolorum (Caeli ennarrant)78, Maria Magdalena (Laus tibi Christe)79, Laurentius (Laurenti David magni )80, Decollatio Johannis (Psallite regi nostro)81, Nativitas BMV (Stirpe Maria regia)82, Michael (Summi regis archangele)83, Omnes sancti (Omnes sancti Seraphim)84, Martin (Sacerdotem Christi Martinum)85, Elisabeth (Gaude Sion)86 und Katharina (Sanctissima virginis)87. Aus der gleichen Zeit wie das Graduale stammt eines der drei Antiphonaria, das lediglich noch aus dem Band mit dem Hiemalis-Teil besteht und das mit der Signatur L 19 versehen ist. Verhältnismäßig untypisch ist, dass ein Antiphonar Reimoffizien enthält, in diesem konkreten Fall zu Dorothea88 und Gregor.89 Die anderen beiden Bände – sie tragen die Signaturen L 5 bzw. L 6 – bieten den Hiemalis- und den Aestivalis-Teil eines Antiphonars aus dem Anfang des 68 69
70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89
BGPAN Danzig, Ms. Mar. Q 10, 6 recto. SeminarB Pelplin, L 35, 148 recto. Analecta Hymnica (künftig: AH). Hg. Clemens Blume/Henry Bannister [u.a.]. 55 Bde. Reprint New York/London 1961. Hier Bd. 53. Leipzig 1911. Nr. 122. S. 210ff. SeminarB Pelplin, L 35, 148 verso. AH 55. Hg. Clemens Blume. Leipzig 1922. Nr. 267. S. 299f. SeminarB Pelplin, L 35, 127 recto. AH 53 (wie Anm. 69). Nr. 215. S. 345ff. SeminarB Pelplin, L 35, 127 verso. AH 53 (wie Anm. 69). Nr. 168. S. 276-279. SeminarB Pelplin, L 35, 129 recto. AH 50. Hg. Guido Maria Dreves. Leipzig 1907. Nr. 269. S. 348f. SeminarB Pelplin, L 35, 130 verso. AH 54. Hg. Clemens Blume/Henry Bannister. Leipzig 1915. Nr. 120. S. 188-192. SeminarB Pelplin, L 35, 131 verso. AH 55 (wie Anm. 70). Nr. 188. S. 211-214. SeminarB Pelplin, L 35, 139 recto. AH 53 (wie Anm. 69). Nr. 163. S. 267-270. SeminarB Pelplin, L 35, 139 verso. AH 53 (wie Anm. 69). Nr. 210. S. 336-339. SeminarB Pelplin, L 35, 140 recto. AH 50 (wie Anm. 73). Nr. 267. S. 344ff. SeminarB Pelplin, L 35, 141 verso. AH 50 (wie Anm. 73). Nr. 268. S. 346f. SeminarB Pelplin, L 35, 142 verso. AH 53 (wie Anm. 69). Nr. 173. S. 283ff. SeminarB Pelplin, L 35, 143 verso. AH 50 (wie Anm. 73). Nr. 270. S. 349ff. SeminarB Pelplin, L 35, 144 verso. AH 53 (wie Anm. 69). Nr. 95. S. 162ff. SeminarB Pelplin, L 35, 145 recto. AH 53 (wie Anm. 69). Nr. 192. S. 312ff. SeminarB Pelplin, L 35, 145 verso. AH 53 (wie Anm. 69). Nr. 112. S. 196ff. SeminarB Pelplin, L 35, 146 recto. AH 53 (wie Anm. 69). Nr. 181. S. 294-297. SeminarB Pelplin, L 35, 146 verso. AH 55 (wie Anm. 70). Nr. 120. S. 140ff. SeminarB Pelplin, L 35, 147 verso. AH 55 (wie Anm. 70). Nr. 203. S. 229ff. AH 5. Hg. Guido Maria Dreves. Leipzig 1889. Nr. 56. S. 163ff. Ebd. Nr. 64. S. 184ff.
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15. Jahrhunderts. Im zweiten Band findet sich ein Schreibereintrag, wonach beide Bände 1419 von Johann von Seeburg geschrieben wurden. (Die beiden Bände wurden späterhin dann von Johann Kopetz, dem Dekan der Culmer Kirche, gekauft.) Auch hier finden sich ausgesuchte Reimoffizien, und zwar die zu Gregor, der im Formular mit dem Festgrad duplex versehen ist90, zur Translatio Elisabeths91, zu Elisabeth sowie Katharina92. In L 5 wurde das Formular zu Dorothea nachgetragen und als Fest mit neun Lesungen ausgewiesen.93 In Bezug auf die Festformulare hingegen sind keine regionalspezifischen Besonderheiten zu vermerken.
Die Sequenzen in den liturgischen Handschriften des Deutschen Ordens Die Sequenzen in den liturgischen Handschriften des Deutschen Ordens erlauben es, spezifisch benutzte Liedformen innerhalb des Ordenszusammenhanges zu untersuchen. Henryk Piwonski hat bezüglich des Deutschen Ordens als erster die Bedeutung der Sequenzen erkannt und versucht, die Sequenzen in den Danziger Handschriften in eine plausible Ordnung zu bringen.94 Stellvertretend für die Sequenzen aus dem Temporale sollen im Folgenden diejenigen zum Osterfest genauer beleuchtet werden. In den liturgischen Handschriften des Deutschen Ordens werden zu Ostern insgesamt drei verschiedene Sequenzen aufgeführt, und zwar Victimae paschali, Laudes salvatori und Mane prima sabbati.95 Die beim Deutschen Orden gebräuchlichste Sequenz ist offensichtlich Victimae paschali. Kein Codex verzichtet darauf, obwohl sie im Liber Ordinarius nicht bindend vorgeschrieben ist.96 Dort wird vielmehr Laudes salvatori vorgegeben, eine Sequenz, die im Allgemeinen Notker Balbulus zugeschrieben wird.97 Aber lediglich in drei Danziger Handschriften (Ms. Mar. F 61, Ms. Mar. F 87 und Ms. Mar. F 403) findet diese Verwendung, während in diesen Codices gleichzeitig
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SeminarB Pelplin, L 5, 225 recto. AH 25. Hg. Clemens Blume. Leipzig 1897. Nr. 90. S. 253-258. AH 26. Hg. Guido Maria Dreves. Leipzig 1897. Nr. 69. S. 197-204. SeminarB Pelplin, L 5, 222 recto. Henryk Piwonski. „Indeks sekwencij w zabytkach liturgicznych Krzyzakow w Polsce [Index der Sequenzen in liturgischen Denkmälern der Kreuzritter in Polen]“. Archiwa, Biblioteki i Muzea Koscielne [Archive, Bibliotheken und kirchliche Museen] 51 (1985). S. 284-346. AH 54 (wie Anm. 74). Nr. 7. S. 12ff.; AH 53 (wie Anm. 69. Nr. 36. S. 65-68 und AH 54 (wie Anm. 74). Nr. 143. S. 214-218. Zu den Handschriften Stuttgart in der WLB Stuttgart siehe die Beschreibungen in: Die Handschriften der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Reihe II. Bd. 1/2: Codices ascetici: HB I 151-249. Beschrieben von Virgil Ernst Fiala und Hermann Hauke. Wiesbaden 1970. Hier HB I 158 (beschrieben S. 9ff.), 135 versob. Unter kunsthistorischen Aspekten siehe Die gotischen Handschriften der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Katalog der illuminierten Handschriften der Württembergischen Landesbibiothek Stuttgart. Bd. 3/2: 14. Jahrhundert. Beschrieben von Peter Burkhart. Stuttgart 2005. Nr. 55. StB Danzig, Ms. Mar. Q 72, 12 verso. WLB Stuttgart, HB I 158, 135 versob; StB Danzig, Ms. Mar. Q 72, 12 verso.
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freilich auch die Sequenz Victimae paschali begegnet. Diese beiden Sequenzen sind übrigens auch in einem Berliner Fragment98 vorhanden. Die dritte der genannten Sequenzen, Mane prima sabbati, besitzt insgesamt ein großes Verbreitungsgebiet, obwohl seitens des Liber Ordinarius auch auf sie nicht explicite verwiesen wird; sie kommt sehr häufig in Handschriften des Ordens vor, bevorzugt führen sie allerdings die Codices in den Balleien des Reichs sowie die Inkunabeln auf, während diese Tradition in Preußenland von erheblich geringerer Prägnanz ist. Zwar nennen mehrere Danziger Codices diese Sequenz, aber in Ms. Mar. F 332, Ms. Mar. F 400 und Ms. Mar. F 402 ist sie beispielsweise nicht vorhanden, und ebenso wenig taucht sie in den Pelpliner Codices auf, was den Schluss nahelegt, dass diese Handschriften mit großer Wahrscheinlichkeit bewusst der eigenen Landestradition folgten und außerdem bereits beim Abschreiben aus der Vorlage auf entsprechende einschlägige Quellen zurückgegriffen haben. Vergleichbare Befunde lassen sich auch bei den Sequenzen des Sanktorale erheben. Naturgemäß ist hier die Auswahl an Texten bzw. die Anzahl an Festen wesentlich höher als im Temporale. Die Sequenz für den 7. Oktober, das Fest der hl. Brigitte, ist in den Handschriften im Reich nicht vertreten, zumal das Fest im Deutschen Orden offiziell nie zum totum duplex erhoben wurde. Der Text Insistentes cantilenae gehört indessen zu den generell häufiger vorkommenden Brigitten-Sequenzen, wobei hier – bedingt durch den Zeitpunkt der Kanonisation – das Alter der Handschriften eine wichtige Rolle spielt.99 So findet diese Sequenz in Ms. Mar. F 61 lediglich im Anhang Erwähnung, während sie im Codex Ms. Mar. F 332, dem Exemplar des BrigittenAltars, selbstverständlicher Weise zum Grundbestand gehört.100 Uneinheitlich stellt sich die Situation bei den Sequenzen zu den Marienfesten, den Festen für die Patronin des Ordens, dar. Dem höchsten, der Purificatio BMV (2. Februar) zukommenden Festgrad innerhalb des Ordens entspricht mit Concentu parili gleichwohl nur eine einzige Sequenz.101 Besonders auffallend ist daran weiterhin, dass es sich um eine Sequenz aus dem Commune sanctorum handelt, wodurch sie sogar willkürlich austauschbar erscheint. Zum Fest der Gertrudis (17. März) taucht lediglich in der Danziger Handschrift Ms. Mar. F 59 (221 rectob) die Sequenz Ave Gertrudis auf; dieses Fest ist für den Deutschen Orden eher unüblich.102 Es erscheint mit einem kurzen Formular erst späterhin in den wieder stärker von der römischen Liturgie beeinflussten Inkunabeln sowie den Frühdrucken des Deutschen Ordens. Mit der Sequenz 98 99 100 101 102
Löffler. Fragmente II (wie Anm. 32). Nr. 222. S. 103f. AH 42. Hg. Clemens Blume. Leipzig 1903. Nr. 191. S. 179f. BGPAN Danzig, Ms. Mar. F 61, 218 verso; Ms. Mar. F 332, 154 recto. AH 53 (wie Anm. 69). Nr. 99. S. 171ff. AH 8. Hg. Guido Maria Dreves. Leipzig 1890. Nr. 179. S. 139.
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Hodiernae lux diei für das Fest des hl. Adalbert (23. April) tritt in dieser Handschrift eine weitere unikale Überlieferung hervor.103 Vor allem für das Bistum Samland, als dessen Patron Adalbert gefeiert wird, ist diese Sequenz von großer Bedeutung; immerhin verdrängt Adalbert in diesem Falle den hl. Georg auf den 24. April, obgleich Georg einer der drei Patrone des Deutschen Ordens war.104 Ausschließlich in dieser Handschrift findet letztlich auch die Sequenz Caeli ennarrant zu Philippus et Jacobus (1. Mai) Berücksichtigung.105 Hierbei handelt es sich um eine klassische Commune-Sequenz, die für viele Apostelfeste benutzt wurde. Einen weiteren Einzelfall gibt der Codex Ms. Mar. F 403 zu erkennen: Bei dem Fest Decem milium militum (21. Juni) bietet nur er die Sequenz Glorietur totus mundus, die im Deutschen Orden für dieses Fest ansonsten nicht überliefert worden ist.106 Das Fest der Dorothea (6. Februar) wurde – wie bereits erwähnt – erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts in die Ordensliturgie aufgenommen. Diesen Rang belegen zwei Sequenzen – Psallat chorus sowie Gens fidelis –, die ausschließlich jeweils in zwei preußischen Handschriften in Danzig vorkommen und derart den regionalen Bezug dieser Heiligen unterstreichen.107 Das Fest Visitatio BMV (2. Juli) wurde erst unter den Päpsten Urban VI. und Bonifatius IX. um 1389 verbindlich in den römischen Ritus aufgenommen.108 Vorgaben seitens des Liber Ordinarius gibt es hierzu nicht, da die entsprechenden Handschriften älter als die Einführung des Festes sind. Die musikalische Ausgestaltung wurde nachdrücklich von dem im Jahr 1400 verstorbenen Prager Erzbischof Johannes von Jenstein vorangetrieben. Ihm wird eine ganze Reihe von entsprechenden Sequenzen zugeschrieben, so etwa Decet huius cunctis horis, Ave verbi dei parens oder Illibata mente sana.109 Die Danziger Handschriften nehmen diese Sequenzen unterschiedlich auf; die meisten von ihnen enthalten Decet huius cunctis horis und Ave verbi dei parens110; Ms. Mar. F 61 beschränkt sich auf Ave verbi 103 AH 55 (wie Anm. 70). Nr. 44. S. 53f. 104 Vgl. dazu Sankt Georg und sein Bilderzyklus in Neuhaus/Böhmen (Jindrichuv Hradec): historische, kunsthistorische und theologische Beiträge. Hg. Ewald Volgger. Marburg 2002 (= Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens. Bd. 57); ebenso Arnold. „Georg und Elisabeth“ (wie Anm. 42). 105 AH 50 (wie Anm. 73). Nr. 267. S. 344ff. 106 AH 55 (wie Anm. 70). Nr. 39. S. 48f. 107 AH 55 (wie Anm. 70). Nr. 116. S. 135ff.; sowie Ulysses Chevalier. Repertorium Hymnologicum. 6 Bde. Löwen 1892-1921 (= Subsidia hagiographica. Bde. 1-6). Nr. 7217. Für die erste Sequenz siehe BGPAN Danzig, Ms. Mar. F 91, 173 verso sowie Ms. Mar. F 400, 226 verso; für die zweite Sequenz BGPAN Danzig, Ms. Mar. F. 80, 234 recto sowie Ms. Mar. F 402, 206 verso. Missale Dominorum Teutonicorum (künftig: Missale 1499), Nürnberg: Georg Stuchs, 1499, 224 recto; Missale Dominorum Teutonicorum (künftig: Missale 1519), Hagenau: Thomas Anselm, 1519, 233 recto. 108 Anette Löffler. „Die Liturgie des Deutschen Ordens in Preußen. Ritus und Heiligenverehrung am Beispiel des Festes Visitatio Mariae anhand der Königsberger Fragmentüberlieferung“. Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung. Nr. 47 (1998). Nr. 3. S. 371-382. 109 AH 48. Hg. Guido Maria Dreves. Leipzig 1905. Nr. 391. S. 423; AH 48. Nr. 392. S. 423f; AH 48. Nr. 390. S. 422f. 110 Decet huius cunctis horis in Ms. Mar. F 59, 156 verso; Ms. Mar. F 80, 177 recto; Ms. Mar. F 91, 177 recto; Ms. Mar. F 400, 170 recto; Ms. Mar. F 401, 153 recto und Ms. Mar. F 403, 192 verso. Ave verbi dei pa-
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dei parens, Ms. Mar. F 401 hingegen auf Decet huius cunctis horis.111 Illibata mente sana schließlich erscheint nur ein einziges Mal, und zwar in Ms. Mar. F 91, einer stark marianisch geprägten Handschrift, die dadurch als einzige der Danziger Quellen die Trias der Sequenzen zu Visitatio BMV zusammenführt. Eine große Bandbreite an Sequenzen gibt es zum Fest von Anna, der Mutter Mariens (26. Juli). Die am häufigsten verwendete Sequenz in Preußenland ist Sanctae Annae devotus, die sich dort in sechs Codices entdecken lässt.112 In Ms. Mar. F 332 wird überdies noch die Sequenz Nardus spirat wiedergegeben.113 Die weiteren im Deutschen Orden bekannten Sequenzen zu Anna – Caeli regem attollamus, Annae festa recolamus sowie Salve mater matris dei – tauchen demgegenüber nur in den Balleien des Reichs auf.114 Mit dem Märtyrer Laurentius (10. August) rückt ein Fest vor den Blick, das mit der zugehörigen Sequenz Laurenti David gleichermaßen im Reich wie auch in Preußenland belegt ist.115 Von den preußischen Quellen wird diese Sequenz lediglich in den beiden Handschriften Ms. Mar. F 80 und L 35 ausgespart. Für das Fest Spinea corona (4. Mai) scheint beim Deutschen Orden keine bestimmte Sequenz vorgesehen gewesen zu sein. Im Danziger Missale Ms. Mar. 403 sowie in der Handschrift Ms. Mar. F 332 ist die Sequenz O beata gaude grata überliefert; das Missale bietet darüber hinaus auch noch eine zweite, die den Titel Caeli terrae trägt.116 In den Balleien im Reich begegnet Caeli terrae nur einmal – im Bamberger Missale Msc. Lit. 41117; davon abgesehen, ist dieses Fest sonst nicht eigens mit einer Sequenz belegt. Im Kontext des Festes Assumptio BMV (15. August) wird ausschließlich die Sequenz Congaudent angelorum verwendet.118 Sie erscheint – mit nur drei Ausnahmen – in allen Codices sowohl im Reich als auch in Preußenland. Von jenen drei Quellen, die die Sequenz nicht berücksichtigen, gehören immerhin zwei, und zwar die Handschrift L 35 in Pelplin sowie Ms. Mar. F 87, in die Region an der unteren Weichsel.
111 112 113 114 115 116 117 118
rens in Ms. Mar. F 59, 156 recto; Ms. Mar. F 61, 157 recto; Ms. Mar. F 80, 176 verso; Ms. Mar. F 91, 176 verso; Ms. Mar. F 400, 168 verso und Ms. Mar. F 403, 191 verso. Die Handschriften Ms. Mar. F. 59, Ms. Mar. F 80, Ms. Mar. F 400 und Ms. Mar. F 403 weisen beide Sequenzen auf. AH 55 (wie Anm. 70). Nr. 64. S. 78f.; BGPAN Danzig, Ms. Mar. F 59, 158 versob; Ms. Mar. F 61, 212 verso; Ms. Mar. F 80, 236 recto; Ms. Mar. F 401, 253 recto; Ms. Mar. F 402, 208 recto; Ms. Mar. F 403, 196 verso; Missale 1499 (wie Anm. 107). 201 recto; Missale 1519 (wie Anm. 107), 208 verso. Vgl. AH 55 (wie Anm. 70). Nr. 63. S. 77f; BGPAN Danzig, Ms. Mar. F 332, 193 verso. Caeli regem attollamus: DOZA Wien, Hs 362, 256 verso. Annae festa recolamus: AH 55 (wie Anm. 70). Nr. 350. S. 393; SB Bamberg, Msc. Lit. 41, 309 rectob. Salve mater matris dei: AH 55 (wie Anm. 70). Nr. 65. S. 79ff.; Missale 1499 (wie Anm. 107), 201 recto; Missale 1519 (wie Anm. 107), 209 recto. AH 53 (wie Anm. 69). Nr. 173. S. 283ff. AH 54 (wie Anm. 74). Nr. 135. S. 206f; BGPAN Danzig, Ms. Mar. F 332, 254 verso; BGPAN Danzig, Ms. Mar. F 403, 179 verso. SB Bamberg, Msc. Lit. 41, 314 recto. AH 53 (wie Anm. 69). Nr. 104. S. 179-182.
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Zum Fest der Enthauptung Johannis des Täufers (29. August) findet sich in Danziger und Pelpliner Handschriften die Sequenz Psallite regi nostro.119 Dieses Fest wurde im Bistum Samland nicht eigens begangen, während es im Bistum Pomesanien eine sehr wichtige Rolle spielte. Des Weiteren erscheint die Sequenz in jungen Codices des Ordens, wie z.B. in Wien oder Zwolle, was Rückschlüsse auf den Zeitpunkt (um/vor 1415) zulässt, an dem die Aufnahme in den Festkalender vollzogen worden ist. Das Fest der hl. Barbara (4. Dezember) fand schon relativ früh Eingang in die Statuten des Deutschen Ordens, auch der Festgrad wird dort und im Liber Ordinarius erwähnt: Er besitzt den Rang eines semiduplex. Über die Sequenzen lässt sich der Liber Ordinarius hingegen nicht näher aus; und die in Stuttgart aufbewahrte Handschrift HB I 158 erwähnt lapidar sequentiam propriam cantent qui habent.120 Folglich ist die Tatsache nicht überraschend, dass vier Danziger Handschriften (Ms. Mar. F 59, Ms. Mar. F 80, Ms. Mar. F 332 und Ms. Mar. F 401) gar keine Barbara-Sequenz aufführen, während Ms. Mar. F 80 und Ms. Mar. F 402 Plausu chorus iocundetur wählen.121 Ms. Mar. F 400 und Ms. Mar. F 91 nehmen hingegen Ave martyr gloriosa bzw. Laus sit deo.122 Jeweils zwei Sequenzen, Laus sit deo sowie Laeto corde resonemus bzw. Ave martyr gloriosa, geben schließlich Ms. Mar. F 61 bzw. Ms. Mar. F 403 wieder.123 Für das Fest des Bischofs Nicolaus (6. Dezember), das hier noch als letztes betrachtet werden soll, führen nur die Danziger Handschriften Sequenzen an. In diesem speziellen Fall sind es sogar vier: Laude Christo debita, Congaudentes exultemus, Ad laudes salvatoris und Sancte dei pontifex124, welche sich in insgesamt acht Missalia in Danzig nachweisen lassen.125 Diese vier Sequenzen verteilen sich ansonsten relativ gleichmäßig auf die preußischen Codices, während im Reich lediglich Congaudentes exultemus und Laude Christo debita Verwendung gefunden haben. Der Streifzug durch das Temporale und Sanktorale dürfte hinreichend verdeutlicht haben, dass in der Ordensliturgie insgesamt ein breites Spektrum an Sequenzen entdeckt werden kann und dass neben ‚Standard-Sequenzen‘, die in den meisten Fällen herangezogen wurden, auch aufschlussreiches Sondergut überliefert ist: Diese Belege dokumentieren, dass sich – nicht anders als in den Balleien im Reich – auch in Preußenland regionale liturgische Eigenentwicklungen vollzogen haben. 119 120 121 122
AH 50 (wie Anm. 73). Nr. 270. S. 349ff. WLB Stuttgart. HB I 158. 119 rectob. AH 44. Hg. Clemens Blume. Leipzig 1904. Nr. 71. S. 72. Chevalier. Repertorium Hymnologicum (wie Anm. 107). Nr. 2202 und 38673. Zu Nr. 2202 BGPAN Danzig, Ms. Mar. F 400, 227 recto; zu Nr. 38673 Ms. Mar. F 91, 181 recto. 123 BGPAN Danzig, Ms. Mar. 61, 22 verso und 214 recto sowie Ms. Mar. F 403, 166 verso und 266 verso. 124 AH 55 (wie Anm. 70). Nr. 265. S. 296ff.; AH 54 (wie Anm. 74). Nr. 66. S. 95-98; AH 54 (wie Anm. 74). Nr. 88. S. 126ff.; AH 55 (wie Anm. 70). Nr. 267. S. 299f. 125 Ms. Mar. F 59, 213 rectoa; Ms. Mar. F 61, 214 verso; Ms. Mar. F 80, 233 verso; Ms. Mar. F 87, 227 verso; Ms. Mar. F 91, 181 verso; Ms. Mar. F 332, 260 recto; Ms. Mar. F 400, 225 recto und Ms. Mar. F 402, 211 recto.
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Die Reimoffizien in den liturgischen Handschriften des Deutschen Ordens Die liturgischen Handschriften des Deutschen Ordens enthalten insgesamt 36 verschiedene Reimoffizien; davon sind 13 auch in den preußischen Codices nachweisbar. Zu den Reimoffizien, die ausschließlich in den Balleien im Reich zu finden sind, gehören beispielsweise diejenigen zu Apollonia, Gregor, Spinea corona, Vincentius mar., Johannes der Täufer, Visitatio BMV, Paulinus, Bernhard von Clairvaux, Dionysius, Undecim milium virginum sowie Nikolaus. Aus den Reimoffizien, die in Preußenland belegbar sind, lässt sich eine erste Gruppe aus denjenigen bilden, die dort – im Unterschied zur reicheren Tradierung im Reich – eher sporadisch vertreten sind. Zum Fest von Anna wird in den Statuten des Hochmeisters Luther von Braunschweig in den 1330er Jahren ein verbindliches Reimoffizium (Quasi stella matutina126) vorgeschrieben. In den preußischen Handschriften findet sich hierfür lediglich ein einziger Beleg, und zwar in dem Brevier Ms. Mar. F 396127. Obschon dieses Offizium auch sonst nur in vergleichsweise wenigen Codices als liturgischer Bestandteil auftaucht, liegt der Schwerpunkt der Überlieferung eindeutig im Reich: Dort werden Anna sogar noch zwei weitere Reimoffizien, und zwar Anna sancta de qua nata128 sowie Gaudete Sion filiae, gewidmet.129 In ähnlicher Weise bleiben im Reich verbreitete Versoffizien auch anderer Feste in Preußenland auf wenige Spuren beschränkt. Das Offizium für die hl. Elisabeth Laetare Germania wird regelmäßig auch für deren Translationsfest gebraucht, erscheint in diesem Zusammenhang aber ausschließlich in der Pelpliner Handschrift L 6 als Nachtrag. Desgleichen taucht das Reimoffizium Fons hortorum, das zu dem jüngeren Marienfest Präsentatio BMV gehört, lediglich in zwei Danziger Brevieren auf 130; und auch die Reimoffizien zu Conceptio BMV sind vor allem im Reich überliefert: In Preußenland kommt überhaupt nur eines der drei im Orden verwendeten Offizien, Alma promat ecclesia, vor – und dies auch nur in einer einzigen Handschrift.131 Schließlich findet das vorgeschriebene Reimoffizium für Barbara (Gratulemur regi digna), das im Reich meist in jungen Handschriften und Drucken des 15. Jahrhunderts berücksichtigt wird132, lediglich in zwei preußischen Codices seinen Niederschlag.133 Dabei wird allerdings in der sehr kleinformatigen Handschrift Ms. Mar. O 17, die aus der zweiten Hälfte des
126 Die Statuten des Deutschen Ordens nach den ältesten Handschriften. Hg. Max Perlbach. Halle 1890. Nachdruck Hildesheim 1975. S. 148. Zum Text des Reimoffiziums siehe AH 25 (wie Anm. 91). Nr. 38. S. 72-75. 127 BGPAN Danzig, Ms. Mar. F 396, 211 versoa. 128 AH 25 (wie Anm. 91). Nr. 18. S. 52-57. 129 Ebd. Nr. 19. S. 58-61. 130 AH 24. Hg. Guido Maria Dreves. Leipzig 1896. Nr. 25. S. 76-80; BGPAN Danzig, Ms. Mar. F 218, 314 versoa und Ms. Mar. F 396, 257 versob. 131 AH 5 (wie Anm. 88). Nr. 14. S. 53-56; BGPAN Danzig, Ms. Mar. F 218, 203 versob. 132 AH 25 (wie Anm. 91). Nr. 42. S. 116-121. 133 BGPAN Danzig, Ms. Mar. O 17, 200 rectob; Ms. Mar. F 396, 278 rectoa.
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14. Jahrhunderts stammt134, gerade die älteste Überlieferung dieses Reimoffiziums innerhalb des Deutschen Ordens greifbar. Zu einer zweiten Gruppe können Reimoffizien zusammengefasst werden, die in Preußenland wie im Reich mit ähnlicher Intensität rezipiert worden sind. Für das angeblich von Winrich von Kniprode eingeführte Fest der Dorothea, das neun Lesungen umfasst, wird im Liber Ordinarius kein Reimoffizium erwähnt; wohl aber geht die Danziger Version der Correctio Notulae darauf ein.135 Sie schreibt das Reimoffizium Ave gemma virtuosa vor, lässt aber auch eine Alternative zu: si non habetur, cantatur de commune virginis et martyris.136 Dieses im Reich geläufige Reimoffizium wird auch von der Hälfte der preußischen Handschriften aufgenommen.137 Des Weiteren macht sich die Strahlkraft der Ordensheiligen Elisabeth, die mit Laetare Germania ein eigenes Reimoffizium erhält138, in fast allen liturgischen Handschriften des Deutschen Ordens bemerkbar. Auch in Preußen fand dieses Offizium, das (wie soeben erwähnt) in Bezug auf das Translationsfest dort nur rudimentär aufgenommen wurde, breite Resonanz, wenngleich es in den beiden Pelpliner Codices L 19 und L 5 nicht berücksichtigt worden ist. Zudem kann auch beim Reimoffizium O Margareta (zum Fest der Margarete) das Vorkommen im Reich und in Preußen als ausgeglichen bezeichnet werden139, denn knapp die Hälfte der Liturgica in Preußen enthalten dieses Offizium.140 Dies gilt überdies für die Verwendung des Reimoffiziums Gloriosa splendet zum Fest des Apostels Jacob141; und letztlich wird im Orden auch der Vorgabe des Liber Ordinarius, für das Fest der Jungfrau Katharina das Reimoffizium Ave gemma claritatis vorzusehen, allgemein Folge geleistet.142 Dieser Text erscheint somit immerhin in zwei Danziger Brevieren und einem Pelpliner Antiphonar.143 (Abbildung 4 im Tafelteil) Eine dritte, letzte Gruppe wird von Reimoffizien konstituiert, die eindeutig als preußisches Sondergut gelten dürfen. Hierunter zählt zum einen das StanislausOffizium Dies adest celebris 144; es erscheint selbst in Preußen nur in der Danziger Handschrift Ms. Mar. F 396145. Zum andern ist das im Danziger Brevier Ms. Mar. 134 135 136 137
138 139 140 141 142 143 144 145
Günther. Die Handschriften (wie Anm. 13). S. 586f. BGPAN Danzig, Ms. Mar. Q 10, 6 recto; Edition C 99 (D). AH 5 (wie Anm. 88). Nr. 56. S. 163ff. BGPAN Danzig, Ms. Mar. F 218, 225 versob; Ms. Mar. F 396, 279 versob; SeminarB Pelplin, L 19, 90 verso. AH 25 (wie Anm. 91). Nr. 90. S. 253-258; Anette Löffler. „Die Reimoffizien des Deutschen Ordens – liturgische Aspekte der Heiligenverehrung“. Mittelalterliche Literatur und Kultur im Deutschordensstaat in Preußen: Leben und Nachleben. Thorn 2008 (= Sacra bella Septentrionalia. Bd. 1). S. 107-124. AH 28. Hg. Guido Maria Dreves. Leipzig 1898. Nr. 3. S. 17-20. BGPAN Danzig, Ms. Mar. F 218, 259 recto; Ms. Mar. F 166, 257 rectoa; Ms. Mar. F 396, 280 versob. AH 26 (wie Anm. 92). Nr. 42. S. 124ff.; BGPAN Danzig, Ms. Mar. F 396, 281 rectoa. AH 26 (wie Anm. 92). Nr. 73. S. 212-215. BGPAN Danzig, Ms. Mar. O 17, 375 versoa; Ms. Mar. F 396, 261 versob; SeminarB Pelplin, L 6, 185 verso. AH 5 (wie Anm. 88). Nr. 81. S. 223-226. BGPAN Danzig, Ms. Mar. F 396, 280 versoa.
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F. 166 auftauchende Versoffizium Laetare Germania zum Fest der hl. Hedwig zu nennen.146 Zum dritten schließlich wird diese Gruppe durch das Offizium O Thoma dydime zum Fest des Apostels Thomas vervollständigt, bei dem ebenfalls der Schwerpunkt der Überlieferung in Preußenland liegt147: Von den vier liturgischen Handschriften, in die O Thoma dydime aufgenommen worden ist, stammen drei aus Preußen und gehören jetzt sogar allesamt zu den Beständen der Danziger Marienbibliothek.148 Bei derartigen vergleichenden Betrachtungen ergeben sich nicht zuletzt auch noch gewisse Profile einzelner preußischer Codices. In den Pelpliner Antiphonarien wird die Überlieferung der Reimoffizien eher kursorisch vorgenommen. Ganz anders verhält es sich demgegenüber mit den Danziger Brevieren, von denen Ms. Mar. F 306 den größten Fundus an Reimoffizien aufweist. Eine weitreichende liturgische Sondertradition scheint sich letztlich in Ms. Mar. F 166 widerzuspiegeln, weil insbesondere hier die singulär überlieferten Reimoffizien dokumentiert sind.
Liturgica in Ordenskirchen und Ordenskonventen Über die Bestände an Handschriften und Büchern – unter Einschluss der liturgischen – sind wir für das Ordensland Preußen relativ gut unterrichtet, denn die sogenannten Ämterbücher des Deutschen Ordens bieten eine recht zuverlässige Übersicht über die wirtschaftlichen Zustände in den Ordenshäusern: Im Großen Ämterbuch (GÄB) wurden die Ergebnisse der Visitationen festgehalten, die in einigermaßen regelmäßigen Abständen zwischen den Jahren 1383 und 1524 in preußischen Kirchen und Konventen durchgeführt worden sind.149 Eine Spezifizierung für den Sitz des Hochmeisters auf der Marienburg wurde im Marienburger Ämterbuch (MÄB) vorgenommen.150 Beide Ämterbücher befinden sich heute im GStA PK in Berlin.151 Im GÄB finden sich sehr viele Eintragungen, in denen liturgische Handschriften bzw. Bücher genannt werden. Eine inhaltliche Differenzierung, z.B. nach der Art der liturgischen Handlungen (wie Messdienst oder Chordienst), ist zwar nicht durchgeführt worden, gleichwohl lassen sich freilich die Missalia, Specialia und Gradualia eindeutig dem Messdienst zuordnen, während Antiphonare, Breviere und Legendare dem Bereich des Chordienstes zugehören. An Büchern, die sowohl für den Mess- als auch den Chordienst Verwendung finden können, 146 147 148 149 150 151
AH 26 (wie Anm. 92). Nr. 28. S. 79-83. AH 24 (wie Anm. 130). Nr. 81. S. 220f. BGPAN Danzig, Ms. Mar. O 17, 242 rectoa; Ms. Mar. F 218, 207 rectoa; Ms. Mar. F 166, 203 versob. Ziesemer. Das Große Ämterbuch (wie Anm. 9). Das Marienburger Ämterbuch. Hg. Walther Ziesemer. Danzig 1916. GStA PK Berlin, XX. HA., OF 130 und OF 129.
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werden Psalterien, Kollektare, Martyrologien und Sakramentare erwähnt. An Sonderformen werden schließlich Agenden, Responsorialien, Evangeliare, Lektionare, Epistolare, Matutinalia, Passionalia sowie Notulare (also Libri Ordinarii) aufgeführt. Aufschlussreicher Weise lassen die Notate im GÄB und MÄB auch die Art und Anzahl von Büchern in bestimmten Jahren erkennen: Im Amt Angerburg z.B. sind in den Jahren 1507 bis 1523 jeweils ein Missale und ein Graduale in der Kirche vorhanden.152 Bei anderen Kirchen können diese Angaben – teilweise sogar stark – variieren. So werden für die Kirche in Roggenhausen in den Jahren 1414 bis 1419 jeweils zwei Missalia sowie zwei Missalia specialia genannt.153 Im Jahre 1421 werden lediglich zwei Missalia aufgeführt.154 Im Zeitraum 1438 bis 1443 notiert der Visitator vier Missalia, ein Missale speciale sowie ein Graduale; 1448 hingegen fehlt das Graduale wieder.155 Letztlich bieten die Eintragungen in den Ämterbüchern auch eine Möglichkeit, die Ausstattung einzelner Kirchen und Konvente mit Liturgica zu erschließen. An den meisten Orten beschränken sich die Bestände auf bis zu fünf Handschriften bzw. Bücher. Dies gilt in der Region an der unteren Weichsel156 beispielsweise für die Kirchen in Bütow, Gollub, Neumark (Kapelle) und Putzig. Einige Häuser verfügen in bestimmten Jahren über eine größere, bis zu 15 Bände umfassende Sammlung; zu nennen wären hier Christburg, Graudenz, Rehden, Schönsee, Schwetz, Strasburg, Thorn (Ordenshaus) und Tuchel. Regelrechte ‚Bibliotheken‘ mit mehr als 20 liturgischen Büchern weisen bei den Visitationen schließlich nur sehr wenige Konvente auf. Dabei handelt es sich um die großen Kirchen und Ordenshäuser, die auch vom Personenstand wesentlich besser besetzt waren als diejenigen auf dem Lande. Solch eine üppige Ausstattung findet sich in der Weichselregion somit lediglich in der Kirche in Elbing sowie in den Ordenshäusern in Danzig und auf der Marienburg. ____________________ Zusammenfassung Neben den auch heute noch weithin sichtbaren Spuren seiner Bautätigkeit, die der Deutsche Orden in der ehemaligen Ballei Preußen – mit der Marienburg als zeitweiligem Sitz des Hochmeisters – entfaltet hat, bilden auch spätmittelalterliche liturgische Handschriften herausragende Monumente des Ordensstaates. In 152 Ziesemer. Das Große Ämterbuch (wie Anm. 9). S. 69-75. Vgl. dazu Anette Löffler. „Liturgische Handschriften des Deutschen Ordens im Ordensland Preußen und in der Ballei Böhmen. Ein Vergleich“. http://mittelalter.hypotheses.org/861 (18.04.2013). 153 Ziesemer. Das Große Ämterbuch (wie Anm. 9). S. 540-545. 154 Ebd. S. 548. 155 Ebd. S. 549-556. 156 Die folgenden Nennungen sind rein exemplarischen Charakters und beschränken sich zudem auf die im späteren ‚Westpreußen‘ liegenden Kirchen und Konvente des Deutschen Ordens.
Liturgische Musikhandschriften des Deutschen Ordens in und aus Preußenland
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der Marienbibliothek in Danzig (inzwischen in der Biblioteka Gdańska Polskiej Akademii Nauk) existiert eine erhebliche Anzahl solcher Codices. Überdies sind weitere umfangreiche Handschriften und Fragmente erhalten, die in dieser Region entstanden und in denen die Ordensliturgie verwandt wurde. Diese zusätzlichen wichtigen Belege finden sich einesteils in den Beständen des Historischen Staatsarchivs in Königsberg, die heute im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin aufbewahrt werden, andernteils gehören sie zur Bibliothek des Priesterseminars in Pelplin. Aus diesen Quellen lassen sich wichtige Rückschlüsse auf die jeweilige Auswahl und Verbreitung der Texte, auf das Alter und die Struktur der Codices wie auf spezifische historische Varianten der musikalischen Notation ziehen. Auf diesem Wege – sowie durch eine vertiefende Betrachtung der Sequenzen sowie der Reimoffizien – kann nicht nur die Stellung dieser Handschriften und Fragmente innerhalb der Liturgie des Deutschen Ordens umrissen werden, sondern es lassen sich auch detailliert für Preußenland regionale liturgische Eigenentwicklungen bestimmen. Andere historische Quellen (wie das Große Ämterbuch) geben schließlich Auskunft darüber, in welchem Umfang Liturgica in den Kirchen und Konventen des Deutschen Ordens verfügbar gewesen sind. Streszczenie Liturgiczne rękopisy muzyczne Zakonu Niemieckiego w Prusach oraz z Prus Obok wyraźnie dostrzegalnych również dzisiaj śladów działalności budowlanej, jaką Zakon Niemiecki prowadził w dawnym baliwacie Prus – z Malborkiem jako tymczasową siedzibą wielkiego mistrza, również późnośredniowieczne pisma liturgiczne stanowią znakomite monumenty państwa zakonnego. Biblioteka mariacka w Gdańsku (która przekształciła się w Biblioteka Gdańska Polskiej Akademii Nauk) dysponuje znaczną liczbą tego typu kodeksów. Ponadto zostały zachowane dalsze powstałe w tym regionie obszerne rękopisy i fragmenty odnoszące się do liturgii zakonnej. Te dodatkowe ważne dokumenty znajdują się częściowo w zasobach Państwowego Archiwum Historycznego w Królewcu, które są obecnie przechowywane w Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz w Berlinie, a inna ich część należy do biblioteki seminarium duchownego w Pelplinie. Na podstawie tych źródeł istnieje możliwość wyciągania wniosków odnośnie danej oferty i rozpowszechnienia tekstów, odnośnie wieku i struktury kodeksów jak również specyficznych wariantów historycznych notacji muzycznych. W ten sposób – oraz poprzez głęboką analizę sekwencji i oficjów rymów istnieje możliwość nie tylko zarysowania znaczenia tych rękopisów i ich fragmentów dla liturgii Zakonu Niemieckiego, lecz również szczegółowego określenia charakterystycznych dla regionu Prus tendencji rozwojowych w zakresie liturgii. Inne źródła historyczne (takie jak Große Ämterbuch) podają ostateczną informację o tym, w jakim zakresie liturgia była dostępna w kościołach i konwentach Zakonu Niemieckiego.
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Anette Löffler
Abstract Liturgical Musical Manucripts of the Teutonic Order in and from Prussia Along with the many relics of the Teutonic Order’s construction activities in the former bailiwick of Prussia, which are still largely visible today– with Malbork Castle as the temporary seat of the Grand Master – liturgical manuscripts from the High Middle Ages are also outstanding monuments of the Order state. A large number of such codices existed in St. Mary’s Library in Gdansk (now in the Biblioteka Gdańska Polskiej Akademii Nauk). In addition, comprehensive manuscripts and fragments originating from this region and related to Order liturgy have been preserved. This additional important documentation can be found in part in the collections of the Historic State Archive in Königsberg, which today are stored in the Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin, and otherwise belong to the seminary library in Pelplin. These sources allow important conclusions to be drawn regarding the respective selection and distribution of the texts, the age and structure of the codices, as well as specific historic variations in musical notation. In this way – as well as through in-depth observation of the sequences and ‘Reimoffizien’ – not only can the position in these manuscripts and fragments within the liturgy of the Teutonic Order be sketched, but own developments in regional liturgical developments in Prussia can also be determined in detail. Other historical sources (such as the Große Ämterbuch), finally provide information about the extent to which liturgy was available in Teutonic Order churches and convents.
Tafelteil
Abb. 1: Graduale-Fragment des Deutschen Ordens mit Ergänzungen aus dem Utrechter Raum (GStA Berlin PK, XX. HA, Hs 85, Nr. 117)
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ii
Abb. 2: Fragment eines Chorbreviers mit dem Reimoffizium zu Margareta (GStA Berlin PK, XX. HA, Hs 84, Nr. 277)
Anette Löffler
Tafelteil
iii
Abb. 3: Hufnagelnotation in einem Ordensbrevier, ehemals eingebunden in die Amtsrechnung von Soldau aus den Jahren 1621/22 (GStA Berlin PK, XX. HA, Hs 84, Nr. 228)
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Anette Löffler
Abb. 4: Brevier-Fragment des Deutschen Ordens mit einem Reimoffiziums zu Katharina, das nicht der Vorgabe des Liber Ordinarius entspricht (GStA Berlin PK, XX. HA, Hs 85, Nr. 188)
Ewa Laskowska-Kwiatkowska (Warszawa/Polen)
Ausgewählte musikalische Manuskripte und Drucke aus der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kulturregion des unteren Weichsellandes Die Städte Danzig (Gdańsk) und Elbing (Elbląg), aber auch Klöster wie beispielsweise dasjenige in Pelplin waren schon seit dem Mittelalter von herausragender Bedeutung für das Musikleben in dem Gebiet, das nach den polnischen Teilungen den Namen Westpreußen erhielt. Die Region war dabei als Grenzgebiet den Einflüssen verschiedener Kulturen ausgesetzt. Darum ist es bei alten musikalischen Manuskripten und Drucken, die häufig anonym verfasst bzw. veröffentlicht worden sind, schwer festzustellen, ob sie aus den polnisch oder deutsch geprägten Traditionen der ehemaligen Provinz Westpreußen stammen. Die wissenschaftliche Aufarbeitung westpreußischer Musikalia ist vor allem durch zwei Forschungsgruppen maßgeblich bereichert worden: Seit 1980 führt das interfakultative Institut für Musiktheorie der Akademia Muzyczna im. Stanisława Moniuszki w Gdańsku [Stanisław-Moniuszko-Musikakademie in Danzig] unter der Leitung von Dr. Tadeusz Maciejewski eine Inventarisation der musikalischen Denkmäler im heutigen Danziger Pommern (Pomorze Gdańskie) durch. Daneben beschäftigen sich auch die Musikwissenschaftlerinnen Danuta Szlagowska, Barbara Długońska, Danuta Popinigis und Jolanta Woźniak seit Jahren mit der regionalen Musikgeschichte und veröffentlichen die Ergebnisse ihrer Forschungen dank der Unterstützung des Verlages der Danziger Musikakademie. – Im vorliegenden Beitrag sollen einige ausgewählte, besonders eindrucksvolle Musikhandschriften aus der Region näher vorgestellt werden, die sich heute in Sammlungen in Pelplin und Gdańsk (Danzig), in der Staatsbibliothek zu Berlin und in Toruń (Thorn) sowie im (ehemals ostpreußischen) Kreis Olsztyn (Allenstein) befinden. Zu den einzigartigen musikalischen Denkmälern des späten Mittelalters zählen ein gegen Ende des 14. Jahrhunderts entstandenes Graduale1, das Gesänge, Ordinarien und mehrere Zyklen des Proprium Missae enthält, sowie ein Antiphonar aus dem 14. Jahrhundert2, die beide aus Pelplin stammen. Diese Bände, die sich heute in der Bibliothek des Priesterseminars von Pelplin befinden, sind eng mit dem dortigen Zisterzienserorden verbunden; der Orden besaß eine umfangreiche Bibliothek, die im 19. Jahrhundert von der Seminarbibliothek über1 2
Inventarnummer L. 2 in der Seminarbibliothek in Pelplin. Inventarnummer L. 19 in der Seminarbibliothek in Pelplin.
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Ewa Laskowska-Kwiatkowska
nommen wurde. Neben diesen beiden Denkmälern befinden sich hier etliche weitere Manuskripte, Altdrucke und Wiegendrucke, darunter ein illuminierter Pergament-Psalter, der Anfang des 16. Jahrhunderts entstanden ist, sowie weitere liturgisch-musikalische Werke wie z.B. sechs Pelpliner Tabulaturen aus den Jahren 1595 bis 1649.3 Die Danziger Bibliothek der Polska Akademia Nauk [Polnische Akademie der Wissenschaften] (PAN) kann sich rühmen, die größte Sammlung von Manuskripten und Altdrucken des Gebietes zu besitzen. Zu den Unikaten zählen Musikdrucke aus dem 16. und 17. Jahrhundert, insbesondere Drucke von Georg Knophius, sowie die fast 230 Manuskripte umfassenden Bestände einer im 14. Jahrhundert an der Danziger Marienkirche etablierten Sammlung, die von der Kirchenbehörde im Jahre 1912 der Bibliothek übergeben worden war, die zu dieser Zeit (und bis 1945) freilich noch Stadtbibliothek zu Danzig hieß. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden 68 Danziger Musikmanuskripte aus dieser Bibliothek nach Moskau transportiert und dann in den 50er Jahren wiederum der Staatsbibliothek zu Berlin übergeben, wo sie sich bis heute befinden. Das älteste dieser Manuskripte entstand um 1600, die übrigen stammen vermutlich aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert. Alle 68 Manuskripte zusammen enthalten 1.932 Werke von insgesamt 170 Komponisten.4 Eines der interessantesten Manuskripte aus den heutigen Beständen der Danziger Bibliothek ist ein Cantionale (Ms. Mar. 406) aus dem 15. Jahrhundert; die darin enthaltenen Kompositionen, die bislang nicht identifiziert werden konnten, sind vermutlich auf Komponisten aus der Region zurückzuführen.5 Das Pergamentmanuskript, Größe 55,5 × 35,5 cm, besteht aus 73 Blättern und ist in gotischer Notation auf vier Linien geschrieben. Die Bezeichnung Cantionale entspricht nicht gänzlich seinem Inhalt, denn es müsste wohl eher als ein Antiphonale bezeichnet werden: Es beinhaltet vor allem Abschriften aus dem Graduale, d.h. aus dem Messofficium (Psalmen zu Ehren der Heiligen Jungfrau Maria, Hymnen, Antiphonen und Responsorien).6 In den Kompositionen spiegeln sich sowohl Traditionen der Zisterzienser als auch der Franziskaner wider7; häufig lässt sich zudem die Praxis erkennen, den cantus planus nach den Regeln der Mensuralmusik zu interpretieren.8 Ungeklärt ist bis heute, warum sich in dem Cantionale anachronistische, im 15. Jahrhundert eigentlich nicht mehr verwendete musikalische 3
4 5 6 7 8
Vgl. hierzu die Edition Utwory organowe z tabulatury pelplińskiej [Organ works from the Pelplin Tabulature]. Hg. Jerzy Erdmann. Warschau 1981. Danuta Szlagowska/Barbara Długońska/Danuta Popinigis/Jolanta Woźniak. Thematic Catalogue of Music in Manuscript from the Former Stadtbibliothek Danzig. Kept at the Staatsbibliothek zu Berlin. Hg. Akademia Muzyczna w Gdańsku [Musikakademie in Gdańsk]. Gdańsk 2007. Tadeusz Maciejewski. „Kancjonał Gdański ze zbiorów Biblioteki PAN [Danziger Kirchengesangbuch aus den Sammlungen der Bibliothek PAN]“. Zeszyty Naukowe [Wissenschaftliche Hefte] XX. Gdańsk 1981. S. 17. Ebd. S. 6. Ebd. S. 23f. Ebd. S. 48.
Ausgewählte musikalische Manuskripte und Drucke
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Formen befinden, wie z.B. ein Alleluja mit zwei Strophen sowie – möglicherweise auch als Alternative hierzu – ein Introitus mit zwei Psalmen.9 Erst in späterer Zeit – wahrscheinlich im 16. Jahrhundert – wurden die Psalmen „Officium tempore epidemie vel pestilencie“, „Sacrificium pro pace“, „Officium pro victoria regi in infideles“ sowie „de Sancto Spiritu“ hinzugefügt10, wodurch belegt wird, dass die Handschrift über einen langen Zeitraum in Gebrauch war. Das Dokument war vermutlich Eigentum einer Kirche, einer Kapelle oder einer Marienbruderschaft, jedoch sind keine Informationen über seine genaue Bestimmung erhalten; desgleichen fehlen auch Hinweise auf eventuelle Stifter.11 Die Forschungsgruppe um Tadeusz Maciejewski vermutet, dass das Cantionale für die Marienkirche in Danzig gestiftet wurde.12 (Mit dem 159 Jahre andauernden Bau dieser Kirche wurde kraft eines Privilegs, das der städtischen Gemeinde Danzig durch Ludolf König von Wattzau, dem Hochmeister des Kreuzritterordens, eingeräumt worden war, 1343 begonnen.) Um 1445 zählten bereits 100 Manuskripte zu den Beständen der Kirchen-Bibliothek. Einige davon wurden von Danziger Illuminatoren verziert und mit wertvollen Einbänden versehen. Ein weiteres der in Danzig aufbewahrten Manuskripte, die 1912 in die Stadtbibliothek überführt worden waren, ist das für die Marienkirche in den Jahren 1513 bis 1523 von Wacław Grunau aus Thorn erstellte Antiphonale. Es bestand ursprünglich aus vier Bänden, von denen bis zur Gegenwart drei Bände13 erhalten geblieben sind.14 Für liturgische Zwecke wurde es bis ca. 1750 genutzt; danach wurden dann drei Bände der Kirchenbibliothek übergeben, während der vierte Band in der Kirche verblieb und dort im Jahre 1945 verloren gegangen ist. Das Manuskript ist auf Pergament geschrieben worden, die Musik wurde in einem vier (rote) Linien verwendenden Mensural-System notiert. Die Herkunft der Musiksammlungen aus Elbing, die heute in Toruń in der Biblioteka Uniwersytecka im. Mikołaja Kopernika w Toruniu [Bibliothek der NikolausKopernikus-Universität in Thorn] untergebracht sind, lässt sich eindeutig bestimmen: Sie stammen aus der bis 1945 existierenden Bibliothek der in diesem Jahre zerstörten Elbinger Marienkirche. Diese Bibliothek besaß im 16. und 17. Jahrhundert an die 200 Drucke und ein Dutzend Handschriften mit polyphonen Kompositionen, u.a. Musikdrucke aus deutschen, niederländischen und Königsberger Verlagshäusern (beispielsweise Werke von Orlando di Lasso, Johannes Eccard, Andreas Hakenberger, Jacob Handl, Luca Marenzio, Michael 9 10 11 12 13 14
Ebd. S. 18. Ebd. S. 6. Ebd. S. 6f. Ebd. S. 7. Ms. Mar. F. 408, Ms. Mar. F. 409, Ms. Mar. F. 410. Im 18. Jahrhundert wurden die vier Bände von Grunaus Antiphonale getrennt von andern Büchern aufbewahrt: Ihre Größe und ihr Gewicht erlaubten es nicht, die Bände in einem Regal zu platzieren. Zenobia Lidia Pszczółkowska. Rękopisy ze zbiorów Biblioteki Gdańskiej „d’Oriana. Awiza biblioteczne“ [Manuskripte aus der Sammlung der Danziger Bibliothek „d’Oriana. Awiza biblioteczne“]. Gdańsk 1996. S. 5-17.
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Ewa Laskowska-Kwiatkowska
Praetorius, Jacob Regnart und Samuel Scheidt). Besondere Aufmerksamkeit verdient ein Sammelband vom Anfang des 17. Jahrhunderts, der 19 Drucke vereint; 13 davon können als weltweite Unikate bezeichnet werden. Hier finden wir Werke von Komponisten aus Pommern wie Nicolaus Gotschovius (ein in Rostock und Stargard [Stargard Szczeciński] schaffender Komponist und Orgelspieler), von Philipp Dulichius (Kantor der Marienkirche in Stettin [Szczecin], Autor von ca. 250 Motetten), von Henning Faber (Kantor aus Rügenwalde [Darłowo]), aber auch von dem Berliner Komponisten Johann Crüger. Beachtung verdienen ebenfalls die unter den Elbinger Manuskripten erhaltenen Messen, deren Komponisten aus Königlich-Preußen stammen: die „Missa a 6“15 von Francisco de Rivulo16, die „Missa Dormiend ung jour a 5“17 von Johannes Wanning18 sowie die Messe „Super Angelus ad Pastores a 5“19 von Johannes Celscher Cepusius, Komponist und Kantor in Marienwerder (Kwidzyn) – um 1600 – und Thorn (1601-1604)20. Nach dem Untergang der Bibliothek hat zwar kein einziger Druck, kein einziges Manuskript aus der Sammlung unbeschadet Toruń erreicht, gleichwohl ist es für die Fachwelt aber von unschätzbarem Wert, dass wenigstens einige der jetzt dort aufbewahrten – versiegelten und mit der Aufschrift „St. Marienkirche Elbing“ versehenen – Musikalia gerettet werden konnten. Zu den bedeutenden musikalischen Dokumenten zählt nicht zuletzt eine Sammlung von Manuskripten aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die sich in der kleinen ermländischen Stadt Barczewo (Wartenburg) befindet. Die eingangs erwähnte Forschergruppe von Tadeusz Maciejewski entdeckte sie dort 1981 während ihrer Inventarisierungen auf dem Gebiet des heutigen Nordpolens in einer kleinen Dorfkirche.21 Von besonderer Bedeutung ist, dass diese Sammlung, die 87 Einzelstücke umfasst, Werke von westpreußischen Komponisten enthält, z.B. von dem in Danzig geborenen Urban Müller. Auch einige der anonymen Werke, die die Hälfte der Sammlung ausmachen, konnten westpreußischen Komponisten zugeordnet werden.22 Ein Teil der erhaltenen Manuskripte ist zudem mit Unterschriften von Musikern versehen, die damals vor allem als „Ludirektor“ (d.h. als Chorleiter oder Dirigent) wirkten und in dieser Funktion die Notenbestände
15 16 17 18 19 20
21 22
Manuskript Nr. 5. In den Jahren 1560 bis 1564 Kantor der Marienkirche in Danzig, Komponist zahlreicher Motetten. Manuskript Nr. 7. Kapellmeister der Marienkirche in Danzig in den Jahren 1569 bis 1603. Manuskript Nr. 12. Agnieszka Leszczyńska. „Późnorenesansowe fragmenty mszalne z dawnej biblioteki elbląskiego kościoła Mariackiego [Messfragmente der Spätrenaissance aus der ehemaligen Bibliothek der Elbinger Marienkirche]“. Źródła muzyczne. Krytyka – analiza – interpretacja [Musikquellen. Kritik – Analyse – Interpretation]. Hg. Ludwik Bielawski/Józefa Katarzyna Dadak-Kozicka. Warszawa 1999. S. 190-199. Diese Werke liegen heute unkatalogisiert in der Biblioteka archidiecezjii warmińskie [Bibliothek der Erzdiözese Ermland] in Olsztyn. Tadeusz Maciejewski. „Inwentarz rękopisów muzycznych kościoła farnego w Barczewie [Inventar der Musikmanuskripte der Pfarrkirche in Wartenburg]“. Zeszyty Naukowe [Wissenschaftliche Hefte] XXIV. Gdańsk 1985. S. 101.
Ausgewählte musikalische Manuskripte und Drucke
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nutzten. So findet sich dort z.B. die Unterschrift eines Joannis Grunau, der vermutlich Kantor und Orgelspieler in einer Kirche in Elbing war. Parallel zu den wissenschaftlichen Forschungen gibt es im Blick auf die Erschließung und Sicherung der Dokumente letztlich auch noch andere, hilfreiche Aktivitäten: Der Verlag der Pelpliner Diözese, Bernardinum, bemüht sich, alte Manuskripte und Drucke der Öffentlichkeit durch die Publikation von Faksimilia wieder zugänglich zu machen. Gegenwärtig soll beispielsweise die in Pelplin erhaltene Gutenberg-Bibel23 ediert werden – und es wäre aus der Perspektive der Musikwissenschaft nun höchst wünschenswert, dass späterhin in diesem Programm auch einmal das Pelpliner Graduale sowie die Pelpliner Tabulatur Berücksichtigung fänden. ____________________ Zusammenfassung Die Städte Danzig (Gdańsk) und Elbing (Elbląg), aber auch Klöster wie dasjenige in Pelplin waren schon seit dem Mittelalter von herausragender Bedeutung für das Musikleben in dem Gebiet, das nach den polnischen Teilungen den Namen Westpreußen erhielt. Sammlungen in Pelplin oder Gdańsk, in der Staatsbibliothek zu Berlin oder in Toruń (Thorn) sowie im (ehemals ostpreußischen) Kreis Olsztyn (Allenstein) bewahren etliche musikalische Manuskripte und Drucke auf, die aus dem Land an der unteren Weichsel stammen bzw. Werke von Komponisten aus dieser Region überliefern. Repräsentative Beispiele für diese reichen Quellenbestände bieten ein in Danzig liegendes Cantionale, die in Thorn archivierten Restbestände aus der Bibliothek der Elbinger Marienkirche oder Manuskripte, die erst 1981 in einem ermländischen Städtchen entdeckt worden sind. Streszczenie Wybrane muzyczne manuskrypty i druki z okresu późnośredniowiecznego i wczesnomodernistycznego regionu kulturowego dolnego Kraju Nadwiślańskiego Miasta jak Gdańsk i Elbląg, czy też klasztory, n.p. klasztor w Pelplinie, miały już w epoce Średniowiecza duże znaczenie w życiu muzycznym regionu, zwanego od rozbiorów Polski Prusami Zachodnimi. Zabytkowe zbiory w Pelplinie czy też w Gdańsku, w Bibliotece Narodowej w Berlinie, w Toruniu jak i w (dawnym wschodnio-pruskim) powiacie Olsztyńskim przechowują liczne rękopisy muzyczne i druki pochodzące z obszarów dolnej Wisły i przekazujące utwory tutejszych 23
Im Museum der Diözese Bischof Stanisław Wojciech Okoniewski, das an die Seminarbibliothek angeschlossen ist, befindet sich eine Gutenberg-Bibel – ein Exemplar aus einer Auflage von ca. 180 gedruckten Bibeln aus den Jahren 1452 bis 1455. Bis zum heutigen Tag sind nur 48 dieser Werke (36 auf Papier und 12 auf Pergament) erhalten geblieben. Das Exemplar aus Pelplin ist auf Papier gedruckt und besitzt einen Originaleinband aus dem 15. Jahrhundert.
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kompozytorów. Reprezentatywnymi przykładami tego bogactwa materiałów źródłowych są: znajdujący się w Gdańsku kancjonał, zarchiwizowane w Toruniu ostatnie zbiory biblioteki elbląskiego Kościoła Mariackiego oraz manuskrypty, które dopiero w 1981 roku odkryto w warmijskim miasteczku. Abstract Selected music prints and music manuscripts from the cultural region of the lower Vistula in the late Middle Ages and early modern period Gdansk (Danzig) and Elbląg (Elbing), but also abbeys like the one in Peplin were since the Middle Ages centres of musical life in the region, that was called West Prussia after the Polish Divisions. Collections in Pelplin, in Gdansk, in the Staatsbibliothek zu Berlin and in Thorun as well as in the (former East Prussian) district Olsztyn (Allenstein) conserve several music manuscripts and music prints, that stem from this region respectively that convey works of regional composers. A Cantionale in Gdansk, the archived remainders of a library of the Mary Church in Elbing, or manuscripts not discovered until 1981 in a small town in Warmia, offer representative examples of this rich stock of resources.
Detlef Haberland (Oldenburg/Deutschland)
Der Musikdruck in Danzig, Elbing und Thorn während der Frühen Neuzeit Musik ist ein kulturelles Phänomen, das auch in der Frühen Neuzeit einerseits – zumal dank den neuen Potentialen des Buch- und Notendrucks – die engen Grenzen einzelner Regionen zu sprengen vermag, andererseits freilich – eingebunden in individualbiographische wie auch übergreifende soziale und politische Kontexte – immer auch eine starke regionale Einbettung aufweist. Es gibt, um das Erstere zu illustrieren, zahlreiche Beispiele für die Wanderung von Melodien durch ganz Europa hindurch, wobei reizvolle Varianten auftreten: alte Melodien, die mit neuen Texten versehen werden, oder auch verschiedenartig abgewandelte Melodien auf alte Texte.1 Der regionale Aspekt wird hingegen vor allem in lokal angefertigten und verbreiteten handschriftlichen oder gedruckten musikalischen Kompositionen greifbar (wobei auch diese natürlich späterhin oft überregional kursieren konnten) wie auch in städtischen oder höfischen Veranstaltungen, bei denen auf je verschiedene Weise Musik eine entscheidende Rolle spielte. Die Jubiläen zur Erfindung des Buchdrucks in den Jahren 1640 und 1740 z.B. haben zu einer Reihe von lokalen und regionalen Feierlichkeiten geführt, in deren Rahmen private und öffentliche Konzerte, Gottesdienste oder auch Umzüge und ein Turmblasen belegt sind.2 Des Weiteren sind vor allem die musikalischen bzw. musiktheoretischen Schriften für Praxis und Unterricht mit dem musikalischen Leben eines Ortes und einer Region eng verbunden. Beispielhaft könnten schließlich auch die Sangesfreuden von Bauern und Arbeitern oder auch des gebildeten Bürgertums herangezogen werden: Die Lieder, die während der Arbeit, im geselligen Kreise oder bei Festlichkeiten gesungen wurden, sind zumindest zum Teil sehr wohl regional unterscheidbar. Komplex ist in dieser Hinsicht auch das Feld der kirchlichen Gesangbücher. Gerade hier haben sich ebenfalls oft regionale und lokale Besonderheiten herausgebildet (die zum Teil bis heute Bestand haben), wenn aber etwa Auswanderer Gesangbücher aus ihrer alten Heimat auch in der neuen noch lange Zeit in Be1
2
Vgl. dazu etwa Hans Beelen. „Von ‚Schönster Herr Jesu‘ bis ‚Eeuwen geleden‘. Die Pilgerfahrt einer schlesischen Melodie durch Dänemark und Schweden in die Niederlande“. Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 15 (2007 ). S. 11-25. Vgl. hierzu Detlef Haberland. „Performanz und Memoria – Buchjubiläen im Schlesien der Frühen Neuzeit“. Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 15 (2007 ). S. 67-87.
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Detlef Haberland
nutzung gehabt hatten, konnten sich die beiden Tendenzen einer eingegrenzten sowie einer weit ausgreifenden Verbreitung überschneiden und sich in aufschlussreichen Transformationen der Repertoires niederschlagen.3 Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden der frühneuzeitliche Musikdruck in der Region an der unteren Weichsel genauer vorgestellt werden. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, dass West- und Ostpreußen politisch, konfessionell und kulturell in vielfältiger Weise miteinander verbunden gewesen sind: Hält man sich z.B. vor Augen, dass in Königsberg für Danzig und für das Bistum Pomesanien gedruckt wurde, dass in Danzig Nachdrucke von Veröffentlichungen aus Königsberg erschienen und schließlich noch Leipzig und Augsburg als wichtige Druckorte ins Spiel kommen, so erweckt die Kulturlandschaft Preußen den Eindruck großer Durchlässigkeit und mannigfacher Verflechtungen, der es methodisch als problematisch erscheinen lassen könnte, kleinere politische bzw. geographische Einheiten herauszuschneiden.4 Gleichwohl kann es durchaus sinnvoll sein, den Schwerpunkt der Darstellung auf jenen Teilbereich zu legen, der zu dieser Zeit Preußen Königlichen Anteils hieß, um – wenigstens im Überblick – einmal die beharrenden und die mobilen Kräfte dieser Region sowie die sie bestimmenden konfessionellen und kompositorisch-ästhetischen Rahmenbedingungen zu skizzieren; denn schon die im Répertoire International des Sources Musicales (RISM) nachgewiesenen (zwischen 1527 und 1760 veröffentlichten) Musikdrucke aus Danzig, Elbing und Thorn gewähren für sich betrachtet interessante Aufschlüsse über die spezifischen politischen, sozialen und kirchlichen Verhältnisse5 – wobei allerdings, um das Bild in den richtigen Dimensionen zu belassen, noch hinzuzufügen ist, dass der Musikdruck bei weitem nicht das Schwergewicht der Drucktätigkeit in den Offizinen ausmachte.
3
4 5
Vgl. hierzu Heike Wennemuth. „Deutschsprachige Gesangbücher im östlichen Europa in der Frühen Neuzeit“. Buch- und Wissenstransfer in Ostmittel- und Südosteuropa in der Frühen Neuzeit. Beiträge der Tagung an der Universität Szeged vom 25.-28. April 2006. Hg. Detlef Haberland, unter Mitarbeit von Tünde Katona. München 2007 (= Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa. Bd. 34). S. 103-133. – Wie weit die Forschung – trotz aller Desiderate – hinsichtlich der Erforschung der Musiklandschaften Preußens ist, wird deutlich an der Dissertation von Gertrud Bense. ‚Giedojam taw – Wir singen dir‘. Zur Textgeschichte der preußisch-litauischen Gesangbücher im 18. Jahrhundert. Mit besonderer Berücksichtigung der Liedersammlung von Fabian Ulrich Glaser (1688-1747) und ihrem Umfeld. Frankfurt a. M., Berlin, Bern [u.a.] 2001 (= Hallesche Sprach- und Textforschung. Bd. 8). Vgl. zu dem Konzept einer speziellen Interregionalität Musikalische Beziehungen zwischen Mitteldeutschland und Danzig im 18. Jahrhundert. Konferenzbericht Gdańsk 20.-22. November 2000. Hg. Danuta Popinigis/Klaus-Peter Koch. Sinzig 2002 (= Edition IME. Reihe I: Schriften. Bd. 9). Répertoire International des Sources Musicales (RISM). Publié par la Société Internationale de Musicologie et l’Association Internationale des bibliothèques Musicales. Bd. I. Teil 1: Das deutsche Kirchenlied. DKL. Kritische Gesamtausgabe der Melodien. Verzeichnis der Drucke. Hg. Konrad Ameln/Markus Jenny/Walther Lipphardt. Kassel, Basel, Tours [u.a.] 1975; Drucke aus Danzig: 162502, 162903, 163404, 163501, 163507, 163508, 163614, 163705, 163807, 163808, 163813, 163909, 163917, 163920, 164107, 164418, 164419, 164420, 164421, 164803, 164916, 165601, 171306, 174402; Drucke aus Elbing: 164216, 166808, 167617, 168010, 169307; Druck aus Augsburg für Preußen: 154013; Druck aus Leipzig: 176006. Im Folgenden zit. als RISM.
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Der bedeutendste Druckort der Region war ohne Zweifel Danzig.6 Dort bildet der Lobwassersche Psalter von 1625 einen der besonders prominenten Musikdrucke, die von dem bekannten Drucker Andreas Hünefeld (1581-1666) betreut wurden. Der Autor dieser Publikation, der Königsberger Professor Dr. iur. Ambrosius Lobwasser (1515-1585), gilt als eine Figur, die für die deutsche Gesangbuchtradition von erheblicher Bedeutung ist, weil ihm die Verdeutschung des Hugenottenpsalters von Clément Marot und Théodore de Bèze zu verdanken ist. Die erste Auflage des Psalters erschien 1573 in Leipzig, wohin Lobwasser aufgrund seiner Studienzeit noch gute Beziehungen hatte.7 Erst die in Heidelberg, einem Zentrum des deutschen Calvinismus, gedruckten Auflagen von 1574, 1577 und 1578 ebneten dem Buch aber den Weg zu seinem Erfolg, der bis zum Ende des 18. Jahrhunderts anhielt.8 Auf den ersten Blick mag es vielleicht verwundern, dass Lobwassers Übertragung nicht zuerst in Königsberg, also an seinem Wirkungsort, gedruckt wurde, sondern ein Druck des Psalters innerhalb des Herzogtums Preußen erst zu späterer Zeit erfolgte. Dies hatte vor allem politische Gründe: Im Jahre 1568 starb Herzog Albrecht d. Ä. (reg. 1525-1568), der eher liberale Machthaber, und sein Nachfolger, sein Sohn Albrecht II. Friedrich (reg. von 1568 bis zum Einsetzen eines Administrators im Jahre 1577), schlug einen streng lutherischen (und nicht reformierten) Kurs ein, was eine Veröffentlichung von Lobwassers Psalter zunächst unmöglich machte. Erst im Jahre 1751, über 150 Jahre nach dem Tode des Verfassers, als das Luthertum seine frühere Dominanz eingebüßt hatte (und überdies sogar schon Kritik an Lobwassers Übersetzung laut geworden war), erschien dann auch in Königsberg eine um zahlreiche Zusätze erweiterte Ausgabe: Neue Sammlung/von Davids geistreichen/Psalmen/Nach französischer Melodey in deutsche Reimen gebracht/durch/D. Ambrosium Lobwasser/wie auch von allerley erbaulichen Liedern/welche besonders in denen Evangelisch-Reformirten/Kirchen in Preußen gesungen werden./Nebst dem Churpfälzischen Catechismo,/denen öffentlichen Kirchen-, wie auch Morgen- und Abend-, Communion- und andern/bey Kranken und Sterbenden nöthigen/Gebethen. 6
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Vgl. Christoph Reske. Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes von Josef Benzing. Wiesbaden 2007 (= Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen. Bd. 51). S. 145-149; G. Lohse. „Danzig“. Lexikon des gesamten Buchwesens. LGB². Zweite, völlig neubearbeitet Auf lage. Hg. Severin Corsten/Günther Pflug/Friedrich Adolf SchmidtKünsemüller. Bd. II. Stuttgart 1989. S. 219f. Eckhard Grunewald. „Vorbemerkung“. Ambrosius Lobwasser. Der Psalter deß Königlichen Propheten Dauids. Hg. u. komm. v. Eckhard Grunewald/Henning P. Jürgens in Zusammenarbeit mit Dieter Gutknecht u. Lars Kessner. 2 Bde. Hildesheim, Zürich, New York 2004. Hier Bd. 2. S. 3. Lars Kessner. „Ambrosius Lobwasser. Humanist, Dichter, Lutheraner“. Der Genfer Psalter und seine Rezeption in Deutschland, der Schweiz und in den Niederlanden. 16.-18. Jahrhundert. Hg. Eckhard Grunewald/Henning P. Jürgens/Jan R. Luth. Tübingen 2004 (= Frühe Neuzeit. Bd. 97 ). S. 222; ders. „Die Rezeption des Lobwasser-Psalters im 16. und 17. Jahrhundert“. Lobwasser. Der Psalter (wie Anm. 7 ). Bd. 2. S. 56-71, S. 58. Vgl. auch Eckhard Grunewald. „Ambrosius Lobwasser, der Genfer Psalter und die deutsche Verskunst des 16. Jahrhunderts“. Ostpreußen – Westpreußen – Danzig. Eine historische Literaturlandschaft. Hg. Jens Stüben. München 2007 (= Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa. Bd. 30). S. 175-187.
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An diesem Beispiel zeigt sich bereits der enge Zusammenhang, der zwischen konfessionellen Schranken und einem Druckort in der Frühen Neuzeit bestehen konnte: In Danzig ließ sich realisieren, was in Königsberg noch für lange Zeit nicht möglich war. Die Offizin von Andreas Hünefeld9 war zwar nicht die erste, wohl aber eine der wichtigsten im Danzig des 17. Jahrhunderts.10 Mit etwa 200 Drucken ist ihre Tätigkeit auch im überregionalen Maßstab als bedeutend einzustufen.11 Bei seinen Notendrucken verwandte Hünefeld neben älteren Verfahren auch die Solmisationsbuchstaben nach dem System Pierre Davantès’.12 Damit zeigte er, dass er aktuelle Tendenzen und Neuerungen zügig umzusetzen und für seine Leser fruchtbar zu machen verstand. Darüber hinaus war Hünefeld imstande, seine Drucke dem Abnehmerkreis entsprechend zu gestalten. Waren die gängigen Psalter- und Gesangbuchausgaben zwischen Vigesimoquart (24°) und Oktav (8°) groß (beides weitgehend gängige Formate in der Frühen Neuzeit), so konnte Hünefeld durchaus auch prächtigere Werke herstellen wie z.B. Andreas Hakenbergers Newe deutsche Gesänge mit 5. Stimmen und Eins mit Achten nach Art der Welschen Madrigalen componirt, die 1610 erschienen. Hakenberger (um 1574-1627), katholischer Kapellmeister der protestantischen Danziger Marienkirche13, hatte eine bedeutende Stellung in der Stadt inne, was einen aufwendigeren Druck rechtfertigte.14 Auch die Pars altera. Sacrorum modulorum ternarium numerum in se continentium […] tribus vocibus concinnatorum des Gregor Schnitzke (Schnitzkius; um 1575-[?]) aus dem Jahre 1618 9 10
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Zu ihm vgl. Kessner. „Ambrosius Lobwasser“ (wie Anm. 8). S. 217-288. Zu den Musikdrucken Hünefelds vgl. den überblicksartigen Beitrag von Walentyna WęgrzynKlisowska. „Musikalische Drucke von Andreas Hünefeld aus Danzig“. Musica Baltica. Danzig und die Musikkultur Europas. Gdańsk and European Musical Culture. Red. Janusz Krassowski/Teresa Błaszkiewicz/Helena Nowakowska [u.a.]. Gdańsk 2000. S. 163-170. Für eine ausführliche Darstellung zu Hünefeld vgl. auch Alodia Kawecka-Gryczowa/Krystyna Korotajowa. Drukarze dawnej Polski od XV do XVIII wieku. T. 4: Pomorze. Wrocław, Warszawa, Kraków 1962 (= Książka w dawnej kulturze Polskiej. Bd. X). S. 156-170. Vgl. Reske. Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts (wie Anm. 6). S. 146f. (mit weiterer Literatur); Alfred G. Świerk. „Hünefeld, Andreas“. LGB² (wie Anm. 6). Bd. III. Stuttgart 1991. S. 546 (mit weiterer Literatur). Zu Pierre Davantès (um 1525-1561), einem französischen Universalgelehrten, vgl. Węgrzyn-Klisowska. „Musikalische Drucke von Andreas Hünefeld“ (wie Anm. 10). S. 167. Zu dessen philologischen und didaktischen Arbeiten vgl. Sabine Vogel. Kulturtransfer in der frühen Neuzeit. Die Vorworte der Lyoner Drucke des 16. Jahrhunderts. Tübingen 1999 (= Spätmittelalter und Reformation. N.R. Bd. 12). S. 89f.; Grunewald. „Ambrosius Lobwasser“ (wie Anm. 8). S. 177. Zu Hakenberger und der Konfessionsfrage vgl. Danuta Popinigis. „In der Danziger Marienkirche – Andreas Hakenberger (1574-1627 ) und seine Motetten“. Musikgeschichte zwischen Ost- und Westeuropa. Kirchenmusik – geistliche Musik – religiöse Musik. Bericht der Konferenz Chemnitz 28.-30. Oktober 1999. Hg. Helmut Loos/Klaus-Peter Koch. Sinzig 2002 (= Edition IME. Reihe I: Schriften. Bd. 7 ). S. 455-463. Zutreffend ist wohl das zusammenfassende Urteil Popinigis’: „Im Zusammenhang mit renaissancetypischen Kulturerscheinungen muß allerdings darauf hingewiesen werden, dass die Drucker der Republik kaum Interesse an vokaler Polyphonie von höherem künstlerischem Wert (Messen, Motetten) zeigten. So erweist sich die Veröffentlichung von Andreas Hakenbergers vokalen Madrigalen als einmaliger Glücksfall für Danzig; sie stellt im Grunde die einzige Sammlung von Madrigalen dar, die im weiteren polnischen Raum herausgegeben wurde.“ Danuta Popinigis. „Die musikalische Renaissance in Danzig – Richtungen und Einflüsse“. Kulturgeschichte Preußens königlich polnischen Anteils in der Frühen Neuzeit. Hg. Sabine Beckmann/Klaus Garber. Tübingen 2005 (= Frühe Neuzeit. Bd. 103). S. 739-747, S. 740f.
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sind aufwendiger gedruckt. Zwar hatte Schnitzke nicht den Rang eines Hakenberger (zumal er bei der Bewerbung auf den Posten des Kapellmeisters der Marienkirche diesem unterlegen war), aber er dürfte keineswegs unbedeutend gewesen sein, gehört er doch zu den ersten Komponisten des protestantischen Raumes, die eine weltliche italienische Vorlage bearbeitet haben.15 Die dominante Stellung Hünefelds in Danzig konnte anscheinend kaum gebrochen werden, und so bleiben, soweit es den Musikdruck betrifft, nach der Übersicht im RISM für den anderen wichtigen Danziger Drucker dieser Zeit, für Georg Rhete d. J.16, wohl ‚nur‘ Gelegenheitsdrucke: 1636 ein „Hochzeit-Lied“ anlässlich der Vermählung von Eberhard von Dühren und Regina Michel17; 1638 ist es ein weiteres „Hochzeit-Lied“ für Michael Reimann und Dorothea Thoma und 1639 ein ebensolches für Ambrosius Scaloe und Elisabeth Decimator aus Löbenicht in Königsberg. Alle drei Lieder sind von dem bedeutenden preußischen Komponisten und „Churfürstl. Brandeburg. CapellMeistern in Preussen“ Johann Stobäus (1580-1646) vertont worden.18 Wenigstens genannt werden soll noch eine Psalmen-Ausgabe mit Texten und Melodien von Martin Spielenberger aus der Slowakei19: Sie erschien 1641 bei Rhete unter dem Titel Geistlicher Psalmensafft auß dem Psalter Davids außgezogen. Besonders hinzuweisen ist auf den nicht zu unterschätzenden polnischsprachigen Musikdruck. Polnisch war im 16. und 17. Jahrhundert eine Lingua Franca in Preußen und „noch fast für jeden Bewohner Danzigs unentbehrlich, daher empfiehlt sie auch Maukisch [der Rektor des Gymnasiums in Danzig, Anm. d. Verf.] in seinen Anweisungen (1655) zur guten Kindererziehung auf das drin15
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Andreas Waczkat. „Gregor Schnitzkius“. Musik in Geschichte und Gegenwart. Personenteil. Bd. 14. Hg. Ludwig Finscher. Kassel, Basel, London 22005. Sp. 1542f. – Auf ihn weist auch hin: WęgrzynKlisowska. „Musikalische Drucke von Andreas Hünefeld“ (wie Anm. 10). S. 167. Reske. Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts (wie Anm. 6). S. 148 (mit weiterer Literatur); C. Alschner. „Rhete“ [Buchdruckerfamilie]. LGB² (wie Anm. 6). Bd. VI. Stuttgart 2003. S. 297 (mit weiterer Literatur). – Zu ihm auch Kawecka-Gryczowa/Korotajowa. Drukarze dawnej Polski (wie Anm. 10). S. 356-363. Zu Stobäus’ Drucken in Danzig und Elbing vgl. Hugo Rasmus. Vom Volksliedgut in Westpreußen. Eine historische Übersicht. Münster 1997 (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte Westpreußens. Bd. 29). S. 74. Simon Dach steuerte zu dieser Hochzeit ebenfalls ein längeres Gedicht bei. Vgl. Simon Dach. Gedichte. Bd. 1. Halle/S. 1936. S. 34-36. So auf den Titelblättern im RISM. Von ihm stammen auch: Geistliche Lieder auf gewöhnliche Preußische Kirchenmelodien. Danzig 1634; Erster und Ander Theil der Preußischen Fest-Lieder, 5-8st. [nicht vollendet]. Elbing 1642 und Königsberg 1644. – Zu diesem bedeutendsten Königsberger Musiker vgl. Georg Küsel. Beiträge zur Musikgeschichte der Stadt Königsberg i. Pr. Phil. Diss. Halle/S. 1915. S. 25. – MüllerBlattau verweist (ästhetischen und geisteswissenschaftlichen Orientierungen seiner Zeit folgend) auf die Bedeutung der musikalischen Gelegenheitsdrucke: „Man täte unrecht daran, gerade diese Werke, von denen unsere Bibliotheken eine gewaltige Anzahl besitzen, gering zu schätzen. Im weiteren Sinne ist alle Musik des 17. Jahrhunderts Musik zu einer bestimmten ‚Gelegenheit‘, selbst die höchste, die Kirchenmusik, ist nicht davon ausgeschlossen.“ Josef Müller-Blattau. Geschichte der Musik in Ostund Westpreußen von der Ordenszeit bis zur Gegenwart. Königsberg 1937. S. 48. Martin Spielenberger war Sohn des Zipser evangelischen Pfarrers David Spielenberger, er hat sich wohl 1638 in Pommern niedergelassen (was den Druckort Danzig seiner Psalterausgabe erklärt). Vgl. zu ihm Iván Nagy. Magyarország családai czímerekkel és nemzékrendi táblákkal [Ungarns Familien mit Wappen und genealogischen Tabellen]. Bd. I-XII. Pest 1857-1868. Hier Bd. X. S. 329. Diesen Hinweis verdanke ich liebenswürdigerweise Tünde Katona, Universität Szeged.
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gendste“20. Selbst wenn diese Einschätzung des Sprachstands in Danzig zu hoch gegriffen sein mag und ein wenig relativiert werden muss, so bleibt doch zumindest ein recht konstanter Anteil polnischsprachiger Protestanten, die als Abnehmer und Benutzer polnischer Gesangbücher in Frage kamen.21 Daher ist es nicht verwunderlich, dass 1586 in Danzig ein Gesangbuch des polnischen Lutheraners und Pastors Szymon Krofey unter dem Titel Duchowne/piesnie D. Marcina Lu=/thera y ynßich naboznich/mezow/Zniemieckiego w Slawiecki iezik wilozone/Przes Szymana Krofea […] [Geistliche Lieder Dr. Martin Luthers und anderer frommer Männer. Aus der deutschen in die slawische Sprache übertragen von Szymon Krofey] erschien.22 Das Werk ist bemerkenswerterweise im kaschubischen Polnisch verfasst23 und damit eines der frühesten literarischen Zeugnisse dieser Sprache.24 Hünefeld war auch in diesem Bereich erfolgreich tätig: 1608 gab er einen polnischsprachigen Psalter heraus (Psalmy Dawidowe przekładania X. Macieja Rybińskiego [Die Psalmen Davids in der Übertragung von Xavier Maciej Rybiński]).25 Dieser Psalter erschien zwischen 1616 und 1646 noch mehrfach in neuen Auflagen, was die Verbreitung der polnischen Sprache in dieser Region nachdrücklich bestätigt.26 Hünefeld arbeitete in diesem Fall mit dem Calvinisten Maciej Rybiński (1566-[?]) zusammen. Seine Ausgaben dürften sich auf eine Ausgabe der Psalmen stützen, die Rybiński bereits 1598 erscheinen ließ: Psalmy mo20
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Gotthilf Löschin. Geschichte Danzigs von der ältesten bis zur neuesten Zeit. Mit beständiger Rücksicht auf Cultur der Sitten, Wissenschaften, Künste, Gewerbe und Handelszweige. Zum zweiten Male bearb. v. G. L. Danzig 1828. Bd. I. S. 385. „Obwohl seit Anfang des 17. Jahrhunderts ein Anwachsen der Zahl dieser polnischen Protestanten festzustellen ist, war es doch nur eine kleine ethnische Minderheit gegenüber dem Übergewicht der deutschsprachigen Bevölkerung. Dennoch war sie ein beständiger Teil der Evangelischen in Danzig, worauf bei den Beständen der Danziger Bibliothek 7 polnischsprachige Kirchengesangbücher gegenüber 23 deutschsprachigen hinweisen. Dieser Gesangbuchbefund macht im einzelnen deutlich, daß nach Einführung der Reformation in Danzig bei der polnischsprechenden Bevölkerung sowohl die lutherische als auch die reformierte Glaubensrichtung verbreitet war.“ Franz Kessler. Danziger Gesangbücher 1586-1793. Lüneburg 1998 (= Einzelschriften der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung. Bd. 15). S. 8. – Für Preußen ist, darauf sei nur am Rande hingewiesen, ähnliches belegt: Es existieren Drucke von Gesangbüchern und geistlichen Schriften auf Polnisch, Prußisch, Litauisch und Lettisch. Siehe dazu als ersten Überblick: Luther und die Reformation im Herzogtum Preußen. Ausstellung des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz zum Lutherjahr 1983. Bearb. v. Walther Hubatsch und Iselin Gundermann. Berlin 1983. S. 83-87 (im Kapitel „Übersetzungen und Drucke“). Nachdruck besorgt von Reinhold Olesch. Köln, Graz 1958 (= Nachdrucke der ältesten kaschubischpolnischen Sprachdenkmäler. Bd. 1). Eher ungenau sind die Angaben bei Węgrzyn-Klisowska. „Musikalische Drucke von Andreas Hünefeld“ (wie Anm. 10). Węgrzyn-Klisowska. „Musikalische Drucke von Andreas Hünefeld“ (wie Anm. 10). S. 165. Vgl. dazu Ulrich Ammon/Norbert Dittmar/Klaus J. Mattheier [u.a.]. Sociolinguistics/Soziolinguistik. Berlin, New York 22006 (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft/Handbooks of linguistics and communication sciences/Manuels de linguistic et de sciences de communication. Bd. 3. Teilbd. 3). S. 18481851, S. 1849. Titel nach Węgrzyn-Klisowska. „Musikalische Drucke von Andreas Hünefeld“ (wie Anm. 10). S. 166. Ebda. – Der Psalter wurde teilweise durch andere Textteile, wie Hymnen, Lieder und Gebete ergänzt, auf die die Verfasserin nicht eingeht. Auch die Verschränkung mit anderen Druckorten bleibt außer Acht. Damit erschien der Psalter in der Übersetzung von Rybiński lange vor der Krakauer Ausgabe von 1624. Ausführliches zu Rybińskis Psalter-Ausgabe bei: Maria Kossowska. Biblia w języku Polskim [Die Bibel in polnischer Sprache]. 2 Bde. Poznań 1968-1969. Hier Bd. 2. S. 19-26.
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narchy i proroka św. Dawida [Die Psalmen des Königs und Propheten, des hl. Davids]. Rybiński war Schüler und Nachfolger des berühmten Dichters Jan Kochanowski (1530-1584). Dessen Psalter-Übersetzung Psałter Dawidów [Der Psalter Davids] (1579) gilt als „the finest poetical work of its time and served as a literary model until the 19th century romantic period“27. Auch beim Konkurrenten Georg Rhete wurde immerhin ein einzelner Psalm Rybińskis, und zwar in einer Vertonung von Stobäus, gedruckt. Auch bei anderen Danziger Verlegern erschienen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts neben deutschen eine Reihe von polnischen Gesangbüchern, so 1702, 1706, 1737, 1780 und 1781, was auf einen fortwährenden Bedarf seitens der Gläubigen hinweist.28 Die Druckgeschichte Elbings zeigt im Vergleich mit Danzig keineswegs ein ähnlich konturenreiches Bild. 1558 wurde zwar die erste Offizin von Wolfgang Dietmar gegründet, der weitere folgten29; sie gelangten jedoch nie über eine lokale Bedeutung hinaus und sind mehrfach in „heruntergekommenem“30 Zustand von Druckern aufgekauft worden. (Für die musikalische Praxis hielt indessen immerhin die Bibliothek der Marienkirche mit ihrer über 400 Titel zählenden Musikaliensammlung ein beträchtliches Reservoir bereit.31) Von den Ausgaben, die im RISM nachgewiesen worden sind, stammt nur ein Druck tatsächlich aus Elbing selbst. Es handelt sich um eine Edition der Offizin Wendel Bodenhausens32. Dort erschien 1642 die Sammlung Erster Theil | Der Preussischen Fest-Lieder/ vom | Advent an biß Ostern […]33 als ein Teil der Preussischen Fest Lieder | durchs gantze Jahr […]. Zusammengestellt wurde sie von Johannes Eccard (1553-1611), der ursprünglich aus Mühlhausen in Thüringen stammte, aber als Kapellmeister in Königsberg wirkte34, und von Johann Stobäus; beide arbeiteten vielfach zusammen. Ein zweiter Teil dieser Festlieder erschien 1644 in Königsberg.35 Mittelbar können der Stadt Elbing immerhin noch vier weitere Drucke zugewiesen werden, und zwar verschiedene Auflagen des Gesangbuchs von Johann Crüger (1598-1662) mit dem Titel Neu zugerichtete/Praxis Pietatis/Melica:/das ist:/ 27 28
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Encyclopedia Judaica. Bd. 13 (1971). Sp. 797-803 (Polish Literature. Biblical and Hebraic Influences). Sp. 798. Ebd. S. 43-47, 47-51, 60ff., 89-94, 94-97. Bei den einzelnen Gesangbüchern auch Bemerkungen zu den druckgeschichtlichen Abhängigkeiten. Vgl. Reske. Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts (wie Anm. 6). S. 190f.; Kawecka-Gryczowa/ Korotajowa. Drukarze dawnej Polski (wie Anm. 10). S. 93ff. Vgl. hierzu Reske. Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts (wie Anm. 6). S. 190-192; S. Corsten. „Elbing“. LGB² (wie Anm. 6). Bd. II. Stuttgart 1989. S. 449. – Zur Elbinger Druckgeschichte kurz: Marian Pawlak. „Reformacja i kontrareformacja. Kóscioły i wyznania“. Historia Elbąga. Tom II, częśź 1 (1466-1626). Red. Andrzej Groth. Gdańsk 1996. S. 173-230, S. 217ff. Vgl. Herbert Gerigk. „Musikgeschichte der Stadt Elbing. Teil I: Bis zum Ausgang der polnischen Zeit“. Elbinger Jahrbuch. Zeitschrift der Elbinger Altertumsgesellschaft und der Städtischen Sammlungen zu Elbing 8 (1929). S. 1-103, S. 89; eine zusammenfassende Übersicht der Musikalien findet sich ebd. S. 94-98. Zu ihm vgl. Kawecka-Gryczowa/Korotajowa. Drukarze dawnej Polski (wie Anm. 10). S. 44f. Ebda. Vgl. zu ihm Christine Böcker. Johannes Eccard. Leben und Werk. München 1980 (= Berliner musikwissenschaftliche Arbeiten. Bd. 17 ). RISM 164417.
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Übung der Gottseligkeit/In Christlichen und trostreichen/Gesängen/Herrn D. Mart. Lutheri fürnehmlich/wie auch anderer seiner getreuen Nachfolger und reiner/Evangelischen Lehr Bekenner […]. Es handelt sich um ein weit verbreitetes lutherisches Gemeindegesangbuch, das den Gläubigen mit der Hinzunahme von Texten der LutherNachfolger ein noch breiteres Spektrum theologischer Einsichten erschließen wollte (und das in Preußen in mindestens elf Ausgaben erschienen ist36). Im Titel der Frankfurter Auflage von 1676 wird besonders hervorgehoben, dass sie „biß eilffhundert schönen/trostreichen Gesängen vermehret und verbessert“ sei. Von diesem Gesangbuch wurde 1668 in Frankfurt am Main eine für den Gebrauch in Elbing bestimmte Ausgabe produziert; und auch die nächsten drei entsprechenden Auflagen – die schon genannte von 1676 sowie zwei weitere aus den Jahren 1680 bzw. 1693 – erschienen in Frankfurt am Main. Zusammengestellt und herausgegeben wurden diese Editionen von Peter Sohr (Sohren; um 1630 - um 1692), Kantor an der Heiligleichnamkirche und zugleich auch Lehrer am Gymnasium in Elbing. Damit bietet sich hier ein anschauliches Beispiel dafür, dass Drucke gerade für den kirchlichen Gebrauch in nicht geringem Maße quasi extern, unabhängig von eigenen lokalen Bedürfnissen, produziert und dann in die entsprechenden Regionen expediert wurden. Auch Lobwassers Psalmen waren übrigens in Elbing verbreitet – zumindest bis zum Jahr 1655, für das in Rupsons Annales Elbingenses lapidar verzeichnet ist: „Lobwasser zu singen wird abgeschaftt“, was, wie Gerigk berichtet, einen langwährenden Streit in Elbing entfachte.37 Allerdings müssen Lobwassers Psalmen nach Drucken aus anderen Städten gesungen worden sein, denn von einem Elbinger Psalter-Druck ist nichts bekannt. Der Anstoß zum Buchdruck in Thorn kam von Pastor Erasmus Gliczner (15351603). Gliczner war ein nicht unbedeutender Theologe, hatte er doch 1570 im Consensus Sendomirensis die lutherische Seite vertreten38, und auch als Lehrer war er durch Publikationen bekannt geworden. Er finanzierte den ersten Drucker Thorns, Stanislaw Worffschauffel-Reiss, der hier in den Jahren 1568 und 1569 unter anderem für das Gymnasium der Stadt druckte.39 Ab 1581 wirkte in Thorn 36
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Siehe RISM 164708 (Berlin), 165304 (Berlin), 165606 (Frankfurt a. M.), 165708 (Berlin), 166006 (Alten Stettin), 166111 (Berlin), 166207 (Frankfurt a. M.), 166406 (Berlin), 166611 (Berlin), 166612 (Frankfurt a. M.), 166708 (Berlin). Zit. nach Gerigk. „Musikgeschichte der Stadt Elbing“ (wie Anm. 31). S. 86. Michael G. Müller. „Der Consensus Sendomirensis – Geschichte eines Scheiterns? Zur Diskussion über Protestantismus und protestantische Konfessionalisierung in Polen-Litauen im 16. Jahrhundert“. Konfessionelle Pluralität als Herausforderung. Koexistenz und Konflikt im Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Winfried Eberhard zum 65. Geburtstag. Hg. Joachim Bahlcke/Winfried Eberhard. Leipzig 2006. S. 397-408, S. 400 (dort auch weitere Literatur zu Gliczner). Zu ihm und Gliczner vgl. Kawecka-Gryczowa/Korotajowa. Drukarze dawnej Polski (wie Anm. 10). S. 463f.; Stanisław Salmonowicz. „Kultura umysłowa Torunia w dobie renesansu, reformacji i wczesnego baroku [Geistige Kultur Thorns in Renaissance, Reformation und frühem Barock]“. Historia Torunia. Bd. II: W czasach renesansu, reformacji i wczesnego baroku [Die Zeit der Renaissance, der Reformation und des frühen Barocks] (1548-1660). Red. Marian Biskup. Toruń 1994. S. 169-256, S. 241-247.
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dann der Calvinist Melchior Nehring als Drucker; er starb jedoch bereits 1587. 40 Bei ihm erschien der (wohl verlorengegangene) Katechizm Doktora Marcina Lutera […] [Katechismus des Doktor Martin Luther] mit Liedern.41 In seine Wirkungszeit fällt auch der Druck eines polnischsprachigen Gesangbuchs des Thorner Humanisten und Gymnasiallehrers Petrus Artomius (eigentlich Piotr Krzsesichleb, 1552-1609)42 von 1587 mit dem Titel Cantional albo Pieśni Duchowne z Pisma Ś. ku czci a chwale P. Bogu sporządzone [Gesangbuch oder geistliche Gesänge aus Heiligen Schriften zum Lobe Gott Vaters verfertigt].43 Dieses Gesangbuch stellt musik- und geistesgeschichtlich eine bemerkenswerte Leistung dar: [Es] erweist sich […] als ein reiches Sammelbecken geistlichen Liedgutes verschiedener Art und Herkunft. Es repräsentiert im allgemeinen, d.h. abgesehen von den damals noch sehr jungen Psalmen Kochanowskis, den neu auftretenden Übersetzungen deutscher Lieder und neuen Übersetzungen lateinischer Hymnen, Prosen, Psalmen, Antiphone etc., den typischen Liedbestand der polnischen Reformation, vor allem der Frühdruckzeit.44
Die Hinweise zu den Publikationen aus Thorn zeigen – ebenso wie die Ausführungen zu den Druckorten Elbing und Danzig –, dass sich die Verbreitung von Musik in der Region an der unteren Weichsel während der Frühen Neuzeit auf sehr unterschiedliche Weise vollzog und dass deshalb auch die Fragen nach der Bindung von Druckwerken nur an lokale Interessen, nach der weiterreichenden regionalen Strahlkraft einzelner Editionen oder nach deren oft langen, zuweilen verschlungenen Wegen der Distribution meist nur im Einzelfall beantwortet werden können. Vor diesem Hintergrund lässt sich letztlich feststellen, dass, selbst wenn der Forschungsstand zur Musikgeschichte und zum Musikleben des unteren Weichsellandes in der Frühen Neuzeit schon respektabel sein mag, die Forschung zum Musikdruck durchaus noch ergänzender Anstrengungen bedarf.45
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Zum Thorner Gymnasium vgl. auch ders. „Das protestantische Gymnasium Academicum in Thorn im 17. und 18. Jahrhundert“. Kulturgeschichte Preußens königlich polnischen Anteils in der Frühen Neuzeit. Hg. Sabine Beckmann/Klaus Garber. Tübingen 2005 (= Frühe Neuzeit. Bd. 103). S. 395-409. Vgl. Salmonowicz. „Kultura umysłowa Torunia” (wie Anm. 39). S. 242; zu ihm auch Günter Kratzel. Das Thorner Kantional von 1587 und seine deutschen Vorlagen. Ein Beitrag zur Erforschung der deutsch-polnischen Liedbeziehungen im Zeitalter der polnischen Reformation. Phil. Diss. masch. Köln 1963. S. 37f. (erneut: Frankfurt a. M., Bern, Las Vegas 1979 [= Symbolae Slavicae. Bd. 6]). Den Wert der Dissertation hebt Horst Röhling in seiner Rezension hervor, vgl. Die Welt der Slaven. Halbjahresschrift für Slavistik XXV N.F. IV (1980). S. 199ff. Nach Kratzel. Das Thorner Kantional (wie Anm. 40). S. 64. Zu ihm ausführlich ebd. S. 65-71. S. W. Werner. Historische Nachricht von einem Thornischen Polnischen Cantional Anno 1587. Brieg 1752. S. 14. Der Titel nach dem polnischsprachigen Wikipedia-Eintrag zu „Piotr Artomiusz“ (Zugriff am 21.01.2010). – Abbildung des Titelblatts bei Alojzy Tujakowski. Z Dziejów drukarstwa i piśmiennictwa na Pomorzu. 400 lat drukarstwa w Toruniu 1569-1969 [Zur Geschichte des Buchdrucks und Schrifttums in Pommern. 400 Jahre Buchdruck in Thorn 1569-1969]. O.O. [Toruń] 1970. S. 16. Dieses Gesangbuch wie überhaupt Artomius werden von Kossowska. Biblia w języku Polskim (wie Anm. 26) nicht behandelt. Kratzel. Das Thorner Kantional (wie Anm. 40). S. 161. Sehr zuverlässig, wenn auch kaum auf den Musikdruck ausgerichtet, ist: Franz Kessler. „Musikgeschichte Westpreussens“. Musikgeschichte Pommerns, Westpreußen, Ostpreußens und der baltischen Lande. Hg. Werner Schwarz/Franz Kessler/Helmut Scheunchen. Dülmen 1989 (= Die Musik der Deutschen im Osten Mitteleuropas. Bd. 3). S. 53-103. Wertvoll aufgrund der zahlreichen mitgeteilten Dokumente
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Der Hinweis von Danuta Popinigis auf die fast 500 Musikdrucke aus der Zeit zwischen 1560 und 1640, die heute in der Biblioteka Gdańska Polska Akademia Nauk [Danziger Bibliothek der Polnischen Akademie der Wissenschaften] aufbewahrt werden, gibt einen Eindruck davon, welche reiche buchhistorische Forschungsfelder es hier noch zu entdecken gilt.46 ____________________ Zusammenfassung Während der Forschungsstand zur Musikgeschichte und zum Musikleben des unteren Weichsellandes in der Frühen Neuzeit schon durchaus respektabel genannt werden darf, ist die wissenschaftliche Erschließung des Musikdrucks bislang nicht mit gleicher Intensität betrieben worden. Zu welch lohnenden Ergebnissen die Beschäftigung mit diesen Dokumenten führen kann, zeigen selbst bei flüchtiger Betrachtung erhaltene Drucke aus Danzig, Elbing und Thorn. Sie spiegeln einerseits die politischen, sozialen und konfessionellen Verhältnisse wider, geben andererseits aber auch Einblick in die lokalen Rahmenbedingungen, die regionalen Vernetzungen und die Vertriebswege des damaligen Druckwesens. Der bedeutendste der drei Druckorte war Danzig, und dort wiederum dominierte die Offizin von Andreas Hünefeld, der insgesamt 200 Drucke zuzuweisen sind (und in der beispielsweise der Lobwassersche Psalter erschien). Daneben waren in Danzig freilich auch noch andere Drucker – wie Georg Rethe d. J. – tätig. Die Druckgeschichte Elbings und Thorns zeigt im Vergleich mit Danzig kein ähnlich konturenreiches Bild. Immerhin wurde dort aber z.B. der erste Teil der Preussischen Fest-Lieder von Johannes Eccard und Johann Stobäus veröffentlicht, während hier unter anderem das polnischsprachige Gesangbuch des Humanisten und Gymnasiallehrers Petrus Artomius gedruckt wurde, das eine wichtige geistes- und musikgeschichtliche Quelle der polnischen Reformation darstellt.
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und ausführlicher Darstellungen zur Entwicklung der Kapellen und zum Musikleben ist: Hermann Rauschning. Geschichte der Musik und Musikpflege in Danzig. Von den Anfängen bis zur Auflösung der Kirchenkapellen. Danzig 1931. Methodisch veraltet, aber mit umfangreichem biographischen und anderem Datenmaterial: Müller-Blattau. Geschichte der Musik in Ost- und Westpreußen (wie Anm. 18). Nur ein Hinweis auf das Thema ist der Beitrag von Franz Kessler. „Die Musikentwicklung in Danzig vom 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts“. Deutsche Musik in Ost- und Südosteuropa. Hg. Gabriel Adriányi. Köln, Weimar, Wien 1997 (= Studien zum Deutschtum im Osten. Bd. 28). S. 113-118. Danuta Popinigis. „Die mehrchörige Musik in Danzig um die Wende des 16./17. Jahrhunderts“. Die Musik der Deutschen im Osten und ihre Wechselwirkung mit den Nachbarn. Ostseeraum – Schlesien – Böhmen/ Mähren – Donauraum vom 23. bis 26. September 1992 in Köln. Hg. Klaus Wolfgang Niemöller/Helmut Loos. Bonn 1994 (= Deutsche Musik im Osten. Schriftenreihe des Instituts für deutsche Musik im Osten zur Musikgeschichte der Deutschen und ihrer Nachbarn in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa. Bd. 6). S. 27-31, S. 27.
Der Musikdruck in Danzig, Elbing und Thorn während der Frühen Neuzeit
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Streszczenie Druki muzyczne wydawane w Gdańsku, Elblągu i Toruniu we wczesnej epoce nowożytnej Kraju Nadwiślańskiego we wczesnym okresie nowożytnym można już opisać w stopniu budzącym respekt, o tyle naukowych badań druków muzycznych nigdy nie prowadzono równie intensywnie. Zachowane druki z Gdańska, Elbląga i Torunia pokazują już przy pobieżnej ocenia, jakie wspaniałe efekty może przynieść naukowa analiza tych dokumentów. Z jednej strony odzwierciedlają one stosunki polityczne, społeczne i konfesjonale, z drugiej strony pozwalają na wgląd w lokalne warunki ramowe, regionalne struktury i drogi zbytu ówczesnego drukarstwa. Najważniejszym w tej dziedzinie miastem był Gdańsk, a w nim dominująca oficyna wydawnicza Andreasa Hünefeld, któremu przypisano ogółem 200 druków (wydał on na przykład psałterz Lobwassera). W Gdańsku działali oczywiście także inni drukarze – jak Georg Rethe młodszy. Historia drukarstwa w Elblągu i Toruniu w porównaniu z Gdańskiem nie pokazuje podobnie wyrazistych konturów. Wydano tam jednak w wydawnictwie Johannesa Eccarda i Johanna Stobäusa na przykład pierwszą część śpiewnika świątecznych pieśni pruskich Preussischen Fest-Lieder, podczas gdy tutaj wydrukowano polskojęzyczny śpiewnik Petrusa Artomiusa – humanisty i nauczyciela gimnazjalnego, który stanowi cenne źródło historii humanizmu i muzyki polskiej reformacji. Abstract The Printing of Music in Danzig, Elbing and Thorn during the Early Modern Period Whilst the status of research on the music history and musical life of the lower Vistula area in the early modern period can already be considered as being quite respectable, the scientific interpretation of printed music has not as yet been approached with the same intensity. The worthwhile results which working with these documents can lead to is shown even by a brief examination of printed material from Danzig, Elbing and Thorn. On the one hand this reflects the political, social and confessional relationships, but on the other hand it also gives an insight into the general local conditions, the regional networks and the distribution channels for printed material in those days. The most important of the three print locations was Danzig, with the print works of Andreas Hünefeld being the dominant one there, and to which 200 printed items can be attributed (and which appeared in the example of the Lobwassersche psaltery). In addition to this, other printers were also working freely in Danzig – such as Georg Rethe d. J. In comparison with Danzig the print histories of Elbing and Thorn do not reveal such a richly contoured picture. But nevertheless, as an example, the first part of the Preussischen Fest-Lieder by Johannes Eccard and Johann Stobäus was published
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there, whilst here, amongst other things, the Polish language song book by the humanist and grammar school teacher Petrus Artomius was printed, which represented an important intellectual and music history source from the Polish reformation.
Klaus-Peter Koch (Bergisch Gladbach/Deutschland)
Danzig bis zu den Polnischen Teilungen: Ein Zentrum musikkulturellen Austausches Allein, weil es ein Superfluum ist, so wollen wir nur noch einen Punct von unserer guten Stadt Dantzig berühren, und zwar, daß diese sehr werthe und weitberühmte See=Kauff= und Handel=Stadt ihren Nahmen von dem Tantzen her deriviret, weilen sich nemlich die Alten Teutschen diesen Ort, welchen Gott und die Natur vor vielen tausend andern ausgesondert, und mit mancherley Seegen und Annehmlichkeit geschmücket hat, zu ihren Lust= und Tantz=Platz erwehlet hätten; Wie solches Henneberg in seiner Chronica pag. 64. und Caspar Schütz in der Preußischen Chronica pag. 8. anführen.1
Diese schöne Geschichte entspricht nicht der historischen Wahrheit. Der Städtename wird als ‚Gyddanzyk‘ erstmals 997 urkundlich erwähnt, als Bischof Adalbert aus Prag, begleitet von Soldaten des polnischen Königs, mit der – zunächst vergeblichen – Absicht in die Stadt kam, die heidnische Bevölkerung zu taufen; Ausgrabungen belegen allerdings noch frühere Siedlungsspuren, die bis ins 7. Jahrhundert zurückreichen. Diskutiert wird zwar, ob der Ortsname slawischen oder pruzzischen Ursprungs ist; eine etymologische Nähe zum Deutschen wird demgegenüber aber keineswegs erwogen. Wie das Zitat aber immerhin andeutet, spielte Musik in der Geschichte der Stadt eine wichtige Rolle. Zudem war Danzig (Gdańsk), seit 1361 Vollmitglied der Hanse, bekanntlich ein wichtiges Handelszentrum, so dass derartige kulturelle Entwicklungen auch durch seine vielfältigen Handelsverbindungen beeinflusst und gefördert wurden. Beziehungen zwischen verschiedenen Kulturen lassen sich anhand der kultursoziologischen Kategorie ‚Interkulturalität‘ beschreiben. Solche Beziehungen werden durch die kulturellen Unterschiede, aber auch durch Gemeinsamkeiten charakterisiert, die einzelne Kulturen miteinander teilen. Der Austausch zwischen den betreffenden Kulturen vollzieht sich dabei nicht nur durch die Migration von Personen, sondern auch durch die Migration kultureller, materieller oder ideeller Werte. Die Intensität und die Hauptrichtung des Transfers sind abhängig von 1
Gottfried Taubert. Rechtschaffener Tantzmeister, oder gründliche Erklärung der Frantzösischen Tantz=Kunst. 3 Bde. Leipzig 1717. Fotomechan. Nachdruck. Hg. Kurt Petermann. München 1976 (= Documenta Choreologica; XXII 1-3). S. 39. – Die als Quelle genannte Chronica von Henneberg könnte folgendes Werk sein: Cyriacus Spangenberg. Hennebergische Chronica der uralten löblichen Graven und Fürsten zu Henneberg Genealogia, Stammenbaum und Historia. Straßburg 1599. Die Preußische Chronica von Caspar Schütz dürfte sein: Caspar Schütz. Historia Rervm Prvssicarvm, Wahrhaffte vnd eigentliche Beschreibung der Lande Preussen, jhrer gelegenheit, namen vnd teilunge, von den eltesten Königen an … Auch vom Vrsprung des Deudschen Ordens … Vom ersten bis zum letzten : Darinnen auch die ankunfft vnd erbawung der Königlichen Stadt Dantzig … /Auß bewehrten Schrifften, Historien vnd Recessen zusammen getragen vnnd beschrieben. Leipzig 1599.
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ökonomischen, ethnokulturellen, religiösen, sprachlichen, historischen und politischen Faktoren. Grundsätzlich lassen sich zwei Typen kultureller Wechselbeziehungen unterscheiden, die wiederum miteinander vernetzt sind: Zum einen handelt es sich um den Prozess der ‚Akkulturation‘, d.h. eine Verbreitung kultureller Erfahrungen in horizontaler Richtung von einer Kultur tragenden Bevölkerungsgruppe zu einer anderen, zum anderen um ‚Enkulturation‘, d.h. eine Verbreitung kultureller Elemente in vertikaler Richtung von einer sozialen Schicht zu einer anderen innerhalb der sozialen Hierarchie einer Kultur tragenden Bevölkerungsgruppe.2 – Im Folgenden wird der Schwerpunkt auf die Akkulturation gelegt. Akkulturationsprozesse lassen sich an der Danziger Musikkultur über die Jahrhunderte hin beobachten. Analysiert man beispielsweise die Danziger Musikkultur im Allgemeinen nach dem Herkunftsgebiet ihrer Träger, so lassen sich bestimmte Schwerpunkte erkennen. Zum einen stammen die Musikerpersönlichkeiten natürlich aus Danzig selbst und aus dem Königlichen Preußen (mit Thorn [Toruń], Elbing [Elbląg] und anderen Zentren), zum anderen aus Hinterpommern (Stolp [Słupsk], Kolberg [Kołobrzeg], Köslin [Koszalin]) und Westpreußen (Preußisch Stargard [Starogard Gdański], Konitz [Chojnice]), zum dritten aber auch aus anderen Städten und Gemeinden der Ostseegebiete zwischen Flensburg und Königsberg (Kaliningrad). Dieser Aspekt der Einbindung von Danzig in den Kontext der ‚Musica baltica‘ soll an dieser Stelle jedoch nicht weiter vertieft werden. Stattdessen werden im Folgenden die Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen dem städtischen Musikleben Danzigs und Musikern und Komponisten aus Polen und aus den verschiedenen Regionen Deutschlands sowie den anderen Musikkulturen Europas in den Blick genommen. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts leben in Danzig viele polnische Spielleute und Musiker, aber auch Musiker aus Polen mit anderer ethnischer Zugehörigkeit. Zur ersten Gruppe gehört z.B. der Lautenschläger Stanislaus Lowitz − in heutiger polnischer Schreibweise wahrscheinlich Stanisław Lowicz3 −, der auch ‚der polnische Stenzel‘ genannt wird, 1549 in Danzig das Bürgerrecht erwirbt und in der Stadt noch 1574 Erwähnung findet4, oder der Altist an St. Johannis, Martin
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Zu den Begriffen Akkulturation und Enkulturation und dem Oberbegriff Diffusion vgl. Sara Champion. „Diffusion“ [Artikel]. DuMont’s Lexikon archäologischer Fachbegriffe und Techniken. Hg. Dies. Köln 1982. S. 42ff.; J.R. [Joachim Rehork] „Diffusion“ [Artikel]. Enzyklopädie der Archäologie. Hg. Glyn Daniel/Joachim Rehork. Augsburg 1990. S. 132f. – Des Weiteren: Dirk Hoerder/Jan Lucassen/Leo Lucassen. „Terminologien und Konzepte in der Migrationsforschung“. Enzyklopädie. Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. Klaus J. Bade/Pieter C. Emmer/Leo Lucassen/Jochen Oltmer. Paderborn [u.a.] 2007. S. 28-53. Auch die im Folgenden zu Personennamen in runden Klammern hinzugefügten Namensformen sind Versuche der Angleichung an moderne polnische Schreibweisen. Hans Peter Kosack. Geschichte der Laute und Lautenmusik in Preußen. Kassel 1935. S. 29.
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Drosintzky (Marcin Drosinski), der 1563 belegt ist5, oder der Komponist und Organist an St. Barbara Petrus de Drusina (Piotr Drusinski), der zwischen 1586 und 1590 dieses Amt ausübt und schließlich 1611 als Organist in Elbing verstirbt.6 Gelegentlich stammen auch die Meister der Musikerzunft in Danzig aus Polen, unter ihnen der 1591 genannte Fidler Stenzel Dinack (Stanisław Dinak) aus Przasnysz (Praschnitz) in Masowien.7 Ein Repräsentant der zweiten Gruppe findet sich in dem Spielmann und Fidler Hans Wilde – auch Janick, Jancko, Janicke, Janeke genannt –, der aus Polen kommt, in Danzig ausgebildet wird und hier 1546 das Bürgerrecht erwirbt 8; denn dessen Vorname erscheint in den Quellen zwar in der polnischen Form9, der Nachname Wilde deutet aber nachdrücklich darauf hin, dass seine Vorfahren väterlicherseits deutschstämmig waren. Die musikkulturelle Verbindung der Stadt Danzig zur polnischen Kultur scheint auch im 17. Jahrhundert immer wieder auf. Andreas Hakenberger (geboren um 1574 in Köslin/Pommern, gestorben 1627 in Danzig) beispielsweise wird 1602 unter den Vokalisten der königlichen polnischen Hofkapelle in Warschau den polnischen Musikern zugerechnet10 und ist von 1608 bis 1627 in Danzig Kapellmeister an St. Marien, was auch deshalb interessant ist, weil Hakenberger damit als Katholik in führender Position an der evangelischen Marienkirche tätig ist. Unter den Interpreten in der Kapelle an St. Marien verweisen mehrere Namensformen auch unmittelbar auf eine polnische Herkunft: beispielsweise bei dem Altisten Nikolaus Wilßki (Mikołaj Wilski, fl.11 1610-1614), dem Musiker Johann Czop (Jan Czop, fl. 1632), dem Trombonisten Michael Wilamofsky (Mihał Wilamowski, fl. 1632), dem Pfeifer Matthias Sablotzki (Maciej oder Mateusz Sablocki oder Zablocki, fl. 1641-1651), dem Diskantisten und späteren Ratsmusiker Johann Schudowsky (Jan Szudowski, fl. 1653-1656/62), dem Pfeifer Kasimir Feliczky (Kazimierz Felicki, fl. 1656) oder dem Bassviolisten Michael Gawarsky (Mihał Gawarski, fl. 1647-1662).12 Martin Gramboczewski (Marcin Gremboczewski, fl. 1624/26-1629) wirkt in der königlich-polnischen Hofkapelle in Warschau, bevor er um 1624/26 in Danzig an St. Johannis Cornettist wird13, und der aus Danzig stammende Paul Roskowitz (Paweł Roskowicz) hält sich lange Zeit in Italien und in Warschau auf, bis er 1646 Lautenist und Theorbist in der
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Hermann Rauschning. Geschichte der Musik und Musikpflege in Danzig: Von den Anfängen bis zur Auflösung der Kirchenkapellen. Danzig 1931 (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte Westpreußens. Bd. 15). S. 37. Ebd. S. 57. Ebd. S. 112. Kosack. Geschichte (wie Anm. 4). Es handelt sich dabei um typische polnische Wortbildungen: Jan ist die polnische Form von Johann, Janek ist der Diminutiv von Jan, Janko ist der Vokativ von Jan. Danuta Popinigis. Muzyka Andrzeja Hakenbergera [Die Musik Andreas Hakenbergers]. Gdańsk 1997. S. 15. „fl.“ steht für lateinisch „floruit“ (er/sie/es blühte) und meint quellenmäßig nachweisliche Jahreszahlen für die Existenz von Personen, deren Geburts- und Sterbedaten nicht erschließbar sind. Rauschning. Geschichte (wie Anm. 5). S. 195, 223f. Ebd. S. 195, 222.
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Danziger Ratskapelle wird.14 Dass Danziger Musiker ihre Lehre in Polen absolvieren und/oder am Warschauer Hof oder bei anderen polnischen Herrschaften dienen, bevor sie in Danzig eine Anstellung finden, kann mehrfach belegt werden.15 Danziger Lautentabulaturen und Notenhandschriften des 17. Jahrhunderts notieren wiederholt Polnische Tänze, die Vorläufer der Polonaisen.16 Eine Verbindung der Danziger Musikkultur zu Polen ist auch für das gesamte 18. Jahrhundert festzustellen, wenngleich diese Nation jetzt häufiger auf die Funktion einer kulturellen Negativfolie reduziert wird. 1756 konstatiert ein Zeitgenosse beispielsweise einen qualitativen Niedergang der Danziger Orgelmusik und bringt ihn damit in Verbindung, dass sich manche Organisten dem schlechten Geschmack der Zuhörer anpassen, welche bisweilen lieber, eine lustige Minuet, oder hebende Polonoise, ein altes Mourqui, oder sonst eine alte verlegene Arie von dem Organisten spielen hören, als ein gründliches, und mit vieler Überlegung auf das Lied vorgebrachtes Praeludium.17
Auch das gesunkene Niveau in der Interpretationsweise durch die zu diesem Zeitpunkt ohnehin überalterten Rats- und Zunftmusiker wird darauf zurückgeführt, dass sie sich „durch das Aufspielen zum Tanz und durch das Spiel ‚in der polnischen Manier‘ ihren Vortrag verdorben hätten“.18 Als Hingelberg, der Sohn des St.-Johannis-Kantors, 1785 in Elbing das anonyme Pamphlet Ueber Danziger Musik und Musiker herausgab, erwähnte er unter den zahlreichen von ihm kritisierten Danziger Musikern auch den St.-Katharinen-Kantor Johann M. Santowski (offensichtlich ein Pole): „Er kann weder recht deutsch, noch vielweniger 14 15
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Kosack. Geschichte (wie Anm. 4). Rauschning. Geschichte (wie Anm. 5). S. 111, 130, 220, 224f., 278. – Andreas Dittelbach hatte vor 1602 neunzehn Jahre lang nach seiner Lehrzeit in Polen bei vornehmen Herren gedient; Hans Henrich soll vor 1612 einige Zeit bei Stanisław Kostka tätig gewesen sein; Karl Hintz (1608-1671) war vor 1637, als er in Danzig als Hofpfeifer genannt wird, einige Jahre in Privatkapellen vornehmer Polen; Matthes Lembke aus Stargard in Preußen, der 1666 Zunftmeister in Danzig wurde, hatte bei dem Instrumentalisten an der polnischen Hofkapelle, Matthis Dębicki, gelernt, und der Danziger Marienorganist Heinrich Döbel (im Amt 1679-1693) war drei Jahre in der königlich-polnischen Hofkapelle und sieben Jahre in der Kapelle des Grafen Potocki. Dazu gehören z.B. die um 1640 in Danzig entstandene Lautentabulatur der Renata von Gehema (heute in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz , Sign. Mus. ms. 40264), Neuausgabe als Tańce polskie z tabulatur lutniowych [Polnische Tänze aus Lautentabulaturen]. Bd. II. Hg. Zofia Stęszewska. Warszawa 1966 (= Źródła do historii muzyki polskiej [Quellen zur polnischen Musikgeschichte]. Bd. 9), die, obwohl in Danzig niedergeschrieben, bereits weit vor 1945 im Besitz der Preußischen Staatsbibliothek war, sowie das Ms. 4022 um 1625, ehemals in der Danziger Stadtbibliothek, heute unter den Beständen der ehemaligen Danziger Stadtbibliothek, die in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz seit 1959 als Depositum eingelagert sind, wieder aufgefunden. Neuausgabe: Tańce polskie z tabulatury gdańskiej [Polnische Tänze aus Danziger Tabulaturen]. Hg. Zofia Stęszewska. Kraków 1965 (= Wydawnictwo Dawnej Muzyki Polskiej [Verlag Alte Polnische Musik]. Bd. 30). Letztere Neuausgabe erfolgte nach erhaltenen authentischen Abschriften, die noch vor dem Zweiten Weltkrieg gemacht worden waren. Johann Friedrich Wilhelm Sonnenkalb. Kurtze Entscheidung der Frage: Wie sollen die Praeludia eines Organisten bey dem Gottesdienste beschaffen sein. Torgau 1756. S. 6. Zit. nach Gotthold Frotscher. „Ein Danziger Musikantenspiegel vom Ende des 18. Jahrhunderts“. Festschrift Arnold Schering. Zum sechzigsten Geburtstag. Hg. Helmuth Osthoff/Walter Serauky/Adam Adrio. Berlin 1937. S. 68-75, S. 72. Ebd. S. 75.
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singen, denn sein Gesang ist bloßes Gebrülle. Musikalische Kenntnisse hat er gar nicht.“19 Mit den drei Polnischen Teilungen 1772, 1793 und 1795 entsteht auch für das Verhältnis zwischen Danzig und dem polnischen Kulturraum eine politisch völlig neue Situation, da Danzig in diesem Prozess 1793 Preußen zugeschlagen wird und die polnisch-litauische Rzeczpospolita als Staat 1795 letztlich zu bestehen aufhört: Der Anteil der Polen an der Bevölkerung Danzigs verringert sich zusehends, der Anteil der Deutschen nimmt dementsprechend zu20, was sich – wie die vorliegende Untersuchung späterhin noch verdeutlichen wird – auch tiefgreifend auf die Musikkultur der Stadt auswirkt. Bemerkenswert für das 17. und 18. Jahrhundert ist die enge Beziehung der Danziger Musikkultur zu Mitteldeutschland (das Gebiet der heutigen Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen), viele Musiker kommen von dort nach Danzig. Für den Zeitraum von 1687 bis 1781, also fast ein Jahrhundert lang, sind die Kapellmeister an St. Marien in ununterbrochener Folge Musiker aus Thüringen: Johann Valentin Meder (von 1687 bis 1698), Maximilian Dietrich Freislich (von 1699 bis 1731), Johann Balthasar Christian Freislich (von 1731 bis 1764), Friedrich Christian Mohrheim (von 1764 bis 1780) und Georg Simon Löhlein (1781). Drei Jahrzehnte hintereinander sind auch an St. Katharinen die Kantoren ausschließlich aus Thüringen und Sachsen: Christoph Werner (von 1646 bis 1650), Georg Weber (von 1650 bis 1652) und Crato Büthner (von 1652 bis 1679). Doch auch an anderen Danziger Kirchen (St. Bartholomäi, St. Petri, St. Johannis, St. Barbara) sind vom Ende des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts immer wieder Kantoren zu finden, die aus Magdeburg, Halle, Dessau, Ballenstedt, Nordhausen, Frankenhausen, Erfurt, Saalfeld oder Pirna kommen.21 Erinnert sei auch daran, dass 1622 einige Danziger Ratsherren, die einst aus Halle zugewandert waren, dem Hallenser Hofkapellmeister Samuel Scheidt das Organistenamt an St. Marien ange19 20
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Rauschning. Geschichte (wie Anm. 5). S. 381. – Santowski trat sein Amt 1778 an. Eine Bevölkerungserhebung unter sprachlichen Gesichtspunkten wurde im Regierungsbezirk Danzig erstmals 1831 durchgeführt; demnach waren 24% der Bewohner polnisch- und kaschubischsprachig, 76% deutschsprachig. 1923 ergab eine Volkszählung für Danzig und das Umland, dass noch 3,3% der Bevölkerung Polnisch bzw. Kaschubisch als Muttersprache und 95% Deutsch angaben. Vgl. Stefan Hartmann. „Zu den Nationalitätenverhältnissen in Westpreußen vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs“. Zeitschrift für Ostforschung 42 (1993). S. 391-405. Solche Antworten sind zwar nur mit Vorsicht zu interpretieren, denn die sprachliche Zugehörigkeit muss keineswegs mit der ethnischen Zugehörigkeit übereinstimmen; zudem könnten sie auch durch die politischen Umstände und die Germanisierungspolitik beeinflusst worden sein. Gleichwohl wird anhand dieser Daten deutlich, dass die Danziger Musikkultur seit dem 19. Jahrhundert hauptsächlich durch die deutsche und nur in geringem (und immer weiter abnehmendem) Maße durch die polnische Musikkultur beeinflusst worden ist. Lucian Schiwietz. „Danzig und Mitteldeutschland. Mitteldeutsche Musiker in Danzig im 17. und 18. Jahrhundert“. Musikalische Beziehungen zwischen Mitteldeutschland und Danzig im 18. Jahrhundert [Konferenzbericht Gdańsk 2000]. Hg. Danuta Popinigis/Klaus-Peter Koch. Sinzig 2002 (= Edition IME. Reihe 1: Schriften. Bd. 9). S. 211-218; Jerzy Michalak. „‚Es ist itzt eyn ander wellt, vnd gehet anders zu‘: Evangelische Kantoren und Kantorate im Danzig des 18. Jahrhunderts“. Das Kantorat des Ostseeraums im 18. Jahrhundert: Bewahrung, Ausweitung und Auflösung eines kirchenmusikalischen Amtes. Hg. Joachim Kremer/ Walter Werbeck. Berlin 2007 (= Greifswalder Beiträge zur Musikwissenschaft. Bd. 15). S. 167-198, S. 189f.
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tragen haben.22 Der eingangs zitierte Tanzmeister Gottfried Taubert, der von 1702 bis 1715 in Danzig tätig war, kommt aus dem Sächsischen.23 Mitteldeutsche Musiker wie Valentin Haußmann und Georg Neumark machen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ihre Kunstreisen nach Königsberg über Danzig und Thorn. Auch im Kontext des musiktheoretischen Streites zwischen Paul Siefert und Marco Scacchi spielen Sachsen keine unbedeutende Rolle.24 Dass umgekehrt Danziger Musiker nach Mitteldeutschland25 ziehen, ist zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert weitaus seltener; prominentestes Beispiel ist Johann Gottlieb Goldberg26, der im Zusammenhang mit Johann Sebastian Bach allgemein bekannt ist.27 22
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Klaus-Peter Koch. „Scheidt und Danzig: Wäre Samuel Scheidt nach Danzig gegangen? Mit einem Anhang ‚Biografische Daten zu Gottfried Scheidt‘“. Samuel Scheidt (1587-1654). Werk und Wirkung. Bericht über die Internationale wissenschaftliche Konferenz am 5. und 6. November 2004 […] und über das Symposium in Creuzburg zum 350. Todesjahr, 25.-27. März 2004. Hg. Konstanze Musketa/Wolfgang Ruf. Halle an der Saale 2006 (= Schriften des Händel-Hauses in Halle. Bd. 20). S. 161-182. Klaus-Peter Koch. „‚Polacken tantzen ordentlich und modest mit ihrem Frauenzimmer‘. Gottfried Tauberts ‚Rechtschaffener Tantzmeister‘ von 1717“. Tanz und Musik im ausgehenden 17. und im 18. Jahrhundert. Bericht XIX. Wissenschaftliche Arbeitstagung Michaelstein 1991. Hg. Eitelfriedrich Thom/ Frieder Zschoch. Michaelstein, Blankenburg 1993 (= Studien zur Aufführungspraxis und Interpretation der Musik des 18. Jahrhunderts. Bd. 45). S. 45-55. In Marco Scacchis Judicium cribri musici, gedruckt in Warschau um 1649 und heute nur noch als Abschrift erhalten, wurden 14 Gutachter-Briefe publiziert. Unter den Schreibern befinden sich drei in Sachsen tätige Musiker: Heinrich Schütz in Dresden und Tobias Michael in Leipzig (beide äußern sich jeweils in zwei Briefen dazu, sind jedoch in ihren Stellungnahmen sehr vorsichtig) sowie Christoph Bernhard in Dresden. Daneben spielt offenbar der Bruder des in Danzig tätigen Christoph Werner, Friedrich Werner, Zinkenist der Dresdner Hofkapelle unter Schütz, eine Rolle. Er vermittelt womöglich die Bitte des Scacchi-Umkreises an Schütz, sich in diesem Streit für Scacchi zu positionieren. Auch könnte der Adressat von Schützens erstem und wohl auch von dessen zweitem Brief in dieser Angelegenheit, Christian Schirmer, ein Verwandter des Dresdner Hofdichters David Schirmer gewesen sein. Vgl. dazu u.a. Hans Joachim Moser. Heinrich Schütz. Sein Leben und Werk. Kassel, Basel 21954. S. 160f.; Martin Gregor-Dellin. Heinrich Schütz. Sein Leben. Sein Werk. Seine Zeit. Neuausgabe München, Zürich 1987. S. 334; Walter Werbeck. „Heinrich Schütz und der Streit zwischen Marco Scacchi und Paul Siefert“. Schütz-Jahrbuch 17 (1995). S. 63-79. Klaus-Peter Koch. „Danzig und Mitteldeutschland. Zum Wirken von Musikern aus der Weichselstadt in Mitteldeutschland im 17. und 18. Jahrhundert“. Musikalische Beziehungen (wie Anm. 21). S. 79-88. Johann Gottlieb Goldberg lebte von 1727 bis 1756; Carl Philipp Emanuel Bach (1775), ebenso wie Johann Wilhelm Hertel (1783/84), Johann Adam Hiller (1784) und nach ihnen Ernst Ludwig Gerber und Johann Nikolaus Forkel bezeichnen ihn als Schüler von Johann Sebastian Bach, während Wilhelm Friedemann Bach ihn 1767 seinen eigenen Schüler nennt. Zeitgenössische Quellen sind bisher nicht nachgewiesen. Vgl. dazu Ernst Dadder. „Johann Gottlieb Goldberg“. Bach-Jahrbuch 20 (1923). S. 57-71. Vgl. weiterhin: Bach-Dokumente. Bd. 1. Nr. 172. S. 240f. sowie Bd. 3. Nr. 803. S. 289; Nr. 888. S. 387f.; Nr. 895. S. 402. Goldberg wird schließlich Kammermusiker beim Grafen Brühl in Dresden und verstirbt hier in diesem Amt. Der Wahrheitsgehalt der von Johann Nikolaus Forkel mitgeteilten Anekdote, dass Bach die nicht von ihm so benannten Goldberg-Variationen BWV 988 (originaler Titel: Clavier-Ubung bestehend in einer ARIA mit verschiedenen Veraenderungen vors Clavicimbel mit 2 Manualen) schrieb, damit Goldberg sie dem russischen Gesandten in Dresden, Graf Hermann Carl von Keyserlingk, vorspiele, wird angezweifelt. Vgl. Johann Nikolaus Forkel. Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Leipzig 1802. Nachdruck. Hg. Josef M. Müller-Blattau. Kassel 1932. S. 73f. Wohl aber ist richtig, dass von Keyserlingk Goldberg zu einem nicht bekannten Zeitpunkt (vermutlich 1737 ) von Danzig nach Dresden holte. Von Keyserlingk hatte spätestens seit 1736 Kontakt zu Johann Sebastian Bach. – Goldbergs Vater, Johann Goldberg (fl. 1726-1759) aus Ohra (Orunia) bei Danzig, war Geigen- und Lautenmacher in Danzig. Vgl. Rauschning. Geschichte (wie Anm. 5). S. 313. Bach wiederum wendet sich 1730 an seinen Jugendfreund Georg Erdmann, nunmehr russischer Diplomat in Danzig, mit der Bitte um Unterstützung bei der Suche nach einer neuen Anstellung. Brief von Johann Sebastian Bach an Georg Erdmann in Danzig vom 28. Oktober 1730. Vgl. BachDokumente. Bd. 1. Nr. 23. S. 29f.
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Mehrfach finden sich unter den in Danzig wirkenden Musikern solche, deren Lebensweg als transnational gelten kann, da sie in mehreren Ländern tätig sind und somit in Kontakt mit diversen musikkulturellen Zentren treten. Josquin Baston28 aus Flandern – geboren um 1515, gestorben um 1576 – gehört in gewisser Weise dazu. Nacheinander dient er als Musiker und Kapellmeister am Kaiserhof, am Hof des polnischen Königs, dem des sächsischen Kurfürsten, dem des dänischen Königs, dem des schwedischen Königs und schließlich am Hof des Herzogs von Braunschweig-Calenberg. Während seiner Anstellung als „compositor cantus“ beim polnischen König (1552-1553) unternimmt er mit diesem eine Reise, die ihn von Krakau aus auch nach Danzig führt, späterhin dann nach Königsberg und von dort über Wilna wieder zurück nach Krakau. Auch Johann Valentin Meder29 aus Thüringen ist einer der Musiker mit außergewöhnlicher Mobilität. Sein Lebensweg führt ihn von seinen Studienorten in Leipzig und Jena weiter über Gotha, Meiningen, Eisenach, Kassel nach Bremen und Hamburg, Kopenhagen und Lübeck. Anschließend wird er Kantor in Reval (1674-1683), hält sich in Riga auf, ist danach Kapellmeister an St. Marien in Danzig (1687-1698/99), in Königsberg und Braunsberg, um schließlich von 1700 bis 1719 als Domorganist in Riga tätig zu werden. Berufliche Erfahrungen in England gemacht haben im 17. Jahrhundert z.B. der Danziger Marienkapellmeister Balthasar Erben30 sowie der Organist an St. Marien, Heinrich Döbel31, die sich beide überdies auch in Frankreich aufgehalten haben; aus London stammt hingegen der Fiedler Valentin Flood32, der 1616 Violinist der polnischen, 1627 der kurbrandenburgischen Hofkapelle ist und von 1634 bis zu seinem Tod 1636 in Danzig als Musiker an der Marienkirche wirkt. Niederländer wie Franciscus de Rivulo33, Anselmus Dulcet34, Johann Wanning35 und Egidius Torquin36 sind zwischen 1560 und 28
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Thomas Schmidt-Beste/Albert Dunning. „Baston“ [Artikel]. Musik in Geschichte und Gegenwart [im Folgenden: MGG]. Personenteil. Bd. 2. Kassel [u.a.] 21999. Sp. 462-465; Elżbieta Zwolińska. „Joannes Baston – Flämischer Compositor Cantus am Hofe des Jagiellonen-Königs Zygmunt August“. From Ciconia to Sweelinck. Donum natalicium Willem Elders. Hg. Albert Clement/Eric Jas. Amsterdam 1994. S. 215-219. Werner Braun. „Meder“ [Artikel]. MGG. Personenteil. Bd. 11. Kassel [u.a.] 22004. Sp. 1444ff.; Johann Mattheson. Grundlage einer Ehrenpforte. Hamburg 1740. S. 218-223; Rauschning. Geschichte (wie Anm. 5). passim. Friedhelm Krummacher. „Erben“ [Artikel]. MGG. Personenteil. Bd. 6. Kassel [u.a.] 22001. Sp. 407ff.; ders. „Ein Profil in der Tradition. Der Danziger Kapellmeister Balthasar Erben“. Musica Baltica. Interregionale musikkulturelle Beziehungen im Ostseeraum [Konferenzbericht Greifswald-Gdańsk 28. November bis 3. Dezember 1993]. Hg. Ekkehard Ochs/Nico Schüler/Lutz Winkler. St. Augustin 1996 (= Deutsche Musik im Osten. Bd. 8). S. 341-357. Rauschning. Geschichte (wie Anm. 5). S. 278. Ebd. S. 154. Ebd. passim. – Berthold Warnecke. „Rivulo“ [Artikel]. MGG. Personenteil. Bd. 14. Kassel [u.a.] 22005. Sp. 211f. Rauschning. Geschichte (wie Anm. 5). S. 32f. Ebd., passim; Gunther Morche. „Wanning“ [Artikel]. MGG. Personenteil. Bd. 17. Kassel [u.a.] 22007. Sp. 473f.; Agnieszka Leszczyńska. „Johann Wanning, kapelmistrz kościoła Mariackiego w Gdańsku [Johann Wanning, Kapellmeister der Marienkathedrale in Danzig]“. Muzyka [Musik] 44 (1999). S. 7-23. Rauschning. Geschichte (wie Anm. 5). S. 30 und 44.
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Klaus-Peter Koch
1603 Marienkantoren und -kapellmeister, während der in Danzig geborene und dort später als Marienorganist tätige Paul Siefert37 und der aus Böhmen stammende, in Danzig und Königsberg wirkende Organist Matthias Lederer38 Anfang des 17. Jahrhunderts bei Jan Pieterszoon Sweelinck in Amsterdam studieren. Noch 1718 (und 1731) nennen Instrumentenverzeichnisse an St. Marien aus den Niederlanden erworbene Flöten und Bassons.39 Italienische Musiker gibt es im Danzig des 17. Jahrhunderts zwar nur in geringer Zahl; Werke aus der venezianischen und römischen Schule sowie im konzertierenden Stil gehaltene Kompositionen waren in der Danziger Kirchenmusik allerdings bereits seit dem ersten Viertel des Jahrhunderts weit verbreitet. Das hat (im Rahmen der Zugehörigkeit Danzigs zum Königlichen Preußen) speziell während der Regierungszeiten von Zygmunt III. (reg. 1587-1632) und Władysław IV. (reg. 1632-1648) wohl eine wesentliche Ursache in der Vorbildwirkung der königlichpolnischen Hofkapelle, die unter der Leitung von Marco Scacchi steht (der von 1623 bis 1649 im Amt gewesen ist) und deren 50 Mitglieder größtenteils Italiener und Polen sind.40 Unter veränderten Voraussetzungen wird die Verbindung mit Italien auch noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gepflegt: 1753, 1759, 1769 und 1782 halten sich italienische Operntruppen in Danzig auf.41 Sowohl die große Zahl an Niederländern in Danzig (insbesondere in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts) als auch die überragende Bedeutung, die für lange Zeit der italienischen Musik zuerkannt wird, bestätigen nochmals den ‚transnationalen‘ bzw. ‚transethnischen‘ Grundzug, der Danzig ausgezeichnet hat und auch noch in etlichen weiteren kulturellen Wechselbeziehungen manifest wird: Für den dänischen Hof von Christian IV. (reg. 1588/96-1648) beispielsweise ist die Stadt der ‚Hauptlieferant‘ von Musikern, Musik und Musikinstrumenten, so dass sich einerseits mehrfach Musiker aus Danzig und dem Umland an jenem Hof finden, so wie sich andererseits auch Musiker mit beruflichen Erfahrungen in Dänemark wiederum in das Danziger Musikleben einbringen;42 Georg Voß43 – des Weiteren – wird 1658 in Danzig Zunftmeister, nachdem er sechs Jahre in Schweden,
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Ebd. passim; Matthias Schneider. „Siefert“ [Artikel]. MGG. Personenteil. Bd. 15. Kassel [u.a.] 22006. Sp. 757ff. Rauschning. Geschichte (wie Anm. 5). S. 192; Georg Küsel. Beiträge zur Musikgeschichte der Stadt Königsberg i. Pr. Halle an der Saale. 1915. S. 5f. (Hier: „Mattheus Leder“). Vgl. ebd. S. 312f. Mattheson. Grundlage (wie Anm. 29). S. 71f. Jerzy Michalak. „Italienische Operngesellschaften auf den Bühnen zu Danzig im 18. Jahrhundert“. Musik und Migration in Ostmitteleuropa. Hg. Heike Müns. München 2005 (= Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa. Bd. 23). S. 105-121. Ole Kongstedt. „Polnisch-dänische Musikbeziehungen im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert“. Musica Baltica. Danzig und die Musikkultur Europas. Gdańsk and European Musical Culture. Hg. Akademia muzyczna im. Stanisława Moniuszki w Gdańsku [Stanisław-Moniuszko-Musikakademie Danzig]. Red. Janusz Krassowski [u.a.]. Gdańsk 2000 (= Serie Prace Specjalne [Sonderarbeiten]. Bd. 57 ). S. 94-101. Rauschning. Geschichte (wie Anm. 5). S. 225.
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Livland und Finnland als Kunstpfeifer gedient hat; und Danziger Musikinstrumentenbauer schließlich liefern ihre Produkte regelmäßig auch nach Schweden.44 Um die Interkulturalität Danzigs auch hinsichtlich des dort über die Jahrhunderte gesammelten musikalischen Repertoires zu untersuchen, wurden exemplarisch zwei aktuellere, aus der Nachkriegszeit stammende Kataloge von Musikhandschriften ausgewertet. Diese liefern zwar ein nur fragmentarisches Bild, da hierin nur die gegenwärtig noch erhaltenen Bestände von Musikhandschriften – und nicht einmal auch diejenigen von Musikdrucken – berücksichtigt werden; dennoch lassen sich einige allgemeinere Tendenzen der jeweiligen Repertoirebildung erkennen.45 Der eine der Kataloge46 umfasst solche Musikhandschriften vom späten 15. bis zum 17. Jahrhundert aus der ehemaligen Danziger Stadtbibliothek, die sich noch heute in der Bibliothek der Polska Akademia Nauk [Polnische Akademie der Wissenschaften] in Danzig befinden. Neben 362 Anonymi werden hierin weitere 643 Werke 166 verschiedenen, namentlich genannten Komponisten zugeordnet (die Geburtsdaten reichen zurück bis um 1440, die Sterbedaten nach vorne bis ins Jahr 1677). Von diesen Komponisten stammen 64 aus deutschsprachigen Ländern (d.s. 38,6%), zudem werden 52 Italiener, 29 Niederländer, Flamen und Wallonen 44
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Benjamin Vogel. „Gdańsk musical instruments from the 17th and 18th centuries in Scandinavia“. Musica Baltica (wie Anm. 42). S. 82-88. – Danzig scheint im 17. und 18. Jahrhundert übrigens auch für die Verbreitung polnischer Tänze nach Skandinavien eine bedeutende Rolle zu spielen. Die Tatsache, dass polnische Tänze, die in zeitgenössischen Quellen Polens und Danzigs niedergeschrieben wurden (zu Letzteren gehören die in Anm. 16 genannten Manuskripte Mus. ms. 40264 und Ms. 4022, aber auch in den Mss. 4023 a-b, 4026 und 4029 sind polnische Tänze notiert), auch in Skandinavien vorkommen, weist darauf hin. (Siehe dazu: Klaus-Peter Koch. „Polnische Tänze in schwedischen Handschriften des 16. und 17. Jahrhunderts“. Svenskt Musikhistorisk Arkiv. Bulletin 10 [1973]. S. 1-16.) Die in Polen von Aristokratie und Bürgertum praktizierten Polonaisen werden in Schweden schließlich als Polska-Tänze in die bäuerliche Volksmusik integriert. Eine Auswertung des vierten, die Musikhandschriften enthaltenden Teils des älteren Handschriftenkatalogs der Danziger Stadtbibliothek von Otto Günther aus dem Jahre 1911 (der auch die musikalischen Vorkriegsbestände mit einschließt) steht noch aus, dürfte aber zu ähnlichen Ergebnissen führen wie die vorliegende Untersuchung. Vgl. Otto Günther. Katalog der Handschriften der Danziger Stadtbibliothek. Teil 4: Die musikalischen Handschriften der Stadtbibliothek und der in ihrer Verwaltung befindlichen Kirchenbibliotheken von St. Katharinen und St. Johann in Danzig. Danzig 1911. Hinzu kommen einige Musikhandschriften im Handschriftenbestand von St. Marien: Otto Günther. Katalog der Handschriften der Danziger Stadtbibliothek. Teil 5: Die Handschriften der Marienkirche. Danzig 1921. – Heute zeigen sich die Musikhandschriften-Bestände der ehemaligen Danziger Stadtbibliothek, die sich sowohl aus privaten und öffentlichen Sammlungen als auch aus denen der Kirchenbibliotheken von St. Bartholomäus, seit 1905 auch St. Johannes, St. Catharinen und St. Marien zusammensetzten, gewissermaßen dreigeteilt: Ein erster Teil konnte nach 1945 aus den verschiedenen Auslagerungsorten nach Danzig zurückgeholt werden und ist heute in die Danziger Bibliothek der Polnischen Akademie der Wissenschaften integriert. Dieser Teil wurde zusätzlich verfilmt, die Mikrofilme befinden sich in Warschau: Katalog mikrofilmów muzycznych [Katalog musikalischer Mikrofilme]. Bd. 1. Hg. Biblioteka Narodowa. Warszawa 1956. S. 11-74. Ein zweiter Teil, der nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst als vermisst galt, wurde 1959 zusammen mit der Königlichen Hausbibliothek aus der Sowjetunion als Depositum in die Musikabteilung der damaligen Ost-Berliner Deutschen Staatsbibliothek, der heutigen Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz , überführt. Ein dritter Teil gehört offenbar tatsächlich zu den Kriegsverlusten; insbesondere betrifft das an die hundert Handschriften aus der Kirchenbibliothek St. Catharinen. Danuta Popinigis/Danuta Szlagowska. Musicalia Gedanensis. Rękopisy muzyczne z XVI i XVII wieku w zbiorach Biblioteki Gdańskiej Polskiej Akademii Nauk [Musikhandschriften aus dem 16. und 17. Jh. in den Sammlungen der Danziger Bibliothek der Polnischen Akademie der Wissenschaften]. Katalog. Gdańsk 1990.
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sowie elf Franzosen genannt. Eine Herkunft aus Polen mit vier47, Böhmen mit zwei, England, Slowenien, Dänemark und Spanien mit je einem Namen ist dagegen selten; und nur zehn Personen sind mit Danzig persönlich verbunden, indem sie dort geboren wurden bzw. gestorben sind und/oder in dieser Stadt tätig waren.48 In vielen Fällen ist die Herkunftsregion der Musiker freilich nicht identisch mit den Regionen, in denen sie ihre Ausbildung absolvierten oder arbeiteten. Mehrfach erweist sich deren Lebenslauf geradezu als prädestiniert, Anregungen aus den Kulturen verschiedener Ethnien aufzunehmen. Die Provenienz der Komponisten bietet für diese Zeit somit nur eines (und nicht einmal unbedingt das dominierende) der Kriterien, nach denen die interkulturellen Aspekte eines städtischen Musikrepertoires zu beurteilen sind. Der andere Katalog 49 enthält weitere ältere Bestände der ehemaligen Danziger Stadtbibliothek, soweit sie im Kontext des Zweiten Weltkriegs als Depositum nach Berlin gelangten. Die Zeitspanne, aus der in dieser Sammlung Komponisten vertreten sind, reicht von ‚um 1550‘ als frühester Geburtsangabe bis 1903 als spätestem Sterbedatum; dieser Katalog umschließt somit einen wesentlich längeren Zeitraum als der vorgenannte. Hier werden neben 1.465 Anonyma 567 Werke mit 169 verschiedenen Komponisten-Namen erfasst. Der relative Anteil der Tonsetzer aus den deutschsprachigen Ländern ist mit 124 von 169 Personen (d.s. 73,4%) nun deutlich höher.50 Von den übrigen führen statistisch die Italiener (20) vor den Franzosen (13) und Böhmen (neun), vereinzelt werden Musiker aus England (zwei) und Polen (einer)51 genannt. Zwölf Personen sind von ihrer Tä-
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Genannt werden Marcin Mielczewski, Bartłomiej Pękiel, Jacek Różycki und Andrzej Sokół. Die ersten drei sind Musiker der königlich-polnischen Kapelle, der Letztgenannte ist als Sänger an der Danziger Marienkirche in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts tätig. Nur für Caspar Förster jun. (1616-1673) ist feststellbar, dass er in Danzig geboren wurde. Wegen seiner Geburt im Danziger Umland könnte man noch Thomas Strutius (um 1621-1678, aus Preußisch Stargard) dazurechnen. Beider Kompositionen befanden sich vor dem Zweiten Weltkrieg unter den Beständen der damaligen Danziger Stadtbibliothek, gelten jedoch heute als Kriegsverluste. Danuta Szlagowska/Barbara Długońska/Danuta Popinigis/Jolanta Wożniak. Thematic catalogue of music in manuscript from the former Stadtbibliothek Danzig kept at the Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv. Kraków/Gdańsk 2007. Die zunehmende Germanisierung der Danziger Bevölkerung zeigt sich u.a. auch im Männerchorwesen und dessen Repertoire. 1864 sind für Danzig allein sechs deutsche Männergesangvereine ausgewiesen, die bis auf das Jahr 1823 zurückgehen. Vgl. Helmut Loos. „Deutsches Männerchorwesen in Danzig“. Musica Baltica (wie Anm. 42). S. 503-510. Hierbei handelt es sich um Jakub Polak (um 1545 bis um 1605), der bald nach 1587 nach Paris geht. – Die zuvor aufgewiesenen engen interkulturellen Beziehungen zwischen Danzig und Polen scheinen im Widerspruch zu der nur geringen Präsenz zu stehen, die polnischen Komponisten in den beiden diskutierten Verzeichnissen zukommt. Diese Diskrepanz könnte durchaus mit der einseitigen sozialen Ausrichtung der (bei der Analyse ausschließlich berücksichtigten) schriftlichen musikalischen Quellen auf die Bereiche Kirche, Hof und Stadt zusammenhängen. Erst eine – methodisch allerdings keineswegs unproblematische – Erschließung jener Musik, die in Privathäusern, auf den Tanzböden und Märkten oder im dörflichen Umland Danzigs praktiziert (und deshalb oftmals nicht schriftlich notiert) wurde, erlaubte einen hinlänglichen Überblick über die wichtigsten Konstituenten der musikkulturellen Verstrebungen. Ein vergleichbarer ‚blinder Fleck‘ dürfte sich in dieser Untersuchung übrigens auch hinsichtlich der intensiven, quellenmäßig hier aber kaum belegten Danziger Verbindungen mit den skandinavischen Ländern ergeben, vgl. auch Anm. 44.
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tigkeit her mit Danzig verbunden, fünf von ihnen wurden überdies auch in Danzig oder im Danziger Umland geboren.52 Vergleicht man die beiden Kataloge miteinander, so sind im Danziger Repertoire bereits vordergründig bemerkenswerte Verschiebungen festzustellen53: Das eine, bis ins 17. Jahrhundert hineinreichende Verzeichnis lässt erkennen, dass die regionalen Einflusssphären, die über die Herkunftsorte oder Wirkungsstätten der Komponisten bestimmbar werden, eine große Variationsbreite aufweisen und die Bestände zudem quantitativ in einer relativ gleichmäßigen Verteilung prägen; im anderen, auch das 18. und 19. Jahrhundert mit umfassenden Katalog erscheint demgegenüber das Spektrum der kulturellen Wechselbeziehungen verkleinert, vor allem aber zeigt sich bei den Mengenrelationen nun eine extreme Ungleichgewichtigkeit zu Gunsten des deutschsprachigen Raums, dem nahezu drei Viertel aller Komponisten zugehören. Diese Verschiebungen lassen sich noch erheblich genauer erfassen, sobald die Komponisten aus dem zweiten Katalog (der den alten Handschriften-Bestand der Stadtbibliothek zu Danzig erfasst) historisch unter dem Gesichtspunkt differenziert werden, ob ihre jeweilige Hauptwirkungszeit bis zur Phase der Polnischen Teilungen bereits abgeschlossen war oder ob sie erst nach diesen tiefgreifenden politischen Prozessen eingesetzt hat: Dem Zeitraum bis 1772/93 sind – cum grano salis – 65 der 169 aufgelisteten Personen zuzuordnen; von ihnen stammen 38 (d.s. 58,5%) aus Deutschland und Österreich, zwölf aus Italien (18,5%), zehn aus Frankreich (15,4%) und die übrigen fünf aus Böhmen (zwei), England (zwei) und Polen (einer). Von den 104 Komponisten, die (wiederum cum grano salis) überwiegend nach 1772/93 gewirkt haben, stammen nunmehr 86 (d.s. 82,7%) aus Deutschland und Österreich; einen deutlichen prozentualen Anstieg verzeichnen auch die Tonsetzer aus den böhmischen Ländern, denn mit sieben Personen beträgt ihr Anteil nun 6,7% (statt zuvor 3,1%), während jetzt lediglich noch acht (statt zuvor zwölf) Italiener und sogar nur noch drei (statt zuvor zehn) Franzosen genannt werden (was einem prozentualen Rückgang von 18,5% auf 7,7% bzw. von 15,4% auf 2,9% entspricht); Komponisten aus dem übrigen Ausland, z.B. aus England oder Polen, sind schließlich überhaupt nicht mehr vertreten. Die geschichtlich variierende Berücksichtigung von Komponisten aus unterschiedlichen Regionen legt zum einen die Vermutung nahe, dass bei der Konstitution des Danziger Musikrepertoires bereits während des 18. Jahrhunderts die zuvor gepflegte breite, internationale Orientierung allmählich eingeschränkt wird, 52
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Die Komponisten aus Danzig und dem Danziger Umland sind: Benjamin Gotthold Siewert (1743-1811), Theodor Friedrich Kniewel (1783-1859), Friedrich Hieronymus Thrun (1811-1886, aus Elbing), Friedrich Wilhelm Markull (1816-1887, aus Elbing) und Otto Thiesen (1817-1849). Zu den folgenden Vergleichen muss allerdings prinzipiell angemerkt werden, dass sie nur die Komponisten-Namen, nicht aber auch noch die Anzahl der einem Komponisten jeweils zugeordneten Werke berücksichtigen; solch eine genauere Gewichtung der einzelnen Namensnennungen würde sicherlich noch aussagekräftigere Häufigkeitsangaben ermöglichen, die der hier beobachteten Grundtendenz aber kaum widersprechen dürften.
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dass von der italienischen und französischen Musik nur noch geringere Impulse ausgehen und stattdessen die Tendenzen im deutschsprachigen Kulturraum mit stetig wachsendem Interesse verfolgt werden. Zum anderen vermögen die genannten Zahlenverhältnisse mit einiger Präzision zu veranschaulichen, wie vehement dann nach der Arrondierung der neuen Provinz Westpreußen sowie der Eingliederung auch Danzigs in den preußischen Staat die Werke böhmischer sowie vor allem freilich deutscher und österreichischer Komponisten das Gesamtbild bestimmen. Dabei kann diese Verschiebung zwar gewiss nicht einseitig auf die veränderten politischen Konstellationen zurückgeführt werden; vielmehr sind hier selbstverständlicherweise auch andere Faktoren wirksam geworden wie z.B. die in etlichen anderen Ländern Europas ebenfalls akzeptierte paradigmatische Bedeutung der deutschen Musik für die aktuelle Stil- und Gattungsentwicklung oder (gleichsam im Gegenzuge) die Herausbildung ‚nationaler‘ Schulen, die ein Ausblenden anderer Kulturen und für Danzig die Konzentration auf ‚eigene‘ Zentren (wie nun Berlin oder Wien) mit sich brachten. In jedem Falle aber wird die Stadt im 19. Jahrhundert von der deutschen Musikkultur dominiert. Für die Aufnahme eines Komponisten in das städtische Repertoire wandelt sich seine Provenienz jetzt definitiv zum nahezu allein entscheidenden Kriterium – und die über Jahrhunderte prosperierende interkulturelle Vielfalt des Musiklebens54 weicht endgültig einer ‚national‘ bestimmten Einstellung; gerade ihr dürfte nicht zuletzt auch eine Mitverantwortung für den weitgehenden Provinzialismus anzulasten sein, der Danzig während der nachfolgenden Jahrzehnte – zumindest bis zum Ende der Kaiserzeit – geprägt hat.55
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Dass sich die Interkulturalität Danzigs etwa im 16. Jahrhundert bei weitem nicht nur auf das Musikleben beschränkt, deutet für diese Zeit beispielsweise Henryk Samsonowicz mit dem Satz an: „Danzig war Vermittlungszentrum bezüglich des Kulturschaffens der Länder Westeuropas in den Bereichen der Schönen Künste, der Architektur, des Geldverkehrs und der Staatsstrukturformen.“ Vgl. Henryk Samsonowicz. „Danzig – eine Stadt Europas“. Musica Baltica (wie Anm. 42). S. 17-20. Das von Peter Oliver Loew zusammengestellte (und im Jahre 2000 publizierte) „Lexikon Danziger Komponisten“, das den Zeitraum von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts umfasst, belegt schlagend die geradezu erdrückende Dominanz der Deutschen innerhalb der Danziger Musikkultur. Vgl. Peter Oliver Loew. „Lexikon Danziger Komponisten (Mitte 19. bis Mitte 20. Jahrhundert). Ein Beitrag zur Geschichte der lokalen Musikkultur“. Musikalische Beziehungen (wie Anm. 21). S. 227-312. Mit nur ganz wenigen Ausnahmen, die keinesfalls auch nur als Spur eines weiterhin bestehenden ‚Internationalismus‘ gedeutet werden können, werden die dort verzeichneten Personen in Danzig und dem engeren Danziger Umland, in den südlichen Ostseeanrainergebieten, in anderen preußischen Provinzen oder zumindest auf dem Terrain des (seit 1871 so genannten) Deutschen Reichs geboren. Ein Blick auf die Sterbeorte berechtigt darüber hinaus zu der Vermutung, dass Danzig für die dort tätigen Komponisten keine besonders hohe Attraktivität mehr besessen hat, denn es sind verhältnismäßig nur wenige Musikerpersönlichkeiten, die ihr Leben in dieser Stadt oder ihrer Umgebung beschließen; sehr viel mehr Personen finden ihre letzte Ruhestätte in anderen Regionen Preußens (vor allem in Berlin) oder auch in den süddeutschen Staaten des Deutschen Reichs. (Der Anteil derjenigen, die außerhalb der Reichsgrenzen sterben, ist übrigens mit 14 von insgesamt 153 im Lexikon verzeichneten Komponisten sehr gering und mit der entsprechenden Proportion von 8 zu 153 bei den Geburtsorten durchaus vergleichbar.)
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Zusammenfassung Interkulturalität im Sinne von Wechselbeziehungen zwischen zwei und mehr Kulturen sowie Transnationalität und Transethnizität sind in der gegenwärtigen Migrations- und Kulturtransfer-Forschung zentrale Kategorien. Am Beispiel der Danziger Musikkultur lassen sich für den Zeitraum vom späten 15. Jahrhundert bis zur Phase der Polnischen Teilungen solche Phänomene unter mannigfachen Aspekten beobachten. Dabei werden die Beziehungen zwischen den Musikkulturen Danzigs und Polens, aber auch die Wechselwirkungen zwischen dem Danziger Musikleben und Musikern bzw. Komponisten aus den verschiedenen Regionen Deutschlands (insbesondere aus Mitteldeutschland) sowie aus den anderen Musikkulturen Europas in den Blick genommen. Aus diesen Betrachtungen ergibt sich das Bild einer in hohem Maße transnational bzw. transethnisch geprägten Stadt, die ihr Potential an Interkulturalität über Jahrhunderte dynamisch entfaltet; im weiteren geschichtlichen Verlauf zeigt sich freilich, wie stark auch Danzig von musikalischen wie politischen Veränderungen abhängig gewesen ist: Nachdem die Stadt zu Preußen gehört, verliert sie rasch ihre früher gepflegte kulturelle Offenheit und Durchlässigkeit – und fügt sich stattdessen der nun ‚zeitgemäßen‘ Dominanz eines ‚nationalen‘ Denkens und der fraglosen Grundorientierung an den Werten und der Entwicklung der ‚deutschen‘ Musik. Streszczenie Gdańsk do czasu rozbiorów Polski: ośrodek wymiany kultury muzycznej Interkulturowość rozumiana jako wzajemne relacje między dwiema lub więcej kulturami oraz transnarodowość i transetniczność to we współczesnych badaniach nad migracją i transferem kulturowym kategorie zasadnicze. Fenomeny te można w rozmaity sposób prześledzić na przykładzie gdańskiej kultury muzycznej w okresie od schyłku XV wieku do czasu rozbiorów Polski. Autor przygląda się relacjom między kulturami muzycznymi Gdańska i Polski oraz wzajemnym oddziaływaniom między gdańską sceną muzyczną a muzykami względnie kompozytorami, pochodzącymi z różnych regionów Niemiec (zwłaszcza Niemiec Środkowych) i innych kultur muzycznych Europy. Z rozważań tych wyłania się obraz w dużej mierze transnarodowo względnie transetnicznie ukształtowanego miasta, które przez całe stulecia rozwijało tkwiący w nim potencjał interkulturowości, z dalszej historii wynika jednak, jak mocno Gdańsk był uzależniony od zmian w sferze muzycznej i politycznej: po okresie przynależności do Prus szybko traci swą dotychczasową kulturową otwartość i przenikalność – godząc się zamiast tego na ‚zgodną z duchem czasu‘ dominację myśli ‚narodowej‘, bezkrytyczny stosunek do wartości i rozwijanie ‚niemieckiej‘ muzyki.
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Klaus-Peter Koch
Abstract Danzig (Gdańsk) until the Partitions of Poland: a center of music cultural exchange Interculturality (in the sense of interplay between two and more cultures), transnationality and transethnicity are central categories in today’s migration and cultural transfer research. Such phenomena can be observed under manifold aspects using the example of Danzig musical culture for the period from the late 15th century up to the phase of the Partitions of Poland. Here the relations between the music cultures of Danzig and Poland but also the interplay between Danzig music life and musicians or composers from the different regions of Germany (particularly from Central Germany) and from the other European music cultures are examined. From these observations one obtains a picture of a city which is to a large extent transnational or transethnic and has unfolded its potential for interculturality dynamically over centuries; in the further course of history it is, of course, obvious how heavily dependent Danzig also was on musical and political changes: after the city became part of Prussia, it quickly lost its cultural openness and the permeability which it had previously cultivated – and succumbed instead to the now “contemporary” dominance of a “national” way of thinking and the unquestioning basic orientation to the values and the development of “German” music.
Benjamin Vogel (Lund/Schweden)
Violin making in Gdansk (Danzig/Gdańsk), especially in the 17th and 18th centuries During the last few centuries Gdansk (Danzig/Gdańsk) was a very active musical centre, basically the musical capital of the whole region. It was, especially in the 17th and 18th centuries, also a very productive centre for musical instrument making. Besides many organ makers1 several dozen string instrument makers worked there, as well as at least a dozen wind instrument makers, bell-founders and, since the second half of the 18th century, numerous piano makers. Many Gdansk instruments were listed in the inventories of orchestras in Polish royal and aristocratic courts at that time, e.g. in the inventory of Charczewskis’ court from 1760 and 1773: Trumpets new with mouthpieces from Danzig received in 1770 – 2 […] Danzig’s violins new, cherry painted with boxes - 2 […] Danzig’s horns new with crooks and level risers [terminal crooks? couplers?] for three tones [from] 1771 – 2[;] Danzig’s trumpets new with mouthpieces [from] 1770 – 2 [probably repetition of the first inscription] […] Danzig’s violin new [from] 1771 – 1.2
Instruments from Gdansk, both signed and unsigned, were also exported to other European countries, many of them to Scandinavia.3 The Musik & Teatermuseet in Stockholm, for example, owns an anonymous violin (inv. no. 2857), which is labelled “Förfärdigad uti Danzig 1699. Repparerad af Eric Stenius, Faräsund 1806 [Made in Danzig 1699. Repaired by Eric Stenius, Faräsund 1806]”. In Gdansk numerous crafts apprentices and journeymen, not only from central Poland and neighbouring countries but also from Scandinavia, were trained. Between 1725 and 1740 the Swedish authorities strived to import keyboard instrument makers
1
2 3
Compare Werner Renkewitz/Jan Janca. Geschichte der Orgelbaukunst in Ost- und Westpreußen von 1333 bis 1944. Vol. I. Würzburg 1984; Jan Janca. “Abriß der Geschichte des Orgelbaus in den Kirchen Danzigs bis 1800“. Musik des Ostens. Vol. 11. Kassel 1989. p. 17-73; Herbert Heyde. Musikinstrumentenbau in Preußen. Tutzing 1994. Izabela Pajdak. “Instrumenty muzyczne w inwentarzach dworu Charczewskich [Musical instruments in the royal court inventories of the family Charczewski]”. Muzyka 35 (1990). No. 2. p. 103f. [quoted in English translation]. Benjamin Vogel. “Gdańsk Musical Instruments from the 17th and 18th Centuries in Scandinavia”. Musica Baltica. Danzig und die Musikkultur Europas/Gdańsk and European Musical Culture. Ed. Danuta Popinigis/Akademia Muzyczna. Gdańsk 2000. p. 82-88.
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Benjamin Vogel
(among others) from Gdansk to Stockholm.4 This tradition also continued, albeit to a much lesser extent, after the incorporation of Gdansk into Prussia, for Danzig remained until the beginning of the 20th century quite an important centre of musical instrument making, at least for Pomerania. The following discussion concerns mainly violinmaking in Gdansk from about the middle of the 16th until the 18th century. (A concluding insight then covers the following period to the middle of the 20th century.) Here the statements are based mostly on archival materials. The research in archives in Gdansk not only focussed on birth, death and marriage books in particular parishes from the 17th to the 19th century, but also involved “Schöppengericht” [jurors’ tribunal] or “Wettegericht” [administrative-executive body of the Municipal Council] records. Other records include “legitimate birth” certificates, which were necessary to receive the town’s citizenship, and various other forms of endowment of citizenship. All recorded luthiers were mentioned together with their profession. The descriptions are “Violmacher”, “Violinmacher”, “Lautenmacher” [viol, violin and lute maker] or in earlier decades also “Fiedelmacher” [fiddle maker]. The archival research results obtained till the present day have revealed only three names of Gdansk luthiers from the 16th century and it is likely that only about 5-10 luthiers existed in Gdansk during that century. The numbers of Gdansk luthiers in the 17th and 18th centuries recorded in local archives are also incomplete and are based mainly on references concerning craftsman punished for illegal trading or on the numerous financial penalties imposed upon craftsmen performing their profession without appropriate entitlements or guild memberships.5 Many luthiers opted to pay penalties during economically unfavourable periods (such as the Thirty Year’s War of 1618-48, the Swedish “Deluge” of 1655-60, the Northern War of 1700-21, the Succession War of 1733-34 as well as natural disasters), rather than paying the much higher guild or citizens charges. The plan of the St Dominic Fair, which took place around 1700 and is preserved in Gdansk archives, in which several stringed instrument makers’ stalls are marked, is another proof of the profession’s popularity in the historical Gdansk (figure 1). Numerous violin makers can also be found listed among the several thousand victims of the plague, which ravaged Gdansk and its suburbs in 1709. The beginning of the 18th century, to which these documents also belong, was apparently the peak period of violinmaking activity in the town. Based on reconstructed lists of craftsmen, as many as 35 violinmakers can be found in Gdansk in
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Edmund Cieślak/Zbigniew Nowak/Jerzy Stankiewicz/Jerzy Trzoska. Historia Gdańska [The history of Gdansk]. Vol. 3. Part 1. Ed. Edmund Cieślak. Gdańsk 1993. p. 451f. I am indebted to Jerzy M. Michalak, an illustrious researcher on the musical culture of historical Gdansk, for information about many of the sources, as well as – on a number of occasions – help in their deciphering and interpretation.
Violin making in Gdansk (Danzig) in the past four centuries
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Fig. 1: The plan (a fragment) of St. Dominic Fair’s stalls in Danzig, c. 1700.
the 17th and 24 in the 18th century. Records of most of the local residents and citizens who traded legally are missing. Therefore one could increase the estimated number of Gdansk luthiers probably by at least 30% to approx. 50 in the 17th century and approx. 35 in the 18th century. In the 18th century, partly due to the horrible plague of 1709 already mentioned, the number of local luthiers decreased. Some of them, however, like Johann Benjamin Gronau or Johann Goldberg (Gollberg, Goldtberg, Goltberg), became famous far away from the region of Pomerania (figure 2). It was a time when – besides other instruments manufactured here – the so-called skrzypce gdańskie [Gdansk violin] was well known in many parts of Poland.6 Unfortunately, a number of instruments preserved by Johann Goldberg went missing during World War II, including a 1740 theorbo (lute cittern), the property of well-known Warsaw-based collector Gustaw Soubise-Bisier. Only an illustration of this instrument (in watercolour, painted in 1916 by Władysław Sztolcman for the files of the Muzeum Narodowe w Warszawie [National Museum in Warsaw]7) survived. Christof (Christoph) Meyer (Mener, Menner) – another 18th century Gdansk violin maker – is also well-known and famous. The above brief analysis of the number of Gdansk luthiers may suggest mass production of stringed musical instruments in Gdansk in the 17th and 18th centuries. According to Herbert Heyde’s article about “Entrepreneurships in preindustrial instrument making”8, there are three possible main models of mass 6 7 8
Benjamin Vogel. “Gdańskie klawikordy i klawesyny w XVII-XVIII w [Gdansk clavichords and cembalos in the 17th and 18th centuries]”. Muzyka 49 (2004). No. 1. p. 79. Muzeum Narodowe w Warszawie, Zbiory Ikonograficzne i Fotograficzne [National Museum in Warsaw, Iconographic and Photographic Collection]. No. 6365; see also Vogel. “Gdańsk Musical Instruments” (see note 3). p. 83, 87. Musikalische Aufführungspraxis in nationalen Dialogen des 16. Jahrhunderts. 26. MusikinstrumentenbauSymposium, Michaelstein, 6. bis 8. Mai 2005. Teil 2: Musikinstrumentenbau-Zentren im 16. Jahrhundert. Michaelsteiner Konferenzberichte. Vol. 72/2. Ed. Boje E. Hans Schmuhl/Monika Lustig. Augsburg 2007. p. 25-63.
Benjamin Vogel
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Fig. 2: Johann Goldberg, theorbo, Danzig 1740. Gustaw SoubiseBisier’s collection. Drawing by Władysław Sztolcman, 1916.
production before the factory system was introduced: pyramidal business and manufactory model, maker-merchant model and merchant model.9 The first model comprises a maker, who assembles and finishes instruments in his workshop and has various contractors producing the instrument’s parts for him. (If they all work under one roof this is called a manufacture.) The second model is based on a craftsman, who entrusts making instruments according to his design and wishes to other instrument makers (pieceworkers). They in turn can engage subcontractors and parts’ suppliers. The third model consists of a merchant without any craftsman’s skills, who simply orders instruments from instrument makers and usually provides them with material and money in advance. As we do not have enough data about such activity among Gdansk luthiers (such as e.g. posthumous inventories, last wills and so on) we cannot ascertain which of the above-mentioned models was employed among the local stringed instrument makers. An important source in this respect is the above-mentioned plan of twenty-three stands at the St Dominic Fair from around 1700, which were marked as “Violenmacher u. Weißgerber [viol makers and leather-dressers]”. 9
Ibid. p. 32.
Violin making in Gdansk (Danzig) in the past four centuries
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(Because of the lack of additional references written down on the plan of St Dominic Fair we do not know exactly which stalls were especially for luthiers.) Every stall had its size specified in feet (f. = Fuß ) varying from 6 to 22 each, i.e. from approx. 188 to 690 cm (one Preußischer Fuß = ca. 31,385 cm). This can be seen on the plan, where stalls have different sizes. The fee for hiring a place on the market probably did not relate directly to the size. For example, at the 1689 St Dominic Fair a “Violmacher”10 named Marten Behn paid 3 florins for a 6-foot stall while Peter Roßmann – a leather-dresser – paid 4 florins for a stall of the same size and in 1693 two other luthiers, Michael Wancke and another Roßmann (Thomas), paid 6 florins for a stall each. However, we have no records about the size of those stalls.11 This information on participation in such markets suggests that luthiers were selling their instruments themselves. Therefore we can suspect a pyramidal business or maker-merchant practice here rather than a merchant model. (The latter model was probably more popular among the villagers and peasants accustomed to manufacture things mostly during the winter, when they did not have to farm the land.)12 The archive results from the 19th and 20th centuries concerning the number of violinmakers are much more exact, as they are based on the printed sources (mainly address books), which means that the possible error should not exceed approx. one per cent. Not only do we have much more data about the local luthiers from these centuries but also a lot more preserved instruments built by them, some of them still in use today.13 In the 19th century, the number of active luthiers in Gdansk fell to approx. fifteen and in the first half of the 20th century seventeen luthiers can be found. This marked decline can be seen as a result of the town losing its previous role as an economic and political centre due to the above-mentioned incorporation of Gdansk into Prussia in 1793, which cut off former markets (incl. Polish) and led to extensive competition from Königsberg14 and from the central German states. 10
11 12 13 14
The titles “Violmacher” or “Violenmacher” used on these occasions prove that viols were still very popular at the beginning of the 18th century and probably still one of the main products of local luthiers. Archiwum Państwowe w Gdańsku [Gdańsk State Archive] (Kämmerei). 300. 12/336. p. 76, 168. It is possible that in the 17th century Gdansk was a centre of cottage-industry production, like Mittenwald in the south of Germany, where individual makers specialised in manufacturing particular parts of the instrument, while others assembled them. Compare Benjamin Vogel. Słownik lutników działających na historycznych i obecnych ziemiach polskich oraz lutników polskich działających za granicą do 1950 roku [Dictionary of luthiers active in historical and present-day Polish territories, as well as Polish luthiers abroad; until 1950]. Szczecin 2007. Königsberg itself was not a violin-making power, although among the eleven makers documented here in the 17th century we find such well-known names as Gregorius Karp and Gottfried Tielke. In the 18th and 19th centuries there were approx. nine and eight luthiers in Königsberg respectively, including one A. W. Grabowski, who was recorded in mid-18th century. His theorbized lute from around 1749 was shown at a musical exhibition held in the Stadtmuseum in Danzig in 1937. Unfortunately, all we know about the instrument is an inferior-quality newspaper photograph of its head. “Frau Musika im alten Danzig“. Danziger Neueste Nachrichten. No. 247 (1937 ). p. 5f.
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The former instrument-making centre Gdansk deserves more serious study and attention. The enclosed list of luthiers recorded in Gdansk during the past four centuries makes it clear how wide this field of research is. In addition, the up-to-date biographies of the above-mentioned most famous three Gdansk luthiers complement the overall content of this essay, which is more introductory than comprehensive. ____________________ Abstract During the last few centuries, Gdansk (Danzig) was a very active musical centre, a kind of a musical capital of the whole region. Especially during the 17th and 18th centuries it was also a very productive centre for musical instrument making (mainly organs, wind and stringed instruments, keyboard instruments and so on). Many of Gdansk’s instruments were listed in the inventories of orchestras in Polish royal and aristocratic courts at that time. Among others, several dozen string instrument makers were recorded among the town’s residents and citizens: at first as the fiddle makers, later the lute makers, viol makers and violin makers. Christof Meyer, Johann Goldberg and Johann Benjamin Gronau (whose biographies are attached in the Appendix) are perhaps the best known, but they are only three of many other violin makers who worked in Gdansk. A map of the St Dominic Fair (around 1700) preserved in the Gdansk archives, on which stringed instrument makers’ stalls are marked, is further proof of the profession’s popularity in the past of this city. Streszczenie Dawne lutnictwo gdańskie z szczególnym uwzględnieniem XVII i XVIII w. Na przestrzeni ostatnich kilku stuleci Gdańsk był bardzo prężnym ośrodkiem muzycznym, swego rodzaju muzyczną stolicą regionu. Był on również, zwłaszcza w XVII i XVIII w., bardzo efektywnym ośrodkiem produkcji instrumentów muzycznych (głównie organów, dętych i strunowych, klawiszowych i innych). Wiele gdańskich instrumentów wyliczano w inwentarzach orkiestr polskiego dworu królewskiego i magnackich tego okresu. Pośród obywateli i mieszkańców miasta odnotowano m.in. kilkudziesięciu lutników, początkowo jako budowniczych fideli, potem lutni, wiol i skrzypiec. Christof Meyer, Johann Goldberg i Johann Benjamin Gronau (których biogramy zamieszczono w Aneksie) należą do najbardziej znanych, ale to tylko trzech spośród wielu innych lutników działających w Gdańsku. Zachowany w miejscowych archiwach Plan Jarmarku Dominikańskiego z ok. 1700 r., z zaznaczeniem straganów lutników to kolejny dowód popularności tego zawodu w przeszłości Gdańska.
Violin making in Gdansk (Danzig) in the past four centuries
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Zusammenfassung Danziger Violinenbau, insbesondere im 17. und 18. Jahrhundert Danzig (Gdańsk, Gdansk) war die letzten Jahrhunderte hindurch ein Zentrum musikalischer Aktivitäten, eine Art Musikhauptstadt Preußens. Vor allem während des 17. und 18. Jahrhunderts war die Stadt auch ein bedeutendes Zentrum des Musikinstrumentenbaus (Orgeln, Blas-, Saiten-, Tasteninstrumente etc.). Viele Danziger Instrumente wurden in den Inventarlisten aristokratischer und königlicher Orchester dieser Zeit geführt. Unter anderem verzeichnete die Stadt unter ihren Einwohnern mehrere Dutzend Saiteninstrumentenbauer, zunächst als „Fiedelmacher“, später dann als Lauten-, Bratschen- und Geigenmacher. Christof Meyer, Johann Goldberg und Johann Benjamin Gronau (deren Biographien im Anhang angeführt werden) sind wohl die bekanntesten, dabei allerdings nur drei von zahlreichen Geigenbauern, die in Danzig arbeiteten. Ein in Danziger Archiven aufbewahrter Plan des Sankt-Dominik-Festes aus der Zeit um 1700, in dem der Marktstand eines Saiteninstrumentenbauers vermerkt ist, zeugt von der Popularität dieses Berufes im historischen Danzig.
Annex Luthiers in Gdansk recorded between ca. 1550 and 19501 16th c. – 3 Havemann, Kaspar, 1549-61 Lowicz, Stenzel, 1549-57 Merten, 1585
17th c. – 35 Bartholdi, Tideman, 1686-94 Behn, Marten, 1689 Bien, Ludwig, 1689 Buncke (Bunge, Bünge), Paul, ca. 1686-91 Cawarski (Cawarek, Kawarek), Michael, 1647-55 Clement, Issac, 1693 Dircksen, Marten (Martin), ca. 1670-91 Ferwen, Ernst, before 1696 Fleming (Flemming), Georg, ca. 1637-52 Fletzke, Greger, ca. 1686-90 1
Symbols used: * born, † died; years without symbols represent the time during which these persons were somehow recorded in the town.
116 Helschemacher (Helssemacher), Nathaniel, so ca. 1678-1707 Janssen, Isaac, 1699 Kamlak (Kamlack), Michael, 1655 Kerst, Michael, ca. 1663-95 Kohle, Valentin, 1696 Lenert, Michel, 1685-88 Meyer, Christof, * ca. 1645, † 1697 Meyer, Johann, 1690 Netzler, Hans, 1688 Pape, Nathanael, 1690 Pohle, Valentin, 1641-99 Preuss (Preus), Martin (Marten), * 1597, † 1663 Puniewski (Puniecki, Poniefsky), Christoph (Krzysztof), 1595-1672 Rahts, Jacob, 1683-89 Redloff, Nathanael, 1688 Rossman (Rotzman), Thomas, ca. 1661-99 Schrader, Sigmundt (Sigmund), 1669-97 Steinicke (Steinicht), Paul, ca. 1657-61 Tettelbacher, Anders, 1605 Wagner, Kristian, 1659 Wancke, Ernst Friedrich, 1694-1706 Wancke, Michel, ca. 1689-1706 Weber, Christoff (Christoph), 1694 Wemcker, Michel, 1688 Wermuth, Gotfriedt (Gottfried), 1693-99
18th c. – 23 Albrecht, Paul, 1706 Asmus, Greger, 1736 Ellg, Johann, † ca. 1787 Fuhrmann, Johann, 1799 Goldberg (Gollberg, Goldtberg), Johann, * ca. 1701, † 1765 Gronau, Johann Benjamin, * 1758, † 1816 Juchonowicz, Adam, † before 1730 Kickau, David, 1740 Krigge, Heinrich, mid-18th c. Machowski (Machowsky, Makowski), Jakub ( Jacob), ca. 1782-98 Parchem, Marten, 1699-1725 Rauscher, Johann Friedrich, ca. 1767-72 Reichard, Salomon, 1755 Rossman, Johann, 1700-07 Scheeffer (Scheefer), Ernst Jonathan, ca. 1787-99 Schultz, Bartel, 1703 Schwarz, Elisabeth, 1774 Siegeleith, ca. 1774-1800 Steck (Staeck), David, 1752-64 Storch, Georg, early-18th c.
Benjamin Vogel
Annex: Luthiers in Gdansk recorded between ca. 1550 and 1950 Tängel (Tangel, Tengel, Dengel), Johann, * ca. 1668, † 1757 Tängel, Johannes, ca. 1763 Zornig, Abel, 1709
19th c. – 15 Buchholz, Ferdinand G., † before 1875 Caré, Paul Otto Robert, * 1859, † 1927 Ellg, Friedrich Gustav, 1809 Freydeck, Johann Gottlieb, ca. 1806 - ca. 1812 Freyer, 1803-07 Jaworski, Franciszek, * 1862 Krause, Robert Wilhelm, ca. 1860-1909 Leitzsch (Leitsch), Constantin, * 1835, † 1890 Mentzel (Menzel), Carl Eduard, 1880-86 Otto, C. W. S., 1841-42 Riedel, Joseph Alexander, * 1810, † 1866 Seifert, Oscar Alwin, ca. 1883-89 Skibbe, F., 1884-1900 Trossert, August, 1875 - ca. 1900 Weber, Johann Daniel, * 1763, † 1837
20th c. – 15 Bilik, Jan, * 1906, † after 1945 Conradt, Arthur, 1912 - ca. 1931 Goll, August, ca. 1910-41 Jätel, Heinrich, ca. 1899-1939 Kloss, Theodor, ca. 1920-31 Neumann, Armin, * 1907, † 1950 Neumann, Emil, * 1883, † ca. 1944 Ponka, Anastazy, * 1927, † 2003 Pyszczorski, Józef, * 1891, † 1948 Riedl, Joseph, 1907 - ca. 1930 Roth, Walter, † 1937 Sonnenberg, Kurt, * 1908 Trąbka, Piotr, * 1903, † after 1991 Trossert, Wilhelm Albert Ferdinand, * 1873, † after 1943 Ziels (Zels), Theodor, ca. 1916-31
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118 The most prominent luthiers in Gdansk2 1
Gronau, Johann Benjamin, * 23.05.1758 Danzig, † 04.06.1816 there, son and pupil of Benjamin Gronau, known mostly as an excellent repairman. In 1807 he retired and was hospitalised in the Holy Spirit Hospital, where he died nine years later. Before that he probably repaired instruments at 484 Krebsmarkt [an] der Lohmühle [Targ Rakowy, przy młynie garbarskim]. In 1781 he bought property from the deceased machinist [Drehermeister] Rueckriemer (Rickriemer) at IV Damm (ul. Grobla IV) for 2800 florins. The Hochschule für Musik in Berlin possessed a viol d’amore (inv. no. 281) with his repair label: Joh: Benj: Gronau/Geigenmacher in Danzig/1797. A similar label from 1798 is known, as well as: Joh: Benj: Gronau/Geigenmacher in Danzig/Repariert 1794. His father Benjamin # 11.02.1717 (?) in Danzig, † after 1767, son (?) of Georg and Cordula, was recorded in Danzig from around 1754. The Hessisches Landesmuseum in Darmstadt possesses his 6-course mandora in the form of the Thuringian zither, labelled: Benjamin Gronau Lauten- und Geigenmacher in Danzig Anno 1767. His lute (owed by a certain Börger) from 1754 was shown at the First Polish Musical Exhibition in Warsaw in 1888.3 Goldberg (Gollberg, Goldtberg, Goltberg), Johann, * around July 1701 Ohra (Orunia, now a quarter of Gdansk), ♀ 15.04.1765 Danzig, recorded there since around 1720. Got citizenship on 18.05.1726. In 1735 he owed 120 florins for Roman strings to one Friedrich Eichstaedt, in 1741 resided in Heinrich Sigismund Paris’s house, in 1757 belonged to St. Johann parish. He made lutes, citterns, lute citterns, viols, violins, violas and cellos. Before 1939 his bastard viol from 1726, remade into a cello, belonged to the Museum für Hamburgische Geschichte in Hamburg, four violins from 1732 and a bass viol by M. Cawarski, remade by G. into a cello, belonged to Danzig’s Holy Mary church orchestra, his cello with unusually flat plates belonged to the Kunsthistorisches Museum F. W. Heyer in Cologne, a tenor violin from 1742 and a lute cittern from 1760 (inv. no. 1096) belonged to the Handcraft Museum in Markneukirchen, a little lute from 1733 belonged to the Fritz Wildhagen collection in Berlin-Halensee, a mandola from about the middle of the 18th century belonged to the Musical Instrument Museum in Berlin, a lute cittern from 1753 belonged to the Germanisches Nationalmuseum in Nürnberg (MIR 865), the Warsaw collection of Gustaw Soubise-Bisier possessed during the interwar period a theorbo (lute cittern) from 1740, the Christian Hammer Museum in Stockholm (collection sold on auction in Köln in 1893) possessed a cello with flat bottom, signed: Johann Gollberg. Lauten- und Geyen Macher In Dantzig anno 1726 [sic!] (maybe identical with later mentioned cellos in museums of Hamburg or Köln), and a choir lute (Chorlaute) signed: Johann Goldberg. Lauten- und Geigen-Macher in Dantzig anno 1759. A lute from 1736 belongs to Aust-Agder-Museet in Arendal (Norway, inv. no. AMM 5331; maybe identical with the instrument from the same year, sold in 1910 in Paris at the Baron De Lery collection’s auction, or with a 2-course lute from the same year, shown at the musical exhibition in Danzig’s Stadtmuseum in 1937), Musik & Teatermuseet in Stockholm owns a lute cittern from 1742 (inv. no. 1899), Nordiska Museet in Stockholm a cittern from 1759 (inv. no. NM 47.420), the Musical Instrument Museum in Poznań a lute cittern from 1730 (inv. no. MNP-I.224), Bachhaus in 1
2 3
Additionally, the following signs are used: # baptised, ♀ buried. Lit. Aleksander Poliński. Katalog rozumowany pierwszej polskiej wystawy muzycznej 1888 r [Comprehensive catalogue of the first Polish Music Exhibition in 1888]. Warszawa 1888. p. 8. item 578; Oskar Fleischer. Königliche Hochschule für Musik zu Berlin. Führer durch die Sammlung alter Musik-Instrumente. Berlin 1892. p. 86. item 868; Karel Jalovec. Enzyklopädie des Geigenbaues. Prag 1965; Karel Jalovec. Encyclopedia of ViolinMakers. Vol. I and II. London 1968; René Vannes. Dictionnaire Universel des Luthiers. Vol. 1-3. Bruxelles 1951, 1959, 1985 [phot.]; Zdzisław Szulc. Słownik lutników polskich [Dictionary of Polish Luthiers]. Poznań 1953; Heyde. Musikinstrumentenbau (see note 1); [J. G. Hingelberg jun.]. Über Danziger Musik und Musiker. Elbing 1785. p. 77f.; Willibald Leo Freiherr von Lütgendorff/Thomas Drescher. Die Geigen und Lautenmacher. Vol. 3. Tutzing 1990; Vogel. Słownik lutników (see note 13. p. 113).
Annex: The most prominent luthiers in Gdansk
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Eisenach a cittern from 1741 (inv. no. I 14), the Musical Instrument Museum in Berlin a cittern from 1742 (inv. no. 4530), the Musical Instrument Museum in Leipzig a lute cittern from around 1760 attributed to Goldberg (inv. no. 3358, formerly in the Reka Collection in Frankfurt a. Oder) and possessed before World War II a lute cittern from 1747 remade into a lute guitar by J. G. Langerwisch in Leipzig in 1816 (inv. no. 753). Goldberg’s cello with a casing was offered in Danzig in 1785 and a violin with casing in 1794. He used printed labels, like the following: Johann Gollberg, Lauten=und Gei=/gen=Macher in Dantz. An. 17(41); […] 17(47). In 1757 he signed church documents twice as Goldberg. Married to Concordia Renate, born Witting († before 2 Jan. 1769, who in 1766 gave 2.500 guldens to her daughter Constantia, and, according to her last will from 22.12.1768, after returning ca. 1.000 guldens to her son-in-law Petersson, the rest was endowed to her children), his children were: Johann Gottfried (# 28.07.1738, ♀ 01.10.1739), Johann Gottlieb (Theophilus, # 14.03.1727, † 1856, ♀ 15.04.) harpsichordist and composer, Constantia Renate Petersson (* 16?.04., # 21.04.1730, † 18.04.1792, ♀ 24.04.) harpsichordist, Florentine Renate (# 02.09.1732), Anna Barbara (# 25.11.1734).4 Meyer (Mener, Menner), Christof (Christoph), viol maker, * ca. 1645, † 1697, recorded in Danzig since around 1677, ca. 1680-94 as citizen, one of the best German luthiers of the 17th century, a pupil (?) of G. Fleming. The Musik & Teatermuseet in Stockholm possesses his treble viol da braccio (signed: CHRISTOPH. MEYER/In Danzig 1685, inv. no. 223) and the Musikmuseet in Copenhagen his miniature violin. The Kunsthistorisches Museum F. W. Heyer in Cologne possessed his treble viol from 1672. The following of his printed labels are known: Christoph Mener/in Dantzigk 1677; […] 1683; Christoph Mener/in Dantzigk 16… In the orchestra inventory of the Church of Holy Mary in Danzig from 1731 a large violin from 1593 re-mastered by him in 1692 (signed: G. H.) was mentioned. He also made kits [Taschengeigen]. Married in 1675 to Catharine, he had children: Abigail (married in 1697 to Ambrosius Hein), Salomon # 23.10.1678. In 1698 Catharine was recorded as trading without permission. A Johann M., viol maker, maybe the son of Christof or related to him, was punished in 1690 in Danzig for trading without permission.5 4
5
Hermann Rauschning. “Geschichte der Musik und Musikpflege in Danzig”. Quellen und Darstellungen zur Geschichte Westpreußens. Vol. 15. Danzig 1931. p. 312f.; Zdzisław Szulc. Katalog instrumentów muzycznych Muzeum Wielkopolskiego [Catalogue of musical instruments in the Wielkopolskie Museum]. Poznań 1949; Jalovec. Encyclopedia (see note 3); Hans Schröder. Museum für Hamburgische Geschichte. Die Sammlung alter Musikinstrumente. Hamburg 1930. p. 24. phot. table 8; Irmgard Otto. MusikinstrumentenMuseum Berlin. Berlin 1965; Bjørn Aksdal. Med Piber och Basuner Skalmeye og Fiol. Musikkinstrumenter i Norge ca. 1600-1800 [With bagpipes and trombones, shawm and violin. Musical instruments in Norway ca. 1600-1800]. Trondheim 1982. p. 141; Herbert Heyde. Historische Musikinstrumente im Bachhaus Eisenach. Eisenach 1976; Vogel. “Gdańsk Musical Instruments” (see note 3. p. 109). p. 82f., 87 (drawing of a theorba from 1740); Muzeum Narodowe w Warszawie, Zbiory Ikonograficzne i Fotograficzne, teczka ‘Muzyka’ [National Gallery in Warsaw, Iconographic and Photographic Collection, folder ‘Music’]. Inventory no. 6365; Renate Huber. Verzeichnis sämtlicher Musikinstrumente im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg. Nürnberg 1989. p. 116; Paul de Wit. Geigenzettel alter Meister vom 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Vol. 1. Leipzig 1910. no. 146; Jerzy Marian Michalak. “Gdański ‘Clavicengmacher’ Johann Werner Woge (1696-1772), jego rodzina oraz jego uczeń Heinrich Bernhard Kein [The Gdansk piano builder Johann Werner Woge (1696-1772), his family and his pupil Heinrich Bernhard Kein]”. Muzyka Fortepianowa [Piano Music] XI. Gdańsk 1998. p. 478; Katalog der reichhaltigen und ausgewählten Kunst-Sammlung des Museums Christian Hammer in Stockholm. Serie II. Versteigerung zu Köln. Köln 1893. p. 119f.; Catalogue des Anciens Instruments de Musique […] de M. Le Baron De Lery. Paris 1910. p. 33. item 355; Vannes. Dictionnaire (see note 3); Rubach’s Danziger Monatliche Sammlung. Biblioteka PAN. Gdańsk. ms. 150 nlbn.; Vogel. Słownik lutników (see note 13. p. 113). Lit. Rauschning. “Geschichte der Musik” (see note 4) p. 312; Jalovec. Encyclopedia (see note 3); R. Vannes. Dictionnaire (see note 17 ); Vogel. “Gdańsk musical instruments” (see note 3. p. 109). p. 83f.; Georg von Kinsky. Katalog des Musikhistorisches Museum von Wilhelm Heyer in Cöln. Vol. 2. Cöln 1912. p. 446; Heyde. Musikinstrumentenbau (see note 1. p. 109.); Dorothea Weichbrodt. Patrizier, Bürger, Einwohner der Freien und Hansestadt Danzig in Stamm- und Namenstafeln vom 14.-18. Jahrhundert. Vol. 3. Klausdorf/Schwentine 1990. p. 298; Vogel. Słownik lutników (see note 13. p. 113).
Karin Friedrich (Aberdeen/Schottland)
Zwischen Ost und West – Kultur und Politik in Preußen Königlich-Polnischen Anteils im Zeitalter der Aufklärung Nach Beendigung des Großen Nordischen Kriegs, Anfang der 1720er Jahre, formierte sich inmitten der Grabenkämpfe, die auf der polnischen politischen Bühne unter dem Einfluss Moskaus, Preußens und anderer Mächte ausgetragen wurden, die polnische Aufklärungs- und Reformbewegung. Als Politiker und Männer des rhetorischen und parlamentarischen Alltags, die in einer partizipatorischen politischen Kultur heranreiften, waren die polnischen Reformdenker besonders praxisnah, was sie, jedenfalls vor der französischen Revolution, von westeuropäischen Aufklärern meist unterschied. Gemeinsam mit westeuropäischen Reformdenkern hatten sie das Ziel, das stagnierende politische System ihres Gemeinwesens umzuwälzen, den wirtschaftlichen, militärischen und verfassungspolitischen Niedergang aufzuhalten und sich den rationalistischen Ideen einer neuen Zeit zu öffnen. Das Bild Polen-Litauens während der Aufklärungsepoche, das in Reiseberichten, Pamphleten und den ersten gedruckten Zeitungen in Europa in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts verbreitet wurde, sprach nicht vom Erfolg der Aufklärer. 1733 hatte der Sejm Nicht-Katholiken fast aller ihrer Privilegien der Glaubensfreiheit beraubt und sie durch Ausschluss aus Armee und Amt zu Bürgern zweiten Ranges gemacht. Die Konsequenzen des Tumults in Thorn 1724 hatten mit Nachhilfe der Propagandamaschine des Hohenzollernstaats, und in gewissem Maße auch Englands, die Reputation der Polen im protestantischen Europa gründlich verdorben.1 William Coxe nannte Polen „a country, formerly more powerful than any of the surrounding states, [that] has, from the defence of its constitution, declined in the midst of general improvement, and […] is becoming an easy prey to every invader“. Er machte dafür die „anarchy falsely called liberty“, „the parent of faction“ veranwortlich, sowie „the wretched condition and the poverty of the peasants“2, die den Niedergang des Landes verursachten. Durch ein Heranrücken der Polen an die Asiaten – „[they] resemble Asiatics rather than 1
2
In Berliner Briefen und Publikationen, die 1724 nach Warschau berichteten, war die Sprache von den Polen als ‚barbara gens‘. Die protestantischen Bürger und vor allem der hingerichtete Bürgermeister Gottfried Rösner aus Thorn wurden als Märtyrer dargestellt, die wie unter der spanischen Inquisition litten und ‚a Sarmatis jugulati‘ seien. Biblioteka PAN. Kórnik. MS 1322. „Miscellanea Historyczne i Literackie XVIII wieku [Historische und literarische Miscellanea des 18. Jahrhunderts]“. S. 223 verso und ff. William Coxe. Travels into Poland, Russia, Sweden and Denmark. London 1784. S. 16.
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Europeans, and are unquestionably descended from Tatar ancestors“3 – sollte bewusst der exotische und von der Aufklärung unberührte Zustand des Landes betont werden. Georg Forster, ein Radikaldemokrat und Jakobiner, gleichzeitig aber auch Popularisator des Begriffs von der ‚polnischen Wirtschaft‘, schrieb ähnlich von der „Zufriedenheit der Polacken mit ihrem eigenen Misthaufen, und ihrer Anhänglichkeit an ihre Vaterländischen Sitten“.4 Weniger mit der Voreingenommenheit des Katholizismus-Hassers Friedrich II. von Preußen oder des späteren Jakobiners Forster gegen die Adelsherrschaft in der alten Rzeczpospolita, sondern mit dem kühlen Auge des wissenschaftlich interessierten Physiokraten besah sich indessen der Ende der 1770er Jahre durch Polen-Litauen und das königlich-polnische Preußen reisende Schweizer Johann Bernoulli das Land. Eindruck machten auf ihn nicht so sehr die schlechten Herbergen oder der Lebensstil der Bauern, oder der Zustand der Forstwirtschaft, den er beklagte, sondern die Einrichtung von Bibliotheken, Lehranstalten und die Reformschulen der Orden, die Kadettenschule und das Gymnasium der Brüder Załuski in Warschau, sowie die Kunstsammlungen der reichen Danziger Bürger5 und die Wirkung der Warschauer Gesellschaft der Wissenschaften, die er lobend hervorhob. Besonders beeindruckte ihn das erste Bildungsministerium Europas, die Komisja Edukacji Narodowej [Kommission für die nationale Bildung]: Nichts gereicht wohl der jetzigen Regierung mehr zum Ruhme, als daß unter derselben eine Anstalt zu Stande gekommen ist, dergleichen kein einziges Land [besitzt], wo die Wissenschaften in Verfall gerathen, [und die] viel nützlicher ist, um ihnen aufzuhelfen, als alle Akademien der Wissenschaften, und die, wo irgend etwas auf der Welt, das gemeine Beste zum unmittelbaren Endzweck hat, und es am sichersten befördern kann.6
Er pries nicht nur die Versuche des aufgeklärten Monarchen, Polen moralisch, politisch, wissenschaftlich und ökonomisch zu verbessern, sondern er würdigte 3 4
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Ebd. S. 144. Helga Schultz. „Obraz Polski w niemieckim oświeceniu. Artykuł Dyskusyjny [Das Bild Polens zur Zeit der deutschen Aufklärung. Diskussionsartikel]”. Historyka 29 (1999). S. 17, zitiert nach Georg Forster. Werke. Bd. 14: Briefe 1784-Juni 1787. Berlin 1978. S. 225. Siehe auch Hans-Jürgen Bömelburg. „Johann Georg Forster und das negative deutsche Polenbild“. Mainzer Geschichtsblätter 8 (1993). S. 79-90; Stanisław Salmonowicz. „Jerzy Forster a narodziny stereotypu Polaka w Niemczech XVIII/XIX wieku [Jerzy (Georg) Forster und die Geburt des Polenstereotyps in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert]“. Zapiski Historyczne 52 (1987). S. 135-147 (in deutscher Übersetzung: Ders. „Georg Forster und sein Polenbild: Kosmopolitismus und nationales Stereotyp“. Polen im 17. und 18. Jahrhundert. Abhandlungen und Aufsätze. Toruń 1997. S. 114-129). Dieses Bild der Polen wurde einflussreich vor allem auch in den Schriften und Verlautbarung Friedrich II. von Preußen kultiviert. Siehe dazu neuerlich Hans-Jürgen Bömelburg. Friedrich II. zwischen Deutschland und Polen. Ereignis- und Erinnerungsgeschichte. Unter Mitarb. v. Matthias Barelkowski. Stuttgart 2011. Edmund Kizik. „Niederländische Einflüsse in Danzig, Polen und Litauen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert“. Land und Meer. Kultureller Austausch zwischen Westeuropa und dem Ostseeraum in der Frühen Neuzeit. Hg. Martin Krieger/Michael North. Köln, Weimar 2004. S. 65. Johann Bernoulli. Reisen durch Brandenburg, Pommern, Preußen, Curland, Rußland und Pohlen in den Jahren 1777 und 1778. Bd. 6. Leipzig 1779/80. Zitiert nach Gerhard Kozielek. „Deutsche Reiseberichte über das Polen Stanislaus August Poniatowskis“. Europäisches Reisen im Zeitalter der Aufklärung. Hg. Hans-Wolf Jäger. Heidelberg 1992. S. 200.
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auf seinen Reisen auch die Zentren der Aufklärung, die vom Adel und Bürgertum getragen wurden. Dabei wandte er sich gezielt gegen die Rede von der sogenannten Barbarey, die manche ihnen so gewaltig aufmutzen: wie lange hat sie denn gewährt? in Wahrheit wenig über ein halbes Jahrhundert […] Was nun die neuere polnische Gelehrtengeschichte betrifft, deren Dämmerung schon in das Jahr 1730 fällt, die schon um die Mitte des Jahrhunderts ziemlich glänzend war, und jetzt unter einem Stanislaus August zum hellen Mittage eilet, so braucht es nicht mehr, als wiederum Mizlers Warschauer Bibliothek und Acta literaria, des […] Herrn Friesens Journal littéraire de Pologne und des Domherrn Janozki Schriften mit einiger Aufmerksamkeit zur Hand zu nehmen, um sich zu überzeugen, daß die eben festgesetzte Epoche […] zum Ruhm der polnischen Nation gereichen [wird].7
Trotz der weiten Verbreitung von Bernoullis Ansichten sowie anderer Fürsprecher Polens – etwa des schlesischen Arztes Johann Joseph Kausch, der der preußischen Öffentlichkeit und Politik das idealisierte Bild eines aufgeklärten und reformbewussten Polen entgegenhielt und zur Intervention zu dessen Rettung aufrief 8 – übertönen die negativen Stimmen deutlich die positiven. Besonders manipulativ formulierte der Kurländer Friedrich Schulz seine Eindrücke. Wie in vielen Untersuchungen zum Thema festgestellt wurde, ist dies im Kontext der Historiographie seit den Teilungen keineswegs verwunderlich. Für Schulz waren die Errungenschaften der Aufklärung und des Kunstbetriebs in Warschau kein Eigenprodukt, sondern nur ein Plagiat oder ein aus dem Ausland importiertes Derivat: „Die Baukunst hat in Warschau ausgezeichnete Fortschritte gemacht, aber auch in diesem Fach thaten Ausländer, Italiener und besonders Deutsche, alles, und gebohrene Polen nichts.“9 Diese Bemerkungen sind besonders gravierend, da Schulz’ Erfahrung mit Polen und seine gute Kenntnis des Landes ihm Autorität verliehen.10 Wie schon Gerhard Kozielek feststellte, fielen Schulz’ konkrete Angaben über die polnische Aufklärung dennoch viel dürftiger aus als diejenigen Bernoullis, der, obwohl er kürzer im Land weilte, mehr über Reformen und Wissenschaft zu berichten hatte, aber eben nicht wie Schulz die russische Propaganda-Trommel rührte.11 Der Hinweis auf den derivativen und imitativen Charakter der polnischen aufklärerischen Errungenschaften, ob in Wissenschaft, Kunst oder Wirtschaft, 7 8 9
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Kozielek. „Deutsche Reiseberichte“ (wie Anm. 6). S. 201. Johann Joseph Kausch. Nachrichten über Polen. Salzburg 1793. Joachim Christoph Friedrich Schulz. Reise eines Liefländers von Riga nach Warschau, durch Südpreußen, über Breslau, Dresden, Karlsbad, Bayreuth, Nürnberg, Regensburg, München, Salzburg, Linz, Wien und Klagenfurt, nach Botzen in Tyrol. 3 Bde. Berlin 1795/96. Bd. II. S. 56-60. Erich Donnert. „Joachim Christoph Friedrich Schulz und seine ‚Reise eines Livländers‘“. Sehen und Beschreiben. Europäische Reisen im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Hg. Wolfgang Griep. Heide 1981. S. 279-289; Klaus Zernack. „Die Distanz des ‚Livländers‘. Joachim Christoph Friedrich Schulz über die Polenpolitik Katharinas II.“. Deutsch-Russische Beziehungen im 18. Jahrhundert: Kultur, Wissenschaft und Diplomatie. Hg. Conrad Grau [u.a.]. Wiesbaden 1997. S. 375-438. Kozielek. „Deutsche Reiseberichte” (wie Anm. 6). S. 220f.
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war in der älteren Historiographie, vor allem auch Polens selbst, ein integrativer Teil der Darstellungen. Besonders stark betonte die Historiographie die Wirkung aufklärerischer Einflüsse aus dem Westen und implizit damit auch aus den deutschen Territorien auf die Kultur Preußens königlich-polnischen Anteils und Großpolens. Noch 1957 führte Jadwiga Lechicka die Aufklärung in Pomerellen fast ausschließlich auf die Einflüsse von Schlüsselfiguren der westeuropäischen Geistesgeschichte zurück.12 Die Spannungen zwischen dem universalen, kosmopolitischen Charakter der Aufklärung und ihren nationalen oder regionalen Ausformungen wurden kaum problematisiert, sondern unter dem Stichwort einer sozialen und bürgerlichen Reformbewegung in das teleologische und dialektische Konzept der marxistischen Geschichtsauffassung eingeordnet. Die vorherrschende Ideologie gestattete vor allem nicht, die Rolle der katholischen Aufklärung, und speziell der Orden und des Klerus zu untersuchen, die für die polnische, und in gewissem Maße eben auch für die königlich-preußische Aufklärung entscheidend war. Auch nach der politischen Wende Anfang der 1990er Jahre verabschiedete sich die polnische Historiographie nur langsam von dem Paradigma der einseitig aus dem Westen importierten Fortschrittselemente. Erst eine nähere Auseinandersetzung um die Natur der polnischen Aufklärung selbst, wie sie bei Jerzy Dygdała13, Stanisław Roszak14, Anna Grześkowiak-Krwawicz15, Izabella Zatorska16, Irena Stasiewicz-Jasiukowa17 und anderen stattfand, veränderte das Bild langsam.18 Dabei wurde mit dem Konfliktschema ‚aufgeklärter Fortschritt‘ gegen ‚obskuranter Sarmatismus‘ gebrochen und die Gleichzeitigkeit beider Phänomene und ihre Überlagerung in der Kultur der Metropole Warschau, aber auch der Provinzen Polen-Litauens betont.19 Während die ersten drei Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts noch zu Recht der nachtridentinischen Periode der Gegenre12 13
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Jadwiga Lechicka. Z zagadnień Oświecenia na Pomorzu [Fragen zur Aufklärung in Pomorze]. Toruń 1957. Jerzy Dygdała. Adam Stanisław Grabowski (1698-1766): biskup, polityk, mecenas [Adam Stanisław Grabowski (1698-1766): Bischof, Politiker, Mäzen]. Olsztyn 1994. Stanisław Roszak. Archiwa sarmackiej pamięci: funkcje i znaczenie rękopiśmiennych ksiąg silva rerum w kulturze Rzeczypospolitej XVIII wieku [Die Archive der sarmatischen Erinnerung: Funktionen und Bedeutung handschriftlicher Bücher silva rerum in der Kultur der Rzeczpospolita im 18. Jahrhundert]. Toruń 2004. Anna Grześkowiak-Krwawicz. O formę rządu czy o rząd dusz: publicystyka polityczna Sejmu Czteroletniego [Form der Regierung oder Regierung der Seelen: politische Publizistik des Vierjährigen Sejm]. Warszawa 2000; dies. Regina libertas: wolność w polskiej myśli politycznej XVIII wieku [Freiheit im polnischen politischen Denken des 18. Jahrhunderts]. Gdańsk 2006 (engl. Übers: Queen Liberty: The Concept of Freedom in the Polish-Lithuanian Commonwealth. Leiden 2012 [= Studies in Central European History. Bd. 56]). Liberté: héritage du passé ou idée des Lumières? Hg. Anna Grześkowiak-Krwawicz/Izabella Zatorska. Warszawa, Kraków 2003. Irena Stasiewicz-Jasiukowa. „Der aufgeklärte Katholizismus im Polen der Frühaufklärung“. Europa in der frühen Neuzeit: Festschrift für Günter Mühlpfordt. Bd. 3: Aufbruch zur Moderne. Hg. Erich Donnert. Weimar, Köln [u.a.] 1997. S. 555-564. Zu dem nur scheinbar widersprüchlichen ‚enlightened Anti-Enlightenment‘ in Polen vgl. Richard Butterwick. „Provinical Preachers in late eighteenth-century Poland-Lithuania“. Peripheries of the Enlightenment. Hg. ders./Simon Davies/Gabriel Sánchez Espinosa. Oxford 2008. S. 201-228. Stanisław Roszak. „Entre le Sarmatisme et le Siècle des Lumiéres. Le milieu varsovien dans la culture polonaise au cours du XVIIIe siècle“. La Recherche dix-huitièmiste. Raison universelle et culture nationale au siècle des Lumières. Eighteenth-century research. Universal reason and national culture during the Enlightenment. Hg. David A. Bell/Ludmila Pimenova/Stéphane Pujol. Paris 1999. S. 77.
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formation zugeschlagen werden, machte sich ab den 1740er und 50er Jahren das steigende Bildungsniveau des Klerus, aber auch die gefestigte wirtschaftliche und kulturelle Macht der Kirche bemerkbar, was zu neuen Konflikten mit den weltlichen Ständen und einem intensivierten Antiklerikalismus führte.20 Diese widerstreitenden Vorzeichen – eine deutliche Säkularisierung bei gleichzeitiger Ausbreitung der katholischen Aufklärung unter der Führung maßgeblicher Figuren im Episkopat21, aber auch die Verbreitung von Druckwerken mit Inhalten sarmatischer Kulturverherrlichung innerhalb einer immer offener diskutierenden bürgerlichen Öffentlichkeit – gaben dieser Epoche polnischer Aufklärungskultur ihren ambivalenten und oft schwer fassbaren Charakter. Durch den großen Anteil protestantischer und deutschsprachiger Eliten der Provinz Preußens königlichpolnischen Anteils sind die Beziehungen zwischen der lokalen Aufklärungsbewegung und dem Zentrum der Aufklärung in Warschau besonders interessant. Auch wenn das Königliche Preußen in jeder Hinsicht durch seine wirtschaftlichen, sprachlich-kulturellen, religiösen und politischen Eigenheiten als das Tor der Rzeczpospolita zur westeuropäischen Kultur galt, wäre es verkehrt, nur nach westlichen oder gar nur deutschen Einflüssen zu suchen. Kulturtransfer funktionierte nie nur als Einbahnstraße. Die Adaption der Aufklärung des spezifisch polnischen Milieus in Warschau blieb nicht ohne Folgen in den Provinzen, gerade weil der dezentrale Charakter der polnischen Verfassung die Mitwirkung regionaler und lokaler Eliten an politischen und kulturellen Entscheidungen durch Lokalund Provinziallandtage (z.B. den königlich-preußischen Provinziallandtag), den Einfluß lokaler Bildungstraditionen (etwa an den Akademischen Gymnasien in Thorn, Danzig und Elbing) sowie die Verbreitung von Druckereien in mehreren Sprachen favorisierte.22 Deshalb sollten wir nach den Auslösern, Inhalten und Wirkungen der Aufklärung auch in Kronpolen selbst Ausschau halten; denn an der Krone hatten sich die preußischen Eliten – trotz aller Konflikte seit der spätmittelalterlichen Zweiteilung Preußens in den Kriegen gegen den Deutschen Orden und der Inkorporation der westlichen Provinz in die polnische Krone (1454-66) – politisch orientiert. Aber auch hier wirkte nicht nur Imitation. Wir 20
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Józef Andrzej Gierowski. The Polish-Lithuanian Commonwealth in the XVIII Century. From Anarchy to Well-Organised State. Übers. Herny Leeming. Kraków 1996. S. 151-154. Richard Butterwick. “What is Enlightenment (Oświecenie)? Some Polish Answers, 1765-1820”. Central Europe 3 (2005). Nr. 1. S. 19-37. Butterwick betont die rein religiöse Definition von Oświecenie als ‚Erleuchtung‘ durch den heiligen Geist und als göttliche Einwirkung, die erst in den 1760er Jahren durch eine Verwendung des Wortes im säkularen Kontext der Zeitschrift Monitor und durch das publizistische Wirken aufklärerischer Zirkel unter der Herrschaft Königs Stanisław August abgelöst wurde (S. 22f.). Zuletzt auch ders. The Polish Revolution and the Catholic Church, 1788-1792: A Political History. Oxford 2012. Darauf weist besonders hin Ewa Borkowska-Bagieńska. „Nowożytna myśl polityczna w Polsce 1740-1780 [Das neuzeitliche politische Denken in Polen]“. Studia z dziejów polskiej myśli politycznej IV: Od reformy Państwa szlacheckiego do myśli o nowoczesnym państwie. [Studien zur Geschichte des polnischen politischen Denkens IV: Von der Reform des adligen Staates bis zur Idee des neuzeitlichen Staates]. Hg. Jacek Staszewski. Toruń 1992. S. 42, wenn sie die Wirkungskreise und -weite politischer Reformmodelle des 18. Jahrhunderts und die Herausbildung einer gebildeten Öffentlichkeit vor den Teilungen diskutiert.
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müssen nach einer der polnisch-preußischen Provinz eigenen Ausformung der Aufklärung suchen. Mit dem Tod Augusts des Starken und dem Interregnum von 1733 gewann Preußen königlich-polnischen Anteils, und vor allem seine großen Städte, die immer noch an den wirtschaftlichen Folgen des Großen Nordischen Krieges litten, größere politische Autonomie. In der Danziger Bürger- und Ratselite dominierten vor allem die Rechtsgelehrten, die zum großen Teil an ausländischen Universitäten studierten. Damit lag Danzig im allgemeinen polnischen Trend, seine Eliten im Ausland ausbilden zu lassen. Von 29 Personen der engeren Danziger Ratselite, die von Jerzy Dygdała untersucht wurden, studierten 24 an ausländischen Universitäten, an der Spitze stehend Leiden, Leipzig, Wittenberg und Halle, aber auch Königsberg, Frankfurt/Oder, Göttingen oder Straßburg. Fünf machten ihre Karriere zuerst am Königshof, bevor sie als Stadtsekretäre oder Schöppen in die Vaterstadt zurückkehrten, in den Rat und ins Bürgermeisteramt aufrückten.23 Die Adelseliten des königlichen Preußen hielten sich dagegen zuerst an die einheimischen Schulen, vor allem die Jesuitenkollegien, die in der Provinz als Adelsschulen besonders verbreitet waren. Einige der reichsten Familien der Provinz und Amtsinhaber im 18. Jahrhundert, die Czapski, Kczewski, Zboiński und Konarski, besuchten das Jesuitenkolleg in Braniewo und das Gymnasium in Kulm sowie außerhalb Preußens das Adelskolleg der Piaristen in Warschau. Die etablierte historiographische Meinung über die Jesuitenschulen, die Stanisław Salmonowicz, Hans-Jürgen Karp und andere nachdrücklich vertreten, ist negativ, vor allem im Vergleich zu den protestantischen akademischen Gymnasien der großen Städte. Der oberflächliche Pomp des traditionellen jesuitischen Schultheaters sowie die Fokussierung auf die Rhetorik, um antike und moralische Stoffe zu präsentieren, so Salmonowicz, sei ohne Substanz gewesen, während Naturwissenschaften, neue Sprachen und Philosophie, vor allem naturrechtliche Lehren, völlig vernachlässigt wurden.24 Die Bildungssituation des königlich-preußischen Adels ist damit allerdings nicht vollständig reflektiert. Aus den Arbeiten Kazimierz Puchowskis tritt deutlich hervor, wie wichtig natürlich dem Adel die rhetorische und oratorische Ausbildung zum geschickten Redner im Land- und Reichstag war, worauf die jesuitische Ratio Studiorum mit ihrer Betonung auf humanistische und staatsbürgerliche Werte ausgerichtet war. Die rhetorisch-politische Praxis, so summierte Puchowski, bedurfte solch einer Erziehung: Die Jugend lernte das kritische Betrachten der politischen Realität der Rzeczpospolita und die neuen Lehrbücher beschäftigten sich mit der Frage nach der politischen Umsetzung indivi23
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Jerzy Dygdała. „Politycy Gdańscy doby Oświecenia [Danziger Politiker in der Ära der Aufklärung]”. Mieszczaństwo Gdańskie [Danziger Bürgertum]. Hg. Stanisław Salmonowicz. Gdańsk 1997. S. 143-153. Historia Torunia [Geschichte Thorns]. Bd. II/3: Między barokiem i oświeceniem (1660-1793) [Zwischen Barock und Aufklärung]. Hg. Jerzy Dygdała/Stanisław Salmonowicz/Jerzy Wojtowicz. Toruń 1996. S. 328.
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Karin Friedrich dueller Freiheit und der geordneten Funktion des Staates. Die Mehrheit dieser Postulate fand sich in der Verfassung vom 3. Mai reflektiert. Die Absolventen elitärer Kollegien und Schulen, die den adeligen Charakter der [religiösen] Ordensbildung verteidigten, vertraten ebenfalls die politische Selbstdisziplinierung des adeligen Standes, der sich in der Verfassung ausdrückte.25
Das unkritische Auswendiglernen lateinischer rhetorischer Wendungen wurde durch staatsbürgerliche Tugendlehre, rationale Argumentation und physikalische Experimente ersetzt oder wenigstens komplementiert.26 Jesuitenkollegien konnten sich kurrikularen Neuerungen nicht verschließen, wie das Kolleg in Braniewo, das sich früh neuen Fächern und Sprachen öffnete. Jesuitische Bildungsideale sind keineswegs mit einem einseitigen Verharren auf der Tradition gleichzusetzen. Nicht Bildungsedikte von oben, wie dies in vielen Territorien des Reichs geschah, sondern eine Evolution in den Institutionen, erwachsend vor allem aus dem Wettbewerb gegenüber anderen Orden, vor allem der Piaristen und Theatiner, verbesserten die Qualität der Jesuitenkollegien im Laufe des 18. Jahrhunderts bis zu ihrer Auflösung. Da sich in der königlich-preußischen Provinz die Reformorden nicht durchsetzen konnten, wanderten die katholischen Eliten zum Teil ab: von 1752 bis zur ersten Teilung Polens studierten im Warschauer Collegium Nobilium der Piaristen ein gutes Dutzend Adelige aus dem königlichpolnischen Preußen, die später auf Ämter in ihrer Provinz zurückkehrten: ein Kastellan, drei Kämmerer, drei Fahnenführer, ein Landrichter und mehrere Starosten.27 Wie in keinem anderen europäischen Erziehungssystem wurde in diesen Reformkollegien die schulische Theorie mit der politischen Praxis verbunden. Während die polnischen Theatiner- und Piaristenkollegien seit Ende der 1730er Jahre Christian Wolffs Werke als Lehrbücher annahmen und es Pläne gab, den deutschen Naturrechtler nach seiner Absetzung in Halle für ein paar Jahre nach Krakau zu rufen28, wurden die Kameral- und Staatswissenschaften, die administrative Theorie und die naturrechtliche Untermauerung des modernen Machtstaates, die etwa im nachbarlichen Preußen und in den reformierten Universitäten im Heiligen Römischen Reich zur Ausbildung einer neuen Staatsbürokratie erwuchsen, an den polnischen Jesuitenschulen vernachlässigt. Zudem waren die Adeligen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts weniger zur Ausbildung 25
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Kazimierz Puchowski. Jezuickie kolegia szlacheckie Rzeczypospolita obojga narodów [Jesuitenkolleg des Adels Rzeczpospolita beider Nationen]. Gdańsk 2007. S. 518 [Übers. d. Verf.]. Weiter zur Diskussion jesuitischer Lehrplanänderungen siehe Irena Stasiewicz-Jasiukowa. Wkład Jezuitów do nauki i kultury w Rzeczypospolitej Obojga Narodów i pod zaborami [Der Beitrag der Jesuiten zur Wissenschaft und Kultur der Rzeczpospolita beider Nationen und zur Zeit der Teilungen]. Kraków 2004. Puchowski. Jezuickie kolegia szlacheckie (wie Anm. 25). S. 492-508; Marian Pawlak. Studia uniwersyteckie młodzieży z Prus Królewskich w XVI-XVIII w. [Universitätsstudien der Jugend aus Königlich Preußen vom 16.-18. Jahrhundert]. Toruń 1988. S. 168-172; Jerzy Dygdała. „Uwagi o magnaterii Prus Królewskich w XVIII stuleciu [Bemerkungen zum Hochadel in Königlich Preußen im 18. Jahrhundert]”. Zapiski Historyczne 44 (1979). Nr. 3. S. 84-87. Gierowski. The Polish-Lithuanian Commnonwealth (wie Anm. 20). S. 157.
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im Ausland geneigt, und nur eine sehr kleine Elite reiste nach Rom, England oder Frankreich, wo Tomasz Czapski, Sohn des Pomerellischen Wojewoden, 1737 der erste königlich-preußische Adlige war, der einer Freimaurerloge beitrat.29 Trotzdem gab es seit den 1760er Jahren und gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein erneutes Interesse des Adels an Erziehungsreisen.30 Der Besuch der Jesuitenschule war dabei meist Basisausbildung, während Privatlehrer (wie der Franzose Arnold de Vigne bei der Familie Przebendowski) und die traditionelle peregrinatio an ausländischen Lehreinrichtungen die Erziehung junger Adeliger abrundeten. Im Zuge der Reformen der Ordensschulen trat zunehmend auch der Gedanke der Professionalisierung in den Mittelpunkt. Ein Beispiel dafür ist Jan Bielski, der in seinem Traktat von 1747, Pro scholis publicis studiorumque in illis ratione oratio, für die Überlegenheit einer institutionellen Elitenausbildung über eine private Erziehung argumentierte. Selbstkritik am traditionellen Lehrstil und Lehrplan der Jesuiten übte 1758 auch der berühmte jesuitische Rhetoriker und Dramatiker Francizsek Bohomolec, einer der führenden Köpfe am Warschauer Jesuitenkolleg, als er eine Disputation seines Schülers Ksawery Leski leitete. In dem paränetischen Werk unter dem Titel Rozmowa o języku polskim, das Bohomolec’ moralisches und politisches Reformprogramm enthielt, wurde der bis dahin als besonders sarmatisch-barock geltende Makkaronismus der Vermischung polnischer und lateinischer Sprachelemente in der politischen Oratorik scharf verurteilt und zur Reinheit der polnischen Sprache ohne barocken Überschwang aufgerufen: „Glücklich ist das Volk“, so schrieb Bohomolec, „das sich eher mit der Feder als mit dem Schwert unsterblichen Ruhm anhäuft“. Die drei Brüder Leski, Söhne des Fahnenträgers von Marienburg, Michał na Leszczu Leski, taten sich am Warschauer Kolleg, wie berichtet wird, besonders durch ihren Lerneifer und ihre staatsbürgerlichen Tugenden hervor, und die Familie schloss sich, wie Bohomolec selbst, in den 60er Jahren dem Reformlager Stanisław August Poniatowskis an. Bohomolec’ Rat an die jungen Adligen, französisch zu lernen und sich durch Reisen weiterzubilden, wurde von seinen Zöglingen aus dem königlichen Preußen auch beherzigt.31 Die reicheren Adelsgeschlechter der preußischen Provinz stellten auch eine starke Verbindung zwischen dem Warschauer Königshof, der von der sächsischen und französischen Kultur geprägt war, und den preußischen Städten her, 29 30
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Dygdała. „Uwagi o magnaterii Prus Królewskich” (wie Anm. 27). S. 85. Stanisława księca Poniatowskiego Diariusz podróży w roku 1784 w kraje niemieckie przedsięwziętej [Tagebuch des Prinzen Stanisław Poniatowski von der 1784 unternommenen Reise in die deutschen Länder]. Hg. Jacek Wijaczka. Kielce 2002, vor allem XVff. zur negativen Beurteilung der Reisemotive; zu Italienreisen der Polen, vor allem zu Bildungszwecken, siehe auch Marian Chachaj. Związki kulturalne Sieny i Polski do końca XVIII wieku. Staropolscy studenci i podróżnicy w Sienie: Sieneńczycy i ich dzieła w Polsce [Kulturelle Beziehungen zwischen Siena und Polen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Altpolnische Studenten und Reisende in Siena: Die Sienesen und ihre Werke in Polen]. Lublin 1998. Speziell zur peregrinatio academica der Studenten aus dem königlichen Preußen siehe Pawlak. Studia uniwersyteckie (wie Anm. 27). Puchowski. Jezuickie kolegia (wie Anm. 25). S. 400.
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allen voran Danzig, wo viele adelige Geschlechter Bürgerhäuser besaßen und mit den dort sich entwickelnden aufklärerischen Ideen in Berührung kamen. Die Brücke, die der Adel in den Kulturbeziehungen zwischen Danzig, Thorn, Warschau und Krakau bildete, sollte nicht unterschätzt werden, bedarf aber noch näherer Untersuchung.32 Bis vor kurzem wurden die bürgerlichen und adeligen Sphären der Aufklärung im königlichen Preußen von der Historiographie streng getrennt, da die Adelskultur meist im Zusammenhang mit der politischen Rhetorik der gazety ulotne (Flugschriften) und politischer Reformtraktate diskutiert wurde33, während man die bürgerliche Aufklärung eng mit der Wissenskultur der Bibliotheken und gedruckten Zeitschriften verband.34 Die strenge Trennung der sozialen Schichten und Stände sowie der oft damit assoziierten konfessionellen Gruppen (Adel – katholisch, Bürger – evangelisch) geht aber an der Wirklichkeit vorbei. Der protestantische Adel der Provinz, wie die Familie Wejher, die bis in das 18. Jahrhundert zweisprachig blieb, sowie die Krokowski-Familie besuchten zusammen mit Bürgersöhnen die städtischen Gymnasien, während die erfolgreichsten Konkurrenten um den Magnatenstatus im königlichen Preußen, die Przebendowski, zu Beginn des 18. Jahrhunderts zum Katholizismus konvertierten und ihre Söhne zusammen mit Bürgersöhnen am Jesuitenkolleg in Altschottland bei Danzig ausbilden ließen (was sie aber nicht daran hinderte, in die preußisch-sächsische, protestantische Generalsfamilie Flemming einzuheiraten).35 Auch Poesiealben und Stammbücher belegen enge Kontakte zwischen bürgerlichen und adeligen Kreisen der Provinz, die sich gelegentlich nach Ende des gemeinsamen Studienaufenthalts in einer politischen Zusammenarbeit fortsetzten. Als eine der vermögendsten und einflussreichsten Elitefamilien des königli32 33
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Die Forschungen Jerzy Dygdałas sind hier von zentraler Bedeutung (wie Anm. 13, 23 und 27). Beispiele dafür liefern Kazimierz Maliszewski. Obraz świata i Rzeczypospolitej w polskich gazetach rękopiśmiennych z okresu póżnego baroku. Studium z dziejów kształtowania się i rozpowszechnania sarmackich stereotypów wiedzy i informacji o ‘theatrum mundi’ [Das Weltbild und das Bild der Rzesczpospolita in polnischen handschriftlichen Zeitungen aus der Zeit des späten Barocks. Historische Studien über die Herausbildung und Verbreitung sarmatischer Wissensstereotypen und Informationen über das ‚theatrum mundi‘]. Toruń 1990; Monika Wyszomirska. „Sami o sobie. Reformatorzy doby Augusta III Sasa w świetle własnych opinii [Über sich selbst. Die Reformatoren der Zeit Augusts III. des Sachsen im Lichte eigener Ansichten]”. Staropolski ogląd świata – problem inności [Altpolnische Weltansichten – das Problem der Andersartigkeit]. Hg. Filip Wolański. Toruń 2007. S. 219-231; Jerzy Łukowski. „Political Ideas among the Polish Nobility in the Eighteenth Century (to 1788)”. Slavonic and East European Review 82 (2004). Nr. 1. S. 1-26. Zuletzt auch ders. Disorderly Liberty: the political culture of the PolishLithuanian Commonwealth in the eighteenth century. London 2010. Typisch dafür die Werke von Stanisław Salmonowicz zur Bürgerkultur der Provinz, vgl. seinen Beitrag zur Historia Torunia II. Nr. 3. S. 299-393; ähnlich Maria Dunajówna. „Pierwsze Toruńskie Czasopisma Naukowe w XVIII w. Das Gelahrte Preußen [Erste Thorner wissenschaftliche Zeitschriften im 18. Jahrhundert. Das Gelahrte Preußen]”. Księga Pamiątkowa 400-lecia Toruńskiego Gimnazjum Akademickiego XVI-XVIII wieku [Gedenkbuch zum 400. Jahrestag des Thorner akademischen Gymnasiums des 16.-18. Jahrhunderts]. Hg. Zbigniew Zdrójkowski. Toruń 1972. S. 240-281. Die Arbeit von Heinz Lemke, die eine Verbindung zwischen der städtischen Gelehrtenkultur und der Adelswelt herstellte (Die Brüder Załuski und ihre Beziehungen zu Gelehrten in Deutschland und Danzig. Studien zur polnischen Frühaufklärung. Berlin/Ost 1958), blieb lange Zeit eine Ausnahme. Hans-Jürgen Bömelburg. „Grenzgesellschaft und mehrfache Loyalitäten. Die brandenburg-preußischpolnische Grenze 1656-1772“. Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 55 (2006). S. 71.
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chen Preußen und als Anhänger der Reformpartei der Czartoryski-Familia warben die Przebendowski erfolgreich um die Unterstützung der provinziellen Stände und Städte für die Wahl Stanisław Poniatowskis. Im Gegensatz dazu schlugen sich Teile der protestantischen Eliten einschließlich der Stadt Thorn auf die Seite der königlich-preußischen Patriotenpartei, die die Reformeinflüsse der CzartoryskiFamilia in der Provinz bekämpfte. Die politische Trennlinie ging durch adelige und bürgerliche Reihen gleichermaßen. Einer der bedeutendsten Vertreter der Przebendowski, Ignacy, machte nicht nur Karriere in der Provinz, sondern diente nach Verlust seiner Territorien durch die erste Teilung Polens auch in der Reorganisation der Finanzen der Rzeczpospolita und saß in der Kommission für Nationale Erziehung. Auch andere Errungenschaften zeigen Ignacy Przebendowski als Anhänger von Aufklärungsgedanken: Seine vierjährige Tochter ließ er gegen die Blattern impfen, und in seinen Territorien gründete er Gemeindeschulen, stiftete mehrere Stipendien für Bürger- und Bauernsöhne und organisierte Wohlfahrtskassen.36 In Thorn dagegen scheiterte zu Beginn des 18. Jahrhunderts der Versuch, einen menschlichen Leichnam im Namen der Wissenschaft öffentlich zu sezieren, am Widerstand von lutherischer Kirche und Stadtregierung, obwohl solch eine Veranstaltung in Danzig schon 1613 durchgeführt worden war.37 Allein daran ist erkennbar, wie irreführend es wäre, allein protestantische, ,deutsche‘ oder bürgerliche Kreise der preußischen Provinz mit der Aufklärung in Verbindung zu bringen. In katholischen Adelskreisen der Provinz waren, ähnlich der Situation in Kronpolen, die Träger der Aufklärung hauptsächlich die Bischöfe. Allen voran stand hier Adam Stanisław Grabowski (1698-1766), Bischof von Kulm, Kujawien und dann des Ermlands. Zuerst Schüler des eher durchschnittlichen Jesuitengymnasiums in Konitz wechselte er bald auf das Kolleg in Thorn, wo auch Philosophie, Mathematik, Physik und Theologie gelehrt wurden, womit es jedenfalls zum Teil mit dem Akademischen Gymnasium der Stadt rivalisierte. In seiner Untersuchung des polnischen Episkopats und speziell der Warschauer Aufklärungskultur stellte Stanisław Roszak vor einiger Zeit die Frage, ob der sogenannte ‚aufgeklärte Sarmatismus‘ der Adelskultur überhaupt der europäischen Aufklärung zugeteilt werden könne. ‚Sarmatische‘ Charakteristika schlossen nach seiner Definition den Glauben an die Superiorität der polnisch-litauischen Verfassung und ihres Freiheitsbegriffs, an Gottes besonderen Schutz für die Rzeczpospolita sowie ein ausgeprägtes, an die eigene Familie und die Vorfahren geknüpftes Geschichtsbewusstsein ein. Diese Werte trafen aber gerade seit den 1730er Jahren 36
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Jerzy Dygdała. „Przebendowscy – osiemnastowieczni magnaci w Prusach Królewskich [Die Przebendowski – die Hochadeligen in Königlich Preußen im 18. Jahrhundert]“. Najstarsze Dzieje Wejherowa [Die älteste Geschichte von Neustadt in Westpreußen]. Hg. Regina Osowicka. Wejherowo 1988. S. 86. Włodzimierz Zientara. Gottfried Lengnich. Ein Danziger Historiker in der Zeit der Aufklärung. 2 Bde. Toruń 1995/1996. Teil I. S. 50; Historia Nauki Polskiej [Geschichte der polnischen Wissenschaft]. Bd. 2. Hg. Bodgan Suchodolski. Wrocław, Warszawa [u.a.] 1970. S. 145f.
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immer deutlicher auf aufklärerische Ideen, die sich zum Teil mit der sarmatischen Kultur verbanden, oft aber auch mit ihren Vorstellungen kollidierten.38 Ausschlaggebend ist hier, dass eben nicht nur der polnische, sondern auch der königlichpreußische Adel, darüber hinaus der Klerus und auch die Bürgereliten in der preußischen Provinz sich diesen Ideen, die sie ihren politischen und kulturellen Bedürfnissen anpassten, für ihre eigenen Zwecke anschlossen und zu verschiedenen, oft widersprüchlichen Ergebnissen kamen. Das geschah einerseits durch enge persönliche Kontakte zwischen den Kultureliten im königlichen Preußen und in Polen. Bischof Grabowski ist hier ein gutes Beispiel, da er sich, aus dem königlichen Preußen stammend, einem neuen kosmopolitischen und der Aufklärung zugewandten Teil des Episkopats anschloss, dem in Polen auch die Brüder Załuski und Ignacy Krasicki – letzterer Grabowskis Nachfolger im Amt des ermländischen Bischofs – angehörten. Aus dem Bürgertum muss hier Gottfried Lengnich genannt werden, der Danziger Syndikus, der in Halle bei Christian Thomasius und Christian Wolff studiert hatte und der die Forderung nach Autonomie seiner Provinz und der Bewahrung ihrer alten Freiheiten in zahlreichen Traktaten und Geschichtswerken, vor allem in seiner neunbändigen Geschichte der preussischen Lande königlich-polnischen Antheils 39, aus einer spezifisch Danziger Perspektive verteidigte. Grabowski und Lengnich waren stark in den historischen und politischen Traditionen ihrer Provinz und des polnisch-litauischen Kontexts verwurzelt, was Stanisław Roszak auch in den intellektuellen Strömungen der Warschauer Aufklärung beobachtete und folglich zu dem Schluss kam, dass „[man] die Quellen der Erneuerung des intellektuellen Lebens [während der Sachsenzeit] vor allem auf heimatlichem Boden suchen [muss]“.40 Die Impulse dafür gingen, in einer Zeit allgemein voranschreitender Dezentralisierung, vor allem von den provinziellen Eliten aus. Grabowski, der polnisch-, deutsch- und französischsprachig aufwuchs, und dessen Mutter eine protestantische von Kleist war, gewann die Protektion beider Sachsenkönige und avancierte 1741 als Indigena des königlichen Preußen auf den einkömmlichen Bischofssitz des Ermlandes, residierte aber weiterhin, nicht zuletzt aufgrund seiner kulturellen und intellektuellen Interessen und Verbindungen, in Warschau. In der Provinz baute er jedoch eine reiche Bibliothek im Heilsberger Palast auf, die die Werke Leibniz’, Descartes’ und Wolffs enthielt, und stiftete zahlreiche Stipendien für den verarmten Adel und für Bürgersöhne, 38
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Stanisław Roszak. „Politik und Mäzenatentum. Einstellungen und Verhaltensweisen der polnischen Bischöfe angesichts der kulturellen und politischen Wandlungen unter August dem Starken und August III“. Die Konstruktion der Vergangenheit: Geschichtsdenken, Traditionsbildung und Selbstdarstellung im frühneuzeitlichen Ostmitteleuropa. Hg. Joachim Bahlcke (= Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 29 [2002]). S. 323-343. Gottfried Lengnich. Geschichte der preussischen Lande Königlich-polnischen Antheils. 9 Bde. Danzig 1722-1755. Stanisław Roszak. Środowisko intelektualne i artystyczne Warszawy w połowie XVIII w. Między kulturą Sarmatyzmu i oświecenia [Das intellektuelle und künstlerische Umfeld Warschaus in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Zwischen der sarmatischen Kultur und der Aufklärung]. Warszawa 2000. S. 154ff.
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da er sich besonders um die Stärkung der städtischen Wirtschafts- und Kulturkräfte der Provinz sorgte. Gleichzeitig wirkte er auch auf eine Modernisierung und Reformierung der Agrarwirtschaft im Ermland aufgrund physiokratischer Ideen und setzte sich für die Integrität der preußischen Provinz, und in besonderem Maße den Schutz Elbings gegen die Pfandforderungen des nachbarlichen Hohenzollernschen Preußens ein. Im Konflikt zwischen der Patriotenpartei und den Anhängern der Familia verhielt er sich neutral. Im Streit mit den Jesuiten und Dominikanern, die scholastische Traditionen verteidigten, förderte er den Piaristen Antoni Wiśniewski, der für die naturrechtliche Philosophie der Frühaufklärung und die Einführung der Physik als Lehrfach argumentierte, und dessen Werke Grabowski auf eigene Kosten in Elbing drucken ließ.41 Andere gelehrte Piaristen, zum Teil aus Italien, fanden ebenfalls durch Grabowskis Mäzenatentum Unterstützung. Enge Kontakte verbanden ihn auch mit dem Leiter der Załuskischen Bibliothek in Warschau, dem Protestanten Johann Daniel Jaenisch ( Janocki), der sich darum bemühte, negative Urteile und Stereotype deutscher Gelehrter über die polnische Kultur des frühen 18. Jahrhunderts zu korrigieren.42 Schließlich wirkte der Bischof auch selbst als Autor kunsthistorischer Untersuchungen auf dem Gebiet der Ikonographie. Hier wird deutlich, dass, dem Erklärungsmodell Roszaks folgend, tatsächlich die zentrale Aufklärungskultur Polens durch die Tätigkeit in und aus der Provinz geschaffen und gefördert wurde, aber auch wiederum auf die Provinz zurückstrahlte. Grabowskis Wertvorstellungen waren andererseits der Welt des ‚aufgeklärten Sarmatismus‘ verhaftet: die Verteidigung der Steuerfreiheit des Klerus verband er mit der Forderung nach einer starken und unabhängigen Stellung der katholischen Kirche, die er für den Erhalt der Adelsrepublik und ihrer Privilegien als notwendig erachtete. Er folgte dem Traditionskult, den die sarmatische Kultur der ehrgeizigen Förderung der eigenen Familie und dem Bewusstsein um den Platz der Familie in der Geschichte der Republik zumaß – doch war dies kaum ein Vorrecht, das nur die Polen, sondern das der Adel in ganz Europa einforderte. Dafür unterstützte Grabowski die Reformpläne, die der Königshof für die Republik vorsah – die Erweiterung des Heeres, die Beschränkung des liberum veto (an Stanisław Poniatowski, den Vater des späteren Königs, schrieb er „et dieu merci je l’emporte à la pluralité des suffrages“43) und Reformen, die den Sejm in ein effektiveres Beratungsorgan verwandeln und an den lokalen Gerichten mehr Gerechtigkeit für die Schwächeren durchsetzen sollten. Mit dem Piaristen Stanisław Konarski verband ihn nicht nur eine persönliche Freundschaft, sondern auch seine 41 42
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Dygdała. Adam Stanisław Grabowski (wie Anm. 13). S. 123. Zofja Birkenmajerowa. Z młodzieńczych lat Jana Daniela Janockiego: przyczynek do dziejów kultury polskiej w epoce saskiej [Aus den Jugendjahren des Jan Daniel Janocki: Beitrag zur polnischen Kulturgeschichte in der Sachsenzeit]. Bd. 4. Prace Komisji Historycznej Towarzystwa Przyjaciół Nauk w Poznaniu. Poznań 1925. Vgl. zu Janocki auch Lemke. Die Brüder Załuski (wie Anm. 34). S. 74-89. Dygdała. Adam Stanisław Grabowski (wie Anm. 13). S. 145.
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Unterstützung für die Reformpläne, wie sie Konarski in O skutecznym rad sposobie [Über das Effektive Funktionieren der Räte] formulierte.44 Damit tritt Grabowski als Repräsentant einer in der königlich-preußischen Provinz praktizierten Aufklärungsbewegung hervor, die mit der Aufklärungskultur Polens und besonders ihrer Warschauer Version deutlich vernetzt war. Gleichzeitig war Grabowski auch für das aufgeklärte Episkopat repräsentativ, das sich unter der Herrschaft Augusts III. herausbildete und später in der Mehrheit die Reformpläne der aufgeklärten Regierung Stanisław August Poniatowskis mittrug. Eine andere provinzielle Perspektive zur polnischen Aufklärung, allerdings für den bürgerlichen Stand, vermittelt uns der Danziger Syndikus Gottfried Lengnich (1689-1774), der zusammen mit anderen Professoren des Akademischen Gymnasiums, etwa Gottlieb Wernsdorff, dem Mitglied der Danziger naturforschenden Gesellschaft Michael Hanow sowie den Leitern des Jesuitenkollegs in Altschottland, intensive Kontakte mit Warschauer Kreisen pflegte. Lengnich nahm am regen Austausch von Büchern und neuen Zeitschriften teil, die damals auf den Markt kamen und eine weitere Öffentlichkeit ansprachen als die bisher meist handschriftlich verbreiteten Zeitschriften, deren Bedeutung aber auch nicht unterschätzt werden sollte. Die Zusammenarbeit von Druckereien, die wissenschaftliche Kooperation, der Austausch und die Weitergabe von Schülern sowie gemeinsame Publikationen – all das charakterisierte die Symbiose von Provinz und Zentrum, wobei die provinzielle Peripherie selbst zum kulturellen Zentrum wurde. Lengnichs Werke selbst fanden sich in Grabowskis bischöflicher Bibliothek. Durch den Aufenthalt Grabowskis in Danzig zur Schlichtung der Streitigkeiten zwischen den Gewerken und dem Magistrat Ende der 1740er Jahre lernte der Bischof den Danziger Gelehrten näher kennen und schätzen und zeigte ihm seine Bibliothek, in der Lengnich die Chronik des Gallus Anonymus in handschriftlicher Kopie entdeckte und sie zum ersten Mal im Druck herausgab. Das demonstriert das Interesse Lengnichs nicht nur an der Landesgeschichte und den Privilegien königlich Preußens, sondern auch an den Ursprüngen und der Vergangenheit Polens.45 Einerseits war Lengnichs Interesse am Staatsrecht gespeist von den naturrechtlichen Lehren, denen er während seines Studiums in Halle begegnet war, andererseits bewegte er sich aber ganz in der sarmatischen Tradition der Freiheitsideologie, d.h. in der Praxis, ständische Interessen mit historischen und juristischen Argumenten gegen Vertrags- und Privilegienbrüche abzusichern. Inspiriert von Andrzej Chryzostom Załuski, dem ermländischen Bischof, der in seinen Epistolae Historico-familiares 46 schon zu Beginn des Jahrhunderts auf die naturrechtlichen Lehren Grotius’ und Pufendorfs Bezug nahm, begann Lengnich 44 45
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Ebd. S. 145ff. Siehe dazu ausführlicher Karin Friedrich. The Other Prussia. Poland, Prussia and Liberty, 1569-1772. Cambridge 2000. S. 189-216; dies. „The Urban Enlightnment in eighteenth-century Royal Prussia”. La Recherche dix-huitièmiste (wie Anm. 19). S. 11-29. Brunsbergae 1709-1711.
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seine Historikerkarriere mit der periodisch geplanten, aber nur in zwei Teilen erschienenen Polnischen Bibliothek 47, worin er das Leben und die Werke Załuskis würdigte und die vorbildhafte Rolle der Epistolae für seine eigene, 1722 begonnene Geschichte der preussischen Lande königlich-polnischen Antheils betonte. Es war schließlich auch ein Załuski, der Krongroßkanzler Andrzej Stanisław, der Lengnich zur Abfassung eines Werks über die verfassungsrechtliche Institution der Konföderation in Polen bewog und der Lengnichs reformpolitische Perspektive teilte.48 Das Interesse an der Verfassung Polen-Litauens, ihren Unzulänglichkeiten, aber auch ihren Stärken, war ein weitverbreitetes Thema unter den Historikern und Staatsrechtlern der preußischen Städte. Neben Lengnichs Geschichte Polens und seinem Ius publicum Regni Poloniae 49 sowie seiner Analyse der Pacta Conventa erschienen auch Traktate zum Senat, dem Interregnum, der Monarchie und zu vielen anderen Aspekten, verfasst von den Thornern Georg Peter Schulz und Jakob Heinrich Zernecke, den Elbingern Samuel Grüttner, Jakub Wójt und David Braun, dem Danziger Carl Friedrich Gralath und vielen anderen. Zum Teil noch in der barocken polyhistorischen Tradition verwurzelt, verteidigten diese politischen Schriftsteller vor allem durch staats- und naturrechtliche Argumente die Sonderstellung der Provinz gegen die institutionelle und zum guten Teil auch kulturelle Zentralisierung, die polnische Aufklärer und Reformer für das Gemeinwesen der gesamten Republik, einschließlich all ihrer Provinzen, forderten. Im Gegensatz zu vielen polnischen Traktaten über den niemals zu hoch zu schätzenden Wert der Freiheit, den die Polen als von der Natur und Gott gegeben betrachteten50, waren sich die Bürger in der königlich-preußischen Provinz über den Ursprung ihrer Freiheiten wohl bewusst: Ihre Vorfahren hatten diese seit dem Inkorporationsakt von 1454 von der polnischen Krone erhalten und sie seitdem beschützt und vor allen Anfechtungen bewahrt, auch wenn die Versionen des historischen Diskurses zu dem Thema zunehmend von der Generierung verschiedener historischer und rechtlicher Mythen geprägt waren.51 Als der Thorner Bürgermeister, Samuel Luther Geret, 1767 zur Gründung der Thorner Konföderation der Dissidenten an den Verwalter der marienburgischen Ökonomie und Sejm-Abgesandten, Walerian Piwnicki, schrieb, wenn er (Piwnicki) es schaffe, die Beschwerden der Dissidenten vom Sejm rektifizieren zu lassen, dann 47
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Polnische Bibliothec welche von Büchern und anderen zur polnischen Historie dienenden Sachen ausführlich Nachricht giebt. Erstes Stück, Tannenberg, wo Vladislaus Jagiello die Creutz-Herren schlug. o.O. [Danzig] 1718. Mit fingiertem Publikationsort ist diese kurzlebige Zeitschrift zunächst der von Nikolaus Hieronymus Gundling herausgegebenen Halleschen Bibliothek nachempfunden, an der Lengnich während seines Studiums in Halle mitarbeitete. Lemke. Die Brüder Załuski (wie Anm. 34). S. 178. Gedani 1765-1766. Grześkowiak-Krwawicz. Regina Libertas (wie Anm. 15). S. 72f. Eine gute Zusammenfassung dieser Argumente bei Curicke, Hartknoch und Lengnich gibt Michael G. Müller. „‚Die auf feyerlichen Vergleich gegründete Landes-Einrichtung‘. Städtische Geschichtsschreibung und landständische Identität im Königlichen Preußen im 17. und frühen 18. Jahrhundert“. Die Konstruktion der Vergangenheit (wie Anm. 38). S. 265-280.
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wäre er ebenfalls ein preußischer Held, wie es die Vorfahren von Baysen, Zehmen und Działyński waren52, so bediente er sich derselben Methode wie Szymon Starowolski in seiner Sarmatischen Heldengalerie. Hier wie dort werden die für die Bewahrung der Freiheit und des Vaterlandes tapfersten Verteidiger aufgereiht: Ganz wie die polnischen Republikaner darauf hinwiesen, dass nur ihre Wachsamkeit und die Einhaltung der alten Rechte die Unverbrüchlichkeit der sarmatischen Freiheit garantieren konnten, so betonten auch die königlich-preußischen Gelehrten und Ratseliten, dass nur sie die letzten Garanten der Freiheit der Preußen darstellten. Der Unterschied zur polnischen Argumentation lag darin, dass sich diese Freiheit schon immer auch auf den Bürgerstand und die Städte bezog, wo sie oft mit Adelsprivilegien in Konflikt trat. Miloš Řezník stellt in seiner Analyse des städtischen Patriotismus und des Geschichtsdenkens der Provinz deshalb den antireformerischen Charakter der königlich-preußischen Stände und besonders der Städte in den Mittelpunkt.53 Dies bestätigt aber gleichzeitig die von Roszak betonte Kohabitation des politischen Konservatismus mit aufklärerischer Kulturoffenheit und deren Vermischung im aufgeklärten Sarmatismus, denn Aufklärer, die sich wissenschaftlich interessierten, eine Trennung von Staat und Kirche befürworteten und wirtschaftliche und soziale Reformen anstrebten, gab es auch unter den Verteidigern der ständischen und provinziellen Freiheiten. Im Kontext der polnischen Geschichte allgemein und der Landesgeschichte im Besonderen war es deshalb ein wichtiger Schritt, die in der traditionellen Historiographie verbreitete stereotype Kontrastierung der ‚unaufgeklärten’, in der Vergangenheit und im Obskurantismus verharrenden Sachsenzeit (bis 1763) mit der ‚aufgeklärten‘ Reformperiode der Regierung Stanisław August Poniatowskis aufzugeben oder jedenfalls zu korrigieren. Was dieses dualistische Bild, das Hugo Kołłątaj als Apologet des letzten Monarchen Polens zuerst in der Zeitschrift Monitor schuf, übersieht, sind die provinziellen Sonderentwicklungen, die sich fern vom politischen Zentrum Warschau und außerhalb katholischer Aufklärerkreise abspielten. Im benachbarten brandenburgisch-preußischen Staat übernahm diese reformierende Rolle vor allem der Pietismus, der auch auf das königlich-polnische Preußen ausstrahlte, doch ist es schwer, detaillierte Studien zum Pietismus zu finden, der sich weniger in Danzig, jedoch besonders 1710 bis 1730 in Thorn ausbreitete, gerade auch in der polnischsprachigen protestantischen Stadtbevölkerung. Wie auf die Natur- und Staatsrechtsschule der Gymnasien wirkte auf die 52
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„inter heroes, patriae nostrae antiquissimos, numerareris & pariter uti iidem, immortale nomen usque ad finem mundi TIBI comparares, qui sunt: Baysenii, Zehmenii, & Dzialinii“. S.L. Geret. Vox Pruthenorum ad Illust. atq. excell. dominum dominum Valerianum Piwnicki, ensiferum Terrarum Prussiae generalem inclytae commissionis Thesauri Regni Assessorem hoc tempore nuncium terrarum Prussiae in comitiis extraordinariis regni et delegatum ex his comitiis ad tractatum sub garantia sereniss. imperatricis Russiae conscribendum. o.O. 1767. S. 6. Miloš Řezník. „Patriotismus und Identität in Westpreußen“. Patriotismus und Nationenbildung am Ende des Heiligen Römischen Reiches. Hg. Otto Dann/Miroslav Hroch/Johannes Koll. Köln 2003 (= Kölner Beiträge zur Nationsforschung. Bd. 9). S. 235-252.
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königlich-preußische Provinz hier vor allem Halle ein, wo mit August Francke und Jakob Spener die pietistische Bewegung begonnen hatte. In Thorn und Danzig arbeiteten lange Jahre der Spener-Schüler Paul Pater und mehrere Pietisten aus Königsberg, die vor allem auf die Jugend in den akademischen Gymnasien Eindruck machten, besonders unter dem für den Pietismus aufgeschlossenen Direktor in Thorn, Peter Jaenichen, und dem antiklerikalen Prorektor und Naturrechtler Georg Peter Schultz. Die beiden aktivsten pietistischen Gelehrten, der schlesische Prediger und Arzt Johann Friedrich Bachstrom und der Mathematiker Johann Arndt, gestalteten ab 1718 das Thorner Gymnasium und seine gelehrten Kreise kurzfristig in ein lokales Zentrum für den Pietismus um. Im Gegensatz zu Danzig gehörten in Thorn vereinzelt auch Bürgermeister und Räte dieser Bewegung an. Schon während der Reformation, als die königlich-preußischen Städte dem Melanchthonschen Modell des Protestantismus gefolgt waren, lehnten die städtischen Eliten auch jetzt jeden Radikalismus ab, vor allem wenn er von außen importiert wurde. Allerdings ist es bezeichnend, dass die Reformbewegung aus der Provinz in die Hauptstadt abzog: Am Ende musste Bachstrom, der bestrebt war, radikal pietistische Zirkel in der Stadt zu organisieren, Thorn verlassen; da er selbst den Halleschen Pietisten als zu radikal galt, zog er weiter nach Warschau, wo er Prediger der brandenburgisch-preußischen Vertretung wurde.54 Zum Teil heizte auch der Protest der Thorner Jesuiten gegen die pietistische Öffentlichkeitswirkung in der Stadt religiöse Spannungen weiter an, und das wenige Jahre vor dem berüchtigten Thorner Tumult von 1724, den Bachstrom mit den Worten quittierte: „Meine Gegner hat’s getroffen“.55 Allerdings nahm er selbst auch kein gutes Ende: Er starb 1742, auf die Initiative von Jesuiten eingekerkert, in einem Radziwillschen Gefängnis. Es ist diskutabel, ob der Pietismus mit der Aufklärung in direkter Verbindung stand, unstrittig ist jedoch, dass er zumindest die Bildung unterer Bevölkerungsschichten anhob. Er zielte zudem darauf ab, die Sitten und die Sittlichkeit zu verbessern – ein typisches Ziel vieler europäischer Aufklärer – und besaß gleichzeitig einen antiklerikalen Zug, vor allem gegenüber der orthodoxen Version institutionalisierten Luthertums. Durch utilitaristische Ausformungen, z.B. als führende religiöse Richtung des Halleschen Waisenhauses oder der Militärseelsorge Preußens56, entwickelte sich der Pietismus im Hohenzollernschen Preußen quasi zur staatsbildenden Kraft. In Königsberg konzentrierte sich der Pietismus auch auf die Ausbildung von Predigern in polnischer und litauischer Sprache, die in den Provinzen der Rzeczpospolita, aber auch in Schlesien wirken konnten. Die 54
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Józef Gierowski. „Pietyzm na ziemiach polskich [Pietismus in den polnischen Territorien]”. Sobótka. Śląski Kwartalnik Historyczny 27 (1972). Nr. 2. S. 242. Ebd. S. 257; siehe auch Stanisław Salmonowicz. W staropolskim Toruniu [Im altpolnischen Thorn]. Toruń 2005. S. 62-73. Zuletzt Benjamin Marschke. Absolutely Pietist. Patronage, Factionalism, and State-Building in the Early Eighteenth-Century Prussian Army Chaplaincy. Tübingen 2005. Siehe auch Karin Friedrich. Brandenburg-Prussia 1466-1806. The Rise of a Composite State. Basingstoke 2011. Kap. 7.
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Königsberger Pietisten gaben 1726 und 1738 zwei Bibeleditionen in polnischer Sprache heraus, was die orthodoxen Lutheraner in Polen bewog, mit einer eigenen neuen polnischen Edition prompt zu folgen.57 Dabei wird in den Schriften der polnischen Prediger wiederum das Anliegen der Aufklärer deutlich, die polnische Sprache von barocken Makkaronismen zu reinigen. In diesem Sinne nannte Józef Gierowski die in Polen wirkenden Pietisten Vorläufer der Aufklärung. Als Lengnich in Halle studierte, waren es nicht mehr die Pietisten, sondern die Staatsrechtler und Wolffianer, die ihn beeindruckten. Dennoch kann man Lengnich nicht eindeutig zu den Aufklärern zählen. Wenn seit den 1760er Jahren die Aufklärung in ihren sozialreformerischen als auch moralund staatsphilosophischen Ausprägungen in Polen der königlich-preußischen Variante den Rang ablief, so war dies der Erfolg eines aus dezentralisierten Strukturen entstandenen langen Prozesses, gespeist aus verschiedenen europäischen Aufklärungsvarianten. Der polnischen Aufklärung verhalf am Ende die Gelehrsamkeit einer Adels- und Bürgerelite, aber auch der resolute politische Wille des letzten Königs von Polen, in der Maiverfassung 1791 zur vollen Blüte.58 ____________________ Zusammenfassung Für die traditionelle Historiographie zu den polnisch-preußischen Beziehungen stand das 18. Jahrhundert ganz im Zeichen der Teilungen Polens und des wachsenden Einflusses der ambitionierten friderizianisch-preußischen Politik auf die königlich-preußische Provinz unter der polnischen Krone. Dabei wurde oft übersehen, welche Impulse auch noch im Zeitalter der Aufklärung von der politischen und intellektuellen Kultur Polens auf das Königliche Preußen einwirkten – nicht nur auf das flache Land und den Adel, sondern auch auf die drei großen Städte Danzig, Thorn und Elbing mit ihrem großen Anteil deutschsprachiger Stadtbürger. Viele der seit den 1720er Jahren ins Königliche Preußen neu zugezogenen Siedler, vor allem auch aus Gebieten des Heiligen Römischen Reichs, passten sich der auch in den Städten weit verbreiteten Zweisprachigkeit an. Der Beitrag geht auf mehrere Schlüsselpersonen und -momente der Danziger, Thorner und königlich-preußischen Aufklärung ein und stellt diese in den Kontext polnischer, deutscher und lokaler Aufklärungsbewegungen.
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Gierowski. „Pietyzm na ziemiach polskich” (wie Anm. 54). S. 255. Siehe dazu Richard Butterwick. „Political Discourses of the Polish Revolution, 1788-1792”. English Historical Review 120 (2005). S. 695-731.
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Streszczenie Między Wschodem a Zachodem – Kultura i polityka Prus Królewskich w okresie oświecenia Dla tradycyjnej historiografii, opisującej stosunki polsko-pruskie, XVIII wiek stał pod znakiem rozbiorów Królestwa Polskiego i rosnących wpływów ambitnej polityki fryderykowsko-pruskiej w Prusach Królewskich, należących wówczas do Korony Polskiej. Nie zwracano przy tym uwagi na impulsy, jakie jeszcze w dobie oświecenia docierały do Prus Królewskich z Polski z jej kulturą polityczną i intelektualną – docierały zresztą nie tylko na wieś i do szlachty, ale i do trzech dużych miast, Gdańska, Torunia i Elbląga z ich w dużej mierze niemieckojęzycznymi obywatelami. Dziś o wiele wyraźniej widać, jak intensywne były wzajemne relacje interetniczne, międzywyznaniowe i interkulturowe, panujące wówczas między jednym a drugim terytorium. Artykuł wyjaśnia zróżnicowane uwarunkowania i konstelacje oświecenia w Prusach Królewskich, nawiązując przy tym do wielu kluczowych postaci – w szczególności do osoby biskupa Adama Stanisława Grabowskiego (1698-1766) i gdańskiego syndyka Gottfrieda Lengnicha (1689-1774) – oraz do najważniejszych wydarzeń w historii Gdańska i Torunia, umieszczając odpowiednie koncepcje w kontekście polskich, niemieckich i lokalnych ruchów oświeceniowych. Abstract Between East and West – Culture and Politics in the Royal Prussian-Polish Area during the Age of Enlightenment In traditional historiography on Polish-Prussian relations, the eighteenth century was dominated by the partitions of Poland and the growing influence of King Frederick II of Prussia’s political hankering after the Royal Prussian province under the Polish Crown. In doing so, the impulses emanating from the political and intellectual culture of Poland that influenced Royal Prussia during the Enlightenment are often overlooked – influences not only on the countryside and the nobility, but also on the three large cities of Danzig, Thorn and Elbing with their large groups of German-speaking burghers. Many new settlers had moved into Royal Prussia since the 1720s, especially from the territories of the Holy Roman Empire, and adapted to the extensive bilingualism, which was also widespread in the cities. This essay focuses on several key figures and moments of the Royal Prussian Enlightenment, and contextualises them within Polish, German and local enlightenment movements.
Jerzy Marian Michalak (Gdańsk/Polen)
Mal in dieser Gasse, mal in jener … – Die Irrfahrten der Polyhymnia durch Danzig zur Zeit von Daniel Chodowiecki1 Vor einigen Jahrzehnten nannte der damalige Nestor der Danziger Musiker, Carl Fuchs2, die Polyhymnia eine durch Danzig umherirrende obdachlose Muse. Der Grund für diese bittere Feststellung lag in dem Saal, in dem am 2. Oktober des Jahres 1919 ein aus Musikern des Leipziger Gewandhaus-Orchesters bestehendes Streichquartett3 aufgetreten war; denn das hervorragende Ensemble spielte in der Aula der Technischen Hochschule, die ersatzweise die Funktion eines Konzertsaals erfüllen musste4. Diese Formulierung des Kritikers ist für lange Zeit aktuell geblieben: Die Konzerte fanden weiterhin unregelmäßig statt, immerfort in anderen Sälen. Diese Situation erinnert durchaus an diejenigen Konstellationen, die sich in der Frühgeschichte des Danziger Konzertwesens ausgeprägt haben. Sie sollen im Folgenden genauer erschlossen werden – wobei die Schilderungen häufiger mit der Biographie Daniel Nicolaus Chodowieckis5, des berühmten Grafikers, Kupferstechers und Illustrators, verknüpft werden, dessen Lebensdaten 1
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Dieser Aufsatz ist eine überarbeitete, erweiterte, aktualisierte und übersetzte Fassung meines in polnischer Sprache verfassten Beitrags „To przy tej uliczce, to przy tamtej… Peregrynacje Polihymnii po Gdańsku w czasach Daniela Chodowieckiego”. Hg. Edmund Kizik/Ewa BarylewskaSzymańska/Wojciech Szymański. Gdańszczanin w Berlinie. Daniel Chodowiecki i kultura 2. połowy XVIII wieku w Europie Północnej [Ein Danziger in Berlin. Daniel Chodowiecki und die Kultur Nordeuropas in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts]. Gdańsk 2002 (= Dom Uphagena. Bd. 2). S. 101-108. Vgl. Hugo Sočnik. „Fuchs, Carl Dorius Johannes“. Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Hg. Friedrich Blume. Kassel u.a. 1949-1986. Bd. 4 (1955). Sp. 1076. Das Quartett bestand aus Edgar Wollandt (1. Geige), Karl Wolschke (2. Geige), Karl Herrmann (Bratsche), Julius Klengel (Cello). Carl Fuchs. „Danziger Orchesterverein. Kammermusik-Abend“: „Auf ihrer Irrfahrt durch erwünschte und unerwünschte, mögliche und unmögliche Säle gelangte die in Danzig fast heimatlos gewordene Muse der Tonkunst gestern zum erstenmal in die durch manche hohe Feierlichkeit geweihte Aula der Technischen Hochschule“. Danziger Zeitung (im Folgenden: DZ). Nr. 460 (03.10.1919, Abendausgabe). Die hier ausgewerteten Quellen zu Daniel Chodowiecki und seiner Familie sind, wenn nicht anders vermerkt: Wilhelm Engelmann. Daniel Chodowiecki’s Kupferstiche. Leipzig 1857; Wolfgang von Oettingen. Daniel Chodowiecki. Ein Berliner Künstlerleben im achtzehnten Jahrhundert. Berlin 1895; Ludwig Kaemmerer. Chodowiecki. Bielefeld, Leipzig 1897; Charlotte Steinbrucker. Daniel Chodowiecki. Briefwechsel zwischen ihm und seinen Zeitgenossen. Bd. 1. Berlin 1919; Dies. Briefe Daniel Chodowieckis an Anton Graff. Berlin, Leipzig 1921; Arthur Rümann. Die illustrierten deutschen Bücher des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1927; Carl Brinitzer. Die Geschichte des Daniel Ch.. Stuttgart 1973; Patrizier, Bürger, Einwohner der Freien und Hansestadt Danzig in Stamm- und Namentafeln vom 14.-18. Jahrhundert. Gesammelt v. Dorothea Weichbrodt (geb. v. Tiedemann). 5 Bde. Klausdorf/Schwentine 1988-1993. Bd. 1. S. 107, Tafel Chodowiecki (Godowitzki).
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(von 1726 bis 1801) sich weitgehend mit dem in Frage stehenden Zeitraum decken und der deshalb zuweilen als verlässlicher Zeuge für die Danziger Kulturund Sozialgeschichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit aufgerufen werden kann. Wenn wir die Polyhymnia als die Personifizierung jedweder Musik betrachten, dann hat man sie damals an diversen Orten antreffen können – von achtbaren Gotteshäusern bis hinunter zu den niederträchtigsten Tavernen. In den Kirchen unterstrich sie die Erhabenheit der religiösen Zeremonien, am Artushof vermischte sie sich mit dem Stimmengewirr der Tafelnden, in der Fechtschule – die im Jahre 1635 von Jacob van den Blocke erbaut worden war6 – begleitete sie die zuweilen von den Wandertheatergruppen veranstalteten Spektakel, in den Gemächern der reichen Häuser war sie für die angenehme Gestaltung des täglichen und gesellschaftlichen Lebens zuständig, und in den Schänken sorgte sie dafür, dass der Pöbel das Tanzbein schwang. Sie war beinahe überall, jedoch nirgends daheim; und sie war immer nur einer der Faktoren innerhalb eines komplexen Geflechts aus Vorgängen, Ereignissen, Handlungsweisen oder Interessen. Einige Monate nach dem dreizehnten Geburtstag von Daniel machte sich Polyhymnia selbstständig. Beigetragen hat dazu der Komponist Johann Jeremias du Grain7, der sich nach seiner Ausbildung bei Georg Philipp Telemann in Hamburg in Danzig ansiedelte. Am 23. Februar 1740 hörte das Publikum sein neuestes Werk, das Oratorium Der Winter. Das Konzert fand bei Nathanael Möwe, im Haus in der Straße III. Damm, statt. Die Polyhymnia hat den Saal gewiss als ihrer unwürdig erachtet, denn weitere Veranstaltungen an diesem Ort sind nicht dokumentiert. Die Stätte eines weiteren Konzerts, das am 8. April, also lediglich einige Wochen später, stattfand, war der geräumige Saal des Hotels Englisches Haus8 in der Brotbänkengasse 169. Das Hotel gehörte seit einem Jahr William Anderson, einem aus Perth stammenden Schotten, der im Jahre 1725 die Stadtrechte erhalten hatte. Solist war der sich von Bonn nach St. Petersburg begeben6 7
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Vgl. Jerzy Marian Michalak. „Ein neuer Blick auf das ‚Elisabethanische‘ Theater in Danzig und auf seinen Erbauer“. Ders. Aufsätze zur Musik- und Theatergeschichte Danzigs vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Berlin 2012 (= Greifswalder Beiträge zur Musikwissenschaft. Bd. 18). S. 47-73. Vgl. Hermann Rauschning. Geschichte der Musik und Musikpflege in Danzig. Von den Anfängen bis zur Auflösung der Kirchenkapellen. Danzig 1931 (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte Westpreußens. Bd. 15). S. 327, S. 348, S. 354, S. 358-364; Jerzy Marian Michalak. „Johann Jeremias du Grain und seine Familie“. Hg. Danuta Popinigis. Musica Baltica. Danzig und die Musikkultur Europas. Gdańsk 2000 (= Akademia Muzyczna w Gdańsku. Prace Specjalne. Bd. 57). S. 245-256. Zu CD-Einspielungen einiger Werke von du Grain vgl. www.goldbergensemble.eu/en/repertoire.html (20.08.2013). Vgl. Johannes Papritz. „Dietrich Lilie und das Englische Haus“. Zeitschrift des Westpreussischen Geschichtsvereins. Bd. 68 (1928). S. 127-184. Alle angeführten Hausnummern wurden in der 1853 vorgenommenen Neunummerierung der. Grundstücke vergeben. Vgl. Verzeichniß der Grundstücke in der Stadt Danzig […] zusammengestellt nach den neuen und alten Servis-Nummern. Danzig 1854; Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger für Danzig und dessen Vorstädte. Danzig 1854; [Daniel] Buhse. Plan von Danzig […] in den Jahren 1866 bis 1869 gefertigt. Danzig [o.J.]. Die heutige Nummerierung weicht in vielen Fällen von der damaligen ab.
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de Geiger Johann Leopold Commans10. Das Programm wurde von seiner Gattin, einer Sängerin, ergänzt. Einige Monate nach dem Konzert verschied der Hotelbesitzer. Die Witwe, Lucia, geborene Sheldon, führte das Hotel bis zu ihrem Tode Ende 1768 weiter. Dieser Saal entsprach den damaligen Erwartungen ganz offensichtlich, was die zahlreichen, hier bis in die ersten Jahrzehnte des darauffolgenden Jahrhunderts veranstalteten Konzerte belegen. Daniels Vater, der Getreidegroßhändler Gottfried Chodowiecki, war nicht unter den Zuhörern des Oratoriums von du Grain oder des Auftritts der Eheleute Commans, obwohl er in der Straße I. Damm wohnte11, also mehr oder minder in gleicher Entfernung zwischen beiden Sälen: Er kämpfte gerade mit einer Krankheit, die er sich während einer Anfang des Jahres unternommenen Reise zugezogen hatte, und starb schließlich am 20. April. Drei Tage später zog aus dem Trauerhaus ein Leichenzug zum Friedhof an der Heil. Leichnam-Kirche, auf dem Gottfried Chodowiecki neben seinem acht Jahren zuvor verstorbenen Schwiegervater Daniel Adrian Ayrer beigesetzt wurde. – In dieser schwierigen Lage fand der knapp vierzehnjährige Daniel bei der Schwägerin seines Großvaters väterlicherseits, Suzanne Bröllmann, der Inhaberin eines Gewürzgeschäftes, eine Anstellung. Sein um anderthalb Jahre jüngerer Bruder Samuel Gottfried kam in die Obhut seines Onkels Antoine Adrienne Ayrer, der in Berlin eine Quincaillerie führte. Den Lebensunterhalts der übrigen vier ihrer sechs Kinder sicherte die Mutter auf der Grundlage der Schule, die sie in einem der Zimmer im Hause in der Heil. Geist Gasse 54 einrichtete12. Für den Anfang der 1740er Jahre erlauben die überlieferten Quellen aufgrund der zeitlichen Koinzidenz auch weiterhin, die Anfänge des Konzertlebens in Danzig sowie wesentliche Veränderungen im Leben Daniels und seiner Angehörigen in einen Zusammenhang zu bringen. Der besagte du Grain, der unermüdlich eine würdige Stätte für die Polyhymnia suchte, organisierte im Jahre 1743
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Vgl. Alexander Wheelock Thayer. Ludwig van Beethoven’s Leben. Bd. 1. Berlin 1866. S. 26. Vgl. Jerzy Marian Michalak. „Przy której uliczce stał dom rodzinny Daniela Chodowieckiego? [In welcher Gasse stand Daniel Chodowieckis Elternhaus?]“. Kizik. Gdańszczanin w Berlinie (wie Anm. 1). S. 57. Der Zuschnitt der Räume ist uns von den in der Hälfte des Jahres 1888 erstellten Plänen bekannt. Wir wissen daher nicht, in welchem der Zimmer Helena, die Tochter des Privatbankiers Archibald Gibsone, sowie Johanna Henriette Trosiener, die Tochter eines unweit wohnenden Kaufmanns und Ratsherrn, lernten. Daniel Chodowiecki traf beide im Jahre 1773. Im Juli porträtierte er die Tochter des Bankiers, die einige Jahre zuvor den Grafen Otto Ernst von Keyserling geehelicht hatte, und im Juni war die siebenjährige Kaufmannstochter zugegen, als er den Innenraum des Schulzimmers zeichnete. Die dieses Ereignis begleitenden Umstände beschrieb sie ausführlich im Erwachsenenalter, viele Jahren nachdem sie Heinrich Floris Schopenhauer geheiratet und Artur zur Welt gebracht hatte. Sie erwähnte leider nicht, ob sie während der Lehrstunden irgendwann den Klang des unter der Wand stehenden Klavierinstrumentes, sicherlich eines Kielflügels, vernahm. Vgl. Johanna Schopenhauer. Jugendleben und Wanderbilder. Aus dem Nachlaß hrsg. von ihrer Tochter [Luise Adelaide Lavinia Schopenhauer]. Braunschweig 1839. Bd. 1. S. 43-49.
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zum ersten Male Konzerte im Hause der Böttcher-Zunft in der Töpfergasse 213. Im selben Jahr gesellte sich der inzwischen beinahe siebzehnjährige Daniel zu seinem in Berlin weilenden Bruder; und der Ratsmusiker Johann Carl Braunitz erwarb für 9.000 Florinen ein Haus an der Ecke der Straße IV. Damm 13 und der Tobiasgasse 114. Zwei Jahre später, am 21. Dezember 1745, fand hier das erste Konzert statt15. In jenem Jahr wiederum erreichte auch die beiden in Berlin sesshaft gewordenen Söhne der Marie Henriette die Nachricht vom Tod des jüngeren Bruders, des dreizehnjährigen Alexander Michael. Drei Jahre später erfuhren sie zudem von dem Tod der Großmutter mütterlicherseits, Johanna Lovisa Ayrer, und ein Jahr darauf vom Tod des Onkels väterlicherseits, Samuel Salomon Chodowiecki. Daraufhin beschlossen die Söhne, der fast fünfzigjährigen Mutter zu helfen, und nahmen den jüngsten Bruder, den geisteskranken Nathanael Anton, in ihre Obhut.16 Zu den vier Sälen, in denen in den 1740er Jahren Konzerte stattgefunden hatten, kamen im nächsten Jahrzehnt noch zwei weitere hinzu. Am 29. November des Jahres 1757 veranstaltete der Ratsmusiker Johann Daniel Pucklitz17 in seiner Wohnung in der Großen Mühlengasse das erste von mehreren Konzerten. 13
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Nach dem ersten Konzert am 8. März 1743 schrieb der Herausgeber des Wochenblattes Der Freydenker : „Danzig, Mittwoche, den 13. Merz 1743. […] Ich habe […] mit Vergnügen erfahren, daß der geschickte Herr du Grain in der verwichenen Woche abermals ein sehr wohlgesetztes Konzert aufgeführet hat. Dieser Mann macht unserer Stadt Ehre […]. Es wäre zu wünschen, daß er mehrmalen Gelegenheit haben möchte, meinen Mitbürgern und Mitbürgerinnen diese Art einer unschuldigen und überaus menschlichen Ergetzung zu verschaffen. Doch es wird ihm vermuthlich an dieser Gelegenheit niemals fehlen. Ich müßte einen sehr schlechten Begriff von unsern Einwohnern haben, wenn ich mir einbilden sollte, daß sie nicht fähig wären von den Schönheiten eines wohleingerichteten Konzerts gerühret zu werden, und daß sie diesen reitzenden Zeitvertreib nicht vielen andern vorziehen sollten. Sie haben ja schon das Gegentheil bewiesen“. Der Freydenker. Hg. Johann Anton von Waasberghe. Danzig 21766. S. 671-678. Vgl. Alina Ratkowska. Koncerty klawesynowe Johanna Jeremiasa du Graina [Cembalokonzerte von Johann Jeremias du Grain] (? -1756). Warszawa 2013. S. 25 f. Die Autorin spielte die Cembalokonzerte von du Grain auf CD ein, vgl. www.eclassical.com/du-graincomplete-harpsichord-concertos.html (24.08.2013). Archiwum Państwowe w Gdańsku [Staatsarchiv Danzig] (im Folgenden: APG ). Sign. 300, 43/199, Bl. 19v-21r. Nützliche Danziger Erfahrungen. 50. Woche. ([18.12.] 1745). Damit verblieben in Danzig von den Nachkommen des Christian Serenius Chodowiecki, dem Großvater von Daniel, lediglich die Enkeltöchter Concordia und Henriette, die gemeinsam mit der Mutter und ihren Schwestern Concordia und Justine Ayrer wohnten. Außer Concordia Chodowiecki, der Schwester von Daniel, lebte damals noch Concordia Chodowiecki, die Witwe von Samuel Salomon, Daniels Onkel väterlicherseits. Bis zum heutigen Tage bereitet die Identität der Vornamen den Forschern Schwierigkeiten bei der zutreffenden Identifizierung der Trägerinnen. So behauptet z.B. Willy Geismeier (Daniel Chodowiecki. Die Reise von Berlin nach Danzig. Das Tagebuch. Aus dem Französischen übers. v. Claude Keisch. Hg. u. erläutert v. Willy Geismeier. Berlin 1994 [= Deutsche Bibliothek des Ostens]. S. 151), Daniel sei bei seiner Ankunft in Danzig im Sommer 1773 von seiner Tante Concordia, Witwe von Samuel Salomon Chodowiecki, begrüßt worden. Das ist aber unmöglich, denn diese war bereits 1769 verstorben (APG Sign. 354/353, S. 42, 300, 43/168, Bl. 128v-130r). Die begrüßende Tante war Concordia Ayrer, die Schwester von Daniels Mutter. Vgl. Rauschning. Geschichte der Musik (wie Anm. 7). S. 90, 316, 349-354, 364f., 383, 390; Barbara Długońska. „Johann Daniel Pucklitz i jego utwory [Johann Daniel Pucklitz und seine Werke]“. Źródła muzyczne. Krytyka, analiza, interpretacja [Musikalische Quellen. Kritik, Analyse, Interpretation]. Hg. Ludwig Bielawski/J. Katarzyna Dadak-Kozicka. Warszawa 1999. S. 145-156. Zu CD-Einspielungen einiger Werke von Pucklitz vgl. www.goldbergensemble.eu/en/repertoire.html (20.08.2013).
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In der Zeitungsannonce hob er hervor, dass hier zuvor der nicht mehr lebende Maler Hoffmann lebte18. (Eins der Nachbarhäuser gehörte Wilhelm Junckers, den Chodowiecki im Jahre 1773 besuchte19. Womöglich traf Daniel anlässlich dieser Besuche auch den Musiker selbst; denn Pucklitz ist erst im Januar des darauf folgenden Jahres verstorben.) – Beginnend mit dem Februar des Jahres 1758 fand Polyhymnia für eine längere Zeit zudem Obdach in einem Haus in der Heil. Geist Gasse 11120, in der die Verwandten von Daniel wohnten, jedoch auf der gegenüberliegenden, sonnigen Seite. Das Gebäude zählte man damals in Danzig zu den prächtigsten privaten Bürgerhäusern. Sein Eigentümer, Jean Pierre Lambert Bohon21, baute es auf einer Parzelle, auf der sich bis zum Jahre 1755 die uns aus einer Beschreibung bekannte, im 15. Jahrhundert errichtete Badeanstalt befand. Die hier angebotenen Dienstleistungen nutzten die Danziger, die für ihre persönliche Hygiene Sorge tragen wollten, jedoch in ihren Wohnungen über keine entsprechenden Bedingungen verfügten.22 Von den Werken Danziger Komponisten, die nach dem Jahre 1760 aufgeführt worden sind, verdient das Passionsoratorium Der wundervolle Tod des Welterlösers von Friedrich Christian Mohrheim23, einem Schüler von Johann Sebastian Bach, besondere Erwähnung; im März des Jahres 1764 wurde es zweimal in dem Eckhaus beim IV. Damm gegeben. Das waren zugleich die letzten Konzerte in dem Haus, das der Musiker Braunitz 1743 erworben und acht Jahre später, kurz vor seinem Tod, für den beinahe zweifachen Betrag verkauft hatte. In diesem Hause verewigte Daniel Chodowiecki im Jahr 1773 übrigens das Antlitz des Grafen Franciszek Czacki – des Großwächters der polnischen Krone (praefectus excubiarum seu vigiliarum) –, seiner Ehegattin Kunigunda aus dem Adelsge18
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Der Maler Johann Benedikt Hoffmann der Ältere verstarb 1745. Vgl. Encyklopedia Gdańska (www.encyklopedia.gda.pl). Artikel: Hoffmann Johann Benedikt sen. (24.08.2013). Die Quelle zu Daniel Chodowieckis Aktivitäten im Sommer 1773 in Danzig ist: Chodowiecki. Die Reise (wie Anm. 16). Von den zahlreichen Konzerten, die dort stattfanden, sei nur dasjenige hervorgehoben, an dem nachweislich ein Werk von Mozart zum ersten Mal in Danzig auf dem Programm stand. Mozarts Freimaurerkantate Maurerfreude KV 471 erklang am 25.04.1787 „zu mehrerer Unterhaltung und angenehmern Abwechslung“, wie es Johann Carl Turge (Organist an der Chororgel in der Johanniskirche, Geiger, Bratschist, Komponist und Konzertveranstalter) in der Zeitungsanzeige ankündigte. Wöchentliche Danziger Anzeigen und dienliche Nachrichten (im Folgenden: WDAN). Nr. 16 (21.04.1787). Rauschning (Geschichte der Musik [wie Anm. 7]) vermerkt diese Erstaufführung für Danzig nicht. Vgl. Jerzy Marian Michalak. „Das Leben der Anna Elisabeth Bohon geb. Freislich und die Konzerte im ‚Bohonschen‘ Hause in Danzig bis 1775“. Musikalische Beziehungen zwischen Mitteldeutschland und Danzig im 18. Jahrhundert. Konferenzbericht Gdańsk 20.-22. November 2000. Hg. Danuta Popinigis/KlausPeter Koch. Sinzig 2002 (= Edition IME. Reihe 1: Schriften. Bd. 9). S. 135-159. Die Pläne des Familienhauses von Daniel sind uns zwar nicht bekannt, es lässt sich aber vermuten, dass auch er in der Kindheit die „Badtstube“ in der Heil. Geist Gasse 111 besucht hat. Vgl. Rauschning. Geschichte der Musik (wie Anm. 7). S. 323, 365-372, 382; Karla Neschke. „Der Bachschüler Friedrich Christian Samuel Mohrheim (1719-1780) als Danziger Kapellmeister und Konzertveranstalter“. Vom rechten Thon der Orgeln und anderer Instrumenten. Festschrift Christian Ahrens zum 60. Geburtstag. Hg. Birgit Abels. Bad Köstritz 2003 (= Köstritzer Schriften. Bd. 2). S. 210-221. Zu CDEinspielungen einiger Werke von Mohrheim vgl. www.goldbergensemble.eu/en/repertoire.html (20.08.2013).
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schlecht der Sanguszko sowie deren Gäste. Darüber hinaus hörte er hier die Gräfin, die auf einem Reise-Spinett ein angeblich selbst komponiertes Menuett gespielt hat. Unter den in den 1760er Jahren in Danzig auftretenden Virtuosen ist vor allem die italienische, von ihren Zeitgenossen La Farinella genannte Sängerin Maria Camati24 hervorzuheben. Sie kam in Danzig im September des Jahres 1765 an – zuvor war sie in Warschau, unter anderem auf dem Hof des Königs Stanisław August Poniatowski, aufgetreten25 – und blieb bis zum April des darauffolgenden Jahres. Das Wirken dieser Künstlerin bildete in der Geschichte des Danziger Musiklebens ein Unikum. Sie mietete für die Zeit ihres Aufenthaltes ein Haus in der Großen Gerbergasse 14, in ihrem östlichen Teil, dicht bei der Langgasse, um dort einmal im Monat Konzerte zu veranstalten. – An diesem Hause ging Chodowiecki im Jahre 1773 einige Male vorbei, und zwar auf seinem Wege zu dem auf der gegenüberliegenden Seite der Straße gelegenem Bürgerhaus mit der Nummer 5. Hier porträtierte er das Fräulein [?] von Dühren, und während einer der Portrait-Sitzungen spielte ihr Bruder auf einem Clavichord mit Flötenregister. (Ein Cembalo, das aus der Werkstatt des in der Tobiasgasse wohnenden Instrumentenbauers Johann Werner Woge26 stammte, gehörte Mitte des Jahres 1787 zu den zahlreichen Objekten, die in diesem Haus nach dem Tod des Eigentümers, Heinrich von Dühren, zur Versteigerung standen.27) Am 12. November 1770 erschien Polyhymnia zum ersten Male im Zentrum der Stadt, in der Weinstube von Peter Kloth in der Langgasse 57. Zu diesem besonderen Anlass entschied sie sich für die ihr wohlgefällige, prächtige Komposition Alexanders Fest, oder die Gewalt der Music des bereits erwähnten Friedrich Christian Mohrheim28. Am 26. August des Jahres 1771 konzertierte in diesem Saal der 21-jährige Venezianer Cipriano Cormier29, ein Geiger aus der Kapelle des Fürsten Alexander Michał Sapieha, des litauischen Feldhetmans. Cormier hielt sich in Danzig gewiss seit dem 3. Mai auf, an dem der Fürst nach seiner Italienreise hier ankam. Die Ehegattin des Fürsten, Magdalena Agnieszka Sapieha aus dem Adels24 25
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Vgl. Karl-Josef Kutsch/Leo Riemens. Großes Sängerlexikon. 7 Bde. München 42003. Bd. 1. S. 693f. Vgl. Alina Żórawska-Witkowska. Muzyka na dworze i w teatrze Stanisława Augusta [Die Musik am Hof und im Theater des Stanisław August]. Warszawa 1995. S. 22, 120, 312f. Vgl. Benjamin Vogel. „Johann Werner Woge – gdański budowniczy klawesynów [Johann Werner Woge − ein Danziger Cembalobauer]”. Muzyka fortepianowa [Klaviermusik] XIV. Gdańsk 2007 (= Akademia Muzyczna w Gdańsku. Prace Specjalne. Bd. 74). S. 541-553. WDAN. Nr. 21 (26.05.1787), Nr. 22 (02.06.1787). „Mondtags, den 12ten November, Abends von halb 6 bis 8 Uhr, wird der hiesige Kapellmeister, Mohrheim […] im Klohtischen Hause, ein vollständiges, mit allen gewöhnlichen Instrumenten stark besetztes, Sing=Concert [aufführen] […]. Es wird diese Cantate von Anfang bis zu Ende, ohne eine Ruhezeit darzwischen zu halten, ingleichen auch, nur ein einziges mahl aufgeführet werden. Bey den Proben verbittet man sich allen geneigten Zuspruch. Friedrich Christian Mohrheim“. WDAN. Nr. 45 (10.11.1770). Vgl. Andrzej Ciechanowiecki. Michał Kazimierz Ogiński und sein Musenhof zu Słonim. Köln, Graz 1961. S. 174; Żórawska-Witkowska. Muzyka na dworze (wie Anm. 25). S. 69.
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geschlecht der Lubomirski, weilte bereits seit der Mitte des vorherigen Jahres in Danzig. Unter ihrem Gefolge befand sich der 24-jährige Musiklehrer Johann Abraham Peter Schultz, der seinerseits hier mit dem fünf Jahre jüngeren Johann Friedrich Reichardt – der sich auf der Reise aus dem heimatlichen Königsberg nach Berlin befand30 – zusammentraf 31. Mag sein, dass Schultz an dem Konzert des italienischen Geigers in der Weinstube von Kloth teilnahm; die Quellen geben darüber keine Auskunft, wohl aber belegen sie, dass die Weinstube der Muse offenbar gefiel; denn sie war dort auch nach Kloths Tod im Jahre 1774 noch lange zu Gast. Der nächste Eigentümer der von Liebhabern edler Getränke und schöner Musik überaus gerne besuchten Stätte war Johann Benck. Daniel Chodowiecki kehrte am 11. Juni 1773 in seine 30 Jahre zuvor verlassene Heimatstadt zurück. Während des anschließenden, zweimonatigen Aufenthalts haben zumindest zwei seiner Kontakte zum Danziger Musikleben konkrete Spuren hinterlassen: Am 1. August notiert er in seinem Tagebuch: „Es gab eine sehr schöne Musik“. Diese Anmerkung bezieht sich auf die Prozession in der Dominikanerkirche, der er beigewohnt hatte. Und drei Tage später hörte er, wie er schreibt, in dieser Kirche eine Messe mit „sehr schönen Musik“. – Am 10. August 1773 verließ Daniel Chodowiecki Danzig neuerlich, diesmal für etwas mehr als sieben Jahre. In dieser Zeit erkundete Polyhymnia zwei weitere Säle. Längere Zeit war sie nun zu Gast im Kaffeehaus von Ernst Jakob Duisburg in der Hintergasse 1632; im Jahre 1775 erschien sie mehrfach im Haus von Richard Daniels in der Heil. Geist Gasse 7433. Für das Jahr 1780 ist dann Chodowieckis letzter Besuch in Danzig belegt. Nach dem Tode seiner Mutter und seiner Tanten wohnten im prachtvollen Haus der Familie nur noch seine zwei unverheirateten Schwestern Elisabeth Ludovica Concordia und Sara Henriette. Die in Berlin wohnenden Brüder Daniel Nicolaus und Samuel Gottfried beschlossen, diese zu sich zu nehmen und das Haus zum Verkauf anzubieten. Das Nachlassverfahren wurde am 5. Mai 1780 eröffnet34; und am 22. August wechselte das Haus den Besitzer. Erwerber war Christian Nathanael Feldhauer35. Gegen Ende des Jahres schließlich verließen die letzten hier lebenden Nachkommen der Chodowiecki und Ayrer Danzig. 30
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Vgl. Hans Michael Schletterer. Joh[ann] Friedrich Reichardt. Sein Leben und seine Werke. Bd. 1: Reichardt, der Musiker. Augsburg 1865. S. 91-94. Vgl. Hermann Güttler. „Eine Musikerzusammenkunft in Danzig im Jahre 1771“. Danziger Neueste Nachrichten. Nr. 66 (17.03.1928). „Künftigen Mittwoch den 2. October, wird in dem Coffee-Hause in der Hintergasse, das gewöhnliche Winter-Concert, Abends um 5. Uhr, seinen Anfang nehmen“. WDAN. Nr. 39 (28.09.1776). In einem der Konzerte, am 30.08.1775, trat der italienische Sänger Gabrielli auf, der sich als „Bruder der bekannten Sängerin, Mademoiselle Gabrielli“ bezeichnete. WDAN. Nr. 34 (26.08.1775). Es war Antonio Gabrielli, Bruder von Catarina Gabrielli, die u.a. 1772-1775 in St. Petersburg engagiert gewesen war. Vgl. Kutsch/Riemens. Sängerlexikon (wie Anm. 24). Bd. 3. S. 1602. APG Sign. 300, 43/179, Bl. 30v-32r. „Rubach’s Monatliche Sammlung”. Biblioteka Gdańska Polskiej Akademii Nauk (im Folgenden: BG PAN). Sign. Ms. 147.
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Das Bemühen, für die Musik eine Heimstatt zu finden, führten seit dieser Zeit zu unterschiedlichen, zuweilen auch durchaus attraktiven Ergebnissen. Im Sommer des Jahres 1781 fanden mehrfach Konzerte im Palast des Grafen Józef Rogaliński in der Straße Neugarten statt36; im darauffolgenden Jahr war Polyhymnia im Gasthof am Vorstädtischen Graben zu Gast37 – und Anfang des Jahres 1786 auch im Haus am Langen Markt 4138, das man im 19. Jahrhundert mit dem Namen ‚Goldenes Haus‘ bedachte. Am 6. August 1788 wagte sie sogar, jahrhundertelang beobachtete Gewohnheiten in Frage zu stellen: An diesem Tage verwandelte Georg Joseph Vogler – den Zeitgenossen als Abbé Vogler bekannt – ein Gotteshaus in einen Konzertsaal. Er begann mit einem Zyklus von Orgelkonzerten in der St. Petri- und Pauli-Kirche und trat in den nächsten Tagen in der Marienkirche sowie der St. Johanniskirche und Dominikanerkirche auf. Wie außergewöhnlich für die Zuhörerschaft die Erfahrung war, in einer Kirche, die sonst doch lediglich religiösen Zwecken diente, Musik zu hören, hielt nach Jahren Johanna Schopenhauer fest, die, wenige Monate nach Arturs Geburt, dem Konzert in der Marienkirche beigewohnt hatte.39 Der Versuch, im nächsten Jahr einen entsprechenden Zyklus zu veranstalten, missglückte Vogler allerdings. Es fanden sich lediglich vierundsechzig Interessenten, die bereit waren, für eine Eintrittskarte zu einem für den 14. Mai geplanten Konzert in der Marienkirche zwei Gulden zu bezahlen. Der gekränkte Virtuose sagte daraufhin die weiteren Auftritte ab. Er gab lediglich der Bitte einer kleinen Gruppe von Enthusiasten nach, für die er, und zwar unentgeltlich, am 18. Mai in der St. Trinitatiskirche spielte. Auf das erste Gesangsolokonzert in einer Kirche warteten die Danziger noch bis zum Jahre 1797, in dem sich Emilia Angiolini40 in der Johanniskirche hören ließ41. Die itali36
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„Freytag den 22. dieses Monats, wird in des Hrn. Grafen Rogalinski Palais auf Neugarten, ein Liebhaber Concert angefangen, und damit bis Michaelis alle Freytage Nachmittags in den gewöhnlichen Concert-Stunden fortgefahren werden. Die Subscription für die ganze Zeit ist 18 Fl. Ein jeder Subscribent kann auf sein Billet eine oder zwey Damen einführen. Ohne Billet aber wird Niemand eingelassen“. WDAN. Nr. 24 (16.06.1781). „Die frembden Musici [Franz] Dworschak und [Vincent] Springer, werden auf Verlangen zum Letztenmale Mondtag den 24. Junii Abends um 9. Uhr, ein zweytes Concert bey Madame Schmähling am Vorstädtschen Graben zu geben die Ehre haben. […] Das Concert bleibt auf den Diensttag den 25. Junii ausgesetzt, im Fall es Mondtag Abend regnen sollte. Der Garten ist erleuchtet, und zu dem gewöhnlichen Preise werden daselbst Erfrischungen bereit gehalten“. WDAN. Nr. 24 (15.06.1782). Vgl. Bogdan Ocieszak. „The Basset-Horn in Eigtheenh-Century Gdansk”. Musica Baltica. The Music Culture of Baltic Cities in Modern Times. Hg. Jolanta Woźniak. Gdańsk 2010 (= Akademia Muzyczna w Gdańsku. Prace Specjalne. Bd. 80). S. 243-248, S. 246f. „Einem respect. Publico, wird hiedurch das […] dritte von der Börse belegene Haus […] zum geneigten Besuch wieder empfohlen. […] NB. Das unterm 23. und 30. Jenner angefangene Concert, wird künftig alle Mondtage von 5 bis 8 Uhr gegeben, und bis die letzte Woche vor Ostern continuiret, wozu alle respect. Liebhabere zum freyen Eintritt gebethen werden“. WDAN. Nr. 8 (25.02.1786). Schopenhauer. Jugendleben (wie Anm. 12). S. 291ff. Vgl. Rauschning. Geschichte der Musik (wie Anm. 7). S. 410f. Vgl. Kutsch/Riemens. Sängerlexikon (wie Anm. 24). Bd. 1. S. 114. Das Konzert fand am 23.08.1797 statt. Danziger Nachrichten und Anzeigen (im Folgenden: DaNa). Nr. 66 (19.08.1797).
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enische Sängerin trat außerdem einige Male42 an einem Ort auf, der ihr bereits von einem – zwei Jahre zuvor veranstalteten – Konzertzyklus vertraut war43. Dabei handelte es sich um das im Jahre 1779 errichtete Holzgebäude An der Reitbahn 6, das als ‚Comödienhaus‘44 oder ‚Theater‘ bezeichnet wurde – vom aufgeklärten Teil des Publikums aber eher mit einer Scheune45 oder einem Stall46 verglichen wurde. Im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts standen unserer Muse noch weitere Räume zu Gebote. Im Jahre 1790 sind die Melomanen der Stadt erstmals zu einem Konzert ins Hotel am Vorstädtischen Graben 18 eingeladen worden47. Fünf Jahre später fanden sporadische Veranstaltungen im Bürgerhaus in der Langgasse 35 statt48, welches heute ‚Löwenschloss‘ genannt wird und in dem sich damals das Hotel de Saxe befand. 1798 trat auch das Hotel zum weißen Löwen in der Holzgasse mit Konzertveranstaltungen hervor49, die sich dort für lange Zeit hielten. Hier führten Danziger Künstler am 11. Februar 1801 zum ersten Male das Haydn-Oratorium Die Schöpfung auf 50. (Vier Tage zuvor war in Berlin Daniel Nicolaus Chodowiecki gestorben.) Wenige Monate nach dieser Erstaufführung, am 3. August, füllte sich zum ersten Male der Zuschauerraum des Theatergebäudes am Kohlenmarkt, das für die Bedürfnisse von Melpomene, Thalia und Terpsichore errichtet worden war51. Einige Jahre später trat dort eine gewisse Mad. Chodowiecki auf. Die einzigen er42 43 44
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DaNa. Nr. 56 (15.07.1797), Nr. 60 (29.07.1797), Nr. 62 (05.08.1797). DaNa. Nr. 30 (01.08.1795), Nr. 31 (08.08.1795), Nr. 32 (15.08.1795). Das „Comödienhaus“ verwandelte sich des Öfteren in einen Konzertsaal. Vgl. Michalak. Theaterzettel und das Danziger Musikleben (wie Anm. 6). S. 11-45, S. 21-25. „Die Schuchische Schauspielergesellschaft […] bezog alljährlich zur Dominikszeit die baufällige bretterne Bude, welche eher einer Scheune als einem Theater glich“. Schopenhauer. Jugendleben (wie Anm. 12). S. 168. „Den größten Vergnügungsgenuß, den uns der Winter gewähren konnte, fanden wir im Theater […]. Alljährlich öffnete sich für uns im Knabenalter die stallartige Bretterbude, […] deren Aeußeres nichts weniger als den Tempel der dramatischen Kunst erkennen ließ“. Gotthilf Löschin. Aus dem Leben eines Amts-Jubilares. Danzig 1865. S. 10. „Es wird hiemit bekannt gemacht: daß Sonnabend den 4. Decbr. das publique Concert, bey [Johann Gottlieb] Götz, am vorstädtschen Graben, seinen Anfang nimmt, und damit in der Folge continuiret wird“. WDAN. Nr. 49 (04.12.1790). „Es wird einem verehrungswürdigen Publikum ergebenst bekannt gemacht, daß ich durch den gütigen Beyfall und durch viele Aufforderungen angesehener Gönner und Beförderer der ächten Musik, aufgemuntert bin, Dienstag den 29sten Decbr. noch ein großes Vocal- und Instrumental-Concert in der Langgasse im Hotel de Saxe zu geben“. [Johann Friedrich] Stiemer. DaNa. Nr. 51 (24.12.1795). „Der Hr. Musicus [Carl] Möser hat die Ehre vorläufig bekannt zu machen, daß er künftigen Donnerstag den 19ten July ein großes Concert im neuerbauten Saal im weißen Löwen geben wird, in welchem er sich mit verschiedenen großen Concerten auf der Violine hören lassen wird. Ein mehreres hievon zeigen die große[n] Zettel an. Der Anfang ist um 6 Uhr“. DaNa. Nr. 57 (18.06.1798). DaNa. Nr. 11 (07.02.1801). Vgl. Hugo Socnik. „Das Schauspielhaus am Kohlenmarkt. Anläßlich der 125. Wiederkehr des Eröffnungstages“. DZ. Nr. 213 (03.08.1926, Ausgabe A); Hans-Peter Bayersdörfer. „Theater- und architekturtheoretische Voraussetzungen für den Bau des Theaters am Kohlenmarkt“. 200 lat teatru na Targu Węglowym w Gdańsku [200 Jahre Theater am Kohlenmarkt in Danzig]. Hg. Jan Ciechowicz. Gdańsk 2004. S. 33-46.
Mal in dieser Gasse, mal in jener … – Die Irrfahrten der Polyhymnia durch Danzig
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haltenen Spuren ihres Aufenthaltes in Danzig stammen aus dem Jahre 1808: Am 4. März trat sie in der Oper Das Nixenreich von Friedrich Adam Hiller auf 52, am 19. März fand ihr Benefiz statt, wobei sie für diese Gelegenheit die Oper Der Baum der Diana von Vincenz Martin y Soler gewählt hatte53; einige Historiker behaupten54, es handelte sich bei dieser Sängerin um Karoline, die Schwiegertochter von Daniel Chodowiecki, geborene Zützel, die zweite Ehefrau von dessen Sohn Wilhelm und die Mutter seines 1805 geborenen Enkels Albert, die zu diesem Zeitpunkt bereits seit drei Jahren verwitwet war. Wir begleiteten die Polyhymnia auf ihrer Irrfahrt durch Danzig in der Zeit von Daniel Chodowiecki. Während dieser sechzig Jahre verweilte sie in 22 Räumen, die hier nochmals übersichtlich zusammengestellt und topographisch auf einem Stadtplan (Abbildung 1) festgehalten werden sollen (die Gebäude sind nach der zeitlichen Reihenfolge geordnet, in der dort das erste nachgewiesene Konzert stattgefunden hat55): 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22.
Nathanael Möwes Haus, III. Damm – 1740 Hotel Englisches Haus, Brotbänkengasse 16 – 1740 Haus der Böttcher-Zunft, Töpfergasse 2 – 1743 Johann Carl Braunitz‘ Haus, Ecke IV. Damm und Tobiasgasse – 1745 Johann Daniel Pucklitz‘ Wohnung, Große Mühlengasse – 1757 Jean Pierre Lambert Bohons Haus, Heil. Geist Gasse 111 – 1758 Maria Camatis Wohnung, Große Gerbergasse 14 – 1765 Peter Kloths Weinstube, Langgasse 57 – 1770 Richard Daniels‘ Haus, Heil. Geist Gasse 74 – 1775 Ernst Jakob Duisburgs Kaffeehaus, Hintergasse 16 – 1776 Graf Józef Rogalińskis Palais, Neugarten – 1781 Gasthof am Vorstädtischen Graben – 1782 Das Goldene Haus, Langer Markt 41 – 1786 St. Petri- und Pauli-Kirche – 1788 Marienkirche – 1788 St. Johanniskirche – 1788 Dominikanerkirche – 1788 St. Trinitatiskirche – 1789 Hotel, Vorstädtischer Graben 18 – 1790 Comödienhaus, An der Reitbahn 6 – 1795 Hotel de Saxe, Langgasse 35 – 1795 Hotel Zum weißen Löwen, Holzgasse 24 – 1798
Manche dieser Stätten besuchte unsere Muse nur ein einziges Mal, in anderen erschien sie mehrmals, und lediglich in einigen wenigen blieb sie für eine längere 52 53 54 55
Theaterzettel vom 4. März 1808. BG PAN. Sign. Od 21480 2°. DaNa. Nr. 22 (16.03.1808). Otto Rub. Die dramatische Kunst in Danzig von 1615 bis 1893. Danzig 1894. S. 58. Die ermittelten Hausnummern sind nach der 1853 erfolgten Neunummerierung angegeben.
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Abb. 1: Danzig. Stadtplanfragment mit topographisch festgehaltenen Gebäuden, die von ihren Eigentümern bzw. Mietern zwischen 1740 und 1801 für öffentliche Musikaufführungen bereitgestellt worden sind
Zeit. Nach dem Ableben von Daniel Chodowiecki suchte die Muse der Musik fast zwei weitere Jahrhunderte nach einem dauerhaften Zuhause. In keinem der Dutzenden von Sälen aber, die sie erprobte, war sie daheim: zu ihren besten Zeiten teilte sie den Raum mit Untermietern – und in den schlechtesten fand sie dort nur für jeweils wenige Stunden einen Unterschlupf. – Um die Jahrtausendwende ist für sie das 1898 in Betrieb genommene, 1997 abgeschaltete Elektrizitätswerk
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auf der Bleihofinsel hergerichtet worden56; es wird nun für lange Zeit ihren Lebensraum bilden, den sie allerdings wieder mit anderen Nutzern wird teilen müssen. Davon, dass die Danziger ein ihr allein zustehendes Gebäude errichten, kann Polyhymnia also auch weiterhin lediglich träumen. ____________________ Zusammenfassung Im Jahre 1919 nannte der damalige Nestor der Danziger Musiker, Carl Fuchs, die Polyhymnia eine durch Danzig umherirrende obdachlose Muse. Dieses KritikerWort ist danach noch für lange Zeit aktuell geblieben, denn die Konzerte fanden weiterhin unregelmäßig und immerfort in anderen Sälen statt. Die Formulierung von Fuchs trifft allerdings auch diejenigen Konstellationen, die sich in der Frühgeschichte des Danziger Konzertwesens – während der Zeitspanne von 1740 bis zum nächsten Jahrhundertwechsel – ausgeprägt haben; denn in diesen sechzig Jahren verweilte Polyhymnia in nicht weniger als zweiundzwanzig Räumen. Manche dieser Stätten besuchte die Muse nur ein einziges Mal, in anderen gastierte sie mehrmals, und lediglich in einigen wenigen blieb sie für eine längere Zeit. Diese Entfaltung eines städtischen Konzertlebens in Danzig korrespondiert aufschlussreicher Weise an einigen Punkten mit der Biographie Daniel Nicolaus Chodowieckis, des berühmten Grafikers, Kupferstechers und Illustrators, dessen Lebensdaten (von 1726 bis 1801) sich weitgehend mit dem in Frage stehenden Zeitraum decken und der deshalb zuweilen als verlässlicher Zeuge für die Danziger Kulturund Sozialgeschichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit aufgerufen werden kann. Streszczenie Raz przy tej uliczce, raz przy tamtej … – Tułaczka Polihymnii po Gdańsku w czasach Daniela Chodowieckiego W 1919 roku ówczesny nestor gdańskich muzyków, Carl Fuchs, nazwał Polihymnię błądzącą po Gdańsku, bezdomną muzą. Ta krytyka pozostała aktualna przez długi okres, albowiem koncerty organizowano w dalszym ciągu bardzo nieregularnie i w różnych salach. Przytoczone tu sformułowanie Fuchsa jest jednak prawdziwe dla wszystkich konstelacji, jakie wykształciły się we wczesnej historii gdańskiego życia koncertowego – w okresie od roku 1740 do najbliższego przesilenia wieków; albowiem w ciągu tych sześćdziesięciu lat gdańska Polihymnia go56
Vgl. Encyklopedia Gdańska (www.encyklopedia.gda.pl), Artikel: „Elektrociepłownie Wybrzeże SA [Elektrizitäts- und Kraftwerke Wybrzeże AG]“; „Ołowianka [Bleihof ]“; „Polska Filharmonia Bałtycka im. Fryderyka Chopina w Gdańsku [Baltische Philharmonie]“ (14.09.2013).
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ściła aż w dwudziestu dwu salach. Niektóre z tych miejsc muza odwiedziła tylko jeden, jedyny raz, w innych gościła wielokrotnie, a tylko w niektórych pozostała na dłuższy czas. Ten stopniowy rozwój miejskiego życia muzycznego w Gdańsku koresponduje w kilku punktach w ciekawy sposób z biografią Daniela Mikołaja Chodowieckiego, znanego grafika, miedziorytnika i ilustratora, którego biograficzne dane (od roku 1726 do 1801) pokrywają się z rozpatrywanym okresem czasu, i którego można przywołać niekiedy jako wiarygodnego świadka historii kultury i zmian społecznych w Gdańsku w drugiej połowie XVIII wieku. Abstract From one alleyway to another … – The Odysseys of the Polyhymnia through Danzig during Daniel Chodowiecki’s Lifetime In the year 1919, the nestor of the Danzig musician Carl Fuchs, referred to the Polyhymnia as a homeless muse that roams through Danzig. These words from a critic remained the truth for a long time as the concerts continued to be held at irregular intervals and always in other halls. Fuchs’ comments are just as valid for those constellations that took shape in the early history of concert life in Danzig – between 1740 and the turn of the following century – as in these sixty years, the Polyhymnia found space in no less than twenty-two rooms. The muse only visited some of these venues once and it visited others a number of times but she was only in a few for a longer period of time. An enlightening aspect of this development of a municipal concert life in Danzig was that some aspects corresponded with the biography of the famous graphic designer, copper engraver and illustrator Daniel Nicolaus Chodowiecki, whose biographical data (1726-1801) mainly cover the period in question so that he can occasionally serve as a reliable witness of the cultural and social history of Danzig in the second half of the 18th century.
Hans-Jürgen Bömelburg (Gießen/Deutschland)
Mehrsprachige adlige und bürgerliche Soziabilität im Königlichen Preußen bzw. in Westpreußen zwischen 1750 und 1850. Aspekte der regionalen Musikkultur und der Herausbildung ‚nationaler‘ Repertoires Der westliche, an der unteren Weichsel gelegene Teil des Preußenlandes mit den frühneuzeitlichen ‚Großstädten‘ Danzig (Gdańsk), Thorn (Toruń) und Elbing (Elbląg), einem entwickelten Netz an Kleinstädten, regem Transithandel, vor allem entlang der Weichsel, sowie einem lebhaften Postverkehr – Danzig und Thorn waren auch frühneuzeitliche Kommunikationsknotenpunkte – bildete zwischen 1750 und 1850 ein kulturelles Zentrum in Ostmittel- und Nordosteuropa, das nach Zentralpolen, aber auch nach Livland, Pommern und Skandinavien ausstrahlte.1 Durch die im südlichen Ostseeraum dominante adlige Grundherrschaft einerseits und den hohen Anteil städtischer Bevölkerung (von ca. 25%) andererseits müssen in der Region adlige und stadtbürgerliche Eliten gleichberechtigt als Träger von Musikkulturen ins Auge gefasst werden, wobei natürlich auch Schnittmengen beachtet werden müssen, darunter geadelte Patrizier oder stadtsässige Adelige. Der Beitrag wendet sich geographisch der gesamten Region zu, die bis ins 18. Jahrhundert als ‚Preußen königlich polnischen Anteils‘ – oder kürzer: als ‚Königliches Preußen‘ oder ‚Polnisches Preußen‘ – bezeichnet und dann nach der Annexion durch die Hohenzollernmonarchie zur preußischen Provinz Westpreußen wurde. Inhaltlich und methodisch wirft diese Festlegung freilich einige Schwierigkeiten auf. Bei der Durchsicht einschlägiger Forschungen zur Musikkultur in Westpreußen kann der Eindruck entstehen, dass hier oft ein musikhistorisch vielleicht auf Anhieb plausibel erscheinender, in verschiedener Hinsicht aber doch nicht unproblematischer Schwerpunkt auf der städtisch-bürgerlichen 1
Zur Struktur der Region: Hans-Jürgen Bömelburg. Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat. Vom Königlichen Preußen zu Westpreußen (1756-1806). München 1995 (= Schriften des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte. Bd. 5). S. 41-130; wertvolle kulturgeschichtliche Beiträge mit Schwerpunkt Danzig finden sich in der Kulturgeschichte Preußens königlich polnischen Anteils in der Frühen Neuzeit. Hg. Sabine Beckmann/Klaus Garber. Tübingen 2005 (= Frühe Neuzeit. Bd. 103). – Unter den Handbüchern liegen die polnischsprachige Historia Pomorza [Geschichte Pommerns und des Preußenlands]. Poznań 1976-2000 (zeitlich relevant Teil 2 und 3) und das deutschsprachige Handbuch der Geschichte Ost- und Westpreußens (relevant ebenfalls Teil 2 und 3, Lüneburg 1994-98) vor, die parallel benutzt werden sollten, da sie die polnische und deutsche Forschungstraditionen widerspiegeln. Hervorzuheben sind in der Historia Pomorza die Beiträge von Henryk Rietz (Bd. 2.2. S. 811-819) und Barbara Zakrzewska-Nikiporczyk (Bd. 3.3. S. 173-198), im Handbuch der Geschichte Ost- und Westpreußens der Beitrag von Franz Kessler (Bd. 3. S. 207ff.).
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Danziger Musikkultur liegt. Als moderne Metropole besitzt die Stadt Danzig heute erhebliche Forschungsinstitutionen wie die Musikakademie und weitere, ein kulturhistorisches Gedächtnis schaffende Einrichtungen – eine Voraussetzung, die z.B. bereits in Elbing fehlt. Man kann die besondere Berücksichtigung Danzigs in der Forschung des Weiteren sicherlich auch als eine Folge der Überlieferungslage sehen, sind doch die Quellen zu dieser (groß-)städtischen Musikkultur erheblich zahlreicher als im Falle der preußisch-polnischen Kleinstädte oder gar der ländlichen Regionen, wobei letztere in ihren kulturell anspruchsvollen musikkulturellen Ausdrucksformen vor allem adlig dominiert waren. Generell sind adlige Musikkulturen, bedingt auch durch die Zäsuren des 20. Jahrhunderts, schlechter überliefert; für sie besteht gegenwärtig kein kulturhistorisches Gedächtnis in Form von Archiven oder Forschungseinrichtungen. Zudem ist die Adelsgeschichte schon im Kontext des ‚polnischen Preußen‘ von tiefen Einschnitten und einem erheblichen Elitenaustausch gerade in dem Zeitraum zwischen 1750 und 1850 geprägt – die Erinnerung der adligen Eliten ging bereits hier zu einem beträchtlichen Teil verloren. Die auch dadurch naheliegende Konzentration auf die bürgerliche Musikkultur ist im ‚polnischen Preußen‘ überdies nicht unproblematisch, weil diese Region historisch durch die ganze frühe Neuzeit hindurch bis 1945 von zwei annähernd gleich großen sprachlichen Gruppen bevölkert wurde, die sich ungleich auf Stadt und Land verteilten: Sprachlich und kulturell ‚deutsch‘ sowie konfessionell lutherisch war vor allem das Bürgertum der großen Städte mit Danzig und seinem Umland an der Spitze, ‚polnisch‘ und katholisch dagegen bis ins 19. Jahrhundert hinein der Adel und die Mehrheit der Landbevölkerung, insbesondere im Kulmer Land und in Pommerellen. Eine überproportional starke Beschäftigung mit Danzig und der bürgerlichen Musikkultur der großen Städte führt deshalb zwangsläufig zu einer Konzentration auf die deutsche Musikkultur, während geographisch und zeitlich benachbarte Entwicklungen in den Hintergrund geraten.2 Deshalb sollte angesichts der skizzierten Überlieferungsschwierigkeiten stets mit bedacht werden, dass in der Region eine respektable adlig-polnische Musikkultur existierte, die allerdings schriftlich erheblich schwächer fixiert erscheint, da sie eher auf Oralität sowie auf einem an spezifische Gelegenheiten gebundenen Musizieren beruhte und deshalb nur in einzelnen Fällen fassbar ist.
2
Für eine solche nationale Verengung gibt es ältere Vorbilder: Hugo Socnik. „Die Musik in DanzigWestpreußen“. Danzig-Westpreußen. Ein deutsches Kulturland. Bildende Kunst. Schrifttum. Musik. Danzig 1940. S. 131-163; weniger ideologisiert, aber auch einem deutschen Kanon verhaftet: Joseph MüllerBlattau. „Ost- und westpreußische Musik im 18. Jahrhundert“. Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr. 4 (1954). S. 166-183; ders. „Ost- und westpreußische Musik und Musikpflege im 19. Jahrhundert“. Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr. 5 (1954). S. 274-278; in monographischer Darstellung: Ders. Geschichte der Musik in Ost- und Westpreußen. Wolfenbüttel 21968 [1. Aufl. 1931]. – Eine deutliche nationale Verengung auf in erster Linie polnische Akteure findet sich im Gegenzug auch bei Barbara Zakrzewska-Nikiporczyk. Życie muzyczne Pomorza w latach 1815-1920 [Das Musikleben Pommerns und des Preußenlandes 1815-1920]. Gdańsk 1982.
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Eine weitere Vorbemerkung betrifft die zeitliche Reichweite der folgenden Ausführungen: Es geht hier um den Zeitraum zwischen 1750 und 1850, für den Historiker in jüngerer Zeit ein historisches Deutungsmodell entwickelt haben: das bewusst offen gehaltene Konzept sogenannter ‚Übergangsgesellschaften‘, das zunächst von dem in erster Linie sozialgeschichtlich arbeitenden Darmstädter Historiker Christof Dipper für die Überlappungszone zwischen Frühneuzeit und Moderne entwickelt wurde. Es geht für diese Übergangszeit von einem beschleunigten Elitenwechsel, dem Nebeneinander von kulturellen Paradigmen, der Ungleichzeitigkeit von Modernisierungsprozessen, Pauperisierungsvorgängen und scharfen Konflikten aus, die ihre Wurzeln auch in den harten Fakten der Wirtschafts- und Sozialgeschichte besitzen.3 Die Bildung dieses Konzepts knüpft an Reinhart Kosellecks ältere Definition einer ‚Sattelzeit‘ zwischen 1750 und 1850 an, die die tief greifende Veränderung der politisch-sozialen Sprache angesichts beschleunigter wirtschaftlicher, sozialer und politischer Umwälzungen zu erfassen suchte. Bereits die ältere Forschung erkannte, dass in diesen ‚Übergangsgesellschaften‘ eine veränderte Praxis gesellschaftlicher Kontaktaufnahmen und Gruppenbildungen neue Öffentlichkeiten und Kommunikationsstrukturen zu schaffen pflegte. In dieser neuen Soziabilität, die die Grenzen zwischen den altständischen und konfessionell abgegrenzten Teilöffentlichkeiten sprengte, kommt der Musik als einer der zentralen Formen geselligen Beisammenseins eine neue Funktion und Bedeutung als Ort überständischer und überkonfessioneller Begegnung zu. Erkennbar wird dies anhand der fundamentalen institutionellen Veränderungen, die das Musikleben seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts überall in Europa und auch in Westpreußen allmählich durchmacht: des Auslaufens einer primär konfessionell bestimmten Musikkultur, die sich in der Auflösung von Kirchenkapellen, der Abschaffung der Kantorate und einem allgemeinen Rückgang der Popularität von Kirchenmusik manifestiert4, während Musik stattdessen nun verstärkt in die neuen Formen überständischer und überkonfessioneller Publika hinein (Theater, Oper, Kammerkonzerte) expandiert. Noch stark traditionell geprägten Formen einer stadtbürgerlichen Öffentlichkeit sind die umfangreichen Aufführungen von Gelegenheitskantaten in allen preußischen Städten verpflichtet, die durchaus geschichtspolitische Relevanz besaßen. Dazu ein Beispiel: Am 27. Februar 1754 fanden aus Anlass des dreihundertjährigen Jahrestages der Befreiung des Königlichen Preußens von der Herrschaft des Deutschen Ordens in allen größeren Städten des Landes Feierlichkeiten statt.5 In 3
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Vgl. Christof Dipper. „Übergangsgesellschaft: Die ländliche Sozialordnung in Mitteleuropa um 1800“. Zeitschrift für historische Forschung 23 (1996). Nr. 1. S. 57-87. Vgl. Das Kantorat des Ostseeraums im 18. Jahrhundert. Bewahrung, Ausweitung und Auflösung eines kirchenmusikalischen Amtes. Hg. Joachim Kremer. Berlin 2007 (= Greifswalder Beiträge zur Musikwissenschaft. Bd. 15). Hans-Jürgen Bömelburg. „Das Landesbewusstsein im Preußen königlich polnischen Anteils in der Frühen Neuzeit“. Kulturgeschichte Preußens (wie Anm. 1). S. 39-60.
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Danzig führte der Kapellmeister Johann Balthasar Christian Freißlich (16871764) im Auditorium des Gymnasiums eine feierliche Kantate6 auf, die Redebeiträge umrahmte. Ganz ähnlich sah die bereits auf den 7. Februar 1754 datierte Veranstaltung in Thorn aus.7 Anhand der erhaltenen Drucke der Einladungen und Programme der Festlichkeiten in Elbing 1754 kann rekonstruiert werden, dass allein an der musikalischen und theatralischen Aufführung in der Stadt 113 Personen, zumeist Schüler des Elbinger Gymnasiums, beteiligt waren.8 Ein erheblicher Teil des städtischen Bürgertums und der zukünftigen Stadtbürger wurde derart von dieser bewussten Geschichtspolitik des Rates der Stadt und der städtischen Eliten erfasst. Inhaltlich wurde in den gereimten Kantaten und Arien eine supranationale Verortung des Preußenlandes im polnischen Reichskontext festgeschrieben. So hieß es etwa in der Danziger Kantate: Das Glück, dereinst dich prächtig zu erheben,/Dies Glück, o Danzig! Sollte dir/Sarmatiens Monarch, dein großer Casimir/Nun unter seinem Schutze geben./Durch Dessen sieggewohnte Hand/Befreyte Gott dich und ganz Preußenland.9
In diesen alle großen preußischen Städte erfassenden Feierlichkeiten, bei denen die Musik – neben den zahlreichen Reden – eine zentrale Rolle übernahm, wurde einem stadtbürgerlichen Publikum eine Version einer städtisch-supranationalen Geschichtserzählung vermittelt – mit welcher zeitgenössischen Resonanz, ist allerdings nur schwer zu bestimmen, da eine öffentliche Diskussion nicht überliefert ist und wahrscheinlich auch nicht stattfand. Zumindest sind auch keine Ge-
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Cantate bey dem Jubelfeste der Stadt Danzig, welches zum Andenken des vor dreyhundert Jahren geschehenen Abtrits von den deutschen Ordens-Rittern im großen Auditorio gefeyret worden, aufgeführet von Johannes Balthasar Christian Freislich, Capellmeister, Danzig, im Jahr 1754 den 27. Febr. Danzig [1754]. Angebunden an: Gottlieb Wernsdorffius, Oratio saecularis in memoriam Prussiae ante CCC. annos, excussa Ordinis Teutonici dominatione, a Rege Poloniae Casimiro in fidem receptae ac Regno spontaneo accessu junctae […]. Gedani 1754; Exemplar in: Biblioteka Gdańska Polskiej Akademii Nauk [Bibliothek der Polnischen Akademie der Wissenschaften zu Danzig]. Sign. Od 17388 2° adl. 29. „Als das dreyhundert-jährige Andencken desjenigen Tages, an welchem im Jahre 1454 Preussen der unerträglichen von dem Teutschen Orden der Creutz-Herren erlittenen Tyranney sich zu entledigen angefangen […] in dem Gymnasio zu Thorn a. 1754 den 7. Febr. Mit einem öffentlichen Actu Oratorio begangen wurde, sollte dabey folgende Cantate aufführen Samuel Contenius Direct. Mus. & Gymn. Coll. [Thorn] 1754.“ Der Gelegenheitsdruck steht im Kontext der in den großen Städten abgehaltenen Jubiläumsfeiern und wird mit weiteren, vor allem Elbinger Gelegenheitsdrucken aufbewahrt im Archiwum Państwowe Gdańsk [Staatsarchiv Danzig, nachfolgend zit. AP Gdańsk]. Sign. 384: Akten des Gymnasiums in Elbing. Heinrich Johann Burchard. Als unter der Regierung des Fürsten und Herrn August des III. Koeniges von Polen usw. das dem unertraeglichen Joch des Teutschen Ordens befreute Preussen sein drittes Jubel-Jahr inn erwuenschter Ruhe feyerte: wurde zum Andenken desjenigen Tages, an welchem im Jahr 1454 […] Casimir König von Polen usw. die Huldigung in einiger […] Person in Elbing einzunehmen geruhet, am 10ten Juni des gegenwaertigen 1754sten auf Verordnung E. Hochedlen […] Raths dieser Königlichen Stadt folgende Cantata in […] Actu Oratorio auf dem Elbingschen Gymnasio musicalisch aufgefuehret […] [Elbing 1754]. AP Gdańsk. Sign. 384: Akten des Gymnasiums in Elbing. Edmund Kotarski. „Danziger Gelegenheitskantaten des achtzehnten Jahrhunderts aus der Perspektive des Literaturhistorikers“. Musica Baltica. Danzig und die Musikkultur Europas. Gdańsk 2000. S. 282314, S. 291.
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genstimmen bekannt, so dass diese Version einer eigenen, spezifisch preußischpolnischen städtischen Identität vermutlich eine stadtbürgerliche Mehrheit fand. Insgesamt bildete das entwickelte Bewusstsein der Eigenständigkeit eine Konstante der königlich-preußischen Landesgeschichte. Die Region ist deshalb frühneuzeitlich nicht einer übergreifenden deutschen Nationsentwicklung zuzurechnen. Das Preußenland kann vielmehr selbst als ein Beispiel für eine späterhin abgebrochene frühneuzeitliche Nationsbildung angesehen werden. Indizien dafür bieten ein eigener Landesbegriff, eine entwickelte Symbolik, ein eigenes Geschichtsbild – mit Versuchen eines nation-building – sowie eine eigene protonationale Geschichtsschreibung.10 Sofern diese These als zu weitgehend abgelehnt werden sollte, wäre doch zumindest von einem besonders entwickelten Landesbewusstsein jenseits eindeutiger nationaler Zuordnungen zu sprechen. Dass in diesem supranationalen Programm der Landeseliten auch Musik eine erhebliche Bedeutung besaß, belegt z.B. die Kompilationsarbeit des zweisprachigen Thorner Pastors und Gelehrten Ephraim Oloff (1685-1735). Seine Polnische Liedergeschichte ist das umfangreichste und wichtigste frühneuzeitliche Werk zum polnischen Lied, in dem wohlgemerkt auch das katholische Kirchenlied berücksichtigt worden ist; eine polnischsprachige Arbeit aus dem selben Zeitraum, die mit der von Oloff vergleichbar wäre, existiert demgegenüber nicht.11 Möglich war solch eine Sammeltätigkeit vor allem in Thorn und Danzig, da gerade dort Ratsbibliotheken, Stadtarchive und die generelle bürgerliche ‚Sammelwut‘ auch eine institutionelle Basis zur Etablierung und Entwicklung eines kulturellen Gedächtnisses boten. Die bereits erwähnte überständische und überkonfessionelle Öffentlichkeit entfaltete sich in den preußischen Städten während des späteren 18. Jahrhunderts vor allem in der Form der sogenannten Liebhaberkonzerte, deren Blütezeit in die Jahre von 1770 bis 1790 fällt. Solche musikalischen Ereignisse fanden bei Gelegenheit auch unter Einbeziehung höfischer Musiker statt, die im Dienste polnischlitauischer Adliger in die preußischen Städte kamen. So reiste der Komponist Johann Abraham Peter Schulz (1747-1800) im Jahre 1770/71 in der Begleitung des Woiwoden von Smolensk, Piotr Sapieha (1701-1771), und dessen Gemahlin nach Danzig.12 Gerade in politisch brisanten Situationen – wie hier in der Hochphase 10
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Norbert Kersken. „Aspekte des preußischen Geschichtsdenkens im 16. Jahrhundert“. Preußische Landesgeschichte. Festschrift für Bernhart Jähnig zum 60. Geburtstag. Hg. Udo Arnold [u.a.]. Marburg 2001. S. 439-456. Aus dem Nachlass herausgegeben: Ephraim Oloffs, weyl. Evangel. Luther. Hochverdienten Predigers der Deutsch- und Poln. Gemeine zur H. Dreyfaltigkeit in Thorn Polnische Liedergeschichte von polnischen KirchenGesängen und derselben Dichtern und Übersetzern nebst einigen Anmerkungen aus der Polnischen Kirchen- und Gelahrten-Geschichte. Danzig 1744 (Reprint Leipzig 1977); dazu: Ryszard J. Wieczorek. „Ephraim Oloff und seine ‚Polnische Liedergeschichte‘ (Danzig 1744)“. Musik und Migration in Ostmitteleuropa. Hg. Heike Müns. München 2005 (= Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa. Bd. 23). S. 141-152. Hermann Rauschning. Geschichte der Musik und Musikpflege in Danzig. Danzig 1931 (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte Westpreußens. Bd. 15). S. 400f.; Hermann Güttler. „Eine Musikerzusammenkunft in Danzig im Jahre 1771“. Danziger Neueste Nachrichten (17.03.1928).
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der Barer Konföderation13 – hielten sich die polnisch-litauischen Eliten bevorzugt in den preußischen Städten auf, die als Nachrichtenknotenpunkte gelten konnten und sichere Rückzugsmöglichkeiten boten. Nach der Ersten Teilung Polen-Litauens 1772 nahmen solche Besuche in der nun brandenburgisch-preußischen Provinz und in der polnischen Enklave Danzig deutlich ab, da die hohen Zolltarife und die Einführung der Akzisesteuer Besucher abschreckten und die Preise hochtrieben. Für die wirtschaftliche Entwicklung wie das gesamte Kultur- und Musikleben der Region bedeutete deshalb die Annexion durch die Hohenzollernmonarchie ein mittelbares Moment des Niedergangs. Aufgrund der Berliner Blockadepolitik gegenüber den polnisch gebliebenen Städten Danzig und Thorn brachen insbesondere die städtischen Ökonomien zusammen – eine gegenläufige Entwicklung ist nur für das als Umschlagplatz begünstigte Elbing zu konstatieren. Eine am 8. Mai 1793 – also nach dem Anschluss an die Hohenzollernmonarchie und dem Einmarsch preußischer Truppen in Danzig – von der dortigen privaten Schuchischen Theatergesellschaft gegebene Aufführung des Balletts Das Fest der Freude von Grünau fand in diesem Kontext anscheinend keine breitere Aufmerksamkeit – als einziger Beleg dieses Ereignisses ist nur ein Theaterzettel erhalten.14 Unter diesen Voraussetzungen verlief im neuen ‚Westpreußen‘ die Entstehung gebildeter kultureller Öffentlichkeiten in einem krisenhaften Prozess, dessen sichtbarste Anzeichen die wiederholten territorialen Neuformierungen, die Rückkehr des Kulmer Landes in das Herzogtum Warschau und die Gründung der Freien Stadt Danzig von Napoleons Gnaden – einschließlich zahlreicher Kriegsereignisse und Belagerungen – sind. Die Epoche 1770 bis 1820 ist mithin für die gesamte Region ein Zeitraum beschleunigter Veränderungen und Umbrüche, die von der Bevölkerung als bedrohlich erlebt wurden. In diesem Rahmen erfolgte in der polnischen Gesellschaft mit dem Zentrum Warschau die Überführung historisch-dynastischer Traditionen in ein einprägsames und affektiv aufgeladenes nationales Liedgut. Besondere Bedeutung kam dabei der Liedersammlung Śpiewy historyczne [Historische Gesänge] zu, die mit dem Namen Julian Ursyn Niemcewiczs (1758-1841) verbundenen ist. Gegenüber anderen, parallel erschienenen Sammlungen ‚nationaler Lieder‘15, die insbesondere 13
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Die Barer Konföderation entstand als polnische Widerstandsbewegung nach wiederholten russischen militärischen Interventionen in Polen und führte in einen vierjährigen Partisanenkrieg. Hierzu bis heute unersetzt: Władysław Konopczyński. Konfederacja barska [Die Konföderation von Bar]. 2 Bde. Warszawa 1991 [1. Aufl. 1936-1938]. Maria Babnis. „Źródła do dziejów teatru gdańskiego w zbiorach Biblioteki Gdańskiej PAN (XVIII-XIX wiek) [Quellen zur Geschichte des Danziger Theaters in den Sammlungen der Danziger Bibliothek der Polnischen Akademie der Wissenschaft (18.-19. Jahrhundert)]“. 200 lat teatru na Targu Węglowym w Gdańsku [200 Jahre Theater am Danziger Kohlenmarkt]. Red. Jan Ciechowicz. Gdańsk 2004. S. 107-166, S. 118. Genannt werden kann: Pieśni narodowe z różnych autorów polskich zebrane przez ks. Stanisława Bielskiego [Nationale Lieder verschiedener polnischer Autoren gesammelt von Stanisław Bielski]. Warszawa 1812. Zu Inhalt und Zielsetzung vgl. Henryk Bogdziewicz. Działalność literacka polskiego środowiska pi-
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barocke und neuere Texte wiedergaben, besitzt Niemcewiczs 1816 erstmals im Druck erschienene Sammlung einen klaren Aufbau und eine thematisch einheitliche Struktur sowie ein chronologisches Arrangement der Lieder (bei dem überraschender Weise allerdings das 18. Jahrhundert ausgespart worden ist). Zudem wurde der Leserkreis persönlich angesprochen; die Darstellung polnischen Heldentums (insbesondere in den eingestreuten, aus ostslavischen Vorbildern entwickelten „dumy“, den Liedern über Kriegshelden) sollte als identitätsstiftendes Moment wirksam werden; und nicht zuletzt zielte auch die Kennzeichnung der Protagonisten als „die Unsrigen“ [nasi] darauf, dem Lesepublikum einen Eindruck von Vertrautheit, Zugänglichkeit und Volkstümlichkeit der Figuren zu vermitteln.16 Eine weitere Innovation besteht darin, dass die Texte mit eigens für diese Publikation komponierten Melodien unterlegt worden sind. An das frühneuzeitliche Genre der emblematischen Merkverse anknüpfend, wurde in der Verbindung von Wort und Ton nun die neue Gattung des ‚historischen Liedes‘ geschaffen, die jene älteren Verfahrensweisen, Verse zu wiederholen und auswendig zu lernen, transformierte: Ihre literarisch-musikalische Struktur rückt die Historischen Gesänge in die Nähe von Archetypen der Mnemonik, wobei das Memorieren jetzt neben dem Versmetrum und dem Reim auch durch musikalische Parameter, wie die Rhythmik oder melodische Figurationen, und suggestive poetische Bilder voller romantischer Liebes- und Heldenmotive gestützt und gefördert wird. Im Rahmen der hier greifbar werdenden soziokulturellen Verschiebungen fand auch eine Erweiterung der traditionellen Stände- und Geschlechter-Schematisierungen statt. Schon kurz nach der Jahrhundertwende wurden Frauen beispielsweise dezidiert als Teil der polnischen Erinnerungsgemeinschaft sowie als die Mütter der zukünftigen Eliten angesprochen. Am Ende einer 1803 gehaltenen Rede wird dieser Gedanke bereits höchst nachdrücklich akzentuiert: Aber was helfen unsere Ermunterungen und Bemühungen, wenn Du, die andere Hälfte unseres Geschlechts, Ihr ehrenwerte Mütter und zu dieser Würde heranwachsende Jungfrauen, wenn Ihr nur für einen Moment vergesst, dass Ihr Polinnen seid! Das Schicksal der Generationen, denen wir uns bemühen den Nationalgeist einzuflößen, ist in Euren Händen. In welcher Sprache Ihr zu ihnen zuerst sprechen werdet, mit welchem Gefühl Ihr sie beseelt, welchen Horizont des Ruhms Ihr ihnen aufzeigt, solche Bürger werden aus ihnen werden.17
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jarskiego w dobie oświecenia [Die literarische Tätigkeit des polnischen Piaristenmilieus der Aufklärung]. Kraków 2005. S. 257-271. Michał Witkowski. W kręgu „Śpiewów historycznych“ Niemcewicza [Im Umfeld der „Historischen Gesänge“ Niemcewiczs]. Poznań 1979. „Ale cóż te zachęty i usiłki nasze pomogą, jeżeli ty, druga rodu naszego połowo, wy, szanowne matki i do tej godności wzrastające dziewice, jeżeli wy zapomnicie choć na moment, że jesteście Polkami! Los tych pokoleń, w których ducha narodowego przelać usiłujemy, jest w ręku waszych. Jakim naprzód do nich językiem przemówicie, jakim je czuciem natchniecie, jaką im granicę sławy określicie, tacy z nich będą obywatele.“ Jan Paweł Woronicz. „Rozprawa pierwsza o pieśniach narodowych. Fragmenty (1803) [Erste Arbeit über die Nationallieder. Fragmente]“. Pisma wybrane [Ausgewählte Schriften]. Hg. Małgorzata Nestoruk/Zofia Rejman. Warszawa 1993. S. 238 [Dt. Übers. v. Verf.].
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In späteren Ansprachen wurden derartige Appelle an die „Sarmatinnen und Slawinnen“ häufig wiederholt18; stets aber blieb dabei die Rolle der Polinnen ausdrücklich auf diejenige der Mutter bzw. der Erzieherin beschränkt. (Demgegenüber ist die Anrede von Frauen als ‚Staatsbürgerinnen‘ [obywatelki] bezeichnenderweise nicht nachweisbar.) Auch an der Konzeption, Einrichtung und Gestaltung von Niemcewiczs Historischen Gesängen waren Frauen (aus den adligen Eliten) beteiligt, die auf diese Weise ihre Unterstützung für das ‚nationale Werk‘ ausdrücken sollten und wollten. In Niemcewiczs eigener Diktion heißt es dazu: „Unsere eifrigen Polinnen sammelten Beiträge, machten sich an die Zeichnungen und die Komposition der Musik. Ich muss öffentlich meine Dankbarkeit den ehrbaren Damen aussprechen, die sich daran tatkräftig und freiwillig beteiligten.“19 Die Verbreitung der Historischen Gesänge wurde zwar mehrfach durch die Zensur behindert20; trotz solcher zeitweiligen Einschränkungen erreichten sie im 19. Jahrhundert aber über zwanzig Auflagen. Wie rasch und intensiv sie auch nach Westpreußen ausstrahlten, ist rezeptionsgeschichtlich schwer zu belegen. Verbreitet waren sie sicherlich unter den adligen Eliten der Provinz, insbesondere im Kulmer Land und in Pommerellen, die enge Kontakte nach Warschau unterhielten. Eine deutsche Fassung erschien freilich erst 1833, im Kontext der sogenannten ‚Polenbegeisterung‘.21
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„I mogąż pokolenia wasze przy tylu ogniskach tającej pamięci narodowej skrzepnąć i obumrzeć, […] jeżeli wy, niniejsze i przeszłe matki, […], jeżeli wy, mówię, przykładem ich tym cnotowlewczym mlekiem niemowląt waszych przy samych kolebkach napawać nie przestaniecie […]. Nie jest to próżna i przesadzona gorliwość wpająć nowym pokoleniom pamięć ich rodu. […] któż zgadnie dalsze przeznaczenia tych ludów, które niezmienną istność swoją w przyrodnym geniuszu, charakterze języka, przez tyle wieków, wśród tylu przemian, zaburzeń, stale dochowały.” [Und es können ganze Generationen von Euch bei den glimmenden Feuern der nationalen Erinnerung blühen und sterben, wenn Ihr, gegenwärtige und zukünftige Mütter, wenn Ihr, sage ich, Ihrem Vorbild folgend mit der tugendhaften Milch Euren Säuglingen bereits an den Wiegen nicht aufhört immer wieder beizubringen. Es ist keine eitle und übertriebene Leidenschaft, den neuen Generationen die Erinnerung ihres Geschlechts einzuflößen. Wer kann die zukünftige Vorherbestimmung dieser Bevölkerungen erahnen, die bei einer unverbrüchlichen Beständigkeit den ihnen eingeborenen Genius und den Charakter ihrer Sprache durch so viele Jahrhunderte, durch so viele Veränderungen und Zerstörungen dauerhaft bewahrten.] Woronicz. „Rozprawa pierwsza“ (wie Anm. 17). S. 266f. [Dt. Übers. v. Verf.]. Diese Ansprache ist im Jahr 1806 umso bemerkenswerter, als ältere Verwendungen eines SarmatinnenBegriffs nicht nachweisbar sind; vgl. Sophia Kemlein. „Frauen- und Männerbildnisse als Repräsentationen der sarmatischen Ideologie in der polnisch-litauischen Adelsrepublik“. Frau und Bildnis 16001750. Barocke Repräsentationskultur an europäischen Fürstenhöfen. Hg. Gabriele Baumbach/Cordula Bischoff. Kassel 2003. S. 57-79. S. 70ff. „Gorliwe Polki nasze wzięły się do zbierania składki, do rysunków, do kompozycji muzyki. Winienem publicznie wyrazić wdzięczność moją zacnom Damom, które czynnie i ochoczo w tej mierze trudzić się radziły.“ Witkowski. W kręgu (wie Anm. 16). S. 185-189; Mieczysław Porębski. Malowane dzieje [Gemalte Geschichte]. Warszawa 1962. S. 60-63. [Dt. Übers. v. Verf.]. Julian Ursyn Niemcewicz. Śpiewy historyczne z muzyką i rycinami [Historische Gesänge mit Musik und Zeichnungen]. Warszawa 1816 [Zitiert aus der unpaginierten Einleitung]. Gekürzte deutsche Ausgabe: Geschichtliche Gesänge der Polen. Metrisch bearb. v. Franz Gaudy. Leipzig 1833. Zu den Auflagen vgl. Nowy Korbut [Der neue Korbut]. Bd. 5. Warszawa 1967. S. 395.
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In Westpreußen dauerte es nach der 1815 erfolgten Zuweisung der gesamten Provinz an den preußischen Staat mehrere Jahre, bis sich neue Strukturen etablierten. Als negativ erwies sich insbesondere, dass die provinziale Selbständigkeit der Region 1822 durch die Bildung der – West- und Ostpreußen umfassenden – Provinz Preußen mit dem neuen Verwaltungssitz Königsberg aufgelöst wurde, da hierdurch Gelder abflossen und die Beamtenschaft in die Provinzhauptstadt Königsberg abwanderte. Dieser Niedergang kann an der demographischen Entwicklung der großen Städte veranschaulicht werden: In Danzig war die Bevölkerungszahl der städtischen Agglomeration von ca. 60.000 um 1770 bereits im Jahre 1815, d.h. bis zum Ende der Napoleonischen Kriege, auf 45.000 gesunken und hatte danach den Stand von 1770 selbst bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht wieder erreicht. Ein ähnlicher Verlauf ist für Thorn festzustellen. Diese Bevölkerungstendenzen stehen in engem Zusammenhang mit dem Abzug der Behörden sowie der Verwaltungseliten, mit denen auch wichtige Förderer eines städtischen Musiklebens und einer offiziösen Musikkultur verschwanden. In dieser von Krisen geprägten Übergangsgesellschaft verliefen Akkulturations- und Assimilationsprozesse in verschiedene Richtungen. Eine Akkulturation an die städtische deutsche Kultur konnte im Danziger deutschsprachigen Milieu über einen musikbezogenen Bildungserwerb und eine musikalische Soziabilität bis zur Assimilation fortschreiten. Um ein Beispiel zu nennen: Der spätere Komponist Wilhelm Josef von Wasielewski (Wasilewsky; 1822-1896)22 kam 1826 mit seinen Eltern, Zuwanderern aus Zentralpolen, nach Danzig. Dort erhielt er von seinem Vater den ersten Musikunterricht und integrierte sich durch die Teilnahme an Hauskonzerten in das Danziger musikalische Leben. Er berichtet über seinen 1785 geborenen Vater, der als junger Mann in die Nähe von Danzig gezogen war: „Ja, er erklärte sich als Wahldeutscher, sobald ihm klar geworden, wie sehr deutsche Bildung sein Vaterland überragte, ohne doch gegen dasselbe teilnahmslos zu werden.“23 Allerdings ist bei dieser Charakterisierung zu bedenken, dass Wasielewski diese Erinnerungen erst in hohem Alter nach einer Karriere im Rheinland verfasst hat. Erkennbar wird hier der Rekurs auf einen deutschen Bildungs- und Kulturbegriff, der eine weitgehende Assimilation anbot, wenn nicht verpflichtend machte, während er zugleich zwischen Nationen scharfe Grenzen zog und dadurch die Bildung negativer Stereotypien begünstigte: Die ältesten Nachweise für die abwertende Diskursfigur der ‚polnischen Wirtschaft‘ – die in der ebenfalls pejorativ gemeinten, jedoch weniger populär gewordenen Rede von
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Vgl. Peter Oliver Loew. „Lexikon Danziger Komponisten (Mitte 19. bis Mitte 20. Jahrhundert). Ein Beitrag zur Geschichte der lokalen Musikkultur“. Musikalische Beziehungen zwischen Mitteldeutschland und Danzig im 18. Jahrhundert. Konferenzbericht Gdańsk, 10-22 November 2000. Hg. Danuta Popinigis/KlausPeter Koch. Sinzig 2002 (= Edition IME. Reihe 1. Schriften 9). S. 226-312, S. 307. Wilhelm Josef [auch Josef Wilhelm] von Wasielewski. Aus siebzig Jahren. Lebenserinnerungen. Stuttgart, Leipzig 1897. S. 7.
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der ‚litauischen Wirtschaft‘ eine Parallele findet – stammen aufschlussreicher Weise aus dem Preußenland.24 Diese (im mehrfachen Wortsinne) diskriminierende, spezifisch deutsche Idee von Bildung wurde staatlicherseits durch eine aktive Sprach- und Kulturpolitik unterstützt. Der nach 1815 zum westpreußischen Oberpräsidenten ernannte Theodor von Schön (1773-1856) formulierte in einem frühen autobiografischen Versuch (ca. 1832/40), er habe es als Aufgabe angesehen „aus den ehemaligen Sklaven u[nd] Slaven, Menschen und Deutsche zu machen“25. Die „lingua barbara“, ein Begriff den von Schön wiederholt verwandte und als welche er das Polnische wie auch das Litauische auffasste, hätte zum Zwecke einer gedeihlichen preußischen Staatsentwicklung dem Deutschen zu weichen.26 In diesem Zusammenhang wurde in Danzig auch der traditionelle Unterricht des Polnischen an den städtischen Schulen abgeschafft. So schilderte der Pastor Christoph Mrongovius (1764-1855), ein namhafter Schriftsteller, Linguist, Übersetzer und Sammler von volkstümlichem Liedgut27, für das Jahr 1817, in dem in Danzig an die Stelle des akademischen ein städtisches Gymnasium trat und bei dieser Gelegenheit das polnische Lektorat beseitigt wurde, folgende Begegnung mit dem Oberpräsidenten von Schön: Ich machte dem damaligen Oberpräsidenten, Herrn von Schön, Gegenvorstellungen: daß der Staat Mittelpersonen, die der polnischen Sprache kundig wären, brauche, und wie gut es sei, wenn der künftige Geistliche durch die Kenntnis der polnischen Sprache seiner Gemeinde, der Jurist seinen Clienten, der Arzt dem Kranken, der Offizier dem Staate durch Belehrung der häufig vorkommenden nur polnisch redenden Soldaten […] nützlich werden könne. Ein Gleiches gelte von manchen anderen Beamten und den Kaufleuten. Der Herr von Schön erwiderte darauf, daß dieses Studium reine Privatsache bleiben müsse.28
Die in Westpreußen über Jahrhunderte gedeihliche Mehrsprachigkeit – erinnert sei nur an Danzig als Druckort von deutsch-polnischen Sprachfibeln und Schulbüchern – wurde durch die Behörden nun schrittweise eingeschränkt. Dem schloss sich in der Verwaltung ein überheblich-abfälliger Blick auf das Polnische und Litauische an, der von der oberen Ebene unterstützt und gefördert wurde. Von Schön selbst karikierte in einer Skizze, die auf ein angebliches Gespräch im Jahre 1821 zurückging, einen „in Preußen lebenden polnischen Edelmann“, der 24
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Ausführlich bei Hans-Jürgen Bömelburg. Friedrich II. zwischen Deutschland und Polen. Ereignis- und Erinnerungsgeschichte. Stuttgart 2011. S. 92-97. Theodor von Schön. Persönliche Schriften. Bd. 1: Die autobiographischen Fragmente. Hg. Bernd Sösemann. Köln [u.a.] 2006. S. 608. Gustav Gisevius. Die polnische Sprachfrage in Preußen. Hg. Władysław Chojnacki. Poznań 1961 [1. Aufl. 1845] (= Materiały do dziejów nowożytnych ziem zachodnich [Materialien zur modernen Geschichte der Westterritorien]. Bd. 5). S. 230. Vgl. dessen Liedersammlung: Krzysztof Celestin Mrongovius. Pieśnioksiąg, czyli kancjonał gdański [Das Liederbuch, das heißt das Danziger Gesangbuch]. Gdańsk 1803. Gisevius. Die polnische Sprachfrage (wie Anm. 26). S. 317. Mrongovius erteilte fortan in Danzig nur noch Privatunterricht; vgl. Krzysztof Celestyn Mrongowjusz (1764-1855). Księga pamiątkowa [Ch. C. Mrongovius (1764-1855). Gedenkbuch]. Hg. Władysław Pniewski. Gdańsk 1933. S. 19f.
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„seiner Rede und Erscheinung nach ungebildet“ gewesen sei, durch fehlerhafte Verwendung des Deutschen und legte ihm folgende ungestalte Worte in den Mund: „Ich soll Schule bauen und Schule is vor Bauer und ich bin Eddelmann.“29 Zugleich bemühte sich die preußische Verwaltung dezidiert darum, das Erbe des Deutschen Ordens aufzuwerten, das nun erstmals als Ursprung einer preußisch-deutschen Traditionslinie in Anspruch genommen wurde. Von Schön selbst betrieb die Wiederinstandsetzung der Marienburg, für die 1804 erstmals der Begriff „Nationaldenkmal“ verwandt worden war, mit allen Mitteln. 1822 arrangierte er, dass die Festtafel des preußischen Kronprinzen (des späteren Friedrich Wilhelm IV.) im restaurierten großen Remter der Marienburg stattfand. Der als preußischer Beamter in Danzig tätige Joseph von Eichendorff berichtete als Augenzeuge über den Ablauf der Veranstaltung: Auch ein Liedsprecher in der alten Tracht hatte sich aus Danzig eingefunden und begrüßte während der Tafel den hohen Herrn mit einem Liede zur Zither, das der Kronprinz, den frisch gefüllten Becher erhebend, mit einem Trinkspruch erwiderte.30
Durch die musikalische Umrahmung mit als ‚deutsch‘ konnotiertem Liedgut wird hier an das Nationalgefühl appelliert – in vieler Hinsicht eine zeitnahe Kontrastfolie zu den zuvor angeführten ‚polnischen Gesängen‘. Auch mit musikalischen Mitteln wurden die Marienburg und der Deutsche Orden (als immerhin supranationaler mittelalterlicher Ritterorden) somit seit den 1820er Jahren immer stärker als ‚deutsch‘ verortet. Zwischen dem Oberpräsidenten von Schön und den katholischen, polnischsprachigen adligen Eliten in Westpreußen entwickelte sich eine richtiggehende Feindschaft, die sich gleichermaßen auf wirtschaftliche, konfessionelle und kulturelle Motive stützte. In den Erinnerungen von Ignatz Graf von Leibitz-Piwnicki, der sich selbst als „Mitglied der polnisch-preußischen Geschlechter“ bezeichnete, heißt es dazu: Leider war ich im Jahre 1817 gezwungen, dasselbe [gemeint ist ein Gut, Anm. d. Verf.] weit unter dem Werthe zu verkaufen, weil der damalige Chef-Präsident zu Danzig, Herr von Schön, die mich treffenden Retablissementsgelder nach den Kriegen 1806-15 mir, aus mir unbekannten Gründen, jedenfalls aber ungerechtfertigt, vorenthielt. Herr von Schön hat sich bekanntlich […] als ein absoluter Gegner der polnisch-preußischen Geschlechter und der römisch-katholischen Religion, der jene anhängen, schlagend bewährt. Daher hat er auch fortwährend […] nicht nur an der Depolonisierung, sondern auch an der Entkatholisierung der polnisch-preußischen Stämme, – die doch der preußischen Krone in der Majo29
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Theodor von Schön. Aus den Papieren des Ministers und Burggrafen von Marienburg. Anlagen zum zweiten Theil. Scharnhorst. Bd. 4. Berlin 1876. S. 366f. Joseph von Eichendorff. „Die Wiederherstellung des Schlosses der deutschen Ordensritter zu Marienburg“. Sämtliche Werke des Freiherrn von Eichendorff. Bd. 10. Historische, politische und biographische Schriften. Hg. Wilhelm Kosch. Regensburg 1912. S. 112.
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Hans-Jürgen Bömelburg rität als treue Unterthanen bekannt waren, gearbeitet, ohne dabei freilich zu irgend einem sonderlichen Ziele zu gelangen. In materieller Beziehung hat jedoch Herr von Schön durch solche diplomatisch-staatsökonomische etc. Künsteleien zahlreichen polnischen Preußen […] unberechenbaren Schaden zugefügt […]. Existiert noch heute Haß zwischen polnischen und deutschen Elementen unserer Provinz – Herr von Schön wahrlich darf ein gut Theil der Schuld auf seine Rechnung schreiben.31
Diese Äußerungen Leibitz-Piwnickis, der wohlgemerkt kein Vertreter der polnischen Nationalbewegung, sondern einer intermediären polnisch-preußischen Identität war, stammen aus dem Jahre 1854. Verhärtungen auf der einen Seite provozierten bzw. verstärkten dialektische Gegenbewegungen auf der anderen; in Westpreußen führten sie zu nationalen polnischen Gruppenbildungen, die ihren ersten deutlichen Ausdruck in den sogenannten polnischen Bällen fanden; der Erste wurde 1836 von Karol Kalkstein (17901862) auf dem Gut Nawra im Kulmer Land organisiert. Nach zeitgenössischen publizistischen Stimmen waren diese Bälle „unter besonderen Umständen […] ein Mittel zu einer freien, durch nichts behinderten Versammlung ernsthafter Menschen“, wie etwa die Zeitschrift Nadwiślanin [Der Bürger der Weichselregion] rückblickend schrieb.32 Natalis Sulerzyski (1801-1878), der die zweite derartige Veranstaltung 1840 in Graudenz organisierte, äußerte sich dazu folgendermaßen: „Auf diesen Bällen mussten unsere hochherzigen polnischen Frauen, polnische Musik, polnische Toaste ihre Wirkung thun“.33 Über die musikalische Ausgestaltung dieser Veranstaltungen besitzen wir leider keine gesicherten Informationen. Vermutlich wurden vor allem die – beim polnischen Adel sehr beliebten – ‚polnischen Tänze‘, d.h. Polonaisen und Mazurkas34, gespielt; mit hoher Wahrscheinlichkeit erklangen dabei Werke von Michał Kleofas Ogiński (1765-1833)35, die – bereits vor der Durchsetzung des Chopinschen Paradigmas – zusammen mit älteren Mustern als Inbegriff polnischer Nationalmusik galten – und die auch jüngeren Komponisten noch als Modelle der Formkonzeption und Stilbildung dienten. Auch innerhalb des deutschen Umfeldes wurden diese Tänze selbstverständlicher 31
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Ignatz von Leibitz-Piwnicki. Curriculum vitae des 50-jährigen Jubilars als Rittergutsbesitzer, Königl. Pr. Kammerherr und Ritter pp. auf Klein Malsau im preuß. Stargardter Kreise. Danzig [1854]. S. 5; vgl. auch ders. Memoiren des Königlichen Kammerherrn Grafen von Leibitz-Piwnicki geführt vom Jahre 1831 in Malsau bis 1861 in Marienburg. Danzig 1861. „W pewnych okolicznościach […] środkiem do swobodnego, niczym nie skrępowanego zebrania się ludzi poważnych”. Nadwiślanin. Nr. 6 (18.01.1861). Zit. nach Stanisław Myśliborski-Wołowski. Udział Prus Zachodnich w powstaniu styczniowym [Die Beteiligung Westpreußens am Januaraufstand]. Warszawa 1968. S. 39. Natalis Sulerzyski. Pamiętniki […] byłego posła ziemi pruskiej na sejm berliński [Erinnerungen des ehemaligen Abgeordneten des preußischen Landes zum Berliner Landtag]. Bd. 2. Kraków 1871. S. 195. Klaus-Peter Koch. „Der polnische Tanz im Ostseeraum des 17./18. Jahrhunderts“. Musica Baltica. Internationale musikkulturelle Beziehungen im Ostseeraum. Konferenzbericht Greifswald-Gdańsk. 28. November bis 3. Dezember 1993. Hg. Ekkehard Ochs/Nico Schüler/Lutz Winkler. Frankfurt a. M. 1997 (= Deutsche Musik im Osten. Bd. 8). S. 125-136. Zu dem litauischen Hochadligen und Komponisten Ogiński vgl. Polski Słownik Biograficzny 23 (1978). S. 630-636.
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Weise als ‚polnische Tänze‘ national konnotiert. Ihre frühe europaweite Durchsetzung machte sie zu einem geeigneten Symbol von Polonität gerade auch in den gebildeten Schichten. Insgesamt waren diese Veranstaltungen ein taugliches Instrument, um den Gutsadel unter dem Begriff der Nationalität zusammenzuführen, und waren somit ein Mittel der nationalen Dissimilation. Unter dieser Voraussetzung stellte sich freilich die Frage, wie auf den ‚polnischen Bällen‘ mit den zahlreichen adligen Familien verfahren werden sollte, die sprachlich und kulturell gemischt waren. Die Antwort lautete (nicht ohne innere Zwangsläufigkeit), dass sie zu den Veranstaltungen in der Regel nicht eingeladen wurden; stattdessen wandten sich die Organisatoren, um ein größeres Quorum zu erreichen, lieber an Familien aus dem polnischen Adel des benachbarten Großherzogtums Posen. Wie entschieden und relativ kurzfristig diese neuen Barrieren errichtet wurden, lässt sich daran ablesen, dass noch der Vater von Natalis Sulerzyski, der 1840 den Ball in Graudenz ausrichtete, persönliche Kontakte mit dem Regierungspräsidenten Theodor von Hippel (1741-1796) gepflegt und mit Stolz den (preußischen) Roten Adlerorden Dritter Klasse getragen hatte und dass noch Natalis’ (bereits 1834 verstorbener) Bruder Atanazy Sulerzyski nacheinander in die deutschsprachigen Gutspächterund Gutsbesitzerfamilien von Parpart und von Kalnassy eingeheiratet hatte. In diesem Kontext entstand nunmehr in den 1830er Jahren eine ‚polnisch‘ definierte Soziabilität, in der zunehmend auch eine ‚national‘ interpretierte Musik eine wichtige Rolle spielte. Zeitlich parallel entstand – der Dynamik jener fatalen dialektischen Entwicklung folgend – auch eine deutsche, in diesem Fall jedoch bürgerliche Teilöffentlichkeit, die sich insbesondere über musikalische Aktivitäten konstituierte. Schon 1833 und 1843 waren in Marienburg überregionale Sängerfeste veranstaltet worden, bei denen das teilweise wiederhergestellte Ordensschloss eine attraktive und ‚deutsch‘ konnotierte Kulisse bot. Seit 1844 wurden in der Provinz Preußen dann nach der Lockerung der staatlichen Restriktionen gegenüber Vereinen in vielen westpreußischen Städten deutsche Sängervereine gegründet, zum Beispiel in Thorn, Graudenz und Elbing, wo 1844 der Elbinger Liederkranz und 1847 die Elbinger Liedertafel entstanden. Die Thorner Liedertafel wurde 1844 von ausschließlich deutschen Offizieren, Lehrern und Kaufleuten unter Vorsitz des Garnisonskommandanten gegründet.36 Sie besaß eine ausgesprochen nationale Stoßrichtung im Sinne einer deutschen Einigungsbewegung, die nun auch Westpreußen umfassen sollte. Während der Fahnenweihe der Thorner Liedertafel wurde 1862 beispielsweise folgendes Gedicht vorgetragen:
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Geschichte der Thorner Liedertafel 1844-1894. Zur Feier ihres 50jährigen Bestehens. Thorn 1894.
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Hans-Jürgen Bömelburg Uns Deutschen aber ward der vollste Segen,/Der Liederkunst allmächt’ge Kraft zu Teil;/ Was Liebe nicht, noch Feindes Droh’n vermögen,/Gesang bringt uns ersehnter Einheit Heil.37
1847 fand in Elbing das Erste Preußische Sängerfest statt, an dem nun ausschließlich deutschsprachige Sängervereine teilnahmen. Neben 330 aktiven Sängern aus der gesamten Provinz Preußen zählte das Fest trotz hoher Eintrittspreise 6.000 Besucher und war damit eine der größten Veranstaltungen dieser Zeit in Ostund Westpreußen. Während des Sängerfestes wurde der Sängerbund für die Provinz Preußen gegründet.38 Das auf den Sängerfesten vorgetragene Liedgut zeichnete sich durch ein hohes Maß an nationalem Pathos aus. Die Elbinger Anzeigen urteilten im Rückblick auf das Fest, der Männergesang sei so echt Deutsch, dem Deutschen Gemüth von jeher so innig befreundet: dass auch unserer an den Grenzmarken Deutschlands Wache haltenden, mit ganzem Herzen Deutschen Provinz der Gedanke nahe treten mußte: einmal […] im Deutschen Liede das Deutsche Herz […] aufjauchzen zu lassen.39
Mit solchen ideologischen Überhöhungen gelangte der Prozess der Dissimilation auch auf der deutschen Seite zu Ergebnissen, die alle weiteren Entwicklungen der nächsten Jahrzehnte prägen sollten. Die regionale Musikkultur war unter den Strukturbedingungen einer Übergangsgesellschaft zwischen 1750 und 1850 nun schrittweise einer neuen, weniger von sozialen als vielmehr von ethnischen, sprachlichen oder konfessionellen Exklusionen bestimmten Soziabilität sowie einer sich nach Kriterien der ‚Nationalität‘ definierenden Öffentlichkeit zugeordnet worden. Mehr noch: Die Musik, zumindest potentiell ein supranationales Soziabilitätsmedium par exellence, hatte sich während dieser Zeit im Preußenland zu einem ausgesprochenen Medium nationaler Differenzierungen und Kontrastierungen gewandelt. Ältere, supranationale Verbindungen und Funktionen verschwanden zwar nicht gänzlich, traten aber gegenüber den neuen Strukturen und Symbolisierungen deutlich in den Hintergrund. Die frühere Stelle einer traditionellen regionalen und ständisch verfassten Gesellschaft nahmen nun divergente soziale Gruppierungen ein, für die eine ‚national‘ verortete Musik, ein segregiertes Vereinsleben oder musikalische Großveranstaltungen zu Vehikeln ihrer Identifikationsstiftung geworden waren.
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Kazimierz Wajda. „Kooperation – Koexistenz – Konfrontation. Deutsche und Polen in Thorn 18711914“. Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte 2 (1994). S. 243-256, S. 246f. Angaben nach Christian Pletzing. Vom Völkerfrühling zum nationalen Konflikt. Deutscher und polnischer Nationalismus in Ost- und Westpreußen 1830-1871. Wiesbaden 2003 (= DHI Warschau Quellen und Studien. Bd. 13). S. 63-69. – Vgl. hierzu auch den Beitrag von Christian Pletzing in diesem Band. Zitat nach ebd. S. 69.
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Zusammenfassung Zwischen 1750 und 1850 bildete der westliche, an der unteren Weichsel gelegene Teil des Preußenlandes mit den frühneuzeitlichen ‚Großstädten‘ Danzig (Gdańsk), Thorn (Toruń) und Elbing (Elbląg) im ostmittel- und nordosteuropäischen Umfeld ein kulturelles Zentrum, zu dessen Strahlkraft gleichermaßen adlige wie stadtbürgerliche Eliten beitrugen. Zudem wurden die sozioökonomischen Strukturen innerhalb des genannten Zeitraums zunehmend – und verstärkt nochmals nach der Annexion ‚Westpreußens‘ durch die Hohenzollernmonarchie (1772/1793) – von den bestimmenden Merkmalen der (für die spannungsvolle historische Phase zwischen Frühneuzeit und Moderne charakteristischen) ‚Übergangsgesellschaft‘ geprägt. In diesem Kontext entwickelten sich ab 1770 kulturelle Praxen, die den Bedürfnissen einer überständischen und überkonfessionellen Öffentlichkeit entsprachen, während für die inzwischen marginalisierten polnischen Adligen nun Warschau und die eigenen, geschichtlichen wie dynastischen Traditionen zu Brennpunkten der soziokulturellen Orientierungen wurden. Nach 1815 zog zudem ein rigider deutscher Bildungs- und Kulturbegriff scharfe Grenzen zwischen den Völkern, und die Behörden schränkten schrittweise die in Westpreußen über Jahrhunderte gedeihliche Mehrsprachigkeit ein. Solche Verhärtungen führten auf der anderen Seite zu ‚nationalen‘ Gruppenbildungen, die beispielhaft in den ‚polnischen Bällen‘ manifest wurden, und schließlich entstand – einer fatalen Dialektik folgend – mit den Gesangsvereinen und Sängerfesten schließlich auch eine deutsche, in diesem Fall jedoch bürgerliche Teilöffentlichkeit. Die regionale Musikkultur Westpreußens gehorchte nunmehr Prinzipien einer von ethnischen, sprachlichen und konfessionellen Exklusionen bestimmten Soziabilität und stand von jetzt an endgültig im Fokus einer sich nach Kriterien der ‚Nationalität‘ definierenden Öffentlichkeit. Streszczenie Wielojęzykowa szlachecka i mieszczańska towarzyskość w Prusach Królewskich wzgl. w Prusach Zachodnich w latach między 1750 a 1850. Aspekty regionalnej kultury muzycznej i wykształcenie „narodowego“ repertuaru W latach między 1750 a 1850 zachodnia, położona przy dolnej Wiśle część Prus z wczesno nowożytnymi „wielkimi miastami“ Gdańskiem, Toruniem i Elblągiem stanowiły w środkowowschodnim i północnowschodnim otoczeniu centrum kulturowe, o którego blask dbały w równej mierze szlacheckie jak i mieszczańskie elity. Ponadto, w danym okresie rozwijały się struktury społeczno-ekonomiczne, na które po przyłączeniu „Prus Zachodnich” przez monarchię Hohenzollernów (1772/1793) jeszcze większy wpływ wywierały określone cechy (charakterystycznego dla pełnej napięć fazy historycznej między wczesną nowożytnością a modernizmem) „społeczeństwa przejściowego“. W tym kontekście od 1770 rozwija-
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ły się praktyki kulturowe odpowiadające potrzebom ponadstanowego i ponadwyznaniowego forum publicznego, podczas gdy dla w międzyczasie zmarginalizowanej polskiej szlachty tylko Warszawa i własne, historyczne jak również dynastyczne tradycje stawały się punktami zapalnymi społeczno-kulturowych orientacji. Ponadto, po 1815 r. sztywne pojęcie niemieckiego kształcenia i kultury wyznaczyło ostre granice między ludami a urzędy stopniowo ograniczyły funkcjonującą w Prusach Zachodnich przez stulecia wielojęzyczność. Takie umocnienia prowadziły z jednej strony do utworzenia „narodowych“ grup, które przykładowo były manifestowane na „polskich balach“ a ostatecznie – wskutek fatalnej dialektyki – wraz z kołami śpiewaczymi i festiwalami, również niemieckiego – w tym jednak przypadku – częściowego mieszczańskiego forum publicznego. Regionalna kultura muzyczna Prus Zachodnich przestrzegała teraz o wiele bardziej zasad towarzyskości nacechowanej wyłączeniami natury etnicznej, językowej i wyznaniowej stając się ostatecznie celem zainteresowania definiującego się według kryteriów „narodowości“ forum publicznego. Abstract Multilingual Aristocratic and Commoner Sociability in Royal Prussia and in West Prussia Between 1750 and 1850. Aspects of Regional Music Culture and the Emergence of ‘National’ Repertoires. Between 1750 and 1850 a cultural centre in Eastern Central and Northeastern Europe developed in the area of Prussia along the lower Vistula River around the ‘metropolises’ of the Early Modern Period, Gdańsk, Toruń, and Elbląg. Further, the socio-economic structures within this time period were increasingly characterised – even more so following the annexation of ‘West Prussia’ by the Hohenzollern monarchy (1772/1793) – by the definitive characteristics of a ‘transitional society’ (characteristic of the dynamic historical period between the Early Modern and Modern periods). In this context, starting in 1770 cultural practices developed that corresponded to the needs of a public that included diverse estates and faiths, while for the by now marginalised Polish nobility Warsaw and their own historical as well as dynastic traditions became the focal point of sociocultural orientation. Further, after 1815 a rigid German educational and cultural concept drew sharp divisions between the people and authorities systematically limited the multilingualism that had thrived in West Prussia for centuries. On the other side, such hard measures led to ‘national’ group formations, which manifested themselves in ‘Polish balls’, for example, and – following a fatal dialectic – ultimately resulted in the creation of a German, in this case commoner, section of the public with choral societies and singing festivals. From here forward, the regional musical culture of West Prussia followed a sociability determined by ethnic, linguistic, and religious exclusions and from this point on stood in the focus of a public that defined itself by criteria of ‘nationality’.
Christian Pletzing (Flensburg/Deutschland)
Sängervereine in Westpreußen zwischen Vormärz und Reichsgründung Der mehrstimmige Männergesang ist während der letzten Jahre im Deutschen Vaterlande zu einem so bedeutenden allgemeinen Aufschwung gekommen, er steht den materiellen und politischen Bewegungen in Deutschland so versöhnend zur Seite, er ist so echt Deutsch, dem Deutschen Gemüth von jeher so innig befreundet: daß auch unserer an den Grenzmarken Deutschlands Wache haltenden, mit ganzem Herzen Deutschen Provinz der Gedanke nahe treten mußte: einmal (und wohl öfter wieder) im Deutsche Liede das Deutsche Herz, verbunden in Freude und Liebe, aufjauchzen zu lassen.1
Bemerkenswert an diesem Zitat aus der liberalen westpreußischen Zeitung Elbinger Anzeigen des Jahres 1847 ist nicht nur, dass die Begriffe ‚deutsch‘ und ‚Deutschland‘ gleich achtmal genannt werden. Es illustriert zugleich prägnant den Kontext, in dem sich der Männergesang in Westpreußen während des 19. Jahrhunderts entwickelte: die Konstruktion einer deutschen nationalen Identität und ein Grenzlandbewusstsein, das sich gegenüber den slawischen Nachbarn im Osten abgrenzte. Nationale Bezüge spielten dagegen noch keine Rolle, als zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland die ersten Männergesangvereine gegründet wurden. Nach dem Vorbild von Carl Friedrich Zelters Liedertafel in Berlin entstanden ab 1815 in ganz Preußen Männergesangvereine. Sie blieben allerdings zumeist „exklusive Herrenzirkel“2. Dagegen propagierte der Schweizer Hans Georg Nägeli den Volksgesang als nationalpädagogische Aufgabe. Die von Nägeli inspirierten ‚Liederkränze‘ traten im Gegensatz zu den älteren Liedertafeln öffentlich auf und bemühten sich um eine offenere soziale Struktur. Dieser neue Typus des Männergesangvereins entstand zunächst in Süddeutschland. Zu Beginn der 1840er Jahre breitete er sich auch in West- und Norddeutschland sowie in Österreich aus. 1847 zählten die Sängervereine bereits schätzungsweise 100.000 Mitglieder.3 Somit waren die Sängervereine nicht nur eine der zahlenmäßig stärksten 1 2
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Elbinger Anzeigen. Nr. 64 (11.08.1847). Henning Unverhau. Gesang, Feste und Politik. Deutsche Liedertafeln, Sängerfeste, Volksfeste und Festmähler und ihre Bedeutung für das Entstehen eines nationalen und politischen Bewußtseins in Schleswig-Holstein 1840-1848. Frankfurt a. M. 2000. S. 28; vgl. auch Friedhelm Brusniak. „Zur Entwicklung der Chorkultur in Deutschland. Eine Einführung in Institutionen und Organisationsformen“. Chorgesang als Medium von Interkulturalität. Formen, Kanäle, Diskurse. Hg. Erik Fischer. Stuttgart 2007 (= Berichte des interkulturellen Forschungsprojekts „Deutsche Musikkultur im östlichen Europa“. Bd. 3). S. 19-26. Dieter Düding. Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808-1847). München 1984. S. 180.
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Organisationsformen am Vorabend der Märzrevolution, sie bildeten auch, so Dieter Langewiesche, das „organisatorische Fundament“4 der deutschen Nationalbewegung. Die meisten Sängervereine bestanden während des 19. Jahrhunderts in Süddeutschland, daher hat sich auch die historische und kulturwissenschaftliche Forschung seit den 1980er Jahren vor allem mit den süd- bzw. südwestdeutschen Sängervereinen beschäftigt. Später folgten auch Fallstudien zu Norddeutschland.5 Über die Sängervereine des ostelbischen Preußen ist hingegen so gut wie nichts bekannt. Auch Dieter Düdings Studie über die Bedeutung und Funktion der Turner- und Sängervereine für die deutsche Nationalbewegung, die zu diesem Thema nach wie vor Maßstäbe setzt, stützt sich fast ausschließlich auf Fallbeispiele aus West-, Süd- und Norddeutschland.6 Damit stellt sich die Frage, ob die Entwicklung der Sängervereine im 19. Jahrhundert am Ostrand des geschlossenen deutschen Sprachraums, in einer Region der deutsch-slawischen Kontaktzone, ähnlich verlief wie in West- oder Süddeutschland. Am Beispiel Westpreußens, das zwischen 1829 und 1878 mit Ostpreußen zur ‚Provinz Preußen‘ vereinigt war, wird im Folgenden diskutiert, inwieweit die Sängervereine Träger und Verbreiter nationalen Gedankenguts und damit tatsächlich Teil der nationalen Bewegung waren. In welchem Maße waren die westpreußischen Sänger in nationale Strukturen über die Provinzgrenzen hinaus integriert? Waren sie, wie in Süddeutschland, politisiert und damit Teil der deutschen liberaldemokratischen Bewegung? Orientierten sich die westpreußischen Sängervereine an den Aktivitäten und Kommunikationsformen der süd- und westdeutschen Sänger – oder gab es, wie Charlotte Tacke vermutet, zwischen den Sängervereinen in Süddeutschland auf der einen Seite und den Vereinen in Nord- und Ostdeutschland auf der anderen Seite ein deutliches „kommunikatives Gefälle“7? Über die soziale Struktur der deutschen Sängervereine gibt es vergleichsweise wenige gesicherte Informationen, da keine Mitgliederlisten der Vereine überliefert sind.8 Auch für Westpreußen sind bisher keine Mitgliederlisten oder Sitzungsprotokolle von Sängervereinen bekannt. Daher lassen sich nur indirekt über berichtende Quellen, wie z.B. Zeitungsartikel, darüber Erkenntnisse gewinnen, wer die Initiatoren, Gründer und Mitglieder der Sängervereine waren. Zu fragen ist ferner, ob die Sängervereine ein ausschließlich städtisches Phänomen waren oder ob es, wie z.B. in Schwaben, auch Sängervereine auf dem Land gab.9 Waren – des 4
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Dieter Langewiesche. „Die schwäbische Sängerbewegung in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts – ein Beitrag zur kulturellen Nationsbildung“. Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 52 (1993). S. 57-301. S. 257. Unverhau. Gesang, Feste und Politik (wie Anm. 2); F. Thomas Gatter. Die Chorbewegung in Norddeutschland 1831 bis 2006. Lilienthal, Bremen 2007. Düding. Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus (wie Anm. 3). Charlotte Tacke. Denkmal im sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert. Göttingen 1995. S. 309. Düding. Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus (wie Anm. 3). S. 253. Langewiesche. „Schwäbische Sängerbewegung“ (wie Anm. 4). S. 267.
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Weiteren – Frauen an den Aktivitäten der Sänger beteiligt? Konnten Polen in den Sängervereinen Westpreußens Mitglied werden? Schließlich soll die Bedeutung der Sängerfeste auf regionaler und nationaler Ebene untersucht werden: Welche Funktionen hatten die Sängerfeste, die in West- und Ostpreußen seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts veranstaltet wurden, und nahmen Sänger aus Westpreußen an überregionalen und nationalen Sängerfesten außerhalb der Provinzgrenzen teil? 1822 wurde in Danzig auf Initiative des Pfarrers Theodor Kniewel (1783-1859) eine Liedertafel gegründet. Kniewel hatte sich schon früher als Organisator von Gesangsvereinen verdient gemacht: Bereits 1810 hatte er einen Verein für Kirchenmusik gegründet und 1811 eine Singakademie. Zu den Mitgliedern der Liedertafel, die sich der Pflege der älteren Chormusik verschrieben hatten, zählte u.a. Joseph von Eichendorff, der der Liedertafel drei Tafellieder widmete.10 In Elbing bestand seit 1816 eine Liedertafel11, und auch in der Kreisstadt Kulm hatte sich eine Liedertafel bereits früh gebildet. 1828 wurde das 60 Texte enthaltende Liederbuch Rundgesänge der Liedertafel zu Culm publiziert.12 Eine Liedertafel gab es in Thorn nicht, doch überführte 1840 der Gymnasiallehrer Siegfried Wilhelm Hirsch einen schon früher bestehenden gemischten Chor in einen Singverein.13 Aus den bruchstückhaften Informationen, die zu den Liedertafeln und Gesangsvereinen der zwanziger und dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts überliefert sind, lässt sich indes nicht zweifelsfrei erkennen, ob es sich bei den frühen Liedertafeln um Vereine des alten, exklusiven Typs handelte oder um Liedertafeln, die den Volksgesang pflegten. Sängervereine erfreuten sich in Westpreußen in den 1830er Jahren zunehmender Popularität. Darauf deutet das Preußische Musikfest hin, das am 2. Juni 1833 im Großen Remter der Marienburg stattfand. Auf Einladung des Elbinger Stadtmusikus Christian Urban fanden sich in Marienburg Sänger aus Danzig, Elbing, Marienwerder, Marienburg, Graudenz, Schwetz, Strasburg, Thorn und Tuchel ein. Hinzu kamen Sänger aus mehreren Städten Ostpreußens, darunter Königsberg, Memel, Braunsberg und Mehlsack. Die größten westpreußischen Sängerdelegationen stellten die Städte Danzig (50 Sänger), Marienwerder (39), Elbing (35), Thorn
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Joseph Müller-Blattau. Geschichte der Musik in Ost- und Westpreußen. Wolfenbüttel, Zürich 21968; Marta Siebert. „Vom Männergesang in Altpreußen. Sängerfeste im Kulmer Land“. Westpreußen-Jahrbuch 36 (1986). S. 135-155. S. 135; Hugo Rasmus. Vom Volksliedgut in Westpreußen. Eine historische Übersicht. Münster 1997. S. 136. Bruno Th. Satori-Neumann. Elbing im Biedermeier und Vormärz. Ernstes und Heiteres aus der guten alten Zeit (1815-1848). Elbing 1933. S. 235. Rasmus. Volksliedgut (wie Anm. 10). S. 140f. Barbara Zakrzewska-Nikiporczyk. „Życie muzyczne [Das Musikleben]“. Historia Pomorza [Geschichte Pommerns, West- und Ostpreußens]. Bd. III. Teil 3. Poznań 2001. S. 173-198, S. 185. Vgl. auch im vorliegenden Band den Beitrag von Katarzyna Grysińska-Jarmuła. S. 181-194.
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und Marienburg (jeweils 16).14 Die Presse vertrat rückblickend sogar die Meinung, das Marienburger Sängerfest verdiene „mit Recht den Namen eines Preußischen Festes“, da Sänger und Zuhörer aus allen Städten der Provinz Preußen am Musikfest teilnahmen.15 Sängervereine, so zeigt die Herkunft der Teilnehmer am Preußischen Musikfest, waren 1833 noch nicht flächendeckend in ganz Westpreußen zu finden, zumindest aber in allen größeren und auch in einigen kleineren Städten. Ein zweites Preußisches Musikfest fand 1834 in Danzig statt; ein Jahr später wurde in Marienwerder ein Westpreußisches Musikfest organisiert. Auch wegen der Bedenken der Behörden, Lehrer für die Teilnahme an den Musikfesten freizustellen16, fanden die Musikfeste zunächst keine Fortsetzung. Zahlreiche neue Sängervereine entstanden in Westpreußen seit Mitte der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Diese Gründungswelle vollzog sich vor dem Hintergrund der im Vormärz einsetzenden Politisierung des Vereinswesens. Im Übergang von der ständischen zur (staats-)bürgerlichen Gesellschaft konnte sich auch ein zunächst unpolitischer Verein zum „Kristallisationspunkt politischer Emanzipationsansprüche“17 entwickeln. Seit Anfang der 1840er Jahre trat in der Provinz Preußen eine liberale Oppositionsbewegung an die Öffentlichkeit, der vor allem Kaufleute, Handwerker, Freiberufler und Intellektuelle angehörten. Die Liberalen entwickelten neue Formen der Kommunikation. Dazu zählten auch die Möglichkeiten, die sich durch das Vereinswesen boten. So wurden viele Vereine während des Vormärz zu einem Ferment der Politisierung, indem sie gesellschaftliche Bildungsaufgaben wahrnahmen.18 Diese Entwicklung lässt sich beispielhaft an den Sängervereinen der Stadt Elbing ablesen. Schon länger hatten in Elbing, das bis in die 1860er Jahre das Zentrum der westpreußischen Liberalen war, eine Liedertafel und andere Sängervereine bestanden. 1844 wurde dann der Elbinger Liederkranz gegründet. Schon der Name Liederkranz nahm Bezug auf das süddeutsche Modell des Männergesangs, der breitere Volksschichten einbeziehen sollte. Am 3. Juni 1845 war die Entwicklung des Gesangsunterrichts auch Thema eines Vortrags auf der von den Liberalen initiierten Elbinger Bürgerversammlung. Unter dem Titel „Vorschläge zur Errichtung eines allgemeinen Gesangsunterrichts und einer Gesang-Schule für 14
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Archiwum Państwowe w Gdańsku [APGd]. Rękopisy Elbłąskie 492/879 [Elbinger Handschriften: C.F. Ramsay. Chronik der Stadt Elbing. Bd. 5. Beilagen]. Bl. 151; Siebert. Männergesang (wie Anm. 10). S. 136. Elbinger Anzeigen. Nr. 45 (07.06.1843). Siebert. Männergesang (wie Anm. 10). S. 137. Wolfgang Hardtwig. „Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland 1789-1848“. Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland. Hg. Otto Dann [u.a.]. München 1984. S. 11-53, S. 23. Christian Pletzing. Vom Völkerfrühling zum nationalen Konflikt. Deutscher und polnischer Nationalismus in Ost- und Westpreußen 1830-1871. Wiesbaden 2003. – Zur Biographie der zentralen Figur der liberalen Bewegung in der Provinz vgl. Edmund Silberner. Johann Jacoby. Politiker und Mensch. Bonn-Bad Godesberg 1976.
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Erwachsene – auch aus dem Handwerkerstande“ plädierte der Referent für eine soziale Öffnung der Sängervereine. Zu den Bemühungen, die Exklusivität der Sängervereine aufzubrechen und diese für Handwerker zu öffnen, gehörte wahrscheinlich auch die Gründung der neuen Elbinger Liedertafel am 5. Februar 1847.19 1844 wurde in Thorn eine Liedertafel gegründet, deren Vorsitzender der Festungskommandant v. Reichenbach wurde. 1846 folgte eine Liedertafel in der Kleinstadt Christburg, Kreis Stuhm, 1847 entstanden weitere Liedertafeln in Marienburg und Marienwerder, 1849 auch in Mewe, Kreis Marienwerder.20 Die meisten Vereine waren offenbar sehr klein. Selbst der Sängerverein der Hauptstadt der Provinz Preußen, Königsberg, zählte 1849 nur 92 Mitglieder. Ein 1847 in Königsberg neu gegründeter Sängerverein brachte es auf lediglich 30 Mitglieder. Der Thorner Liedertafel gehörten im selben Jahr sogar nur 18 Mitglieder an, vor allem Offiziere, Lehrer und Kaufleute.21 Obwohl in der Mitte des 19. Jahrhunderts mehr als ein Drittel der Einwohner Thorns polnischsprachig war, hatte die Thorner Liedertafel zudem keine polnischen Mitglieder. Auch bei anderen Liedertafeln und Sängervereinen Westpreußens finden sich keine Hinweise auf polnische Mitglieder. Der exklusiv deutsche Charakter der Sängervereine Westpreußens ist darauf zurückzuführen, dass es sich bei den Sängern um eine genuin bürgerliche Bewegung handelte. Ein polnisches Bürgertum entstand in Westpreußen aber erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.22 Zu dieser Zeit war die nationale Polarisierung schon so weit fortgeschritten, dass an eine gemeinsame Mitgliedschaft in Sängervereinen nicht mehr zu denken war. Den „kastenartigen Geist“, der im Thorner Sängerverein herrsche, beklagte 1846 ein Artikel in der Lokalpresse. Nur die „Noblesse“ der Thorner Bürgerschaft gehöre dem Sängerverein an, so der Korrespondent des Thorner Wochenblatts. Er forderte die Töchter der Bürger auf, ebenfalls Mitglied im Sängerverein zu werden.23 Dieser Artikel des Thorner Wochenblatts ist zugleich der einzige Beleg für eine Diskussion über die Mitgliedschaft von Frauen in den Sängervereinen der Provinz Preußen. Der in der Presse beklagte exklusive Charakter des Thorner Vereins könnte übrigens auch auf die dominierende Rolle des Thorner Festungskommandanten v. Reichenbach zurückzuführen sein, der Vorsitzender und Initiator des Sängervereins war. Als v. Reichenbach versetzt wurde, kam das Vereinsleben beinahe zum Erliegen.24
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Satori-Neumann. Elbing (wie Anm. 11). S. 57 und S. 235f. Zu Thorn vgl. Geschichte der Thorner Liedertafel zur Feier ihres 50jährigen Bestehens. Thorn 1894; Siebert. Männergesang (wie Anm. 10). S. 138. Carl Heinrich Saemann. Über die Entwickelung und den Fortgang des im Jahre 1820 zu Königsberg gestifteten Sängervereins. Königsberg 1845. S. 27; Geschichte der Thorner Liedertafel (wie Anm. 20). S. 5. Józef Borzyszkowski. Inteligencja polska w Prusach Zachodnich 1848-1920 [Die polnische Intelligenz in Westpreußen 1848-1920]. Gdańsk 1986. Thorner Wochenblatt (Verlag Lambeck). Nr. 69 (05.09.1846). Geschichte der Thorner Liedertafel (wie Anm. 20). S. 6.
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In Graudenz war es die Witwe eines Hauptmanns, die 1845 die Gründung eines Gesangsvereins anregte. Wesentlichen Anteil an der Entstehung des Vereins hatte jedoch der in Berlin ausgebildete Gesangslehrer des Graudenzer Lehrerseminars, Georg Szczefranski. Er wurde auch erster Vorsitzender des Vereins, der von zwölf Männern gegründet wurde.25 Die Quellenlage erlaubt nur punktuelle Einblicke, jedoch keine allgemeingültigen Aussagen über das soziale Profil der westpreußischen Sängervereine. Im Falle des Thorner Vereins deutet vieles darauf hin, dass die soziale Struktur der Mitglieder mit der Dominanz von Lehrern, Kaufleuten und insgesamt eher arrivierten Bürgern derjenigen anderer deutscher Sängervereine entsprach.26 Nur selten waren indes in den süd- und westdeutschen Sängervereinen Offiziere als Vorsitzende anzutreffen, wie es in Thorn der Fall war. Sängervereine seien „ein bedeutendes Vehikel zur Erweckung und Belebung des Nationalgefühls“, stellte 1846 das Thorner Wochenblatt in einem weiteren Artikel fest. Der Gesang sei nicht mehr „ausschließliches Eigenthum einer besonderen Kaste“, sondern „Gemeingut Aller“.27 Aus dem hier formulierten Konzept der Nationsbildung durch soziale Integration resultierte die nationalpädagogische Bedeutung der Sängervereine: Sie hatten die Aufgabe, die nationale „Gemüthsbildung des Volkes“ zu unterstützen, hieß es 1859 in einem Rückblick der Königsberger Hartungschen Zeitung auf die bisher veranstalteten Preußischen Sängerfeste.28 Nationales Pathos war daher ein unverzichtbares Element beinahe aller Aktivitäten der Sängervereine. So lautete der „Sängergruß“ der Elbinger Liedertafel im August 1847: Seid willkommen! Tönt’s aus einem Munde,/Deutschlands Söhne, hier ist uns’re Hand./ Brüderlich vereint zum ew’gen Bunde/Sind wir in dem ganzen Vaterland./[...] Wo im Kampf die Deutschen Schwerter schlagen,/Keine Trennung, keine Schranken mehr./[...] Laßt uns feiern diese schöne Stunde,/Huldigen der großen Macht der Zeit./Deutscher Lande stolzem, ew’gen Bunde/Sei der Deutschen Kraft und Muth geweiht!29
Aufgegriffen wurde von den Sängervereinen Westpreußens ebenso die antifranzösische Stimmung, die im Herbst 1840 anlässlich der ‚Rheinkrise‘ in Deutschland herrschte. Die in der französischen Öffentlichkeit erhobene Forderung nach der Rheingrenze löste in Deutschland eine scharfe Reaktion der öffentlichen Meinung aus und mobilisierte große Teile der Bevölkerung, vor allem in den Turner- und Sängervereinen. Zahlreiche Nachdichtungen des von Nikolaus Becker verfassten „Rheinlieds“ erschienen in der Presse. Die Kulmer Liedertafel 25
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Erich Wentscher. „Graudenz um 1848“. Mitteilungen des Westpreußischen Geschichtsvereins 28 (1929). S. 63-71, S. 66. Düding. Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus (wie Anm. 3). S. 253ff. Thorner Wochenblatt (Verlag Lambeck). Nr. 81 (10.10.1846). Königsberger Hartungsche Zeitung. Nr. 232 (05.10.1859). APGd. Rękopisy Elbłąskie 492/885 [Elbinger Handschriften: C.F. Ramsay. Chronik der Stadt Elbing. Bd. 8. Beilagen]. Bl. 131. Vgl. auch Elbinger Anzeigen (wie Anm. 1).
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führte am Neujahrstag 1841 sogar ein eigenes „Rheinlied“ auf, das ein junger Offizier der Garnison Kulm gedichtet hatte.30 Ungeachtet der offenkundigen Nationalisierung der Sängervereine im Vormärz sind kaum Informationen über die Mitgliedschaft liberaler Oppositioneller in Liedertafeln und -kränzen bzw. über ihr Engagement für die Sängervereine überliefert. Allerdings nahmen Sängervereine häufig an Festen und Veranstaltungen der liberalen Opposition des Vormärz teil. Sänger aus Elbing beispielsweise waren im Juni 1845 am Volksfest in Pillau beteiligt, das bis 1848 den Höhepunkt der liberalen Bewegung in der Provinz Preußen darstellte und von konservativer Seite als „Hambacher Fest in Pillau“ kritisiert wurde.31 Die Sängervereine waren in Westpreußen Teil des liberalen Netzwerks, ohne – wie die Turnervereine – explizit von den Liberalen gegründete oder dominierte Organisationen zu sein. Völlig unpolitisch waren die Sängervereine also nicht, doch lassen sich zum Grad der Politisierung kaum Aussagen treffen. Fest steht jedoch, dass die Sängervereine in Westpreußen im Gegensatz zu anderen Vereinen, wie z.B. den Bürgergesellschaften, polizeilich nicht überwacht wurden. Möglicherweise waren sie gerade deshalb aber für Liberale wiederum attraktiv. In den Revolutionsjahren 1848/49 verfielen die westpreußischen Sängervereine in Passivität; viele stellten ihre Tätigkeit vorübergehend ein. Diese Beobachtung spricht dezidiert dagegen, dass es sich bei den Sängervereinen, wie es Dieter Langewiesche für Südwestdeutschland festgestellt hat, um unpolitische Bildungsvereine handelte, denn in diesem Fall hätten sie während der Märzrevolution ihre Tätigkeit fortsetzen können. Offenbar gab es aber für viele Mitglieder der Liedertafeln nun die Möglichkeit, offen politisch zu agieren, so dass die Sängervereine, wie auch andere kryptopolitische Vereine des Vormärz, an Bedeutung verloren. Mit dem Verbot bzw. der Auflösung der politischen Vereine und Klubs in den Jahren 1849/50 entwickelten die westpreußischen Sängervereine wieder neue Aktivitäten. Ein Indiz für die erneute Politisierung der Sänger Westpreußens ist die Spendensammlung für Schleswig-Holstein auf dem Preußischen Sängerfest in Danzig im August 1850.32 Nachdem sich Preußen im Juli 1850 mit einem Separatfrieden aus den Kampfhandlungen gegen Dänemark zurückgezogen hatte, solidarisierten sich in ganz Deutschland Liberale und Demokraten mit den aufständischen Schleswig-Holsteinern. Zwei Jahre später kritisierte zudem die konservative Presse die Teilnehmer des 3. Preußischen Sängerfests in Königsberg, da sich vor allem unter den Elbinger und Pillauer Sängern dezidierte Demokraten befänden, wie z.B. der Elbinger Stadtrat und Syndikus Eduard Flottwell.33 Auch die Symbolik 30
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Gerold Schmidt. „Ein Rheinlied von der Weichsel. Die Familien von Erckert und Trautmann und das Musikleben Kulms im Biedermeier“. Westpreußen-Jahrbuch 38 (1988). S. 111-126; Archiv für vaterländische Interessen oder Preußische Provinzial-Blätter 24 (1841). S. 190ff. Pletzing. Vom Völkerfrühling zum nationalen Konflikt (wie Anm. 18). S. 57f. Thorner Wochenblatt (Verlag Lambeck). Nr. 66 (07.08.1850). Der neue Königsberger Freimüthige. Nr. 62 (22.07.1852).
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des Sängerfests war 1852 eindeutig national und demokratisch geprägt. Konservative Beobachter beanstandeten, dass auf diesem Preußischen Sängerfest alles vermieden wurde, was an die „preußische Nationalität“ erinnere, wie etwa schwarzweiße Kokarden oder das Lied „Ich bin ein Preuße, kennt Ihr meine Farben?“. Stattdessen trugen die Sänger schwarze und rote Bänder, die von einer goldenen Lyra zusammengehalten wurden. Selbst die Dampfschiffe, mit denen die Sänger einen Ausflug zum westlich von Königsberg gelegenen Schloss Holstein unternahmen, waren mit schwarz-rot-goldenen Fahnen geschmückt.34 Die ausgeprägte nationale Symbolik ist umso erstaunlicher, als 1852 alle anderen Vereine und Versammlungen der Demokraten ihre Tätigkeit längst hatten einstellen müssen und das Zeigen der schwarz-rot-goldenen Fahne von der Polizei in der Regel unterbunden wurde. Etwas dezenter war die nationale Symbolik während des 4. Preußischen Sängerfests, das 1855 in Elbing veranstaltet wurde. Zur Eröffnung wurde jedoch auch hier das „Lied der Deutschen“ vom Königsberger großen Chor intoniert. Schon im Vorfeld des Sängerfests hatten die Behörden die Besorgnis geäußert, die Demokraten könnten das Fest für ihre Zwecke nutzen. Daher genehmigte die Elbinger Polizei das Fest erst, nachdem das Organisationskomitee gegenüber den Behörden versichert hatte, Politik bleibe vom Sängerfest ausgeschlossen. Auch das Organisationskomitee selbst bestand, so meldete der Elbinger Polizeidirektor, „größtenteils aus Männern, von denen zu erwarten ist, dass sie der Politik fernbleiben, darunter auch Kgl. Beamte“.35 Mitglied des Elbinger Komitees war allerdings auch der Kaufmann Heinrich Behrend (1817-1893), der schon wenige Jahre später, mit Beginn der ‚Neuen Ära‘ in Preußen, als Mitbegründer der Deutschen Fortschrittspartei zu den führenden preußischen Liberaldemokraten zählte.36 Die Preußischen Sängerfeste, die alternierend in West- und in Ostpreußen veranstaltet wurden, waren somit noch während der Repressionsphase der Reaktionsjahre durch die schwarz-rot-goldene nationale Symbolik geprägt. Demokraten auf der einen und Behörden auf der anderen Seite führten im Vorfeld und auch während der Sängerfeste einen Kleinkrieg um das erlaubte Maß an nationaler Symbolik, bei dem die Opposition bestrebt war, den in den Jahren der Reaktion geringen politischen Spielraum maximal auszunutzen. Bei den vermeintlich unpolitischen Sängerfesten waren die Chancen, nationale Symbole zu zeigen, vermutlich relativ groß. Vergleichbare Feste mit Teilnehmern aus der gesamten Provinz Preußen gab es in der Reaktionszeit nicht. Die Sängervereine – bislang weitgehend unpolitisch der kulturellen Nationsbildung verpflichtet – konnten nun für ein relativ offenes Bekenntnis zur demokratischen und liberalen Opposition genutzt werden. 34 35
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Der neue Königsberger Freimüthige. Nr. 64 (27.07.1852). Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin (GStA PK) XIV. HA Rep. 180. Nr. 16743. „Polizeidirektor Elbing an Kgl. Regierung Danzig“ (19.02.1855). Bl. 6 (Zitat); APGd. Magistrat Elbing 369, 2/4858 (Acta des IV. Preuß. Sängerfestes). Programm des IV. Preußischen Sängerfests. [o.S.]. Pletzing. Vom Völkerfrühling zum nationalen Konflikt (wie Anm. 18). S. 320ff.
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Die seit dem Vormärz veranstalteten Preußischen Sängerfeste waren nicht nur ein Indikator für die Stärke der liberaldemokratischen Opposition und die Entwicklung der deutschen nationalen Identität. Sie zeigten auch die Mobilisierungsfähigkeit der west- und ostpreußischen Sängerbewegung. Das erste Preußische Sängerfest fand 1847 in Elbing statt, das im Vormärz als Hauptstadt der liberalen Bewegung in Westpreußen galt. Die in der Presse publizierte Einladung zum Sängerfest enthielt auch einen Bericht über ein Sängerfest in Landshut/Bayern.37 Offenbar dienten die süddeutschen Sängerfeste den Organisatoren des Preußischen Sängerfests als Vorbild. Trotz hoher Eintrittspreise nahmen 6.000 Menschen am Elbinger Fest teil. Damit zählte das erste Preußische Sängerfest zu den größten Veranstaltungen, die im Vormärz in Westpreußen stattfanden. Vertreten waren 330 Sänger aus 20 Städten der Provinz Preußen sowie einige Teilnehmer aus dem Westen Deutschlands, u.a. aus Mainz und Trier. Während des Festes konstituierte sich der Preußische Sängerbund für die Provinz Preußen, so dass das Organisationsniveau der Sängerbewegung bereits im Vormärz die Provinzebene erreichte.38 Die provinzweiten Sängerfeste regten ferner zur Feier kleinerer, regionaler Feste an. Auf Initiative des Thorner Sängervereins fand im Frühjahr 1848 in Kulm ein regionales Sängerfest statt, auf dem u.a. Liedertafeln und Sängervereine aus Bromberg, Graudenz, Kulm, Marienwerder und Thorn vertreten waren.39 Die Teilnehmerzahlen der Preußischen Sängerfeste stiegen auch in den Jahren der Reaktion an. Waren 1847 in Elbing 330 Sänger zusammengekommen, so nahmen am zweiten Sängerfest in Danzig 1850 bereits 400 Sänger aus 35 Städten teil – nach einer anderen Quelle waren es sogar über 500 Sänger aus 40 Städten. 613 Sänger aus 55 Städten der Provinz Preußen waren während des 3. Preußischen Sängerfests in Königsberg 1852 zugegen. Drei Jahre später, in der Hochzeit der Reaktion, ging die Teilnehmerzahl am 4. Sängerfest in Elbing auf 441 Sänger aus 52 Städten zurück. 1857 hingegen nahmen am 5. Sängerfest in Danzig sogar 966 Sänger teil, so dass sich deren Zahl in zwei Jahren fast verdoppelt hatte.40 Für das 4. Sängerfest in Elbing im Jahre 1855 ist ein Teilnehmerverzeichnis überliefert, das Sänger aus folgenden westpreußischen Städten und Dörfern nennt: Christburg und Umgebung, Danzig, Eschenhorst (Kreis Marienburg), Finckenstein (Kreis Rosenberg), Graudenz, Klein Katz bei Danzig, Kulm, Löbau, Marienburg, Marienwerder, Neuheide bei Elbing, Neuteich, Palschau bei Neuteich, Parschau bei Neuteich, Reimannsfelde (Kreis Elbing), Riesenburg, Rosenberg, Rehden (Kreis Graudenz), Strasburg, Stuhm, Thorn, Thiensdorf bei Neuteich, Tiegenhof,
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Elbinger Anzeigen. Nr. 55 (10.07.1847). Schaluppe zum Dampfboot. Nr. 97 (14.8.1847) und Nr. 98 (17.08.1847); Elbinger Anzeigen. Nr. 64 (11.08.1847). Königl. Preuß. Staats- Kriegs- und Friedens-Zeitung Königsberg. Nr. 38 (12.02.1848). Siebert. Männergesang (wie Anm. 10). S. 139f.; Thorner Wochenblatt (Verlag Lambeck). Nr. 66 (07.08.1850); Königsberger Hartungsche Zeitung. Nr. 232 (05.10.1859).
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Groß Tromnau bei Marienwerder und Willenberg (Kreis Stuhm).41 Die häufige Nennung von Kleinstädten, Landgemeinden und Gütern verdeutlicht, dass sich die Sängerbewegung in Westpreußen nach dem Mobilisierungsschub der Revolution auch über die städtischen Zentren der Provinz hinaus etabliert hatte. Eine ‚Neue Ära‘ begann in Preußen, als Prinz Wilhelm im Oktober 1858 die Regentschaft anstelle des erkrankten Königs Friedrich Wilhelm IV. übernahm. Die staatliche Repression und die Kontrolle des Vereinswesens wurden gelockert. Dies hatte eine erneute Politisierung der Öffentlichkeit zur Folge, von der die Sängervereine profitierten. Obwohl die kryptopolitische Funktion der Reaktionszeit überflüssig geworden war, erlebte die Sängerbewegung nun einen langanhaltenden Aufschwung. Im Gegensatz zur Zeit der Märzrevolution, zehn Jahre zuvor, als die Aktivität der Sängervereine beinahe zum Erliegen gekommen war, hatte sie nun schon eine ausgeprägte Eigendynamik entwickelt. Seit 1859 entstanden in West- und Ostpreußen neue Sängervereine, einige ältere Vereine konstituierten sich neu.42 Neben den Preußischen Sängerfesten etablierten sich regionale Sängerfeste wie z.B. das Graudenzer Sängerfest im Juni 1865, an dem elf Liedertafeln aus Westpreußen und der benachbarten Provinz Posen teilnahmen. Bereits 1860 hatte im ostpreußischen Heydekrug das 1. Nordlithauische Sängerfest stattgefunden, das von Sängern aus vier Städten des Kreises Heydekrug initiiert worden war, denen die Anreise zum Preußischen Sängerfest zu aufwendig gewesen war.43 Nach dem Vorbild der vormärzlichen ‚Turnfahrten‘ fanden nun regelmäßig ‚Sängerfahrten‘ zu benachbarten Liedertafeln oder aber in Ausflugsorte statt, in denen sich Sänger mehrerer Vereine trafen.44 An der Erneuerung der Sängerbewegung waren auch die in allen mittleren und größeren Städten Westpreußens entstehenden Handwerkervereine beteiligt, in denen zumeist Mitglieder der liberaldemokratischen Deutschen Fortschrittspartei den Ton angaben. In Thorn beispielsweise wurde im Handwerkerverein eine eigene Handwerker-Liedertafel gegründet. Mit der Einbeziehung von Handwerksmeistern und vor allem Gesellen setzte sie die Forderung nach sozialer Erweiterung in die Tat um und machte damit der schon bestehenden älteren Thorner Liedertafel Konkurrenz.45 Ihre politische Nähe zur Fortschrittspartei konnten die Sängervereine in den 1860er Jahren ohne Gängelung der Behörden zeigen: Die Pillauer Liedertafel gratulierte 1862 telegraphisch den Abgeordneten der Fortschrittspartei um Johann Ja41
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APGd. Magistrat Elbing 369, 2/4858 (Acta des IV. Preuß. Sängerfestes). Verzeichniß der Sänger des IV. Preuß. Sänger-Festes in Elbing. o.S. Königsberger Hartungsche Zeitung. Nr. 232 (05.10.1859); Geschichte der Thorner Liedertafel (wie Anm. 20). S. 7. APGd. Regierung Marienwerder 10/1641 (Zeitungs-Berichte Kr. Graudenz). S. 128f.; Königsberger Hartungsche Zeitung. Nr. 144 (22.06.1860). Königsberger Hartungsche Zeitung. Nr. 130 (07.06.1859). Ferdinand Menzel. Geschichte des Handwerkervereins Thorn 1859-1909. Thorn 1911. S. 4; Geschichte der Thorner Liedertafel (wie Anm. 20). S. 10.
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coby und setzte damit im Verfassungskonflikt ein politisches Zeichen gegen das Ministerium Bismarck. Konservative Beobachter waren demzufolge der Ansicht, die Sänger würden, ebenso wie die Turner und die Schützen, von Demokraten „terrorisiert“.46 Die nationale Symbolik der Sängervereine konzentrierte sich in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts auf die schwarz-rot-goldene Fahne, die bei Sängerfesten und -fahrten wieder gehisst werden konnte, wie z.B. während des 7. Preußischen Sängerfests in Elbing 1862, wo eine deutsche Trikolore die Festhalle schmückte. Anlässlich der Übergabe einer schwarz-rot-goldenen Fahne an den im selben Jahr neugegründeten Sängerbund der Provinz Preußen wies der Elbinger Oberlehrer Friedrich Kreyssig die von Konservativen geäußerte Kritik zurück, die Farben Schwarz-Rot-Gold stünden allein für einen romantischen Kulturnationalismus oder aber für den gewaltsamen Umbruch der 1848er Revolution: „Die deutsche Tricolore“, so Kreyssig, ist uns nicht mehr das Sinnbild schwärmerischer, poetischer Träume. Sie ist noch viel weniger das düstere Blutzeichen der unreifen Gewaltthat, für welches die Erbfeinde unseres Gedeihens sie noch hin und wieder auszugeben versuchen. Sie ist uns vielmehr eine heilige Mahnung zu unablässiger, opferfreudiger Arbeit an der Wiedergeburt unseres Volkes.47
Die Nationalisierung der Sängervereine spricht auch aus einem Gedicht, das 1862 anlässlich der Fahnenweihe der Thorner Liedertafel vorgetragen wurde: Uns Deutschen aber ward der vollste Segen,/Der Liederkunst allmächt’ge Kraft zu Teil;/ Was Liebe nicht, noch Feindes Droh’n vermögen,/Gesang bringt uns ersehnter Einheit Heil.
Im selben Jahr wurde bei der Weihe des von Frauen und Jungfrauen gestifteten Banners der Thorner Handwerker-Liedertafel ein von Professor Hirsch komponiertes Fahnenweihlied gesungen: Was eint den frohen Männerchor?/Es ist der deutsche Sang./Aus voller Brust tönt er hervor,/Er bringt der Sänger Dank./Denn deutscher Sang und deutsches Wort/Sie haben guten Klang./Hoch deutsches Lied! Hoch deutsches Wort!/So schallt’s die Welt entlang.48
Während des Elbinger Sängerfestes 1862 gründeten Sänger aus Ost- und Westpreußen den Sängerbund der Provinz Preußen. Er trat die Nachfolge des 1847 gegründeten Preußischen Sängerbunds für die Provinz Preußen an, der seine Tätigkeit wahrscheinlich in der Zeit der Märzrevolution eingestellt hatte. Der Sängerbund der Provinz Preußen trat dem im selben Jahr gegründeten Deutschen Sängerbund bei, so dass die Sänger Westpreußens erstmals in ein Netzwerk auf nationaler Ebene in46 47
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Danziger Zeitung. Nr. 1570 (03.11.1862) [Abendausgabe (AA)]; Ebd. Nr. 2250 (22.01.1864) [AA]. Danziger Zeitung. Nr. 1421 (31.07.1862) [Morgenausgabe]. Vgl. auch den Bericht über das Sängerfest in: Neuer Elbinger Anzeiger. Nr. 1896 (30.07.1862). Geschichte der Thorner Liedertafel (wie Anm. 19). S. 12; Menzel. Geschichte des Handwerkervereins Thorn (wie Anm. 45). S. 5.
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tegriert waren. Westpreußische Sänger waren nun auch deutschlandweit bei Sängerfesten vertreten. Bei der Gründung des Deutschen Sängerbundes in Coburg wurden die Sänger Westpreußens durch Justizrat Dr. Meyer aus Thorn vertreten, der zu den profilierten Mitgliedern der Deutschen Fortschrittspartei in Westpreußen zählte. Meyer war es auch, der 1865 dem Organisationskomitee des ersten Deutschen Sängerbundfestes in Dresden angehörte und während des Festes die Hauptansprache hielt.49 Die enge Verbindung der Sängerbewegung mit der liberaldemokratischen Deutschen Fortschrittspartei hatte zwischen 1858 und 1864 zur Popularität der Sängervereine beigetragen. Als Bismarcks außenpolitische Erfolge ab 1864 den Niedergang der Fortschrittspartei in Westpreußen einleiteten, blieb die Sängerbewegung davon nicht verschont. Zwischen 1864 und 1871 verzeichneten viele Sängervereine Westpreußens rückläufige Mitgliederzahlen. So hatten die Vereinigten Sänger Danzigs 1865 lediglich noch 60 Mitglieder.50 Wie bei anderen Vereinen aus dem Netzwerk der Deutschen Fortschrittspartei kamen auch bei den Sängervereinen die Vereinsaktivitäten vielfach zum Erliegen. Selbst nationale Symbole, zuvor noch elementarer Bestandteil aller Sängerfeste, wurden bei öffentlichen Auftritten und Feiern nur noch selten verwendet. „Auf Wunsch einer einflußreichen Persönlichkeit“, so wusste ein Korrespondent der Danziger Zeitung zu berichten, sei die schwarz-rot-goldene Vereinsfahne während des 8. Preußischen Sängerfests in Königsberg 1867 nicht öffentlich gezeigt worden. Auch in einem Bericht über das lokale Sängerfest im ostpreußischen Hohenstein 1868 ist weder von der Verwendung nationaler Symbole noch von dem Singen nationaler Lieder die Rede.51 Die Farben Schwarz-Rot-Gold, seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Erkennungszeichen der Liberalen und Demokraten, galten nach dem preußischen Sieg über Österreich 1866 als Symbol der Anhänger einer großdeutschen Nationalstaatsgründung, die durch Bismarck ins Abseits gedrängt worden waren. Mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 war einerseits ein zentrales Ziel der Sängerbewegung erreicht: die Schaffung eines deutschen Nationalstaates. Andererseits war der ersehnte Nationalstaat aber durch Bismarcks Politik von „Blut und Eisen“ entstanden, und nicht auf Initiative der deutschen liberaldemokratischen Nationalbewegung. Bismarck hatte seit seinem Amtsantritt als preußischer Ministerpräsident das Feindbild der ost- und westpreußischen liberaldemokratischen Opposition verkörpert. Dass ausgerechnet dieser Ministerpräsident Begründer des deutschen Nationalstaates wurde, war für viele Demokraten in der Provinz Preußen schwer zu akzeptieren. Seit dem Vormärz waren die Sängervereine in Westpreußen Teil des liberaldemokratischen Netzwerks gewesen. Ihre Zugehörigkeit zur politischen Opposi49 50 51
Siebert. Männergesang (wie Anm. 10). S. 140; Rasmus. Volksliedgut (wie Anm. 10). S. 145-148. Königsberger Hartungsche Zeitung. Nr. 168 (21.07.1865). Danziger Zeitung. Nr. 4346 (23.07.1867) [AA]; Königsberger Hartungsche Zeitung. Nr. 153 (03.07.1868).
Sängervereine in Westpreußen zwischen Vormärz und Reichsgründung
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tion hatten die Sänger durch das Singen nationaler Lieder und die Verwendung schwarz-rot-goldener Fahnen bzw. Abzeichen dokumentiert. Das Jahr 1871 bedeutete für die Sängerbewegung somit einen tiefen Einschnitt. Das Streben nach nationaler Identität war fortan nicht mehr auf liberale und demokratische Kreise beschränkt, auch Konservative identifizierten sich in zunehmenden Maße mit dem deutschen Nationalstaat, wie ihn Bismarck geschaffen hatte. Die Sängerbewegung musste sich nun neu orientieren, und auch die westpreußischen Sänger akzeptierten den Bismarckschen Nationalstaat relativ schnell: Nach der Reichsgründung wurden bei den Sängerfesten in Westpreußen die Farben Schwarz-RotGold durch Schwarz-Weiß-Rot ersetzt. ____________________ Zusammenfassung Erste Liedertafeln entstanden in Westpreußen, wie auch in anderen preußischen Provinzen, ab 1815. Mit der Politisierung des Vereinswesens und der Entstehung einer liberalen Bewegung setzte in den 1840er Jahren in Westpreußen eine neue Gründungswelle von Sängervereinen ein. Die neuen Vereine öffneten sich für breitere gesellschaftliche Schichten, insbesondere für Handwerker. Mitglieder waren in Westpreußen allerdings ausschließlich Deutsche. Trotz der Bemühungen um eine soziale Öffnung wurde das Profil der Vereine wie auch in Süddeutschland vor allem aber von arrivierten Bürgern geprägt. Die ab 1847 veranstalteten Preußischen Sängerfeste dokumentieren die Mobilisierungsfähigkeit der westpreußischen Sängerbewegung: Selbst in den Jahren politischer Repression nahmen hunderte Sänger aus allen Städten und auch manchen Dörfern West- und Ostpreußens an den Festen teil. Zudem wurden regionale Sängerfeste veranstaltet. Die Sängervereine waren Teil des liberalen Netzwerks Westpreußens, ohne explizit politisch zu sein. Seit dem Vormärz hatte sich die Sängerbewegung nationalisiert und engagierte sich durch die Pflege des Volksgesangs für die Entwicklung einer kulturellen nationalen Identität. In den 1860er Jahren traten nicht wenige Sängervereine auch für die politische liberaldemokratische Nationalbewegung ein, die 1871, wenngleich auf unerwarteten Wegen, ihr Ziel erreichte. Dadurch wurde jene frühere politisch-gesellschaftliche Orientierung der Vereine obsolet. Streszczenie Towarzystwa śpiewacze w Prusach Zachodnich w okresie między Wiosną Ludów a utworzeniem Rzeszy Podobnie jak w pozostałych prowincjach pruskich pierwsze chóry w Prusach Zachodnich zaczęły powstawać od 1815 roku. Wraz z upolitycznieniem różnego rodzaju towarzystw i zrzeszeń oraz powstaniem ruchu liberalnego w latach 40tych XIX wieku zaczęto zawiązywać nowe towarzystwa śpiewacze. Towarzystwa
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te otwierały się na szersze warstwy społeczne, zwłaszcza na rzemieślników. Jednakże w Prusach Zachodnich ich członkowie byli wyłącznie narodowości niemieckiej. Mimo starania o społeczne otwarcie profil towarzystw kształtowali podobnie jak w południowych Niemczech wyżej postawieni obywatele. Organizowane od 1847 roku Pruskie Festyny Śpiewacze ukazują zdolność mobilizacyjną zachodniopruskiego ruchu śpiewaczego: w samych tylko latach represji politycznych w festynach wzięły udział setki śpiewaków ze wszystkich miast i niektórych wsi Prus Zachodnich i Wschodnich. Oprócz tego organizowano festyny śpiewacze o regionalnym zasięgu. Towarzystwa śpiewacze stanowiły część ruchu liberalnego Prus Zachodnich, nie mając wyraźnie politycznego charakteru. Poczynając od Wiosny Ludów ruch śpiewaczy silnie się znacjonalizował, a uprawiając pieśń ludową, również zaangażował w rozwój jednej kulturowo-narodowej tożsamości. W latach 60-tych XIX wieku niemała część towarzystw śpiewaczych opowiedziała się za narodowym ruchem liberalno-demokratycznym, który w 1871 roku w dość nieoczekiwany sposób osiągnął swój cel. Tym samym niegdysiejsza polityczno-społeczna orientacja towarzystw stała się nieaktualna. Abstract Choral societies in West Prussia between Vormärz and the foundation of the empire The first glee clubs arose in West Prussia from 1815 onwards, as they also did in other Prussian provinces. In the 1840’s a new wave of founding choral societies grew up in West Prussia with the politicisation of clubs and the starting up of a liberal movement. The new clubs opened themselves up for a wide range of social classes, particularly for craftsmen. However, in West Prussia the members were solely German. In spite of efforts to open them up socially the profile of the clubs was influenced above all by citizens who had made it, as was the case in Southern Germany also. The Prussian singing festivals [Preußische Sängerfeste] which were held from 1847 onwards document the ability of the West Prussian singing movement to mobilise: even in the years of political repression hundreds of singers from all towns and also from some villages in West and East Prussia took part in the festivals. In addition, regional singing festivals were held. The singing clubs were part of West Prussia’s liberal network, without being explicitly political. Since the period from 1815 to the revolution of 1848 the singing movement had become very national and was very committed to developing a cultural national identity by cultivating folk singing. In the 1860’s quite a few choral societies also gave strong support to the political liberal democratic national movement, which achieved its goal in 1871, albeit in unexpected ways. In this way the previous political-societal orientation of the clubs became obsolete.
Katarzyna Grysińska-Jarmuła (Bydgoszcz/Polen)
Quellen zur Musikkultur der Stadt Thorn (Toruń) in der Zeit der Polnischen Teilungen: Das Musikleben der Deutschen im 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts Die Geschichte der Stadt Thorn (Toruń) ist von großer Wechselhaftigkeit bestimmt worden: War Thorn bis 1793 Bestandteil des königlich-polnischen Herrschaftsgebiets, fiel die Stadt nach der zweiten Teilung der Rzeczpospolita (Republik Polen) im Jahre 1793 unter preußische Herrschaft und wurde (ebenso wie Danzig [Gdańsk]) formell in die Provinz Westpreußen eingegliedert. 1807 kam Thorn neuerlich zu Polen, das infolge des Friedens von Tilsit vorübergehend als Großherzogtum Warschau wiederhergestellt worden war. Von 1815 an – d.h. nach dem Wiener Kongress – gehörte Thorn dann bis zum Ersten Weltkrieg wiederum zu Preußen, bis die Stadt aufgrund der Beschlüsse des Versailler Vertrages im Jahre 1920 dem wieder entstehenden polnischen Staat zugesprochen wurde. Die gut 100 Jahre umspannende Phase zwischen der nach-napoleonischen Restitution der polnischen Teilung und dem Ende der deutschen Herrschaft soll im Mittelpunkt der folgenden Untersuchungen stehen. Leider enthalten die preußischen Statistiken vom Ende des 18. Jahrhunderts keine Informationen über die ethnische Zugehörigkeit der damals 6.000 Einwohner von Thorn. Eine Erhebung aus dem Jahre 1798 erlaubt jedoch zumindest eine Einschätzung der dortigen Bekenntnisstruktur: Nach diesen Daten sind 60% der Bevölkerung katholisch und 40% protestantisch gewesen, wobei sich dieses Verhältnis im Laufe der Zeit zuungunsten der Katholiken veränderte, denn im Jahre 1816 waren 51% der Einwohner Thorns katholisch und ca. 44% protestantisch. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als auch die nationale Zugehörigkeit erhoben wurde, bildeten die Polen ca. 40% und die Deutschen 60% der Einwohner1, und bei der Volkszählung im Jahre 1910 betrug das Verhältnis schließlich 34% (Polen) zu 66% (Deutsche).2 Thorn war zwar ein wichtiges Zentrum des Musiklebens in der Region, konnte aber einem unmittelbaren Vergleich mit der Musikkultur von Städten wie Danzig, 1
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Historia Torunia [Geschichte Thorns]. 3 Bde. Bd. III. Teil 1. W czasach zaboru pruskiego [Unter der preussischen Teilung] (1793-1920). Red. Marian Biskup. Toruń 2003. S. 78. http://de.wikipedia.org/wiki/Toru%C5%84 (20.02.2010).
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Elbing (Elbląg) und Stettin (Szczecin) keineswegs Stand halten. Ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt sich allerdings eine beeindruckende Entwicklung des musikkulturellen Lebens in Thorn beobachten: Die Zahl musikalischer Aufführungen stieg ebenso wie die Zahl der dort neu entstehenden Kompositionen. Es wurden nun sinfonische Konzerte veranstaltet, und einzelne Männerchöre im Stil der Liedertafel begannen sich herauszubilden. Im Musikleben der Deutschen sind jetzt verschiedene Bereiche zu unterscheiden. Eine wesentliche Rolle spielten die in der Stadt wirkenden privaten Musikgesellschaften, Musikvereine und Chöre. Daneben existierten staatliche oder städtische Institutionen, die Konzerte sowie Aufführungen von Opern und Operetten organisierten. Ein wichtiger Aufführungsort in Thorn war im 19. Jahrhundert der Artushof, von 1904 an dann vor allem das Stadttheater, dessen Repertoire zum überwiegenden Teil aus musikalischen und musiktheatralischen Werken bestand. Schließlich gehörten zur ausdifferenzierten Musikkultur in Thorn auch noch die Musik im kirchlichen Rahmen sowie die musikalischen Aktivitäten an Schulen. Der preußische Staat ergriff bereits ab der Mitte des 19. Jahrhunderts Maßnahmen, die auf die Stärkung des deutschen Kulturlebens, insbesondere in den Städten der Ostprovinzen, abzielten. Zu diesem Zweck erhielten kulturelle Organisationen wie z.B. Musikvereine und Chöre beträchtliche finanzielle Unterstützungen, wodurch ihre Entwicklung gefördert und der Kauf von Noten, Gesangbüchern, Instrumenten oder die Herausgabe von Jubiläumsschriften ermöglicht wurde. Nach der Konstitution des Deutschen Reichs im Jahre 1871 erhöhten sich die Spannungen im deutsch-polnischen Verhältnis durch die zunehmende Germanisierung, die sich insbesondere auf den kulturellen Bereich auswirkte.3 Alle deutschen Aktivitäten wurden von den Regierungsbehörden nun in noch viel höherem Maße finanziell gefördert4, und die polnische und die deutsche Kultur
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Bereits seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts lassen sich allerdings Bemühungen der deutschen Chöre in West- und Ostpreußen nachweisen, an großen musikalischen Veranstaltungen teilzunehmen wie z.B. den Preußischen Musiktagen. Es ist belegt, dass einige (nicht näher benannte) Chöre aus Thorn z.B. an einer im Jahre 1855 in Bromberg organisierten Provinztagung der Chöre teilnahmen. Barbara Janiszewska-Mincer. „Chóry niemieckie w Bydgoszczy w II połowie XIX [Deutsche Chöre in Bromberg in der II. Hälfte des 19. Jahrhunderts]“. Twórcy i animatorzy muzyki na Pomorzu i Kujawach [Schaffende und Initiatoren der Musik in Kujawien-Pommern]. Hg. Akademia Muzyczna im. Feliksa Nowowiejskiego w Bydgoszczy [Feliks-Nowojewski-Musikakademie in Bromberg]. Bydgoszcz 2002. – Während der Preußischen Musiktage in Elbing im Jahre 1862 wurde der Sängerbund der Provinz Preußen gegründet, dem ausschließlich Männergesangsvereine angehörten. Er bestand bis zum Jahre 1906, danach gingen aus dem Verband drei separate Vereine hervor: der Westpreußische Gesangsverband mit Sitz in Danzig, der Preußische Gesangsverband mit Sitz in Königsberg sowie der Ostpreußische Gesangsverband mit Sitz in Insterburg (Wystruć). Eine der Hauptaufgaben dieser Gesangsverbände war die Organisation von General- und Bezirksgesangstagen: Vom 18. bis zum 20. Juli 1910 fand die erste Tagung des Westpreußischen Gesangsverbandes in Thorn statt. Ebd. S. 134. Das Wirken der deutschen Chöre in West- und Ostpreußen wurde von den Bezirks-, Provinz- und Stadtbehörden gefördert, deren Vertreter denn auch zu den wichtigsten Aufführungen der bekannteren Chöre erschienen. Die einzelnen deutschen Chöre demonstrierten ihre patriotische Haltung im Rahmen von größeren Chorgesangsveranstaltungen, aber auch bei ihren eigenen musikalischen Auf-
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entwickelten sich zunehmend isoliert voneinander – zudem boykottierten beide Gruppen für gewöhnlich kulturelle Veranstaltungen der jeweils anderen Seite.5 Das polnische Musikleben in Thorn bis 1920 wurde dagegen fast ausschließlich durch private Initiativen getragen: Es existierten keine polnischen Musikinstitutionen, und es gab nur wenige polnische Musiker, kaum Komponisten, Interpreten, Musiklehrer oder Musikkritiker. Auch andere Zweige der polnischen Musikkultur – die Schulmusik, der private Musikunterricht oder die musikalische Folklore – wiesen einen nur sehr bescheidenen Entwicklungsgrad auf.6 Obwohl das deutsche Kulturleben in Thorn im 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts gegenüber dem polnischen somit deutlich dominierte (was zum einen durch die offizielle Förderungspolitik, zum anderen durch den hohen deutschen Bevölkerungsanteil begünstigt wurde), ist bisher vor allem das polnische Kulturleben der Stadt zum Gegenstand der Forschung geworden, während das deutsche Kultur- und Musikleben in Thorn bislang weitgehend7 unerforscht geblieben ist. – Hauptquellen für die Untersuchung des Musiklebens der Deutschen in Thorn sind Schulakten, Dokumente über die Tätigkeit des Theaters, Plakate, Spielpläne, Chroniken einzelner Vereine und Chöre, Adressbücher sowie Artikel aus der Thorner Presse. Diese Quellen befinden sich heute vor allem im Archiwum Państwowe w Toruń [Staatsarchiv in Thorn]. Daneben existieren aber sowohl in der Thorner Stadtbibliothek, der Książnica Kopernikańska [Kopernikus-Bibliothek]8, als auch in der Thorner Universitätsbibliothek9 Musiksammlungen, die Aufschluss
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führungen, zu denen vor allem Konzerte anlässlich nationaler Jahrestage und Jubiläumsveranstaltungen gehörten. Erwähnenswert ist in dem Zusammenhang, dass die Leitung des ab 1904 in Thorn wirkenden Stadttheaters nach der staatlichen Subventionierung des Theaterbaus dazu verpflichtet wurde, das Theater ausschließlich für Vorstellungen in deutscher Sprache zur Verfügung zu stellen; aus diesem Grund wurde dieses der Germanisierungspolitik verpflichtete Theater von der polnischen Bevölkerung Thorns boykottiert. Stanisław Kwaskowski. Teatr w Toruniu 1920-1939 [Theater in Thorn 1920-1939]. Gdańsk, Bydgoszcz 1975. S. 8. – Werke polnischer Komponisten bildeten übrigens nur einen sehr geringen Teil des Konzertrepertoires der Deutschen, höchstwahrscheinlich wurden nur Kompositionen von Frédéric Chopin, Fürst Anton Heinrich (Antoni Henryk) Radziwiłł und Henryk Wieniawski aufgeführt. – Barbara Zakrzewska-Nikiporczyk. Życie muzyczne Pomorza w latach 1815-1920 [Musikleben in Pomorze in den Jahren 1815-1920]. Gdańsk 1982. S. 96. Ebd. S. 56. Dennoch haben einige Fragestellungen bereits mehr oder weniger detaillierte Ausarbeitungen erfahren: Den Versuch einer ganzheitlichen Erforschung der polnischen und deutschen Musikkultur auf dem Gebiet des Stettiner Pommern (Westpommern – Stettiner Zipfel), Westpreußens (KöniglichPreußen) und Ostpreußens in den Jahren 1815 bis 1920 hat Barbara Zakrzewska-Nikiporczyk in ihrer Arbeit unternommen, die 1982 in Gdańsk erschienen ist. Die Autorin nutzte dafür die zugänglichen gedruckten Quellen sowie bisherige Ausarbeitungen – überwiegend deutsche Arbeiten, von denen viele noch vor dem Jahre 1945 entstanden sind. Leider wurden Artikel aus der Thorner Presse in dieser Arbeit nicht berücksichtigt. In der Książnica Kopernikańska liegen u.a. Druckquellen über die Musikgeschichte in Thorn. Im Gabinet Zbiorów Muzycznych [Kabinett der Musiksammlungen], einer Abteilung der Universitätsbibliothek in Thorn, befindet sich eine große Zahl an Musikpublikationen aus der Zeit vor 1914. Zum größten Teil handelt es sich dabei um Sammlungen aus Westpreußen (ein kleinerer Teil stammt aus Ostpreußen), die von der Bibliothek nach 1945 erworben wurden. Stefan Burhardt, der Mitbegründer und erste Direktor der Bibliothek, unternahm große Anstrengungen, um Sammlungen der früher
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über das musikalische Leben der Deutschen in Thorn geben können. Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang die erhaltenen, in Elbing, Graudenz, Königsberg und Thorn erschienenen Notendrucke, angefangen bei einzelnen Liedern und Gesängen bis hin zu Opern und Operetten. Auch Liederbücher mit patriotischen oder volkstümlichen Liedern sowie Gesangbücher für den Gebrauch in Schulen und Kirchen10 sind erhalten geblieben.
Musikvereine und Chöre Aufschluss über die im 19. Jahrhundert sowie am Anfang des 20. Jahrhunderts existierenden deutschen Chöre und Musikvereine in Thorn geben die erhaltenen Adressbücher der Stadt, in denen Vereinsnamen, der Sitz des Vereins sowie der Name des Kantors, manchmal auch das Gründungsdatum vermerkt sind. Erwähnt das Adressbuch aus dem Jahre 1866 lediglich drei (Thorner Liedertafel, Handwerker-Liedertafel sowie Singverein)11 und das Adressbuch von 1884 vier Vereine (Liedertafel Verein, Liederkranz, Gesangsriege des Turnvereins, Singverein)12, wirken im Jahre 1912 in Thorn zwölf Gemeinschaften, die im betreffenden Adressbuch als Gesang- und Musikvereine bezeichnet werden: Altstädtischer Kirchenchor, Neustädtischer Kirchenchor, Thorner Liedertafel (gegründet 1844), Liedertafel Mocker, Männergesangverein Liederfreunde (gegründet 1892), Liederhort, Liederkranz (gegründet 1879), Mozart Verein, Musikverein, Orchester Verein, Singverein, Vereinigung der Musikfreunde. 13
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tätigen deutschen Musikvereine und Chöre aus der westpreußischen Region in die Sammlungen der Bibliothek zu überführen. Die Universitätsbibliothek besitzt mithin eine umfangreiche Sammlung an Noten, die das Musikrepertoire der Musikvereine und Chöre oder auch des Stadttheaters bildeten. In dieser Musiksammlung befinden sich u.a. die 1826 in Bonn herausgegebenen Noten der Passion Der Tod Jesu von Carl Heinrich Graun, die häufig vom Thorner Singverein aufgeführt wurde. Eine genaue Untersuchung der einzelnen Dokumente, von denen ein Teil mit Stempeln anderer Bibliotheken versehen ist, wird es erlauben, ihre Provenienz zu rekonstruieren und damit auch die Bestände der jeweiligen Musikvereine, Chöre oder sogar Kirchen gesondert zu erfassen. An in Thorn und Graudenz erschienenen Musikalien sowie Lieder- und Gesangbüchern sollen die folgenden Publikationen eigens erwähnt werden: Stanisław Dulinski. Die schöne Thornerin: SalonMazurka für das Pianoforte. op. 21. Leipzig, Thorn 1850; K. F Uebrick. 64 Kirchen-Lieder, welche nach der Verordnung des Königlichen Hochlöblichen Provinzial-Schul-Collegiums zu Königsberg im Einverständnisse mit dem Königlichen Hochwürdigen Consistorium: zum erlernen in den evangelischen Seminarien und in den evangelischen Elementar-Schulen sich vorzugsweise eignen, mit ihren Choral-Melodien. Thorn 1856; K. F. Uebrik. Die 80 Kirchenlieder der 3 Preußischen Regulative mit ihren Choralmelodien. Ausg. mit Noten. 4. Auflage. Thorn [ca. 1852-1859]; Johannes Jedrowski. Eugienia Marsch (für Pianoforte), hochachtungsvoll gewidmet und komponiert für Frau Docktorin Eugienia von Donimirska. Thorn 1878 [Manuskript]; Theodor Hammer. Evangelisches Schul-Gesangbuch. Graudenz 1904 [enthält protestantische Choräle und andere religiöse Lieder]; Erwin Wunsch. Volkslied für eine Singstimme und Pianoforte. Thorn 1890 [enthält deutsche Volkslieder]; Adelheid Grieben. Drei Lutherlieder für Kinder (mit verbindendem Text). Thorn 1911. Allgemeiner Wohnungs Anzeiger für die Stadt Thorn pro 1866 aus amtlichen Quellen. Entworfen und herausgegeben von C. L. Beyerle. Thorn 1866. S. 94. Thorner Adress-Buch für das Jahr 1884. Thorn 1884. S. 121. Adressbuch für Thorn Stadt und Land (1912). Thorn 1912. S. 310. Laut Adressbuch aus dem Jahre 1923 bestanden vor 1914 noch zwei weitere Vereine, der Gesangverein (gegründet 1880) sowie der Posaunenchor (gegründet 1905). Adressbuch der Stadt Thorn für das Jahr 1923. Thorn 1923. S. 59.
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Bedauerlicherweise sind zu den Vereinen über die Angaben in den Adressbüchern hinaus keine weiteren Informationen überliefert; teilweise sind die Angaben zudem (z.B. in Bezug auf die Schreibweise) widersprüchlich. Angesichts der wenigen erhaltenen Archivdokumente und gedruckten Quellen könnte erst eine detaillierte Recherche in der lokalen Presse zu einer gewissen Präzisierung dieser Daten führen – diese steht allerdings noch aus. Eine Ausnahme von der generell schlechten Quellenlage bildet der Singverein, der wohl als aktivster deutscher Chor innerhalb des untersuchten Zeitraums gelten kann. Die Anfänge des Chores reichen in die 20er Jahre des 19. Jahrhunderts zurück: 1824 entstand auf Initiative des Organisten Ludwik Heinrich Ortmann ein 40-köpfiger gemischter Chor, die sogenannte Singstunde. Im Jahre 1840 übernahm der Gymnasiallehrer Siegfried Wilhelm Hirsch die Leitung, und erst dieses Jahr wird als offizielles Gründungsjahr des Singvereins betrachtet. Die öffentlichen Konzerte des Chors fanden in der Kirche Heilige Jungfrau Maria (Marien-Kirche), in der (evangelischen) Neustädtischen Kirche, im Artushof, ab 1904 dann auch im Stadttheater sowie im Rathaus statt. Dank der im Jahre 1865 herausgegebenen Chronik des Chors14 verfügen wir über detaillierte Informationen über die Konzerttätigkeit des Vereins, über die mit ihm zusammenarbeitenden Künstler, das Repertoire und auch über die Musikalien in der Bibliothek des Singvereins.15 Im Jahre 1865 zählte der Chor 95 aktive Mitglieder und gab viele öffentliche Konzerte, auch außerhalb von Thorn, u.a. in Danzig und Bromberg (Bydgoszcz). Er wirkte außerdem bei Konzerten von Solisten mit sowie, ab dem Jahre 1857 unter der Leitung des Rechtsrates Meyer16, auch bei der Aufführung von Opern. Im Thorner Staatsarchiv befindet sich ein drei Archiveinheiten zählender Aktenverbund, der der Tätigkeit des Singvereins gewidmet ist.17 Das in diesen Akten gesammelte Material hat zwar einen fragmentarischen Charakter, immerhin lassen sich auf dieser Grundlage aber die Vor- und Familiennamen der Vereinsmitglieder in den Jahren 1910 bis 1915 rekonstruieren – zumindest jener, die regelmäßig
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Rudolf Brohm. Chronik des Thorner Singvereins zur Feier seines fünfundzwanzigjährigen Bestehens, auf Veranlassung des Vorstandes. Thorn 1865. Den Bibliothekskatalog des Sängerkreises Singverein (bis 1865) fügte Barbara Zakrzewska-Nikiporczyk ihrem Buch als Anhang bei: Katalog biblioteki koła śpiewaczego Singverein (do 1865 roku) [Bibliothekskatalog des Singkreises Singverein (bis zum Jahre 1865)]. Barbara Zakrzewska-Nikiporczyk. Życie muzyczne Pomorza (wie Anm. 5). S. 124. – Man darf vermuten, dass die in der Bibliothek gelagerten Werke überwiegend zum Repertoire des Chors gehörten. Barbara Zakrzewska-Nikiporczyk hat in ihrer Untersuchung über das Musikleben in der Region zwischen 1815 und 1920 herausgearbeitet, dass zum Repertoire der deutschen Chöre u.a. Kompositionen von Beethoven, Mendelssohn, Schumann, Brahms, Liszt, Bruch und Wagner, aber z.B. auch Werke Carl Hirschs und Heinrich Hofmanns zählten. Viele Chöre interpretierten allerdings vor allem einfache Volks- oder Kunstlieder, ein- oder mehrstimmig (überwiegend a cappella), und vermutlich ausschließlich solche von deutschen Komponisten. Ebd. S. 142f. Der Vorname ist unbekannt. Archiwum Państwowe w Toruń [Staatsarchiv in Thorn] (nachfolgend AP-T). „Towarzystwa Niemieckie 1820-1939 [Deutsche Vereine 1820-1939]“. Sign. 1-3 (Singverein).
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ihre Mitgliedsbeiträge entrichteten.18 Zwei der Archiveinheiten betreffen die Finanzabrechnungen des Vereins von 1910 bis 1912 sowie in den Jahren 1919 und 1920. Es handelt sich dabei nicht um eine vollständige finanzielle Dokumentation, enthalten sind jedoch z.B. Angaben über die Höhe der Gagen und über die Ausgaben für Werbung in der lokalen Presse (Thorner Presse, Thorner Zeitung). Die dritte Archiveinheit enthält Dokumente über eine musikalische Aufführung unter Mitwirkung des Singvereins und von Opernsängern aus Stettin am 29. November 1914 in der Garnisonkirche in Thorn. Darüber hinaus enthalten die Akten die Satzung des (bereits erwähnten) Gesangvereins Liederkränzchen aus Mocker (Mokrego)19, ebenfalls ein gemischter Chor. Die Satzung stammt aus dem Jahre 1897 und enthält einerseits Informationen über den Zweck der Gründung und über die Tätigkeit des Chors, andererseits bestimmt sie die Pflichten der Mitglieder. Das Dokument ist handschriftlich verfasst. Mit Hilfe erhaltener gedruckter Quellen kann zudem rudimentär die Geschichte der Thorner Liedertafel rekonstruiert werden20; so sind beispielsweise die Noten eines der Konzerte aus dem Jahre 1861 erhalten geblieben.21 Im Jahre 1913 zählte die Thorner Liedertafel, die vom Direktor des Mädchengymnasiums, Bernhard Maydorn, geleitet wurde, 83 musikalische Mitglieder und 36 Fördermitglieder.22 (Die genannten Archivalien sind freilich anscheinend die einzigen, die das Wirken der Chöre in Thorn im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts dokumentieren.)
Musik im Thorner Theater Eine wichtige Rolle für das musikalische Leben in der Region spielten die Theater, in denen – mit großer Resonanz beim deutschen Publikum – neben Theaterstücken gerade auch Opern und Ballette aufgeführt wurden.23 Die Jahre 1850 bis 1920 können als Blütezeit in der Entwicklung des Musiktheaters bezeichnet werden; sie führte dazu, dass nun in zunehmendem Maße Sänger, Tänzer, Chorsänger, Orchestermitglieder, Kapellmeister und Opernregisseure engagiert wurden. Auf den Spielplänen standen neben bekannten Opern von Gluck, Mozart,
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1910/11 waren es 128 Personen, 1912/13 hatten 164 Personen den Beitrag entrichtet, 1914/15 zählte der Verein 112 (zahlende) Mitglieder. Die Höhe der Beiträge variierte zum Teil je nach Mitglied. Mocker war zunächst ein eigenständiges Dorf, später ein Vorort von Thorn; 1906 wurde es in das Thorner Stadtgebiet eingegliedert. Geschichte der Thorner Liedertafel zur Feier ihres 50-jährigen Bestehens. Thorn 1894. Texte zu dem Conzert der Thorner Liedertafel am 21. II. 1861 zum Besten der Hinterbliebenen Böllners. Thorn 1861. Historia Torunia (wie Anm. 1). S. 302. Zakrzewska-Nikiporczyk. Życie muzyczne Pomorza (wie Anm. 5). S. 34f.
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Beethoven, Weber und Rossini auch zahlreiche Werke zeitgenössischer deutscher, italienischer und französischer Komponisten sowie lokaler Künstler.24 Aufschluss über die Aktivitäten des ab 1904 existierenden Thorner Theaters gibt der Aktenverbund „Teatr w Toruńiu [Theater in Thorn]“25 im Staatsarchiv: Ein Großteil der Dokumente beleuchtet zwar die Tätigkeit dieser Institution nach dem Ersten Weltkrieg, als Thorn wieder ein Teil Polens geworden war; es sind aber auch Theaterprogramme aus den Jahren 1910 bis 1918 erhalten, dank denen sich das deutsche musikalische Repertoire rekonstruieren lässt. Weitere Informationen finden sich in den Einheiten des Aktenverbundes „Akta Miasta Toruńia [Akten der Stadt Thorn]“26, die allerdings erst noch einer eingehenden Untersuchung bedürfen.27 In großem Umfang sind auch Spielpläne, manchmal in Form von Plakaten, erhalten, aus denen sich präzise Angaben zu einzelnen Aufführungen ableiten lassen. Die Analyse des Repertoires weist auf eine Vielzahl musikalischer Produktionen hin (hauptsächlich Operetten, Opern und Vaudevilles), die seit der Entstehung des Theaters gezeigt worden sind. Eine zusätzliche Attraktion boten die von der Theaterdirektion ab dem Frühjahr 1905 organisierten „Opernmonate“ (die zum Teil auch „Musikmonate“ genannt wurden). Aufgrund des großen Interesses am Musiktheater entstanden sogar Überlegungen zur Errichtung eines eigenen Opernhauses in Thorn, zur Umsetzung dieser Pläne kam es aber nicht. Im Thorner Theater fanden auch Konzerte der dortigen deutschen Musikvereine und Chöre (wie z.B. des Singvereins 28) statt, darüber hinaus gab es Gastauftritte von Künstlern aus Berlin, Stettin oder auch Rostock. Eine weitere wichtige Quelle für die Erforschung des städtischen Musiklebens ist die lokale Presse, insbesondere die deutsche, obwohl entsprechende Artikel sporadisch auch in der polnischen Presse erschienen sind. Die wichtigsten Tageszeitungen, die im Zeitraum der preußischen Herrschaft in Thorn erschienen sind, seien im Folgenden genannt: Thorner Wochenblatt (1816-1867), später Thorner Zeitung (1867-1922); Thorner Presse (1883-1906), später Presse (1909-1916); Thorner Ostdeutsche Zeitung (1873-1903); Kreisblatt des Königlichen Preußischen Landratsamts zu Thorn (1834-1863), danach Thorner Kreisblatt (oder Kreis-Blatt, 1864-1900); Kreisblatt für den Land- und Stadtkreis Thorn (1901-1919). Darüber hinaus finden sich Daten über das Musikleben vereinzelt auch in den Mitteilungen des CoppernikusVereins für Wissenschaft und Kunst sowie in der Ostmärkischen Tageszeitung. Insbeson24
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An Popularität gewannen Opern von Verdi, Bizet, Gounod, Mascagni, Leoncavalli, Smetana, Puccini sowie Operetten von Johann Strauss, Suppé und Offenbach. Besonderes Interesse weckten die Musikdramen von Wagner und später die Opern von Richard Strauß. Ebd. S. 106. AP-T. Teatr w Toruniu [Theater in Thorn]. Sign. 93. „Programy teatralne [Theaterprogramme] 1910-1958“. AP-T. Akta Miasta Torunia [Akten der Stadt Thorn] 1793-1919. Sign. 6012-6016. „Wochenspielplan des Theaters 1906-1916“. Auf ihrer Grundlage können z.B. weitgehend die Namen der Theatermitarbeiter und ihre Gagen rekonstruiert werden. Oft wird der Ort angegeben, aus dem der jeweilige Mitarbeiter stammte oder von wo er anreiste, um die Arbeit in Thorn aufzunehmen. AP-T. Akta Miasta Torunia [Akten der Stadt Thorn] 1793-1919 (wie Anm. 26).
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dere seit der Gründung des Thorner Theaters im Jahre 1904 lassen sich der Thorner Presse regelmäßig – und zwar vor allem in der Rubrik ‚Lokalnachrichten‘ [Wiadomości lokalne] sowie in den Reklame- und Anzeigenteilen – Informationen über den Spielplan des Theaters, über das Konzertangebot oder die Besetzung einzelner Vorstellungen, aber auch ausführlichere Rezensionen der Theaterpremieren sowie anderer Veranstaltungen finden. Wie ergiebig diese Quellen sind, hat Agnieszka Majewska nachgewiesen, als sie die Geschichte des Thorner Theaters hauptsächlich auf der Grundlage der lokalen Presse erschlossen hat.29 In den – oftmals anonym erschienenen – Rezensionen wurden beispielsweise die Auswahl des Repertoires, die künstlerische Darbietung, das Niveau der Kompositionen und Interpretationen oder das Bühnenbild einer Kritik unterzogen. Zudem vermag Majewska dank ihren Dokumenten die Premieren der Werke aufzulisten, die im Thorner Theater zwischen 190530 und 1920 gespielt wurden, oder auch detailliert nachzuzeichnen, dass im Rahmen des im Frühjahr 1905 organisierten „Opernmonats“ 28 Opern aufgeführt wurden31, dass auch in der darauf folgenden Saison ein „Opernmonat“ stattfand und eine dritte (und in der Presse zugleich als bislang beste bewertete) Veranstaltung dieser Art dann im Jahre 1908 organisiert wurde.32 – Die „Opernmonate“ wurden übrigens auch in den folgenden Jahren durchgeführt. Dies belegen, wenngleich aus späteren Jahren in den Archiven nur noch wenige Dokumente erhalten sind, zumindest die heute noch verfügbaren Finanzabrechnungen.33
Kirchenmusik Die deutschen Bewohner Westpreußens, die teils der katholischen, teils der evangelischen Konfession angehörten, gründeten in ihren jeweiligen Kirchen zahlreiche Chöre.34 Die Zusammensetzung der katholischen Kirchenchöre war – ab29
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Agnieszka Majewska. „Toruński Teatr jako scena muzyczna (1904-1945) [Das Thorner Theater als Musikbühne (1904-1945)]“. Muzyka w Instytucjach i stowarzyszeniach na Pomorzu i Kujawach [Musik in Institutionen und Vereinen in Kujawien-Pommern]. Hg. Barbara Mielcarek-Krzyżanowska. Bydgoszcz 2004. S. 163-181; dies. „‚Miesiące muzyczne‘ na scenie Thorner Stadttheater w świetle ‚Thorner Presse‘ w latach 1904-1920 [‚Musikmonate‘ auf der Bühne des Thorner Stadttheaters im Licht der Thorner Presse in den Jahren 1904-1920]“. Wydarzenia muzyczne na Pomorzu i Kujawach [Musikereignisse in Pommerellen und Kujawien]. Hg. Akademia Muzyczna im. Feliksa Nowowiejskiego w Bydgoszczy. Bydgoszcz 2006. S. 203-212. In der ersten Theatersaison im Jahre 1904 wurden noch keine Musikwerke aufgeführt. Darunter waren Opern von Richard Wagner (Lohengrin, Tannhäuser ); Wolfgang Amadeus Mozart (Die Zauberflöte), Guiseppe Verdi (Il trovatore), Carl Maria von Weber (Der Freischütz ), Victor Ernst Nessler (Der Trompeter von Säckingen), George Bizet (Carmen), Ruggero Leoncavallo (Pagliacci ) und Albert Lortzing (Zar und Zimmermann, Der Waffenschmied ). Agnieszka Majewska. „Toruński Teatr jako scena muzyczna (1904-1945)“ (wie Anm. 29). AP-T. Akta Miasta Torunia [Akten der Stadt Thorn] 1793-1919 (wie Anm. 26). Dies wird u.a. durch die Mitgliederstatistiken des im Jahre 1883 für ganz Deutschland gegründeten Vereins evangelischer Kirchenchöre belegt: Im Jahre 1884 gehörten dem Verein insgesamt 123 Chöre aus
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hängig von der Bevölkerungsstruktur der jeweiligen Orte – höchstwahrscheinlich polnisch-deutsch gemischt.35 Die Mitglieder der Kirchenchöre in den evangelischen Kirchen bestanden hingegen fast ausschließlich aus Deutschen. Über die Kirchenchöre im 19. Jahrhundert ist nicht viel bekannt: Neben dem rein polnischen Kirchenchor Hl. Cäcilie in der Johannes-Kirche (gegründet im Jahre 1867 von dem Priester Szmeja36) bestanden in der fraglichen Zeit in Thorn mindestens zwei deutsche Kirchenchöre, und zwar der Altstädtische Kirchenchor sowie der Neustädtische Kirchenchor.37 Wichtig für das kirchenmusikalische Leben waren die Musiker Ludwik Heinrich Ortmann, der seit dem Jahre 1820 Organist in der Altstadtkirche war, sowie K. F. Uebrick, der in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts als Organist in der Marien-Kirche arbeitete. In diesen Kirchen, wie auch in der Neustädtischen Kirche, fanden an hohen Festtagen Kirchenkonzerte statt; dabei wurde am Karfreitag – einer alten Tradition des preußischen Hofes in Berlin folgend – am häufigsten die Passion Der Tod Jesu von Carl Heinrich Graun (1755) aufgeführt.38 Genauere Informationen zum deutschen Musikleben im Umfeld der Kirchen fehlen allerdings bislang, weil eine gründliche Durchsicht der entsprechenden Quellen noch aussteht.
Musik in den Schulen Hinweise zum Musikleben in den Schulen in Thorn finden sich vor allem in den Akten einzelner Schulen, die zum größten Teil im Archiwum Państwowe w Toruń 39 sowie in der Książnicy Kopernikańskiej aufbewahrt werden. Musik hatte an den Schulen Thorns eine große Bedeutung.40 Über den Musikunterricht in den Elementarschulen ist zwar nichts bekannt, zweifellos gehörte Musik aber zum Lehr-
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der Provinz Preußen an. Salomon Kümmerle. Enzyklopädie der evangelischen Kirchenmusik. Bd. 1. Gütersloh 1888. S. 732f. Die katholischen Chöre in der Region nahmen meistens den Namen der Hl. Cäcilie an, weil sie organisatorisch seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts der gesamtdeutschen Vereinigung der Hl. Cäcilie angehörten. „Jubileusz chóru przy kościele św. Jana [Jubiläum des Chors an der Johannes-Kirche] 1867-1927“. Słowo Pomorskie [Pommersches Wort] (20.11.1927). S. 12. Adressbuch für Thorn Stadt und Land (1912). Thorn 1912. S. 310. Gottfried Döring. „Beiträge zur Geschichte der Musik in Preußen“. Neue Preußische Provinzialblätter. Bd. 11. Königsberg 1866. S. 261-271; Zakrzewska-Nikiporczyk. Życie muzyczne Pomorza (wie Anm. 5). S. 46. In den Archivverbänden: AP-T. Akta Miasta Torunia [Akten der Stadt Thorn]: Staatliches Gymnasium namens N. Kopernikus in Thorn und Höhere Töchterschule in Thorn (sowie auch zum Städtischen Lyzeum in Thorn). Im Hinblick darauf, dass Gesangsunterricht ein Pflichtfach am Gymnasium und in der Oberschule war, sollte eine detaillierte Analyse der erhaltenen Dokumente durchgeführt werden. Das königliche rescriptum des Ministeriums für Konfessionen vom 14. Juli 1848 regulierte übergreifend und fachspezifisch die Verwaltung und Organisation des Musikunterrichts im preußischen Schulwesen. Damit wurde die Organisationsstruktur der Konservatorien, Universitäten, Seminare, Gesangsschulen, Institute der Kirchen- und Laienmusik sowie des Privatunterrichts festgelegt.
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plan an den höheren Schulen: Die Schüler hatten während ihrer gesamten Ausbildungszeit an diesen Institutionen Gesangsunterricht als Pflichtfach.41 Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang die Höhere Frauenschule (Höhere Töchterschule), vor allem aber das Gymnasium (Königliches Evangelisches Gymnasium zu Thorn).42 Im Königlichen Evangelischen Gymnasium bildete Musik nicht nur einen wesentlichen Teil des Unterrichts, sondern die Einwohner der Stadt hatten sogar die Gelegenheit, viele Schüler-Konzerte zu besuchen. Die Anfänge der Schule reichen bis ins 16. Jahrhundert zurück; nach 1817 hatte das (bis 1920 existierende) Gymnasium eine weitgehende Umstrukturierung erfahren, da es einerseits zwar seinen halbakademischen Charakter verlor und zu einer Oberschule wurde, sich andererseits aber zugleich in eine moderne Bildungsanstalt umwandelte.43 Seit 1825 unter staatlicher Obhut und ab 1879 ausschließlich staatlich finanziert, war es immer eine rein deutsche Schule gewesen44 und stand in dem Ruf, eines der besten protestantischen Bildungsinstitute der Region zu sein. Das bis 1920 existierende Gymnasium erfuhr seit 1817 eine weitgehende Umstrukturierung, da es sich einerseits in eine moderne Bildungsanstalt umwandelte und andererseits seinen halbakademischen Charakter verlor und zu einer Oberschule wurde. Über die Geschichte dieser Schule liegen zahlreiche Quellen vor. Die seit dem Jahre 1825 gedruckten Programme sowie die Schulberichte sind komplett bis zum Jahre 1912 erhalten und werden in der Książnicy Kopernikańskiej aufbewahrt, in der sich auch noch andere Materialien über das Gymnasium befinden. Eine Ergänzung bilden im Staatsarchiv aufbewahrte Schulakten45 sowie in der lokalen deutschen Presse publizierte Artikel. Die Archivmaterialien bieten beispielsweise Informationen über die Zahl der wöchentlichen Gesangsstunden und die Namen von Kantoren und Gesangslehrern; zudem beschreiben sie sogar die Unterrichtsgegenstände: Die Schüler übten Tonleitern und interpretierten Lieder, Choräle und Kompositionen aus der ‚klassischen‘ Musik. Aus den Berichten geht darüber hinaus hervor, dass die Prüfungstage einen musikalischen Rahmen hatten, der zum Teil von den Schülern selbst vorbereitet und auch gestaltet wurde. In Schul41
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Adolf Bernhard Marx. Die Organisation des Musikwesens im preußischen Staate. Berlin 1848; Zitiert aus: Zakrzewska-Nikoporczyk. Życie muzyczne Pomorza (wie Anm. 5). S. 145. Historia Torunia (wie Anm. 1). S. 244. Hier wird im Hinblick auf den Musikunterricht ebenfalls das Städtische Lyzeum eigens genannt. Krystyna Podlaszewska. „Gimnazjum toruńskie w dobie zaboru pruskiego [Das Thorner Gymnasium in der Zeit der preußischen Teilung]“. Księga Pamiątkowa 400 – lecia Toruńskiego Gimnazjum Akademickiego [Gedenkbuch „400 Jahre Thorner Akademisches Gymnasiums“]. Bd. III. Toruń 1968. S. 243. Zur Geschichte des Gymnasiums vgl. auch: Stanisław Tyc. Dzieje Gimnazjum Toruńskiego [Geschichte des Gymnasiums Thorn]. Bd. I und II. Toruń 1928 und 1949; Krystyna Podlaszewska/Stanisław Samonowicz/Zbigniew Zdrójkowski. Krótka historia gimnazjum toruńskiego 1568-1968 [Kurze Geschichte des Thorner Gymnasiums 1568-1968]. Toruń 1968. S. 91. AP-T. Akta Miasta Torunia [Akten der Stadt Thorn] 1793-1919. Sign. 4839-4842 (Die Competenzen des königlichen Gymnasiums 1865-1918); Sign. 4834-4836 (Verwaltung des hiesigen Gymnasiums 1838-1918).
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berichten (wie z.B. für das Jahr 1853/54) sind des Öfteren die Titel der aufgeführten Werke sowie die Texte der damals gesungenen Hymnen und Lieder wiedergegeben. Eine Dokumentation aus der Mitte des 19. Jahrhunderts weist für das Gymnasium immerhin das Bestehen dreier Chöre aus.46 Daneben gab es auch ein Schulorchester, dessen Anfänge bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückreichen. Die Schüler der letzten Klassen des Gymnasiums hatten gemeinsamen Musikunterricht, ein Teil davon war den Proben des Orchesters, ein anderer Teil den Proben des Chors vorbehalten.47 Sowohl der Chor als auch das Schulorchester wurden Anfang des 20. Jahrhunderts von dem Musiklehrer Dorrn48 geleitet und traten bei Schulfeierlichkeiten, Musik- und Literaturabenden sowie Wohltätigkeitskonzerten auf. Es wurden dabei Werke von Haydn, Mozart, Beethoven, Mendelssohn oder auch Chopin öffentlich aufgeführt. Der katholische Schulchor, der den Namen Ambrosius Verein führte, trug zur musikalischen Gestaltung der Gottesdienste in der Johannes-Kirche bei. Die alljährlichen Schulfeiertage waren immer ein Fest für die ganze Stadt, deren Einwohner dann in großer Zahl die Auftritte des Chors und späterhin auch des Schulorchesters besuchten.49 Musik wurde auch an der Mädchenschule (Höhere Töchterschule) unterrichtet, die seit 1820 – zunächst als eine halbprivate Schule – bestand und am Anfang des 20. Jahrhunderts von jenem Bernhard Maydorn50 geleitet wurde, der daneben auch als Kantor mit dem Singverein51 verbunden war. Insgesamt existierten an der Schule 13 Gesangsgruppen, und die Schülerinnen aus den oberen drei Klassen bildeten einen großen Chor, in dessen Rahmen sie auch gemeinsam unterrichtet wurden bzw. probten. Durch besondere, nach außen wirkende musikalische Leistungen tat sich diese Schule ansonsten allerdings nicht hervor.52 Die Direktoren der Schulen haben zusammen mit den Musiklehrern aktiv in den Musikvereinen und Chören in Thorn mitgewirkt und waren manchmal auch Herausgeber von Liederbüchern. Hier wären z.B. Wilhelm Siegfried Hirsch53 und
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AP-T. Akta Miasta Torunia [Akten der Stadt Thorn] 1793-1919. Sign. 4860 (Das Unterrichtswesen). Krystyna Podlaszewska. „Gimnazjum toruńskie na początku XX wieku [Das Thorner Gymnasium am Anfang des 20. Jahrhunderts]“. Księga Pamiątkowa (wie Anm. 43). S. 9. Der Vorname ist unbekannt. Krystyna Podlaszewska. „Gimnazjum toruńskie na początku XX wieku“ (wie Anm. 47). S. 12, 24; dies. „Gimnazjum toruńskie w dobie zaboru pruskiego“ (wie Anm. 43). S. 241. AP-T. Akta Miasta Torunia [Akten der Stadt Thorn] 1793-1919. Sign. 4930 (Verwaltung des Lyzeums/Höhere Töchterschule). – Bevor Maydorn die Schule leitete, war Marie Zimmermann in einem leider nicht näher bekannten Zeitraum im 19. Jahrhundert Musiklehrerin an der Mädchenschule, später dann Frieda Bassel. AP-T. Towarzystwa Niemieckie [Deutsche Vereine] 1820-1939. Sign. 3 (Singverein). AP-T. Akta Miasta Torunia [Akten der Stadt Thorn] 1793-1919. Sign. 4930-4932 (Verwaltung des Lyzeums/Höhere Töchterschule); der Aktenverbund mit der Bezeichnung „Wyższa Szkoła Żeńska w Toruniu [Höhere Töchterschule in Thorn]“ (1818-1919) beinhaltet insgesamt 222 Archiveinheiten. Musiklehrer am Gymnasium sowie Komponist (vgl. Anm. 15), Dirigent (Kantor) in der HandwerkerLiedertafel und Mitverfasser des Schulgesangbuches.
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Rudolf Brohm54 zu nennen, die als Koautoren ein deutsches Schulgesangbuch mit patriotischen, religiösen und populären Liedern publiziert haben.55 Zu den Personen, die einen bedeutenden Einfluss auf das deutsche Musikleben in Thorn hatten, zählten neben Bernhard Maydorn überdies auch die Direktoren des Theaters, Karol Schroeder und Hugo Hasskerl, sowie herausragende Organisten der Thorner Kirchen wie K. F. Uebrick oder der bereits mehrfach erwähnte Ludwik Heinrich Ortmann. Eine Musikschule ist trotz einiger Bemühungen zu Anfang des 20. Jahrhunderts in Thorn übrigens nicht gegründet worden.56 *** Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass im 19. Jahrhundert vor allem die Musikvereine und Chöre – allen voran der Singverein – in Thorn eine bedeutende Rolle spielten und ab dem Jahre 1904 das Stadttheater zum Zentrum des Musiklebens avancierte. Obwohl zahlreiche Quellen vorhanden sind, die Aufschluss über das Musikleben der Deutschen geben könnten, sind etliche davon, wie z.B. die reichhaltigen Musiksammlungen der Universitätsbibliothek, größtenteils noch unerforscht. Die Mitarbeiter des Gabinetu Zbiorów Muzycznych [Kabinett der Musiksammlungen] haben für die nächste Zeit immerhin die Publikation von Katalogen und Verzeichnissen der Sondersammlungen angekündigt. Zudem nehmen die beiden großen Bibliotheken, sowohl die Universitäts- als auch die KopernikusBibliothek, an einem Projekt teil, das im Rahmen der Kujawsko-Pomorskiej Biblioteki Cyfrowej [Kujawisch-Pommersche Digitalbibliothek]57 zur Digitalisierung von wichtigen Teilen ihrer Sammlungen führen soll. Gegenwärtig sind in diesen Beständen beispielsweise schon die Gesangbücher digital zugänglich, die im 19. Jahrhundert in Thorn herausgegeben wurden. Einer schrittweisen Digitalisierung wird zudem auch die Thorner Presse aus dem 19. Jahrhundert zugeführt werden. (Dieser Prozess bezieht sich zunächst allerdings nur auf die polnische Presse.) Eine intensivere Analyse der erhaltenen Quellen würde mit großer Wahrscheinlichkeit ein noch erheblich anschaulicheres Bild des deutschen Musiklebens im 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts zu zeichnen erlauben und eine bessere Übersicht 54
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Rudolf Brohm war der Sohn von Karol Fryderyk August Brohm, dem Direktor des Thorner Gymnasiums in den Jahren 1817 bis 1834. Rudolf war Historiker und Theologe, trat in die Fußstapfen seines Vaters und arbeitete als Lehrer im Thorner Gymnasium. Darüber hinaus war er Gründer des Vereins für den Bau des Kopernikusdenkmals sowie Gründungsmitglied des im Jahre 1853 gegründeten deutschen Coppernikus-Vereins für Wissenschaft und Kunst. Er verstarb im Jahre 1887. Vgl. Magdalena Niedzielska. „Rudolf Brohm“. Toruński Słownik Biograficzny [Thorner biografisches Wörterbuch]. Red. Krzysztof Mikulski. Bd. II. Toruń 2000. S. 49f. Rudolf Brohm/Wilhelm Siegfried Hirsch. Schul und Turn Liederbuch. Thorn 1878. AP-T. Akta Miasta Torunia [Akten der Stadt Thorn] 1793-1919. Sign. 5069 (Einrichtung einer Musikschule, 1901). http://kpbc.umk.pl/dlibra (20.02.2010).
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über die musikalischen Vereine, das von ihnen gepflegte Repertoire, die Musiker und Publikationen sowie die in Thorn aufbewahrten deutschen Musikalien gewähren. Solche Ausarbeitungen müssen jedoch späteren Studien vorbehalten bleiben. ____________________ Zusammenfassung Im 19. und frühen 20. Jahrhundert war das Musikleben in Thorn ebenso wie auch in anderen Städten Westpreußens vor allem von deutschen Einflüssen bestimmt. Thorn gehörte zwar nicht zu den führenden Kulturzentren auf diesem Gebiet, dennoch kann man hier von konkreten und bedeutenden Errungenschaften sprechen. Während dieser Zeit entwickelte sich das Musikleben in vier Bereichen: Gesangsvereine, Gesangszirkel und Chor-Vereinigungen entfalteten umfangreiche Aktivitäten; öffentliche Musikveranstaltungen hatten zunächst im Artushof ihren Ort, nach Gründung des städtischen Theaters im Jahre 1904 fanden dort Konzerte sowie Aufführungen mannigfacher musiktheatralischer Werke (nebst eines jährlichen Festivals) statt. Eine intensive Pflege der Kirchenmusik (einschließlich Gründung und Leitung entsprechender Chöre) ließen sich die Organisten, insbesondere diejenigen der Altstädtischen sowie der Neustädtischen Kirche, angelegen sein; in den Schulen, namentlich im Königlichen Evangelischen Gymnasium zu Thorn, aber auch in der Höheren Töchterschule, wurde ebenfalls erhebliches Gewicht auf die Vermittlung einer umfassenden musikalischen Bildung gelegt. – Das erhaltene Quellenmaterial ist fragmentarisch und von sehr unterschiedlicher Provenienz, zudem ist es größtenteils noch nicht ausgewertet worden. Gleichwohl vermag der vorliegende Beitrag aber schon (zumindest in Andeutungen) zu verdeutlichen, welche wertvollen Erträge sich aus einer systematischen Erschließung der vielfältigen verfügbaren Quellen – darunter Schulakten, Unterlagen aus der Theaterverwaltung, Plakate, Spielpläne, Chroniken von einzelnen Vereinen und Chören sowie Adressbücher und nicht zuletzt die deutschsprachige Thorner Presse – gewinnen lassen. Streszczenie Źródła do życia muzycznego w Toruniu w okresie rozbiorów. Życie muzyczne Niemców w XIX i na początku XX wieku W Toruniu podobnie jak w innych miastach Pomorza Zachodniego w XIX wieku i na początku wieku XX życie muzyczne Niemców zdecydowanie górowało nad życiem muzycznym Polaków. Wprawdzie Toruń nie należał do wiodących w tej dziedzinie ośrodków kulturalnych, nie mniej można z całą pewnością mówić o konkretnych i znacznych osiągnięciach. Życie muzyczne Torunia rozwijało się praktycznie na czterech płaszczyznach: w ramach kilku licznych i prowadzących
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zakrojoną na szeroką skalę działalności towarzystw i kół śpiewaczych (w tym także chórów); w teatrze miejskim powstałym w 1904 roku, w którym poza tym, że organizowano tzw. miesiące operowe, regularnie i to w niemałej ilości grywano sztuki muzyczne a wcześniej, aczkolwiek na mniejszą skalę, w Dworze Artusa; w kościołach, przede wszystkich w postaci chórów i pod opieką organistów oraz w szkołach, zwłaszcza w gimnazjum królewskim i szkole żeńskiej, gdzie wychowanie muzyczne było bardzo ważne. Zachowany materiał źródłowy jest niekompletny, nie miej bardzo różnorodny i co najważniejsze nadal czeka na swoich badaczy. Tutaj przedstawiony artykuł stara się przynajmniej ogólnie pokazać, że na podstawie badań nad dostępnymi nam źródłami można dojść do bardzo interesujących i ważnych wyników. Do takich źródeł należą akta szkolne, dokumentacja dotycząca funkcjonowania teatru, plakaty, repertuary, kroniki poszczególnych towarzystw i chórów, księgi adresowe oraz niemieckojęzyczna prasa toruńska. Abstract Sources relating to music culture of the town Thorn (Toruń) in the period of the Polish divisions: the musical life of the Germans in the 19th and at the beginning of the 20th century In the 19th and early 20th centuries the musical life in Thorn was determined above all by German influences, just as it was in other cities in West Prussia. Thorn was actually not one of the leading cultural centres in this area and yet one can speak here of concrete and significant achievements. During this period musical life developed in four areas: choral societies, singing circles and choir clubs developed wide-ranging activities; the place for public musical events was originally in the Artushof and after the founding of the municipal theatre in 1904 concerts and performances of manifold musical and theatrical works (as well as an annual festival) took place there. The organists, particularly those of the old municipal and new municipal church, took care that church music was cultivated intensively (including the founding and leading of appropriate choirs); in the schools, namely in the Königliches Evangelisches Gymnasium zu Thorn [Thorn Royal Protestant Grammar School], but also in the Höhere Töchterschule [Higher school for Daughters], a lot of emphasis was placed on giving a comprehensive musical education. – The source material is fragmentary and comes from a lot of different places and, in addition, most of it has not been evaluated. At the same time this essay can illustrate (at least in the form of allusions) which valuable gains can be made from a systematic opening up of the manifold available sources – among other things school files, documents from the theatre administration, posters, performance plans, histories of individual clubs and choirs and address books and, last but not least, the German-speaking Thorner Presse.
KULTURWISSENSCHAFTLICHES INTERMEZZO
Katja Bernhardt (Berlin/Deutschland)
‚Provinz‘ – ‚Heimat‘ – ‚Nation‘. Die Inventarisation von Bauund Kunstdenkmälern in Danzig und Westpreußen (1879-1945) und ihre Bearbeitung in der BRD1 Matthias Noell bezeichnete das Inventar als „ein Substitut für eine Sammlung nicht sammlungsfähiger Artefakte“.2 Der Raum, innerhalb dessen die ‚Sammlung‘ zu bestimmen ist, scheint zumeist genau umrissen, folgt doch die Inventarisation in der Regel einer administrativen verwaltungstechnischen Prämisse. Sie erhebt dabei den Anspruch, die ‚Sammlung‘ in ihrer Gesamtheit für das jeweilige Gebiet zu erfassen und in den Inventaren, den gedruckten Ergebnissen der Inventarisation, zu repräsentieren. Nimmt man jedoch die allein für Preußen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1940er Jahre in mehreren hundert Bänden erschienenen Inventare zur Hand, erweist sich die unterstellte Vollständigkeit sowohl ihrem Gehalt wie auch ihrer Präsentation nach als wandelbar. Die ‚Sammlung‘ wird stets modifiziert, erweitert, neu geordnet, und dies weniger aufgrund fortschreitenden Verfalls oder wegen der Zerstörung von Denkmälern, sondern vielmehr durch den Umstand, dass der Sammlungswert der Artefakte, also ihre Denkmalwürdigkeit oder Denkmalunwürdigkeit, von den wechselnden Akteuren vor dem Horizont des jeweiligen historischen Kontexts immer wieder neu verhandelt wird. Dies gilt auch – sogar in einem besonderen Maße – für die hier zur Untersuchung gewählten Denkmalinventarisationen in der ehemaligen preußischen Provinz Westpreußen, der Freien Stadt Danzig und im Reichsgau DanzigWestpreußen in den Jahren 1879-1945 und deren Bearbeitung nach 1945. Als historischer Ausgangspunkt der Analyse der Entwicklung und Wandlung dieses Wissen generierenden und strukturierenden Verfahrens soll hier der Beginn des 19. Jahrhunderts gewählt werden. Dies gründet auf der Beobachtung der bisherigen Forschung, wonach in diesem Zeitraum eine Konsolidierung eines neuen Verständnisses von Denkmal und Denkmalpflege beobachtet werden kann, die in enger Verflechtung mit der Herausbildung nationalstaatlicher Konzepte verlief. So wurde in dem für die hier vorliegende Studie politisch-historisch 1
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Der vorliegende Beitrag ist die leicht veränderte Bearbeitung eines polnischsprachigen Artikels der Verfasserin: „Inwentaryzacja zabytków sztuki między nauką i polityką: Prusy Zachodnie i Wolne Miasto Gdańsk“. Biuletyn Historii Sztuki 72 (2010). H. 3. S. 263-291. Matthias Noell. „Die Erfindung des Denkmalinventars. Denkmalstatistik in Frankreich und Deutschland im 19. Jahrhundert“. Kunst + Architektur in der Schweiz 59 (2008). H. 1. Themenheft: Territorien der Kunst – Denkmaltopographien in Europa. S. 19-25, S. 25.
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zunächst relevanten Königreich Preußen im Zuge der dortigen Verwaltungsreformen 1809/10 der Denkmalpflege erstmalig ein, wenn auch noch sehr bescheidener, Platz in der staatlichen preußischen Bauaufsicht eingeräumt. Der mit dieser Aufgabe betraute Karl Friedrich Schinkel (1781-1841) legte sodann 1815 ein Memorandum vor, welches als Schlüsseldokument für dieses neue Denkmalverständnis gilt und in welchem er zum Zwecke der „Erhaltung aller Denkmäler und Alterthümer unseres Landes“ die Zusammenstellung von Denkmalverzeichnissen vorschlug.3 Begreift man hiervon ausgehend das Memorandum zugleich als Moment, in dem die Idee der modernen Denkmalinventarisation fixiert wurde, so lässt sich annehmen, dass darin Setzungen enthalten sind, auf denen dieses bis heute praktizierte Verfahren konzeptionell gründet und die somit als Referenzpunkte für die Untersuchung des konzeptionellen und praktischen Wandels der Denkmalinventarisation dienen können. Um diese Annahme für die Untersuchung praktikabel werden zu lassen, sollen zunächst diese Setzungen herausgearbeitet und dabei hinsichtlich ihres als konstitutiv angenommenen Kerns einerseits und der als historisch wandelbar zu bestimmenden Variablen andererseits differenziert werden. (1) Ausgangspunkt der Überlegungen Schinkels war ein besonderer Wert, den er den zu inventarisierenden und zu schützenden Objekten unterstellte. Neben seiner Wertschätzung für die Historizität eines Objektes begriff er es zudem als Veranschaulichung von den Interessen Einzelner oder einzelner Institutionen übergeordneten Ideen. Diese Ideen umriss Schinkel mit den Begriffen der Nation und des Vaterlandes. Während die prinzipielle Annahme eines Denkmalwertes wie auch dessen Bestimmung auf eine übergeordnete Idee hin als Voraussetzung der Inventarisationen gelten dürfen, so wird deren Konkretisierung jedoch durch das jeweilige historische Umfeld bedingt. (2) Anlass der Forderung nach einem besonderen Denkmalschutz war eine Bedrohung, der Schinkel dieses als national bestimmte Erbe durch Verfall und Veräußerung ausgesetzt sah. In dieser Feststellung einer konkreten oder aber der Annahme einer potentiellen Bedrohung der Denkmäler gibt sich ein weiteres konstitutives Element der Denkmalinventarisation zu erkennen. In Rückbezug auf die unter (1) benannte übergeordnete Idee ist sie ein Mittel, das ‚Eigene‘ – im Falle des Memorandums: der Nation – zu bestimmen, zu dokumentieren und anzueignen. Zu untersuchen bleibt somit nicht nur, welche Bedrohungen des Bestandes wahrgenommen und wie diese zu unterschiedlichen Zeiten jeweils eingeschätzt wurden, sondern auch wie solche potentiellen Gefährdungen im Sinne dieser Aneignung auf die Inventarisation, ihren Gegenstand und ihre Präsentation zurückwirkten.
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Karl Friedrich Schinkel. „Memorandum zur Denkmalpflege [1815]“. Denkmalpflege. Deutsche Texte aus drei Jahrhunderten. Hg. Norbert Huse. München 1984. S. 70-73, S. 70f.
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(3) Da die Denkmalinventarisation als Teil der Denkmalpflege von Schinkel als ein über dem Einzelnen stehendes öffentliches Interesse einer Gemeinschaft verstanden wurde, erkannte er im Staat jene Instanz, die für diese Aufgabe zu verpflichten sei. Die damit betrauten Institutionen und Personen handeln somit im Dienst der und stellvertretend für die Gemeinschaft. Zu untersuchen ist, welche institutionellen Formen für die Denkmalinventarisation gefunden wurden, in welche Hierarchien diese eingebunden waren, wer für die Durchführung gewonnen wurde und von welchen Interessen die Inventarisation gelenkt wurde. (4) Schinkel folgte bei alledem in seinem Memorandum dem Glauben, dass von den Denkmälern eine gestaltende Kraft ausgehe, die auf die Gegenwart und die Zukunft wirke. Der Denkmalinventarisation kam hierbei die Aufgabe zu, Kenntnis von den zu schützenden Objekten und deren Zustand zu erlangen und einen Überblick über deren Bestand zu gewährleisten. Sie war somit in erster Linie Grundlage für die praktische Denkmalpflege. Jedoch unterliegen nicht nur die methodische und die technische Bewältigung dieser Kernaufgabe der Inventarisation und die Art und Weise der Bereitstellung der Inventarisationsergebnisse einer stetigen Wandlung. Vielmehr wird, ausgehend von der grundsätzlichen Annahme einer Wirksamkeit der Denkmäler auf Gegenwart und Zukunft, die Zielstellung dieser Wirkung immer wieder neu justiert. Es gilt also im Folgenden, die Denkmalinventarisation in ihrem jeweiligen Bezug auf eine übergeordnete Idee, die Imagination einer Bedrohung der mit dieser Idee verknüpften Denkmäler, ihre personellen und institutionellen Strukturen und ihre jeweils spezifischen Zielsetzung samt der damit verbundenen Verfahren und Präsentationsweisen hin zu untersuchen. Da die Denkmalinventarisation als wesentliche Voraussetzung für die Denkmalpflege gilt, wird auf diese Weise zugleich das Feld beschrieben, innerhalb dessen sich der Denkmalbegriff, der sich einer eindeutigen theoretischen Definition entzieht, in der Praxis immer wieder neu konstituiert und vermittelt.4 4
Vgl. zusammenfassend zur Frage und Entwicklung des Denkmalbegriffs: Winfried Speitkamp. Die Verwaltung der Geschichte. Denkmalpflege und Staat in Deutschland 1871-1933. Göttingen 1996 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. Bd. 114). S. 83-101, daselbst zur Geschichte der Inventarisation S. 201-213. Darüber hinaus geben einen Überblick zur Entwicklung der Denkmalinventarisation (vorrangig in Deutschland): Alexander von Wussow. Die Erhaltung der Denkmäler in den Kulturstaaten der Gegenwart. Berlin 1885, zur Inventarisation vornehmlich in Preußen insbesondere S. 44ff.; Ernst Polaczek. „Die Denkmäler-Inventarisation in Deutschland“. Deutsche Geschichtsblätter 1 (1900). S. 270-290; ders. „Der Fortgang der Denkmäler-Inventarisation“. Deutsche Geschichtsblätter 3 (1902). S. 137-144; Hermann Lezius. Das Recht der Denkmalpflege in Preußen. Begriffe, Geschichte und Organisation der Denkmalpflege nebst sämtlichen gesetzlichen Vorschriften und Verordnungen der Verwaltungsbehörden einschließlich der Gesetzgebung gegen die Verunstaltung von Ortschaften und landschaftlich hervorragenden Gegenden. Berlin 1908. S. 35-42; Paul Ortwin Rave. „Anfänge und Wege der deutschen Inventarisation“. Deutsche Kunst und Denkmalpflege 11 (1953). S. 73-90; Friedrich Mielke. „Zur Genesis der KunstdenkmälerInventarisation“. Zeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege (1975). H. 2. S. 134-143; Herbert Dellwig. „Inventarisation. Geschichte und Praxis einer öffentlichen Aufgabe“. Denkmalpflege in Rheinland-Pfalz. Jahresberichte 1979-1981. Worms 1982. S. 100-110; Noell. „Die Erfindung des Denkmalinventars“ (wie Anm. 2); Christine Meyer. „VII. Erfassung von Denkmälern“. Handbuch Denkmalschutz und Denkmalpflege – einschließlich Archäologie. Recht, fachliche Grundsätze, Verfahren, Finanzierung. Hg. Dieter J. Martin, Michael Krautzberger. München 32010. S. 222-231, insbesondere S. 226ff.
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Für die nachfolgende Studie ist es dabei grundlegend, dass diese Aspekte nicht nur in ihrer jeweiligen historischen, sondern auch ihrer räumlichen Bedingtheit begriffen werden. Bereits Ernst Polaczek konstatierte in seiner im Jahr 1900 vorgenommenen Zusammenschau der bis dahin geleisteten Denkmalinventarisationen: „[…] und so gleichen sich auch nicht zwei von den 26 deutschen Inventarisationswerken vollständig. Fürwahr, eine sonderbare Blüte am Baume der deutsche Einheit!“5 Gewiss ist Horst Ende zuzustimmen, dass diese Differenz in erster Linie in der Unterschiedlichkeit des jeweiligen „Denkmalbegriffs und den Ansprüchen und Erfordernissen, die man aus dem öffentlichen Raum an sie [die Denkmäler, Anm. d. Verf.] stellte“6, ihre Begründung hat. In Fortsetzung dieses Gedankens möchte ich diese Differenz, d.h. die jeweilige Spezifik der Inventare, an den Ort respektive die Region zurückbinden und behaupten, dass sie in Wechselwirkung von zeitgenössischen, dabei regional oder lokal bestimmten Interpretationsinteressen und -bedürfnissen auf der einen Seite und den hierfür gewählten Andockpunkten in Form der Denkmäler, die ihrerseits in ihrer Entstehung und Erscheinung historisch und geografisch spezifisch sind, auf der anderen Seite in mindestens zweifacher Hinsicht räumlich-geografisch begründet ist. Versteht man die Denkmalinventarisation als ein in diesem Sinne bedingtes, somit durchaus gebundenes, jedoch innerhalb dieser Koordinaten bewegliches System sich wandelnder Konstellationen, so erweist sich der hier zur Untersuchung stehende Gegenstand als besonders interessant. Dies betrifft sowohl die multiethnische, -nationale und -konfessionelle Konfiguration des Untersuchungsgebietes, die eine mehrschichtige Folie für einen sich wandelnden Denkmalbegriff bildete, wie auch den Umstand, dass das Gebiet in dem hier berücksichtigten Zeitraum eine dichte Folge gravierender historischer Einschnitte erlebte, sich also die Pflege der Denkmäler in einem mit politischen Spannungen aufgeladenen Umfeld positionieren musste.7 Da die Denkmalinventarisation in ihrer organisatorischen Durchführung an administrative Einheiten gebunden war, bilden zunächst diese die Angelpunkte für die nachfolgende Darstellung und deren Gliederung, beginnend mit der Provinzialverwaltung der preußischen Provinz Westpreußen, über die Freie Stadt Danzig bis hin zum Reichsgau Danzig-Westpreußen. Indem die Darstellung dem Faden des durch die Quellen repräsentierten Diskurses weiter folgt, wird die Studie schließlich über die Auflösung dieser Strukturen, d.h. über das Jahr 1945 und den ursprünglichen Bezugsraum, hinaus fortgeführt und auch der Umgang mit der Inventarisation der nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland lebenden 5 6
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Polaczek. „Die Denkmälerinventarisation in Deutschland“ (wie Anm. 4). S. 287. Horst Ende. „Inventarisierung und Inventare. Eine Einführung“. Erfassen, Dokumentieren, Bewahren. Zur Denkmalerinventarisation in Mecklenburg und Vorpommern. Hg. Landesamt für Denkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern. Schwerin 1997. S. 4-7, S. 5. Für die Studie wurden Quellenbestände im Archiwum Państwowe w Gdańsku (APG), im Bundesarchiv Berlin (BArch), in der Dokumentesammlung des Herder-Instituts Marburg (DSHI) und im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin (GStA PK) ausgewertet.
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westpreußischen Erinnerungsgemeinschaft nachgezeichnet. Zugleich liegt in dieser Verengung – es sei dies zu Beginn eingestanden – das Defizit der Studie, die ihrem theoretischen Anspruch erst gerecht würde, wenn sie auch die polnischen Aktivitäten zur Denkmalerfassung im betreffenden Gebiet einbezöge. Dies erfolgt nur punktuell und dabei ausgehend vom dominierenden Diskurs. Die notwendige Ergänzung der vorliegenden Studie um eine eingehendere Untersuchung der polnischen Inventarisierung der Bau- und Kunstdenkmäler im betreffenden Gebiet ist weiteren Studien überlassen.
Die Inventarisation unter der Obhut der Provinzialverwaltung der preußischen Provinz Westpreußen Für den Beginn des 19. Jahrhunderts lässt sich im hier zu besprechenden Gebiet eine Vielzahl von Aktivitäten, die auf die Erfassung und die Erhaltung von Bauund Kunstdenkmälern gerichtet waren, rekonstruieren.8 Die Initiativen hierzu gingen von der zentralen preußischen Regierung aus – so unternahm Schinkel selbst im Jahr 1834 eine Dienstreise, auf der er sich u.a. einen Eindruck von dem Bestand und Zustand der Baudenkmäler in den nordöstlichen Provinzen Preußens verschaffte9 –, ebenso aber auch von der Provinzialverwaltung. Hierbei ist insbesondere das Interesse des Oberpräsidenten Heinrich Theodor von Schön (1773-1856) an der Bewahrung der Marienburg erwähnenswert.10 Alle diese Initiativen blieben jedoch Einzelaktivitäten, die weit hinter den in Schinkels Memo-
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Es soll an dieser Stelle darauf verwiesen werden, dass bereits in der frühen Neuzeit insbesondere in der Stadt Danzig bemerkenswerte Dokumentationen entstanden, die in Teilen inventarisatorischen Charakter aufweisen. Es wäre lohnenswert diese Quellen in einer begrifflich und methodisch kritischen Studie der hier vorgelegten Untersuchung gegenüberzustellen. Dies betrifft in erster Linie die Arbeiten von Bartel Ranisch. Beschreibung aller Kirchen-Gebäude der Stadt Dantzig. Dantzig 1695; ders. Beschreibung derer vornähmsten Gebäude in der Stadt Dantzig. Vollständige Textedition. Hg. und eingeleitet von Arnold Bartetzky/Detlev Kraack. Marburg 1997 (= Quellen zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas. Bd. 1). Eva Börsch-Supan [unter Mitwirkung von Zofia Ostrowska-Kębłowska]. Karl Friedrich Schinkel. Lebenswerk. Bd. 18: Die Provinzen Ost- und Westpreußen und Großherzogtum Posen. Berlin 2003. S. 617-709. In Anregung durch den Oberpräsidenten Theodor von Schön entstand ein Inventar der Marienburg (Johann Gustav Büsching. Das Schlos der deutschen Ritter zu Marienburg. Berlin 1823) sowie eine Sammlung von Grundrissen und Ansichten, die Johann Michael Guise von Wehranlagen, Ordensburgen und Städten erstellte und die in den sogenannten Königsberger Burgwallakten aufbewahrt wurden. Von den etwa 600 Zetteln haben sich 293 im Archiv des Museums für Vor- und Frühgeschichte Berlin erhalten. Siehe zu den sogenannten Guise-Zetteln: Ludwig Retty. „Ostpreußens Bau- und Kunstdenkmäler“. Ostdeutsche Monatshefte 15 (1934/35). H. 5. S. 314f.; Michael Malliaris. „Auf dem Müll gelandet. Ein Teil der Prussia-Sammlung wurde schließlich nach Berlin gerettet“. Das Ostpreußenblatt/Preußische Allgemeine Zeitung (30.08.2003); „Das neue Prussia-Fundarchiv in Berlin“. Pressemitteilung des Museums für Vor- und Frühgeschichte Berlin. www.smb.spk-berlin.de/smb/presse/details.php?objID=23002& (20.02.2010). Für den Hinweis auf diesen Quellenbestand danke ich Marian Arszyński. Zu den Aktivitäten von Schöns in Bezug auf die Marienburg vgl. Bernhard Schmid. Oberpräsident von Schön und die Marienburg. Halle 1940 (= Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, Geisteswissenschaftliche Klasse. Bd. 15/16. H. 4).
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randum formulierten Zielstellungen einer umfassenden und systematischen Erfassung der Bau- und Kunstdenkmäler zurückblieben.11 Mit der Berufung Ferdinand von Quasts (1807-1877) zum ersten preußischen Konservator im Jahr 1843 schien zunächst auch die Inventarisation der Bau- und Kunstdenkmäler einen neuen Impuls zu erhalten. Allerdings führten weder die an die Regierungen in den Provinzen herangetragenen Initiativen12 noch das zentral durch von Quast in Angriff genommene Projekt eines Inventars der „Denkmale der Baukunst in Preußen“13 oder die Initiativen der Danziger Bürgerschaft zu einer Dokumentation des historischen Baubestandes der Stadt14 zu den gewünschten systematischen und umfassenden Ergebnissen. Den Durchbruch brachten erst die preußischen Dotationsgesetze von 1875. Diese überwiesen den Provinzen eine größere Eigenverantwortung in der Selbstverwaltung, worin auch die Pflege des architektonischen und künstlerischen Erbes eingeschlossen war. Als Ergebnis dieser Dezentralisierung wurde in den folgenden Jahrzehnten die Inventarisation der Bau- und Kunstdenkmäler erfolgreich von den Provinzialverwaltungen durchgeführt.15 In Vollzug der Dotationsgesetze berief der Landtag der 1878 wiederbegründeten Provinz Westpreußen am 28. Mai 1879 eine Kommission für die Einrichtung eines westpreußi11
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Bernhard Schmid nennt weiterhin in einem Bericht (ders. Die Denkmalpflege in Westpreussen 1804-1910. Danzig 1910 [= Abhandlungen zur Landeskunde der Provinz Westpreussen. Bd. 14]. S. 52) eine erste Zusammenstellung der vorhandenen Baudenkmäler in den Berichten der Landräte von 1838. Auf die Erstellung eines Denkmalverzeichnisses für den Regierungsbezirk Marienwerder bis 1844 verweist: Felicitas Buch. Studien zur preußischen Denkmalpflege am Beispiel konservatorischer Arbeiten Ferdinand von Quasts. Worms 1990. S. 48. 1858 forderte der preußische Minister für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten bei der Königlichen Regierung Marienwerder eine Übersicht über herausragende Backsteinbauten an (GStA PK, XIV. HA Westpreußen Rep. 181 Regierung zu Marienwerder, Kunst-Altertümer. Nr. 744. Bl. 1). Die in Reaktion darauf von den Kreisbauinspektoren zusammengestellten Tabellen befinden sich in: GStA PK, XIV. HA Westpreußen Rep. 181 Regierung zu Marienwerder, Kunst-Altertümer. Nr. 744. Bl. 52-60. 1870 wurden die Oberpräsidenten der Provinzen durch den preußischen Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten zum Bericht über die Denkmalerfassung aufgefordert. In diesem Zusammenhang wurde Baurat Ehrhardt mit der Zusammenstellung einer Denkmalliste für den Regierungsbezirk Danzig-Westpreußen beauftragt: Schmid. Die Denkmalpflege in Westpreussen. (wie Anm. 11). S. 52f.; Buch. Studien zur preußischen Denkmalpflege (s.o.). S. 60. Im Jahr 1868 wurde unter der Leitung von Quasts eine Neuinventarisation der Marienburg in Angriff genommen: Blankenstein [o. Vorn.]. „Ueber die Aufnahme der Marienburg“. Deutsche Bauzeitung 2 (1868). H. 40. S. 421ff. – Für den Hinweis auf diesen Beitrag danke ich Marian Arszyński. Christopher Hermann. „Inventarisationsprojekte unter Quast“. Ermländische Ansichten/Widoki z Warmii. Ferdinand von Quast und die Anfänge der Denkmalpflege in Preußen und Ermland/Ferdynand von Quast i początki konserwatorstwa zabytków w Prusach i na Warmii. Hg. Christofer Herrmann und Andrzej Rzempołuch. Münster, Olsztyn. 2006. S. 27ff. Über diese Initiativen, die vor allem vom Verein zur Erhaltung der alterthümlichen Kunstwerke Danzigs getragen wurden, berichtete: Rudolf Bergau. „Die Baudenkmale Danzig’s und die Gegenwart“. Deutsche Bauzeitung 2 (1868). H. 18. S. 174-177. Zur Geschichte der in Danzig tätigen Denkmalschutzvereine vgl. Ewa Barylewska-Szymańska. „Danziger Denkmalschutzvereine im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts“. Kunsthistoriker und Denkmalpfleger des Ostens. Der Beitrag zur Entwicklung des Faches im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. Gerhard Eimer/Ernst Gierlich. Bonn 2007 (= Kunsthistorische Arbeiten der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen. Bd. 5). S. 75-91. Zu den Dotationsgesetzen vgl. Felix Hammer. Die geschichtliche Entwicklung des Denkmalrechts in Deutschland. Tübingen 1995 (= Jus ecclesiasticum. Beiträge zum evangelischen Kirchenrecht und zum Staatskirchenrecht. Bd. 51). S. 116f. Zu den in der Folgezeit durchgeführten Inventarisationen vgl. Buch. Studien zur preußischen Denkmalpflege (wie Anm. 12). S. 21, 45; Rave. „Anfänge und Wege“ (wie Anm. 4). S. 82.
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schen Provinzialmuseums ein. Als eine ihrer Subkommissionen wurde eine vierköpfige Gruppe bestellt, der die Aufgabe der Inventarisation der Baudenkmäler übertragen wurde.16 Ab 1880 übernahm dann Johannes Heise (1850-1899) diese Aufgabe in alleiniger Verantwortung.17 Die so geschaffene Struktur blieb bis zum Ende des Ersten Weltkriegs bestehen. Die prägende Figur in der Funktion des Inventarisators war neben Heise, der die Aufgabe bis zu seinem Tode 1899 ausführte, Bernhard Schmid (18721947), der wie zuvor Heise die Ausbildung zum preußischen Regierungsbaumeister durchlaufen hatte und 1903 das Amt übernahm. Dieses hatte er auch nach 1919 für den verbliebenen Regierungsbezirk Westpreußen in der Provinz Ostpreußen sowie für die Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen inne. Nach 1939 war er bis 1941 Konservator des Reichsgaus Danzig-Westpreußen.18 Sowohl Heise als auch Schmid führten die Inventarisationsarbeiten sowie die gleichfalls zu ihrem Aufgabenbereich gehörende Aufsicht über die Denkmalpflege im Nebenbzw. Ehrenamt aus. Sie wurden von der Provinzialkommission gewählt und waren dieser gegenüber jährlich, dem Oberpräsidenten der Provinz alle fünf Jahre zur Rechenschaft verpflichtet.19 Ab 1891 wurde Heise – ebenso wie späterhin Schmid – zusätzlich vom preußischen Kultusminister zum Provinzialkonservator berufen.20 Das Inventarisationsprojekt war dabei als langfristige Aufgabe fest in das kulturpolitische Programm der Provinz eingebunden. Dies bestätigen die 16
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Dem war die Zusammenführung der bis dahin in den Regierungsbezirken Marienwerder und DanzigWestpreußen durchgeführten Inventarisationen vorausgegangen: GStA PK, XIV. HA Westpreußen, Rep. 180 Regierung zu Danzig, Kunst und Wissenschaft 13269. Zur Einberufung der Subkommission: Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Provinzialausschusses vom 28.05.1879. APG 11/37. Bl. 10-13. „Vorlage betreffend das Provinzial-Museum und die Verwendung des im Capitel 4 des Etats zu Ausgaben für Wissenschaft und Kunst bestimmten Betrages. Danzig 10. März 1881“. APG 7/197. Bl. 12-14. Zu Heise: v. Behr. [o. Vorn.]. „Nachruf auf Johannes Heise“. Zentralblatt der Bauverwaltung 19 (1899). H. 33. S. 200; Bernhard Schmid. „Johannes Heise“. Altpreußische Biographien. Hg. Christian Krollmann im Auftrage der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesgeschichte. Königsberg (Pr.) 1941. S. 262. Nach dem Tode Heises war zunächst Adolf Boetticher (1842-1901) bis zu seinem Tod 1901 mit der Inventarisation in Westpreußen betraut. Zur Übernahme der Geschäfte durch Schmid: APG 7/199. Bl. 186; GStA PK, I HA Rep. 76 Kultusministerium, Ve Sect. 1, Abt. VI, Nr. 139. Bl. 7. Zu Schmid vgl. insbesondere Rainer Zacharias. „Bernhard Schmid (1872-1947). Preußischer Landeskonservator und Baumeister der Marienburg“. Das Preußenland als Forschungsaufgabe. Eine europäische Region in ihren geschichtlichen Bezügen. Festschrift für Udo Arnold zum 60. Geburtstag. Hg. Bernhart Jähnig/Georg Michels. Lüneburg 2000 (= Einzelschriften der Historischen Kommission für Ost- und Westpreußische Landesforschung. Bd. 20). S. 689-714. Über die Tätigkeit Schmids zwischen 1920-1940 geben drei Berichte Auskunft: Die Denkmalpflege in Westpreußen in den Jahren 1920-31, Nr. 17 (1932); 1932-35, Nr. 18 (1936); 1936-40 [ohne Nummerierung] (1940). Die Berichte über die Inventarisation der Bau- und Kunstdenkmäler flossen zunächst in den Bericht der Provinzialkommission für die Verwaltung des westpreußischen Provinzialmuseums ein. Ab den 1890er Jahren wurde der Bericht des Provinzialkonservators als Anlage des Berichts der Provinzialkommission beigefügt. Ab dem Jahr 1903 wurden sie eigenständig unter dem Titel Die Denkmalpflege in Westpreussen. Bericht an die Provinzialkommission zur Verwaltung der Westpreussischen Provinzialmuseen zu Danzig im Buchhandel geführt. Zur Rechenschaftslegung gegenüber dem Oberpräsidenten: „Sitzungsbericht der Sitzung der Provinzial-Kommission zur Verwaltung der Westpreußischen Provinzialmuseen im Landeshause zu Danzig, 7. Dez. 1903“. APG 7/199. Bl. 167. Lezius. Das Recht der Denkmalpflege (wie Anm. 4). S. 27.
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jährlichen Etataufstellungen und Abrechnungen der Provinzialkommission, innerhalb derer die Inventarisation der Bau- und Kunstdenkmäler den drittgrößten Posten einnahm.21 Für den Ablauf der Inventarisation wurde die administrative Gliederung der Provinz genutzt. Er nahm mit der Versendung von kleinen Fragebögen an die Kirchorte seinen Anfang. Dem folgte die Besichtigung der Bau- und Kunstdenkmäler vor Ort und deren schriftliche, zeichnerische und fotografische Dokumentation. Anschließend wurden historische Daten in gedruckten Quellen bzw. im Staatsarchiv Danzig recherchiert, eine Auswertung und Auswahl des Materials vorgenommen und der Text sowie die Abbildungen für den Inventarband vorbereitet.22 Insbesondere Heise war um eine Professionalisierung der Arbeitsschritte bemüht. Ein 1896 von ihm verfasstes und von der Provinzialkommission finanziertes „Merkbüchlein“ sollte das kunsthistorische Wissen und das denkmalpflegerische Verständnis aller an der Pflege und Inventarisation der Denkmäler Beteiligten erweitern.23 Die kontinuierliche Sammlung von Informationen über die Bau- und Kunstdenkmäler sowie die Archivierung der während der Inventarisation und der denkmalpflegerischen Arbeiten aufgenommenen Dokumentationen führten schließlich zur Entstehung eines Denkmalarchivs. Für dieses lässt sich ab 1903 eine systematische Erweiterung durch Ankäufe und Aufträge sowie umfangreiche Schenkungen nachweisen.24 Trotz der so anwachsenden Materialbasis, deren zunehmender Systematisierung und trotz der Professionalisierung der Inventarisationsarbeit nahm die Anzahl der pro Dezennium veröffentlichten Inventarhefte kontinuierlich ab. Die Gründe hierfür sind u.a. in einer konzeptionellen Veränderung der Inventarisation und der Präsentation ihrer Ergebnisse zu suchen, wie der Vergleich der Inventarbände von Heise und Schmid verdeutlicht.
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Etataufstellungen und Rechnungslegung der Provinzialkommission für die Verwaltung der westpreußischen Provinzialmuseen für die Jahre 1880-1884, 1886/87, 1893/94, 1910, 1913-1915, 1917: APG 7/197. Bl. 14, 29-30, 65, 85-87, 201-207, 529-533; APG 7/199. Bl. 762-770, 778, 817, 878-886, 889. Die Mittel, die von der Provinzialkommission für die Inventarisation in Westpreußen zur Verfügung gestellt wurden, waren im Vergleich mit den entsprechenden Mittelbereitstellungen in anderen preußischen Provinzen hoch; siehe den Bericht zur Denkmalinventarisation in Preußen in: Alexander von Wussow. Die Erhaltung der Denkmäler in den Kulturstaaten der Gegenwart. Anlageband. Berlin 1885. S. 164-171. Die Rekonstruktion des Arbeitsablaufs erfolgt auf Grundlage der jährlichen Berichte (siehe Anm. 19). Johannes Heise. Die Denkmalspflege. Ihre Entwicklung und ihre Organisation und die wichtigsten für dieselbe erlassenen Gesetze und ministeriellen Verfügungen. Merkbüchlein zusammengestellt im Auftrage der erweiterten Kommission zur Erforschung und zum Schutze der Denkmäler in der Provinz Westpreussen. Danzig 1896; Bericht der Provinzial-Commission für die Verwaltung der Westpreussischen Provinzial-Museen über die Verwendung der ihr zur Verfügung gestellten Mittel im Jahr 1894. Danzig 1895. S. 1f. APG 7/198. Bl. 140-141. Die Erwerbungen und Schenkungen für das Denkmalarchiv waren fortan Bestandteil der jährlichen Berichte Schmids an die Provinzialkommission.
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Von der Provinz zur Heimat In ihrem grundsätzlichen Aufbau und im allgemeinen Erscheinungsbild unterschieden sich die von Heise und Schmid verfassten Inventare zunächst nicht: Es wurde für einen oder mehrere Kreise ein Inventarheft erstellt und die Hefte in Bänden zu Regionen (Pommerellen, Pomesanien, Kulmer Land) zusammengefasst (Abbildung 1). Mit diesen Regionen, die auf ältere räumliche Einheiten verwiesen, wurde die der zeitgenössischen Administration folgende Unterteilung der Inventare mit einem historisch argumentierenden Gliederungssystem verflochten.25 Einem solchen Inventarband wurde eine Einleitung vorangestellt, die die Region geografisch einordnete, einen historischen Überblick gab und eine knappe Charakterisierung des als kunstgeschichtlich interessant bestimmten Bestandes
Abb. 1: Titelseite von Johannes Heise. Die Bau- und Kunstdenkmäler Pommerellens mit Ausnahme der Stadt Danzig. Danzig 1884-87 25
Eine Ausnahme bildet das Heft: Bernhard Schmid. Die Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Marienburg. Teil 1: Die Städte Neuteich und Tiegenhof und die ländlichen Ortschaften. Danzig 1919 (= Die Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Westpreuszen. H. XIV), welches mit weiteren Heften zu einem Band Kreis Marienburg hätte zusammengefasst werden sollen, was als eine fortschreitende Synchronisierung der Inventarbände mit den Verwaltungseinheiten interpretiert werden kann.
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vornahm. Dem folgten die einzelnen Kreise, die ihrerseits nochmals eingeleitet wurden. Anschließend wurden in einem Katalogteil die Orte eines Kreises mit erwähnenswerten Bau- und Kunstdenkmälern in alphabetischer Reihenfolge vorgestellt. Im Vorwort der Provinzialkommission zum ersten Heft (Kreise Carthaus, Neustadt und Berent; 1884) wurde der Gegenstand des Inventars umrissen. Dieses solle die „Denkmäler der Baukunst, Malerei, Sculptur und Kleinkunst zur Darstellung […] bringen“, die „in der Zeit des Mittelalters und der Renaissance bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts“ entstanden seien. Darüber hinaus sollten bedeutende „Geschichtsdenkmäler […] auch dann berücksichtigt werden, wenn ihnen ein besonderer Kunstwerth nicht beiwohnt, gleichviel welcher Zeit sie angehören“.26 Die Auswahl der Objekte, die Eingang in das Inventar finden sollten, folgte bei Heise jedoch noch weitergehenden, einengenden Kriterien. Es lässt sich eine besondere Berücksichtigung einerseits der Kunst des Mittelalters und andererseits jener Kunst, die für einen sakralen Kontext entstanden war, erkennen. Die in der einleitenden Bewertung des Denkmalbestandes des Kreises Neustadt gewählte Formulierung, dass ein Großteil der im Kreis vorhandenen Kirchen lediglich „einfache Bedürfnissbauten, klein und unansehnlich, viele nur in Fachwerk ausgeführt“27 seien, sowie die von Heise ausgewählten Objekte lassen schlussfolgern, dass für die Anerkennung eines Gebäudes als Denkmal darüber hinaus zusätzliche Kriterien, wie etwa die Komplexität der Baugeschichte oder aber eine größere Differenziertheit der Formen, maßgeblich waren. Dabei war das Augenmerk fast ausschließlich auf Bauten mit gemauertem Ziegelwerk gerichtet; Fachwerkund Holzbauten wurden zunächst nicht eines Eintrages in das Inventar wert erachtet. Eine – in Anbetracht der Eindrücklichkeit der Anlage der Stadt Thorn (Toruń) gewiss nicht beliebige – Änderung der Auswahlkriterien ist ab dem siebenten Band, der eben dieser Stadt gewidmet war (1889), zu erkennen. Hier nun wurde das Stichwort „Profanbauten“ eingeführt. Von da an tauchten auch Wohn- und Gewerbebauten in den Inventaren auf.28 Zugleich gewann die Be26
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Johannes Heise. Die Bau- und Kunstdenkmäler der Kreise Carthaus, Berent und Neustadt. Danzig 1884 (= Die Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Westpreussen. H. I). [Vorwort zum ersten Heft; o.P.]. Ebd. S. 49. Johannes Heise. Die Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Thorn (Stadt Thorn). Danzig 1889 (= Die Bauund Kunstdenkmäler der Provinz Westpreussen. H. VII). Heise griff unmittelbar auf die Inventarisationsarbeiten, die Conrad Steinbrecht (1849-1923) bereits für die mittelalterliche Architektur der Stadt Thorn vorgenommen und publiziert hatte, zurück: Conrad Steinbrecht. Thorn im Mittelalter. Ein Beitrag zur Baukunst des deutschen Ritterordens. Berlin 1885. Es handelt sich hierbei um den ersten Band einer Publikationsserie unter dem Titel Die Baukunst des deutschen Ritterordens in Preussen, im Rahmen derer bis 1920 vier Bände von Steinbrecht vorgelegt wurden. Heise berichtete der Provinzialkommission, dass Steinbrecht sein für die Stadt Thorn erstelltes Material für den Inventarband zur Verfügung gestellt habe; „Bericht betreffend das Provinzialmuseum und die Verwendung des im Kap. 4 des Etats zu Ausgaben für Wissenschaft, Kunst und Kunstgewerbe bestimmten Betrages“. o.J. [1882?]. APG 11/37. S. 62.
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schreibung von Stadtgrundrissen zunehmend Beachtung. Schließlich fanden im achten Heft (Kreis Straßburg, 1891) erstmalig auch Holzbauten Eingang in das Inventar.29 Den in den laufenden Text der von Heise verfassten Inventare in Form von Holzschnitten eingebrachten Abbildungen kam in erster Linie die Funktion zu, die verbal beschriebenen räumlichen Zusammenhänge in Grundrissen, Schnitten oder Detailzeichnungen visuell zu verdeutlichen. Die gleichfalls beigefügten Lichtdrucktafeln waren besonders wertvollen und detailreichen Kunstobjekten vorbehalten. Darüber hinaus erweisen sich die Abbildungen als Spiegelbild der mit der Auswahl der Objekte vorgenommenen inhaltlichen Gewichtung. So sind beispielsweise von den in grafischen oder fotografischen Ansichten dargestellten Objekten (ohne technische Zeichnungen) im ersten Heft mehr als die Hälfte vorrangig mittelalterlichen Charakters. Dieses Verhältnis blieb auch für die nachfolgenden Bände prägend. Dem im Vorwort der Provinzialkommission zum ersten Band bestimmten Charakter der Inventarisation als „Theil der historischen Quellenforschung“30 wurde Heise nicht nur mit einem hohen Grad an Nachvollziehbarkeit seiner Informationsquellen gerecht; er begriff darüber hinaus die Objekte selbst als Quellen. So sind hinter den detaillierten Baubeschreibungen sowohl der Baufachmann wie auch das eingehende Studium der Objekte vor Ort wahrnehmbar, welches Züge einer kritischen historischen Bauforschung erkennen lässt. Mit Blick auf die Ausbildung Heises als Regierungsbaumeister ist darüber hinaus die große Aufmerksamkeit, die er den Objekten der bildenden Kunst und des Kunsthandwerks widmete, bemerkenswert. Der sich in Wort und Bild äußernde wissenschaftliche Anspruch, der in seinen Mitteln bewusst sachliche und übersichtlich gestaltete Satz sowie der souveräne Gebrauch des wissenschaftlichen Apparates (Literaturangaben, Quellenkritik, Fußnoten, Skalierung, Beschriftung und Differenzierung der Zeichnungen), nicht zuletzt auch das Lexikonformat verleihen den Bänden den Charakter eines Nachschlagewerkes, welches für den Gebrauch in der praktischen Denkmalpflege, aber auch für die architektur- und kunsthistorische Forschung konzipiert worden war (Abbildung 2 auf der folgenden Seite). Dafür, dass die von Heise bearbeiteten Bände auch im Fachpublikum wahrgenommen wurden, spricht die mit „Genugthuung“ von der Provinzialkommission getroffene Feststellung im Vorwort zum vierten Heft (Kreis Marienwerder, 1887), dass die Inventare als „Quelle für die Geschichte der Architectur und deren Hilfskünste“ von der Kritik anerkannt würden.31 29
30 31
Johannes Heise. Die Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Straßburg. Danzig 1891 (= Die Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Westpreussen. H. VIII). S. 345ff. Heise. Die Bau- und Kunstdenkmäler der Kreise Carthaus, Berent und Neustadt (wie Anm. 26). o.P. Johannes Heise. Die Bau- und Kunstdenkmäler der Kreise Marienwerder (westlich der Weichsel), Schwetz, Konitz, Schlochau, Tuchel, Flatow und Dt. Krone. Danzig 1887 (= Die Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Westpreussen. H. IV). [Vorwort der Provinzialkommission; o.P.].
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Bereits das Vorwort der Provinzialkommission zum ersten von Schmid verfassten Band (Kreis Rosenberg, 1906) kündete eine grundlegende konzeptionelle Veränderung an. Es sollten fortan „nicht nur die Denkmäler, die uns als formvollendete hohe Kunstwerke entgegentreten“ in das Inventar aufgenommen werden, „sondern ebenso jeder einfachere Bau, jedes bescheidene Holzkirchlein, jedes Gerät, jedes Grabmal älterer Zeit“, schließlich auch die Bauernhäuser und sogar bereits untergegangene Bauten. „Aus diesen vielen Einzelangaben“, so wurde argumentiert, setze „sich das Bild der kulturgeschichtlichen Entwicklung zusammen“.32 Dieses Profil wurde in dem 1919 für einen Teil des Kreises
Abb. 2: Buchseite in Johannes Heise. Die Bau- und Kunstdenkmäler Pommerellens mit Ausnahme der Stadt Danzig. Danzig 1884-87 32
Bernhard Schmid. Die Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Rosenberg. Danzig 1906 (= Die Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Westpreuszen. H. XII). [Vorwort der Provinzialkommission; o.P.].
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Marienburg herausgegebenen Inventarheft noch um die Erfassung von volkskundlichen Gegenständen und historischen Handwerkstechniken erweitert.33 Die Beispiele dieser neuen Objektgruppen wurden nicht nur gleichberechtigt neben die bisher als Bau- und Kunstdenkmäler berücksichtigten Objekte in das Verzeichnis eingefügt, sondern von Schmid darüber hinaus in separaten Abhandlungen bearbeitet.34 Es fanden nunmehr Bauten sakraler und profaner Bestimmung in etwa gleicher Anzahl wie auch technische Denkmäler Eingang in die Inventare. Darüber hinaus wurde die Sepulkralkunst, die bei Heise nur summarisch zur Sprache gekommen war, in einem beträchtlichen Maße berücksichtigt (Abbildung 3).
Abb. 3: Zeichnungen von Holzgrabmälern in Bernhard Schmid. Die Bauund Kunstdenkmäler des Kreises Rosenberg. Danzig 1906 33 34
Schmid. Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Marienburg (wie Anm. 25). S. V [Vorwort der Provinzialkommission]. Bernhard Schmid. „Das Bauernhaus“. Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Rosenberg (wie Anm. 32). S. 227-232; ders. „Die Holztürme und Fachwerkkirchen Westpreußens“. Die Denkmalpflege in der Provinz Westpreußen im Jahr 1906. Bericht an die Provinzial-Kommission zur Verwaltung der westpreußischen ProvinzialMuseen zu Danzig erstattet vom Provinzial-Konservator. Danzig 1907. S. 15-19; ders. „KriegergrabmalBeratung“. Die Denkmalpflege in der Provinz Westpreußen für 1918 und 1919. Bericht an die ProvinzialKommission zur Verwaltung der westpreußischen Provinzial-Museen zu Danzig erstattet vom ProvinzialKonservator. Danzig 1920. S. 12-21; ders. „Glockenkunde, Stilgeschichte der Orgelgehäuse“. Bericht an die Provinzialkommission zur Verwaltung der westpreußischen Provinzial Museen zu Danzig. Danzig 1918.
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Diese Aufweitung des Denkmalverständnisses wurde von einer Ausdehnung des in den Blick genommenen historisch-zeitlichen Rahmens begleitet. So wurden im ersten, 1919 erschienenen Inventarheft für den Kreis Marienburg (Abbildung 4) auch die Kirchenbauten des 19. Jahrhunderts sowohl im kunstgeschichtlichen Teil der Einleitung besprochen wie auch Beispiele von sakralen neben profanen, gar technischen Bauten des 19. Jahrhunderts, wie etwa die 1857 eröffnete Weichselbrücke bei Dirschau ( Tczew), im Katalogteil dokumentiert. Darüber hinaus war es anders als bei Heise nicht mehr allein das Mittelalter, welches eine vorrangige Berücksichtigung erfuhr. Schon im bereits erwähnten ersten seiner Inventarhefte merkte Schmid an, dass „die massiven, seit dem Ende des XVI. bis in das XVIII. Jahrhundert erbauten Kirchen als Bauten des Protestantismus ein besonderes Interesse“ beanspruchten.35 Einen Eindruck davon gibt die Gewichtung der Abbildungen: Von den rund fünfzig (ausgenommen technische Zeichnungen) in den Text eingestreuten oder aber als Lichtdrucktafel eingefügten Abbildungen dieses Heftes zeigt fast die Hälfte Objekte, die dem 16.-18. Jahr-
Abb. 4: Titelseite von Bernhard Schmid. Die Bau- und Kunstdenkmale des Kreises Marienburg. 1. Die Städte Neuteich und Tiegenhof und die ländlichen Ortschaften. Danzig 1919 35
Schmid. Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Rosenberg (wie Anm. 32). S. 117.
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hundert zuzurechnen sind. Nur etwa ein Sechstel der Abbildungen zeigt hingegen Objekte, die einen vorrangig mittelalterlichen Charakter aufweisen. Insgesamt erhöhte sich, insbesondere durch das Einfügen von Fotografien in den laufenden Text, die Anzahl der Abbildungen nachdrücklich (Abbildung 5). Nicht nur hierdurch wurde das in den einzelnen Katalogartikeln zusammengetragene und in seiner sachlichen Aneinanderreihung für den Laien oft trockene Material anschaulicher gestaltet. Um dieses Material in einen erläuternden Bezugsrahmen zu stellen, dehnte Schmid die bis dahin lediglich einige wenige Seiten umfassenden Einleitungen im ersten Heft für den Kreis Marienburg (1919) auf eine thematisch gegliederte, bebilderte und stattliche 92 Seiten umfassende Ein-
Abb. 5: Buchseite in Bernhard Schmid. Die Bau- und Kunstdenkmale des Kreises Marienburg. 1. Die Städte Neuteich und Tiegenhof und die ländlichen Ortschaften. Danzig 1919
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führung aus. Dies ging einher mit einem besonderen Nachdruck, den Schmid auf die Darlegung historischer, aus einem eingehenden Studium schriftlicher Quellen erarbeiteter Tatsachen legte. Zu deren Gunsten verloren Argumente, die durch die Analyse der Objekte selbst gewonnen wurden, an Gewicht. War den Inventaren bei Heise vorrangig für die praktische Denkmalpflege und die architekturund kunstgeschichtliche Forschung Bedeutung beigemessen worden, waren die Vermittlungsstrategien der Inventarbände Schmids auf ein deutlich breiteres Publikum zugeschnitten. Es trat ein dezidiert heimatkundlicher Anspruch hinzu.36 Die sich in den von Schmid erarbeiteten Inventarbänden manifestierenden konzeptionellen Unterschiede zu den von Heise verfassten Bänden spiegeln die Ergebnisse der auf Ebene des Deutschen Reiches geführten Fachdiskussion wieder. Für die Koordination dieses fachlichen Austauschs war der seit 1900 regelmäßig ausgerichtete Tag für Denkmalpflege eingerichtet worden, an dem Schmid seit seiner Berufung zum Provinzialkonservator regelmäßig teilnahm und von dem er der Provinzialkommission berichtete.37 Eine Zusammenfassung der Ergebnisse dieser fachlichen Diskussion nahm Hermann Lezius in einer systematischen Zusammenstellung der Grundsätze der Denkmalinventarisation vor. Hierin sind sowohl die Aufweitung des zu berücksichtigenden Zeitraums bis 1870 wie auch die Aufnahme von „Denkmälern volkstümlicher Kunst“ enthalten.38 Eine Analyse nach den eingangs bestimmten Kriterien, die danach fragen, auf welche übergeordnete Idee hin das Denkmalverständnis projiziert und welche Bedrohung für den Denkmalbestand als primär bestimmt wurde, zeigt aber, dass diese allgemeine Modifizierung im konkreten Falle Westpreußens zugleich der schon bei Heise angelegten, nunmehr jedoch forcierten Regionalisierung der Bestimmung des Denkmalwertes Vorschub leistete. Für Heise war die Idee der deutschen Nation bzw. des deutschen Vaterlandes die gedankliche Klammer, innerhalb derer er die Denkmäler verortete und in ihrem Wert bestimmte. Eine besondere Rolle wurde hierbei den Siedlungsprozessen vor allem zur Zeit der Herrschaft des Deutschen Ordens beigemessen. Indem sie als herausragende deutsche Kulturleistung charakterisiert wurden, konnte der Bedeutung des Gebietes für die Gesamtheit der deutschen Nation Nachdruck verliehen werden. Die Provinzialkommission merkte hierzu im Vorwort zum fünften Heft (Kulmer Land 1887) an: Dem „Kulmer Land“ nördlich von der Ossa, südlich von der Drewenz begrenzt, gebührt aus geographischen und geschichtlichen Rücksichten die erste Stelle in dieser Abtheilung; 36 37
38
Ebd. [Vorwort der Provinzial-Kommission; o.P.]. Zur Berichterstattung gegenüber der Provinzialkommission: Abschrift Sitzungsbericht „Sitzung der Provinzial-Kommission zur Verwaltung des Westpreußischen Provinzialmuseen im Landeshause zu Danzig, 7. Dez. 1903“. APG 7/199. Bl. 161-163; Schmid. Die Denkmalpflege in Westpreußen 1804-1910 (wie Anm. 11). S. 53; ders. Die Denkmalpflege in der Provinz Westpreußen im Jahre 1913. Bericht an die Provinzial-Kommission zur Verwaltung der westpreußischen Provinzial-Museen zu Danzig erstattet vom ProvinzialKonservator. Danzig 1914. S. 19f. Lezius. Das Recht der Denkmalpflege (wie Anm. 4). S. 36-41. Siehe auch: Speitkamp. Die Verwaltung der Geschichte (wie Anm. 4), insbesondere S. 91-94.
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denn es war der Ausgangspunkt und blieb grossentheils der Stützpunkt für die ganze folgenreiche Thätigkeit des deutschen Ordens, welcher dem deutschen Vaterlande von hier aus eine neue Ostmark zu erwerben und sie einer hohen Culturstufe entgegen zu führen wusste.39
Diese Äußerung folgte der geschichtspolitischen Aneignung der Geschichte des Deutschen Ordens, die mit einer Bilderfolge Friedrich Gillys (1772-1800) über die Marienburg und die Burg Marienwerder, die 1795 in der Berliner Akademie der bildenden Künste ausgestellt wurde, ihren Anfang genommen hatte40 und im Zuge derer spätestens seit dem 1862 von Heinrich von Treitschke (1834-1896) veröffentlichten Essay „Das deutsche Ordensland Preußen“ die Geschichte des Deutschen Ordens einer Neubewertung unterzogen und als wichtiges identitätsstiftendes Element einer deutschen Nationalgeschichte eingegliedert worden war.41 War diese Vorstellung in den von Heise bearbeiteten Bänden mit einem Kunstverständnis verknüpft, welches seine Orientierung in der Vorstellung einer nationalen Architektur- und Kunstgeschichte fand und hieraus ein ästhetisches Wertmaß gewann, emanzipierte sich Schmid in Teilen hiervon und stellte stattdessen den Begriff der Heimat in den Mittelpunkt. Auf diese Weise konnte er die von Heise oft als Mangel beschriebene geringe künstlerische Gestaltung vor allem der in den Landkreisen vorgefundenen Denkmäler in einen besonderen, regional bestimmten Wert umdeuten. Lakonisch hatte Heise etwa in einem Bericht über die Bereisung des Kreises Rosenberg (Susz) angemerkt, dass die im Kreis vorhandenen Pfarrkirchen „weit hinter den städtischen Pfarrkirchen des Kulmer39
40
41
Johannes Heise. „Vorwort zum fünften Hefte“. Die Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Kulm. Danzig 1887 (= Die Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Westpreussen. H. V). [o.P.]. Die Bilderfolge war Ausgangspunkt für eine großformatige Publikation, die sowohl Kupferstiche, die von Friedrich Frick nach den Vorlagen Gillys und Martin Friedrich Rabe gestochen worden waren, wie auch ausführliche bauhistorische Beschreibungen des Schlosses, die vermutlich aus der Feder Conrad Levetzows stammten, enthielt und somit in dieser Form als ein frühes Beispiel einer Bauinventarisation gelten kann: Schloß Marienburg in Preußen. Nach seinen vorzüglichsten äußeren und inneren Ansichten. Dargestellt und herausgegeben von Friedrich Frick. Berlin 1799-1803; als Faksimile erneut herausgegeben von Wilhelm Salewski (Düsseldorf 1965). Zur Wiederherstellung und Rolle der Marienburg im nationalpolitischen Diskurs vgl. u.a. Hartmut Boockmann. Die Marienburg im 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M., Berlin 21992; Maciej Kilarski. „Die ikonographischen und baulichen Wandlungen der Marienburg im 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts“. Deutscher Orden 1190-1990. Hg. Udo Arnold. Lüneburg 1997. S. 171-240 (= Tagungsberichte der Historischen Kommission für Ost- und Westpreußische Landesforschung. Bd. 11); Michał Woźniak. „Die Wiederherstellung der Marienburg an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Vorstellungen einer mittelalterlichen Burg zwischen wissenschaftlicher Restaurierung und nationalistischer Sehnsucht“. Bilder gedeuteter Geschichte. Hg. Otto Gerhard Oexle/Áron Petneki/Leszek Zygner. Göttingen 2004 (= Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft. Bd. 23). Bd. 2. S. 287-336. Heinrich von Treitschke. „Das deutsche Ordensland Preußen“. Heinrich von Treitschke: Historische und politische Aufsätze. Leipzig 81913. Bd. 2. S. 1-76. Zur Rezeption der Geschichte des Deutschen Ordens vgl. Wolfgang Wippermann. Das Bild des Deutschen Ordens in der deutschen Geschichtsschreibung und Publizistik. Berlin 1979 (= Einzelveröffentlichungen der historischen Kommission zu Berlin. Bd. 24/Publikationen zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen. Bd. 2); Hartmut Boockmann. „Die Vergangenheit des Deutschen Ordens im Dienste der Gegenwart“. 800 Jahre Deutscher Orden. Gütersloh, München 1990. S. 437-444; Marian Biskup/Gerard Labuda. Die Geschichte des Deutschen Ordens in Preußen. Wirtschaft, Gesellschaft, Staat, Ideologie. Osnabrück 2000. S. 29-34.
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landes“ zurückstünden und „hervorragende Kunstgegenstände […] gleichfalls nicht zu verzeichnen“ seien.42 Einige Jahre später urteilte Schmid über den gleichen Kreis: Der künstlerische Wert der Kirchen – von einigen reicheren Ausnahmen abgesehen – beruht in der anspruchslosen, wahrhaftigen Bauweise, die dem Landschafts-Charakter so gut angepaßt ist.43
Schmid stellte somit einen Konnex zwischen der Landschaft und den von ihm beschriebenen Denkmälern, also dem kulturellen und künstlerischen Schaffen in der jeweiligen Region, her. Er reflektierte damit Ideen der Kunstgeografie, die es sich unter Rückgriff auf die von Friedrich Ratzel (1844-1904) entwickelte Anthropogeografie zur Aufgabe gemacht hatte, Denkmäler, landschaftliche Prägung und Geschichte einer Region zueinander in Bezug zu setzen und hieraus die Charakteristik von Bau- und Kunstdenkmälern und deren Verbreitung zu begründen.44 Indem Schmid seine Untersuchungen auf den Bereich der Bauern- und Bürgerhausarchitektur sowie die Volkskunde ausdehnte, wurde er jedoch stärker als Heise mit der ethnischen respektive nationalen und konfessionellen Vielfalt der Region konfrontiert. Dem ersten von ihm herausgegebenen Inventarheft (Kreis Rosenberg, 1906) fügte er einen Exkurs über Bauernhäuser bei, in dem er im Zuge einer kleinteiligen, an schriftlichen Quellen erarbeiteten Studie über die wechselvolle, von verschiedenen Bevölkerungsgruppen geprägte Siedlungsgeschichte der Region zu dem Schluss kam: Wenn trotz dieser Wechsel und Verschiedenheiten der Bewohner die Bauernhäuser nur einen Typus darstellen, der von allen späteren Einflüssen unabhängig ist, dann stehen diese Hausformen aber noch unter dem Einfluß der ältesten Besiedlung und sind gewiß deutschen Ursprungs.45
In zielgerichteter Ausdeutung schriftlicher Quellen negierte Schmid hier die sich in der räumlichen Anlage der Bauernhäuser manifestierenden Einflüsse regionaler respektive auf Haustypen polnischer Siedlungsgebiete zurückgehender Bauformen, um die Bauernhausarchitektur auf eine rein deutsche Tradition zurückzuführen und somit eine angeblich primär deutsche Prägung der Landschaft unter 42
43 44
45
Bericht der Provinzial-Commission für die Verwaltung der Westpreussischen Provinzial-Museen über die Verwendung der ihr zur Verfügung gestellten Mittel [1893]. Danzig 1894. Anlage B. S. 43f. Bericht der Provinzialkommission für die Verwaltung der Westpreussischen Provinzial-Museen über ihre Tätigkeit und die Verwendung der ihr zur Verfügung gestellten Mittel im Jahre 1903. Danzig 1904. S. 1. Friedrich Ratzel. Anthropogeographie. Unveränderter reprographischer Nachdruck. 2 Bde. Darmstadt 1975. Zur Adaption des anthropogeographischen Konzeptes von Ratzel in der Kunstgeschichte und zur Idee der Kunstgeographie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts vgl. zusammenfassend Thomas DaCosta Kaufmann. Towards a geography of art. London 2004. S. 58-88. Schmid. Die Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Rosenberg (wie Anm. 32). S. 230.
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Beweis zu stellen. Damit führte er die bereits den Bearbeitungen Heises zugrunde gelegte Meistererzählung von der Kulturleistung der Deutschen im Osten konsequent fort. Vor allem aber stellte er unter der oben genannten kunstgeografischen Prämisse eine scheinbar unauflösbare Verklammerung von Landschaft und deutscher Kultur her. Dem entsprach die Geringschätzung der polnischen Herrschaft im Königlichen Preußen, die sowohl von Heise als auch von Schmid als Bedrohung für das Deutschtum beschrieben wurde. Indem jedoch im Vorwort des schon genannten ersten von Schmid erarbeiteten Inventarheftes der deutschen Kulturleistung „über 400 Jahre (1410-1815)“ – gemeint ist die Zeit, in der die Region Teil des polnischen Königreichs war – das Wirken „kulturfeindliche[r] Mächte“ gegenübergestellt wurde,46 wurde die bei Heise eher diffus umrissene Bedrohung dramatisiert und von einem zunächst nationalpolitisch gedeuteten Konflikt bei Heise in die Vorstellung eines existenziellen Kampfes zweier Völker unterschiedlicher ‚Kulturstufe‘ transformiert, wobei freilich der deutschen Kultur der höhere Rang zugesprochen wurde. Das explizite Interesse Schmids für die neuzeitlichen Bauten, die protestantischen Kirchen, erweist sich unter diesem Gesichtspunkt nicht nur als eine Verschiebung kunsthistorischen Interesses, sondern auch als Rückprojizierung dieser Vorstellung des ‚Kulturkampfes‘ auf die Geschichte und damit als ein scheinbares Indiz für die Wesenhaftigkeit dieses Konfliktes deutscher und polnischer Kultur für die Region. In einem Kommentar zum Kriegsausbruch 1914 treten diese in den Inventarheften oft in verschlungenen Argumentationsketten formulierte Position Schmids und sein Konzept von westpreußischer Heimat klar hervor: In hartem Ringen mit den Fluten des schwer zu bändigenden Stroms [Weichsel, Anm. d. Verf.] und in noch schwererem Kampfe mit den östlichen Nachbarn hat sich der Deutsche dieses Land, das schon in grauer Vorzeit einmal germanisch war, erobern und erhalten müssen. Daher fehlt seinen Bauwerken und Kunstdenkmälern, wenn man von wenigen Ausnahmen absieht, jener äußere Glanz, der die Denkmäler westlicher Gebiete schmückt; man kennt sie kaum in der Welt und bemüht sich nicht um sie. Für uns aber, die wir aus dem Lande selbst stammen, sind sie wichtig und unersetzlich.47
So wurden unter dem Eindruck des Kriegsausbruches die Vorstellungen von Kulturlandschaft und vom Kampf der Kulturen zu einem spezifischen, dabei gleichermaßen national determinierten wie heimatbezogen Identifikationsangebot amalgamiert.
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Schmid. Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Rosenberg (wie Anm. 32). [Vorwort der Provinzialkommission; o.P.]. Bernhard Schmid. Die Denkmalpflege in der Provinz Westpreußen im Jahre 1914. Bericht an die ProvinzialKommission zur Verwaltung der westpreußischen Provinzial-Museen zu Danzig erstattet vom ProvinzialKonservator. Danzig 1915. S. 5.
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Das Inventar als Selbstversicherung Diese Anspruchs- und Verteidigungshaltung sollte für die Jahrzehnte nach dem Ersten Weltkrieg prägend bleiben. Für die westlichen Kreise der ehemaligen Provinz Westpreußen, die in Vollzug des Versailler Vertrages in der Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen bzw. späterhin in der Provinz Pommern aufgingen, waren die Inventarisationen abgeschlossen. Gleiches gilt für die Kreise der ehemaligen Provinz Westpreußen, deren Gebiete nach dem Ersten Weltkrieg an die Republik Polen kamen. Die in der neuen polnischen Republik zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg vorgenommenen und publizierten Inventarisationen betrafen nicht das hier zur Untersuchung stehende Gebiet.48 Inventare für die noch nicht bearbeitete Stadt und den Kreis Elbing wie für die Stadt und das Schloss Marienburg, die sich nunmehr im Regierungsbezirk Westpreußen in der Provinz Ostpreußen befanden, wurden bis 1945 nicht vorgelegt.49 In der gleichfalls in Folge des Ersten Weltkrieges begründeten Freien Stadt Danzig wurde hingegen mit dem vom Danziger Senat im Februar 1923 verabschiedeten Denkmalschutzgesetz bald schon der inhaltliche wie organisatorische Rahmen für die Inventarisation der Bau- und Kunstdenkmäler der bisher noch nicht bearbeiteten Stadt Danzig und des Danziger Werders geschaffen. Das Gesetz reagierte dabei auf die bis dahin erfolgte Erweiterung des Denkmalbegriffs mit einer fachlichen Spezialisierung. So wurde innerhalb eines Denkmalrates die Verantwortung für die Denkmalpflege auf sechs verschiedene Fachbereiche und hierfür auf sechs Planstellen in Institutionen der Freien Stadt Danzig verteilt, denen jeweils ein beratender Fachausschuss beigeordnet wurde.50 Die Betreuung der Baudenkmäler oblag nunmehr dem jeweiligen Leiter der Hochbauverwaltung und jene der Denkmäler der bildenden Kunst und des Kunstgewerbes dem jeweiligen Direktor des Stadtmuseums. 48
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Zu den Inventarisierungsinitiativen in Polen in der Zwischenkriegszeit: Paweł Dettlof. Odbudowa i restauracja zabytków architektury w Polsce w latach 1918-1930. Teoria i praktyka [Wiederaufbau und Restaurierung von Architekturdenkmälern in Polen in den Jahren 1918-1930. Theorie und Praxis]. Kraków 2006. S. 70-73; Maria Kałamajska-Saeed. „The catalogue of the monuments of art in Poland“. Centropa 7 (2007). H. 1. S. 86-99; Michaela Marek. „Kunstlandschaften – Nationalkulturen – neue Staaten. Kunsttopographien im östlichen Mitteleuropa im Kontext politischer Brüche“. Kunst + Architektur in der Schweiz 59 (2008). H. 1. S. 57-69. Bernhard Schmid, der auch nach dem Ersten Weltkrieg als Konservator für den Regierungsbezirk Westpreußen in der Provinz Ostpreußen und die Grenzmark Posen-Westpreußen und seit 1939 wieder als Provinzialkonservator der Bau- und Kunstdenkmäler von Westpreußen tätig war, legte als ein Ergebnis seiner Arbeit zwei die Deutschordenszeit betreffende Spezialinventare vor: Bernhard Schmid. Kulmer Land und Pomerellen. Marienburg 1939 (= Bau- u. Kunstdenkmäler d. Ordenszeit in Preußen. Bd. 1); ders. Pomesanien, das Oberland und das Grosse Werder. Danzig [u.a.] 1941 (= Bau- und Kunstdenkmäler der Ordenszeit in Preussen. Bd. 2). Die sechs Bereiche und die jeweiligen Hauptverantwortlichen waren: Baukunst (Leiter der Hochbauverwaltung), Bildende Kunst und Kunstgewerbe (Direktor des Stadtmuseums), Vorgeschichte (Direktor des Museums für Vorgeschichte), Staats- und Kulturdenkmäler (Direktor des Archivs), Buchkunst und Schriftwesen (Direktor der Stadtbibliothek), Landschaft und Natur (der oberste Forstbeamte). Gesetzblatt für die Freie Stadt Danzig (1923). H. 16. S. 245-253; siehe auch: APG 260/3602.
Abb. 8: Zeichnerische Aufnahme des Orgelprospektes St. Johann. Hauptansicht. Angefertigt 1943 unter der Leitung von Jakob Deurer (zu S. 222)
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Für die Inventarisierung der Baudenkmäler erwies sich darüber hinaus die Abteilung für Architektur der Technischen Hochschule Danzig (TH Danzig) als treibender Motor. Deren Professoren waren in den entsprechenden Fachausschüssen des Denkmalrates vertreten, und die Auseinandersetzung mit dem historischen Baubestand der Stadt bildete ein Kernelement der Forschung und der Ausbildung an der Abteilung.51 Für die Veröffentlichung dieser Arbeiten wurde von der Abteilung die Reihe Die Baudenkmäler der Freien Stadt Danzig herausgegeben, in deren erstem Teil (Die Kirchlichen Bauwerke) der erste und einzige Band der Danziger Bauinventarisation (Die Marienkirche in Danzig , 1929) erschien (Abbildung 6).52 Die bereits im Denkmalgesetz angelegte Professionalisierung fand in diesem Band nicht nur in der Zusammenarbeit der zwei Autoren, des Architekturprofessors Karl Gruber (1885-1966) und seines Kollegen an der TH Danzig,
Abb. 6: Frontispiz und Titelseite von Karl Gruber/Erich Keyser. Die Marienkirche in Danzig. Berlin 1929 51
52
Das betraf die bauhistorische Bearbeitung von Bauwerken im Rahmen von Dissertationen, deren Ergebnisse in die Inventarisation aufgenommen wurden (siehe bspw. die Verhandlungen zwischen Helmut Fritzler und Willi Drost um die Vergütung der Aufnahmezeichnungen, die Fritzler im Rahmen seiner Dissertation von der Brigittenkirche erstellt hatte. APG 1384/13. Bl. 97-98) sowie die unmittelbare Beteiligung der Abt. Architektur der TH Danzig an der Inventarisation über Werkverträge, wie sie in einem Briefwechsel zwischen dem Reichministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und Willi Drost im Sommer 1938 dokumentiert ist (APG 1384/13. Bl. 108-110, 119). Zur Geschichte der Architekturabteilung: Katja Bernhardt. Stil – Raum – Ordnung. Architekturlehre in Danzig 1904-1945. Berlin 2015 (= humboldt-schriften zur kunst und bildgeschichte. Bd. 19). Karl Gruber/Erich Keyser. Die Marienkirche in Danzig. Berlin 1929 (= Die Baudenkmäler der Freien Stadt Danzig. Teil 1: Die Kirchlichen Bauwerke. Bd. 1).
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des damaligen Privatdozenten für Geschichte Erich Keyser (1893-1968),53 sondern auch in der Form des Inventarbandes als Monographie, die sich allein der Architektur eines Bauwerks widmete, eine weitere Ausdifferenzierung. Als Begründung für eine solche hochspezialisierte Inventarpublikation wurde auf die bisher noch ungenügende Beachtung der Danziger Marienkirche in der kunstgeschichtlichen Forschung sowie auf die Erkenntnis, die aus der Analyse der Architektur für die Lösung der „ewigen Probleme der Baukunst“ gewonnen werden könnten, verwiesen.54 Ausgangspunkt der Darstellung war eine bauarchäologische Analyse Grubers, zu der erst nach der Rekonstruktion des davon abgeleiteten relativen Bauablaufes und der Einordnung der Bauphasen in einen allgemeinen architekturgeschichtlichen Rahmen die historischen Quellen von Keyser interpretativ in Bezug gesetzt wurden. Die nachdrückliche Aufwertung des Objektes als historische Quelle stellte sowohl mit Blick auf die methodische Verfeinerung der bauhistorischen Analyse wie auch hinsichtlich der kunsttheoretischen Fundierung eine neue Qualität dar. Die Ergebnisse wurden dabei jedoch mit einer Interpretation verknüpft, in der Gruber – in Fortführung des entwicklungsgeschichtlichen Modells seines Lehrers Friedrich Ostendorf (1871-1915), wonach das Wesen der Architektur in ihrer räumlichen Gestaltung läge – den Nachweis darüber zu führen gedachte, dass sich in der Hallenform der Danziger Marienkirche die höchstmögliche raumkünstlerische Entwicklung der deutschen Gotik manifestiere. Wesentliches Argument war hierbei die Einbettung der Marienkirche in den städtischen Raum, die er dabei als eine vollendete „Raumschöpfung“ darstellte, wie sie in dieser Art nur unter den Bedingungen der „Kolonisation“ des Ostens hätte geschaffen werden können.55 Die in die Superlative getriebene Deutung und Wertung der Architektur der Marienkirche ging einher mit einer auffälligen äußerlichen Erscheinung der Pub53
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Zu Gruber: Karl Gruber 100 Jahre. Städtebauliches Colloquium an der Technischen Hochschule Darmstadt am 3. Mai 1985 zum 100. Geburtstag Karl Grubers. Eine Dokumentation. Hg. Präsidenten der Technischen Hochschule Darmstadt. Darmstadt 1987; Andreas Romero. Baugeschichte als Auftrag. Karl Gruber: Architekt, Lehrer, Zeichner. Eine Biographie. Braunschweig 1990. Zu Keyser: Marek Andrzejewski. „Erich Keyser. Badacz historii Gdańska i Pomorza Gdańskiego [Erich Keyser. Ein Forscher der Geschichte Danzigs und Pommerellens]“. Rocznik Gdański 42 (1982). H. 2. S. 197-207; Zenon Hubert Nowak. „Erich Keyser (1893-1968). Ein Historiker aus Danzig“. Das Preußenland als Forschungsaufgabe (wie Anm. 18). S. 627-638; Peter Oliver Loew. Danzig und seine Vergangenheit 1793-1997. Die Geschichtskultur einer Stadt zwischen Deutschland und Polen. Osnabrück 2003. S. 260-265. Karl Gruber/Erich Keyser. „Vorwort“. Die Marienkirche (wie Anm. 52). [o.P.]. Karl Gruber. „Das Bauwerk der Marienkirche“. Die Marienkirche (wie Anm. 52). S. 3-23, S. 22f. Zu Grubers Deutung der Hallenform des Danziger Marienkirche siehe außerdem: Ders. „Die Pfarrkirche im Plan der mittelalterlichen Stadt“. Städtebau 23 (1928). H. 12. S. 304-307; ders. „Zur Baugeschichte von St. Marien“. Ostdeutsche Monatshefte 8 (1927/28). H. 5. S. 335-344. Zu Ostendorfs Vorstellung vom Wesen der Architektur siehe vor allem: Werner Oechslin. „‚Entwerfen heißt, die einfachste Erscheinungsform zu finden‘. Mißverständnisse zum Zeitlosen, Historischen, Modernen und Klassischen bei Friedrich Ostendorf“. Moderne entwerfen. Architektur und Kulturgeschichte. Köln 1999. S. 78-115. Desweiteren: Bernhardt. Stil – Raum – Ordnung (wie Anm. 51); Dies. „Kronzeugin aus Backstein. Die Historiografie zur Architektur- und Baugeschichte der Marienkirche zu Danzig von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1945“. Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 2013. S. 87-105.
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likation: Der Inventarband hat fast die doppelten Maße der bis dahin herausgegebenen Inventare, deren sachliche Typographie wurde auf den Textblättern nun durch die Fraktur ersetzt, zudem wurde für die Textseiten geschöpftes Papier verwendet. Die Exklusivität der Ausstattung und des Erscheinungsbildes gipfelte in der auf dreihundert Exemplare beschränkten und durchnummerierten Auflage. Überdies wurde der Band nicht wie die letzten Inventarbände für die Provinz Westpreußen vom Danziger Verlag Kafemann verlegt, der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als der wohl bedeutendste Danziger Verlag gelten kann und überdies zum Hausverlag der TH Danzig avanciert war.56 Vielmehr war die Veröffentlichung in die Hände des Deutschen Kunstverlages gelegt worden, der ab 1926 die Herausgabe der von Georg Dehio (1850-1932) angeregten Reihe der Kurzinventare übernommen hatte. So erscheint der Inventarband nicht mehr allein als ein für den praktischen Gebrauch bestimmtes und auf Breitenwirkung hin angelegtes Nachschlagemittel, sondern er war zugleich Argument und Stellungnahme der Autoren und Initiatoren in der Auseinandersetzung um den nationalen Charakter des Freistaates und die Rechtmäßigkeit der staatlichen Ordnung, wie sie in Vollzug des Vertrages von Versailles in der Region entstanden war. Der Band zielte dabei sowohl mit seinem methodischen Anspruch und seiner Deutung der Architekturgeschichte der Marienkirche wie auch in der Art und Weise seiner Erscheinung darauf ab, mit einer scheinbar unanfechtbaren wissenschaftlichen Argumentation die Marienkirche als eines der herausragendsten Beispiele ‚deutscher Kulturleistung‘ zu präsentieren und damit die Verbundenheit Danzigs mit der deutschen Denkmallandschaft und darüber mit der deutschen Geschichte zu begründen und nachdrücklich anschaulich zu machen. Acht Jahre später schrieb der zu jener Zeit mit der Inventarisation der beweglichen Kunstdenkmäler der Freien Stadt Danzig betraute Willi Drost (1892-1964) in einem Brief an den Generalkonservator im ‚Dritten Reich‘, Robert Hiecke (1876-1952), genau dazu: Schliesslich möchte ich noch auf das politische Moment hinweisen. Eben ist nun in der Sammlung der Monographien polnischer Kunststätten ‚Gdansk‘ von Professor Kilarski, Posen, mit zahlreichen Abbildungen herausgekommen. Es ist dringend erwünscht, dass unser Kunstbesitz im Inventar des Deutschen Reichs als ihm zugehörig in Wort und Bild festgehalten wird.57
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Maria Babnis. „Drukarstwo Gdańskie w czasach zaboru pruskiego (1793-1919) [Das Danziger Druckereiwesen in der Zeit der preußischen Teilung]“. Libri Gedanensis. Bd. XV/XVI (1998). S. 89-97, zum Verlag Kafemann insbesondere S. 94f. Brief von Drost an Hiecke vom 24.05.1937. APG 1384/13. Bl. 10. Zu Drost: Idis Birgit Hartmann. „Der Kunsthistoriker Willi Drost (1892-1964). Biographisch-bibliographische Notizen“. Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte. Bd. 3. München 1995. S. 177-187; Wolfgang Drost. „Danziger Denkmalpflege im Bannkreis des Nationalsozialismus. Die Bedeutung Willi Drosts als Denkmalpfleger und Kunsthistoriker“. Kunsthistoriker und Denkmalpfleger des Ostens (wie Anm. 14). S. 171-192.
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Drost nahm damit Bezug auf eine Publikation des polnischen Autors Jan Kilarski (1882-1951), der in dem genannten Band in essayistischer Form einen Stadtrundgang durch Danzig beschrieb und dabei jene Aspekte der Stadt, ihrer Geschichte und Erscheinung, hervorhob, die ihm geeignet erschienen, den polnischen Charakter der Stadt zu beweisen.58 In diesem Wettstreit um die Deutungshoheit der baulichen und kulturellen Zeugnisse der Stadtgeschichte sollte,59 so das Ansinnen Drosts, die Einbeziehung des Freistaates in die von Hiecke initiierte vollständige Neubearbeitung der Denkmalinventare des deutschen Reiches argumentativ Fakten schaffen. Während über die Inventarisation der Baudenkmäler in diesem Rahmen, die in den Händen Erich Volmars (1887-1975) lag, wenig bekannt ist, ist der Fortgang der bereits seit den 1920er Jahren andauernden und nun unter der Leitung von Drost intensivierten Inventarisation der beweglichen Kunstdenkmäler gut dokumentiert.60 Sie wurde aus Mitteln des Senats der Freien Stadt Danzig sowie zu einem nicht geringen Anteil mit Mitteln des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung finanziert.61 Das ermöglichte die Anstellung von Inventarisatoren sowie die Beauftragung von weiteren Personen mit fotografischen und zeichnerischen Aufnahmen bzw. den Ankauf von bereits erstellten Aufnahmen. Die Arbeiten, die auch nach 1939, also nach der Annektierung der Freien Stadt Danzig durch das ‚Dritte Reich‘ und ihrer anschließenden Eingliederung in die administrativen Strukturen desselben fortgesetzt wurden, wurden in einem Inventarisationstagebuch dokumentiert. Für die einzelnen Objekte legte man im Stadtmuseum Danzig, das von Drost geleitet wurde, eine Zettelkartei an, die alle während der Inventarisation und der umfangreichen Quellenrecherchen gesammelten Daten und Abbildungen aufnahm.62 Auf dieser Basis wurden die Texte für das 58
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Jan Kilarski. Gdańsk [Danzig]. Poznań 1937 (= Cuda Polski. Piękno przyrody, pomniki pracy, zabytki dziejów [Wunder Polens. Schönheit der Natur, Denkmäler der Arbeit, Denkmäler der Geschichte]). Zu den Strategien und Mitteln der Deutung der Danziger Architekturgeschichte siehe: Birte Pusback. „Deutsches Danzig – Polski Gdańsk. Das Ringen um die kulturelle Deutungshoheit in ArchitekturBildbänden“. Visuelle Erinnerungskulturen und Geschichtskonstruktion in Deutschland und Polen 1800 bis 1939. Beiträge der 11. Tagung des Arbeitskreises Deutscher und Polnischer Kunsthistoriker und Denkmalpfleger in Berlin, 30. September - 3. Oktober 2004. Hg. Robert Born/Adam Labuda/Beate Störtkuhl. Warszawa 2006. S. 393-406. Über die Inventarisation der beweglichen Kunstdenkmäler, die zunächst in den Händen des Direktors des Danziger Stadtmuseums Walter Mannowsky lag und dann in die Verantwortung Drosts überging, geben die Tätigkeitsberichte des Stadtmuseums Auskunft: APG 1384/6, 1384/8, 1384/9, 1384/63. „Bericht über Stadt- und Kunstgewerbemuseum sowie Denkmalpflege 1933-1938“. APG 1384/8. Bl. 3; „Stadtmuseum und Kunstgewerbemuseum Danzig. Jahresbericht 1938/39“. APG 1384/8. Bl. 45. Zur Frage der Finanzierung siehe den Briefwechsel zwischen Drost, Hiecke und Reinhold in den Jahren 1937-1939 (APG 1384/13); vgl. außerdem Willi Drost. Sankt Johann. Stuttgart 1957. (= Bau- und Kunstdenkmäler des deutschen Osten. Reihe A: Die Kunstdenkmäler der Stadt Danzig. Bd. 1). S. 7. Der genaue Ablauf der Inventarisation wurde in einem Arbeitstagebuch dokumentiert: DSHI 100 Drost 75. Die Dokumentation der von Georg Münter (1900-1965) in den Jahren von 1935-38 unter Leitung von Drost durchgeführten Inventarisation der Danziger Bürgerhäuser wird in sieben Akten im Archiv des Nationalmuseums in Danzig (Muzeum Narodowe w Gdańsku) aufbewahrt. Eine Auswertung dieses Bestandes wird vorgenommen in: Studia i materiały z dziejów domu gdańskiego. [Studien und Materialien zur Geschichte des Danziger Bürgerhauses]. Teil 2. Hg. Edmund Kizik. Gdańsk, Warszawa 2011. Zur Inventarisation selbst siehe hierin vor allem den Beitrag von Ewa Barylewska-Szymańska. „Kamienice gdańskie w zapiskach inwentaryzacyjnych Georga Müntera z lat
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Inventar verfasst, die bis 1945 offensichtlich für weite Bereiche fertiggestellt waren, aber aufgrund der Kriegssituation zunächst unveröffentlicht blieben (Abbildung 7).
Abb. 7: Seite der 1935 unter der Leitung von Drost vorgenommenen Inventarisation der Kunstdenkmäler der Kirche St. Johann, Danzig. Die Beschreibung dokumentiert Teile der Taufkapelle; vgl. hierzu die fotografische Dokumentation des Taufbeckens auf Abb. 9, S. 29 1935-1938 [Die Danziger Bürgerhäuser in den Aufzeichnungen der Inventarisation Georg Münters aus den Jahren 1935-1938]“. S. 219-249.
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Seit etwa 1943 waren diese Aktivitäten zur regulären Inventarisation offenbar gedrosselt worden.63 Parallel hierzu zeitigte jedoch der Fortgang des Krieges Inventarisationskampagnen, in denen sich das ursprüngliche Grundanliegen einer Inventarisation, nämlich Voraussetzung für die Pflege und den Erhalt der Denkmäler zu sein, verkehrte. So war bereits im März 1940 an die Konservatoren in den Gauen des Deutschen Reiches Aufforderungen zur Inventarisation von Kircheninventar, insbesondere der Kirchenglocken ergangen, die als Vorbereitung einer zielgerichteten Zerstörung dieser Objekte für die Gewinnung von Metallressourcen dienen sollte. Diese Inventarisation lag für den Reichsgau DanzigWestpreußen – soweit aus den erhaltenen Unterlagen geschlossen werden kann – gleichfalls in den Händen Drosts, der seinerseits bemüht war, die einzelnen Kirchenglocken in einer mehrfachen Überarbeitung der erstellten Listen sukzessive aufzuwerten, um somit die Chancen ihrer Bewahrung zu erhöhen.64 Darüber hinaus wurde die Stadt Danzig in den Einsatz der sogenannten Baugruppe Keibel (1942-44) einbezogen, die dem Reichsministerium der Finanzen untergeordnet war.65 Deren Aufgabe war es, unter der Leitung Jacob Deurers (1898-1960) für eine Dokumentation sowie die Sicherung und Demontage Danziger Bau- und Kunstwerke, deren Zerstörung durch den nahenden Krieg als wahrscheinlich zu befürchten stand, Sorge zu tragen. Die in diesem Rahmen umfänglich angefertigten Zeichnungen und Fotos, insbesondere der Danziger Orgeln, sollten eine Rekonstruktion nach dem Kriege ermöglichen (Abbildung 8).66 Wie auch schon die Inventarisationskampagnen in der Zeit der Freien Stadt Danzig in einer engen Rückkopplung mit den entsprechenden Initiativen im Deut63
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Es kann dies aus den leider nur noch rudimentär erhaltenen Akten des Konservators beim Reichserziehungsministerium geschlossen werden, die im Bundesarchiv Berlin aufbewahrt werden. Die Glocken wurden nach den Gruppen A, B, C klassifiziert. Die Glocken der Klassen A und B waren zur Einschmelze vorgesehen. Für eine Einstufung in die Klasse C musste neben den besonderen klanglichen Eigenschaften auch ein besonderer künstlerischer und historischer Wert bestehen. Zu letztgenanntem Kriterium siehe: Schreiben von Robert Hiecke vom 02.03.1940 (vermutlich an die Denkmalpfleger in den Reichsgauen gerichtet), APG 1384/16, Bl. 4-5. Zur Klassifizierung und Beschlagnahme der Glocken siehe: Ludwig Veit. „Das Deutsche Glockenarchiv im Germanischen Nationalmuseum 1965-1985“. Lusus Campanularum. Beiträge zur Glockenkunde. Sigrid Thurm zum 80. Geburtstag. Hg. Tilmann Breuer. München 1986 (= Arbeitshefte des Bayrischen Landesamts für Denkmalpflege. Heft 30). S. 91-98, insbesondere S. 91-94. Die Tätigkeit der Baugruppe Keibel war eine von mehreren Aktionen, die in Erwartung umfangreicher Zerstörungen durch die Kriegshandlungen in einem rasanten Tempo Bau- und Kunstdenkmäler dokumentierten. Historisch bereits aufgearbeitet ist eine andere solche Aktion, der sog. „Führerauftrag Monumentalmalerei“. Vgl. „Führerauftrag Monumentalmalerei“. Eine Fotokampagne 1943-1945. Hg. Christian Fuhrmeister. Köln 2006. Die Abb. 8 befindet sich auf der Ausklapptafel vor Seite 217. – Eine Kopie der umfangreichen Aufnahmezeichnungen und der Fotodokumentation der Baugruppe Keibel in Danzig befindet sich im Nachlass von Jacob Deurer: APG 1629. Einen Überblick über diesen Quellenbestand gibt: Hanna Domańska. „Problem ochrony zabytków Gdańska w okresie drugiej wojny światowej [Probleme des Schutzes Danziger Denkmäler in der Zeit des Zweiten Weltkrieges]“. Ochrona zabytków 32 (1979). H. 2. S. 127-130. Die Tätigkeit der Baugruppe Keibel in Danzig ist darüber hinaus detailreich dokumentiert in: GStA PK I HA Rep. 151 Finanzministerium Sek. IV. Nr. 2407, 2407/1, 2407/2, 2407/3, 2407/4, 2407/5, 2408, 2409, 2409/1. Bei den letztgenannten drei Akten handelt es sich um eine weitere Kopie der Dokumentation einzelner Kirchen. Einige wenige Zeichnungen und Fotos, die im Rahmen dieser Dokumentation erstellt wurden, sind publiziert in: Wolfgang Günter Deurer. Danzig. Die Dokumentation 52 historischer Kirchen. Wesel 1996.
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schen Reich durchgeführt worden waren, so wurden auch die Glockeninventarisation und die Aktivitäten der Baugruppe Keibel zentral von den verantwortlichen Einrichtungen auf Reichsebene gesteuert und für die Durchführung lokale Kompetenzen und Kapazitäten hinzugezogen.
Das Inventar im Dienste der Erinnerungsarbeit Es gelang, die Dokumentation der Baugruppe Keibel wie auch die Dokumentation der Inventarisation der Kunstdenkmäler, die Drost mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erstellt hatte, vor der Zerstörung durch den Krieg zu bewahren.67 Im Jahr 1953 trat der 1950 gegründete Herder-Forschungsrat an Drost mit dem Vorschlag heran, das Material zu publizieren.68 Aus Anlass dieser Veröffentlichung wurde durch den Herder-Forschungsrat auch die Reihe Bau- und Kunstdenkmäler des deutschen Ostens begründet. Der Hauptanteil der Finanzierung der Bände wurde vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen und von der Vertretung der Freien Stadt Danzig in Lübeck bestritten.69 Den innerhalb dieser Reihe bis 1972 veröffentlichten fünf Inventarbänden der Serie A (Die Kunstdenkmäler der Stadt Danzig), die die Inventare der Danziger Kirchen beinhalten, kam jedoch weniger die Aufgabe zu, den vorhandenen Bestand zu dokumentieren, denn durch die Folgen des Krieges war die Inventarisation zu einem beträchtlichen Teil zu einer Dokumentation des Zerstörten geworden. Sie war selbst „Urkunde“70 geworden, wie Drost feststellte, der diese Dokumentation aufarbeitete, ohne weitere Recherchen vorzunehmen. Einzige Ergänzung war ein der jeweiligen Kirche vorangestellter Überblick über die Baugeschichte. Diesem folgten die einzelnen Ausstattungsstücke der Kirchen in der Reihenfolge ihrer funktionalen Bedeutung innerhalb des Kircheninventars. Erfasst wurden sowohl Objekte der Malerei und der Skulptur als auch liturgisches Gerät, Paramente und die Ausstat67
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In einem Brief berichtete Drost dem Präsidenten des Stammtisches ehemaliger Danziger Studenten Friedrich Löhr darüber, dass die Unterlagen sowohl der Bauinventarisation wie auch der Inventarisation der beweglichen Kunstdenkmäler 1945 unter der Aufsicht von Keyser nach Hamburg gebracht worden seien. Drost habe die Unterlagen zurückerhalten, hingegen habe Volmar vergeblich um eine Rückgabe der Bauinventarisation gerungen. Brief Drost an Löhr vom 01.12.1953. DSHI 100 Grundmann 83/4. o.P. Nach Prüfung der Fotosammlung, die das Herder-Institut in Marburg zu Danzig aufbewahrt, ist zu schließen, dass Keyser die Fotodokumentation, die im Zuge der Bauinventarisation entstanden war, dem Herder-Institut übergeben hat. Brief Grundmanns an Drost vom 07.07.1953. DSHI 100 Grundmann 83/4. o.P. Beantragung von Finanzierungshilfen durch den Herder-Forschungsrat an das Ministerium für Vertriebene. DSHI 100 Grundmann 102. o.P.; Brief der Vertretung der Freien Stadt Danzig vom 24.01.1955 an Keyser mit der Bewilligung eines Kostenzuschusses für die Inventarbände. DSHI 100 Grundmann 83/4. o.P.; Referat Grundmanns über die Tätigkeit der kunsthistorischen Fachgruppe auf der Tagung des Herder-Forschungsrates, Marburg 29.04.1955. DSHI 100 Grundmann 102. o.P.; Brief H. Köller vom 17.08.1962 an Drost mit der Information über die Finanzierung des vierten Bandes der Kunstdenkmäler der Stadt Danzig. DSHI 100 Grundmann 83/1. o.P. Willi Drost. „Vorwort des Verfassers“. Sankt Johann (wie Anm. 61). S. 7. Entsprechend auch: Günther Grundmann. „Vorwort des Herausgebers“. Sankt Johann (wie Anm. 61). S. 6.
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tung der Nebenräume bis hin zu einigen technischen Details. Der berücksichtigte historische Zeitraum wurde dabei mit dem Einschluss der Kriegerdenkmäler, die nach dem Ersten Weltkrieg in den Kirchen errichtet worden waren, bis in das 20. Jahrhundert ausgedehnt. Die Beschreibungen der Ausstattungsstücke wurden auf die historischen Fakten und auf das Wesentliche der Erscheinung konzentriert, die ikonografischen Programme umfassend benannt und Inschriften ausführlich zitiert. Die verbale Darstellung wurde mit zahlreichen Fotos, zunächst im laufenden Text, später als Abbildungsteil, ergänzt. (Abbildung 9) Ein Anliegen, welches Drost mit der reichen fotografischen Ausstattung der Bände verfolgte, formulierte er 1956 in einem Brief an Günter Grundmann (1892-1976). Darin forderte er, dass mittels der fotografischen Abbildungen der Eindruck der Intensität und Fülle entstehen und auf jeden Fall Leere vermieden werden müsse.71 Dass mit „Fülle“ hierbei nicht nur eine ästhetische Dimension angesprochen war, macht eine Überlegung Hermann Aubins (1885-1969) in dessen Finanzierungsantrag für die Danziger Inventare beim Ministerium für gesamtdeutsche Fragen deutlich. Er schrieb darin: Denn erst die Publikation einer solchen Fülle heute nicht mehr vorhandener Kunstwerke legt in ihrer sachlichen Darstellung, ohne auch nur ein polemisches Wort hinzufügen zu müssen, öffentliches Zeugnis für die deutsche Kulturleistung im Osten ab.72
Die übergeordnete Idee, auf die der Denkmalbestand in seiner Bedeutung projiziert wurde, blieb also auch hier die Nation der Deutschen, deren Vitalität sich in den kulturellen Zeugnissen der Stadt Danzig veranschauliche. Die Strategien, dem in den Inventaren Ausdruck zu geben, waren vielfältig. Drost lenkte in seinem Vorwort zum ersten Band (St. Johann, 1957) die Rezipienten auf die „erstaunliche […] Fülle ornamentalen Werks, mit dem die lebensvolle Stadt, besonders in den Jahrhunderten des Barock, ihren unerschöpflichen Gestaltungsdrang bekundete“73 und unterstrich auf diese Weise das schöpferische Potential der Danziger. Grundmann erkannte darüber hinaus „neben Formen“ in den „zahllosen Namen und Inschriften an den Kirchenausstattungen“ einen Beweis für deren durch Jahrhunderte hinweg „deutschen Charakter“.74 Schließlich merkte Drost in einem Brief an Grundmann an, dass er bis auf Sankt Brigitten „alle nennenswerten kath[olischen] Kirchen in unserm Inventarb[an]d 3 vereinigt“ habe. Auf Sankt Brigitten habe er jedoch zunächst verzichtet, damit der Band nicht benutzt werden könne, „um nachzuweisen, dass Danzig kath[olisch] und polnisch war.“75 71 72 73 74 75
Brief Drosts vom 11.10.1956 an Grundmann. DSHI 100 Grundmann 83/4. o.P. Brief Aubins vom 21.02.1955 an das Bundesministerium. DSHI 100 Grundmann 83/4. o.P. Willi Drost. „Vorwort des Verfassers“. Sankt Johann (wie Anm. 61). S. 7. Günther Grundmann. „Vorwort des Herausgebers“. Sankt Johann (wie Anm. 61). S. 6. Brief Drosts an Grundmann vom 30.06.1962. DSHI 100 Grundmann 83/1. o.P. St. Brigitten wurde erst aufgenommen in: Willi Drost. St. Trinitatis, St. Peter und Paul, St. Bartolomäi, St. Barbara, St. Elisabeth, Hl. Geist, Engl. Kapelle, St. Brigitten. Bearb. v. Franz Swoboda. Stuttgart 1972 (= Bau- und Kunstdenkmäler des deutschen Ostens. Reihe A: Kunstdenkmäler der Stadt Danzig. Bd. 5).
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Abb. 9: Doppelseite in Willi Drost. St. Johann. Stuttgart 1957. – Vgl. hierzu die handschriftliche Dokumentation des Taufbeckens von 1935 auf Abb. 7, S. 25
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Neben diesem politisch motivierten Interesse an den Inventaren, in dem sich der beharrliche Anspruch der Deutschen auf das nunmehr Polen zugehörige Danzig spiegelt, waren die Inventare, indem sie nicht nur Dokumentation des Zerstörten, sondern auch des Verlorenen waren, zugleich Mittel der Trauerarbeit. Grundmann sprach in seinem Nachruf auf Drost von einem „gleichsam letzten Liebesdienst“, den Drost wie auch er selbst in der Auswertung der geretteten Denkmal- und Fotoarchive, „der verlorenen Heimat“ habe erweisen können.76 Die Verantwortung für die Erhaltung der Denkmäler wurde somit in eine Verantwortung für deren Erinnerung umgewertet. Diese Erinnerung wurde dabei durch die Ausblendung der Kriegsfolgen in den ersten Bänden in den Zustand einer scheinbaren Gegenwart versetzt. Mit dem Band zur Marienkirche (1963) trat jedoch eine bemerkenswerte, vor allem aber grundlegende und nachwirkende Wandlung ein. Nicht nur wurde darin in Wort wie auch in Bild die Zerstörung der Marienkirche 1945 und ihr anschließender Wiederaufbau in der Volksrepublik Polen reflektiert, sondern es wurde hierfür auch eine Kooperation mit polnischen Kollegen aufgenommen, als deren Vertreter der an der Politechnika Gdańska lehrende Architekturprofessor und -historiker Marian Osiński (1883-1974) im Band selbst zu Wort kam.77 Drost gab in diesem Zusammenhang seiner Hoffnung Ausdruck, dass „Wissenschaft und Kunst die immer verbindenden Brücken bleiben“ und im vorliegenden Band die „heutigen Betreuer der Marienkirche“ Anknüpfungspunkte für Ihre Arbeit finden mögen.78 Mit diesem Vorstoß Drosts, der einen ersten Schritt auf dem Weg zur Idee vom sogenannten ‚gemeinsamen Kulturerbe‘ von Deutschen und Polen darstellte, wurde mit einem grundlegenden Element der hier vorgestellten Initiativen zur Inventarisation der Bau- und Kunstdenkmäler gebrochen.
Das Inventar als politisches Argument Da der polnische Staat sich in der Zwischenkriegszeit in der Denkmälerinventarisation zunächst auf Gebiete konzentrierte, die bis dahin noch nicht erfasst worden waren, gingen die Inventarisationen des hier untersuchten Gebietes vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1945 auf deutsch geprägte Staatlichkeit zurück. Damit verbunden war für all diese Initiativen die Vorstellung einer deutschen Nation jene Idee, auf die hin der ideelle Wert der Denkmäler bestimmt wurde. Den zentralen historischen Bezugspunkt bildete dabei die Herrschaftszeit des Deutschen 76
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Günther Grundmann. „In memoriam Professor Dr. Willi Drost. Gedenkrede anlässlich der Tagung der Künstlergilde in Eßlingen am 21. Mai 1965“. Drost. St. Trinitatis (wie Anm. 75). S. VII. Marian Osiński. „Zur Wiederherstellung der Marienkirche nach 1945“. Willi Drost. Die Marienkirche in Danzig und ihre Kunstschätze. Stuttgart 1963 (= Bau- und Kunstdenkmäler des deutschen Ostens. Reihe A: Kunstdenkmäler der Stadt Danzig. Bd. 4). S. 68f. Ebd. S. 8.
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Ordens. Damit ließ sich die Region mit ihrem spezifischen Bestand an Denkmälern und im Zuge der Aneignung der Geschichte des Deutschen Ordens für die deutsche Geschichtsdeutung vorzüglich in den übergeordneten nationalen Diskurs integrieren. Zugleich konnte eine Distanz zur Zeit der polnischen Herrschaft hergestellt werden. Während Heise in der Wertung dieser stets als konfliktreiche Polarität wahrgenommenen historischen Konstellation den zivilisatorischen Fortschritt, der durch den Deutschen Orden erreicht worden sei, betonte, stilisierte sie Schmid unter dem Eindruck zunehmender nationalpolitischer Spannungen zu einem existenziellen Kampf zweier Kulturen. In der Auseinandersetzung um die nationale und staatliche Zugehörigkeit Danzigs nach dem Ersten Weltkrieg wurde mit dem von Gruber und Keyser verfassten Inventar der Marienkirche die bei Schmid introvertierte Fokussierung auf den Heimatwert in eine selbstbewusste und offensive Betonung der Rolle der sogenannten Ostkolonisation des Mittelalters für das nationale deutsche Erbe umgewandelt. Diese Aspekte bildeten den ideellen Rahmen, der zumeist in den Vorworten und den Einleitungen der Inventarbände gesetzt wurde. Die Bearbeitung der innerhalb dieses Rahmens als Denkmäler bestimmten Objekte erfolgte sodann zu allen hier besprochenen Zeiten auf einem ausgesprochen hohen fachlichen Niveau, welches unmittelbar die auf Reichsebene diskutierten Probleme der Denkmalinventarisation reflektierte. Die teilweise forcierte Integration neuer Methoden und Vorstellungen der Denkmalinventarisation in die Inventarisationsarbeit vor Ort scheint dabei durch die spezifische politische Situation des Gebietes mit dem Ziel der Gewinnung wissenschaftlich belastbarer Aussagen in der Auseinandersetzung um die Deutungshoheit über die Geschichte der Region und insbesondere der Stadt Danzig zusätzlich befördert worden zu sein. Auffällig hierbei ist, dass neben der Verpflichtung der Inventarisatoren durch den jeweiligen Staat bzw. dessen nachgeordnete Instanzen gerade in Zeiten der Krise, in denen das als national deklarierte Erbe als besonders bedroht wahrgenommen wurde bzw. es gänzlich der Obhut der selbstbestimmten Erben zu entgleiten schien, etwa in den Aktivitäten der TH Danzig oder aber des Herder-Forschungsrates eine erstaunliche Selbstverpflichtung der intellektuellen Eliten zur Sicherung dieses Erbes – und sei es nur in der Erinnerung – in Erscheinung trat. Da den Bau- und Kunstdenkmälern ein eigener und aussagekräftiger Zeugniswert zugeschrieben wurde, der politisch instrumentalisierbar zu sein schien, gelang es diesen Eliten, übergeordnete Instanzen, sei es zur Zeit der Freien Stadt Danzig im Deutschen Reich oder nach dem Krieg das Ministerium für gesamtdeutsche Fragen, für ihre Anliegen zu interessieren. Die Inventarisation der Bau- und Kunstdenkmäler des hier untersuchten Gebietes und deren Präsentation in den Inventarbänden erweist sich somit vor allem in Reaktion auf die Folgen der beiden Weltkriege als stark politisiert. Die im Zuge der Veröffentlichung der Danziger Kircheninventare aufgenommene Kooperation zwischen deutschen und polnischen Wissenschaftlern
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war demgegenüber ein Ausgangspunkt, der einer Entpolitisierung dieses wissenschaftlichen Verfahrens den Weg bereitete. Ein Ergebnis dieser Entwicklung ist der in einer breiten Zusammenarbeit zwischen dem Herder-Institut (Marburg), der Dehio-Vereinigung und dem Krajowy Ośrodek Badań i Dokumentacji Zabytków [Landeszentrum für die Erforschung und Dokumentation von Denkmälern] herausgegebene Band „Schlesien“ in der Reihe der Dehio-Handbücher der Kunstdenkmäler in Polen.79 Es wäre wunderbar, wenn im Rahmen einer solchen Kooperation auch ein Kurzinventar dieser Art für das hier besprochene Gebiet entstünde,80 das die Idee des gemeinsamen Kulturerbes fortführte und mit kritischer Reflektion sowohl an das Werk der deutschen Inventarisatoren wie auch an die seit 1945 von den polnischen Konservatoren geleisteten inventarisatorischen Arbeiten anknüpfte.81 ____________________ Zusammenfassung Mit den Dotationsgesetzen wurde im Jahre 1875 den preußischen Provinzen die Verantwortung für den Erhalt der Bau- und Kunstdenkmäler übertragen. Die in diesem Zuge in Westpreußen in deutscher Bearbeitung in Angriff genommene systematische Erfassung des baulichen und künstlerischen Erbes und deren Publikation in Inventaren dauerte unter verschiedener institutioneller Obhut bis in die Zeit nach 1945 an. Es zeigt sich, dass im Verlauf der Inventarisationen die Kriterien, nach denen der Denkmalwert eines Objektes bestimmt wurde, in Abhängigkeit von den unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (der preußischen Provinz, der Freien Stadt Danzig, des Reichsgaus Danzig-Westpreußen sowie der Situation nach Krieg und Flucht) Wandlungen unterlagen. In unmittelbarer Reaktion auf die jeweilige historische Situation wurden mit der Denkmalinventarisation verschiedene Zielstellungen verknüpft. In Abhängigkeit von der spezifischen geopolitischen Lage des Gebietes weist die Denkmalinventarisation im Vergleich zu anderen deutschen bzw. ehemals deutschen Gebieten somit Besonderheiten auf. Dabei lässt sich einesteils eine zunehmend nationalpolitische Interpretation der Bau- und Kunstdenkmäler beobachten, andernteils änderte sich die visuellen Strategien der Inventarbände, die 79
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Dehio-Handbuch der Kunstdenkmäler in Polen. Schlesien. Hg. Ernst Badstübner/Dietmar Popp/Andrzej Tomaszewski/Dethard von Winterfeld. München, Berlin 2005. Im Rahmen der Reihe der Kurzinventare Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler fand das hier besprochene Gebiet bereits Aufnahme in: Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Bd. 2: Nordostdeutschland. Berlin 1905 (bis 1943 in sechs Auflagen) und Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler (neubearbeitet von Ernst Gall). Dt. Ordensland Preußen. Bearb. u. Mitwirkung von Bernhard Schmid und Grete Tiemann. München, Berlin 1952. Der Band erschien überarbeitet als: Dehio Handbuch der Kunstdenkmäler Westund Ostpreußen. Die ehemaligen Provinzen West- und Ostpreußen (Deutschordensland Preußen) mit Bütower und Lauenburger Land. Bearb. von Michael Antoni. München, Berlin 1993. Zu Letztgenanntem siehe die Rezension von: Adam S. Labuda. Zeitschrift für Kunstgeschichte 57 (1994). H. 1. S. 123-129. Einen Überblick über den Bearbeitungsstand des Gebietes im Rahmen des Katalog Zabytków w Polsce [Katalog der Denkmäler in Polen] gibt: Kałamajska-Saeed. „The catalogue of monuments of art“ (wie Anm. 48).
Die Inventarisierung von Bau- und Kunstdenkmälern in Danzig und Westpreußen
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einmal auf die Ansprache eines breiten Publikums, ein anderes Mal auf eindrucksvolle Repräsentation, ein drittes Mal schließlich auf sachliche Dokumentation ausgerichtet waren. Streszczenie ‚Prowincja‘ – ‚ojczyzna‘ – ‚naród‘. Inwentaryzacja pomników architektury i sztuki w Gdańsku i w Prusach Zachodnich (1879-1945) oraz ich opracowanie w RFN Na mocy tzw. ustaw dotacyjnych odpowiedzialność za utrzymanie zabytków architektury i sztuki przeniesiono w 1875 roku na pruskie prowincje. Podjęte wówczas przez Niemców systematyczne ewidencjonowanie dziedzictwa architektonicznego i kulturowego w Prusach Zachodnich oraz publikowanie stosownych inwentarzy kontynuowano pod nadzorem różnych instytucji aż do czasów po 1945 roku. Okazuje się, że stosowane podczas inwentaryzacji kryteria oceny zabytkowej wartości danego obiektu podlegały zmianom w zależności od panujących w danym miejscu i czasie uwarunkowań politycznych i społecznych (w pruskiej prowincji, Wolnym Mieście Gdańsk czy Okręgu Rzeszy Gdańsk-Prusy Zachodnie oraz od sytuacji po wojnie i ucieczce). W bezpośredniej reakcji na daną sytuację historyczną z inwentaryzacją zabytków wiązano różne cele. W zależności od specyficznego położenia geopolitycznego danego terytorium inwentaryzacja zabytków wykazuje w porównaniu z innymi niemieckimi względnie byłymi niemieckimi terytoriami pewne cechy szczególne. Z jednej strony daje się zauważyć coraz silniejsza, narodowo-polityczna interpretacja zabytków architektury i sztuki, z drugiej strony zmianie ulegała wizualna strategia inwentarzy, które jednym razem zwracają się do szerokiego grona odbiorców, innym razem są imponującą reprezentacją, a jeszcze innym razem pretendują do miana rzeczowej dokumentacji. Abstract ‘Province’ – ‘Homeland’ – ‘Nation’. The Archiving of Listed Buildings and Art Monuments in Gdansk and West Prussia (1879-1945) and their Handling in the FRG In the year 1875 the Endowment Acts transferred to the Prussian provinces the responsibility for the maintenance of the architectural monuments and art monuments. The systematic recording of the architectural and artistic inheritance which was undertaken on this occasion by the Germans and the publication of such in inventories remained a responsibility of various institutions until the period after 1945. It is evident that in the course of the inventories the criteria according to which the historic value of a property was determined were subject to changes depending on the different political and societal circumstances (the Prussian province, the Free City of Danzig, the imperial district Danzig-West Prussia
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Katja Bernhardt
and the situation after war and refuge). As a direct reaction to the respective historic situation different aims were associated with the inventory of historic monuments. In connection with the specific geopolitical situation of the area the inventory of historic monuments thus shows special features in comparison with other German or formerly German areas. On the one hand one can observe here an increasingly nationalistic interpretation of the architectural and artistic monuments, on the other hand the visual strategies of the inventory volumes change. At one time they try to appeal to a wide public, another time the aim is impressive representation and a third time the goal is factual documentation.
Peter Oliver Loew (Darmstadt/Deutschland)
Danzig – unverwechselbar? Imaginierte Soundscape, bürgerliches Musikleben und musikalische Individualitäten einer historischen Stadt im 19. und 20. Jahrhundert Das Besondere der Stadt Städte glichen sich und gleichen sich: Rathaus, Marktplatz, Pfarrkirche, Mauern, Türme, Schule, Werkstätten, Fabriken, Bahnhof, Pranger, Galgen, Wasserleitungen und Kanalisation, Wappen, Bürgermeister, Bettler – lauter sich gleichende Dinge in einer mitteleuropäischen Stadt. Aber nicht nur die Funktionen ähneln einander, sondern auch die Geschichten: gegründet, gebaut, erobert, zerstört, erweitert, aufgestiegen, niedergegangen. Dieser oder jener Bürgermeister, Graf oder König, dieser oder jener Künstler oder Bankier haben ihre Spuren hinterlassen. Aber nicht nur die Geschichten ähneln sich, sondern auch die Texte: Urkunden, Nachlassinventare, Chroniken, Sterbebücher, Gedichte, Lebenserinnerungen, Romane, Sonaten, Sinfonien. Dennoch ist die komplexe Textur mitteleuropäischer Städte keineswegs identisch, im Gegenteil – sie ändert sich von Mal zu Mal, unmerklich und unfassbar. Landschaft und Licht, Rhythmus und Geschwindigkeit, Harmonie und Bruch, immer wieder auch das steingeworden Einzigartige – das scheinbar Gleiche ist in Wahrheit different. Städte besitzen eine eigene Biographie. Die Stadtforschung hat sich in den letzten Jahren verstärkt dem Problem der jeweiligen Einzigartigkeit von Städten zugewandt, damit Generationen von Strukturforschung hinter sich gelassen und sich auf neuen Wegen der alten Erkenntnis angenähert, dass Städte ihre jeweils eigenen Geschichten haben. Alt ist diese Erkenntnis insofern, als diese individuellen Geschichten natürlich immer wieder beschrieben und erforscht wurden, wenn auch methodisch oft wenig elaboriert und mit einem meist heimathistorisch-positivistischen Fokus. Helmuth Berking und Martina Löw haben nun die theoretische Erörterung vorangebracht und den Begriff der „Eigenlogik“ von Städten geprägt. Aus soziologischer Perspektive schlagen sie vor, die „distinkte Entwicklung einer Stadt […] ortsspezifisch und ortsspezifisch erfahrbar“ zu erfassen. Sie [die Stadt, Anm. d. Verf.] ist weder eine individuelle und deshalb nicht zu verallgemeinernde Wahrnehmungsqualität, noch bloßes Resultat kapitalistischer Strukturen. Vielmehr
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Peter Oliver Loew existiert eine routinisierte und habitualisierte Praxis […], die ortsspezifisch im Rückgriff auf historische Ereignisse, materielle Substanz, technologische Produkte, kulturelle Praktiken, ökonomische oder politische Figurationen (und deren Zusammenspiel) geschieht. Interpretationen unterscheidender Materialität, politische und ökonomische Figurationen et cetera entfalten sich aus dem Vergleich und im historischen Bezug.1
Die praktische Umsetzung dieser theoretischen Perspektive ist jedoch nicht ganz einfach, denn Unterschiede zwischen Städten lassen sich nun zwar leicht erkennen, verspüren, vermuten, aber nur schwer empirisch untersuchen. Nimmt man, wie Marianne Rodenstein dies vorgeschlagen hat, „strukturelle Bedingungen politischer und ökonomischer Art“, aus denen sich „das Selbstverständnis, die politische Kultur, die Stadtgestaltung und die Atmosphäre einer Stadt ableiten“ lassen2, so gelangt man freilich zu Differenzen, die naturräumlich, städtebaulich oder aber unter Rekurs auf die Geschichte, also erinnerungs- und geschichtskulturell, definiert werden können. Allerdings stellt sich auch hier die Frage, ob ein Gutteil aller Unterschiede tatsächlich mehr ist als Rhetorik und Ornament. Und es gibt auch Städte, die sich selbst in dieser Hinsicht kaum voneinander unterscheiden, pommersche Provinzstädte beispielsweise: Rathaus, Backsteinkirche, Bahnhof, der nahe See – alles zum Verwechseln ähnlich, in der Geschichte wie in der Gegenwart. Wie aber steht es mit anderen Gebieten, wie steht es insbesondere mit dem Bereich der Künste? Schon bei der (schöngeistigen) Literatur und ihrer Geschichte stellt sich die Frage nach urbaner Singularität mit größerer Vehemenz, denn Literatur und literarische Tendenzen waren (und sind) keineswegs auf eine Stadt beschränkt, sondern sie standen (und stehen) in engem Bezug zu größeren Räumen, Literaturlandschaften, „Erzählregionen“3, nationalkulturellen und transnationalen Entwicklungen. Was die Literatur von Städten voneinander unterschied (und unterscheidet), war (und ist) häufig lediglich auf der stoff- und motivgeschichtlichen Seite zu suchen, obschon für weite Teile des literarischen Schaffens, das nicht gerade der ‚Höhenkammliteratur‘ angehört, zu verzeichnen ist, wie austauschbar hier im Grunde ‚Stettin‘, ‚Königsberg‘ oder ‚Leipzig‘ sind. Nur wenige Städte heben sich deutlich ab, etwa Danzig, das insbesondere durch das Schaffen von Günter Grass, aber auch Stefan Chwins und Paweł Huelles sogar zu einem literarischen Erinnerungsort Europas geworden ist. Und verhält es sich mit der Musik und ihrer Geschichte im Grunde nicht ähnlich? Ist das, was im 19. Jahrhundert in Luxemburg am Klavier geklimpert wurde, nicht dasselbe wie in Trier oder Saarbrücken gewesen? Sind die Chorkan1
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Martina Löw. „Eigenlogische Strukturen – Differenzen zwischen Städten als konzeptuelle Herausforderung“. Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung. Hg. Helmuth Berking/dies. Frankfurt, New York 2008. S. 33-53, S. 44. Marianne Rodenstein. „Die Eigenart der Städte – Frankfurt und Hamburg im Vergleich“. Die Eigenlogik der Städte (wie Anm. 1). S. 261-311, S. 308. Armin von Ungern-Sternberg. „Erzählregionen“. Überlegungen zu literarischen Räumen mit Blick auf die deutsche Literatur des Baltikums, das Baltikum und die deutsche Literatur. Bielefeld 2003.
Danzig – unverwechselbar?
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taten, die ein großer Gesangverein an der Wende zum 20. Jahrhundert in Stuttgart aufführte, nicht ganz und gar dieselben wie jene, die die stolzen Sangesbrüder in Düsseldorf zu Gehör brachten? Und sind die Sinfonien, die ein Kapellmeister aus Königsberg in seinen Morgenstunden schrieb, so ganz verschieden von denjenigen seines Grazer Kollegen? Die Antwort lautet – ja, und doch auch nein: Nein, wenn man musikalische Werke ohne ihren sozialen, räumlichen und biographischen Entstehungs- und Aufführungskontext betrachtet – und ja, wenn man ihre Einbindung in lokale soziale Netzwerke und räumliche Gegebenheiten berücksichtigt, vor allem auch ihre Funktion bei der ‚kulturellen Nationsbildung‘ und der Konstruktion von ‚Nationalmusik‘ im 19. Jahrhundert.4 Obschon auch in diesem Fall der von Martina Löw eingeforderte Vergleich nur manchmal weiterführt, dann nämlich, wenn evident distinkte Städte miteinander verglichen werden, Städte, die sich insbesondere durch ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen kulturräumlichen Kontexten, zu nationalen Erzählgeflechten und Sprachgebieten unterscheiden, etwa Budapest und Manchester, Sevilla und Riga, Oslo und Athen, meinetwegen auch Frankfurt und Hamburg. Vergleicht man hingegen Pasewalk mit Angermünde oder auch Leipzig mit Breslau, so bleibt jenseits rhetorischen ‚Getöses‘ und einzelner Erinnerungs- und Identitätsfiguren wenig Distinktes übrig. Ich möchte im Folgenden keinen Vergleich anstellen, sondern die „Eigenlogik der Städte“ auf eine Stadt beschränken, auch wenn vergleichende Elemente selbstverständlich präsent sein werden. Der Untersuchungsgegenstand ist Danzig, die Grundlage sind meine Forschungen zur lokalen Kulturgeschichte und Geschichtskultur im 19. und 20. Jahrhundert.5 Ich werde mich vier verschiedenen Problemen widmen. Zunächst nähere ich mich der Singularität Danzigs über das Konzept der Soundscape an, trage Bausteine für die Erforschung der historischen Danziger Klanglandschaft am Beispiel der Glocken zusammen und diskutiere die Aussagekraft der vor allem literarischen Quellen. Dann werfe ich einige Schlaglichter auf das bürgerliche Musikleben der Stadt, um mich anschließend auf die Ebene des musikalischen Werks zu begeben und zu prüfen, ob sich hier besondere Charakteristika feststellen lassen. Am Ende sollen Leben und Schaffen des Danziger Komponisten Johannes Hannemann als Ausdruck besonderer musikalischer Lebens- und Schaffenswelten in der Stadt an der Mottlau interpretiert werden. 4
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Vgl. Philipp Ther. In der Mitte der Gesellschaft. Operntheater in Zentraleuropa 1815-1914. München 2006; Rüdiger Ritter. Wem gehört Musik? Warschau und Wilna im Widerstreit nationaler und städtischer Musikkulturen vor 1939. Stuttgart 2004 (= Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa. Bd. 19). Peter Oliver Loew. Danzig und seine Vergangenheit, 1793 bis 1997. Zur Geschichtskultur einer Stadt zwischen Deutschland und Polen. Osnabrück 2003 (= Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau. Bd. 9); ders. Das literarische Danzig 1793 bis 1945. Bausteine für eine lokale Kulturgeschichte. Frankfurt a. M. [u.a.] 2009 (= Danziger Beiträge zur Germanistik. Bd. 25); „Lexikon Danziger Komponisten (Mitte 19. bis Mitte 20. Jahrhundert). Ein Beitrag zur Geschichte der lokalen Musikkultur“. Musikalische Beziehungen zwischen Mitteldeutschland und Danzig im 18. Jahrhundert. Konferenzbericht Gdańsk 20.-22. November 2000. Hg. Danuta Popinigis/Klaus-Peter Koch. Sinzig 2002 (= Edition IME. Bd. 9). S. 227-312.
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Peter Oliver Loew
Die Erforschung historischer Soundscapes – Theorie oder Praxis? Als ich mich vor kurzem erneut mit der Geschichte der Danziger Musikkultur zu beschäftigen begann, stellte ich mir die Frage, wie man sich ihr wohl jenseits heimat- und lokalhistorischer Sammel- und Jagdleidenschaft nähern könnte. Ich schloss also die Augen und versuchte mir zu vergegenwärtigen, welche Klänge der Stadt mir aus den vielen Jahren, die ich in Danzig verbracht hatte, am deutlichsten entgegentreten. Drei schälten sich rasch heraus: Verkehrsgebraus, das Durcheinander von Taubengurren und Möwengeschrei sowie die Glocken und Glockenspiele. Der sich daraus ableitende Gedanke lautete: Wäre die akustische Umgebung vielleicht eine Möglichkeit, auf der Suche nach der Einzigartigkeit von Städten, nach ihrer historischen ‚Eigenlogik‘, ein Stück weiterzukommen? Natürlich begann ich mich sofort für die Soundscape-Forschung zu interessieren. Schon rasch aber wurde ich stutzig, denn bereits in einem ihrer Gründungstexte, R. Murray Schafers The Soundscape: Our Sonic Environment and the Tuning of the World, heißt es ganz zu Beginn: „The home territory of soundscape studies will be the middle ground between science, society and the arts.“6 Ausgehend von künstlerischen Ideen hat sich zwar eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Phänomen ‚Soundscape‘ entfaltet, und unter Stichworten wie ‚World Soundscape Project‘ oder ‚Akustische Ökologie‘ ist viel praktische Arbeit geleistet worden7, doch ein methodisches Konzept zur Rekonstruktion historischer Klanglandschaften gibt es trotz vieler Bemühungen nach wie vor noch nicht. Murray Schafer hat bereits in den 1970er Jahren ganz allgemein den Wandel von vormodernen, ländlichen zu modernen, urbanisierten Soundscapes beschrieben, die rasch nachlassende Bedeutung von Natur- und Menschenlauten in einer von Werkzeugen, Maschinen und Verkehrsmitteln akustisch geprägten modernen Gesellschaft. In der Frühen Neuzeit waren, wie Bruce R. Smith plastisch geschildert hat, Donner, Kanonenfeuer und Glocken die lautesten Umgebungsgeräusche, deren Dezibelzahl heute aber, in einer Welt der Strahltriebwerke und Bohrmaschinen, alltäglich geworden ist.8 Die Quellen für die Rekonstruktion historischer Klanglandschaften sind jedoch rar und beruhen häufiger auf Vermutungen und Deduktionen denn auf empirisch belegten Erkenntnissen. Dass das Aufkommen auditiver Technologien wie Telefon, Mikrofon und Radio neben den visuellen Technologien – elektrisches Licht, Kino usw. – seit der zweiten
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R. Murray Schafer. The Soundscape. Our Sonic Environment and the Tuning of the World. New York 71994 [1. Aufl. 1977]. S. 4. Vgl. zwei Anthologien mit wichtigen Texten zur Soundscapeforschung: Hearing History. A Reader. Hg. Mark M. Smith. Athens, Georgia 2004; The Auditory Culture Reader. Hg. Michael Bull/Les Back. Oxford, New York 2003. Bruce R. Smith. „The Soundscapes of Early Modern England“. Hearing History (wie Anm. 7). S. 85111. Hier S. 85. Der Text erschien ursprünglich in: Ders. The Acoustic World of Early Modern England: Attending to the O-Factor. Chicago 1999. S. 49-95.
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Hälfte des 19. Jahrhunderts Lebenswelten revolutioniert hat, liegt auf der Hand.9 In einer lauter werdenden Welt mussten sich beispielsweise auch die Menschen lauter unterhalten, um verstanden zu werden, oder sie mussten lauter musizieren, um Gehör zu finden. Wie sich aber urbane Soundscapes konkret dargestellt haben, wird solange unergründet bleiben, wie keine Methode entdeckt wird, mit deren Hilfe akustische Zeitreisen möglich wären; denn zumindest theoretisch denkbar ist es, dass verklungene Töne in der molekularen Materie unserer Welt gespeichert worden sind und dass man sie irgendwann entschlüsseln kann. So aber muss man David Lowenthal zustimmen, dass sich zwar einzelne Klangereignisse der Vergangenheit erahnen und beschreiben lassen, doch: „Am allerwenigsten sind uns klangliche Gesamtbilder aus vergangenen Zeiten zugänglich, das Zusammenspiel von Vorder- und Hintergrundgeräuschen, die Tonlandschaft, in der sich der Alltag abspielte.“10 Eine Möglichkeit, vielleicht doch noch ein Stückchen weiter zu gelangen, hat, von der historischen Anthropologie ausgehend, Alain Corbin aufgezeigt. In seinem Werk über die Glocken im ländlichen Frankreich des 19. Jahrhunderts forderte er eine „besondere Aufmerksamkeit für das Unzeitgemäße, das Ungewohnte – für das, was als lächerlich gilt“. Man müsse es wagen, die „Genese des Bedeutungslosen“ zu untersuchen.11 Da aber auch Corbin sich in seiner Arbeit nur auf ein Element der Soundscape, auf Glocken, konzentriert, lässt sich erahnen, wie ungemein schwierig eine komplexe historisch-kulturanthropologische Soundscapeanalyse sein müsste.
Danzig – die Stadt der Glocken Wollte man die bisherigen Überlegungen am Beispiel Danzigs zusammenfassen, so könnte das ungefähr so lauten: In einer Zeit, in der die Zahl der Geräuschquellen auch in einer großen Stadt wie Danzig beschränkt war, in der es noch keine Motoren gab und keine Radios, keine Züge und keine Bohrmaschinen, war die Stadt viel stiller als heute. Zwar stellte sie für die Zeitgenossen alles andere als einen Ort beschaulicher Ruhe dar, doch aus einem viel leiseren Klangteppich ragte eine geringere Zahl markanter Klänge deutlich heraus. Zu diesen „Signaltönen“, wie Murray Schafer sich ausdrückt, zählten ganz zweifellos die Glocken und Glockenspiele der Stadt, vielleicht sogar in viel stärkerem Maße als in ande9
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Steven Connor. „Sound and the Self“. Hearing History (wie Anm. 7). S. 54-66, v.a. S. 55, 58. Ursprünglich veröffentlicht u.d.T.: „The Modern Auditory I“. Re-writing the Self: Histories from the Renaissance to the Present. Ed. Roy Porter. London 1997. S. 203-223. David Lowenthal. „Auf der Suche nach verlorenen Tönen. Können die Tonlandschaften unserer Vorfahren rekonstruiert werden?“ Unesco Kurier 17 (1976). H. 11. S. 15-21. Alain Corbin. Die Sprache der Glocken. Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1995. S. 15.
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ren Städten der Zeit. Immerhin gab es allein in der historischen Innenstadt (Rechtstadt, Altstadt und Vorstadt) ein gutes Dutzend Kirchen. Beschränken wir uns auf literarische Quellen des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wenn man die Gedichte und Prosawerke mit Lokalbezug auf die hier genannten Klänge und Geräusche analysiert, so frappiert, wie häufig hier das Motiv der Glocken und der Glockenspiele zur Sprache kommt. In seinem 1924 veröffentlichten Jugendroman Die Glocken von Danzig erzählt Paul Enderling12 die Geschichte Jürgen Gieses, des Sohns eines Danziger Patriziergeschlechts, der im Kampf einen polnischen Widersacher niederschlägt, aus der Stadt fliehen muss und erst nach fünf in Brasilien verbrachten Jahren zurückkehrt. Folgende Szene spielt auf dem sich der Heimatstadt nähernden Schiff: Als die Matrosen vorüber waren, sagte Jürgen langsam: „Bartel, ich höre wieder die Glocken.“/„Welche Glocken?“/„Die Glocken von Danzig.“ […] Jürgen schloß lächelnd die Augen und fuhr unbeirrt fort: „So höre ich sie alle. Jetzt die Glocken von Sankt Marien: sie sind schwer und dunkel, voll Trauer und Zorn. Und nun die Glocken von Katharinen. Sie läuten lieblich und voll froher Lockung. Wahrlich, ich höre sie, als ginge ich in der Langgasse vom Artushof dem Hohen Tore zu, oder an der großen Mühle vorüber.“ […] „Meinst gar, ich sei vom Fieber besessen?“, lachte der Jüngling ihn an. […] „Es ist Heimatfieber, Bartel.“ […] „Ich habe die Glocken auch drüben im Urwald gehört, am Lagerfeuer und beim Brüllen der Katarakte am Amazonas. Immer und überall habe ich die Glocken vernommen. Und von Mond zu Mond haben sie vernehmlicher geläutet.“ […] „Ich sah all die Zeit her nur die eine goldene Stadt vor Augen, die – Gott sei gepriesen – nicht versunken ist, sondern als Königin am Strande des baltischen Meeres thront.13
Enderling kehrte in vielen Werken zu diesem Motiv zurück. So lässt er in seinem Roman Fräulein den Helden sagen: Und möchtest dir die Füße wundwandern, um wieder an den Weiden zu stehen vor den Wällen und der verblauenden Silhouette der hundert Türme, um den Klang der Glocken zu hören und das Rauschen der weiten, weiten Wälder und das gleichmäßige Branden des Meeres, das wie eine streichelnde Hand dich ruhig macht. Ruhig, still, fromm. Adagio consolante.14
Und in der dritten Strophe des Gedichts, das er auf Bestellung des Danziger Senats 1923/24 als Text für die Danziger Nationalhymne schrieb, heißt es: Kennt ihr die Stadt, wo deutsche Art/Voll Kraft und Mut ihr Gut bewahrt?/Wo deutsch die Glocken werben,/Und deutsch ein jeder Stein? –/Ja, sollt’ ich selig sterben,/In Danzig, In Danzig müßt’ es sein!15
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Zu Enderling vgl. auch Peter Oliver Loew. „Danziger Sehnsüchte. Paul Enderling (1880-1938) und die Kulturpolitik der Freien Stadt“. Studia Germanica Gedanensia 9 (2001). S. 51-68; ders. Das literarische Danzig (wie Anm. 5). S. 117-124. Paul Enderling. Die Glocken von Danzig. Stuttgart 1924. S. 15ff. Paul Enderling. Fräulein. Stuttgart, Berlin 1920. S. 75f. Vgl. Loew. Das literarische Danzig (wie Anm. 5). S. 122f.
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Das Glockenmotiv taucht in vielen deutschen Danzig-Gedichten vor allem des 20. Jahrhunderts auf, die, nebenbei gesagt, meist Gelegenheitsgedichte waren. So heißt es in dem Gedicht Dem jungen Freistaat eines Anonymus’ 1920: „Und die Glocken deiner Kirchen/Zeugen alter Herrlichkeit,/Wie sie läuten und begleiten/Mich in froh’ und trüber Zeit“.16 Oder bei Ernst Blechs 1927 verfasstem Gedicht In Danzigs alten Gassen: „Ich hör die Glocken klingen/Vom Katharinenturm,/Vom Meer die Wellen singen/Im Sturm, im Sturm, im Sturm …“.17 Sollten die Autoren dieser Romane und Gedichte vielleicht gar keine authentischen Hörerlebnisse aufgeschrieben haben, sondern vielmehr ein Wunsch- und Traumbild von der Soundscape der Stadt Danzig? Ein solches ‚Wunschbild‘ scheint sich jedenfalls auch in Carl Langes Gedicht Die Glocken von Danzig von 1924 zu finden: Hörst du die Glocken, sprach ich zu dir leise,/die fernen Glocken unsrer lieben Stadt? –/ Wir waren still und lauschten ihrer Weise:/Wie doch die Glocke eine Seele hat!//Hörst du den Klang? – Du nicktest nur im Schweigen/und aller Klang in dir und mir versank./Die Dämm’rung wollte sich zum Abend neigen;/doch in uns blieb der Glocken leiser Klang.18
Ein verwandtes Motiv sind die Glockenspiele der Stadt. Danzig besaß traditionell Glockenspiele auf dem Turm des Rechtstädtischen Rathauses und auf dem Turm von St. Katharinen.19 1940 kam ein Glockenspiel auf dem Turm der PaulBeneke-Jugendherberge dazu, das nach dem Zweiten Weltkrieg in den Rathausturm gebracht wurde, weil das dortige Werk bei Kriegsende zerstört worden war, und 2009 schaffte die Stadt ein mobiles Glockenspiel an.20 Die Stadt war auf ihre Glockenspiele stolz, wie auch aus einer ironischen Beschreibung von 1848 hervorgeht: „Es giebt eine Stadt, an dem Gestade eines Meeres, an dem Ufer 16 17
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[Anonym]. „Dem jungen Freistaat“. Danziger Neueste Nachrichten. Nr. 15 (19.01.1920). Ernst Blech (Blech-Trebnitz). „In Danzigs alten Gassen“. Danziger Neueste Nachrichten. Nr. 94 (23.04.1927). [Beilage Volkstum und Heimat]. – Ein Beispiel aus der nationalsozialistischen Zeit stellt Horst Belows Gedicht Wir Danziger Hitlerjungen dar: „Hoch hebt die leuchtenden Fahnen,/Schließt fester die Reihen zum Sturm,/Wenn Glocken zum Kampfe euch mahnen/Vom alten St.-MarienTurm./Lasset hell Fanfaren ertönen!/Trommler, laßt die Trommel dröhnen,/Danziger Jugend zum Sturm!“ Horst Below. „Wir Danziger Hitlerjungen“. Danzig ist Deutsch. Neue Danziger Heimatlieder. Hg. Landeskulturkammer. Danzig 1939. S. 15. Carl Lange. „Die Glocken von Danzig“. Danziger Neueste Nachrichten. Nr. 31 (06.02.1924). – Zu Lange siehe auch Loew. Das literarische Danzig (wie Anm.5). S. 136-139, hier weitere Literatur. Nach einer Beschreibung von 1843: „Glockenspiel, altstädtisches. Es befindet sich auf dem St. Katharinen-Kirchthurm, hat 1738 an 30.000 Gulden gekostet und besteht aus 38 Glocken, welche 9000 Pfunde wiegen. Nicht nur vor dem Schlage der ganzen und halben Stunden spielt es einen Choralvers, sondern läßt sich auch alle Viertel- und Achtelstunden hören, so daß schier des melodischen Geklingels zu viel ist. Außerdem wird dieses Glockenspiel täglich von 11 bis halb 12 Uhr Mittags und Sonntags Abends von 5 bis halb 6 Uhr von einem Musiker mittelst einer Klaviatur gespielt.“ Und: „Glockenspiel, rechtstädtisches. Es befindet sich auf dem Rathhausthurme, ist 1560 angebracht, spielt jedesmal vor dem vollen Stundenschlage einen Choralvers und klingt nicht gar melodisch, weil es nur Glocken mit ganzen Tönen hat.“ Wilhelm Ferdinand Zernecke. Neuester Wegweiser durch Danzig und dessen Umgegend. Danzig 1843. S. 33. „Carillon na kółkach w Gdańsku [Carillon auf Rädern in Danzig]“. Gazeta Wyborcza [Lokalteil Trójmiasto] (30.03.2009).
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eines Flusses mit altehrwürdigem Aussehen, hohen Türmen und schönen Glockenspielen.“21 Interessant ist, dass hier die ansonsten rein visuelle Aussage durch das akustische Element „Glockenspiele“ ergänzt wird – vielleicht ein Hinweis darauf, dass Höreindrücke oft über den Umweg visueller „Eselsbrücken“ erinnert werden? Hierauf wird noch zurückzukommen sein. Wenn sich Schriftsteller an die Glockenspiele erinnerten, so meist mit leisen Klängen. Hans Gronau dichtete beispielsweise in seinem Danziger Lied 1925 auf die Melodie des Deutschlandlieds: Danzig, Stadt am Weichselstrome,/O, wie klingt gedankenschwer/Mir dein stolzer, alter Name./Reich an Ruhm und reich an Ehr’!/Glockenspiele rauschen leise/Über deine Dächer her,/Und von deinen hohen Türmen/Schau ich auf das blaue Meer.22
Schließlich noch ein besinnliches Gedicht Bruno Pompeckis von 1913, Mondnacht in Danzig, in dem der Autor die nächtliche Soundscape der Stadt skizziert: Im Sichelmond, dem frühherbstfahlen,/Versonnen die grauen Giebel ruhn,/Vorm Artushof in grünen Strahlen/Rieseln die Märchen unterm Neptun …//In den Gassen webt die Sage,/Raunt dir zu Verklungnes viel,/Und mit silberfeinem Schlage/Singt ein altes Glockenspiel …//Durch die Linden vorm Tore zärtlich zieht/Ein Klang vom Blumenbrett,/ Als hauche ein schüchternes Liebeslied/Übern Beischlag ein leises Spinett …/Heimwehschwer roll’n ferne Wogen/An den Strand, von Stürmen matt,/Und im ew’gen Sternenbogen/Träumt die stille Hansastadt …23
Die Großstadt Danzig, deren Einwohnerzahl kurz vor dem Ersten Weltkrieg immerhin gut 170.000 Menschen betrug, klingt hier nach wie vor wie eine Provinzstadt, noch fast so, wie Joseph von Eichendorff sie in den 1840er Jahren lyrisch beschrieben hatte (in einem viel später übrigens von Hans Pfitzner vertonten Gedicht).24 Urbane Klänge hat es im ‚deutschen Danzig‘, würde man der schönen Literatur zwischen 1800 und 1945 Glauben schenken, kaum gegeben. Ein Blick auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Danzigs im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert verdeutlicht rasch, dass die lokale Klanglandschaft keineswegs in einem so hohen Maße von Glockenklängen geprägt worden sein kann, wie dies die literarischen Quellen vermuten lassen. Denn auch in Danzig hielt die moderne Welt Einzug, leicht verspätet zwar, aber ebenso unaufhaltsam wie anderenorts auf dem europäischen Kontinent. Industriell produzierende Werften entstanden, hier wurden gewaltige Bleche gehämmert, Dampfmaschinen pfiffen, Sirenen heulten. Lokomotiven zogen schwere Züge durch die Stadt, 21 22 23
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A.M. „Die Stadt X. Eine komische und doch traurige Geschichte“. Krakehler. Nr. 2 (10.06.1848). Hans Gronau. „Danziger Lied“. Archiwum Państwowe w Gdańsku [Staatsarchiv Danzig] 260/360. Bl. 1-3. Bruno Pompecki. „Mondnacht in Danzig“. Danziger Neueste Nachrichten. Nr. 197 (23.08.1913, Sonntagsblatt Nr. 34). Es handelt sich um das in der Mitte der 1840er Jahre geschriebene Gedicht An Danzig, das mit den Worten „Dunkle Giebel, hohe Fenster“ beginnt, u.a. in Loew. Das literarische Danzig (wie Anm. 5). S. 32.
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Schiffe tuteten, der Straßenverkehr verstärkte sich in den verbreiterten, ihrer Vorbauten und Beischläge beraubten Gassen, Fuhrwerke und Kraftwagen holperten über das Pflaster, Musikautomaten, Militärkapellen, verschiedene Warnsignale, Zeitungsausrufer – die Zahl der eindeutig modernen Geräuschquellen war enorm. Sicherlich, die Vielzahl der Fundstellen ist ein Beleg dafür, dass Glocken und Glockenspiele ein wichtiges Element im akustischen Bild der Stadt gewesen waren. Doch war es ein vorherrschender Klang? Dominierten Glocken tagaus, tagein die Klanglandschaft der Stadt? Und selbst wenn das so gewesen sein sollte – wäre es dann tatsächlich ein Charakteristikum Danzigs gewesen? Oder sind Glockentöne nicht vielmehr ganz allgemein seit Jahrhunderten ein akustisches Symbol für Urbanität schlechthin? Um diese Frage entscheiden zu können, wäre das Gelegenheits- und Unterhaltungsschrifttum anderer Städte vergleichend heranzuziehen. An dieser Stelle muss eine Bemerkung Walter Benjamins genügen, der, inspiriert von Freiburg im Breisgau und seinem Münster, schrieb: „Mit dem eigensten Heimatgefühl einer Stadt verbindet sich für ihren Bewohner – ja vielleicht noch für den verweilenden Reisenden in der Erinnerung – der Ton und der Abstand, mit dem der Schlag ihrer Turmuhren anhebt.“25 Als ich, bereits sensibel geworden für die Soundscape der Stadt, wieder nach Danzig fuhr und versuchte, mich in den urbanen Klangteppich hineinzuhören, war schließlich auch ich selbst überrascht. Hatte ich mir zuvor, am Schreibtisch, den allgegenwärtigen Glockenklang vorgestellt, war ich nun verblüfft, wie wenig er an den meisten Stellen der historischen Innenstadt zu hören war, es sei denn, ich stand gerade zur halben oder zur vollen Stunde vor der Katharinenkirche oder ließ mich auf dem Langen Markt von dem hoch über dem Straßengeschehen vor sich hin spielenden Glockenspiel ablenken.26 Deshalb möchte ich folgende These formulieren: Danzigs Glocken sind nicht so sehr aktiver Gegenstand der gehörten Soundscape, sondern vielmehr einer imaginierten Soundscape zuzurechnen. Ihre große Bedeutung in der Vorstellung der Schriftsteller, sicherlich aber auch der einstigen und heutigen Danziger wird vom Anblick der Stadt mit ihren vielen Kirchtürmen hervorgerufen, oder aber von der Erinnerung an sie. Wenn die Rolle der Glocken in der urbanen Klanglandschaft geschildert wird, so handelt es sich um ein in der Retrospektive verdichtetes Klangerlebnis.27 25 26
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Walter Benjamin. Einbahnstraße. Frankfurt a. M. 1969. S. 81. Auch Günter Grass malt sein Glockenerlebnis in der Blechtrommel literarisch-imaginativ aus: „Am Holzmarkt stiegen wir aus und gingen zu Fuß den Altstädtischen Graben hinunter. Ein windstiller Nachsommerabend. Die Glocken der Altstadt bronzierten wie immer gegen acht Uhr den Himmel. Glockenspiele, die Tauben aufwölken ließen: ‚Üb immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab.‘ Das klang schön und war zum Weinen.“ Günter Grass. Die Blechtrommel [1959]. Göttingen 1999. S. 281f. Um diesen mentalen Vorgang zu erklären, kann man sich der narrativen Psychologie bedienen, die besagt, dass sich individuelles Erinnern meist um einen Hauptplot dreht, der aus dem Vorrat kulturell verfügbarer Plots ausgewählt wird. Mit den Worten Donald E. Polkinghornes: „Narratives Ver-
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Auslöser für die narrative Konstruktion von Erinnerung und Vergangenheit sind häufig Emotionen.28 Bilder – visuelle wie akustische Bilder – gewinnen insbesondere dann an Wirkungsmacht, wenn sie mit Emotionen einhergehen. Im Zuge der sich beschleunigenden Modernisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts entwickelte sich eine antimoderne Gegenströmung, die Sehnsucht, das unerfüllbare Begehren nach Rettung einer bedrohten oder Wiederherstellung einer bereits verlorenen „Ganzheit“, nach „Heimat“.29 Die Vertreibungen von 1939 und 1945 verstärkten diese Sehnsucht bei den Betroffenen noch weiter. Jener Benjaminsche „Schlag der Turmuhren“, dieser von der Romantik überhöhte Topos, ist laut Alain Corbin „Verwurzelung“: „Die Erinnerung an den Klang der Heimat verschmilzt mit dem Bewußtsein, zu leben, mit den ersten Äußerungen eigenen Rückerinnerns“.30 Neben den psychologischen Aspekten spielen auch politisch-weltanschauliche eine Rolle. Erzene Glocken sind ein Symbol für Beständigkeit, Dauer, mithin ein konservatives Symbol – in einer gerade im 20. Jahrhundert von den Anfechtungen der Moderne gefährdeten Stadt wie Danzig ein nicht zu überschätzender Aspekt. Die Anrufung des Glockenklangs kann somit auch eine individuelle politische Einstellung ausdrücken. Wenn aber die literarische Beschreibung urbaner Klänge individualkompensatorische oder andere Funktionen hat, dann verliert diese Beschreibung ihre Bedeutung als glaubhafte Quelle für historische Soundscapes. Das Hörbewusstsein als auditive Komponente personaler Identitäten entsteht eben nicht nur aus faktisch gehörten Klängen, sondern auch aus gedachten, hinzugedachten Klängen. Insofern wären alle Versuche, Soundscapes technisch aufzuzeichnen, von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil alle unmittelbaren Höreindrücke nur im sozialen und emotionalen Kontext des hörenden Individuums und/oder der hörenden gesellschaftlichen Gruppe zu Hörerfahrungen werden und das Bewusstsein prägen. Soundscapes sind demnach nur als integraler Bestandteil von ‚Mindscapes‘ zu
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stehen ist eine retrospektive, interpretative Komposition, die vergangene Ereignisse im Lichte der aktuellen Auffassung und Beurteilung ihrer Bedeutung zeigt.“ Donald E. Polkinghorne. „Narrative Psychologie und Geschichtsbewußtsein“. Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Erinnerung, Geschichte, Identität. Bd. I. Hg. Jürgen Straub. Frankfurt a. M. 1998. S. 12-45, S. 26. Schon Wilhelm Dilthey schrieb in seinem Text Die Einbildungskraft des Dichters: „Bilder und ihre Verbindungen werden von den Gefühlen aus transformiert; aber nicht in einem leeren Raume, sondern inmitten des Getriebes von all den psychischen Prozessen, welche beständig an unserem Erfahrungskreis wirken, ja von dem ganzen erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens aus, welcher das unwillkürliche Schaffen beeinflußt. Bilder und ihre Verbindungen überschreiten daher wohl die gemeinen Erfahrungen des Lebens, aber was so entsteht, das repräsentiert doch diese Erfahrungen, lehrt sie tiefer begreifen und näher ans Herz ziehen.“ Wilhelm Dilthey. „Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik“. Wilhelm Diltheys gesammelte Schriften. Bd. 6. Leipzig, Berlin 1924. S. 103-241, S. 185. Vgl. auch Verena Kast. „Wurzeln und Flügel. Zur Psychologie von Erinnerung und Sehnsucht“. Sehnsucht und Erinnerung. Leitmotive zu neuen Lebenswelten. Hg. Christiane Neuen. Düsseldorf 2006. S. 9-29, S. 18. Corbin. Die Sprache (wie Anm. 11). S. 390, wenn auch mit besonderem Bezug auf französische Autoren der Romantik.
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verstehen oder, mit der Sprache der ökologischen Psychologie gesprochen, von individuellen oder gruppenspezifischen „Umweltbiographien“.31 Die komplexe Untersuchung solcher Umweltbiographien würde es nun ermöglichen, sich der ‚Eigenlogik der Städte‘ von einer anderen Seite her zu nähern, nämlich über „strukturelle Bedingungen politischer und ökonomischer Art“32, vom Prinzip her in etwa so, wie sich Shane und Graham White mit der Lebenswelt der amerikanischen Sklaven und ihrer akustischen Umwelt beschäftigt haben.33 Nun besteht aber eine Stadt nicht nur aus Klängen, sondern auch aus Menschen, die Klänge produzieren. Städte sind nicht nur Klangräume, sondern auch soziale Räume. Deshalb möchte ich in einem weiteren Schritt Streiflichter auf den Konnex von Musik und Gesellschaft in Danzig werfen, auch um die Frage zu beantworten, ob sich hier vielleicht etwas ‚Besonderes‘ in der Entwicklung Danzigs erkennen lässt.
Das bürgerliche Musikleben in Danzig – Streiflichter: Gesangvereine und Symphoniekonzerte Danzig war im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, bis zum Ende der deutschen Stadt, ein für Mitteleuropa ganz typischer Vertreter bürgerlicher Lebenswelten.34 Geprägt vom Bürgertum, vom Handel, aber auch vom wachsenden Anteil der preußischen Beamtenschaft und des Militärs an der Bevölkerung, erlebte Danzig das 19. Jahrhundert ähnlich wie die meisten anderen Städte PreußenDeutschlands als rasch wachsende Stadt. Allerdings blieb seine Entwicklung hinter der anderer Städte wie Königsberg oder Stettin zurück. Von seinem weiteren Hinterland – dem russischen Teilungsgebiet – durch Zollgrenzen zunehmend abgekoppelt, geriet es in eine verstärkt abseitige Lage, die auch für das künstlerische und kulturelle Leben Danzigs ausschlaggebend war. Danzig war zwischen dem beginnenden 19. Jahrhundert und 1945 nie ein kulturelles Zentrum, von dem überregionale Impulse ausgingen, sondern blieb eine Stadt, in der von außen übernommene kulturelle Werte und Verhaltensweisen rezipiert und repetiert wurden. Allerdings war die Stadt für eine große Umgebung durchaus ein kulturelles Zentrum: für einen Großteil der Provinz Westpreußen (und später über die Grenzen der gar nicht einmal so kleinen Freien Stadt Danzig hinaus). Zwischen Warschau, Königsberg und Stettin, vielleicht sogar Berlin gab es keine kulturell ähnlich bedeutende Stadt. Darin lag die Eigenart 31 32 33
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Martin Stengel. Ökologische Psychologie. München, Wien 1999. S. 176. Rodenstein. Die Eigenart (wie Anm. 2). S. 308. Shane White/Graham White. The Sounds of Slavery. Discovering African American History Through Songs, Sermons, and Speech. Boston 2005. Zur Gesellschaftsgeschichte der Stadt in diesem Zeitraum fehlen nach wie vor grundlegende Arbeiten. Siehe aber im Überblick die entsprechenden Abschnitte in: Historia Gdańska. Hg. Edmund Cieślak. Bd. IV/1. Sopot 1998/[1999].
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der Stadt – Provinz zu sein für andere Zentren, Zentrum aber für die Provinz. Dieses Dilemma teilte sie mit vielen anderen Provinzstädten, mit Städten, die vor dem kulturellen Horizont der Nation eine sozusagen semiperiphere Rolle einnahmen.35 Das musikalische Leben der Stadt entwickelte sich nach dem Ende des alten Danzig im Jahre 1793, seiner Rats- und Kirchenkapellen ganz zeittypisch.36 Es spiegelte sich im Stadttheater mit seinem am Mainstream der Zeit orientierten Repertoire an Opern, Singspielen, Schwänken, Bühnenmusiken, Festouvertüren und dann auch Operetten.37 Aber nicht um das Stadttheater soll es nun zunächst gehen, dessen Wirken, insbesondere im 19. Jahrhundert, von der Forschung bislang nur ansatzweise aufgegriffen worden ist, sondern erst einmal um einige besonders wichtige musikalische Vereine der Stadt. An erster Stelle ist der Danziger Gesangverein zu nennen, der 1899 in Singakademie umbenannt wurde. Er entstand 1818, hatte aber bereits einen Vorgängerverein gehabt. 1885/86 besaß er 398 Mitglieder, davon immerhin 189 Aktive.38 Es handelte sich um eine der zentralen Institutionen der Stadt, in denen Bürgerlichkeit tradiert bzw. eingeübt wurde. Dem Gesangverein gehörten zahlreiche Vertreter der Verwaltungselite an, hohe Beamte, auch Bürgermeister, viele Lehrer (mitsamt Lehrergattinnen und Lehrertöchtern), einige Militärs, nur wenige Handwerker, aber dafür viele Angehörige bekannter altansässiger Geschlechter wie Hewelke/Hevelke, von Frantzius, Förstemann, Gibsone, Davidsohn, Behrendt, Klawitter, Münsterberg oder Steffens.39 Dirigenten waren u.a. der Danziger Komponist Friedrich Wilhelm Markull oder für einige Jahre auch Georg Schumann, der später die Berliner Singakademie übernahm. Das Repertoire bestand aus den großen Chorkompositionen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, Elgars Dream of Gerontius und Feliks Nowowiejskis Quo Vadis eingeschlossen. Ein weiteres Beispiel – der Männergesangverein Sängerbund Danzig. 1852 auf Initiative des Organisten der in der Vorstadt gelegenen Kirche St. Trinitatis ge35 36
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Ausführlicher hierzu Loew. Das literarische Danzig (wie Anm. 5). S. 311ff. Zur Geschichte des musikalischen Lebens bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts siehe Hermann Rauschning. Geschichte der Musik und der Musikpflege in Danzig: von den Anfängen bis zur Auflösung der Kirchenkapellen. Danzig 1931. Eine zuverlässige Monographie zur Geschichte des Danziger Stadttheaters bis 1945 oder zu einzelnen Zeitabschnitten fehlt bislang. Als knappen, populären Überblick siehe Mieczysław Abramowicz. 200 lat w teatrze na Targu Węglowym [200 Jahre im Theater am Kohlenmarkt]. Gdańsk 2001 [Beilage zu 30 dni 4 (2001). Nr. 7/8]. Wichtige Beiträge in Gdańsk teatralny. Historia i współczesność [Das theatralische Danzig. Geschichte und Gegenwart]. Hg. Jan Ciechowicz. Gdańsk 1988. S. 30-45; 200 lat teatru na Targu Węglowym [200 Jahre Theater auf dem Kohlenmarkt]. Hg. Jan Ciechowicz. Gdańsk 2003. Unzuverlässig und kaum mehr als eine Sammlung von Fakten ist Otto Rub. Die dramatische Kunst in Danzig von 1615 bis 1893. Danzig 1894; mit zahlreichen Detailinformationen zu Repertoire und Schauspielern, aber ohne weiterführenden Überblick über die Institutionengeschichte und insgesamt problematisch Stephan Wolting. Bretter, die Kulturkulissen markierten. Das Danziger Theater am Kohlenmarkt, die Zoppoter Waldoper und andere Theaterinstitutionen im Danziger Kulturkosmos zur Zeit der Freien Stadt und in den Jahren des Zweiten Weltkriegs. Wrocław 2003 (= Dramat – Teatr. Bd. 7). Zur Geschichte v.a. K.[urt] Siebenfreund. Hundert Jahre Danziger Singakademie 1818-1917. Danzig 1917. Jahresbericht und Mitgliederverzeichnis des Danziger Gesangvereins im Vereinsjahre 1885/86. Danzig 1886. S. 6-11.
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gründet, hatte er 1902 189 Mitglieder, vor allem Angehörige des Kleinbürgertums: Bäckermeister, „Landes-Versicherungs-Sekretäre“, „Provinzial-Steuer-Sekretäre“, Königliche Oberbüchsenmacher, einen Ober-Telegraphen-Assistenten, einen Militär-Effecten-Händler, einen Regiments-Hauptkassenbuchhalter, einen Kämmereikassen-Oberbuchhalter, einen Königlichen Obergrenzkontrolleur und viele andere mehr.40 Der 1848 gegründete MGV Sängerkreis war von Handwerkern dominiert41, die Danziger Melodia (seit 1887) war aus der Liedertafel des Kaufmännischen Vereins hervorgegangen, was sich noch lange in der sozialen Zusammensetzung widerspiegelte42, während der seit 1896 bestehende Danziger Lehrergesangverein nicht nur Lehrer vereinte43, der MGV der Bäckerinnung bestand fast ausschließlich aus Bäckermeistern44, jener der Fleischerinnung aus Fleischermeistern45, im MGV Königstreue trafen sich die Schneider 46, im MGV „Borussia“ der Königlichen Gewehrfabrik sangen vorwiegend Maschinenbauer 47 usw.; auch an gemischten Chören fehlte es nicht. Während das Gesangvereinswesen gut entwickelt war, gab es in der Bürgerstadt ein deutliches Defizit bezüglich der Durchführung von Sinfoniekonzerten, die bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nur unregelmäßig stattfanden.48 Das Stadttheaterorchester veranstaltete nur selten sinfonische Konzerte, sondern konzentrierte sich auf Musiktheater und Schauspielmusiken. Deshalb gab es immer wieder private Initiativen mit dem Ziel, Sinfoniekonzerte zu organisieren. So entstand in den 1860er Jahren ein Instrumental-Musikverein und in den 1870er Jahren organisierte der Kaufmann Rudolph Kämmerer Philharmonische Konzerte 49, doch gingen alle diese Initiativen relativ bald wieder ein.50 Nicht anders erging es dem von dem Musikkritiker und Riemann-Schüler Carl Fuchs 1884 gegründeten Danziger Tonkünstler-Verein.51 Größeren Erfolg hatte der 1897 gegründete Orchesterverein, der 1903/04 bereits 449 Mitglieder besaß.52 Aber erst als sich wichtige Persönlichkeiten des musikalischen Lebens für die Gründung eines 40
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W. Borschke. Geschichte des Männergesangvereins Sängerbund Danzig zur Feier seines fünfzigjährigen Bestehens. Danzig 1902 [passim]. II. Westpreußisches Sängerfest Danzig 1913. Programm und Teilnehmer-Liste. Danzig 1913 [passim]. Ebd. S. 14f. Ebd. S. 12f. Ebd. S. 9. Ebd. S. 18. Ebda. Ebd. S. 10. Hugo Socnik. „Die Musik in Danzig-Westpreußen“. Danzig-Westpreußen. Ein deutsches Kulturland. Hg. August Goergens. Danzig 1940. S. 132-165, S. 156. Walther Domansky. „Musikleben in Danzig im 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart“. Festschrift zum 2. Westpreußischen Sängerfest in Danzig 1913. Danzig 1913. S. 38-64, S. 50. Hierzu ausführlicher Carl Fuchs in Danziger Zeitung. Nr. 14550 (29.03.1884, Abendausgabe); Danziger Zeitung. Nr. 19181 (28.10.1891, Abendausgabe). Danziger Zeitung. Nr. 14992 (18.12.1884, Morgenausgabe). Jahresbericht des Danziger Orchester-Vereins für das Vereinsjahr 1903/1904. Danzig 1904.
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städtischen Orchesters einsetzten, gelang es, die Stadtverordnetenversammlung 1913 davon zu überzeugen, die Gründung eines solchen vorzubereiten.53 Nach dem Ersten Weltkrieg, als das Theater schließlich in städtischen Besitz übergegangen war, entwickelten sich aus dieser Initiative regelmäßige Symphoniekonzerte des Stadttheaterorchesters, zunächst allerdings noch unter dem Mantel der 1920 neu gegründeten Philharmonischen Gesellschaft.54 Parallel gab es die Tradition der Konzerte der Militärkapellen, Danzig war schließlich eine bedeutende Garnisonsstadt. Am bekanntesten wurde das Wirken des Kapellmeisters Carl Theil, der das Musikkorps des Grenadier-Regiments Nr. 5 und später die Kapelle des Fußartillerie-Regiments Nr. 2 leitete.55 Theil gab von 1881 bis zu seinem Tod 1909 im Schützenhaus rund 900 öffentliche Konzerte, sogenannte „volksthümliche Symphoniekonzerte“.56 Das kleine, 1910 aus nicht mehr als 37 Musikern – darunter zwei zweite Geigen und zwei Celli – bestehende Orchester57 spielte die wichtigsten Werke des klassisch-romantischen Repertoires, oft auch Unterhaltenderes, und hatte damit großen Einfluss auf die Entwicklung des bürgerlichen Musikgeschmacks. Eine Beschreibung aus dem Jahre 1907 lässt jedoch erahnen, dass die „volksthümlichen Symphoniekonzerte“ ihren Namen nicht grundlos trugen: Er im schwarzen Rock, sie in einem einfachen Abendkleid; das bunte Kopftuch über der Lehne ihres Stuhles. Beide haben Kaffee vor sich; sie außerdem ein Stückchen Torte, an dem sie hin und wieder knabbert. Ihre Hauptaufmerksamkeit gehört der Symphonie, die er an der Hand eines der bekannten kleinen Musikführer verfolgt. […] Plötzlich zuckt er zusammen. Ein Jüngling, der ein paar Tische weiter sitzt, und trotzdem das Rauchen verboten ist, wie ein Hochofen qualmt, hat, dieweil Beethoven aus seiner ‚Fünften’ spricht, die daseinsverachtende, inhaltsschwere Sentenz geäußert: ‚So ‘n Dings aus der lustigen Witwe ist entschieden amüsanter als das ewige Gedudele da unten –‘.58
Nach dem Ersten Weltkrieg setzte die Kapelle der Danziger Schutzpolizei unter Ernst Stieberitz die Tradition fort, wenn auch mit durchweg leichtem, marschund polkabetontem Programm. Schließlich noch ein Sittenbild aus dem Stadttheater. Alfred Döblin beschrieb den Besuch einer Aufführung von Tristan und Isolde im Jahre 1924, wobei ihm of53
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Danziger Neueste Nachrichten. Nr. 155 (05.07.1913). Dem Theaterdirektor sollte der städtische Zuschuss in Zukunft nur dann gewährt werden, wenn er ein ständiges Orchester von mindestens 43 Personen unterhielt. Sehr kritisch zur Tätigkeit der Philharmonischen Gesellschaft Kurt Adami. „Das Danziger Kunstleben“. Neue Zeit. Nr. 41 (17.10.1925). Loew. „Lexikon Danziger Komponisten“ (wie Anm. 5). S. 301f. In einem Nachruf hieß es: „Das musikalische Leben Danzigs ist von ihm während zweier Jahrzehnte in hohem Maße fördernd beeinflußt worden, keine große künstlerische Veranstaltung, an der nicht Theil mitwirkte, kein bedeutendes Konzert, bei dem nicht er mit seiner vorzüglichen Kapelle mitwirkte.“ Danziger Neueste Nachrichten. Nr. 199 (26.08.1909). Danziger Zeitung. Nr. 10 (06.01.1911, Abendausgabe). Felix. „Von der Woche“. Danziger Neueste Nachrichten. Nr. 52 (02.03.1907).
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fensichtlich das ‚Dazwischen‘ viel stärker im Gedächtnis haften blieb als die Aufführung selbst: In der Pause kauen und lutschen die Menschen in den Gängen. Eine dicke Madame steht am Büffett, macht Bierflaschen auf; sie lachen und stoßen an. Einer nimmt ein Brot, Ei mit Sardellen, beißt, zerrt; das Ei fällt ihm auf den Stiefel. Sie ziehen Butterbrote aus den Taschen im Moment, wo die Saaltüren geöffnet werden, stellen sich an Pfeilern, Wänden auf und essen gewaltig, knatterndes Papier in den Händen. Ein dickes Ehepaar wandert vorbei; er verbeugt sich unaufhörlich nach rechts und links. Ein Offizier mit Eisernem Kreuz und vollem Gesicht. Eine kleine Mutter mit ihrer aufgeschossenen schüchternen Tochter. Ein griesgrämiger Ehemann mit einem Kneifer, dicker Oberkörper, schlottrige Hosen; die Ehefrau, unbehilflich und klein, wedelt mächtig ihre Handtasche. Zwei Herren schütteln sich die Hände, kratzen sich die Scheitel. Drei käsefarbige Jünglinge gehen nebeneinander, sprechen magisterlich über die Sänger.59
Ganz offensichtlich verlief die Entwicklung des musikalischen Lebens in Danzig kaum in anderen Bahnen als in vielen anderen deutschsprachigen Städten. Zwar war es für die Bürgerschaft selbst identitätsbildend und hatte in der Formierungsphase des modernen Bürgertums große Bedeutung, zeichnete sich aber – dies zumindest legt die fragmentarische Betrachtung nahe – im Vergleich durch keine besonderen Charakteristika aus. Lokalspezifische Identitäten generierte es kaum, bei der Organisation des musikalischen Lebens und der Partizipation daran ging es dem Bürgertum neben der lokalen Vergemeinschaftung vielmehr darum, sich in den nationalen kulturellen Raum einzuschreiben und/oder die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Formationen zu festigen.
Danzig in der Musik – der Griff in die Vergangenheit Wenn sich auf einer strikt musikalischen Ebene etwas lokal ‚Besonderes‘ an Danzig erkennen lässt, dann natürlich am ehesten, wenn man untersucht, ob die Stadt eine Rolle als Gegenstand musikalischer Werke gespielt hat. In der Literatur jedenfalls ist dieser motivgeschichtliche Ansatz eine Möglichkeit, um ein ‚Danziger literarisches Schaffen‘ herauszukristallisieren. In der Musik ist das Quellenkorpus naturgemäß ein viel kleineres. Dennoch hat die Suche nach Werken, in denen Danzig thematisiert wurde, eine Reihe von Erfolgen gezeitigt. Das erste musikalische Werk, das sich auf die Geschichte der Stadt bezog, war – abgesehen von Charakterstücken wie diversen Danzig-Polkas, -Märschen und -Capriccios60 – wahrscheinlich ein Bühnenfestspiel von Gustav Jankewitz, in dem er auf die Legende von der Ermordung eines Danziger Bürgermeisters zu 59 60
Alfred Döblin. Reise in Polen. München 1987. S. 342. Eine Sammelmappe mit vielen derartigen Kompositionen bewahrt die Danziger Bibliothek der Polnischen Akademie der Wissenschaften – die einstige Stadtbibliothek – unter der Signatur Od 106 2o auf.
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Beginn des 15. Jahrhunderts zurückgriff. Über das im Dezember 1890 vom Kirchenchor von St. Marien aufgeführte Werk Maria von Oldefeld ist allerdings nichts Weiteres bekannt.61 Zur Säcularfeier von 1893 vertonte Josef Ambrosius von Kisielnicki (1842-1907) ein stadthistorisches Gedicht Johannes Trojans unter dem Titel Festgesang anläßlich des 100jährigen Jubiläums der Zugehörigkeit Danzigs zu Preußen, für großen Chor, Tenorund Bariton-Soli, Soloquartett und volles Orchester. Das im Mai 1893 erstmals und wahrscheinlich auch letztmals gespielte Werk scheint sich auf die Vertonung der literarischen Vorlage beschränkt zu haben. Da sich diese durch steifes Pathos auszeichnet, darf man annehmen, dass auch die Musik Kisielnickis die Vorgabe des Textes nicht überstieg. Die Rezensionen der zeitgenössischen Presse verraten hierüber wenig.62 Mehr als ein Gelegenheitswerk war dieser Festgesang nicht. Für längere Zeit war dies das letzte Werk, in dem Danzig eine Rolle spielte. Die lokalen Komponisten schrieben in der Regel keine Programmmusik und beschieden sich oft mit Kammermusik. Erst der Komponist Georg Vollerthun (1876-1945) machte 1938 die Stadt zum Gegenstand eines großangelegten sinfonischen Werks, der Orchestersuite Alt-Danzig.63 Vollerthun stammte aus dem Dorf Fürstenau bei Tiegenhof im Großen Marienburger Werder, das nach dem Ersten Weltkrieg zur Freien Stadt Danzig gehörte; sein Vater war Gutsbesitzer. Nach seiner musikalischen Ausbildung arbeitete er als Theaterkapellmeister in der Provinz, ehe er sich als freischaffender Komponist in Berlin niederließ. Er wurde vor allem als Liederkomponist bekannt, schrieb aber auch mehrere Opern. Sein zweites Bühnenwerk, Islandsaga (1925), war – einem späteren Urteil zufolge – die erste deutsche Oper, in welcher „das Schicksal nordischer Menschen in Tönen gestaltet“ wurde.64 Sie wurde – unter dem stürmischen Beifall nationaler und völkischer Kreise – bereits 1926 in Danzig inszeniert; 1933 folgte im Stadttheater Der Freikorporal (1931).65 Hatte die Kulturpolitik der Freien Stadt Vollerthun gegenüber bis 1933 eine gewisse Zurückhaltung an den Tag gelegt, was möglicherweise mit seiner nationalsozialistischen Einstellung zusammenhing, so wurde der Parteigenosse nach der Machtübernahme als bedeutendster Danziger Komponist hofiert. 61
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Danziger Zeitung. Nr. 18659 (18.12.1890, Abendausgabe). Auch ist die Verteilung von Wort und Musik in diesem Werk unklar – möglicherweise handelte es sich um ein Sprechstück mit Chören? Spätere Aufführungen sind nicht nachweisbar. „Säcular-Vorfeier“. Danziger Zeitung. Nr. 20111 (05.05.1893, Abendausgabe); zu Kisielnicki vgl. Loew. „Lexikon Danziger Komponisten“ (wie Anm. 5). S. 268f. Georg Vollerthun. Alt-Danzig. Suite für großes Orchester op. 25. Berlin 1938. Alfred Otto. „Georg Vollerthun – der preußische Komponist“. Der Deutsche im Osten 6 (1943). H. 5. S. 214-217, S. 216. Die Aufführung der Islandsaga wurde zu einem nicht unbeträchtlichen Erfolg – vgl. die Rezension von Walther Vetter. „Der äußere Erfolg war für Danziger Verhältnisse sensationell“. Danziger Neueste Nachrichten. Nr. 291 (13.12.1926); kritischer Hugo Sočnik in Danziger Zeitung. Nr. 345 (13.12.1926); außerdem Kurt Adami in Die Neue Zeit. Nr. 50 (18.12.1926). Weniger günstig wurde Der Freikorporal aufgenommen – vgl. die Rezension in Danziger Neueste Nachrichten. Nr. 302 (27.12.1933).
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Die Gelegenheit, sich für die große Aufmerksamkeit zu bedanken, kam, als ihn der Berliner Musikverlag Bote u. Bock in der Mitte der 1930er Jahre um ein Orchesterstück bat. Die Suite Alt-Danzig – sie war erst das Opus 25 des bei der Premiere 63-jährigen Komponisten – wurde im November 1938 in Hannover uraufgeführt und wenige Tage später, am 24. November, auch in Danzig gespielt. Aus seinen weltanschaulichen Überzeugungen machte Vollerthun keinen Hehl. Er widmete sein Werk „Dem Gauleiter Staatsrat Albert Forster und meiner Heimatstadt Danzig“ – wobei er sich die Stadt, in der er nie gelebt hatte, ebenso als Heimat aneignete wie der von der lokalen NS-Kulturpolitik hofierte Schriftsteller Max Halbe.66 In einer programmatischen Notiz äußerte Vollerthun sich folgendermaßen: Eine Stadt wie diese [Danzig, Anm. d. Verf.], von Natur und Geschichte zum Haupt und sichtbaren Ausdruck einer ganzen Landschaft bestimmt und gewachsen in ihrem allmählichen Werden, in ihrer Lage und in der Großartigkeit ihrer Bauten nicht nur die Gegensätze von Jahrhunderten überbrückend, sondern auch den vielfältigen Charakter ihres Menschenschlages wie in einer höheren, sichtbaren Einheit zusammenfassend: diesem in langen Jahrhunderten entstandenen Bekenntnis zu Blut und Boden durch die Musik Form und Ausdruck zu geben, das wurde und ist die Idee dieses Werkes.67
Zunächst dachte der Komponist daran, in Anlehnung an Bach und Händel eine Suite mit den Sätzen Sarabande, Courante, Aria und Marsch zu schreiben, doch das für ein großes Symphonieorchester instrumentierte Werk wuchs in einem wahrscheinlich recht langen Schaffensprozeß aus diesem barocken Rahmen heraus. Es besteht aus zwei Teilen, deren erster den Titel Um Tore und Türme trägt, während sich im zweiten drei Abschnitte attacca aneinander anschließen: Durch die Gassen, Stimme des Meeres sowie Marsch. Dem Komponisten zufolge kennzeichnen diese Überschriften nur Stimmungen, kein dem Werk zugrundeliegendes Programm.68 Vollerthun greift – soweit sich das eruieren lässt – keine authentischen AltDanziger Melodien auf; die Historisierung des thematischen Materials erfolgt über die Stilisierung barocker Motivik, Rhythmik und bisweilen auch Harmonik. Ein Beispiel: Das herbe erste Thema des breit angelegten Satzes Um Tore und Türme, das nach kurzem Auftakt in Holzbläsern und Streichern zu hören ist, trägt mit seinen vielen Trillern und dem ¾-Takt Sarabandencharakter, obwohl Melodik wie Harmonik der Spätromantik verpflichtet sind. Man könnte es als das ‚Danziger‘ Thema bezeichnen. Es dient mit seinen charakteristischen Synkopen und Triolen zugleich als Keimzelle vieler weiterer Themen und Motive der Suite. 66
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Vgl. Peter Oliver Loew. „Die Heimat sucht den Dichter – der Dichter sucht die Heimat. Max Halbe und Danzig“. Das literarische und kulturelle Erbe von Danzig und Gdańsk. Hg. Andrzej Kątny. Frankfurt a. M. 2004. S. 79-98, sowie Loew. Das literarische Danzig (wie Anm. 5). S. 106-117. Georg Vollerthun. „Alt-Danzig“. Danziger Neueste Nachrichten. Nr. 273 (22.11.1938). Ebda. Der Komponist hatte bereits 1936 eine Barocksuite für Klavier veröffentlicht, die eine höhere Opuszahl (op. 29) als die Orchestersuite trägt. Dies könnte darauf hinweisen, dass die Danziger Suite bereits in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre konzipiert wurde.
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Auch das zweite, tänzerische Thema hat barocken Charakter. Der Gegensatz dieser beiden Themen wird lange durchgeführt, lyrische Passagen und Ausbrüche des Orchesters wechseln einander ab, bis schließlich nach einer langen, zunehmend von den Blechbläsern dominierten Steigerung (ab Ziffer 28), die in fanfarenartigen, aus dem ‚Danzig-Thema‘ abgeleiteten Signalen der Trompeten und Posaunen mündet, der mächtige Tanz allargando sempre (ab Ziffer 32) in sich zusammenfällt, um in dreifachem piano zu enden. Wenn man den Satztitel auf die Musik beziehen möchte, so kann man wohl am ehesten von einer Schilderung der historischen Danziger Innenstadtlandschaft sprechen. Vollerthuns Vertonung von Gegensätzen lässt sich aber nicht nur auf den baulichen Gegensatz (Gotik und Barock/Rokoko) beziehen, sondern auch auf das Spannungsverhältnis von Modernität und Tradition oder auf die wechselvolle Lokalgeschichte mit ihren friedlichen und kriegerischen Momenten. Die nächsten Abschnitte sind weniger komplex. Durch die Gassen ist eine lebhafte „Courante“, auf die ein „Menuett-Reigen“ folgt; Stimme des Meeres kostet statischen Orchesterklang und thematische Monotonie aus, wie sie Vollerthun auch in seiner Oper Islandsaga stimmungsvoll eingesetzt hatte. Als Abschluss bietet Vollerthun einen Marsch, der gegen Ende das ‚Danzig-Thema‘ des ersten Satzes wieder aufgreift. Die Musik veranschaulicht Inhalte – Tänze, Straßentreiben, Glockenklang oder Meeresrauschen –, doch erfolgt die Zuschreibung eines lokalen Bezugs im Grunde lediglich über die Satzüberschriften. Freilich hätte Vollerthun ‚typisch‘ Danziger Elemente auch nur nach einem intensiven Studium der Danziger Musikgeschichte einbauen können, oder aber durch das Aufgreifen markanter, im Alltag bekannter Klangfolgen. Anders jedoch als London, dessen weithin bekannten Westminsterschlag beispielsweise Ralph Vaughan Williams in seiner London Symphony aufgreift, lieferte Danzig keine überregional bekannten musikalischen Motive, die es erlaubt hätten, urbane Klanglandschaften unter Zuhilfenahme musikalischer Eigenarten zu schildern. Der abschließende Marsch, der einen zukünftigen Triumph durch militärische Zucht evoziert, fügte sich zwar nahtlos in die große nationalsozialistische Heilserwartung ein, konnte aber natürlich auch lokal interpretiert werden, nämlich als Schilderung der von den meisten deutschen Danzigern erhofften Angliederung der Freien Stadt ans Reich. Hierin, und nicht im thematischen Material, ist das „Bekenntnis zu Blut und Boden“ zu sehen, von dem der Komponist in seiner Werknotiz spricht. Doch nicht nur deutsche Komponisten widmeten sich Danzig. Nachdem die Stadt seit 1918 auf einen Schlag in den kulturellen Fokus Polens geraten war, entstanden schon in der Zwischenkriegszeit neben Werken der bildenden Künste und der Literatur auch Werke der Musik, die sich mit Danzig beschäftigten. Zu diesen Komponisten zählte Feliks Nowowiejski (1877-1946), der aus dem Ermland stammte und sich nach jahrelanger Tätigkeit in Berlin und Krakau in Posen
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niedergelassen hatte. Seit 1918 kam er häufig an die polnische Küste, die er unter anderem in seiner Oper Legenda Bałtyku [Ostseelegende] (1924) thematisierte.69 Wahrscheinlich in den zwanziger Jahren vertonte Nowowiejski auch ein Gedicht von Kazimiera Szpunarówna, Ballada o Gdańsku [Ballade über Danzig], das in verschiedenen Bearbeitungen bekannt geworden ist.70 Die verbale Vorlage schildert nach einer Invokation (Sonnenaufgang am Meer) in strophischer Form den frühneuzeitlichen Zustand der reichen Handelsstadt mit ihren zahlreichen baulichen Erinnerungen an die polnische Herrschaft. Die Ballade klingt mit der Beschreibung eines Sonnenuntergangs am Meer aus. Die musikalische Form folgt der Anlage des Textes. Der Auftakt malt in einer zwischen D-Dur und A-Dur changierenden Melodie des Soprans den Sonnenaufgang über dem Meer aus, an dem sich „das slawische Volk“ Burgen gebaut habe, und in strophischer Wiederholung wird die Stadt in ihrer historischen Größe geschildert. Die Zäsur des Danziger Musiklebens war 1945 kaum minder einschneidend als in anderen Bereichen der Kultur, obschon es einige wenige personelle Kontinuitäten gab.71 So blieb der Komponist Helmut Hubertus Degler (1915-1989) nach Kriegsende in der Stadt, nahm den Namen Henryk Jabłoński an und war in verschiedenen musikalischen Institutionen der Stadt tätig.72 Er schrieb Chorwerke, die auf Danzig Bezug nahmen, so ein Balett Gdańska noc [Danziger Nacht] (1970) oder auch die Uwertura jubileuszowa [Jubiläumsouvertüre] Nec temere nec timide [Weder furchtsam noch scheu] für Baß-Solo, gemischten Chor und Orchester (1972), die sich musikalisch mit dem Danziger Wappenspruch auseinandersetzte.73 Die wichtigste lokalhistorische Komposition der Nachkriegszeit stammt von Kazimierz Wiłkomirski (1900-1995). Der Komponist und Musikpädagoge, der bereits in der Freien Stadt tätig gewesen war, schrieb zum zehnten Jahrestag der ‚Befreiung‘ Danzigs 1955 eine Kantata Gdańska für Solisten, Chor und Orchester,
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Vgl. u.a. Antoni Poszowski. „Kompozycje Feliksa Nowowiejskiego o tematyce kaszubskiej [Feliks Nowowiejskis Kompositionen mit kaschubischer Thematik]“. Feliks Nowowiejski w setną rocznicę urodzin. [Feliks Nowowiejski zum 100. Geburtstag]. Gdańsk 1978. S. 119-136; Jan Boehm. „Treści wychowawcze ‚Śpiewnika Morskiego‘ Feliksa Nowowiejskiego w aspekcie tez pedagogiki narodowej w Polsce po odzyskaniu niepodległości w 1918 roku [Die erzieherischen Inhalte von Feliks Nowowiejskis ‚Meeresliederbuch‘ aus der Sicht der Thesen der nationalen Pädagogik nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1918]“. PWSM Gdańsk. Prace specjalne. Bd. 19. Gdańsk 1980. S. 63-92. Feliks Nowowiejski. Ballada o Gdańsku. Na sopran, alt i chór mieszany, z towarzyszeniem orkiestry symfonicznej. Instrumentation: Marcin Obst – Ms. in Akademia Muzyczna Gdańsk [Musikakademie Danzig]. Sign. 783.51 Nowow F Balla. Vgl. auch Tereza Świercz. „‚Ballada o Gdańsku‘ Feliksa Nowowiejskiego [Feliks Nowowiejskis ‚Ballada o Gdańsku‘]“. Feliks Nowowiejski w setną rocznicę urodzin (wie Anm. 69). S. 147-161. Außerhalb der Musik ist das bekannteste Beispiel der Maler Stanisław Chlebowski (bzw. Chlebowsky), der 1890 in Danzig geboren wurde, hier zumeist lebte und nach 1945 in seiner Vaterstadt blieb. Musik in Geschichte und Gegenwart. Sachteil. Bd. 2. Kassel [u.a.] 21995. Sp. 1085; Encyklopedia muzyczna. Część biograficzna. Bd. 4. Kraków 1993. S. 382. Henryk Jabłoński. Nec temere nec timide. Uwertura jubileuszowa na bas-solo, chór mieszany i orkiestrę. Ms. in Akademia Muzyczna Gdańsk. Sign. 78 (0.032) JabłoH – Necte.
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deren Worte von Stanisława Fleszarowa[-Muskat] stammten.74 Das Werk erklang am 31. März und am 1. April 1955 und wurde auch in späteren Jahren gelegentlich in Danzig gespielt (so 1957, 1959 und 1999). Musikalische Anspielungen auf die Danziger Vergangenheit gibt es hier nicht, obwohl sich Wiłkomirski ursprünglich mit dem Gedanken getragen zu haben scheint, Material aus einem Werk des Danziger Komponisten Carl Friedrich Ilgner zu verwenden, der am Ende des 18. Jahrhunderts wirkte. Jedenfalls hat sich ein Notenblatt mit Fragmenten aus einer Kantate Ilgners erhalten, die Wiłkomirski möglicherweise der Textautorin schickte, um sie dazu zu bewegen, Worte zu den vorgegebenen Melodien zu finden.75 Das fertige Werk wartet zwar – vor allem im ersten Teil – mit einigen eingängigen melodischen Erfindungen auf, doch sind diese von durchweg neuromantischer Provenienz. Auch Volksmusik der Danziger Gegend hat Wiłkomirski nicht verarbeitet.76 Ob sich beim Hörer der Eindruck mittelalterlicher Melodieführung einstellt, wie das Programmheft der Uraufführung nahelegt, scheint jedenfalls zweifelhaft zu sein.77 Somit ist die Historizität dieses Werkes ebenfalls keineswegs mit der lokalen Musikgeschichte verbunden, sondern es beschreibt die Vergangenheit – ähnlich wie die Historienmalerei des 19. Jahrhunderts – mit weithin verständlichen Stilmitteln aus dem ästhetischen Repertoire der vergangenen Jahrzehnte. Ähnlich wie in der Malerei klafft aber auch hier eine Diskrepanz zwischen der (im Beispiel sozialistisch-realistischen) künstlerischen Sprache und den Entwicklungen der modernen Musik, die nach dem Beginn des poststalinistischen ‚Tauwetters‘ von 1956 auch in Polen rasch aufgegriffen wurden. Es gibt noch zahlreiche weitere polnische Musikwerke mit einem expliziten Danzig-Bezug, so Opern von Bolesław Poradowski (Płomienie [Flamme] von 1966), in der die Auseinandersetzungen zwischen Danzig und Polen während der Jahre 1568 und 1569 dargestellt werden, und Tadeusz Paciorkiewiczs 1968 in Lodz aufgeführte Oper Romans gdański [Danziger Romanze]. Die 1000-Jahr-Feier der Stadt 1997 führte zu zahlreichen neuen Danzig-Kompositionen, in der Regel Auftragswerken, darunter von Augustyn Bloch78, Krzysztof Penderecki79, 74
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Kazimierz Wiłkomirski. Kantata Gdańska na chór mieszany, mezzosopran, baryton solo i orkiestrę symfoniczną [Gdańsk 1955]. Ms. in Centralna Biblioteka Nutowa Warszawa. Sign. 7238. Für die Einsicht in die Partitur danke ich den Bibliothekarinnen der Biblioteka Główna der Akademia Muzyczna Gdańsk. Vgl. auch Wiesława Anczykowska-Wysocka. „Kazimierza Wiłkomierskiego Związki z Gdańskiem“. Rocznik Gdański 57 (1997). H. 1. S. 213-224. Biblioteka Gdańska Polskiej Akademii Nauk [Danziger Bibliothek der Polnischen Akademie der Wissenschaften]. Ms. 5896. o.Pag. Wiesława Wysocka. „Właściwości języka muzycznego w ‚Kantacie Gdańskiej‘ Kazimierza Wiłkomierskiego [Eigenschaften der musikalischen Sprache in Kazimierz Wiłkomierskis ‚Kantata Gdańska‘]“. Marynistyka w muzyce [Marinistik in der Musik]. Bd. I. Gdańsk 1978 (= PWSM Gdańsk. Prace Specjalne. Bd. 15). S. 153-182, S. 169. Biblioteka Gdańska Polskiej Akademii Nauk. Ms. 5896: Państwowa Opera i Filharmonia Bałtycka w Gdańsku: II festiwal muzyki poskiej, Koncert symfoniczny (01.04./02.04.1955) [Staatliche Ostseeoper und philharmonie in Danzig. 2. Festival polnischer Musik, Symphoniekonzert]. Bl. 21-27, Bl. 24f. Oratorium Gedanensis (1997). Vgl. „Koncert w Bazylice Mariackiej. Gdańskie oratorium [Konzert in der Marienkirche. Das Danziger Oratorium]“. Dziennik Bałtycki. Nr. 227 (29.09.1997); „Misterium
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Elżbieta Sikora80 und Zbigniew Kruczek. Kruczek (geb. 1952) präsentierte eine Symfonia Gdańska mit dem erklärten Ziel, die Soundscape der Stadt festzuhalten, nämlich Stadtlärm, Wellenrauschen und das Sausen des Windes.81 Kennzeichnend für die meisten Werke mit Lokalbezug sind die oft stilisierten thematischen Rückgriffe auf vergangene musikalische Epochen, vielfach auf Barock und Rokoko. Damit wird ein Beharrungsvermögen in der Musik tradiert, das auch andere Bereiche lokaler Lebenswelten geprägt hat.
Eine exemplarische Danziger Biografie: Der Komponist Johannes Hannemann an der Peripherie der Moderne Als Zwischenfazit ist an dieser Stelle zunächst festzuhalten: Danzig hat im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts keinen herausragenden Platz in der Musikgeschichte eingenommen. Es war kein schöpferisches Zentrum, und auch als Ort musikalischer Aufführungen spielte es mit seiner bürgerlichen Musikkultur und den Gastspielen auswärtiger Musiker keine das gewöhnliche Maß übersteigende Rolle. Nach 1945 änderte sich dies nur zum Teil. Hatte die Stadt vor dem Ersten Weltkrieg zu einer großen Gruppe deutschsprachiger Großstädte gezählt, war sie schon wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der damit verbundenen Bevölkerungstransfers eine der wichtigsten polnischen Großstädte geworden. Dieses ungleich größere Gewicht, das Danzig in seinem neuen nationalkulturellen Zusammenhang zukam, drückte sich auch in der Gründung verschiedener Institutionen aus, einer Philharmonie, einer Oper und einer Musikakademie. Dennoch gehörte die peripher gelegene Stadt kaum zur Avantgarde des musikalischen Geschehens. Damit setzt sich ein Strukturmerkmal bis in die Gegenwart fort, das Danzig seit dem 18. Jahrhundert prägte. Nachdem die Stadt ihre Position als kulturelles Zentrum für ganz Nordosteuropa verloren hatte, beschied sie sich mit einer provinziell anmutenden Zurückhaltung. Vielleicht hat man hier ein Element lokaler Eigenlogik zu suchen, in jener vorsichtigen künstlerischen Verortung der Stadt, die geprägt war von konservativen Elementen, von Beharrungsvermögen, von der unmittelbaren Präsenz von Geschichte und von der steten Wiederkehr historischer Motive und Stilfiguren.
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muzyki i malarstwa [Das Mysterium von Musik und Malerei]“. Dziennik Bałtycki. Nr. 227 (29.09. 1997); „Tritonus: Oratorium Gedanensis“. Gazeta Morska Nr. 228 (30.09.1997). Hymn do św. Wojciecha [Hymne an den hl. Adalbert]. Vgl. Konrad Mielnik. „Raz na 1000 lat. Hymn w katedrze [Einmal alle 1000 Jahre. Hymnus in der Kathedrale]“. Dziennik Bałtycki. Nr. 45 (20.10.1997); „Mistrz Penderecki wciąż komponuje [Meister Penderecki übersetzt immer noch]“. Gazeta Morska. Nr. 241 (15.10.1997). „Oratorium Elżbiety Sikory [Das Oratorium Elżbieta Sikoras]“. Dziennik Bałtycki. Nr. 142 (20.06.1997); Konrad Mielnik. „Czas sztuki organów [Zeit der Orgelkunst]“. Dziennik Bałtycki. Nr. 53 (23.06.1997). „Magiczna symfonia [Die magische Symphonie]“. Dziennik Bałtycki. Nr. 28 (03.02.1997).
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Ein Beispiel für diese für Danzig bezeichnende Zurückhaltung sind Leben und Werk des Komponisten Johannes Hannemann (1902-1945). In Stolp geboren, lebte er spätestens seit 1923 in Danzig, wo er – mit Unterbrechungen – Cellist im Stadttheaterorchester war; 1945 kam er bei Kriegsende ums Leben.82 Johannes Hannemann begann mit Kompositionen in der Nachfolge Mahlers, und seine ersten Werke, die in Danzig aufgeführt wurden, kommentierte die nationale Presse mit den Worten, Hannemann habe sich „ins linksradikale Fahrwasser wohl mehr des Wollens als des Fühlens“ begeben.83 Er scheute auch keine Anlehnungen an die zeitgenössische Unterhaltungsmusik – seine Exotischen Gesänge für Männerchor, 2 Klarinetten, 2 Trompeten, Fagott und Banjo von 1930 sind ein Beispiel dafür.84 Schon früh orientierte er sich an Bachschen Vorbildern, wie – trotz der ganz unbarocken Besetzung – im Trio für Flöte, Saxophon und Viola (1928).85 Hannemann war der einzige in der Freien Stadt Danzig wirkende Komponist, der sich über die Stadt hinaus einen Namen machte, wenn auch nur einen bescheidenen. Dass er in der Öffentlichkeit keine größere Beachtung fand, lag vor allem an der außerordentlichen Zurückhaltung Hannemanns selbst, der sich schon früh vom Buddhismus angezogen fühlte und seit 1933 Mitglied der von Georg Grimm geleiteten Altbuddhistischen Gemeinde in Utting war. Geprägt vom buddhistischen Glauben, war Komponieren für Hannemann eine Art Meditation, die für ihn vor allem in einer kunstvollen Aneignung der Bachschen Musiksprache bestand und so weit ging, dass sein 1940 uraufgeführtes Concerto da Camera, D-dur für Solo-Oboe und Orchester von der lokalen Musikkritik gar als „Siebentes Brandenburgisches Konzert“ bezeichnet wurde.86 Dabei suchte er auch das Zusammenspiel buddhistischer Texte mit seiner harmonisch hin und wieder vorsichtig erweiterten neobarocken Musik. Zwischen 1933 und 1936 entstand sein buddhistisches Oratorium Die Vier Heiligen Wahrheiten vom Leiden für Soli, Chor, Sprecher und Orchester 87, 1943 folgte der Liederzyklus Aus den Lie82
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Zu Hannemann vgl. Loew. „Lexikon Danziger Komponisten“ (wie Anm. 5). S. 257-260; Wolfgang Hannemann. „Porträt eines Danziger Komponisten“. Unser Danzig 28 (1976). H. 6. S. 14. Danziger Neueste Nachrichten. Nr. 50 (28.02.1923). Aufgeführt am 11.03.1930 vom MGV Sängerbund von 1852 unter Walter Hanft. Vgl. Danziger Neueste Nachrichten. Nr. 60 (12.03.1930). Aufgeführt am 15.05.1928 vom Collegium musicum Danzig in der Technischen Hochschule. Rezensionen in Danziger Neueste Nachrichten. Nr. 115 (16.05.1928); Danziger Volksstimme. Nr. 114 (16.05.1928). Anlässlich der ersten öffentlichen Aufführung 1941; vgl. Danziger Neueste Nachrichten. Nr. 52 (03.03.1941). Die Uraufführung hatte am 29.03.1940 im Reichssender Danzig stattgefunden, vgl. Danziger Neueste Nachrichten. Nr. 75 (30./31.3.1940). Helmuth Sommerfeld. „Danziger Komponisten“. Der Deutsche im Osten. Bd. 6 (1943). H. 4. S. 185-191, S. 187. Ob dieses Werk identisch ist mit der 1935 uraufgeführten Buddha-Kantate nach Texten des buddhistischen Pali-Kanons für 4 Singstimmen und Instrumente, ist nicht zu klären. Zu dieser Aufführung u.a. durch ein Kammerorchester des Stadttheaters vgl. Danziger Neueste Nachrichten. Nr. 122 (27.05.1935): „Eine eindrucksvolle Feierstunde versammelte am Sonnabend eine stattliche Gemeinde anläßlich des Geburtstages von Gotama Buddha in den Räumen der Theosophischen Gesellschaft. Johannes Hannemann unternahm es als Jünger Buddhas, in einem Vortrag eine Einführung in die philosophische Heilslehre des indischen Weltweisen zu geben. Im Anschluß daran kam eine von Hannemann komponierte Kantate nach Texten des buddhistischen Palu-Kanons für vier Singstimmen und Instrumente zum Erklingen, der durch eingeschaltete Textverlesung gewisserma-
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dern der Nonnen Gotamo Buddhos. Ein Zyklus ästhetischer Lyrik für Sopran und Klavier.88 Hier ist nicht der Platz, um auf die zahlreichen Orchesterwerke und Konzerte, auf die Kammermusik, die Orgelwerke, Lieder und Chorwerke von Johannes Hannemann einzugehen. Nur noch so viel – er hatte keine Berührungsängste vor dem Nationalsozialismus. Möglicherweise lag Schicksalsergebenheit in seiner buddhistischen Überzeugung begründet, möglicherweise war diese Haltung auch Ergebnis der Einsicht, ohne Unterstützung der NS-Kulturpolitik kein Auskommen finden zu können; und so ließ er sich nicht nur 1939 mit dem Kunstpreis der NSDAP, Gau Danzig, auszeichnen, sondern komponierte auch eine Barocke Festouvertüre, die mit dem Deutschlandlied festlich endete. Hannemann kommentierte dieses Werk folgendermaßen: Die „Barocke Festouverture“ beweist, daß auch ein Metaphysiker und Philosoph, solange er noch auf der Erde steht, seine blutmäßig bedingte Art, seine Bindungen an Volk und Rasse nicht verleugnen kann: sind wir doch letzten Endes, ob Moderne oder Unmoderne, alle Kinder einer großen Mutter – Deutschlands – und kann letzten Endes unsere Musik, wenn wir ehrlich gegen uns selbst sind, nichts anderes sein als eine deutsche Musik!89
Damit schrieb sich Hannemann in einen überregionalen, in den nationalen Bezugsrahmen der Zeit ein, doch blieb er gleichzeitig zutiefst lokal verwurzelt; seine Werke erklangen nur selten außerhalb des Danziger Raums.90 Die Musikgeschichte des ‚deutschen‘ Danzig endet 1945 nicht zufällig mit Johannes Hannemann. Dieser ganz offensichtlich unzeitgemäße Komponist symbolisiert gleichsam den kulturell peripheren Status der Stadt, und da das nationalsozialistische Danzig – von Vollerthun abgesehen – keinen besseren musika-
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ßen eine liturgische Funktion zuerteilt war. In einer Bach sehr nahestehenden musikalischen Sprache findet die andachtsvolle Kontemplation in Rezitativen, Arien und Chorälen – darunter besonders haftend: „Kein Dasein hat Beharrlichkeit“ – einen ihr gemäßen Ausdruck. Nur für die originalen Worte der Verehrungsformel nimmt die Musik einen fremdartigen Tonfall an, ohne jedoch durch ausgesprochene Exotik die Stilbindung preiszugeben. Wie kein anderes, scheint dieses, auch klanglich wohlabgewogene Werk für Hannemanns künstlerisches Wollen kennzeichnend und aufschlußreich zu sein. Um die gut gelungene Aufführung machten sich neben einem Kammerorchester aus Mitgliedern der Staatstheaterkapelle Hella Goebel und Gustel Heinrichsdorff und die Herren Momber und Hensellek verdient.“ – 1977 wurde von Hannemanns Sohn Anando in Halle/Saale eine Aufführung geplant. Vgl. Anando Hannemann. „Johannes Hannemann“. Yāna. Zeitschrift für Buddhismus und religiöse Kultur auf buddhistischer Grundlage 30 (1977). H. 2 (März-April). S. 60f. Uraufgeführt am 17.06.1943 bei einem Schloßkonzert in Oliva. Vgl. Danziger Vorposten. Nr. 166 (19.06.1943); Danziger Neueste Nachrichten. Nr. 140 (18.06.1943). Johannes Hannemann. „Mein Verhältnis zur Musik“. Danziger Neueste Nachrichten. Nr. 140 (19.06.1939). So erklangen am 02.02.1943 zwei Kammermusikwerke in Leipzig, vgl. „Danziger Komponisten in Leipzig“. Danziger Vorposten. Nr. 46 (16.02.1943); das Concerto da Camera, D-dur für Solo-Oboe und Orchester wurde im Juli 1943 in Berlin-Friedrichshagen gespielt (Danziger Vorposten. Nr. 192 [15.07.1943]); die Barocke Festouvertüre kam im Mai 1940 im Rahmen des „Gaukulturmonats des Ostsudetenlandes“ in Troppau aufs Programm, wo sie von der Sudetendeutschen Philharmonie unter dem gebürtigen Danziger Anton Neuegger [Nowakowski] aufgeführt wurde (Danziger Neueste Nachrichten. Nr. 125 [30.05.1940]); die Kleine Suite in a-moll für Oboe, Englisch Horn und Fagott erklang Anfang Mai 1939 auf Schloss Burg bei der 26. Burgmusik mit dem Thema „Zeitgenössische Musik aus dem deutschen Osten“ (Danziger Vorposten. Nr. 108 [10.05.1939]); die Triosonate für Orgel, D-dur wurde 1938 von Friedrich Högner in München und Köln, Anfang 1939 im Sender Leipzig gespielt etc.
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lischen Vertreter fand, wurde Hannemann trotz seines buddhistischen Glaubens zu seinem kompositorischen Aushängeschild. Mit dieser Unzeitgemäßheit fügte er sich bestens in dieses periphere Gemeinwesen ein. Seine neobarocke, ja eigentlich schon fast retro-barocke Stilistik führte in eine stilisierte Vergangenheit, die nicht nur zu all jenen Glockengedichten des 19. und 20. Jahrhunderts passt, sondern auch zur biedermeierlichen Beschaulichkeit von Stadtlandschaft und Soundscape, die das deutsche Danzig bis 1945 pflegte. Paradoxerweise knüpft das polnische Gdańsk von heute gerne an diese Traditionen an, indem es seine Innenstadt hübsch rekonstruiert und seine kriegszerstörte Rechtstadt zu einem anmutigen ‚Schatzkästlein‘ hergerichtet hat. Die Symbolpolitik der Stadt, die historische Mythen und Gestalten pflegt und hegt, tut das Ihre, um sich vor den Anfechtungen der Moderne zu schützen. Diese starke Präsenz von Geschichte in der Gegenwart ist ein wesentliches Element Danziger Besonderheit. Kein Wunder, dass historische Imaginationen hier besonders wirklichkeitsprägend sind. ‚Eigenlogisch‘ ist dies wohl, unverwechselbar aber kaum, denn Ähnliches findet sich auch in zahlreichen anderen Städten, die ihren Zenit längst überschritten haben, und sei es nur so wie im weltberühmten Venedig, einem anderen jener Orte, an denen sich Vergangenheit in breitem Strom ins Meer der Gegenwart ergießt.91 ____________________ Zusammenfassung Danzig ist eine Stadt wie viele andere, zugleich aber unverwechselbar. Der Aufsatz geht der Frage nach, ob sich diese Unverwechselbarkeit auch hören ließ und lässt; dabei greift er das Konzept von der ‚Eigenlogik der Städte‘ (Helmuth Berking/Martina Löw) auf. Zunächst wird am Beispiel von Soundscapes nach dem Besonderen Danzigs gefragt, um dann am Beispiel der Glockentöne zu versuchen, zumindest eine subjektiv empfundene lokale Besonderheit herauszuarbeiten. Streiflichter auf das bürgerliche Musikleben im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zeigen indes weitgehend parallele Entwicklungen zu vielen anderen Städten des deutschsprachigen Raums. Auch das kompositorische Schaffen in Danzig wies keine Merkmale von Unverwechselbarkeit auf, mit der verständlichen Ausnahme eines häufigeren thematischen Bezugs musikalischer Werke auf die Stadt und ihre Vergangenheit. Schließlich wird der Komponist Johannes Hannemann (1902-1945), der einen von Buddhismus und neobarocken Stilmitteln geprägten Weg einschlug, als typischer Vertreter provinzieller Bescheidenheit vorgestellt.
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Vgl. hierzu ausführlich Peter Oliver Loew. „Danzig und Venedig, in Trauer vereint. Ein Städtevergleich als Geschichte lokaler Mentalitäten (16. bis 20. Jahrhundert)“. Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 51 (2002). H. 2. S. 159-187.
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Streszczenie Gdańsk – niepowtarzalny? Wyimaginowane ‚dźwiękobrazy‘, mieszczańska scena muzyczna i muzyczne indywidualności historycznego miasta w XIX i XX wieku Gdańsk to miasto jakich wiele i jednocześnie miejsce niepowtarzalne. Artykuł podejmuje próbę odpowiedzi na pytanie, czy tę niepowtarzalność można było i wciąż jeszcze można usłyszeć; przywołuje przy tej okazji koncepcję ‚wewnętrznej logiki miast’ (Helmuth Berking/Martina Löw). Najpierw na przykładzie ‚dźwiękobrazów‘ [oryg. soundscapes] autor pyta o cechy szczególne Gdańska, aby następnie na przykładzie dźwięku dzwonów spróbować wydobyć przynajmniej jedną – nieważne, że subiektywnie odczuwaną – lokalną osobliwość. Mieszczańską scenę muzyczną XIX i rozpoczynającego się XX wieku przybliżają natomiast tendencje niemal równoległe do wielu innych miast niemieckiego obszaru językowego. Również twórczość kompozytorska nie czyni z Gdańska miasta niepowtarzalnego, jeśli oczywiście wyłączyć z tego zrozumiałe tematyczne związki dzieł muzycznych z miastem i jego przeszłością. Na końcu prezentowana jest sylwetka kompozytora, Johannesa Hannemanna (1902-1945), kroczącego drogą ukształtowaną przez buddyzm i neobarokowe środki stylistyczne, jako typowego przedstawiciela prowincjonalnej skromności. Abstract Danzig – unmistakeable? Imagined soundscape, bourgeois musical life and musical individualities of an historic city in the 19th and 20th centuries Danzig is a city like many others but at the same time unmistakeable. This essay investigates the question whether this unmistakeability was also able to be heard and can be heard; here it falls back on the concept “Intrinsic logic of cities” (Helmuth Berking/Martina Löw). Using the example of soundscapes the question is posed “What is special in Danzig?” and then an attempt is made, using the example of the bell sounds, to elaborate at least a subjectively felt local speciality. A focus on bourgeois musical life in the 19th century and the commencement of the 20th century reveals largely parallel developments to many other cities in the German-speaking area. The work of composers in Danzig also did not reveal any features of unmistakeability, with the understandable exception that there were often topical references in musical works to the city and its past. Finally, the composer Johannes Hannemann (1902-1945), who followed a path which was dominated by Buddhism and neobaroque stylistic means, is presented as a typical representative of provincial modesty.
MUSIKGESCHICHTLICHER HAUPTTEIL II
Jürgen W. Schmidt (Berlin/Deutschland)
Das Projekt eines ‚Nationaltheaters‘ in Graudenz und die staatliche Förderung von deutschen Gesangvereinen: Schlaglichter auf die Musik- und Kulturpolitik in Westpreußen zwischen 1905 und 19121 Verwaltungsakten gehören kaum zu den Quellen, auf die sich die musikhistorische Forschung bevorzugt konzentriert. Gleichwohl lässt sich bei einer systematischen Sichtung von Archivbeständen durchaus eine Reihe von Dokumenten entdecken, die individuelle Rahmenbedingungen einer Musikkultur zu erkennen geben, indem sie beispielsweise ökonomische Abhängigkeiten, politische Motive oder auch Strategien des symbolischen Handelns erhellen. Dabei erscheint die Vermutung gerechtfertigt, dass die Ausschau nach entsprechenden Belegen gerade für die Provinz Westpreußen in der späteren Kaiserzeit erfolgversprechend sein dürfte: Aufgrund des in etlichen Land- bzw. Stadtkreisen sehr hohen polnischen Anteils an den Bevölkerungszahlen waren hier die ideologischen Forderungen, das ‚Deutschtum‘ in den ‚Ostmarken‘ zu schützen und zu stärken, auf besonders fruchtbaren Boden gefallen und hatten Gebietskörperschaften, aber auch einzelnen Institutionen oder Vereinen ganz eigene Interaktionsräume eröffnet. In welchem Maße diese regionalen Konstellationen das Denken und Handeln innerhalb der Kulturpolitik und des Musiklebens tatsächlich prägten, lässt sich besonders plastisch an Vorgängen zeigen, die dank jüngst erschlossenen Verwaltungsakten genauer rekonstruiert werden können; denn dieser QuellenTypus gewährt wie kaum ein anderer Innenansichten des Zusammenspiels zwischen den lokalen Akteuren aus der Provinz und den Vertretern der Staatsmacht in Berlin. Einige solcher Vorgänge sollen im Folgenden ausführlicher vorgestellt und illustriert werden. Das erste Beispiel betrifft eine umfangreiche Korrespondenz, die von den Stadtvätern von Graudenz2 (Grudziądz) im Jahre 1905 begonnen wurde. Diese gemischtnational deutsch und polnisch besiedelte westpreußische Stadt im Regierungsbezirk Marienwerder hatte damals knapp 36.000 Einwohner, und dort versuchte nun der Magistrat, ein äußerst ehrgeiziges städtisches Projekt zu verwirklichen: Nichts weniger als ein Nationales Theater anstelle des alten Stadtthea1
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Es handelt sich um die durchgesehene sowie inhaltlich erweiterte Fassung eines Aufsatzes, der im Westpreußen-Jahrbuch. Bd. 60. Münster 2010. S. 139-150 erschienen ist. Nach den Ergebnissen der Volkszählung vom 01.12.1905 besaß Graudenz genau 35.923 Einwohner (Handbuch über den Königlich Preußischen Hof und Staat für das Jahr 1907. Berlin 1906. S. 791).
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ters sollte ungeachtet der schlechten Lage der städtischen Finanzen entstehen. Dazu hatte man den Plan gefasst, den staatlichen Ostmarkenfond, der explizit der Festigung des ‚Deutschtums‘ in den östlichen Provinzen Preußens dienen sollte, in Anspruch zu nehmen. Offenbar waren die städtischen Verantwortlichen in den Jahren nach 1900 auf die Idee gekommen, Zugriff auf derartige staatliche Fördergelder zu erlangen, um ein kulturelles Großprojekt nach dem anderen zu realisieren. Kaum war es nämlich in den vorhergehenden Jahren gelungen, öffentliche Zuschüsse in Höhe von 55.000 Mark zur Errichtung eines Museumsund Bibliotheksgebäudes zu erlangen, wollte man die Stadt 1904 auch noch mit einer Sternwarte versehen. Mit einfallsreichen Erklärungen seitens der Stadtverwaltung und interessierter Graudenzer Oberrealschul- und Gymnasiallehrer, warum nun diese „Urania-Sternwarte“ gerade in Graudenz unbedingt notwendig sei, war man deshalb schnell bei der Hand. Doch endete diese Attacke auf den Ostmarkenfond im März 1905 am Widerspruch des sparsamen preußischen Kultusministeriums.3 Trotz dieses Rückschlages setzte die diesbezüglich sehr rege Graudenzer Stadtverwaltung den einmal beschrittenen Weg unbeirrt fort und versuchte auch in der Folge, an entsprechende Fördergelder zu gelangen. Schon am 15. Juni 1905 richtete der Magistrat ein weiteres Schreiben „An die Herren Minister des Innern und der Finanzen in Berlin“4: Euer Exzellenz bitten wir, der Stadtgemeinde Graudenz einen Staatszuschuss aus dem Ostmarkenfonds im Betrage von 200 000 Mark geneigtest gewähren zu wollen. Das Bedürfnis zur Pflege der dramatischen Kunst hat in Graudenz bisher keine Befriedigung gefunden. Hieran trägt lediglich Schuld das Fehlen einer [!] den Anforderungen der Neuzeit wenigstens einigermassen entsprechenden Theaters. Das bisher vom hiesigen Theaterverein betriebene Theater kann in seinen Darbietungen trotz aller Sorgfalt und Geschicklichkeit bei der Auswahl des Programms und der Truppe, trotz sachgemässester fachmännischer Leitung wegen der Unzulänglichkeit seiner Räumlichkeiten nicht den geringsten Anforderungen der modernen Schauspielkunst entsprechen. Schon das Aeussere des Theaters ist nichts weniger als anziehend oder einladend; es ist vielmehr einer Stadt wie Graudenz und der idealen Zweckbestimmung eines Theaters geradezu unwürdig.
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Siehe hierzu den Artikel von Jürgen W. Schmidt. „Sternwarte für Graudenz 1905? Nützlich für die Schüler – aber Finanzierungsprobleme“. Der Westpreuße. Nr. 2 (Februar 2006). S. 9f. Der vom Graudenzer Stadtrat Dr. Deichen unterzeichnete Brief findet sich in der Akte des preußischen Innenministeriums GStA HA I Rep. 77, tit. 993, Nr.7, die im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin (Dahlem) aufbewahrt wird. Auch alle weiteren in diesem Zusammenhang verwendeten Dokumente entstammen – falls nicht ausdrücklich anders angegeben – diesem Dossier. – Sofern es sich bei Abweichungen von der heute üblichen Orthographie lediglich um zeittypische Varianten handelt, die den Lesefluss nicht stören, werden sie nicht eigens durch „!“ kenntlich gemacht. Die im Text wiedergegebenen Unterstreichungen sind ausnahmslos aus der Vorlage übernommen worden.
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Beiliegende Photographien[5] können das äussere Bild zwar nur unzutreffend wiedergeben, zeigen aber doch, dass sich das Auge des Künstlers bei seinem Anblick abwenden muss. Fremde Besucher halten den Bau gewöhnlich für eine alte Scheune oder ein Spritzenhaus. Auf den Gedanken, dass sich hinter den abgeschmackten Fachwerken eine Kunststätte verbergen soll, ist jedenfalls noch niemand gekommen. Wir dürfen uns hier vielleicht auf solche Eindrücke berufen, welche seiner Exzellenz der Herr Finanzminister von Rheinbaben beim Anblick des Theaters erhielt, als seine Exzellenz im Juli v. Js. dasselbe äusserlich in Augenschein zu nehmen geruhte.[6] Nicht weniger unwürdig erscheint das Innere des Theaters. Die innere Ausschmückung ist im rohen Stile, ohne jeden künstlerischen Geschmack gehalten. Der aus Fachwerk und Holz bestehende Bau ist im Innern schlecht und unsauber verputzt. Der Anstrich bewegt sich in den denkbar unschönsten Farben, das offen liegende Gebälk zeigt die Spuren des Alters. Nirgends etwas, was dem Auge wohltut, nirgends etwas Modernes; überall nur nakte [!], rohe, abstossende Zimmer- und Maurerarbeit. Weder die Bühne noch der Zuschauerraum, noch die Nebenräume entsprechen den geringsten Anforderungen – am allerwenigsten den polizeilichen. Die beiliegenden Photographien des Theaterinnern sowie die anliegende Bauskizze geben über die Aufmasse Auskunft. Die Bühne ist viel zu klein und entbehrt jeder Tiefe und Maschinerie. Schauspiele mit grösserer Scenerie – zum Beispiel gerade patriotische Ausstattungsstücke – können daher garnicht zur Ausführung gelangen. Jedesmal, wenn ein Versuch mit einem grösseren Schauspiel unternommen wurde, wurde damit Fiasko gemacht. Die sonst gut beleumundete Posener Operngesellschaft konnte keinen Erfolg haben, weil grössere Opern nicht zur Wirkung gelangen wegen der geringen Ausdehnung der Bühne. An Räumen für Aufbewahrung besserer Requisiten fehlt es gänzlich. Die Folge hiervon ist wieder, dass die Pausen zu lange dauern müssen, weil die einzelnen Scenerien nicht bereit gehalten werden können; vielmehr muss fast bei jeder Verwandlung die alte Ausstattung fort und neue herbeigeschafft werden. Grosse Mängel zeigt auch der Zuschauerraum. Er ist so schmal, dass sich die in der Estrade sitzenden Zuschauer beinahe von der einen Seite zur andern die Hand reichen können. Das gegenseitige Hinüberschauen im engen Raume wird recht unangenehm empfunden, besonders in einer mittleren Stadt, in welcher sich die Besucher gewöhnlich kennen. Die Sitze sind unbequem, auch ist von der Mehrzahl der seitlichen Plätze in den Logen und der Estrade sowie der Gallerie [!] die Bühne nicht zu übersehen. Bei Novitäten von besonderer Anziehungskraft reichen die vorhandenen Logen-, Estraden-, Spersitzplätze [!] bei Weitem nicht aus, um der Nachfrage nach Eintrittsbillets genügen zu können. Der Fußboden der Gallerie liegt so dicht über der Esterade [!], dass die Besucher der letzteren in stickiger Luft sitzen. Ueberhaupt ist die Ventilation die denkbar schlechteste. Entweder ist die Luft schlecht, heiss und unrein; oder es entsteht beim Oeffnen einer in der Decke befindlichen Holzklappe Zugluft. Auch die Nebenräume sind trostlos. Garderoben und Aborte befinden sich in einem unhaltbaren Zustande. Ein Foyer fehlt gänzlich. Die vorhandenen Erfrischungsräume sind wiederum zu klein und von einer solchen Beschaffenheit, dass sie von dem besseren Publi-
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Die dem Schreiben ursprünglich beigefügten Innen- und Außenaufnahmen sowie eine Bauskizze des alten Theaters und der „Haushaltvoranschlag der Stadtgemeinde Graudenz für 1905“ sind in betreffender Akte leider nicht mehr enthalten. Am 10.07.1904 weilte der preußische Finanzminister v. Rheinbaben in Begleitung des Oberpräsidenten der Provinz Westpreußen und des Regierungspräsidenten des Regierungsbezirks Marienwerder in Graudenz, um die Pläne des neu zu errichtenden Museums- und Bibliotheksgebäudes, der Uferbahn und der neuen städtischen Kanalisation zu besichtigen.
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Die Qualität der Aufführungen, zu der die Truppe des Theatervereins fähig wäre, sowie das durchaus große Interesse der Graudenzer Bevölkerung an der dramatischen und musiktheatralischen Kunst stehen offenbar in einem scharfen Gegensatz zu einem geradezu desaströsen Zustand des vorhandenen Theaters, der alle Bemühungen um eine Verbesserung der Situation von Vornherein vereitelt. Diese Diskrepanz versteht der Verfasser des Briefes unter penibler Berücksichtigung jedes einzelnen baulichen Details eindrücklich zu verdeutlichen. Zudem weist er bereits auf die nachteilige periphere Lage der Stadt hin und führt damit ein Motiv ein, das er im weiteren Verlauf des Textes noch breiter auszuarbeiten gedenkt. Während sich das Gesuch bis dahin auf dem engeren Feld der Kulturförderung bewegt, kommen nun aber zunächst deutlich anders gelagerte, gewichtige Argumente zum Zuge: Um jeden Zweifel, dass das Graudenzer Anliegen lediglich Ausdruck eines übertriebenen, mit der Größe und Lage der Stadt kontrastierenden Renommierbedürfnisses sein könnte, von Beginn an zu zerstreuen, wird jetzt die nationale Dimension als ideologischer Fluchtpunkt des gesamten Anliegens herausgearbeitet. Der hiernach allzu sehr gerechtfertigte Wunsch der hiesigen Stadt- und Landbevölkerung nach Befriedigung des dramatischen Kunstinteresses würde indessen allein die Stadtverwaltung nicht zur Stellung des Antrages eines Staatszuschusses zum Bau eines Theaters veranlassen. Höhere, allgemein politische, nationale Ziele sind es, welche uns die Bitte an die hohe Staatsregierung zur ernsten Pflicht machen. Der Bau dieses modernen Theaters wäre ein wirksames Mittel zur Stärkung des schwer bedrängten Deutschtums in hiesiger Gegend und ein Bollwerk gegen das immer weiter vordringende, das deutsche Vaterland verpestende Polentum. Das Polentum hat in den letzten 30-40 Jahren in hiesiger Gegend unbegreifliche Fortschritte gemacht. Während Anfang der siebensiger [!] Jahre die polnische Sprache in den Strassen unserer Stadt kaum zu hören war, wird jetzt in den Strassen und Märkten sehr viel polnisch gesprochen und zwar nicht nur von den älteren Leuten sondern gerade auch von
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den schulpflichtigen Kindern. Es handelt sich um eine systematische Verbreitung der polnischen Propaganda. Am deutlichsten spiegelt sich das Vordrängen des Polentums in den Ergebnissen der Reichstagswahl wieder. In dem vereinten Wahlkreise Graudenz-Strassburg betrug die Zahl der Wähler:
im Jahre
Deutsche
Polnische
1871 1874 1877 1878 Stichwahl 1881 Stichwahl 1884 1887 1890 Stichwahl 1893 Stichwahl 1898 1903 Stichwahl
7716 8825 8416 8172 9273 7595 7748 7723 11032 10487 10310 9621 9758 12181 12223 13605
6939 8066 7776 8081 9303 7405 8859 7950 9444 9489 10628 9554 10558 11744 12503 13204
zusammen polnisch und deutsch 14655 16891 16192 16253 19026 15000 16607 15673 20476 19976 20938 19175 20316 23955 24726 26809
also polnisch % 47,35
48,09 53,34
50,75 51,97 49,25
Diese Zusammenstellung zeigt deutlich den starken Stimmenzuwachs des polnischen Elements. Bei den deutschen Wählern sind die schmachvollen Jahre, in denen der Wahlkreis von einem Polen vertreten wurde, nicht vergessen. Den deutschen Wählern ist aber ebenso bewusst, dass die Rückeroberung des Sitzes in deutsche Hände nur möglich gewesen ist unter ganz bedeutenden Anstrengungen und Sammlung aller deutschen Elemente. Dass die Gefahr, den Sitz wieder zu verlieren, für die Deutschen eine grosse ist, beweisen obige Zahlen, denn es gaben stets nur sehr wenige Stimmen für den Deutschen den Ausschlag. Am deutlichsten zeigt die Gefahr der Polonisierung die Statistik der Bevölkerung. Es wurden im Landkreise Graudenz allein gezählt
1890 1900
Deutsche 26727 25588
Polen 15525 17874
Während also die Deutschen 1139 Seelen verloren haben, gewannen die Polen 2349.
Die statistischen Angaben, die (was hier ausgespart worden ist) auch noch für den benachbarten Kreis Schwetz genannt werden, verdeutlichen unwiderlegbar die ‚Bedrohlichkeit‘ einer Situation, in der die polnische Bevölkerung die Vorherrschaft der deutschen Sprache und Kultur zu brechen droht und sogar – demokratisch legitimiert – im Bereich der Politik schon eine dominierende Rolle zu spielen vermocht hat. Offenbar sitzt der Schock, den die überraschende Eroberung des Wahlkreises Graudenz 1890 durch den weitestgehend unbekannten
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polnischen Kandidaten Rozycki gegen einen namhaften deutschen Nationalliberalen7 ausgelöst hatte, noch immer tief und fordert die Stadtväter nachdrücklich dazu auf, sich verstärkt um wirksame Präventivmaßnahmen zu bemühen. Dabei spiegelt sich die Mentalität dieser Zeit besonders deutlich in den martialischen Wendungen und Sprachbildern wider, die sich diese Darlegungen mit einer schlichten Selbstverständlichkeit zu Eigen machen: Das ‚schwer bedrängte Deutschtum‘ steht dem ‚immer weiter vordringenden Polentum‘ gegenüber und ist der „Gefahr der Polonisierung“ sowie permanenter ‚polnischer Propaganda‘ ausgesetzt. In diesem Kontext nimmt es kaum wunder, dass hier angeblich ein Abwehrkampf gegen antagonistische Kräfte geführt werden muss, die das „deutsche Vaterland“ zunehmend ‚verpesten‘. Nach der Schilderung dieses bedrängenden Szenarios kann nun das bereits eingeführte Motiv der ‚Ostflucht‘, die den geschilderten nationalen Gefährdungen erst ihre volle Brisanz verleiht, in einem flankierenden Argumentationsgang entfaltet werden. Die in der Phase der Hochindustrialisierung stark angewachsenen Abwanderungstendenzen aus den östlichen Provinzen im Allgemeinen sowie die fatale Attraktivität des Zentrums Berlin im Besonderen bilden (um im Duktus zu bleiben) eine zweite wichtige Front, an der die Sicherung des ‚Deutschtums‘ durch eine massive Verbesserung der kulturellen Infrastruktur vorangetrieben werden müsste. Wurde in den 60er und 70er Jahren das deutsche Element infolge der überseeischen Auswanderung – namentlich nach Amerika – zurückgedränkt [!], so wird es in den letzten zwei Jahrzehnten durch den „Zug nach dem Westen“ entkräftet. Es ist eine täglich zu beobachtende Tatsache, dass zahlreiche Arbeiter und Handwerker, welche in hiesigen Schulen eine gute Schulbildung genossen und in hiesigen Fabriken zu tüchtigen Leuten ausgebildet worden sind, nach den westlichen Industriezentren auswandern, und zwar nicht immer um höhere Löhne zu erlangen, sondern weil ihnen in sozialer und kultureller Hinsicht mehr geboten wird. Dieselbe Erscheinung ist aber auch unter den wohlhabenderen Kreisen zu beobachten. Beinahe ausnahmelos [!] verlassen mittlere und höhere Beamte nach ihrer Pensionierung bzw. Kaufleute nach Verkauf ihres Geschäfts den Osten, um in Berlin und seinen Vororten Kulturgüter zu genießen, die ihnen in Graudenz wenig oder garnicht geboten werden. Das im Osten erworbene häufig bis in die Millionen Mark zählende Vermögen wandert also aus, um mit seinen Erträgnissen andere Landesteile zu befruchten. Dem Osten werden somit nie zu ersetzende Werte entzogen. Wir könnten Hunderte von krassen Beispielen hierfür anführen. Der Fortzug der besser situierten Kreise hat den weiteren Nach-
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Der Reichstagswahlkreis „Westpreußen 3: Graudenz-Strasburg“ war seit 1871 stets durch einen Nationalliberalen deutscher Nationalität besetzt. 1890 verlor ihn sein damaliger sehr namhafter Inhaber, der aus dem westpreußischen Berent gebürtige vormalige Berliner Oberbürgermeister und preußische Finanzminister Arthur Hobrecht, völlig überraschend an einen polnischen Kandidaten namens Wladyslaw Rozycki (1833-1915). Rozycki war Rittergutsbesitzer in Wlewsk im Kreis Strasburg und behauptete den Wahlkreis bis 1898. Vgl. zu den Reichstagswahlen von 1890, welche der polnischen Fraktion einen Zuwachs von drei Mandaten brachte, Albert Kotowski. Zwischen Staatsräson und Vaterlandsliebe: Die Polnische Fraktion im Deutschen Reichstag 1871-1918. Düsseldorf 2007. S. 110f.
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teil, dass er dem Deutschtum gerade die dauernden Stützen entzieht, deren es zu seiner Erhaltung so notwendig bedarf. Hier kann nur Wandel geschaffen werden durch durchgreifende Massnahmen, welche dahin zielen, den Osten aufzuschliessen und ihn zu beleben mit sozialen und kulturellen Einrichtungen. Denn solche sind geeignet, auch derjenigen Bevölkerung den Aufenthalt angnehm [!] zu machen, welche nicht mehr des Erwerbes wegen an die Scholle gebunden ist. Nur dadurch wird es erreicht werden, dass die im Osten erzogenen Talente und die erworbenen Vermögenswerte auch diesem dauernd erhalten bleiben. Solange dies nicht erreicht ist, wird die oben geschilderte „Landflucht“ wie ein Fluch über dem Osten schweben. Die Einrichtung eines würdigen, den Anforderungen der Neuzeit entsprechenden Theaters wäre hier zweifellos ein geeignetes Mittel. Es würde damit ein sehnlicher Wunsch aller derjenigen besser situierten Bewohner von Graudenz und Umgegend erfüllt werden, denen der Besuch eines guten Theaters geradezu ein Lebensbedürfnis ist. Wir möchten hier nur an die grosse Garnison unserer Stadt mit über 200 Offizieren, an die vielen Beamten, deren Zahl etwa 500 beträgt, sowie an die grosse Zahl gebildeter Kaufleute und Landwirte und an den zahlreichen Mittelstand erinnern. Der Mangel eines besseren Theaters wird – wie uns zahlreiche Wünsche aus den betreffenden Kreisen verraten – namentlich von denjenigen Beamten und Offizieren hart empfunden, welche bisher in einer anderen Stadt daran gewöhnt waren. Die Errichtung einer geeigneten Kunststätte würde also allen diesen Kreisen den Aufenthalt in Graudenz und Umgegend angenehmer gestalten. Sie würde vielleicht bei manchem dazu beitragen, in ihm den Wunsch keimen zu lassen, in Graudenz auch dann wohnen zu bleiben, wenn es der Beruf nicht mehr erfordert. Aber auch für alle diejenigen Personen, welche durch ihre Bildung und Vermögenslage gewöhnlich nicht zu dem Theaterbublikum [!] zu rechnen sind, wäre ein modernes Theater als Bildungsstätte von grossem Werte. Dass die dramatische Kunst zu einem wertvollen Volksbildungsmittel werden kann, bedarf wohl keiner weiteren Erörterung. Gerade in unserer vom Polentum schwer bedrängten Gegend kann die Darstellung patriotischer Schaustücke belebend, befestigend und bestärkend auf das deutsche Element wirken – dies um so mehr, als die Polen wiederholt einen Ansatz gemacht haben, in Graudenz ein polnisches Theater zu errichten. Erst im vorigen Jahre wurde uns mitgeteilt, dass die Polen um den „Goldenen Löwen“ verhandelten, um aus dem dort befindlichen Sommertheater ein polnisches zu machen.
Das in dieser Passage prononciert vertretene Konzept des Theaters als einer ‚Bildungsstätte‘ lässt sich durchaus als signifikante ideologische Nivellierung und Verengung jener differenzierten Gedanken lesen, mit denen Friedrich Schiller Mitte der 1780er Jahre die Schaubühne als eine ‚moralische Anstalt‘ zu fassen gesucht hatte. Das „Verdienst der besseren Bühne um die sittliche Bildung“, dem dasjenige „um die ganze Aufklärung des Verstandes“ in nichts nachsteht8, oder die ästhetische Erfahrung, aus der das Empfinden, „ein Mensch zu seyn“9, zu entspringen vermag, – solche Vorstellungen treten nun gänzlich zurück gegenüber einem höchst verkürzten Verständnis des von Schiller ebenfalls geäußerten Ge8
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Friedrich Schiller. Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet. Rede vom 26.06.1784 vor der kurpfälzischen Deutschen Gesellschaft. Publiziert u.d.T. „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?“. Schillers sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe in zwanzig Bänden. Hg. Otto Güntter/Georg Witkowski. Bd. 17. Leipzig [o.J.; 1910]. S. 165-179, S. 176. Ebd. S. 179.
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dankens, dass „eine gute stehende Bühne“ nicht zuletzt auch einen segensreichen Einfluss auf „den Geist der Nation“ ausüben könnte10, denn nun geht es lediglich noch darum, das Theater als „Volksbildungsmittel“ einzusetzen und das „deutsche Element“ durch die „Darstellung patriotischer Schaustücke“ zu stärken. Die folgende Beschreibung der bisherigen Aktivitäten, der Spielplangestaltung, der Adressaten-Gruppen sowie der leitenden pädagogischen Intentionen gewährt überdies detaillierte Einblicke in eine Praxis, die von den Leitlinien eines fortwährenden Konkurrenzkampfes zwischen zwei Kulturen bestimmt wird: In nationaler Hinsicht hat der hiesige Theaterverein selbst mit dem kleinen Theater viel Gutes gestiftet. Im Winter 1903/04 veranstaltete er 138 Vorstellungen, darunter 38 Volksvorstellungen, 6 Schüler- und Klassikervorstellungen, sowie 6 Militärvorstellungen. Im Jahre 1904/05 waren von 179 Vorstellungen 15 Schülervorstellungen. An den Schülervorstellungen, welche durchaus segensreich wirken, waren nicht nur die Volksschulen der Stadt Graudenz, sondern auch die Kreise Schwetz und Graudenz beteiligt. Es besuchten im Winter 8250 Kinder unentgeltlich das Theater. Hierzu kamen im vorletzten Winter noch etwa 2000 Arbeiter. Von den unentgeltlichen Vorstellungen wären zu nennen: Wilhelm Tell, Colberg, Minna von Barnhelm, Maria Stuart, die Preussen in Bresslau, Königsleutnant, Prinz von Homburg. Unzweifelhaft würde ein modernes schönes Theater noch viel anregender und belebender auf die für patriotische Gefühle so empfänglichen Kinderherzen wirken als der jetzige, alte Bau. Es würde bei den Kindern die Liebe zur ostmärkischen Heimat dauernd Wurzel schlagen. Es fällt hierbei in’s Gewicht, dass gerade Graudenz – mehr als jede andere westpreussische Stadt – als der geeignete Ort für ein schönes Nationaltheater erscheint. Günstig für ein Theater ist stets die Reklame, die Recension in den Zeitungen. In Graudenz erscheint das grösste Provinzialblatt „der Gesellige“, welcher es sich hauptsächlich zur Aufgabe stellt, die Interessen des Deutschtums zu vertreten. Es leuchtet ohne weiteres ein, das die Besprechungen der Vorstellungen im „Geselligen“ anregend und belebend auf die deutschen Leser einwirken und dazu beitragen werden, immer weitere Kreise für das Theater zu interessieren. Der „Gesellige“ wird hier um so segensreicher wirken, als er im Gegensatz zu der ebenfalls in Graudenz erscheinenden „Gazetta Grudziacka“, dem gelesensten polnischen Blatte, wirken dürfte. Nahm doch dieses polnische Blatt z.B. s. Zt. gleich Veranlassung die Schülervorstellungen den polnischen Kindern als nicht empfehlenswert hinzustellen. Nach diesen Darlegungen geht das Gesuch zunächst auf die Standortvorteile und den großen, angeblich 200.000 Seelen umfassenden Einzugsbereich der Stadt ein und kommt zu dem Schluss: Sprechen aber sehr so schwerwiegende, mannigfaltige Interessen für die Errichtung eines solchen Theaters, so scheint uns die Verwirklichung des Zieles geradezu eine Pflicht zu sein. Leider ist unseren Bestrebungen ein Halt geboten durch die schlechte finanzielle Lage unserer Stadt. […] Wir haben daher den langgehegten Wunsch auf Errichtung eines Theaters bisher stets zurückstellen müssen, da die Bürger heute schon wegen der hohen Steuern nur unter dem Zwange des Erwerbes oder Berufes Graudenz als Wohnort nehmen. Jedoch ist unser 10
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Wunsch wieder zu neuem Leben erwacht durch die Anregung seiner Exzellenz des Herrn Finanzministers von Rheinbaben bei Gelegenheit der Besichtigung des Theaters im Juli 1904. Seine Exzellenz hatten die Gewogenheit, der Stadtgemeinde ev. einen Zuschuss zu den Kosten eines neuen Theaters in Aussicht zu stellen. Auch geruhten seine Exzellenz einer vom Stadtrat Dr. Deichen geführten Deputation bestehend aus den Herren Geh. Regierungsrat Landrat von Conrad, Stadtverordnetenvorsteher Mehrlein und Stadtverordneter Justizrat Obuch, welche die finanzielle Lage der Stadt zu schildern sich gestattete, dasselbe Wohlwollen zu zeigen.
An diese Captatio benevolentiae schließt sich noch eine genauere Aufstellung der zu erwartenden Baukosten an, bevor das ausführliche Schreiben mit der nochmaligen Nennung des erbetenen Zuschusses von 200.000 Mark „aus Ostmarkenfonds“ sowie der Unterschrift des (soeben im Zitat erwähnten) Stadtrats Deichen schließt. Das Ansinnen der Graudenzer Stadtverwaltung stieß – wie die im Folgenden vorgestellten Dokumente zeigen – bei den übergeordneten Instanzen der Provinz, aber auch bei den beteiligten Ministerien auf ein durchaus lebhaftes Interesse. Der Briefwechsel zwischen Berlin und Marienwerder, der für die Jahre von 1905 bis 1908 nachvollzogen werden kann, erweckt sogar den Eindruck, dass die Regierungsstellen den ganzen Vorgang letztlich beharrlicher verfolgt haben als die Antragsteller selbst. Der damalige Regierungspräsident des Regierungsbezirkes Marienwerder, Ernst Ludwig v. Jagow, bescheinigte in seinem vom Regierungsrat Dschenfzig konzipierten Begleitschreiben vom 16. August 1905 dem Magistrat von Graudenz, „meines Dafürhaltens durchaus zutreffende Ausführungen“ gemacht zu haben. Auch die geäußerte Bitte um eine staatliche Beihilfe glaubte v. Jagow „auf das Wärmste“ befürworten zu müssen. Als Begründung für seine Meinung gab er die folgende aufschlussreiche Darstellung der deutsch-polnischen Nationalitätenverhältnisse in Graudenz – bei der sich bis in einzelne Formulierungen hinein seine hohe Affinität zu den Diskursfiguren eines nationalistisch-konfrontativen Denkens erkennen lässt: Die deutsche Bevölkerung in Graudenz leistet dem vordringenden Polentum in besonders anerkennenswerter Weise geschlossen und energisch Widerstand, sodaß sie die weitgehendste Unterstützung des Staates in diesem Kampfe verdient. Es wird deshalb Sache des Staates sein, den im nationalen Interesse mit Freuden zu berührenden Plan der Stadt, das zur Zeit dort vorhandene, unschöne und mit unzulänglichen Einrichtungen versehene Theater durch einen würdigen, allen Anforderungen entsprechenden Neubau zu ersetzen, tatkräftig zu fördern und, soweit die Kräfte der Stadt zur Verwirklichung des Planes nicht ausreichen, helfend einzugreifen. Hierzu liegt um so mehr Veranlassung vor, als das neue Theater bei der günstigen Lage und den guten Verbindungen der Stadt Graudenz nicht nur den Bewohnern dieser, sondern auch der deutschen Bevölkerung großer Teile der umliegenden Kreise Graudenz, Schwetz, Culm, Marienwerder und Tuchel zu Gute kommen würde.
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Jürgen W. Schmidt Wenn die Stadt nun von den Kosten des Theaterneubaus, die bei dem Mangel eines geeigneten städtischen Bauplatzes wohl zutreffend auf 600000 Mark zu veranschlagen sind, zwei Drittel übernimmt, so dürfte sie bei ihrer wenig günstigen Finanzlage und im Hinblick auf die vielen anderen, von ihr in nächster Zeit zu erfüllenden Aufgaben thatsächlich an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt sein, und es würde ein Drittel der Kosten, wie dies auch bei dem Theaterbau in Thorn[11] geschehen ist, auf Staatsfonds zu übernehmen sein.
In Vertretung des Oberpräsidenten der Provinz Westpreußen befürwortete auch sein amtlicher Stellvertreter, Oberpräsidialrat v. Liebermann, in Danzig am 20. August 1905 das Graudenzer Theaterprojekt. Er teilte zugleich mit, dass der Oberpräsident Dr. Clemens v. Delbrück bislang das Theater in Graudenz jährlich mit 2500 Mark aus seinem Dispositionsfonds unterstützt und „diese Unterstützung gute Früchte getragen“ habe. Somit eingestimmt, richtete der damalige preußische Innenminister Theobald v. Bethmann-Hollweg – später (von 1909 bis 1917) deutscher Reichskanzler – am 7. Oktober 1905 ein entsprechendes Schreiben an den preußischen Finanzminister Georg Freiherr v. Rheinbaben. Er verwies dabei auf die „nationalpolitischen Gesichtspunkte“, welche zur Bereitstellung erheblicher staatlicher Mittel für Theaterbauten in den Städten Bromberg, Posen, Thorn und Kattowitz geführt hatten und meinte es daher „als eine nicht abzuweisende Aufgabe des Staates“12 betrachten zu müssen, diese Mittel jetzt auch für Graudenz aufzubringen. Damit würde nämlich ein „Sammelpunkt zur Hebung und Befestigung des Deutschtums“ geschaffen. Allerdings wäre vorher genau zu prüfen, ob die hohe Summe von 600.000 Mark wegen des Fehlens eines geeigneten städtischen Grundstücks wirklich notwendig sei. Das zu erstellende Projekt müsse sodann mit allen dazu gehörigen Unterlagen durch die Bauabteilung des Ministeriums der öffentlichen Arbeiten geprüft werden. Deshalb behalte er sich vor, den letztlich zu bewilligenden staatlichen Beitrag zum Graudenzer Theaterbau erst zu einem späteren Zeitpunkt genauer zu beziffern. Dennoch wäre ihm eine Meinungsäußerung seitens des Finanzministers, ob dieser grundsätzlich geneigt wäre, das Projekt finanziell zu fördern, sehr willkommen. Daraus würde sich auch ergeben, ob die finanzielle Beihilfe aus den Mitteln des Staatshaushaltes oder aus den Mitteln des „Allerhöchsten Dispositionsfonds“ (also durch Gnadenakt des deutschen Kaisers und preußischen Königs Wilhelm II.) zu gewähren sei. Der Innenminister bevorzugte die zweite Variante, dann nämlich könne man die Stadtgemeinde Graudenz verbindlich verpflichten, das neue Gebäude nur „zu theaterlichen Vor11
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Dieser Hinweis zeigt, dass anscheinend auch die Errichtung des Theaters in Thorn (in den Jahren 1903/04) von der Absicht mit bestimmt worden war, die deutsche Kultur zu festigen und zu schützen. Nicht zuletzt dürfte diese erfolgreiche Etablierung einer Schauspiel- und Musikbühne – ganz abgesehen von dem gewiss bestehenden Konkurrenzverhältnis zwischen den Weichselstädten – die Stadtväter von Graudenz dazu veranlasst haben, auch ihrerseits gerade die Idee eines ‚Nationaltheaters‘ zu verfolgen. In seinem Konzept hatte Bethmann-Hollweg sogar anfangs „Pflicht“ geschrieben, das Wort aber dann durch „Aufgabe“ ersetzt.
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stellungen in deutscher Sprache“ zu nutzen und die Bauausführung nur durch „eine inländische Firma“ vornehmen zu lassen. Der preußische Finanzminister erklärte sich in seinem Antwortschreiben vom 31. Oktober 1905 nur dann bereit, ein Drittel der Baukosten des Graudenzer Theaters auf Staatsfonds zu übernehmen, wenn „die bisher veranschlagte Bausumme bei der im Ministerium der öffentlichen Arbeiten vorzunehmenden Nachprüfung des Bauprojekts eine erhebliche Herabsetzung erfährt“. Auch könne, da die Finanzplanung für 1906 bereits abgeschlossen sei, das Graudenzer Projekt erst in den Etat des Jahres 1907 aufgenommen werden. Innenminister Bethmann-Hollweg teilte seinerseits am 24. November 1905 dem Regierungspräsidenten von Marienwerder mit, dass die Stadt Graudenz „in Würdigung der vorgetragenen nationalpolitischen Gesichtspunkte“ und natürlich vorbehaltlich der Bewilligung der erforderlichen finanziellen Mittel durch den „Landtag“ mit einer staatlichen Beihilfe rechnen könne, wobei er jedoch auch die zuvor geschilderten Bedingungen referierte. Dessen ungeachtet sehe man der Einreichung entsprechender „Bauanschläge“ in Berlin möglichst „demnächst“ entgegen. Am 5. Juli 1906 fragte der preußische Innenminister dann mit einer gewissen Verwunderung ob des Ausbleibens einer Reaktion beim Regierungspräsidenten von Marienwerder nach, wie denn nun der „gegenwärtige Stand der Angelegenheit“ in Graudenz wäre, da man noch keine Bauvoranschläge erhalten habe. Der neue Regierungspräsident von Marienwerder Karl Schilling – der bisherige Regierungspräsident v. Jagow war mittlerweile selbst zum Oberpräsidenten der Provinz Westpreußen aufgerückt – konnte am 14. August 1906 dem Innenministerium schließlich Folgendes zum Stand des Graudenzer Theaterprojekts berichten: Der Magistrat in Graudenz hat sich wegen Ausarbeitung eines Vorentwurfs für den projektierten Theaterbau mit der Firma Biswan und Knauer GmbH in Berlin in Verbindung gesetzt, welche kürzlich einen Architekten zur Beratung und zum Studium der örtlichen Verhältnisse nach Graudenz gesandt hatte. Es soll nunmehr mit der Ausarbeitung des Vorentwurfs begonnen werden, dessen Eingang bei dem Magistrat etwa in 3 Monaten zu erwarten steht.
Seitens des preußischen Innenministeriums wurde das Finanzministerium dann am 24. August 1906 über den Stand der Angelegenheiten bezüglich des Theaterbaus in Graudenz informiert. Doch schon am 7. November 1906 musste Innenminister Bethmann-Hollweg erneut beim Regierungspräsidenten Informationen zum Stand des Graudenzer Theaterprojekts anmahnen. Hierzu teilte Regierungspräsident Schilling am 23. Dezember 1907 über die mittlerweile aufgetretenen Schwierigkeiten in der Stadt Graudenz Nachstehendes mit:
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Jürgen W. Schmidt Der Magistrat in Graudenz steht in Unterhandlungen mit der dortigen Schützengilde behufs Ankaufs des Schützenhausgrundstückes, welches als Bauplatz für den Theaterneubau ganz besonders geeignet erscheint. Bisher ist eine Einigung über den Geländeerwerb nicht zu erzielen gewesen. Die Verhandlungen werden fortgesetzt.
Auch dieses Mal wurde (am 11. Januar 1908) das preußische Finanzministerium seitens des Innenministeriums über den Sachstand in Graudenz auf dem Laufenden gehalten. Seit diesem Zeitpunkt sind in den erhaltenen Akten keine weiteren Korrespondenzen bezüglich des Theaterbaus mehr vermerkt – und zwar bis ins Jahr 1911 –, was den Schluss zulässt, dass keine weiteren Schritte mehr unternommen wurden. Es kann darum vermutet werden, dass der westpreußischen Mittelstadt anscheinend die finanziellen Lasten des angestrebten Theaterneubaus doch zu schwer geworden waren. Seitens des noch längere Zeit auf positive Nachrichten aus Graudenz wartenden preußischen Innenministeriums – dort behielt der Geheime Oberregierungsrat Dr. Drews die Angelegenheit im Auge – wurde die begonnene Akte zum Theaterprojekt in Graudenz schließlich am 11. Februar 1911 archiviert. Damit hatte sich das Projekt des Neubaus eines ‚Nationaltheaters‘ in Graudenz, das ein kulturelles Bollwerk gegen den erstarkenden, als Bedrohung wahrgenommenen polnischen Einfluss hätte bilden sollen, erledigt.13 Neben diesen Vorgängen haben aktuelle Archivstudien weitere Dokumente zutage gefördert, die ebenfalls tiefere Einsichten in die spezifischen Rahmenbedingungen der westpreußischen Musikkultur vermitteln können und in diesem Zusammenhang deshalb ein zweites exemplarisches Feld aufschlussreicher Verwaltungsakten zu bilden vermögen. Sie beziehen sich auf einen Bereich, dem durch den preußischen Staat und den preußischen Monarchen wohl besondere Aufmerksamkeit geschenkt worden ist: auf den Chorgesang. Dabei gibt die erhaltene regierungsamtliche Korrespondenz vom Beginn des 20. Jahrhunderts zu erkennen, dass sich die Förderung hier weniger durch finanzielle Subsidien, sondern vielmehr mittels kaiserlicher Anerkennungen und Ehrungen – also auf rein symbolische Weise – vollzogen hat.14 – Ein Beispiel für solch eine ideelle Unterstützung ist die Verleihung einer kaiserlichen Medaille an den Danziger Männer13
14
Das Ende des Graudenzer Nationaltheater-Projektes bedeutete allerdings keineswegs das zuvor befürchtete baldige „Aus“ für das vorhandene Städtische Theater, an dem beispielsweise in den Jahren 1910/11 ein vielversprechender und aufstrebender junger Musiker, der nachmalige Generalmusikdirektor von Bad Kissingen, Karl Tutein (geb. 26.08.1887 in Mannheim, gest. 19.12.1984 in München), als Kapellmeister wirkte. Hierzu existiert die viele aussagekräftige Beispiele enthaltende Akte GStA HA I Rep. 76, Ve Sekt. 3 Abt. II Nr.1 „Acta betreffend die Gesang- und Musik-Anstalten im Reg. Bez. Danzig“ (November 1816-Mai 1930), welche jedoch im betreffenden Findbuch des Geheimen Staatsarchivs aus unerfindlichen Gründen unter der Bezeichnung die „Musiklehrinstitute und musikalischen Vereine im Reg. Bez. Danzig“ Bd. 1 auftaucht. Die analoge Akte für den anderen westpreußischen Regierungsbezirk Marienwerder, welche im Jahr 1817 begonnen wurde, ist gemäß dem Findbuch irgendwann im 20. Jahrhundert in Verlust geraten. Alle im Folgenden erwähnten Dokumente sind deshalb der Akte für den Regierungsbezirk Danzig entnommen.
Schlaglichter auf die Musik- und Kulturpolitik in Westpreußen zwischen 1905 und 1912
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gesangverein Sängerbund. Im diesbezüglichen Schreiben des preußischen Kultusministeriums teilt dessen Abteilungsdirektor Schwartzkopff15 unter dem Datum des 15. Oktober 1902 dem Danziger Regierungspräsidenten mit: Seine Majestät der Kaiser und König haben die Gnade gehabt, dem Männergesangverein „Sängerbund“ zu Danzig aus Anlaß seines 50-jährigen Jubiläums die beifolgende goldene Medaille zu verleihen. Eure Hochwohlgeboren ersuche ich, das Weitere zu veranlassen.16
Eine Sängervereinigung aus der Stadt Dirschau erhielt einige Jahre später ebenfalls eine ehrende staatliche Anerkennung. Am 25. Juni 1911 feierte der Dirschauer Männergesangverein sein 60-jähriges Stiftungsfest. Mit der Feier dieses Jubiläums war zugleich das Gausängerfest des Gaus Elbing des Westpreußischen Sängerbundes verbunden. Da der Dirschauer Männergesangverein nach Einschätzung des Danziger Regierungspräsidenten Lothar Foerster in seinem für den preußischen Kultusminister August v. Trott zu Solz bestimmten Bericht vom 19. Juni 1911 „durchaus auf deutschnationalem Boden“17 stand und „sich die Pflege des deutschen Liedes stets mit regem Eifer [hat] angelegen sein lassen“, empfahl er dem Kultusministerium, sich für die Stiftung eines Ehrenpreises durch Kaiser und König Wilhelm II. anlässlich des Sängerfestes einzusetzen. Zudem würde eine „Allerhöchste Auszeichnung“ des Dirschauer Männergesangvereins durch Verleihung der silbernen Königsmedaille in Frage kommen. Diesem Ansinnen wurde, wenn auch erst nachträglich, tatsächlich entsprochen: Das Kaiserliche „Geheime CivilKabinett“ teilte am 29. Juni 1911 von Potsdam aus dem preußischen Kultusminister Trott zu Solz in Berlin zustimmend mit: Seine Majestät der Kaiser und König haben auf Euerer Exzellenz Bericht vom 24. d. M. die Gnade gehabt, dem Männergesangverein zu Dirschau im Reg.-Bez. Danzig anläßlich der Feier seines 60jährigen Bestehens ausnahmsweise die beifolgende silberne Königsmedaille zu stiften, und ersuchen Euere Exzellenz, wegen Behändigung derselben das Weitere zu veranlassen.18
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Siehe zur Person von Phillip Schwartzkopff, welcher in Folge zum Unterstaatssekretär im Kultusministerium und schließlich sogar zum Oberpräsidenten der Provinz Posen avancierte, das Buch von Jürgen W. Schmidt. Gegen Russland und Frankreich. Der deutsche militärische Geheimdienst 1890-1914. 4. durchges. und erg. Aufl. Ludwigsfelde 2010. S. 48f. Schreibmaschinenabschrift von Schwartzkopffs Schreiben (Blatt 256 in genannter Akte). In einem Gesuch des Vorstandes des Dirschauer Männergesangvereins an Kaiser Wilhelm II. vom 09.06.1911 verwies man ganz eindeutig auf den Umstand, man habe sich die „Pflege deutschen Liedes zur ersten Aufgabe gemacht und dadurch erfolgreich zur Kräftigung und Verbreitung deutscher Sitte und deutscher Gesinnung beigetragen“. Man fördere damit die „Stärkung unseres deutschen Volksbewußtseins in Dirschau, einer Stadt, mit scharfen nationalen Gegensätzen […]“. Da der Kaiser dem Männer-Gesang-Verein zu Danzig im Jahr 1902 anlässlich von dessen 50-jährigem Bestehen eine Medaille verliehen habe, bitte man nun in Dirschau gleichfalls um eine kaiserliche Anerkennung. Seitens des Vereins hätte man gewiss nicht diese deutsch-nationalen Töne angestimmt, hätte man sich davon nicht den gewünschten Erfolg versprochen. Zum Dirschauer Männergesangverein siehe Bl. 273-280 in genannter Akte.
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Vom Erfolg derartiger Initiativen wohl ermutigt, bemühten sich auch die Chöre in kleineren westpreußischen Städten um Auszeichnungen: So erbat sich der Männergesangverein Einigkeit aus der Kleinstadt Schöneck (3.394 Einwohner im Jahre 191019) anlässlich seines 60-jährigen Jubiläums, das er im Dezember 1911 begehen wollte, ebenfalls eine Auszeichnung mit einer kaiserlichen Medaille. Der Danziger Regierungspräsident Foerster verwies in seinem befürwortenden Schreiben vom 6. Dezember 1911 ausdrücklich auf den Umstand hin, dass jener „Verein auf deutsch-nationalem Boden steht und nach dem beiliegenden Statut insbesondere die Pflege echt vaterländischer Weisen sich zu seiner Aufgabe gestellt hat“20. Eine von der Polizeiverwaltung Schöneck eingeholte amtliche Auskunft bekräftigte diese Einschätzung des Regierungspräsidenten. Der Schönecker Bürgermeister Soost schrieb darin in seiner Funktion als städtischer Polizeiverwalter u.a.: Der hiesige Männergesangverein „Einigkeit“ – Vorsitzender Pfarrer Zuwachs, Dirigent Lehrer Schlagowski – gegründet vom verstorbenen Lehrer und Organisten Felski im Jahre 1851, sieht auf ein sechszigjähriges [!] Bestehen zurück und gedenkt Ende des nächsten Monats sein 60 jähriges [!] Jubiläum festlich zu begehen. Der Verein hat ausser durch die Pflege des deutschen Liedes auch dadurch um das Deutschtum sich verdient gemacht, dass er unter seinen Mitgliedern Angehörige aller Nationalitäten und Konfessionen vereinigt und sich bei der sonstigen politischen und konfessionellen Zerrissenheit im deutschen Gesange eine Stätte der Einigkeit und des Friedens begründet hat, die allen Stürmen und Anfechtungen bisher Trotz geboten hat.
Aufgrund dieser positiven Bescheide konnte Exzellenz Rudolf v. Valentini als Chef des Kaiserlichen „Geheimen Civil-Kabinetts“21 am 20. Dezember 1911 an den preußischen Kultusminister schreiben:
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Zum Vergleich: Danzig hatte im Jahr 1910 170.337 Einwohner, Dirschau kam zur selben Zeit auf 16.894. Sämtliche Angaben gemäß dem Handbuch über den Königlich Preußischen Hof und Staat für das Jahr 1912. Berlin 1911. S. 824f. Als Blatt 283 ist genannter Akte das Statut des Männer-Gesang-Vereins „Einigkeit“ beigegeben. Das Statut vom 26.11.1887 umfasst insgesamt acht kleinformatige Druckseiten und als Zweck des Vereins ist im Abschnitt I angegeben: „Der Männer-Gesang-Verein ‚E i ni gke i t‘ zu Schöneck, Westpr., hat sich zur ersten Aufgabe die Pflege der edlen Gesangeskunst mit ihrer ernsten und heiteren, echt vaterländischen [die beiden letztgenannten Worte sind von unbekannter Hand rot unterstrichen, der Verf.] Weise gestellt. Gleichzeitig soll aber auch durch den regen Verkehr und engeren Anschluß der Sangesbrüder an einander Freundschaft sowohl wie Frohsinn gehegt und gefördert werden.“ Der monatliche Mitgliedsbeitrag betrug gemäß des am 20.01.1890 abgeänderten § 22 für jedes „aktive Mitglied“ 25 Pfennig und für jedes „passive Mitglied“ 40 Pfennig. Siehe die posthum herausgegeben Memoiren Kaiser und Kabinettschef. Nach eigenen Aufzeichnungen und dem Briefwechsel des Wirklichen Geheimen Rats Rudolf von Valentini dargestellt von Bernhard Schwertfeger. Oldenburg 1931. Zu den erwähnten Verleihungen von Kaiserlichen Medaillen an Chorvereinigungen und zur Zusammenarbeit mit dem preußischen Kultusministerium findet sich allerdings nichts in den Erinnerungen.
Schlaglichter auf die Musik- und Kulturpolitik in Westpreußen zwischen 1905 und 1912
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Seine Majestät der Kaiser und König haben auf Euerer Exzellenz Bericht vom 16. d. M. die Gnade gehabt, dem Männergesangverein „Einigkeit“ zu Schöneck im Regierungsbezirk Danzig anläßlich der Feier seines sechszigjährigen Bestehens ausnahmsweise die beifolgende silberne Königs-Medaille zu stiften und ersuchen Euere Exzellenz wegen Behändigung derselben das Weitere zu veranlassen.22
Die westpreußischen Chöre strebten freilich nicht allein nach Medaillen und anderen Ehrenauszeichnungen, sondern kamen bei der Obrigkeit auch um finanzielle Unterstützungen ein. So bat etwa der Festausschuss des Ersten Altpreußischen Musikfestes, der sich in Elbing unter Leitung von Paul Muscato konstituiert hatte, am 4. April 1905 dezidiert um eine finanzielle Zuwendung seitens des preußischen Staates.23 Muscato bezifferte in einem unter diesem Datum abgefassten Schreiben an den Oberpräsidenten der Provinz Westpreußen, Clemens v. Delbrück, welcher bereits sein persönliches Interesse an dem Musikfest durch die Übernahme des Vorsitzes im Ehrenkomitee gezeigt hatte, den finanziellen Bedarf des Festausschusses auf die nicht unbeträchtliche Summe von 3.000 Mark, was Muscato mit den bereits abgeschlossenen Verträgen der engagierten Künstler und Musiker, den Aufschlägen für die gemietete Konzerthalle in Elbing und weiteren erheblichen Nebenkosten begründete, die einen Ausgleich zwischen den erwarteten Einnahmen und Ausgaben zwingend nötig machten. Im Gegenzug versprach Muscato „ein in musikalischer Hinsicht hervorragendes Fest zu veranstalten, wie ein solches in unserem Osten bisher noch nicht gewesen ist“. Tatsächlich erbat Oberpräsident Delbrück vom preußischen Kultusminister Konrad Studt für das Elbinger Musikfest aus dessen Dispositionsfonds einen Zuschuss von eben jenen 3.000 Mark; er selbst könne nämlich aus seinen beschränkten disponiblen Mitteln als Oberpräsident von Westpreußen nichts für diesen Zweck beitragen. Bezeichnenderweise verwies er neben der Bedeutung des Festes für die „Hebung des Chorgesanges“ zugleich auf „die dem Feste beizumessende nationale Bedeutung“. Wohl um die Legitimität dieses Anspruches zu untermauern erinnerte er daran, dass der Kultusminister zuvor schon dem Chorgesangverein zu Graudenz im Regierungsbezirk Marienwerder für das von ihm im Jahre 1904 veranstaltete Erste Westpreußische Musikfest mit seinem Erlass vom 3. Dezember 1903 einen Zuschuss in Höhe von 1.000 Mark bewilligt habe. Durch das Altpreußische Musikfest entstünden dem Veranstalter Unkosten von rund 20.000 Mark, während man selbst im günstigsten Falle mit Einnahmen von nur 15.000 Mark zu rechnen habe. Zwar hätten opferbereite Elbinger Bürger einen „Garantiefonds“ von 44.700 Mark auf Bons gezeichnet, womit jedoch die Grenze der Leistungsfähigkeit der „nicht besonders wohlhabenden Bürgerschaft Elbings erschöpft sein 22 23
Zum Gesangverein Einigkeit siehe die Blätter 281-291 in genannter Akte. Bei dem geplanten Musikfest sollten am 13./14.06.1905 in Elbing folgende Chorvereinigungen zusammenwirken: die Musikalische Akademie Königsberg (Dirigent Kgl. Musikdirektor Prof. Schwalm), die Singakademie Königsberg (Dirigent Prof. Brode), die Singakademie Danzig (Dirigent Fritz Binder) sowie der Philharmonische Chor Elbing (Dirigent Alfred Rahlwes).
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dürfte“. Die Stadtverwaltung Elbing beteilige sich ebenfalls bereits mit einer Beihilfe von 1.000 Mark am Fest, so dass bislang ein Verlust von 4.000 Mark abzusehen sei, womit ein Prozentsatz von 10% der Garantiesumme in Anspruch genommen werden müsse. Eine Inanspruchnahme der Garantiesumme in Höhe von 10% müsse jedoch als verhältnismäßig sehr hoch bezeichnet werden, weswegen eine staatliche Beihilfe angebracht sei. All diese argumentativen Bemühungen blieben freilich erfolglos: Kultusminister Studt sah sich am 27. Mai 1905 in diesem speziellen Falle gezwungen „mit Rücksicht auf die Lage und Bestimmung des diesseitigen“ Fonds eine Unterstützung des Musikfestes in Elbing definitiv abzulehnen.24 Ein weiterer, ähnlich gelagerter Fall ist für das Jahr 1908 dokumentiert. Mit einem Schreiben vom 31. Mai bat der aus rund 50 Sängerinnen und Sängern bestehende gemischte Gesangverein Deutscher Liederhain 25 aus Dirschau das preußische Kultusministerium um eine Geldzuwendung zur Unterstützung seiner Aktivitäten.26 Der vom Kultusminister Ludwig Holle deshalb um seine Stellungnahme gebetene Regierungspräsident von Danzig stellte am 1. August 1908 hierzu fest: Das Gesuch des Vereins um Gewährung einer Staatsbeihilfe kann ich nicht befürworten, da er Liederbücher und Noten von den Mitgliederbeiträgen zu beschaffen in der Lage ist. Ebenso vermag er auch die Vergütung für einen Dirigenten daraus zu bestreiten, wenn er von der Veranstaltung kostspieliger Feste Abstand nimmt. Es würde meines Erachtens zu weit führen, wenn man jedem Vergnügungsverein, sofern seine Mitglieder deutscher Nationalität sind, staatliche Zuwendungen machen wollte. […] Unter den angeführten Umständen stelle ich anheim, das Gesuch des „Deutschen Liederhain“ um Gewährung einer Geldzuwendung abzulehnen […].
Dem Gesangverein Deutscher Liederhain hatte es in diesem Fall nicht geholfen, dass in seinem von 41 Vereinsmitgliedern unterzeichneten Gesuch die „Begeisterung der Mitglieder für das deutsche Lied bzw. für die deutsche Sache“ hervorgehoben worden war; und diesmal hatte nicht einmal der Hinweis „auf die in letzter Zeit in hiesigem Ort entstandenen polnischen Vereine und polnischen Bestrebungen“ beim Kultusministerium zu verfangen vermocht. Gleichwohl kann festgehalten werden, dass die von lokalen Vereinen in Anschlag gebrachte nationale Relevanz der Musikförderung in Westpreußen auf den verschiedenen regierungsamtlichen Ebenen grundsätzlich anerkannt wurde. Dabei waren die höheren Stellen nicht nur bereit, solche Aktivitäten im Rahmen des Möglichen zu unterstützen, sondern sie ergriffen sogar selbst entsprechende Initiativen: Im Jahre 1908 ging den beiden Oberpräsidenten der Provinzen West24 25 26
Siehe zum Musikfest in Elbing die Blätter 257-261 in genannter Akte. Zum Deutschen Liederhain in Dirschau siehe Bl. 263-269 in genannter Akte. Weite Teile des Schreibens sind daneben der Bitte um die Beibehaltung des beim Liederhain amtierenden Dirigenten, dem Dirschauer Lehrer Pohlmann, gewidmet. Die örtliche Kreisschulbehörde hatte zuvor verlangt, dass Pohlmann sein ohne Vergütung ausgeübtes Amt wieder aufgebe, um seinen Pflichten im Schuldienst nachkommen zu können.
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preußen und Posen ein von Vertretern des preußischen Innen- und Kultusministeriums in Berlin gemeinsam gezeichnetes und auf den 26. Februar datiertes Schreiben über die Förderung des örtlichen Deutschtums zu, dem eine Denkschrift des Gymnasial-Gesanglehrers Wilms aus Mülheim (Ruhr) „über die Gründung ländlicher Gesangvereine zur Förderung des Deutschtums in der Ostmark“ zur Kenntnisnahme beigelegt war.27 Das konkurrierende ‚Polentum‘ zurückzudrängen und eine Stärkung des ‚deutschen Elements‘ zu erreichen, bildete somit einen nicht nur für die Bürger, sondern auch für die Obrigkeit verbindlichen Orientierungsrahmen, innerhalb dessen Musik und Politik besonders eng ineinandergriffen: Dass die Träger der Musikkultur einem erhöhten Zwang zu ideologischer Konformität ausgesetzt waren, dass sie aus ihrem Wohlverhalten wiederum die berechtigte Hoffnung auf finanzielle bzw. symbolische Gratifikationen ableiten konnten und dass die Regierenden – zumal angesichts der Universalität jenes ‚Kampfes‘ – zugleich vor dem Dilemma standen, bei der Beurteilung vorgelegter Anträge kaum hinlänglich klar zwischen ernsthaftem Engagement und vordergründigem Opportunismus unterscheiden zu können, – diese dialektisch miteinander verschränkten Momente bilden ein Strukturmuster, das tendenziell zwar für die spätere Deutsche Kaiserzeit insgesamt charakteristisch sein mag, dem in diesen scharf ausgeprägten Konturen aber für Westpreußen eine regionale Spezifik zugesprochen werden darf. ____________________ Zusammenfassung Aufgrund des in etlichen Land- bzw. Stadtkreisen Westpreußens sehr hohen polnischen Anteils an den Bevölkerungszahlen waren die ideologischen Forderungen, das ‚Deutschtum‘ in den ‚Ostmarken‘ zu schützen und zu stärken, dort auf höchst fruchtbaren Boden gefallen und hatten Gebietskörperschaften, aber auch einzelnen Institutionen oder Vereinen ganz eigene Interaktionsräume eröffnet. Verwaltungsakten aus der späteren Kaiserzeit können deshalb gerade in Bezug auf diese Provinz aufschlussreiche musikhistorische Quellen bieten, weil sie die entsprechenden Motive und Handlungsoptionen der unterschiedlichen Akteure detailliert zu rekonstruieren erlauben. Dabei wird zunächst eine umfangreiche Korrespondenz vor den Fokus gerückt, die von den Stadtvätern von Graudenz (Grudziądz) im Jahre 1905 begonnen wurde und darauf abzielte, ungeachtet der schlechten Lage der städtischen Finanzen durch staatliche Subventionen das äußerst ehrgeizige Projekt der Errichtung eines ‚Nationaltheaters‘ zu verwirklichen. Ein zweites Exemplum wird sodann von Vorgängen aus einem Bereich gebildet, dem durch den preußischen Staat und den preußischen Monarchen große Auf27
Abschrift des Schreibens auf Blatt 262 genannter Akte. Die erwähnte Denkschrift des Lehrers Wilms ist in der Akte leider nicht enthalten.
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merksamkeit geschenkt worden ist: dem Chorgesang. Auf beiden Feldern zeigt sich, dass Musik und Politik während dieser Zeit gerade in Westpreußen besonders eng ineinandergegriffen haben: Die Träger der Musikkultur waren einem erhöhten Zwang zu ideologischer Konformität ausgesetzt, konnten aus ihrem Wohlverhalten aber zugleich die berechtigte Hoffnung auf finanzielle bzw. symbolische Gratifikationen ableiten, während die Regierenden vor dem Dilemma standen, bei der Beurteilung vorgelegter Anträge kaum hinlänglich klar zwischen ernsthaftem Engagement und vordergründigem Opportunismus unterscheiden zu können. Streszczenie Projekt ‚Teatru Narodowego‘ w Grudziądzu i dotacje państwowe dla niemieckich towarzystw śpiewaczych: rzut światła na politykę muzyczną i kulturalną w Prusach Zachodnich w latach 1905 do 1912 Ze względu na bardzo duży odsetek polskiej ludności w wiejskich i miejskich powiatach Prus Zachodnich ideologiczne żądania ochrony i wzmacniania ‘Niemieckości’ w marchiach wschodnich padły tam na bardzo owocny grunt i otworzyły terytorialnym stowarzyszeniach oraz poszczególnym instytucjom i związkom pole do bardzo indywidualnych działań. Akty administracyjne z okresu późnego cesarstwa z tego właśnie powodu mogą być w odniesieniu do tej prowincji bogatym, źródłem muzyczno-historycznych informacji, ponieważ można szczegółowo zrekonstruować odpowiednie motywy i działania różnych działaczy. Przy tym w polu widzenia pojawia się najpierw obszerna korespondencja, którą w roku 1905 rozpoczęli rajcowie Grudziądza (Graudenz), a których celem była realizacja – pomimo złej sytuacji finansowej miasta – bardzo ambitnego projektu finansowanej z subwencji budowy Teatru Narodowego. Drugim przykładem mogą być działania w dziedzinie, której pruskie państwo i pruska monarchia poświęciły wiele uwagi – organizacja chórów. Oba te przykłady pokazują, że w tamtych czasach, szczególnie w Prusach Zachodnich, muzyka i polityka bardzo siebie nawzajem przenikały: działacze kultury muzycznej byli narażeni na intensywne naciski służące realizacji ideologicznych celów, ale poddając się tym naciskom mogły liczyć na finansowe lub symboliczne gratyfikacje; rządzący stali natomiast przed dylematem oceny przedkładanych wniosków – nie byli oni w stanie dostatecznie ocenić, czy ich autorzy kierowali się prawdziwym zaangażowaniem, czy też w pierwszej linii zwykłym oportunizmem.
Schlaglichter auf die Musik- und Kulturpolitik in Westpreußen zwischen 1905 und 1912
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Abstract The project of a ‘national theatre’ in Graudenz and the State Support of German Choral Societies: Highlights of Music and Cultural Policies in West Prussia between 1905 and 1912 Due to the extremely high proportion of Polish people in the populations of a number of rural and urban districts of West Prussia this was an area ripe for the ideological challenges of protecting and strengthening the ‘Germanness’ in the ‘Eastern Marches’, where territorial communities were established and individual institutions or associations gained their own areas for interaction. Administration acts from the late imperial period can thus offer insightful music history sources which relate precisely to this province, because they permit the corresponding themes and courses of action of the various players to be reconstructed in detail. In the process the focus was initially centred on an extensive correspondence, which was started by the town elders of Graudenz (Grudziądz) in the year 1905 and which, irrespective of the poor status of the city finances, was aimed at carrying out the extremely ambitious project of constructing a ‘national theatre’ by means of state subsidies. Then a second exemplum was formed from events from a domain which was accorded great attention by the Prussian state and Prussian monarchs: choral singing. In both areas it can be seen that music and politics had become particularly closely intertwined in West Prussia during this period: those involved in music culture were exposed to an increased pressure for ideological conformity, but at the same time they had a justifiable hope of being able to derive financial and symbolic bonuses from their compliance, whilst those in government were confronted with the dilemma that in assessing the applications submitted it was difficult to distinguish sufficiently clearly between serious commitment and superficial opportunism.
Harald Lönnecker (Hannover/Deutschland)
„Dem Lied zur Ehr, dem Feind zur Wehr!“ – Die Sängerschaft Normannia zu Danzig (1905-1935)1 Ein wesentliches Ziel des organisierten deutschen Männerchorgesangs war seit seiner Entstehung im frühen 19. Jahrhundert die Einheit Deutschlands.2 Neben den zahlreichen bürgerlichen Gesangvereinen als einem zentralen Faktor der deutschen Nationalbewegung stellten die Vereinigungen der akademischen Sänger eine Wissen und Leistung kumulierende Elite dar, aus der vielfach das Führungspersonal der verschiedenen bürgerlichen Vereine und Sängerbünde sowie entsprechender Netzwerke hervorging – eine Funktion, die vielfach wichtiger war als die eigene Chorpraxis. Dieser Tendenz folgte auch die Sängerschaft Normannia zu Danzig, die 1905 an der Technischen Hochschule in Danzig gegründet worden war und die für lange Zeit weniger durch ihr künstlerisch-ästhetisches Potential als durch ihre Aktivitäten im Netzwerk der Sänger in Danzig und Westpreußen hervorstach.3 Sie unterhielt zwar keinen eigenen Chor, sang aber seit März 1906 gemeinsam mit der Singakademie4 und pflegte intensive Beziehungen z.B. zum Danziger Männergesangverein, die aus Anlass von dessen 30. Stiftungsfest 1910 aufgenommen worden waren; zudem beteiligte sie sich auch am 57. Stiftungsfest des Langfuhrer Männergesangvereins, woraus wiederum Kontakte zum Westpreußischen Sängerbund und über
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Bei dem im Titel angeführten Zitat handelt es sich um den Wahlspruch Normannias. Vgl. Harald Lönnecker. „Schall und Rauch? Namen der Hochschulvereinigungen der Juristen und Sänger im 19. und frühen 20. Jahrhundert“. Einst und Jetzt. Jahrbuch für corpsstudentische Geschichtsforschung [nachf. zit. als EuJ] 58 (2013). S. 95-139, S. 114f. mit weiteren Nachweisen. – Der vorliegende Beitrag präsentiert in einem eigenständigen thematischen Zuschnitt Forschungsergebnisse, die der Verfasser zuvor bereits unter dem Titel „‚Hüter deutscher Kultur, Pflegstätte deutschen Geistes‘. Die Sängerschaft Normannia zu Danzig“ in elektronischer Form als ‚Addendum‘ zu den Burschenschaftlichen Blättern [nachf. zit. als BBl ] – und zwar zum 1. Heft des 120. Jg. (2005) – zugänglich gemacht hat. Harald Lönnecker. „‚Ehre, Freiheit, Männersang!‘ – Die deutschen akademischen Sänger Ostmitteleuropas im 19. und 20. Jahrhundert“. Chorgesang als Medium von Interkulturalität: Formen, Kanäle, Diskurse. Hg. Erik Fischer. Stuttgart 2007 (= Berichte des interkulturellen Forschungsprojektes „Deutsche Musikkultur im östlichen Europa“. Bd. 3). S. 99-148, S. 99; ders. „Deutsches Männerchorwesen in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Ein Überblick über Entstehung, Entwicklung, Untergang“. Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 20 (2012). S. 419-470, S. 419f. Zu Gründung und Geschichte Normannias bis 1914 vgl. Lönnecker. „‚Ehre, Freiheit, Männersang!‘“ (wie Anm. 2). S. 121ff. „Sängerschaft Normannia-Danzig i. d. DS 1905-1985“. Deutsche Sängerschaft [nachf. zit. als DS] 90 (1985). Nr. 2. S. 3-7, S. 4; Reinhold Reimann. Vertriebene Sängerschaften. Die Geschichte der mittel-, ost- und sudetendeutschen Sängerschaften von den Anfängen bis zur Vertreibung. Graz 1978. S. LVII.
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diesen zu anderen Vereinen resultierten.5 Am Danziger Sängertag am 30. Juni 1913 nahm Normannia korporativ teil6, die Teilnahme an weiteren Veranstaltungen ist wahrscheinlich7, insbesondere am 4. Weichselgau-Sängerfest, gefeiert vom Weichselgau-Sängerbund 8 am 13. und 14. Juni 1914 in Marienwerder. Während des Weltkriegs ruhte der Betrieb der akademischen wie bürgerlichen Sänger in Danzig weitgehend9, bei Kriegsausbruch hatte Normannia den „Ferienzustand“ erklärt.10 Von insgesamt 41 Normannen waren 21 Kriegsteilnehmer, fünf fielen. Ihnen errichtete Normannia eine „Totengedenktafel“. Dazu war sie Mitspenderin einer „im Lichthof der TH aufgestellten Marmortafel“, auf der die „180 Namen gefallener Danziger Studenten, darunter die Normannen“, verzeichnet waren.11 Noch im November 1918 nahmen vier ‚Normannen‘ in Danzig den Aktivenbetrieb wieder auf.12 Vier Monate später erließ während des kommunistischen Spartakusaufstandes Konrad Haenisch, der preußische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, gemeinsam mit dem Reichswehrministerium einen „Aufruf an die akademische Jugend Preußens“, da weder der preußischen noch der Reichsregierung ausreichend Exekutivkräfte zur Niederschlagung derartiger Aufstände zur Verfügung stünden. Sein Kernsatz lautete: Tretet ein in die Freiwilligen-Verbände! Schützt das bedrohte Kulturerbe eurer Väter, rettet eure eigene Zukunft! Hilf, deutsche Jugend! […] Die Reichsregierung bedarf der akademischen Jugend dringend im Kampf gegen die Anarchie und baut auf ihre Treue und Hingabe.13
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Vgl. Deutsche Sängerbundeszeitung (nachf. zit. als DSBZ ) 50 (1910). S. 82, 113, 142, 159. DSBZ 53 (1913). S. 547; vgl. DSBZ 51 (1911). S. 23, 158, 489, 567. DSBZ 51 (1911). S. 91, 185, 386, 513, 824, 846; DSBZ 53 (1913). S. 87, 103, 266, 381, 480, 571; DSBZ 54 (1914). S. 47, 124, 313f. Dem Weichselgau-Sängerbund gehörten 25 Vereine mit 775 Mitgliedern an; DSBZ 54 (1914). S. 527f. Sieben Sängervereine schlossen sich zusammen und veranstalteten Lazarettabende für die Danziger Kriegshilfe. Vgl. DSBZ 54 (1914). S. 710; siehe auch DSBZ 54 (1914). S. 501f.; DSBZ 58/10 (1918). S. 7, 54, 87, 139; DSBZ 59/11 (1919). S. 71; grundlegend: Harald Lönnecker. „‚Sieg und Glanz dem deutschen Reich!‘ Die akademischen Sänger im Ersten Weltkrieg“. Lied und populäre Kultur. Song and Popular Culture. Hg. Max Matter/Tobias Widmaier. Münster, New York [u.a.] 2006 (= Jahrbuch des Deutschen Volksliedarchivs Freiburg i. Br. Bd. 50/51 [2005/2006]). S. 9-53; ders. „‚O deutsches Schwert und deutsches Lied‘ – Sängerschaften im Ersten Weltkrieg“. „Wir siegen oder fallen.“ Deutsche Studenten im Ersten Weltkrieg. Hg. Marc Zirlewagen. Köln 2008 (= Abhandlungen zum Studenten- und Hochschulwesen. Bd. 17). S. 139-204. Lönnecker. „‚Sieg und Glanz dem deutschen Reich!‘“ (wie Anm. 9). S. 23; ders. „‚O deutsches Schwert und deutsches Lied‘“ (wie Anm. 9). S. 161. Harald Lönnecker. „‚Nicht Erz und Stein, Musik soll unser Denkmal sein!‘ Die Singbewegung und das nie gebaute Denkmal der Deutschen Sängerschaft (Weimarer CC)“. EuJ 47 (2002). S. 321-352, S. 330. Das akademische Deutschland. Hg. Michael Doeberl/Otto Scheel [u.a.]. Bd. 2: Die deutschen Hochschulen und ihre akademischen Bürger. Berlin 1931. S. 719; Hans-Erich Braune. Chronik 1893-1993 der Sängerschaft i. d. DS (Weimarer CC) Frankonia-Brunonia an der TU Braunschweig. Kassel 1993, nach S. 68, II, nennt stattdessen das Sommersemester 1919; ebenso: „Normannia-Danzig“ (wie Anm. 4). S. 5. Wolfgang Zorn. „Die politische Entwicklung des deutschen Studententums 1918-1931“. Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 5. Hg. Kurt Stephenson/Alexander Scharff/Wolfgang Klötzter. Heidelberg 1965. S. 223-307. S. 231f., 236f., 239; Helma Brunck. Die Entwicklung der Deutschen Burschenschaft in der Weimarer Republik und im Nationalsozia-
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Die Reichswehr richtete dementsprechend besondere Einheiten für Studenten ein, und zwar die Studentenbataillone innerhalb der Zeitfreiwilligen-Regimenter, die rasch eine Sammlungsstätte der Korporierten wurden und in den einzelnen Einheiten einen „wesentlichen Faktor“ bildeten.14 Die Zeitfreiwilligen mussten ‚kriegsgedient‘, d.h. für die Front ausgebildet und nach Möglichkeit während des Weltkrieges zum Einsatz gekommen sein. Sie dienten für drei Monate. Die Einheiten waren nicht kaserniert, sondern wurden bei Bedarf alarmiert. Als Alarmquartiere dienten in der Regel die Verbindungsheime.15 Der Schwerpunkt „der Studentenwehrbewegung lag zunächst vor allem im Ostgrenzschutz“.16 Ende des Jahres 1918 befand sich die polnische Bevölkerung in der Provinz Posen im Aufstand. Diese Erhebung trennte „Anfang Januar 1919 den größten Teil der Provinz von Deutschland“ und sollte „auch nach Ost- und Westpreußen ausgedehnt“17 werden. Dagegen bildeten sich am 6. Januar 1919 in Danzig und Königsberg, am 7. in Breslau – das Semester war vorzeitig geschlossen worden – Studentenkompanien unter der Führung kriegsgedienter Professoren.18 Der Danziger Studentenkompanie war Normannia sofort beigetreten.19 Sie stand dort neben einer weiteren Kompanie und einem Regiment und verhinderte das Eindringen polnischer Truppen in die Stadt. Der Danziger Senat schenkte der Studentenschaft zum „Dank […] für die Polenabwehr“ und die Hilfe bei der Niederschlagung kommunistischer Unruhen die Hagelsberger Festungsanlagen, wo 1920 etwa 100 Studentenzimmer und 13 Verbindungsheime entstanden.20 Darunter war auch das neue Normannenheim, von der Deutschen Sängerschaft (DS), dem Verband der akademischen Sängerschaften, 1921 mit „2000 Mark Unterstützung bis zum B[undes-]T[ag] 1922“ bezuschusst.21 Aufgrund des Kriegsausgangs und des nachfolgenden Versailler Vertrags waren die meisten Schichten und Gruppierungen der deutschen Gesellschaft von einem tiefgehenden Gefühl der Demütigung und einem übermächtigen Revanchebedürfnis geprägt. So war es beispielsweise auch für den Deutschen Sängerbund
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lismus. Eine Analyse. Diss. phil. Mainz 1996 [als Druck: Die Deutsche Burschenschaft in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. München 1999]. S. 106f. Hagen Schulze. Freikorps und Republik 1918-1920. Boppard 1969 (= Wehrwissenschaftliche Forschungen. Bd. 8). S. 50. Zorn. „Die politische Entwicklung des deutschen Studententums 1918-1931“ (wie Anm. 13). S. 236. Ebd. S. 237; Schulze. Freikorps (wie Anm. 14). S. 103; Brunck. Die Entwicklung der Deutschen Burschenschaft (wie Anm. 13). S. 106. Burschenschaftliches Grenzlandbuch. Kampf-, Fahrten-, Tagungsberichte und Aufsätze. Hg. Karl SchulzeWesten. Berlin 1932. S. 3ff. Ebd. S. 47-68. DS 100 (1995). Nr. 4. S. 26f.; vgl. zur Danziger Einwohnerwehr: Marc Zirlewagen. Der KyffhäuserVerband der Vereine Deutscher Studenten in der Weimarer Republik. Magisterarbeit Freiburg i. Br. 1996 [gedruckt: Köln 1999 (= GDS-Archiv für Hochschul- und Studentengeschichte [nachf. zit. als GDS-A]. Beiheft 8)]. S. 38. „Normannia-Danzig“ (wie Anm. 4). S. 5; Reimann. Vertriebene Sängerschaften (wie Anm. 4). S. XXXII. Archiv der Deutschen Sängerschaft. Depositum in der Stiftung Dokumentations- und Forschungszentrum des Deutschen Chorwesens – Sängermuseum Feuchtwangen [nachf. zit. als ADS]. 1.1.1. 4: Protokolle der Bundestage. BT vom 19.-21.05.1921. Akademische Sängerzeitung [nachf. zit. als ASZ] 2 (1921). S. 42.
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(DSB) selbstverständlich, Danzig und Westpreußen nach wie vor als Teile Deutschlands zu betrachten22. Diese Grundhaltung führte bald zu einer Entfaltung entsprechender Aktivitäten. Mitte August 1921 fand das erste Konzert des Sängerbundes des Freistaates Danzig statt, bezeichnender Weise eröffnet mit Johann Wenzel Kalliwodas Deutschem Lied, der nationalen Hymne der Sängerbewegung.23 Ende des Jahres feierte der Danziger Lehrer-Gesangverein, der mit seinen 365 Mitgliedern eine überaus bedeutende Multiplikatorenfunktion hatte, sein 25. Stiftungsfest.24 Durch Grußworte und Reden „klang der Gedanke, daß trotz äußerer Trennung innerliches Verbundensein Kraft und Stärke gebe in trüber Zeit“25. Derartige Kundgebungen waren häufig, Nachweise ließen sich beliebig vermehren. Seit dieser Zeit wurde auch besonders gern die „Danziger Hymne – […] ‚Danzig sei deutsch!‘“26 gesungen. Zudem wurde das Lied – gedichtet von einem Mitglied des Sängerbunds, vertont von Musikdirektor Viktor Wolfgang Schwarz in Flensburg – nicht zuletzt auch durch die Normannia unter den akademischen Sängern Deutschlands und Österreichs bekannt gemacht: Danzig, gerissen vom Mutterlande,/Stehst du allein nach der Feinde Gebot./Danzig, du Perle am Ostseestrande,/Weh klingt deine Klage: Deutschtum in Not!/Deutschtum in Not – Danzig in Not!/Im Staube das Banner schwarz-weiß-rot! Deine verträumt-stillen Gassen und Dächer,/Deiner Dome ehrwürdige Pracht,/Alter Patrizier stolze Gemächer/zeugen von freier Hansa Macht./Es kündet von deutscher Kultur jeder Stein:/Danzig – kerndeutsch – wird deutsch immer sein! Danzig, sei stark, ob bedroht, ob bewundert,/ob du umbuhlt wirst, ob dich Heuchlermund preist,/Danzig sei treu, und gilt’s ein Jahrhundert,/Treue im Unglück adelt den Geist./ Deutschtum in Not, von Fremdtun bedroht!/Danzig sei deutsch, sei deutsch bis zum Tod!27 22 23
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Vgl. DSBZ 61/13 (1921). S. 113. DSBZ 62/14 (1922). S. 18; zum Stellenwert von „Das deutsche Lied“ für die Sänger vgl. Friedhelm Brusniak. „Der Deutsche Sängerbund und das ‚deutsche Lied‘“. Nationale Musik im 20. Jahrhundert. Kompositorische und soziokulturelle Aspekte der Musikgeschichte zwischen Ost- und Westeuropa. Konferenzbericht Leipzig 2002. Hg. Helmut Loos/Stefan Keym. Leipzig 2004. S. 409-421, S. 412ff. 11.-13. November 1921; DSBZ 62/14 (1922). S. 32f. – Dirigent des Lehrer-Gesangvereins war der Pianist und Komponist Dr. Ludwig Kraus (1897-1968), später Musikdirektor in Soest, dessen Musikleben er rund 30 Jahre prägte, der der Sängerschaft Fridericiana Halle angehörte und angeblich auch Ehrenmitglied Normannias war; Alt-Herren-Verzeichnis der Deutschen Sängerschaft. Im Auftrage des Verbandes Alter Sängerschafter bearbeitet vom Bundesarchivar Dr. phil. Paul Meißner (A[lter ]H[err ] Ar [ion Leipzig].) nach dem Stande vom Januar 1934. Leipzig 1934. S. 251; Friedrich Jaecker. „Der Komponist Ludwig Kraus“. Heimatkalender des Kreises Soest 1978. S. 88ff.; Walter Brandt. Ludwig Kraus (1897-1968). Leben und Werk eines Musikers in Westfalen. Münster 2000 (= Neue Beiträge zur Musik in Westfalen. Bd. 3); vgl. Harald Lönnecker. „Lehrer und akademische Sängerschaft. Zur Entwicklung und Bildungsfunktion akademischer Gesangvereine im 19. und frühen 20. Jahrhundert“. Volksschullehrer und außerschulische Musikkultur. Tagungsbericht Feuchtwangen 1997. Hg. Friedhelm Brusniak/Dietmar Klenke. Augsburg 1998 (= Feuchtwanger Beiträge zur Musikforschung. Bd. 2). S. 177-240. DSBZ 62/14 (1922). S. 33. ADS (wie Anm. 21). 1.1.1. 4: Protokolle der Bundestage. BT vom 23.-24.05.1923; ebd. BT vom 06.07.06.1925; ebd. BT vom 07.-09.06.1927. Zit. nach DSBZ 61/13 (1921). S. 191; vgl. ADS. 1.1.1. 4: Protokolle der Bundestage. BT v. 23.24.05.1923; ebd. BT v. 11.-13.06.1924.
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Zu den besonders prägnanten Konsequenzen, die aus den 1920 geschaffenen territorialen Rahmenbedingungen sowie politischen Konstellationen gezogen wurden, gehörte die ‚Grenzlandarbeit‘: Keinesfalls wollte man sich mit den „Versailler Grenze[n]“ abfinden, sondern vielmehr stets der „Gefahr“ der „Gewöhnung an das Bestehende“ sowie für die „deutsche volkskulturelle Einheit überhaupt“ begegnen. Die Studenten sollten „Soldaten in Gestalt von geschulten Grenzkämpfern“ sein, und dabei zielte die Grenzlandarbeit letztlich auf eine prinzipielle Veränderung des Status quo: Im ausdauernden „Volkstumskampf“ sollte die kulturelle Hegemonie in den gemischtsprachigen Siedlungsgebieten jenseits der gerade von den korporierten Studenten ohnehin nicht anerkannten Reichsgrenzen erlangt und mit der ‚Festigung des Deutschtums‘ innerhalb des Reichs parallelisiert werden. Dies geschah vor allem mittels Sängerfahrten in die Grenzregion, die die deutsche Bevölkerung national ‚erwecken‘ bzw. gegen alles ‚Fremde‘ immunisieren sollten und zugleich den Sängern das Gefühl vermittelten, an der Revision von Versailles und an der Wiederherstellung der deutschen Großmachtstellung mitzuwirken.28 Die ‚Grenzlandarbeit‘, die bei den Sängerschaften in Deutschland – anders als bei denjenigen in Österreich – bislang kaum bekannt gewesen war, erschien in Danzig als eine vordringliche Aufgabe, und auch die vergleichsweise personalschwache Normannia widmete sich ihr mit großer Intensität. Ihre Mitglieder machten sich – nicht anders als weite Teile der Bevölkerung – das folgende Postulat zu eigen: „Der gegenwärtig unnatürliche, ja kranke Zustand dieser deutschen Stadt kann nach unserer festen Ueberzeugung [sic!] nur vorübergehender Natur sein. Daher unser Ruf und unser Kampf: Danzig, heim ins deutsche Vaterland!“29 Folgerichtig durfte auch bei keiner Gelegenheit das Lied „Mein deutsches Danzig“ fehlen, das auf die Melodie der Hymne „Deutschland, Deutschland über alles“ gesungen wurde: Danzig, Stadt am Ostseestrande,/Hochburg deutscher Kraft und Art,/Deutsches Fühlen, deutsches Sehnen/Hast du allzeit treu gewahrt./Deine Türme, deine Giebel,/Nimmer schau ich dran mich satt;/Ja, du bist – die Gassen künden’s – /Eine echte deutsche Stadt.
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Die wörtlichen Zitate sind nachgewiesen bei Harald Lönnecker. „‚… gilt es, das Jubelfest unserer Alma mater festlich zu begehen …‘ – Die studentische Teilnahme und Überlieferung zu Universitätsjubiläen im 19. und 20. Jahrhundert“. Universitäten und Jubiläen. Vom Nutzen historischer Archive. Hg. Jens Blecher/Gerald Wiemers. Leipzig 2004 (= Veröffentlichungen des Universitätsarchivs Leipzig. Bd. 4). S. 129-175. S. 146; ders. „Der ‚Grenzlandkampf ‘ deutscher Studenten in Königsberg, Danzig, Breslau, Prag, Brünn und Czernowitz 1918-1935“. Aufbruch und Krise. Das östliche Europa und die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg. Hg. Beate Störtkuhl/Jens Stüben/Tobias Weger. München 2010 (= Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa. Bd. 41). S. 481-507, S. 490. ADS (wie Anm. 21). 1.1.1. 4: Protokolle der Bundestage, BT v. 27.-29.05.1920; vgl. ähnliche Äußerungen in: ebd. BT v. 19.-21.05.1921; ebd. BT v. 8.-10.06.1922; ebd. BT v. 11.-13.06.1924; ebd. BT v. 06.-07.06.1925; ebd. BT v. 07.-09.06.1927; ebd. BT v. 30.-31.05.1928; ebd. BT v. 12.06.1930; ebd. BT v. 26.-28.05.1931; ebd. BT v. 05.-06.06.1933; ebd. Gemeinsame Sitzung von DS und Verband Alter Sängerschafter (nachf. zit. als VAS) am 07.06.1933; ebd. Protokoll des Bundesführertags am 26.05.1934.
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Wild umbraust von Völkerfluten,/Heiß erstrebt von fremder Gier,/Ragst du seit den fernsten Zeiten/Als des Deutschtums stolze Zier./Trotzend allen Wetterstürmen,/Wie auch rollt der Zeiten Rad,/Stets bist, Danzig, du gewesen/Eine echte deutsche Stadt. Laßt es tönen, laßt es klingen/Weit ins Vaterland hinein:/Deutsche Männer, deutsche Frauen/Wollen wir zeitlebens sein./Ob auch Feindeswut und Tücke/Dich vom Reich gerissen hat,/Ewig, Danzig, sollst du bleiben/Eine echte deutsche Stadt!30
Laut Versailler Vertrag fiel die Technische Hochschule in die Zuständigkeit des Danziger Senats, obwohl sie faktisch nach wie vor Teil der preußischen Unterrichtsverwaltung war, vorrangig von ihr finanziert wurde und ihre nächsten Partner die deutschen Technischen Hochschulen blieben, von denen auch das Lehrpersonal kam. Die deutsche Unterrichtssprache wurde beibehalten, der Gebrauch sollte sich jedoch nach derjenigen Ethnie richten, die mehr als die Hälfte der Studenten stellte. 1928/29 zählte die Hochschule rund 1.650 Studenten.31 Die „nationalpolnische[n] (gleichzusetzen mit deutschfeindlich)“, aber nach deutschem Vorbild mit Waffen und Vollcouleur – Band und Mütze – entstandenen Studentenverbände und ihre Verbindungen versuchten daher eine „Eroberung von unten“ durch Werbung und Rekrutierung möglichst vieler polnischer Studenten und legten Wert auf die Feststellung der „Zugehörigkeit dieser Stadt zur Republik Polen“.32 Die nationalpolnische Verbindung Grunwaldja Warschau – sie verfügte über einen Zweig-Convent in Danzig und war in Westpreußen besonders aktiv in der Bewegung zur Schließung deutscher Schulen – betonte besonders die „Weckung des Kampfgedankens gegen den Germanismus als den urewigen Feind der polnischen Selbständigkeit“33 und versuchte in Danzig die Unterhal30
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Bundesarchiv Koblenz. DB 9 (Deutsche Burschenschaft/Gesellschaft für burschenschaftliche Geschichtsforschung). B. IV. Deutsche Burschenschaft (DB). 1919-1935/37: Einblatt zum Danziger Burschentag 1924. – Die meisten Danziger Korporationen ließen das Lied nachdrucken, so auch Normannia. Vgl. Friedrich Harzmann. Burschenschaftliche Dichtung von der Frühzeit bis auf unsere Tage. Eine Auslese. Heidelberg 1930 (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung. Bd. 12). S. 418; „Die Danziger Presse und der Danziger Burschentag 1924“. BBl 39 (1925). Nr. 8. S. 175-181. Albert Predeek. „Technische Hochschule Danzig“. Das akademische Deutschland (wie Anm. 12). Bd. 1: Die deutschen Hochschulen in ihrer Geschichte. Berlin 1930. S. 499-508; Albert Wangerin. „Technische Hochschule Danzig 1904-1945“. Westpreußen-Jahrbuch 34 (1984). S. 17-37; Hans Viktor Böttcher. Die Freie Stadt Danzig. Wege und Umwege in die europäische Zukunft. Historischer Rückblick, staats- und völkerrechtliche Fragen. Bonn 21997 (= Forschungsergebnisse der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Kulturstiftung der Deutschen Vertriebenen. Bd. 23); Friedrich Fuchs. Die Beziehungen zwischen der Freien Stadt Danzig und dem Deutschen Reich 1920 bis 1939. Freiburg i. Br. 1999 (= Hochschulsammlung Philosophie: Geschichte. Bd. 11); Lutz Oberdörfer. „Die Danzig/Korridor- und die Memelfrage in Versailles und den ersten Nachkriegsjahren“. Preußische Landesgeschichte. Festschrift für Bernhard Jähnig zum 60. Geburtstag. Hg. Udo Arnold/Mario Glauert/Jürgen Sarnowsky. Marburg a. d. Lahn 2001 (= Einzelschriften der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung. Bd. 22). S. 85-98. Harald Seewann. „Das nationale Selbstverständnis der studentischen Korporationen in Polen 19211928“. EuJ 41 (1991). S. 135-154, S. 135f. Engelbrecht Burckhardt. „Im Fluge durch Ostpreußen und das Danziger Land“. DS 37 (1931). Nr. 5. S. 231-242. S. 242; vgl. „Normannia-Danzig“ (wie Anm. 4). S. 5; Hermann Strunk. „Danzigs politische und kulturelle Lage“. BBl 38 (1924). Nr. 9. S. 72ff.; ders. „Polens Angriffe gegen die Danziger Hochschule“. BBl 45 (1931). Nr. 7. S. 163-166; „Civis academicus Gedanensis. Die Lage der Technischen Hochschule in Danzig“. BBl 38 (1924). Nr. 9. S. 77ff.; E. Ruthenberg. „Danzig. Aus der
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tung einer eigenen Aktivitas. So war es nicht verwunderlich, dass der polnische Anteil an der Danziger Studentenschaft zeitweise fast 48 Prozent betrug; dies war zwar viel, aber zur Änderung der Sprachregelung nicht genug. Diese Tendenzen riefen auf deutscher Seite die Entwicklung von Abwehrstrategien sowie insgesamt eine Stärkung des korporativen Gedankens hervor, der von Heinrich Sahm34, Adolf Treichel35 und Hermann Strunk36 – letzterer seit 1931 Ehrenmitglied der Danziger Studentenschaft – nach Kräften gefördert wurde.37 73 Prozent der deutschen, vorrangig aus Posen, Pomerellen sowie Ost- und Westpreußen kommenden Studenten waren korporiert, der höchste Prozentsatz, der je an einer deutschen Hochschule erreicht wurde.38 Größere Probleme mit der Rekrutierung von „Keilmöbeln“ – dem Nachwuchs – hatten die Korporationen zwar nicht; dennoch war die „Keilzeit“ zu Beginn des Semesters für kleinere Sängerschaften wie Normannia durchaus „Kampfzeit“. Die Listen der Neuimmatrikulierten besorgte sich die Sängerschaft in der Kanzlei der Hochschule, besuchte diese Studierenden und lud sie ein. Daraus ergaben sich von einer bis zu sechs Neuaufnahmen pro Semester. Dabei rangier-
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Geschichte einer deutschen Stadt“. BBl 71 (1956). Nr. 3. S. 54ff.; Paul Mittmann. „Danzig, Königsberg und Ostpreußen“. SV-Zeitung. Zeitschrift des Sondershäuser Verbandes Deutscher Sänger-Verbindungen und des Verbandes Alter SVer (künftig zit.: SVZ) 43 (1926). Nr. 5. S. 99-105; Th. Rudolph. „Die Freie Stadt Danzig“. SVZ 46 (1929). Nr. 10. S. 232f. – Die polnischen Studenten organisierten sich in strikt nationalen Verbindungen wie Bratnia Pomoc, Baltia (gegr. 1921), Grunwaldja (gegr. 1922), Mazovia (gegr. 1924) und Pomerania (gegr. 1922), die führend in der polnischen Wehrsportgruppe tätig waren; sie vereinte bei allen Unterschieden ein „scharfe[r] Kampf mit dem deutschen Element“; DS 38 (1932). Nr. 6. S. 230f.; „Studentische Tradition – soldatische Leistung. Marschall Smigly-Rydz feiert die politische Leistung der polnischen Korporationsstudenten“. BBl 51 (1937). Nr. 9. S. 220f.; zu den polnischen Verbindungen: Seewann. „Das nationale Selbstverständnis“ (wie Anm. 32). Sabrina Lausen, Paderborn, arbeitet gegenwärtig an einer Dissertation zur Geschichte des polnischen Korporationswesens; vgl. auch dies. „Für Polens Größe und Macht. Polnische studentische Verbindungen vom frühen 19. Jahrhundert bis zur Zweiten Polnischen Republik“. Die Vorträge der 71. deutschen Studentenhistorikertagung Duisburg 2011. Hg. Sebastian Sigler. Essen 2012 (= Beiträge zur deutschen Studentengeschichte). S. 87-112. Heinrich Sahm (1877-1939) war zwischen 1919 und 1931 Danziger Senatspräsident (Oberbürgermeister), Mitglied der Turnerschaften Rhenania Berlin und Cimbria Greifswald; Max Mechow. Namhafte CCer. Kurzbiographien verstorbener Landsmannschafter und Turnerschafter. [o.O.u.J.; Stuttgart 1969] (= Historia Academica. Bd. 8/9). S. 227-230; BBl 38 (1924). Nr. 9. S. 69; NDB. Bd. 22 (2005). S. 353ff. Prof. Dr. Adolf Treichel (1869-1926) war u.a. Präsident des Danziger Volkstages, Oberstudiendirektor sowie Ehrenmitglied des Lehrer-Gesangvereins. Zu Treichel vgl. Helge Dvorak. Biographisches Lexikon der Deutschen Burschenschaft. Bd. I: Politiker. Teilbd. 1-7. Heidelberg 1996-2013. Hier I/6. S. 57f.; BBl 38 (1924). Nr. 10. S. 107; Fritz Braun. „Zum Tode des Danziger Volkstagspräsidenten, Oberstudiendirektors Dr. Adolf Treichel“. BBl 40 (1926). Nr. 10. S. 297ff. Für Strunk (1882-1933), Danziger Senator für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung sowie Alter Herr der Burschenschaften Germania Halle und Markomannia Danzig, war die Zugehörigkeit Danzigs zu Deutschland eine Selbstverständlichkeit, die „sog. Unabhängigkeit unter Völkerbunds-Mandat“ hingegen „eine Chimaere unserer Feinde“. Vgl. Dvorak. Biographisches Lexikon (wie Anm. 35). I/5. S. 555f.; Senator Dr. Strunk. BBl 45 (1931). Nr. 6. S. 143; Hermann Strunk. BBl 47 (1933). Nr. 5. S. 115. DSBZ 62 (1922). Nr. 14. S. 33. Die deutschen Hochschulen (wie Anm. 12). S. 719; vgl. „Danzigs Hochschule bleibt deutsch“. ASZ 4 (1921). S. 77f.; Arno Schmidt. „Bilder von Danzigs Kunst und Kultur“. DS 33 (1927). Nr. 7. S. 178181; Normannia bemühte sich um die Gewinnung reichsdeutscher Sängerschafter gegen die „polnische Anmaßung“; ASZ 2 (1921). S. 43; nach Brunck. Die Entwicklung der Deutschen Burschenschaft (wie Anm. 13). S. 75, waren sogar 95 Prozent aller deutschen Studenten in Danzig korporiert; siehe auch die Erinnerungen von Wulf Rösler. „Danziger Studienjahre. Erinnerung an 100 Jahre Technische Hochschule Danzig 1904-2004“. GDS-A 7 (2004). S. 84-113.
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ten musikalisches Wissen und Können eindeutig hinter der „nationalen Einstellung“: Normannia nahm „auch solche, die vielleicht ganz unmusikalisch sind“, dafür aber „deutschbewußt“ waren, auf.39 Am 1. Dezember 1933 zählte Normannia 78 studentische Aktive sowie 42 examinierte Mitglieder, die ‚Alten Herren‘: Dies war die höchste jemals erreichte Mitgliederzahl.40 Alle Normannen waren in die Auseinandersetzungen zwischen polnischen und deutschen Studenten involviert, keine Seite war zurückhaltend. So wie die deutschen Hochschüler fast ohne Ausnahme die Legitimität der territorialen Gestalt Polens leugneten und für eine schnellstmögliche Revision der Grenzen zu dessen Ungunsten eintraten41, so sehr hielten die polnischen dagegen, verlangten weitere Gebiete in Ostpreußen, Hinterpommern und Schlesien. Sie unterhielten Verbindungen zum Baltis Instytut [Baltischen Institut] in Thorn wie zum Zuchód Slavic Instytut [Westslawischen Institut] in Posen, die beide diese Ansprüche wissenschaftlich zu untermauern suchten; zudem gab es auch Kooperationen mit radikalen „polnisch-nationalen Organisation[en]“ wie dem Zwiqzek Legionistów [Verband der Legionäre] oder dem Zwiqzek Powstańców Slaskich [Verband der Oberschlesischen Aufständischen]. In der Hochstimmung einer gerade erst „wiedergeborenen Nation“ feierten die polnischen Studenten vielfach die expansive Gewaltpolitik ihrer Regierung als Verwirklichung der „jagiellonischen Idee“ und redeten einem Polen das Wort, das von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichen sollte.42 Ihre Kampfrufe waren „Marschall“ und „Pilsudski“ – beide nach dem polnischen Staatschef43 – sowie „Grunwald“, der (korrekte) polnische Name 39
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Manfred Unbehagen. „Sängerschaft Normannia Danzig“. Vertrauliche Mitteilungen. Beilage zur „Deutschen Sängerschaft“ [nachf. zit. als VM] 8 (1930). S. 207-210. Werner Domhardt. „Bestandserhebung für das Sommer-Semester 1933 und das Winter-Semester 1933/34“. VM 3 (1934). S. 46-49. S. 48. Vgl. Walter Raschert. „Das Reich und der Korridor“. BBl 46 (1932). Nr. 7. S. 147ff.; Paul Rohrbach. Deutschtum in Not! Die Schicksale der Deutschen in Europa außerhalb des Reiches. Karlsruhe, Dortmund [o. J. (1928)]. S. 38-56, 102-140; dazu: Walter Mogk. Paul Rohrbach und das „Größere Deutschland“. Ethischer Imperialismus im wilhelminischen Zeitalter. Ein Beitrag zur Geschichte des Kulturprotestantismus. Diss. phil. München 1972. Serzy Serczyk. „Confabulationes et/sive transformationes. Über Mythen und Legenden in der polnischen Geschichtsschreibung“. Mythos und Nation. Hg. Helmut Berding. Frankfurt a. M. 1996 (= Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit. Bd. 3). S. 245-256, S. 249; siehe auch Jörg Hackmann. „Strukturen und Institutionen der polnischen Westforschung (1918-1960)“. Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 50 (2001). Nr. 2. S. 230-255; Markus Krzoska. „Die institutionelle und personelle Verankerung der polnischen Deutschlandforschung der Zwischenkriegszeit und der unmittelbaren Nachkriegszeit“. Historische Institute im internationalen Vergleich. Hg. Matthias Middell/Gabriele Lingelbach/Frank Hadler. Leipzig 2001 (= Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert. Bd. 3). S. 269-284; Markus Krzoska. „Deutsche Ostforschung – polnische Westforschung. Prolegomena zu einem Vergleich“. Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 52 (2003). Nr. 3. S. 398-419; Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Disziplinen im Vergleich. Hg. Jan M. Piskorski/Jörg Hackmann/Rudolf Jaworski. Osnabrück, Posen 2002 (= Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung. Bd. 1); Jan M. Piskorski. „Volksgeschichte à la polonaise. Vom Polonozentrismus im Rahmen der sogenannten polnischen Westforschung“. Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit. Hg. Manfred Hettling. Göttingen 2003. S. 239-271. Heidi Hein. „Der Pilsudski-Kult. Entwicklungsstufen und Elemente eines politischen Kultes“. Osteuropa 51 (2001). Nr. 11-12. S. 1470-1480; dies. Der Pilsudski-Kult und seine Bedeutung für den polnischen Staat 1926-1935. Marburg a. d. Lahn 2002 (= Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung. Bd. 9).
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der (ersten) Schlacht von Tannenberg, in der am 15. Juli 1410 das Heer des Deutschen Ordens vernichtend geschlagen worden war, was nunmehr als siegreicher Abschnitt im „ewige[n] Kampf Polens gegen den deutschen Drang nach Osten“ gedeutet und gefeiert wurde.44 Ebenso nachdrücklich wurde schließlich auch die politische Zugehörigkeit Danzigs zu Polen postuliert (und konnte freilich auch mit keineswegs abwegigen historischen Argumenten begründet werden). Bei derart geradezu antipodischen Grundüberzeugungen waren innerhalb der Studentenschaft verbale Auseinandersetzungen, aber auch handfeste Schlägereien an der Tagesordnung. Von Prof. Dr.-Ing. Karl Beger, 1930 Altherrenvorsitzender Normannias und Bruder von Studienrat Emil Beger, dem Vorsitzer des Verbandes Alter Sängerschafter (VAS), wird berichtet, er habe noch als Alter Herr zur Waffe gegriffen: „Er stand mit dem Schläger in der Hand als Türhüter vor dem Kneipenausgang, als polnische Studenten nach einem Wortstreit bewaffnet die Kneipe stürmen wollten.“45 Entsprechend der „Schwere des Nationalitätenkampfes“46 unterhielt Normannia Beziehungen zum Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA), einer auf den 1880/81 gegründeten Deutschen Schulverein zurückgehenden und sich der „Volkstumsarbeit“ widmenden Massenorganisation mit zwei Millionen Mitgliedern – von „völkischen Vereinigungen“ bis zu den Gewerkschaften –, deren Ehrenvorsitz Paul von Hindenburg bekleidete. Im Januar 1919 verkündete der VDA als seine wichtigsten Ziele den Anschluss Österreichs, die Selbstbestimmung der Deutschen und die Schaffung eines Reichsamts für die Auslandsdeutschen. Zur 44
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ADS (wie Anm. 21). BT vom 11.-13.06.1924; ebd. BT vom 07.-09.06.1927. Vgl. auch Sven Ekdahl. „Denkmal und Geschichtsideologie im polnisch-preußischen Spannungsfeld“. Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 35 (1986). S. 127-218; ders. „Tannenberg/Grunwald – ein politisches Symbol in Deutschland und Polen“. Journal of Baltic Studies 22 (1991). S. 271-324, auch in: Deutscher Orden 1190-1990. Hg. Udo Arnold. Lüneburg 1997 (= Tagungsberichte der Historischen Kommission für Ost- und Westpreußische Landesforschung. Bd. 11). S. 241-302; Sven Ekdahl. „Die Grunwald-Denkmäler in Polen. Politischer Kontext und nationale Funktion“. Das Denkmal im nördlichen Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert. Hg. ders. Lüneburg 1997 (= Nordost-Archiv NF 6. Bd. 1997/1). S. 75-107; Frithjof Benjamin Schenk. „Tannenberg/Grunwald“. Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 1. Hg. Etienne François/Hagen Schulze. München 2001. S. 438-454. DS 63 (1958). Nr. 1. S. 43f. Karl Beger (1885-1957), auch Mitglied der Sängerschaften Erato Dresden und Burgundia Breslau, lehrte erst in Danzig, dann an der Technischen Hochschule Breslau, wo er mehrfach Dekan war, 1937-1945 auch Prorektor; seit seinem Eintritt 1904 bei Erato war er ein begeisterter Sängerschafter, 1907 einer der ersten Aktiven Normannias, Vorsitzender des Danziger Studentenausschusses und ein Jahr lang Vorsitzender der Korporierten aller deutschen Technischen Hochschulen; Beger machte sich im Ersten Weltkrieg bei Tannenberg verdient, wurde hoch ausgezeichnet und gründete im Lazarett eine Feld-Sängerschaft, nach dem Krieg in Danzig arbeitete er als oberster Bauleiter des Senats bei der Errichtung der Radaunekraftwerke, 1948 an der Technischen Hochschule Dresden, wo er ab Ostern 1949 die Abteilung für Bauingenieurwesen leitete, 1951-1953 war er Dekan der Fakultät Bauwesen und Mitglied des Technisch-Wissenschaftlichen Rates des DDRMinisteriums für Schwerindustrie, dann Ordinarius für Wasserbau und Direktor des Instituts für Fluß- und Seebau; als akademischer Lehrer war Beger so beliebt, dass die DDR-Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend (FDJ) ihn zu ihrem Ehrenmitglied ernannte; ein Nachruf findet sich in: DS 63 (1958). Nr. 1. S. 43ff. – Der Schläger ist die charakteristische, etwa ein Meter lange studentische Hiebwaffe. Vgl. Harald Lönnecker. „‚… bis an die Grenze der Selbstzerstörung‘. Die Mensur bei den akademischen Sängerschaften zwischen kulturellem Markenzeichen, sozialem Kriterium und nationalem Symbol (1918-1926)“. EuJ 50 (2005). S. 281-340. ADS (wie Anm. 21). BT vom 26.-28.05.1931.
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Erreichung dieser Vorgaben sorgte der VDA in in- und ausländischen Schulen für das notwendige Lehrmaterial, gab Zeitschriften heraus, führte Fortbildungskurse für Lehrer und andere Interessierte durch und organisierte Grenzlandfahrten für Schüler- und Studentengruppen.47 1922 trat Normannia der Akademischen Ortsgruppe dieser Organisation in Danzig dann sogar als Mitglied bei.48 Parallel zu allem politischen Engagement förderte die Intensität der sängerschaftlichen Aktivitäten nicht zuletzt auch die musikalischen Interessen Normannias: Nach langjährigen Kooperationen mit anderen Sangesvereinigungen bot sich 1925 zunächst eine Gelegenheit, gemeinsam mit der Akademischen OrchesterVereinigung (AOV) Berlin, die ein „offizielles Freundschaftsverhältnis“ mit der Deutschen Sängerschaft unterhielt und Danzig einen Besuch abstattete, ein Konzert zu veranstalten49; und im folgenden Jahre gelang dann endlich die Errichtung eines ‚Normannenchores‘ und die Einrichtung von Singabenden unter der Leitung des Dirigenten Reinhold Könenkamp.50 Gesungen wurde die typische Männerchorliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts von Franz Abt und Karl Attenhofer über Felix Mendelssohn Bartholdy bis hin zu Karl Friedrich und Heinrich Zöllner. Zudem waren für Männerchor bearbeitete Opernchöre sehr beliebt. Universitäre Veranstaltungen wie Rektoratswechsel, Immatrikulationsfeiern, Dies academicus oder Promotionen umrahmte Normannia an der Technischen Hochschule meist mit dem „Gaudeamus igitur“ und einigen Vaterlandsliedern, die zusammen mit Volksliedern auch auf den Sängerfahrten dominierten bzw. 47
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Ein Beispiel aus den frühen 1930er Jahren bietet Ernst Vollmann. „Grenzlandfahrt Danziger Studenten Pfingsten 1932. Veranstaltet vom Amt für politische Bildung der Deutschen Studentenschaft Danzig“. Landsmannschafter-Zeitung 46 (1932). Nr. 7. S. 102ff. – 1881-1908 bestand der VDA als Allgemeiner Deutscher Schulverein nach dem Vorbild des 1880 in Wien gegründeten Deutschen Schulvereins als Vereinigung zur Erhaltung des Deutschtums im Ausland. Die Arbeit des VDA galt besonders der Errichtung deutscher Schulen, wo sie auf öffentliche Kosten nicht erreicht werden konnte. Der VDA hieß nach einem Beschluss von 1931 ab 1933 Volksbund für das Deutschtum im Ausland und wurde 1945 aufgelöst, am 5. März 1955 wurde ein neuer VDA gegründet. Harald Lönnecker. „…freiwillig nimmer von hier zu weichen…“ – Die Prager deutsche Studentenschaft 1867-1945. Bd. 1: Verbindungen und Vereine des deutschnationalen Spektrums. Köln 2008 (= Abhandlungen zum Studenten- und Hochschulwesen. Bd. 16). S. 56f., 153f.; ders. „Der ‚Grenzlandkampf ‘ deutscher Studenten“ (wie Anm. 28). S. 487f., mit weiteren Nachweisen. ADS (wie Anm. 21). BT vom 11.-13.06.1924. Wilhelm von Quillfeld [Bearb.]. Handbuch der „Deutschen Sängerschaft“ (Weimarer C.C.). Hg. Kunstrat der D.S. Dresden 1928. S. 174. – Zur am 23.07.1908 gegründeten AOV unter der Leitung von Prof. Richard Hagel (1872-1941), 1919-1925 Leiter des Philharmonischen Orchesters Berlin und 1920-1935 Lehrer an der Berliner Akademie für Kirchen- und Schulmusik: Harald Lönnecker. Die Deutsche Sängerschaft (Weim. CC) und ihre Vorläuferverbände. Ehemalige und derzeitige Sängerschaften in der Deutschen Sängerschaft (Weim. CC). Wilhelmshaven 1995. S. 753f. (Borussia Berlin). Könenkamp (auch: Koenenkamp) (1883-1962) stammte aus Danzig; er studierte sechs Semester Jura und besuchte dann die Berliner Hochschule für Musik, wo er 1909 „das Reifezeugnis als Sänger erhielt“, seither Konzertsänger, 1916 Chorleiter des Männergesangvereins Melodia Danzig, Musikreferent der Danziger Allgemeinen Zeitung, 1920 Gründer und Leiter des Danziger A-capella-Chors, 1922 Chormeister des Danziger Männerchors, der aus Melodia und dem Sängerbund Danzig hervorging, 1925 Dirigent des neugegründeten Danziger Domchors an St. Marien; Kirchenmusikdirektor und Professor, nach 1945 in Büchen in Holstein als freischaffender Künstler; Könenkamp komponierte zahlreiche Lieder und Chöre, besonders bekannt wurde Vom Geheimnis des Seins (1940); Deutsches Chormeisterbuch. Hg. Robert Fischer. Ludwigsburg 1925, S. 114; Franz Josef Ewens. Lexikon des deutschen Chorwesens. 1. Aufl. Mönchen-Gladbach 1954. S. 104f.; 2. Aufl. Mönchengladbach 1960. S. 144.
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vielfach den Höhepunkt der Chortätigkeit bildeten und sich zumeist im (erstmals 1858 erschienenen) Allgemeinen Deutschen Kommersbuch finden. Hinzu kamen Studentenlieder, die bei Gelegenheiten charakteristischer studentischer Geselligkeit, den rituell verlaufenden ‚Kneipen‘ und ‚Kommersen‘, vorherrschten, aber mit Ausnahme des „Gaudeamus“ so gut wie nie im Konzert gebracht wurden.51 Auf breite Zustimmung konnte das Volkslied, vorrangig in den Bearbeitungen Friedrich Silchers, bei einer – im Verhältnis zu den Sängerschaften in Leipzig, Berlin oder Breslau – kleinen Sängerschaft wie Normannia stets rechnen: Es ermöglichte nicht nur chorische Leistungen, sondern galt auch als volksverbunden und damit kulturpolitisch zur Weckung eines „nationalen Gemeinschaftsempfindens“52 bestens geeignet. Dabei wurde die Einfachheit bzw. ‚Klarheit‘ des Volksliedes gern gegen das vermeintlich ‚überfrachtete‘ Kunstlied ausgespielt – ohne letzteres freilich als Maßstab künstlerischer Bewertung verdrängen zu können. Könenkamps Bemühungen war es auch zu verdanken, dass der Chor um 1930 an einer Aufführung der Matthäus-Passion in der Marienkirche mitwirken konnte.53 Da sich die Mitgliederzahlen in dieser Zeit sehr positiv entwickelten, konnte die Teilnahme der DS an der 25-Jahr-Feier der Technischen Hochschule im Juli 1929 durch Normannia ausgerichtet werden.54 Sogar eine äußerst erfolgreiche Mitwirkung bei den Lohengrin-Aufführungen in der Zoppoter Waldoper war nun möglich.55 Das Renommee des Chores war mittlerweile derart gefestigt, dass 1931 die Deutsche Studentenschaft (DSt) Danzig der Normannia sowie der Deutschen Sängerschaft nahelegte, Hans Hasentödters 1577 verfasste Verse „Danzig, halt dich feste, du weitberühmte Stadt“ zu vertonen. Das Lied sollte „im deutschen Sinne, einfach, mannhaft und stark“ ausfallen und geeignet sein, „das Danziger Grenzlanddeutschtum zu kräftigen und zu festigen“.56 Die Deutsche Sängerschaft veranstaltete daraufhin ein Preisausschreiben, an dem 24 Bewerber teilnahmen – und 51
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Harald Lönnecker. „Kommersbuch“. Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Supplementband. Hg. Ludwig Finscher. Kassel [u.a.] 22008. Sp. 424-427; ders., „‚Ehre, Freiheit, Männersang!‘“ (wie Anm. 2). S. 145f.; vgl. ders. „‚Goldenes Leben im Gesang!‘ – Gründung und Entwicklung deutscher akademischer Gesangvereine an den Universitäten des Ostseeraums im 19. und frühen 20. Jahrhundert“. Universität und Musik im Ostseeraum. Hg. Ekkehard Ochs/Peter Tenhaef/Walter Werbeck/Lutz Winkler (= Greifswalder Beiträge zur Musikwissenschaft. Bd. 17). Greifswald 2009. S. 139-186, S. 168f., S. 171f. Vgl. auch schon früher: „CC, der Träger des Volksgesanges“. ASZ 6 (1910). S. 135f. – CC = Chargierten-Convent. Das genaue Jahr der Aufführung ist nicht feststellbar. Vgl. Hans Hopf. „Fünfzig Jahre Normannia Danzig“. DS 60 (1955). Nr. 2. S. 69-72. S. 70; „Normannia-Danzig“ (wie Anm. 4). S. 6; Braune. Frankonia-Brunonia (wie Anm. 12), nach S. 68, III; Reimann. Vertriebene Sängerschaften (wie Anm. 4). S. LVII. 18.07.1929; Kurt Nerger. „Das 25jährige Bestehen der Technischen Hochschule zu Danzig“. DS 34 (1929). Nr. 9. S. 354ff.; E. Pauls. „Das Danziger Hochschuljubiläum“. BBl 43 (1929). Nr. 12. S. 335f. Die deutschen Hochschulen (wie Anm. 12). S. 719; vgl. Ernst Geldmacher. „Die Zoppoter Waldoper“. DS 32 (1927). Nr. 7. S. 191f.; Stephan Wolting. Bretter, die Kulturkulissen markierten. Das Danziger Theater am Kohlenmarkt, die Zoppoter Waldoper und andere Theaterinstitutionen im Danziger Kulturkosmos zur Zeit der Freistadt Danzig bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Frankfurt a. M. [u.a.] 2002 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften. Bd. 936). DS 36 (1931). Nr. 4. S. 177.
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bei dem der Sieg schließlich keinem Normannen, sondern Chormeister Hermann Zechner zufiel, der den Chor der Sängerschaft Nibelungen Wien leitete.57 Parallel zu diesen Aktivitäten empfing Normannia Ende der 1920er Jahre neue musikalische und sängerische Impulse, und zwar durch eine Singwoche, die in Danzig zwischen dem 28. Mai und 3. Juni 1928 von der dortigen Hochschulgilde Ostmark ausgerichtet wurde. Die ‚Gilden‘ verkörperten nach dem Ersten Weltkrieg einen neuartigen, stark von der Jugendbewegung beeinflussten Typus von Verbindung, der sich gegenüber den vermeintlich in Mensur- und CommentFragen erstarrten und erschlafften Korporationen abgrenzte, den studentischen Traditionalismus – mit unbedingter Satisfaktion sowie Mensur und Mütze – ablehnte, trotzdem aber eine um nichts weniger rigide Binnenethik vertrat. Unerschütterliches Selbst- und Sendungsbewusstsein und rigoroser Nationalismus waren für die Gilden kennzeichnend, zudem waren sie überaus eng mit der Singbewegung verzahnt.58 Die deutliche Distanz der Gilde zur korporativen Tradition bewog Normannia wohl zunächst zur Ablehnung der Teilnahme. Ähnliche Befürchtungen wie die Normannen hegten sogar noch späterhin auch Alte Herren anderer Sängerschaften: Sollten nicht vielleicht andere Verbände eher über uns lächeln, wenn wir als Waffenstudenten es versuchen, dem Vorbild der Gilde nachzueifern, was ich z.B. in dem Abziehen einer Sängerwoche erblicke, als wenn wir auf Mensur uns zu ertüchtigen versuchen?59
Das akademische Traditions- und Elitebewusstsein war somit anfänglich ein deutliches Hemmnis auf dem Weg zu einer Annäherung – dessen Bedeutung freilich in dem Maße abnahm, in dem sich die ökonomischen und politischen Krisen um 1930 verstärkten. Jene Ostmark-Singwoche war Normannias erster, folgenreicher Kontakt mit der Singbewegung, der bewussten Wiedererweckung von Volkslied, Volkstanz und Laienspiel, der eine „neue Seinsvorstellung“, eine neue Erziehung zu „Körpersinn und Körperkultur“ und eine „neue Bindung an die Volkheit“ entsprach, wie es Walther Hensel, der Begründer der die Sängerschaften vor allem beeinflussenden Finkensteiner Singbewegung, formulierte.60 Grundlegend für die Anschauungen der Singbewegung war – kaum anders als auch schon für die Jugendbewegung 57
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Franz Utner. 100 Jahre Wiener Akademische Sängerschaft. Festschrift, herausgegeben zum 100. Stiftungsfest der Wiener Akademischen Sängerschaft „Barden“ 1858-1958. Wien 1958. S. 57; ebd. zu Zechner und zur am 16.03.1892 gegründeten Wiener Technisch-Akademischen Sängerschaft Nibelungen. Harald Lönnecker. „Die Deutsche Technische Hochschule Prag und ihre Studenten“. Geschichte der Technischen Hochschule Prag. Herausgegeben zum 200. Gründungsjubiläum 1806-2006. Hg. Christian Oppermann/Erich Stadler. Berlin 2006. S. 19-30. S. 25; ders. „Von ‚Deutsch Deine Zeit!‘ bis ‚O gold’nes Prag, – wir haben dir verzieh’n.‘ – Mentalitäten, Strukturen und Organisationen in der Prager deutschen Studentenschaft 1933-1945“. EuJ 52 (2007). S. 223-312, insb. S. 233f., S. 236; ders. Die Prager deutsche Studentenschaft 1867-1945 (wie Anm. 47). S. 179f., 182f. Erich Kröning. „Sängerschaft am Scheidewege“. [Leipziger] Arionen-Zeitung 40 (1930). S. 87-92, S. 87. Franz Gabriel. „Grundsätzliches zum sängerschaftlichen Singen“. DS 36 (1931). Nr. 6. S. 261-271, S. 268.
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der Vorkriegszeit, etwa den Wandervogel – eine Mischung aus antibürgerlichen, antiliberalen, antikapitalistischen und antirationalistischen Elementen, kombiniert mit Idealen wie ‚Natürlichkeit’, ‚Einfachheit’ oder ‚Reinheit’. Indem er diese ideologischen Versatzstücke mit entschieden völkischem Gedankengut verband, formte Hensel eine neue musikalische Bewegung, die bei den Studenten um 1930 auf überaus fruchtbaren Boden fiel und seinen mehrfach aufgelegten Liederbüchern – Das Aufrecht Fähnlein. Liederbuch für Studenten und Volk (Eger/Leipzig 1923), Strampedemi. Ein Liederbuch von Jungen Trutz und Art (Kassel 1928) und Der singende Quell. Lieder für Fahrt und Herberge (Kassel 1931) – zu großer Beliebtheit verhalf. Vor allem Das Aufrecht Fähnlein vermochte ganze Schüler- und Studentengenerationen musikalisch zu prägen61, zumal die Deutsche Sängerschaft dieses Liederbuch schon 1926 in einer eigens für die Sängerschaften bearbeiteten Sonderausgabe herausgegeben hatte.62 Die neuen Formen und Inhalte, denen Normannia sich in diesem Kontext zuwandte, schufen zugleich eine noch größere Distanz gegenüber traditionellen Chor-Kompositionen und Satztechniken, die nun bald in den Ruch des lebensfernen, nur ‚Künstlichen‘ gerieten. Ebenso wie die Singbewegung wandte sich zudem auch die Danziger Sängerschaft entschieden gegen alle ästhetischen Bestrebungen der Moderne, namentlich gegen die ‚Novemberkultur‘63; und da diese von Kulturpessimismus getragene Grundhaltung mit chauvinistischen und antisemitischen Tendenzen verschränkt war, ergab sich hier eine Amalgamierung ideologischer Komponenten, die eine Zusammenarbeit mit dem Kampfbund für deutsche Kultur des NS-Ideologen und späteren Reichsleiters Alfred Rosenberg nahelegte. Der 1929 gegründete Kampfbund war als angeblich überparteiliche Einrichtung „völkisch Kulturschaffender“ konzipiert worden, die „alle Abwehrkräfte gegen die heute herrschenden Mächte der Zersetzung auf kulturellem Gebiet in Deutschland“ sammeln, den „Boden für die Idee Adolf Hitlers auf kulturellem Felde gewinnen“ und vor allem die Aufgabe verfolgen sollte, „den nationalsozialistischen Gedanken in Kreise zu tragen, die in [herkömmlichen] Veranstaltungen nicht erfaßt werden“ konnten.64 Leiter des Danziger Kampfbundes war der Prähistoriker Wolfgang La Baume, Direktor des Staatlichen Museums Danzig und Professor für Vorgeschichtliche Archäologie, später Direktor der Landesamts für Vor-
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Lönnecker. „Denkmal“ (wie Anm. 11). S. 322-327. – Undine Wagner, Chemnitz, bereitet eine Biographie Hensels vor. Deutsche Sängerschaft (Weim. CC.): Burschen heraus! Lieder der Deutschen Sängerschaft aus dem Liederbuche „Das Aufrecht Fähnlein“ von Walther Hensel. Augsburg 1926; dazu: Adolf Seifert. „Burschen heraus“. DS 33 (1927). Nr. 8. S. 218ff. Der Begriff erschien um 1920 und umschrieb die Ablehnung fast aller zeitgenössischen Kulturströmungen, die seit der Revolution Raum gegriffen hatten. Vor allem auf den DS-Bundestagen war er ein oft benutztes Schlagwort der Diffamierung. Vgl. auch Anm. 29. Harald Lönnecker: „‚… Boden für die Idee Adolf Hitlers auf kulturellem Felde gewinnen‘. Der ‚Kampfbund für deutsche Kultur‘ und die deutsche Akademikerschaft“. GDS-A 6 (2002). S. 121144, S. 121.
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geschichte in Königsberg, ein Alter Herr der Burschenschaft Germania Jena.65 Er gewann Normannia sowie weitere Verbindungen für den korporativen Beitritt zum Kampfbund, wobei ihm besonders Studienassessor Franz Schramm66 assistierte. Angesichts der zahlreichen NS-Anhänger in den Reihen Normannias nimmt es nicht wunder, dass die Vorgänge vom 30. Januar 1933 freudig begrüßt wurden: Endlich, so lautete die einhellige Meinung, regiere jemand in Berlin, für den die Rückkehr Danzigs zum Deutschen Reich nicht nur ein Lippenbekenntnis sei, sondern der Taten sprechen lasse. Ernüchternd wirkte in dieser Hinsicht dann allerdings zunächst der Abschluss des deutsch-polnischen Nichtangriffspakts von 1934, in dem Hitler – anders als zuvor die Weimarer Republik – sogar die bestehenden Grenzen anerkannte.67 Ab 1933 veränderte sich das Leben der Studentenschaften wie der Korporationen in Deutschland allerdings nachhaltig. Sie wurden in ‚Kameradschaften‘ zusammengefasst und der Kontrolle der staatlichen Deutschen Studentenschaft sowie des parteiamtlichen NS-Studentenbunds unterstellt. Bei der hiermit verbundenen ‚Gleichschaltung‘ wurde innerhalb der Kameradschaften das ‚Führerprinzip‘ etabliert; dadurch konnten jedoch die früheren Convents-Strukturen zunächst nicht gänzlich neutralisiert werden. Zudem vollzogen die Korporationen ihrerseits gewisse Anpassungsbewegungen. So versuchte auch Normannia, eine ‚Kameradschaft‘ zu errichten, „die sich [jedoch] nicht zu entwickeln vermochte“68. Dieser Misserfolg könnte partiell auf generell zurückgehende Studentenzahlen an der Technischen Hochschule zurückzuführen sein; maßgeblich aber war dafür in jedem Falle auch, dass die NS-Führung – und zwar ungeachtet einer Reihe doch durchaus signifikanter ideologischer Affinitäten – massiv gegen die studentischen Verbände vorging, weil sie in ihnen eine „konkurrierende, manchmal sogar gegnerische politische Macht“ sah.69 Dieser Druck wuchs derart, dass sich (noch vor der reichsweiten, 1937 abgeschlossenen Zerschlagung der Verbände und Korporationen) die Aktivitas Normannias im Sommersemester 1935 auflöste; lediglich 65
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Zu La Baume (1885-1971): ebd. S. 138 sowie Harald Lönnecker. „Das Thema war und blieb ohne Parallel-Erscheinung in der deutschen Geschichtsforschung“. Die Burschenschaftliche Historische Kommission (BHK) und die Gesellschaft für burschenschaftliche Geschichtsforschung e. V. (GfbG) (1898/1909-2008). Eine Personen-, Institutions- und Wissenschaftsgeschichte. Heidelberg 2009 (= Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 18). Heidelberg 2009. S. 232, 371 mit weiteren Nachweisen. Der 1902 geborene Schramm war seit 1930 NSDAP-Mitglied, 1931 Mitgründer des NS-Lehrerbundes in Danzig, Danziger NSDAP-Gauredner, 1932 HJ-Gebietsführer Bann Danzig, dann Oberbannführer im Stab der Reichsjugendführung und nach 1934 Senatsrat beim Reichsstatthalter in Danzig und Staatskommissar bei der Schulverwaltung. Er fiel im Frühjahr 1945 bei der Verteidigung Danzigs gegen die Rote Armee. Alt-Herren-Verzeichnis (wie Anm. 24). S. 251; Bundesarchiv Berlin. Personenbezogene Unterlagen (ehemals Berlin Document Center): Schramm, Franz. ADS (wie Anm. 21). BT vom 05.-06.06.1933; ebd. Protokoll des Bundesführertages am 26.05.1934; ebd. Protokoll der Amtswaltersitzung v. 25.04.1935. Hopf. „Fünfzig Jahre Normannia Danzig“ (wie Anm. 53). S. 71; „Normannia-Danzig“ (wie Anm. 4). S. 6; Braune. Frankonia-Brunonia (wie Anm. 12), nach S. 68, III; Reimann. Vertriebene Sängerschaften (wie Anm. 4). S. LVII. Lönnecker. BHK/GfbG (wie Anm. 65). S. 258 mit weiteren Nachweisen.
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der Altherrenverband blieb zunächst noch – bis zum endgültigen Verbot zahlreicher Verbindungen durch Heinrich Himmler (1938) – bestehen.70 Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Normannia vier Vermisste und sieben Kriegstote zu beklagen.71 Im Sommersemester 1953, am 7. Juni, schlossen die Sängerschaft Frankonia-Brunonia Braunschweig72 und der sich seit 1949/50 in Hamburg und Hannover sammelnde Altherrenverband Normannias einen Freundschaftsvertrag, der den 64 Normannen im Haus Frankonia-Brunonias „ein Normannenzimmer“ gewährte, doch betonte der Altherrenvorstand Normannias, zur Vermeidung der „Vergreisung des alten Bundes“ sei der baldige Aufbau einer eigenen Aktivitas unumgänglich.73 Erst am 10. November 1967 konnte die Sängerschaft Normannia in Bochum an der Ruhr-Universität auf Grund des „unerwarteten […] Hochschulwechsel[s] zweier aktiver Verbandsbrüder“74 ein kurzzeitiges Aktivenleben aufbauen. „Nach einem schwungvollen, sehr gut besuchten Gründungskommers“75 gelang es, einige Neumitglieder zu gewinnen. „Als aber die beiden Gründungsburschen kurzfristig wieder den Hochschulort wechselten und andere widrige Umstände dazu kamen, war eine Suspension nicht zu umgehen.“76 Normannia erneuerte daher nach dem Fehlschlag den Freundschaftsbund mit Frankonia-Brunonia Braunschweig, die 1974 die Tradition und für die Amtsträger die Farben Normannias übernahm.77 Dieser Übergang bedeutete das (vorläufige) Ende einer eigenständigen und aktiven Normannia.78
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DS 83 (1978). Nr. 3. S. 20; Hartmut H. Jess. Specimen Corporationum Cognitarum 2000. Das Lexikon der Verbindungen [Compact Disc]. Köln 2000. Code Nr. 10-051 Gr 7 (ex): Normannia Danzig Bochum. „Normannia-Danzig“ (wie Anm. 4). S. 6f.; Braune. Frankonia-Brunonia (wie Anm. 12), nach S. 68, III; Reimann. Vertriebene Sängerschaften (wie Anm. 4). S. XLI, nennt 13 Gefallene. Zur am 24.02.1893 gegründeten Frankonia-Brunonia: Braune. Frankonia-Brunonia (wie Anm. 12). „Normannia-Danzig“ (wie Anm. 4). S. 7; Braune. „Frankonia-Brunonia“ (wie Anm. 12). S. 49, nach S. 68, III; DS 58 (1953). Nr. 3. S. 156f.; DS 100 (1995). Nr. 4. S. 27; DS 108 (2003). Nr. 1. S. 11. „Normannia-Danzig“ (wie Anm. 4). S. 7. Ebda. Zu den Sängerschaften „Normannia-Danzig zu Bochum“. DS 73 (1968). Nr. 2. S. 29; „NormanniaDanzig“ (wie Anm. 4). S. 7; Braune. Frankonia-Brunonia (wie Anm. 12). S. 62, nach S. 68, III; Reimann. Vertriebene Sängerschaften (wie Anm. 4). S. XLIIIf. Braune. Frankonia-Brunonia (wie Anm. 12), nach S. 68, IIIf.; ders.: „100 Jahre Frankonia-Brunonia zu Braunschweig“. DS 98 (1993). Nr. 1. S. 8f. nennt die Erneuerung des Freundschaftsvertrages von 1953 im Jahr 1973. Dagegen wurde die Tradition vieler anderer Danziger Vereine und Vereinigungen, nicht nur der Männergesangvereine und Sängerbünde, nach dem Zweiten Weltkrieg vom Kulturwerk Danzig – Arbeitsgemeinschaft zur Rettung und Förderung Danziger Kulturguts e.V. in Düsseldorf fortgesetzt. Sein Archiv im Stadtarchiv Düsseldorf, Nachlässe/Sammlungen, 4-107; das Findmittel: Marc Chudaska/Marc Meßing (Bearb.): Nachlässe/Sammlungen. 4-107: „Kulturwerk Danzig“. Depositum. Bibliothek und Unterlagen zur Geschichte Danzigs und des Deutschen Ostens. Düsseldorf 2002.
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Zusammenfassung Die 1905 an der Technischen Hochschule gegründete Sängerschaft Normannia zu Danzig zeichnete sich für längere Zeit weniger durch ihr künstlerisch-ästhetisches Potential als durch ihre Aktivitäten im Netzwerk der Sänger in Danzig und Westpreußen aus. Nachdem Danzig 1919 durch den Versailler Vertrag vom Deutschen Reich abgetrennt und 1920 als Freie Stadt der Aufsicht des Völkerbunds unterstellt worden war, wurden ebenso wie viele andere Gruppierungen der Bevölkerung auch die Korporierten von einem tiefgehenden Gefühl der Demütigung und einem übermächtigen Revanchebedürfnis geprägt. Konzertveranstaltungen von Chorvereinigungen oder die ‚Grenzlandarbeit‘ der Sängerschaften dienten nun explizit den politischen Zielen, nachhaltig die Zugehörigkeit Danzigs zu Deutschland zu dokumentieren bzw. der territorialen Wiederherstellung der vormaligen Provinz Westpreußen zuzuarbeiten. Dabei radikalisierten sich die akademischen Sänger zunehmend: Einerseits verstand es Normannia seit der Mitte der 1920er Jahre zwar, ihre musikalischen Qualitäten stärker zu entwickeln, zugleich aber öffnete sie sich andererseits den neuen Tendenzen der ‚Gilden‘ und der Singbewegung, die mit ihren antiliberalen, kulturpessimistischen und völkischen Anschauungen ein weiteres wichtiges Substrat für die sowieso schon rasch um sich greifenden national-chauvinistischen Überzeugungen der Studenten bildeten. Von hieraus ergab sich ein fließender Übergang zur NS-Ideologie – die durch die Hegemonieansprüche der staatlichen und parteiamtlichen Organisationen dann allerdings schon bald (im Sommersemester 1935) zur Selbstauflösung der Normannia führte. Streszczenie „Pieśni ku chwale, wrogom ku przestrodze!“ – Towarzystwo śpiewacze Sängerschaft Normannia zu Danzig (1905-1935) Założone w roku 1905 w Technicznej Szkole Wyższej w Gdańsku studenckie towarzystwo śpiewacze Sängerschaft Normannia zu Danzig wyróżniało się przez długi czas nie tyle swoim artystyczno-estetycznym potencjałem, ile polityczną aktywnością swoich śpiewaków w Gdańsku i w Prusach Zachodnich. Po odłączeniu na mocy Traktatu Wersalskiego w roku 1919 Gdańska od Rzeszy Niemieckiej i po podporządkowaniu go w roku 1920 jako Wolnego Miasta Lidze Narodów, także studenckie korporacje charakteryzowały się, podobnie jak wiele innych ugrupowań tworzonych przez ludność Gdanska, głębokim poczuciem upokorzenia i potrzebą rewanżu. Koncerty stowarzyszeń chóralnych czy też wspieranie niemczyzny kresowej ‚Grenzlandarbeit‘ przez towarzystwa śpiewacze służyło bezpośrednio realizacji celów politycznych, długofalowemu dokumentowaniu przynależności Gdańska do Niemiec oraz terytorialnemu odtworzeniu dawnej prowincji Prusy Zachodnie. Akademiccy śpiewacy radykalizowali się przy tym stopniowo. Co
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Harald Lönnecker
prawda od połowy lat 20-ych XX wieku Normannia przykładała większą uwagę do działalności czysto muzycznej, z drugiej jednak strony coraz bardziej otwierała się na nowe tendencje ‚gildii‘ i ruchów śpiewaczych (Singbewegung), których antyliberalna, pesymistyczna kulturowo i narodowościowa ideologia stała się dalszą pożywką dla już i tak szybko rozwijających się, nacjonalistyczno-szowinistycznych przekonań studentów. Stąd tak płynne przejście do ideologii nazistowskiej – która ze względu na hegemonistyczne roszczenia państwowych i partyjnych organizacji szybko (bo już w letnim semestrze roku 1935) doprowadziła do samorozwiązania towarzystwa Normannia. Abstract “To honour the song, to defend against the foe!“ – The Normannia zu Danzig Sängerschaft (1905-1935) The Normannia zu Danzig Sängerschaft academic choir that was formed at the Technical University in 1905, made less a name for itself with its artistic-aesthetic potential for a long period of time, than with its activities in the network of singers in Danzig and West Prussia. After Danzig became separated from the German Reich in 1919 as a result of the Treaty of Versailles, it then being placed under the supervision of the League of Nations as a Free City in 1920, not only did a large number of other groups in the population have a deep feeling of humiliation and an overpowering need for revenge but the corporate structures also. Concerts from choir associations or the “borderland work” of the academic choirs now explicitly served the political aims of sustainably documenting Danzig’s affiliation to Germany or to working towards the territorial restoration of the former province of West Prussia. The academic singers hereby became increasingly radical: on the one hand, Normannia was able to develop its musical qualities further since the mid-1920s but on the other hand, they opened themselves up to the new tendencies of the “Guilds” and the Sing movement, which with their anti-liberal, culturally pessimistic and nationalistic outlooks, formed an additional important substrate for the national-chauvinistic beliefs of the students that were soon to spread like wildfire anyway. From here, it was just a short way to NS ideology – which the hegemony claims of the state and official party organisations soon resulted in the self-dissolution of the Normannia in the summer semester of 1935.
Krzysztof Rottermund (Kalisz/Polen)
Die Klavier- und Harmoniumbauer Joseph und Max Lipczinsky in Lauenburg (Lębork) und Danzig (Gdańsk) Die alte Hansestadt Danzig (Gdańsk) hat eine lange Tradition im Musikinstrumentenbau vorzuweisen, vor allem im Klavier- und Geigenbau, ein Umstand, der innerhalb der polnischen Musikwissenschaft auf breites Interesse gestoßen ist. Der Klavierbau in Danzig entwickelte sich bereits im 18. Jahrhundert und florierte besonders im 19. Jahrhundert, und die Stadt gehörte in diesem Zeitraum zu den wichtigsten Zentren des Musikinstrumentenbaus, nicht nur in Westpreußen, sondern auch in den übrigen Ostprovinzen Deutschlands. Einige der aus