"Arme habt ihr immer bei euch": Armut und soziale Ausgrenzung wahrnehmen, reduzieren, überwinden [1 ed.] 9783788733018, 9783788732998

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"Arme habt ihr immer bei euch": Armut und soziale Ausgrenzung wahrnehmen, reduzieren, überwinden [1 ed.]
 9783788733018, 9783788732998

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Gerhard K. Schäfer / Barbara Montag / Joachim Deterding (Hg.)

»Arme habt ihr immer bei euch« Armut und soziale Ausgrenzung wahrnehmen, reduzieren, überwinden

Unter Mitarbeit von Heike Moerland

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7887-3301-8 Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com  2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen/ www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Satz: Franziska Witzmann, Wuppertal

 

Inhalt

Geleitwort aus den Evangelischen Kirchen Rheinland, Westfalen und Lippe sowie der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe .......................................... 1 Einführung der Herausgeberin und der Herausgeber ......................... 3 1

Grundlagen & Traditionen

Jürgen Ebach

Biblische Perspektiven ..................................................................... 13 Gerhard K. Schäfer

Armut in der Geschichte – Entwicklungen, Formen, Deutungen. Ein Überblick ....................... 25 Jan Bertram und Ernst-Ulrich Huster

Armut in Deutschland – Begriffe, Betroffenheit und Perspektiven im Spiegel der Sozialberichterstattung ..................................................................... 42 2

Geschichten & Gesichter

Bettina von Clausewitz

Alltagsgeschichten: ein Blick hinter die Statistik ............................. 61 Andreas Pitz

Kunst trotz(t) Armut ......................................................................... 74 3

Phänomene & Diskurse

Remi Stork

Armut von Kindern und Jugendlichen ............................................. 87 Gerhard Naegele

Lebenslagenarmut im Alter .............................................................. 99 Hildegard Mogge-Grotjahn

Ist Armut weiblich? ........................................................................ 114 Thomas K. Bauer

Erwerbsarmut ................................................................................. 127

VI  

Inhalt

Christoph Butterwegge

Migration, „Flüchtingskrise“ und Armut in Deutschland .............. 138 Kerstin Walther

Krankheit ist niemals fair, doch Gesundheit ist ungerecht verteilt ........................................... 150 Sigrid Beer

Soziale Ungleichheit, Armut und Bildung ..................................... 163 Harald Ansen

Armut und Wohnungslosigkeit ...................................................... 174 Lara Salewski

Armut und Prostitution .................................................................... 185 Andreas Mayert und Gunther Schendel

Armut, Stigmatisierung, Scham und Angst .................................... 194 Sandra Meusel

Freiwilliges Engagement und soziale Benachteiligung .................. 214 Alexander Häusler

Soziale Ausgrenzung und rechtspopulistische Radikalisierung ..... 227 Maja Malik

Armut in den Medien ..................................................................... 238 Stephan Kiepe-Fahrenholz

Armut in Duisburg – Grenzerfahrungen und Tabubrüche .............. 252 Johannes D. Schütte

Armutsspiralen in Deutschland Multidimensionale Wirkungszusammenhänge und Ansatzpunkte für Gegenstrategien ................................................. 265 4

Globalisierung & Entwicklung

Rainer Staubach

Armutszuwanderung aus Südosteuropa – zwischen Gleichgültigkeit und Ablehnung .................................... 281 Philipp Lepenies

Armut und Entwicklung ................................................................. 298 Dietrich Werner

Reformatorische Tradition und Engagement für die Würde des Menschen – zum theologischen Ansatz von Brot für die Welt .......................... 312

VII 

Inhalt

  Klaus Seitz

Eine Welt ohne Hunger und Armut ist möglich ............................. 327 5

Projekte & Initiativen

Wolfgang Biehl

Kinderbildungszentrum Saarland: „Komm rein, mach mit!“ ......... 345 Ulrich Hamacher

Der Runde Tisch gegen Kinder- und Familienarmut Bonn ............ 355 Martin Hamburger

Armut und Langzeitarbeitslosigkeit in Wuppertal ......................... 362 Bartold Haase

Behinderung und Armut – ein Praxisbeispiel von der Stiftung Eben-Ezer, Lemgo .................. 368 Frank Bremkamp

„Medizinische Versorgung wohnungsloser Menschen in Oberhausen“ – Soziale Arbeit und Medizin SA+M ................... 374 Maike Cohrs

Arm und verschuldet im Alter ........................................................ 380 Cornelia Oßwald und Barbara Schulz

Zwölf Jahre Caritas-Diakonie-Sprechstunde in Düsseldorf-Gerresheim .............................................................. 387 Uta Schütte-Haermeyer

In Europa willkommen? Anlaufstelle für EU-Zuwander_innen in Dortmund ....................... 393 Ulrich T. Christenn

Armut als Herausforderung für Kollektenwesen und Fundraising ............................................. 402 6

Perspektiven & Strategien

Alexander Dietz

Armut – Gemeinde – Sozialraum ................................................... 413 Birgit Zoerner

Armutsbekämpfung – städtische Perspektiven: Beispiel Dortmund ......................................................................... 422 Benjamin Benz

Hilfe unter Protest – begrenzte Handlungsmöglichkeiten nutzen .................................... 429

VIII  

Inhalt

Guntram Schneider

Armut und gesellschaftliche Teilhabe schließen sich aus – politische Herausforderungen ......................................................... 446 Traugott Jähnichen

Auf dem Weg zu einer Kirche mit den Armen? ............................. 456 Barbara Eschen

Nationale Armutskonferenz – starke Stimme gegen Armut und Ausgrenzung .............................. 470 Katrin Hatzinger

Der Kampf gegen Armut und für ein soziales Europa als Aufgabe für die Kirchen ........................................................... 485 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ....................................... 500

 

Geleitwort aus den Evangelischen Kirchen Rheinland, Westfalen und Lippe sowie der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe

„Arme habt ihr immer bei euch“ (Mt 26,11) – dieser Satz weist darauf hin, dass Armut ein grundlegendes Phänomen von Gesellschaften ist. Am Umgang mit Armut und mit Armen lässt sich ganz wesentlich das Selbstverständnis einer Gesellschaft ablesen. Dies gilt auch und gerade für ein wohlhabendes Land wie Deutschland. Daran, wie Armut, soziale Ausgrenzung und Ungleichheit wahrgenommen, reduziert und – soweit es möglich ist – überwunden werden, bewährt sich die Demokratie und bemisst sich die Humanität einer Gesellschaft, die sich an der Würde des Menschen orientiert. „Arme habt ihr immer bei euch“ – dieser Satz ist Teil einer biblischen Geschichte, in der unterschiedliche Perspektiven der Wahrnehmung und des Handelns in Spannung zueinander stehen oder zu stehen scheinen. Jesus wird kurz vor seinem Tod von einer Frau mit kostbarem Öl gesalbt. Darin sehen die Jünger angesichts massenhafter Armut im Land eine unsinnige Verschwendung. Jesus verteidigt die Frau gegenüber den Jüngern. Sie kommen gar nicht auf die Idee, dass Jesus jetzt ihre Teilnahme braucht und nicht die Armen. Die namenlose Frau sieht, was jetzt und hier notwendig ist. Sie wendet Jesus ihre Liebe zu und salbt ihn. Und indem sie ihn salbt, salbt sie damit auch die, deren Parteigänger der Mann aus Nazareth war: die Armen. „Arme habt ihr immer bei euch“ – mit diesem Satz werden Armut und die Verhältnisse, die Armut produzieren, nicht fatalistisch hingenommen und festgeschrieben. Der Satz ist vielmehr eine Aufforderung, Armut als Herausforderung zu verstehen. Martin Luther hat ihn als Gebot verstanden, der Armut nachhaltig entgegenzuarbeiten. Aufmerksamkeit für den Einzelnen und Arbeit an gesellschaftlichen Bedingungen und institutionellen Zusammenhängen müssen dabei miteinander verschränkt werden. „Arme habt ihr immer bei euch“ – diakonische Dienste und Einrichtungen leisten viel, um armen Menschen praktisch zu helfen, Orien-

2 Evangelische Kirchen / Diakonie RWL    tierung in einem facettenreichen und häufig schwer zu durchschauenden Sozialsystem zu bieten und neue Lebensperspektiven zu eröffnen. Diese Arbeit an der Verbesserung der Lebensverhältnisse ist notwendig und verdient Hochachtung. Zugleich muss strukturelle Armut auch strukturell bekämpft werden. Armutsbekämpfung in einem wohlhabenden Land ist eine Frage des Gestaltungswillens. Diakonie und Kirche haben den Auftrag, mit anderen Akteuren gemeinsam für die Gestaltung einer menschlicheren und gerechteren Gesellschaft einzutreten und entsprechend zu wirken. Kirche und Diakonie hierzulande sind Teil eines ökumenischen Netzwerks. Gemeinsam mit unterschiedlichen Partnern setzen sie sich dafür ein, Zusammenhänge zwischen dem Wohlstand der Einen und dem Hunger der Anderen zu thematisieren und extreme Armut und Hunger weltweit zu bekämpfen. Wir hoffen, dass von diesem Buch Impulse ausgehen für eine differenzierte Wahrnehmung von Armut, sozialer Ausgrenzung und Ungleichheit und für notwendige gesellschaftliche Diskurse. Wir brauchen in unserem Land ein breites Bündnis gegen Armut und soziale Ausgrenzung, das von der Überzeugung getragen wird: Nur das hat Bestand, was die Lage der Schwächeren bessert. Dieses Buch will und kann dazu ermutigen. Annette Kurschus Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen

Manfred Rekowski Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland

Dietmar Arends Landessuperintendent der Lippischen Landeskirche

Christian Heine-Göttelmann Theologischer Vorstand der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe

 

Einleitung der Herausgeberin und der Herausgeber

Das Ausmaß sozialer Ungleichheit sowie der Umgang mit Armut und sozialer Ausgrenzung sind wesentliche Indikatoren einer humanen Gesellschaft. Die Vollversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete 2015 Entwicklungsziele, die bis 2030 erreicht werden sollen. Ein vorrangiges Ziel ist dabei die Beendigung von Armut in allen ihren Formen weltweit. Während bei den Vereinten Nationen die optimistische Überzeugung vorherrscht, Armut könne überall bald überwunden werden, ist das Thema Armut hierzulande hoch um1 stritten. Der 5. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2017) dokumentiert Lebenslagen in Deutschland wie die Erwerbstätigkeit, die Einkommens- und Bildungssituation, die Gesundheit und das Wohnen für Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen. Stärker als die Vorgängerberichte fokussiert der Bericht die gesamtwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge von Armut, Reichtum und Ungleichheit. Gleichwohl rief der Bericht der Bundesregierung Kritik hervor: Die Kluft zwischen Arm und Reich werde verharmlost. Politische Handlungsempfehlungen fehlten oder seien unzureichend. Immer wieder und nach wie vor erscheinen Armut und Reichtum als Kampfbegriffe in den politischen Auseinandersetzungen. Daten werden kontrovers beurteilt und Phänomene von Armut unterschiedlich erklärt. Die Debatten in den letzten Monaten um 2 3 Deutschland als „Ungleichland“ , die Bedeutung der Tafeln sowie die Angemessenheit der Hartz-IV-Regelsätze und die Leistungsfähig4 keit des Hartz-IV-Systems insgesamt haben unterschiedliche Interessen und divergierende Einschätzungen noch einmal sehr deutlich gemacht. Von einem gesellschaftlichen Grundkonsens im Blick auf 1

Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Lebenslagen in Deutschland. Oxfam Deutschland e.V., Der Preis der Profite, 2; vgl. World Inequality Lab, Bericht zur weltweiten Ungleichheit. 3 Die aktuelle Diskussion um die Tafeln wurde durch die Entscheidung der Essener Tafel entfacht, „nur noch Kunden mit deutschem Pass aufzunehmen“, da der „Anteil ausländischer Mitbürger bei unseren Kunden auf 75% angestiegen“ war (Stand Dezember 2017, vgl. Essener Tafel e.V., Tafel Essen). 4 Der CDU-Politiker Jens Spahn hat mit seinem Satz zu Hartz IV: „Damit hat jeder das, was er zum Leben braucht“, eine Kontroverse um die Regelsätze und das System von Hartz IV insgesamt provoziert (vgl. Gaugele u.a., Jens Spahn kritisiert die Debatte). 2

4 Einleitung der Herausgeberin und der Herausgeber    Armut und Reichtum und von einem breiten Bündnis gegen Armut sind wir weit entfernt. Die christlichen Kirchen sehen sich bei der Bekämpfung der Armut in besonderer Weise in der Pflicht. Die Bibel enthält eine spezifische Option für die Armen. „Arme habt ihr immer bei euch“ (Mt 26,11) – dieser biblische Satz markiert eine grundlegende Spannung: Armut ist ein Grundphänomen in der Geschichte der Menschheit und zugleich ein Tatbestand, den es zu überwinden gilt. Der Satz Jesu ist keinesfalls fatalistisch zu verstehen, sondern gerade als Gebot, der Armut nachhaltig entgegenzuarbeiten. In ihm verschränken sich nüchterne Wahrnehmung der Realität und die Hoffnung auf Veränderung. Das Eintreten für Arme gehört zur DNA des Christentums. Das Engagement für Ausgegrenzte und die Bekämpfung von Armut sind der kirchlichen Arbeit und vor allem dem diakonischen Handeln von ihren Grundlagen her eingestiftet. In ihrer Armutsdenkschrift „Gerechte Teilhabe“ von 2006 hat die Evangelische Kirche in Deutschland den mit der biblisch begründeten „vorrangigen Option für die Armen“ charakterisierten Konsens unterstrichen: „Armut muss, wo möglich, vermieden und dort, wo es sie dennoch gibt, gelindert wer5 den.“ Die EKD hat ihre sozialethische Position im Blick auf die Armutsthematik in der Denkschrift klar zum Ausdruck gebracht. Zugleich forderte der damalige Ratsvorsitzende Wolfgang Huber eine Verstärkung der „Armutsorientierung des kirchlichen und diakoni6 schen Handelns“ . Was ist aus dieser Forderung geworden, und wie können die Aufgaben und die gesellschaftliche Verantwortung von Kirche und Diakonie im Blick auf Armut und Ausgrenzung deutlicher zum Ausdruck gebracht werden? Armut und soziale Ausgrenzung sind komplexe Phänomene. Der traditionelle, enge Begriff der Armut bezeichnet materielle Not bzw. Lebenslagen, die durch materielle Unterversorgung gekennzeichnet sind. Der neuere Begriff soziale Ausgrenzung ist weiter. Er weist auf Prozesse hin, die benachteiligte Lebenslagen verursachen, auf Spiralen der Armut, auf fehlende Teilhabe in verschiedenen Lebensbereichen. Diese Weitung hat sich in den letzten Jahren als produktiv erwiesen. Die Perspektiven, die mit den beiden Begriffen gegeben sind, ergänzen sich und bedingen einander: Armut im engeren Sinne als materielle Not stellt den Kern und die Basis sozialer Ausgrenzung dar. Und soziale Ausgrenzung weist auf Verursachungszusammenhänge und Folgen materieller Armut hin. 5 6

Wolfgang Huber, Vorwort, in: Rat der EKD, Gerechte Teilhabe, 7. Ebd.

Einleitung der Herausgeberin und der Herausgeber



Die Beiträge dieses Buches erschließen unterschiedliche Zugänge zum komplexen Feld Armut und Ausgrenzung. Dabei verbinden sich Empörung und Einordnung mit Augenmaß. Die Skandalisierung von Armut in einem reichen Land ist verknüpft mit der Ermutigung, integrale Lösungsansätze zu entwickeln. Empathie für Menschen in Armut und differenzierte Analysen sind – durchaus spannungsvoll – aufeinander bezogen. Erfahrungen Betroffener, wissenschaftliche Zugänge und Wahrnehmungen von Akteuren der politischen und sozialen Praxis kommen zum Ausdruck. Die Beiträge bieten geschichtliche Orientierungen, theoretische Grundlagen und empirische Befunde in einer Weise, die – so hoffen wir – verständlich und auch für Nichtexpert_innen nachvollziehbar ist. Sie stellen Zusammenhänge dar und führen in wichtige Diskurse ein. Dabei kommen Entwicklungen in Deutschland, aber auch weltweit in den Blick. Praxisbeispiele zeigen, wie Armutsorientierung in unterschiedlichen Handlungsfeldern Gestalt gewinnen kann. Perspektiven und strategische Impulse werden für Politik, Kirchen und Wohlfahrtsverbände formuliert. Das Buch ist in sechs Kapitel gegliedert. Das erste Kapitel thematisiert Traditionen und Begriffe, die für die Wahrnehmung und Deutung von Armut hierzulande grundlegend sind. Das facettenreiche biblische Armutsverständnis gehört zum Wurzelboden unserer Kultur. Es ist eingespannt zwischen Realismus und Utopie. Im Zentrum steht Gottes Option für die Armen, der menschliches Handeln unter den jeweiligen sozialen und politischen Bedingungen entsprechen soll. Die abendländische Geschichte der Armut und der Armen ist wesentlich dadurch bestimmt, wie normative biblische Gesichtspunkte auf sich wandelnde Bedingungen und Formen materieller und sozialer Not bezogen worden sind. Deutungsmuster, die in der Vergangenheit geprägt wurden, bilden den Hintergrund heutiger Debatten bzw. fließen in gegenwärtige Auseinandersetzungen ein. Auffassungen von Armut, die heute maßgeblich sind, werden abschließend dargestellt. Konzepte zur Messung von Armut und elementare Aspekte der Empirie von Armut kommen zur Geltung. Kapitel 2 ist Erfahrungen mit Armut und subjektiven Wahrnehmungen von sozialer Ausgrenzung gewidmet. Zum einen kommen in fünf Interviews Betroffene selbst zu Wort. Hinter statistischen Zahlen und Daten wird anschaulich, was es für Menschen heißen kann, von Armut bedroht zu sein bzw. in armen Verhältnissen zu leben. Zum Ausdruck kommen aber auch Potentiale und Alltagsstrategien des Umgangs mit Armut. Zum anderen wird exemplarisch dokumentiert, wie sich Kunst in bildlichen Darstellungen mit dem Themenkreis Obdachlosigkeit, Armut und soziale Ausgrenzung auseinandersetzt. Bil-

6 Einleitung der Herausgeberin und der Herausgeber    der renommierter Künstler_innen, darunter auch von Armut Betroffener, regen dazu an, genauer hinzusehen, Deutungen zu entziffern und zu hinterfragen sowie unterschiedliche Perspektiven einzunehmen. Das dritte Kapitel bietet vertiefende Einblicke in die komplexen Strukturen und Ausprägungen der Armut in unserem reichen Land. Beschreibungen von Armutsproblematiken anhand von verschiedenen Themenfeldern und im Blick auf unterschiedliche armutsgefährdete gesellschaftliche Personengruppen zeigen, dass Armut und soziale Ausgrenzung multifaktoriell verursacht sind und multidimensional verstanden werden müssen. Unterschiedliche subjektive und objektive Faktoren, die zu Armut führen und soziale Ausgrenzung bewirken können, treten in Erscheinung. Die Beiträge geben damit auch einen Einblick in die notwendige Komplexität von Maßnahmen bzw. Maßnahmenkatalogen, die Armut effektiv überwinden helfen können. Es geht dabei nicht darum, die Lösung für das Problem zu beschreiben. Es geht vielmehr darum, möglichst genau die Wirklichkeit zu beschreiben, ein Bewusstsein für die vielen wirksamen und wirkmächtigen Mechanismen zu entwickeln und dann vor diesem Hintergrund Lösungsansätze zu entwickeln und umzusetzen. Und so vielschichtig die Ursachen für Armut sind, so vielfältig müssen dabei auch die Überwindungsstrategien sein. Armut ist ein weltweites Phänomen. Sie kann immer weniger nur lokal, nationalstaatlich oder europäisch begriffen, gelindert oder überwunden werden. Fragen weltweiter Entwicklung und Verantwortung sowie Zusammenhänge, wechselseitige Abhängigkeiten und Machtkonstellationen im Prozess der Globalisierung sind Thema des vierten Kapitels. Beschrieben werden die Armutszuwanderung aus Südosteuropa und die damit verbundenen Möglichkeiten, Probleme und Aufgaben, die sich in Deutschland stellen. Darüber hinaus wird deutlich, welche Veränderungen sich in der Entwicklungspolitik, deren Ziel die Armutsbekämpfung ist, vollzogen haben. Schließlich kommen spezifische Perspektiven kirchlicher Entwicklungsverantwortung zur Sprache. Am Beispiel von „Brot für die Welt“ werden Begründungszusammenhänge des Engagements für die Würde des Menschen und des Eintretens für die Rechte Benachteiligter aufgezeigt. Kriterien nachhaltiger Entwicklung und Kernanliegen kirchlicher Entwicklungsarbeit kommen zur Darstellung. In Kapitel 5 werden beispielhaft sieben Ansätze kirchlich-diakonischer Arbeit zur Bekämpfung von Armut und zum Umgang mit Menschen, die in unterschiedlicher Weise von sozialer Ausgrenzung betroffen sind, vorgestellt. Vor allem Kinder, Menschen mit geistiger

Einleitung der Herausgeberin und der Herausgeber



Behinderung, wohnungslose Menschen und Alte kommen dabei in den Blick. Durchgängig geht es darum, wie sich Armut konkret auswirkt und was bestimmte Maßnahmen bei Betroffenen bewirken. Eindrücklich sind Berichte über funktionierende Netzwerke von Akteuren aus Kirche und Diakonie, zivilgesellschaftlichen Gruppierungen, Politik und Verwaltung. Zugleich werden Grenzen von Zusammenschlüssen auf kommunaler Ebene, von Sozialarbeit und Ehrenamtlichen bei strukturellen Missständen aufgezeigt. Deutlich wird etwa, dass abgestimmte Maßnahmen vor Ort Kinderarmut lindern, aber nicht beseitigen können. Dem entspricht die Forderung nach einer Kindergrundsicherung. Schließlich wird der Frage nachgegangen, wie ein nicht-stigmatisierendes, aktivierendes Angebot heute aussehen muss, um den Skandal von Ausgrenzung und Armut nicht zuzudecken, sondern ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Die Beiträge des sechsten Kapitels fokussieren wesentliche Anliegen des gesamten Buches. Sie bieten pointierte Anstöße für die Armutsdebatte und zeigen unter Gesichtspunkten der sozialen Gerechtigkeit, der Menschenrechte und Teilhabechancen entsprechende Handlungsperspektiven auf. Buchstabiert werden Anforderungen an die Sozialpolitik für die unterschiedlichen Ebenen – von den Kommunen bis hin zur Europäischen Union. Daneben sind zivilgesellschaftliche Handlungsträger angesprochen – soziale Initiativen, Wohlfahrtsverbände, Kirchen. Strukturwandel, demografische Entwicklungen, soziale Segregation sind zentrale Herausforderungen vor Ort in den Sozialräumen und Quartieren. Integrierte armutssensible Handlungskonzepte müssen deshalb gemeinsam entwickelt werden. Konturen einer Sozialen Arbeit zwischen Hilfe und Protest leuchten auf. Kirche und Diakonie haben auf kommunaler und europäischer Ebene den Auftrag, an der Gestaltung einer Solidaritäts- und Verantwortungsgemeinschaft mitzuwirken. Zugleich bleibt die Frage, wie Kirche nicht nur stärker für die Armen eintreten, sondern Kirche mit den Armen werden kann, ein Stachel im Fleisch der Debatte um das, was Kirche ausmacht, und welche Wege sie in Zukunft gehen soll. Wir hoffen, dass das Buch dazu beiträgt, Armut und soziale Ausgrenzung differenziert wahrzunehmen und Wege zur Reduzierung und Überwindung von Armut zu suchen und entschlossen zu gehen – im Wissen darum, dass Formen von Armut immer wieder auftreten können und werden. Die Herausgeberin und die Herausgeber sind allen zu großem Dank verpflichtet, die sich an dem Buchprojekt beteiligt und es unterstützt haben. Wir danken allen Autor_innen sehr herzlich für ihre jeweili-

8 Einleitung der Herausgeberin und der Herausgeber    gen Beiträge. Für das Geleitwort danken wir der Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Annette Kurschus, dem Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Manfred Rekowski, dem Landessuperintendenten der Lippischen Landeskirche, Dietmar Arends, und dem Theologischen Vorstand der Diakonie RWL, Christian HeineGöttelmann, sehr herzlich. Das Buchprojekt ist entstanden aus der Zusammenarbeit zwischen der Evangelischen Hochschule RheinlandWestfalen-Lippe in Bochum, der Konferenz der Ruhrgebietssuperintendenten und der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe. Unser Dank gilt außerdem Franziska Witzmann für die Erstellung des druckfertigen Manuskripts. Herrn Ekkehard Starke und Herrn Hans Hegner, beide Neukirchener Verlagsgesellschaft, und Frau Jana Harle, Vandenhoeck & Ruprecht, gilt unser Dank für die gute Zusammenarbeit. Die Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe, die Evangelische Kirche im Rheinland, die Evangelische Kirche von Westfalen und die Lippische Landeskirche haben die Drucklegung des Bandes durch Zuschüsse finanziell gefördert. Dafür sind wir außerordentlich dankbar. Im April 2018 Gerhard K. Schäfer Barbara Montag Joachim Deterding Literatur Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Lebenslagen in Deutschland. Der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin 2017. Essener Tafel e.V., Tafel Essen, online: www.essener-tafel.de (Zugriff: 22.03.2018). Gaugele, Jochen / Neumann, Philipp / Quoos, Jörg, Jens Spahn kritisiert die Debatte um die Essener Tafel, WAZ vom 10.03.2018, 7:05 Uhr, online: https://www.waz.de/politik/jens-spahn-die-tafeln -erfuellen-eine-wichtige-aufgabe-id213677285.html (Zugriff: 22.03.2018). Oxfam Deutschland e.V., Der Preis der Profite. Zeit, die Ungleichheitskrise zu beenden, Berlin 2018, online: https://www.oxfam. de/system/files/factsheet_deutsch_-_der_preis_der_profite_-_zeit_ die_ungleichheitskrise_zu_beenden.pdf. Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität. Eine Denk-

Einleitung der Herausgeberin und der Herausgeber



schrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Armut in Deutschland. Mit einer Kundgebung der Synode der EKD, Güterloh 2006. World Inequality Lab, Bericht zur weltweiten Ungleichheit. Kurzfassung. Deutsche Fassung, Koordination: Facundo Alvaredo u.a., Berlin 2018, online: http://wir2018.wid.world/files/download/wir 2018-summary-german.pdf (Zugriff: 03.04.2018)

 

 

1 Grundlagen & Traditionen

 

  Jürgen Ebach

Biblische Perspektiven

„Adonaj (GOTT)! Wer ist wie du? Du rettest die Elenden vor denen, die stärker sind als sie, und die Elenden und Armen vor denen, die sie ausrauben.“ (Ps 35,10)

Das Psalmenzitat über diesem Beitrag zum Thema „Armut“ macht bereits auf zwei zentrale Aspekte aufmerksam. Die Lage der Armen ist in biblischer Sicht keine nur sozialgeschichtliche und sozialethische Frage, sondern – nicht darüber hinaus, sondern eben darum – eine im engsten Wortsinn theo-logische. Und ebenso deutlich wird in diesem Gebetssatz, dass es um eine Relation geht. „Arm“ sind Menschen nicht an und für sich, wenn sie etwa unterhalb eines bestimmten Einkommens ihr Dasein fristen, sondern im Verhältnis zu denen, die ihre Schwäche ausnutzen und sie ausbeuten. 1

Armut als soziale Realität

Armut ist in allen Zeiten der alttestamentlichen Geschichte Israels und der Lebenswelt des Neuen Testaments eine soziale Realität. Das spiegelt sich in biblischen Texten in Aussagen wie: „Arme habt ihr alle Zeit bei euch“ (Mt 26,11) oder: „Reiche und Arme begegnen einander, der sie alle gemacht hat, ist Adonaj (GOTT)“ (Spr 22,2). Namentlich die Weisheitsliteratur blickt nüchtern auf die realen Erfahrungen. So kann sie konstatieren: „Selbst seinem Nächsten ist der Arme verhasst, aber die Freunde des Reichen sind zahlreich“ (Spr 14,20). Nicht selten sieht sie die Armut als selbstverschuldet an: „Arm macht lässige Hand, doch die Hand der Fleißigen macht reich“ (Spr 10,4, vgl. 13,18; 20,13 und die Schilderung in 24,30–34). Doch bleiben auch weisheitliche Sentenzen nicht bei dieser – ja allenfalls partiell zutreffenden – Bestandsaufnahme stehen, sondern sehen auch die Pflicht, das Los der Armen zu lindern. Unmittelbar auf den zitierten Satz, nach dem Arme isoliert und Reiche von vielen Freunden umgeben seien, folgt in Spr 14,21: „Wer seinen Nächsten Verachtung erweist, ver-

14 J. Ebach    fehlt sich; aber ein Glückwunsch denen, die sich der Elenden erbarmen.“ Und Spr 31,9 schärft ein: „Mach deinen Mund auf, richte Gerechtigkeit auf und schaffe Recht den Elenden und Armen!“ So lässt sich auch die weisheitliche Sicht auf die Armut und die Armen nicht auf eine bloße Beschreibung der erfahrenen Realität reduzieren. Doch sie fragt kaum nach den sozialen und gesellschaftlichen Gründen der Entstehung von Armut. Diese Frage wird in der Prophetie virulent. 2

Armut als Folge von Ausbeutung und Unrecht

Propheten nehmen die Verarmung als Folge von Ausbeutung in den Blick. So ist es in Am 2,6, wenn es um den Verkauf eines Menschen in Schuldknechtschaft „um eines Paares Sandalen willen“ geht, wobei offen bleibt, ob die nicht zurückgezahlten Schulden lediglich den Wert eines Paars Sandalen hatten oder ob der Verkaufserlös nur diese geringe Summe erbrachte. Auch wenn die Institution der Schuldknechtschaft1 an sich nicht illegal war, war das illegitim. Die Aufdeckung der Differenz zwischen dem, was legal, und dem, was legitim ist, gehört zu den großen und bleibend aktuellen Perspektiven der prophetischen Sozialkritik. Illegitim ist es – so der in Am 2,6 zuvor genannte Fall –, einen „Gerechten“ (zaddik), d.h. einen Menschen, der solidarisch lebt und darum auch Anspruch auf Solidarität hat, „für Geld“ zu „verkaufen“. Die in der hebräischen Bibel mit verschiedenen und nicht trennscharf zu unterscheidenden Bezeichnungen (rasch, dal, evjon, ani, anaw) genannten Armen und Erniedrigten sind bei Amos erkennbar nicht die Ärmsten der Gesellschaft. Da hat ein dal Korn, das er verkaufen kann (Am 5,11), da besitzt ein anaw das sogenannte Recht im Tor (Am 2,7), verfügt also (noch!) über die – wie man anachronistisch sagen könnte – ‚Bürgerrechte‘, wofür der Besitz eines Anteils am Ackerland Voraussetzung ist. Es sind die einst oder gerade noch freien Grundbesitzer und verarmten Kleinbauern, die von Armut und Abhängigkeit und somit vom Verlust ihrer Subsistenz, ihrer Eigenständigkeit, ihrer Freiheit bedroht sind. Man bringt sie gezielt in eine Schuldenfalle (Am 8,4–7) und versperrt ihnen den Rechtsweg (Am 2,7). Gerade hier leuchtet auf, dass „arm“ ein Relationsbegriff ist.2 1

Dazu Kessler, Schuldenwesen. Das ist eine nicht nur historisch-begriffliche, sondern auch eine ganz aktuelle Perspektive. Die Armen in Deutschland gehören im Weltmaßstab zu den Reichen. Das

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Biblische Perspektiven

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Arm, elend, bedürftig ist oder wird jemand, wenn und weil Mächtige ihm oder ihr die Lebensressourcen und das Lebensrecht entziehen. Dies geschieht vor allem im Kontext einer sich im 9. Jh. v. Chr. ändernden Sozialstruktur, in deren Folge viele Kleinbauern durch Überschuldung zu abhängigen Pächtern und landlosen Lohnarbeitern werden.3 Die prophetische Kritik gilt denen, die ihre Verwaltungsmacht missbrauchen (Hos 5,10), vielfachen Betrug üben (Mi 6,10–12) und „den Lohn des Tagelöhners drücken, die Witwen und Waisen unterdrücken und Fremde wegdrängen“ (Mal 3,5). Solchen Mächtigen und Reichen gilt der Drohspruch gegen die reichen Frauen in Samaria (Am 4,1–3) oder auch der Weheruf in Jes 5,8–10: „Weh denen, die Haus an Haus reihen …!“ 3

Das Recht der Armen

Nicht zuletzt in der Folge der Prophetie gilt den Armen besondere Aufmerksamkeit in den Rechtstexten. Bereits das sogenannte „Bundesbuch“ betont das Recht der Armen (Ex 22,20–26)4, und dieses Thema durchzieht auch weitere Rechtstexte der hebräischen Bibel wie Dtn 15,1–11 und 24,6.10–15.17.19f. Dabei geht es u.a. um den Schuldenerlass, die Grenzen erlaubter Pfändung und das Recht der Armen zur Nachlese5. Ebenso grundlegend wie mit einer konkreten Bestimmung ergeht in Lev 19,13 das strikte Verbot: „Du sollst deinen Nächsten nicht unterdrücken und ihn nicht berauben; der Lohn des Tagelöhners darf nicht über Nacht bis zum Morgen bei dir bleiben!“ Eine auf den ersten Blick von dieser Linie des Schutzes der Armen abweichende Stelle findet sich in Ex 23,3. Dort heißt es: „Und den Armen sollst du in seinem Rechtsstreit nicht begünstigen!“ Manche Ausleger hielten den Text für fehlerhaft überliefert und griffen zu einer Konjektur, indem sie dem Wort dal, „der Arme“, einen Konsonanten hinzufügten und gadol –„der Große“ lasen. Dann hieße die Weisung: Und den Großen sollst du in seinem Rechtsstreit nicht begünstigen! Das wäre gewiss ein einleuchtendes Gebot, und so steht es ja auch in Lev 19,15. Doch es ist kaum ein Zufall, dass gerade der brasilianische Alttestamentler und Befreiungstheologe Milton Schwantes trifft zu, aber es setzt ihre Lage nicht ins Recht; weitere Überlegungen dazu bei Ebach, Arme. 3 Vgl. Schäfer-Lichtenberger/Schottroff, Armut, 23. 4 Dazu Schwantes, Recht. 5 Was im Sabbatjahr, dem siebten Jahr, an dem die Äcker brach liegen, von selbst wächst, ist für die Armen bestimmt (Ex 23,10f.); zur Nachlese auch Rut 2,2–9.

16 J. Ebach    in Ex 23,2 für die Beibehaltung des überlieferten Textes plädiert hat.6 Es geht darum, dass die Armen und Geringen nicht mildtätigherablassend bevorzugt werden, sondern dass sie zu ihrem Recht kommen. 4

Realpolitik versus Utopie

Die Spannung zwischen der weisheitlich nüchternen Wahrnehmung von Armut als gesellschaftlicher, wenn nicht gar anthropologischer Realität und dem prophetischen Blick auf die Armut als Folge ungerechter Verhältnisse kommt in der Passage über den Schuldenerlass in Dtn 15,1–11 in eine bemerkenswerte Konstellation, geradezu einen Diskurs um das Verhältnis von Realpolitik und Utopie. Da geht es um konkrete Bestimmungen des Schuldenerlasses in jedem siebten Jahr und dessen Bedeutung für die Armen oder von Armut Bedrohten. Doch in diese Stimme (V. 1–3.7–11), die nach dem fragt, was angesichts der nun einmal realen Armut zu deren Linderung zu geschehen hat, mischt sich eine andere Stimme (V. 4–6) ein, welche darauf setzt, dass es überhaupt keine Armut geben solle und geben werde. Gerade dieser Diskurs erweist sich als Grundform des immer wieder und immer neu notwendigen Wider-Spruchs zwischen Realpolitik und Utopie – nicht nur, aber auch in der Frage der Armut. Wo und solange es Armut gibt, bedarf es ihrer Linderung, doch bedarf diese Praxis immer wieder auch der Erinnerung daran, dass es diese Armut nicht geben soll. Der nüchterne Blick auf die Realität ist unverzichtbar, soll nicht ein Wunschdenken an die Stelle der Wirklichkeit treten. Aber die Utopie ist ebenso unverzichtbar, soll nicht das, was ‚nun einmal‘ so ist, das letzte Wort behalten. Die Bibel steht – auch in dieser Frage – für beide Linien. Sie ist realistisch und utopisch, sie setzt auf die Verheißung und lässt gleichwohl dem nüchternen Blick sein Recht. 5

„Arme habt ihr immer bei euch“

In dieser Spannung ist auch das für den Titel dieses Bandes gewählte Jesus-Wort aus Mt 26,11 zu lesen. „Arme habt ihr immer bei euch“, sagt da Jesus und das spiegelt wider, dass die Massenarmut im römischen Reich eine Realität war.7 Dieser (Teil-)Satz antwortet auf den 6 7

Schwantes, Recht, 55. Schäfer-Lichtenberger/Schottroff, Armut, bes. 24.

Biblische Perspektiven

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Einwand, das Tun jener Frau, die den Messias Jesus mit einem kostbaren Öl salbt, sei eine Verschwendung und man hätte das Öl besser verkaufen und den Erlös den Armen geben sollen.8 Aber auch dieser Satz muss kein fatalistisches Sich-nun-einmal-Abfinden mit der Existenz der Armut und der Armen sein. Er lässt sich auch so lesen, dass die an dieser Stelle aufscheinende Würdigung des Messias Jesus, in dessen Erscheinen den Armen das Evangelium verkündigt wird (Lk 4,18 in Aufnahme von Jes 61,1), auch und gerade auf die Lage der Armen ein Licht zu werfen vermag. Jener Teilsatz: „Arme habt ihr alle Zeit bei euch“ entwichtigt dann keineswegs das, was „alle Zeit“ praktisch zu tun ist, sondern setzt es in eine messianische Perspektive. Doch hier meldet sich eine weitere Frage. Setzt die Option für die Armen, ja die Seligpreisung der Armen in der Bergpredigt – Makarioi hoi ptōchoi tō  pneumati – „Glücklich, die bei den Bettelarmen stehen“9 (Mt 5,3a) – die Armut ins Recht? Verlangt die Verheißung für die Armen, dass ihnen das Himmelreich gehöre (3b), dass die Armen arm bleiben? Wenn wir die Armut beseitigten, so hörte ich vor Jahren einmal einen Theologieprofessor sagen, würden wir die Armen doch um das Himmelreich bringen. Ich setze sarkastisch hinzu: Ist es nicht mein großes Verdienst als Reicher und in vieler Hinsicht Privilegierter, dass ich das Joch des Reichtums tapfer zu ertragen bereit bin, um den Armen das Himmelreich zu ermöglichen? Solche geradezu zynischen Erwägungen können die Gratwanderung neutestamentlicher Aussagen ins Bild setzen. Sie erweisen vor allem, dass das Lob der Armen kein Lob der Armut sein muss. Ich halte es da mit dem Milchmann Tewje aus dem Musical Anatevka, wenn er singt und sagt: „Ich weiß, Herr, dass es keine Schande ist, arm zu sein – aber eine besondere Ehre ist es auch nicht.“ 6

Keine Idealisierung der Armut

Die Option der Bibel für die Armen ist im Alten wie im Neuen Testament keine Verzuckerung der Armut. Vergessen wir nicht, wie oft in der Bibel ganz positiv ein Luxus ins Bild kommt! Da ist an die 8 Dieser Einwand der bzw. in der Parallelstelle in Mk 14,4f. einiger Schüler_innen Jesu sollte aber auch nicht ins Unrecht gesetzt werden. Eine solche Lektüre bahnt sich in der entsprechenden Fassung des Erzählmotivs in Joh 12,1–8 an, wenn er dort dem späteren Verräter Judas in den Mund gelegt und hinzugefügt wird, er habe das nicht aus Sorge für die Armen gesagt, sondern weil er als „Kassenwart“ das Geld habe unterschlagen wollen. 9 Zur Übersetzung und Auslegung Wengst, Regierungsprogramm, 32–40.

18 J. Ebach    genannten Geschichten der Salbung Jesu mit kostbarstem Öl zu erinnern, da bietet Abraham seinen Besuchern ein ganzes Kalb für drei Personen (Gen 18,7f.), da sorgt Jesus bei der Hochzeit von Kana für den besten Wein (Joh 2, bes. V. 10). In einer imaginierten temperenzlerischen Fassung wäre es beim Wasser geblieben, aber das hätte besser gemundet als der kostbarste Wein. Doch so erzählt die Bibel nicht. An anderen Stellen wird Jesus als „Fresser und Weinsäufer“ denunziert (Mt 11,19; Lk 7,34). Nicht das gute Leben wird in der Bibel moralistisch ins Unrecht gesetzt, wohl aber, dass es nur wenigen vorbehalten ist. Die Option für die Armen geht mithin keineswegs an allen Stellen der Bibel mit einer grundsätzlichen Kritik am Reichtum einher. Ich denke an Jeremias Kritik am König Jojakim, dem er das Vorbild seines Vaters Joschia vor Augen hält. Der Prophet gesteht einem König sehr wohl ein gutes und durchaus privilegiertes Leben zu. Er setzt aber auch die Grenzen legitimen Reichtums ins Bild und – das ist hier besonders wichtig – er nennt das Tun der Gerechtigkeit die Weise, Gott zu erkennen: „Weh dem, der sein Haus mit Ungerechtigkeit erbaut und seine Gemächer mit Unrecht ausstattet, der seinen Mitmenschen umsonst arbeiten lässt und ihm keinen Lohn gibt, der sich sagt: ‚Ich will mir ein geräumiges Haus erbauen und weitläufige Gemächer einrichten!‘, der Fenster hineinsetzt, es mit Zedernholz vertäfelt und es rot anmalt. Bist du denn König, um mit Zedernholz zu protzen? Hat dein Vater nicht auch gegessen und getrunken und dennoch Recht und Gerechtigkeit geübt? Und es ging ihm gut. Er verhalf dem Recht der Elenden und Armen zum Recht und es ging ihm gut. Heißt nicht das, mich zu erkennen?“ – Spruch Adonajs (Jer 22,13–16) 7

Einem Kamel ist nicht verboten, durchs Nadelöhr zu gehen

Kommt hier ein verantworteter und darin legitimer Reichtum ins Bild, so klingt ein neutestamentlicher Satz viel schroffer. In der Geschichte vom sogenannten reichen Jüngling in Mt 19,16–30 und den Parallelen in Mk 10,17–31 und Lk 18,18–30 sagt Jesus den berühmten Satz: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt“ (Mt 19,23 nebst den synoptischen Parallelstellen). Jener Mann wollte Jesus nachfolgen und fragte danach, was er tun müsse, um unvergängliches Leben zu erben. Jesus verweist ihn auf

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die Gebote. Die habe er, antwortet er glaubwürdig, gehalten von Jugend an. Eines fehle ihm, erwidert Jesus: „Verkaufe, was du hast, und gib es den Armen. Dann wirst du Kapital im Himmel haben. Dann folge mir!“ (Mt 19,21) Der Mann geht traurig weg, „denn er hatte viele Güter.“ Die Evangelisten zeichnen Jesus in großer Sympathie für diesen Reichen. Er wird keineswegs als heuchlerisch oder von sich zu sehr eingenommen beschrieben. Was ihn hindert, seinem eigenen Wunsch zur Nachfolge nachzukommen, ist sein großer Besitz. Diese Schülerberufung scheitert nicht an der Moral, sondern an der Ökonomie. Es folgt ein Gespräch mit den durchaus betroffenen Schüler_innen. Und in diesem Gespräch sagt Jesus: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt.“ Jesus spricht diesen Satz nicht triumphalistisch, sondern eher resigniert. Was lehrt diese Geschichte? Sie ist, greift man nicht zur oben skizzierten exquisiten Form des Masochismus, in dem die Reichen die Bürde des Reichtums tragen, um den Armen nicht das Himmelreich zu rauben, für die Reichen ein Ärgernis. Es gibt mehrere Versuche, den Wortlaut durch philologische Spiele zu entschärfen. Da sollte dann, was die Chance der Reichen deutlich verbessert, entweder das Kamel kein Kamel oder das Nadelöhr kein Nadelöhr sein. „Nadelöhr“ sei der Name für ein enges Stadttor in Jerusalem. Um da hindurch zu kommen, muss das Kamel sich ziemlich krumm machen. Oder man las statt „kamelos“ „kamelis“, womit das Kamel zum Tau wird. Wenn Nadel und Öhr recht groß sind, könnte es gerade noch gehen. Solche Versuche, einen Text zu ändern, sind oft kein Anzeichen dafür, dass er in der überlieferten Form nicht verständlich ist, sondern dafür, dass er nur allzu verständlich ist. Was also lehrt diese Geschichte? Sie lehrt, dass es für einen, der viel Besitz hat, überaus schwer ist, sich aus den Bindungen des Besitzes zu befreien. Sie benennt eine Erfahrung. Keineswegs verfügt da Gott im Himmel oder der in seinem Namen urteilende Jesus, dass ein Reicher nicht in den Himmel kommen dürfe. Die Geschichte vom ‚reichen Jüngling‘ legt die Gefahr des Reichtums dar. Sie glorifiziert die Armut ebenso wenig, wie es das Alte Testament tut. Sie enthält keine moralische Verurteilung der Reichen und sie folgt nicht dem pseudoreligiösen Kitsch, wonach die Armen die besseren Menschen seien.

20   8 Konflikte in der Gemeinde

J. Ebach 

Im oben zitierten Wort Jeremias an den König ist die Pflicht, den Armen zum Recht zu verhelfen, keine im bloß Vorletzten bleibende moralische, gesellschaftliche und politische Forderung, sondern eine Praxis, in der Gott wahr genommen wird. Was aber heißt das für das Zusammenleben von Reichen und Armen? Ganz konkret wird diese Frage im gemeinsamen Mahl in neutestamentlichen Gemeinden. Da kommen etwa in Korinth die Reichen und die armen Hafenarbeiter_innen zusammen und essen vor dem gemeinsamen Herrenmahl, was sie mitgebracht haben. Die Einen – um es zuzuspitzen – verzehren ihren köstlichen Lammbraten, die Anderen beißen in ihre Zwiebeln. Die „Lösung“, die Paulus in 1Kor 11,17–22 anbietet, indem er dafür plädiert, man solle vorher zu Hause essen, bleibt ambivalent. Sie vermeidet die öffentliche Beschämung der Armen, von der Paulus explizit spricht (V. 22), aber sie belässt es bei den erheblichen Unterschieden in der Lebensweise der Armen und der Reichen. Dass das in der gegenwärtigen Praxis des Abendmahls oder der Eucharistie so ist und dass das gemeinsame Mahl zudem so nicht der realen, sondern nur mehr der gleichsam spirituellen Sättigung dient, bleibt eine Anfrage an diese Praxis. In einem anderen Licht erscheint die Lebensweise der frühen Gemeinden in der Apostelgeschichte, die von einer Gütergemeinschaft erzählt. „Und alle, die Vertrauen gefasst hatten, bildeten eine Gemeinschaft und teilten alles, was sie hatten. Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jeder und jedem so viel, wie sie nötig hatten“ – so lesen wir es in Apg 2,44f. Ganz ähnlich kommt es in Apg 4,32–5,11 ins Bild, dramatisch verstärkt durch die Episode von Ananias und Saphira (5,1–11), die ihren Versuch, diese Norm partiell zu unterlaufen, mit dem Leben bezahlen mussten. Ob diese Textzeugnisse die Realität der frühen Gemeinden abbilden, ist zweifelhaft, doch: „Selbst wenn die Texte der Apostelgeschichte über die Gütergemeinschaft Idealbilder zeichnen sollten, haben sie im Sinne des Textes verpflichtenden Vorbildcharakter.“10 9

Arm vor Gott

Auch in den Psalmen kommt das Geschick der Armen immer wieder zu Wort; abermals begegnet eine Mehrzahl von Bezeichnungen für die Armen, Elenden, Gebeugten, Erniedrigten (rasch, dal, ani, anaw, 10

Schäfer-Lichtenberger/Schottroff, Armut, 26.

Biblische Perspektiven

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evjon), wobei oft mehrere dieser Wörter in parallelen Formulierungen erscheinen. An vielen Stellen bekunden die Betenden ihr Vertrauen darauf, dass Gott die Armen und Elenden nicht im Stich lässt und ihnen gegen die Mächtigen hilft (so in Ps 35,10; 72,4.12f.; 76,10; 113,7; 140,13 und viel öfter). In den Psalmen kommen die Armen jedoch nicht nur als Thema und als Objekte zur Sprache, sondern auch als Subjekte zu Wort. Die Betenden selbst bezeichnen sich als arm und elend (u.a. Ps 25,16.18; 40,18; 69,30; 70,6; 86,1; 109,22). Ps 102,1 stellt den ganzen Psalm unter die Überschrift: „Gebet eines Armen (oder auch: Gebet für einen Armen), wenn er kraftlos ist und vor Adonaj (GOTT) seine Sorge ausschüttet.“ Die Selbstbezeichnung der Betenden als Arme, Elende, Gebeugte ist dabei doppelt konnotiert. Auf der einen Seite beschreibt sie ihre reale Lage. Dabei wird in den Klagepsalmen die konkrete Not der Betenden nicht präzise definiert; vielmehr schnüren Krankheit, Feinde, falsche Anklagen, soziale Not, Einsamkeit wie ein Netz die Klagenden ein.11 Gerade so eröffnen die Psalmen Sprachräume, in denen Menschen unterschiedlicher Zeiten und in unterschiedlichen Lagen zur Sprache bringen können, was sie bewegt – gerade dann, wenn auch ihr Leiden nicht monokausal bestimmt ist, sondern durch ein Zusammenkommen verschiedener Ursachen und Formen. Ist die Selbstbezeichnung dieser Betenden also Ausdruck der realen Not der Existenz der Elenden, Erniedrigten, Armen, so ist sie auf der anderen Seite auch der Ausdruck einer Existenz vor Gott. Man kann hier von einer spezifischen „Armenfrömmigkeit“ sprechen. Das zeigt sich besonders am Wort anaw, das „gebeugt“ und dabei ebenso „gedemütigt“ wie „demütig“ bedeuten kann. Von anderen Menschen gedemütigt, niedergebeugt zu werden, heißt Unrecht zu erfahren – vor Gott sich zu beugen heißt, Gott und nur Gott als Herrn anzuerkennen.12 In dieser Linie konnte anawim – „Arme“ – in jüdischen Gruppierungen zur Selbstbezeichnung der „Frommen“ werden. 10

Kollekten

Zur Linderung der Not der Armen werden in jüdischen und christlichen Gottesdiensten Kollekten gesammelt. In der Synagoge gibt es ein Behältnis, das einem Kollektenkorb oder Opferstock in christ11

Dazu Crüsemann, Netz. Zum kategorialen Unterschied zwischen Demut und Demütigung und – so und nur so – zur Ehrenrettung der Haltung der Demut Wengst, Demut.

12

22 J. Ebach    lichen Kirchen gleicht. Es trägt die Aufschrift „z´daka“ – „Gerechtigkeit“. Während das vom griechischen eleēmosynē – „Barmherzigkeit, Mitleid“ – abgeleitete Wort „Almosen“ eher eine mitleidige Gabe bezeichnet, schärft die Aufschrift z´daka ein, dass die Gabe für die Armen ein Beitrag zur Gerechtigkeit ist. Hier geht es um mehr als eine terminologische Differenz. Das wird im gegenwärtigen Sprachgebrauch ganz deutlich. Denn Arme wollen heute eines ganz bestimmt nicht sein, nämlich „Almosenempfänger“. Ein „Almosen“ erscheint heute meist als eine herablassende und darin die Empfänger_innen geradezu entwürdigende mildtätige und sie weniger speisende als abspeisende Geste, die nicht so sehr geeignet ist, die Not der Armen zu lindern, als das Gewissen der Reichen zu entlasten. Gleichwohl bleibt die Aufgabe, in den Gaben für die Armen Gerechtigkeit und Mitleid, Mitleidenschaft (compassion) zu verbinden. Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit kann zur herablassenden Geste verkümmern, Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit zur kalten Doktrin erstarren. Hier zeigt sich die zentrale soziale wie theologische Bedeutung der Kollekten im Gottesdienst und hier empfehlen sich abermals biblische Erinnerungen.13 Vor allem ist hier das Kollekten‐Projekt für die Gemeinde in Jerusalem zu nennen, das Paulus ins Werk setzt. Es geht um eine vertragliche Vereinbarung zwischen der antiochenischen und der Jerusalemer Gemeinde, die sich ungeachtet ihrer unterschiedlichen Lebens‐ und Glaubensformen als Gemeinschaft verstehen. Bei der korinthischen Gemeinde wirbt Paulus um eine Beteiligung bei dieser Kollekte (2Kor 8f. – zum Thema aber auch 1Kor 16,1–4; Röm 15,25–29; Gal 2,10). Dabei wird in der Ausführlichkeit und in der vielschichtigen Argumentation ganz deutlich, dass es um eine praktische Unterstützung Jerusalems und besonders der Armen in der Gemeinde geht, dass aber zugleich der tiefe theologische Zusammenhang zwischen der Gerechtigkeit Gottes und dem gerechten Tun von Menschen zur Praxis werden soll.14 Gerade dieses Thema führt Paulus zur Ausbildung seiner Christologie. In 2Kor 8f. verwendet Paulus mehrere alttestamentliche Zitate, mit denen er die Argumentation grundiert. Da wird nach der Aufforderung zu einem gerechten Ausgleich der Güter in 2Kor 8,15 als Erinnerung an eine entsprechende alttestamentliche Zielvorstellung ein Satz aus der Mannageschichte in Ex 16 eingespielt: „Wer viel [gesam13 14

Ausführlicher dazu in: Ebach, Klangraum, 204–240. Dazu Frettlöh, Charme.

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melt hatte], hatte keinen Überfluss und wer wenig [gesammelt hatte], hatte keinen Mangel“ (Ex 16,18). „Jeder und jedem nach ihrem Essbedarf“ (ebd.) – das ist die große Utopie der Mannageschichte, die Paulus hier aufleuchten lässt. 11

Eine buchstäblich fundamentaltheologische Frage

Das als Überschrift dieses Beitrages zitierte Wort aus Ps 35,10 betont, dass Armut keine abstrakte Größe, sondern eine Verhältnisbestimmung ist, und zugleich, dass es dabei nicht nur um eine gesellschaftliche und sozialpolitische Frage geht, sondern damit auch um eine zentrale theologische. Dass es dabei um eine buchstäblich fundamentaltheologische Frage geht, ist das Thema eines der merkwürdigsten und bemerkenswertesten Psalmen. Denn in ihm kommt nichts Geringeres ins Bild, als dass Götter zum Tode, nämlich zur Sterblichkeit, verurteilt werden. Ps 82 inszeniert das in der Form einer uralten Szene. In einer Versammlung der Götter tritt Israels Gott auf, um Recht aufzurichten, und klagt darum die Götter an. Sie haben Unrecht befördert, die Verbrecher begünstigt und den Niedrigen und Armen das Recht verweigert. Die Aufforderung „Verhelft den Niedrigen und der Waise zu ihrem Recht, den Elenden und Bedürftigen lasst Gerechtigkeit widerfahren, rettet die Niedrigen und Armen aus der Hand der Verbrecher entreißt sie!“ (Ps 82,3f.) haben sie nicht erfüllt. Diese Passage ist u.a. auch darum so bemerkenswert, weil in ihr gleich vier der Begriffe für die Armen und Elenden, nämlich dal, ani, rasch und evjon, erscheinen. Aber nicht nur darin geht es ums Ganze. In buchstäblich fundamentaltheologischer Perspektive wanken beim Versagen der scheinbaren Götter die Fundamente der Erde (V. 5). Götter, die ihre Aufgabe nicht erfüllen, nämlich für das Recht der Armen zu sorgen, sind sterbliche und damit nur scheinbare Götter. Im letzten Vers des Psalms aber wird dieser Maßstab des Gott‐Seins zur drängenden Aufforderung an Gott selbst: „Steh auf, Gott, richte Recht auf der Erde auf! Ja, du sollst das Erbe antreten bei allen Völkern!“ Gottes Gott-Sein entscheidet sich am Geschick der Armen. Ihre Existenz ist in biblischer Einsicht keine nur gesellschaftliche und sozialpolitische Frage, sondern eine zutiefst theologische. Doch zuweilen empfiehlt es sich, diesen Satz umzudrehen. Die Existenz der Armen ist in biblischer Einsicht nicht nur eine theologische Frage, sondern auch eine entschieden gesellschaftliche und sozialpolitische.

24   Literatur

J. Ebach 

Crüsemann, Frank, Im Netz. Zur Frage nach der „eigentlichen Not“ in den Klagen der Einzelnen, in: ders., Kanon und Sozialgeschichte. Beiträge zum Alten Testament, Gütersloh 2003, 157–164. Ebach, Jürgen, Arme und Armut im Alten Testament, ZMiss 5 (1979), 143–153. Ebach, Jürgen, Das Alte Testament als Klangraum des evangelischen Gottesdienstes, Gütersloh 2016. Frettlöh, Magdalene L., Der Charme der gerechten Gabe. Beobachtungen zur Gabentheologie der paulinischen Kollekte für Jerusalem, in: Jürgen Ebach u.a. (Hg.), „Leget Anmut in das Geben“. Zum Verhältnis von Ökonomie und Theologie, Jabboq, Bd. 1, Gütersloh 2001, 105–161. Kessler, Rainer, Armenfürsorge als Aufgabe der Gemeinde. Die Anfänge in Tempel und Synagoge, in: Frank Crüsemann u.a. (Hg.), Dem Tod nicht glauben. FS Luise Schottroff, Gütersloh 2004, 91–102. Kessler, Rainer, Das hebräische Schuldenwesen. Terminologie und Metaphorik, in: ders., Studien zur Sozialgeschichte Israels (SBAB 46), Stuttgart 2009, 31–45. Schäfer-Lichtenberger, Christa / Schottroff, Luise, Art. „Armut“, in: Frank Crüsemann u.a. (Hg.), Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009, 22–26. Schwantes, Milton, Das Recht der Armen, Frankfurt am Main 1977. Wengst, Klaus, Demut – Solidarität der Gedemütigten, München 1987. Wengst, Klaus, Das Regierungsprogramm des Himmelreichs. Eine Auslegung der Bergpredigt in ihrem jüdischen Kontext, Stuttgart 2010.

  Gerhard K. Schäfer

Armut in der Geschichte – Entwicklungen, Formen, Deutungen. Ein Überblick

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Einleitung: „Arme habt ihr immer bei euch“

Annäherungen an Erfahrungen mit Armut in der Geschichte können für die Wahrnehmung von Armut in der Gegenwart sensibilisieren. Die Vielschichtigkeit der gegenwärtigen Armutsthematik ist wesentlich das Ergebnis geschichtlicher Entwicklungen. Kategorien, die sich in vergangenen Epochen zur Bestimmung von Armut herausgebildet haben, fließen in heutige Debatten ein. Deutungen von Armut gehören zu den Strukturen von langer Dauer. Sie wurzeln in spezifischen historischen Kontexten, wirken aber weit darüber hinaus und prägen gegenwärtige Einstellungen, Praxen und Semantiken mit. Kommen bei den historischen Betrachtungen Muster in den Blick, die auf aktuelle Armutsdebatten einwirken, so begegnen zugleich Vorstellungen, die uns fremd geworden sind. Es sind aber auch und gerade fremd gewordene Anschauungen, die helfen können, Konturen heutiger Diskussionen und Auseinandersetzungen schärfer wahrzunehmen. „Arme habt ihr immer bei euch“ (Mt 26,11) – was in Jesu Wort anklingt, war über die Jahrhunderte Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Armut war in der Antike, im Mittelalter und in weiten Teilen der Neuzeit ein allgegenwärtiges Phänomen. Im Folgenden werden im Sinne eines elementaren geschichtlichen Überblicks Entwicklungen der Armut dargestellt – von der nachbiblischen Zeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Signifikante Kontinuitäten und Veränderungen in der Realität wie in der Wahrnehmung und Deutung von Armut sollen nachgezeichnet werden. Dabei stehen abendländische bzw. europäische und deutsche Entwicklungen im Fokus.

26   2 Antike: Unterschicht und Abschaum

G.K. Schäfer 

„Ich verabscheue Arme“ – so lautet ein Graffito an einer Wand in Pompeii.1 Die Inschrift stammt wahrscheinlich von einem frustrierten Wirt. Er wollte damit wohl Arme, die zwar essen und trinken wollten, aber nicht genügend Geld zum Bezahlen hatten, vom Betreten seines Gasthauses abschrecken. Der Satz hat seinen Sitz im Leben in konkreten Erfahrungen des Wirts. Er weist aber zugleich darüber hinaus: In der heidnischen griechisch-römischen Antike galt Armut aus Sicht der reichen Oberschicht als selbstverschuldet und verachtenswert, lächerlich und hässlich. Armut war ein Kennzeichen der Unterschicht, zu der die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung zählte. Dabei ist zwischen zwei Grundformen von Armut zu unterscheiden. Anders als die deutsche Sprache vermag das Griechische den Unterschied zwischen dem, was wir als absolute und relative Armut bezeichnen, durch zwei Begriffe zum Ausdruck zu bringen. In einer Komödie des griechischen Dichters Aristophanes heißt es: „Der Lebensinhalt des ptochos ist es, nichts zu haben. Der des penes aber, sparsam zu sein und sich der Arbeit zu widmen; ihm bleibt nichts über, doch er leidet auch keinen Mangel.“2 Die allermeisten Menschen in der Antike gehörten zur Gruppe der penetes, der relativ Armen. Sie mussten hart arbeiten, um sich und ihre Familien mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen. Sie kamen normalerweise über die Runden, lebten aber zumeist von der Hand in den Mund. In Krisensituationen drohte ihnen das Abgleiten unter das Existenzminimum. Der Begriff ptochos bezeichnet diejenigen, die am Rand oder unter dem Existenzminimum leben. Sie leiden Hunger, haben nur Fetzen am Leib, sind ohne Unterkunft und ohne Perspektive. Für das Nötigste zum Leben sind sie auf die Hilfe anderer angewiesen. Sie betteln. Zu ihnen gehören auch chronisch Kranke und Behinderte wie Blinde, Lahme, Aussätzige. Die Bettelarmen standen auf der untersten Stufe der sozialen Skala. Sie galten als Abschaum. Die Freigiebigkeit Wohlhabender konnte etwa in öffentlichen Speisungen zum Ausdruck kommen, von denen auch Arme profitierten. Aber Arme und Bettler in besonderer Weise zu unterstützen, gehörte im antiken Griechenland und in Rom nicht zur sozialen Ethik.

1 2

Zit. n. Armut in der Antike, 8. Zit. n. Stegemann, Arm und reich, 352.

Armut in der Geschichte

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Urchristentum und Alte Kirche: Christus in den Armen

„Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer“ (Lk 6,20b) – so lautet ein biblischer Spitzensatz. Der Kontrast zu dem Graffito von Pompeii ist augenfällig. Der Sprache der Verachtung der Armen setzt die Bibel eine Sprache der Achtung entgegen. Die biblischen Vorstel3 lungen von Armut sind durchaus vielschichtig und spannungsreich. Sie sind aber allesamt durchzogen von der Zuwendung Gottes zu den Armen. Die Vielschichtigkeit des biblischen Verständnisses von Armut ermöglichte eine Anpassung an veränderte Situationen und die Interpretation neuer Phänomene. Soziologisch gesehen war die Jesus4 bewegung wesentlich eine „Bewegung von Armen für Arme“ . Für das Urchristentum des ersten Jahrhunderts kann Unterschichtzugehörigkeit verbunden mit relativer Armut als Normalzustand gelten. Für die Folgezeit waren insbesondere zwei Entwicklungen mit Blick auf die Armutsthematik von Bedeutung: Zum einen stießen mit der Zeit zunehmend auch Angehörige der oberen Gesellschaftsschichten zu christlichen Gemeinden. Damit wurde die Frage nach dem Verhältnis von Arm und Reich in den Gemeinden in hohem Maße virulent. Zum anderen potenzierten sich der wirtschaftliche Verfall im Römischen Reich des 3. Jahrhunderts und die Wirren der Völkerwanderung wechselseitig und führten zu einem breiten Prozess der Verelendung. Vor diesem Hintergrund prägten die griechischen und lateinischen Kirchenväter Kategorien, die in der Geschichte der Armut über tausend und mehr Jahre hinweg immer wieder zur Geltung gebracht wurden. In Predigten treten unterschiedliche Aspekte ländlicher und städti5 scher Armut hervor. Bittere Armut in ländlichen Gebieten war vor allem die Folge von Dürren und Missernten. Basilius der Große (ca. 329–379) schildert z.B., wie während einer Hungersnot die Hungernden in ihrer Verzweiflung sogar ihre eigenen Kinder verkauften, während die Spekulationspraxis der Reichen die Hungersnot noch verschärfte. Kennzeichnend für die städtische Armut war das Nebeneinander von absolut Armen (ptochoi), die zum Betteln gezwungen waren, und armen Arbeitern, die durch körperliche Arbeit ihre Existenz sichern mussten (penetes). In Predigten des Johannes Chrysostomus (ca. 350–407) wird zugleich anschaulich, dass die „relativ“ Armen etwa 3

Vgl. den Beitrag von Jürgen Ebach in diesem Band, 13ff. Stegemann, Arm und reich, 360. 5 Vgl. die Predigten von Gregor von Nazianz, Basilius und Johannes Chrysostomus, in: Schäfer (Hg.), die Menschenfreundlichkeit Gottes, 39–104. 4

28 G.K. Schäfer    im Winter, wenn sie kaum Chancen hatten, als Tagelöhner eingestellt zu werden, rasch an den Rand des Existenzminimums gerieten. Von der unfreiwilligen ist die freiwillige Armut zu unterscheiden. In der Geschichte des Christentums formte sich schon früh eine radikale Armutsfrömmigkeit aus. Dabei wurde Reichtum, der an die „Welt“ fesselt, prinzipiell kritisiert. Reiche haben keinen Zugang zur Welt Gottes, so der nordafrikanische Kirchenvater Tertullian (ca. 160–220). Basilius wie Chrysostomus stellten das Recht auf Privateigentum grundsätzlich in Frage. Sie verstanden die Gütergemeinschaft als naturgemäße, in der Bestimmung des Menschen zur Gemeinschaft gründende Wirtschaftsform. Beide schärften die Sozialbindung von Besitz und Vermögen ein. Beide drangen auf einen sozialen Ausgleich zwischen Arm und Reich. Vor allem im Mönchtum fand die Armutsfrömmigkeit ihren sozialen, geschichtsmächtigen Ausdruck. Der Mönch lebt nach der Armut Christi in freiwilliger gewählter Armut und ist verpflichtet, sich den unfreiwillig Armen zuzuwenden. Die grundsätzliche Kritik am Reichtum, die mit der Armutsfrömmigkeit verbunden war, konnte sich auf eine wörtliche Auslegung der Geschichte vom reichen Jüngling (Mk 10,17–27 par) stützen. Dagegen vertrat Clemens von Alexandrien eine allegorische Deutung dieses neutestamentlichen Textes. Nicht die Armut als solche hat eine religiöse Qualität, und nicht der Reichtum als solcher versperrt den Zugang zum Reich Gottes. Entscheidend ist vielmehr die innere Haltung: Wer seinen Reichtum als Gabe Gottes versteht und den materiell Armen davon abgibt, ist „arm im Geiste“ (Mt 5,3) und kann Gottes Heil gewinnen. Die Tendenz, Armut zu spiritualisieren, begegnet auch bei Augustin (354–430) dem großen Kirchenvater im Westen. Die Armen, die Jesus seligpreist, sind diejenigen, die Gott in Demut verehren. Arm und demütig sind für Augustin bedeutungsgleich. Für die theologische Deutung der Armut und der Armen kam dem Gleichnis vom großen Weltgericht (Mt 25,31–45) großes Gewicht zu. In denen, denen es am Lebensnotwendigen fehlt, ist Christus selbst gegenwärtig. Damit kommt den Armen eine einzigartige Würde zu. Zugleich entscheidet sich am Umgang mit den Armen das Gericht am Ende der Zeit. Daraus konnte sich ein universales Hilfeethos entwickeln, das Valerian (†460/1), Bischof im südlichen Gallien, pointiert auf den Punkt gebracht hat: „Warum musst du untersuchen, ob jener Bittende Christ oder Jude, ob er Ketzer oder Heide, ob er Römer oder Barbare, ob er Freier oder Sklave ist? Wo Not lastet, da ist es unnötig, über die Person zu diskutieren: Damit du nicht, wenn du Unwürdige von der

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Armut in der Geschichte 6

Barmherzigkeit fernhältst, zugleich Gottes Sohn wegschickst.“ In seiner Interpretation des Gleichnisses vom Weltgericht hebt Valerian im Übrigen auch hervor, dass die Armen nicht nur Empfänger von Hilfe sind, sondern selbst bei größter Armut auch etwas zu geben haben. Sie können z.B. für andere beten. Eine andere Haltung nahm z.B. der Mailänder Bischof Ambrosius (339–397) ein: Angesichts der Gefahr, dass „starke“ umherziehende Bettler kirchliche Unterstützung missbräuchlich in Anspruch nahmen und damit die Mittel für die „wirklich“ Armen aufzehrten, rief er dazu auf zu prüfen, ob Bittsteller tatsächlich bedürftig seien. Daraus entwickelte sich die Unterscheidung von arbeitsfähigen und arbeitsunfähigen und deshalb unterstützungswürdigen Armen. 4

Frühes Mittelalter – Mächtige und Arme

„In diesem Jahr bedrängte eine große Hungersnot fast ganz Gallien. Denn viele bereiteten aus Traubenkernen und Haselblüten, einige aus getrockneten und zu Staub gemahlenen Wurzeln des Farnkrauts, denen sie etwas Mehl beimischten, das Brot. […] Es gab auch viele, die überhaupt kein Mehl hatten, verschiedene Kräuter sammelten und aßen, davon anschwollen und umkamen. Sehr viele nämlich siechten damals aus Hunger dahin und starben. Gewaltig plünderten zu jener Zeit die Kaufleute die Bevölkerung […]. Die Armen nahmen die Knechtschaft auf sich, damit sie auch ein wenig Nahrung erlangten.“7

So schildert Gregor von Tours (538–594) die Folgen der Hungersnot, die 585 in Gallien wütete. In dem Bericht spiegeln sich grundlegende gesellschaftliche Veränderungen. Nach dem Ende des Römischen Reichs im Westen (476) verfiel die antike Stadtkultur. Armut war fortan Begleiterscheinung und Resultat der agrarisch geprägten Gesellschaft. Äußere Ursachen – die häufigen kriegerischen Auseinandersetzungen, Pestepidemien und Missernten – führten zu krasser Armut. Immer mehr rechtlich freie, aber in ihrer Existenz bedrohte Bauern sahen sich gezwungen, sich in die Schutzherrschaft Mächtiger zu begeben. Im Zuge dessen wurde ein in den Strukturen der Feudalgesellschaft verankerter Begriff von Armut vorherrschend. Mächtig (potens), nicht reich (dives), kristallisierte sich zunehmend als Gegensatz zu arm (pauper) heraus. Wirtschaftliche Armut und Bedürftigkeit blieben weit verbreitet. Charakteristisch aber wurde ein soziales Verständnis von Armut. Arm, das bedeutete, abhängig, machtlos und 6

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Valerian, Homilia 7, 715. Gregor von Tours, zit. n. Scholz, Die Merowinger, 166f.

30 G.K. Schäfer    nicht angesehen zu sein. In Krisenzeiten rekrutierten sich die materiell Notleidenden (indigentes) aus den „sozial“ Armen (pauperes). In Predigten wurde Armut als von Gott auferlegte und in Demut hinzunehmende Lebenslage gedeutet. Zugleich wurde die Hilfe für die Armen als Pflicht der Kirche und jedes Christenmenschen beharrlich eingeschärft. Synoden forderten von weltlichen Machthabern Barmherzigkeit und appellierten – mehr oder weniger erfolgreich – an Grafen und Richter, das Recht der Geringen zu wahren. Dass das Eintreten für die Armen in der Praxis auch für die Bischöfe, die „Väter der Armen“, nicht immer selbstverständlich war, zeigt ein Beschluss der Synode von Mâcon (585). Die Synode sah sich genötigt, den Bischöfen zu verbieten, Unglückliche durch Hunde von ihrem Haus vertreiben lassen. 5

Hohes Mittelalter – arm unter Armen 8

„Nackt dem nackten Christus folgen“ – nach diesem Grundsatz traten seit der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert radikale Armutsbewegungen auf den Plan, die auf gesellschaftliche Veränderungen und die veränderte Realität der Armut reagierten. Zwischen 1100 und 1300 verdoppelte sich die europäische Bevölkerung von 25 auf 50 Millionen. Die Stadtkultur blühte wieder auf. Die Geldwirtschaft verdrängte die Naturalwirtschaft. Es vollzog sich eine „kommerzielle Revolution“. Wirtschaft und Handel erlebten einen ungeheuren Aufschwung. Im Zusammenhang damit entstanden neue Formen von Armut. An die Stelle des frühmittelalterlichen Gegensatzes von arm und mächtig trat der von arm (pauper) und reich (dives). Neu war das Phänomen der „fleißigen“ Armut. Die neuen Armen auf dem Land und in den Städten waren Menschen, die arbeiteten, ohne vom Ertrag ihrer Arbeit den Lebensunterhalt sichern zu können. Das Vordringen der Geldwirtschaft führte auf dem Land zu einer erheblichen Differenzierung in der Bauernschaft. Die wirtschaftlich schwächeren Bauern verarmten und sanken zum ländlichen Proletariat herab. In den Städten entstand die neue Schicht der Lohnarbeiter. Abhängig von den Unternehmern und zumeist unqualifiziert, lebten sie ständig am Rand des Existenzminimums. Ein Tageslohn entsprach weniger als 1000 Kalorien – wesentlich weniger, als für eine normale Ernährung notwendig war. Die in Mittel- und Westeuropa immer wieder aufflammenden Hungersnöte verstärkten die Wirkungen der gesellschaftlichen Veränderungen. Armut breitete sich epidemisch aus. Die Reaktionen darauf waren unterschiedlich: 8

Der Satz geht auf Hieronymus zurück.

Armut in der Geschichte

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Erstens: Arme brachen mit der „Zivilisation“, flohen in die Unzugänglichkeit der Wälder zurück oder zogen vagabundierend durchs Land. Andere schlossen sich den Kreuzzügen an – und wurden oft genug von den Rittern dem Verderben preisgegeben. Wieder andere scharten sich in der Erwartung gesellschaftlicher Veränderung um charismatische Führer oder revoltierten in Hungersnöten – und wurden in ihren Hoffnungen zumeist bitter enttäuscht. Zweitens: Der „kommerziellen“ entsprach eine „karitative“ Revolution. Sie wurde wesentlich getragen vom „Mitleid des gemeinen Mannes“ (Ernst Schubert). Das Almosengeben wurde zu einem Massenphänomen. Die Wohltätigkeit erlangte eine bislang nicht gekannte Intensität. Zahllose karitative Stiftungen wurden von Bürgern ins Leben gerufen.TestamentarischeVerfügungen zugunsten von Armen nahmen zu. Drittens: Um die Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert traten Eremiten auf, die eine gegenüber dem frühen Mittelalter radikal veränderte Sicht auf die Armut und die Armen vertraten. Robert von Abrissel (1045– 1106) z.B. rief zu einem Leben in evangelischer Armut auf. Er lebte wie die Armen, kleidete sich wie sie, erarbeitete sich das, was er zum Leben brauchte, mit seinen eigenen Händen. Tausende von Anhängern schlossen sich ihm an – darunter besitzlos gewordene Bauern, Leprakranke und Prostituierte, aber auch adlige Frauen, die in einer gewalttätigen Zeit neue Gemeinschaftsformen suchten. Der aus der Bretagne stammende Robert trat für die Überwindung der ständischen Unterschiede ein. Ätzend scharf kritisierte er kirchliche Amtsträger und weltliche Machthaber: „Die Gelehrten, Bischöfe, Äbte und Priester, alle haben ihr Amt gekauft. Die weltlichen Fürsten sind ungerecht, raffgierig, ehebrecherisch und inzestuös […]. Das Land wur9 de in Blut getränkt“ . Robert steht exemplarisch für eine Bewegung, die die Würde und Integrität der Armen betonte und von der herablassenden Hilfe für Arme zum Leben unter und mit den Armen überging. Diese Anliegen wurden rund 100 Jahre später unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen von den Bettelorden aufgenommen und weitergeführt. Das Thema Armut war insbesondere für den von Franziskus von Assisi (1181–1226) gegründeten Bettelorden identitätsstiftend. Franziskus beschloss, als „Nackter dem nackten Gekreuzigten“ nachzufolgen und der „Herrin Armut“ zu dienen. Der Verzicht auf Besitz war für den Mann aus Assisi Ausdruck von Freiheit. Die leitenden Vorstellungen des Franziskus und seiner Bewegung bedeuteten eine dezi9

Robert von Abrissel, Brief an Ermengarde, 25.

32 G.K. Schäfer    dierte Absage an die aufkommende Geldwirtschaft und eine radikalkritische Reaktion auf die sich verschärfenden sozialen Gegensätze. Das Armutsgebot ist durch ein absolutes Geldverbot verschärft. Jede Stellung, die Machtausübung in sich schließt, wird abgelehnt. Als „Mindere“ sind die Brüder zu einem Leben mit den Ärmsten und Aussätzigen verpflichtet. Viertens: Im Zusammenhang der skizzierten Entwicklungen war Armut Gegenstand intensiver theologischer Debatten. Dabei wurde mit Bezug auf die Kirchenväter die Pflicht eingeschärft, die irdischen Güter zu teilen und Almosen zu geben. Dem korrespondierte das Recht der Armen auf Almosen. Neben äußerst differenzierte Almosentheorien trat eine populäre Heilsökonomie. Danach prägten Vorstellungen des Tauschs und des Vertrags das Geben und Empfangen von Almosen. Dabei erhält jeder, was ihm besonders mangelt. Der Reiche ist verpflichtet, seine weltlichen Güter mit dem Armen zu teilen. Als Gegenleistung hat der Empfänger eines Almosens für das Seelenheil des Wohltäters zu beten. Das Almosen brachte einerseits die Standesunterschiede zum Ausdruck und zementierte sie. Wer Almosen gab, demonstrierte damit, dass er sich dies leisten konnte. Andererseits ermöglichte die Vertragstheorie eine gesellschaftliche Integration der Armen. Wies die Ökonomie des Seelenheils den Armen eine gesellschaftliche Funktion zu, so stärkte die Anschauung, die im Armen Christus selbst präsent sah, die religiöse Hochschätzung der Armut und der Armen. Die Armen hatten damit Teil an der Würde der Armut Christi. Dies kommt auch darin zum Ausdruck, dass die Wendung Arme Christi (pauperes Christi) nicht mehr nur – wie ursprünglich – auf die in freiwilliger Armut lebenden Mönche, sondern auf alle Armen bezogen wurde. 6

Spätmittelalter: „starke“ Bettler und „gute“ Arme

„Mancher treibt Bettel in solchen Jahren, / wo jung er ist, stark und gesund / und werken könnte jede Stund‘, / nur daß er sich nicht gern mag bücken, / ihm steckt ein Schelmenbein ihm Rücken / […] Bettler beschissen jetzt alle Land‘“.10

So beschreibt Sebastian Brant in seinem 1494 erschienenen Narrenschiff den „starken“, betrügerischen Bettler. Im Wechselspiel von Armutsrealität und Armutsbewertung bildete sich seit Mitte des 14. Jahrhunderts das Stereotyp des lästigen, Furcht einflößenden und unwür10

Brant, Das Narrenschiff, 125f.

Armut in der Geschichte

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digen Armen heraus. Gewiss, die Verpflichtung jedes Christen zur Gabe von Almosen galt weiterhin. Und dass es „gute“ Arme gab, die Hilfe verdienten, wurde durchaus anerkannt. Aber die religiöse Hochschätzung der Armen als pauperes Christi wurde zunehmend verdrängt durch die Figur des hässlichen und kriminellen Armen. Unterschiedliche Faktoren haben zu diesem folgenreichen Wandlungsprozess beigetragen: Die Schwarze Pest, die von 1348 bis 1350 das gesamte Abendland erfasste, stellt in der Armutsgeschichte eine einschneidende Zäsur dar. Man schob Armen und Bettlern die Schuld an der Pest zu und diffamierte sie – wie die Juden – als Brunnenvergifter. Zugleich allerdings verbesserte sich nach der Pestwelle infolge der Knappheit an Arbeitskräften und des Anstiegs der Löhne die finanzielle Lage der „fleißigen“ Armut für wenige Jahre, bevor Pest und Hunger, Revolten und Kriege sowie Probleme der Wirtschaftskonjunktur und der Sozialstruktur die Lage der Armen wieder drastisch verschärften. Revolten und Unruhen waren mit sozialen Forderungen verbunden. Dies führte dazu, dass sämtliche Arme als potenzielle Aufrührer gebrandmarkt werden konnten. Die grassierende ländliche Armut führte zu Landflucht. Armut konzentrierte sich in massiver Weise in den Städten. Während die Massenarmut stieg, verloren die Bettelorden an Glaubwürdigkeit. Zweifel am religiösen Wert der Armut waren geweckt und wuchsen. Schließlich förderte humanistisches Gedankengut mit seinem Lobpreis von Arbeit und Erfolg, Wohlergehen und Rationalität zwar städtische Sozialreformen, trug aber auch dazu bei, die Würde der Armen zu untergraben. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung dominierte das Bild des lästigen, bedrohlichen, betrügerischen Armen. Gleichwohl gab es Stimmen, die sich gegen eine pauschale Verachtung und Ausgrenzung der Armen wandten. Der Straßburger Münsterprediger Geiler von Kaysersberg (1445–1510) z.B. stellte den Wert des Reichtums in Frage, kritisierte vor allem die „reichen Wucherer“ scharf und forderte den Rat der Stadt auf, die „kräftigen“ Bettler zur Arbeit anzuhalten und die zur Arbeit unfähigen, „anständigen“ Armen zu unterstützen. „Gott 11 hegt übergroße Liebe zu den Armen“ – diesen Grundsatz verband Geiler mit dem Appell, die Armut in Geduld und in Erwartung himmlischen Lohns zu ertragen. Der Figur des „starken“ Bettlers und „unwürdigen“ Armen stellte Geiler das Bild des ehrbaren und unterstützungswürdigen Armen gegenüber.

11

Geiler von Kaysersberg, Armut und Reichtum, in: Schäfer (Hg.), Die Menschfreundlichkeit Gottes, 148–155: 155.

34 G.K. Schäfer    7 Frühe Neuzeit – Unterstützung der Bedürftigen und Ausgrenzung oder Disziplinierung der „unehrenhaften“ Armen „Es ist gewiss eines der größten Bedürfnisse, dass alle Bettelei abgeschafft würde in der ganzen Christenheit. Es sollte jedenfalls niemand unter den Christen betteln gehen. Es wäre auch leicht eine Ordnung darüber zu machen, wenn wir den Mut und Ernst dazu täten, nämlich, dass jede Stadt ihre armen Leute versorgte und keine fremden Bettler zuließe, sie hießen, wie sie wollten, es wären Wallfahrtsbrüder oder Bettelorden.“12

Martin Luther (1483–1546) forderte 1520 die politisch Verantwortlichen auf, Ordnungen zu schaffen, die den Bettel dadurch schlicht überflüssig machen sollten, dass die wirklich Bedürftigen ausreichende Unterstützung erhielten. Luthers Haltung in der Armutsthematik stand im Zusammenhang mit einem breiten Strom von Bestrebungen zur Reform der Armenpflege. Seit den 1520er Jahren führten zunächst etwa 60 mittel- und westeuropäische Städte und danach auch Staaten eine Reform der Armenfürsorge durch – auf dem Hintergrund einer großen europäischen Krise: Die Diskrepanz zwischen dem Wachstum der Bevölkerung und dem Mangel an Nahrungsmitteln in Folge wiederkehrender Missernten wurde zunehmend gravierender. Landstreicherei wuchs zu einem Massenphänomen an. Da die Depression auch den Handel und die Industrie erfasste, reduzierten die Städte die Arbeitsmöglichkeiten. In Bauernaufständen und städtischen Revolten kamen soziale Verwerfungen zum Ausdruck. Im Zuge der neuen Armutspolitik wurden die Unterscheidungen zwischen Armen, Bedürftigen und Bettlern verfeinert und systematisiert. Die Differenzierung zwischen „würdigen“ und „unwürdigen“ Armen, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts und darüber hinaus Geltung hatte, verlief entlang der Kriterien Arbeitsfähigkeit und Arbeitswille bzw. Müßiggang einerseits sowie einheimisch und fremd andererseits. Die spätmittelalterliche Kriminalisierung der „starken“ Bettler, Müßiggänger und Vagabunden gewann an Schärfe. Forderungen und Pläne einer allgemeinen Einschließung insbesondere der „unwürdigen“ Armen wurden zwar nie in großem Maßstab verwirklicht; als nutzlose Individuen ohne Lebensrecht wurden aber Müßiggänger und Vagabunden im Laufe der Zeit mit immer schwereren Strafen belegt. Die Zucht- und Arbeitshäuser, die sich nach Anfängen im England des 16. Jahrhunderts auf dem Kontinent ausbreiteten, entwickelten sich zu Anstalten, in denen – nach einem brandenburg-preußischen Edikt

12

Luther, An den christlichen Adel, 214.

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Armut in der Geschichte 13

von 1687 – das „liederliche [...] Bettelgesindel“ Arbeit angehalten wurde.

diszipliniert und zu

In der frühen Neuzeit lassen sich vier Gruppen von Armen bzw. Typen von Armut unterscheiden. Dabei liegt ein engerer Begriff von Armut zugrunde: Als arm gilt, wer grundlegende Lebensbedürfnisse wie Essen, Kleidung und Unterkunft nicht aus eigener Kraft befriedigen kann. Der erste Typus von Armut umfasst die strukturell Armen, d.h. die Bedürftigen, die in Normalzeiten nicht in der Lage waren, für das aufzukommen, was zum Leben notwendig war. Diese Art von Armut war gesellschaftlich anerkannt. Entsprechend erhielten die Betroffenen Unterstützung. Die zweite Gruppe bilden die konjunkturell Armen, d.h. die Unterschichten, die in Krisenzeiten Gefahr liefen, in die Bedürftigkeit abzusinken. Als dritte Gruppe kommen Menschen in Betracht, deren Armut gesellschaftlich nicht anerkannt war: Personen, die als arbeitsfähig galten, aber nicht als arbeitswillig, die „unehrenhaften“ Armen und „falschen“ Bettler. Sie hatten keinen Anspruch auf Unterstützung und glitten meist in die Nichtsesshaftigkeit ab. Während diese Menschen aufgrund von Armut heimatlos geworden waren, kamen die „Zigeuner“, die vierte Gruppe, als Fremde nach Europa. Sie blieben von der gesellschaftlichen Fürsorge ausgeschlossen. In einem weiteren Verständnis konnte als arm gelten, wem es an den Gütern mangelte, die für ein standesgemäßes Leben als notwendig erachtet wurden. Schätzungen zufolge gehörten am Ende des Spätmittelalters und in der Frühen Neuzeit in den Städten 50 bis 60 % zu den Unterschichten, die über sehr wenig oder kein Vermögen verfügten, und ca. 20 % lebten am Rand des Existenzminimums oder in absoluter Armut. Ca. 80 % der mittel- und westeuropäischen Bevölkerung der Frühen Neuzeit lebte auf dem Land. Bis 1800 gehörten davon 50 bis 80 % zu den „unterbäuerlichen“, die konjunkturelle Armut verkörpernden Schichten. Sie waren gezwungen, ihren Lebensunterhalt überwiegend oder ganz außerhalb einer eigenen Landwirtschaft zu verdienen, und kombinierten dabei zumeist verschiedene Tätigkeiten je nach den sich bietenden Gelegenheiten – als Tagelöhner bei Bauern, saisonale Erntearbeiter oder Handwerker. Der Anteil der „ehrbaren“, unterstützten Armut lag in den Städten zwischen 5 und 10 % und auf dem Land bei ca. 10 %. Das Ausmaß der mobilen Armut ist schwer einzuschätzen. Für das Deutschland des 18. Jahrhunderts schwanken die Schätzungen der 13

Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, 159.

36 G.K. Schäfer    Vagierenden zwischen 2 und 10 % der Bevölkerung. In Normalzeiten dürfte der Anteil bei etwa 3 % gelegen haben. In konjunkturellen Krisenzeiten schwoll der Strom derer regelmäßig an, die sich gezwungen sahen, aus den ländlichen oder städtischen Unterschichten in ein Leben in Nichtsesshaftigkeit zu wechseln. Die Deutung und Bewertung von Armut und die Frage nach entsprechenden Reaktionen waren Gegenstand intensiver Debatten: Martin Luther verwarf mit seiner Rechtfertigungslehre den Verdienstgedanken, der traditionell mit dem Almosen verbunden war. Er predigte den extrem armen, auf einem geliehenen Esel daher kommenden Christus, dessen Botschaft die auf Gott vertrauende, „hertzliche“ Armut entspricht und die auf die Beseitigung der Ursachen der Armut und die Unterstützung der „rechten“ Armen, d.h. der arbeitsunfähigen Krüppel, Witwen, Waisen, Greise und Aussätzigen, dringt. Den biblischen Satz, dass „allezeit Arme bei euch“ sind (Mt 26,11), verstand Luther nicht fatalistisch, sondern gerade als Gebot, der Armut nachhaltig entgegenzuarbeiten. Er förderte die Ausarbeitung von neuen Armenordnungen energisch. Zugleich begünstigte die protestantische Hochschätzung der Arbeit den Druck auf die Armen. Auf katholischer Seite stand die Auseinandersetzung um die „moderne“ Armutspolitik im Zentrum der Diskussion. Juan Luis Vives (1492– 1540) hatte die Reform der Armenfürsorge in seinem berühmten Traktat „De subventione pauperum“ programmatisch umrissen. Auf der Basis der biblischen Schriften entfaltete der Humanist die maßgeblichen Grundsätze der sozialen Verantwortung des Magistrats sowie der Arbeitspflicht und entwickelte in Bezug auf die Armenhilfe differenzierte Kriterien. Vives’ Vorschläge und die entscheidenden Prinzipien der Reform des Armenwesens wurden von dem spanischen Dominikaner Domingo do Soto (1494–1560) hinterfragt. Im Namen der Caritas, der unbedingten Nächstenliebe, verteidigte er die Almosenpraxis. Er wandte sich gegen das Bestreben der Behörden, zwischen richtigen und falschen Bettlern zu unterscheiden, ebenso wie gegen Versuche, die Armen mit kirchlichen Mitteln zu disziplinieren. Der Benediktiner Juan de Robles (1492–1572) hingegen stellte ausdrücklich die zu stärkende Rolle des Staates bei der Armenfürsorge heraus und legitimierte die von der spanischen Krone propagierten Disziplinierungsmaßnahmen. Die Auseinandersetzung über die Prinzipien der Armenpolitik blieb offen bis ins 17. Jahrhundert, in dem repressive Maßnahmen gegen die Armen eindeutig die Oberhand gewannen.

Armut in der Geschichte

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Erste Hälfte des 19. Jahrhundert – Pauperismus und neue Erklärungen von Armut

„Pauperismus ist ein neuerfundener Ausdruck für eine höchstbedeutsame und unheilvolle Erscheinung, den man im Deutschen durch die Worte Massenarmut oder Armentum wiederzugeben versucht hat. Es handelt sich dabei nicht um die natürliche Armut, wie sie als Ausnahme infolge physischer, geistiger oder sittlicher Gebrechen oder zufälliger Unglücksfälle immerfort einzelne befallen mag […]. Der Pauperismus ist da vorhanden, wo eine zahlreiche Volksklasse sich durch angestrengteste Arbeit höchstens das notdürftigste Auskommen verdienen kann, auch dessen nicht sicher ist“.14

So gab der Brockhaus von 1846 den Begriff des Pauperismus wieder, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der englischen Sprache erschien. Er wurde rasch zu einem Merkmal für die erste Hälfte dieses Jahrhunderts, die durch ein enormes Anwachsen der Unterschichten und der Armut charakterisiert ist. Pauperismus bezeichnet das von den Zeitgenossen bewusst wahrgenommene Phänomen der Massenarmut. Der in Deutschland insbesondere in den 1830er und 1840er Jahren grassierende Pauperismus fand in der Sicht vieler Zeitgenossen seinen zugespitzten Ausdruck im Aufstand der schlesischen Weber 1844. Die heutige Forschung sieht das Zusammentreffen von Krisenerscheinungen alten, vorindustriellen Typs mit solchen der aufkommenden Industrialisierung als Ursache für den Pauperismus an. D.h., die Auswirkungen der Bevölkerungsvermehrung bei stagnierender Produktivität und Missernten einerseits sowie erster neuartiger gesamtwirtschaftlicher Rezessionsphänomene andererseits verstärkten sich wechselseitig. Hingegen waren die zeitgenössischen Ursachenbestimmungen höchst unterschiedlich und umstritten. In den Debatten ging es nicht mehr in erster Linie darum, die gesellschaftliche Plage des Bettels zu beseitigen, sondern den Pauperismus als Massenphänomen zu erforschen und zu erklären. An die Stelle herkömmlicher religiöser Deutungen von Armut traten vor allem ökonomische Erklärungsansätze. In die „wissenschaftlichen“ Deutungen mischten sich aber auch quasireligiöse Motive. Thomas Robert Malthus (1766–1834) führte in seinem „Essay on the Principle of Population“ („Essay über das Bevölkerungsgesetz“) 1798 die Massenarmut auf die Bevölkerungsvermehrung und vor allem auf den Überschuss der Arbeiterbevölkerung zurück. Naturgesetzlich – so seine These – klaffen die Bevölkerungsentwicklung und die Nahrungsmittelproduktion auseinander, sodass der Prozess der Verelen14

Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie, Bd. 11, 15.

38 G.K. Schäfer    dung unausweichlich ist. Malthus sah in der Massenarmut ein für die gesellschaftliche Stabilität gefährliches Phänomen, ohne einen Ausweg aus der „Bevölkerungsfalle“ zu sehen. Während Malthus einem grundsätzlich statischen Verständnis von Gesellschaft verhaftet blieb, entwickelte der Marquis de Condorcet (1743–1794) einen umfassenden Fortschrittsbegriff. Er proklamierte eine Zukunft ohne Armut, eine Idee, die früher undenkbar war. Sein säkularer Gegenentwurf zu christlichen Hoffnungsbildern basierte auf der Vorstellung, dass der steigende Gebrauch der Vernunft und zunehmende Bildung zu einer stetigen Verbesserung der Lebensbedingungen führe. Condorcets Gesellschaftsentwurf war durch einen unbegrenzten Gestaltungsoptimismus geprägt. Rund 50 Jahre nach dem Erscheinen von Malthus’ Essay analysierte Friedrich Engels (1820–1895) „Die Lage der arbeitenden Klassen in England“ (1845). Er sah in der Malthusschen Bevölkerungstheorie die „offenste Kriegserklärung der Bourgeoisie gegen das Proleta15 riat“ . Er betrachtete die frühe Industrialisierung mit ihrer Umstellung von der Handarbeit auf Maschinen als Ursache für die Massenarmut. Engels beklagte die Recht- und Machtlosigkeit sowie die schonungslose Ausbeutung der Proletarier durch die Klasse der Bourgeoisie und prophezeite einen umfassenden Krieg der Armen gegen die Reichen. Der Staatswissenschaftler Bruno Hildebrand (1812– 1878) kritisierte im Jahr 1848 das romantische Bild, das Engels von der vorindustriellen Welt der Heimarbeiter gezeichnet hatte. Er vertrat die These, dass nicht das Vorhandensein, sondern gerade das Feh16 len moderner Fabrikindustrie größte materielle Not bewirkte. Dagegen knüpfte Karl Marx (1818–1883) unmittelbar an die Schrift Engels an. Die von Engels beschriebene Realität des industrialisierten England bot Marx Anschauungsmaterial für die allgemeine Analyse des Kapitalismus. Für den Kapitalismus ist nach Marx kennzeichnend, dass „die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol […] zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegen17 pol“ bedeutet.

15

Engels, Die Lage der arbeitenden Klassen, 493. Vgl. Abel, Massenarmut, 305 f. 17 Marx, Das Kapital, 675. 16

Armut in der Geschichte

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Noch einmal: „Arme habt ihr immer bei euch“

„Das Ziel ist nicht, alle Armen zu entfernen […]. Das Ziel muß sein, 18 die allezeit bei uns seienden Armen recht zu pflegen.“ Johann Hinrich Wichern (1808–1881) hielt die Vorstellung, dass es keine Armen mehr geben könne, für illusionär. Vielmehr müsse es darum gehen, das Maß des Elends so weit als möglich zu reduzieren. Aufgeschreckt durch die Armut vor allem der Kinder der großstädtischen Unterschicht Hamburgs mobilisierte er Kräfte der Hilfe. Dies mündete 1848, dem Jahr der deutschen Revolution, in die Gründung der Inneren Mission, der Vorläuferin der heutigen Diakonie. Gottes Liebe zu den Armen fand in Wicherns Wirken ihren spezifischen Ausdruck. Dabei knüpfte er an traditionelle vormoderne Vorstellungen an, wenn er zwischen der „gesegneten“ und der „schamlosen“ Armut unterschied. Wie Pestalozzi wollte Wichern die Kinder aus armen Verhältnissen zu einem Leben in gesegneter Armut erziehen. Er führte materielle Not vor allem auf die Glaubenslosigkeit und Entsittlichung des Einzelnen zurück. Fragen nach strukturell verursachter Armut traten dagegen zurück. Die von Wichern in vieler Hinsicht innovativ und organisatorisch effektiv gestaltete Hilfe für die Armen hatte auch die Funktion, das Proletariat ruhigzustellen und radikale gesellschaftliche Veränderungen zu verhindern. Ein halbes Jahrhundert nach der Gründung der evangelischen Inneren Mission wurde von katholischer Seite der Deutsche Caritasverband ins Leben gerufen. Das Armutsthema stand dabei deutlich im Fokus. In der wachsenden Industriegesellschaft war am Ende des 19. Jahrhunderts der Anteil der bleibend auf Unterstützung angewiesenen Armen stark zurückgegangen. Auch die von Bismarck eingeführten Sozialversicherungen hatten zur Reduzierung von Armut beigetragen. In diesem Zusammenhang betonte Lorenz Werthmann (1858–1921), der erste Verbandsvorsitzende, zwar die Bedeutung staatlicher Programme für die Bekämpfung der Armut, verwarf aber zugleich die These, Armut könne durch den Staat völlig beseitigt werden, als unrealistisch. „Arme habt ihr immer bei euch“ – dieser biblische Topos legitimiere nicht Armut, weise aber auf die Grenzen staatlicher Interventionen hin und eröffne der Caritas bleibende Aufgaben. Werthmann sah die soziale Bedeutung der Caritas vor allem darin, staatliche Aufgaben durch wertgebundene Hilfe zu ergänzen, die Gesellschaft für Armutssituationen zu sensibilisieren, „Pfadfinderin zu sein 19 für staatliche und gesetzgeberische Maßnahmen“ und als Trägerin 18 19

Wichern, Über Armenpflege, 34. Werthmann, zit. n. Maaser/Schäfer (Hg.), Geschichte der Diakonie, 296.

40 G.K. Schäfer    sozialer Versöhnung in einer zerklüfteten Gesellschaft zu wirken. Dabei schwingt – wie bei Wichern – das Ziel mit, sozialen Umsturzbestrebungen den Boden zu entziehen. Gleichwohl liegen in Werthmanns Überlegungen bleibende Aufgaben für ein armutssensibles christliches Engagement beschlossen. Literatur Abel, Wilhelm, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa. Versuch einer Synopsis, Hamburg / Berlin 1974. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände (Conversations-Lexikon), Bd. 11, Leipzig 1846. Armut in der Antike. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft, hg. Rheinisches Landesmuseum Trier, Trier 2011. Brant, Sebastian, Das Narrenschiff, Wiesbaden 2013. Engels, Friedrich, Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen (1845), in: Karl Marx / Friedrich Engels Werke, Bd. 2, Berlin 1980, 225–506. Fischer, Wolfram, Armut in der Geschichte. Erscheinungsformen und Lösungsversuche der „Sozialen Frage“ in Europa seit dem Mittelalter, Göttingen 1982. Geremek, Bronislaw, Geschichte der Armut. Elend und Barmherzigkeit in Europa, München 1991. Lepenies, Philipp, Armut. Ursachen, Formen, Auswege, München 2017. Luther, Martin, An den christlichen Adel deutscher Nation: Von des christlichen Standes Besserung, in: Martin Luther, Ausgewählte Werke, hg. v. Karin Bornkamm / Gerhard Ebeling, 1. Bd.: Aufbruch zur Reformation, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1982, 150– 237. Maaser, Wolfgang / Schäfer, Gerhard K. (Hg.), Geschichte der Diakonie in Quellen. Vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Neukirchen-Vluyn 2016. Marx, Karl, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, Buch 1: Der Produktionsprozeß des Kapitals, Karl Marx / Friedrich Engels Werke, Bd. 23, Berlin 1977. Mollat, Michel, Die Armen im Mittelalter, München 1984. Robert von Abrissel, Brief an Ermengarde, Gräfin der Bretagne. Lateinischer Text mit deutscher Übersetzung und Einleitung von Monika Prams-Rauner, Augsburg 2015. Sachße, Christoph / Tennstedt, Florian, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd.1: Vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg, 2. Aufl., Stuttgart u.a. 1998.

Armut in der Geschichte

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Schäfer, Gerhard K. (Hg.), Die Menschenfreundlichkeit Gottes bezeugen. Diakonische Predigten von der Alten Kirche bis zum 20. Jahrhundert (VDWI 4), Heidelberg 1991. Schäfer, Gerhard K., Geschichte der Armut im abendländischen Kulturkreis, in: Ernst-Ulrich Huster u.a. (Hg.), Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung, 3., aktualisierte u. erweiterte Aufl., Wiesbaden 2018, 315–339. Schneider, Bernhard, Christliche Armenfürsorge. Von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters. Eine Geschichte des Helfens und seiner Grenzen, Freiburg i. Br. u.a. 2017. Scholz, Sebastian, Die Merowinger, Stuttgart 2015, 166f. Stegemann, Wolfgang, Arm und reich in neutestamentlicher Zeit, in: Gerhard K. Schäfer / Theodor Strohm (Hg.), Diakonie – biblische Grundlagen und Orientierungen. Ein Arbeitsbuch zur theologischen Verständigung über den theologischen Auftrag (VDWI 2), Heidelberg 1990, 345–375. Valerianus Cemeliensis, Homilia 7. De misericordia, Patrologia Latina 52, 713–716. Wichern, Johann Hinrich, Über Armenpflege (1855/56), in: ders.: Sämtliche Werke, hg. v. Peter Meinhold, Bd. III/1, Berlin / Hamburg 1968, 21–70.

  Jan Bertram und Ernst-Ulrich Huster

Armut in Deutschland – Begriff, Betroffenheit und Perspektiven im Spiegel der Sozialberichterstattung

1

Sozialberichterstattung – von der Problemanzeige zur Routine?

Dass wir „Arme allezeit“ unter uns haben, verkündet Jesus kurz vor Beginn seines Leidenswegs (Mt 26,11). Die Sozialberichterstattung bzw. Armutsforschung kann dieses nur bestätigen. Die Geschichte zeigt immer wieder längere und auch kürzere Phasen von Armut, und nicht zuletzt versprechen Potentaten und politische Machtträger, Armut überwinden zu wollen. So geschehen und exemplarisch dokumentiert durch den berühmten Cyrus Zylinder aus Babylon aus dem 1 6. Jahrhundert vor Christi Geburt. Auch wenn man nicht so weit geschichtlich zurückgreifen will: Alleine die Zeit seit dem 1. Weltkrieg ist durch massive Armutsphasen gekennzeichnet. Das Ende verlustreicher Weltkriege, Flucht und Vertreibung und wirtschaftliche Einschnitte haben jeweils viele Menschen in Armut gestürzt. Die Zeit nach dem 2. Weltkrieg brachte zunächst große Not in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung, aber nicht nur da: Die von Deutschland bekämpften und ausgebeuteten europäischen Staaten rangen allesamt mühsam um einen Neuanfang. Amerikanische Finanzspritzen und der anziehende Weltmarkt als Folge des Koreakrieges brachten nicht nur Westdeutschland das sog. Wirtschaftswunder, sondern auch einen wirtschaftlichen Wiederaufstieg insgesamt in Westeuropa. Die Sozialleistungen wurden zwar erst zeitlich versetzt angehoben, aber mit der großen Rentenreform von 1957 und der Kriegsopfergesetzgebung 1963 konnte die größte Not überwunden werden. Die Zahl der Fürsorgeempfängerinnen und -empfänger pendelte sich bei ca. einer Million ein. Reformen in den 1970er Jahren verbesserten die soziale Lage gerade für bestimmte Problemgruppen (insbesondere 1

British Museum, Masterpieces, 210.

Armut in Deutschland

43 

Rentnerinnen), bis mit Einsetzen des wirtschaftlichen Strukturwandels Mitte der 1970er Jahre die Zahl der Arbeitslosen zunächst im Jahresdurchschnitt auf 1 Million, dann auf 2 Million und mit Herstellung der deutschen Einheit schließlich auf fast 5 Millionen hochschnellte. Es waren zunächst die Kommunen bzw. kommunale Zweige der Zivilgesellschaft, die die Folgen dieser Entwicklung dokumentierten. Erste kommunale Armutsberichte waren vor allem Arbeitslosen- und Sozialhilfeberichte. Durch die Einbindung von Sozialverbänden, Gewerkschaften und Kirchen in diesen Prozess aber gingen einige Berichte bereits darüber hinaus. Es wurden materielle und vor allem auch immaterielle Folgen von Arbeitslosigkeit und Armut dokumentiert. Parallel dazu gingen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler daran, diese Entwicklung systematischer zu analysieren und auch die Verwaltungs- und Gewährungspraxis von Leistungen im Rahmen der Mindestsicherung kritisch zu bewerten. Dieses waren erste und wichtige Problemanzeigen, die dann in die Forderung nach einer kontinuierlichen regionalen und bundeseinheitlichen Armutsberichterstattung überführt wurden. Insbesondere der Bund weigerte sich lange Zeit, dieser Forderung nachzukommen. Stattdessen veröffentlichten einzelne Länder Sozialberichte, am intensivsten das Land NRW. Nachdem aus Kreisen der Wissenschaft zwei bundesweite Armutsberichte erstellt worden waren, setzte mit Beginn der rot-grünen Bundesregierung nach 1989 auch eine kontinuierliche nationale Sozialberichterstattung ein, nunmehr neben dem Bereich Armut auch den des Reichtums umfassend. Inzwischen sind insgesamt fünf Armuts- und Reichtumsberichte des Bundes veröffentlicht worden, der letzte 2017. Auch in einzelnen Bundesländern ist diese Berichterstattung kontinuierlich fortgesetzt worden, während die kommunale Berichterstattung eher rückläufig ist. Hinzu kommt dann noch die vierte Ebene, die Europäische Union, die im Rahmen der Offenen Methode der Koordinierung Beiträge zur Informationsvermittlung und zur Verständigung über Zielvereinbarun2 gen leistet. Es wird deutlich, dass Armut und soziale Ausgrenzung multidimensional und multifaktoriell verursacht sind, sodass eine umfassendere Berichterstattung sicher sinnvoll ist, gleichwohl bleiben aber die Handlungsimperative an integrierte Strategien zur Armutsüberwindung unklar: Die Berichte beschreiben Ausgrenzungstatbestände, be2

Best u.a., Armutsforschung, 34 ff.

44 J. Bertram und E.-U. Huster    schränken sich im Regelfall aber darauf, bereits erbrachte Anstrengungen zu deren Überwindung aufzuzählen, ohne integrierte und multidimensionale Strategien zu erarbeiten, die eine Verbindung zwischen den sozialpolitischen Handlungsträgern im Mehrebenen-Sozialstaat zielorientiert und nachhaltig implementieren helfen. Sozialberichterstattung ist auf allen vier Ebenen von den Kommunen bis hin zur Europäischen Union Routine – im doppelten Sinne: Sie muss nicht mehr erkämpft werden, sie hat aber auch nur mäßigen Einfluss auf eine Politik zur Artmutsbekämpfung – also doch: „Arme habt ihr allezeit bei euch“? 2

Das Maß der Armut

Aus sozialstaatlicher Perspektive ist eine kontinuierliche und extensive Messung der Armut Voraussetzung für sozialpolitische Interventionen. Zu diesem Zweck greift der Staat auf Indikatoren zurück, anhand derer sich Formen, Ausmaß und Strukturen von Armut quantifizieren lassen. Welche dies sind, d.h., auf welcher Berechnungsgrundlage Armut gesellschaftlich erfasst und definiert wird, ist im Diskurs zwischen politischen und sozialen Interessenträgern in Staat und Zivilgesellschaft nach wie vor umstritten. Dies mag wenig erstaunen, legt eine solche Definition doch fest, welche Mitglieder der Gesellschaft etwa Anspruch auf staatliche Leistungen haben und welchen Ansprüchen eine Absage erteilt wird. Zunächst wird grundsätzlich zwischen relativer und absoluter Armut unterschieden. Wer in absoluter Armut lebt, dessen physische Existenz ist aufgrund unzureichender Mittelausstattung unmittelbar bedroht. Diese Armut kann sich sowohl auf Nahrungsmittel und Behausung als auch auf die zum Überleben notwendige medizinische Versorgung beziehen. Laut der weit verbreiteten Definition der Weltbank gelten Menschen als absolut arm, die von weniger als 1,90 USDollar pro Tag leben müssen. Dies betrifft etwa 10 Prozent aller Menschen weltweit. Die Ausrichtung von sozialstaatlichen Interventionen in entwickelten Wohlfahrtsstaaten wie der Bundesrepublik orientiert sich jedoch nicht an einer absoluten Armutsgrenze, sondern an der Bestimmung relativer Armut, wenngleich Phänomene wie Obdachlosigkeit, fehlender Krankenversicherungsschutz und Tod durch Erfrieren einen Hinweis darauf geben, dass auch in Deutschland Formen absoluter Armut existieren. Relative Armut berücksichtigt nicht die konkrete Ressourcenausstattung des Individuums, sondern setzt diese in ein Verhältnis

Armut in Deutschland

45 

zum gesellschaftlichen Durchschnitt. Als arm gilt demnach, wessen Ressourcenausstattung so weit unterhalb des gesellschaftlichen Standards liegt, dass eine Teilhabe in hohem Maße eingeschränkt ist. Insofern bezieht sich eine solche Armutsdefinition immer auf das jeweilige geschichtliche und gebietsmäßige Umfeld des Individuums, welches als Berechnungsgrundlage herangezogen wird. Dies bedeutet, dass je nach sozialen und geschichtlichen Rahmenbedingungen bei gleichbleibender Mittelausstattung ein Mensch als arm oder auch als nicht arm gelten kann. Dabei geht es zunächst um Einkommen und Vermögen. Armut wird als die Abwesenheit von ökonomischen Mitteln betrachtet (Einkommensarmut). Einkommensarmut liegt dann vor, wenn das verfügbare Einkommen unterhalb einer fest definierten Grenze des gesellschaftlichen Durchschnitts liegt. Aus diesem Grund ist diese Form der Armut innerhalb einer Gesellschaft leicht zu erheben und der Sozialstaat kann darauf unmittelbar reagieren, etwa in Form von aufstockenden Sozialleistungen, um das Einkommen entsprechend der Armutsgrenze anzuheben. So kann etwa das Phänomen eingegrenzt werden, dass Menschen trotz Erwerbsarbeit arm sind („working poor“). Allerdings geht dieses Konzept von weitestgehend homogenen Bedürfnissen aus. Menschen mit Behinderungen, Pflegebedürftigkeit oder sonstigem 3 „Mehrbedarf“ können nicht angemessen berücksichtigt werden. Neben der grundsätzlichen Unterscheidung in relative und absolute Armut existieren weitere Konzepte zur Darstellung der individuellen und gesellschaftlichen Wohlfahrt; zu den etabliertesten zählt der von Otto Neurath, Kurt Grelling, Gerhard Weisser und Ingeborg Nahnsen entwickelte Lebenslagenansatz. Dieser fragt danach, ob und in welchem Umfang die Handlungsspielräume des Einzelnen bzw. sozialer Gruppen beeinträchtigt werden, und umfasst folglich sehr viel mehr Aspekte bzw. Dimensionen der individuellen und der sozialen Wohlfahrt. Dazu zählen neben dem Versorgungs- und Einkommensspielraum etwa auch die Wohnsituation, Ernährung, Bekleidung, Gesundheit und die kulturellen Möglichkeiten sowie insgesamt die Chancen 4 auf Teilhabe am politischen und sozialen Leben. Derartige Lebenslagenindikatoren werden seit dem Jahr 2005 jährlich etwa im Rahmen der freiwilligen Haushaltsbefragung „Leben in Europa“ in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union erhoben. Berücksichtigung finden dabei unter anderem die Erwerbs- und Einkommenssituation, die persönliche Lebenssituation, der Gesundheitszustand, körperliche 3 4

Hauser, Maß der Armut, 150 ff. Glatzer/Hübinger, Lebenslagen, 34 ff.

46 J. Bertram und E.-U. Huster    Aktivitäten sowie die Ernährung. Auf Grundlage solcher Indikatoren entsteht für die politisch Verantwortlichen ein Bild der tatsächlichen Lebenslage der Bevölkerung, auf welches sozialpolitische Maßnahmen entsprechend ausgerichtet werden können. In der aktuellen Diskussion hat insbesondere der Befähigungsansatz von Amartya Sen an Bedeutung gewonnen. Dieser bildet auch die Grundlage für den „Human Development Index“ der Vereinten Nationen. Armut wird demnach nicht nur als unzureichende Ausstattung mit ökonomischen Mitteln verstanden, sondern im Kern dieses Konzepts steht die Frage nach dem, was ein gelingendes Leben ausmacht. Einkommen ist dabei nur ein Indikator neben weiteren wie etwa Gesundheit, Bildung, politische, ökonomische und soziale Chancen, Schutz gegen Kriminalität sowie das Vorhandensein von Informationsmöglichkeiten. Aus staatlicher Sicht stellen solch komplexe Indikatoren jedoch eine beträchtliche Herausforderung dar. Schließlich muss jeder Indikator messbar sein und es müssen jeweilige Mindeststandards festgelegt werden, um eine belastbare Armutsgrenze defi5 nieren zu können. Alle vorgestellten Konzepte zur Messung von Armut erfordern die Festlegung von Grenzwerten bzw. Mindeststandards, sei dies bei der Gesundheit, Ernährung oder beim Einkommen. Dabei wird unterschieden zwischen politischen Standards und Expertenstandards, die etwa von Sozialwissenschaftlern entwickelt werden. Im ersten Fall werden von demokratisch legitimierten politischen Organen, sei es administrativ für die Gewährung von Mindestsicherungsleistungen oder sei es zielorientiert zur Formulierung von politisch angestrebten 6 Zielgrößen, entsprechende Grenzwerte gesetzt. Beispiele für Expertenstandards sind demgegenüber etwa das Warenkorbmodell und das Statistikmodell. Das Warenkorbmodell beschreibt eine Zusammenstellung von möglichst repräsentativen Gütern des monatlichen Bedarfs. Der Vorteil dieser Berechnung besteht in der Berücksichtigung der Inflationsrate, da der Preis der Waren im Warenkorb ständig angeglichen wird. Dem Statistikmodell liegt eine umfangreiche Stichprobe zugrunde, die das Einkommen und die sonstige Lebenssituation von Haushalten miteinander vergleicht und anhand derer ein Grenzwert definiert wird, ab welchem Menschen als arm gelten. Das Warenkorbmodell war bis Ende der 1980er Jahre der politische Standard zur Berechnung der Sozialhilfe, erst in den 1990er Jahren hat sich das Statistikmodell als neuer politischer Standard durchgesetzt. Die Recht5 6

Sen, Ökonomie für den Menschen, 31 ff.; Best u.a., Armutsforschung, 48 ff. Hauser, Maß der Armut, 160 ff.

Armut in Deutschland

47 

mäßigkeit der Anwendung des Statistikmodells zur Berechnung der Regelsätze der Mindestsicherung wurde durch das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2010 bestätigt, wenngleich die Bundesregierung dazu verpflichtet wurde, den entsprechenden Bedarf von Bezugsper7 sonen realitätsgerecht und transparent herzuleiten. 3

Die Empirie der Armut

Das aus Steuern finanzierte Mindestsicherungssystem in Deutschland deckt seinem Anspruch nach die gesamte Bevölkerung im Fall von Hilfsbedürftigkeit ab. Die nachfolgende Tabelle gibt einen Überblick über die wichtigsten Mindestsicherungsleistungen nach Bevölkerungsanteilen. Im Jahr 2016 bezogen in Deutschland 9,5 Prozent aller Einwohner und Einwohnerinnen Leistungen der Mindestsicherung. Der Gesamtanteil der Bedürftigen hält sich dabei seit 2006 stabil. Der Anteil der Empfängerinnen und Empfänger von Grundsicherung für Arbeitssuchende ging in dieser Phase leicht zurück, während derjenige der Grundsicherung und der Hilfe zum Lebensunterhalt leicht anstieg. Bei Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ist ein deutlicher Anstieg im Jahr 2015 zu verzeichnen, der sich ab 2016 wieder leicht abschwächt. Die Daten berücksichtigen allerdings nur tatsächlich bezogene Leistungen. Es ist davon auszugehen, dass die Gesamtzahl höher liegt, da nicht alle Personen ihre Ansprüche geltend machen.

7

BVerfGE 2010.

48  

J. Bertram und E.-U. Huster 

Tabelle 1: Anteil von Bezieherinnen und Beziehern der Mindestsicherungsleistungen an der Gesamtbevölkerung in Prozent Jahr

Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II

Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII „Sozialhilfe“

Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen nach dem SGB XII „Sozialhilfe“

Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz

Alle Empfänger von Mindestsicherungsleistungen

2006

8,6

0,8

0,1

0,2

9,8

2007

8,3

0,9

0,1

0,2

9,5

2008

7,9

0,9

0,1

0,2

9,0

2009

7,9

0,9

0,1

0,2

9,1

2010

7,4

1,0

0,1

0,2

8,7

2011

7,1

1,0

0,1

0,2

8,4

2012

7,0

1,1

0,1

0,2

8,5

2013

7,1

1,2

0,1

0,3

8,7

2014

7,1

1,2

0,2

0,4

8,9

2015

7,1

1,3

0,2

1,2

9,7

2016

7,2

1,2

0,2

0,9

9,5

Quelle: Statistisches Bundesamt, Armut und soziale Ausgrenzung

Ob die Höhe der Mindestsicherungsleistungen in Deutschland tatsächlich ausreicht, um einem Leben in Armut vorzubeugen, ist umstritten. Insbesondere aus Kreisen der Wohlfahrtsverbände und der Gewerkschaften wird deren aktuelle Höhe als zu niedrig kritisiert. Teilweise wird vor diesem Hintergrund auf die Europäische Union hingewiesen, deren Grenzsetzung für Armut – je nach Haushaltsgröße – um bis zu 10 Prozent höher liegt als die Leistungen im Rahmen der Mindestsicherung in Deutschland.

49 

Armut in Deutschland Abbildung 1: Armutsrisikoquoten in Deutschland 20% 15% 10% 5%

1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016

0%

EVS

EU-SILC

Mikrozensus

SOEP

Quelle: Eigene Darstellung nach Hauser, Maß der Armut, 171 sowie Aktualisierung der entsprechenden Quellen

Die verschiedenen Datenquellen ziehen als Berechnungsgrundlage eine Definition heran, die Menschen dann dem Armutsrisiko ausgesetzt sehen, wenn ihnen weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen, nach Haushaltsgröße gewichteten Nettoeinkommens des entsprechenden Landes zur Verfügung stehen (Nettoäquivalenzein8 kommen). Die Europäische Union spricht deshalb von der Armutsrisikoschwelle, um zu dokumentieren, dass es sich hierbei um eine relative Grenzziehung handelt, nicht um eine absolute. An diese Grenzziehung schließen inzwischen alle größeren sozialstatistischen Modelle an. Allerdings differieren die einzelnen Datensätze bei ihren Erhebungsgrundlagen. Entscheidend aber ist die weitgehend parallel verlaufende Entwicklung. Abbildung 1 macht deutlich, dass das Armutsrisiko in Deutschland seit dem Ende der 1990er Jahre kontinuierlich ansteigt. Laut aktuellen Daten des Mikrozensus waren im Jahr 2016 15,7 Prozent der Bevölkerung davon betroffen.

8

Durchschnittlich meint hier den Median-Wert. Dieser teilt die obere Hälfte der Einkommen von der unteren Hälfte. Bei der Gewichtung nach Haushaltsgröße werden unterschiedliche Skalen verwendet (Alte und Neue OECD-Skala). Entscheidend ist: Mit wachsender Haushaltsgröße steigen nicht parallel die Ausgaben, sondern es entstehen Einspareffekte. Dieses drückt sich dann in differenzierten Wertgrößen für den Haushaltsvorstand (Wert 1) und weitere Mitglieder des Haushaltes aus (Werte variieren nach Alter und benutzter Skala von 0,7 bis 0,3). Diese Hinweise zeigen, dass die so berechnete Armutsrisikoschwelle in hohem Maße auf normativer Setzung beruht.

50 J. Bertram und E.-U. Huster    Den Daten des Statistischen Bundesamtes (vgl. Tabelle 2) lassen sich Informationen darüber entnehmen, welche Bevölkerungsgruppen ein besonders hohes Armutsrisiko aufweisen. Zunächst wird grundsätzlich deutlich, dass die Höhe sozialstaatlicher Leistungen in Deutschland nicht hinreichend dazu geeignet ist, Armut zu beseitigen. So sind 33,1 Prozent aller Alleinlebenden ohne Kinder laut EU-Definition von Armut gefährdet, obgleich sie bereits Sozialleistungsbezieher bzw. bezieherinnen sind. Insgesamt zeigt sich anhand der Tabelle 2 ein eher geringer quantitativer Einfluss des Geschlechts auf das Armutsrisiko. Entscheidend sind insbesondere die Haushaltszusammensetzung und der Bildungsstatus. So sind Alleinerziehende am häufigsten von Armut betroffen. Wachsen Kinder hingegen bei zwei Erwachsenen auf, so halbiert sich das Armutsrisiko. Menschen mit einem niedrigen Bildungsabschluss sind trotz Bezug von Sozialleistungen beinahe dreimal so häufig von Armut bedroht wie solche mit einem hohen Bildungsabschluss. Aus den Daten des Statistischen Bundesamtes wird deutlich, dass der deutsche Sozialstaat die Grundsicherungsleistungen deutlich erhöhen müsste, wollte er Armutsrisiken in Anlehnung an die EU-Armutsdefinition verhindern. Neben solchen definitorischen Erörterungen des „Existenzminimums“ von Menschen zeigen auch Einrichtungen wie etwa die Tafeln in Deutschland, dass viele Leistungsbezieher und bezieherinnen mit dem amtlich definierten Bedarf nicht in der Lage sind, ihr Leben zu bewältigen. Etwa 1,5 Millionen Menschen beziehen deutschlandweit Lebensmittel von den 934 Tafeln mit mehr als 9 2.100 Ausgabestellen. Dies ist ein klarer Hinweis, dass die aktuellen Regelsätze der Grundsicherung für einen erheblichen Teil der Leistungsbezieher und -bezieherinnen das physische Existenzminimum nicht gewährleisten. Dabei findet das sogenannte „soziokulturelle Existenzminimum“, das die Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben gewährleisten soll, noch gar keine Berücksichtigung. Wenn Regelsätze für die Deckung des täglichen Bedarfs zu gering ausfallen, stellt sich die Frage, wie damit zusätzlich Vereinsbeiträge, Musikunterricht oder Kinobesuche abgedeckt werden können. In der politischen Diskussion spielt jedoch eine wirksame Erhöhung der Regelsätze, etwa in Anlehnung an die Armutsdefinition der Europäischen Union, derzeit keine Rolle. Leistungserhöhungen sind lediglich an die Preisentwicklung und die Nettolöhne gekoppelt (zum 01.01.2018 steigt der ALG-II-Regelsatz für Erwachsene um 1,7 Prozent von 409 Euro auf 416 Euro). 9

Tafel Deutschland, Zahlen und Fakten.

51 

Armut in Deutschland

Tabelle 2: Verteilung der Armutsrisikoquote nach Geschlecht, Haushaltstypen und Bildungsstatus im Jahr 2015 Gegenstand der Nachweisung

Armutsgefährdungsquote vor Sozialleistungen

Armutsgefährdungsquote nach Sozialleistungen

Nach Geschlecht Frauen

26,0

17,4

Männer

24,2

15,9

Haushalte ohne Kind

23,6

19,2

Nach Haushaltstyp Alleinlebende ohne Kind

37,0

33,1

Haushalte mit Kindern

27,4

13,2

Alleinerziehende

52,2

33,7

Zwei Erwachsene mit Kind(ern)

22,9

10,4

ISCED 1 bis 2 (niedrig)

38,8

27,2

ISCED 3 bis 4 (mittel)

23,3

16,2

ISCED 5 bis 8 (hoch)

13,9

10,2

Nach Bildungsstatus

Quelle: Statistisches Bundesamt, Leben in Europa (EU-SILC), 23.

Die Sozialberichterstattung hat neben diesen wichtigen finanziellen Ressourcen inzwischen durchgängig auch weitere Dimensionen der Lebenslage im Fokus, so etwa den Bereich der Gesundheit, der Bildung, der Teilhabe am sozialen und politischen Leben. Immer noch gilt, dass sowohl die Teilhabe am Bildungswesen wie der gesundheitliche Status in einem hohen Maße von der sozialen Herkunft bzw. vom sozioökonomischen Status abhängen. Die Sozialberichterstattung hat sich hier inzwischen über den nationalen Rahmen international aufgestellt. Und auch der Gesundheits-Status wird nunmehr kontinuierlich national wie international erhoben und in Beziehung gesetzt zu sozioökonomischen Zusammenhängen. Und schließlich hat die Sozialberichterstattung auch Einzelgruppen im Blick. In ganz besonderer Weise hat sich die Sozialberichterstattung dem Problem Kinderarmut zugewandt, daneben neuerdings auch dem der Altersarmut. Es werden geschlechtsspezifische Differenzierungen bei Ursache, Fol-

52 J. Bertram und E.-U. Huster    gen und Strategien zur Überwindung betrachtet. Und schließlich werden einzelne besonders gefährdete soziale Gruppen verstärkt beobachtet, so etwa Personen mit akuten Versorgungsproblemen bei Wohnraum. Dass Armut die Möglichkeiten kultureller und politischer Teilhabe einschränkt, ist ebenfalls neuerdings verstärkt ein Aspekt der Sozialberichterstattung. 4

Politik: Wege in die oder aus der Armut?

Öffentlich wird kaum die Meinung vertreten, man wolle gezielt Armut in unserer Gesellschaft vermehren. Allerdings variieren die Wege hin zur Überwindung von Armut in einem hohen Maße. Dabei dient – explizit oder implizit – der Zustand materieller Abstufung sehr wohl als vorherrschendes Instrument, um Eigeninitiative und vermehrten Einsatz bei den unteren Einkommensgruppen anzuregen, einzufordern bzw. Armut und Not als Folge fehlenden individuellen Engagements darzustellen. Der Mindestsicherungspolitik kommt dabei eine zentrale Stellung zu. Denn ihre Höhe und Ausstattung ist keineswegs nur darauf ausgerichtet, die soziale Teilhabe des Einzelnen zu sichern, sondern sie hat eine verteilungspolitische Funktion, bestimmt sie doch letztlich auch das gesamte untere Einkommensgefüge bei Erwerbsarbeit. Denn mit steigendem Niveau der Mindestsicherung muss das Lohnniveau angehoben werden, ein Absinken der Mindestsicherung schafft Raum, die unteren Lohngruppen abzusenken. Dieser lange Zeit eher systematisch-analytisch betrachtete Zusammenhang wird inzwischen von der Politik offen eingestanden. Die sozialstatistischen Berechnungen des sogenannten soziokulturellen Existenzminimums belegen dieses augenscheinlich. Unsere Gesellschaft, die die freie Entfaltung des Einzelnen und die Abwehr staatlicher Bevormundung immer wieder unterstreicht, wendet unerbittlich Kontrolle und die Umkehr der Beweislast zu Lasten der Leistungsempfänger und -empfängerinnen an. Politik bekämpft dadurch weniger Armut, sondern vermehrt die Armen! Nicht erst hier, aber hier besonders, kommt der soziale Interessenbezug der Armutspolitik zum Tragen! Es sind mitunter gerade kirchliche Hilfseinrichtungen, die mit Beratung und Hilfestellung Schutzrechte vor Behörden und Gerichten geltend machen und erfreulicherweise auch in hohem Maße durchsetzen helfen. Dieses wurde insbesondere deutlich bei der großen Arbeitsmarktreform aus dem Jahr 2005. Der vernünftige Ansatz, Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zusammenzuführen und damit dem Missstand ab-

Armut in Deutschland

53 

zuhelfen, dass Arbeitslose je nach vorausgehender Positionierung im Erwerbsleben unterschiedlichen Mindestsicherungs-Systemen zugeordnet wurden, wurde gleichsam als Instrument von Beschäftigungspolitik ausgegeben. Die Arbeitsmarktreform brachte aber keinen einzigen neuen Arbeitsplatz, sondern verlagerte nur die Folgen von Arbeitslosigkeit verstärkt auf den Einzelnen. Zugleich wirkte die daran gekoppelte Mindestsicherungspolitik lohnsenkend: Inzwischen liegen mehr als ein Fünftel der Löhne in Deutschland im Niedriglohnbereich. Gleichzeitig wurde der Sektor prekärer Beschäftigung ausgeweitet. Dieses ist eine der Hauptursachen für das Ansteigen der Armutsrisikoquote in Deutschland. Auch hier werden soziale Interessen für eine stärkere Ungleichverteilung in der Gesellschaft vorherrschend, keineswegs aber Ansätze zur Überwindung von Armut. Eine einheitliche Armutspolitik ist nicht erkennbar. Am deutlichsten wird dieses im Bereich Kinderarmut. Obwohl bekannt ist, dass sich Armut intergenerativ weiter sozial „vererbt“ und dass die Folgen von Kinderarmut Auswirkungen auf das gesamte weitere Leben haben, gibt es zwar immer wieder politische Bekenntnisse zur Überwindung von Kinderarmut, aber keine in sich schlüssigen Konzepte. Einzelne politische Ebenen ergreifen Initiativen, diese werden aber in dem komplexen Gefüge, das für Kinderarmut verantwortlich ist, nicht ausund weitergeführt. Es gibt hier zwar Good-practice-Beispiele, aber keine umfassenden regionalen oder gar nationalen Ansätze. Dieses müsste auch sehr viel stärker die unterschiedlichen Strukturelemente berücksichtigen, die hier wirksam sind. Dabei geht es sowohl um das Zurverfügungstellen von Hilfestellungen auf zentraler Ebene (Aneignungsgelegenheiten), aber auch um Unterstützung beim Erkennen 10 und Adaptieren dieser Hilfen (Aneignungsfähigkeiten). Es bestehen erhebliche Steuerungsprobleme, sind doch ‒ nicht nur bei Kinderarmut ‒ Interventionen im Regelfall auf unterschiedliche politische Ebenen im gestuften Sozialstaat verteilt – inzwischen bis hin zur Europäischen Union. Damit sind schlüssige Strategien ebenso denkbar wie Asymmetrien und Ungleichzeitigkeiten. Dieses spiegelt sich in den Armutskonzepten und Armutsberichten von Anfang an wider. Dort, wo es eine Vielzahl von Akteuren gibt – öffentlich-rechtliche Gebietskörperschaften, freie Wohlfahrtspflege und andere Teile der Zivilgesellschaft ‒, variiert der Fokus des Armutsverständnis je nach Interessenlage. Die Offene Methode der Koordination auf der Ebene der Europäischen Union ist insofern ebenso konsequent wie in 10

Hessisches Ministerium für Soziales und Integration, 2. Hessischer Sozialbericht, 210 ff.

54 J. Bertram und E.-U. Huster    ihrer Wirkung begrenzt. Das Zusammenspiel der Akteure ist eben nicht voluntaristisch herstellbar, auch wenn es für armutsvermeidende oder gar armutsüberwindende Strategien unabdingbar ist. 5

Sozialberichterstattung als Ressource für Politik – von der Skandalisierung zur Operationalisierung bei der Armutsüberwindung

Stellte bereits die erste umfassende Darstellung der Gruppe Armut und Unterversorgung aus dem Jahr 1990 fest, man habe genügend Informationen, um eine bessere Armutspolitik betreiben zu können, so trifft dieses nunmehr erst recht zu. An die Stelle punktueller empirischer Daten sind nunmehr umfassende Informationen getreten. Armut wird an Defiziten bei multidimensionalen Ressourcen festgemacht ‒ also am Zusammenspiel defizitärer Ausstattungen bei verschiedenen Dimensionen des Lebens. Die Sozialberichterstattung ist aber nicht allein defizitorientiert. Insbesondere mit der Resilienzforschung und Wirksamkeitsstudien zu sozialen Diensten sowie der Stärkung des Präventionsgedankens bei der Armutsbekämpfung treten zunehmend auch die Ressourcen in den Blick, über die Menschen in Armut und sozialer Ausgrenzung häufig verfügen und die nutzbar gemacht werden können und müssen, um diesem Personenkreis einen Ausstieg aus Armut zu ermöglichen. Bleibt als Fazit: Armut ist und bleibt ein Skandalon einerseits, das nach politischen und zivilgesellschaftlichen Interventionen verlangt. Armut steht andererseits immer im Bezug zu nationalen und internationalen sozialen und politischen Interessen. Armut fragt nicht nur danach, wer unter ihr leidet, sondern immer auch nach dem cui bono, also wem sie nützt. Damit ist das Armutsverständnis gesellschaftspolitisch relevant und geht deutlich über die bloße Datenzusammenstellung hinaus. Hier greifen dann wirtschaftliche, soziologische und politologische Theorieansätze, denen die in den empirischen Daten sichtbar werdenden Auffassungen von Armut zugeordnet werden müssen. Erst aus ihnen ergeben sich dann Handlungsimperative – oder eben auch nicht. Literatur Best, Normann / Boeckh, Jürgen / Huster, Ernst-Ulrich, Armutsforschung: Entwicklungen, Ansätze und Erkenntnisgewinne, in: Ernst-Ulrich Huster u.a. (Hg.), 27–57.

Armut in Deutschland

55 

Britisch Museum (Hg.), Masterpieces of the British Museum, London 2014. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Armuts- und Reichtumsbericht. Aktuelle Indikatoren: Armutsrisikoquote, o.J., online: http://www.armuts-und-reichtumsbericht.de (Zugriff: 23.01.2018). Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Urteil des Ersten Senats vom 9.02.2010 zu den Regelsätzen, online: http://www.bundesverfas sungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2010/02/ls20100 209_1bvl000109.htm, (Zugriff: 01.12.2017). Glatzer, Wolfgang / Hübinger, Werner, Lebenslagen und Armut, in: Diether Döring / Walter Hanesch / Ernst-Ulrich Huster (Hg.), Armut im Wohlstand, Frankfurt am Main 1990, 31–55. Hauser, Richard, Das Maß der Armut. Armutsgrenzen im sozialstaatlichen Kontext – Der sozialstaatliche Diskurs, in: Ernst-Ulrich Huster u.a. (Hg.), Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung, 3. Aufl., Wiesbaden 2017, 149–178. Hessisches Ministerium für Soziales und Integration, 2. Hessischer Sozialbericht, Wiesbaden 2017. Huster, Ernst-Ulrich / Boeckh, Jürgen / Mogge-Grotjahn, Hildegard (Hg.), Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung, 3. Aufl., Wiesbaden 2017. Sen, Armatya, Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, 3. Aufl., München 2005. Statistisches Bundesamt, Armut und soziale Ausgrenzung. B 1 Mindestsicherungsleistungen, 2017, online: http://www.amtliche-sozial berichterstattung.de/B1mindestsicherungsquote.html (Zugriff: 23.01.2018). Statistisches Bundesamt, Leben in Europa (EU-SILC) – Einkommen und Lebensbedingungen in Deutschland und der Europäischen Union (Fachserie 15 Reihe 3, 13.03.2017), 23, online: https:// www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/EinkommenKonsu mLebensbedingungen/LebeninEuropa/EinkommenLebensbedingu ngen2150300157004.pdf?__blob=publicationFile (Zugriff 04.03.2018). Tafel Deutschland, Zahlen & Fakten, online: https://www.tafel.de/ ueber-uns/die-tafeln/zahlen-fakten (Zugriff: 23.01.2018).

 

 

2 Geschichten & Gesichter

 

  Bettina von Clausewitz

Alltagsgeschichten: ein Blick hinter die Statistik

Wie sieht Armut aus, jenseits von Zahlen, Daten, Fakten aus den Statistiken, die bei aller wissenschaftlichen Präzision doch nie den lebendigen Alltag der Betroffenen wiedergeben? Welche kleinen Extras kann sich etwa ein Nachtwächter aus der unterbezahlten SecurityBranche bei 10 Euro die Stunde leisten? Was inspiriert eine Künstlerin, ihren Traum von der unabhängigen Malerei im eigenen Atelier nicht aufzugeben, obwohl sie der sicheren Altersarmut entgegensieht? Und wieso ist ein Rentner in einer Behinderteneinrichtung nach 40 Jahren Werkstattarbeit zu arm, um seine Wellensittiche zu füttern? Berührende Details und viele andere Alltagsgeschichten finden sich in den folgenden fünf Interviews, die die Journalistin Bettina von Clausewitz für dieses Buch geführt hat. Sie hat Menschen getroffen, die bei allen Widrigkeiten ihres Lebens immer auch Lebenskünstler_innen sind. Menschen, die nachdenklich machen und viel zu erzählen haben. 1

Working Poor, arm trotz Arbeit: „Das ist alles ziemlich ungerecht“

Bundesweit arbeiten rund 250.000 Menschen in der Sicherheitsbranche, alleine 52.000 in NRW. Es ist eine Boombranche und gleichzeitig ein Niedriglohnsektor, in dem die Beschäftigten mit 10 Euro pro Stunde nur knapp über die Runden kommen: Working Poor, wie es heißt, Erwerbsarmut. Thomas K., Mitte 50, aus dem Düsseldorfer Raum, arbeitet seit seiner Berufsunfähigkeit als Betriebsschlosser Mitte der 90er-Jahre beim Objektschutz im Nachtdienst – als Nachtwächter, wie er sich selbst gern nennt. Sein gewerkschaftliches Engagement hat er beibehalten, untypisch für die Branche. Anonym will er trotzdem lieber bleiben. Sicher ist sicher. „Man fragt sich natürlich immer: Wie kann es sein, dass jemand einen Vollzeitjob macht und trotzdem kaum genug zum Leben hat? Aber die Antwort ist ganz einfach: Der Stundenlohn in der Wach- und Sicherheitsbranche ist einfach viel zu niedrig! Die Gewerkschaft hat zwar zehn Euro Stundenlohn ausgehandelt, aber das ist immer noch Niedriglohnsektor, auch wenn es über

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B. von Clausewitz 

dem Mindestlohn von 8,84 Euro liegt. Ich habe ja schon vor 25 Jahren, als ich noch gesund war und als Betriebsschlosser gearbeitet habe, wesentlich mehr verdient. In anderen Branchen liegen die Normallöhne mittlerweile bei 14 oder 16 Euro, die Sicherheitsmitarbeiter am Flughafen verdienen sogar 17 pro Stunde, einfach weil der Flughafen einen ganz anderen Stellenwert hat als unsere Arbeit. Als Nachtobjektschützer bin ich ganz am Ende der Reihe. Obwohl ich für die Sicherheit von Gebäuden und der Menschen dort zuständig bin. Ich sichere das Gebäude und sorge dafür, dass diejenigen, die dort noch arbeiten, sicher sind. Ich mache Kontrollgänge, sehe nach der Wassersicherheit, der Feuersicherheit und der allgemeinen technischen Sicherheit. Der späteste Arbeitsbeginn ist bei mir 23 Uhr und der früheste 19 Uhr, dann geht es bis 6 oder 8 Uhr morgens. Vom Arbeitsvertrag her bin ich verpflichtet, an wechselnden Objekten präsent zu sein, was gerade gebraucht wird. Das sind Bürohäuser, Gewerbeimmobilien und Produktionsstätten, meistens nur mit wenigen Leuten vor Ort. Kann sein, dass jemand auch noch bis ein Uhr nachts im Büro ist oder dass es Nachtschichten in einer Druckerei gibt oder dass man nur Schrankenwärter ist. Aber in den letzten Jahren sind immer mehr Computer im Einsatz, die Anforderungen sind gewachsen, nur die Löhne nicht. An vielen Objekten bin ich ganz eindeutig ein qualifizierter PC-bedienender Mitarbeiter, mit Gebäudeleittechnikrechner, Videoüberwachungsrechner, Brandmelde-PCs oder Einbruchmelde-PCs. Die muss ich alle bedienen können. Da ich schon seit 23 Jahren in dem Gewerbe bin, seit 1994, habe ich noch einen älteren Vertrag mit 48-Stunden-Woche. Das ist gut, denn dadurch kann ich mehr zuverdienen. Normale Verträge heute sind nur auf 173 Stunden monatlich ausgelegt. Mit Nachtzuschlägen kommt man auf knapp 1.900 brutto und muss um jede zusätzliche Stunde kämpfen. Dann kommen noch Sonntagszuschläge dazu, im Durchschnitt arbeiten Nachtwächter zwei Wochenenden pro Monat. Mit der Höchststundengrenze kommt man maximal auf 228 Stunden, also 2.400 Euro brutto. Einem Single bleiben dann rund 1.700, aber man hat keine Sicherheit, dass man mehr arbeiten darf als 173 Stunden. Warum ich als qualifizierte Fachkraft überhaupt hier arbeite? Bei mir war es so, dass ich ab meinem 35. Lebensjahr etwa gesundheitlich so beeinträchtigt war, dass ich nicht mehr als Betriebsschlosser tätig sein konnte. Das ist bei vielen in der Sicherheitsbranche so: Wir haben Metzger, Schlosser, einer war in der Verwaltung, wir haben abgebrochene Studierende; einer hat früher sogar mal Weltraumtechnik studiert. Viele sind eigentlich überqualifiziert, aber jeder hat seine Gründe, da zu sein. Daneben gibt es natürlich viele unqualifizierte Leute ohne Berufsausbildung. Und auch viele mit Migrationshintergrund, wir sind international. ,Wo sammeln sich die Lahmen und

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Kranken der Republik? – In der Pförtnerbude!ʻ, so isses doch. Das ist eine Wachleuteweisheit. Vom Wirtschaftsaufschwung kommt bei uns ganz eindeutig nichts an. Wir wissen, dass wir Niedriglohnsektor sind – 10 Euro! Die Inflation ist gestiegen und unsere Löhne nicht. Ich verdiene heute weniger als vor gut 20 Jahren. Ich bekomme weniger für mein Geld – als Vertrauensmann der Gewerkschaft verdi weiß ich das: Wir haben einen Reallohnverlust. Ich würde mich selbst nicht direkt als arm bezeichnen, aber ich bin im Niedriglohnsektor. Und viele Kolleginnen und Kollegen wissen, auch wenn sie jetzt noch gerade so über die Runden kommen, dass sie altersarm sein werden. Ihre Rente wird nicht viel mehr als Hartz IV sein. Meine auch. Ich habe nicht mehr als 850 Euro Rente zu erwarten. Das hängt auch mit einem Spezifikum unserer Branche zusammen. Wir sind auf Nachtzuschläge und Sonntagszuschläge angewiesen, aber die sind steuer- und sozialabgabenfrei, davon wird nichts in die Rente eingezahlt. Bei uns sagt man: ,Das ist ein vergiftetes Geschenk.ʻ Die Altersarmut ist vorprogrammiert. Ein normaler Nachtobjektschützer mit 10 Euro Stundenlohn, selbst wenn er das über Jahre macht, bekommt eine Rente zwischen Hartz IV und Arbeitslosengeld. Das würde ich arm nennen. Wer Familie hat, muss sich jetzt schon ziemlich einschränken. Wie viel einem bleibt, hängt auch davon ab, ob man in Urlaub fährt oder ein Auto hat. Manche sparen sich das Auto regelrecht vom Mund ab, das ist die Realität. Auch in anderen Niedriglohnsektoren. Besonders wenn sie Familie haben und was Größeres brauchen. Man muss bei allem immer auf die Preise gucken und auf jeden Cent achten. Bei mir als Single ist das nicht ganz so schlimm. Ich persönlich habe kein Auto und fahre auch nicht in Urlaub. Ich bleibe einfach hier, reisen ist mir zu teuer. Anderen fehlt das Geld dann im Alltag bei den Lebensmitteln, bei Anschaffungen, überall. Mein Hobby ist lesen, ich habe immer schon gerne Bücher gekauft und hab’ auch ziemlich viele. Als Nachtwächter hat man ja auch schon mal Leerlauf zum Lesen. Ein anderes Hobby sind Computer und Internet, das kostet nicht viel. Ich würde schon sagen, dass das alles ziemlich ungerecht ist, eine soziale Ausgrenzung. In der gesellschaftlichen Hackordnung sind wir ganz unten. Das merkt man auch daran, dass immer bei den Reinigungskräften, den Küchenkräften und den Nachtwächtern nach dem Fehler gesucht wird, wenn irgendwo im Betrieb was schiefgelaufen ist. Das ist meine Erfahrung der letzten 25 Jahre. Es gibt Kollegen, die dann lieber gleich von Hartz IV leben, weil ihnen diese Nachtschichten auf Dauer zu viel sind. Wenn ich eine Million im Lotto gewinnen würde, dann würde ich sicher auch aufhören zu arbeiten und nur noch meinen Interessen nachgehen. Vielleicht auf dem zweiten Bildungsweg studieren. Andere würden eher Urlaub machen und ein eigenes Häuschen bauen. Mich dagegen interessie-

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ren Bücher, historische oder sozialpolitische Themen. Aber wie es aussieht, werde ich wohl bis zur Rente weiterarbeiten, noch gut zehn Jahre etwa.“

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Kinderarmut – Kinderreichtum: „Die Kinder sind unser Schatz“

„Uns kennen hier sowieso alle“, sagen Sascha (32) und Natascha Dunker (28), denn die beiden fallen auf im wohlhabenden Essener Süden. Etwa wenn sie zu Fuß mit ihren fünf Kindern einkaufen gehen oder zum Bus, während andere ihre (Einzel-)Kinder mit dem SUV zum Ballett oder zur Reitstunde fahren. Manches Mal müssen die beiden sich im Supermarkt sogar gehässige Bemerkungen anhören. Trotzdem – oder gerade deshalb – haben sie nichts dagegen, ihren Namen in diesem Interview veröffentlicht zu sehen. Denn sie sind mächtig stolz auf ihre große Familie. Bald sind sie sogar zu acht – ein sechstes Kind ist unterwegs. Er: „Man kann auf jeden Fall sagen, dass wir zu diesen 20 Prozent in Deutschland gehören, denen es nicht so gut geht, auch wenn es der Wirtschaft wohl gut geht. Bei uns ist es so, dass wir einfach nicht das Geld haben, mit den Kindern mal was zu unternehmen oder ihnen was Schönes zu kaufen, man muss sich alles zusammensparen. Deshalb würde ich schon sagen, dass wir arm sind, auch wenn das in der Wohnung nicht so aussieht. Wir wohnen seit 2011 hier, Neubau, alles Sozialwohnungen vom Allbau (Essener Wohnungsunternehmen): Erdgeschosswohnung mit kleinem Garten, 96 Quadratmeter und vier Zimmer, hinten raus geht’s direkt zur Ruhr runter. Aber die Wohnungseinrichtung, das haben wir alles günstig gekauft. Das Regal hier war 10 Euro, die Kommode 30, die Couch haben wir uns zusammengespart, der Tisch war 5 Euro und alles andere wie die Betten oder so war oft über ebay-Kleinanzeigen geschenkt. Nur den großen Flachbildschirm, 55 Zoll, haben wir uns eisern zusammengespart, sechs Monate lang, 452 Euro, auch damit die Kinder nicht immer so dicht vor dem kleinen Bildschirm sitzen müssen. Das ist der einzige Luxus, den wir hier haben. Die Playstation hat meine Frau bei einem Gewinnspiel gewonnen. Aber zu Weihnachten gibt’s nix, nur für die Kinder. Was monatlich so reinkommt, kann ich Ihnen ganz genau sagen (sie schaut in ihren Ordner vor sich auf dem Tisch und präzisiert seine Angaben): Das sind knapp 1.900 Euro Hartz IV vom Jobcenter, weil ich ja in der Ausbildung zum Lageristen bin. Davon gehen 800 für die Miete ab, 80 für Strom, 60 für Versicherungen, 80 Essensgeld für die Kinder, also 60 für die drei in der KiTa und 20 für den Fin in der Schule, außerdem noch 48 für Telefon, 28 fürs Internet und 74,80 für die vergünstigten Fahrtkarten. Außerdem einmal im Monat 50 für meine Elektro-Zigaretten, dann komme ich klar mit dem Rauchen. Das Kindergeld wird angerechnet, davon bekommen wir nichts. Also bleiben uns für alles andere noch rund 600 im Monat.

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Ich arbeite zwar, aber das ist eine zweijährige Umschulung vom Jobcenter, Fachkraft für Lagerlogistik mit Prüfung vor der IHK. Ich würde gerne bald wieder richtig arbeiten und vom Jobcenter wegkommen. Zuletzt war ich 2010 bis Ende 2013 Haus- und Hofmeister bei der Weißen Flotte hier auf dem Baldeneysee, aber als ich einen doppelten Bandscheibenvorfall bekam, bin ich gekündigt worden, kurz vor Weihnachten damals. Vorher habe ich ausreichend verdient, da brauchten wir kein Jobcenter und konnten als Familie mit zwei Kindern ganz gut leben. Aber als ich länger krank wurde, hat sich das geändert, nach sechs Wochen Reha hatten wir plötzlich gar kein Geld mehr. Da mussten wir wieder zum Amt. Was uns am meisten fehlt, sind so Sachen wie Zoobesuche mit den Kindern oder irgendwohin fahren oder einfach nur ein Eis essen, das geht gar nicht. Deshalb verzichten wir eher bei uns selbst auf neue Sachen. Wir brauchen ja für die Kinder immer viel, weil alles so schnell kaputt geht, Hosen, Schuhe, Pullover. Meine eigenen Winterschuhe habe ich schon seit ...“ „Seit fünf Jahren“, ergänzt sie. Er fährt fort: „Meistens gucken wir in den günstigen Läden, wir haben jetzt gerade bei Deichmann für Natascha Winterschuhe für 8,97 Euro gekauft.“ Sie: „Eigentlich hätten die fast 40 gekostet. Die müssen jetzt wieder paar Jahre halten. Meine Brille darf natürlich auch nicht viel kosten, da muss man immer genau gucken, wo man die bekommt. Oder unsere Tochter würde gerne reiten gehen, aber das ist viel zu teuer. Für den Fußballverein reichen die 10 Euro monatlich vom Jobcenter für Sport, aber Tanzen, Reiten, Schwimmverein oder Ballett – keine Chance.“ Er: „Zur Zeit ist nur der Fin im Fußballverein, der Zweitälteste, unser Ältester wohnt in einer Wohngruppe vom Jugendamt und nicht bei uns. Zwei Kinder sind in der Grundschule, die sind 7 und 10, und drei im Kindergarten. Wir haben ein Mädchen und vier Jungs, die Nummer sechs wird dann wieder ein Mädchen, in ein paar Monaten. Wir sind schon ziemlich oft zusammen umgezogen. Hier im Essener Süden ist es schön, aber in so einer Gegend fällt man auch mehr auf als im Essener Norden. Es gibt schiefe Blicke, wenn man einkaufen geht: ,Guck mal, die Asozialen da.ʻ Meine Frau kriegt zu hören, dass sie ihre Kinder nicht vernünftig erzieht, die würden sich total daneben benehmen. Keine Ahnung, was die an uns stört, wir laufen ganz normal daher. Aber man muss im Laden natürlich auch öfter mal zu den Kindern sagen: ,Lass das liegen, das können wir uns nicht leisten.ʻ Ja, und? Ich brauche eben kein teures Steak für 50 Euro das Kilo! Warum teuer einkaufen, wenn’s auch günstig geht? Das machen die reichen Leute ja auch, die genau wie wir zu Aldi, Lidl oder Netto gehen. Wir wohnen einfach gerne hier, Schule, Kindergarten, das ist mehr so wie eine kleine Stadt und nah am Wasser.

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Ein Auto haben wir natürlich nicht. Das Jobcenter bezahlt mir auch keinen Führerschein. Deshalb brauche ich immer einige Zeit bis zur Arbeit in der Stadt. Das Geld hat nie für einen Führerschein gereicht. Ich bin mit 17 zuhause in Altenessen rausgeworfen worden. Dann hab ich mehr oder weniger auf der Straße gelebt und war in ganz Deutschland unterwegs, ungefähr vier Jahre lang. Bis ich meine Frau im September 2006 kennengelernt habe. Die hat mich mit nach Hause genommen und ihre Eltern haben mich wieder aufgepäppelt. Ich bin Jahrgang ’85, meine Frau ist Jahrgang ’89, damals waren wir 17 und 21 Jahre alt. – Wie wir uns kennengelernt haben? Auf der Kirmes! Ich bin mit Schaustellern rumgezogen und hab beim Auf- und Abbau gearbeitet.“ Sie: „Ich hab beim Autoscooter gesessen, und er ist mit der Herzchenbahn rumgefahren, mit dieser Raupe. Dann haben wir uns ein paar Mal getroffen und waren kurz bei seiner Mutter. Danach habe ich ihn erst mit nach Hause genommen und meine Eltern haben sich um ihn gekümmert.“ Er: „Erst habe ich dann meinen Hauptschulabschluss nachgemacht und dann Lagerlogistik gelernt, weil Gärtnerei nicht ging, ich hab eine Allergie. Ich wollte immer einen Beruf, wo man richtig anpacken kann, keinen Bürojob. Klar, dass man dann nicht so viel verdient, aber wenn Leute gut verdienen und dann sagen, mehr als zwei Kinder kann ich mir nicht leisten, das kann ich nicht verstehen. Man muss dann eben mal ein bisschen zurückstecken, nicht so teure Restaurants oder teurer Urlaub, das geht doch auch günstiger. Haben wir auch gemacht. Wir haben uns dieses Jahr Familienurlaub auf Ameland an der Nordsee zusammengespart, das war richtig schön! Die Diakonie hat für uns einen Antrag bei der Aktion Lichtblicke für Familien in Not gestellt ...“ Sie: „... dann mussten wir nur noch 570 Euro dazutun. Wir waren vom 26. Juli bis 6. August auf Ameland, knapp zwei Wochen, das war einfach toll! – Unser erster Familienurlaub. Auf der Insel hatte auch niemand was gegen so viele Kinder, die haben sich gefreut. Aber wenn die Kinder hier mal auf der Straße spielen, gibt’s immer gleich Ärger mit den Nachbarn, zu laut, die schreien rum, das ist doch asozial.“ Er: „Für uns sind Kinder das Schönste, was wir im Leben haben können. Man sieht sie groß werden und kann ihnen alles beibringen, was einem wichtig ist. Kinder gehören zum Leben, egal wie viele. Man kann sagen, das sind unsere Schätze –“ Sie: „Ja, genau!“ „– wir haben hier so viel Spaß zu Hause, daran kann man sich jeden Tag freuen. Wenn die angestürmt kommen und sich auf einen freuen. Dafür haben wir eben kein Auto und keinen Urlaub. Obwohl, ein Auto wäre schon schön –“ Sie: „Eins, wo alle reinpassen!“ Er: „Wenn wir im Lotto gewinnen würden, dann würden wir wahrscheinlich eine größere Wohnung kaufen, eine die uns gehört, –“ Sie: „Ein kleines Häuschen hier in Kettwig“ „– dann den Kindern was aufs Sparbuch tun,

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damit sie was für später haben. Und von dem restlichen Geld würden wir ganz normal weiterleben wie bisher. Geld würde mich nicht ändern. Das würde ich auch keinem auf die Nase binden –“ Sie: „Dann hast du plötzlich mehr Freunde, als du gucken kannst.“ Er: „Genau, falsche Freunde, die brauchen wir nicht.“

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Altersarmut: „Ich will nicht dauernd danke sagen müssen“

Einen Flohmarktbummel hat sie schon lange nicht mehr gemacht und auch die Zeitung muss sich die knapp 70-jährige gelernte Lebensmittelverkäuferin aus Essen fast vom Munde absparen. Denn mit ihrer kleinen Rente und der staatlichen Grundsicherung kommt sie nur knapp über die Runden; hinzu kommt eine schwere Gehbehinderung, sodass sie auf den Rollator angewiesen ist. Altersarmut, ja, aber sie ist stolz auf ihre Unabhängigkeit und ihre gemütliche Balkonwohnung. „Finanziell gesehen fehlt es bei mir eigentlich überall. Man muss sehr sparsam sein und genau überlegen, was man kauft. Ob man das überhaupt braucht, wenn man was Schönes sieht: Deko-Sachen zum Beispiel – ich sammle ja so gerne – oder ein Kleidungsstück. Da sag ich mir dann: ,Nein, stopp, das kann ich mir nicht leisten!ʻ So ab 30, 40 Euro ist absolut die Grenze. Ein Wintermantel, Stiefel, da muss ich vorher genau überlegen, wo ich das hernehme. Was man jetzt hier in meiner Wohnung sieht, hab ich alles angeschafft, als ich noch berufstätig war. Ich habe viele alte Glaskaraffen in den Vitrinen und geschliffene Gläser, meistens vom Flohmarkt oder geschenkt bekommen. Und Engelsfiguren habe ich auch viele, draußen im Flur und eine ganze Wand im Schlafzimmer. Das meiste habe ich vor 30 Jahren ungefähr gesammelt, da bin ich jede Woche auf den Flohmarkt. Aber heute ... Ich bekomme ja nur gut 200 Euro Rente und knapp 700 Grundsicherung vom Sozialamt. Wenn alles bezahlt ist, habe ich noch 250 Euro zur Verfügung, in guten Monaten und wenn sonst nix Besonderes anliegt. Von den 900 muss ich 370 Miete zahlen für zweieinhalb Zimmer mit Küche, Bad und einem großem Balkon, aber hier fühle ich mich auch richtig wohl. Dann kommen monatlich noch 25 Euro Telefon dazu, Versicherung, Heizung und Strom natürlich, die Zeitung auch, aber Internet hab ich nicht. Die Rundfunkgebühr hab ich frei. Und ein Busticket muss ich auch nicht mehr bezahlen, weil ich einen Schwerbehindertenausweis habe. Das sind dann nur einmal im Jahr 70 Euro. Die Zeitung, das ist so ein richtiger Luxus für mich. Ich hatte sie schon mal abbestellt, aber dann kam eine Werbung: drei Wochen für 10 Euro, und

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danach bin ich doch wieder dabei geblieben: 35 Euro im Monat! Man ist das so gewohnt, morgens die WAZ zum Kaffee lesen, das war immer so, da komm ich nicht von los. Rauchen habe ich mir schon lange abgewöhnt, sonst erlaube ich mir vielleicht mal ein Gläschen Wein, sonst nichts. Aber was mir richtig schwer fällt, ist, dass ich keine schönen Dinge mehr kaufen kann, ein neues Kleid oder Schuhe, daran spare ich und auch am Essen. Wenn ich nicht jeden Freitag Lebensmittel von der Essener Tafel holen würde, dann könnte ich mir gar nichts anderes mehr leisten. So ist wenigstens mal ein Blumenstrauß drin. Ich gehe auch alle vier Wochen zum Frisör, sonst kann ich mich selbst nicht leiden. Bei mir muss das Haar schön kurz sein, ein Bürstenschnitt. Das ist auch praktisch, weil ich die Haare dann mit links machen kann. Ich hab eine Prothese im Arm. Außerdem bin ich vor vier Jahren an der Wirbelsäule operiert worden, seitdem hab ich 90 Prozent Schwerbehinderung. Jetzt muss ich immer mit Rollator laufen, ohne geht’s fast gar nicht mehr. Dabei bin ich eigentlich gerne flott unterwegs, so umherkriechen ist nichts für mich. Das kommt auch vom Beruf früher. Im Geschäft musste man immer flott sein. Ich bin gelernte Lebensmittelverkäuferin, Obst und Gemüse, aber auch Fisch. Weil ich zweimal verheiratet war, habe ich lange ausgesetzt. Das war in den 70ern und danach. Oder ich hab so unter der Hand gearbeitet – darum hab ich jetzt so wenig Rente. Ich bin zweimal geschieden, Witwenrente gibt’s also auch nicht. Mein Sohn ist seit 20 Jahren tot, sonst habe ich niemanden mehr, der mich unterstützen kann. Wenn ich gesundheitlich fit wäre, würde ich auf jeden Fall weiter arbeiten gehen, allein schon, um unter Leute zu kommen, aber das geht leider, leider nicht mehr. Über eine Bekannte habe ich letztes Jahr Kontakt zur Essener Tafel bekommen, dort hole ich mir jetzt jeden Freitag Lebensmittel für die Woche: Brot, Käse, Wurst, Gemüse, Obst, der ganze Einkauf für einen Euro. Die fragen, was man braucht, und dann bekommt man, was sie davon gerade haben. Manches ist schon abgelaufen, aber vieles auch nicht. Bei Obst und Gemüse bin ich natürlich verwöhnt, aber ich krieg Kartoffeln, Suppengrün, Salate, alles frisch meistens, und die Leute sind auch sehr nett. Man kann natürlich nicht mit Einkaufszettel da hingehen, aber es gibt alles, was man braucht. Weil ich den Einkauf nicht alleine tragen kann, kommt immer jemand vom Stadtteilservice der Diakonie und bringt die Sachen mit zu mir nach Hause, das hilft sehr. Anfangs war es nicht einfach, zur Tafel zu gehen, aber jetzt hab ich mich dran gewöhnt. Ansonsten habe ich es am liebsten, wenn ich alles selbst machen kann. Ich nehme nicht gerne jemanden in Anspruch, nur wenn es gar nicht anders geht. Eine Bekannte hilft mir schon mal beim Gardinen abnehmen und wieder aufhängen, wenn die in die Wäsche müssen. Aber finanziell hilft mir keiner. Meine Bekannten und Nachbarn wissen, dass ich zur Tafel gehe. Da sagt

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aber niemand: ,Du bist arm, mit dir wollen wir nichts mehr zu tun haben.ʻ Die finden das okay. Ich will auch keine fremde Hilfe, dann muss ich immer ,Dankeʻ sagen. Nee! Da bin ich lieber sparsam und genügsam und komm allein über die Runden. Man kann schon sagen, dass ich mittlerweile zur Lebenskünstlerin geworden bin. Am Monatsanfang, wenn das Geld kommt, hole ich erstmal das Wichtigste für den Haushalt: Waschpulver, Putzzeug, Hygieneartikel, mal ein Duschgel. Und am Monatsende muss ich an die Reserven gehen. Dann hole ich die eingefrorenen Reste raus, Gemüse, Fleisch oder Suppen. Aber ich sage immer: ,Ich bin zufrieden, ich komme zurecht.ʻ Schließlich muss ich ja nicht hungern. Ich habe ein Dach überm Kopf, eine schöne Wohnung mit Blick in die Gärten und ich bin schön eingerichtet – was will ich noch mehr? Es kann natürlich sein, dass ich irgendwann hier raus muss. Aber am liebsten würde ich so lange selbständig sein, wie es geht. Wenn ich im Lotto gewinnen würde, dann würde ich erstmal was beiseitelegen, aber ich würde bestimmt hier wohnen bleiben. Das Einzige, was ich mir neu anschaffen würde, wäre eine Superküche mit modernsten Geräten und allem Drum und Dran, Backofen auf Augenhöhe und so – das wäre mein Traum. Und ich würde mich neu einkleiden. In der Wohnung habe ich vor gut zehn Jahren erst alles neu gemacht, das gefällt mir noch. Aber ich würde jetzt nicht anfangen, Taxi zu fahren oder viel zu reisen. Vielleicht mal über den Rhein fahren, aber ich bin kein Urlaubstyp, am wohlsten fühle ich mich zu Hause. Ich brauche gar nicht so viel.“

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Armut in der Künstlerszene: „Ich lebe meine Utopie“

Künstlerarmut – schon im 19. Jahrhundert hat der Maler Carl Spitzweg diesem Phänomen mit seinem Bild „Der arme Poet“ ein weltberühmtes Denkmal gesetzt. Angesichts moderner Sozialsysteme ein Phänomen der Vergangenheit, könnte man meinen. Aber das stimmt nicht. Nach wie vor leben viele Menschen in künstlerischen Berufen am Existenzminimum. So wie die hier porträtierte Berliner Malerin (64), ehemals Meisterschülerin an der Hochschule der Künste. Sie lebt lieber von wenig Geld mit vielen Nebenjobs, als staatliche Unterstützung zu beantragen und ihr geräumiges Atelier in Kreuzberg aufzugeben. „Ich lebe meinen Traum“, sagt sie, „und das hat seinen Preis“. „Nach der gängigen Vorstellung bin ich natürlich arm. Wenn’s gut läuft, habe ich gerade mal 1.000 Euro im Monat. Das ist für Berlin irre wenig, Wohnungen sind teuer, Heizung, Strom. Ich habe hier viel Licht, das ich für meine Malerei brauche – also geht ein Großteil meiner Einnahmen für die Wohnung drauf. Meistens fahre ich Fahrrad, weil ich mir kein Monatsticket

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leisten kann. Ich kaufe auch ganz viel Kleidung second hand, das macht mir gar nichts. Nur für Wäsche und Schuhe geht Geld drauf, da brauche ich was Gutes. Die Frage ist doch: Was ist dir wichtig im Leben? Ich brauche halt kein Designersofa, kein Auto oder teure Klamotten. Was ich brauche, ist ein großer, heller Raum zum Arbeiten und die Sicherheit, dass ich meine Miete zahlen kann. Wenn ich das schaffe, fühle ich mich wohl. Ich habe unglaublich Glück hier und zahle nur 420 Euro für 75 Quadratmeter mit Riesenfenstern: Eine sonnige Parterrewohnung zum Innenhof mit Blick in den Garten – das ist ein kleines Wunder für mich. Ansonsten bin ich schon seit langem bei der Künstlersozialkasse. Ich war eine der ersten, als sie 1983 gegründet wurde, sonst hätte ich die Krankenkasse und Sozialversicherung all die Jahre gar nicht finanzieren können. Was ich mir aber leider nicht leisten kann, sind Bücher. Ich lese leidenschaftlich gerne. Romane, Sachbücher, alles. Dafür gehe ich dann in die Bibliothek. Ab und zu gibt’s Bücher, die ich gerne selbst haben will, die wünsche ich mir von Freunden zum Geburtstag. Was ich mir auch leiste, obwohl es richtig hart ist, sind Kunstbücher, die sind teuer, sogar die kleinen. Ansonsten ist Urlaub natürlich etwas, was ich mir überhaupt nicht leisten kann. Letzten Sommer war ich nur mal eine Woche bei einer Freundin in Bremen, war völlig verregnet leider. Von der Malerei allein kann ich natürlich nicht leben. Deshalb habe ich mir immer schon Minijobs gesucht, seit Beginn meiner Freiberuflichkeit 1984. Mittlerweile ist das unglaublich schwer, weil ich nichts gelernt habe außer Malerei. Und alt bin ich jetzt auch – 64! Ich habe viel Erfahrung im Catering. Zurzeit habe ich da einen regelmäßigen Job für 450 Euro in der Küche und mache schöne kleine Leckereien. Da hab ich auch Glück gehabt. Ich liebe Schönes und esse gern gut. Daneben habe ich noch einen Putzjob: ein Treppenhaus einmal pro Woche. Und ich betreue einen älteren Nachbarn mit Einkaufen und Putzen. Außerdem gebe ich regelmäßig Malkurse, das hat mir immer schon viel Freude gemacht. Da kommen vor allem Leute aus dem Bildungsbürgertum, gut betucht. Die finden mein Atelier ganz zauberhaft. Alle Menschen wollen ja gerne kreativ sein, und ich habe etwas, was sie nicht haben. Die wollen hier gar keine Designerwohnung sehen wie bei sich zu Hause. Wir verstehen uns gut. Das sind ja die Kreise, in denen ich mich sonst auch bewege, meine Kunden. Also diese Malkurse sind auch ein wichtiges Einkommen. Und natürlich der Bilderverkauf, aber das ist unregelmäßig. Dass ich Künstlerin werden wollte, wusste ich schon sehr früh. Deshalb habe ich die Schule damals in Solingen noch vor dem Abitur abgebrochen und bin zuerst für knapp drei Jahre nach Amsterdam gegangen und 1976 dann mit meinem ersten Lebensgefährten nach Berlin. Ich war an der Hochschule der

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Künste, Fachbereich 1, Meisterschülerin. Aber es reicht natürlich nicht, nur begabt zu sein, man muss auch geschäftstüchtig sein. Bei diesen künstlerischen Berufen hast du viele introvertierte und schwierige Menschen, die sich nicht gut vermarkten können. Daran scheitern viele. Oder du hast die Klugen, die auch noch rechnen können und nach ein paar Jahren sagen: Das lohnt sich nicht! Ich arbeite und investiere viel Geld in Farben, Leinwände oder Werbung, und am Ende des Jahres kommt nichts dabei raus. Ich kenne so viele gute Leute, die aufgehört haben. Das ist einfach ein schwieriger Alltag. Du stehst immer alleine da und malst, und es kommt kein Geld rein. Gerade Männer hören dann auf, wenn sie Familie haben. Deshalb würde ich sagen: Die Motivation ist genauso wichtig wie die Begabung. Du musst richtig brennen. Sonst hältst du das nicht durch. Auch wenn es ganz, ganz enge Zeiten gibt, wo alles schiefläuft: Das Geld kommt nicht, Projekte werden abgelehnt, nichts klappt. Wir sind schon im ersten Semester gewarnt worden, dass nur ein Bruchteil später von der Kunst leben kann. Und so ist es auch. Die meisten Freiberufler werden durch Partnerschaft oder Erbschaften finanziert. Aber es ist finanziell nicht immer so eng gewesen bei mir. Nach dem Studium hatte ich ein Stipendium, um den Übergang in den Beruf zu erleichtern. Anfangs habe ich viele Kunden gewonnen und auch gut verdient. Außerdem habe ich spottbillig für 100 Mark eine ganze Etage hier in Kreuzberg bewohnt. Mit Außenklo und Einfachfenster ohne richtige Heizung, aber egal! Danach wurde es enger, und ich habe 15 Jahre lang im Museum als Technikerin gejobbt, im Gropius-Bau. Da habe ich für jeweils 6 bis 8 Wochen Auf- und Abbau von Ausstellungen so viel verdient, dass ich mit meinen Bilderverkäufen zusammen locker davon leben konnte. Ich konnte Taxi fahren, Essen gehen und tolle Kleider kaufen – aber das ist alles vorbei. Heute laufe ich zu Fuß und fahre Fernbus, alles andere ist zu teuer. Schmerzlich ist das vor allem bei der Weinqualität. Ich freue mich immer, wenn ich zum Essen eingeladen werde und endlich mal wieder einen guten Wein trinken kann. Als ich 2007 in diese Wohnung gezogen bin, war ich 54 und hatte zum ersten Mal eine eigene Badewanne und ein Innenklo, das im Winter morgens nicht eiskalt ist, und eine Heizung mit Thermostat, die ich selber einstellen kann. Das ist für mich Luxus pur, jederzeit eine heiße Dusche! In meinem Alter möchte ich das jetzt auch nicht mehr missen. Zum Sozialamt zu gehen, kommt für mich trotzdem nicht in Frage. Die würden mir meine Wohnungsgröße vorschreiben. Meine Freunde sagen, dann hätte ich mehr Geld, ich weiß es nicht, aber das ist keine Option, weil ich dann nur 45 Quadratmeter haben darf – kein Atelier und keine Malkurse mehr! Dann wollen sie mich in Fortbildungsmaßnehmen stecken, und ich muss Bewerbungsgespräche führen für Jobs, die ich gar nicht will. Oder ich muss irgendwelche Ein-Euro-Jobs machen. Das kommt nicht in Frage! Die Autonomie ist mir unglaublich wichtig.

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Mein ganzes Leben lang habe ich keine Sozialhilfe beantragt, niemals! Das halte ich durch, so lange es geht. Auch wenn die Perspektive im Alter nicht besonders gut ist. Meine Rente wird nur knapp 200 Euro betragen. Auf Dauer gibt es also überhaupt keine Chance, das durchzuhalten, das weiß ich und daran kann ich nichts ändern. Aber so lange ich irgend kann, werde ich weiterarbeiten. Trotzdem wir es wohl irgendwann nicht mehr anders gehen, als Grundsicherung zu beantragen. Vielleicht habe ich aber auch das Glück – oder Pech – morgen überfahren zu werden. Oder ich bin noch lange fit. Ich genieße einfach, was jetzt noch ist, maximal zehn Jahre noch, wenn’s gut geht. Wenn ich ein anderes Leben gewollt hätte, hätte ich rechtzeitig einen festen Job annehmen müssen, es gab ja Angebote, aber ich wollte nicht. Und will es bis heute nicht. Deshalb sage ich: Ich lebe eine Idee, eine Utopie. Und das versuche ich jetzt aufrecht und selbstbestimmt zu Ende zu bringen. Mir ist klar, dass jedes Tun seinen Preis hat. Deshalb kann ich auch nicht erwarten, mit 70 die finanzielle Sicherheit und Geborgenheit zu haben, die ein Beamter hat. Das habe ich so gewählt und bin alle Schritte ganz bewusst gegangen. Ich hoffe, dass ich dann auch die letzten Schritte noch mit Kraft machen kann. Viele halten das natürlich für kein so besonders geglücktes Leben: Ich habe nicht viel Geld verdient und bin auch nicht berühmt geworden. Aber ich sehe mein Leben nicht als gescheitert an. Diese vielen Tage und Nächte mit meiner Malerei haben mich so glücklich gemacht, dass es all das wert ist. Du sitzt da mit einer neuen Idee, deine Wangen sind rot – das ist so kostbar. Ich hatte so viel Freude, das würde ich mit niemandem tauschen wollen, auch wenn es manchmal bitter ist, sehr bitter, aber man darf auch nicht die Freude vergessen. Selbst wenn die Utopie gescheitert sein sollte, würde ich mit Max Frisch sagen: Sie ist geglückt, wenn man wenigstens versucht hat, sie zu leben. Darum geht es doch! Naiv, Spinnerin, sagen manche, aber es ist doch immer wieder etwas Wunderbares, wenn jemand aufbricht und sagt: ,Ich mach das jetzt einfach, ich lebe meinen Traum.ʻ Als ich meine Visitenkarten neu gemacht habe, habe ich schon mal gedacht, ich schreibe als Berufsbezeichnung nicht ,Künstlerinʻ drauf, sondern ,Närrinʻ. Das würde mir gefallen. Wenn ich eine Million im Lotto gewinnen würde, dann würde ich mir eine eigene Wohnung kaufen oder ein ganzes Haus, wo ich es warm und hell habe und arbeiten kann – ein Dach über dem Kopf. Ich habe viele Nächte gehabt, in denen ich große Angst hatte, unter der Brücke zu landen. Obdachlos zu sein, das hätte ich nicht geschafft, dafür bin ich zu zart. Und ich habe ja nicht mal ein Auto, in dem ich notfalls übernachten könnte, nichts.“

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Armut in einer Behinderteneinrichtung: „Meine Wellensittiche, die fehlen mir schon“

Eigentlich ist Werner Borsdorf (69) bestens versorgt im 2017 gerade erst neu eröffneten Johannes-Böttcher-Haus des Diakoniewerks Essen. Nach längerer Bauzeit ist das alte Heim aus den 50er-Jahren heute ein Vorzeigeprojekt der Behindertenhilfe im Stadtteil Kupferdreh. Werner Borsdorf hat ein schönes Zimmer mit eigenem Bad, eigenem Schlüssel und Briefkasten in einer der acht Wohngruppen: helle Räume, Holz und Edelstahl im Treppenhaus, großer Garten und Hanglage über der Ruhr. Rundum glücklich ist der freundliche alte Mann trotzdem nicht. Denn nach 40 Jahren Vollzeitjob in verschiedenen Werkstätten reicht sein Taschengeld jetzt als Rentner nicht einmal mehr, um seine Wellensittiche zu behalten. Oder um mit seiner Lebensgefährtin in Urlaub zu fahren. „Ich wohne schon seit Anfang der 80er-Jahre hier im Johannes-BöttcherHaus, ich bin Vorsitzender des Bewohnerbeirats. Jetzt habe ich auch meine Freundin hier. Sie liebt mich und ich lieb’ sie, deshalb haben wir uns verlobt. Wir kennen uns schon seit früher ganz lange, aus Bedburg-Hau (heute LVRKlinik, Landschaftsverband Rheinland). Da war ich vorher und habe in der Gärtnerei gearbeitet, seitdem kenne ich die Eva-Maria. Jetzt wohnen wir nebeneinander im Zimmer, jeder mit eigenem Bad und alles, in derselben Wohngruppe. Aber heiraten wollen wir nicht, nur verlobt sein. Das ist alles noch ganz neu hier. Aber das Problem ist, dass wir überhaupt nicht mit unserem Taschengeld auskommen. Wir bekommen 15 Euro in der Woche ausgezahlt, das reicht nicht. Ich kann seit März gar kein Fernsehen mehr gucken, weil ich dieses neue Gerät nicht kaufen kann, was man jetzt braucht (Receiver für etwa 80 Euro zum Empfang des neuen Digitalfernsehens DVB-T2). Jetzt spare ich da drauf, damit ich auch in meinem Zimmer wieder gucken kann. Wir haben noch einen Fernseher im Wohnzimmer, aber die anderen wollen auch mal was anderes sehen. Ich gucke gerne immer um halb sechs ,Unter unsʻ auf RTL. Und um sechs Uhr gibt es Abendbrot. Mit dem Geld komme ich gar nicht hin. Ich brauche ja immer schon was für die Batterien von meinen Hörgeräten, dann diese Reinigungstabletten für die Zähne, dann Deo, Zahnpasta, Seife und so. Und dann noch meine Zigarettenhülsen und mein Tabak, drei Pakete im Monat für 60 Euro ungefähr, die halten lange. Ich rauche ja nicht mehr so viel wie früher. Aber ganz aufhören, dass schaff’ ich nicht, nur weniger rauchen, das geht. Am Wochenende hole ich mir dann ein Sechserpack Bier bei Aldi, das sind nur 1,60 Euro wegen meinem Flaschenpfand. Die anderen wollen immer meine leeren Flaschen haben, die sammeln ja alle, aber ich sage, die sollen sich selber welche kaufen. Flaschen von der Straße sammeln mache ich aber

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nicht, nee, auf keinen Fall! Da haben ja andere draus getrunken, da lass ich die Finger von weg. Früher habe ich das gemacht, vor 30 oder 40 Jahren so, aber jetzt: Nie wieder! Bis zur Rente habe ich auch immer vier Wellensittiche gehabt. Da musste ich Futter kaufen und Sand, um den Käfig sauber zu machen. Alle 14 Tage wurde der gereinigt und wieder frischer Sand und Futter und Wasser rein getan. Aber jetzt hab ich kein Geld mehr dafür, 5 bis 10 Euro so jeden Monat. Wenn einer gestorben war, hab ich keinen neuen mehr gekauft. Und jetzt sind sie alle weg. Die fehlen mir. Ich würde auch gerne mal was mit meiner Freundin unternehmen. Berg runter 15 Minuten nach Kupferdreh geht ja noch, aber den Berg rauf nicht, sie kann so schlecht laufen. Und ich muss jetzt auch schon viermal Pause machen. Das Taxi bis nach hier hoch sind 5 Euro. Wir wollten auch schon mal mit der S-Bahn ein paar Kollegen besuchen fahren, die hier früher gewohnt haben, aber der Rückweg, das geht nicht. Obwohl sie noch jünger ist als ich, 57 erst, die wird 58 am 19. Februar. Das Geld war immer schon knapp bei mir. Aber jetzt bin ich Rentner, jetzt hab ich noch weniger. Ich hab bestimmt 40 Jahre in der Werkstatt gearbeitet. Die letzte Zeit haben wir Lampen zusammengebaut. Die wurden geprüft, ob alle in Ordnung sind, die anderen haben die dann eingepackt in Kartons und noch mal Kartons und dann wurden sie abgeholt. Ich weiß nicht mehr so genau, was ich da verdient habe, ungefähr 100 Euro im Monat. Aber das ist ja jetzt weg, seit der Rente bekomme ich nur noch halb so viel ungefähr. Ich hab auch mal beim Kohlenhändler Küppers in Heisingen gearbeitet. Als ich 15 war, da war ich Kohlenträger von Beruf, wir haben die Säcke ins Haus gebracht – 50 Pfennig pro Sack. Ich bin jetzt 69 Jahre alt, Jahrgang 1948. Ich hab keine Eltern mehr. Mein Papa ist verstorben, meine Mama ist verstorben, meine Schwester wohnt in Altenessen, aber die hat selber auch nicht viel. Mein jüngster Bruder ist dann auch verstorben. Ich habe keinen, der mich unterstützen kann. Von den anderen hier können sich die meisten Sachen leisten, die ich mir nicht leisten kann – Urlaub zum Beispiel. Ich muss mir immer alles zusammensparen. Einmal bin ich mit der Eva zusammen auf eine Freizeit gefahren, in ein Freizeitheim von der Diakonie in Bremervörde (350 für eine Woche). Wir hatten sogar ein Doppelzimmer zusammen und eine eigene Dusche. Aber andere können auch schon mal irgendwohin fliegen, richtig ganz weit weg. Dann bin ich schon manchmal sehr traurig, dass ich mit der Eva nicht so richtig in Urlaub kann. Das muss immer alles billig sein. Ja, dann fühle ich mich schon arm, kann man so sagen. Auch wenn wir hier jetzt in so einem schönen neuen Haus wohnen. Was ich mache, wenn ich im Lotto gewinnen würde? Dann könnte ich mal ein bisschen mehr unternehmen. Meiner Freundin mal was ausgeben. Zu

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Weihnachten zum Beispiel kriege ich von ihr was und sie kriegt was von mir, aber ich kann ja nicht allen in der Wohngruppe was schenken, dafür reicht es nicht. Und reisen. Ich muss gar nicht so weit weg. Wenn ich nächstes Jahr wieder mitfahren kann auf ’ne Freizeit, das wäre schon gut.“

Kai-Marko Danielzik, Einrichtungsleiter Johannes-Böttcher-Haus (Essen) „Herr Borsdorf bekommt zurzeit 115 Euro ,Barbetragʻ im Monat als Taschengeld über den Kostenträger ausbezahlt, den Landschaftsverband Rheinland (LVR). Der bezahlt auch den gesamten Aufenthalt hier bei uns. Herr Borsdorf hat zwar viele Jahre in einer Werkstatt gearbeitet, aber da wird nur ein geringer Nettolohn ausbezahlt. Alles andere wird über die Refinanzierung der Werkstatt dazu benutzt, den Arbeitsplatz zu schaffen und zu erhalten. Das heißt, dass die dadurch erwirtschafteten Rentenansprüche sehr gering sind. Sie gehen direkt an den Kostenträger, um das Wohnen zu finanzieren. Dadurch kommt es zu keiner direkten Rentenauszahlung, auch wenn jemand wie Herr Borsdorf rund 40 Jahre gearbeitet hat. Das Problem liegt darin, dass der Barbetrag von rund 115 Euro immer schon gezahlt wurde plus 100 Euro Nettoauszahlung vom Gehalt, also gut 200 Euro, aber mit Eintritt in die Rente reduziert sich das um fast 50 Prozent. Bei anderen ist das auch so – ein heftiger Einschnitt. Wir verwalten das Geld von Herrn Borsdorf, und wenn er Wünsche äußert, müssen wir oft sagen: ,Das geht nicht.ʻ Über den LVR als Kostenträger, als überörtliches Sozialamt sozusagen, wird die Wohnung mit allen Nebenkosten und Verpflegung finanziert. Da sind Sachen wie Mineralwasser, Kaffee und Tee drin, aber alles, was darüber hinaus geht, nicht: Mal ein Bier oder was Süßes, Cola, Saft, Chips geht vom Taschengeld. Und da werden dann Ungerechtigkeiten oder Ungleichheiten offensichtlich. Manche Mitbewohner, die noch arbeiten oder von der Familien unterstützt werden, können auch mal Pommes essen gehen und andere eben nicht. Insofern ist das eine Form von verdeckter Armut, denn die frei verfügbaren Mittel sind sehr begrenzt, und das schränkt die Entfaltung der Persönlichkeit von Herrn Borsdorf ein – Stichwort Teilhabe. Von den 115 Euro monatlich muss er alle Körperpflegemittel bestreiten, die Zuzahlung bei Medikamenten und Pflegehilfsmitteln, bei der Brille, wenn die mal kaputt geht, bei Zahnersatz oder seinen Hörgeräten. Sonst gibt es nur noch 332 Euro Bekleidungsgeld pro Jahr, für alles. Das führt dazu, dass wir immer mit ihm verhandeln müssen und von den 115 Euro im Monat jede Woche nur 15 Euro bar ausgezahlt werden. Er braucht ja auch ein bisschen Rücklagen. Darum sagen wir beim Rauchen: 60 Euro, mehr geht nicht! Das ist einschneidend. Und es passt auch gar nicht zu unserem Konzept der Teilhabe und der größtmöglichen Eigenständigkeit der Bewohner. Wir müssen die Eigenständigkeit massiv zurückfahren, weil das Geld einfach nicht da ist.“

  Andreas Pitz

Kunst trotz(t) Armut

1

Geschichtliche Hintergründe

2007 entschied sich der Vorstand der Evangelischen Obdachlosenhilfe in Deutschland e.V1., in der Öffentlichkeitsarbeit neue Wege zu beschreiten. Es entstand die Idee, eine bundesweite Wanderausstellung mit Kunstwerken zum Thema Wohnungslosigkeit, Armut und soziale Ausgrenzung zu initiieren. Armut, Obdachlosigkeit und soziale Exklusion haben als Thema in Kunst und Kultur eine lange Tradition. Die bildliche Darstellung von Armut und Armen reicht bis in die Antike zurück. Vor allem aus der hellenistischen Kunst (4.–1. Jh. v. Chr.) sind zahlreiche Figuren mit karikaturistisch übersteigerten Merkmalen und missgestalteten Körpern erhalten. Dargestellt wurden so Arme, Bettelarme, Randexistenzen. Die Darstellung des Hässlichen zielte auf die Unterhaltung der Angehörigen der Oberschicht. Arme waren verachtet. Bilder von Armen konnten und sollten beim Betrachter Spott und Häme hervorrufen und dienten der Belustigung der Reichen.2 Die Form der Bildsprache, die im Hellenismus geprägt wurde, hielt sich bis in die Spätantike und zum Teil auch darüber hinaus. Die Darstellung der „entstellten Armen“ und die Zurschaustellung “missgestalteter“ Menschen findet sich auch im Mittelalter und reicht bis in die Neuzeit hinein. Dominant wurden in der christlichen Bildwelt des Mittelalters3 aber andere Motive, Formen und Funktionen. Charakteristisch für das Themenfeld Armut sind insbesondere Bilder mit der Trias Wohltäter, Gabe und Empfänger. Inszeniert wird eine „wohlge1

Seit 2016 „Evangelischer Bundesfachverband Existenzsicherung und Teilhabe (EBET) e.V.“. 2 Vgl. Rheinisches Landesmuseum Trier, Armut in der Antike. 3 Vgl. Glüber, Darstellung von Armut.

Kunst trotz(t) Armut

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ordnete Wirkungsgemeinschaft“4: Der Reiche hat dem Armen Almosen zu geben. Der Arme hat einen Anspruch darauf, dass ihm gegenüber eine Pflicht erfüllt wird. Als Gegenleistung hat er für das Seelenheil der Wohltäter zu beten. Der Glaube, dass im Armen Christus präsent ist, stellt ein gegenüber der Antike radikal verändertes Verständnis von Armut und Armen dar. Bilder zeigen das beispielhafte Leben von Heiligen (z.B. Martin von Tours, Elisabeth von Thüringen) und deren Hinwendung zu den Armen. Solche Bilder wollen zur Nachahmung anstiften. Variationen der Wirkungsgemeinschaft von Armen und Reichen sollen den Betrachter emotional berühren und ihn ermahnen. Die Wohlhabenden werden eindringlich an die Christenpflicht, Almosen zu geben, erinnert. Fromme Almosengeber lassen sich in Bildern selbst darstellen. Bemerkenswert ist, dass die Kriminalisierung der starken Bettler, die im Spätmittelalter einsetzte, in religiösen Kunstwerken wie Altartafeln nicht auftaucht. Die Bettlerkritik, die sich mit dem betrügerischen Betteln befasst, fand ihren Platz in einer selbstständigen, von religiösen Bezügen losgelösten Graphik. Die Neuordnung der Armenfürsorge seit den 1520er Jahren wirkte sich in markanter Weise auf die Bildgestaltung aus. Religiöse Motive traten stark zurück. Es sind nun die Obrigkeiten – die städtischen Räte oder Territorialfürsten –, die Bilder in Auftrag geben. Sie sollen die neue Organisation der Armenfürsorge illustrieren und dafür werben, dass Almosen nun in den sogenannten Gemeinen Kasten fließen, aus dessen Mitteln Bedürftige dann nach „rationalen“ Kriterien Unterstützung erhalten. Für die weitere Entwicklung ist kennzeichnend, dass die sogenannte Hochkunst sich weithin als Gegenwelt zu Armut und Elend verstand. Arme tauchen – wenn überhaupt – als Randfiguren in Bildwerken auf. Die Darstellung von „Armen als soziale Akteure oder gar Kunst von Armen“ ist selten.5 Damit wurde im Grunde erst um 1900 gebrochen, als „die Darstellung von Hunger, Elend und Arbeitslosigkeit auf breiterer Front Einzug in die Malerei und Plastik sowie in Plakat- und Fotokunst hielt.“6 Somit ging zunehmend auch eine verstärkte Reflexion des Verhältnisses von Kunst und Armut einher. Dabei wurde deutlich: Bilder zeigen nicht einfach Armut, wie sie „wirklich“ ist. Darstellungen sind vor allem Deutungen. Bilder sind „sehr komplexe 4

Volz, Armut, 77; vgl. den Beitrag von Gerhard K. Schäfer in diesem Band, 25ff. Uerlings, Armut, 15. 6 Ebd. 5

76 A. Pitz    Zeichen, symbolische Verdichtungen von Einstellungen, Darstellungsabsichten, Sehgewohnheiten und […] Traditionen.“7 2

Wanderausstellung

Vor dem Hintergrund solcher Traditionen und in Auseinandersetzung mit ihnen wurde die Wanderausstellung „Kunst trotz(t) Armut“ konzipiert. Der Vorstand der Evangelischen Obdachlosenhilfe betraute mich 2007 als Kurator mit der Planung, Organisation und Durchführung der Ausstellung. Neben renommierten Persönlichkeiten der zeitgenössischen Kunstszene nahm ich Kontakt zu Betroffenen auf, die sich künstlerisch betätigen. Die so entstandene Ausstellung „Kunst trotz(t) Armut“8 zeigt über 140 Exponate von 35 Künstlerinnen und Künstlern aus dem In- und Ausland, die sich auf unterschiedliche Art und Weise den Themenfeldern Armut, Obdachlosigkeit und soziale Ausgrenzung genähert haben. Die Eröffnung fand am 31. Oktober 2007 in Berlin statt. Entgegen der ursprünglich geplanten Ausstellungsdauer von lediglich zwei Jahren erlangte die Thematik nicht zuletzt durch die Bankenkrise und die Hartz-IV-Reformen mit all ihren negativen Auswirkungen eine unerwartete Aktualität, sodass die Wanderausstellung nach wie vor auf Tour ist. Das Motto der Ausstellung „Kunst trotz(t) Armut“ wurde übrigens nicht von einer Werbeagentur kreiert, sondern von den Besucher_innen des Kulturzentrums „Gitschiner 15“, einem sozialen Projekt für obdachlose und von Armut betroffene Menschen der Evangelischen Kirchengemeinde Heilig Kreuz Passion in Berlin-Kreuzberg. Die Ausstellung wurde in einem Zeitraum von zehn Jahren in über 70 Städten in Deutschland und der Schweiz präsentiert. Stationen waren unter anderem Frankfurt am Main, Hannover, Heidelberg, Köln, Bremen, Nürnberg, Speyer, Leipzig, Passau, Offenburg, Mainz, Wiesbaden, Saarbrücken, Bern, Düsseldorf, Kassel, Augsburg, Lübeck und Stuttgart. Die Ausstellung war meistens in Kirchen, aber auch in 7

Uerlings, Armut, 15. Aktuelle Informationen zur Ausstellung auf www.kunst-trotzt-armut.de. Der Katalog zur Ausstellung kann über den Onlineshop der Diakonie Deutschland bezogen werden (https://diakonie-webshop.de).

8

Kunst trotz(t) Armut

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Kunsthallen, Museen und öffentlichen Gebäuden (Banken, Rathäuser etc.) zu sehen. Im Juli 2010 wurde die Ausstellung anlässlich des Europäischen Jahres gegen Armut und soziale Ausgrenzung in den Räumlichkeiten der Repräsentanz der Europäischen Kommission präsentiert. Im Anschluss wurde sie im Rahmen der „Kultur Ruhr 2010“ in Dorsten und Recklinghausen gezeigt. Im Dezember 2012 wurde sie in der documenta-Halle in Kassel ausgestellt, einem der bedeutendsten Ausstellungsorte für Gegenwartskunst des 20. und 21. Jahrhunderts. An den einzelnen Orten gab es unterschiedliche sozialpolitische und kulturelle Begleitveranstaltungen. Sie waren so konzipiert, dass verschiedene Bevölkerungsgruppen angesprochen wurden. Neben Vorträgen von prominenten Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft, Kirche und Diakonie (z.B. Edelgard Bulmahn, Oskar Negt, Heribert Prantl) wurden Konzerte, Theaterstücke, Künstlergespräche und Führungen für unterschiedliche Altersgruppen angeboten. Betroffene konnten durch ein niederschwellig konzipiertes Angebot erreicht werden (Adventskaffee in Frankfurt, gemeinsames Mittagessen auf dem Kirchhof und Straßenmusik-Festival nach dem Abschlussgottesdienst in Bremen). Die Beteiligung Betroffener bei der Durchführung und Organisation bewährte sich in besonderer Weise: In Leipzig, Wiesbaden und Bern übernahmen Armutsbetroffene das Catering für die Eröffnungsveranstaltung. Interessanterweise erkannten viele Sozialarbeiter_innen im Vorfeld nicht, wie viel Interesse und Kompetenz wohnungslose Menschen in Bezug auf Kultur mitbringen – eine bemerkenswerte Fehleinschätzung. Dieses Kulturprojekt lebt von der Parteilichkeit: Es bezieht Betroffene als gleichberechtigte Akteure mit ein und gibt ihnen Raum für eigene künstlerische Ausdrucksformen. Es werden Fähigkeiten und Stärken des Einzelnen wertgeschätzt, gefördert und zur Entfaltung gebracht. Wir setzen nicht mehr, wie früher in der Sozialpädagogik üblich, an den Schwächen und Defiziten unserer Klientel an, sondern sehen dessen Stärken und Fähigkeiten. Lobbyarbeit funktioniert am besten, wenn man die Betroffenen dadurch stark macht, dass man sie selbst zu Wort kommen lässt, ihnen ihre jeweils eigene Sprache lässt und auf Augenhöhe mit ihnen kommuniziert. Letzteres erwies sich als eindrucksvolle Fähigkeit vieler am Projekt beteiligter Künstlerinnen und Künstler. Die Ausstellung und ihre Begleitveranstaltungen wurden von über 100.000 Menschen besucht; das Medienecho ist nach wie vor außergewöhnlich gut.

78   3 Beispielhafte Kunstprojekte

A. Pitz 

Im Folgenden werden fünf Bilder aus der Ausstellung präsentiert. Die ausgewählten Bilder machen die künstlerische Bandbreite der Ausstellung deutlich. Unterschiedliche biographische Hintergründe, Perspektiven, Techniken und Intentionen kommen exemplarisch zur Geltung. Den Bildern sind jeweils kurze Texte beigefügt, die elementare Informationen zur Künstlerin/zum Künstler und zum Bild enthalten. 3.1

Georg Kleber: Wärmestube

Georg Kleber, geboren 1956 in Markt Rettenbach im Allgäu. Studium der Kunstpädagogik an der Uni Augsburg. Seit 1989 freischaffend, Schwerpunkt Zeichnung – mehrere Kunstpreise.

© Georg Kleber

„Es ist Winter. Ich sitze in einer Ecke der Wärmestube für Wohnungslose in Augsburg und zeichne Porträts. In der Hoffnung, nicht bemerkt zu werden, beobachte ich die Menschen aus den Augenwinkeln. Es ist mir unangenehm, ich fühle mich als Voyeur. Stimmengewirr, Zigarettenrauch und Probleme hängen förmlich in der Luft. Satzfetzen, die zu mir durchdringen, schreibe ich sofort während des Zeichnens auf die Skizzen. Als O-Ton, sozusagen. Eine Frau bemerkt, dass ich sie zeichne und dreht sich weg. Ich schäme mich. Eine andere Frau setzt sich zu mir und schaut mir zu. Sie scheint die

Kunst trotz(t) Armut

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meisten Leute im Raum zu kennen und ruft in den Raum: ‚Kuckt mal, der zeichnet euch!‘ Plötzlich schauen mich alle an – ich bin ertappt. Einige wollen die Bilder sehen und ein Mann mit einer imposanten Zahnlücke möchte, dass ich ihn zeichne. Ich mache zwei Zeichnungen, eine für ihn und eine für mich. Die Atmosphäre entspannt sich, ich komme mit den Leuten ins Gespräch und bald lege ich meinen Kohlestift zur Seite und unterhalte mich drei Stunden lang mit den Leuten. Ein überaus lohnender Nachmittag!“9

3.2

Douglas Abuelo: Where They Sleep

Douglas Abuelo, gebürtiger New Yorker, Jahrgang 1969, ist seit Jahren als Presse-, Dokumentar- und Portrait-Fotograf tätig und lebt in Berlin. Seine Fotos sind in lokalen, nationalen und internationalen Publikationen wie Time, Der Spiegel, Focus, Neon und Le Point erschienen. Seine Arbeiten sind unter anderem im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig und in der Tate Gallery ausgestellt worden. „Diese Fotos sind Bestandteil eines Projektes, dass ich letztes Jahr in dem Stadtteil ‚Elephant & Castle‘ in London begonnen habe, und das ich nun in Berlin fortsetze. In den nächsten 10 Jahren wird sich dieser Stadtteil Londons dramatisch verändern: es sind größere städtebauliche Veränderungen und Investitionen geplant. Die Idee hinter dem Projekt ‚Where they sleep‘ war es, die Gegend ‚Elephant & Castle‘ als Wohngegend zu erkunden, und wie diese Gegend Heimatort für viele verschiedene Menschen bleiben kann vor dem Hintergrund der geplanten Veränderungen. Ich fand es außerdem in einem abstrakteren Sinn interessant, mich damit zu beschäftigen, wie wandelbar Orte sein können und was unsere gesellschaftlichen Vorstellungen von Zuhause sind. Eine ganz andere Perspektive gewinnen diese Gedanken, wenn man sie von Obdachlosen her anstellt, die eine andere Normvorstellung von Zuhause haben als die meisten von uns. Obdachlose sind entweder von Natur aus oder durch ihre Zwangslage irgendwie in einer Übergangssituation, aber sehr oft haben sie einen Lieblingsort und bauen sich etwas auf, was einem Zuhause ähnelt, gelegentlich in einem sehr willkürlichen Sinn des Wortes. Was ich in diesem Projekt zeigen will, sind Aspekte von Orten, die Obdachlose zu ihrem Zuhause machen.

9

Georg Kleber, Texttafel in der Ausstellung „Kunst trotz(t) Armut“.

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A. Pitz 

© Douglas Abuelo

Die Orte sind oftmals geschäftige öffentliche Wege, aber auch verborgen hinter einem Zaun, einer Wand oder einer Lagerraumtür, nur Zentimeter von Passanten entfernt. Und obwohl es Plätze sind, an denen Tag für Tag Hunderte von Menschen vorbeilaufen, werden sie nicht als ‚Heimstatt‘ erkannt – in der Tat werden diese Orte überhaupt kaum wahrgenommen. Und obwohl diese Plätze solchen an anderen Orten der Welt ähnlich sind, sind sie doch spezifisch für ‚Elephant & Castle‘, und die Menschen dort begreifen sie als ihr Heim und haben, egal wie flüchtig es sein mag, ihre spezifischen Zeichen hinterlassen. Indem man diese Zeichen wie Poststempel identifiziert, macht es sie zu persönlichen Plätzen, die von jemandem bewohnt wurden.“10

10

Douglas Abuelo in: Kunst trotz(t) Armut, 14.

Kunst trotz(t) Armut

3.3

81 

Felix Droese: Armutszeugnisse

[Auszug aus dem Ausstellungskatalog „Kunst trotz(t) Armut“] „Felix Droese, Jahrgang 1950, ist ein international anerkannter Künstler. Er lebt und arbeitet in Mettmann bei Düsseldorf. Von 1970 bis 1976 hat er an der Kunstakademie Düsseldorf studiert und arbeitete in der Klasse von Joseph Beuys. Er hat sich immer als politischer Künstler verstanden. 1972 wurde er bei einer Vietnam-Demonstration in Köln verhaftet und zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. 1988 hat er die BRD auf der 18. Biennale Venedig mit der Arbeit ,Haus der Waffenlosigkeitʻ vertreten.

© Felix Droese / VG Bild-Kunst, Bonn

In der Ausstellung ,Kunst trotz(t) Armutʻ werden seine sogenannten ,Armutszeugnisseʻ gezeigt. Mit der industriellen Revolution setzten zugleich große

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A. Pitz 

soziale Probleme ein, insbesondere die der Armut. Armutszeugnisse konnten beim Bürgermeister oder bei einer anderen Institution beantragt werden. Die materielle Not wurde offiziell festgehalten, und in sogenannten Arbeiterkolonien und Herbergen zur Heimat wurden Kost und Logis geboten. Heute kennen wir die Armenhäuser nicht mehr, aber Hartz IV. Wir kennen keine Witwen- und Waisenhäuser mehr, sondern eine große Anzahl armer Kinder – wegen Hartz IV. Aus der materiellen Not ist eine geistige Armut geworden, es gibt kein Armutszeugnis mehr, sondern nur noch eine statistische Erfassung durch den Staat. Auf einem großen Bettlaken sind zwei Holzdrucke aufgetragen, eine Herzkopfform als schwarze Figur mit dem Text ,opfert ihr euchʻ. Der Pfeil weist mit der Schrift ,Mettmanner Armutszeugnisʻ auf die Selbstverantwortung der Menschen hin. Gedruckt hat Droese Schwarz auf Weiß mit Ruß, Leinöl und Pigmenten. Auf einem Papierabzug wiederholt er das untere Zeichen des Armutszeugnisses, doch der Pfeil wie ein Verkehrszeichen zeigt umgekehrt jetzt von unten nach oben.“11

3.4 Sigmar Polke: Kölner Bettler IV

©The Estate of Sigmar Polke / VG Bild-Kunst, Bonn

[Auszug aus dem Ausstellungskatalog „Kunst trotz(t) Armut“] „Sigmar Polke, 1941–2010, war ein international anerkannter Maler und Fotograf. Seine Malerei ist dem postmodernen Realismus zuzuordnen und zitiert Ausdrucksweisen der Pop-Art. Nach dem Studium an der Kunstakademie Düsseldorf hatte er von 1971 bis 1991 eine Professur an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. 11

Dieter Ronte in: Kunst trotz(t) Armut, 50.

Kunst trotz(t) Armut

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Sigmar Polke ist in der Ausstellung mit berühmten druckgrafischen Arbeiten aus der Edition Staeck vertreten, den Kölner Bettlern. Polke durchstreifte die Stadt, er fotografierte gerne und viel – dann überarbeitete er die Fotografien, um ihre Visualität und Inhaltlichkeit zu steigern. Die vier Arbeiten aus dem Jahre 1972 sind Offset-Drucke, Schwarz, Violett oder Schwarz, Braun oder nur Schwarz. Alle vier Arbeiten zeigen typische Situationen der nicht mehr gesellschaftlich Integrierten, der Ausgestoßenen, die um das Mitleid der Reichen, der gesettelten Bürger betteln müssen. Ihre Situation ist aushäusig, sie sind schlecht gekleidet, sie vertrauen dem Tier, dem Hund, mehr als dem Menschen, sie spielen Musik mit der Gitarre, sie müssen sich exhibitionieren, um so aufzufallen, dass Almosen möglich werden. Eine staatliche Unterstützung ist nicht erkennbar.“12

3.5 Karin Powser: Menschen auf der Straße

© Karin Powser

[Auszug aus dem Ausstellungskatalog „Kunst trotz(t) Armut“] „Karin Powser – Jahrgang 1948 – war selber zwischen 1971 und 1984 wohnungslos und hat in dieser Zeit auf der Straße gelebt. Seit 1994 fotografiert sie für das Hannoversche Obdachlosenmagazin ,asphaltʻ. Schon vorher hatte sie angefangen, für das Diakonische Werk Hannover sozialdokumentarisch im Bereich des Wohnungslosenmilieus zu fotografieren. Ohne fotografische Ausbildung hat sich Karin Powser in den letzten Jahren in Hannover mit ihren Arbeiten einen Namen gemacht. Ihre Bilder, Motive und Perspektiven unterscheiden sich vom Blick des Pressefotografen.“13 12 13

Dieter Ronte in: Kunst trotzt Armut, 86. Andreas Pitz in: Kunst trotz(t) Armut, 112.

84 A. Pitz    [Abdruck der Kunstwerke mit freundlicher Genehmigung der Urheber_innen.] Literatur Glüber, Wolfgang, Darstellung von Armut und bürgerlicher Armenfürsorge im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 2000. Kunst trotz(t) Armut. Katalog zur Wanderausstellung 2007/2008, im Auftrag der Evangelischen Obdachlosenhilfe e.V., hg. v. Andreas Pitz, Frankfurt am Main 2007, online: www.kunst-trotzt-armut.de (Zugriff: 06.04.2018). Rheinisches Landesmuseum Trier (Hg.), Armut in der Antike. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft, Trier 2011. Uerlings, Herbert, Armut – Perspektiven in Kunst und Gesellschaft, in: Herbert Uerlings u.a. (Hg.), Armut. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft, Darmstadt 2011, 13–22. Volz, Fritz Rüdiger, Armut, in: Volker Leppin / Gury SchneiderLudorff (Hg.), Das Luther-Lexikon, Regensburg 2014, 74–77.

 

3

Phänomene & Diskurse

 

  Remi Stork

Armut von Kindern und Jugendlichen

Kinder gelten als besonders verletzbare Bevölkerungsgruppe, die zugleich vor den umfassendsten Entwicklungsaufgaben steht. Da anzunehmen ist, dass Armut häufig mit anderen Benachteiligungen und Entbehrungen (ungesunde Ernährung, Krankheiten, weniger kulturelle Erfahrungen, schlechtere Bildungschancen, Gewalterfahrungen etc.) einhergeht, besteht besonders große Sorge, junge Menschen durch Armutserfahrungen zu schädigen bzw. langfristig auszuschließen. Seit einigen Jahren wird im Diskurs über Armut von Kindern und Jugendlichen aber auch eine andere Seite betont: Kinder haben als Altersgruppe noch besonders große Entfaltungspotenziale. Es wäre nicht nur schade, sondern auch aus volkswirtschaftlicher Sicht töricht, wenn man sie dauerhaft ihrer Chancen beraubte. 1

Entwicklung der Armut von Kindern und Jugendlichen

In den letzten 20 Jahren wurden Kinder und Jugendliche in Deutschland immer stärker zu einer von Armut betroffenen Gruppe. Man spricht daher auch von einer Infantilisierung der Armut. Die offizielle Armutsrisikoquote von Kindern und Jugendlichen lag 2017 bei ca. 21 %.1 Aufgrund starker regionaler und lokaler Unterschiede gibt es Stadtteile, in denen mehr als 40 % der jungen Menschen als arm gelten, und andere Stadtteile und Gemeinden, in denen dieser Anteil deutlich unter 10 % liegt. Der starke Anstieg der Armutsquote bei Kindern und Jugendlichen ist zeitlich und ursächlich konkret mit der Einführung der Hartz-IV-Gesetze in Verbindung zu bringen. In den letzten Jahren stagnierte die Armutsquote von Kindern und Jugendlichen auf hohem Niveau bzw. erhöhte sich nur durch die starke Zuwanderung weiter.

1

Vgl. Bundesregierung, Fünfter Armuts- und Reichtumsbericht.

88 R. Stork    Heute leben in Deutschland bis zu 3 Millionen Kinder und Jugendliche in Armut. Der Großteil dieser jungen Menschen lebt in Familien mit Sozialhilfe- bzw. Hartz-IV-Bezug, insgesamt ca. jede/r Fünfte. Hinzu kommen immer mehr Kinder, deren Eltern erwerbstätig sind, die jedoch aufgrund prekärer Löhne kein Einkommen oberhalb der Armutsgrenze (60 % des durchschnittlichen Einkommens) erwirtschaften können. Auch der gesetzliche Mindestlohn garantiert Familien kein Leben jenseits der Armutsgrenze. Im Vergleich zur heutigen Quote der Transfergeldbezieher_innen fällt auf, dass in der alten Bundesrepublik im Jahr 1965 nur jedes 75. Kind auf Sozialhilfe angewiesen war.2 Auch die Höhe der Transfergeldbezüge ist nach Berechnungen von Borchert im Vergleich zur Kaufkraft in den letzten 70 Jahren ständig gesunken. Die heutigen Transfergeldbezüge müssten um mehr als 30 % erhöht werden, um wieder das Niveau von 1965 zu erreichen.3 Aufgrund des Fehlens einer eigenständigen Kindergrundsicherung sind Kinder und Jugendliche existenziell von Einkommen und Transferzahlungen ihrer Eltern abhängig. Eine Familienpolitik, die sich am klassischen Familienmodell orientiert, trägt dazu bei, dass Kinder von Alleinerziehenden und Kinder in kinderreichen Familien neben Kindern in zugewanderten Familien weit überdurchschnittlich von Armut betroffen sind. Durch aktuelle Längsschnittstudien wurde in den letzten Jahren offensichtlich, dass Kinder und Jugendliche immer länger von Armut betroffen sind, d.h., die Armutsverhältnisse sich zunehmend verhärten und Armut zu einer dauerhaften Lebenslage wird.4 2

Lebenslagen von armen Kindern und Jugendlichen

Armutslagen sind in der Regel durch fehlendes ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital geprägt. Wenn Familien neben dem elterlichen Einkommen und Vermögen auch verwertbare Bildungsabschlüsse, unterstützende Freund-, Nachbar- und Verwandtschaften fehlen, schlägt Armut besonders stark auf die Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen durch. Wie insbesondere die Längsschnittstudien von Gerda Holz u.a. aufzeigen, entwickeln sich in vielen Armutshaushalten neben der sich zuspitzenden ökonomischen Situation die gesund2

Vgl. März, Kinderarmut in Deutschland, 16. Vgl. Borchert, Sozialstaatsdämmerung, 61. 4 Vgl. Tophoven u.a., Armutsmuster in Kindheit und Jugend. 3

Armut von Kindern und Jugendlichen

89 

heitliche Lage, die Bildungschancen und Bildungserfolge sowie das subjektive Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen negativ. Die Armutsforschung bezeichnet solche Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen als multiple Deprivationen, deren Ausgangspunkt und Grundlage die ökonomische Situation der Familie ist. Die Längsschnittstudien legen es nahe, von „Armutsspiralen“ auszugehen, d.h. von sich zunehmend verstärkenden Benachteiligungen, je länger die Armutslage andauert.5 Aktuelle Studien belegen, dass Eltern auch in Armutshaushalten „in erster Linie darum bemüht sind, ihre Kinder zu fördern, bevor sie ihre persönlichen Interessen realisieren“6. Das dauerhafte Leben in prekären Lebenslagen (kleine Wohnung, schlechtes Wohnumfeld, Krankheiten, Erschöpfungszustände oder psychische Belastungen von Familienmitgliedern, fehlende Netzwerke etc.) und die Bewältigung der damit verbundenen Probleme und Konflikte erschweren vielen Eltern ihr Bemühen um die Förderung der Kindern enorm. Dass für immer mehr Familien die Grenze der Belastbarkeit überschritten wird, zeigen auch die deutlich ansteigenden Zahlen in den Hilfen zur Erziehung.7 Die AWO-ISS-Studien über kindbezogene Armutsfolgen haben über 15 Jahre hinweg die Entwicklungen von ca. 900 Kindern dokumentiert. Ein zentrales Ergebnis erschreckt: Kindertageseinrichtungen und Schulen verschärfen die soziale Ungleichheit!8 Die Studie zeichnet nach, wie dies geschieht. Die sozialräumliche Segregation führt dazu, dass ärmere Kinder deutlich häufiger in Kindertageseinrichtungen und Schulen gehen, die hohe Armuts- und Zuwanderungsquoten aufweisen. Die Förderung der Kinder in diesen Einrichtungen kann nicht mit der gleichen Qualität gelingen, wie dies in Einrichtungen in anderen Stadtteilen der Fall ist, weil die Förderbedarfe der Kinder ungleich größer sind. Eine aktuelle Studie von Groos und Jehles zeigt auf der Basis von Schuleingangsuntersuchungen auf, wie sprachlich und gesundheitlich belastete und entwicklungsverzögerte Kinder sich auf bestimmten Schulen „ballen“, während andere Schulen wesentlich weniger dieser Kinder aufnehmen.9 Die Autorinnen der AWOISS-Studie ziehen nach Abschluss ihrer Untersuchungen das Fazit, dass bei gleich gutem Bildungsniveau der Mütter (mindestens Real5

Vgl. Hilke/Schütte/Stolz, Kommunale Angebotslandschaften für Kinder und Jugendliche, 210 ff. 6 Andresen/Galic, Kinder. Armut. Familie, 14. 7 Vgl. Chassé, Kinderarmut als Kindeswohlgefährdung?, 57 ff. 8 Vgl. Holz/Laubstein/Stahmer, Lebenslagen, 12; sowie Rock, Störfaktor Armut, 157. 9 Vgl. Groos/Jehles, Der Einfluss von Armut auf die Entwicklung von Kindern.

90 R. Stork    schulabschluss) die Chancen nicht armer Kinder, auf ein Gymnasium zu kommen, mehr als viermal höher sind als die Chancen armer Kinder.10 Kinder und Jugendliche merken bereits sehr früh, dass sie aufgrund der ökonomischen Lage ihrer Familie weniger Teilhabemöglichkeiten im Alltag und weniger Chancen auf eine gute Zukunft haben. Dies ist das Ergebnis der dritten World Vision Kinderstudie, die im Jahr 2013 2.500 Kinder im Alter von 6–11 Jahren befragt hat. 18 % der Kinder bezeichnen sich selbst als arm; zwei Drittel von ihnen fühlen sich weniger wertgeschätzt und in der Schule ungerechter behandelt als andere Kinder.11 Kinder merken offenkundig, dass Kindertageseinrichtungen und Schulen sie nicht nur unterstützen, sondern ebenfalls den – unausgesprochenen – gesellschaftlichen Auftrag einer Rangsortiermaschine wahrnehmen. Kein Wunder, dass Bildungsaspirationen bei vielen Kindern spätestens im Grundschulalter verloren gehen! 3

Armut von Kindern und Jugendlichen im wohlfahrtsstaatlichen Wandel

Der Wandel des Wohlfahrtsstaates zum sog. aktivierenden Sozialstaat war im Kern von einer Neuausrichtung der Bildungs- und Sozialpolitik geprägt. Nach Auffassung von Daniel März war die Basis dieser sozialstaatlichen Transformation „die im Mittelpunkt […] stehende Überzeugung, Sozialausgaben auf ökonomische Gewinnerwartungen und einen wirtschaftlichen Nutzen hin auszurichten, ohne parallel eine signifikante Ausweitung finanzieller Leistungen für in Armut lebende Familien und ihre Kinder vorzusehen.“12 Der Ausbau der Investitionen in menschliches Kapital (z.B. durch den Ausbau der Kindertageserziehung und der Ganztagsschulen) ging demnach einher mit der Abkehr von der Idee der Verteilungsgerechtigkeit. Die Hoffnung, dass der Ausbau der entwicklungsfördernden Infrastruktur für Kinder gerade Kindern aus Armutsmilieus zu Gute kommen würde, erfüllt sich bis heute nicht. Vielmehr kommt der Ausbau dieser Infrastruktur insbesondere der Mittelklasse zu Gute, während die Arbeitgeber durch diese Entwicklungen auf den Fachkräftemangel reagieren können und gesamtgesellschaftlich das weibliche Humankapital besser ausgeschöpft werden kann.

10

Vgl. Holz/Laubstein/Stahmer, Lebenslagen und Zukunftschancen, 16. Vgl. World Vision Deutschland, Kinder in Deutschland 2013, 76. 12 März, Kinderarmut in Deutschland, 290. 11

Armut von Kindern und Jugendlichen

91 

In der sozialinvestiven Konzeption des Wohlfahrtsstaates kommt Bildung eine Schlüsselrolle zu. Zwar ist offensichtlich, dass „Bildung kein (alleiniges) Erfolgsrezept gegen Armut“ sein kann,13 aber dennoch wird sie als besonders zukunftsträchtige Form der Sozialpolitik interpretiert, obwohl allein die zahlreichen PISA-Studien nahelegen, dass der Schulerfolg in Deutschland nach wie vor stark vom sozioökonomischen Status der Eltern abhängig ist. Solange das Schulsystem hochgradig selektiv ist, Kinder aus armen Stadtteilen zusätzlich benachteiligt sind und mit dem Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) nur ein völlig unzureichender Nachteilsausgleich erfolgt, kann Bildung nicht als Ersatz für ungerechte Reichtumsverteilung fungieren. Dies gilt insbesondere so lange, wie Kommunen, Länder und Bundesregierung sich die Verantwortlichkeit für die sozialen Schieflagen in der Bildungspolitik gegenseitig zuschieben. Nach wie vor gilt im Prinzip, dass das Bildungssystem die bestehenden gesellschaftlichen Ungleichheiten absichert und fortsetzt und somit Aufstiegschancen für Kinder aus armen Familien deutlich geringer sind, als dies in den 1970er Jahren der Fall war.14 Dennoch ist die Politik schlecht beraten, wenn sie sich bei der Bekämpfung der Armut von Kindern und Jugendlichen allein auf die Weiterentwicklung der Bildungspolitik verlässt – wenngleich eine sozialere Ausrichtung der Bildung ein wesentlicher Baustein in der Bekämpfung von Kinder- und Jugendarmut ist. Im Kern bleibt es jedoch dabei, dass Armut von Kindern und Jugendlichen eine Folge von geringen Löhnen und Arbeitslosigkeit, einem nicht familienorientierten Sozialversicherungssystem, nicht auf die Bedürfnisse von Kindern orientierten Transfergeldern sowie falschen Schwerpunkten in der Familienpolitik darstellt.

4

Kirchliches und diakonisches Handeln

4.1

Armutssensibles Handeln

Die christlichen Kirchen und insbesondere ihre Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie versuchen, Kinder und Jugendliche in Armutslagen mit ihren Angeboten gezielt zu erreichen und zu fördern. Sie unterbreiten in Stadtteilen mit besonderer Problemverdichtung spezielle Unterstützungs- und Teilhabeangebote und bemühen sich auch 13 14

Vgl. Klundt, Kinderarmut und Reichtum in Deutschland, 45. Vgl. Klemm, Soziale Herkunft und Bildung im Spiegel neuer Studien, 17 ff.

92 R. Stork    in ihren Regelangeboten (Kindertageseinrichtungen, Familienbildung, Jugendarbeit, Beratungseinrichtungen etc.) um armutssensibles Handeln.15 Ziel dieses Handelns ist es, Armutslagen aufmerksam wahrzunehmen und die Bedeutung von Armutserfahrungen im Kontext anderer Probleme verstehen zu können. Ebenso wird versucht, Kindern, Jugendlichen und Eltern positive Erfahrungen der Selbstwirksamkeit zu ermöglichen und ihnen Strategien der Bewältigung von Armutslagen zu vermitteln. Theoretischer Hintergrund dieser Aktivitäten ist der Capability-Ansatz (dt. „Befähigungsansatz“) der insbesondere von dem indischen Ökonomen Amartya Sen und der amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum entwickelt wurde.16 Die Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe schlägt für die Kinder- und Jugendhilfe insbesondere vier Perspektiven für eine armutssensible Orientierung vor: – Die Öffnung der Zugänge und eine mutige und sensible Ansprache, da viele Angebote nur scheinbar allen gleichermaßen offenstehen. – Die Eröffnung von Partizipationschancen, da auch diese häufig ungleich verteilt sind, wenn man sie nicht gezielt in den Blick nimmt. – Die Ermöglichung von kultureller und demokratischer Teilhabe auch über die Jugendhilfe hinaus, z.B. bei Angeboten anderer Organisationen im Stadtteil. – Die Orientierung der Arbeit an der Idee der Nachhaltigkeit. Ziel von Diakonie und Caritas ist eine dauerhafte Auseinandersetzung in allen kirchlichen Strukturen, Einrichtungen und Angeboten mit unbemerkten und ungewollten Benachteiligungen sowie stets möglichen Exklusionserfahrungen, die Menschen auch in kirchlichen Einrichtungen und Diensten erleben. Kirchliche Organisationen sollen stattdessen gerade Kindern und Jugendlichen in Armutslagen positive Erfahrungen ermöglichen. Kirche soll in ausgezeichneter Weise als Ort der Unterstützung, der Fairness und der Chancenvermittlung erlebt werden.

15

Vgl. Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe, Mittendrin; und Diözesan-Caritasverband Köln, Schluss mit der Ausgrenzung. 16 Vgl. Otto/Ziegler, Capabilities – Handlungsbefähigung und Verwirklichungschancen.

Armut von Kindern und Jugendlichen

4.2

93 

Prävention

Prävention ist das neue Leitbild des sozialinvestiven Staats. Ulrich Bröckling fasst den generellen Anspruch von Prävention folgendermaßen: „Prävention will nichts schaffen, sie will verhindern. Gesundheit kennt sie nur als Abwesenheit von Krankheit, Sicherheit nur als Ausbleiben von Verbrechen, Frieden nur als Nicht-Krieg. Die Mittel, mit denen sie ihre Ziele erreichen will, sind dagegen ebenso gut repressiver wie produktiver Natur: Verhaltens- steht neben Verhältnis-, Spezial- neben Generalprävention, individuumzentrierte konkurrieren mit risikogruppen- oder bevölkerungsbezogenen Ansätzen, Zwangsmaßnahmen mit Aufklärungskampagnen. Prävention straft und belohnt, droht und ermutigt, schreckt ab und belehrt, sammelt und sondert aus, entzieht Ressourcen und teilt sie zu, installiert technische Kontrollsysteme und nutzt soziale Netzwerke.“17

Gerade in angelsächsischen Ländern, die weniger sozialstaatlich orientiert sind, haben präventive Ideen und Konzepte in den letzten Jahrzehnten Konjunktur. Von präventiven Programmen in den USA und Großbritannien inspiriert, haben Sozialpolitiker_innen in Deutschland in den letzten Jahren versucht, die Grundideen und die Programmatik auf hiesige Verhältnisse anzupassen. Dabei überrascht der Optimismus, der mit Begriff und Konzepten der Prävention einhergeht, hat doch der Träger des Wirtschafts-Nobelpreises James Heckman schon Ende des 20. Jahrhunderts aufgezeigt, dass nur erhebliche soziale Investitionen in Bildung von Kindern und Unterstützung von Familien nachhaltig helfen und die sog. sozialen Folgekosten wirksam minimieren können. Eine Studie des Zentrums für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim hat errechnet, dass jährliche Mehrausgaben von rund 660 Euro pro Kind dazu führen könnten, dass dieses Kind später bis zu 55.000 Euro pro Jahr mehr an Einkommen erzielen könnte. Besonders die Investitionen in ärmere Kinder „lohnen“ sich nach diesen Berechnungen.18 Ist es einerseits verlockend, sozialpolitische Kosten als Investitionen zu verstehen, so ist doch die zugrundeliegende Logik höchst gefährlich, da die Unterscheidung in rentable und unrentable Präventionsaktivitäten droht. Bei „aussichtslosen Fällen“, d.h. Kindern und Jugendlichen, deren Chancen auf Schulabschlüsse und Kompetenzerwerb unrealistisch sind, würden Unterstützungs- und Förderleistungen eher 17

Bröckling, Prävention, 210. Vgl. Pfeiffer/Reuß, Ungleichheit und die differentiellen Erträge frühkindlicher Bildungsinvestitionen. 18

94 R. Stork    begrenzt, während die chancenreicheren, z.B. jüngeren Kinder stärker gefördert würden. Trotz dieser grundsätzlichen Skepsis werden in vielen Kommunen Präventionsaktivitäten ausgeweitet, um Kinder und Jugendliche frühzeitig zu fördern und zu unterstützen. Besonders der Aufbau von Präventionsnetzwerken und Präventionsketten wird in vielen Kommunen – und mit großer Unterstützung kirchlicher und diakonischer Träger – vorangetrieben, um Hilfe- und Förderangebote und -systeme auszuweiten und besser zu vernetzen.19 Diese praktischen Aktivitäten mögen überwiegend hilfreich und sinnvoll sein; auffallend sind die insgesamt geringen Investitionen im Vergleich zur überschießenden Rhetorik. 4.3

Prioritäten setzen und durchsetzen

Auch die innerkirchliche Sozialpolitik und die Verteilung kirchlicher Fördermittel folgen in der Regel nicht durchgängig der Idee, sozialer Benachteiligung entgegenzuwirken. So tragen kirchliche Kindertageseinrichtungen und Schulen mit ihrer Aufnahmepolitik nicht immer dazu bei, Segregation zu verringern; manchmal fördern sie diese stattdessen, wie kleinräumige Untersuchungen z.B. in Mülheim an der Ruhr zeigen konnten. Wenn kirchliche Kindertageseinrichtungen nur begrenzt Kinder aus armen (z.B. zugewanderten) Familien aufnehmen, konzentrieren sich diese in Einrichtungen in städtischer oder anderer Trägerschaft. Dies hat schwerwiegende Folgen für die Entwicklung der Kinder;20 hier sind kirchliche Träger mit verantwortlich! Die gleichen Untersuchungen zeigten, dass Kindertageseinrichtungen in sozialen Brennpunkten durch eine bessere Ausstattung in der Lage waren, Kinder besser zu fördern, was sich in den Ergebnissen der Schuleingangsuntersuchungen widerspiegelte.21 Insofern sind Kirche und Diakonie gefordert, Zeichen zu setzen und Einrichtungen in sozial benachteiligten Quartieren finanziell, personell und symbolisch vorrangig zu fördern.

19

Vgl. Landschaftsverband Rheinland, Präventionsnetzwerke und Präventionsketten erfolgreich koordinieren. 20 Vgl. Groos/Jehles, Der Einfluss von Armut auf die Entwicklung von Kindern, 43 ff. 21 Vgl. ebd.

Armut von Kindern und Jugendlichen

4.4

95 

Hilfe unter Protest

Armut von Kindern und Jugendlichen ist politisch verantwortet und lässt sich in einem reichen Land von politisch Verantwortlichen deutlich minimieren. Insofern ist die Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und Eltern bei der Bewältigung von Armutsfolgen in kirchlichdiakonischer Trägerschaft nur dann authentisch und verantwortbar, wenn zugleich die politisch Verantwortlichen für ihr Nicht-Handeln kritisch angefragt werden. Die eaf-nrw empfiehlt Fachkräften und Ehrenamtlichen in Kirche und Diakonie Hilfe nur „unter Protest“ zu leisten, um diese Verantwortung ernst zu nehmen.22 In der Tat ist die Frage, wie es gelingen kann, die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für die Armut von Kindern auf die Verantwortung der Politik zu lenken. Im Fokus der Öffentlichkeit steht das Versagen der Familien, der Schulen, der Jugendämter, die jedoch häufig ihr Bestes geben. Insofern sind Kirche und Diakonie nicht nur als Unterstützungsinstanzen für Kinder, Jugendliche und Eltern in Armutslagen gefordert, sondern auch als Organisierende einer Gegenöffentlichkeit, die „Ross und Reiter“ benennt. 5

Politische Perspektiven

Armut von Kindern und Jugendlichen ist bedingt durch die Einkommensarmut ihrer Eltern, Familien benachteiligende Beiträge in den Sozialversicherungen, zu geringes Kindergeld und nicht ausreichende Sozialleistungen für Familien. Dass spezielle Bedarfe von Kindern und Jugendlichen – gerade auch kulturelle Bedarfe sowie Bildungsund Teilhabebedarfe – bei der Berechnung des Existenzminimums kaum zum Tragen kommen, ist ein Skandal angesichts der Tatsache, dass Prävention und Bildungsgerechtigkeit seit Jahren weit oben auf der öffentlichen Agenda stehen. Sollte es tatsächlich zu einer deutlichen ökonomischen Entlastung armer Familien kommen, muss jedoch berücksichtigt werden, dass diese keinesfalls als Alternative zum ebenfalls dringend benötigten Ausbau der armutspräventiven Infrastruktur im Jugendhilfe- und Bildungssystem (Kindertageseinrichtungen, Schulen, Jugendzentren etc.) verstanden werden darf. Die neueren Erkenntnisse der Bildungsökonomie, die berechnet hat, welche Folgekosten Armut von Kindern und Jugendlichen dauerhaft 22

Vgl. Evangelische Arbeitsgemeinschaft Familie NRW, Satt an Leib und Seele, 16. Siehe den Beitrag von Benjamin Benz in diesem Band, 431ff.

96 R. Stork    für unsere Gesellschaft mit sich bringt, haben zur Verringerung von Kinder- und Jugendarmut bisher wenig beigetragen. Zu hoch erscheinen die notwendigen Investitionen in Bildung und Förderung armer Kinder und Jugendlicher, als dass politische Verantwortliche die Vorschläge beherzt aufgriffen. Überhaupt ist das Verständnis von Kindern und Jugendlichen als zukünftiges Kapital ein ethisch und moralisch fragwürdiges „Produkt“ einer durch und durch kapitalistischen Gesellschaft. So „lohnen“ sich vielleicht Investitionen in einige begabte Kinder und Jugendliche, andere aber werden als hoffnungslose Fälle erst recht aussortiert, wie man z.B. an der zurückgehenden Förderung von Offener Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit und Hilfen zur Erziehung für junge Volljährige sehen kann.23 Das Kinder- und Jugendhilfegesetz der Bundesrepublik Deutschland bildet mit seinem Grundanspruch, dass jeder junge Mensch ein Recht auf gute Förderung hat (§ 1 SGB VIII), ein Bollwerk gegen eng geführtes ökonomisches Kalkül. Zudem bietet das SGB VIII im Prinzip eine geeignete Grundlage, um auf der Basis einer gerechteren Verteilung ökonomischer Güter gemeinsam mit der Wohlfahrtspflege und den Kirchen landespolitische und kommunale Strategien zur Verringerung von Segregation und Exklusion zu entwickeln sowie Konzepte und Strategien zur Förderung von benachteiligten Kindern und Jugendlichen zu erarbeiten. Viele geeignete Konzepte und Strategien z.B. für eine gerechtere Bildungspolitik sind lange schon bekannt, werden aber in einer demokratischen Gesellschaft immer wieder abgewählt. Selbst mit naheliegenden bildungspolitischen Reformen – stärkere soziale Durchmischung der Schülerinnen und Schüler, längeres gemeinsames Lernen, bessere und armutssensible individuelle Förderung – tun sich die Bundesländer schwer. Insofern sind Kirche und Diakonie auch als Mehrheitsbeschafferinnen für Parteien gefragt, die es mit dem Kampf gegen Kinderarmut ernst meinen. Literatur Andresen, Sabine / Galic, Danijela, Kinder. Armut. Familie. Alltagsbewältigung und Wege zu wirksamer Unterstützung, Gütersloh 2015. Borchert, Jürgen, Sozialstaatsdämmerung, München 2013. 23

Vgl. Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik, 22 ff.

Armut von Kindern und Jugendlichen

97 

Bröckling, Ulrich, Prävention, in: ders. (Hg.), Glossar der Gegenwart, Frankfurt am Main 2004, 210–215. Bundesregierung, Fünfter Armuts- und Reichtumsbericht, 2017, onhttp://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/SharedDocs/ line: Downloads/Berichte/5-arb-langfassung.pdf?__blob=publication File&v=6 (Zugriff: 17.03.2018). Chassé, Karl-August, Kinderarmut als Kindeswohlgefährdung?, Widersprüche 37 (2017), Heft 146, 57–69. Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe (Hg.), Mittendrin. Armutssensibles Handeln in der Kinder- und Jugendhilfe, Münster 2011. Diözesan-Caritasverband Köln (Hg.), Schluss mit der Ausgrenzung. Armutssensibles Handeln, Köln 2016. Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik (Hg.), Kommentierte Daten der Kinder- und Jugendhilfe, Heft 2/3, Dortmund 2017. Evangelische Arbeitsgemeinschaft Familie NRW (Hg.), Satt an Leib und Seele. Kinderarmut ist ein unerhörter Hilferuf zu einem praktisch abzuschaffenden Problem, 2017, online: http://eaf-nrw.de/ sites/default/files/2017%20eaf-nrw_PositionspapierKinderarmut.pdf (Zugriff: 17.03.2018). Groos, Thomas / Jehles, Nora, Der Einfluss von Armut auf die Entwicklung von Kindern, Gütersloh 2015. Hilke, Maren / Schütte, Johannes / Stolz, Heinz-Jürgen, Kommunale Angebotslandschaften für Kinder und Jugendliche wissensbasiert weiterentwickeln, in: Institut für soziale Arbeit (Hg.), ISA-Jahrbuch zur sozialen Arbeit, Münster/New York 2017, 208–221. Holz, Gerda / Laubstein, Claudia / Stahmer, Evelyn, Lebenslagen und Zukunftschancen von (armen) Kindern und Jugendlichen in Deutschland. 15 Jahre AWO-ISS-Studie, Frankfurt am Main 2012. Klemm, Klaus, Soziale Herkunft und Bildung im Spiegel neuer Studien, in: Burkhard Jungkamp / Marei John-Ohnesorg (Hg.), Soziale Herkunft und Bildungserfolg, Berlin 2016, 17–23, online: http://library.fes.de/pdf-files/studienfoerderung/12727.pdf (Zugriff: 17.03.2018). Klundt, Michael, Kinderarmut und Reichtum in Deutschland. Ene, mene, muh, und raus bist Du?, Berlin 2017, online: https:// th.rosalux.de/fileadmin/ls_thueringen/dokumente/Studie_Michael Klundt_Kinderarmut_und_Reichtum_in_Deutschland.pdf (Zugriff: 17.03.2018). Landschaftsverband Rheinland (Hg.), Präventionsnetzwerke und Präventionsketten erfolgreich koordinieren. Eine Arbeitshilfe aus dem LVR-Programm „Teilhabe ermöglichen – Kommunale Netzwerke gegen Kinderarmut“ im Rheinland, Köln 2017.

98 R. Stork    März, Daniel, Kinderarmut in Deutschland und die Gründe für ihre Unsichtbarkeit. Weinheim/Basel 2017. Otto, Hans-Uwe / Ziegler, Holger (Hg.), Capabilities – Handlungsbefähigung und Verwirklichungschancen in der Erziehungswissenschaft, Wiesbaden 2010. Pfeiffer, Friedhelm / Reuß, Karsten, Ungleichheit und die differentiellen Erträge frühkindlicher Bildungsinvestitionen (Diskussionspapier 08-001), Mannheim 2008, online: ftp://ftp.zew.de/pub/zewdocs/dp/dp08001.pdf (Zugriff: 17.03.2018). Rock, Joachim, Störfaktor Armut. Ausgrenzung und Ungleichheit im „neuen Sozialstaat“, Hamburg 2017. Tophoven, Silke u.a., Armutsmuster in Kindheit und Jugend, Längsschnittbetrachtungen von Kinderarmut, Gütersloh 2017, online: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/ did/armutsmuster-in-kindheit-und-jugend/ (Zugriff: 17.03.2018). World Vision Deutschland (Hg.), Kinder in Deutschland 2013, Weinheim 2013.

  Gerhard Naegele

Lebenslagenarmut im Alter

1

Armutskonzepte, Ausmaß von Altersarmut und Risikogruppen

Das in der Bundesrepublik dominierende „offizielle“ Verständnis von Armut bezieht sich eindeutig auf finanzielle Dimensionen, d.h. auf „Einkommensarmut“. Dabei wird im Allgemeinen unterschieden zwischen absoluter und relativer (Einkommens-)Armut. Absolute Einkommensarmut liegt vor, wenn Personen nicht über die zur Existenzsicherung notwendigen Güter wie Nahrung, Kleidung 1 und Wohnung verfügen und ihr physisches Überleben gefährdet ist. Sie ist in Deutschland nicht nur weitgehend überwunden, sondern schon per Definition nicht existent, denn die Regelsätze von Grundsicherung bei Alter und Erwerbsminderung, auf die ein bedingungsloser Rechtsanspruch besteht, sollen ja das „sozial-kulturelle Existenzminimum“ absichern, d.h., die jeweiligen Bezieher_innen gelten demnach nicht als „arm“ („bekämpfte Armut“). Nach dieser „Definition“ bezogen 2016 knapp 540.000 Personen über 65 Jahren Grundsicherung, d.h., die Quote lag bei 3,2 % (neue Länder 2,2 %, alte Länder 3,4 %). Zu beachten ist jedoch die nach wie vor bestehende „Dunkelziffer der Altersarmut“, d.h. die Nicht-Inanspruchnahme von Leistungen trotz Anspruchsberechtigung – zumeist zurückzuführen auf eine Mischung aus Schamgefühlen, Unkenntnis und Stigmatisierungs2 befürchtungen. Hinzu kommt, dass die Regelsätze auf politischen Festlegungen beruhen, also auf keiner wissenschaftlich abgesicherten 3 Begründung. Die meisten Armutsforscher_innen hierzulande beziehen sich allerdings auf das relative Armutskonzept. Auch dem offiziellen Armutsund Reichtumsbericht der Bundesregierung liegt dieses Armuts1

Vgl. Bäcker/Naegele u.a., Sozialpolitik und soziale Lage. Vgl. Becker, Finanzielle Mindestsicherung. 3 Vgl. Bäcker/Naegele u.a., Sozialpolitik und soziale Lage. 2

100 G. Naegele    4 konzept zugrunde. „Relative Armut“ wird auf Raum und Zeit bezogen und am Lebensstandard der Gesellschaft eines Landes gemessen. Als Bemessungsgrundlage für die Berechnung der Armutsgefährdungs- oder Armutsrisikogrenze gelten 60 % des Durchschnittseinkommens (berechnet mittels Medianeinkommen) der Bevölkerung. Nach dieser Definition gelten nach der DPWV-Armutsstudie von 2017 derzeit 15,9 % der Menschen im Alter von 65+ als „armutsgefährdet“, womit damit seit langer Zeit erstmals die für die Gesamtbevölkerung berechnete Quote von 15,7 % leicht überschritten wird; 5 nach Expertenmeinungen (s.u.) künftig mit wachsender Tendenz. Letzteres gilt vielen als empirischer Beleg für die These der (wieder ansteigenden) Altersarmut. Mit Bezug auf Risikodimensionen und Risikogruppen werden häufig individuelle Erwerbs- und Versichertenbiografien angeführt. Diese 6 sollten aber im „biographischen Gesamtzusammenhang“ gesehen werden. Eine jüngst von Klammer & Brettschneider vorgelegte Analyse der Lebensverläufe von Grundsicherungsbezieher_innen lässt dabei ein deutliches Zusammenspiel von individuellen und strukturellen Faktoren erkennen. Darauf aufbauend kommt die Studie zu nächstehend aufgelisteten Risikogruppen, deren gemeinsames Grundmerkmal ist, „dass sie aus verschiedenen Gründen über lange Strecken ihrer Erwerbsbiografie nicht bzw. nicht sozialversicherungspflichtig 7 beschäftigt gewesen waren“ , was Klammer als „temporäre oder dauerhafte (Selbst-)Exklusion aus der Versichertengemeinschaft der 8 GRV“ bezeichnet: – familienorientierte Frauen (zumeist mit dem Lebensmodell „Ausrichtung an einer männlichen Versichertenbiografie“; vor allem relevant im Falle von Scheidungen und / oder oftmals gesundheitsbedingtem Scheitern der Erwerbsbiografie des Mannes), – ehemalige Selbständige (zumeist ohne Einkünfte aus berufsständischen Versorgungssystemen), – zugewanderte Personen („Gastarbeiter_innen“ der ersten Generation, Spätaussiedler_innen mit Problemen in der Anerkennung und Berechnung der im Herkunftsland erworbenen Rentenanwartschaften, jüdische Kontingentflüchtlinge), – umbruchsgeprägte Ostdeutsche (mit Problemen der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt nach dem Systemwechsel), 4

Vgl. Deutscher Bundestag (Hg.), Lebenslagen in Deutschland. Vgl. Finkenwirth/Diemand, ZEIT Online: Armutsbericht 2017. 6 Klammer, Aktuelle und zukünftige Risikogruppen, 16. 7 Klammer/Brettschneider, Lebenswege in die Altersarmut, 23. 8 Klammer, Aktuelle und zukünftige Risikogruppen, 23. 5

Lebenslagenarmut im Alter

101 

– komplex Diskontinuierliche (mit hohen Anteilen von Statuswechseln, Brüchen und sonstigen Verwerfungen in den Erwerbsbiografien). Künftig ist aber von einer Veränderung der Zusammensetzung der Risikopopulationen auszugehen: So kann eine Bedeutungsabnahme für „familienorientierte Frauen“ sowie für Migrant_innen mit abgeschlossener Migrationsgeschichte, andererseits eine Bedeutungszunahme bei den ehemaligen Selbständigen und den „umbruchsgeprägten Ostdeutschen“ erwartet werden. Letzteres gilt auch und in besonderer Weise für Hinweise, dass insbesondere in den neuen Bundesländern die für Altersarmut armutsrelevanten Episoden, d.h. diskontinuierliche Erwerbs- und Versicherungsbiografien (vor allem Langzeit-Arbeitslosigkeit und Frühverrentungen), zunehmen werden. Andererseits wird es – trotz aller Beschäftigungsnachteile – in Ostwie Westdeutschland gleichermaßen zu einer Verbesserung der Frauenrenten durch eine Steigerung von Häufigkeit und Dauer ihrer Er9 werbsbeteiligung kommen. Auch könnte der demografische Wandel auf dem Arbeitsmarkt mittel- bis längerfristig Beschäftigungschancen und -dauern positiv beeinflussen, zumindest bei Arbeitnehmer_innen mit günstigeren Ausgangsbedingungen. Allerdings gilt hier das „Matthäus-Prinzip“ („Wer hat, dem wird gegeben“): Die über die beiden für die spätere Sicherungsqualität im Alter zentralen Parameter der Erwerbsbiografien – Höhe des Verdienstes sowie Dauer und Volumen der versicherungspflichtigen Erwerbsarbeit – bewirkte Spreizung 10 der Alterseinkommen wird vermutlich weiter voranschreiten . 2

Altersarmut als Lebenslagenarmut

Geringes Einkommen ist zwar eine zentrale, aber nicht ausschließliche Bedingung für eine als „arm“ zu bezeichnende Lebenslage im Alter. An diesen Umstand knüpft explizit das aus der Ungleichheits11 forschung stammende Lebenslagenkonzept und seine Anwendung auf Armut an. In einem umfassenderen Sinne manifestiert sich Lebenslagenarmut ganz elementar im Ergebnis des Zugangs zu bzw. der Nutzung von immateriellen Ressourcen wie Bildung, Wohneigentum, Gesundheit oder sozialem Kapital („Ressourcenansatz“). Sie geht damit weit über die finanziellen Dimensionen hinaus, betrachtet allerdings Einkommen als eine „Schlüsselgröße“ auch für die immaterielle 9

Vgl. Kumpmann, Politikoptionen gegen Altersarmut. Vgl. Naegele/Schmähl, Materielle Ressourcen des Alters. 11 Vgl. grundlegend Clemens/Naegele, Lebenslagen im Alter; Naegele, Lebenslagen im Alter im demografischen Wandel. 10

102 G. Naegele    Lebenslage (z.B. unbezahlbare Mieten für alter(n)sgerechten Wohnstandard). In diesem Konzept ist Armut im Alter demnach eine multikomplexe Lebenslage, die gleichzeitig vielfältige, eng miteinander verknüpfte materielle wie immaterielle problematische Lebensbedingungen aufweist. Von zentraler Bedeutung sind dabei insbesondere die Dimen12 sionen Gesundheit, Wohnen und soziale Integration. Zugleich bezieht das Lebenslagenkonzept subjektive Dimensionen wie Lebensqualität oder Wohlbefinden mit ein. Empirisch belegt sind Zusammenhänge zwischen (Alters-)Einkommensarmut und schlechterer Gesund13 heit , einer insgesamt kürzeren ferneren Lebenserwartung, schlechteren Wohnverhältnissen oder einem geringeren Versorgungsgrad mit / Zugang zu hochwertigen gesundheitlichen und anderen sozialen Diensten. Kennzeichnend für immaterielle (Alters-)Armut sind zudem geringere Teilhabe am privaten und öffentlichen Leben, wenige nach außen gerichtete soziale Kontakte verbunden mit einem niedrigeren Kommunikationsniveau sowie ein Weniger an informellen Hilfen durch Dritte etc. Nicht zuletzt sind Betroffene auch weniger mobil, ebenfalls eine wesentliche Voraussetzung für gesellschaftliche Partizipation und Integration (und erst recht in Anbetracht des hierzulande als neues Altersleitbild stark propagierten „aktiven Älterwerdens“). In der Konsequenz wirkt sich (Einkommens-)Armut im Alter negativ 14 auf die Lebensqualität und das subjektive Wohlbefinden aus und beeinflusst ganz wesentlich die individuellen Bewältigungsstile und das Armutserleben. Dies erklärt u.a. auch das sog. „Zufriedenheitsparadoxon“, wonach viele ältere Menschen insbesondere in sozial problematischen Lebenslagen ihre Lebenssituation subjektiv positiver empfinden, als aufgrund der objektiv gegebenen Umstände anzuneh15 men wäre. Die Situation wird zudem noch dadurch verschärft, dass Altersarmut kaum durch eigene Aktivitäten veränderbar ist, sondern zumeist eine dauerhafte Armutslage für den Rest des Lebens mit nahezu vollständig fehlenden Handlungsspielräumen, die dazu beitragen könnten, aus der (Einkommens-)Armut herauszukommen bzw. auf diese aktiv einzuwirken. Auch die Hoffnung auf Erbschaften und andere materielle Zuflüsse ist zumeist unrealistisch. Im Gegenteil: Erbschaften können die Abstände zu den nicht Armen dieser Altersgruppe noch vergrößern, weil der Sozial- und Einkommensstatus der 12

Vgl. verschiedene Beiträge in Vogel/Motel-Klingebiel, Altern im sozialen Wandel. Vgl. Kümpers/Rosenbrock, Gesundheitspolitik für ältere und alte Menschen. 14 Vgl. Kruse, Lebenszufriedenheit. 15 Vgl. Staudinger, Viele Gründe sprechen dagegen. 13

Lebenslagenarmut im Alter

103 

Erben hierzulande in der Regel nicht wesentlich von dem ihrer Eltern 16 abweicht. Mit Bezugnahme auf das Lebenslagenkonzept in der Armutsforschung wird auf die eingeschränkte Wirkung von Transferzahlungen zur Bekämpfung von Armut verwiesen und stattdessen die Notwendigkeit ergänzender Maßnahmen betont, die vor allem dazu beitragen, die immateriellen Lebenslagedimensionen der von (Alters-) Armut Betroffenen unmittelbar zu verbessern. Damit wird der Blick auf weitere politische Handlungsebenen und -akteure jenseits der 17 sozialen Sicherungspolitik im engeren Sinne gelenkt. Dies gilt insbesondere für die Kommunen, die direkt mit Armut konfrontiert sind (s.u.), für Akteure aus dem gesundheits- und wohnungspolitischen sowie zivilgesellschaftlichen Bereich. Dabei geht es um die Identifizierung von kommunalen Möglichkeiten zur Einleitung einer auf Armut (im Alter) bezogenen Lebenslagenpolitik, d.h. um die „Ver18 teilung“ von Lebenslagen der von Armut betroffenen Menschen. Dazu gehört auch, – wie im Lebenslagenkonzept explizit angedacht – Handlungsspielräume zu gewährleisten, Möglichkeiten für die Betroffenen also, selbst initiativ und aktiv zu werden. 3 3.1

Kommunale Armutspolitik als Antwort auf wachsende immaterielle Altersarmut Zuständigkeiten, Ziele und Handlungsfelder

Unter Zugrundelegung des Lebenslagenkonzeptes ist die kommunale Ebene der Ort, an dem sich Lebenslagenarmut (nicht nur im Alter) ganz konkret manifestiert. Repräsentative Befragungen unter den Älteren in Deutschland (so die Generali-Altersstudie von 2013; Generali Zukunftsfonds und Institut für Demoskopie Allensbach 2012) bestätigen, dass ältere Menschen (finanzielle) Altersarmutsvermeidung und -bekämpfung als primäre bundespolitische Aufgabe ansehen und dabei insbesondere der sozialen Sicherungspolitik zuweisen. Das Konzept der Lebenslagenarmut im Alter und eine darauf bezogene Lebenslagenpolitik legen dabei eine mehr Akteure einbeziehende Verantwortungszuordnung nahe und erfordern ein breiteres Aktionsbündnis zur Bekämpfung von (Alters-)Armut insbesondere auf der Meso- und Mikroebene. Dabei sind Kommunen als „Orte der (sozia16

Lux/Schupp, Analyse des Erbschafts- und Schenkungsverhaltens. Naegele/Olbermann/Bertermann, Altersarmut als Herausforderung. 18 Vgl. Preller, Sozialpolitik. 17

104 G. Naegele    19 len) Daseinsfürsorge“ in erster Linie zuständig für die sozialpolitische Gestaltung der Lebensverhältnisse ihrer Bevölkerung. Adressiert sind insbesondere ihre settingbezogenen Handlungsmöglichkeiten speziell im entlastenden und gestaltenden Bereich. Allerdings ist eine explizite lokale Armutspolitik in Deutschland bisher nur in Ansätzen erkennbar. Dies verwundert umso mehr, als Kommunen in besonderer Weise von globalen, demografischen und sozialpolitischen Megatrends mit unmittelbarer (Alters-)Armutsrelevanz betroffen sind, beispielsweise von Singularisierung, Segregation, sozialer Exklusion oder Zuzug von sozialen Problemgruppen insbesondere in die Städte. Bei der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen kommunaler Altersarmutspolitik lassen sich grundsätzlich präventive, auf die Zukunft und auf zukünftige Armutspopulationen bezogene Strategien, von kompensatorischen Maßnahmen, die auf die aktuelle Lebenslage 20 der von Armut betroffenen Älteren zielen, unterscheiden. Letztere stehen im Fokus dieses Beitrags. Dennoch gibt es auch für präventive Maßnahmen eine Reihe beachtenswerter kommunaler Anknüpfungspunkte. Dies gilt beispielsweise für die lokale Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik (z.B. eigene Programme der lokalen Arbeitsmarktpolitik und / oder Wirtschaftsförderung in besonders bedrohten Wohnquartieren). Des Weiteren ist – wenn auch mit mittel- bis längerfristiger Wirkung – auf Maßnahmen der Bildungs- und Integrationspolitik hinzuweisen. Diese richten sich insbesondere an bildungsschwächere Bevölkerungsgruppen, junge Menschen sowie Frauen mit Migrationshintergrund. Hinzu kommen neben vorschulischen und schulischen Bildungsangeboten auch Freizeit- und Kulturangebote, auf die die Kommunen einen vergleichsweise hohen Einfluss haben. Die im Zentrum dieses Beitrags stehende kommunale Altersarmutspolitik als Lebenslagenpolitik hat ein primäres Ziel, das einem Spagat gleichkommt: defizitäre Lebenslagen möglichst verbessern, ohne dabei wirksam auf die ihnen zugrundeliegende prekäre Einkommenssituation (und ihre Ursachen) Einfluss nehmen zu können. Denn hier haben Kommunen lediglich geringe Spielräume, wenngleich diese durchaus ausbaufähig sind: So könnte sich z.B. die örtliche Verbraucher- bzw. Schuldnerberatung mehr dem Thema „Altersarmut“ zuwenden, mehr „Tafeln“ einführen und diese auch weniger mobilen Älteren zugänglich machen. Denkbar sind auch mehr finanzielle Vergünstigungen bzw. Ermäßigungen beispielsweise für den Zugang zu 19 20

Vgl. Burgi, Kommunale Verantwortung. Vgl. Bäcker u.a., Sozialpolitik und soziale Lage.

Lebenslagenarmut im Alter

105 

öffentlichen Angeboten (z.B. „Pässe“ für die verbilligte Nutzung des ÖPVN oder des Freibades, Übernahme von Mitgliedsbeiträgen für Sportvereine etc.), für ältere, von Armut betroffene Menschen ein unerlässliches Instrument zur Sicherung von sozialer Teilhabe. Nicht zuletzt könnten Kommunen selbst die Quote der Inanspruchnahme von Grundsicherungsangeboten bei Alter und Erwerbsminderung steigern (z.B. durch Aufklärung, zugehende Beratung ihrer eigenen Dienste und Einrichtungen, bspw. Grundsicherungsämter, Allgemeiner Sozialer Dienst [ASD] / Kommunaler Sozialdienst [KSD] oder Spezialdienste). Allerdings darf das Potenzial derartiger indirekter Einkommenserhöhungen auch nicht überschätzt werden: Es ist allenfalls ein sehr „bescheidener“ Beitrag zur Reduzierung der „zu bekämpfenden“ Altersarmut zu erwarten. Im Folgenden werden die wichtigsten Handlungsfelder einer kommunalen sozialen Lebensla21 genpolitik kurz benannt. 3.2

Anerkennung von Altersarmut als dringlich anzugehendes örtliches Problem

Die Anerkennung von Altersarmut setzt einen entsprechenden kommunalpolitischen Willensbildungsprozess voraus, der sich allerdings angesichts drängender anderer lokaler Prioritäten in der Bewältigung des demografischen Wandels erst einmal durchsetzen muss. Zudem lässt sich in der lokalen Altenpolitik derzeit eine Fokussierung auf Pflegethemen beobachten, und hier insbesondere auf den stationären zulasten des häuslichen Bereichs. Vor diesem Hintergrund ist für eine möglichst von vielen gesellschaftlichen Gruppen getragene, alle Themen und Gruppen einbeziehende Leitbildentwicklung mit dem Ziel einer erweiterten Konzeptualisierung rund um das Thema „Altern in 22 den Kommunen“ zu plädieren. 3.3

Lokale / regionalisierte Sozial- und Armutsberichterstattung

Die lokale / regionalisierte Sozial- und Armutsberichterstattung zählt zu den Grundvoraussetzungen einer lebenslagenorientierten kommunalen Armutspolitik. Sie wird benötigt, um aussagekräftige Informationen über die räumliche und zeitliche Entwicklung prekärer Lebenslagen in der Bevölkerung treffen sowie Schwerpunkte festlegen und Maßnahmen begründen zu können. Zu diesem Zweck ist eine kleinräumige und zielgruppendifferenzierte Vorgehensweise erforderlich. Zu fordern ist, die sich verbreitende kommunale Alten- oder Demo21 22

Vgl. Naegele/Olbermann/Kühnel, Demografie-Konzepte. Vgl. Naegele, Kommunen im demografischen Wandel.

106 G. Naegele    grafieberichterstattung um die Dimension der Lebenslagenarmut zu erweitern, wie dies bereits viele Kommunen vorbildlich praktizieren (so z.B. in NRW). 3.4

Festlegung von Handlungsfeldern und -zielen

Bei der Festlegung von Handlungsfeldern und -zielen hat die Sicher23 stellung einer „zivilisatorischen Grundversorgung“ mit für die Lebensführung wesentlichen Gütern und Dienstleistungen höchste Priorität. Dazu zählen infrastrukturelle Voraussetzungen (z.B. öffentlicher Nahverkehr, Gesundheitsversorgung) sowie ein ausreichendes Angebot an Gütern und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs (z.B. preiswerte Angebotsvielfalt, Hol- und Bringestrukturen, Erreichbarkeit und Zugänglichkeit). Vor allem in ländlichen Regionen besteht hier ein hoher Bedarf. Besondere Beachtung kommt den Handlungsfeldern Mobilität und Wohnen zu, denn sie bestimmen maßgeblich auch die Lebenslage von einkommensschwachen älteren Menschen. Mobilität ist für die Bewegung im öffentlichen Raum, Barrierefreiheit, preiswertes Einkaufen (Einzelhandel und Dienstleistungen), Zugang zu öffentlichen Einrichtungen und öffentlichem Raum inklusive (preisgünstige) Verkehrsangebote von zentraler Bedeutung. Die Bereitstellung ausreichenden und preiswerten Wohnraums zählt zum Kern einer lokalen Armutspolitik, ergänzt um die Berücksichtigung verschiedener Dimensionen von „Alter(n)sgerechtigkeit“, die weit über die üblichen Kriterien des „Lebens in den eigenen vier Wänden“ hinausreichen (z.B. Beherrschbarkeit, Selbstständigkeit und Funktionsgerechtigkeit, Sicherheit, Atmosphäre und Kommunikation, soziale Einbindung und Integration, Zugang zu und Erreichbarkeit von sozialen Diensten). Speziell im Wohnbereich sind aber die Akzeptanz- und finanziellen Hürden extrem hoch, mit der Folge, dass sich viele Betroffen altersangemessene, moderne ICT-gestützte Lösungen nicht leisten können. Es gehört zur sozialen „Daseinsvorsorgepolitik“, dafür Sorge zu tragen, dass überdurchschnittlich hohe immaterielle Bedarfe nicht auch noch über den Preis ausgegrenzt werden, den private Anbieter hier üblicherweise fordern. Die hier bestehenden kommunalen Spielräume sind auszuloten. Lokale Sozialpolitik in diesem Feld erfordert somit auch, neuere Formen der zugehenden Beratung zu initiieren, die soziale und technisch-anwendungsbezogene Elemente beinhalten und 23

Initiative Neue Qualität der Arbeit & ddn, Positionspapier, 7.

Lebenslagenarmut im Alter

107 

ggf. auch unterschiedliche Professionen und Akteure einsetzen, um einen höheren Nutzungsgrad zu erreichen. 3.5

Suche nach gemeinsam getragenen und durchgeführten Lösungen mit anderen kommunalen Akteuren

Die Kommunen in ihrer Rolle als koordinierende und letztverantwort24 liche Instanzen, als „Koproduzenten sozialer Daseinsvorsorge“ , sind herausgefordert, nach gemeinsam von verschiedenen, örtlich agierenden Akteuren getragenen Lösungen für die Betreuung älterer Menschen zu suchen. Angesichts der herausragenden Bedeutung der Dimensionen Gesundheit und gesundheitlich-pflegerischen Versorgung für die Lebenslagenaltersarmut ist die fast vollständige Ab25 wesenheit der Kommunen in diesem Feld angesichts der dominanten Zuständigkeit der Sozialversicherungsträger (Kassen, Kassenärzt26 liche Vereinigungen) kaum zu akzeptieren. Die in einigen Bundesländern (z.B. Nordrhein-Westfalen) vorhandenen lokalen Gesundheits- und Pflegekonferenzen, in denen alle gesundheits- und pflegepolitisch relevanten Akteure vertreten sein müssen, werden als Instrumente für armutspolitische Zwecke bislang zu wenig genutzt. Dies gilt auch für die kommunalen Gesundheitsämter, die sich zu lange primär über Aufsichts- und Kontrollaufgaben definiert haben und bislang traditionell ihren Schwerpunkt in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sahen. Allerdings bietet die jüngst (endlich!) verabschiedete Bundes-Präventionsgesetzgebung eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten gerade auch für eine neue und innovative lokale Gesundheitsförderungspolitik, die sich dann natürlich in besonderer 27 Weise den sozialen Problemgruppen zuwenden sollte. 3.6

Institutionelle Verankerung der lokalen Armutspolitik und Ausweitung der interkommunalen Zusammenarbeit

Die institutionelle Verankerung von lokaler Armutspolitik innerhalb der Kommunalverwaltungen ist eine zentrale Voraussetzung für eine Stärkung der lokalen Altersarmutspolitik. Die organisatorische Zuordnung der Armutspolitik zu den lokalen Grundsicherungsämtern scheint wegen der primär administrativen Aufgabenzuweisung wenig angemessen. Denkbar wären soziale Außendienste (möglicherweise 24

Vgl. BMFSFJ, 7. Bundesaltenbericht. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet die Stadt Münster. Vgl. Stadt Münster, Maßnahmenprogramm. 26 Vgl. Burgi, Kommunale Verantwortung. 27 Vgl. Die Nationale Präventionskonferenz, Präventionsforum 2017. 25

108 G. Naegele    angesiedelt beim Allgemeinen Sozialen Dienst) mit beratenden und zugehenden Funktionen, in jedem Falle aber mit gerontologischen Zusatzkompetenzen. Da Altersarmut im Regelfall kein örtlich isoliert auftretendes Phänomen ist, bietet sich auch eine überörtliche Zusammenarbeit an, wie sie auch insgesamt für die örtliche Demografiepoli28 tik vorgeschlagen wird. 3.7

Quartiersmanagement im Rahmen einer gemeinwesenorientierten lokalen Sozialpolitik

Ältere Menschen leben wie alle anderen Altersgruppen in Quartieren und sind Teil von Nachbarschaften etc. Von Armut bedrohte bzw. betroffene Ältere zählen dabei erfahrungsgemäß weniger zu den aktiven und mehr zu den passiven Bewohner_innen, insbesondere wegen der ihnen zur aktiven Partizipation geringer zur Verfügung stehenden ökonomischen Ressourcen. Dies ist zugleich der Anknüpfungspunkt für neuere Projekte des Quartiersmanagements, die auch zu Armutsbekämpfungs- und -reduzierungszwecken im Bereich der immateriellen Dimensionen genutzt werden könnten. Inzwischen hat auch die pflegerische Versorgung diese Idee übernommen: Zu den neuen Leitbildern in der Pflege zählen beispielsweise „Inklusion“ und „barrierefreies Lebensumfeld im sozialen Nahraum“, „Quartiers- und Gemeinwesenorientierung“ oder „Caring Communities“ („sorgende Gemeinschaften“) sowie die Schaffung einer „Sorgekultur“. Die Verfasser 29 des Siebten Bundesaltenberichts hatten sogar explizit den Auftrag, sich dieser Thematik zu widmen und dabei die besondere Rolle und Verpflichtung der Kommunen, die die Verantwortung für die nachhaltige Umsetzung solcher neuen Leitbilder übernehmen sollen, zu begründen. Ergänzend sei auf weitere neue Rollenzuweisungen im Zuge der Pflegereformen 2015/16 (PSG II, III) an die Kommunen im Bereich der Pflege hingewiesen, insbesondere in Bezug auf die Erweiterung von ebenfalls armutsrelevanten neuen Beratungsleistungen 30 als Umsetzung des Koalitionsvertrages von 2013. Damit könnte zusätzlich auch das Eigeninteresse der Kommunen (nicht nur als örtliche Sozialhilfeträger) an der Bekämpfung von Altersarmut geweckt werden.

28

Vgl. Bogumil/Gerber/Schickentanz, Handlungsmöglichkeiten kommunaler Demografiepolitik. 29 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 7. Bericht zur Lage der älteren Menschen. 30 Vgl. Naegele, Die Rolle der Kommunen.

Lebenslagenarmut im Alter

3.8

109 

Nutzung und Stärkung zivilbürgerschaftlicher Potenziale inkl. von Selbsthilfe

Die Nutzung und Stärkung des zivilbürgerschaftlichen Potenzials inklusive der Möglichkeiten von Selbsthilfe gilt vielen als „Königsweg“ auch bei der Lösung sozialer Probleme auf lokaler Ebene. Die in diesem Zusammenhang vielfach vorgetragene Kritik an bisheriger Nutzung von zivilbürgerschaftlichen Potenzialen zur Bekämpfung von Altersarmut bezieht sich nicht nur auf die potenzielle Lückenbüßerfunktion und die darin angelegte Gefahr einer Verdrängung pro31 fessioneller Dienste. Zivilgesellschaft für die Belange armer Älterer zu aktivieren, vor allem durch Einbezug der Potenziale der (nicht armen) älteren Menschen selbst, wurde in der Vergangenheit wiederholt im Rahmen der Diskussionen um mehr „Selbstverantwortung“ und vor allem mehr „Mitverantwortung“ (für andere, sozial schwä32 chere Gesellschaftsmitglieder) zu übernehmen, angeregt . Diese Idee hat insbesondere im Zuge der Diskussion um die Bewältigung der Herausforderungen des demografischen Wandels neue Schubkraft erhalten. Allerdings rechtfertigen die bisherigen Erfahrungen diesen Optimismus eigentlich nicht, denn in der Praxis gibt es nur wenige belastbare Beispiele praktizierter intragenerationeller Solidarität zwischen armen und nicht armen Alten. Auch wenn die Generali-Studie ein breites zivilbürgerschaftliches Engagement der älteren Generation 33 und ein nicht ausgeschöpftes Potenzial belegt, so zeigt sie auch die Grenzen beim Engagement für die „harten“ sozialen Problemlagen, zu denen zweifellos auch die Altersarmut zählt. Andererseits ist zu fragen, ob sich nicht dennoch durch geeignete Anreizstrukturen (z.B. Formen der Honorierung, professionelle Unterstützung) relevante Potenziale erschließen ließen. Dass dies möglich ist, zeigt die organisierte Altenselbsthilfe, in der das bürgerschaftliche Engagement in eine Reihe von Maßnahmen eingebettet ist, am Beispiel Nordrhein-Westfalens. Dort hat die Landesseniorenvertretung in einer viel beachteten Stellungnahme vom April 2014 folgende Empfehlungen an ihre Mitglieder verabschiedet, die zugleich vielfältige Anknüpfungspunkte für die lokale Ebene 34 bietet: Implementierung einer kontinuierlichen Armuts- und Reichtumsberichterstattung auf lokaler Ebene, Gründung lokaler Bündnisse 31

Vgl. Klie, Zivilgesellschaft und Aktivierung. Vgl. BMFSFJ, 5. Bundesaltenbericht. 33 Generali Zukunftsfonds und Institut für Demoskopie Allensbach, Generali Altersstudie 2013. 34 Landesseniorenvertretung NRW, Wenn ich einmal arm wär. 32

110 G. Naegele    gegen Armut im Alter sowie die Einrichtung von Begegnungsforen für den regelmäßigen Austausch mit den institutionell, politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen und Handelnden. Des Weiteren wird empfohlen die Einrichtung und der Erhalt von Ansprechstellen und orten für betroffene Ältere in den Stadtteilen und Bezirken, Einrichtung von nachbarschaftlichen Netzwerken, Schaffung mehr barrierearmer und -freier Wohnungen sowie die Begrenzung von Mietpreisen. Auch mit Maßnahmen wie Erhalt der Mobilität durch ausreichende Angebote im ÖPNV, Bereitstellung mobiler Versorgungsmöglichkeiten und kostengünstiger Freizeitangebote oder ein besserer Zugang zu Informationen können Kommunen die Situation älterer – insbesondere von Altersarmut betroffener – Menschen wirksam verbessern. 4

Ausblick

Wenn es zutrifft, dass in Deutschland Armut im Alter „zurückzukehren“ droht, dann ist es Zeit, darauf zu reagieren. Die Kommunen haben dabei zwar nur geringe, aber dennoch wirksame Handlungsspielräume, die sie nutzen können, insbesondere bei der Bekämpfung der hier im Zentrum stehenden immateriellen Lebenslagenarmut. Dies erfordert allerdings eine ausreichende Finanzbasis und setzt auch hinreichend entsprechend qualifiziertes Personal voraus. Auf wichtige andere Voraussetzungen und Instrumente wurde hingewiesen. Die generell politisch gewollte Revitalisierung der kommunalen Verantwortung in der Sozialpolitik lässt sich nur dann realisieren, wenn die dafür erforderlichen Strukturen vorhanden sind. Dies bedeutet, die Rolle der Kommunen in den bestehenden Sozialgesetzen (SGB) stärker zu akzentuieren und sie mit mehr Macht und Verpflichtung für die Umsetzung der Aufgaben auszustatten, die in ihrem Zuständigkeitsbereich liegen. Literatur Bäcker, Gerhard / Naegele Gerhard u.a., Sozialpolitik und soziale Lage, Bd. I., 5. Aufl., Wiesbaden 2011. Becker, Irene, Finanzielle Mindestsicherung und Bedürftigkeit im Alter, Zeitschrift für Sozialreform 58 (2012), 123–148. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), 5. Bericht zur Lage der älteren Menschen in Deutschland. Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft – Der

Lebenslagenarmut im Alter

111 

Beitrag der älteren Menschen zum Zusammenhalt der Generationen, Berlin 2005. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), 7. Bericht zur Lage der älteren Menschen in Deutschland. Sorge und Mitverantwortung in der Kommune – Aufbau und Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften, Berlin 2016. Bogumil, Jörg / Gerber, Sascha / Schickentanz, Maren, Handlungsmöglichkeiten kommunaler Demografiepolitik, in: Michael Hüther / Gerhard Naegele (Hg.), Demografiepolitik, Wiesbaden 2013, 259–282. Burgi, Martin, Kommunale Verantwortung und Regionalisierung von Strukturelementen in der Gesundheitsversorgung, Baden-Baden 2013. Clemens, Wolfgang / Naegele, Gerhard, Lebenslagen im Alter, in: Andreas Kruse / Mike Martin (Hg.), Enzyklopädie der Gerontologie. Alternsprozesse in multidisziplinärer Sicht, Bern u.a. 2004, 387–402. Die Nationale Präventionskonferenz (Hg.), Präventionsforum 2017, Dokumentation, Bonn 2017. Finkenwirth, Angelika / Diemand, Stephanie, ZEIT Online: Armutsbericht 2017: Wie arm sind die Deutschen? Trotz guter Wirtschaftsentwicklung sei die Armutsgefahr in Deutschland so groß wie nie, warnen Sozialverbände. Wer ist betroffen? Und welche Rolle spielt die Kaufkraft? 2. März 2017, 15:38 Uhr, 168 Kommentare. Deutscher Bundestag (Hg.), Lebenslagen in Deutschland – Vierter Armuts- und Reichtumsbericht, BT-Drucksache 17/12650, Berlin 2013. Initiative Neue Qualität der Arbeit und Das Demographie Netzwerk, Arbeitskreis Wirtschaft und Kommunen (Hg.), Positionspapier Lebensqualität für alle Generationen, Berlin 2013. Generali Zukunftsfonds und Institut für Demoskopie Allensbach, Generali Altersstudie 2013: Wie ältere Menschen leben, denken und sich engagieren, Frankfurt am Main 2012. Klammer, Ute, Aktuelle und künftige Risikogruppen der Altersarmut und Konsequenzen für eine lebenslauforientierte Alterssicherungspolitik, ARCHIV für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 2/2017, 16–27. Klammer, Ute / Brettschneider, Antonio, Lebenswege in die Altersarmut. Biographische Analysen und sozialpolitische Perspektiven, Berlin 2016. Klie, Thomas, Zivilgesellschaft und Aktivierung, in: Michael Hüther / Gerhard Naegele (Hg.), Demografiepolitik, Wiesbaden 2013, 344–364.

112 G. Naegele    Kruse, Andreas, Lebenszufriedenheit als Ausdruck von Anpassungsfähigkeit und Kreativität, in: Generali Zukunftsfonds und Institut für Demoskopie Allensbach, Generali Altersstudie 2013, Frankfurt am Main 2012, 62–72. Kümpers, Susanne / Rosenbrock, Rolf, Gesundheitspolitik für ältere und alte Menschen, in: Gerhard Naegele (Hg.), Soziale Lebenslaufpolitik, Wiesbaden 2010, 281–309. Kumpmann, Ingmar, Politikoptionen gegen Altersarmut. Deutsche Rentenversicherung, 4 (2011), 292–303. Landesseniorenvertretung NRW (Hg.), Wenn ich einmal arm wär. Empfehlungen der LSV NRW gegen Altersarmut mit Handlungsempfehlungen für die Seniorenvertretungen, Münster 2014. Lux, Thomas / Schupp, Jürgen, Analyse des Erbschafts- und Schenkungsverhaltens, in: Claudia Vogel / Harald Künemund / Uwe Fachinger (Hg.), Die Relevanz von Erbschaften für die Alterssicherung (DRV-Schriften 90), Deutsche Rentenversicherung, Berlin 2010, 49–61. Naegele, Gerhard, Kommunen im demografischen Wandel, Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 43 (2010), H. 2, 98–102. Naegele, Gerhard, Lebenslagen im Alter im demografischen Wandel, in: Hajo Rohmann/Dieter Rehfeld (Hg.), Lebenslagen. Beiträge zur Gesellschaftspolitik, Göttingen 2015, 71–88. Naegele, Gerhard, Die Rolle der Kommunen in der pflegerischen Versorgung der Bevölkerung aus sozialpolitischer Sicht, in: Felix Welti u.a. (Hg.), Gesundheit, Alter, Pflege, Rehabilitation – Recht und Praxis im interdisziplinären Dialog, Baden-Baden, 2017, 273– 285. Naegele, Gerhard / Schmähl, Winfried, Materielle Ressourcen des Alters. Einkommen und Einkommenssicherheit im Alter, in: Bertelsmann Stiftung (Hg.), Alter neu denken. Gesellschaftliches Altern als Chance begreifen, Gütersloh 2007, 190–216. Naegele, Gerhard / Olbermann, Elke / Bertermann, Britta, Altersarmut als Herausforderung für die Lebenslaufpolitik, in: Claudia Vogel / Andreas Motel-Klingebiel (Hg.), Altern im sozialen Wandel: Die Rückkehr der Altersarmut?, Wiesbaden 2013, 447– 462. Naegele, Gerhard / Olbermann, Elke / Kühnel, Markus, DemografieKonzepte der Kommunen in NRW – Qualitative Bestandsaufnahme und Beispiele „guter Praxis“, hg. v. Sozialverband VdK, Düsseldorf 2015. Preller, Ludwig, Sozialpolitik. Theoretische Ortung, Tübingen 1962. Stadt Münster – Das Sozialamt (Hg.), Maßnahmenprogramm zur Förderung von Teilhabe im Alter und zur Vermeidung von Altersarmut, Münster 2014.

Lebenslagenarmut im Alter

113 

Staudinger, Ursula, Viele Gründe sprechen dagegen, und trotzdem geht es vielen Menschen gut: Das Paradox des subjektiven Wohlbefindens, Psychologische Rundschau 51 (2000), 185–197. Vogel, Claudia / Motel-Klingebiel, Andreas (Hg.), Altern im sozialen Wandel: Die Rückkehr der Altersarmut? Wiesbaden 2013.

  Hildegard Mogge-Grotjahn

Ist Armut weiblich?

1

Einleitung

Ein Leben in Armut oder an der Armutsgrenze kann vorübergehend oder dauerhaft verfestigt sein – je nachdem, wodurch die Armutslage verursacht wurde. Biografische Ereignisse (z.B. Scheidung) und bestimmte Lebensphasen (z.B. ein Studium) führen meistens zu vorübergehenden Armutslagen; mangelnde Qualifikationen oder gesundheitliche Einschränkungen dagegen gehen meistens mit dauerhafter Armut einher. Wirksamer Schutz vor Armutslagen entsteht vor allem durch eine eigenständige Erwerbsarbeit, die wiederum Zugang zu sozialstaatlichen Transferleistungen (z.B. Renten bzw. Pensionen, Arbeitslosengeld oder auch Hinterbliebenenrente) eröffnen. Die Chancen zur Teilhabe an Erwerbsarbeit steigen mit wachsenden Qualifikationen, also allgemein- und berufsbildenden Abschlüssen. Allerdings führen diese nicht „automatisch“ zu entsprechenden Positionen auf dem Erwerbsarbeitsmarkt und / oder einem ausreichenden Einkommen. Einen wesentlichen Einfluss auf die Erwerbsmöglichkeiten hat die Lebensform, also die Existenz als Alleinerziehende, Familien mit mehreren Kindern, Paar oder Alleinlebende, und die mit der jeweiligen Lebensform zusammenhängende Verteilung von bezahlten und unbezahlten Tätigkeiten. Die beiden zuletzt genannten Aspekte – Überführung von Bildungsabschlüssen in berufliche Positionen und angemessene Bezahlung sowie die Lebensform – sind zentral für die Analyse von geschlechtstypischen Armutsrisiken. Sie erklären, warum die Armutsrisiken von Frauen durchgängig höher sind als die von Männern. Die Frage nach dem Zusammenhang von Armut und Geschlecht führt deshalb zu grundlegenden Anfragen an ökonomische und sozialpolitische Strukturen, an das Verhältnis von bezahlter und nicht bezahlter Arbeit, an den Stellenwert sorgender Tätigkeiten in unserer Gesellschaft und an das subjektive Verständnis von „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“.

115 

Ist Armut weiblich?

2

1

Empirische Befunde und ihre Ursachen

Die nachfolgend referierten empirischen Befunde orientieren sich an den Daten, die in Bezug auf Frauen erhoben worden sind – im Umkehrschluss ergeben sich jeweils die Vergleichsdaten für die Männer. Die genannten Summen können mit den Summen in Beziehung gesetzt werden, die vom Statistischen Bundesamt für das Jahr 2016 als Grenze zur Armutsgefährdung definiert wurden: Als armutsgefährdet galten allein lebende Erwachsene mit einem Jahreseinkommen unter 12.765 Euro (= gut 1.000 Euro pro Monat) und Familien mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren mit einem Jahreseinkommen von unter 26.807 Euro (= etwas mehr als 2.200 Euro im 2 Monat). 2.1

Geschlechtsspezifischer Arbeitsmarkt

Ausgangspunkt ist zunächst der Erwerbsarbeitsmarkt. Dieser unterliegt der sog. „geschlechtsspezifischen Segmentation“. Das bedeutet zum einen, dass es eine Teilung in „Männerberufe“ und „Frauenberufe“ – und daneben gemischtgeschlechtliche Berufsbereiche – gibt (= „horizontale Segmentation“). Die sog. Männerberufe sind durchschnittlich besser bezahlt als sog. Frauenberufe. Zum anderen bekleiden Frauen und Männer auch innerhalb der gemischten Berufsbereiche unterschiedliche Positionen in der Hierarchie, wobei Männer häufiger als Frauen höher dotierte Positionen erreichen (= „vertikale Segmentation“). Um diesen doppelten Tatbestand erklären zu können, ist es notwendig, die Bildungswege und die berufsbiografischen Entscheidungen von Frauen und Männern näher zu betrachten. 2.2

Bildungsabschlüsse und Berufswahl

Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein waren Mädchen und Frauen im Bildungswesen deutlich benachteiligt. Im Deutschland des 21. Jahrhunderts aber weisen sie bessere Bildungserfolge auf als Jungen und Männer. In der ehemaligen DDR war dieser Zustand wesentlich früher erreicht als im ehemaligen Westdeutschland. Der Anteil von Mädchen und Jungen an den jeweiligen Altersjahrgängen beträgt in etwa 49 Prozent zu 51 Prozent (Mädchen zu Jun1

Eine ausführlichere Darstellung der hier referierten Daten sowie der theoretischen Zusammenhänge zu ihrer Erklärung und Deutung findet sich in Mogge-Grotjahn, Geschlecht. 2 Vgl. Statistisches Bundesamt, Familienreport.

116 H. Mogge-Grotjahn    gen), und entsprechend setzen sich die Grundschulklassen zusammen. Im Laufe der Schulkarriere verschieben sich dann aber die Geschlechterproportionen. In den verschiedenen Schultypen steigt der Anteil der Mädchen mit der Höhe des angestrebten Schulabschlusses kontinuierlich an. Nur 4 Prozent der Mädchen, gegenüber 7 Prozent der Jungen, verlassen die Schule ohne Abschluss. Von den männlichen Schul-Absolventen erhielten 29 Prozent die Studienberechti3 gung, bei den Frauen waren es 37 Prozent. Im Jahr 2014 waren 50 Prozent der Studienanfänger_innen Frauen, und ihr Anteil an den im 4 gleichen Jahr bestandenen Hochschulabschlüssen lag bei 51 Prozent. Allerdings nimmt der Frauenanteil auf der akademischen Karriereleiter von Stufe zu Stufe kontinuierlich ab. In den bestbezahlten (Cund W-) Besoldungsstufen der Professor_innen lag der Anteil der 5 Frauen bei 11 Prozent. In der Wahl der Studienfächer zeigen sich deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede. Zu den zehn beliebtesten Studienfächern bei Männern gehören sieben MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) und drei rechts- und wirtschaftswissenschaftliche Fächer; Geistes- oder Sozialwissenschaften zählen nicht dazu. Bei den Frauen dominieren Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie geisteswissenschaftliche Fächer. In den Studiengängen der Sozialen Arbeit liegt der Frauenanteil kontinuier6 lich bei etwa 75 Prozent. Noch deutlicher sind die geschlechtstypischen Unterschiede bei der Wahl der Ausbildungsberufe. Im Jahr 2014 konzentrierten sich 38 Prozent der männlichen und 55 Prozent der weiblichen Auszubildenden im dualen Ausbildungssystem auf jeweils zehn von insgesamt 328 anerkannten Ausbildungsberufen. Bei den jungen Männern stand der Beruf des Kraftfahrzeugmechatronikers mit 7 Prozent auf dem ersten Platz, gefolgt von den Berufen Industriemechaniker (5 Prozent) und Elektroniker (4 Prozent). Bei den jungen Frauen waren die Berufe Kauffrau für Büromanagement (11 Prozent), Medizinische Fachangestellte (7 Prozent) und Kauffrau im Einzelhandel (6 Prozent) am stärksten nachgefragt. Frauen erlernen außerdem weitaus häufiger als Männer Berufe im Sozial- und Gesundheitswesen, wie zum Beispiel

3

Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung (BPB), Datenreport, 82 ff. Vgl. BPB, 91 f. 5 Vgl. BPB, 94. 6 Vgl. Bundesinstitut für Berufsbildung, Berufs- und Studienwahl (BIBB). 4

Ist Armut weiblich?

117 

Gesundheits- und Krankenpflegerin oder Altenpflegerin, deren Aus7 bildung meistens rein schulisch erfolgt. 2.3

„Ernährer-Modell“ und „adult-worker-Modell“

Mit der Wahl ihrer Ausbildungs- und Studiengänge entscheiden sich Frauen und Männer, vermutlich nicht immer bewusst, für solche Berufe, die es ihnen erleichtern, im weiteren Verlauf ihrer Biografie eher die Rolle des „Ernährers“ oder eher die Rolle der „Zuverdienerin“ zu übernehmen. In Westdeutschland waren Arbeitsmarkt und Sozialstaat bis in die 1980er Jahre hinein am sog. „Ernährer-Modell“ orientiert, gingen also von einem männlichen Hauptverdiener, einer weiblichen Zuverdienerin sowie mit-versorgten Kindern oder Witwen aus. Das ostdeutsche Modell ähnelte dagegen dem skandinavischen 8 „adult-worker-Modell“ . In diesem Modell werden erwachsene Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich als Erwerbstätige angesehen, und ihre Ansprüche auf (wohlfahrts-)staatliche Leistungen werden weitgehend an diesen Status geknüpft. Nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten hat sich das westdeutsche Modell mit den entsprechenden sozialpolitischen Rahmenbedingungen weitgehend durchgesetzt. Allerdings wurde es bereits seit Ende der 1980er Jahre zunehmend modifiziert und weist inzwischen sowohl Züge des Ernährerals auch Züge des adult-worker-Modells auf. Diese Entwicklung ist eingebettet in die EU-weiten, sowohl ökonomischen als auch sozialpolitischen Bemühungen um eine bessere Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Betreuungsarbeit („Care“-Tätigkeiten), zu der Kinderbetreuung, aber auch die Pflege von Angehörigen zählen. 2.4

Vereinbarkeit von Beruf und Familientätigkeiten

Vorrangiges Ziel dieser Bemühungen ist die verstärkte Beteiligung von Frauen an der Erwerbsarbeit. Allerdings stößt dieses Bemühen an enge Grenzen, solange es finanziell wenig attraktiv erscheint, die herkömmliche häusliche Arbeitsteilung zu verändern. Beispielsweise wurden zwar durch entsprechende Freistellungsregelungen Anreize für Männer geschaffen, sich an Erziehungsaufgaben zu beteiligen; doch die Höhe des Elterngeldes und damit die Attraktivität der Familienarbeit orientiert sich am vorhergehenden Verdienst und unterscheidet sich damit deutlich nach Geschlecht. Das durchschnittliche 7

Vgl. BPB, Datenreport, 89. Die in der DDR und in den skandinavischen Ländern jeweils zugrunde liegenden unterschiedlichen Staatsverständnisse und politisch-ideologischen Begründungen des „adult-worker-Modells“ können hier nicht näher ausgeführt werden. 8

118 H. Mogge-Grotjahn    Elterngeld betrug bei Müttern und Vätern, die zuvor nicht erwerbstätig waren, 329 bzw. 331 Euro, lag also kaum über dem Mindestbetrag von 300 Euro. Mütter, die zuvor erwerbstätig waren, erhielten durchschnittlich 900 Euro, zuvor erwerbstätige Väter erhielten etwa 9 1.250 Euro Elterngeld. Es verwundert also nicht, dass die Kindererziehung in Eltern-Familien weitgehend Aufgabe der Frauen bleibt und sich die auf 32,3 Prozent gestiegene Beteiligung der Väter an der Elternzeit meistens auf die beiden Monate beschränkt, die sonst ver10 fallen würden. Auch die nach wie vor nicht ausreichenden Betreuungsstrukturen und Unterstützungsleistungen für Kindererziehung sowie pflegende und sorgende Tätigkeiten im privaten Bereich tragen zur Zählebigkeit der Geschlechterverhältnisse und zu den erhöhten Armutsrisiken von Frauen bei. Etwa zwei Drittel der unbezahlten Pflegearbeit werden von Frauen erbracht – insgesamt pflegen etwa 2,35 Millionen Frauen 11 in Deutschland unentgeltlich ihre Angehörigen. Die überwiegende Orientierung der Sozialpolitik an Familien als Versorgungseinheiten (wechselseitige Unterhaltspflichten) und das steuerpolitische Instrumentarium des sog. Ehegattensplittings tun ein Übriges dafür, dass das (modifizierte) Ernährer-Modell finanziell attraktiv bleibt. 2.5

Einkommen und Rentenansprüche von Frauen und Männern

Von Art, Umfang und Dauer der ausgeübten Erwerbsarbeiten hängen das aktuell verfügbare eigene Einkommen sowie (spätere) Rentenansprüche unmittelbar ab. Der durchschnittliche Monats-Brutto-Verdienst von vollzeitbeschäftigten Männern betrug in Deutschland 2016 etwa 3.700 Euro, der von 12 Frauen etwa 3.260 Euro. Die Einkommensunterschiede zwischen Frauen und Männern werden mit Blick auf die Erwerbseinkommen als „Gender Pay Gap“ und mit Blick auf die Altersversorgung als „Gender Pension Gap“ bezeichnet. Der sog. unbereinigte Gender Pay Gap wird jährlich ermittelt und betrachtet die geschlechtsspezifischen Verdienstunterschiede ohne Berücksichtigung struktureller Unterschiede in den Beschäftigungsverhältnissen von Männern und Frauen. 9

Vgl. Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung. Auf Details rund um das Elterngeld, z.B. die aktuellen Debatten über das „Elterngeld Plus“ zur besseren Vereinbarkeit von Teilzeitarbeit und Erziehungsarbeit, kann hier nicht näher eingegangen werden. 11 Vgl. Wirtschafts- und Sozialpolitisches Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI), Geschlechtervergleich, 1. 12 Vgl. Statistisches Bundesamt, Zahlen/Fakten. 10

Ist Armut weiblich?

119 

In den vergangenen Jahren lag er in Deutschland bei 22 Prozent. Werden die strukturellen Unterschiede berücksichtigt, ergibt sich als sog. bereinigter Gender Pay Gap immer noch eine Differenz von 7 Prozent. Das bedeutet: Frauen verdienen auch dann je Arbeitsstunde 7 Prozent weniger als Männer, wenn sie die gleiche Tätigkeit ausüben, über die gleiche Ausbildung verfügen, in einem vergleichbar großen privaten bzw. öffentlichen Unternehmen tätig sind, das auch regional ähnlich zu verorten ist (Ost / West, Ballungsraum / kein Ballungsraum), einer vergleichbaren Leistungsgruppe angehören, einen ähnlich ausgestalteten Arbeitsvertrag haben (befristet / unbefristet, mit / ohne Tarifbindung, Altersteilzeit ja / nein, Zulagen ja / nein), das gleiche Dienstalter und die gleiche potenzielle Berufserfahrung aufweisen sowie einer Beschäftigung vergleichbaren Umfangs (Vollzeit / 13 Teilzeit) nachgehen. Im Verlaufe ihrer Erwerbsbiografien summieren sich für Frauen die Effekte typisch weiblicher Berufstätigkeit bzw. ihre Beschäftigungsmuster zum Gender Pension Gap. Die geringere Erwerbsbeteiligung von Frauen, ihre höheren Teilzeitraten, niedrigere Entgelte, häufigere und längere Erwerbsunterbrechungen sowie die Beschäftigung in nicht sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen wirken zusammen und ergeben den sog. Gender Pension Gap. Dieser ist deutlich größer als die Entgeltlücke bzw. der Gender Pay Gap. Auch das im Zuge der sog. Agenda 2010-Politik der damaligen rot-grünen Bundesregierung eingeführte Drei-Säulen-Modell in der gesetzlichen Rentenversicherung, durch das die Absenkung des gesetzlichen Rentenniveaus mit vermehrter privater Vorsorge (sog. Riester-Rente) sowie betrieblicher Altersversorgung kombiniert und ausgeglichen werden sollte, ändert daran nichts. Die durchschnittlichen Rentenzahlungen bei Altersrenten in ganz Deutschland lagen 2015 bei Frauen mit ca. 616 Euro (West) und 850 Euro (Ost) pro Monat deutlich unter denen der Männer (1.117 Euro West / 976 Euro Ost). Der im Vergleich zu Westdeutschen höhere Rentenanspruch von Frauen in Ostdeutschland macht ebenso wie der ebenfalls im Vergleich niedrigere Rentenanspruch von Männern in Ostdeutschland nochmals deutlich, wie stark die unterschiedlichen sozialpolitischen Modelle in Ost- und Westdeutschland die Erwerbsbiografien und damit die Rentenversorgung von Frauen und Männern beeinflusst haben. Trotzdem liegen die durchschnittlichen Renten von Frauen auch im Osten unter denen von Männern.

13

Vgl. BPB, Datenreport, 145.

120 H. Mogge-Grotjahn    Teilweise kompensiert wird der für Frauen negative Effekt des Rentensystems dadurch, dass Frauen mehr von Elementen des sozialen Ausgleichs im Rentenrecht (z.B. Anrechnung von Erziehungs- und Pflegezeiten) profitieren als Männer. Vor allem ihre aus der Hinterbliebenensicherung abgeleiteten Rentenansprüche sind höher als die 14 der Männer. Allerdings gilt dies nur für Frauen, die als Lebensform die klassische Ehe gewählt und beibehalten haben. Über einen längeren Zeitraum betrachtet, ist die geschlechtsbezogene Rentenlücke allerdings kleiner geworden. Trotz einiger gegenläufiger Entwicklungen im Zusammenhang mit der 2014 eingeführten Mütterrente für Frauen, die vor 1992 Kinder geboren haben, ist die Gesamtentwicklung konstant. Der Gender Pension Gap betrug 1995 für Deutschland insgesamt 53 Prozent und lag im Jahr 2014 noch bei 43 15 Prozent. 2.6

Unterschiedliches Erwerbsverhalten in Ost- und Westdeutschland

Schon im Zusammenhang der unterschiedlichen Rentenansprüche von Frauen in Ost- und Westdeutschland zeigt sich die Bedeutung der in den jeweiligen ökonomischen und sozialpolitischen Strukturen implizierten Geschlechterordnungen. Aber auch der Zusammenhang der strukturellen und der subjektiven Dimensionen des geschlechtsspezifischen Erwerbsarbeitsverhaltens wird beim Vergleich zwischen Ost- und Westdeutschland deutlich. 2014 verdienten in Westdeutschland 59 Prozent der Männer und 44 Prozent der Frauen ihren überwiegenden Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit. Frauen im Osten dagegen lebten 2014 zu 46 Prozent hauptsächlich von der eigenen Erwerbstätigkeit. Die Differenz zum entsprechenden Anteil der Männer lag also im Westen bei 14 und im Osten bei 9 Prozent. Auffallend ist auch der hohe Anteil an Frauen in Ostdeutschland, die zu 35 Prozent überwiegend von Renten, Pensionen oder eigenem Vermögen leben (in Westdeutschland: 28 Prozent 16 der Frauen). Weiterhin bleibt der Unterschied im Erwerbsvolumen von Frauen in Ost- und Westdeutschland erheblich und wird sich entsprechend auch auf zukünftige Alterseinkommen auswirken. Frauen im Westen arbeiteten im Jahr 2013 rund 10 Stunden pro Woche weniger als Männer, 14

Vgl. Klenner u.a., Rentenlücke, 2. Vgl. Allmendinger / von den Driesch, Unterschied, 36. 16 Vgl. BPB, Datenreport, 134. 15

Ist Armut weiblich?

121 

bei Frauen im Osten waren es 5,5 Stunden pro Woche weniger. Im Westen arbeiten Frauen ohne Kinder 37 Stunden im Beruf, Frauen mit Kindern 25 Stunden pro Woche. Im Osten sind Frauen ohne Kinder ebenfalls 37 Stunden pro Woche erwerbstätig, Frauen mit Kin17 dern allerdings 33 Stunden pro Woche. 2.7

Lebensformen, Einkommen und Geschlecht

Interessant in Hinblick auf den Zusammenhang von Lebensform und Erwerbstätigkeit bzw. Armutsrisiko ist, dass von den erwerbstätigen verheirateten Müttern 73 Prozent einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen, während bei erwerbstätigen Müttern, die in nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften leben, die Teilzeitarbeitsquote nur bei 53 Prozent 18 lag. Insgesamt gab es 2012 etwa 8,2 Millionen Familien mit minderjährigen Kindern, davon waren etwa 20 Prozent Familien mit allein erziehenden Eltern. Von diesen wiederum waren etwa 90 Prozent Mütter, die im Durchschnitt häufiger mit mehr als einem Kind und mit insgesamt jüngeren Kindern zusammen lebten als die 10 Prozent der 19 allein erziehenden Väter. Etwa zwei Drittel der allein erziehenden Mütter waren erwerbstätig, davon wiederum 40 Prozent in Vollzeittätigkeiten. Allein erziehende Mütter mit Kindern unter 3 Jahren waren zu 75 Prozent nicht erwerbstätig und auf Transferleistungen angewiesen. Ihre Armutsgefährdungsquote lag bei über 50 Prozent, während bei den voll erwerbstätigen Müttern diese Quote nur 5,2 Prozent 20 betrug. Schließlich unterscheiden sich die durchschnittlichen Einkommen von allein erziehenden Vätern und Müttern deutlich voneinander: 21 Prozent der Väter, aber 40 Prozent der Mütter hatten monatlich weniger als 1.300 Euro zur Verfügung, und wiederum 21 Prozent der Väter, aber nur 8 Prozent der Mütter verfügten über ein 21 monatliches Einkommen von mehr als 2.600 Euro. Vor dem Hintergrund dieser und vieler vergleichbarer Zahlen resümieren Allmendinger und von den Driesch: „Bis heute steht der Geschlechtergerechtigkeit am Arbeitsmarkt in Westdeutschland auch die ungleiche Aufteilung von Hausarbeit und Kinderbe17

Vgl. Statistisches Bundesamt, Gleichstellung, 15 ff. Vgl. BPB, Datenreport. 19 Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), Alleinerziehende, 7. 20 Vgl. BMFSFJ, 18. 21 Vgl. BMFSFJ, 20. 18

122  

H. Mogge-Grotjahn 

treuung zwischen Partnern im Weg. In zwei von drei Paarbeziehungen wird in Westdeutschland Hausarbeit und Kinderbetreuung von Frauen alleine übernommen, in Ostdeutschland sagt fast die Hälfte der Paare, dass Hausarbeit und Kinderbetreuung von beiden Partnern zu gleichen Teilen übernommen wird.“ 22

3

Fazit und Ausblick

Die empirischen Daten belegen, dass es enge Zusammenhänge gibt zwischen den Strukturen des Arbeitsmarktes und des Sozialstaates einerseits und den geschlechtstypisch unterschiedlichen Armutsrisiken, Lebenslagen und Biografieverläufen andererseits. Vor allem die sozialpolitischen Rahmenbedingungen für die Existenzsicherung enthalten bestimmte Geschlechterordnungen, d.h. historisch entstandene und verfestigte Vorstellungen darüber, wie Frauen und Männer leben und welche Arbeitsteilung sie praktizieren sollten. Allerdings lassen sich die hier dargestellten empirischen Befunde nicht allein aus den strukturellen Ursachen – Segmentation des Arbeitsmarktes, wohlfahrtsstaatliche Ernährer-Modelle – ableiten und erklären. Auch die subjektiven Entscheidungsprozesse, etwa bei der Berufs- und Studienwahl oder bei den bevorzugten Lebensformen und der häuslichen Arbeitsteilung, müssen berücksichtigt werden. „Doing gender“ und „doing family“ sind keine den Strukturen folgenden Automatismen, sondern subjektiv sinnvolle, mitunter bewusste und mitunter unbewusste biografische Prozesse, durch die Geschlechtsidentitäten und Biografieverläufe mit gesellschaftlichen Leitvorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit in Übereinstimmung gebracht werden. Ein Großteil der politischen und medialen Diskurse beschränkt sich darauf, die mit dem Ist-Zustand moderner Arbeitsgesellschaften verbundenen sozialen Ungerechtigkeiten zu kritisieren und gleiche Teilhabechancen von Frauen und Männern an Erwerbsarbeit, Einkommen und sozialstaatlichen Unterstützungsleistungen zu fordern. Die im IstZustand geronnenen und oftmals verborgenen Geschlechterordnungen werden dabei eher am Rande thematisiert. Insbesondere das adult-worker-Modell wirft aber die grundlegende Frage danach auf, was es für die Identität und die Lebensentwürfe der Einzelnen und für das gesellschaftliche Zusammenleben bedeutet, wenn der Erwerbsarbeit die dominante Rolle zukommt und sorgende Tätigkeiten eine untergeordnete Rolle spielen und häufig nur durch private soziale Netzwerke aufrechtzuerhalten sind, da die sozialpolitisch abgesicher22

Allmendinger / von den Driesch, Unterschied, 37 f.

Ist Armut weiblich?

123 

ten Betreuungsstrukturen nicht ausreichen und sonstige professionelle Unterstützung nur von gut Verdienenden zu bezahlen ist. Schon 1996 hat Nancy Fraser davor gewarnt, sich den „idealtypischen Bürger“ als eine Art „geschlechtsneutralen Normalverdiener“ vorzustellen, der (oder die) entweder keine Sorgetätigkeiten übernehmen kann oder will oder darauf angewiesen ist, dass staatlicherseits 23 alle möglichen „Betreuungslücken“ geschlossen werden. Diese Problematik verschärft sich mit der zunehmenden Prekarisierung von Erwerbsarbeitsverhältnissen, denn Mini-Jobs, befristete Beschäftigungsverhältnisse und Pseudo-Selbständigkeit sowie Niedriglöhne bieten keine verlässliche Basis für eine Existenz jenseits der Armutsgrenze und erschweren die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und sorgenden Tätigkeiten. Je umfassender das einzelne Subjekt als Steuerungs- und Bezugsgröße für Arbeitsmarkt und Sozialpolitik zum Leitbild wird und je mehr dies auch den Selbstkonzepten von Frauen und Männern entspricht, desto schärfer stellt sich die grundsätzliche Frage, wie anstrebenswert es für Frauen und für Männer ist, ihre Biografieverläufe an der Erwerbsarbeit bzw. den sozialstaatlichen Ersatzleistungen zu 24 orientieren. Die eigentliche Zukunftsfrage lautet daher weniger, ob und wie Frauen an gesellschaftlichen Ressourcen ebenso teilhaben können wie Männer, sondern vielmehr, wie zukünftig die verschiedenen Bereiche des menschlichen Lebens, die beruflichen und die privat-sorgenden Tätigkeiten, von Frauen und Männern gleichermaßen gelebt und politisch gestützt werden können. Zunehmend wird deshalb das sog. „earner and carer model“ diskutiert. Dabei geht es darum, wie familiäre Sorgetätigkeiten zu individuellen und existenzsichernden sozialrechtlichen Ansprüchen führen können; wie eine qualitativ hochwertige professionelle Erziehungsund Sorgearbeit angemessen bezahlt werden kann; welche Anreize für die Praktizierung des Ernährer-Modells durch welche Anreize für eine egalitäre Arbeitsteilung ersetzt werden können; und wie entsprechende familien- und pflegefreundliche Unternehmenskulturen in den 25 Betrieben implementiert werden können. Letztlich trägt der GenderBlick auf die Armuts-Debatte also auch zu einer grundlegenden Auseinandersetzung mit normativen Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung bei. 23

Vgl. Fraser, Gleichheit, 484. Vgl. verschiedene Beiträge in Aulenbacher/Dammayer, Care. 25 Vgl. Auth u.a., Sorgekonflikte, 54 ff. 24

124   Literatur

H. Mogge-Grotjahn 

Allmendinger, Jutta / Driesch, Ellen von den, Der wahre Unterschied. Erst die Rente zeigt den ganzen Unterschied der Geschlechterungleichheit, WZB-Mitteilungen 2015, Heft 149, 36–39. Aulenbacher, Brigitte / Dammayer, Maria (Hg.), Für sich und andere sorgen. Krise und Zukunft von Care in der modernen Gesellschaft, Weinheim / Basel 2014. Auth, Diana / Klenner, Christin / Leitner, Sigrid, Neue Sorgekonflikte. Die Zumutbarkeit des Adult worker model, in: Susanne Völker / Michèle Amacker (Hg.), Prekarisierungen. Arbeit, Sorge und Politik, Weinheim / Basel 2015, 42–58. Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), Nationale Kooperation zur Berufs- und Studienwahl, 2016, online: www.klischee frei.de/ dokumente/pdf/a31_frauen_und_maenner_an_hochschulen_in_de utschland.de. 2016 (Zugriff: 23.04.2017). Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), Alleinerziehende in Deutschland. Lebenssituationen und Lebenswirklichkeiten von Müttern und Kindern. Monitor Familienforschung, Beiträge aus Forschung, Statistik und Familienpolitik 2014, Ausgabe 28. Bundeszentrale für politische Bildung (BPB), Datenreport 2016. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, hg. vom Statistischen Bundesamt (destatis) und dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Bonn 2016. Fraser, Nancy, Die Gleichheit der Geschlechter und das Wohlfahrtssystem: Ein postindustrielles Gedankenexperiment, in: Herta Nagl-Docekal / Herlinde Pauer-Studer (Hg.), Politische Theorie. Differenz und Lebensqualität, Frankfurt am Main 1996, 469–498. Klenner, Christina / Sopp, Peter / Wagner, Alexandra, Große Rentenlücke zwischen Männern und Frauen. Ergebnisse aus dem WSI GenderDatenPortal, WSI-Report Nr. 29, Düsseldorf 2016. Mogge-Grotjahn, Hildegard, Geschlecht: Wege in die und aus der Armut, in: Ernst-Ulrich Huster / Jürgen Boeckh / Hildegard Mogge-Grotjahn (Hg.), Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung, 3. Aufl., Wiesbaden 2018, 523–538. Statistisches Bundesamt, Auf dem Weg zur Gleichstellung? Bildung, Arbeit und Soziales – Unterschiede zwischen Frauen und Männern, Wiesbaden 2014. Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 109 vom 25.03.2015, online: www.destatis.de/DE/Presse Service/Presse/Presse mittei lungen/2015/03/PD15_109 (Zugriff: 23.04.2017).

Ist Armut weiblich?

125 

Statistisches Bundesamt, Zahlen und Fakten, online: https://www. destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/Verdienste Arbeitskosten/VerdiensteArbeitskosten.html (Zugriff: 24.07.2017). Statistisches Bundesamt, Familienreport 2017. Leistungen, Wirkungen, Trends, online: https://www.bmfsfj.de/blob/119524/f51728a 14e3c91c3d8ea657bb01bbab0/familienreport-2017-data.pdf (Zugriff: 24.07.2017). Wirtschafts- und Sozialpolitisches Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI), Wer leistet unbezahlte Arbeit? Hausarbeit, Kindererziehung und Pflege im Geschlechtervergleich. Aktuelle Auswertungen aus dem WSI GenderDatenPortal, WSI Report Nr. 35, Düsseldorf 2017.

  Thomas K. Bauer

Erwerbsarmut

1

Einleitung

Das Problem der Erwerbsarmut, „Working Poor“ oder auch „In-Work Poverty“, galt lange Zeit als amerikanisches Problem und erhielt in Deutschland vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Insbesondere die Diskussionen über die Einführung von Mindestlöhnen hat jedoch auch in Deutschland die Diskussion des Phänomens „Arm trotz Arbeit“ intensiviert und Erwerbsarmut in den Fokus der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik gerückt. Diese Diskussion erhält nicht zuletzt aufgrund der Erkenntnis weiter Nahrung, dass trotz steigender Beschäftigungszahlen und einer sinkenden Anzahl von Personen, die Leistungen aus der Grundsicherung für Arbeitssuchende erhalten, eine weitgehend konstante Anzahl von Personen neben ihrem Erwerbseinkommen auf Arbeitslosengeld II angewiesen ist. Vor diesem Hintergrund liefert dieser Beitrag in einem ersten Schritt eine kurze Diskussion der verschiedenen Definitionen und Messkonzepte von Erwerbsarmut, bevor in einem zweiten Schritt eine deskriptive Beschreibung des Ausmaßes, der Entwicklung und der Struktur der Erwerbsarmut in Deutschland erfolgt. Abschnitt 4 diskutiert verschiedene Politikoptionen und deren Potential zur Bekämpfung von Erwerbsarmut. Der Beitrag schließt mit einem kurzen Fazit. 2

Definition und Messung von Erwerbsarmut

In der einschlägigen Literatur zum Phänomen der Erwerbsarmut werden verschiedene Definitionen verwendet, die sich im Kern darin unterscheiden, ob zur Messung ein relativer oder ein absoluter Armutsbegriff zugrunde gelegt wird. Die Mehrzahl der existierenden Studien greift dabei auf das Konzept der relativen Erwerbsarmut zurück. Nach diesem Konzept wird Erwerbsarmut als die Armutsrisikoquote von Erwerbstätigen definiert, d.h. als Anteil derjenigen Personen an

Erwerbsarmut

127 

allen Erwerbstätigen, die im Vorjahr länger als sechs Monate einer Beschäftigung nachgegangen sind, jedoch ein Nettoäquivalenzeinkommen von weniger als 60 Prozent des Median aller Nettoäquivalenzeinkommen zur Verfügung haben. Hierbei ist anzumerken, dass die Armutsrisikoquote vorrangig als Einkommensverteilungsmaß interpretiert werden muss. Dabei unterscheiden sich Studien zur relativen Erwerbsarmut in der jeweiligen konkreten Operationalisierung der obigen Definition durchaus erheblich.1 So verwenden unterschiedliche Studien bspw. unterschiedliche Armutsschwellen (statt 60 Prozent bspw. 50 Prozent des Median aller Nettoäquivalenzeinkommen), unterschiedliche Äquivalenzgewichtungen (wobei die Mehrheit der Studien auf die Äquivalenzgewichtung der OCED zurückgreift2), unterschiedliche Einkommenskonzepte (insbesondere mit und ohne Berücksichtigung selbstgenutzten Wohneigentums) oder beschränken ihre Analyse auf Personen, die eine Mindestanzahl an Stunden im Jahr gearbeitet haben. Aufgrund der unterschiedlichen Operationalisierungen des Konzepts der relativen Erwerbsarmut ist ein Vergleich der Ergebnisse verschiedener Studien nur sehr eingeschränkt möglich. Die zur Bestimmung der relativen Erwerbsarmut notwendigen Informationen erfordern die Verwendung von Haushaltsbefragungsdaten. In Deutschland wird dabei insbesondere auf den Mikrozensus, die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) sowie die European Union Statistics on Income and Living Conditions (EU-SILC) zurückgegriffen. Jede dieser Datenquellen unterliegt eigenen Problemen und Beschränkungen, die wiederum weitgehend die im nächsten Abschnitt dokumentierten Unterschiede der mit verschiedenen Datensätzen ermittelten Niveaus sowie der zeitlichen Entwicklung der relativen Erwerbsarmut erklären können.3 Darüber hinaus sollten nur größere Veränderungen der relativen Erwerbsarmut als aussagekräftig angesehen werden, sofern diese auch in mehreren Datensätzen erkennbar sind. Alternativ zum Konzept der relativen Erwerbsarmut wird in einigen Studien auf das Konzept der absoluten Erwerbsarmut zurückgegrif1

Vgl. Peña-Casas/Latta, Working poor in the EU, für eine ausführliche Darstellung unterschiedlicher Operationalisierungen des Konzepts der relativen Erwerbsarmut. 2 Nach der Äquivalenzgewichtung der OCED erhält der Haupteinkommensbezieher eines Haushalts den Gewichtungsfaktor 1,0, alle übrigen Haushaltsmitglieder von 14 Jahren und älter einen Gewichtungsfaktor von 0,5 und Personen unter 14 Jahren einen Gewichtungsfaktor von 0,3. 3 Vgl. Niehues, Einkommensentwicklung, Ungleichheit und Armut.

128 T.K. Bauer    fen, d.h. den Anteil derjenigen Personen an allen Erwerbstätigen, die in einem Haushalt mit einem Einkommen unter einem staatlich definierten soziokulturellen Existenzminimum leben. In Deutschland wird eine derartige absolute Armutsgrenze implizit durch das SGB II definiert. Damit setzt sich die von absoluter Erwerbsarmut betroffene Population aus den sogenannten erwerbstätigen Leistungsbezieher_innen (ELB) zusammen, die in der öffentlichen Diskussion häufig auch als Aufstocker bezeichnet werden. Dahinter steht die Vorstellung, dass Vollzeitbeschäftigte ihr Einkommen aus Erwerbstätigkeit mit Arbeitslosengeld II „aufstocken“, um das soziokulturelle Existenzminimum zu erreichen. Wie der kommende Abschnitt zeigen wird, ist der Begriff Aufstocker dabei insofern irreführend, als die Mehrheit der ELB vielmehr das Arbeitslosengeld II durch zusätzliche – zumeist geringfügige – Erwerbseinkommen ergänzt.4 Die Bestimmung der absoluten Erwerbsarmut in Deutschland erfolgt zumeist unter Verwendung administrativer Daten der Statistik der Bundesagentur für Arbeit zum Leistungsbezug nach SGB II in Verbindung mit Beschäftigtendaten auf Basis der Arbeitgebermeldungen im Rahmen der Meldeverfahren zur Sozialversicherung. Für tiefergehende Analysen der sozioökonomischen Struktur der absoluten Erwerbsarmut wird darüber hinaus häufig auf das Panel „Arbeitsmarkt und soziale Sicherung“ (PASS) zurückgegriffen. 3

Ausmaß, Entwicklung und Struktur von Erwerbsarmut

Tabelle 1 zeigt die Entwicklung der relativen und absoluten Erwerbsarmut in Deutschland seit 1995. Demnach ergeben sich in Abhängigkeit der jeweils verwendeten Datengrundlage zum Teil erhebliche Niveauunterschiede im Ausmaß der relativen Erwerbsarmut, die für das Jahr 2014 zwischen 7,6 Prozent nach den Angaben des Mikrozensus und 9,7 Prozent auf Basis des EU-SILC liegen. Für das Jahr 2016 ergibt sich nach dem Mikrozensus eine Armutsgefährdungsquote für Erwerbstätige in Höhe von 7,7 Prozent. Im SOEP lässt sich zwischen 1995 und 2005 ein Anstieg der relativen Erwerbsarmut von 6,6 auf 8,1 Prozent erkennen. Zwischen 2008 und 2012 verblieb die relative Erwerbsarmut auf einem relativ konstanten Niveau. Weiterhin ist im SOEP, insbesondere aber im EU-SILC zwi4

Darüber hinaus werden im Unterschied hierzu in der Grundsicherungsstatistik unter dem Begriff „Aufstocker“ Personen definiert, die ergänzend zum Arbeitslosengeld nach SGB III noch Arbeitslosengeld II beziehen. Vgl. Bundesagentur für Arbeit, Grundsicherung für Arbeitssuchende, 5.

129 

Erwerbsarmut

schen 2012 und 2013 ein nennenswerter Anstieg der relativen Erwerbsarmut zu verzeichnen. Für das SOEP kann dieser Anstieg auf ein revidiertes Stichprobenkonzept zurückgeführt werden. Im Gegensatz zum SOEP und dem EU-SILC ist im Mikrozensus und dem EVS in diesem Zeitraum dagegen kein eindeutig ansteigender Trend zu erkennen. Da die von der Bundesregierung gesetzten Bedürftigkeitsgrenzen für den Bezug von Leistungen nach dem SGB II unter der Armutsrisikoschwelle liegen, ergibt sich eine im Vergleich zur relativen Erwerbsarmut erheblich geringere absolute Erwerbsarmut. So lag der Anteil der ELB an allen Erwerbstätigen von 2008 bis 2014 nahezu konstant bei 3 Prozent und sank bis zum Jahr 2016 auf 2,7 Prozent. Tabelle 1: Armutsrisikoquoten von Erwerbstätigen (in Prozent) Datenquelle Relative Erwerbsarmut SOEP1,3

Jahr

1995 2000 2003 2005 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014

6,6 6,4 8,1 8,5 8,4 8,2 8,5 8,1 8,9 9,2

EUSILC1 6,8 7,2 7,7 7,8 8,6 9,9 9,7

Mikrozensus1 7,3 7,4 7,5 7,5 7,8 7,6 7,8 7,6

EVS2 6,5 7,3 7,9 -

Absolute Erwerbsarmut BA-Statistik 3,2 3,3 3,3 3,2 3,1 3,0 3,0

Quelle: BMAS, Lebenslagen in Deutschland, Tabellen C.II.3.1–C.II.3.2, 561ff; Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Armutsgefährdungsquoten, Tabelle A.1.1.0; Bundesagentur für Arbeit, Erwerbstätige Arbeitslosengeld-II-Bezieher; DESTATIS, Erwerbstätige; eigene Berechnungen. Anmerkungen: SOEP: Sozio-oekonomischer Panel. EU-SILC: European Union Statistics on Income and Living Conditions. EVS: Einkommens- und Verbrauchsstichprobe. BA-Statistik: Statistik der Bundesagentur für Arbeit. 1: Werte ohne Berücksichtigung selbstgenutzten Wohneigentums. 2: Werte mit Berücksichtigung selbstgenutzten Wohneigentums. 3: Ab dem Jahr 2013 Zeitreihenbruch durch revidiertes Stichprobenkonzept.

130 T.K. Bauer    Die in Tabelle 1 aufgezeigten Trends einer seit 2005 nahezu konstanten relativen und absoluten Erwerbsarmut sind nur schwer mit der häufig angeführten These vereinbar, die Hartz-IV-Reformen würden einen ständig wachsenden Niedriglohnsektor subventionieren und damit zu einer gestiegenen Erwerbsarmut führen, da ein Anstieg der Erwerbsarmut nur vor dem Inkrafttreten dieser Arbeitsmarktreformen zu beobachten ist. Mehrere empirische Studien haben bestätigt, dass die Hartz-IV-Reformen keinen statistisch signifikanten Effekt auf die Erwerbsarmut hatten.5 Über alle Datensätze hinweg zeigt sich ein einheitliches Bild der sozioökonomischen Struktur der Erwerbsarmut. Trotz der durchaus erheblichen Heterogenität der potentiellen Ursachen der Erwerbsarmut lassen sich insbesondere zwei bedeutende Risikogruppen identifizieren (siehe auch Tabelle 2). Bei kleineren Haushalten, insbesondere jungen Alleinlebenden und alleinerziehenden Frauen, ist Erwerbsarmut zumeist mit kurzen Arbeitszeiten verbunden. Gesundheitliche Einschränkungen sowie Betreuungsverpflichtungen gegenüber Kindern oder anderen Familienangehörigen erschweren in dieser Gruppe häufig eine Erhöhung der Arbeitszeit. In einer zweiten Risikogruppe reicht hingegen das Einkommen aus einer Vollzeiterwerbstätigkeit eines Alleinverdieners aufgrund der Haushaltsgröße nicht aus, die relative oder absolute Armutsschwelle zu überschreiten.6 Insbesondere die Intensität der Erwerbsbeteiligung kann als wichtigstes Charakteristikum der Erwerbsarmut angesehen werden. So hatten in 2014 nahezu 15 Prozent der Teilzeitbeschäftigten, aber nur 4,5 Prozent der Vollzeitbeschäftigten ein Einkommen unter der Armutsrisikoschwelle (siehe Tabelle 2). Haisken-De New und Schmidt (2009) schätzen, dass die Aufnahme einer Vollzeiterwerbstätigkeit die Wahrscheinlichkeit der relativen Erwerbsarmut um 30 Prozentpunkte verringert. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit übte im Dezember 2016 von den insgesamt 1,174 Millionen ELB mehr als ein Drittel ausschließlich eine geringfügige Beschäftigung und ein weiteres Drittel eine sozialversicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigung aus. Lediglich knapp 17 Prozent arbeiteten in einer sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigung, etwa 8 Prozent waren selbstständig.7 Die Quote der von absoluter Erwerbsarmut betroffenen sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten erreichte damit einen Wert von 0,33 Prozent. 5

Vgl. bspw. Haisken-DeNew/Schmidt, Nickel and Dimed. Vgl. bspw. Gießelmann/Lohmann, Low-Wage Work in Germany. 7 Vgl. Bundesagentur für Arbeit, Erwerbstätige erwerbsfähige Leistungsberechtigte. 6

Erwerbsarmut

131 

Eine weitere Ursache von Erwerbsarmut sind geringe Bruttostundenlöhne. So erhielten 2013 68 Prozent aller ELB einen Bruttostundenlohn von weniger als 8,50 Euro, von denen wiederum etwa zwei Drittel einen Minijob ausübten.8 Die geringen Bruttostundenlöhne sind wiederum häufig Ausdruck eines geringen Lohnpotentials aufgrund fehlender schulischer und/oder beruflicher Qualifikationen.9 Tabelle 2 zeigt weiterhin, dass Personen in Ostdeutschland und Personen mit Migrationshintergrund vergleichsweise häufig von Erwerbsarmut betroffen sind. Die in Tabelle 1 dargestellten Bestandsgrößen geben keinen Einblick in die Dynamik der Erwerbsarmut. Studien zu den Bewegungen in die oder aus der Erwerbsarmut sind vergleichsweise rar und kommen zu keinem eindeutigen Ergebnis. Fritzsche und Haisken-DeNew (2004) zeigen unter Verwendung von Daten des SOEP für den Zeitraum von 1992 bis 2002, dass etwa die Hälfte der von relativer Erwerbsarmut betroffenen Personen eines Jahres im folgenden Jahr die Armut verlässt und etwa eine gleich große Gruppe in die Erwerbsarmut eintritt, wobei Letztere wiederum zur Hälfte bereits in einer früheren Periode Erfahrungen mit Erwerbsarmut hatte. Die Autoren zeigen weiterhin, dass etwa 1 Prozent der Bevölkerung in Erwerbshaushalten von verfestigter Armut betroffen ist. Die Ergebnisse von Bruckmeier u.a. (2013) legen hingegen eine hohe Persistenz der absoluten Erwerbsarmut nahe. So bezogen 62 Prozent der ELB des Jahres 2010 bereits im Vorjahr und 61 Prozent im Folgejahr neben Erwerbseinkommen Arbeitslosengeld II. Jedoch ist in den Daten von Bruckmeier u.a. eine relativ höhere Aufwärts- als Abwärtsmobilität erkennbar: Wechsel vom Status der „ausschließlichen Transferabhängigkeit“ in den Status „ELB“ und vom Status „ELB“ in den Status „kein Grundsicherungsbezug“ sind häufiger zu verzeichnen als umgekehrte Übergänge. Die Analyse der Determinanten der Aufwärts- und Abwärtsmobilität bestätigen dabei tendenziell die oben genannten zentralen Ursachen der Erwerbsarmut. Insbesondere sinkt die Wahrscheinlichkeit der Aufwärtsmobilität bei Alleinerziehenden, Personen ohne beruflichen Abschluss oder mit gesundheitlichen Problemen sowie Personen mit einem Minijob.

8 9

Bruckmeier u.a., Minijobber, 4. Bruckmeier u.a., Minijobber, 4–5.

132  

T.K. Bauer 

Tabelle 2: Relative Erwerbsarmut – Strukturmerkmale (Anteile an der Population)

2000

2005

2010

2014

3,0 10,0

3,6 12,0

3,5 13,7

4,5 14,6

Geschlecht männlich weiblich

5,4 7,7

7,0 9,4

7,3 9,1

8,4 10,2

West-/Ostdeutschland Westdeutschland Ostdeutschland

6,0 8,5

6,9 13,7

6,9 13,9

8,3 13,5

Alter 18 bis 24 Jahre 25 bis 54 Jahre 55 bis 64 Jahre

14,2 6,1 4,0

18,2 7,9 4,0

15,4 8,1 6,0

21,1 9,2 6,5

Haushaltstyp4 Alleinlebend Alleinerziehend Paar mit 1 Kind Paar mit 2 Kindern Paar mit 3 und mehr Kindern

11,8 20,9 3,2 4,0 11,8

13,9 22,9 6,4 3,9 12,4

16,6 23,6 4,0 5,1 11,8

18,5 23,4 4,7 4,3 15,7

Wohnstatus Eigentümerhaushalt oder mietfrei Mieterhaushalt

1,5 11,0

2,8 13,0

2,2 14,4

3,0 15,7

Migrationshintergrund5 ohne Migrationshintergrund mit Migrationshintergrund

5,3 11,6

7,1 11,9

7,4 11,0

7,8 13,3

Beschäftigungsform Vollzeit Teilzeit

Quelle: BMAS, Lebenslagen in Deutschland, Tabellen C.II.3.1, 561.

Erwerbsarmut

4

133 

Politische Handlungsoptionen

Potentielle Handlungsoptionen zur Reduzierung der Erwerbsarmut liegen einerseits in Maßnahmen zur Erhöhung der Nettoarbeitseinkommen über Mindestlöhne oder das Steuer- und Transfersystem, einer Verbesserung des Einkommenspotentials der Betroffenen über Bildungsmaßnahmen, einer Erhöhung der Arbeitsanreize oder einer Verbesserung der Möglichkeiten der Erhöhung der Arbeitszeiten. In den Debatten im Umfeld der Einführung des allgemeinen Mindestlohns im Jahr 2015 wurde häufig das Argument angeführt, dass mit dem Mindestlohn die Erwerbsarmut verringert werden könne. Selbst wenn potentielle negative Beschäftigungseffekte des Mindestlohns ausgeschlossen werden, dürften die Auswirkungen des Mindestlohns sowohl auf die relative als auch auf die absolute Erwerbsarmut aus verschiedenen Gründen eher gering sein. Zum einen leben die meisten Niedriglohnarbeitnehmer_innen nicht in von Erwerbsarmut betroffenen Haushalten.10 Darüber hinaus ist nicht zu erwarten, dass der derzeitige Mindestlohn für die Gruppe der Personen, die aufgrund geringer Arbeitszeiten von Erwerbsarmut betroffen sind, zu einer erheblichen Verbesserung der Situation beitragen kann. Hierfür müsste der Mindestlohn in einem Ausmaß erhöht werden, welches mit einer hohen Wahrscheinlichkeit mit negativen Beschäftigungseffekten einhergehen würde. Für die Mehrzahl der Personen in dieser Gruppe kann daher nur eine Erhöhung der Arbeitszeit eine Überschreitung der relativen und absoluten Armutsschwelle ermöglichen. Schließlich erzielen Vollzeitbeschäftigte häufig bereits einen Bruttostundenlohn über dem Mindestlohn. Für diese Gruppe ist eine hohe Anzahl von Familienmitgliedern zumeist die Ursache von Erwerbsarmut. Empirische Studien für verschiedene Länder bestätigen tendenziell die Hypothese, dass die Einführung oder Erhöhung von Mindestlöhnen nicht geeignet ist, das Ausmaß der Erwerbsarmut erheblich zu verringern.11 Für Deutschland stehen dahingehende kausalanalytische Studien zwar noch aus, ein Blick auf die Entwicklung der ELB bestätigt in der Tendenz jedoch, dass der allgemeine Mindestlohn zumindest bisher keine erheblichen Auswirkungen auf die absolute Erwerbsarmut hatte. Zwar ist zwischen Dezember 2014 und Dezember 2015 die Anzahl der vollzeitbeschäftigten ELB von 204.265 auf

10

Vgl. bspw. Gießelmann/Lohmann, Low-Wage Work in Germany. Vgl. Marx/Verbist, Combating in-work poverty, 274–275 und die darin zitierte Literatur.

11

134 T.K. Bauer    190.852 leicht gesunken, bis zum Dezember 2016 jedoch wieder auf 197.479 angestiegen.12 Für von Erwerbsarmut betroffene Alleinerziehende oder große Familien könnte auch eine Erhöhung familienbezogener staatlicher Transferzahlungen, wie bspw. dem Kindergeld, in Betracht gezogen werden. Diese Art staatlicher Transfers lässt sich jedoch nur schwerlich zielgruppenspezifisch auf von Erwerbsarmut betroffene Familien begrenzen. Daher würden derartige Maßnahmen entweder mit erheblichen Belastungen der öffentlichen Haushalte einhergehen oder in ihrer Höhe zu gering ausfallen, um eine effiziente Lösung des Problems der relativen oder absoluten Erwerbsarmut darzustellen. Als weitere Maßnahme zur Bekämpfung von Erwerbsarmut und einer Erhöhung der Anreize zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bzw. Erhöhung der Erwerbsintensität wird – als Alternative zu den deutschen Regelungen der Ergänzung von Arbeitseinkommen durch Arbeitslosengeld II – die Einführung einer negativen Einkommenssteuer nach dem durchaus erfolgreichen Vorbild der USA diskutiert. Dabei überwiegt jedoch die Einschätzung, dass eine Übertragung des USamerikanischen Modells auf Deutschland nicht zuletzt aufgrund politischer Widerstände nicht möglich ist. Darüber hinaus zeigen Simulationsstudien, dass das Potential einer negativen Einkommenssteuer zur Verringerung der Erwerbsarmut sehr gering ist und mit erheblichen Kosten verbunden wäre.13 Um das Einkommenspotential der von Erwerbsarmut betroffenen Personen nachhaltig zu verbessern, könnte für diese Personengruppe das Angebot an subventionierten Bildungsmaßnahmen in Form von Umschulungen oder Weiterbildungsmaßnahmen ausgeweitet werden. Empirische Studien legen nahe, dass derartige Maßnahmen durchaus effektiv sein können. So zeigt bspw. die Evaluation des Bundesprogramms „Bildungsprämie“, dass die Programmteilnehmer_innen eine höhere Wahrscheinlichkeit aufweisen, einen Berufsabschluss zu erwerben, eine höhere berufliche Mobilität aufweisen und anspruchsvollere Tätigkeiten ausüben.14 Sowohl die Hinzuverdienstregelungen im SGB II als auch das Ehegattensplitting in der deutschen Einkommenssteuer üben erhebliche negative Arbeitsanreize aus, da eine Erhöhung der Einkommen bei 12

Bundesagentur für Arbeit, Erwerbstätige Arbeitslosengeld-II-Bezieher. Vgl. Marx/Verbist, Combating in-work poverty, 280 ff. 14 Vgl. RWI, GBI und infas, Evaluation des Programms „Bildungsprämie“. 13

Erwerbsarmut

135 

SGB-II-Bezieher_innen sowie für Zweitverdiener_innen in einem Haushalt insbesondere bei Einkommen über 450 Euro mit einer hohen effektiven Grenzsteuerbelastung verbunden ist. Vor dem Hintergrund, dass eine zu geringe Erwerbsintensität die zentrale Ursache von Erwerbsarmut darstellt, könnte Erwerbsarmut auch durch eine Veränderung der Anrechnungsregeln im SGB II, eine Reform der Minijobregulierung sowie durch eine Reform des Ehegattensplittings bekämpft werden. Eine Reform der Anerkennungsregeln im SGB II gestaltet sich dabei als schwierig, da die Ziele einer angemessenen sozialen Sicherung, die Begrenzung der Sozialausgaben und die Gestaltung wirksamer Arbeitsanreize nur schwer miteinander vereinbar sind. Die Simulation der Arbeitsmarkt- und Einkommensverteilungseffekte verschiedener Reformoptionen der Minijobregulierung sowie des Ehegattensplittings legen jedoch nahe, dass insbesondere eine Kombination verschiedener Reformoptionen in diesen Politikbereichen durchaus erhebliche positive Beschäftigungseffekte und eine Verringerung der Einkommensungleichheit in der unteren Hälfte der Einkommensverteilung zur Folge haben kann.15 Derartige Reformen sind jedoch kaum wirksam, wenn die geringe Erwerbsintensität Alleinerziehender oder eines zweiten erwerbsfähigen Mitglieds in einem von Erwerbsarmut betroffenen Haushalt auf hohe Kinderbetreuungskosten oder mangelnde Betreuungsangebote für Kinder zurückgeführt werden kann. Daher erscheint zur Bekämpfung von Erwerbsarmut ein weiterer Ausbau insbesondere zeitlich flexibler Betreuungsangebote sowie weiterer Maßnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf geboten. 5

Fazit

In Deutschland sind seit 2008 konstant zwischen 7 und 9 Prozent aller Erwerbstätigen von relativer Erwerbsarmut betroffen, erzielen also ein Nettoäquivalenzeinkommen unter der Armutsrisikoschwelle von 60 Prozent des Medians der Nettoäquivalenzeinkommensverteilung. Auch der Anteil der absolut Erwerbsarmen, d.h. der Anteil der Personen, die zusätzlich zu ihrem Erwerbseinkommen auf Leistungen aus der sozialen Grundsicherung angewiesen sind, liegt seit 2008 auf einem konstanten Niveau von ca. 3 Prozent. Insbesondere Alleinstehende sowie alleinerziehende Frauen und große Familien mit einem Alleinverdiener sind von Erwerbsarmut betroffen, wobei nicht notwendigerweise zu geringe Bruttostundenlöhne, sondern insbesondere 15

Vgl. im Detail Eichhorst u.a., Geringfügige Beschäftigung.

136 T.K. Bauer    eine zu geringe Arbeitsintensität als zentrale Ursache der Erwerbsarmut angesehen werden muss. Eine Vollzeiterwerbstätigkeit senkt das Risiko, von relativer oder absoluter Erwerbsarmut betroffen zu sein, erheblich. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass die Einführung oder Erhöhung von Mindestlöhnen nur ein geringes Potential haben, die Erwerbsarmut effektiv zu bekämpfen. Vielmehr sollte auf Maßnahmen gesetzt werden, die die Möglichkeiten sowie die Anreize zur Erhöhung der Arbeitsintensität in erwerbsarmen Haushalten verbessern. Dies kann bspw. durch verschiedene Kombinationen von Reformen der Minijobregelungen und des Ehegattensplittings erreicht werden. Voraussetzung für die Wirksamkeit derartiger Maßnahmen ist jedoch ein ausreichendes Angebot an Kinderbetreuungsmöglichkeiten und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Literatur Bruckmeier, Kerstin u.a., Steinig und lang – der Weg aus dem Leistungsbezug, IAB-Kurzbericht 14/2013, Nürnberg 2013. Bruckmeier, Kerstin u.a., Arbeitsmarktsituation von Aufstockern: Vor allem Minijobber suchen nach einer anderen Arbeit, IAB-Kurzbericht 19/2015, Nürnberg 2015. Bundesagentur für Arbeit, Erwerbstätige Arbeitslosengeld-II-Bezieher, o.J., online: https://statistik.arbeitsagentur.de/nn_1021940/ Statischer-Content/Rubriken/Grundsicherung-fuer-Arbeitsuchende-SGBII/vor-der-Datenrevision/Personengruppen-Bedarfsgemeinschaften/Erwerbstaetige-arbeitslosengeld-II-Bezieher.html (Zugriff: 19.01.2018). Bundesagentur für Arbeit, Erwerbstätige erwerbsfähige Leistungsberechtigte, September 2017, online: https://statistik.arbeitsagentur. de/nn_1021944/SiteGlobals/Forms/Rubrikensuche/Rubrikensuche _Form.html?view=processForm&resourceId=210368&input_=&p ageLocale=de&topicId=1023388&year_month=201709&year_mo nth.GROUP=1&search=Suchen (Zugriff: 22.01.2018). Bundesagentur für Arbeit (Hg.), Grundsicherung für Arbeitssuchende: Erwerbstätige Arbeitslosengeld II-Bezieher: Begriff, Messung, Struktur und Entwicklung, Bericht der Statistik der BA, Nürnberg 2010. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), Lebenslagen in Deutschland: Der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, August 2017, online: http://www.armuts-und-reich

Erwerbsarmut

137 

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  Christoph Butterwegge

Migration, „Flüchtlingskrise“ und Armut in Deutschland

1

Einleitung

Die seit Jahrzehnten wachsende soziale Ungleichheit bildet das Kardinalproblem der Menschheit schlechthin. Wenn die zehn Reichsten mehr besitzen als die ärmere Hälfte der Erdbewohner_innen, wie die angesehene Hilfsorganisation Oxfam behauptet, besteht kein Mangel an sozialem Sprengstoff. Im globalen Maßstab resultieren aus dieser Verteilungsschieflage ökonomische Krisen, Kriege und Bürgerkriege, die Flüchtlingsströme bisher unbekannten Ausmaßes erzeugen. Armut ist gewissermaßen die Mutter aller Migrationsbewegungen, und zwar nicht erst im Gefolge der Globalisierung bzw. der neoliberalen Modernisierung. Im nationalen Rahmen stiftet die soziale Ungleichheit ebenfalls Unfrieden, obwohl es hierzulande aufgrund des gegenüber Staaten der sog. Dritten bzw. Vierten Welt erheblich höheren Wohlstandsniveaus bisher (noch) nicht zu größeren Verwerfungen gekommen ist. Allerdings lautet die sozialpolitische Gretchenfrage seit der verstärkten Fluchtmigration nach Deutschland: Wie hältst du’s mit der Armut in einer wohlhabenden, wenn nicht reichen Gesellschaft? Darauf geben die etablierten Parteien, die verantwortlichen Politiker_innen und die Massenmedien, aber auch die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften häufig unbefriedigende oder ausweichende Antworten. 2

Armut – Begrifflichkeiten, Definitionen und Diskussionen

„Armut“ ist ein höchst brisanter, weil politisch-normativer, emotional besetzter und moralisch aufgeladener Terminus, der nicht bloß von den sozioökonomischen Rahmenbedingungen und den herrschenden Wertvorstellungen, sondern auch von dem Erfahrungshorizont, der gesellschaftlichen Stellung und dem weltanschaulichen, religiösen

Migration, „Flüchtlingskrise“ und Armut

139 

bzw. politischen Standort des jeweiligen Betrachters abhängt, weshalb er seit jeher genauso umstritten wie umkämpft ist. Eine allgemein verbindliche Definition gibt es nicht, noch dürfte es sie jemals geben.1 Schließlich sind die Erscheinungsformen der Armut zu vielfältig, um unter einem Begriff subsumiert werden zu können. Man differenziert zwischen absoluter, extremer oder existenzieller Armut einerseits sowie relativer Armut andererseits. Von absoluter Armut ist betroffen, wer seine Grundbedürfnisse nicht zu befriedigen vermag, also die für sein Überleben notwendigen Nahrungsmittel, sicheres Trinkwasser, eine den klimatischen Bedingungen angemessene Kleidung, ein Dach über dem Kopf und/oder eine medizinische Basisversorgung entbehrt. Von relativer Armut ist hingegen betroffen, wer zwar seine Grundbedürfnisse befriedigen, sich aber mangels finanzieller Ressourcen nicht oder nicht in ausreichendem Maße am gesellschaftlichen Leben beteiligen kann, sondern den allgemein üblichen Lebensstandard weit unterschreitet. In einem reichen Land sind nicht bloß Pfandflaschensammler_innen, Bettler_innen und Obdachlose arm, obwohl manche Medien diesen Eindruck erwecken, indem sie Armut grundsätzlich durch Fotos hiesiger gesellschaftlicher „Randgruppen“ oder aus der sog. Dritten Welt illustrieren. Die absolute Armut wird als „Dritte-Welt“-Phänomen abgetan und ihre Existenz in Deutschland geleugnet, die relative Armut verharmlost („Jammern auf hohem Niveau“ heißt es mit Blick auf Hartz-IV-Betroffene) und Reichtum verschleiert, indem die Grenze zum üblichen Wohlstand verschwimmt. Wegen der Relativität des Armutsbegriffs bietet dieser zahlreiche Angriffsflächen für Kritiker, zumal Armut kein Phänomen ist, das alle Menschen in gleicher Weise betrifft und das alle Menschen in gleicher Weise wahrnehmen, sondern eine gesellschaftliche Zuschreibung, die Politik, Wissenschaft und Medien vornehmen, im öffentlichen Diskurs jedoch auch laufenden Veränderungen unterliegt. Der „klassische“ Armutsbegriff, welcher von der Antike über das christliche Mittelalter bis zur Neuzeit im Gebrauch war, bezog sich auf die Frage, ob jemand mehr besaß, als er zum Überleben benötigte. Wer dieses Kriterium heute noch anlegt, verschließt sich der Erkenntnis, dass ein moderner Armutsbegriff differenzierter und nuancierter sein muss, weil er mit zu berücksichtigen hat, in welcher Gesellschaft ein Mensch lebt bzw. wie groß der ihn umgebende Wohlstand ist. 1

Vgl. Butterwegge, Armut in einem reichen Land, 11ff; Armut, 8ff.

140 C. Butterwegge    Aufgrund einer EU-Konvention wird das Ausmaß der relativen Armut in den Mitgliedstaaten bestimmt, indem man die Quote derjenigen ermittelt, die (bedarfsgewichtet) weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. Die daraus resultierende Armuts(gefährdungs)quote gibt an, wie weit der untere soziale Rand von der gesellschaftlichen Mitte, anders formuliert: von bürgerlicher Respektabilität, entfernt ist. Nichts anderes bedeutet im Grunde relative Armut. Georg Cremer, früher Generalsekretär der Caritas, warnt vor Alarmismus und beklagt, dass selbst Wissenschaftler_innen das Armutsrisiko mit Einkommensarmut gleichsetzten sowie relative und absolute Armut miteinander verwechselten. Für problematisch hält Cremer, dass im eigenen Haushalt lebende Auszubildende und Studierende der offiziellen Statistik als arm gelten: „Wohnt ein Studierender aus der Mittelschicht während des Studiums bei seinen Eltern, wird er der Mitte zugeordnet; zieht er von zu Hause aus und wird als eigenständiger Haushalt erfasst, rutscht er statistisch unter die 60%-Schwelle und damit, wenn zwischen Armutsrisiko und Armut differenziert wird, in die ‚Armut‘.“2 Selbst wenn Cremer recht hätte, würde die Zahl der Einkommensarmen aber nicht überschätzt, weil große Personengruppen unberücksichtigt bleiben, die gar nicht in einem (Privat-)Haushalt leben, etwa Obdach- und Wohnungslose, Flüchtlinge in Gemeinschaftsunterkünften sowie Gefängnis- und Heiminsassen. Niemand behauptet übrigens, absolute Not und totales Elend würden hierzulande immer größer, feststellbar ist aber, dass die Reichen immer reicher und die Armen zahlreicher werden, anders formuliert: dass die Armutsgefährdung bis zur Mitte der Gesellschaft vordringt und sich dort verfestigt. Auch die damalige Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles reihte sich in den Chor der Kritiker des EU-offiziösen Armutsbegriffs ein, als sie einen allgemeinen Anstieg der materiellen Armut bezweifelte und behauptete, dass die Festsetzung der Armutsgrenze bei 60 Prozent des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens „schnell in die Irre“ führe: „Angenommen, der Wohlstand in unserem Land würde explodieren, dann bleibt nach dieser Definition das Ausmaß an Armut gleich.“3 Dass eine solche „Wohlstandsexplosion“ den Armen genauso zugutekäme wie anderen Gesellschaftsmitgliedern, ist höchst unwahrscheinlich. Würden sich die Einkommen sämtlicher Bewohner_innen eines Landes verzehnfachen, wären (relativ) Arme vermut2 3

Cremer, Armut in Deutschland, 48. Nahles, Ein schönes Auto.

Migration, „Flüchtlingskrise“ und Armut

141 

lich schon deshalb immer noch arm, weil Preise und Lebenshaltungskosten im selben Maße steigen und einen realen Wohlstandsgewinn verhindern würden. Vor allem wären sie kaum weniger marginalisiert, weil sich ihre Einkommensposition innerhalb der Gesellschaft eher verschlechtern würde: Wer vorher 800 Euro im Monat verdient hat, käme jetzt auf 8.000 Euro; wer vorher 8.000 Euro im Monat zur Verfügung hatte, käme jetzt auf 80.000 Euro. Betrug die Differenz zwischen Gering- und Besserverdienenden in unserer Beispielrechnung anfangs 7.200 Euro, so beträgt sie nachher satte 72.000 Euro. Nahles bemängelte, dass es sich bei dem 60-Prozent-Maß um eine relative Größe handle, welche die Einkommensspreizung zeige, aber nicht die absolute Armut: „Dabei laufen wir aber Gefahr, den Blick für die wirklich Bedürftigen zu verlieren.“4 In diesem Zusammenhang erwähnte Nahles illegale – genauer: illegalisierte – Einwanderer und jüngere Erwerbsgeminderte, bei denen man es mit „wirklicher Armut“ zu tun habe. Das entsprach der restriktiven Migrations- und Integrationspolitik von CDU, CSU und SPD, die durch ihre „Asylpakete“ und weitere Gesetzesverschärfungen mehr Ausweisungen und Abschiebungsbescheide erzeugt haben, wodurch die Zahl der Migrant_innen ohne Aufenthaltsstatus steigen dürfte, die untertauchen und ihren Lebensunterhalt fortan ohne Sozialleistungen bestreiten müssen. Armut erscheint im Fünften Armuts- und Reichtumsbericht, den die Bundesregierung unter der Federführung von Nahles im April 2017 verabschiedete, nicht als ein strukturelles, d.h. gesamtgesellschaftliches Problem, für das im Wesentlichen die ökonomischen Rahmenbedingungen und politischen Entscheidungen von Regierungen, Parlamenten und Behörden verantwortlich sind, sondern als ein individuelles Schicksal, das die von ihm Betroffenen oftmals selbst verschuldet haben. Nötig wäre ein Paradigmenwechsel, für den etwa Stefan Sell plädiert: „Es muss wieder gelingen, die Debatte weg von ihrer individualistischen Engführung auf Defizite der einzelnen Menschen und hin zu den Verhältnissen und deren Gestaltung zu lenken.“5 Da die kapitalistische Gesellschaft immer mehr Bereiche ökonomisiert, privatisiert und kommerzialisiert, d.h., beinahe alle Lebensabläufe stärker denn je über das Geld regelt, führt Einkommensarmut heute zu einer größeren sozialen Abwertung, als dies in früheren Geschichtsperioden der Fall war. Je höher das Wohlstandsniveau eines 4 5

Nahles, Ein schönes Auto. Sell, Das ist keine Armut, 107.

142 C. Butterwegge    Landes ist, desto niedriger fällt daher der wissenschaftliche und politische „Gebrauchswert“ eines Armutsbegriffs aus, der sich auf das physische Existenzminimum bezieht. 3

Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung: Migration und Armut

Mit der Globalisierung bzw. der neoliberalen Modernisierung sind Polarisierungsprozesse in fast allen Bereichen von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat verbunden. Dies gilt auch und gerade für Wanderungsbewegungen und ihre Folgen.6 Genannt seien hier nur vier Entwicklungstendenzen: 1) die soziale Polarisierung zwischen Zentrum und Peripherie, d.h. Metropolen und Entwicklungsländern, wie innerhalb jeder einzelnen Gesellschaft; 2) die Dualisierung des Prozesses transkontinentaler Wanderungen in Experten- bzw. Elitenmigration einerseits und Elendsmigration andererseits; 3) die Ausdifferenzierung der Migrationspolitik in positive Anreize für Erstere sowie Restriktionen und negative Sanktionen für Letztere; 4) die Spaltung der Städte, bedingt durch die soziale Marginalisierung und sozialräumliche Segregation von (ethnischen) Minderheiten. Je mehr die sog. Dritte bzw. Vierte Welt im Globalisierungsprozess von der allgemeinen Wirtschafts- bzw. Wohlstandsentwicklung abgekoppelt wird, umso eher wächst der Migrationsdruck, welcher Menschen veranlasst, ihrer Heimat den Rücken zu kehren und gezielt nach Möglichkeiten der Existenzsicherung in ferneren Weltregionen zu suchen, was wiederum verschärfend auf die Einkommensdisparitäten zwischen den und innerhalb der einzelnen Gesellschaften zurückwirkt. Gleichzeitig werden soziale Zusammenhänge labiler und die Menschen gezwungenermaßen sowohl beruflich flexibler wie auch geografisch mobiler. Wenn man so will, ist ein duales und selektives Migrationsregime entstanden: Die „guten“ (sprich jungen und möglichst hoch qualifizierten) Zuwanderer werden angeworben bzw. willkommen geheißen, die „schlechten“ (sprich älteren und niedrig qualifizierten) Zuwanderer systematisch abgeschreckt. „Zuckerbrot“ und „Peitsche“ dienen als Instrumente einer Migrationspolitik, die ökonomischen bzw. de6

Vgl. dazu ausführlicher Butterwegge/Hentge, Zuwanderung.

Migration, „Flüchtlingskrise“ und Armut

143 

mografischen Interessen folgt, wiewohl die Menschenrechte in Sonntagsreden zur obersten Richtschnur des Handelns erklärt werden. Während man gut ausgebildete Fach- bzw. Führungskräfte aus aller Herren Länder zu gewinnen sucht, gilt unerwünschte Armutsmigration bzw. Flucht als „Standortnachteil“, den man tunlichst zu vermeiden oder wenigstens zu minimieren sucht. Zu- bzw. Einwanderung wird fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihres volkswirtschaftlichen Nutzens für das in erster Linie als „Wirtschaftsstandort“ begriffene Aufnahmeland bewertet. Flüchtlingsarmut wird von den Massenmedien zwar häufig als individuelles oder ethnisches Problem dargestellt, ist aber strukturell bedingt. Migrant_innen, die heute ihr Land verlassen und im Zuge der Globalisierung nach einer neuen Heimat suchen, sind nicht bloß mehrheitlich weniger betucht, sondern hierzulande auch selten in der Lage, sozial aufzusteigen. Denn ihnen drohen zumeist Stigmatisierung, Kriminalisierung und Marginalisierung. Zuwanderer gehören nur in wenigen Ausnahmefällen zu den Gewinner_innen eines Spaltungsprozesses, der längst die ganze Gesellschaft erfasst hat. Obwohl das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1 GG und Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) die Armutsbekämpfung zu den zentralen Aufgaben sämtlicher Staatsorgane erklärt, haben sich alle bisherigen Bundesregierungen eher auf Reichtumsförderung durch eine unsoziale Steuerpolitik konzentriert. Auch die Migrations-, Asyl- und Integrationspolitik war keineswegs darauf gerichtet, der Not und dem Elend von Flüchtlingen in Deutschland wirksam zu begegnen, sondern hat die Armut vermehrt. Hierfür spricht beispielsweise die Tatsache, dass nach Angaben der Lebensmitteltafeln ein Jahr nach dem Sommer 2015 ca. 250.000 Geflüchtete zu ihren „Kunden“ gehörten und damit ein Viertel aller regelmäßig Versorgten stellten. Wer als deutscher Geringverdiener, Kleinstrentner oder Transferleistungsbezieher nur schwer über die Runden kam und nicht wusste, wie er am 20. des Monats noch etwas Warmes auf den Tisch bringen würde, konnte angesichts einer geradezu monothematischen Dauerbehandlung der „Flüchtlingskrise“ durch Massenmedien, etablierte Parteien und Politiker_innen leicht den Eindruck gewinnen, dass seine materiellen Nöte in der Öffentlichkeit keine Aufmerksamkeit (mehr) fanden, weil Zuwanderer im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses standen und die Schlagzeilen füllten. Um den Irrglauben zu zerstreuen, dass „uns“ Massen zerlumpter Migranten die Butter vom Brot nehmen und hiesige Arme finanzielle Opfer für die Aufnahme, Unterbringung und Verpflegung von Flüchtlingen bringen müssen,

144 C. Butterwegge    wäre eine sozialpolitische Großoffensive der Bundesregierung erforderlich, die dafür sorgen müsste, dass Einheimische mit geringem Einkommen künftig schneller eine Wohnung finden, weniger Schikanen der Sozialbehörden ausgesetzt sind und ihnen häufiger eine Maßnahme der beruflichen Weiterbildung bewilligt wird als vor der temporären Grenzöffnung im September 2015. Bei der Verdopplung der Mittel für den sozialen Wohnungsbau hat die Große Koalition durchaus den richtigen Weg eingeschlagen, auch wenn der von ihr unternommene Schritt viel zu zögerlich war. Der in den (un)sozialen Medien und Netzwerken genährte Verdacht, dass man deutschen Unterschichtangehörigen bezahlbare Wohnungen, Arbeitsplätze und Transferleistungen vorenthält, um sie Flüchtlingen zu geben, muss durch eine großzügigere Sozialpolitik entkräftet werden, will man verhindern, dass rechtspopulistische Demagogen wie die Alternative für Deutschland (AfD) und die „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (PEGIDA) noch mehr Einfluss auf das Alltagsbewusstsein von Millionen Menschen gewinnen. Andrea Nahles, die als Juso-Bundesvorsitzende eine vehemente Kritikerin von Gerhard Schröders „Agenda 2010“ gewesen war, bevor sie innerhalb der SPD eine steile Karriere machte, suchte als Arbeits- und Sozialministerin die Hartz-IV-Logik auf Flüchtlinge zu übertragen. Diese sollten für ein Verhalten, das man ihnen als Integrationsverweigerung auslegen kann, mit drastischen Leistungskürzungen bestraft werden. „Wer Hilfe benötigt, bekommt sie“, versprach Nahles und fuhr fort: „Aber es gibt keinen Anspruch auf leistungslose Unterstützung. Der Staat schiebt an wenn nötig, aber wer kann, muss auch selbst in die Pedale treten, damit es vorwärts geht. Und irgendwann muss es allein gehen.“7 Das klang nach einer wenig originellen Neuauflage von Gerhard Schröders markigem Spruch „Es gibt kein Recht auf Faulheit“, mit dem seinerzeit die „Agenda“-Politik legitimiert wurde,8 einerseits sowie Guido Westerwelles Kritik an Hartz-IVBezieher_innen im „anstrengungslosen Wohlstand“ andererseits. Genauso wie bei Hartz IV im Hinblick auf Langzeiterwerbslose verweist der von Andrea Nahles gegenüber den Geflüchteten bemühte Grundsatz des „Förderns und Forderns“ darauf, dass nicht etwa die strukturellen Hindernisse der Arbeitsmarktintegration und die Defizite des bestehenden Wirtschaftssystems im Mittelpunkt ihrer Prob7 8

Nahles, Ohne Integration. Vgl. Kaufmann, Kein Recht auf Faulheit.

Migration, „Flüchtlingskrise“ und Armut

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lemanalyse standen, sondern die angebliche Verweigerungshaltung der Betroffenen. Sie unterstellte ihnen Passivität, die staatliche Institutionen durch „Aktivierungsmaßnahmen“ aufbrechen müssten, und wollte ihr Verhalten durch Androhung bzw. Anwendung von Strafen ändern, nicht aber die gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse als wahre Ursache für rassistische Diskriminierung und soziale Benachteiligung. Dabei sind Flüchtlinge ebenso wenig für ihre Misere verantwortlich wie Langzeiterwerbslose, vielmehr überwiegend Opfer der sozialen Exklusion. 4

Zuwanderung, Mindestlohnregelung und Armutsentwicklung

Da es sich bei der Bundesrepublik Deutschland um einen Sozialversicherungsstaat in der Bismarck‘schen Tradition handelt, hängt die gesellschaftliche Inklusion der Flüchtlinge entscheidend von deren Arbeitsmarktintegration ab.9 Um diese zu fördern und möglichst zu beschleunigen, müssten die von der Bundesagentur für Arbeit seit den „Agenda“-Reformen zurückgefahrenen Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung und andere Eingliederungsleistungen wieder einen größeren Stellenwert erhalten. Sonst droht die Zahl der Arbeitslosen und der Hartz-IV-Bezieher_innen erneut stark zu steigen, nachdem man sie im Konjunkturaufschwung nicht zuletzt mittels statistischer Taschenspielertricks erheblich gesenkt hatte.10 Nennenswerten Mehrbelastungen sind im Gefolge der „Flüchtlingskrise“ nicht die Sozialversicherungen ausgesetzt, deren Einnahmenseite durch (sozialversicherungspflichtig beschäftigte) Zuwanderer sogar gestärkt wird, sondern nur das steuerfinanzierte Fürsorgesystem, dessen höhere Ausgaben die Unternehmen, Kapitaleigner und Aktionäre tragen müssten, weil sie von der Migration entweder durch eine bessere Versorgung mit Arbeitskräften und/oder durch bessere Absatzchancen für die eigenen Produkte auf dem Binnenmarkt profitieren. Nötig ist eine kräftige Anhebung von Kapitalertrags- und Gewinnsteuern, die hierzulande im OECD-Vergleich ohnehin extrem niedrig sind. Als die Zahl der Zugewanderten im Spätherbst 2015 so stark anstieg, dass die Mainstream-Medien fortan nicht mehr die „deutsche Willkommenskultur“ feierten, sondern unter dem Schlagwort „Flüchtlingskrise“ überwiegend einer rigideren Fremdenabwehr das Wort 9

Vgl. Schmähl, Migration, 251. Vgl. Butterwegge, Hartz IV, 207ff.

10

146 C. Butterwegge    redeten, forderten Wirtschaftslobbyisten und Neoliberale eine Abschaffung bzw. Aufweichung des Mindestlohns. Hans-Werner Sinn, damals Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung an der Universität München, schlug mehrfach vor, die seit dem 1. Januar 2015 gültige Lohnuntergrenze zu senken oder ganz aufzugeben, der CDU-Wirtschaftsrat verlangte eine befristete Ausnahmeregelung sowie niedrigere Einstiegslöhne für Flüchtlinge und auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung wollte Flüchtlinge auf der Suche nach einem Arbeitsplatz wie Langzeitarbeitslose behandeln und ihnen zwölf Monate lang den Mindestlohn vorenthalten. Außerdem sollte dieser nach Meinung der „fünf Weisen“ vorerst nicht erhöht werden. Ein solcher Maßnahmenkatalog hätte nicht bloß die Armut der betroffenen Flüchtlinge vergrößert und das gesamte Lohnniveau erneut nach unten gezogen, sondern auch die Zahl der Hartz-IV-Bezieher_innen („Aufstocker_innen“) erhöht, also den Staatshaushalt zusätzlich belastet, die Massenkaufkraft verringert und damit die trotz vieler Unkenrufe von neoliberalen Ökonomen und Publizisten durch den gesetzlichen Mindestlohn angekurbelte Binnenkonjunktur abgewürgt. Außerdem hätte er Wasser auf die Propagandamühlen des Rechtspopulismus geleitet, die vom sozialen Abstieg bedrohten Angehörigen der unteren Mittelschicht einzureden sucht, dass ihnen Zuwanderer die Jobs wegschnappen. Auch die Forderung nach völliger Aufhebung des Verbots der Leiharbeit für Geflüchtete, das im Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz bereits für Fachkräfte nach drei Monaten außer Kraft gesetzt wurde, zeigt deutlich, dass interessierte Kreise in der Bevölkerung mehr Akzeptanz für eine Rückkehr zum unbeschränkten Lohndumping zu schaffen versuchten. Da in Medien und politischer Öffentlichkeit nicht zuletzt durch die penetrante und monothematische Behandlung der „Flüchtlingskrise“ fortwährend Sozialneid nach unten geschürt wurde, nahmen die rechte, rassistisch motivierte Gewalt und die Entwicklungsrisiken für den Wohlfahrtsstaat zu. Umgekehrt könnte im Zeichen einer Zuwanderungsdebatte, die sich primär um die – angebliche oder wirkliche – Mehrbelastung des Staatshaushalts durch „massenhafte Flüchtlingsströme“ dreht, aber die krasse Verteilungsschieflage skandalisiert werden. Ein triftigeres Argument für die Notwendigkeit der Verwirklichung größerer Steuergerechtigkeit als den Hinweis, dass Geringund Normalverdiener_innen keinesfalls für hilfebedürftige Flüchtlinge zahlen dürfen, Wohlhabende und Reiche aber viel stärker in die

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147 

Pflicht für das sonst weiter auseinanderdriftende Gemeinwesen genommen werden müssen, gibt es nämlich nicht. 5

Die vermehrte Fluchtmigration – Katalysator einer Transformation des Armutsbegriffs?

Zweifellos bleibt die Einwanderung überwiegend mittelloser Flüchtlinge längerfristig nicht ohne gravierende Auswirkungen auf die Entwicklung von Armut und sozialer Ungleichheit in Deutschland. Wenn nicht alles täuscht, vertieft sich die Kluft zwischen Arm und Reich dadurch zusätzlich. Bei unveränderten Macht- und Mehrheitsverhältnissen besteht sogar die Gefahr einer dauerhaften ethnischen Unterschichtung unserer Gesellschaft, wenn die Dominanz rassistischer Ressentiments innerhalb der Mehrheitsgesellschaft dazu führt, dass die Geflüchteten arm bleiben und sozialer Ausgrenzung unterliegen. Um diese Gefahr zu bannen und einer Ghettoisierung von Flüchtlingen vorzubeugen, wäre eine inklusive Sozial-, Bildungs-, Gesundheits-, Stadtentwicklungs- und Wohnungsbaupolitik von Bund, Ländern und Kommunen ebenso notwendig wie eine progressivere Steuerpolitik, mit der Kapitaleigentümer, Vermögende und Spitzenverdiener stärker zur Bekämpfung des „Dritte-Welt-Elends“ in Deutschlands Großstädten herangezogen werden müssten. Entweder ist der Staat bereit, erheblich mehr Geld auszugeben – was bei Verzicht auf Steuererhöhungen ein Ende der „schwarzen Null“ und der „Schuldenbremsen“ bedeuten würde –, oder die Kluft zwischen Arm und Reich wird sich drastisch vertiefen. Auch die öffentliche Armut, unter der die Handlungsfähigkeit des Staates im Bereich von Migration und Integration spürbar leidet, wenn den Bundesländern nicht genug Erstaufnahmekapazitäten zur Verfügung stehen und hoch verschuldete Kommunen unter den Mehrkosten der Flüchtlingsunterbringung stöhnen, könnte durch eine höhere Steuerbelastung der Wohlhabenden und Reichen beseitigt werden. Diese wurden seit der Vereinigung von BRD und DDR ständig weiter begünstigt – exemplarisch genannt seien hier nur die Aussetzung der Vermögensteuer, die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, mehrere Senkungen des Spitzensteuersatzes (bei der Einkommensteuer) und der Körperschaftsteuer (für Kapitalgesellschaften), die Einführung der Abgeltungssteuer (auf Kapitalerträge) sowie die Privilegierung der Unternehmerfamilien bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer.

148 C. Butterwegge    In der (Medien-)Öffentlichkeit dürften Bestrebungen zunehmen, relative Armut noch stärker als bisher zu verharmlosen und bloß noch absolute Armut, d.h. Not und Elend als „wirkliche“ Armut anzuerkennen. Eines Tages könnte dann als arm nur gelten, wer – überspitzt gesagt – nicht mehr hat als das, was er am Leibe trägt. Flüchtlingselend darf aber nicht zur Messlatte für Armut in einem reichen Land gemacht werden. Umgekehrt gilt vielmehr: Je entwickelter und wohlhabender eine Gesellschaft ist, desto weiter sollte ihr Armutsverständnis sein, fördert ein hoher Lebensstandard doch die soziale Ausgrenzung von Menschen, deren Einkommen nicht hinreicht, um in prestigeträchtigen Konsumbereichen „mitzuhalten“ und sich gleichberechtigt am sozialen, kulturellen und politischen Leben zu beteiligen. Wenn sich in der Öffentlichkeit ein (auf die Existenzprobleme von illegalisierten Migrant_innen) verengter Armutsbegriff durchsetzt, wird die Denunziation der dann eben nicht mehr als „wirklich“ arm geltenden Transferleistungsbezieher_innen höchstwahrscheinlich zunehmen. Fortan dürften Langzeit- bzw. Dauererwerbslose häufiger als „Drückeberger“, „Faulpelze“ und „Sozialschmarotzer“ etikettiert, stigmatisiert und kriminalisiert werden. Auch sozialdarwinistische, wohlstandschauvinistische und rechtspopulistische Stimmungen könnten sich stärker ausbreiten. Sie haben zuletzt spürbar an Einfluss in der Bevölkerung sowie auf die Migrations-, Asyl- und Integrationspolitik der Regierungsparteien gewonnen. Literatur Butterwegge, Christoph, Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird, 4. Aufl., Frankfurt am Main / New York 2016. Butterwegge, Christoph, Armut, 3. Aufl., Köln 2018. Butterwegge, Christoph, Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?, 3. Aufl., Weinheim / Basel 2018. Butterwegge, Christoph / Hentges, Gudrun, Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung. Migrations-, Integrations- und Minderheitenpolitik, Wiesbaden 2009. Cremer, Georg, Armut in Deutschland. Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln?, München 2016. Kaufmann, Matthias, Kein Recht auf Faulheit. Das Bild von Erwerbslosen in der Debatte um die Hartz-Reformen, Wiesbaden 2013. Nahles, Andrea, „Ein schönes Auto zu fahren, das ist für mich Luxus“. Interview mit der Arbeitsministerin, in: Süddeutsche Zeitung v. 27.03.2015.

Migration, „Flüchtlingskrise“ und Armut

149 

Nahles, Andrea, Ohne Integration die Leistungen kürzen, in: FAZ v. 01.02.2016. Schmähl, Winfried, Migration und soziale Sicherung. Über die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung: das Beispiel der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 40 (1995), Tübingen, 247–271. Sell, Stefan, Das ist keine Armut, sondern „nur“ Ungleichheit? – Plädoyer für eine „erweiterte Armutsforschung“ durch eine explizit ökonomische Kritik der Ungleichheit, in: Ulrich Schneider (Hg.), Kampf um die Armut. Von echten Nöten und neoliberalen Mythen, Frankfurt am Main 2015, 84–108.

  Kerstin Walther

Krankheit ist niemals fair, doch Gesundheit ist ungerecht verteilt

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Gesundheit: Ausgangsfragen und Hintergründe

Es ist ein Paradox: Die gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland haben im Allgemeinen zu einem Zugewinn an Wohlstand, sozialer Sicherheit, Bildung und gesundheitlicher Versorgung geführt. Das spiegelt sich in der durchschnittlichen Lebenserwartung. Die Menschen in Deutschland leben länger1 und verbringen mehr Lebenszeit in guter Gesundheit. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass immer stärkere Anstrengungen von Nöten sind, um am Wohlstand zu partizipieren und den gewünschten Lebensstandard zu sichern. Die Lebensverhältnisse entwickeln sich zunehmend auseinander. Von den gesellschaftlichen Verbesserungen profitieren nicht alle gleichermaßen. Trotz Beschäftigungswachstum und stabiler wirtschaftlicher Lage bleibt die Armutsrisikoquote stabil: Ca. 7−8 Millionen Menschen leben am Existenzminimum, davon leben ca. 6 Millionen mit erheblichen materiellen Entbehrungen. Steigend ist die Anzahl derer, die ihre soziale Stellung bedroht sehen und sich mit hohem Einsatz bemühen, einen sozialen Abstieg zu verhindern.2 Das hat Auswirkungen auf die Gesundheit. Diejenigen, die sozial und ökonomisch schlechter gestellt sind, profitieren nur sehr langsam und eingeschränkt von den positiven Auswirkungen im Hinblick auf ihre Gesundheit. Diejenigen, die um ihre soziale Stellung bangen, nehmen gesundheitliche Einschränkungen in Kauf, um mithalten zu können. Gesundheit ist ein äußerst komplexes Phänomen. Während sich Krankheit recht eindeutig durch Symptome und Befunde definieren lässt, ist Gesundheit beides: sowohl ein theoretisches Konstrukt von Normen und Abweichungen, aber gleichzeitig auch ein sehr prakti1

Vgl. Robert Koch-Institut, Gesundheit in Deutschland, 18ff und 30ff. Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Fünfter Armuts- und Reichtumsbericht, 11ff. 2

Armut und Gesundheit

151 

sches, am eigenen Leibe erlebtes Phänomen. Gesundheit entsteht im Leben, im Alltag, im Spielen, Lernen, Arbeiten und Lieben.3 Sie entsteht in einem fragilen Wechselspiel von Belastung und Bewältigung, die im Gefühl der Lebensfreude, im Wohlsein, ihren Ausdruck findet.4 Die Frage ist nun: Was lässt dieses Wechselspiel gelingen, was stellt eine Balance zwischen Anforderungen und Bewältigung her? Generell sind zunächst alle Menschen verletzlich und vulnerabel für Krankheiten. Es gibt immer wieder Zeiten und Umstände im Lebensverlauf, in denen die Balance zwischen gegebenen Anforderungen und zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht ausgeglichen ist. Wenn Bewältigung nicht gelingt, ist das Risiko für Krankheiten hoch, es sind Zeiten, in denen der Körper „seinen Dienst versagt“. Aber, gesundheitlich verletzlich zu sein, ist nicht eine Frage von natürlicher Konstitution. Gesundheit wird weniger bestimmt von der eigenen, persönlichen Leistung. Sie entsteht im Kontext von sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten, in denen das Leben gemeistert wird. Krankheit ist niemals fair, aber es bestehen soziale Unterschiede im Hinblick auf die Möglichkeiten, ein Leben in guter Gesundheit zu führen. Die Wirkungen sozialer Unterschiede sind komplex und nicht gerecht. Solche gesundheitliche Ungleichheit drückt sich dadurch aus, dass Menschen in bestimmten Lebenslagen systematisch benachteiligt sind, ihre Gesundheitspotenziale auszuschöpfen. Einkommen, Beruf, Bildung und damit verbunden Ansehen, Macht und soziale Akzeptanz bestimmen Gesundheitschancen. Dieser Beitrag setzt sich mit Themen der gesundheitlichen Ungleichheit auseinander und gibt Einblicke in die Komplexität des Themas, ohne eine Lösung zu präsentieren. Es wird gezeigt, dass vereinfachende Formeln wie „Armut + wenig Bildung = Krankheit“ keine Anwendung finden können. Ein Rezept für „Gesundheit für alle“ lässt sich nicht einfach ausstellen. 2

Armut als Risiko für Gesundheit

Armut ist ein wesentlicher Risikofaktor für Gesundheit. In Deutschland bedeutet Armut nicht ausschließlich existenzielle Armut, also knappe finanzielle Ressourcen, wenig Besitztümer und geringen Zugang zu begehrten Gütern. Armut ist vielmehr auch eine Frage von Status und Anerkennung in der Gesellschaft und drückt sich in der relativen sozialen Benachteiligung, gemessen am mittleren gesell3 4

Vgl. World Health Organisation, Ottawa-Charta, 1. Vgl. Antonovsky, Salutogenese, 33 ff.

152 K. Walther    schaftlichen Lebensstandard und Wohlstandsniveau, aus. Beides, sowohl Ressourcenknappheit als auch statusbedingte Diskriminierungen, Abwertungen und Ausschlüsse, ist von Bedeutung, wenn es um die Frage nach den gesundheitlichen Auswirkungen von Armut geht.5 Die Auswirkungen von Armut auf die Gesundheit sind mittlerweile umfassend erforscht und dokumentiert. Die Differenz in der Lebenserwartung ist ein deutliches Zeichen der Ungleichheit: Männer aus der niedrigsten Einkommensgruppe sterben in Deutschland durchschnittlich 11 Jahre früher; bei den Frauen ist die durchschnittliche Lebenserwartung um acht Jahre verkürzt. Arme Menschen verbringen mehr Lebenszeit in schlechter Gesundheit als Menschen, die nicht von Armut betroffen sind.6 Das lässt sich konkretisieren: Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, schneiden in den Gesundheitsstatistiken in Bezug auf nahezu alle Krankheitsbilder schlechter ab. Das soziale Gefälle im Hinblick auf das Erkrankungsrisiko ist eindeutig sichtbar. Das Risiko, an einer chronischen Erkrankung wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes zu leiden, ist für Menschen, die von Armut betroffen sind, dreimal höher als bei nicht Betroffenen. Betrachtet man die Krankheitsverläufe, so muss man feststellen, dass diese im Vergleich häufiger komplex sind und sich dramatischer entwickeln. Nicht selten treten mehrere Krankheiten gleichzeitig auf (z.B. Alkoholsucht in Verbindung mit einer körperlichen Erkrankung wie Herzschwäche oder dass sich beispielsweise im Falle eines unkontrollierten Diabetes eine Nierenkrankheit entwickelt). Zudem sind die Krankheitsverläufe im Vergleich häufiger mit erheblichen Funktionsbeeinträchtigungen auf körperlicher Ebene (beispielsweise Sinnes- oder Bewegungsbeeinträchtigungen) oder psychischer (z.B. Antriebslosigkeit, Freudlosigkeit, Bewusstseinstrübungen) verbunden.7 Männer und Frauen mit niedrigem sozialem Status sind deutlich häufiger von psychischen Störungen betroffen, was sich auch im gleichzeitigen Auftreten mehrerer Störungsbilder zeigt. Einkommens- und Statusunterschiede sind im Hinblick auf Substanzstörungen, wie beispielsweise Alkoholsucht, Angststörungen oder affektive Störungen, wie z.B. Depressionen, eindeutig sichtbar. Das Erkrankungsrisiko ist im Vergleich zu höheren Statusgruppen 1,9- bis 2,6-fach erhöht. Zum ersten Mal in der Geschichte ist Übergewicht kein Zeichen für Wohl5

Vgl. Lampert/Rosenbrock, Armut und Gesundheit. Vgl. ebd. 7 Vgl. Lampert/Mielck, Gesundheit und Soziale Ungleichheit, 9ff. 6

Armut und Gesundheit

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stand, sondern von Armut. Hinsichtlich starken Übergewichts (Adipositas) sind die sozialschichtspezifischen Unterschiede bei Frauen deutlich stärker ausgeprägt als bei Männern. Frauen, die in Armut leben, sind doppelt so häufig adipös wie nicht von Armut betroffene.8 Die Auflistung ließe sich fortsetzen. Das häufigere Auftreten und die Komplexität der Krankheiten in Verbindung mit dem erhöhten Vorkommen von Risikofaktoren für Krankheiten in den unteren sozialen Statusgruppen korrespondiert mit einer vergleichsweise erhöhten Mortalität. Frauen und Männer, deren Einkommen unterhalb der Armutsgrenze liegt, haben ein 2,7-fach erhöhtes Sterberisiko bei Erkrankungen.9 Bei dem Versuch, eine Begründung für diese empirischen Beobachtungen zu finden, lassen sich mehrere Erklärungsansätze heranziehen. Im Folgenden wird deutlich, dass es im Hinblick auf die Begründungen kein „Entweder-oder“ gibt, sondern das Ineinandergreifen von unterschiedlichen Faktoren und deren wechselseitige Bedingtheit Armut als Risikofaktor für Gesundheit erklären. 3

Erklärungsansätze: Arm, krank und selber schuld?

Die Ursachen für das erhöhte Krankheits- und Sterberisiko sind komplex. Eingeschränkte Gesundheit wird oftmals als Folge einer schlechten (genetischen) Konstitution vermutet oder als Folge von inkompetenten Gesundheitsentscheidungen und wenig gesundheitszuträglichem Verhalten gesehen. Es steht die Frage im Raum, ob der schlechte Gesundheitszustand möglicherweise als (natur-)gegeben hingenommen werden muss (weil genetisch vorbestimmt) oder aber von den Individuen selbstverursacht ist. Die aktuellen Forschungen kommen aber zu einem eindeutigen Ergebnis: Die Lücke im Hinblick auf Lebenserwartung und Erkrankungsrisiko ist vermeidbar. Den meisten Erkrankungen könnte vorgebeugt werden, die meisten vorzeitigen Sterbefälle sind vermeidbar. Leben in Armut und damit verbunden ein niedriger sozialer Status verursachen Gesundheitsgefährdungen. Armut wirkt nicht direkt auf die Gesundheit, sondern indirekt durch die mit Armut verbundenen Ausgrenzungs- und Stigmatisierungsmechanismen.

8 9

Vgl. Lampert/Mielck, Gesundheit und Soziale Ungleichheit, 9ff. Vgl. ebd.

154 K. Walther    Aber was ist es denn nun? Eine Frage von fehlenden materiellen Ressourcen? Von fehlender Bildung und Kompetenz? Oder eine Frage von höherer Risikoexposition? Oder versagter Versorgung? Personen, die sich am unteren Ende der Statushierarchie befinden, verfügen nicht nur über geringere finanzielle Ressourcen, sondern leben und arbeiten auch in eher gesundheitsriskanten Umwelten. Sie sind verstärkt gesundheitsschädigenden Einflüssen wie Lärm, Luftverschmutzung, Müll, Kälte oder schwerer, gefährlicher körperlicher Arbeit ausgesetzt und verfügen gleichzeitig über weniger Ressourcen, die Risiken abzumildern (z.B. durch Unfallversicherungen, Schutz- oder wetterangemessene Kleidung oder dreifachverglaste Fenster) oder auszugleichen (z.B. durch erholsame Urlaube, kraftspendende Hobbys, energetisierende Nahrungsergänzungsmittel). Armut in Deutschland ist nicht allein die Erfahrung von materieller Not. Im Hinblick auf Gesundheit geht es auch um die belastenden Erfahrungen von verminderten Möglichkeiten, die eigenen Interessen zu verwirklichen und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Wird der Abstand zwischen dem oberen und dem unteren Ende der sozialen Stufenleiter größer, verstärken sich die Gefühle von „Abgehängtsein“, Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit. Eine international vergleichende Studie hat gezeigt, dass die Erfahrung von Armut universell verbunden ist mit dem Gefühl von Verachtung und Minderwertigkeit: Man gibt tagein tagaus sein Bestes, und es ist nicht genug. Man hat versagt – vor sich selbst und vor den anderen. Die in der Studie befragten Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, verachteten die Armut und sich selbst dafür, arm zu sein. Gefühle von Scham und Schande werden verinnerlicht, es gibt kein Entrinnen. Armut ist nicht nur eine Frage von Gütern, es ist eine gehässige Unterscheidung zwischen Klassen. Hier geht es um Minderwertigkeit der einen und Höherwertigkeit der anderen.10 Diese Gefühle betreffen nicht nur diejenigen, die bereits am unteren Rand der Gesellschaft leben, sondern auch diejenigen, die in sozial unsicheren Verhältnissen leben (wie beispielsweise Selbstständige, freiberuflich Tätige oder sogenannte Minijobber), die sich unmittelbar von Armut bedroht fühlen oder sehen, wie die Kluft zwischen dem, was für sie möglich ist, und den anderen wächst. Eingeschränkte Ressourcen haben Auswirkungen auf die Gesundheitskompetenz. Als gesundheitskompetent wird eine Person be10

Vgl. Wilkinson, Inequality and Social Dysfunction, 1f.

Armut und Gesundheit

155 

schrieben, die kognitive und soziale Fähigkeiten einzusetzen vermag, gesundheitsrelevante Informationen zu suchen, zu verstehen, sich im Gesundheitssystem zu bewegen und Leistungen (nach kritischer Prüfung) in Anspruch zu nehmen sowie angemessene Entscheidungen in Gesundheits- und Krankheitsfragen zu treffen.11 Wie sieht es aber aus mit den Möglichkeiten hinsichtlich des Zugangs zu Informationen und gesundheitsrelevantem Wissen? Gesundheitsinformationen sind selten so aufbereitet, dass sie leicht verständlich und einfach zugänglich sind – man selbst muss Wissensexpert_in sein, um zwischen wertvollen, angemessenen und werbewirksamen, falschen Informationen unterscheiden zu können. Menschen mit niedrigem sozio-ökonomischem Status fehlen oftmals soziale Beziehungen im Gesundheitssystem, die weiterhelfen: Freunde, die mit gutem Rat zur Seite stehen, Bekannte, die über Leistungsansprüche und gute Ärzte Bescheid wissen, Tür-Öffner, die zeitnah zu einem gewünschten Termin verhelfen. Die Daten zeigen, Menschen, die von Armut betroffen sind, sind zurückhaltender in der Inanspruchnahme von Präventions- und Gesundheitsförderangeboten, gehen seltener zu Früherkennungs- und Vorsorgemaßnahmen.12 Menschen, die in prekären Lebenslagen zurechtkommen müssen, sind möglicherweise überfordert, komplexe Gesundheitsinformationen zu verarbeiten. Wenn Hunger, Überschuldung, Angst, Gewalt, Existenzsicherung den Alltag dominieren, verschieben sich auch die Prioritäten im Hinblick auf gesundheitszuträgliches Verhalten. Überwiegen zudem das Gefühl und die Erfahrung von Wertlosigkeit, hält man es wahrscheinlich auch nicht für wertvoll, in die eigene Gesundheit zu investieren. Menschen niedriger Statusgruppen zeigen häufig einen gesundheitsriskanteren Lebensstil13 als wohlhabende, besser gebildete und sozial abgesicherte Menschen. Personen mit niedrigem Schulabschluss und geringem Bildungsstatus rauchen deutlich häufiger, trinken mehr Alkohol, treiben weniger Sport und essen oftmals zu viel, zu süß und zu fettig. Fälschlicherweise wird der Schluss gezogen: Selbst schuld! Aber: Die Unterschiede im Gesundheitsverhalten erklären nur knapp zur Hälfte die Unterschiede in Gesundheit und Lebenserwartung.14 Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, stehen weniger Verhaltensspielräume zur Verfügung. Zudem empfinden arme Menschen, dass sie kaum über Verhaltensspielräume verfügen und größere Hürden überwinden müssen, um anders zu handeln: „Was bleibt 11

Vgl. Kickbusch, navigating health. Vgl. Lampert/Mielck, Gesundheit und soziale Ungleichheit. 13 Vgl. ebd. 14 Vgl. Lampert/Rosenbrock, Armut und Gesundheit. 12

156 K. Walther    anderes übrig, als zu rauchen?“ Und wieder, wer am Existenzminimum lebt, ist mit großer Wahrscheinlichkeit „abgelenkt“ vom Interesse, durch mehr Bewegung das Herzinfarktrisiko zu senken. Diskutieren lässt sich auch, ob das gesundheitsriskante Verhalten auch tatsächlich immer frei gewählt wird. Ohne das Recht und die Fähigkeit zur Selbstbestimmung abzusprechen spielen auch hier Bildung und milieuspezifische Faktoren eine Schlüsselrolle. Gesundheitsbezogene Einstellungen und Überzeugungen sind allerdings nicht allein das Ergebnis von Bildung, sondern beruhen auf sozialen und kulturellen Erfahrungen und Möglichkeiten. Gesundheitsverhalten wird erheblich durch das Milieu bestimmt.15 Wer in Armut lebt und die Gewohnheiten ändern möchte, muss es meist gegen den Mainstream seiner sozialen Umgebung tun. Der Entscheidung Müsli statt Pizza, Wasser statt Cola / Bier, Sporttreiben statt Fernsehen stehen nicht nur finanzielle Argumente entgegen, sondern auch Familienmitglieder, Bekannte, Nachbarn, die dem „neuen“ Verhalten abschätzend kritisch gegenüberstehen und es anders machen. Es bedarf eines hohes Maßes an Selbstwertgefühl („Ich bin es wert, in meine Gesundheit zu investieren.“) und eines starken Gefühls der Selbstwirksamkeit („Wenn ich mir etwas vornehme, erreiche ich meine Ziele.“), um sich gegen die eigenen, liebgewonnenen Gewohnheiten und den Einfluss der Anderen zu entscheiden. Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit sind aufgrund der biografischen Erfahrungen und ihrer Lebenslage gerade bei armen Menschen gering ausgeprägt. Viele der hier beschriebenen Faktoren stehen in einem unmittelbaren, systematischen Zusammenhang. Die Auswirkungen einzelner Faktoren sind eher sekundär und wohl auch ausgleichbar. Von zentraler Bedeutung ist die Gesamtheit der Faktoren. Menschen, die von Armut betroffen sind, sind nicht nur einem Risikofaktor ausgesetzt, sondern einem komplexen Geflecht sich gegenseitig bedingender Gesundheitsgefährdungen. Sind diese Erfahrungen nicht nur punktuell, sondern zeitlich chronifiziert (wie beispielsweise bei langzeitarbeitslosen oder wohnungslosen Frauen und Männern), sind die negativen Folgen für die Gesundheit umso gravierender.

15

Vgl. Lampert/Rosenbrock, Armut und Gesundheit.

Armut und Gesundheit

4

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Nicht fair: Arme Kinder – kranke Zukunft?

Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen sind die Auswirkungen von Armut auf deren gesundheitliche Entwicklungschancen deutlich sichtbar und meist mit langfristigen Folgen verbunden. Eigentlich sind Kinder die gesündeste Bevölkerungsgruppe in Deutschland.16 Werden Kinder aber in eine Armutslage hineingeboren, sind ihre Startchancen ins Leben von Anbeginn schlechter als in ökonomisch besser gestellten Familien. Die Wahrscheinlichkeit, auch im Erwachsenenalter gesundheitliche Einschränkungen zu haben, ist hoch. In eine Armutslage hineingeboren zu werden ist verbunden mit dem Risiko, in einen Armutskreislauf zu geraten. Dieser Kreislauf startet bereits im Mutterleib. Schwangere Frauen in prekären Lebensverhältnissen unter der Armutsgrenze sind vielfältigen Risiken für die eigene Gesundheit und die des ungeborenen Kindes ausgesetzt. Sie sind häufiger Opfer von Gewalt in der Schwangerschaft, haben weniger positive Alternativen zur Stressbewältigung und greifen daher häufiger zu Mitteln wie Rauchen und Alkohol. Hinzu kommt, dass sie nachweislich weniger Mutterschaftsvorsorgeuntersuchungen in Anspruch nehmen. Die Anzahl von zu früh geborenen Babys ist bei Müttern, die von Armut betroffen sind, höher als bei anderen. Oft haben Babys von Müttern mit niedrigem sozialem Status im Vergleich ein geringeres Geburtsgewicht, es besteht ein höheres Risiko für angeborene Fehlbildungen.17 Sind die Möglichkeiten zum Ausgleich dieser ungünstigen gesundheitlichen Startbedingungen gering, setzt sich der Negativkreislauf beim Schuleintritt fort. Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchungen zeigen, dass bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien häufig kognitive und psychosoziale Entwicklungsverzögerungen festzustellen sind und auch Gesundheitsstörungen im Sinne von Sehstörungen, Hörstörungen, Sprach- und Sprechstörungen vermehrt diagnostiziert werden. Diese gesundheitlichen Einschränkungen wiederum können sich hinderlich auf Lernerfolge auswirken und sind nicht selten zudem Ursache für soziale Ausgrenzung, Stigmatisierung oder körperliche Gewalt in der Schule. Kinder aus Familien mit niedrigem sozialem Status werden häufiger gemobbt und erleiden häufiger Verletzungen.18

16

Vgl. Scheer/Hurrelmann, Mehr Gesundheit für alle Kinder. Vgl. Lampert, Gesundheitliche Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. 18 Vgl. ebd. 17

158 K. Walther    Kindern aus Familien mit sozial niedrigem Status stehen weniger Ressourcen zur Bewältigung von anspruchsvollen Ereignissen zur Verfügung. Der Übergang in die Schule ist für alle Familien eine Herausforderung. Für Kinder, die in Armut leben, aber umso mehr. Ressourcen in Form von Schulmaterialen, Nachhilfestunden, Statussymbolen sind möglicherweise eingeschränkter. Von Interesse ist, wie sich dieses auf emotionale Ressourcen wie Anerkennung, Selbstwertgefühl, positive Verstärkung auswirkt und damit auch auf soziale Ressourcen wie Freunde, einflussreiche Kontakte oder hilfreiche Netzwerke. Diese größere Bewältigungsleistung hat ihren Preis: Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem sozialem Status fühlen sich weniger gesund, sind weniger mit ihrem Leben zufrieden, fühlen sich öfter schlecht gelaunt, nervös, schlafen schlechter und berichten häufiger von Kopf- oder Magenschmerzen.19 Misslingt die Bewältigung der Anforderungen, gehen die negativen gesundheitlichen Folgen einher mit negativen Bewertungen der schulischen Leistungen und damit schlechteren Chancen im Übergang in den Arbeitsmarkt. Der Armutskreislauf setzt sich fort. Es soll nochmals betont werden, dass keine Kausalbeziehung im Sinne von „arm = ungebildet = krank“ besteht. Es besteht eine komplexe, multifaktorielle Benachteiligung in der Entwicklung von gesundheitlichen Chancen und damit einhergehend Zukunftsperspektiven für diese Kinder. Die Gefahr, zu erkranken und damit gesellschaftliche Teilhabechancen noch weiter zu verringern, ist für Kinder, die in Armut oder sozial unsicheren Verhältnissen leben, höher als für Kinder aus sozial und finanziell besser und sicher aufgestellten Familien. 5

Schlechte Gesundheit als Exklusionsrisiko: Arme und Schwache zuerst

Gute Gesundheit gilt in der heutigen Gesellschaft als eine wesentliche Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. In einer Gesellschaft, in der Existenzsicherung für die Mehrheit durch eigene Leistung, in der Regel in Form von Erwerbstätigkeit, erfolgt, wird Leistungsfähigkeit zum Gradmesser für Teilhabechancen: Chronisch kranke oder behinderte Personen haben deutlich schlechtere Ausbildungs-, Erwerbsund Aufstiegschancen. Schlechte, eingeschränkte Gesundheit ist ein Risiko für Armut.

19

Vgl. Lampert, Gesundheitliche Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland.

Armut und Gesundheit

159 

Auch wenn Arbeitnehmerrechte geschützt sind, ist die Angst, nicht mithalten zu können, abgehängt zu werden oder den Eindruck zu vermitteln, nicht belastungsfähig zu sein, (nicht nur) in der Arbeitswelt hoch. Ausdruck findet diese Angst in den hohen Zahlen im Hinblick auf Präsentismus, also in dem Phänomen, dass Menschen trotz Krankheit dem Arbeitsplatz nicht fernbleiben.20 Die Angst vor betrieblichem Statusverlust oder gar Arbeitsplatzverlust lässt mehr und mehr Arbeitnehmer_innen krank zur Arbeit kommen. Sie nehmen sich nicht ausreichend Zeit für Genesung bei Krankheit; Krankheit wird bagatellisiert. Das begünstigt den Einstieg in einen chronischen gesundheitlichen Abstiegskreislauf. Die nicht auskurierten gesundheitlichen Beschwerden führen trotz physischer Anwesenheit zu Leistungsabwesenheit und erhöhen Druck. Dieser manifestiert sich nicht selten in chronifizierten Beschwerden körperlicher und vermehrt psychischer Art. „Arme und Schwache zuerst“ gilt nicht in dem Sinne, dass gesundheitlich vulnerable Personen „Priority-Boarding“ in ein Rettungsboot erhalten. Im Gegenteil: Arme und Schwache sind die ersten, denen bei Krankheit das Risiko des Prekariats droht. Für diejenigen, die Existenzsicherung durch Erwerbstätigkeit herstellen, können (chronische oder schwere) Krankheiten mit Arbeitsplatzverlust verbunden sein. Wer nicht für Berufsunfähigkeit durch private Versicherungsleistungen vorsorgen kann, Rehabilitations- und Unfallversicherungsleistungen aufgrund guter Absicherung einklagen kann, durch private Zusatzversicherungen kostengünstigere Genesungsunterstützung einkaufen kann, erhöht das Risiko des sozialen Abstiegs aufgrund von eingeschränkter Gesundheit. Eingeschränkte Gesundheit wird mehr und mehr zum Armutsrisiko. Krankheit in Armutslagen verstärkt die ohnehin prekäre Situation. Sozial schlechter gestellte Menschen sind häufig wenig vernetzt, leben in Isolation. Schränkt die Krankheit in der Verrichtung der alltäglich notwendigen Alltagsaufgaben ein, kann das den Krankheitsverlauf negativ beeinflussen. Ist beispielsweise die Selbstsorge gefährdet, bedeutet dies, sich nicht allein waschen zu können, sich nicht allein mit Essen versorgen zu können, sich nicht allein Medikamente oder ärztliche Hilfe holen zu können. Es fehlen die sozialen und finanziellen Mittel, um den eigenen Ausfall ausgleichen und Versorgung organisieren zu können. Besonders prekär ist die Situation, wenn es zudem um die Mitversorgung für Kinder geht, beispielsweise bei allein erziehenden Sozialhilfeempfänger_innen. Krankheit in Armut geht ein20

Vgl. Badura, Fehlzeitenreport 2017.

160 K. Walther    her mit eingeschränkten Möglichkeiten zur Krankheitsbewältigung, was unter Umständen lebensbedrohlich ist. 6

Fazit: Gesundheit in gerechteren Gesellschaften

Gesellschaften mit hoher sozialer Ungleichheit in den Lebensbedingungen sind nicht nur schlecht für die 10 % der Bevölkerung, die am unteren Rand der Gesellschaft leben. Gesellschaften mit hoher sozialer Ungleichheit sind ungastlich, weniger human, weniger solidarisch für nahezu alle Gesellschaftsmitglieder. Soziale Ungleichheit ist relevant für die gesellschaftlichen Möglichkeiten, Wohlbefinden für ihre Mitglieder sicherzustellen und wachsen zu lassen.21 Folgen sozialer Ungleichheit sind den Gesichtern vieler Menschen abzulesen: Sie sehen gestresst, gehetzt, ängstlich, depressiv aus. Die Angst vor dem sozialen Abstieg und der Druck, mithalten zu müssen, äußern sich in breiten Bevölkerungsschichten in Stress, psychischem Unwohlsein und manifestieren sich in Krankheiten. Gesundheitliche Ungleichheit ist nicht ausschließlich ein Thema im Hinblick auf gesellschaftliche Randpositionen. Die Verringerung von sozialen Ungleichheiten hat positive Konsequenzen für die Gesundheit der Gesamtbevölkerung. „Die beste Prävention ist die Lust auf die eigene Zukunft.“22 Positive Zukunftsorientierungen können als Basisressourcen für Gesundheit gesehen werden: Wer sich auf die eigene Zukunft freuen kann, sie zu gestalten weiß, nimmt sich selbst für wichtiger und hält auch Gesundheit für bedeutsam. Das Argument ist nicht, dass alle die gleiche Gesundheit haben oder gleich gesund sind. Gesundheit ist immer einzigartig, von pluralen Erfahrungen und Vorstellungen geleitet. Das hält aber nicht davon ab zu fragen, wie es um die Gesundheitschancen steht, die Möglichkeiten, eigene Vorstellungen von gesundem Leben zu verwirklichen. Nicht alle Menschen sollen gleich gesund sein und gleich lange leben – das ist weder erreichbar noch erstrebenswert. Das Ziel ist eine gerechtere Verteilung von Gesundheitschancen: Jeder soll eine faire Chance erhalten, sein Gesundheitspotenzial voll auszuschöpfen. Es ist eine Frage von Gesundheitsgerechtigkeit. Soziale Ungleichheiten sind Teil von Gesellschaften und zu einem gewissen Maße sicher unvermeidbar. Anders ist es mit den Folgen der Ungleichheit – sie sind vermeid21 22

Vgl. Wilkinson/Pickett, Gleichheit ist Glück. Vgl. Rosenbrock, Gesundheit solidarisch gestalten, 3.

Armut und Gesundheit

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bar. Armut bleibt der größte Risikofaktor für Gesundheit. Die Zahl derer, denen Teilhabechancen genommen werden, ist bisher nicht gesunken. Mit sinkenden Teilhabechancen schwinden auch Lebensjahre und Zeit in guter Gesundheit. Krankheit ist niemals fair, hat aber auch viel mit fehlender Gerechtigkeit zu tun. Literatur Antonovsky, Aaron, Salutogenese, Tübingen 1997. Badura, Bernhard u.a. (Hg.), Krise und Gesundheit. Fehlzeitenreport 2017, Berlin 2017. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Lebenslagen in Deutschland. Der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bonn 2017. Kickbusch, Ilona u.a., Navigating health: the role of health literacy, London 2006. Lampert, Thomas, Gesundheitliche Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland, hg. v. Robert Koch-Institut, Berlin 2010. Lampert, Thomas / Mielck, Andreas, Gesundheit und soziale Ungleichheit, GGW 8 (2008), Heft 2, 7−16. Lampert, Thomas / Rosenbrock, Rolf, Armutsbericht 2017. Armut und Gesundheit, hg. v. Paritätischer Gesamtverband, online: http://www.der-paritaetische.de/schwerpunkte/armutsbericht/em pirische-erebnisse/armut-und-gesundheit.de(Zugriff: 13.11.2017). Robert Koch-Institut (Hg.), Gesundheit in Deutschland. Gesundheitsberichterstattung des Bundes gemeinsam getragen von RKI und Destatis, Berlin 2015. Rosenbrock, Rolf, Gesundheit solidarisch gestalten, in: Gesundheit Berlin-Brandenburg e.V. (Hg.), Dokumentation Kongress Armut und Gesundheit, Berlin 2007, online: http://www.armut-undgesundheit.de/fileadmin/user_upload/MAIN-dateien/Kongress _A_G/A_G_17/Doku_2017/Im_Gespraech_Wilkinson_Rosen brock_Etgeton.pdf (Zugriff: 13.11.2017). Scheer, Katja / Hurrelmann, Klaus, Mehr Gesundheit für alle Kinder, in: Bettina Schmidt (Hg.), Akzeptierende Gesundheitsförderung, Weinheim und Basel 2014, 156−170. Wilkinson, Richard G. / Pickett, Kate, Gleichheit ist Glück. Warum gerechtere Gesellschaften für alle besser sind, Berlin 2009. Wilkinson, Richard G., Inequality and Social Dysfunction, Opening Speech at the Congress Poverty and Health 2017, online: http:// www.armut-und-gesundheit.de/fileadmin/user_upload/MAIN-

162 K. Walther    dateien/Kongress_A_G/A_G_17/Doku_2017/Eroeffnung_R.Wilki nson_final.pdf (Zugriff: 13.11.2017). World Health Organisation (WHO), Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung, Kopenhagen 1986.

  Sigrid Beer

Soziale Ungleichheit, Armut und Bildung

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Das Matthäus-Prinzip durchbrechen

Das Deutsche Kinderhilfswerk (DKHW) legt mit dem Kinderreport 2018 einmal mehr den Finger in die Wunde. Jedes fünfte Kind in Deutschland, so der Bericht, ist von Armut betroffen. Thomas Krüger, Präsident des DKHW, räumt auf mit der Erzählung, dass es „Deutschland“ so gut wie nie gehe. Richtig ist: Einkommen und Vermögen sind so ungleich verteilt wie schon lange nicht mehr. Die Gruppe der Menschen, denen es nicht gut geht, ist vielfältig. „Da sind die Geringverdienenden, die Arbeitslosen, die von Altersarmut betroffenen Rentnerinnen und Rentner, die Alleinerziehenden, die körperlich oder psychisch Beeinträchtigten, das sind die Kinder in von Armut betroffenen Haushalten oder Kinder, die auf der Straße leben. All sie sind mit gleichem Recht Teil Deutschlands. Die Narration davon, dass es Deutschland gut geht, schließt sie aus.“1

Das Aufstiegsversprechen hält nicht. Der Reichtum bei wenigen ist weltweit geradezu obszön vermehrt. Eigentum verpflichtet!? Ein Grundsatz, der in unserer Gesellschaft verbindend wirken soll, scheint außer Kraft gesetzt, wenn sich die Vermögenden zum Beispiel der Steuer- und Finanzgerechtigkeit entziehen können. Ein schamloses, unanständiges Finanzgebaren, Maßlosigkeit bei der Gewährung und Verteilung von Boni verhöhnen das Gemeinwohl. Die Erwartung und Zukunftshoffnung, dass es der nächsten Generation „besser gehen“ wird, ist erschüttert. Globalisierung und digitaler Kapitalismus lösen Verunsicherung und soziale Ängste aus. Es stimmt nicht, dass „jeder seines Glückes Schmied“ sein kann. Dem Versprechen, dass man in unserer Gesellschaft mit Fleiß und Begabung, also Leistung, den sozialen Aufstieg schaffen kann, wird längst nicht mehr vertraut. Das Fehlen von Chancen kann nicht bei 1

Deutsches Kinderhilfswerk, Kinderreport 2018, 42.

164 S. Beer    den Betroffenen abgeladen werden. Armut trotz, ja wegen der Arbeit ist ein reales Phänomen. Die Verunsicherung der Bürgerinnen und Bürger auch in der Mittelschicht spiegelt dies wider. Viele Menschen fühlen sich entwertet. Der Aufschwung zieht an ihnen – zumindest gefühlt – vorbei. Denjenigen, denen es sowieso besser als vielen anderen geht, fällt jedoch noch mehr zu. „Wer hat, dem wird gegeben.“ Dieser sogenannte Matthäus-Effekt besteht gerade auch in der Bildung. Erfolg stellt sich vor allem da ein, wo die Lebenslagen den Kindern schon gute Voraussetzungen mit in die Wiege legen: soziale und kulturelle Anerkennung, ökonomische Absicherung, ein hoher Bildungsgrad der Eltern, die Affinität zum Erfolg! Die Ungleichheit hat Folgen; das ist nicht wegzureden. Soziale Herkunft entscheidet über Zukunft. Es gelingt in Deutschland nicht, diesen fatalen Zusammenhang entscheidend aufzulösen. Bildungsbarrieren und soziale Ausgrenzung behindern nicht nur individuellen Lebenserfolg, sie sind eine schwere Hypothek für das demokratische Gemeinwesen, das einen Vertrauensverlust erfährt. Eine gemeinsame Idee hält die Gesellschaft zusammen, nämlich dass Fairness und Gerechtigkeit herrschen. Wenn Menschen das Gefühl haben, dass sich diese Grundlage auflöst, dass sie in dieser Gesellschaft nicht gebraucht werden, dass sie ihr egal und nichts wert sind, dann zersetzt das schleichend die gesellschaftlichen Klammern. Es ist der Offenbarungseid einer Gesellschaft, wenn eine Schule für ihre Schüler_innen eingestehen muss, dass sie ihre Jugendlichen auf Hartz IV vorbereitet.2 Bildung ist ein Schlüsselfaktor, der Lebenschancen entscheidend beeinflussen kann und Armut überwinden hilft. Gleichzeitig ist Armut ein Schlüsselfaktor, der Bildungschancen entscheidend mindern kann. Die demokratisch verfasste Gesellschaft muss die Frage an sich selbst stellen, wie sie die umfängliche Teilhabe von Menschen in der Gesellschaft sicherstellen kann. Barrieren, die diesem Ziel entgegenstehen, müssen identifiziert und konsequent abgebaut, fördernde Strukturen aufgebaut werden. Das Recht eines jeden Menschen, – seine Talente entfalten und entwickeln zu können, ohne Ausgrenzung und Beschämung ertragen zu müssen, – gesund aufzuwachsen und

2

Vgl. Grund, Wo Kinder für ein Leben mit wenig Geld lernen.

Soziale Ungleichheit, Armut und Bildung

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– eine lebenswerte Zukunft für sich und andere, für unsere demokratische Gesellschaft, für die Um- und Mitwelt verantwortlich mitgestalten zu können, begründet sich im Grundrechtekatalog des Grundgesetzes: die Unantastbarkeit der Menschenwürde, die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte, das Recht auf freie Entfaltung im Rahmen der Verfassung, der Gleichheitsgrundsatz sowie das Diskriminierungsverbot. 2

Fokus Schule

Es lohnt sich, einen Blick auf die Schule zu werfen, weil hier alle Kinder von der Besuchspflicht über Jahre erfasst werden. „Die Schule der Nation ist die Schule.“ Diesen Grundsatz formulierte Willy Brandt in seiner Regierungserklärung 1969. An jüngsten Studienergebnissen lässt sich noch einmal zeigen, welche Maßnahmen systematisch und zielorientiert in den Bildungseinrichtungen angegangen werden müssten, um dem gesellschaftspolitischen und demokratischen Anspruch der Realisierung der Grundrechte umfänglich gerecht zu werden. Es besteht längst kein Erkenntnisproblem mehr, sondern ein deutliches Umsetzungsproblem. So veröffentlichte die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) in Zusammenarbeit mit der Vodafone Stiftung Deutschland zu Beginn des Jahres 2018 eine Sonderauswertung der PISA-Daten 2015 zum „Erfolgsfaktor Resilienz“.3 Dabei gelten Schüler_innen als resilient – als widerstandsfähig und belastbar –, wenn ihre Familien zu den Personenkreisen zählen, die vom Bildungssystem bislang nicht ausreichend erreicht werden und es ihnen trotzdem gelingt, gute schulische Leistungen zu erbringen. „Auch wenn Deutschland sich beim Anteil resilienter Schüler_innen deutlich verbessert hat und international mittlerweile gut abschneidet, liegt das Land in puncto Chancengleichheit trotz einer positiven Entwicklung in den vergangenen Jahren noch immer unter dem OECD-Durchschnitt. So sind die Leistungsunterschiede zwischen sozial bessergestellten und sozial benachteiligten Schüler_innen nach wie vor groß. Auch der statistische Zusammenhang zwischen Leistung und sozialer Herkunft ist noch immer sehr ausgeprägt.“4

Als vorrangige Faktoren, die in diesem Zusammenhang wirken, identifiziert die Studie, ohne die notwendige gute Ausstattung von Schule zu negieren, eine gute soziale Mischung, ein „geordnetes und lern3 4

Vgl. Vodafone Stiftung Deutschland (VDS), Erfolgsfaktor Resilienz. VDS, 5.

166 S. Beer    orientiertes“ Schulklima, einen motivierenden Führungsstil der Schulleitung, „der es gelingt, das Lehrerkollegium von einer gemeinsamen Mission zu überzeugen und auf strategische Ziele und Ergebnisse auszurichten.“5 Die soziale Mischung wirkt sich nicht nur positiv auf die Lernerfolge benachteiligter Schüler_innen aus, das gemeinsame Lernen macht sich zudem nicht negativ für die besser gestellten bemerkbar, betont der PISA-Direktor für Bildung, Andreas Schleicher. Dass er zudem davon überzeugt ist, dass in Deutschland zu früh nach Schulformen sortiert wird, daraus macht er keinen Hehl und wird dafür mit dem Ideologieverdacht belegt. Wenn es um die Privilegierung von Schulformen geht, die sich ihre Schüler_innen gerne aussuchen wollen, und die Interessen sozialer Milieus, die auf soziale Segregation setzen, dann wird eine Orientierung an international erfolgreichen Bildungsstrukturen abgewehrt. Denn ein hoher Leistungsstand und mehr Chancengerechtigkeit, das geht sehr wohl zusammen, gerade dort, wo das längere gemeinsame Lernen und eine wertschätzende, konsequente Pädagogik der Vielfalt Leitideen sind. Das zeigen die PISA-Daten schon länger. Die Autor_innen der Studie führen aus, dass Ganztagsangebote, die mehr Zeit für Aktivitäten über den Unterricht hinaus bieten, Chancen im Sinne einer solchen Pädagogik der Vielfalt für individuelles Engagement und mehr sinnstiftendes Lernen eröffnen. Sie wirken sich positiv auf den Schulerfolg aus. Das Ziel sind Selbstwirksamkeitserfahrungen und Gestaltungskompetenzen, das Verstehen, warum und was gelernt wird. Respekt und Wertschätzung gegenüber Schüler_innen, aber auch im Kollegium gepaart mit einem konsistenten Classroom-Management im Schulteam schaffen die Voraussetzungen für verlässliche Beziehungen, individuelle Förderung und ein positives Schulklima. Die zentrale Rolle der Schulleitung für eine solche Schulentwicklung verlangt dringend nach einer Aufwertung zu einem eigenen Berufsstand, der mehr ist und sein muss als „prima / primus inter pares“. Er oder sie benötigt für die Aufgabe, das Kollegium bei der Umsetzung der bildungspolitisch notwendigen Prozesse zu leiten, selbst personelle Unterstützung und Entlastung von Organisations- und Verwaltungsaufgaben, um sich der Personal- und Unterrichtsentwicklung und der Einbindung von Eltern und der Öffnung von Schule wirklich widmen zu können. 5

VDS, 2.

Soziale Ungleichheit, Armut und Bildung

3

167 

Positiv diskriminieren

Dass mehr Investitionen in Bildung notwendig sind, wird nicht mehr bestritten. Es dämmert zunehmend, dass der bildungspolitische Sündenfall des Kooperationsverbots in Bildungsfragen zwischen Bund und Ländern geheilt und in ein Kooperationsgebot überführt werden muss. Bildungspolitik ist auch immer Sozialpolitik. Der Ganztagsausbau, die Sicherstellung von Schulsozialarbeit und die personelle Unterstützung der Inklusion liegen in der Verantwortung aller staatlichen Ebenen – von Bund, Land und Kommunen – so wie der quantitative Ausbau und die qualitative Entwicklung der frühkindlichen Bildung. Neben der grundsätzlichen Frage der Erhöhung der Investitionen in Bildung, muss aber auch der gezielte Einsatz und die Verteilung der Ressourcen thematisiert werden, um sozialer Ungleichheit sowie sozialräumlicher Segregation entgegenzuwirken, um Kindertagesstätten und Schulen in schwierigen Ausgangslagen besonders zu unterstützen. Gerd Möller und Gabriele Bellenberg haben dazu im Auftrag der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Nordrhein-Westfalen (GEW NRW) zum Schulbereich eine Studie vorgelegt.6 Sie identifizieren neben den individuellen Merkmalen wie Leistungspotenzial und soziale Herkunft auch das soziale Umfeld und die soziale und leistungsmäßige Komposition der Lerngruppen als entscheidende Faktoren für den Bildungserfolg. Sie problematisieren die Segregationseffekte des gegliederten Schulsystems und beschreiben die sich ergebenden Mehrfachbenachteiligungen für Teile der Schülerschaft. Auf der Grundlage ihrer Analysen verlangen sie eine politische Prioritätensetzung und legen dar, welche Verfahren für NRW genutzt werden bzw. entwickelt werden müssen, um „die sozialen Belastungen von Einzelschulen in Form eines schulscharfen Sozialindexes zu bestimmen. Hiermit kann eine bedarfsgerechte Planungs- und Ressourcensteuerung auf Einzelschulebene gelingen und für mehr Chancengleichheit sorgen.“7 „Ungleiches ungleich behandeln“, so lautet die Forderung an die Bildungspolitik. In der Umsetzung bedeutet dies die ungleiche, bessere Ressourcenausstattung, die positive Diskriminierung der Schulen in den indizierten Ausgangslagen. Das verlangt von der Politik bis hin zu den Kommunalparlamenten, die sich aus 6 7

Vgl. Möller/Bellenberg, Ungleiches ungleich behandeln. Möller/Bellenberg, Ungleiches ungleich behandeln, 74.

168 S. Beer    einer solchen Steuerung gegebenenfalls ergebenden Verteilungskonflikte durchzustehen. Solche politischen Entscheidungsnotwendigkeiten werden zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen im Ruhrgebiet deutlich. Arm und Reich, Nord und Süd – in kaum einer Region wird das Armuts- und Bildungsgefälle so deutlich sichtbar wie in diesem Ballungszentrum: im Norden vielfach größere Klassen als im Süden der Revierstädte, mit einer höheren Migrantenquote, einer hohen Fluktuation im Quartier, sozial schwierigen Lebenslagen. Die A40 zieht sich wie ein Bildungsgraben durch den Sozialatlas des Ruhrgebiets. Die notwendigen Ressourcenentscheidungen sind vielfältig: Kleinere Lerngruppen benötigen mehr Schulräume. Die Ganztagsschule muss als Lebensraum gestaltet werden. Die Zusammenführung von Jugend-, Sozialhilfe, Integrations- und Arbeitsförderung, familienunterstützenden Strukturen, die Förderung von Sport und Kultur, eine Aufwertung und Attraktivierung des Quartiers sind angezeigt, wobei Gentrifizierungseffekten entgegenzuwirken ist. Familiengerechter Wohnraum muss auf der Grundlage öffentlicher Investitionen und gesetzlicher Regelungen wieder bezahlbar werden und bleiben. Quintessenz: Der Norden des Ruhrgebiets benötigt massive Investitionen in öffentliche Strukturen und Lebensqualität. 4

Bildung alleine reicht nicht

Die Aufzählung macht eines deutlich. Bildung ist ein Schlüsselfaktor, um Armut zu überwinden. Kindertagesstätten, Schulen, auch die Hochschulen und die Weiterbildung müssen ihren Teil leisten, sie sind aber überfordert, wenn sie diese Aufgabe isoliert stemmen müssen. Hinter dem Schulhorizont muss es weitergehen. Um eine Zukunftshoffnung zu entwickeln, braucht es auch die Aussicht, dass sich die Bildungsanstrengung weiter lohnt, die Aussicht z.B., eine unbefristete Arbeit in absehbarer Zeit zu erreichen, sich Wohnung und Familie leisten zu können, selbst Wurzeln schlagen zu können, um bei sich wandelnden Anforderungen die notwendige Flexibilität aushalten und bewältigen zu können. In einer Gesellschaft, die auf lebensbegleitende Bildung setzt und sie auch einfordert, sind grundlegende positive Erfahrungen sowie Haltungen und Einstellungen zu Bildung von existentieller Bedeutung. Es ist wichtig, dass der Bildungsort Schule dabei nicht nur aus der Verwertungsperspektive und als Berechtigungswesen erlebt werden kann, sondern als fehlerfreundlicher Erfahrungs- und Erprobungsort, als kreativer Erlebnis- und sicherer Lebensraum, der von Wertschät-

Soziale Ungleichheit, Armut und Bildung

169 

zung und gegenseitigem Respekt geprägt ist. Für eine gelingende Lebens- und Erwerbsbiografie wird die Bereitschaft, sich immer wieder auf Fort- und Weiterbildung einzulassen, die grundsätzliche Freude, ja Lust am Lernen immer mehr an Bedeutung gewinnen. Selbstwirksamkeitserfahrungen, Reflexionsfähigkeit, Gestaltungs- und Pluralitätskompetenzen, Empathie und Kommunikationsfähigkeiten müssen entwickelt und gestärkt werden. Das ist soziales und kulturelles Kapital, das für die Teilhabe in der Gesellschaft und den Erfolg von enormer Bedeutung ist. Dabei muss bewusst sein, dass die soziale Herkunft und das kulturelle Kapital bis in die Hochschule und bis hinein in eine akademische oder berufliche Karriere Einfluss auf den Habitus (eine herkunftsbedingte Angepasstheit der Dispositionen, Verhaltensmuster und Einstellungen einer Person an das jeweilige soziale Umfeld) haben kann. Seit geraumer Zeit werden deshalb auch Diversitätsstrategien im Hochschulbereich diskutiert und entwickelt sowie entsprechende Audits durchgeführt.8 5

Notwendige Entwicklungsprozesse und Widerstände

Woran scheitert nun die Umsetzung, wenn die Erkenntnisse eigentlich auf dem Tisch liegen? Die lang anhaltende Finanzschwäche der Kommunen hat in klammen Städten und Gemeinden zu einem Investitionsstau bei der Bildungsinfrastruktur geführt. Das bestehende Kooperationsverbot hat eine Unterstützung der Länder und Kommunen z.B. in der Ganztagsentwicklung oder Inklusion nicht zugelassen. Trotz aller Fensterreden vom „Rohstoff Bildung“ muss um zusätzliche Investitionen auf allen staatlichen Ebenen immer wieder gerungen werden. Ein Landesprogramm wie „Gute Schule 2020“ in Nordrhein-Westfalen, im Umfang von 2 Milliarden Euro für kommunale Investitionen in die Schulen von Sanierung über Neubau bis zur digitalen Ausstattung, braucht ein Anschlussprogramm. Das ist schon jetzt absehbar. Das Kooperationsverbot muss fallen, damit auch bürokratische Umgehungsprogramme wie das Bildungs- und Teilhabepaket von direkter Förderung der Schulsozialarbeit durch den Bund abgelöst werden können. Das gilt auch für die Teilhabe an Sport und Kultur.

8

Vgl. Stifterverband, Diversity Audit.

170 S. Beer    Ein qualitativ hochwertiges kostenfreies Schulessen und Lernmittelfreiheit, die Finanzierung von Klassenfahrten machen mehr Sinn als die nächste Kindergelderhöhung. Gerade für arme Familien sind solche Erhöhungen ein Nullsummenspiel, da sie auf andere staatliche Leistungen angerechnet werden. Der Zuständigkeitswirrwarr muss aufgelöst, die Ressourcen von Schule, Jugend- und Sozialhilfe müssen zusammengeführt und im multiprofessionellen Schulteam systematisch genutzt werden. Im Anschluss an frühe Hilfen ist eine Beratung und Familienunterstützung an Kindertagesstätten und Schulen durchgehend anzudocken. Unterstützung und Beratung müssen emanzipatorisch angelegt werden und sollen zur selbstständigen und gleichberechtigten Teilhabe befähigen. Sie respektieren und fördern die Potenziale der Menschen. Für die Umsetzung der Teilhabestrategie, für die Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems im umfassenden Sinne ist eine Ausbildungsoffensive für pädagogische Berufe dringend erforderlich. Mehr Erzieher_innen werden nicht nur für die Kindertagesstätten benötigt, die Offene Ganztagsgrundschule und auch weiterführende Schulen haben zusätzliche Bedarfe. Inklusionsassistenzen brauchen ein eigenes Berufsbild und eine entsprechende Ausbildung. Auch mehr Sozialpädagog_innen, Sozialarbeiter_innen und Schulpsycholog_innen wie auch Lehrkräfte sind gefragt. Für diese Berufsfelder sollten auch besonders Menschen mit Migrationshintergrund gewonnen werden. Sie können als Vorbilder Kinder und Jugendliche ermutigen und als Kulturdolmetscher_innen auch in der Elternarbeit wirken. Die Elternarbeit muss niedrigschwellig angelegt sein, um bestehende Barrieren abzubauen. Insgesamt müssen die pädagogischen Berufe finanziell attraktiver werden. Das Rückkehren in den Beruf oder der Quereinstieg sollten gefördert werden, denn der Fachkräftebedarf ist enorm. Die Investitionsnotwendigkeit wird sich weiter auf hohem Niveau bewegen. Das Thema der Steuer- und Finanzgerechtigkeit muss aufgerufen werden. Der Staat muss denen, die in der Bildung arbeiten, signalisieren, dass sie mit der Aufgabe nicht allein gelassen werden.

Soziale Ungleichheit, Armut und Bildung

6

171 

Innere Schulentwicklung

Wenn der fatale Zusammenhang von Bildungserfolg und sozialer Herkunft nicht überwunden wird, schaden wir dem demokratischen Gemeinwesen und handeln ökonomisch dumm. Deshalb muss das strategische Ziel, die Benachteiligungen abzubauen, in den Bildungseinrichtungen konsequent verfolgt und umgesetzt werden. Die Schulleitungen nehmen eine Schlüsselrolle bei dieser Aufgabe ein und brauchen Unterstützung. Ihnen obliegt vor allem die Personal- und Organisationsentwicklung, die Entwicklung der didaktischen Settings mit den Kollegien. Ein inklusives Verständnis der Bildungsarbeit und eine Pädagogik der Vielfalt müssen die Leitideen aller im Bildungsprozess Beteiligten sein. Das professionelle Selbstverständnis und Handeln der Lehrkräfte muss in diesem Sinne reflektiert und weiterentwickelt werden. Es darf nicht sein, dass Kevin, Ayshe und Mohammed in der Leistungsbewertung schlechtere Chancen haben oder mehr erbringen müssen, um gleiche Zensuren zu erhalten, als Helene, Theo und Maria. Eine Pädagogik der Vielfalt nimmt endgültig Abschied von der Fiktion der Homogenität von Schüler_innen, sowohl in einer Lerngruppe wie auch in den Schulformen. Dass Lehrkräfte die Unterstützung bekommen, die notwendig ist, um heterogene Lerngruppen zu unterrichten und individuell zu fördern, muss gegeben sein. Dazu gehören auch Team- und Fortbildungszeiten. Das strategische Ziel eines inklusiven Bildungssystems muss aber klar sein und konsequent verfolgt werden. Chancengleichheit meint eben nicht Gleichmacherei. Chancengleichheit verstellt nicht den Blick auf unterschiedliche Talente, sondern beinhaltet das Recht auf Anerkennung und Förderung. Für mehr Chancengleichheit zu sorgen bedeutet, eine nachhaltige Veränderung von Strukturen und Bedingungen, die Ursachen von Benachteiligung und Diskriminierung darstellen. Ermutigung zur Leistung gehört zu den Aufgaben, wenn es darum geht, Chancen zu entwickeln. Die Stärkung der Selbstwirksamkeitsüberzeugung braucht vor allem den Blick auf die individuelle Leistungsentwicklung und nicht die Konkurrenzzensur im Vergleich der Mitschüler_innen. Wie viel mehr leistet z.B. ein Kind, das in kurzer Zeit deutsche Sprachkompetenz erwirbt, aber nach der traditionellen Zensurenvergabe über ein mangelhaft oder ausreichend nicht hinauskommen kann. Der Standard, der für eine bestimmte Qualifikation

172 S. Beer    erreicht werden muss, muss klar sein. Auf dem Weg dahin sollten jedoch die individuellen Lernfortschritte bewertet werden. Eine Stärkung der Bildungseinrichtungen braucht auch eine Stärkung der Elternarbeit, niedrigschwellig von der Kindertagesstätte an, um die Distanz, die aus unterschiedlichen Gründen besteht, zu verringern und eine vertrauensvolle Basis für die Bildungs- und Erziehungsarbeit aufzubauen. Es muss aber insgesamt der Diskurs geführt werden um das Miteinander in einer gemeinsamen Bildungsverantwortung von Elternhaus und Schule. Dazu gehört auch, dass häufig eine Haltung von „Dienstleistungserwartung“ gegenüber der Schule zu verzeichnen ist. Das betrifft nicht nur Fragen in Bezug auf den Ganztag und wie verbindlich Kinder an der Offenen Ganztagsschule teilnehmen sollten, sondern auch eine Grundhaltung von Vertrauen, Respekt und Achtung gegenüber der Schule und den Menschen, die dort arbeiten. Gerechtigkeit und Chancengleichheit fallen nicht vom Himmel, beide müssen organisiert werden. Gemeinwohlorientierung muss wieder zu einem zentralen gesellschaftlichen Wert werden. Individualisierung darf nicht dazu führen, dass die rücksichtslose Durchsetzung von Egoismen und ein neuer Egozentrismus befördert werden. Bildung als Grundlage für umfängliche Teilhabe ist ein Versprechen der demokratischen Gesellschaft, das eingelöst werden muss. Bildungsbarrieren und Armutslagen müssen konsequent abgebaut werden. Bildungspolitischen Weichenstellungen, die für mehr Segregation sorgen, muss entschieden entgegengewirkt werden. Eine ungerechte Gesellschaft wird niemals eine nachhaltige sein können. Literatur Deutsches Kinderhilfswerk, Kinderreport 2018. Rechte von Kindern in Deutschland, Berlin 2017, online: https://images.dkhw.de/file admin/Redaktion/1_Unsere_Arbeit/1_Schwerpunkte/2_Kinderrec hte/2.2_Kinderreport_aktuell_und_aeltere/Kinderreport_2018/Kin derreport_2018.pdf?_ga=2.75007957.632816213.15176416101323626350.1517641610 (Zugriff: 01.02.2018). Grund, Marlene, Wo Kinder für ein Leben mit wenig Geld lernen, in: Welt, 11.02.2010, online: https://www.welt.de/politik/deutschland /article6347164/Wo-Kinder-fuer-ein-Leben-mit-wenig-Geldlernen.html (Zugriff: 22.03.2018).

Soziale Ungleichheit, Armut und Bildung

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Möller, Gerd / Bellenberg, Gabriele, Ungleiches ungleich behandeln. Standortfaktoren berücksichtigen – Bildungsgerechtigkeit erhöhen – Bildungsarmut bekämpfen, hg. Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Essen 2017, online: https://www.gew-nrw.de/file admin/user_upload/Kampagne_Bildung-weiter-denken/GEWNRW-Moeller-Bellenberg-Studie-Sozialindex-gesamt-Ungleiches -ungleich-behandeln.pdf (Zugriff: 22.03.2018). Oxfam Deutschland e.V., Der Preis der Profite. Zeit, die Ungleichheitskrise zu beenden, Berlin 2018, online: https://www.oxfam.de/ system/files/factsheet_deutsch_-_der_preis_der_profite_-_zeit_ die_ungleichheitskrise_zu_beenden.pdf (Zugriff: 22.01.2018). Stifterverband, Diversity Audit. Vielfalt gestalten, 2017, online: https: //www.stifterverband.org/diversity-audit (Zugriff: 22.03.2018). Vodafone Stiftung Deutschland, Erfolgsfaktor Resilienz, Berlin 2018, online: http://www.oecd.org/berlin/publikationen/VSD_OECD_ Erfolgsfaktor%20Resilienz.pdf (Zugriff: 22.03.2018).

  Harald Ansen

Armut und Wohnungslosigkeit

Armut und Wohnungslosigkeit treten facettenreich in Erscheinung. Die Erörterung der Zusammenhänge erfolgt aus einer sozialarbeiterischen Perspektive, für die problemanalytische und handlungsbezogene Aspekte gleichermaßen bedeutsam sind. Besonders belastend für Menschen in armutsgeprägten Lebensumständen ist der drohende oder manifeste Verlust der Wohnung. Längst nicht immer gelingt es, trotz sozial- und zivilrechtlicher Regelungen sowie sozialarbeiterischer Unterstützungsangebote der Eskalation eines Armutsprozesses vorzubeugen, an dessen Ende im Extremfall Wohnungslosigkeit steht. Treten zum Leben ohne eine mietvertraglich gesicherte Wohnung Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen und alltäglichen sozialen Anforderungen hinzu, kommen Angebote der sozialhilferechtlich fundierten Wohnungslosenhilfe in Frage. In der aktuellen Fachdiskussion wird teilweise kritisiert, dass von Wohnungslosigkeit betroffene Personen zu lange im Hilfesystem verharren, während es viel günstiger wäre, ihnen zunächst eine Wohnung zur Verfügung zu stellen und, soweit im Einzelfall erforderlich, die weitergehende Unterstützung ambulant zu organisieren. 1

Armut und soziale Ausgrenzung

Armut verweist mit Blick auf Wohnungslosigkeit auf existenzielle Risiken für die Betroffenen. Wohnungslosigkeit überschreitet relative Armut, die in Bezug auf durchschnittliche gesellschaftliche Lebensstandards gemessen wird. Sie bewegt sich im Umfeld absoluter Armut, die dann vorliegt, wenn die physische Existenz durch einen Mangel an Obdach, Nahrung, Kleidung und den Zugang zu medizinischer Versorgung auf Dauer nicht gesichert ist. Langfristige Armut führt u.a. zu massiven gesundheitlichen Benachteiligungen und einer vorzeitigen Mortalität. So liegt die Lebenserwartung von Frauen in der niedrigsten Einkommensgruppe um 8,4 Jahre und der Männer in der gleichen Einkommensgruppe um 10,8 Jahre unter dem Sterbealter

Armut und Wohnungslosigkeit

175 

der höchsten Einkommensgruppen.1 Wohnungslose Personen haben eine noch viel geringere Lebenserwartung. Nicht nur das physische Überleben ist bei extremer Armut gefährdet, auch die soziale Existenz ist durch Ausgrenzungen bedroht, die durch ökonomische Einschränkungen, Stigmatisierungen, soziale Isolation, den Verlust unterstützender formeller und informeller Beziehungen und verschiedene Formen der Diskriminierung, beispielsweise auf dem Wohnungsund Arbeitsmarkt, gekennzeichnet ist. Wer in extremer Armut lebt, bewegt sich gesellschaftlich betrachtet an der Schwelle der Respektabilität.2 Er erlebt alltägliche Benachteiligungen, die ein Anpassungsarrangement erfordern, das sich teilweise als Verhaltensmuster festigt und zu weiteren Herabsetzungen führt. Passen sich Personen an Ausgrenzungen an, um zu überleben, werden diese Strategien wie die Inanspruchnahme von Tafelangeboten, der Rückzug aus bürgerlichen Bezügen in ein Armutsmilieu oder öffentliches Betteln zum Anlass für weitere Stigmatisierungen. Diesen perfiden Mechanismen sind wohnungslose Personen besonders ausgeliefert. Sozialarbeitstheoretisch betrachtet, führt eine lang anhaltende Armut zu lebensweltlichen Veränderungen der Wahrnehmung von Raum, Zeit und Beziehungen. Räume wie schlechte Wohnungen in benachteiligten Quartieren, Unterkünfte für Wohnungslose oder öffentliche Orte, an denen Menschen ohne Wohnung ihr Leben führen, werden als symbolische Botschaft gelesen, mit der zum Ausdruck gebracht wird, wie wenig die Gesellschaft von den Betroffenen hält. In Bezug auf die Zeit blicken Menschen in langfristiger Armut häufig auf eine chancenarme Vergangenheit; sie sehen in der Gegenwart keine Ausstiegsoptionen, und die Zukunft wird vielfach perspektivlos eingeschätzt. Schließlich geht es in der Lebenswelt um Beziehungen. Armutsbelastete Menschen erleben in Beziehungen häufig Ausgrenzungen und Ablehnung und nicht Unterstützung, die sie dringend brauchen, um aus ihrer Verlustspirale herauszukommen und konstruktive Bewältigungsmuster zu entwickeln.3 Die orientierenden Hinweise über extreme Armut vermitteln einen ersten Eindruck der vielfältigen Belastungen, denen Betroffene ausgesetzt sind.

1

Vgl. Robert Koch-Institut, Gesundheit, 150. Vgl. Dörre, Unterklassen, 8. 3 Vgl. Ansen, Armut, 267f. 2

176   2 Lebenslage Wohnungslosigkeit

H. Ansen 

Um zu ermessen, was es heißt, ohne eigene Wohnung zu leben, ist die Erinnerung an zentrale Funktionen geboten, die eine Wohnung in unserer Gesellschaft erfüllt. Sie ermöglicht eine Privatsphäre, ein Leben in Partnerschaft und Familie, bietet Schutz und Regenerationsmöglichkeiten, erlaubt eine bürgerliche Lebensführung, ist die Basis für eine Erwerbstätigkeit und eine Adresse für die Wahrnehmung ganz unterschiedlicher Rechte. Wohnen wird im aktuellen politischen Diskurs als die zentrale soziale Frage benannt. In der Konkurrenz um bezahlbaren Wohnraum vor allem in den Ballungsräumen bleiben Menschen in armutsgeprägten Lebensumständen und allen voran Wohnungslose zunehmend auf der Strecke. Bevor zentrale Implikationen von Wohnungslosigkeit ausgeführt werden, ist eine Begriffsklärung notwendig. In der Fachdebatte hat sich, beginnend 1987 durch eine Initiative des Deutschen Städtetages, mittlerweile der Begriff des Wohnungsnotfalls durchgesetzt. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe hat diesen Begriff in einem Positionspapier im Jahr 2010 weiter systematisiert und darin auch den Stand der europäischen Diskussion weitgehend aufgenommen. Zu den Wohnungsnotfällen zählen Personen, die aktuell ohne Wohnung auf der Straße oder in Notbehelfen sowie kommunalen oder von freien Trägern vorgehaltenen Einrichtungen leben. Daneben zählen zu den Wohnungsnotfällen auch jene Personen, die durch Räumungsklagen unmittelbar vom Verlust ihrer Wohnung bedroht sind. Hinzu kommen Menschen in unzumutbaren wie völlig überbelegten oder gesundheitsschädlichen Wohnverhältnissen, auch wenn diese mietvertraglich begründet sind. Des Weiteren werden Menschen in Unterkünften erfasst, die entlassen werden könnten, wenn eine Wohnung zur Verfügung stünde, und ehemals Wohnungslose, die aus präventiven Gründen auch nach dem Einzug in eine Wohnung unterstützt werden.4 In den folgenden Ausführungen geht es schwerpunktmäßig um faktisch wohnungslose Personen, wobei auch präventive Erwägungen einbezogen werden, die auf dem Weg in die Wohnungslosigkeit eine wichtige Rolle spielen. In Ermangelung einer bundeseinheitlichen Statistik, für die noch immer trotz jahrelanger Forderungen der Fachverbände keine gesetzliche Grundlage besteht, kann das Ausmaß der Wohnungslosigkeit nur auf der Basis elaborierter Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe dargestellt werden. Nach den jüngsten 4

Vgl. BAG-W, Position.

Armut und Wohnungslosigkeit

177 

Zahlen lebten im Jahr 2016 in Deutschland rund 860.000 Menschen ohne Wohnung, darunter etwa 420.000 anerkannte Geflüchtete, die in früheren Schätzungen nicht erfasst wurden. Unter den Wohnungslosen sind, von den Geflüchteten abgesehen, für die keine soziodemographischen Daten in dieser Qualität vorliegen, etwa 290.000 Betroffene alleinstehend, 130.000 leben in einer Partnerschaft und/oder mit Kindern zusammen. Der Anteil der Männer liegt bei 73 Prozent, der Frauenanteil bei 27 Prozent. Etwa 52.000 Menschen leben buchstäblich auf der Straße. Angesichts der hohen Armutsquote in Deutschland, des Wohnungsmangels und der Mietpreisentwicklung geht man davon aus, dass die Zahl der Betroffenen in den kommenden Jahren weiter steigen wird. Die Zahlen unterstreichen die Dimension des Problems. Dahinter stehen ganz verschiedene Menschen; sie unterscheiden sich hinsichtlich ihres Geschlechts, ihres Alters, ihrer biographischen Entwicklung, ihres Gesundheitszustandes, ihrer Bildung, ihrer Herkunft, ihrer sozialen Einbindungen und vieler weiterer Kriterien. Das Wohnungslosenhilfesystem steht vor der Aufgabe, einer extrem heterogenen Zielgruppe gerecht zu werden. Trotz persönlicher Auffälligkeiten und Beeinträchtigungen, die häufig erst durch das anstrengende Leben ohne Wohnung entwickelt werden, ist festzuhalten, dass Wohnungslosigkeit in der Regel nicht auf persönliche Merkmale der Betroffenen zurückzuführen ist, sondern primär auf Armut und die Wohnungspolitik.5 Angesichts der noch bis in die 1970er Jahre verbreiteten Pathologisierung wohnungsloser Personen und der auch im Sozialhilferecht mit dem Begriff der Gefährdetenhilfe vertretenen Auffassung, wohnungslosen Personen fehle ein innerer Halt für ein sozial geordnetes Leben, ist der Hinweis auf die strukturellen Ursachen besonders wichtig. Die Auswirkungen der Wohnungslosigkeit sind für die Betroffenen gravierend. Das entbehrungsreiche Leben fordert einen gesundheitlichen Tribut. Die Perspektivlosigkeit führt gehäuft zu resignativem Rückzug und ganz unterschiedlichen psychischen Beeinträchtigungen. Mit der Zeit gehen berufliche und soziale Kompetenzen verloren und frühere Beziehungen außerhalb des Wohnungslosenmilieus können nur selten über längere Zeit aufrechterhalten werden. Die massiven Risiken eines Lebens ohne Wohnung werden beispielsweise deutlich, wenn man bedenkt, dass seit 1989 409 Betroffene erschlagen wurden, 547 wurden Opfer eines Gewaltverbrechens, und seit 1991 sind 271 Menschen auf den Straßen Deutschlands erfroren.6 Die vielfach kumulativ auftretenden Belastungen erschweren es den Betroffenen, ihre Wohnungs5 6

Vgl. Lutz/Simon, Wohnungslosenhilfe, 51. Vgl. Rohrmann, Pathologisierung, 805.

178 H. Ansen    losigkeit aus eigener Kraft zu überwinden. Sie sind auf ein differenziertes Unterstützungssystem angewiesen. 3

Prävention von Wohnungslosigkeit

Ein häufiger Grund für den Verlust der Wohnung sind Mietschulden, die den Vermieter nach § 543 Abs. 2 Nr. 3 BGB dann zur fristlosen Kündigung berechtigen, wenn der Mieter entweder an zwei aufeinander folgenden Mietzahlungsterminen mehr als eine Miete schuldig bleibt oder über einen längeren Zeitraum ein Zahlungsrückstand von zwei Monatsmieten entsteht. Mit der fristlosen Kündigung endet das Mietverhältnis. Der Mieter ist jetzt nur noch Nutzer der Wohnung, er verfügt nicht mehr über die Schutzbestimmungen des sozialen Mietrechts. Wird die Wohnung durch die Mieter nicht herausgegeben, reichen Vermieter üblicherweise eine Räumungsklage ein. Von diesem Zeitpunkt an bleiben dem Mietschuldner nach § 569 Abs. 3 Nr. 2 BGB noch maximal zwei Monate, um die Mietschulden zu begleichen und damit den alten Mietvertrag wieder aufleben zu lassen, soweit eine vergleichbare Lage in den zurückliegenden zwei Jahren nicht schon einmal aufgetreten ist. Fehlen die Eigenmittel für die Begleichung der Mietschulden, kommt eine Mietschuldenübernahme im Rahmen der Grundsicherung für Erwerbsfähige und für die Bezieher von Sozialgeld nach § 22 Abs. 8 SGB II oder der Sozialhilfe für Sozialhilfeberechtigte sowie Erwerbstätige mit einem geringen Einkommen nach § 36 SGB XII in Betracht. Das Amtsgericht ist nach § 22 Abs. 9 SGB II und nach § 36 Abs. 2 SGB XII bei einer eingehenden Räumungsklage wegen Mietschulden verpflichtet, die Sozialleistungsträger am Wohnsitz der Mietschuldner zu informieren, damit diese auch ohne einen Antrag der Betroffenen tätig werden, um deren Wohnung möglichst zu erhalten. Soweit die persönlichen Voraussetzungen erfüllt sind und durch die Übernahme der Mietschulden die Wohnung gesichert werden kann, sollen diese übernommen werden. Im Rechtskreis des SGB II erfolgt die Mietschuldenübernahme obligatorisch als Darlehen, im Rechtskreis des SGB XII ist je nach der Konstellation des Einzelfalls sowohl ein Darlehen als auch eine Beihilfe möglich. In der Beantragung einer Mietschuldenübernahme bei den Jobcentern bzw. den Sozialämtern oder den vielerorts eingerichteten Kommunalen Fachstellen für Wohnungsnotfälle, die für die Sozialleistungsträger diese Aufgabe übernehmen, sind sozialarbeiterische Begründungen hilfreich, die nachvollziehbar machen, wie die Mietschulden entstanden sind und dass davon auszugehen ist, dass eine vergleichbare Notlage bei-

Armut und Wohnungslosigkeit

179 

spielsweise durch die Beratung der Betroffenen mutmaßlich nicht erneut auftreten wird. Mietschulden werden wegen der existenziellen Bedeutung der Wohnung häufig zuletzt gemacht. Mietschulden werden auch Indikatorschulden genannt, denn sie verweisen auf das Risiko weiterer finanzieller Probleme, die in der Beratung und Unterstützung zu berücksichtigen sind, um eine dauerhaft tragfähige Lösung zu finden. Unterstützungsangebote durch die Träger der Grundsicherung oder der Sozialhilfe bzw. der Fachstellen für Wohnungsnotfälle sind vor allem dann erfolgreich, wenn Hausbesuche erfolgen. Ein ausschließlich postalisches Unterstützungsangebot reicht in vielen Fällen nicht aus, zumal Briefe in einer solchen Notlage vielfach nicht mehr geöffnet werden. Das Wissen um die dargelegten Belastungen eines Lebens in lang anhaltender Armut trägt dazu bei, dieses passive und resignative Verhalten nachzuvollziehen und aufsuchende Formen der Hilfe zu praktizieren. Verhandlungen mit Vermietern sind ebenso erfolgreich wie die Regelung der Mietschuldenübernahme, die dem Erhalt der Wohnung dienen. Daneben erfolgt in diesem Prozess die Vermittlung in weitergehende Formen der Unterstützung wie beispielsweise die Sucht- oder Schuldnerberatung.7 Gelingt es nicht, die Wohnung zu erhalten, erfolgt die Räumung auf Antrag des Vermieters. Nach den Bestimmungen der Zivilprozessordnung (ZPO) kann die Räumung einer Wohnung auf Antrag nach § 721 ZPO in der Regel maximal bis zu einem Jahr unter Angabe insbesondere persönlicher und sozialer Gründe wie einer Erkrankung, Schwangerschaft oder anderer Härten erreicht werden. Wird in dieser Zeit keine neue Wohnung gefunden, enden die Mietschulden mit der Einweisung in eine kommunale Notunterkunft. Das Hab und Gut der Betroffenen wird vorübergehend eingelagert und dann entweder entsorgt oder veräußert. In dieser krisenhaften Zeit ist der Beistand durch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter unverzichtbar, nicht zuletzt, um die verbliebenen Rechte durch fachlich ausgewiesene Begründungen durchzusetzen und eine weitere Zuspitzung der Situation möglichst zu vermeiden. 4

Kommunale Notversorgung

Unfreiwillig obdachlose Menschen werden nach dem länderspezifischen Polizei- und Ordnungsrecht untergebracht. Bundesländerüber7

Vgl. Busch-Geertsema u.a., Prävention, 117f.

180 H. Ansen    greifend geht es im Kern darum, Gefahren für die öffentliche Sicherheit abzuwehren, die beispielsweise durch die gesundheitliche Gefährdung der auf der Straße lebenden Menschen entsteht. Die Betroffenen werden mit dem Ziel in eine Notunterkunft eingewiesen, ihre akute Notlage zu beseitigen, wobei die Annahme dieses Angebotes freiwillig ist. Eine Notunterkunft muss menschenwürdigen Bedingungen entsprechen. Eine Wohnung ist gleichwohl nach dem Polizei- und Ordnungsrecht nicht erforderlich, es geht lediglich um den Schutz gegen Witterungseinflüsse und die Möglichkeit, elementare Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Hierzu zählt das Recht auf einen ganztägigen Aufenthalt, ggf. an verschiedenen Orten, auf die verwiesen werden darf, eine Schlafgelegenheit, sanitäre Einrichtungen, eine einfache Möblierung und Kochgelegenheit.8 Für Familien mit Kindern werden üblicherweise kommunale Notwohnungen bereitgestellt, die eine sehr einfache Ausstattung aufweisen und fast immer in sozial benachteiligten Quartieren liegen. Alleinstehende Männer und Frauen landen eher in Notunterkünften mit Mehrbettzimmern, in denen Menschen mit ganz unterschiedlichen Problemen auf engem Raum zusammenleben. Konflikte sind in solchen Fällen programmiert. Wer in einer Notunterkunft landet, ist hochgradig anfällig für Stigmatisierungen. Er findet sich in einer Umgebung wieder, die den Ausstieg aus der Wohnungslosigkeit besonders schwierig macht. Viele benötigen weitergehende Unterstützungsangebote, die sie im System der Wohnungslosenhilfe finden. In den Notunterkünften sind Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter vorrangig damit befasst, zur Sicherung der elementaren Lebensgrundlagen beizutragen, mit und für Betroffene geeignete weiterführende Hilfeangebote zu finden und die Wege dahin auch durch eine motivierende Beratung zu ebnen. 5

Soziale Wohnungslosenhilfe im engeren Sinn

Zur Wohnungslosenhilfe im weiteren Sinn zählen die bereits dargestellten Angebote der Prävention und der Notunterbringung. Die Wohnungslosenhilfe im engeren Sinn basiert auf den §§ 67−69 SGB XII und der darauf bezogenen Durchführungsverordnung unter dem Titel „Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten“. Wie für andere sozialhilferechtlich fundierte Varianten der Unterstützung gelten auch in der Wohnungslosenhilfe nach § 9 SGB I die allgemeinen sozialhilferechtlichen Grundsätze der Förderung der Selbsthilfe, der Befähigung zur Teilnahme am Leben der Gemeinschaft und der Bereitstellung der Mittel für die Führung eines menschenwürdi8

Vgl. Ruder, Notdürftige Unterbringung, 162f.

Armut und Wohnungslosigkeit

181 

gen Lebens. Für den Rückgriff auf die Wohnungslosenhilfe nach dem SGB XII müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Zum einen sind besondere Lebensverhältnisse nachzuweisen, die insbesondere durch Armut, eine fehlende Wohnung, eine nicht ausreichende wirtschaftliche Lebensgrundlage, Gewaltverhältnisse und/oder die Entlassung aus stationären Maßnahmen geprägt sind. Zweitens kommt es darauf an, soziale Schwierigkeiten zu belegen, die dann als gegeben angenommen werden, wenn Interaktionen mit der Umwelt, also im persönlichen Umfeld, im Umgang mit Institutionen oder allgemein mit der Gesellschaft aufgrund der persönlichen und sozialen Situation eines Menschen nicht mehr störungsfrei gelingen. Wohnungslosigkeit alleine begründet demnach noch keinen Rechtsanspruch auf Leistungen der sozialen Wohnungslosenhilfe, in der es inhaltlich vor allem um die Verbesserung der Interaktion mit der Umwelt, die Vermittlung und Erhaltung einer Wohnung, die Förderung der Qualifikation und die Erlangung eines Arbeitsplatzes geht. Diesem Anspruch sind die unterschiedlichen Dienste und Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe mit ihren unterschiedlichen Profilen und die darin tätigen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter verpflichtet. Im Zentrum stehen Soziale Beratungsstellen, die das gesamte Themenspektrum abdecken, daneben Wohnangebote freier und öffentlicher Träger in Gestalt eines betreuten Wohnens oder eines Wohnheims, in dem wohnungslose Personen unterstützt werden, eine Tagesstruktur zu entwickeln und sich auf das Leben im eigenen Wohnraum vorzubereiten. Zwischen diesen Angeboten stehen insbesondere Tagesstätten, in denen ein Tagesaufenthalt ermöglicht wird und in denen die Besucher_innen Angebote wie Wäsche waschen, Duschen und Körperhygiene, Mahlzeiten, teilweise auch Kleiderkammern oder die Einrichtung einer von den Sozialleistungsträgern akzeptierten Post- oder Erreichbarkeitsadresse niedrigschwellig wahrnehmen können. Vielfach werden in Tagesstätten und vermehrt auch mobil ärztliche Sprechstunden durchgeführt, die angesichts der hohen Krankheitsbelastung wohnungsloser Personen und der erschwerten Zugänge in das medizinische Regelsystem überlebenswichtig sind. Hinzu kommt als eine weitere niedrigschwellige Form der Hilfe die Straßensozialarbeit, die Brücken in unterschiedliche Hilfesysteme baut und wohnungslose Personen durch Beziehungs- und Gesprächsangebote in der Bewältigung ihrer äußerst prekären Lebensumstände begleitet. Zu erwähnen sind in den vergangenen Jahren entstandene ehrenamtliche und karitative Projekte und die Bahnhofsmissionen, die bei Tag und bei Nacht auch Wohnungslosen unverzichtbare Dienste leisten.9 Die komplexen 9

Vgl. Ansen, Extreme Armut, 8.

182 H. Ansen    Notlagen wohnungsloser Personen erfordern eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit Einrichtungen der Arbeitsverwaltung, der Wohnungsbehörden und der Wohnungswirtschaft, des Gesundheitswesens oder der Jugendhilfe, um ihren präventiven, kompensatorischen und nachsorgend-stabilisierenden Anspruch einlösen zu können, der überdies nur umgesetzt werden kann, wenn auch eine stärkere sozialräumliche Orientierung die praktische Arbeit auszeichnet.10 Die gegenwärtig noch partiell zu stark versäulte Organisation der Wohnungslosenhilfe steht vor einer umfänglichen Reformaufgabe. 6

Ausblick

Die Wohnungslosenhilfe hat sich seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert mit den Herbergen zur Heimat, den Arbeiterkolonien und den Naturalpflegestationen stetig weiterentwickelt. In ihrer jeweiligen Gestalt spiegelt die Wohnungslosenhilfe die gesellschaftliche und sozialpolitische Entwicklung, in der immer auch ein Menschen- und Adressatenbild und die konkrete Gestalt der sozialen Frage zum Ausdruck kommt. Zentrale Aufgaben der Wohnungslosenhilfe, die den Lebenslagen ihrer Zielgruppe gerecht werden will, bestehen gegenwärtig in den folgenden Bereichen: Angesichts der sehr komplexen Belastungen wohnungsloser Personen und der immer weiteren Ausdifferenzierung von Unterstützungsangeboten mit unterschiedlichen Finanzierungsgrundlagen, Zugangswegen und Leistungsprofilen ist ein Netzwerkmanagement ergänzend zur Beratung und Fallarbeit sinnvoll, mit dem eine interinstitutionelle Form der Koordination und Kooperation realisiert werden kann. In einer solchen Vorgehensweise wahren die beteiligten Institutionen ihre Eigenständigkeit und gleichzeitig werden Prozessketten entwickelt, die umfängliche Hilfen aufeinander abstimmen.11 Solche Verkettungen sind in der Präventionsarbeit ebenso bedeutsam wie in den Bemühungen um die Förderung der sozialen Teilhabe, die von der Wohnungslosenhilfe alleine nicht umgesetzt werden kann. Gemeinsame Fallbesprechungen, koordinierte Schritte der Unterstützung, deren Umsetzung evaluiert wird, und eine prozessbegleitende Feinjustierung tragen zu einer höheren Passgenauigkeit von Unterstützungsangeboten bei. Im Netzwerkmanagement lernen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der beteiligten Institutionen voneinander, sodass da-

10 11

Vgl. Specht, Wohnungslosenhilfe, 7f. Vgl. Schubert, Netzwerkmanagement, 268.

Armut und Wohnungslosigkeit

183 

von auszugehen ist, dass allmählich ein vertieftes gegenseitiges Verständnis entsteht, was künftige Kooperationen erleichtert. Es entspricht einem modernen Hilfeverständnis, das auch sozialhilferechtlich gefordert ist, Adressatinnen und Adressaten umfassend an Entscheidungen über den Unterstützungsprozess zu beteiligen und dabei auf ihre Wünsche und Bedürfnisse explizit einzugehen. Ohne ihre Mitarbeit kann dienstleistungstheoretisch betrachtet ohnehin kein Erfolg erreicht werden, denn Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sind in dieser Lesart lediglich die Ko-Produzent_innen in der Erbringung der Dienstleistung, die Zielgruppe ist der eigentliche Produzent. Die Wohnungslosenhilfe mit ihren über die Jahre entwickelten patriarchalen Strukturen hat einen Nachholbedarf in Bezug auf eine noch viel weitergehende Partizipation der wohnungslosen Personen in ihren Einrichtungen, als es bisher schon geschieht. Erweiterte Formen der Mitbestimmung und Mitgestaltung durch eine Verhandlungsorientierung, durch Empowermentprozesse, durch Mitbestimmungsmöglichkeiten in allen Belangen der Einrichtung oder durch einen Ausbau der systematischen Mitarbeit wohnungsloser Personen, die dafür eigens qualifiziert werden, würden zu einer weiteren Demokratisierung des Hilfesystems beitragen und seine Akzeptanz bei den Nutzerinnen und Nutzern erhöhen. Entscheidende Impulse für die Weiterentwicklung der Wohnungslosenhilfe sind dem Housing First-Ansatz zu entnehmen, dessen Umsetzung dazu beiträgt, wohnungslose Personen nicht erst durch ein verzweigtes Hilfesystem navigieren zu müssen, ehe sie endlich über eine eigene Wohnung verfügen. Darüber hinaus erforderliche Hilfen werden nach diesem Modell dann ambulant auf die Belange der Adressatinnen und Adressaten zugeschnitten. Mit der Housing First-Idee wird das Grundrecht auf einen bedingungslosen Zugang zu einer eigenen Wohnung verwirklicht, Menschen können dann nach ihren Vorstellungen leben und Hilfe freiwillig in Anspruch nehmen, die sie für notwendig erachten. Die mit dem Ansatz gesammelten Erfahrungen, u.a. in den USA, Kanada, Finnland oder Dänemark, sind allemal ermutigend und sollten auch in den hiesigen Strukturen der Wohnungslosenhilfe aufgegriffen werden.12 Die Umsetzung setzt den Zugang zu Wohnungen voraus. Das ist ein ganz entscheidender Hinderungsgrund, der politisch zu verantworten ist. Seit Jahren nimmt der Bestand an Sozialwohnungen kontinuierlich ab, 2016 lag er bei nur noch 1,2 Mio. Wohnungen, Tendenz weiter fallend, da Sozialbindungen auslaufen und die Wohnungen dann auf dem freien Markt bewirt12

Vgl. Busch-Geertsema, Housing First, 17f.

184 H. Ansen    schaftet werden. Erforderlich für die Verbesserung der Wohnungsversorgung für wohnungslose Personen und insgesamt für Menschen in armutsgeprägten Lebensumständen ist ein Ausbau des sozialen Wohnungsbaus und kurzfristig der Erwerb von Belegungsrechten durch die Kommunen, um aktuelle Engpässe zu lindern. Literatur Ansen, Harald, Armut und Lebensweltorientierung, in: Klaus Grunwald / Hans Thiersch (Hg.), Praxishandbuch Lebensweltorientierte Soziale Arbeit, Weinheim / Basel 2016, 267−276. Ansen, Harald, Eine Form extremer Armut, Forum Sozialarbeit und Gesundheit 2/2017, 6−9. BAG-W, Position: Wohnungsnotfalldefinition der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V., Bielefeld 2010. Busch-Geertsema, Volker, Housing First – innovativer Ansatz, gängige Praxis oder schöne Illusion, Teil 1 und 2, wohnungslos 1/17, 17−23, wohnungslos 2−3/17, 75−80. Busch-Geertsema, Volker / Evers, Jürgen / Ruhstrat, Ekke-Ulf, Prävention von Wohnungslosigkeit in Nordrhein-Westfalen. Ergebnisse einer landesweiten Untersuchung, in: Stefan Gillich / Rolf Keicher (Hg.), Suppe, Beratung, Politik, Wiesbaden 2016, 111−127. Dörre, Klaus, Unterklassen. Plädoyer für die analytische Verwendung eines zwiespältigen Begriffs, APuZ 02. März 2015, 3−10. Lutz, Ronald / Simon, Titus, Lehrbuch der Wohnungslosenhilfe, Basel 2012. Robert Koch-Institut, Gesundheit in Deutschland, Berlin 2015. Rohrmann, Eckart, Pathologisierung von Armut und Wohnungsnot in Geschichte und Gegenwart, in: Roland Anhorn / Marcus Balzureit (Hg.), Handbuch Therapeutisierung und Soziale Arbeit, Wiesbaden 2016, 803−836. Ruder, Karl-Heinz, Der polizei- und ordnungsrechtliche Anspruch obdachloser Menschen auf notdürftige Unterbringung Teil 1 und 2, Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge April 2017, 162−165, Mai 2017, 205−209. Schubert, Herbert, Netzwerkmanagement in der Sozialen Arbeit, in: Jörg Fischer / Tobias Kosselek, (Hg.), Netzwerke und Soziale Arbeit, Weinheim / Basel, 267−286. Specht, Thomas, Von der Wohnungslosenhilfe zu Hilfen zur sozialen Inklusion für Wohnungsnotfälle, Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 1/2013, 4−21.

  Lara Salewski

Armut und Prostitution

Armut ist ein vielseitiger Begriff, der je nach Kontext unterschiedlich definiert wird. In diesem Buch werden verschiedene Aspekte von Armut beschrieben und Theorien der Armutsforschung skizziert. Auf dieser Basis wird Armut auch in diesem Beitrag als Lebenslage verstanden, die von Mangel und Benachteiligung geprägt ist. Armut bedeutet, dass die Handlungsspielräume und Entwicklungschancen einer Person deutlich eingeschränkt sind. Es bestehen Defizite bei der Versorgung und Teilhabe der von Armut betroffenen Person innerhalb der Gesellschaft. Der vorliegende Beitrag betrachtet das Phänomen Armut im Zusammenhang mit Prostitution bzw. Sexarbeit1. Es soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern Prostituierte von Armut betroffen sind. 1

Grundsätzliches

Zunächst sollen einige Aussagen getroffen werden, auf denen dieser Beitrag beruht. Vertreten wird in diesem Artikel eine Haltung gegenüber Prostituierten und Sexarbeiterinnen,2 die sich durch Respekt, Toleranz und Wertschätzung auszeichnet. Jeder Mensch ist gleich viel wert und darf den Lebensweg einschlagen, den er möchte (sofern er andere dadurch nicht verletzt). Prostitution ist insofern als berufliche Tätigkeit zu sehen, als viele Menschen ihren Lebensunterhalt damit verdienen. Die Gruppe der Prostituierten ist äußerst heterogen. Dies betrifft zahlreiche Merkmale, wie beispielsweise das Alter, das Herkunftsland, 1

In diesem Beitrag wird nicht zwischen Prostitution und Sexarbeit unterschieden, die Begriffe werden synonym verwendet. 2 Die Geschlechtlichkeit von Menschen, die in Deutschland der Prostitution nachgehen, ist unterschiedlich. Der Großteil ist jedoch weiblich. Aufgrund der in diesem Beitrag verwendeten Quellen und entsprechender Datenlage wird der Fokus hier auf Frauen gelegt.

186 L. Salewski    das soziale Umfeld, die Umstände, warum eine Frau in der Prostitution tätig ist, und vieles mehr. Auch die Arbeitskontexte sind sehr verschieden. Es spielt eine große Rolle im Hinblick auf Arbeitsbedingungen, Gefährdungslagen, Verdienstmöglichkeiten und Selbstbestimmungsgrade, ob eine Prostituierte ihrer Tätigkeit in einem Club, einem Bordell, in der Wohnung oder auf der Straße nachgeht.3 Allgemeingültige Aussagen über Sexarbeiterinnen zu treffen, ist daher kaum möglich. Dennoch sollen im Folgenden Dimensionen von Armut aufgezeigt werden, die häufig im Bereich Prostitution erkennbar sind. Abbildung 1: Dimensionen von Armut (eigene Darstellung)

Die Dimensionen sind nicht klar voneinander abgrenzbar. Im Hinblick auf die Beschreibungen der Inhalte spielt dies allerdings weniger eine Rolle. Sinn der nun folgenden Erläuterungen ist, deutlich zu machen, dass Prostituierte gravierend, bedrohlich und multidimensional von Armut betroffen sein können. 2

Gesellschaftliche Wertschätzung und soziale Beziehungen

Prostitution ist ein Tabu-Feld. In den meisten gesellschaftlichen Kreisen wird nicht darüber geredet – und wenn, dann abschätzig und verurteilend. Diese Abwertung richtet sich gegen Zuhälter_innen und Bordellbetreiber_innen, gegen Freier und gegen Prostituierte selbst. Sexarbeiterinnen erhalten in der Öffentlichkeit keine Anerkennung 3

Vgl. BMFSFJ, Lebenssituation, 58 ff.

Armut und Prostitution

187 

für ihre Tätigkeit. Im Gegenteil, sie gelten oft als moralisch verwerflich. Das Prostitutionsgewerbe bewegt sich nicht selten zwischen Legalität und Illegalität und wird oft mit Kriminalität in Verbindung gebracht. Von staatlicher Seite wird immer wieder versucht, mit Auflagen, Gesetzen4 und Kontrollen dieses Gewerbe zu beeinflussen und Regelmechanismen zu finden, die eine Steuerung oder Begrenzung zulassen (z.B. Sperrbezirke).5 Besonders markant an Prostitution ist der Umstand, dass die Auseinandersetzung mit dieser Thematik eine Beschäftigung mit Sexualität im Allgemeinen und auch mit der eigenen Sexualität zur Folge hat. Der Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Gewerbe und höchster Intimität mag viele Menschen irritieren.6 All dies hat zur Folge, dass Prostituierte darunter leiden, dass sie gesellschaftlich nicht anerkannt sind und vielfach ausgegrenzt werden. Diese Umstände führen dazu, dass Frauen, die der Prostitution nachgehen, ihre Tätigkeit verheimlichen oder sich komplett isolieren. Es fehlt ihnen an Vertrauenspersonen und Menschen, die ihnen bei Bedarf helfend zur Seite stehen. Zwischen Sexarbeiterinnen innerhalb eines Gebietes herrscht großer Konkurrenzdruck, sodass auch unter Kolleginnen ein Zusammenhalten selten ist.7 Prostituierte aus osteuropäischen Ländern kommen meistens ohne ihre Familien für eine Zeit nach Deutschland, um Geld zu erwirtschaften. Sie sind von ihren Familienangehörigen getrennt, die in der Regel nicht wissen, welche Tätigkeit die Frau hier ausübt. Das Fehlen eines vertraulichen und verlässlichen sozialen Netzwerkes ist eine gravierende Form sozialer Armut. Zu berücksichtigen ist auch, dass viele Prostituierte bereits in ihrer Kindheit von Gewalt und Vernachlässigung betroffen waren. Bei diesen Frauen liegt lebensphasenübergreifend eine mangelhafte soziale Einbindung vor.8 3

Bildung

Sind Prostituierte arm an Bildung? Wenn der Bildungsbegriff weit gefasst wird und auch indirektes Lernen im Sinne von Erfahrungslernen und Erweiterung von persönlichen (Überlebens-)Strategien 4

Jüngstes Beispiel ist das am 1. Juli 2017 in Kraft getretene „Gesetz zur Regulierung des Prostitutionsgewerbes und zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen“, welches unter anderem eine Anmeldepflicht für Prostituierte vorsieht. 5 Vgl. Ruhne, Boulevard und Sperrbezirk, 194. 6 Vgl. Stempfhuber, Authentische Gefühle, 5069. 7 Vgl. Wolf, Untersuchung zum Infektionsstatus, 6ff. 8 Vgl. BMFSFJ, Lebenssituation, 78 ff.

188 L. Salewski    bzw. von sozialen Kompetenzen darunter verstanden wird, sind Menschen in der Prostitution sicher nicht arm an Bildung. Und auch wenn Bildung institutionell definiert wird und der Maßstab anerkannter Bildungsabschlüsse herangezogen wird, sind nicht alle Prostituierten bildungsarm. Es gibt Sexarbeiterinnen mit Hochschulabschluss oder abgeschlossener Berufsausbildung.9 Aber es gibt auch viele, die aufgrund unterschiedlichster Umstände (noch) keinen Schul- bzw. Berufsabschluss erreichen konnten. Die Gründe dafür liegen nicht selten darin, dass die Personen in benachteiligten sozialen Umfeldern aufgewachsen sind und wenig Förderung erhalten haben. Statistische Daten über den Bildungsstand von Menschen, die in Deutschland in der Prostitution tätig sind, gibt es kaum. Erschwert wird die Forschung durch die Tatsache, dass die Schulsysteme der unterschiedlichen Herkunftsländer sehr inhomogen sind und es daher schwierig ist, Bildungsgrade zu vergleichen. Eine Möglichkeit besteht darin, die Beschulungsjahre zu betrachten. Hier sind vor allem zwei Ergebnisse interessant: Zum einen verfügen Prostituierte aus anderen Herkunftsländern durchschnittlich über eine höhere Schulbildung bzw. mehr Schulbesuchsjahre als deutsche Prostituierte.10 Diese Tatsache lässt auf die oftmals schlechte wirtschaftliche Lage der Herkunftsländer schließen, bei der trotz Qualifikation keine berufliche Perspektive vorhanden ist. Zum anderen ist erkennbar, dass es einen Zusammenhang zwischen der Anzahl an Schulbesuchsjahren und der Länge der Tätigkeit der Prostitutionsausübung gibt. Die Frauen, die lange als Sexarbeiterin tätig sind, sind in der Regel weniger Jahre zur Schule gegangen.11 Der Nachweis von Bildungszertifikaten ist der zentrale Zugangsfaktor zum regulären Arbeitsmarkt. Allerdings reicht es nicht, irgendeinen Abschluss nachzuweisen, sondern der Abschluss muss in Deutschland anerkannt sein. Fehlen die entsprechenden Nachweise, ist ein Fußfassen im Berufsleben in den meisten Branchen nicht möglich. In der Sexarbeit ist dies anders. Hier werden keine Bildungsabschlüsse vorausgesetzt.

9

Vgl. BMFSFJ, Lebenssituation, 20. Vgl. Wolf, Untersuchung zum Infektionsstatus, 21. 11 Vgl. ebd. 10

Armut und Prostitution

4

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Finanzielle Mittel

„Würde eine Frau sich auch prostituieren, wenn sie kein Geld dafür bekäme? Sagen wir, ganz naiv gedacht, wenn es gar kein Geld gäbe?“12 Diese Frage stellt Meike Büttner, Buchautorin und Journalistin, und verweist damit unausweichlich auf den wirtschaftlichen Zweck von Prostitutionsausübung, ohne selbst auf diese provozierende Frage eine Antwort zu geben. Sexarbeiterinnen praktizieren diese Tätigkeit, um Geld zu verdienen oder andere Gegenleistungen zu erhalten, die sie aufgrund fehlender finanzieller Mittel nicht erwerben können (z.B. Schlafraum, Nahrung oder Drogen). Die Motive hinter der Entscheidung, genau diese Arbeit und keine andere zu wählen, sind unterschiedlich (z.B. keine Arbeitsgenehmigung, fehlende Qualifizierung, Druck- / Zwangsverhältnisse, schneller Zugang zum Markt). Das Ziel ist jedoch immer gleich, es geht um Entlohnung. In den meisten Fällen entscheiden sich Frauen aus einer finanziellen Notsituation dazu, sich zu prostituieren. Sie sind auf das Geld existenziell angewiesen. Ohne die Einnahmen aus dieser Tätigkeit wären sie akut von Armut betroffen. Bei Prostituierten aus Osteuropa kommt hinzu, dass diese häufig einen Großteil ihres Verdienstes zu ihrer Familie in ihr Heimatdorf schicken. Diese Frauen sehen Sexarbeit als Möglichkeit, die Armut ihrer Familienangehörigen in der Heimat zu lindern.13 Die Verdienste von Prostituierten fallen extrem unterschiedlich aus. Neben einigen wenigen Frauen, die dadurch einen relativ hohen Verdienst erwirtschaften (z.B. im Escortservice), reichen die Einnahmen der meisten Prostituierten gerade einmal für das Notwendigste. Je nach Diensthandlung und Szene ist die Preisspanne enorm weit. Auf dem Straßenstrich wird unter Ausnutzung der Notlage der Frauen eine sexuelle Dienstleistung zum Teil schon für fünf Euro angeboten. Im Luxusetablissement können die Preise dagegen mehrere Hundert Euro betragen. Berücksichtigt werden muss in diesem Gewerbe allerdings immer, dass selbstständige Prostituierte, die in Clubs, Bordellen oder anderen Einrichtungen arbeiten, an die jeweiligen Betreiber_innen hohe Mieten oder Nutzungsgebühren zahlen müssen. Der Nettoverdienst ist dementsprechend gering. Ein Angestelltenverhältnis ist bei Prostituierten eher selten. Als Selbstständige tragen sie allein das volle Berufsrisiko. Durch mangelhafte versicherungsbezogene Absicherung verfügen sie über viele Optionen nicht (Rentenversicherung, Mutterschutz, Elternzeit usw.).

12 13

Büttner, Eine Frage der Gerechtigkeit. Vgl. Howe, Milliardengeschäft illegale Prostitution, 34.

190 L. Salewski    5 Gesundheit und Zugang zu medizinischer Versorgung Im Kontext der Dimension Gesundheit soll an dieser Stelle sowohl ein Blick auf den Gesundheitszustand von Prostituierten geworfen werden als auch auf deren Zugang bzw. Inanspruchnahme von medizinischer Versorgung. Armut als Form der Benachteiligung ist bei Prostituierten in diesen Zusammenhängen hoch signifikant. Im Vergleich zu Frauen, die nicht in der Prostitution tätig sind, haben sie deutlich häufiger bzw. mehr gesundheitliche Beschwerden.14 Besonders erhöht ist das Risiko für Geschlechtskrankheiten,15 aber auch das Auftreten psychischer Probleme ist um ein Vielfaches höher.16 Hinzu kommen andere gesundheitsbelastende Faktoren, wie Drogenkonsum und der Umstand, dass ein Großteil der Prostituierten von Gewalterfahrungen betroffen ist oder war.17 Die Gruppe der Täter_innen ist dabei durchaus heterogen. Neben Gewalt durch Freier und Zuhälter_innen mussten viele Prostituierte bereits in ihrer Kindheit Gewalt durch Erziehungspersonen erleiden.18 Gewalt kann sowohl den körperlichen als auch den psychischen Gesundheitszustand massiv belasten. Als besonders kritisch ist zu sehen, dass viele Prostituierte nicht krankenversichert sind und sich daher keine ärztliche Behandlung leisten können. Verschlimmert wird diese Form von Armut durch die Tatsache, dass diese Frauen häufig trotz ihrer Krankheit weiter die Tätigkeit der Prostitution ausüben müssen, weil sie ansonsten keine finanziellen Einnahmen haben.19 Aber auch wenn Prostituierte krankenversichert sind, ist eine optimale Therapie oftmals schwierig. Dies liegt daran, dass viele Sexarbeiterinnen ihre (neben-)berufliche Tätigkeit bei Ärzt_innen nicht offenlegen und daher keine adäquate Beratung erfolgen kann. Hinzu kommt, dass viele Prostituierte häufig ihren Wohnort wechseln, was einen kontinuierlichen Therapieverlauf erschwert.20 Die Anzahl der Frauen, die ein oder mehrere Schwangerschaftsabbrüche oder Fehlgeburten hinter sich haben, liegt bei Prostituierten weitaus höher als bei Frauen, die dieser Tätigkeit nicht nachgehen.21 14

Vgl. BMFSFJ, Lebenssituation, 60 ff. Vgl. Wolf, Untersuchung zum Infektionsstatus, 35. 16 Vgl. BMFSFJ, Lebenssituation, 60 ff. 17 Vgl. BMFSFJ, Lebenssituation, 26 und 65 f. 18 Vgl. BMFSFJ, Lebenssituation, 70f. 19 Vgl. BMFSFJ, Lebenssituation, 60. 20 Vgl. Wolf, Untersuchung zum Infektionsstatus, 5. 21 Vgl. Wolf, Untersuchung zum Infektionsstatus, 22. 15

Armut und Prostitution

191 

Es kommt also vergleichsweise oft zu ungewollten Schwangerschaften – ein Zustand, der eine hohe Belastung für die betroffenen Frauen darstellt. 6

Achtung persönlicher Grenzen

Sexarbeit stellt eine Dienstleistung dar, bei der es zu deutlichen persönlichen Grenzüberschreitungen kommen kann. Diese Überschreitungen betreffen die Grenzen des individuellen Empfindens im Hinblick auf Schmerzen, Scham, Ekel und andere Emotionen. Auch wenn Sexarbeitende außerhalb von Bedingungen unter Zwangsprostitution grundsätzlich selbst bestimmen können, was sie an Praktiken anbieten oder welche Handlungen sie erdulden, kann es aufgrund von Druck und Abhängigkeitsverhältnissen (sicherer „Stammkunde“, Sonderzahlungen, Konkurrenzkampf) zu Situationen kommen, wo Grenzen überschritten werden. Solche Erfahrungen können unterschiedliche Folgen haben, die von einer Art „Abstumpfung“ bis hin zu Traumata reichen können. Sozialarbeiter_innen, die mit Prostituierten arbeiten, berichten davon, dass Frauen, die von grenzverletzenden Erfahrungen erzählen, in der Folge oftmals unter einem geminderten Selbstwertgefühl und einem Gefühl von Hilflosigkeit leiden. Durch die Isolation und Heimlichkeit, in der einige Prostituierte ihren Beruf ausüben, kommt als belastender Faktor hinzu, dass viele Sexarbeitende keine Vertrauenspersonen haben, mit denen sie über ihre grenzverletzenden Erlebnisse sprechen können. Ein weiterer Aspekt ist von Relevanz: Es gibt einige Berufe, bei denen die Konfrontation mit Ekel ebenfalls eine Rolle spielen kann (Reinigungskräfte, Mediziner_innen, Pflegekräfte, Polizist_innen u.a.). Die Auslöser des Ekels differenzieren sicherlich stark von denen im Prostitutionsgewerbe. Dennoch ist zu unterscheiden, dass in anderen Berufen tätige Personen oftmals eine besondere Achtung aufgrund ihrer Überwindungskompetenzen erhalten. Bei Prostituierten ist dies nicht der Fall – im Gegenteil, es kann sogar so weit kommen, dass Sexarbeiterinnen aufgrund ihrer Tätigkeit als Person selbst von anderen als ekelhaft bezeichnet werden.22 7

Sicherheits(empfinden) und Schutzräume

Das Empfinden von Sicherheit ist elementar und gehört zu den menschlichen Grundbedürfnissen. Sich sicher zu fühlen, keiner willkürlichen Gewalt ausgesetzt zu sein, einen geschützten Ort kennen, wo es mög22

Vgl. Meitzler, Lust und Ekel, 46.

192 L. Salewski    lich ist, angstfrei Schlaf, Ruhe und Erholung zu finden – all das ist für die meisten Menschen selbstverständlich. Viele Prostituierte verfügen über diese Möglichkeit nicht. In Bordellen sind sie gezwungen, hohe Mieten für ein Zimmer zu bezahlen. Ein Zuhause können sie sich daher nicht mehr leisten. Diese Frauen leben und wohnen dort, wo sie arbeiten. Eine Chance, Abstand zu ihrer Tätigkeit zu finden, haben sie unter diesen Umständen nicht. Sie haben keine richtige Privatsphäre und können häufig selbst im Schlaf nicht entspannen. Noch gravierender kann die Situation für Prostituierte sein, die wohnungslos sind und auf dem Straßenstrich arbeiten. Ihre Dienste bieten sie nicht nur für Geld an, sondern auch dafür, bei dem Freier in der Wohnung übernachten zu können und das dortige Badezimmer benutzen zu dürfen. Derartige „Wohnverhältnisse“ sind äußerst brisant. Die Frauen sind in den Wohnungen der Freier ohne Schutz. Sie befinden sich zum Teil in Situationen, in denen sie sich gänzlich ausgeliefert fühlen. Literatur Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hg.), Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland, Bonn 2004, Teilpopulation 2 − Prostituierte, online: https://www.bmfsfj.de/blob/84328/0c83aab 6e685eeddc01712109bcb02b0/langfassung-studie-frauen-teil-einsdata.pdf (Zugriff: 04.04.2018). Büttner, Meike, Eine Frage der Gerechtigkeit. Was haben Prostitution, Armut und die NSA-Affäre gemeinsam? Alle drei sind Symptome ein- und derselben Krankheit, The European, 24.12.2013, online:http://www.theeuropean.de/meike-buettner/7770prostitution-als-produkt-von-ungleichheit (Zugriff: 04.04.2018). Howe, Christiane, Milliardengeschäft illegale Prostitution Handel mit Frauen aus Osteuropa, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Aus Politik und Zeitgeschichte (B 52−53/2004), Gewalt im Geschlechterverhältnis, Bonn 2004, 33−38. Meitzler, Matthias, Lust und Ekel: vom Reiz einer Grenzüberschreitung, Psychologie und Gesellschaftskritik 35/1 (2011), 31−49, online: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-393049 (Zugriff: 04.04.2018). Ruhne, Renate, Boulevard und Sperrbezirk: urbane Ideale, Prostitution und der Kampf um den öffentlichen Raum der Stadt, Sozialwissenschaften und Berufspraxis 29/2 (2006), 192−207, online: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-38693 (Zugriff: 04.04.2018).

Armut und Prostitution

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Stempfhuber, Martin, Authentische Gefühle und käufliche Körper: zur Diskussion um Freiwilligkeit am Beispiel von 'sex work', in: Karl-Siegbert Rehberg / Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) (Hg.), Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006, Teilbd. 1 u. 2., Frankfurt am Main 2008, online: http://nbnresolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-154338 (Zugriff: 04.04.2018). Wolf, Anna, Untersuchung zum Infektionsstatus von Prostituierten in Lübeck, Heidelberg 2007, online: http://www.zhb.uni-luebeck.de/ epubs/ediss468.pdf (Zugriff: 04.04.2018). Neben diesen Literaturangaben dienten als Grundlage dieses Beitrags auch Gespräche mit Mitarbeiterinnen in Beratungsstellen für Prostituierte.

  Andreas Mayert und Gunther Schendel

Armut, Stigmatisierung, Scham und Angst

1

Einführung

„Hartz IV an der Supermarktkasse − Test ab Mitte 2018“: Diese Nachricht ging kürzlich durch die bundesdeutsche Presse1 und sorgte sogleich für eine grundsätzliche Diskussion. Ist das Vorhaben nur als sinnvolle Maßnahme der Bundesagentur für Arbeit gedacht, um die Zahl ihrer ALG-II-Auszahlungsstellen zu erhöhen und eine schnelle und kostensparende Auszahlung der Grundsicherungsleistungen zu ermöglichen? Oder trägt ein solches Verfahren – gewollt oder ungewollt –„zur weiteren Stigmatisierung von Leistungsberechtigten bei, die sich vor den Augen von Kundinnen und Kassierern als Erwerbslose outen müssen“, wie Barbara Eschen, Sprecherin der Nationalen Armutskonferenz, in einer kritischen Stellungnahme bemängelt?2 In der Diskussion um den Testlauf der neuen Auszahlungsweise geht es um den Zusammenhang, dem wir in diesem Beitrag nachgehen wollen, nämlich um die Interdependenz von Armut, Stigma, Scham und Angst. Ist Armut mit Stigmatisierung verbunden? Wenn ja, auf welche Art und von wem werden Stigmatisierungsprozesse eingeleitet oder gefördert? Inwiefern wird Armut von den Betroffenen selbst als stigmatisierend erlebt und in Form von Scham internalisiert? Welche für die soziale Inklusion von Armutsbetroffenen kontraproduktiven Auswirkungen können mit armutsbedingter Stigmatisierung und Scham einhergehen? Welche negativen gesundheitlichen Auswirkungen können auf armutsbedingte Stigmatisierung und Scham zurückgeführt werden?

1 2

Vgl. o.A., Arbeitsagentur: Hartz IV an der Supermarkt-Kasse. Nationale Armutskonferenz, Keine Stigmatisierung an der Supermarkt-Kasse.

Armut, Stigmatisierung, Scham und Angst

2

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Stigma, Scham und Armut

Bevor wir uns der Beantwortung dieser Fragen zuwenden, ist es zunächst sinnvoll, die Konzepte von Stigma und Scham zu klären, auf die wir uns in diesem Beitrag beziehen. Beginnen wir mit dem Konzept des Stigmas, wie es Irving Goffman klassisch formuliert hat. Danach kann ein Stigma als „Eigenschaft“ eines Menschen oder einer sozialen Gruppe beschrieben werden, „die zutiefst diskreditierend ist“3. Stigmata lassen sich insofern als sozial negativ bewertete Eigenschaften definieren, die, wenn sie von den stigmatisierten Personen verinnerlicht werden und ihre individuelle Selbstbewertung negativ beeinflussen, zum Anlass von Scham werden. Stigmatisierende Eigenschaften können angeboren sein, wie beispielsweise ein (schwerwiegender) physischer Makel oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie, die stigmatisiert wird (phylogenetisches Stigma).4 Oder sie können im Laufe des Lebens erworben werden, etwa durch sozial diskreditiertes individuelles Handeln oder ganz einfach dadurch, dass eine Person durch bestimmte Lebensereignisse, z.B. den Verlust einer Beschäftigung und eine dadurch bedingte Einkommensarmut, gesellschaftlich einer sozial diskreditierten Gruppe zugeordnet wird. Unter Schamgefühl lässt sich mit dem Emotionssoziologen Sighard Neckel diejenige Emotion bezeichnen, mit der ein Mensch auf die Erfahrung eines tatsächlichen oder angenommenen „Achtungsverlustes“ reagiert.5 Scham hat damit von vornherein eine soziale Dimension, sie beinhaltet auf Seiten derjenigen, die Scham empfinden, immer eine (richtige oder falsche) Vorstellung darüber, wie sie von anderen gesehen und beurteilt werden; „in der Sozialscham wird jener Ausschnitt der Wirklichkeit für die Person thematisch, der von der Erfahrung einer Hierarchie sozialer Wertschätzung gespeist wird, die Achtung ungleich verteilt“.6 Bezugsrahmen ist eine „Hierarchie sozialer Wertschätzung“, die mit „Statusordnungen“ hinterlegt ist. Scham unterscheidet sich vom Schuldgefühl, das bei einer wahrgenommenen Kluft zwischen eigenen oder gesellschaftlichen „Sollenserwartungen“ und dem betreffenden Handeln entsteht.7 Das Schuldgefühl beinhaltet, wie auch das Schamgefühl, eine negative Selbstbeurteilung.8 Aber das Wissen anderer um das normenüberschreitende 3

Goffman, Stigma, 10f. Vgl. Goffman, Stigma, 12f. 5 Vgl. Neckel, Die Macht der Unterscheidung, 99. 6 Neckel, Die Macht der Unterscheidung, 101. 7 Vgl. Klimke, Der Wandel gesellschaftlicher Konstruktionen von Schuld, 44. 8 Vgl. Walker, The Shame of Poverty, 53. 4

196 A. Mayert und G. Schendel    Handeln ist für das Empfinden von Schuld ebenso wenig notwendig wie das Urteil anderer, ob überhaupt ein Grund für Schuldgefühle vorliegt. So kann sich jemand schuldig fühlen, Fleisch zu verzehren, ohne dass andere die dadurch verursachte negative Selbstbeurteilung für notwendig halten. Als moralische Emotion kann das Empfinden von Schuld zu einer positiven Verhaltensänderung führen, um den psychischen Schmerz, der mit dem Schuldgefühl einhergeht, zu vermindern oder zu beseitigen.9 Das Schamgefühl wurzelt dagegen in einer (tatsächlichen oder angenommenen) negativen Beurteilung durch andere.10 Betroffen ist die „Identität“, das Selbstkonzept eines Menschen, wenn sich eine „Kluft zwischen der Identität und dem Normbezug“ auftut.11 Weil hier das „Ich-Ideal“ eines Menschen auf dem Spiel steht, geht es bei Situationen der Scham um nichts weniger als um die „Würde einer Person“.12 Auch Scham ist eine moralische Emotion. Aber anders als Schuld lässt sich Scham und der damit verbundene psychische Schmerz häufig nicht durch eine einfache Verhaltensänderung beseitigen.13 Das gilt insbesondere dann, wenn der Auslöser des Schamgefühls die Zugehörigkeit zu einer sozial stigmatisierten Gruppe ist, der jemand nicht aufgrund eines diskreditierenden Verhaltens zugeordnet wird (z.B. ist die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie angeboren und nicht veränderbar) oder wenn strukturelle Hindernisse und das Fehlen notwendiger Fähigkeiten eine Verhaltensänderung erschweren oder unmöglich machen. Hinzu kommt, dass das öffentliche Eingeständnis von Schuld als läuternder Akt gesellschaftlich positiv bewertet wird,14 während die Äußerung von Scham als Eingeständnis sozialer Unterordnung und eines „Nicht-Genügens“ erneut beschämend ist. In marktwirtschaftlich geprägten westlichen Gesellschaften, in denen individuelle Eigenschaften wie Eigenverantwortung, Durchsetzungsvermögen und Leistung positiv und ihr jeweiliges Gegenteil negativ besetzt sind, wird Scham tabuisiert, von Betroffenen verdrängt oder versteckt und bleibt daher meist unsichtbar.15 Darum sind die psychischen Symptome, die mit Scham einhergehen können, auch sehr einschneidend; sie reichen von „niedriger Selbstachtung“ bis zu „Depression, Ängstlichkeit, Essstörungen und Suizidgedanken“16. 9

Vgl. Tangney u.a., Moral emotions and moral behavior, 364. Vgl. Walker, The Shame of Poverty, 53. 11 Klimke, Der Wandel gesellschaftlicher Konstruktionen von Schuld, 45. 12 Vgl. ebd. 13 Vgl. Tangney u.a., Moral emotions and moral behavior, 369. 14 So werden Geständnis und Reue selbst bei schwersten Verbrechen häufig als positives Signal aufgefasst. 15 Vgl. Scheff, Shame as the Master Emotion, 245. 16 Walker,The Shame of Poverty, 33. 10

Armut, Stigmatisierung, Scham und Angst

197 

Inwieweit wird Armut in unserer heutigen Gesellschaft stigmatisiert bzw. als stigmatisierende „Eigenschaft“ erfahren? Bevor wir die empirischen Befunde in den Blick nehmen, wollen wir zunächst auf entsprechende theoretische Überlegungen zu sprechen kommen. Amartya Sen greift im Blick auf die Frage, ob die Grenze, ab der eine Person als arm zu gelten hat, absolut im Sinne einer statischen materiellen Mindestausstattung oder relativ im Sinne einer variablen materiellen Mindestausstattung im Verhältnis zu einer vom Wohlstandsniveau abhängenden und daher ebenfalls variablen gesellschaftlich „normalen“ materiellen Ausstattung definiert werden sollte, auf Beobachtungen von Adam Smith zurück. Danach gibt es ein materielles Ausstattungsniveau, dessen Unterschreiten beim öffentlichen Auftreten in der Gesellschaft notwendigerweise zu Beschämung führt (in Smiths englischer Gesellschaft des 18. Jahrhunderts war es beschämend, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, ohne Lederschuhe zu tragen).17 Sen unterscheidet bei seinen Überlegungen zwischen einem „Güterraum“ und einem „Fähigkeitsraum“.18 Der Güterraum umfasst jene Grundgüter (z.B. Kleidung, Nahrung, Wohnung), die für das Abwenden materiellen Mangels in einem Mindestmaß vorhanden sein müssen. Diese Mindestausstattung variiere mit dem gesellschaftlichen Wohlstandsniveau und könne daher relativ zur gesellschaftlichen Normalausstattung definiert werden, soweit das Problem des Mangels – wie in hochentwickelten Staaten regelmäßig der Fall – keine Rolle mehr spielt. Der Fähigkeitsraum beschreibt hingegen jene materielle Ausstattung, die Individuen dazu befähigt, Verwirklichungschancen in gleichem Maße wie jedes andere Gesellschaftsmitglied wahrzunehmen. Ohne armutsbedingte Scham – man könnte auch sagen: ohne Gefahr einer armutsbedingten Stigmatisierung – am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, ist Teil des Fähigkeitsraums. Da aber Verwirklichungschancen in gleichem Maße wie von jedem anderen Gesellschaftsmitglied nur dann wahrgenommen werden können, wenn armutsbedingte Scham absolut verhindert wird, kann die dazu befähigende materielle Ausstattung nicht relativ zur gesellschaftlich normalen Ausstattung festgelegt werden. Um das oben genannte Beispiel von Adam Smith aufzugreifen: Im England des 18. Jahrhunderts wäre die armutsbedingte Scham eines Individuums kaum geringer gewesen, wenn es statt dem gesellschaftlich üblichen Paar von Lederschuhen 60 Prozent von zwei Lederschuhen in der Öffentlichkeit getragen hätte. Nach Sen ist die vollständige Vermeidung solcher Beschämung eine gesellschaftliche Basisaufgabe. Anders gewendet lässt sich Sens Argument auch so interpretieren, dass die Würde des Menschen immer absolut zu schützen 17 18

Vgl. Sen, Poor, Relatively Speaking, 159. Vgl. Sen, Poor, Relatively Speaking, 160ff.

198 A. Mayert und G. Schendel    ist – oder unantastbar zu sein hat, wie es in Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes formuliert ist. Selbstverständlich variiert auch die materielle Ausstattung, die Scham absolut verhindert, mit dem gesellschaftlichen Wohlstandsniveau und ist insofern relativ und immer wieder neu zu bestimmen. Sie bleibt jedoch immer in dem Sinne absolut, als sie nicht relativ zum gesellschaftlich üblichen Niveau bestimmt werden kann, sondern dem sich stetig verändernden üblichen Niveau vollständig entsprechen muss. Sich ohne Scham in der Öffentlichkeit zeigen zu können, kann in hochentwickelten Staaten wie Deutschland zudem mehr beinhalten, als eine dazu befähigende materielle Ausstattung zu besitzen. Adam Smith spricht in seinem Lederschuh-Beispiel nicht umsonst von „customs of a country“, also frei übersetzt: gesellschaftlichen Gepflogenheiten, die darüber bestimmen, was notwendig ist, um sich ohne Scham in der Öffentlichkeit zu zeigen. So ist es in Deutschland unbestreitbar eine gesellschaftliche Gepflogenheit, seinen Sozialstatus nicht an der Supermarktkasse zu offenbaren. Dazu gezwungen zu werden, ist jedenfalls dann nicht mit dem Fähigkeitsansatz von Sen vereinbar, wenn (a) die Tatsache, Grundsicherungsleistungsempfänger_in zu sein, mit einem Stigma versehen ist und (b) diese Stigmatisierung von Leistungsempfänger_innen internalisiert wird und zu Scham führt. Ob dies so ist, soll im folgenden Abschnitt geklärt werden. 3 3.1

Empirische Befunde Werden Armutsbetroffene und / oder Grundsicherungsleistungsempfänger_innen in Deutschland stigmatisiert?

Wie in Abschnitt 2 erläutert, verstehen wir unter Stigmatisierung die Zuschreibung diskreditierender Eigenschaften. Im hier vorliegenden Fall kann demnach von Stigmatisierung gesprochen werden, wenn Armutsbetroffenen oder Empfänger_innen von Grundsicherungsleistungen pauschal negative Eigenschaften zugeschrieben werden. Stigmatisierungsprozesse können allerdings, wie das Beispiel der Supermarktkassen zeigt, auch darin bestehen, dass Personen auf eine Weise behandelt werden, die nicht den üblichen gesellschaftlichen Gepflogenheiten entspricht oder die zutiefst demütigend ist. Wir fassen hier beide Fälle als Stigmatisierung auf. Beginnen wir mit der gesellschaftlichen Zuschreibung diskreditierender Eigenschaften. Das Institut für Demoskopie Allensbach hat sich 2012 in einer repräsentativen Befragung mit dem Bild der Bevölke-

Armut, Stigmatisierung, Scham und Angst

199 

rung von Hartz-IV-Empfänger_innen beschäftigt.19 Zwar unterschreitet das Haushaltseinkommen nicht aller Hartz-IV-Empfänger_innen die Armutsgrenze – insbesondere nicht bei Aufstocker_innen –, doch ist der weit überwiegende Teil dieser Gruppe arm. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes unterschritt das Nettoäquivalenzeinkommen von Arbeitslosen im Jahr 2016 in 70,5 % der Fälle die Armutsrisikoschwelle.20 Es lässt sich annehmen, dass es sich hierbei weit überwiegend um Arbeitslose handelt, die dem Rechtskreis ALG II zugeordnet sind, denn Arbeitslose verteilen sich in Deutschland zu ungefähr einem Drittel auf ALG I und zu zwei Dritteln auf ALG-II-Empfänger_innen. In der Allensbach-Studie wurde nach Eigenschaften gefragt, die nach Ansicht der Befragten auf Hartz-IV-Empfänger_innen voll und ganz oder eher zutreffen. 57 % der Befragten sind voll und ganz oder eher der Meinung, dass Hartz-IV-Empfänger_innen bei der Arbeitssuche zu wählerisch sind; 55 % glauben, dass Hartz-IV-Empfänger_innen nicht aktiv nach Arbeit suchen. Eine noch negativere Einschätzung äußert sich darin, dass über ein Drittel (37 %) der Befragten voll und ganz oder eher der Überzeugung ist, dass Hartz-IVEmpfänger_innen nicht arbeiten wollen.21 Interessant ist zudem, dass mehr als ein Fünftel (21 %) der Befragten nicht der Überzeugung ist, Hartz-IV-Empfänger_innen seien unglücklich über ihre Situation. Werden nur die Befragten betrachtet, die weder Hartz-IV-Empfänger_innen im Haushalt noch im näheren Bekanntenkreis haben, fallen die Negativbeurteilungen von Leistungsempfänger_innen noch deutlicher aus. Von diesen Befragten sind 60 % überzeugt, Hartz-IV-Empfänger_innen suchten nicht nach Arbeit, und beinahe die Hälfte der Befragten (45 %) spricht Hartz-IV-Empfänger_innen den Willen zur Arbeitsaufnahme ab.22 Insgesamt sprechen die Ergebnisse dafür, dass ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung und dabei insbesondere Bevölkerungskreise ohne direkten Kontakt zu Leistungsempfänger_innen die Bezieher_innen von Grundsicherungsleistungen mit den Stigmata Passivität und Arbeitsunwillen belegen. Eine von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebene Studie aus dem Jahr 2016 untersucht u.a. abwertende Einstellungen gegenüber Lang19

Vgl. Institut für Demoskopie Allensbach, Das Bild der Bevölkerung von Hartz IVEmpfängern. 20 Vgl. Destatis, Lebensbedingungen, Armutsgefährdung. 21 Vgl. Institut für Demoskopie Allensbach, Das Bild der Bevölkerung von Hartz IVEmpfängern, 2. 22 Vgl. Institut für Demoskopie Allensbach, Das Bild der Bevölkerung von Hartz IVEmpfängern, 4.

200 A. Mayert und G. Schendel    zeitarbeitslosen.23 Da Langzeitarbeitslose so gut wie ausschließlich Empfänger_innen von Grundsicherungsleistungen sind, kann angenommen werden, dass sie weit überwiegend arm sind. Zu berücksichtigen ist dabei allerdings, dass sie als Teilpopulation der Armutsbetroffenen unter Umständen besonders negativ bewertet werden. Die Ergebnisse der Studie sprechen allerdings nicht unbedingt für diese Annahme, denn die Abwertung Langzeitarbeitsloser entspricht ungefähr den Ergebnissen der Allensbach-Studie für Hartz-IV-Empfänger_innen. Der Aussage, dass „die meisten Langzeitarbeitslosen kein wirkliches Interesse daran haben, einen Job zu finden“, stimmen 48,8 % der Befragten voll und ganz oder eher zu. Der Aussage „Ich finde es empörend, wenn sich Langzeitarbeitslose auf Kosten der Gesellschaft ein leichtes Leben machen“ stimmen sogar 60,6 % der Befragten voll und ganz oder eher zu.24 Die Abwertung Langzeitarbeitsloser ist dabei im Zeitverlauf sehr stabil, 2007 lag sie bei 49,3 %. Nur die Abwertung von Asylsuchenden ist mit 49,5 % 2016 höher – und vermutlich auch nur aufgrund des besonders ausgeprägten Zustroms von Geflüchteten in den Jahren 2015 und 2016.25 In den Vorjahren überwog durchgehend die Abwertung Langzeitarbeitsloser. Insgesamt zeigt sich ein erschreckendes Bild. Die Stigmatisierung Langzeitarbeitsloser übertrifft im Regelfall die Stigmatisierung jeder anderen vulnerablen Gruppe – ein Ergebnis, das sich mit Diskriminierungserfahrungen von Personen mit einem niedrigen sozialen Status deckt, wie weiter unten gezeigt werden wird. Weitere Hinweise auf eine nicht unerhebliche Stigmatisierung von Armutsbetroffenen liefert ein im Rahmen der Erstellung des 5. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung durchgeführtes Forschungsprojekt zur Wahrnehmung von Armut und Reichtum in Deutschland.26 Nach der Eigenverantwortung von Armutsbetroffenen befragt, stimmen 38 % der Befragungsteilnehmer_innen der Aussage zu, dass Sozialleistungen zu leichtfertig vergeben werden, ohne genug Anstrengung der Armutsbetroffenen zu verlangen. Jüngere Befragte stimmen dieser Aussage sogar zu 43 % zu. Nach den häufigsten Gründen für Armut befragt, nennen 66,8 % einen falschen Umgang mit Geld – das ist auch insgesamt der am meisten genannte Grund. 25,1 % sind der Meinung, dass mangelnde Anstrengung und keine Lust, hart zu arbeiten, häufige Gründe für Armut sind, weitere

23

Vgl. Zick u.a., Gespaltene Mitte. Vgl. Zick u.a., Gespaltene Mitte, 46f. 25 Vgl. Zick u.a., Gespaltene Mitte, 50f. 26 Vgl. BMAS, Wahrnehmung von Armut und Reichtum. 24

Armut, Stigmatisierung, Scham und Angst

201 

41,1 % sehen hier manchmal Gründe für Armut.27 Unterteilt man die verschiedenen Gründe für Armut in die vier Bereiche fehlende Integration, systembedingte Gründe, eigenes Verschulden, und Belastungen (z.B. chronische Krankheit oder Behinderung) und misst die Zustimmung zur Aussage, die jeweiligen Bereiche seien ein Grund für Armut, auf einer Skala von 1 (Kein Grund) bis 3 (Sehr häufiger Grund), so erhalten alle vier Bereiche ungefähr den gleichen Mittelwert an Zustimmung. Er liegt zwischen 2,1 (Eigenes Verschulden) und 2,3 (Fehlende Integration).28 Direkt nach dem sozialen Status von Armutsbetroffenen befragt, geben 49,7 % der Befragten an, er sei niedrig.29 Auch diese Studie gibt somit deutliche Hinweise auf eine Stigmatisierung Armutsbetroffener. Zuletzt sei noch die Stigmatisierung von Armutsbetroffenen betrachtet, die dadurch verursacht wird, dass diese auf eine Weise behandelt werden, die nicht den üblichen gesellschaftlichen Gepflogenheiten entspricht oder die zutiefst demütigend ist. Wie weiter unten geklärt werden wird, liefern die Diskriminierungs- und Stigmatisierungserfahrungen von Armutsbetroffenen und / oder Grundsicherungsempfänger_innen Hinweise darauf, dass solche Prozesse in verschiedenen Lebensbereichen wahrgenommen werden. Sie lassen sich jedoch aus offensichtlichen Gründen nicht aus Befragungen derjenigen, die potentiell stigmatisierend oder diskriminierend handeln, objektiv ableiten. Es lässt sich allerdings für den Bereich der behördlichen Armutsverwaltung argumentieren, dass die mit dem Grundsicherungsbezug zusammenhängenden Anforderungen an Leistungsbezieher_innen regelmäßig mit Stigmatisierungsprozessen einhergehen, wenn diese einer Behandlung ausgesetzt sind, die gesellschaftlich ansonsten nicht üblich ist. Dass dies in einem bedarfsprüfenden Grundsicherungssystem zwangsläufig der Fall ist, hat Amartya Sen in einer Diskussion der Vor- und Nachteile zielgerichteter Systeme der Armutsbekämpfung treffend beschrieben: „Jedes zielorientierte System – außer Systeme mit Selbstselektion – beinhaltet diskriminierende Elemente, da einige Personen (normalerweise staatliche Angestellte) über die Anträge der potentiellen Transferempfänger entscheiden. […] Nicht weniger bedeutend sind die Verluste individueller Privatsphäre und Autonomie, die durch die Notwendigkeit der extensiven Auskunftspflicht bedingt sind. Je präziser die Auswahl zu sein scheint, desto eindringlicher und gewaltsamer sind die Prüfer normalerweise. […] Das Problem ist dabei nicht nur die Notwendigkeit der Offenlegung privater Umstän27

Vgl. BMAS, Wahrnehmung von Armut und Reichtum, 39. Vgl. BMAS, Wahrnehmung von Armut und Reichtum, 41. 29 Vgl. BMAS, Wahrnehmung von Armut und Reichtum, 31. 28

202  

A. Mayert und G. Schendel 

de und der damit einhergehende Verlust von Privatsphäre, sondern ebenso sind die sozialen Kosten der angewandten Prüfverfahren sowie der operativen Politik zu nennen. Einige dieser Verfahren können zum Teil sehr anmaßend und ausfallend sein, da die Bewerber oft als potentielle Kriminelle behandelt werden. Weiterhin entstehen soziale Kosten aufgrund asymmetrischer Macht. Angestellte der öffentlichen Verwaltung können enorme Autorität über die Antragsteller ausüben.“30

Im deutschen Grundsicherungssystem, das dem Work-First-Ansatz folgt, kommen zu den von Sen genannten Aspekten noch weitere potentiell diskriminierende Elemente hinzu. So gehen die sogenannten Zielvereinbarungen, die eigentlich nicht verhandelbare Verpflichtungserklärungen der Grundsicherungsempfänger_innen sind, implizit davon aus, dass Leistungsempfänger_innen ohne ausgeübten Druck daran gelegen ist, ihnen vorgeschriebene Maßnahmen abzubrechen, vermittelte Beschäftigungsverhältnisse aus niedrigen Beweggründen oder durch Fehlverhalten vorzeitig zu beenden oder sich nicht um Stellen zu bemühen. Die Möglichkeit, Leistungsempfänger_innen bei einem Bruch der Zielvereinbarung zu sanktionieren, erhöht nicht nur den ausgeübten Druck, sondern droht Grundsicherungsempfänger_innen an, ihnen durch die Kürzung existenznotwendiger Leistungen ein Leben ohne Scham – das auf dem Niveau der Regelbedarfssätze ohnehin kaum zu verwirklichen ist – gänzlich zu verunmöglichen. Und auch andere Grundsicherungsleistungen reproduzieren in ihrer Ausgestaltung die oben beschriebenen stigmatisierenden Einstellungen eines Teils der Bevölkerung gegenüber Leistungsempfänger_innen. Dass beispielsweise ein erheblicher Teil der Leistungen zur Bildung und Teilhabe nur als Sachleistung gewährt wird, ist mit der Vorstellung verbunden, dass bedürftige Eltern die für ihre Kinder bestimmten Leistungen ansonsten für den eigenen Konsum zweckentfremden. Man könnte noch viele weitere Beispiele anführen, doch kommen wir nun zur Frage, wie Armutsbetroffene und Grundsicherungsbezieher_innen selbst ihre Situation wahrnehmen. 3.2

Fühlen sich Armutsbetroffene und / oder Grundsicherungsempfänger_innen in Deutschland stigmatisiert? Führt diese Stigmatisierung zu Scham?

Ob sich Armutsbetroffene und Grundsicherungsempfänger_innen stigmatisiert fühlen, lässt sich aus Befragungsdaten ableiten, während Scham nur indirekt in Form internalisierter Stigmata aus solchen Daten ableitbar ist. Bezüglich dieser Frage ist man daher auch auf quali30

Sen, Ausgrenzung und politische Ökonomie, 236f.

Armut, Stigmatisierung, Scham und Angst

203 

tative Studien angewiesen. Beginnen wir mit dem zuerst genannten Punkt. Die deutlichsten Hinweise darauf, dass Personen in schwierigen sozioökonomischenVerhältnissen Stigmatisierung und Diskriminierung sehr bewusst sind, liefert eine 2017 erschienene Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes.31 Diese berücksichtigt neben den im Allgemeinen Gleichstellungsgesetz genannten Diskriminierungsformen (z.B. Diskriminierung aufgrund von Herkunft, Religion oder Behinderung) auch Diskriminierung aufgrund der individuellen sozio-ökonomischen Lage. In einer Repräsentativbefragung konnten Befragte angeben, ob sie in den letzten 24 Monaten diskriminierendes Verhalten ihnen gegenüber erlebt haben, welches persönliche „Merkmal“ Grund der Diskriminierung war und in welcher Arena sie stattgefunden hat. 7,1 % der Befragten gaben an, aufgrund eines geringen Einkommens diskriminiert worden zu sein.32 Das ist zunächst im Vergleich zu anderen diskriminierenden Merkmalen kein auffällig hoher Wert – so gaben z.B. 8,4 % der Befragten an, aus rassistischen Gründen diskriminiert worden zu sein. Betrachtet man hingegen nur Befragte, die auch tatsächlich ein geringes Einkommen beziehen, geben 20,3 % dieser Gruppe an, aus diesem Grund diskriminiert worden zu sein.33 In der Studie wurde ein geringes Einkommen dann angenommen, wenn das Haushaltseinkommen unter 1.500 Euro im Monat liegt. Je nach Haushaltskonstellation wurden somit Armutsbetroffene und Nicht-Armutsbetroffene zusammengefasst. Das wirft die Frage auf, ob die Anzahl der Diskriminierungserfahrungen höher gelegen hätte, wenn nur tatsächlich Armutsbetroffene befragt worden wären. Dass das Diskriminierungsrisiko in diesem Fall noch deutlich höher sein könnte, kann (bei aller Vorsicht) daraus geschlossen werden, dass das Diskriminierungsrisiko offensichtlich sprunghaft ansteigt, wenn das Haushaltseinkommen gering ist. So geben z.B. nur 6 % der Befragten mit einem Haushaltseinkommen zwischen 1.500 und 3.000 Euro an, aufgrund eines geringen Einkommens diskriminiert worden zu sein.34 Hauptsächliche Arenen der Diskriminierung sind bei Personen mit geringem Einkommen Behörden (22 %), gefolgt vom Bildungssystem (19 %) und dem Bereich Arbeit (17 %), wobei letztere Arena auch den Zugang zu Arbeit einschließt. Personen, die aufgrund ihres Erwerbsstatus diskriminiert werden, nennen als Arenen zu 39 %

31

Vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Diskriminierungserfahrungen. Vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Diskriminierungserfahrungen, 96. 33 Vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Diskriminierungserfahrungen, 104. 34 Vgl. ebd. 32

204 A. Mayert und G. Schendel    Arbeit und zu 27 % Behörden.35 Nach den Verursachern der Diskriminierung in Form sozialer Herabwürdigung in Behörden befragt, nennen 85,7 % das Personal des öffentlichen Dienstes.36 Als Fazit halten die Autoren der Studie fest: „In der vorliegenden Untersuchung wurden auch Diskriminierungserfahrungen anhand nicht im AGG geschützter Merkmale erfragt. Von besonderer Relevanz waren dabei erlebte Benachteiligungen anhand der sozioökonomischen Lage, d.h. anhand eines zu niedrigen Einkommens oder eines zu geringen Bildungsstands. In der Repräsentativbefragung war die sozioökonomische Lage sogar das am zweithäufigsten genannte Merkmal.“37 Wie stark Armutsbetroffene ihren niedrigen sozialen Status verinnerlicht bzw. internalisiert haben, geht auch aus dem oben bereits besprochenen Forschungsprojekt zur Wahrnehmung von Armut und Reichtum in Deutschland hervor. Während 49,7 % aller Befragten meinen, dass Armutsbetroffene einen geringen sozialen Status besitzen, sind 57,2 % der Armutsbetroffenen dieser Überzeugung.38 Interessant sind zudem Ergebnisse einer Studie des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung zur sozialen Mobilität und zu Armutsdynamiken in Deutschland.39 Sie zeigen, wie stark gerade Armutsbetroffene verinnerlicht haben, dass Deutschland eine Leistungsgesellschaft ist, und wie stark sie zudem selbst der Überzeugung sind, dass Armut weniger durch strukturelle Ursachen und Bildungsungerechtigkeit, sondern eher durch fehlende eigene Anstrengungen oder Fähigkeiten verursacht wird – mithin auf sie selbst zurückzuführen ist. Nach der Zustimmung zu verschiedenen Gerechtigkeitsprinzipien befragt (Solidaritätsprinzip, Leistungsprinzip u.s.w.), ist die Zustimmung zum Leistungsprinzip unter Armutsbetroffenen höher als unter Nicht-Armutsbetroffenen.40 Auch der Aussage, dass „gesellschaftliche Rangunterschiede widerspiegeln, was aus Chancen gemacht wurde“, stimmen Armutsbetroffene in einem größeren Ausmaß als NichtArmutsbetroffene zu.41 Nach Faktoren für den sozialen Aufstieg befragt, sind Armutsbetroffene zu einem größeren Anteil als Nicht-Armutsbetroffene der Überzeugung, dass Fleiß und Leistung einen sozialen Aufstieg begünstigen. Der Aussage, „dass das, was man erreicht, nicht mehr vom Elternhaus abhängt, sondern von den eigenen 35

Vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Diskriminierungserfahrungen, 139. Vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Diskriminierungserfahrungen, 257. 37 Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Diskriminierungserfahrungen, 295. 38 Vgl. BMAS, Wahrnehmung von Armut, 31. 39 Vgl. Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung, Aktuelle Entwicklungen. 40 Vgl. Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung, Aktuelle Entwicklungen, 215. 41 Vgl. Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung, Aktuelle Entwicklungen, 217. 36

Armut, Stigmatisierung, Scham und Angst

205 

Fähigkeiten und Leistungen im Bildungssystem“, stimmen insgesamt 70,6 % der Befragten zu – unter Armutsbetroffenen beträgt die Zustimmung 72 %.42 Auch wenn die Motive für diese hohen Zustimmungsraten nicht erfragt wurden und Interpretationen daher nur vorsichtig vorgenommen werden sollten, liefern die Ergebnisse doch Indizien dafür, dass Armutsbetroffene zu einem nicht geringen Teil verschiedene Armutsstigmata (z.B. „zu wenig Fleiß“, „Chancen wurden nicht wahrgenommen“) internalisiert haben, was im Ergebnis zu einem Verlust an Selbstachtung und Scham führen kann. Zuletzt sei noch auf qualitative Ergebnisse verwiesen, die starke Hinweise darauf liefern, dass Armut in vielen Fällen zu Scham führt. So wurde im Rahmen des 5. Armuts- und Reichtumsberichts ein Workshop mit Armutsbetroffenen durchgeführt, die zu verschiedenen Facetten ihrer Situation befragt wurden.43 Aus der Zusammenfassung der Ergebnisse des Workshops seien nur einige prägnante Stellen herausgegriffen. Bezüglich der Leitfrage „Was bedeutet Armut für Sie?“ wird zusammenfassend festgestellt: „Die gesellschaftliche Stellung von Armutsbetroffenen wurde mit folgenden Schlagworten verbunden: Ausgrenzung, Stigmatisierung, Diskriminierung und Denunzierung. Diese Prozesse gehen einher mit Entmündigung und einer Missachtung der Grundrechte. […] Betroffene von Armut haben Angst davor, nicht am sozialen Leben teilnehmen zu können oder auch die Familie zu verlieren. Die Ungewissheit darüber, wo das zum Leben notwendige Geld herkommt, und die Folgen von Arbeitslosigkeit können im Extremfall bis zum Suizid führen.“44 Werden Armutsbetroffene direkt nach Stigmatisierung befragt, lautet die Zusammenfassung der Antworten: „Es geht nicht primär um die Ausgrenzung durch Ämter, sondern um die Ausgrenzung, die einem im sozialen Umfeld wiederfährt, z.B. wenn man an Abendveranstaltungen oder Geburtstagen aus Geldmangel nicht teilnehmen kann und dann mit der Zeit nicht mehr eingeladen wird. Wer berufstätig ist und aufstocken muss, versucht dies vor dem sozialen Umfeld insbesondere im ländlichen Raum zu verbergen, um eine Stigmatisierung zu vermeiden.“45 Armutsbetroffene äußern zudem Kritik an stigmatisierendem Sprachgebrauch: „Wörter wie ,sozial schwachʻ und ,bildungsfernʻ sind negativ belegt und führen zum sozialen Ausschluss derer, die damit betitelt werden.“46 42

Vgl. Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung, Aktuelle Entwicklungen, 234. Vgl. BMAS, Dokumentation des Workshops. 44 BMAS, Dokumentation des Workshops, 2f. 45 BMAS, Dokumentation des Workshops, 5. 46 BMAS, Dokumentation des Workshops, 11. 43

206 A. Mayert und G. Schendel    Fasst man die unter (3.1) und (3.2) aufgeführten Ergebnisse zusammen, dann lässt sich feststellen, dass Armut und der Bezug von Grundsicherung in Deutschland in nennenswertem Ausmaß stigmatisiert werden, dass diese Stigmatisierung von Armutsbetroffenen wahrgenommen und auch internalisiert wird und dass diese Internalisierung häufig zu Scham führt. Kommen wir somit zum letzten Punkt: Welche gesundheitlichen Auswirkungen hat der psychische Schmerz, der mit Stigmatisierung und Scham einhergeht? 3.3

Welche negativen gesundheitlichen Auswirkungen können mit armutsbedingter Stigmatisierung und Scham einhergehen?

Dass individuelle Merkmale wie „Armutsbetroffenheit“, „Arbeitslosigkeit“ oder „Grundsicherungsbezug“ starke Prädiktoren für eine im Vergleich zur restlichen Bevölkerung deutlich schlechtere Gesundheit sowie einer geringeren Lebenserwartung sind, ist hinlänglich bekannt. Aktuelle Evidenz liefert z.B. der 5. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, der zudem zeigt, dass gesundheitliche Unterschiede in allen Lebensaltern zu beobachten sind.47 Schon bei 3bis 17-Jährigen lassen sich bedeutende Unterschiede im Bereich psychischer Auffälligkeiten beobachten. Kinder aus der untersten sozialen Statusgruppe werden zu 33,5 % der Risikogruppe für psychische Auffälligkeiten zugeordnet, im Bevölkerungsdurchschnitt beträgt der entsprechende Wert 20 %.48 Auch bei 18- bis 34-Jährigen lassen sich vor allem im psychischen Bereich starke Unterschiede nach dem sozialen Status beobachten: „Bei jungen Männern mit niedrigem Sozialstatus konnte zu 14,4 % eine depressive Symptomatik festgestellt werden, bei jungen Männern aus der mittleren und hohen Statusgruppe zu 6,2 % und 6,7 %. Bei Frauen betrugen die Vergleichswerte 15,0 %, 11,5 % und 6,4 %.“49 Bei 35- bis 64-Jährigen hält der Armuts- und Reichtumsbericht fest, dass 40 % der arbeitslosen Bezieher_innen von SGB-II-Leistungen schwerwiegende gesundheitliche Einschränkungen aufweisen. Das Risiko, an einer psychischen Erkrankung zu leiden, v.a. an Depressionen und Angststörungen, ist bei Langzeitarbeitslosen doppelt so hoch wie bei Erwerbstätigen.50 Diese Unterschiede sind für sich allein allerdings noch nicht so zu deuten, dass Armut und Arbeitslosigkeit die Gründe für die Unterschiede sind.

47

Vgl. BMAS, Lebenslagen in Deutschland. Vgl. BMAS, Lebenslagen in Deutschland, 275. 49 BMAS, Lebenslagen in Deutschland, 368. 50 Vgl. BMAS, Lebenslagen in Deutschland, 412. 48

Armut, Stigmatisierung, Scham und Angst

207 

Eine 2016 erschienene Studie des Robert Koch-Instituts befasst sich explizit mit der Frage, wie sich Arbeitslosigkeit und die damit mittlerweile weit überwiegend einhergehende Armut auf die Gesundheit auswirken.51 Dass es die oben beschriebenen Unterschiede im Gesundheitszustand gibt, führen die Autoren der Studie auf drei denkbare Ursachen zurück: Nach der Kausationsthese kann der mit Arbeitslosigkeit verbundene psychosoziale Stress das Auftreten von Krankheiten begünstigen. Das gilt insbesondere für psychische Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen. Nach der Selektionsthese ist das Arbeitslosigkeitsrisiko für Personen höher, die an chronischen Erkrankungen leiden, sodass zu erwarten ist, dass Arbeitslose im Durchschnitt eine schlechtere Gesundheit aufweisen als Erwerbstätige. Als dritte Ursache kommen sogenannte Kompositionseffekte in Frage. Damit ist gemeint, dass das Arbeitslosigkeitsrisiko sozial ungleich verteilt ist und Personen mit einem geringeren sozialen Status bereits bei Eintritt in die Arbeitslosigkeit über eine geringere Ausstattung an psychosozialen Ressourcen verfügen – mit anderen Worten: Sie waren auch zuvor bereits trotz Beschäftigung sozial stark benachteiligt.52 Im Ergebnis stellen die Autoren der Studie fest, „dass insbesondere hinsichtlich der psychischen Gesundheit ursächliche Zusammenhänge mit Arbeitslosigkeitserfahrungen bestehen.“53 Bei der Frage, was genau ursächlich für den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und psychischer Gesundheit ist, wird auf das Modell der latenten Funktion von Jahoda54 verwiesen. Dieses geht davon aus, dass Arbeitslosigkeit den „Verlust von Status und Identität, von Zeitstruktur, der Zweckbestimmung über eine Beteiligung an kollektiven Zielen, sozialer Kontakte, der Möglichkeit regelmäßiger Betätigung sowie der Kontrolle der eigenen Lebensumstände“ verursacht.55 Unter Verweis auf eine Vielzahl internationaler Studien kommen sie zu der Schlussfolgerung, dass die Selektionsthese nur geeignet ist, die im Durchschnitt schlechtere körperliche Gesundheit von Arbeitslosen zu erklären, während die schlechtere psychische Gesundheit entsprechend der Kausationsthese vor allem auf die psychosoziale Belastung zurückzuführen ist.56 Sie gehen zwar nicht direkt auf die Rolle von Scham ein, aber der Verlust von Status und Identität sowie über die Kontrolle von Lebensumständen ist letztlich ein Auslöser und der Verlust sozialer Kontakte eine Folge von Scham. 51

Vgl. Kroll u.a., Arbeitslosigkeit und ihre Auswirkungen. Vgl. Kroll u.a., Arbeitslosigkeit und ihre Auswirkungen, 228. 53 Kroll u.a., Arbeitslosigkeit und ihre Auswirkungen, 234. 54 Vgl. Jahoda, Wieviel Arbeit braucht ein Mensch? 55 Vgl. Kroll u.a., Arbeitslosigkeit und ihre Auswirkungen, 235. 56 Vgl. ebd. 52

208 A. Mayert und G. Schendel    Es sei noch auf eine weitere Studie des Robert Koch-Instituts aus dem Jahr 2012 verwiesen, die neben Arbeitslosen auch prekär Beschäftigte in den Blick nimmt.57 Sie kommt zu dem Ergebnis, dass das psychische Wohlbefinden bei langzeitarbeitslosen Männern deutlich schlechter ist als bei kurzzeitig Arbeitslosen, prekär Beschäftigten und Normalbeschäftigten. Das psychische Wohlbefinden von prekär beschäftigten Männern ist hingegen nur unwesentlich geringer als bei kurzzeitig Arbeitslosen, während sich für beide Gruppen ein deutlich schlechteres psychisches Wohlbefinden als bei Normalbeschäftigten feststellen lässt. Für Frauen gilt dieser Zusammenhang nicht in gleicher Weise, d.h., ihr psychisches Wohlbefinden ist auch bei prekärer Beschäftigung deutlich höher als bei kurzzeitiger Arbeitslosigkeit, wenn auch deutlich geringer als bei Normalbeschäftigung.58 Dieses Ergebnis ist aus zwei Gründen relevant: Erstens macht es deutlich, dass der mit Arbeitslosigkeit oder prekärer Beschäftigung verbundene psychosoziale Stress für Männer größer als für Frauen ist, vermutlich weil in Deutschland Partnerkonstellationen mit dem Mann als Haupternährer immer noch dominant sind und ein Statusverlust daher von Männern auch dann erlebt wird, wenn das erzielte Einkommen trotz Beschäftigung nicht armutsvermeidend ist. Zweitens liefert es Evidenz dafür, dass die Aufnahme einer Beschäftigung nur dann mit einer deutlichen Verbesserung des psychischen Wohlbefindens verbunden ist, wenn es sich um gute Beschäftigung handelt bzw. der Ausbruch aus einer beschämenden sozialen Lage tatsächlich gelingt. Der deutsche Work-First-Ansatz, der häufig nur in prekäre Beschäftigung vermittelt, ist insofern kritisch zu sehen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Arbeitslosigkeit und die damit zumeist verbundene Armut mit hoher Wahrscheinlichkeit kausal für eine deutlich schlechtere psychische Gesundheit und hierbei insbesondere für das Auftreten von Depressionen und Angsterkrankungen ist. Dieses Ergebnis steht im Einklang mit den in Abschnitt 2 diskutierten theoretischen Ansätzen, nach denen Stigmatisierung und Scham Auslöser schwerwiegender psychischer Beeinträchtigungen sein können. Armut, Stigmatisierung, Scham und Angst sind, da sich das Ausmaß psychosozialer Ressourcen bzw. die Resilienz von Betroffenen stark unterscheiden kann, nicht in jedem Fall, aber vermutlich in einer nennenswerten Zahl von Fällen interdependent. Grundsicherungssysteme, die stigmatisierend sind oder Scham verstärken, sind daher potentiell kontraproduktiv, insoweit sie das Risiko des Entstehens psychischer Erkrankungen erhöhen und die Beschäfti57 58

Vgl. Robert Koch-Institut Berlin, Arbeitslosigkeit. Vgl. Robert Koch-Institut Berlin, Arbeitslosigkeit, 5.

Armut, Stigmatisierung, Scham und Angst

209 

gungsfähigkeit der Betroffenen verringern können. Hinzu kommt ein moralischer Aspekt: Was ist von einem Sozialsystem zu halten, das Menschen krank macht? Sollte ein reiches Land nicht zu Besserem in der Lage sein, zu einem System, das – in Anschluss an Amartya Sen – armutsbedingte Scham verhindert, statt sie zu verstärken? Und wie könnte ein solches System aussehen? 4

Wie lässt sich der Zusammenhang von Armut und Scham durchbrechen? Perspektiven für sozialstaatliches und kirchliches Handeln

Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt: Zwischen Armut und Scham gibt es deutliche Zusammenhänge. Was kann getan werden, um diesen Zusammenhang aufzusprengen? Zwei Möglichkeiten werden aktuell diskutiert: zum einen ein institutionsorientierter Ansatz bei der Gestaltung der sozialstaatlichen Unterstützungssysteme, zum anderen ein subjektorientierter Ansatz, der auf die Bestärkung der von Armut Betroffenen zielt. In der Auswertung einer internationalen Studie kommen Erika Gubrium und Sony Pellisery zu dem Schluss, dass es bei der Gestaltung der sozialstaatlichen Unterstützungssysteme auf ein möglichst gutes Verhältnis zwischen der Orientierung am rechtlichen Rahmen, der Nutzung von Ermessensspielräumen und der Ermöglichung von Aushandlungsprozessen ankommt.59 Die Orientierung am rechtlichen Rahmen kann einer reinen Institutionslogik folgen und die Bedürftigkeitsprüfung in den Vordergrund schieben – solche Prüfungen können mehr oder weniger „invasiv und restriktiv“ sein60 und beinhalten damit ein erhebliches Beschämungspotential. Die Orientierung am rechtlichen Rahmen kann aber auch so geschehen, dass die Rechte der von Armut Betroffenen im Vordergrund stehen und entsprechende Spielräume genutzt werden. Dann geht es nicht mehr um eine rein bürokratische Vergabe von Leistungen, sondern eher um Aushandlungsprozesse, bei denen die von Armut Betroffenen selbst als Expert_innen ihrer Situation wichtig sind. Empirische Ergebnisse sprechen dafür, dass eine solche an den Leistungsberechtigten orientierte Sicht ihr Selbstwertgefühl, ihre soziale Inklusion und damit auch ihre Selbstwahrnehmung als Bürger_innen fördert.

59 60

Vgl. Gubrium/Pellisery, Antipoverty Measures. Vgl. Gubrium/Pellisery, Antipoverty Measures, 8.

210 A. Mayert und G. Schendel    Der Hinweis auf die Bedeutung von Ermessensspielräumen und von Aushandlungsprozessen soll nach Gubrium und Pellisery allerdings nicht bedeuten, dass der Willkür der Mitarbeitenden in den sozialen Systemen Tür und Tor geöffnet werden soll; darum und zur Einschränkung des Machtgefälles zwischen Leistungsgewährenden und Leistungsempfänger_innen ist eine Orientierung am rechtlichen Rahmen und die Etablierung einer Rechenschaftspflicht unabdingbar. Gubrium und Pellisery plädieren für das Konzept einer „Social Citizenship“, das nicht nur den Rechtsanspruch auf materielle Unterstützung impliziert, sondern auch den Anspruch auf eine an der Menschenwürde orientierte Behandlung im bürokratischen Umgang.61 Während Gubrium und Pellisery sich auf den Sozialstaat und die „Kultur“ in seinen Strukturen und Prozessen konzentrieren, setzen andere Autoren beim von Armut betroffenen Individuum an. In einer verhaltenswissenschaftlichen Studie weisen Crystal C. Hall, Jiaying Zhao und Eldar Shafir nach, dass die Förderung des individuellen Selbstwertgefühls und Stolzes (im Experiment stimuliert durch die Aufforderung zur Erzählung von Selbstwirksamkeitserfahrungen) bei Armutsbetroffenen in mehrfacher Hinsicht positive Wirkung zeigt: Es stärkt die kognitive Leistung genauso wie die Bereitschaft, Sozialprogramme in Anspruch zu nehmen.62 So bemerkenswert diese Ergebnisse sind, so deutlich ist doch auch, dass dieser Ansatz nur ein Teil der Lösung sein kann. Das individuelle Empowerment kann ein sinnvolles Element beim Weg aus bestimmten Armutssituationen sein, gerade dann, wenn es zur Bereitschaft führt, bestimmte Angebote des Sozialstaats in Anspruch zu nehmen. Die von Hall, Zhao und Shafir formulierte Hoffnung auf die Wirkung „simpler Interventionen“ beim individuellen Empowerment muss jedoch auch relativiert werden: Erstens wäre noch zu überprüfen, inwieweit die Förderung des individuellen Selbstwertgefühls und des Stolzes etwas an der sozialen Emotion der mit der Armut verbundenen Scham ändert. Zweitens kann die Fokussierung auf die individuelle emotionale und mentale Optimierung auch zur erneuten Beschämung bzw. zu Schuldgefühlen führen, nämlich dann, wenn wirkungsvolle Schritte aus der Armut nicht gelingen, z.B. bei der Integration in den ersten Arbeitsmarkt. Gubrium und Pellisery verweisen hier auf die „Wirklichkeit eines schwierigen Arbeitsmarktes“,63 der sich vom Individuum nicht beeinflussen lässt. Insofern kann der 61

Vgl. Gubrium/Pellisery, Antipoverty Measures, 12. Vgl. Hall u.a., Self-Affirmation among the Poor. 63 Gubrium/Pellisery, 11. 62

Armut, Stigmatisierung, Scham und Angst

211 

Ansatz beim individuellen Empowerment nur ein Teil einer Strategie gegen Armut und Scham sein. Der umfassende Ansatz bei der bedingungslos zugesprochenen Menschenwürde und die konkrete, mit bestimmten Rechten unterlegte Implementierung der Social Citizenship zeigen hier noch einmal ihre Bedeutung. Hier eröffnen sich Perspektiven eines Sozialstaats, der nicht nur in seinen Leistungen, sondern auch in seinen Prozessen armutsbedingte Beschämung vermeidet. Und welche Perspektiven ergeben sich für das kirchliche Handeln? Die Evangelische Kirche in Deutschland hat 2006 in ihrer Denkschrift „Gerechte Teilhabe“ auf die Bedeutung der Diakonie, aber auch der Kirchengemeinden bei der Armutsbekämpfung hingewiesen. „Im Unterschied zum gesetzlich geregelten sozialstaatlichen Handeln“ liege die besondere Chance der Kirche in einer „Kultur der Barmherzigkeit“, die den Sozialstaat nicht ersetzen kann und will, sich aber mit einer „ganzheitlichen Hilfestellung auf die emotionalen und seelischen Aspekte der menschlichen Existenz richtet“.64 Damit eine solche „Barmherzigkeit“ mehr ist als ein mittelschichtorientierter Paternalismus, ist es erforderlich, dass kirchliche Akteure „sich auch für andere Lebensstilelemente öffnen und gemeinsam mit den von Armut betroffenen Menschen versuchen, eine Kultur im Hinblick auf die Erfahrung von Selbstverantwortung aufzubauen“.65 Die Uckermark-Studie aus dem Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD hat noch einmal eindringlich gezeigt, dass es vielen der hier befragten Armutsbetroffenen keineswegs an einem „Sinn für Eigenverantwortung“ fehlt, sondern dass sie im Gegenteil „starke Sichtweisen für Gemeinsinn und Gemeinwohl“ haben. Damit diese wirksam werden können, braucht es allerdings „Mittel, Verbündete oder tragfähige handlungsleitende Orientierungen“.66 Hier können neben der Diakonie auch Kirchengemeinden wichtige Akteure sein, jedenfalls dann, wenn sie Armut sensibel wahrnehmen, wenn sie vernetzt agieren und wenn sie auch Armutsbetroffenen Räume für Engagement bieten. Dann „bietet der kirchlich-diakonische Raum ihnen zumindest anteilig die Möglichkeit, Vorstellungen eines guten Lebens und Zusammenlebens zu verfolgen und ihre Gemeinwohlideale und -verpflichtungen einzubringen.“67 Wenn Diakonie und Kirche solche Räume bieten, leisten sie nicht nur ein Beitrag dazu, dass von Armut Betroffene beschämungsfreie Erfahrungsräume der Selbstwirksamkeit erleben und gestalten. Sondern sie können auch einen Beitrag zu einem veränderten 64

Rat der EKD, Gerechte Teilhabe, 76. Rat der EKD, Gerechte Teilhabe, 77. 66 Jenichen, Sensibel für Armut, 167. 67 Jenichen, Sensibel für Armut,17. 65

212 A. Mayert und G. Schendel    gesellschaftlichen Klima leisten, das eine bestimmte materielle Ausstattung nicht mehr selbstverständlich mit Stigmatisierung, Beschämung und mangelnder Teilhabe verbindet. Literatur Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hg.), Diskriminierungserfahrungen in Deutschland. Dritter Gemeinsamer Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und der in ihrem Zuständigkeitsbereich betroffenen Beauftragten der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages, Berlin 2017. o.A., Arbeitsagentur: Hartz IV an der Supermarkt-Kasse – Test ab Mitte 2018, Hamburger Abendblatt, 28.01.2018, online: https:// www.abendblatt.de/politik/article213244737/Test-von-Hartz-IVAuszahlung-in-Supermaerkten-ab-Mitte-2018 (Zugriff am 13.2.2018). Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (Hg.), Wahrnehmung von Armut und Reichtum in Deutschland – Ergebnisse der repräsentativen Bevölkerungsbefragung, Berlin 2015. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (Hg.), Dokumentation des Workshops mit von Armut Betroffenen im Rahmen des Fünften Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung, Berlin 2015. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), Lebenslagen in Deutschland – Der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin 2017. Destatis, Lebensbedingungen, Armutsgefährdung, online: https:// www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Einkommen KonsumLebensbedingungen/LebensbedingungenArmutsgefaehrdu ng/LebensbedingungenArmutsgefaehrdung.html (Zugriff: 14.02.2018). Goffman, Erving, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt am Main 1967. Gubrium, Erika / Pellisery, Sony, Antipoverty Measures. The Potential for Shaming and Dignity Building through Delivery Interactions, The International Journal of Social Quality 6/2 (2016), 1−17. Hall, Crystal C. / Zhao, Jiaying / Shafir, Eldar, Self-Affirmation among the Poor. Cognitive and Behavioral Implications, Association for Psychological Science 25/2 (2014), 619−625. Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung (Hg.), Aktuelle Entwicklungen der sozialen Mobilität und der Dynamik von Armutsrisiken in Deutschland, Tübingen 2015.

Armut, Stigmatisierung, Scham und Angst

213 

Institut für Demoskopie Allensbach, Das Bild der Bevölkerung von Hartz IV-Empfängern, Allensbach 2012. Jahoda, Marie, Wieviel Arbeit braucht ein Mensch? Arbeit und Arbeitslosigkeit im 20. Jahrhundert, Weinheim 1983. Jenichen, Susann, Sensibel für Armut. Kirchengemeinden in der Uckermark, hg. v. Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD, Leipzig 2015. Klimke, Daniela, Der Wandel gesellschaftlicher Konstruktionen von Schuld, in: Thomas Fischer / Elias Hoven (Hg.), Schuld, BadenBaden 2017. Kroll, Lars Eric / Mütters, Stephan / Lampert, Thomas, Arbeitslosigkeit und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit, Bundesgesundheitsblatt 59 (2016), 228−237. Nationale Armutskonferenz, Keine Stigmatisierung an der Supermarkt-Kasse, Pressemitteilung vom 15.11.2017, online: https:// www.nationale-armutskonferenz.de/2017/11/15/keinestigmatisierung-an-der-supermarkt-kasse (Zugriff: 13.02.2018). Neckel, Sighard, Die Macht der Unterscheidung, Frankfurt am Main / New York 1991. Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Armut in Deutschland. Mit einer Kundgebung der Synode der EKD, Güterloh 2006. Robert Koch-Institut Berlin (Hg.), Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigung und Gesundheit, GBE kompakt 3/1 (2012). Scheff, Thomas, Shame as the Master Emotion in Modern Societies, Symbolic Interaction 26/2 (2003), 239−262. Sen, Amartya, Ausgrenzung und politische Ökonomie, in: Zeitschrift für Sozialreform 44 (1998), 234-247. Sen, Amartya, Poor, Relatively Speaking, Oxford Economic Papers, New Series 35/2 (1983), 153−169. Tangney, June P. / Stuewig, Jeff / Mashek, Debra J., Moral emotions and moral behavior, Annual Review of Psychology 58 (2007), 345−372. Walker, Robert, The Shame of Poverty, Oxford 2014. Zick, Andreas / Küpper, Beate / Krause, Daniela, Gespaltene Mitte – Feindselige Zustände, Bonn 2016.

  Sandra Meusel

Freiwilliges Engagement und soziale Benachteiligung

1

Einführung

In den bisherigen Beiträgen wird bereits deutlich, welche verschiedenen Merkmale für Armut kennzeichnend sein können und dass die konkreten Lebenssituationen von Menschen in Armut individuell sehr verschieden sind. Im vorliegenden Text wird ein Aspekt des Armutsbegriffs besonders Berücksichtigung finden: In unserer Gesellschaft haben arme Menschen kaum Chancen, dass sich ihre Lebenslage grundsätzlich ändert.1 Gibt es Möglichkeiten, die Spielräume auszubauen und positive Entwicklungen in Gang zu setzen? Bestehen diese beispielsweise im freiwilligen Engagement? Meine Forschungsarbeit zum freiwilligen Engagement sozial benachteiligter Menschen bearbeitet die Frage, welchen Nutzen diese Akteure von ihrer Tätigkeit haben können.2 Anhand biografischer Interviews wird untersucht, welche Wirkungszusammenhänge im biografischen Verlauf dazu beitragen, dass Menschen in schwierigen Lebenslagen zu einem Engagement finden und somit vielfältig Gewinn für ihr Leben erlangen. Dieser zeigt sich beispielsweise in Möglichkeiten der Bewältigung von Lebensereignissen oder in sozialer Integration. Insgesamt zeigen die Forschungsergebnisse, dass das freiwillige Engagement Gelegenheiten der persönlichen Weiterentwicklung eröffnet. Es kann den Zugewinn an gesellschaftlicher Anerkennung und teilweise auch an materiellen Ressourcen für die Akteure bedeuten. Freiwilliges Engagement erweist sich als ein Weg, um mit ungünstigen Lebenslagen zurechtzukommen. Fast alle Interviewteilnehmer_innen, deren biografische Erzählungen in der Studie analysiert werden, engagieren sich freiwillig in ihrem Wohngebiet, einem Plattenbaugebiet am Rande einer Stadt in Ost1 2

Vgl. Schildbach, Was ist der angemessene Armutsbegriff? Vgl. Meusel, Freiwilliges Engagement.

Freiwilliges Engagement

215 

deutschland. Sie sind überwiegend im sozialen Bereich tätig und können im Gegenzug von ihrer Leistung vielfältig profitieren. Im Folgenden wird hingegen eine Interviewpartnerin anhand eines Fallportraits näher vorgestellt, die im Laufe ihres Lebens lediglich im Grenzbereich freiwilligen Engagements bzw. eher im Zwangskontext im Rahmen DDR-gesellschaftlicher Organisationen wirksam ist. Die positiven Effekte freiwilligen Engagements werden bei ihr nur begrenzt sichtbar. Das Interview mit Amanda Konstanze Rödling (Name geändert), wurde 2009 geführt. Sie lebt allein, in armen Verhältnissen. Im ersten Teil des vorliegenden Beitrags wird ihre Biografie skizziert. Dann erfährt die Leser_in, welche biografischen Merkmale bzw. Handlungs- und Orientierungsmuster für diese Person charakteristisch sind. Hier werden zunächst Besonderheiten in den Blick genommen, die die Person von Frau Rödling betreffen. Danach kommen Einflüsse zum Tragen, die das nähere soziale Umfeld und dann die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen betreffen. Das biografische Erleben von Frau Rödling erklärt, wie sie zunehmend aus gesellschaftlichen Bezügen exkludiert wird. 2

Amanda Konstanze Rödling: „Man hat mit sich selbst auch zu tun.“ (Interviewzitat)

Amanda Konstanze Rödling wird Mitte der 1950er Jahre als zweites von fünf Kindern der Familie Zeigerle geboren. Die Eltern heiraten Anfang der 1950er Jahre. Ihr Vater stammt aus München, ist gelernter Polsterer und Tapezierer und später als Kellner beruflich tätig. Er kommt 13-jährig mit seiner Mutter in den 1940er Jahren nach Ostdeutschland, als diese ihrem neuen Partner in dessen Heimat folgt. Die anderen beiden Geschwister bleiben in München. Amandas Mutter Konstanze wird 1930 in Breslau geboren. Sie kommt als Angehörige einer Vertriebenenfamilie gegen Ende des Zweiten Weltkrieges nach Ostdeutschland. Sie ist gelernte Schneiderin und übt ihren Beruf bis zur Geburt des ersten Kindes aus. Der Vater hat zwei weitere Kinder in einer außerehelichen Beziehung; die Scheidung von Konstanze erfolgt nach der Geburt des zweiten dieser Kinder. Als Amanda neun Jahre alt ist, begeht ihre Mutter Selbstmord. Von da an wachsen die Kinder im Heim auf und erleben dort Repressalien und Entbehrungen. Später, etwa im Alter von circa 11 Jahren, kann Amanda zu ihren Großeltern väterlicherseits ziehen und dort einige Jahre verbringen. Sie muss sehr viel im Haushalt helfen, zum Beispiel Essen kochen und Obstkonserven herstellen. Amanda verlässt die Schule nach der 8. Klasse, um bei der Bahn eine Ausbildung zu ab-

216 S. Meusel    solvieren. Später kann sie innerhalb der Bahn über den Schalterdienst und die Dienststellenleitung beruflich aufsteigen. Sie absolviert erfolgreich einen Dienststellenleiter-Lehrgang, schließt ihr Meisterstudium (vergleichbar Fachschulabschluss) ab und ist in der Personalabteilung tätig. Die Qualifizierung im Fachschulstudium wird ihr in der DDR nur möglich, als sie den Entscheidungsträgern mit Austritt aus der SED droht. Im Zusammenhang mit ihrer beruflichen Tätigkeit bringt sich Frau Rödling, um der gesellschaftlichen Erwartung zu entsprechen, im DFD (Demokratischer Frauenbund Deutschlands) und in der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) ein. Im Rahmen ihrer BGLMitgliedschaft hält sie beispielsweise Vorträge und wird stellvertretende BGL-Vorsitzende. Frau Rödling heiratet Mitte der 1970er Jahre das erste Mal und zieht aufgrund dessen in eine andere Stadt. Ihr Mann ist Berufssoldat und die beiden bekommen einen Sohn. Ein halbes Jahr nach der Scheidung Ende der 1970er Jahre kommt dieser im Alter von vier Jahren durch einen Verkehrsunfall ums Leben. Kurze Zeit später heiratet Frau Rödling erneut, den sechs Jahre älteren Ingenieurpädagogen Hartmut Rödling. Die beiden haben zwei Kinder, nach der Scheidung bleibt der ältere Sohn beim Vater, der jüngere bei Frau Rödling. Nach 25 Dienstjahren gibt Frau Rödling Mitte der 1990er Jahre ihren Beruf auf, um ihre Großeltern väterlicherseits zu pflegen. Nach dem Tod der beiden Alten gelingt es ihr nicht, beruflich wieder Fuß zu fassen. Trotz einiger Qualifizierungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bleibt sie arbeitssuchend. Auch ihre beiden Söhne, die in der Metallbaubranche und als technischer Assistent für Informatik gelernt haben, sind arbeitslos. Kurzzeitig hilft Frau Rödling einer Nachbarin bei Haushaltstätigkeiten. Einer anderen älteren Dame hilft sie ebenfalls eine Zeit lang und kann sich somit etwas dazuverdienen. Ansonsten erlebt sich Frau Rödling in ihrer Lebensqualität durch die Arbeitslosigkeit und durch ihr Leben in der Wohnblocksiedlung sehr stark eingeschränkt. Zu den anderen Bewohner_innen hat sie kaum Kontakt, da jeder mit sich selbst beschäftigt ist. Frau Rödling hält die Beziehung zu ihren Kindern aufrecht und unterstützt die beiden nach ihren Möglichkeiten. So gibt sie Empfehlungen für die berufliche Orientierung und ermutigt sie in der Gestaltung des Lebensalltags.

Freiwilliges Engagement

2.1

217 

Merkmale auf der individuellen Ebene

Im Interview blickt Frau Rödling in einer ambivalenten Sicht auf ihr Leben. Viele Ereignisse und Erfahrungen bringen ihre Andersartigkeit, die Abweichung vom Normalen, zum Ausdruck. Indem Frau Rödling daneben immer wieder Begebenheiten betont, die sie mit anderen gemein hat, schafft sie dazu ein Gegengewicht. Sie bemüht sich um Integration, auch wenn sich die Bedingungen ungünstig für sie darstellen. Schon in den ersten Zeilen des Interviews weist Frau Rödling darauf hin, dass es in ihrem Leben eine Besonderheit gibt, die schwer in Worte zu fassen ist und die unvermeidliche Folgen für sie persönlich hat (Z.7−10): „Ja, also, sag mer mal so, ich komm aus ner kinderreichen Familie. Sind fünf Kinder. (Interviewerin: Hhm.) Und unsere Mutti ist frühzeitig verstorben. Und da musst mer halt alle ins Heim. Sind im Heim paar Jahre groß geworden.“

Frau Rödling sucht nach den richtigen Worten, um ihre Geschichte zu erzählen. In „Sag mer mal so“ klingt an, dass es noch andere Möglichkeiten der Darstellung gäbe. Diese Worte stehen für „Sagen wir es mal so“. Man kann „es“ auch anders sagen, anders formulieren. „Es“ lässt ein besonderes Ereignis erwarten, eine Krise oder ein freudiges Erlebnis. Um dieses zu erzählen, wählt Frau Rödling ihre Worte sorgfältig aus. Sie ist sich bewusst, dass ihre Geschichte eine bestimmte Wirkung auf die Zuhörerin haben wird und federt die folgenden Ausführungen im Voraus ab. Das Besondere an ihrer Lebensgeschichte ist, dass die Mutti frühzeitig verstirbt und die Kinder daraufhin ein paar Jahre im Kinderheim groß werden. Was sie erlebt, passiert sehr selten, ist aber dennoch soziale Wirklichkeit. Mit diesem Spannungsfeld zwischen persönlicher Normalität und für die meisten Menschen fremdem Erleben spiegelt sich ihre Lebensrealität wider. Der Status als Halbwaise beinhaltet zwar großes Leid, bleibt aus der Perspektive der Erzählerin dennoch im Maß des Erträglichen für die Zuhörerin. Die genauen Umstände des frühen Todes ihrer Mutter lässt Frau Rödling zu diesem Zeitpunkt der Erzählung unerwähnt. Er wird trotz der Besonderheit bzw. Seltenheit als ein normales Erlebnis geschildert. Erst viel später im Interview erzählt Frau Rödling die volle Härte, mit der sie dieses Geschehen als Kind traf (Z.505−508): „Das war Wahnsinn, das war, wie wenn der Raum brennt und du kommst nicht raus. Können Sie sich nicht vorstellen. Kann sich niemand vorstellen.“

Kurz darauf normalisiert sie diese traumatische Erfahrung (Z.523f):

218  

S. Meusel 

„Naja es haben ja viele Menschen einiges durchhalten müssen auch aus, in ihrer Kindheit erlebt.“

So bewegt sich Frau Rödling in ihrer Selbstsicht zwischen Normalität und Abweichung. Im weiteren Interviewverlauf erzählt Frau Rödling an vielen Stellen von ihrer beruflichen Entwicklung. Dabei wird deutlich, dass sie diesen Bereich über viele Jahre nutzen kann, um sich ihrer Identität zu versichern, Stabilität zu gewinnen. Im Beruf kann sie sich selbst entfalten und in Kontakt mit Menschen kommen. Beispielsweise erzählt sie in Z.164−168, dass sie sich für die Unterstützung der Weltfestspiele in Berlin 1974 bereit erklärt: „Und da hatte man eben bei der Bahn auch Arbeitskräfte gesucht für’n Schalterdienst in Berlin. Und da hatte ich mich gemeldet. Und da war ich genau 17 Jahre alt. Dacht’ ich, das mach ich, das will ich mal machen, ich will mal raus. Ich will mal andere Menschen kennen lernen, als nur das triste armselige Leben. Ich muss mal raus. Und hab dadurch gelernt, frühzeitig auf eigenen Beinen auch zu stehen.“

Handlungsorientiert erkennt Frau Rödling ihre missliche Lage („das triste armselige Leben“). Sie nimmt das Risiko auf sich, als junge Frau für ein halbes Jahr in eine andere Stadt zu ziehen. Sie tut mehr, als gemeinhin üblich ist, und profitiert ihr Leben lang davon, zum Beispiel indem sie lernt, unabhängig zu leben (Z.191): „Kann ich heut noch davon gut zehren.“

Frau Rödling ist stolz auf das, was sie sich erarbeitet hat und kann dadurch negative Erfahrungen kompensieren (Z.675−679): „Du kannst nichts dafür, dass das so war. Du hast dir dein Leben so nicht ausgesucht. Du hast diese Eltern gehabt, das ist, man kann sich seine Eltern nicht aussuchen und ähm, ja. Aber das, was ich selbst erreicht habe, hab ich mir selbst zu verdanken, meinem eigenen Ehrgeiz, meiner eigenen Motivation.“

Für den beruflichen Aufstieg investiert Frau Rödling sehr viel Energie und kann dabei enorme Erfolge verzeichnen. Sie gleicht damit erlebtes Leid, auf das sie selbst keinen Einfluss hat, aus. Fällt die berufliche Integration weg, steht ihre ganze Identität infrage (Z.89−94):

Freiwilliges Engagement

219 

„Und und diesem Ha, aus dem Hartz IV raus zu kommen. Und wird halt immer wieder nach unten gedrückt, in dem man dann niemanden ’ne Antwort gibt, wenn man ’ne Bewerbung schreibt. Und den Menschen eigentlich im Stich lässt. Und das macht die Menschen sehr depressiv und sehr missgelaunt und dass sie halt nicht mehr wissen, wo es noch weiter geht im Leben. Überhaupt weiter geht, ne. Das ist das Traurige an dieser Geschichte.“

Frau Rödling kommt in der Situation der langjährigen Arbeitslosigkeit mit ihrer Strategie der Aktivität nicht weiter. Trotz aller Bemühungen findet sie keine Arbeit. Beim Erzählen darüber kommt sie ins Stocken. Sie wechselt zur unpersönlichen „man“-Form. Sie entfernt sich noch mehr von ihrer Person, ihrer Identität, indem sie weiter verallgemeinert: „Die Menschen“ verbittern. Das ist die Veränderung, die sie bei sich selbst beobachtet. Die Arbeitslosigkeit führt zum Verlust jeglicher Zukunftsperspektive. Abschließend mit der Formulierung „diese Geschichte“ kehrt sie zu sich selbst zurück. Das ist nicht irgendeine Geschichte, sondern diese, ihre eigene. Amanda Rödling erlebt sich als Menschen, der schon von früh an auf sich allein gestellt ist. Sie muss selbst mit den Problemen fertig werden und Lösungswege entwickeln. In diesem Zusammenhang wird verständlich, dass Frau Rödling in Entscheidungsfindungsprozessen auf ihre eigene Einschätzung vertraut. Ihre relative Unabhängigkeit wird beispielsweise in folgendem Zitat deutlich (Z.1115−1116): „Sag: ,Was willst denn du eigentlich?‘ Sag, ,Ich lass mir von keinem Menschen reinreden.‘ Sag, ,Wenn’s um meine Kinder geht, bin ich voll da.‘“

Im Interview ist nicht erkennbar, mit welcher Person sie sich auseinandersetzt. Sicher ist nur, dass diese als Angriff auf das System Kernfamilie wirkt. Diesem stellt sich Frau Rödling verbal entgegen, indem sie ihre Autonomie und Handlungskompetenz hervorhebt. Relativiert wird die Entscheidungs- und Handlungsunabhängigkeit von Frau Rödling lediglich aufgrund innerfamiliärer Verpflichtungen sowie anderer Autoritäten. In der Familie wirken Kräfte, die über Jahre aufgebaut und seit Generationen mächtig sind. Bedeutsam für Frau Rödling ist insbesondere das Prinzip der Reziprozität, also des gegenseitigen Gebens und Nehmens. Ihre Großeltern haben sie als junges Mädchen bei sich aufgenommen und haben sich um sie gekümmert. Im Gegenzug fühlt sich Frau Rödling als Erwachsene verpflichtet, die alt gewordenen Angehörigen zu pflegen (Z.21−23): „Ja und hab mich dann, dummerweise muss ich auch dazu sagen, was nicht so gut ist, äh meinen Beruf gekündigt, um mich den alten Menschen zu wid-

220  

S. Meusel 

men, weil die eben Pflegefall sind und sehr alt waren und mich eben auch groß gezogen haben.“

Frau Rödling stellt die Beziehung zu den Großeltern eher unpersönlich und distanziert dar, sie widmet sich „den alten Menschen“, nicht ihren Großeltern. Durch die Formulierung wird keine Emotionalität ausgedrückt, Frau Rödling schildert sachlich ihre Beweggründe. Sie gibt ihren Beruf und damit einen wesentlichen Teil ihrer Identität sowie ihre materielle Absicherung auf. Die Folgen dieser Entscheidung beeinflussen ihr weiteres Leben nachhaltig. Die Wahl dazu trifft sie selbst, freiwillig. Die Wirkungszusammenhänge, die Frau Rödling zu dieser Entscheidung bewegen, beinhalten allerdings auch die Beeinflussung durch die Großeltern in der Zeit, als sie das junge Mädchen Amanda bei sich aufnehmen. Ihr wird vermittelt, dass sie dankbar für diese Fürsorge sein muss und dass im Gegenzug Leistungen von ihr erwartet werden (Reziprozitätsprinzip). So wirkt ein moralischer Zwang, der Frau Rödling im Nachgang ihrer Entscheidung bewusst ist, der sie aber während der Handlung davon abhält, die möglichen Folgen kritisch zu reflektieren. Der Einsatz für die Gegenleistung übersteigt dabei das Ausmaß der Leistung der Großeltern, die ja immerhin zu zweit sind und ihre Existenzsicherung nicht aufgeben müssen. Lediglich diese familiär begründeten Zwänge sowie die Anweisungen zum gesellschaftspolitischen Engagement durch Vorgesetzte brechen das Muster „Unabhängigkeit der Entscheidungen“ und relativieren es somit. 2.2

Merkmale des näheren sozialen Umfeldes von Frau Rödling

Die Interviewpartnerin erlebt in ihrer Herkunftsfamilie außerordentlich problematische Bedingungen. Zunächst sind es die schwierigen innerfamiliären Beziehungen und der Selbstmord der Mutter, welche sie bewältigen muss. Dann ist das Leben im Kinderheim für Amanda Rödling von Mangel, Gewalt, Strafen und Ungerechtigkeit gekennzeichnet. Sie erzählt zum Beispiel (Z.374−377): „Dann gab’s nichts mehr an Mittagessen, gab’s kein Essen. Da wurde nicht gefragt: Hast du Hunger? Willst du nicht wenigstens ’ne Scheibe Brot essen? Da gab‘s ein trockenen Zwieback und da mussten wir warten bis 15 Uhr Nachmittag. Da gab’s dann ein Brötchen, ohne Butter ohne Margarine, also gar nichts, wurde nur Marmelade drauf geschmiert. Und weiter nichts.“

Von der mangelhaften Versorgungslage in der DDR Mitte der 1960er Jahre ist das Kinderheim besonders betroffen. Im Interview wird darüber hinaus deutlich, dass die Stigmatisierung als „Heimkind“ mit

Freiwilliges Engagement

221 

weiteren negativen Auswirkungen verbunden ist. Zum Beispiel berichtet Frau Rödling aus ihrer Schulzeit (Z.359−361): „Die ham uns das zu verstehen gegeben: Du bist ja ein Heimkind. Und der Lehrer hat zugekuckt. Hat kein Ton gesagt. Wie wir von andern Kindern drangsaliert worden sind, wir Heimkinder.“

Frau Rödling erlebt sich schutzlos den Repressalien ausgeliefert, ihre Bezugspersonen (Lehrer, Heimerzieher) treten nicht für sie ein. Ihre Identität koppelt Frau Rödling an den Begriff. Dass sie ein Heimkind ist, begleitet sie ihr ganzes Leben, angefangen von den direkt erfahrenen Verhältnissen im Kinderheim bis hin zu den Auswirkungen der damit verbundenen Stigmatisierung. Das innerfamiliäre Beziehungsgefüge in der Herkunftsfamilie ist von starken Spannungen geprägt. Dies kommt beispielsweise bei der Besonderung einzelner Kinder zum Ausdruck. Amanda wird als einzige unter den Geschwistern nach einigen Jahren der Heimerziehung von den Großeltern aufgenommen. Außerdem wird sie bei gemeinsamen Erlebnissen mit den Geschwistern bei den Großeltern von diesen bevorzugt (Z.567−570): „Und da war ich halt immer diejenige, die dann immer ’ne Puppe gekriegt hat oder mal extra ne Bockwurst oder mal ein Eis oder mal ne Schlagsahne oder so. Und äh, ja, da war’n meine Geschwister auch manchmal eifersüchtig, weil ich mal immer vorgezogen worden bin.“

Die Geschwister werden eifersüchtig, beschäftigen sich mit diesen Ungerechtigkeiten. So bleiben alle auf das Familiensystem bezogen. Amanda ist in ihrem Gewinn aus den Vergünstigungen gebunden, die anderen sind es durch die frustrierte Auseinandersetzung. Die engen familiären Bezüge bedeuten gleichzeitig, dass außerhalb des Familiensystems kaum enge Bindungen aufgebaut werden. Frau Rödling geht im Lauf ihres Lebens verschiedene Freundschaften ein, die aber nur vereinzelt kontinuierlich aufrechterhalten werden, zum Beispiel Zeilen 96−98: „Und manch einer will gar nicht mehr was wissen von einem. Erst den Kontakt hergestellt, hat man sich unterhalten, sich getroffen und dann merkt man schon, dass sie selbst sich auch zurückziehen aus ihrem ganzen Umfeld, dass sie sich einkapseln. Das erfahr ich sehr oft.“

Frau Rödling hält den Kontakt zu den Familienmitgliedern vereinzelt aufrecht, ist ansonsten auf sich allein gestellt.

222   2.3 Sozialräumliche und gesellschaftliche Einflüsse

S. Meusel 

Die individuelle Art und Weise, wie Frau Rödling ihr Leben gestaltet, und die Prägungen durch die Herkunftsfamilie stehen in Zusammenhang mit ihrer Einbindung in die Gesellschaft. Mit den DDR-gesellschaftstypischen Regeln und Umgangsformen wird Amanda Rödling früh und unausweichlich konfrontiert: die Aufnahme ins Kinderheim erzwingt die Anpassung an die herrschenden Gepflogenheiten (Z.339−342): „Ja, in den Kinderheimen zu DDR-Zeiten wurden die Kinder mit sehr sozialistischer Strenge erzogen. Da gab’s eben ’ne bestimmte Richtlinie. Und du hast es, die ist einzuhalten und wenn da andere Kinder dabei waren, die das halt noch nicht gemacht haben, die wurden ordentlich bestraft, die wurden auch mal in ein anderes Zimmer gesperrt.“

Kontrolle, Strafe, Totalität sind Prinzipien, mit denen sie aufwächst und denen sie sich unterordnen muss. Diese Anpassung verschafft ihr später im Berufsleben den Vorteil, die Strukturen zu kennen und für ihr eigenes Vorankommen zu nutzen. Sie erkämpft sich die Möglichkeit zur Qualifizierung. Gegen die innerbetriebliche Lenkung, durch die ihre Vorgesetzten ihr die Delegation zum Studium verwehren wollen, übt sie Druck aus (Z.1453−1455): „Sag ich: ‚Hier ist mein Parteibuch.‘ Sag: ‚Ich verlasse diesen Stuhl.‘ Sag: ‚Ich muss hier nicht sitzen in der Kaderabteilung.‘ Sage: ‚Kuckst du morgen, ob du jemand anders findest.‘“

Sie droht als Konsequenz an, dass sie ihren verantwortungsvollen Posten und die Mitgliedschaft in der SED kündigt, falls ihr die Qualifizierung nicht ermöglicht wird. Damit setzt sich Frau Rödling durch. Sie absolviert nebenberuflich ein Fachschulstudium, das sie selbst als „Meisterstudium“ bezeichnet. Mit dieser Formulierung hebt Frau Rödling ihre Position als Mitarbeiterin der Personalabteilung hervor, in der sie vielen Mitarbeiter_innen im Bahnbetrieb übergeordnet ist. Als Folge der Sozialisation im Kinderheim der DDR und der planwirtschaftlichen Aufsicht hat Frau Rödling kontinuierliche Angst davor, dass die Mächtigen in ihr Leben eingreifen (Z.1637−1639): „Hausbewohner auf einen gehetzt. Und dann sind wir ja auch weggezogen. Und da konnten sie uns eigentlich nicht mehr bespitzeln, ich sag’s mal so.“

Freiwilliges Engagement

223 

Frau Rödling fürchtet die Überwachung durch Staatsorgane und versucht diese durch einen Umzug abzuwenden. Doch die Angst ist weiterhin präsent, auch nach dem Systemumbruch, übersetzt in die neuen Machtstrukturen (Z.1654f): „Und deswegen, die Leute leben ja heute noch. Und man weiß ja nie, inwieweit man heut noch eins ausgewischt bekommt, ne.“

Frau Rödling ist auch nach dem Systemumbruch noch in den DDRBezügen verwurzelt, mit einer Mischung aus Verbundenheit und Angst. Trotz dieser affektiven Bindung vergleicht Frau Rödling die beiden Gesellschaftssysteme sehr differenziert, anerkennt jeweils die Vor- und Nachteile. Zum Beispiel Z.174: „Das war schön, das war nett. Das findet man heute einfach nicht mehr.“

So streicht Frau Rödling als positiven Aspekt der DDR-Zeit die Dankbarkeit der Kunden heraus und in Z.225 die Vorteile der neuen Chancen in der Bundesrepublik Deutschland: „Ihr habt eigentlich die Möglichkeiten heute eher offen, als wie wir’s früher hatten. Ihr müsst ’s nur richtig, ’s Richtige draus machen.“

Der Einfluss der emotionalen Gebundenheit dominiert über die rationalen Schlussfolgerungen (Z.1463−1465): „Heut ist zwar keine Stasi mehr da, aber die Menschen verraten dich. Die verpetzen dich, die verraten dich, die mobben dich, dass du kein Job findest, dass du keine Arbeit mehr hast.“

So sieht Frau Rödling keine Hoffnung, dass sich ihre Situation grundsätzlich verändert. 2.4

Bedeutung der biografischen Ereignisse für das freiwillige Engagement

Mit der Beobachtung dieser Zusammenhänge erklärt sich, dass Frau Rödling kaum den Zugang zu Organisationen und Ansprechpartnern freiwilligen Engagements findet. Nur während ihrer beruflichen Tätigkeit in der Personalführung ist Frau Rödling zwangläufig in Kontakt mit der Gewerkschaft und deren Vertreter_innen. Ihr Engagement in diesem Rahmen geschieht, nachdem ihre Vorgesetzten Druck ausüben und sie dazu nötigen (Z. 1859−1571):

224  

S. Meusel 

„Dann war ich noch in der BGL, Betriebsgewerkschaftsleitung. Da hab ich da Funktionen gehabt, so’n bissel. So zu arbeiten drinne. Interviewerin: Was haben sie da gemacht? Frau Rödling: Ach eigentlich musste man nur, so wie in ’nem Beirat sein, wenn irgendwann Versammlungen waren. Oder mal ’nen Vortrag halten in der Gewerkschaftsversammlung. Über bestimmte Themen. So was halt mal da, ne. Da wurde man halt angesprochen, das zu tun, das war nicht mein Ding, so vor Massen zu reden.“

Für sie ist es ein Muss, diese Aufgaben zu übernehmen, obwohl das Reden vor Menschen nicht zu ihren Kernkompetenzen gehört. Frau Rödling übernimmt also ein Ehrenamt, aber mehr gezwungenermaßen, in einem Zwangskontext in der DDR. Nach der Beendigung dieses Engagements ist Frau Rödling im weiteren biografischen Verlauf lediglich im Grenzbereich des Freiwilligenengagements tätig. Im Rahmen der Nachbarschaftshilfe unterstützt sie in den 1990er Jahren zeitweise Personen und erhält dafür zumindest teilweise materielle Vergütung (Z.1839−1845): „Kurzzeitig hab ich das mal gemacht. Mal den Nachbarn geholfen, mal die Fenster zu putzen, mal die Wohnung durchzusaugen. Das hab ich auch gemacht in meinem Haus, wo ich gewohnt hab. Hab mir was dazu verdient, hat die Enkeltochter jemand gesucht für, für ihre Oma.“

Auch in diesen Äußerungen zeigt sich, dass das Engagement, das Frau Rödling neben Beruf und Familie freiwillig leistet, eine vergleichsweise geringe Bedeutung erhält. Diese individuellen Merkmale, herkunftsfamiliären Kontextbedingungen, die Arbeitslosigkeit und die gesellschaftlichen Einflüsse tragen zunehmend zu sozialer Exklusion von Frau Rödling bei. Es fehlt die Passfähigkeit in der Kooperation mit Institutionen und potenziellen Arbeitgebern (Z.81f): „Und dann wird auch gesagt: ,Sie können das ja eigentlich gar nicht mehr.ʻ“

Hier gibt Frau Rödling die Aussage eines Ansprechpartners im Bewerbungsgespräch bzw. eines Berufsberaters wieder, durch die ihr die berufliche Kompetenz abgesprochen wird. Auch mit Menschen, die sich in einer ähnlichen Lage wie Frau Rödling befinden, kommt sie schwer zurecht (Z.100f): „Das ist das Schwierige, was so, was die Menschen auch unnahbar macht. Wenn man sich mit denen trifft oder so, das ist ja, an sich selbst denken sie und (4 Sek. Pause) ja.“

Freiwilliges Engagement

225 

Auch eine soziale Einrichtung im Wohngebiet, die sie Anfang der 2000er Jahre ab und zu besucht, meidet Frau Rödling zunehmend. Sie bleibt lediglich auf innerfamiliäre Kontakte bezogen und gerät darüber hinaus in die soziale Isolation. Letztendlich findet sie keinen Weg, ihre Lebenslage zu verändern. 3

Arbeit mit Menschen, die von Exklusion bedroht oder betroffen sind

Es gibt Möglichkeiten, Menschen wie Amanda Konstanze Rödling Teilhabe an unserer Gesellschaft zu eröffnen. Wird gezielt auf Menschen am Rande der Gesellschaft zugegangen, werden sie angefragt für ein Engagement, so wird ihnen das Gefühl gegeben, wertvoll zu sein und gebraucht zu werden. Hierzu braucht es Kooperationen mit Institutionen, die im regelmäßigen Kontakt mit sozial benachteiligten Menschen sind. Diakonie und Kirche sind hier in besonderer Weise herausgefordert und verfügen über spezifische Potenziale. Spüren die Menschen das Interesse an ihrer Lebensgeschichte, fühlen sie sich anerkannt und wertgeschätzt. Hilfreich sind Gesprächsangebote und Unterstützung bei der Lebensbewältigung sowie die traumasensible Arbeit in den Diensten und Einrichtungen. Darüber hinaus benötigen sozial benachteiligte Menschen Tätigkeitsbereiche, in denen sie auch ihre materielle Situation verbessern können.3 In Bezug auf Lebenssituationen wie die von Frau Rödling hat sich auf gesellschaftlicher Ebene viel getan. Es gibt mittlerweile den Fonds „Heimerziehung / Heimerziehung in der DDR“, der ehemalige Heimkinder, die Leid und Unrecht erlitten, entschädigt. Pflegezeit und Familienpflegezeit ermöglichen die temporäre berufliche Freistellung zur Pflege von Angehörigen. Vor allem für Frauen bedeutete der Verlust des Arbeitsplatzes nach der Wiedervereinigung eine Spirale materieller und emotionaler Destabilisierung4. Es sind häufig die armen Menschen in unserer Gesellschaft, denen die Aussicht, irgendwann eine bessere Lebenslage zu erreichen, verwehrt bleibt. Können Impulse gesetzt werden, um den Umgang mit schwierigen Lebenssituationen mitzutragen? Frau Rödling sagt: „Ich erzähl ihnen das jetzt mal, damit sie wissen, was Menschen so durchhalten müssen in ihrem Leben. In ihrer Kindheit. Ja? Es ist traurig gewesen. 3 4

Vgl. Meusel, Freiwilliges Engagement. Vgl. Chassé, Unterschichten, 144.

226  

S. Meusel 

Hart. Und es war unfassbar. […] Man muss darüber reden, auch wenn’s unangenehm ist, und die Erlebnisse irgendwie aufarbeiten, auch wenn das so war. Ansonsten wirst du das nie wieder los aus'm Kopf, nur, wenn man mal darüber erzählt.“

Zeit zum Zuhören und Organisationen, die ihren Mitarbeiter_innen diese eröffnen, werden als hilfreich erlebt und können bei der Bewältigung unterstützen. Literatur Chassé, Karl-August, Unterschichten in Deutschland. Materialien zu einer kritischen Debatte, Wiesbaden 2010. Meusel, Sandra, Freiwilliges Engagement und soziale Benachteiligung. Eine biografieanalystische Studie mit Akteuren in schwierigen Lebenslagen, Bielefeld 2016. Schildbach, Ina, Was ist der angemessene Armutsbegriff? Eine sozialethische Kritik der Debatte, Sozialmagazin 5−6 (2017), 50−55.

  Alexander Häusler

Soziale Ausgrenzung und rechtspopulistische Radikalisierung

1

Einleitung

Der Rechtspopulismus feiert seit einiger Zeit große Erfolge in Deutschland und Europa. Rechtspopulistische Parteien sind „catch all“-Parteien – sie binden mit ihrer Anti-Parteien-Rhetorik enttäuschte Wählermilieus aus unterschiedlichen politischen Lagern an sich. In Deutschland hat die CDU mit ihrem Merkel-Kurs zu einer parteipolitischen Entfremdung ihres nationalkonservativen Flügels geführt. Teile dieses rechten Milieus haben im Schulterschluss mit neurechten Kräften in der AfD eine neue politische Heimat gefunden. Der deutsche wie auch insgesamt der europäische Rechtspopulismus stellt gewissermaßen ein politisches Auffangbecken für parteipolitisch isolierte Nationalkonservative und Nationalliberale dar. Weltanschaulich verkörpert er die nationalkonservative Sehnsucht nach einer als „natürlich“ verklärten Nation, verstanden als Abstammungsgemeinschaft mit festen, unveränderlichen hierarchisch-paternalistischen Ordnungsstrukturen. Ebenfalls appelliert der Rechtspopulismus an eine Revolte der Kleinbürger und des Mittelstandes gegen einen angeblich übergriffigen Staat, der mit Steuern und Sozialtransferleistungen „die Fleißigen“ gängele und die „Faulen“ bevorzuge. Zugleich erklären sich die rechtspopulistischen Parteien zu den legitimen Nachfolgern linker Parteien, die „den kleinen Mann“ vergessen hätten: „Politik für uns’re Leut‘“ lautete entsprechend eine Wahlkampfparole der rechtspopulistischen FPÖ, deren Parteichef Strache seine Partei propagandistisch zum „wahren Erben“ der österreichischen Sozialdemokratie erhob. Nach deren Vorbild operiert die AfD hierzulande, indem sie bekundet, Politik „für die kleinen Leute“ zu machen. Die Wirkungsmächtigkeit rechtspopulistischer Nationalisierung der sozialen Frage kann deshalb auch als Konsequenz einer Neoliberalisierung linker, sozialdemokratischer Politik verstanden werden, die den unteren sozialen Milieus ihre Anteilnahme entzog.

228   2 Rechter Sozialpopulismus

A. Häusler 

Unter rechtem Sozialpopulismus ist eine Agitationsform zu verstehen, die unter rechten Grundannahmen die selektive Aufnahme sozial- und wirtschaftspolitischer Arbeitnehmer_inneninteressen beinhaltet. D.h.: Mit sozialpopulistischer Ansprache sollen Arbeitnehmerschichten mobilisiert und ihnen zugleich rechte Weltbilder und ordoliberale Wirtschaftspositionen schmackhaft gemacht werden. Rechter Sozialpopulismus beinhaltet demnach die Instrumentalisierung der Empörung über soziale und ökonomische Ungerechtigkeitsverhältnisse zur Propaganda für völkisch-nationalistische Politikansätze. Diese Agitationsform lässt sich anhand einer Rede von Björn Höcke auf einer AfD-Demonstration in Schweinfurt veranschaulichen, wo er behauptete: „Die Soziale Frage der Gegenwart ist nicht primär die Verteilung des Volksvermögens von oben nach unten, unten nach oben, jung nach alt oder alt nach jung. Die neue deutsche Soziale Frage des 21. Jahrhunderts ist die Frage nach der Verteilung des Volksvermögens von innen nach außen!“1

Es war der brandenburgische AfD-Landesvorsitzende Alexander Gauland, der nach den ersten Wahlerfolgen in den ostdeutschen Bundesländern die AfD zur „Partei der kleinen Leute“2 erkor. Gauland erkannte den propagandistischen Nutzen sozialpopulistischer Inszenierungen von rechts und plädierte für eine Abgrenzung zum früheren offen neoliberalen Lucke / Henkel-Kurs: So änderte die Partei ihr früher ablehnendes Verhältnis beispielsweise zum Mindestlohn. Bestätigt fühlen konnte sich Gauland durch die Wahlergebnisse, die die AfD sowohl in Ost- wie auch in Westdeutschland erzielte: In Hamburg war die Partei nicht hauptsächlich in den Quartieren mit „besserverdienender“ Wählerschaft erfolgreich, sondern eher in als sozial schwach geltenden Stadtteilen. In Sachsen-Anhalt wurden überdurchschnittliche Ergebnisse in industriell geprägten Regionen erzielt; und in Baden-Württemberg gewann seine AfD ihre beiden Direktmandate in Mannheim und Pforzheim, zwei Industriestädten mit früher SPDdominierten Wahlkreisen. Kurze Zeit nach der Wahl in Baden-Württemberg erklärte Gauland im Gespräch mit der Stuttgarter Zeitung: „Die AfD darf nicht die Menschen am unteren Ende der sozialen Skala allein lassen.“3 Seine Partei müsse „versuchen, soviel soziale Gerechtigkeit wie möglich umzusetzen“. Bekenntnisse zu solcherart Po1

Höcke (AfD), Die neue SOZIALE Frage, 0:0:56. Vgl. Geis, Alexander Gauland. 3 Pichler, Interview mit AfD-Bundesvize Gauland. 2

Soziale Ausgrenzung und Rechtspopulismus

229 

pulismus waren bereits im AfD-Strategiepapier zu finden. Dort wurde zudem der Verzicht auf (zu) detaillierte Aussagen empfohlen: „Es geht weiterhin für den Wahlerfolg der AfD nicht darum, zu den zentralen Themen differenzierte Ausarbeitungen und technisch anspruchsvolle Lösungsmodelle vorzulegen und zu verbreiten, die nur Spezialisten aus der politischen Klasse interessieren, die Wähler aber überfordern.“ Es sei „wichtiger, den Finger in die Wunde der Altparteien zu legen, als sich in einer Expertendiskussion um Lösungsvorschläge zu verheddern“. 4

3

Rechte Wahlerfolge

Einhergehend mit den Wahlerfolgen der AfD, die mittlerweile in 14 Landesparlamenten sowie im Deutschen Bundestag vertreten ist, vollzieht sich aktuell eine Veränderung des Parteiensystems: Die sogenannten Volksparteien verlieren an Bindungskraft, (nicht nur) der Ost-West-Gegensatz manifestiert sich in stärker werdendem Maße auch in Wählerwanderungen nach Rechtsaußen und eine stark ausgeprägte Politikverdrossenheit und Enttäuschung äußern sich – zunehmend auch in prekarisierten Wählermilieus – in „Protest“-Wahlzustimmung für die AfD. Die AfD konnte 2017 von beiden Volksparteien Wähler_innen gewinnen. Nach den Umfrageergebnissen der Forschungsgruppe Wahlen hatten 21 Prozent der AfD-Wähler_innen vor vier Jahren noch die Unions-Parteien gewählt, bei 10 Prozent der AfD-Wähler_innen handelt es sich um vormalige SPD-Wähler_innen. Die größte Gruppe der AfD-Wähler_innen stellten mit 35 Prozent vormalige Nicht-Wähler_innen bzw. Wähler_innen von kleineren, nicht im Bundestag vertretenen Parteien dar. Rund ein Viertel der AfD-Wähler_innen votierte bereits 2013 für die rechtspopulistische Partei. Die repräsentative Umfrage von infratest dimap zur Wählerwanderung kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Demnach blieben 24,9 Prozent der AfD-Wähler_innen der Bundestagswahl im Jahr 2013 fern, und 12,3 Prozent von ihnen wählten damals kleinere, nicht im Bundestag vertretene Parteien. 17,6 Prozent hatten vormals die CDU und 8,6 Prozent vormals die SPD gewählt. Als „Stammwähler_innen“ wurden 24,2 Prozent der AfD-Wählerschaft ausgemacht.5 Diese repräsentativen Ergebnisse bilden die Wählerwanderung im gesamten Bundesgebiet ab.

4 5

Alternative für Deutschland, Demokratie wieder herstellen, 9. Vgl. Tagesschau, Bundestagswahl 2017.

230 A. Häusler    Die hohe Zustimmung vormaliger Nicht-Wähler_innen für die AfD verläuft parallel zu einem bemerkenswerten Anstieg der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2017. Denn bis 2013 war die Wahlbeteiligung stets rückläufig gewesen; sie verringerte sich bei den Bundestagswahlen in den Jahren 1983 bis 2009 um fast 20 Prozent. Der Niedergang der Volksparteien, der sich an ihrem Wählerschwund und ihrer abnehmenden Integrationskraft zeigte, ging also mit sinkender Wahlbeteiligung einher. Es kann deshalb eine Krise der Repräsentation und der demokratischen Beteiligung diagnostiziert werden, die sich dadurch auszeichnet, dass sich nicht nur weniger Menschen an den Wahlen beteiligen, sondern dass vor allem die sozioökonomisch und soziokulturell marginalisierten Bevölkerungsschichten sich überproportional stark von der Wahlbeteiligung abgewandt haben.6 In die Repräsentationslücke stieß vor allem die rechtspopulistische AfD. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung kommt zu dem Ergebnis, dass es 2017 vor allem der AfD gelungen ist, in den sozial prekären Nichtwählerhochburgen überdurchschnittlich zu mobilisieren. Die Autor_innen sprechen deshalb von einem „AfD-Effekt“: „Die Gegenmobilisierung der etablierten Parteien in den typischen Wählermilieus fiel dagegen schwächer und in ihrem sozialen Profil weniger eindeutig aus. In den wirtschaftlich starken Wählerhochburgen ist die Wahlbeteiligung deshalb nur unterdurchschnittlich angestiegen. Gleichzeitig hat der AfD-Effekt zu einem überdurchschnittlichen Anstieg der Wahlbeteiligung in den sozial prekären Nichtwählerhochburgen geführt. Das hat die soziale Schieflage der Wahlbeteiligung reduziert.“7

Obwohl sich die Schieflage zwischen den wirtschaftlich starken Wählermilieus und den wirtschaftlich schwachen Nichtwählermilieus zum ersten Mal seit mehr als 20 Jahren spürbar verringerte, bleibt diese Schieflage „auf hohem Niveau sozial prekär“8. Da die Wahlbeteiligung 2017 in den Stimmbezirken mit der niedrigsten Wahlbeteiligung mehr als doppelt so stark angestiegen ist wie in Stimmbezirken mit der höchsten Wahlbeteiligung, hat sich die Spreizung der Wahlbeteiligung aber spürbar verringert. Die anhand der repräsentativen Stimmbezirke berechnete Spreizung der Wahlbeteiligung betrug demnach 26,7 Prozent (minus 2,8 Prozentpunkte gegenüber 2013). Einen pauschalen Zusammenhang zwischen Prekarisierung und AfD-Zustimmung weisen jedoch nicht alle Untersuchungen auf. So halten die Autor_innen einer im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung Mitte Januar bis Anfang Februar 2017 durchgeführten repräsentativen Onlinebe6

Vgl. Decker, Parteiendemokratie, 60. Vehrkamp/Wegschaider, Populäre Wahlen, 16. 8 Ebd. 7

Soziale Ausgrenzung und Rechtspopulismus

231 

fragung (n=4892) zu politischen Einstellungen und sozialen Lebenslagen als Ergebnis fest: „Eine AfD-Wahl wird darum nicht pauschal wahrscheinlicher, je ärmer ein Wahlberechtigter ist – im Gegenteil. Die Rechtspopulisten konnten im Erhebungszeitraum auf eine Wählerallianz aus einfachen und stark gehobenen Einkommensschichten bauen.“9

Der Großteil der AfD-Wähler_innen aus objektiv verschiedenen sozialen Lagen teilt zwei gemeinsame subjektive Erfahrungen, die „Zurücksetzung innerhalb der Gesellschaft“ sowie „die Wahrnehmung von Kontrollverlust“, der auf der persönlichen, politischen und nationalstaatlichen Ebene verortet wird. Zugleich wiesen AfD-Wähler_innen insgesamt ein „erkennbar autoritäreres politisches Profil auf als die Gesamtbevölkerung“10. Diese autoritären Einstellungen finden ihre Fortsetzung in einer äußerst stark ausgeprägten Fremdenfeindlichkeit.11 4

Rechter Wählerwechsel in NRW12

Die Volksparteien CDU/CSU und SPD waren die großen Verlierer der Bundestagswahl 2017, da sie erhebliche Stimmeinbußen verzeichnen mussten. Die SPD verlor 5,2 Prozentpunkte, lag mit 20,5 Prozent der Zweitstimmen noch unter dem Ergebnis von 2009 und erzielte damit ihr schlechtestes Ergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Anders als vor vier Jahren, als die CDU/CSU und Bundeskanzlerin Angela Merkel mit deutlichen Gewinnen und einem Abstand zur SPD von rund 6,9 Millionen Stimmen die Wahl für sich entschieden, erlitten 2017 auch die Unionsparteien empfindliche Verluste von 7,4 Prozentpunkten (CDU) und 9,8 Prozentpunkten (CSU in Bayern). Ihr gemeinsames Ergebnis von 33 Prozent ist das zweitschlechteste in der Geschichte der Unions-Parteien; nur bei der ersten Bundestagswahl 1949 erzielten sie mit 31 Prozent einen noch geringeren Stimmanteil. Unbestritten ist, dass der Wahlniedergang der SPD noch stärker ausfällt als jener der Unionsparteien. Am Ende dieser Entwicklung könnte auch in der Bundesrepublik die Erosion der Sozialdemokratie ste9

Hilmer u.a., Einstellung und soziale Lebenslage, 12. Hilmer u.a., Einstellung und soziale Lebenslage, 12f. 11 Vgl. Hilmer u.a., Einstellung und soziale Lebenslage, 36. 12 Vgl. zum Folgenden Häusler/Puls/Balais, Faktoren- und Kontextanalyse zur Bundestagswahl 2017. 10

232 A. Häusler    hen, wie sie in anderen west- und südeuropäischen Ländern, beispielsweise in den Niederlanden oder Italien, bereits eingetreten ist. Besonders bedenklich stimmt in diesem Zusammenhang das Bundestags-Wahlergebnis der SPD in dem vielfach als „Stammland“ bezeichneten Nordrhein-Westfalen, das auch für alle anderen Parteien von Bedeutung ist, weil in dem bevölkerungsreichsten Bundesland rund ein Viertel aller Wahlberechtigten lebt. Für die SPD galt bislang, dass es ihr ohne einen deutlichen Stimmenvorsprung in NRW nicht gelingt, eine Bundestagswahl zu gewinnen.13 Nachdem die SPD in Nordrhein-Westfalen bei der Bundestagswahl 2009 erstmals unter die 30-Prozent-Marke gefallen war, erzielte die Partei 2017 mit 26 Prozent (minus 5,9 Prozentpunkte gegenüber 2013, minus 2,5 Prozentpunkte gegenüber 2009) der Zweitstimmen ihr historisch schlechtestes Ergebnis in NRW. Erhebliche Verluste von bis zu 10 Prozentpunkten musste die SPD vor allem in dem als „sozialdemokratische Herzkammer“ apostrophierten Ruhrgebiet hinnehmen. Ähnlich hoch waren die Verluste in den Städten des Ruhrgebiets bereits bei der wenige Monate zuvor durchgeführten Landtagswahl ausgefallen. In Nordrhein-Westfalen als traditionellem „Kernland“ der SPD-Wählerschaft sind besonders in der Metropole Ruhr starke Verluste an die AfD zu verzeichnen. Allerdings liegt die Zeit der absoluten SPD-Mehrheiten bei Wahlen schon länger zurück: So gelang es der CDU als der zweiten Volkspartei in NRW, schon vor etlichen Jahren bei Kommunalwahlen einige von der städtischen SPD-Hochburgen zu erobern. Die Tatsache, dass die AfD bei der Bundestagswahl 2017 in Sachsen noch vor der CDU zur stärksten Partei bei der Wählerschaft avanciert ist, hat Deutungen zur Folge gehabt, das Problem des deutschen Rechtspopulismus in erster Linie als ostdeutsches Problem zu verorten. Doch in NRW zeigt sich das Problem gleichfalls. Mit dem Einzug der AfD in den NRW-Landtag im Frühjahr 2017 hat sich ein weiterer Konkurrent rechts von der SPD herausgebildet. Die AfD versucht mit sozialpopulistischen Parolen, in SPD-Wählermilieus einzudringen. Dieser Versuch scheint bei der Bundestagswahl 2017 besonders im Ruhrgebiet Wirkung gezeigt zu haben. In Nordrhein-Westfalen, wo die AfD im Mai 2017 mit 7,9 Prozent bereits in den Landtag eingezogen war, blieb sie mit 9,4 Prozent der Zweitstimmen zwar unter dem Bundesdurchschnitt. Auffällig ist allerdings, dass sie in denjenigen Wahlkreisen überdurchschnittliche Ergebnisse erzielte, in denen die Sozialdemokraten starke Verluste zu verzeichnen hatten: in den Wahlkreisen des Ruhrgebiets. In NRW ge13

Vgl. Korte, NRW-Parteien, 174.

Soziale Ausgrenzung und Rechtspopulismus

233 

lang es der AfD, insgesamt 928.425 Zweitstimmen auf sich zu vereinen, was ein Zugewinn von 556.167 Zweitstimmen gegenüber 2013 bedeutet. Demgegenüber stehen Verluste der beiden Volksparteien von 1.032.956 Zweitstimmen (SPD: minus 470.406, CDU: minus 562.550). In NRW hat sich die Spreizung des Wahlergebnisses 2017 von 15,5 Prozent bei der Vorwahl auf 17,5 Prozent erhöht. Die niedrigste Wahlbeteiligung wurde mit 64,8 Prozent im Wahlkreis Duisburg II und die höchste Wahlbeteiligung mit 82,3 Prozent im Wahlkreis Münster gemessen. Der Wahlerfolg der AfD in NRW gründet sich zu einem relevanten Teil in den herausragenden Wahlergebnissen im Ruhrgebiet, wo 11 ihrer 12 Hochburgen liegen. Durchschnittlich erreichte die AfD im Ruhrgebiet 11,8 Prozent, was ein Plus von 2,4 Prozentpunkten gegenüber dem Landesschnitt ist. Am schlechtesten schnitt die AfD im konservativen Wahlkreis Essen III ab, dem einzigen Wahlkreis des Ruhrgebiets, in dem die Rechtspopulisten ein unterdurchschnittliches Ergebnis erzielten. Auch im stärker ländlich geprägten Kreis Wesel, im die Städte Hattingen, Wetter, Witten und Herdecke umfassenden Wahlkreis Ennepe-Ruhr-Kreis II, in Bochum I, Dortmund I und Unna I (umfasst den Kreis Unna ohne Lünen, Selm und Werne) blieb die AfD unter 10 Prozent. Im NRW-Landtagswahlkampf 2017 setzte die AfD weiterhin auf das Flüchtlingsthema und reicherte es mit populistischen Angstkampagnen weiter an: So war mit Anspielung auf die Ereignisse in der Kölner Silvesternacht 2015/2016 auf einem AfD-Plakat vor dem Hintergrund des Kölner Doms ein kleines blondes Mädchen abgebildet. Der auf dem Plakat gedruckte Wahlslogan lautete: „Mit 18 freut sich Lili noch mehr, dass ihre Eltern AfD gewählt haben!“14 Die AfD erkannte schon im Vorfeld der Landtagswahlen im Mai 2017 die Bedeutung des Ruhrgebiets für ihre Wahlkampagne. Die Partei setzte für die Wählermobilisierung vor allem auf ihren Essener Kandidaten Guido Reil, einen ehemaligen sozialdemokratischen Kommunalpolitiker und Gewerkschafter, der 2016 zur AfD wechselte. Im Landtagswahlkampf produzierte die NRW-AfD nur zwei Plakate mit Personen, bezeichnenderweise zeigte das eine den Spitzenkandidaten Marcus Pretzell und das andere Guido Reil, der mit den Worten „Vertritt die Interessen der kleinen Leute, statt sie zu verraten. Guido Reil, 26 Jahre bei der SPD, jetzt bei uns“ der Wählerschaft vorgestellt wurde.15 14 15

AfD − Wahlplakat NRW-Landtagswahl 2017. Vgl. Roeser, Die Marke, 20.

234 A. Häusler    Reil inszenierte sich als echter „Malocher“, der den Menschen zuhört, ihre Sprache spricht und ihre Probleme ernst nimmt. Mit dem Slogan „Der Steiger kommt“ tourte Reil über das Land. Während des Bundestagswahlkampfs absolvierte er auch zahlreiche Auftritte als Wahlkämpfer in anderen Bundesländern. Auf große Kundgebungen oder Demonstrationen verzichtete die AfD während des Bundestagswahlkampfs. Sie setzte stattdessen auf klassische Wahlwerbung mittels Infoständen und Postwurfsendungen sowie auf eine Präsenz in den Sozialen Netzwerken. Massive Wahlkampfunterstützung erhielt die AfD von dem offiziell von der AfD unabhängigen „Verein zur Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und bürgerlichen Freiheiten“, der im gesamten Ruhrgebiet zahlreiche großformatige Werbeplakate aufhängen ließ, die zur Wahl der AfD aufriefen. Der Verein produzierte zudem eine kostenlos verteilte Wochenzeitung namens „Deutschland-Kurier“, welche Themen im Sinne der AfD aufbereitete und die Parteienkonkurrenz scharf attackierte. Ende August wurde dessen Ausgabe Nr. 8 mit einer Kolumne von Guido Reil kostenlos im Ruhrgebiet verteilt.16 In einem Artikel vom 16. August 2017 mit dem Titel „Das Ruhrgebiet verkommt zum Armenhaus Deutschlands!“ hatte der „Deutschland-Kurier“ Erinnerungen an eine Zeit beschworen, als „ehrliche und fleißige Kumpel, darunter viele zugewanderte Polen“ hart gearbeitet und gut von Kohle und Stahl gelebt hätten. Zugleich wurde die aktuelle Situation des Ruhrgebiets als umfassende Krise geschildert, die durch Armut, Arbeitslosigkeit und zerfallende Infrastruktur sowie durch Kriminalität und Unsicherheit geprägt sei. Für letztere machte der Artikel Migranten und Muslime verantwortlich.17 Diese Beispiele rechtspopulistischer Agitation zeigen zweierlei: Erstens füllt die AfD mit sozialpopulistischen und rassistischen Kampagnen eine politische Leerstelle, indem sie sich dort als „Anwalt des Volkes“ präsentiert, wo andere Parteien nicht mehr entsprechend präsent sind. Und zweitens bietet sie mit diesen Kampagnen unter völkisch-nationalistischen Prämissen ein Vergemeinschaftungsangebot für Wählermilieus, die sich sonst nicht mehr vertreten fühlen.

16 17

Vgl. Deutschland Kurier, Ausgabe 8. Vgl. Kaspers, Das Ruhrgebiet.

Soziale Ausgrenzung und Rechtspopulismus

235 

5 Rechtes Krisensymptom Die Wirkungsmächtigkeit rechtspopulistischer Nationalisierung der sozialen Frage kann auch als Konsequenz einer Neoliberalisierung linker, sozialdemokratischer Politik verstanden werden, die den unteren sozialen Milieus ihre Anteilnahme entzog. Die sozialdemokratische Abkehr vom keynesianischen Wohlfahrtsstaatsmodell hin zu einem marktorientierten Wettbewerbskorporatismus fand ihren symbolhaften Ausdruck in dem Schröder / Blair-Papier, das als Leitlinie sozialdemokratischer Erneuerung verstanden werden sollte.18 Diese „Artikulation von Sozialdemokratie und Wirtschaftsliberalismus“19 hat dazu geführt, dass sozialdemokratische Parteien aktiv an einer neoliberalen Ausgestaltung der EU mitgewirkt haben, deren Krisenkosten nun in unverhältnismäßig großem Ausmaß von denjenigen lohnabhängigen Bevölkerungsteilen getragen werden müssen, die sich von diesen Parteien eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse versprochen hatten. Diese Enttäuschungen an der Wählerbasis verknüpften sich mit fortsetzenden politischen Entfremdungen im Kontext der großen Koalition und fehlenden Angeboten linker Parteien an die „kleinen Leute“. Im rechten Sozialpopulismus hingegen wird die Empörung über soziale und ökonomische Ungerechtigkeitsverhältnisse instrumentalisiert für völkisch-nationalistische Politikansätze.20 Der Rechtspopulismus ist also sowohl ein Krisenprodukt parlamentarischer Demokratien wie zugleich deren Totengräber. Es droht aktuell die Gefahr, dass „regressive Modernisierung und postdemokratische Politik zu einer autoritären Strömung führen, die sich der liberalen Grundlagen unserer Gesellschaft entledigt.“21 Wir haben es aktuell jedoch nicht nur mit einem Rechtsruck zu tun, sondern vielmehr mit einer gesellschaftlichen und politischen Polarisierung, die auch den Raum eröffnet für eine neue Politik der Anerkennung für das „Verlangen nach einer vertrauten und beherrschbaren Welt“22. Der ausgrenzende Populismus verstärkt menschenrechtswidrige, demokratiefeindliche und rassistische Einstellungen. Deshalb bedarf es verstärkter kollektiver Anstrengungen zur Stärkung sozialer Integrationspotenziale und zur Stärkung der demokratischen Zivilgesellschaft.

18

Vgl. Schröder/Blair, Der Weg nach vorne. Ryner, Der neue Diskurs, 243. 20 Vgl. Häusler/Roeser, Die AfD, 36. 21 Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft, 233. 22 Hillebrand, Die Irrtümer der Linken, 179. 19

236   Literatur

A. Häusler 

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Soziale Ausgrenzung und Rechtspopulismus

237 

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  Maja Malik

Armut in den Medien1

Immer wieder wird Armut in Deutschland zum großen Medienthema. Mal werden Hartz-IV-Empfänger_innen mit „spätrömischer Dekadenz“ oder „Geld fürs Nichtstun“ in Verbindung gebracht,2 mal gerät die Verteilung des Essens bei den „Tafeln“ in die Diskussion, mal weist eine neue Studie die steigende Zahl von Armut betroffener Menschen nach, mal ruft der Tod eines verwahrlosten Kindes eine umfangreiche Medienberichterstattung hervor. Solche Skandale, Provokationen, weitreichenden politischen Entscheidungen und umfassenden statistischen Erkenntnisse sorgen für Aufregung in der Öffentlichkeit und werden in fast allen journalistischen Sendungen und Blättern zum Thema. Andere Themen im Zusammenhang mit Armut und sozialer Ausgrenzung werden in der öffentlichen Diskussion weniger sichtbar, etwa die Familien am Rande des Existenzminimums, deren Kinder nicht mit ins Kino gehen können; die alten Menschen, die sich mit ihrer Rente nicht mehr als das Allernötigste leisten können; die Jugendlichen mit mangelnder Schulbildung, die zwar nicht negativ auffallen, aber keine Perspektive auf Arbeit und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben haben. Die Ursachen und Auswirkungen ihrer Armut sind vielfältig und komplex  und bieten keine spektakulären Anlässe für eine mediale Berichterstattung. 1

Die Bedeutung der Medien für die Wahrnehmung von Armut

Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und das Bewusstsein Einzelner für Armut in einer Gesellschaft hängen zentral damit zusammen, wie diese Themen in den Medien behandelt werden. In komplexen 1

Dieser Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Textes, der bereits in der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (Nr. 51-52/2010) erschienen ist. Wir danken der Bundeszentrale für Politische Bildung für die freundliche Abdruckgenehmigung. 2 Vgl. Westerwelle, An die deutsche Mittelschicht denkt niemand.

Armut in den Medien

239 

Gesellschaften können gesellschaftliche Ereignisse und Entwicklungen von Einzelnen nicht mehr alleine überblickt werden. Journalistische Medien greifen diejenigen Themen auf, die sie für interessant und relevant für ihr Publikum halten. Auf diese Weise stellen sie Öffentlichkeit für diese Themen her. Dabei finden verschiedene Themen unterschiedlich große Beachtung  in den Medien wie in der Öffentlichkeit. Etwa wird die öffentliche Aufmerksamkeit umso größer, je mehr Medien über dieselben Themen berichten. Auch die Häufigkeit der Berichterstattung über ein Thema, der Umfang der Berichte und ihre Platzierung innerhalb von Sendungen, Zeitungen und Internetseiten beeinflussen, wie groß die öffentliche Beachtung eines Themas wird. Auf diese Weise werden diejenigen Themen, die gesellschaftlich diskutiert werden und als wichtig gelten, von den Medien mitbestimmt. Doch nicht nur die öffentliche Aufmerksamkeit für ein Thema, sondern auch die Erwartungen, Vorstellungen und Einstellungen der Menschen zu diesem Thema werden durch seine Darstellung in den Medien geprägt. Indem Journalistinnen und Journalisten in ihrer Berichterstattung bestimmte Aspekte und Akteure in den Vordergrund stellen, während sie andere gar nicht oder nur am Rande behandeln, definieren sie Problemsichten und Verantwortlichkeiten und legen ihrem Publikum einen Interpretationsrahmen nahe. Wie einzelne Bürgerinnen und Bürger sowie entscheidende Personen und Institutionen Probleme der Armut und Ausgrenzung wahrnehmen und bewerten, wird daher wesentlich durch die mediale Berichterstattung geprägt. 2

Armut in den Medien: auch eine Frage der Perspektive

Dennoch wurde der mediale Umgang mit dem Thema Armut bislang nicht umfassend und systematisch untersucht. Vielmehr gibt es nur wenige wissenschaftliche Arbeiten, die sich dieses Themas annehmen. Vielleicht liegt das auch daran, dass sowohl Armut viele Facetten hat und komplex ist als auch „die Medien“ sehr vielfältig sind. Sie umfassen in den verschiedenen Kanälen Print, Hörfunk, Fernsehen und Internet die unterschiedlichsten Angebote, von klassischen Nachrichten und Reportagen über Blogs und Chatportale bis zu Serien und Spielfilmen, Talkshows und Dokusoaps. Im „Tatort“ werden dabei ebenso immer wieder Themen im Zusammenhang mit Armut und Ungleichheit aufgegriffen und visualisiert wie in Sendungen wie „Frauentausch“, „Raus aus der Schuldenfalle“ oder „Teenie-Mütter“. Hier sehen wir – sicherlich oft diskussionswürdige – Inszenierungen des Fernsehens von Armut und Hilflosigkeit; auch Zusammenhänge mit

240 M. Malik    Armutsrisiken wie Arbeitslosigkeit oder mangelnden Bildungschancen werden hergestellt. Auf Webseiten von Kirchen, Behörden und Verbänden, in Blogs, auf Twitter und auf Facebook werden viele verschiedene Bereiche von Armut, Armutsrisiken und sozialer Ungleichheit öffentlich thematisiert und auch diskutiert. Auch von Armut Betroffene stellen selbst Medien her, zum Beispiel in Obdachlosen-Zeitschriften.3 Und nicht zuletzt berichten journalistische Nachrichtenmedien wie lokale und überregionale Zeitungen, politische Magazine, Nachrichtensendungen und Reportagemagazine über diese Themenbereiche. Diese stehen im vorliegenden Beitrag im Mittelpunkt, weil journalistischen Medien nach wie vor die größte Glaubwürdigkeit beigemessen wird und auch eine weite Verbreitung und Diskussion von Themen nach wie vor maßgeblich über journalistische Berichterstattung angeregt wird. Behandelt man die Frage, wie Armut in den Medien dargestellt und diskutiert wird, prägt die Auswahl der Medienangebote das Ergebnis einer Untersuchung. Bezieht man beispielsweise das Fernsehprogramm der ARD insgesamt über einen gewissen Zeitraum in die Analyse ein, so lassen sich in Talkshows, nächtlichen Dokumentationen oder in den politischen Magazinen vermutlich andere Perspektiven auf die Armut in Deutschland finden, als wenn man die Analyse auf die „Tagesschau“ beschränkt. Untersucht man eine große Boulevardzeitung und einen lokalen Radiosender, lassen sich wahrscheinlich weniger Berichte finden, die sich mit den komplexen Strukturen von Armut auseinandersetzen, als wenn man sich in der Untersuchung auf überregionale Qualitätszeitungen konzentriert. Nicht nur die Entscheidung, welche Medien und Angebote betrachtet werden, prägt die Ergebnisse, sondern auch der Zeitpunkt bzw. Zeitraum, den man analysiert. Wählt man (zufällig oder absichtlich) einen Untersuchungszeitraum, in dem Gesetzesänderungen anstehen (z.B. Arbeitslosengeld, Rentenansprüche, Mindestlohn), in dem provokante Äußerungen lanciert werden (z.B. die Äußerung des CDU-Generalsekretärs Peter Tauber im Sommer 2017: „Sie brauchen keine drei Minijobs, wenn Sie etwas Ordentliches gelernt haben.“4), wenn umfassende Armutsberichte (z.B. des Paritätischen Gesamtverbands) veröffentlicht werden oder tragische Ereignisse stattfinden (z.B. Verhungern eines Kindes), wird häufig und in vielen Medien über Armut berichtet, konzentriert auf das aktuelle Ereignis. In so genannten „ereignislosen Zeiten“ hingegen kann das Bild anders aussehen. Andere 3 4

Vgl. Koch/Warneken, Selbsterzeugnisse von Obdachlosen. CDU-Generalsekretär Peter Tauber am 3.7.2017 auf Twitter.

Armut in den Medien

241 

Dimensionen der Armut mit anderen Akteuren können ihren Weg in die Medien finden, allerdings mit weniger Verbreitung in den verschiedenen Medien. Die Antwort auf die Frage, wie die Medien über Armut berichten, hängt also wesentlich davon ab, welcher Ausschnitt der Medienberichterstattung in den Blick genommen wird. Die wissenschaftlichen Publikationen, die sich bisher mit der medialen Darstellung von Armut in Deutschland auseinandersetzen, nehmen dabei oft eine eher eingeschränkte Perspektive ein, die auf einzelne Mediendiskurse begrenzt ist. Beispielsweise wird die öffentliche Diskussion über Armut in der Geschichte der Bundesrepublik anhand ausgewählter Beispiele illustriert5 oder die bildliche Darstellung von Armut auf ausgewählten Pressefotos untersucht.6 Zusammengenommen weisen diese Arbeiten dann auf viele Defizite im Umgang der Medien mit Armut und sozialer Ausgrenzung hin: Armut in Deutschland werde in den Medien vernachlässigt, weil arme Bevölkerungsgruppen keine Lobby haben7 und weil ein Großteil der Bevölkerung dem Thema nicht in Berührung kommen möchte.8 Vielmehr würde die zunehmende Armut in der Bundesrepublik „von Publizisten wie Politikern weiterhin verharmlost und verdrängt“9. Armut werde „portioniert“ dargestellt; indem von Armut Betroffene in einzelne Problemgruppen (etwa Kinder, Alleinerziehende, Arbeitslose, Rentner_innen, Migrant_innen) aufgeteilt werden, werde das gesellschaftliche Problem von den Medien entschärft.10 Zudem konzentrierten sich die Medien auf dramatische Einzelschicksale, die Aktivitäten der politischen und wirtschaftlichen Eliten und die Äußerungen einzelner prominenter Personen und Entscheidungsträger_innen zu Armutsthemen.11 Die Probleme, Ursachen und Folgen von Armut würden dadurch aus der Berichterstattung verdrängt und in der öffentlichen Wahrnehmung verharmlost. „Zwischen Tabuisierung und Dramatisierung bewegt sich dabei die Bandbreite.“12

5 Vgl. Stang, Armut und Öffentlichkeit; Butterwegge, Vom medialen Tabu zum Topthema? 6 Vgl. Mann/Tosch, Armut im Blickfeld. 7 Vgl. Vock, Was ist wichtig? 8 Vgl. Stang, Armut und Öffentlichkeit, 832. 9 Butterwegge, Vom medialen Tabu zum Topthema?, 31. 10 Arlt/Storz, Portionierte Armut. 11 Vgl. Butterwegge, Vom medialen Tabu zum Topthema?, 30. 12 Stang, Armut und Öffentlichkeit, 823.

242 M. Malik    Diese Ergebnisse sind wichtig, weil sie die Mechanismen der Berichterstattung in eben diesen Diskursbeispielen beschreiben und damit die Kategorien aufzeigen, anhand derer sich der Umgang der Medien mit Armut analysieren lässt. Allerdings sind sie durch weitere Analysen zu ergänzen, die die Armutsberichterstattung systematischer betrachten. Nur so kann insgesamt ein vollständigeres Bild über den Umgang der Medien mit Armut gezeichnet werden. Einen Beitrag dazu stellt die Studie dar, die den Schwerpunkt dieses Textes bildet und für die im November 2009 über den Zeitraum von 14 Tagen die grundlegenden Mechanismen der Berichterstattung über Armut bei einer Auswahl von reichweitenstarken, überregionalen Medien empirisch analysiert wurden.13 Untersucht wurden alle Beiträge von 17 Nachrichtenmedien, welche Armut als Mangel an Teilhabe- und Verwirklichungschancen zum Thema hatten und explizit über eine finanzielle und materielle Unterversorgung oder einen Mangel an Erwerbsbeteiligung, Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnen sowie politischer und gesellschaftlicher Teilhabe berichteten.14 Um Erklärungsmuster über das Zustandekommen der Armutsberichterstattung zu gewinnen, wurden darüber hinaus Journalistinnen und Journalisten dieser Medien zu den Entscheidungsstrukturen und -strategien befragt, welche die Berichterstattung über Armut in ihren Medien prägen.15 Auch diese Studie ist notwendigerweise beschränkt: auf einen begrenzten Untersuchungszeitraum, auf ausgewählte Medien und damit auf eine begrenzte Zahl von Beiträgen über Armut (75 Beiträge).16 Damit bleibt unklar, inwiefern die ermittelten Berichterstattungsmuster auch bei anderen Medien oder in Zeiten mit anderen Nachrichtensituationen angewandt werden. Für die untersuchten Medien können 13

Malik, Zum Umgang der Medien mit Armut und sozialer Ausgrenzung. Die Inhaltsanalyse erfasste vom 02.11. bis 15.11.2009 die Berichterstattung folgender Medienangebote: Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, taz, Bild, Bild am Sonntag, Zeit, Spiegel, Focus, ZDF heute, ZDF heute journal, ARD tagesschau, ARD tagesthemen, RTL aktuell, „Informationen am Morgen“ (Deutschlandfunk), Inforadio Berlin Brandenburg (5−9 Uhr), Spiegel Online, Frankfurter Rundschau online. 15 Eine ausführliche Beschreibung des Methodendesigns ist im Abschlussbericht der Studie nachzulesen: Malik, Zum Umgang der Medien mit Armut und sozialer Ausgrenzung. 16 In den ersten beiden Novemberwochen 2009 wurden in den untersuchten Medienangeboten 75 Beiträge identifiziert, die sich explizit mit Themen im Zusammenhang mit Armut befassten. Diese geringe Fallzahl hat zur Folge, dass die Ergebnisse nicht seriös anhand von Prozentwerten dargestellt werden können, sondern mit absoluten Zahlen und Verhältnisangaben. 14

Armut in den Medien

243 

die Mechanismen der Armutsberichterstattung allerdings systematisch beschrieben werden. Und die Befunde der Studie zeigen, dass die neue, empirische Perspektive auf die Armutsberichterstattung auch zu neuen Ergebnissen führt. 3

Vom Tabu zum Topthema? Der Umfang der Armutsberichterstattung

Während Armut lange als Tabu-Thema der Medienberichterstattung galt, stellt Christoph Butterwegge fest, dass Armut heute „fast zu einem Topthema deutscher Massenmedien“17 geworden ist. Für die untersuchten Medien im Untersuchungszeitraum stellt sich die Lage differenzierter dar. In einer Zeit, die von den befragten Journalistinnen und Journalisten als „nachrichtenarm“ charakterisiert wird, in der also keine spektakulären Ereignisse und weitreichenden Entscheidungen eine medienübergreifende Berichterstattung veranlassen, wurden immerhin 75 Beiträge veröffentlicht, davon überwiegend in den untersuchten Printmedien (52 Beiträge). Das weist darauf hin, dass Armut in den Redaktionen unabhängig von besonders spektakulären Berichterstattungsanlässen grundsätzlich als relevant bewertet und behandelt wird, wenn auch überwiegend auf den „hinteren“ Plätzen im Medienangebot und damit mit geringerem Beachtungsgrad. Dies bestätigen auch jüngere Langzeitstudien, welche die vollständige Berichterstattung über Armut, soziale Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit in ausgewählten Qualitätszeitungen seit 1946 empirisch erfasst haben.18 Sie zeigen, dass die Häufigkeit der Berichterstattung in den vergangenen 70 Jahren deutlich angestiegen ist. Dabei wird zum einen ein Zusammenhang zwischen der Häufigkeit der Berichterstattung mit der tatsächlichen Veränderung gesellschaftlicher Armutsindikatoren offensichtlich – das heißt, dass Medien „auf steigende soziale Ungleichheit reagieren“19. Zum anderen wird erneut deutlich, dass besondere Anlässe in der Gesellschaft zu einer besonderen Häufung journalistischer Berichterstattung führen. So wurde Armut in Deutschland im zeitlichen Zusammenhang mit der Deutschen Einheit, mit der Rentendiskussion 1999 und der ab 2003 geführten Dis-

17

Butterwegge, Vom medialen Tabu zum Topthema?, 31. Vgl. Schröder/Vietze, Mediendebatten über soziale Ungleichheit, 48 f.; Petring, Die drei Welten des Gerechtigkeitsjournalismus, 375 ff. 19 Schröder/Vietze, Mediendebatten über soziale Ungleichheit, 59. 18

244 M. Malik    kussion um die Hartz-IV-Reformen von den Medien besonders häufig thematisiert.20 Allerdings berichten einzelne Medien in sehr unterschiedlichem Umfang über Armut und Armutsrisiken. Auch die Länge der Beiträge variiert erheblich. Die Reichweite von Armutsthemen kann im Einzelfall also sehr gering sein – es hängt von den jeweils genutzten Medien ab, inwiefern Probleme der Armut von einzelnen Bürgerinnen und Bürgern sowie von den entscheidenden Institutionen und Akteuren überhaupt wahrgenommen werden können. Drei verschiedene Gründe für die unterschiedliche Häufigkeit der Armutsberichterstattung lassen sich in den Interviews mit verantwortlichen Journalistinnen und Journalisten finden: – Erstens verfügen Medien über unterschiedlich großen Platz bzw. unterschiedlich viel Zeit für die Berichterstattung insgesamt. Sie müssen also in unterschiedlich großem Maß eine Auswahl unter möglichen Themen treffen. Entsprechend werden zum Beispiel Ereignisse im Zusammenhang mit Armut, denen die Journalistinnen und Journalisten weniger Bedeutung beimessen, in den relativ kurzen Fernsehnachrichten seltener zum Thema als in Tageszeitungen. – Zweitens spielt in den redaktionellen Konzepten der Redaktionen das Kriterium der Tagesaktualität eine unterschiedliche Rolle bei der Themenauswahl. Einige Medien berichten grundsätzlich nur über Ereignisse, die am Tag der Berichterstattung stattgefunden haben. Bei ihnen werden daher Themen gegebenenfalls nicht berichtet, weil sie nicht als tagesaktuell bewertet werden. Dieser redaktionelle Grundsatz hat insbesondere bei Armutsthemen weitreichende Folgen: Armut ist kein akut auftretendes, sondern ein permanentes und dauerhaft relevantes Problem- und Themenfeld. Dies steht im Widerspruch zu redaktionellen Routinen, die vor allem auf aktuelle Ereignisse und akute Entwicklungen ausgerichtet sind. – Drittens wird Themen im Zusammenhang mit Armut in den Redaktionen eine grundsätzlich unterschiedliche Relevanz beigemessen. Fünf der befragten Redaktionen widmen der Armutsberichterstattung eine besondere Aufmerksamkeit, weil sie ihr Publikum besonderes interessiere und eine kontinuierliche Berichterstattung über Armut im eigenen Anspruch der Redaktion liege. In anderen Medien werden Armutsthemen zwar weitgehend als relevant und für das Publikum interessant beschrieben, jedoch finden sie keine besondere Beachtung. Über Armut wird nur dann berichtet, wenn aktuelle Anlässe oder interessante Themenvorschläge von Autor_in20

Petring, Die drei Welten des Gerechtigkeitsjournalismus, 391.

Armut in den Medien

245 

nen Anlass dazu bieten. Diese unterschiedliche Verankerung in den Redaktionen hat zur Folge, dass Armutsthemen in den verschiedenen Medien nicht dieselbe Chance auf Veröffentlichung haben. 4

Schicksale und Strukturen: Themen und Rahmen der Armutsberichterstattung

Die bisherigen Auseinandersetzungen mit Armutsberichterstattung in Deutschland weisen darauf hin, dass vor allem tragische Einzelschicksale, die Äußerungen prominenter Personen sowie statistische Daten zum Medienthema werden, während strukturelle Ursachen sowie Lösungen für Probleme der Armut eher verschwiegen werden.21 Dieser generelle Befund lässt sich mit den Ergebnissen der vorliegenden Studie nicht bestätigen. Die Themen der Berichterstattung waren im November 2009 sehr heterogen und ließen sich nur in wenigen Fällen auf dieselben Anlässe zurückführen. Hunger, Flüchtlinge und Verschuldung wurden ebenso gelegentlich zum Medienthema wie Hartz-IV-Regelungen, mangelnde Gesundheitsversorgung und Obdachlosigkeit. Insgesamt greifen diejenigen Medien, die überhaupt über Armut berichten, in einem kurzen Untersuchungszeitraum viele verschiedene Facetten des weltweiten und vielschichtigen Phänomens Armut auf. Damit werden viele Aspekte von Armut grundsätzlich medial sichtbar. Allerdings werden nur sehr wenige Themen von verschiedenen Medien gleichzeitig aufgegriffen, so dass sie nur eine geringe Reichweite in der deutschen Öffentlichkeit erhalten. Dabei ist die Armutsberichterstattung deutlich auf Deutschland konzentriert. Die Hälfte der Beiträge bezieht sich auf Ereignisse und Entwicklungen im eigenen Land, während die andere Hälfte der Berichterstattung recht gleichmäßig verschiedene Weltregionen thematisiert. Damit wird Armut in den untersuchten Medien nicht zentral als fremdes und entferntes Problem, sondern zu einem wesentlichen Teil als Problem des eigenen Landes beschrieben. Die Interpretationsrahmen, in denen Armut in der Berichterstattung dargestellt wird, sind außerdem eher analytisch als fallbezogen. Der Großteil der untersuchten Beiträge stellt politische und gesellschaftliche Debatten, Systemmängel mit Armutsfolgen oder die neuen Da21

Vgl. Stang, Armut und Öffentlichkeit; Butterwegge, Vom medialen Tabu zum Topthema?.

246 M. Malik    ten einer Statistik in den Mittelpunkt der Berichterstattung. Überraschend wenig werden Probleme der Armut zentral mit einzelnen Schicksalen Betroffener in Verbindung gebracht. Dem entsprechen auch die häufigen analytischen Bezüge der Berichterstattung: Fast alle untersuchten Beiträge nennen konkrete Ursachen, die für den beschriebenen Mangel verantwortlich gemacht werden. In drei Vierteln der Beiträge werden außerdem konkrete Folgen des Mangels benannt. Und immerhin die Hälfte der Beiträge enthält Vorschläge zur Überwindung von Armut. Damit wird deutlich, dass Fragen nach der strukturellen Bedingtheit von Armut und Debatten über Lösungsmöglichkeiten von Armutsproblemen durchaus zum Gegenstand der medialen Berichterstattung werden. Dies wird durch den Befund zu den Darstellungsformen, mit denen über Armut berichtet wird, unterstützt: Obwohl mehr als die Hälfte der Beiträge unterhaltende Stilformen (Features, Reportagen, Interviews) verwendet, ist ihre sprachstilistische Gestaltung überwiegend neutral-informierend. Nur ein Fünftel der Berichterstattung weist einen lockeren Sprachstil, einen geringen Abstraktionsgrad, eine große Personalisierung, emotionale Darstellungselemente oder eine empörte Diktion auf. Die Vermutung, dass Personalisierung und Emotionalisierung der Berichterstattung dazu beitragen, Sachfragen, Analysen und Problemzusammenhänge aus der öffentlichen Darstellung von Armut zu verdrängen, lässt sich für einen Großteil der untersuchten Beiträge daher nicht bestätigen. 5

Akteure und Quellen der Berichterstattung

Mit den Personen und Personengruppen, die medial in den Zusammenhang mit Armut gebracht werden, entstehen soziale Rahmen, die die öffentliche Wahrnehmung von Armut und Ausgrenzung prägen. Die Akteure der Berichterstattung verknüpfen Armutsthemen mit bestimmten Personenkreisen und Charakteristika, beispielsweise mit Politiker_innen und Behörden, die Armutsprobleme aktiv bearbeiten, und mit von Armut betroffenen Menschen, die gegebenenfalls nur als Betroffene, nicht aber als aktive Akteure dargestellt werden. Indem verschiedene Medien immer wieder ähnliche Darstellungsmuster verwenden, entstehen Stereotype der Armut, die das Phänomen in der öffentlichen Wahrnehmung auf einige Klischees reduzieren. Es zeigt sich, dass von Armut betroffene und bedrohte Menschen nur in einem Fünftel der untersuchten Beiträge als individuelle Akteure dargestellt werden; viel häufiger werden sie in Gruppen (z.B. Hartz-

Armut in den Medien

247 

IV-Empfänger_innen, Obdachlose) thematisiert. Dabei werden zwar viele verschiedene von Armut betroffene Personengruppen repräsentiert (v.a. Familien, alte Menschen, Arbeitslose, Migranten_innen). Besonders häufig, nämlich in vier von zehn Beiträgen, werden jedoch Kinder in Verbindung mit Armutsthemen gebracht, auch unabhängig von kinderspezifischen Themen. Sehr selten, in weniger als jedem zehnten Beitrag, werden Armut und Armutsrisiken dagegen im Zusammenhang mit Alleinerziehenden, mit Geringqualifizierten, Empfänger_innen von Niedriglöhnen und Angehörigen der so genannten Mittelschicht in Verbindung gebracht. Damit bestätigt die vorliegende Studie die Überlegungen vorangegangener Publikationen: Die mediale Darstellung spitzt allgemeine Probleme im Zusammenhang mit Armut zu, indem sie die Betroffenheit von Kindern hervorhebt. Damit werden einerseits die Auswirkungen von Armut auf eine besonders hilflose und schutzbedürftige Bevölkerungsgruppe wiedergegeben, wodurch die Problemlage wahrscheinlich besonders deutlich wird. Andererseits wird die öffentliche Darstellung von Armutsproblemen auf einen Teil der Betroffenen reduziert. Zudem wird die Vermutung bestätigt, dass von Armut betroffene oder bedrohte Menschen in den Medien eher als abstrakte Gruppen denn als konkrete Individuen dargestellt werden, mit der Folge, dass Probleme der Armut in der Öffentlichkeit wahrscheinlich eher als abstrakte Problemlagen denn als konkrete Schwierigkeiten wahrgenommen werden. Die medialen Interpretationsrahmen der Armut werden außerdem dadurch geprägt, ob die von Armut betroffenen Menschen in der Berichterstattung nicht nur benannt, sondern als aktive Informationsquellen genutzt werden. Die Zitate und Quellen in der untersuchten Berichterstattung zeigen, dass von Armut betroffene Personen nur in einem Fünftel der Beiträge als Quellen der Berichterstattung genannt werden. Noch seltener kommen sie durch Zitate selbst zu Wort. Aktive Akteure der Berichterstattung sind in einem überwiegenden Teil der Beiträge dagegen andere Personen, vor allem Politiker_innen, Wissenschaftler_innen und Vertreter_innen von sozialen Einrichtungen und Wohlfahrtsverbänden. Sie werden als konkrete Einzelpersonen mit Namen dargestellt, als Quellen benannt oder sogar wörtlich zitiert. Die Ursachen dafür sind vor allem darin zu suchen, dass viele verschiedene Menschen von verschiedenen Phänomenen von Armut und Ausgrenzung betroffen oder bedroht sind. Von Armut Betroffene sind in der Regel nicht organisiert und gehören keiner Institution an, welche für die Medien als Ansprechpartner_innen dienen könnten. Mehr

248 M. Malik    noch: Von Armut Betroffene ziehen sich eher aus der Öffentlichkeit zurück und sind wegen finanzieller Mängel deutlich häufiger als andere von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen. Auch sind sie „sowohl aus finanziellen Gründen als auch teilweise aus Kompetenzgründen kaum in der Lage, die Medien produktiv für ihre Interessen zu nutzen“22. Hingegen werden durch politische Institutionen sowie Sozialverbände Themen im Zusammenhang mit Armut initiiert und durch Öffentlichkeitsarbeit verbreitet. Sie sind daher leicht verfügbare und zugängliche Informationsquellen für Journalistinnen und Journalisten. Allerdings kann diese Unterrepräsentation von Armut betroffener Menschen als Quellen der Berichterstattung deutliche Auswirkungen auf die Wahrnehmung von Armut in der Öffentlichkeit haben: Der mediale Rahmen legt es nahe, dass von Armut Betroffene wenig aktiv wirken. Damit wird ein Wahrnehmungsmuster gefördert, das von Armut betroffene Menschen eher als Betroffene und Opfer darstellt. 6

Bilder der Armut in den Medien

Die Frage, welche Interpretationsmuster die Medien bei ihrer Berichterstattung über Armut kommunizieren, stellt sich mit Blick auf die visuelle Darstellung von Armut in Bildern und Filmaufnahmen erneut. Noch deutlicher als in Texten werden in Bildern bestimmte Aspekte des Themas in den Vordergrund gerückt und andere vernachlässigt und dadurch bestimmte Wahrnehmungen und Bewertungen propagiert. Mit der Vielzahl der Bilder in den Medien steigt jedoch nicht zwangsläufig die Vielfalt der Bilder. Vielmehr entstehen visuelle Stereotype, wenn Themen im Zusammenhang mit Armut immer wieder mit ähnlichen Motiven bebildert werden. Dadurch können sich standardisierte Darstellungs- und Wahrnehmungsformen entwickeln, sowohl in Bezug auf das Thema Armut insgesamt als auch in Bezug auf die dargestellten von Armut betroffenen Personen.23 Die Bebilderung der Berichterstattung über Armut in den untersuchten Print- und Onlinemedien24 zeigt, dass Armut in Bildern deutlich weniger vielfältig dargestellt wird als in den untersuchten Texten. Ein 22

Stang, Armut und Öffentlichkeit, 823. Vgl. Mann/Tosch, Armut im Blickfeld. 24 Für die Auswertung wurden 63 Abbildungen berücksichtigt, ausschließlich aus den Print- und Onlinemedien. Fernsehbilder wurden nicht ausgewertet. 23

Armut in den Medien

249 

Drittel der Beiträge wird gar nicht bebildert. Ein weiteres Drittel der Abbildungen zeigt Kinder und Erwachsene in so genannten Entwicklungsländern. Und ein Sechstel der Abbildungen besteht aus Grafiken und Diagrammen. Die Bilder der Armut in den Medien konzentrieren sich damit deutlich stärker als die Texte auf die so genannten Entwicklungsländer. Armut in Deutschland wird dagegen häufig gar nicht bildlich dargestellt oder mit Infografiken bzw. den Stereotypen von obdachlosen und bettelnden Erwachsenen visualisiert. Zudem haben vier von zehn Abbildungen nur symbolischen Bezug zum Text. Hier stellt die Abbildung zwar den Thema des Textes dar, aber entweder symbolisch (z.B. durch die Füße und den Gehstock eines Rentners zu einem Beitrag über Altersarmut) oder anhand eines anonymen Beispiels (z.B. mit vielen Näherinnen in einer Fabrik zu einem Artikel über Niedriglöhne für Frauen). Damit wird insbesondere in Bezug auf die Armut in Deutschland deutlich, dass eine konkrete Darstellung von Armut betroffener Menschen in den Medien problematisch ist. Als Ursache benennen Journalistinnen und Journalisten das Problem, dass von Armut Betroffene ungern als solche in den Medien erkennbar werden und daher nur sehr selten für Bildaufnahmen zur Verfügung stehen. Dieses Problem wird dann dadurch bearbeitet, dass Artikel entweder gar nicht bebildert werden, dass Grafiken oder symbolhafte Darstellungen verwendet oder anonyme, stereotype Fotos genutzt werden. Die Bilder der Armut in den Medien produzieren und reproduzieren damit standardisierte visuelle Muster, die einerseits durch abstrakte Grafiken und Symbole, andererseits durch tradierte Stereotype der Armut geprägt sind. Insgesamt wird Armut dadurch als wenig konkretes, von der Lebensrealität des Medienpublikums eher distanziertes Problem dargestellt. 7

Fazit

Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und die Wahrnehmung einzelner Bürgerinnen und Bürger sowie entscheidender Personen und Institutionen für Probleme der Armut und Ausgrenzung wird wesentlich dadurch geprägt, wie diese Themen in den Medien behandelt werden. Allerdings ist der Umgang der Medien mit Themen im Zusammenhang mit Armut äußerst unterschiedlich, schon indem verschiedene Medien in sehr unterschiedlichem Maß über Armut berichten. Eine Armutsberichterstattung findet durchaus jenseits spektakulärer Anlässe statt, über vielfältige Themen, welche der Vielschichtigkeit

250 M. Malik    der Armut durchaus gerecht werden. Allerdings ist ihre Reichweite in der Öffentlichkeit auf das Publikum derjenigen Medien beschränkt, die durch ihre redaktionellen Strukturen eine kontinuierliche Berichterstattung über Armutsthemen ermöglichen. Denn nur sehr wenige Themen werden jenseits besonderer Ereignisse von verschiedenen Medien gleichzeitig aufgegriffen. Diejenigen Medien, die häufiger Themen im Zusammenhang mit Armut und Ausgrenzung aufgreifen, berichten allerdings durchaus mit der notwendigen Komplexität. Die strukturellen Bedingungen, die Folgen und die Lösungsmöglichkeiten von Armutsproblemen werden regelmäßig zum Gegenstand der Berichterstattung und nicht durch Personalisierung, Emotionalisierung oder Skandalisierung verdrängt. Nur der Blick auf die Akteure und die Bilder der Berichterstattung zeigt relativ durchgängig, dass stereotype Muster der Armut auch durch die Medien erzeugt und verbreitet werden. Von Armut betroffene Menschen sind selten individuelle und aktive Akteure in Texten oder auf Bildern. Betrachtet man die Ursachen der unterschiedlichen intensiven und teilweise mit Stereotypen behafteten Berichterstattung über Armut, so offenbart sich eine komplexe Problematik, denn die Mechanismen vieler Medien stehen im Widerspruch zu den Mechanismen der Armut: Während journalistische Medien vor allem aktuelle Ereignisse für ihre Berichterstattung aufgreifen, ist Armut nur selten ein akut auftretendes, sondern in der Regel ein permanentes und dauerhaft relevantes Problem. Zudem sind von Armut betroffene Menschen vergleichsweise wenig öffentlich sichtbar: Sie sind selten organisiert und für die Medien nur schwer als Ansprechpartner_innen verfügbar. Sie ziehen sich eher aus der Öffentlichkeit zurück als andere gesellschaftliche Gruppen und sind umgekehrt wegen ihrer Armut deutlich häufiger als andere von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen. Im Vergleich zu anderen journalistischen Themengebieten unterliegt die Berichterstattung über Armut und Ausgrenzung daher besonderen Schwierigkeiten.

Armut in den Medien

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  Stephan Kiepe-Fahrenholz

Armut in Duisburg – Grenzerfahrungen und Tabubrüche

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Einleitung

Als ich gefragt wurde, ob ich für das vorliegende Buch einen Beitrag zu den Möglichkeiten und Grenzen der Bekämpfung von Armut am Beispiel Duisburgs schreiben wolle, fiel mir ein alter Kalauer ein: Besser arm dran als Arm ab. Als nächstes ging mir durch den Sinn, dass es angesichts des Ausmaßes der Armut, die meine Heimatstadt nicht seit Jahren, sondern seit Jahrzehnten prägt, eigentlich umgekehrt heißen müsste: Besser Arm ab als arm dran. Und just als ich dies zum Titel meines Artikels machen wollte, stellte ich fest, dass ich damit zu spät komme. Der Theologe und Kabarettist Rainer Schmidt, dem seit seiner Geburt beide Unterarme fehlen, hat schon 2004 ein Buch unter dem Titel „Lieber Arm ab als arm dran“ veröffentlicht und schreibt dazu erläuternd auf seiner Internetpräsenz: „Wenn ich die Wahl hätte zwischen fehlenden Armen und ‚arm-dran-Sein‘, ich würde zweifelsohne die fehlenden Arme vorziehen. Meine Behinderung hat längst ihre Schrecken verloren […]. Aus meiner subjektiven Sicht […] sage ich nicht, dass es grundsätzlich besser ist, ‚Arm ab‘ zu haben, als ‚arm dran‘ zu sein. Am liebsten wäre es mir natürlich gewesen, ich hätte Arme und wäre auch nicht ‚arm dran‘. Wenn aber eines von beiden Wirklichkeit ist, dann ist mir ‚Arm ab‘ lieber.“1

Es geht mir hier nicht um die Inklusionsdebatte. Es geht mir erst recht nicht darum, Menschen mit Handicap gegen Menschen in Armut auszuspielen. Aber es ist alles andere als zynisch, wenn ich behaupte, dass unter den transferleistungsberechtigten Duisburger Bürgerinnen und Bürgern die Schmidt’sche Umdrehung des alten Kalauers auf viel Zustimmung stoßen würde. Manche nehmen sie sogar wörtlich. Zum Beispiel diejenigen, die sich selbst eine physische Verletzung zufü1

http://www.schmidt-rainer.com/zum-inhalt-lieber-arm-ab-als-arm-dran.html (Zugriff: 13.11.2017).

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gen, um mal eine Zeitlang in ein sauberes Krankenzimmer zu kommen. Oder diejenigen, die eine Straftat begehen, um ein paar Winterwochen in einer warmen Knastzelle verbringen zu können. Über so etwas werden natürlich keine Statistiken geführt. Offiziell gibt es das gar nicht. Aber wer in Duisburg in der sozialen Arbeit tätig ist, hat schon mal davon gehört, wenn auch als seltene Ausnahme. 2

Fakten und Ursachen

Duisburg ist eine Stadt, in der Indikatoren und Phänomene von Armut, übrigens unabhängig davon, welchem sozialwissenschaftlichen bzw. statistischen Verständnis des Begriffs man den Vorzug gibt, allesamt auf Grenzerfahrungen hinauslaufen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ohne es im Einzelnen zu belegen, stelle ich hier, gestützt auf die kommunalen Sozialberichte2, die Statistiken der Arbeitsagentur und die Antworten der Verwaltung auf Fraktionsanfragen im Stadtrat und seinen Ausschüssen, ein paar Zahlen zusammen: 30.000 offiziell erwerbslos gemeldete Personen, mal etwas mehr, mal etwas weniger, das aber seit etwa 30 Jahren. 14.000 Langzeitarbeitslose. 75.000 Bezieherinnen und Bezieher von Transferleistungen gemäß den Sozialgesetzbüchern, Tendenz steigend. Ob unter den Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren drei oder vier von zehn in Armut leben, ist strittig. Dies alles in Relation zu einer Gesamtbevölkerung von 500.000 Menschen, von denen sich höchstens 140.000 in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis befinden. Von welcher Art solche Beschäftigung, die man kaum Arbeitsplatz zu nennen wagt, vielfach ist, lässt sich daran ablesen, dass das Jahresprokopfeinkommen der Duisburgerinnen und Duisburger im Schnitt 16.760 Euro beträgt. Und wie man unter solchen Umständen sein Leben fristen kann, erhellt die Tatsache, dass etwa 17 % der Stadtbevölkerung bzw. 85.000 Personen überschuldet sind.3 Das Resultat einer Untersuchung der Kreditanfragen und tatsächlich vermittelten Verbraucherkredite in den 15 größten deutschen Städten zwischen September 2016 und August 2017 lautet: Duisburg ist die „Kredithauptstadt“ der Republik4. Das bedeutet: Der Anteil derer, die nicht offen in Armut leben, sondern dies durch Schulden kaschieren, gerade deshalb aber jederzeit in offene Armut fallen kön2

Vgl. Stadt Duisburg, Kommunaler Sozialbericht 2014; Fortschreibung (VI. Bericht) geplant für 2018. 3 Jüngste Zahlen zu Durchschnittseinkommen und Überschuldung aus dem Schuldneratlas der Wirtschaftsauskunftei Creditreform, zitiert in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, Ausgabe Duisburg, vom 13.11.2017. 4 Vgl. Schultz, Städtevergleich.

254 S. Kiepe-Fahrenholz    nen, ist nirgends so hoch wie hier. Und zum Schluss: In den Duisburger Häusern eines großen diakonischen Trägers der stationären Altenhilfe sind zwei Drittel der Pflegebedürftigen auf ergänzende Hilfe zur Pflege nach dem 12. Sozialgesetzbuch angewiesen, weil die eigenen Mittel, die Rente und die Leistungen der Pflegeversicherung nicht ausreichen. Die viel zitierte „drohende“ Altersarmut ist hier längst Realität. Die benannten Sachverhalte gibt es so oder so natürlich auch anderswo. Nicht jedoch in diesem Ausmaß und in dieser Massierung. Neben Duisburg lassen sich wohl noch Oberhausen und Gelsenkirchen nennen. Sonst ist da nicht viel Vergleichbares, auch nicht in den nicht mehr ganz so neuen Bundesländern. Und das alles ist ein Dauerzustand, der schon seit Jahrzehnten währt. Dass man in Duisburg strikt für die Beibehaltung des Solidaritätszuschlags ist – allerdings unter der Voraussetzung, dass er nicht in Duisburg aufgebracht wird, sondern nach Duisburg fließt –, versteht sich von selbst. Damit kommen wir zur Frage, warum das so ist. Sie wird von Bund, Land und Kommune gewohnheitsmäßig unterschiedlich beantwortet. Für den Bund ist klar, dass Duisburg wie alle traditionellen Eisenund Stahlstandorte in der Vergangenheit viel zu wenig für die Gestaltung des Strukturwandels, also für ein post-montanes Gemeinwesen getan hat. Da ist was dran. Für die Stadt ist klar, dass sie wegen ihrer besonderen Problemlage deutlich mehr finanzielle Unterstützung von Land und Bund benötigt als andere Kommunen. Da ist auch was dran. Das Land hängt dazwischen und unterstützt den Ruf Richtung Berlin nach mehr Geld, dies aber vor allem, weil man selbst reichlich entsprechenden Bedarf hat. Gleichzeitig sind Bund und Land in ihrer Rolle als Gesetzgeber eifrig bemüht, Wohltaten wie den Rechtsanspruch auf Kindergartenplätze, die Offene Ganztagsbetreuung an Grundschulen und Leistungen zum Unterhalt für Erwerbslose zu verbessern, freilich ohne für eine entsprechende Finanzierung zu sorgen. Die bleibt zum größten Teil bei der Kommune hängen, die im föderalen System nun mal für die Daseinsvorsorge zuständig ist. Die Stadtkasse ist leer und muss dennoch seit Jahr und Tag immer weiter steigende Sozialausgaben tragen. Darüber hat sich eine enorme Verschuldung aufgetürmt. Dafür können Rat und Verwaltung nichts. Das ist strukturbedingt. Den Letzten beißen die Hunde. Diese Überlegungen sollen zeigen, dass man mit dem Verweis auf Zuständigkeiten und mit dem Zeigen des Fingers auf die jeweils andere Verantwortungsebene die Probleme einer Stadt wie Duisburg nicht in den Griff kriegt und auch nicht deren Ursachen auf die Spur

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kommt. Stattdessen muss man sich die einfache Wahrheit klarmachen, dass es deshalb Armut gibt, weil die Voraussetzungen des Reichtums nicht mehr da sind. Der manchmal romantisch verklärende Rückblick auf den Rheinhausener Arbeitskampf von 1987 und 1988 lässt über den Heldengeschichten allzu schnell vergessen, dass mit der am Ende nur verschobenen, nicht verhinderten Schließung des Krupp-Stahlwerkes rund 6.000 Arbeitsplätze verloren gingen – die daran direkt oder indirekt hängenden Beschäftigungsverhältnisse in Zulieferindustrie, sonstigem Gewerbe und Dienstleistung, die wohl noch einmal doppelt so viel ausmachen dürften, nicht mitgerechnet. 30 Jahre später beabsichtigt der Thyssen-Krupp-Konzern die Fusion seiner Stahlsparte mit einem anderen Anbieter, was aktuell auch wieder etwa 2.000 Arbeitsplätze kosten wird. Diese beiden Eckdaten eines lang anhaltenden Prozesses illustrieren exemplarisch, warum im letzten Quartal des 20. Jahrhunderts die Zahl der Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe in Duisburg von rund 130.000 auf etwas über 50.000 zurückgegangen ist. Im gleichen Zeitraum entwickelte sich der Dienstleistungssektor von 90.000 auf schlappe 100.000 Stellen. Die einseitige Abhängigkeit von der Eisen- und Stahlindustrie, von deren Gewerbesteuern einst großzügig Sportanlagen, Veranstaltungshallen, Kindergärten, Jugendzentren und Seniorenbegegnungsstätten gebaut wurden, erzeugt genau gegenteilige Effekte, seit vor drei Jahrzehnten die Krise ausbrach. Davon hat sich die Stadt bis heute nicht erholt. Die Hinterlassenschaft der Großindustrie ist in Form verseuchter Brachflächen, zersiedelter Stadtteile und verkommener Wohnbebauung zu besichtigen. Grenzwertig. 3

Was kann man tun – was wird getan?

Was hat die Stadt dem entgegenzusetzen? Mehr als man denkt. Nach allem bisher Gesagten überrascht vielleicht die Aussage, dass man in Duisburg sehr wohl auch gut leben kann. Aus der Vogelperspektive des Rückblicks stellt sich heraus, dass die aktuell jeweils gern als untätig oder unfähig betrachtete Stadtverwaltung unter wechselnden Ratsmehrheiten und mit Oberbürgermeistern unterschiedlicher politischer Couleur zum Beispiel eine passable Innenstadt, den wichtigsten deutschen Binnenhafen, viele durchaus vorzeigbare Neubaugebiete und die Voraussetzungen für ein buntes kulturelles Leben auf der Habenseite verbuchen darf. Dazu gehört auch die beharrliche Verteidigung einer sozialen Infrastruktur, die anderswo nicht selbstverständlich ist. Die mit 3,3 Milliarden Euro verschuldete Kommune fördert noch immer niederschwellige Seniorenzentren zur Vermeidung von unnötigen Pflegekosten. Sie hat bislang kein Jugendzentrum ge-

256 S. Kiepe-Fahrenholz    schlossen. Sie investiert nach wie vor in präventive Kinder-, Jugendund Familienpolitik, obwohl die Kosten für Pflichtaufgaben im Bereich der erzieherischen Hilfen von Jahr zu Jahr steigen. Sie hat den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz früher als die meisten anderen Großstädte umgesetzt. Die Liste ist fortsetzbar. Duisburg leistet viel, trotz schwacher Ressourcen. Dennoch ist die eingangs beschriebene massive Armutsproblematik nicht lösbar. Und natürlich sind auch die geschilderten Ursachen dafür mit noch so vielen Maßnahmen nicht zu beseitigen. Die alte Industrie war am Wasser angesiedelt. Das ist in Duisburg nicht nur die Ruhr, sondern der Rhein. Deshalb gibt es in der Stadt nicht einfach ein Nord-Süd-Gefälle wie im übrigen Ruhrrevier. Nicht nur bundesweit prominente sogenannte Problem-Quartiere wie Bruckhausen und Marxloh, sondern auch weniger bekannte wie Beeck im Norden, Hochheide im Westen, Hochfeld nahe der Innenstadt und andere Stadtteile, die aktuell mindestens auf der Kippe stehen, liegen rechts und links der beiden Flüsse. Sie sorgen dafür, dass in Duisburg fast überall direkt neben dem Bemühen um Zukunft der Verfall zu besichtigen ist und das Gemeinwesen insgesamt nicht auf die Beine kommt. 4

Was tun Diakonie und Kirche in einer solchen Situation? Die Antwort ist einfach: Pflaster kleben

Da ist zum Beispiel die „Familienhilfe sofort vor Ort“ im Ortsteil Neuenkamp, der zwischen dem Ruhrorter Hafen und dem Innenhafen ein isoliertes Dasein fristet. Geschäfte stehen leer. Der Müll liegt nicht in, sondern vor den Containern. Aber es gibt auch Straßen mit gepflegten ehemaligen Zechenhäusern und blitzsauberen Bürgersteigen. Von 5.400 Menschen, die hier wohnen, ist ein Viertel von Armut betroffen. Aber davon sprechen die Leute nicht in der Öffentlichkeit. Außerdem sind rund 120 alleinreisende Männer aus dem arabischen und dem nordafrikanischen Raum in einer umgebauten Turnhalle untergebracht. 100 geflüchtete Familien aus 25 Ländern leben in Einheiten der städtischen Wohnungsbaugesellschaft, die sonst wohl leer stehen würden. Und dennoch: „Nichts Schön’res gibt’s auf dieser Welt als Neuenkamp und Kaßlerfeld“, pflegt der Ortsteilbürgermeister humorvoll zu zitieren, und das war auch mal so. Anders klingt es im Stadtteilbüro der Diakonie und bei den zahllosen Tür-und-AngelGesprächen, die die Mitarbeitenden der Familienhilfe in der Kita, in der Schule, im Laden und auf der Straße führen. Da kommt es auf den Tisch: der viel zu geringe Hartz-IV-Regelsatz, der fehlende Schulabschluss, der schlecht bezahlte Job. Und: dass die Männer zu viel sau-

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fen und die Halbwüchsigen sich nur auf der Straße herumtreiben. Nicht zu vergessen: dass die Flüchtlinge angeblich gewalttätig sind und die Frauen belästigen. Das Stadtteilbüro tut, was es kann: Bei Anträgen an das Sozial- und das Jugendamt helfen. Beratungstermine vereinbaren. Raum und Zeit bereitstellen für Spielgruppen, für Frauengruppen. Sprachkurse vermitteln. Aufklären, Menschen miteinander ins Gespräch bringen, Vorurteile bekämpfen. Das alles hilft. Es hilft enorm. Aber es löst natürlich die Probleme nicht. Schauplatzwechsel. Schon zehn Jahre ist es her, dass Diakonie und Kirchengemeinde vor Ort „Ein Netz für Hochfeld“ ins Leben riefen. Zwei Kindertageseinrichtungen, ein Jugendheim und einen Offenen Stadtteiltreff steuerte die Gemeinde, ein niederschwelliges Café, ein Sozialkaufhaus und eine ambulante Pflegestation steuerte die Diakonie bei. Sechs Standorte in dem Duisburger Stadtteil, der neben Marxloh und Bruckhausen die dichteste Problemkonzentration aufweist. Organisiert wurde ein vernetztes System aus Kinderbetreuung, Angeboten für Jugendliche, Erziehungsberatung, Hilfen direkt vor Ort für Erwerbslose, für Wohnungslose und für Menschen mit psychischen Problemen, Seelsorge, Sprach- und Integrationskursen, Drogenhilfe und ambulanter Pflege. Die einzelnen Dienste gibt es immer noch. Das Netzwerk scheiterte. Von drei rat- und hilfesuchenden Menschen, die im ortsnahen System ankamen, zogen zwei binnen kurzer Zeit in einen anderen Stadtteil. Inzwischen hat die AWO ein gut organisiertes Quartiersmanagement aufgezogen. Aber auch sie macht die Erfahrung des Unfertigen, des nur halb Gelingenden. Natürlich beschränken sich Diakonie und Kirche nicht auf die praktische Hilfe innerhalb und außerhalb der von den Sozialgesetzbüchern definierten Regelsysteme. Viel Zeit und Kraft wird seit Jahren in öffentliche Kampagnen investiert. Ein aus nahezu allen evangelischen Trägern und Diensten gespeistes „Forum Kinderarmut“ verfolgte 2008 und 2009 in zwei großen Fachtagungen, einem mehrseitigen Kampagnenplan und zahlreichen Einzelaktionen das Ziel, die wachsende Armut von Minderjährigen in Duisburg umfassend zu thematisieren und ganzheitlich zu bekämpfen. Das Vorhaben verfehlte seine anspruchsvolle Zielsetzung am Ende allein schon deshalb, weil es so viele Ressourcen der beteiligten Mitarbeitenden der kirchlichen und diakonischen Einrichtungen verschlang, dass die Zeit für alle sonstigen Aufgaben und Pflichten dramatisch knapp wurde. 2010 und 2011 schloss sich die Kampagne „Ich will arbeiten“ an. Wieder wurde enormer Aufwand betrieben, um diesmal die Lebenssituation der Zehntausenden von Erwerbslosen in Duisburg in den Fokus

258 S. Kiepe-Fahrenholz    zu rücken. Diskussionen zwischen unmittelbar Betroffenen und Entscheidungsträgern im Arbeits- und Sozialwesen (keine Selbstverständlichkeit und nicht leicht herbeizuführen!), eine monatliche kritische Kommentierung der „Erfolgs“-Zahlen der Bundesagentur, OpenAir-Veranstaltungen in der City, Pressefeldzüge und vieles mehr sollten eine aktive kommunale Arbeitsmarktpolitik einfordern und auf den Weg bringen. Der Rat der Stadt fand genau dies keine gute Idee, sondern zog es vor, die Verantwortung auf die Nürnberger Bundesagentur zu schieben. Die anderen Wohlfahrtsverbände scheuten den Aufwand und blieben in Deckung. Die Duisburger Gewerkschaften hatten mit Dingen wie einem Sozialen Arbeitsmarkt (damals) nichts am Hut und träumten von der Vermittlung aller Erwerbslosen in reguläre Beschäftigungsverhältnisse. Die Arbeitgeberorganisationen verharrten in höflicher Unverbindlichkeit. Die Kampagne versandete schließlich. Die vier geschilderten, sehr unterschiedlichen Antworten auf die Frage, was Kirche und Diakonie in einer Stadt wie Duisburg tun können, sind selbstverständlich nur ein kleiner Ausschnitt, sogar ein recht willkürlicher, aus dem, was Jahr für Jahr geplant, ins Werk gesetzt und vielfach sogar erfolgreich durchgeführt wird. Trotzdem läuft alles auf ein und dieselbe Wahrheit hinaus. Dass es nicht darauf ankommt, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern, wissen wir seit Marx’ Thesen über Feuerbach. Aber auch diese These ist eben Theorie. Bezüglich der Armut in Duisburg gibt es, sieht man von Nuancen ab, unter sämtlichen am Ergehen der Stadt mitwirkenden Beteiligten kein Interpretations- und kein Erkenntnisproblem. Auch die Praxis, also die Verständigung darüber, was zu tun ist, ist im Großen und Ganzen nicht strittig. Die Veränderung will trotzdem nicht gelingen. Wo die Armut grenzwertig geworden ist, machen auch Politik, Verwaltung, Gewerkschaften und Unternehmen, Kirchen, Wohlfahrtspflege und Sozialwirtschaft permanent Grenzerfahrungen. 5

Warum sich nichts ändert

Solche Grenzerfahrungen verschärfen sich enorm durch die Fluchtund Wanderungsbewegungen, die mit einer nicht nur globalisierten, sondern auch zunehmend gewalttätigen Welt so unausweichlich verbunden sind wie das Wetter mit dem Klima. Dass in Deutschland politisch immer noch darüber gestritten wird, ob man denn nun ein Einwanderungsland sei und ob man denn wirklich ein Zuwanderungsgesetz brauche, wirkt in Duisburg als bizarre Abseitigkeit. Eine Stadtbevölkerung, in der etwa ein Drittel und unter den minderjährigen He-

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ranwachsenden sogar über die Hälfte mit dem viel zitierten „Migrationshintergrund“ versehen ist, hat es bezüglich einer funktionierenden Integration seit dem Zuzug der ersten damaligen türkischen „Gastarbeiter“ vor fünfzig Jahren nicht mit dem Ob, sondern mit dem Wie zu tun. Das ist der Grund dafür, dass es zu den ekelhaften Exzessen der Ausländerfeindlichkeit, die andernorts leider an der Tagesordnung sind, in Duisburg bislang noch nicht gekommen ist. „Duisburg kann Integration“, lautet ein Slogan, den schon mehr als ein Oberbürgermeister in seine Reden einzuflechten beliebte. Im Prinzip stimmt er sogar. Unter der grenzwertigen Armutserfahrung bahnt sich hier aber eine Veränderung an. Seit der Gründung der Hüttenwerke an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hat Duisburg noch jede Zuwanderungswelle in die Stadtgesellschaft integrieren können: Menschen aus Polen zu Beginn. Geflüchtete und Vertriebene aus dem Osten Deutschlands nach 1945. Die angeworbenen Arbeitskräfte aus Südeuropa und dann in Massen aus der Türkei seit den 1960er und 1970er Jahren. Der alles entscheidende Schlüssel zu dieser einhundertjährigen Integrationsleistung war Arbeit. Das ist vorbei. Bereits die hier geborenen Kinder der damaligen „Gastarbeiter“ stießen, als sie das Alter von Schulabschluss und Berufsausbildung erreichten, auf Lehrstellenmangel und Massenarbeitslosigkeit. Und vollends werden die seit der letzten EU-Erweiterung zuwandernden Armutsmigrant_innen aus Osteuropa ebenso wie die Geflüchteten aus den Bürgerkriegen im arabischen und afrikanischen Raum, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in Duisburg auf absehbare Zeit keine Arbeit finden. Aktuell leben in der Stadt etwa 6.500 Geflüchtete, die teils noch auf ihr Asylverfahren warten, teils bereits als asylberechtigt anerkannt sind. Dazu kommen mindestens 16.000 Menschen aus Bulgarien und Rumänien, so viele wie in keiner anderen Stadt in Deutschland. Die Integration dieser Menschen scheitert nicht daran, dass Behörden, Verbände, Kirchen und ganze Heerscharen von Ehrenamtlichen nicht das Menschenmögliche und mehr als dieses täten. Sie scheitert daran, dass es gar nicht um ein Zuwanderungsproblem geht, sondern darum, dass enorme Zuwanderung die bereits vorhandene enorme Armut multipliziert. Wann die Grenzwertigkeit zur Grenzüberschreitung wird, ist nur noch eine Frage der Zeit. Kurz und schlecht: Da Kinder, die noch nie erlebt haben, dass Vater und Mutter arbeiten gehen, keine qualifizierten Berufsausbildungen erreichen; da zwischen der verkommenen Wohnung, in der man lebt, und der schönen Welt, die man im Internet konsumiert, keine einzige lebensgeschichtlich zu bewältigende Verbindung besteht; da diejeni-

260 S. Kiepe-Fahrenholz    gen, die qualifizierte Arbeit leisten, wegziehen und diejenigen, die dableiben, für die angebotene Arbeit nicht qualifiziert genug sind; da Bildung ein Privileg ist, das einen bestimmten Sozialstatus der Eltern voraussetzt; da sich Stadtteile zu Ghettos wandeln, weil sich die Leute aus den besseren Vierteln aus verständlichen Gründen abschotten und zugleich die Habenichtse von Nah und Fern aus ebenfalls verständlichen Gründen am liebsten dahin ziehen, wo sie sich auskennen und auf Ihresgleichen treffen; da altgediente Kämpen der erzieherischen Hilfen jetzt die Kinder derer betreuen, die sie vor 30 Jahren betreut haben; da es zwar offiziell keine No-Go-Areas gibt, aber die Straßenbahn in bestimmten Stadtteilen nach Einbruch der Dunkelheit nur noch von den Ärmsten der Armen benutzt wird, und das auch noch nicht selten schwarz – weil das alles und noch viel mehr so ist, wie es ist, wird es in Duisburg wohl bleiben, wie es ist. Denn die viel zitierte Integration oder gar Inklusion im weiten Sinne des Wortes, die einfach nur besagt: „Alle gehören dazu“ – sie hat in Duisburg bereits mindestens eine Generation nicht erreicht. Stattdessen leben schätzungsweise 20 Prozent der Menschen, darunter vorwiegend junge, mit der ebenfalls mindestens seit einer Generation währenden Ausgrenzung. Um dem Fass nun noch den Boden auszuschlagen, möchte ich nach 35 Jahren beruflicher Tätigkeit bei Diakonie und Kirche in Duisburg behaupten, dass dies gewollt ist, oder sagen wir besser: in Kauf genommen wird. Nicht von den vor Ort politisch Verantwortlichen, gewiss nicht. Aber der Mainstream einer im weltweiten und auch im innereuropäischen Vergleich maßlos reichen deutschen Gesellschaft findet es ganz bequem, die Armut auf bestimmte Lokalitäten zu konzentrieren und sie dort mitnichten zu bekämpfen. Trotz viel beschworenem Fachkräftemangel ist die boomende Wirtschaft weder auf den doofen Sven aus Untermeiderich, der so gerade den Hauptschulabschluss geschafft hat, noch auf den geflüchteten Ahmed aus Eritrea, der jetzt in der Sammelunterkunft in Neumühl lebt, angewiesen. Gegenteilige öffentliche Bekundungen sind Sonntagsreden. Es ist nicht wahr, dass in unserer Gesellschaft jede und jeder ins Boot geholt werden soll. Ein Rest soll im Wasser bleiben, Hauptsache, er säuft nicht ganz ab. Es ist nicht wahr, dass alle gefördert und gefordert werden sollen. Ein Bodensatz soll einfach nur ruhig gestellt werden, Hauptsache, es reicht für www und Glotze. Der Rest, der Bodensatz. Das ist Duisburg.

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Abschied von Illusionen

Wenn diese Analyse richtig sein sollte, gilt es vielleicht, angesichts der grenzwertigen Erfahrungen, allmählich mit ein paar Tabubrüchen zu beginnen. Einige will ich abschließend nennen. Wer einer Stadt wie Duisburg helfen will, kommt mit sogenannten Projekten nicht weiter. Es braucht einen mittelfristigen Plan, um das, was auf kommunaler Ebene gegen den weiteren Niedergang entschieden und getan werden kann, in ein sinnvolles Maßnahmenpaket mit realistischen Zielen und kontrollierbarem Output bündeln zu können. Dafür wiederum ist zwingende Voraussetzung, dass der Stadt deutlich mehr Geld als bisher zur Verfügung steht, und zwar nicht hier und da oder gar zeitlich befristet, sondern regulär und auf Dauer. Das wird angesichts der nur langsam und mühsam möglichen Neuansiedlung von Handel und Dienstleistung bestenfalls zu einem Teil aus Gewerbesteuern zu finanzieren sein, und Gott weiß, wann. Deshalb braucht es eine deutliche Erhöhung öffentlicher Zuweisungen, und das heißt konkret: Es muss eine gesamtgesellschaftliche Umverteilung von oben nach unten – statt wie zurzeit von unten nach oben – stattfinden, und zwar mit drastischen Konsequenzen für die Steuerpolitik. Diese Forderung ist problematisch. Sie läuft den politischen Trends zuwider. Aktuell wird sie wohl nur von der Partei Die Linke befürwortet, mit der man sich aber aus guten Gründen vielleicht nicht gern Arm in Arm sehen lässt. Trotzdem darf das kein Tabu sein. Die Forderung nach Umverteilung des gesamtgesellschaftlichen Reichtums muss von der Stadt konsequent und lautstark erhoben werden, und sie verdient jedwede Unterstützung durch Kirchen, Verbände und alle an der Stadtentwicklung Interessierten, auch wenn man sich damit nicht überall Freunde macht. Ein Zweites: Was muss der erwähnte Masterplan leisten und was kann er nicht? Nach dem Zechensterben in den 1960ern fanden die Kumpel weitgehend Ersatzarbeitsplätze in der damaligen Stahlindustrie. Daraus zu schließen, dass irgendwann in Duisburg wieder alle Erwerbsfähigen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sein werden, verkennt den gravierenden Wandel in der Arbeitswelt. Und zu glauben, dass statt endloser Industriebrachen demnächst lauter hoch spezialisierte Technologie- und Dienstleistungsunternehmen das Stadtbild prägen werden, verkennt die Dimensionen. Die Zahl der Friseurinnen, Gastronomen, Unternehmensberatungen und Freizeit-Event-Veranstalter, die von den einheimischen und den zugewanderten Hartz-IVEmpfänger_innen benötigt werden, ist begrenzt. Es darf kein Tabu sein, in Duisburg dem Traum vom Strukturwandel und der Hoffnung

262 S. Kiepe-Fahrenholz    auf Vollbeschäftigung endlich mal den Abschied zu geben und auch nicht mehr volltönend davon zu reden. Die Leute glauben es sowieso schon lange nicht mehr. Stattdessen ist es das Erste und Wichtigste, dass niemand einfach von morgens bis abends in der Gegend herumhängt und allein schon deshalb von jedweder Teilhabe an der Stadtgesellschaft ausgeschlossen ist. Was man öffentlich geförderte Arbeit oder Sozialen Arbeitsmarkt oder von mir aus bloß Beschäftigungsmaßnahme nennt, muss in Duisburg mit aller Macht ausgebaut werden. Die Finanzierung solcher Instrumente davon abhängig zu machen, ob und wie viele Personen damit in den Ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden, verdankt sich einer Illusion, die merkwürdigerweise von konservativer wie von linker Politik gleichermaßen gepflegt wird. Es darf kein Tabu sein, davon auszugehen, dass in Duisburg ein erheblicher Teil der Bevölkerung nie wieder eine „richtige“ Arbeit bekommen wird. Umso wichtiger ist es, dass solche Menschen nicht einfach mit „Stütze“ auf die heimische Couch geschickt werden, sondern alle irgendetwas Sinnvolles zu tun bekommen. Bedarf an einfachen niederschwelligen Dienstleistungen besteht in Hülle und Fülle, weil dafür niemand jemanden einstellt. In diesem Zusammenhang von „Zwangsarbeit“ zu reden, verkennt in grotesker Weise, wie absolut unverzichtbar es für die Würde des Menschen ist, einer Tätigkeit außerhalb der eigenen vier Wände nachzugehen und dafür einen wie auch immer gearteten Lohn zu bekommen, damit sich die Sache lohnt. Nur so (und nicht etwa über ein „voraussetzungsloses Grundeinkommen“) vermitteln sich Interdependenzen zwischen Menschen, soziale Austauschprozesse und die fundamentale Erfahrung, dass ich, und wenn ich noch so wenig bin und kann, an irgendeiner Stelle gebraucht und wegen meines Nutzens für andere, und sei er noch so gering, geschätzt werde. Wie man ohne diese, biblisch übrigens gut begründete, Voraussetzung die inklusive Forderung nach der Partizipation aller am Gemeinwesen umsetzen will, ist mir schleierhaft. Die Abgehängten, von denen wir hier sprechen, haben Kinder. Wenn eine inzwischen konsentierte Erkenntnis lautet, dass Armut vererbt wird, dürfte es nicht viel bringen, ständig an den Erblassern herumzudoktern. Es ist natürlich richtig, dass Eltern niemals aus der Pflicht für ihre Kinder entlassen werden dürfen. Aber den grundgesetzlich garantierten Schutz der Familie so weit zu fassen, dass die Verweigerung von Zukunfts- und Bildungschancen geschützt wird, ist Unsinn. Es darf kein Tabu sein, jungen Menschen auch von Amts wegen konkrete Perspektiven im klaren Gegensatz zu sozialen, kulturellen oder religiösen Verbohrtheiten ihrer Elternhäuser zu eröffnen. Wer an die-

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ser Stelle eine Kinder-, Jugend- und Familienhilfe nach DDR-Muster wittert, muss Auskunft darüber geben, warum es die nächste Generation nur deshalb nicht schaffen soll, weil es die Vorgängergeneration nicht mehr schaffen wird. Die Stadtgesellschaft sollte sich darin üben, es als Erfolg zu feiern, wenn es jemand hinkriegt, bestimmte Quartiere und Milieus zu verlassen und eine Zukunft zu gewinnen, die sich dann möglicherweise nicht mehr in Duisburg abspielen wird. Damit kommen wir zum letzten Punkt. Es wird höchste Zeit, mit der Erwartung aufzuräumen, dass es „in Marxloh wieder so schön wie früher“ werden könnte. Die Stadt ist gut beraten, sich damit abzufinden, dass sie über eine ganze Reihe von Stadtteilen und Quartieren verfügt, in denen die vorhandene Armut neue Armut anzieht. Das wird sich nicht mehr umkehren. Also muss es darum gehen, auch in den armen Vierteln nicht irgendwie, sondern menschenwürdig leben zu können. Es ist daher richtig, wenn die Kommune schon seit einiger Zeit Schrottimmobilien schließt und ausbeuterische Vermieter zur Rechenschaft zieht. Das bleibt aber Stückwerk, wenn man den Leuten nicht sagen kann, wo sie denn stattdessen hinziehen sollen. Mindestens so wichtig wie Neubauten im Speckgürtel, mit denen man, mühsam genug, mittelständischen Zuzug generieren will, sind öffentlich geförderte Wohnungsbau-, Renovierungs- und Wohnumfeldprogramme für die armen Stadtteile. Wenn sie denn arm bleiben, muss man wenigstens anständig in ihnen leben können. Runde Tische und konzertierte Aktionen vor Ort können da viel wertvolle Arbeit leisten, auch wenn immer die Gefahr besteht, dass die Probleme nur zerquatscht werden. Die Erfahrung lehrt, dass es mit ganzheitlichen Ansätzen im Sozialraum gelingt, Menschen fit zu machen. Die Fitness beweist sich dann zumeist daran, dass sie wegziehen. Darüber muss man sich freuen. Wenn arme Quartiere, die arm bleiben, am Ende die Funktion einer menschenwürdig ausgestatteten Durchgangsstation haben, dann ist dies wohl keine Rolle, von der man träumt. Aber jedenfalls besser als das, was wir jetzt haben. Was ich mir also, summa summarum, für meine Stadt wünsche, ist, dass sie bewusst darauf zugeht, ein finanziell ausreichend ausgestatteter, effizient organisierter und sich seiner Möglichkeiten und Grenzen bewusster Reparaturbetrieb zu werden – mit den entsprechenden Konsequenzen für die Rolle der Verbände, der Vereine, der Gewerkschaften und natürlich auch der Kirchen und anderer Religionsgemeinschaften. Die Frage wird am Ende vermutlich gar nicht mal die nach dem dafür notwendigen Geld sein, sondern ob sich in Politik, Wirtschaft und den Organisationen der Zivilgesellschaft genügend Frauen und Männer finden, die nach Duisburg gehen bzw. in Duis-

264 S. Kiepe-Fahrenholz    burg bleiben, um sich an dieser Aufgabe zu beteiligen. Dass es anderswo hübscher ist, bedeutet ja noch nicht, dass es in Duisburg nicht sinnvoller als anderswo sein könnte. Wer ein altes Auto so weit in Schuss hält, dass es noch läuft und einigermaßen sicher von A nach B fährt, tut ein gutes Werk und kann, wenn es zudem noch gelingt, dass die Karre die Luft weniger verpestet als früher, daran sogar richtig Freude haben. Dass man damit eines schönen Tages nochmal ein Formel-1-Rennen fährt, muss man sich allerdings abschminken. Literatur Schultz, Stefan, Städtevergleich. Wo die meisten Kreditnehmer wohnen, Spiegel Online, 17.11.2017, online: http://www.spiegel.de/ wirtschaft/service/kredite-duisburger-buchen-laut-staedtevergleich -die-groessten-kredite-a-1178161.html (Zugriff: 18.11.2017). Stadt Duisburg (Hg.), Kommunaler Sozialbericht 2014, online: https:// www.duisburg.de/vv/oe/dezernat-iii/50/amt_fuer_soziales_und _wohnen.php.media/30780/15-0535_Sozialbericht_2014_Final _05_11_2015.pdf (Zugriff: 04.04.2018).

  Johannes D. Schütte

Armutsspiralen in Deutschland Multidimensionale Wirkungszusammenhänge und Ansatzpunkte für Gegenstrategien

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Einleitung

Die Feststellung, dass es auch in reichen Industrienationen wie der Bundesrepublik Deutschland Armut gibt, ist nicht neu. Und auch die Auseinandersetzungen darüber, wann ein Mensch als arm gilt, hat mittlerweile schon Tradition. Einige setzen die Armutsgrenze (orientiert am SGB-II-Leistungsanspruch) für alleinlebende Personen bei einem Monatseinkommen von ca. 400 Euro plus Wohnkosten an, andere berufen sich auf die offizielle EU-Armutsdefinition (60% des durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommens), wonach man aktuell über rund 950 Euro verfügen muss, um nicht als arm zu gelten. Nochmal andere bezweifeln, dass sich über das verfügbare Monatseinkommen überhaupt ein realistisches Bild über das Ausmaß der Armut gewinnen lässt. Unabhängig von diesen eher technischen Auseinandersetzungen stellt sich die Frage: Ist Armut ein gesellschaftliches Problem, oder besser, wann ist Armut ein gesellschaftliches Problem? Das von der Politik häufig vermittelte Idealbild der deutschen Mittelstandsgesellschaft suggeriert, dass der Großteil der deutschen Bevölkerung am wirtschaftlichen Wachstum partizipiert und dass jeder Bürger eine realistische Chance besitzt, an den gesellschaftlichen Austauschbeziehungen teilhaben zu können. In den letzten Jahren hat eine Vielzahl von empirischen Studien belegt, dass dies für einen bestimmten Anteil der Bevölkerung nicht mehr oder immer weniger zutrifft.1 Man spricht hier von sogenannten Armutsspiralen. Menschen, die einmal arm sind, haben immer weniger Chancen, aus der Armut zu entkommen. Dieser Effekt ist sogar über Generationen hinweg zu beobachten (soziale Vererbung von Armut). Es stellt sich hier die 1

Vgl. Spannagel, Soziale Mobilität.

266 J.D. Schütte    Frage, was aus sozialpolitischer Sicht notwendig ist, um Menschen in die Lage zu versetzen, aus diesen Armutsspiralen zu entkommen. 2

Armutsspiralen in Deutschland

Armut in Deutschland ist ein immer größeres gesellschaftliches Problem. Dies lässt sich zum Beispiel an der seit den 1990er Jahren kontinuierlich gestiegenen Armutsquote ablesen.2 Darüber hinaus ist die Armut in Deutschland räumlich sehr unterschiedlich verteilt. Dies gilt sowohl auf Bundesebene, wo ein deutliches West-Ost- und NordSüd-Gefälle zu beobachten ist,3 als auch auf Ebene der Kommunen. Hier wird eine zunehmende Armutskonzentration in einigen wenigen Stadtteilen der großen Ballungsräume wie z.B. dem Ruhrgebiet erkennbar.4 Armut bestimmt die gesellschaftlichen Teilhabechancen eines Menschen. Sie hat Auswirkungen auf die Bildungschancen, auf den Gesundheitszustand und auf die materielle und soziale Teilhabe. Dies belegen verschiedene empirische Studien der letzten Jahre. So wiesen internationale Vergleichsstudien und auch die deutsche Bildungsberichterstattung regelmäßig darauf hin, dass Menschen aus Familien mit einem niedrigen Einkommen schlechtere Chancen haben, das Abitur zu machen, als Menschen aus höheren Sozialschichten.5 Diese Unterschiede zeigen sich schon früh. So gehen z.B. Kinder aus armen Familien durchschnittlich später in die Kindertageseinrichtung.6 Bezüglich des Gesundheitszustandes sind ebenfalls schichtspezifische Unterschiede zu erkennen. Das Robert Koch-Institut zeigt, dass Menschen mit einem niedrigen gesellschaftlichen Status eine geringere Lebenserwartung7 und ein erhöhtes Risiko besitzen zu erkranken.8 Menschen mit einem niedrigen sozio-ökonomischen Status haben ein höheres Risiko, psychische Krankheiten zu entwickeln, an Überge2

Vgl. Statistisches Bundesamt/Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (Hg.), Datenreport 2016. 3 Vgl. Paritätischer Gesamtverband, Bericht zur Armutsentwicklung, 11. 4 Vgl. Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Sozialbericht NRW, 479; Häußermann, Armutsbekämpfung; Farwick, Segregierte Armut. 5 Vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Ein indikatorengestützter Bericht; OECD (Hg.), PISA 2015. 6 Vgl. Groos/Jehles, Der Einfluss von Armut, 33. 7 Vgl. Robert Koch-Institut und DESTATIS, Gesundheitsberichterstattung, 21; vgl. auch den Beitrag von Kerstin Walther in diesem Band, 152ff. 8 Vgl. Robert Koch-Institut und DESTATIS, Gesundheitsberichterstattung, 150.

Armutsspiralen in Deutschland

267 

wicht und Adipositas zu leiden9 und eine höhere Wahrscheinlichkeit, unter umweltbezogenen Belastungen leben zu müssen.10 Es bestehen deutliche Unterschiede bezüglich der Größe und der Qualität der Wohnung11 und hinsichtlich der Belastungen durch Lärm oder Abgase.12 So kann es kaum überraschen, dass das subjektive Wohlbefinden bei Personen aus unteren Sozialschichten durchschnittlich deutlich schlechter ist als bei Personen höherer Schichten.13 Als Indikator für die gesellschaftliche Teilhabe wird häufig auf die Wahlbeteiligung zurückgegriffen. Es lässt sich erkennen, dass Personen mit einem niedrigen sozio-ökonomischen Status weniger von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen als Menschen aus höheren Sozialschichten. Ein ganz ähnliches Bild lässt sich hinsichtlich des ehrenamtlichen Engagements14 und in Bezug auf das Vertrauen ins politische System zeichnen.15 Die Armutsforschung zeigt, dass die schlechteren gesellschaftlichen Chancen von Menschen aus unteren Sozialschichten nicht auf Benachteiligungen in einzelnen Lebenslagen zurückzuführen sind, sondern auf die Interaktion multipler Deprivationsfaktoren.16 Ein theoretischer Ansatz, der versucht, das Zusammenspiel der verschiedenen Faktoren zu beschreiben, ist das Modell der Armutsspirale. Nach diesem Ansatz wirken die Faktoren im Zeitverlauf nacheinander oder überlagern sich. So kann es dazu kommen, dass verschiedene Deprivationen sich gegenseitig verstärken oder durch bestimmte Schutzfaktoren teilweise kompensiert werden. Ein solches dynamisches Modell widerspricht der linearen Annahme, dass jede Benachteiligung zu einer Deprivation führt.

9

Vgl. Robert Koch-Institut, Lebensphasenspezifische Gesundheit. Vgl. Robert Koch-Institut und Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Erkennen – Bewerten – Handeln. 11 Vgl. Mielck/Heinrich, Soziale Ungleichheit, 407f. 12 Vgl. Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales NRW, Sozialbericht NRW, 184. 13 Vgl. Robert Koch-Institut und DESTATIS, Gesundheitsberichterstattung, 31. 14 Vgl. den Beitrag von Sandra Meusel in diesem Band, 216ff. 15 Vgl. Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales NRW, Sozialbericht NRW, 184. 16 Deprivation: Die ISS-Armutsstudie spricht von multipler Deprivation, wenn Heranwachsende in mindestens drei Lebens- und Entwicklungsbereichen (materiell, kulturell, sozial, gesundheitlich) benachteiligt sind. In der sozialwissenschaftlichen Forschung allgemein wird der Begriff Deprivation benutzt, um soziale Ausgrenzungsprozesse in mehreren zentralen Lebensbereichen zu kennzeichnen. Vgl. ISS (Hg.), Lebenslagen, 18; Laubstein u.a., Armutsfolgen, 45. 10

268  

J.D. Schütte 

Abbildung 2: Armutsspirale

Quelle: Hilke / Schütte / Stolz, Kommunale Angebotslandschaften, 212.

Das Modell ist ebenfalls in der Lage, die empirischen Befunde zu erklären, die zeigen, dass die Teilhabechancen armer Personen im Schnitt deutlich schlechter sind. So kann es vor allem dann zu Negativkreisläufen kommen, wenn auf der individuellen Ebene die passenden Resilienz- bzw. Copingstrategien, d.h. Strategien der Widerstandsfähigkeit und der Bewältigung, fehlen. Die Graphik verdeutlicht beispielhaft, wie multiple Deprivationen aus unterschiedlichen Bereichen zusammenwirken und so die gesellschaftlichen Chancen massiv eingeschränkt werden. Personen aus den unteren Sozialschichten besitzen nach der Theorie von Pierre Bourdieu weniger soziales, kulturelles und ökonomisches Kapital und haben dem Bild der Armutsspirale folgend schlechtere Chancen, Selbstwirksamkeitserfahrungen zu machen. Die Resilienzforschung zeigt, dass genau diese Erfahrungen grundlegend sind, um mit Deprivationen umgehen zu können und negativen Stress zu reduzieren. Dies ist besonders wichtig, da ein anhaltend hohes Stressniveau die Stresssensibilität steigern

Armutsspiralen in Deutschland

269 

kann („Stress erzeugt Stress“). So kommt es häufiger zu Ohnmachtserfahrungen, die sich durch die chronischen Stresserfahrungen auch auf die körperliche Konstitution auswirken.17 Das Gefühl, nichts an der eigenen Situation ändern zu können, verstärkt außerdem die Gefahr, dass die vorhandenen sozialpolitischen Unterstützungsleistungen nicht in Anspruch genommen werden und somit keine Wirkung entfalten können. 3

Ansatzpunkte und Strategien, um Armutsspiralen zu durchbrechen

Um Armutsspiralen durchbrechen zu können, ist es von besonderer Bedeutung, dass die Hilfsangebote möglichst frühzeitig einsetzen, d.h., bevor sich die Deprivationen verfestigt haben. Wenn die Betroffenen erst einmal das Gefühl haben, ein Objekt ihrer Umwelt zu sein und eigenständig nichts an ihrer Situation ändern zu können, bedarf es eines noch größeren Aufwandes, die Angebote so niederschwellig zu gestalten, dass sie für diese Personengruppe wahrnehmbar sind. Das frühzeitige oder sogar präventive Einsetzen von Hilfsangeboten steht allerdings immer vor der Herausforderung, den „richtigen“ Zeitpunkt für eine Intervention finden zu müssen. Welche Entwicklungen machen einen präventiven Eingriff notwendig? Wie lassen sich negative Armutsspiralen erkennen? Welche normativen Vorstellungen können das Handeln begründen? Diese und weitere Fragen müssen reflektiert werden, will man frühzeitig intervenieren. Ein weiterer grundlegender Punkt ist, dass es bereichsübergreifende Strategien braucht, um den verschiedenen Deprivationsfaktoren entgegenwirken zu können. Es benötigt an den Lebenswelten der betroffenen Menschen und nicht an behördlichen Zuständigkeiten orientierte Unterstützung. Solche sozialpolitischen Arrangements sind im deutschen Hilfeleistungssystem nicht leicht zu implementieren, da die meisten Unterstützungsleistungen vom Grundsatz her kausal ausgerichtet sind. Das bedeutet, es wird zunächst nach der Ursache / dem Grund für die Hilfebedürftigkeit gefragt und dann die Zuständigkeit geklärt, bevor Hilfe einsetzen kann.18 Diese grundlegende Orientierung im deutschen Hilfesystem erschwert es, Angebote der Gesundheitsförderung, der frühkindlichen, schulischen und beruflichen Bildung sowie der Jugend- und Sozialhilfe miteinander zu verknüpfen. Aber genau eine solche Verknüpfung ist notwendig, um den komplex interagierenden Deprivationen etwas Wirksames entgegensetzen zu können. In 17 18

Vgl. National Scientific Council on the Developing Child, Excessive Stress, 1ff. Vgl. Schütte, Armut.

270 J.D. Schütte    den letzten Jahren sind einige Bemühungen zu beobachten, die in diese Richtung weisen. Zu nennen wären hier z.B. die Bildungslandschaften und Versuche zum Aufbau sogenannter Präventionsketten z.B. in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und dem Ortenaukreis in Baden-Württemberg. Die Praxiserfahrungen haben gezeigt, dass die kommunale Ebene hier von besonderer Bedeutung ist, allein schon weil die Kommunen der Lebenswirklichkeit betroffener Kinder und Jugendlicher besonders nahe stehen und die verschiedenen Förderangebote hier zu koordinieren sind. Auf dieser Ebene bedarf es der Zusammenarbeit der öffentlich-rechtlichen und zivilen Institutionen wie z.B. der Wohlfahrtsverbände, Kirchen, Schulen, KiTas, Jugend- und Sozialämter, Jobcenter, Einrichtungen des Gesundheitswesens und auch der politischen Öffentlichkeit. Wenn man das deutsche Sozialleistungssystem mit Hilfe der bourdieuschen Kapitaltheorie analysiert,19 kommt man zu dem Ergebnis, dass die Mehrzahl der bestehenden Hilfsangebote darauf ausgerichtet ist, die Rahmenbedingungen bzw. Gelegenheiten zu schaffen, dass sich Menschen Kapital aneignen können (Kapitalaneignungsgegebenheiten). So bieten z.B. unterschiedliche Bildungsinstitutionen Möglichkeiten, sich kulturelles Kapital anzueignen. Weiter dient ein Teil der Leistungen für SGB-II-Bezieher_innen dazu, die Rahmenbedingungen zur Aneignung kulturellen Kapitals zu verbessern. Ökonomisches Kapital in Form von Geldleistungen wird zur Verfügung gestellt, um Menschen z.B. die Chance zu eröffnen, am sozialen Leben teilzuhaben, was wiederum die Grundlage zur Aneignung von Sozialkapital bildet. Die meisten Unterstützungsleistungen zielen darauf ab, die Gegebenheiten zur Aneignung von Kapital zu schaffen, und ignorieren dabei häufig, dass für die Aneignung von Kapital bestimmte Fähigkeiten notwendig sind (Kapitalaneignungsfähigkeiten). Bildlich gesprochen verteilt unser Hilfesystem ununterbrochen „hochentwickelte Hightech-Werkzeuge“ an Personen, denen die Fähigkeiten fehlen, einen Hammer zu benutzen. Wenn die Menschen dann bei der Verwendung der Werkzeuge scheitern, sagt man ihnen, sie hätten alle Chancen gehabt und selbst die teuerste Unterstützung würde nicht ausreichen. Auf diese Weise wird die Verantwortung auf die individuelle Ebene verschoben und die Personen übernehmen die negativen Zuschreibungen in ihr Selbstbild. Dies ist nicht als eine Fehlkonstruktion zu bewerten, sondern hier wird deutlich, dass über Hilfsangebote immer auch gesellschaftliche Vorstellungen bzw. Hierarchien durchgesetzt werden. Über diesen Mechanismus werden Fähigkeiten, Gewohnheiten oder auch ganze Lebensstile einer Bewertung unterzogen. 19

Vgl. ebd.

Armutsspiralen in Deutschland

271 

Die Lebensstile, die vornehmlich in den unteren Sozialschichten vorkommen, werden in den gesellschaftlichen Institutionen mehrheitlich abgewertet. Dies lässt sich besonders gut an den Vorstellungen über gesunde oder ungesunde Verhaltensweisen festmachen oder am Einfluss fachunabhängiger Kompetenzen (wie z.B. Pünktlichkeit) auf die Notengebung. Darüber hinaus gilt eine akademische Bildung im deutschen Schulsystem als weitaus wertvoller als eine praktische Ausbildung.20 Diese Kapitalbewertungen und die damit einhergehende Hierarchie der Lebensstile finden Eingang in das individuelle Selbstbild. Menschen aus den unteren Sozialschichten bleibt somit nichts anderes übrig, als ihre Abweichung vom dominanten Lebensstil als einen Ausdruck ihrer freien Entscheidung zu rahmen, wenn sie nicht ständig dem Gefühl ausgesetzt sein wollen, defizitär zu handeln. Dies führt auf der individuellen Ebene dazu, dass diese Menschen keine Notwendigkeit mehr sehen, ihr Verhalten zu verändern. Folglich interpretieren sie dann auch Hilfsangebote als Eingriff in ihre persönliche Freiheit. Auf der Makro-Ebene befördert die Selbstbewertung der unteren Schichten die Reproduktion der bestehenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse: „Soziale Ungleichheit und gegebene Machtverhältnisse werden durch die symbolische Verschleierung reproduziert und potenzielle Konflikte diesbezüglich latent gehalten bzw. in subtile und sublimierte Formen gegossen, etwa in individualisierte Konkurrenzkämpfe oder in individuelles Leiden“21. Bourdieu beschreibt diesen Mechanismus mithilfe seines Habitus-Konzepts. Der Habitus besteht aus unbewusst angeeigneten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmustern und schränkt somit die Entscheidungsspielräume des Einzelnen ein, ohne sie völlig zu determinieren. Bourdieu sieht den Habitus außerdem als Repräsentanz der gesellschaftlichen Verhältnisse auf der individuellen Ebene. Er beschreibt ihn als „zu Natur gewordene Geschichte“22. Der Habitus lässt sich somit verstehen als ein (leibliches) Speicherungsmedium, in dem die Erfahrungen, die ein Mensch macht, abgelegt werden. Die gesellschaftlichen Konstellationen beeinflussen dabei die Wahrscheinlichkeit, mit der bestimmte Erfahrungen gemacht werden. Somit entstehen sozialschichtspezifische Habitus, die wiederum die Praxis der gesellschaftlichen Gruppen konstituieren (Lebensstile). Die dargestellten Wechselwirkungen leisten einen wesentlichen Beitrag zur enormen Stabilität der gesellschaftlichen Ungleichheit in der Bundesrepublik Deutschland.

20

Vgl. Ditton, Der Beitrag von Schule, 249. Schmitt, Habitus-Struktur-Reflexivität, 73. 22 Bourdieu, Über einige Eigenschaften, 171. 21

272 J.D. Schütte    Will man Gegenstrategien entwickeln, muss man die Fähigkeiten identifizieren, die für eine Aneignung von neuem Kapital notwendig sind. Bourdieu beschreibt den Habitus als elementare Grundlage für die Kapitalaneignung. Dies lässt sich anhand der drei von ihm beschriebenen Kapitalarten exemplarisch verdeutlichen. Unterschiedliche Studien haben gezeigt, dass im deutschen Schulsystem habituelle Fähigkeiten wie z.B. Pünktlichkeit und Ordnung die Notengebung beeinflussen.23 Dies ist ein Hinweis darauf, dass der Habitus für die Aneignung institutionellen Kulturkapitals, in diesem Fall ein guter Schulabschluss, Relevanz besitzt. Für die Aneignung von Sozialkapital sind durch den Habitus geprägte Verhaltensweisen wie z.B. Begrüßungsrituale oder Tischmanieren von Bedeutung. Auch ein grundlegendes Vertrauen in andere Menschen, was die Basis dafür ist, soziale Beziehungen eingehen zu können, kann als habituelle Fähigkeit beschrieben werden. Weiterhin ist die Fähigkeit, Kapital von einer Kapitalart in eine andere umzuwandeln, abhängig von den inkorporierten Bestandteilen des Habitus. Dies zeigt sich bei der Transformation von ökonomischem Kapital in Kulturkapital. So ist jemand, der beispielsweise nicht über die notwendigen organisatorischen Fähigkeiten verfügt, kaum in der Lage, regelmäßig an einer Bildungsmaßnahme teilzunehmen, auch wenn er über ausreichend finanzielle Mittel verfügt, um die Kursbeiträge zu bezahlen. Will man also die Förderangebote so weiterentwickeln, dass mehr Menschen die Chance bekommen, die Armutsspiralen zu durchbrechen, ist der Habitus als Grundlage für die Kapitalaneignung und damit die Mikro-Ebene des einzelnen Individuums stärker zu berücksichtigen. Zu diesem Ergebnis kommt auch der aktuelle Landessozialbericht aus Hessen, hier heißt es, dass „Strategien zur Überwindung [… von Armut] neben gesamtgesellschaftlichen Hilfeangeboten auch die Potenziale sozialer Gruppen und individuellen Verhaltens im Blick haben müssen“24. Um die Chancen bei der Kapitalaneignung vergleichbarer zu machen, muss darauf hingearbeitet werden, Hindernisse im Habitus benachteiligter Menschen, soweit es möglich ist, auszugleichen. Es stellt sich also die Frage, auf welchem Weg es möglich ist, den Habitus zu modifizieren. Nach Bourdieu ist eine gezielte Veränderung des Habitus sehr schwierig, da der Habitus, wie bereits dargestellt, eine Repräsentanz der gesellschaftlichen Verhältnisse darstellt. Außerdem entsteht der Habitus eines Menschen über einen unbewussten Sozialisationsvorgang. Er entwickelt sich durch Gewohnheiten und Rituale, durch 23

Vgl. Ditton, Der Beitrag von Schule, 249. Hessisches Ministerium für Soziales und Integration, Hessischer Landessozialbericht, 219. 24

Armutsspiralen in Deutschland

273 

routinierte Handlungsabläufe, nicht durch bewusstes Lernen. Aus diesem Grund ist eine intendierte Modifikation des Habitus kaum möglich, vielmehr kann dies indirekt darüber gelingen, dass das Individuum neue Handlungsspielräume erhält und so andere körperlich-sinnliche Erfahrungen machen kann. Die inkorporierten kognitiven Schemata können verändert werden, wenn sie nicht zur erlebten Praxis passen.25 Systematisch betrachtet sind zwei Bedingungen notwendig, um ein, wie Hartmut Esser es nennt, „Reframing“26 zu provozieren. Um einen Reframing-Prozess, also die Aneignung neuer Wahrnehmungs- bzw. Handlungsmuster, zu ermöglichen, muss sich ein Mensch erstens selbst als handlungsfähig empfinden, und zweitens muss die Handlung eine Rückmeldung produzieren, da Menschen nur durch ein solches Feedback in der Lage sind, ihre Handlungsschemata zu verändern. Die Förderung von individuellen Kapitalaneignungsfähigkeiten gelingt also nur, wenn benachteiligte Personen mehr Spielräume erhalten, ihr Handeln selbst zu bestimmen, und ihnen der Freiraum gegeben wird, neue Handlungsoptionen ausprobieren zu können. Genau dies verhindern aktuell viele Unterstützungsmaßnahmen, indem sie sozial ausgegrenzten Menschen eher Grenzen setzen und deviantes Verhalten sanktionieren. Aus dem Gesagten darf keinesfalls geschlussfolgert werden, es bedürfe in erster Linie einzelfallbezogener Interventionen, um Armut zu bekämpfen. Vielmehr geht es darum, Ansätze zur gesellschaftlichen Umverteilung von Ressourcen mit individueller Unterstützung zu verbinden. Wohlmeinende Ansätze, die ausschließlich auf eine (kompensatorische) Unterstützung von benachteiligten Personen fokussieren, wie z.B. primär auf die Subjektebene fokussierende Empowermentkonzepte, laufen Gefahr, das Gegenteil von dem zu erreichen, was sie intendieren, da eine solche Förderung zu einem Symbol für die Zugehörigkeit zur unteren Schicht werden kann und die Geförderten so stigmatisiert werden. Das Konzept der Habitus-Struktur-Reflexivität27 könnte helfen, diese Problematik ein Stück weit aufzulösen. Es geht dabei darum, dass z.B. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter ein Verständnis der Reproduktion sozialer Ungleichheit entwickeln und dies dann mit der individuellen (Ressourcen-) Situation des Klienten / der Klientin und ihrer eigenen Verwobenheit in diese Zusammenhänge verknüpfen können. Die Wahrnehmung von Habitus-Struktur-Konflikten an sich führt noch nicht zu einer Modifikation des Habitus, aber sie ermöglicht den Sozialarbeiter_innen ein besseres Verständnis der Situation 25

Vgl. Bordieu, Über einige Eigenschaften, 108. Esser, In guten wie in schlechten Tagen?, 34. 27 Vgl. Schmitt, Habitus-Struktur-Reflexivität. 26

274 J.D. Schütte    von benachteiligten Personen und verbessert damit die Selbstreflexion der Professionellen. Der Ansatz der Habitus-Struktur-Reflexivität beinhaltet ebenfalls, dass Wege gesucht werden, um benachteiligten Personen die Möglichkeit zu geben, ihre eigene Situation neu zu rahmen und ein erweitertes Bild der Ursachen ihres „Scheiterns“ zu erhalten. Ein solches Reframing kann dazu führen, dass die Personen die gesellschaftlichen Anteile ihrer benachteiligten Situation besser wahrnehmen und somit ihr Kohärenzgefühl gefördert wird. Dieser Erkenntnisprozess kann dazu beitragen, die verlorengegangene Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen. Reflexivität wird somit selbst zur Ressource. Durch die neue Rahmung der eigenen Situation können benachteiligte Personen außerdem befähigt werden, sich neue Kapitalien anzueignen und die sie umgebenden Strukturen als veränderbar wahrzunehmen. Wenn Sozialarbeiter_innen in der Lage sind, Habitus-Struktur-Konflikte zu erkennen, können sie Habitusunterschiede in den Beratungskonstellationen identifizieren, was ihnen wiederum helfen kann, ihre Unterstützung passgenauer zu gestalten. Dazu gehört zum einen wahrnehmen zu können, wenn sich Personen aus unteren Sozialmilieus z.B. in einem professionellen Beratungssetting fremd fühlen, und zum anderem das Einbeziehen der kollektiven Anteile der individuellen Situation von Klientinnen und Klienten in den Beratungsprozess, denn „Menschen sehen und spüren das Kollektive hinter ihren individuellen Mustern und fühlen sich gerade dann nicht individuell abgeholt, wenn dies wohlmeinend subjektorientiert ignoriert wird“28. Die Habitus-Struktur-Reflexivität ermöglicht es, die individuellen Benachteiligungssituationen in Verknüpfung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und Machtinteressen zu betrachten und dabei trotzdem die spezifischen Bedingungen jedes Einzelfalls wahrnehmen zu können. 4

Schlussbetrachtung

Um die Chancen armer Menschen zu erhöhen, aus der Armut zu entkommen und die Armutsspirale zu durchbrechen, sind aus sozialpolitischer Sicht unterschiedliche Strategien notwendig: Zu allererst braucht es eine stärkere finanzielle Umverteilung von oben nach unten. Neben einem bedarfsgerechten Mindestsicherungssystem und einer angemessenen Ausgestaltung des Familienlastenausgleichs sind Initiativen wie die Einrichtung einer Kindergrundsicherung wichtige Bausteine einer armutspräventiven Familien- und 28

Schmitt, Habitus-Struktur-Reflexivität, 79.

Armutsspiralen in Deutschland

275 

Sozialpolitik. Außerdem kommt der Finanzausstattung der kommunalen Ebene eine besondere Bedeutung zu, da die konkreten Auswirkungen der Armut hier besonders zu Tage treten. Hier geht es auch darum, die Handlungsspielräume gerade der Kommunen zu erweitern, die finanziell schlecht ausgestattet sind. Dann benötigen Personen in Armutslagen mehr Möglichkeiten, Kapitalaneignungsfähigkeiten zu erwerben, da ansonsten die bestehenden Unterstützungsangebote ins Leere laufen. Hierfür braucht es zunächst eine veränderte Verteilung zwischen Geld-, Sach- und Dienstleistungen innerhalb des Sozialleistungssystems. In der Bundesrepublik machen gerade auch im Vergleich zu anderen europäischen Wohlfahrtsstaaten Geldleistungen einen überdurchschnittlichen Anteil der staatlichen Interventionen aus. In diesem Zusammenhang ist ein niedrigschwelliger Zugang zu Regeleinrichtungen wie z.B. Kindertagesstätten von zentraler Bedeutung. Um Armutsspiralen durchbrechen zu können, ist eine möglichst frühzeitige Intervention oder besser noch eine präventive Unterstützung wichtig. Die Bundesinitiative Frühe Hilfen hat hier bereits wichtige Grundlagen gelegt, wobei an der einen oder anderen Stelle noch an der armutssensiblen Ausgestaltung der Settings gearbeitet werden muss. Armut ist mehrdimensional und so müssen auch die Gegenstrategien intersektoral konzipiert werden. Dabei müssen häufig Zuständigkeitsgrenzen überbrückt und langjährige Handlungsroutinen verändert werden. An einigen Stellen ist es hierzu notwendig, dass auch gesetzliche Rahmenbedingungen angepasst werden. Wie bereits erwähnt, besitzt die kommunale Ebene eine besondere Relevanz. Armut ist sozialräumlich unterschiedlich verteilt, und ihr muss durch eine integrierte, kleinräumige Armuts-, Stadtentwicklungs- bzw. Wohnumfeldpolitik begegnet werden. An einer sozialinklusiven Ausgestaltung der Förderstrategien geht kein Weg vorbei, da die Unterstützungen ansonsten eher das Gegenteil von dem erreichen, was sie intendieren. Die Förderungen müssen innerhalb der Regelstrukturen stattfinden, um den Stigmatisierungseffekt so klein wie möglich zu halten. Insgesamt muss darauf hingearbeitet werden, dass Armutssensibilität stärker als Querschnittsaufgabe begriffen wird, besonders auch in institutionellen Zusammenhängen wie z.B. Kindertagesstätten, Schulen, Jugend-, Arbeits- und Sozialämtern. Eine Habitus-Struktur-Reflexivität kann einen Beitrag leisten, um erstens bestehende Konflikte

276 J.D. Schütte    und Herausforderungen überhaupt identifizieren zu können, zweitens um Ursachen für eine Nichtinanspruchnahme oder einen Abbruch institutioneller Hilfeprozesse zu erklären, und drittens kommt es bei mangelnder Habitus-Struktur-Reflexivität zu Fehldeutungen und unpassenden Interventionen, die häufig Benachteiligungen eher verstärken als bekämpfen. Literatur Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration Bildung in Deutschland 2016, online: http://www.bildungsbericht.de/de/bil dungsberichte-seit-2006/bildungsbericht-2016/pdf-bildungs bericht-2016/bildungsbericht-2016 (Zugriff: 04.12.2017). Bourdieu, Pierre, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1976. Bourdieu, Pierre, Über einige Eigenschaften von Feldern, in: Pierre Bourdieu / Hella Beister / Bernd Schwibs (Hg.), Soziologische Fragen, Frankfurt am Main 2004, 107–114. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.), Lebenslagen in Deutschland – Vierter Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung, Berlin 2013. Ditton, Hartmut, Der Beitrag von Schule und Lehrern zur Reproduktion von Bildungsungleichheit, in: Rolf Becker / Wolfgang Lauterbach (Hg.), Bildung als Privileg. Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit, 2. Aufl., Wiesbaden 2007, 243–272. Esser, Hartmut, In guten wie in schlechten Tagen? Das Framing der Ehe und das Risiko zur Scheidung. Eine Anwendung und ein Test der Frame-Selektion, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 54 (2002), 27–63. Farwick, Andreas, Segregierte Armut in der Stadt. Ursachen und soziale Folgen der räumlichen Konzentration von Sozialhilfeempfängern, Opladen 2001. Groos, Thomas / Jehles, Nora, Der Einfluss von Armut auf die Entwicklung von Kindern. Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchung, Gütersloh 2015, online: http://www.kommunale-praeven tionsketten.de/fileadmin/user_upload/03_Werkstattbericht_Ein fluss_von_Armut_final_Auflage3_mU.pdf (Zugriff: 10.10.2017). Häußermann, Hartmut, Armutsbekämpfung durch Stadtplanung, Aus Politik und Zeitgeschichte 23 (2010), 23–29.

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4 Globalisierung & Entwicklung

 

  Rainer Staubach

Armutszuwanderung aus Südosteuropa – zwischen Gleichgültigkeit und Ablehnung

1

Integration unter Vorbehalt

Mit der ab 2007 gegebenen Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit sowie der partiellen Arbeitnehmerfreizügigkeit setzte ein erkennbarer Zuzug aus den EU-2-Erweiterungsländern Bulgarien und Rumänien nach Deutschland ein. In Verbindung mit vorangegangenen erweiterungsbedingten Zuwanderungen sowie der vermehrten Migration aus den von der Finanz- und Schuldenkrise besonders betroffenen Ländern vornehmlich im Süden Europas konnte Deutschland bald erstmals wieder Wanderungsgewinne verzeichnen. Eine Entwicklung, die vor dem Hintergrund der langfristigen Folgen des demografischen Wandels eigentlich allseits hätte begrüßt werden müssen. Die Herausforderung der Integration von Neuzuwander_innen aus Südosteuropa wurde unter der Überschrift „Armutszuwanderung“ allerdings schon bald Gegenstand von Auseinandersetzungen nicht nur in der jeweiligen lokal-regionalen Öffentlichkeit, sondern fand auch einen ausgesprochen großen Widerhall in Nachrichtensendungen, Talkshows und den sozialen Medien. Auch wenn die öffentliche Debatte anderes vermuten ließ, stieg die Zuwanderung aus Südosteuropa selbst nach Einführung der vollständigen Arbeitnehmerfreizügigkeit ab 2014 bundesweit eher moderat weiter an. Zudem geriet oftmals aus dem Blick, dass nicht alle Neuzuwander_innen eine Bleibeabsicht verfolgten, da sich unter ihnen z.B. Saisonarbeiter befanden und damit Fortzüge bzw. Pendelmigration mitunter erhebliche Ausmaße annahmen. Neuzuwander_innen aus den beiden EU-2-Staaten hatten bis Ende 2013 ihren Lebensunterhalt nur dadurch bestreiten können, dass sie selbstständige Tätigkeiten ausübten bzw. Dienstleistungen erbrachten. Dabei ging es um mehr als die Anmeldung eines Gewerbes, sodass – verstärkt durch sprachliche Hürden – auch handwerklich versierte

282 R. Staubach    Fachkräfte die damit verbundenen bürokratischen Hürden (Finanzamt, Krankenversicherung etc.) nicht ohne weiteres nehmen konnten. Für die Geringqualifizierten unter ihnen bot die Selbstständigkeit ohnehin kaum eine realistische Perspektive. Ihnen blieb meist keine andere Wahl, als sich auf entsprechende Angebote im Bereich der informellen Wirtschaft und die hier vorherrschenden Ausbeutungs- und Missbrauchsmechanismen einzulassen oder die ihnen bedingt zugänglichen Transferleistungen in Anspruch zu nehmen. Nachdem in den ersten Jahren aus Bulgarien und Rumänien vor allem Arbeit suchende Männer nach Deutschland kamen, zogen schon bald immer mehr auch Familien zu bzw. nach. Da beispielsweise in Rumänien nach 1990 mehr als 50 % der Arbeitsplätze weggebrochen waren und die meisten Geringqualifizierten entlassen wurden, setzen die Neuzuwander_innen insbesondere darauf, in Deutschland Arbeit zu finden. Viele der Neuankömmlinge hegten nur wenig Hoffnung, dass sich die Lebensumstände im postsozialistischen Bulgarien oder Rumänien für sie und vor allem für ihre Kinder auf absehbare Zeit verbessern könnten. 2

Bedrohung „Armutszuwanderung“ oder eher stereotype antiziganistische Reflexe?

Vor dem Inkrafttreten der EU-2-Erweiterung lebten bundesweit 112.406 bulgarische und rumänische Staatsangehörige in Deutschland, davon 573 in Dortmund. Die Zahl der registrierten EU-2-Angehörigen war bis Ende 2016 mit 796.000 auf das 7-Fache gestiegen. In Dortmund zeigten sich die deutlichsten Zuwächse im Beitrittsjahr 2007 sowie zwischen 2013 bis 2015, bis die Entwicklung in 2016 dann mit einem leichten Anstieg bei der bulgarischen Bevölkerung und einem Rückgang bei der rumänischen Bevölkerung stagnierte. Der Dortmunder Anteil an der in Deutschland offiziell gemeldeten EU-2Bevölkerung betrug 7.977 Personen und war damit auf das 14-Fache gestiegen. Im Vergleich dazu wurden Ende 2016 in München mehr als 31.000 und in Duisburg mehr als 17.000 bulgarische und rumänische Staatsangehörige registriert.1

1 Vgl. Stadt Dortmund, Sachstandsbericht, 8f. Diese Zahlen bilden nur das Ausmaß der behördlich gemeldeten und auch erfassten Zuwanderung (ab 3 Monaten) aus den EU-2-Staaten ab. Darüber hinaus bleiben Pendelmigrationsbewegungen oder auch die aus Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen ausbleibenden behördlichen Anmeldungen außen vor.

Armutszuwanderung aus Südosteuropa

283 

Die öffentliche Debatte über die Neuzuwanderung aus Südosteuropa und die Art der Kommunikation über das Thema vor Ort heizten gerade in den ersten Jahren die lokalen Konflikte meist noch zusätzlich an. Neuzuwander_innen wurde insbesondere unterstellt, dass sie es nur auf Sozialleistungen abgesehen hätten und dabei auch vor kriminellem Missbrauch nicht zurückschreckten. Dabei erwies sich nach verschiedenen Schätzungen mit 60–80 % von ihnen ein überwiegender Teil als in den Arbeitsmarkt integriert.2 Zwar war unter der Überschrift „Armutszuwanderung“ vielfach von Bulgaren und Rumänen die Rede. Dies kann aber kaum vernebeln, dass sich die Vorbehalte im Kern vor allem auf die den Roma zugeschriebenen Personen unter ihnen richteten, auch wenn Angehörige der Rom-Völker bis dahin nicht überproportional zugewandert waren. Dabei ist anzumerken, dass sich die Roma-Minderheiten in den EUErweiterungsländern keinesfalls als homogene Gruppe beschreiben lassen.3 Dennoch kommen in Bezug auf diese zumeist stereotype Vorurteilsstrukturen zum Tragen. Klaus-Michael Bogdal4 spricht im Hinblick auf die Rom-Völker von einer „Geschichte von Faszination und Verachtung“, in deren Rahmen sie zu jener Minderheit abgestempelt wurden, die am „unteren Ende der Gesellschaftsskala“ verortet wird und zu der alle anderen „stets die größtmögliche Distanz“ wahren. Bei diesen ist die Migrationsentscheidung vornehmlich dadurch motiviert, der Armut und / oder Diskriminierung sowie der vielfach äußerst prekären Wohnsituation im Herkunftsland zu entfliehen. Die Rom-Völker stellen nach Schätzungen der EU mit etwa 10 bis 12 Millionen Menschen in Europa (davon ca. 6,2 Mio. in der EU) die größte Minderheit dar. Studien belegen, dass Roma in der EU zugleich jene Minoritätengruppe sind, die am stärksten unter Diskriminierungserfahrungen und rassistisch motivierten Straftaten sowie sozialer Ausgrenzung und Verelendung zu leiden hat.5 Mit Blick auf die äußerst marginalen Wirkungen der im Rahmen der sog. RomaDekade (2005–2015) in den diversen Herkunftsländern unternommenen Anstrengungen zur Inklusion der Roma in Europa lassen Rückführungsprogramme auch in den nächsten Jahren eher begrenzte Er2

Vgl. MIGAZIN, Vermeintliche Armutszuwanderung; Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, IAB-Kurzberichte, 4; Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Zuwanderungsmonitor. 3 Vgl. Mappes-Niedieck, Arme Roma. 4 Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner, 15ff. (s. auch Klappentext). 5 Vgl. FRA/UNDP, Die Situation; Die Beauftragte der Bundesregierung, 9. Bericht, 493; Europäische Kommission, Mitteilung der Europäischen Kommission, 5f.

284 R. Staubach    folge erwarten.6 Insofern ist der Aufgabe der Integration insbesondere auch der zugewanderten Roma, darunter nicht wenige Kinder und Jugendliche, hierzulande die oberste Priorität beizumessen. Eine Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes kommt zu dem Ergebnis, dass einem Großteil der Befragten aus der hiesigen Aufnahmegesellschaft diese Gruppe nur wenig vertraut ist und sich – anders als bei anderen Minderheiten – die Vorbehalte durch alle Bevölkerungsgruppen ziehen. Dies gilt im Übrigen ungeachtet der Tatsache, dass viele Angehörige der autochthonen Minderheit der Sinti und Roma in Deutschland zum Teil seit Jahrhunderten hier ansässig sind.7 Obwohl die Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien im Vergleich zu jener aus Polen über viele Jahre auf einem deutlich geringeren Niveau verlief, sahen sich in Deutschland einige Großstädte (u.a. Berlin, Dortmund, Duisburg) mit den Folgen der „Armutszuwanderung aus Südosteuropa“ schon bald überfordert. Im politischen Raum zeigten sich nicht selten sogar regelrechte Abwehrreflexe, was sich offenbar mit der Befürchtung erklären ließ, selbst zum bevorzugten Zufluchtsort von Roma zu werden. Häufig war die vorherrschende Meinung „Wer sich zuerst bewegt, hat verloren!“. Gemeint ist der „Fluch der guten Tat“, der gewissermaßen eine magnethafte Anziehungskraft entfalten könnte. Diese Haltung hat erkennbar dazu beigetragen, dass substanzielle integrative Angebote durch Heranführung an die bestehenden sozialen Hilfesysteme sowie die Entwicklung maßgeschneiderter Zielgruppen spezifischer Förderansätze erst mit deutlicher Verzögerung installiert wurden, nachdem sich ein massiver Handlungsdruck aufgebaut hatte. 3

Die sozial-räumlichen Herausforderungen im Ankunftsstadtteil Dortmund Nordstadt

Die Herausforderung der Integration von Neuzuwander_innen gewinnt auf der lokalen Ebene vor allem dadurch an Brisanz, weil diese – wie viele andere Gruppen von Migrant_innen – zumeist bestimmte Städte und Stadtteile als Ankunftsorte bevorzugen oder auf diese verwiesen werden,8 die an erster Stelle die Aufgabe als Integrationsschleusen übernehmen. Die oben beschriebene Größenordnung der 6

Vgl. Gesellschaft für bedrohte Völker, Erste Schritte. Vgl. Die Beauftragte der Bundesregierung, 9. Bericht, 423; Antidiskriminierungsstelle, Zwischen Gleichgültigkeit, 76f. 8 Vgl. Saunders, Arrival City; Staubach, “Integrationsstadtteile”, 136f. 7

Armutszuwanderung aus Südosteuropa

285 

Neuzuwanderung aus den EU-2-Staaten macht bei einer Gesamtbevölkerung in Dortmund von annähernd 600.000 Menschen zwar kaum mehr als 1 % aus. Dies verdeckt allerdings die Tatsache, dass die Neuzuwanderung hier sozial-räumlich hochgradig selektiv erfolgte. Auch wenn sich dies in den letzten Jahren ein wenig abgeflacht hat, wohnten Ende 2016 noch deutlich mehr als 50 % der Neuzuwander_innen aus Bulgarien und Rumänien in der Nordstadt (ca. 4.300), und davon wiederum weit mehr als die Hälfte (2.500) im Bereich des Quartiers Nordmarkt.9 Mit 95 gemeldeten Zuwander_innen aus den damals noch angehenden EU-2-Staaten hatte sich zwischen 2006 und 2012 die Zahl der Neuzuwander_innen in diesem Stadtteil um das mehr als 20-Fache erhöht. Im Quartier Nordmarkt war der Anteil sogar um das 100-Fache gestiegen.10 Vor diesem Hintergrund wurde neben verschiedenen Duisburger und Berliner Stadtteilen in der medialen Darstellung immer wieder auch die Dortmunder Nordstadt als Beispiel für Erscheinungsformen der sozial-räumlichen Konzentration von „Armutszuwanderung“ herangezogen. In Bezug auf die Nordstadt umfassten die Etikettierungen nicht nur Begriffe wie „sozialer Brennpunkt“ oder gar „BalkanGhetto“, sondern es wurde darüber hinaus das Bild von einer „No-goarea“ gezeichnet. Wie auch bei der Nordstadt handelt es sich in deutschen Städten meist um Programmgebiete der „Sozialen Stadt“.11 Für Neuzuwander_innen bieten sich diese insbesondere dann an, wenn auf Grund von Desinvestitionserscheinungen und Leerständen ein erleichterter Zugang zu Wohnraum gegeben ist oder aber auch der Umstand zum Tragen kommt, dass sich neben weiteren Opportunitätsstrukturen Teile der Zuwander_innen aus Bulgarien wegen sprachlicher Gemeinsamkeiten in den oftmals stark von türkischstämmigen Arbeitsmigrant_innen geprägten Vierteln einfacher bewegen können. Durch Sukzessionseffekte kommt es dann dazu, dass sich Zuwander_innen aus bestimmten Regionen, Städten oder sogar Siedlungen (wie z.B. aus Stolipinovo in Plovdiv, Bulgarien) scheinbar selbstselektiv auf bestimmte „Ankunftsstädte“ bzw. „Ankunftsstadtteile“ konzentriert verteilen, weil die Erstankömmlinge durch Informationen aus erster Hand den Nachzüglern Orientierungshilfen liefern und durch diese Fühlungsvorteile die letztendliche Standortentscheidung prädeterminieren. 9

Vgl. Stadt Dortmund, Sachstandsbericht Armutszuwanderung, 10. Vgl. Stadt Dortmund, Sachstandsbericht Armutszuwanderung,11; Kurtenbach, Neuzuwanderer, 19. 11 Vgl. Staubach, Armutszuwanderung, 136ff. 10

286 R. Staubach    Als traditioneller Einwanderungsstadtteil übernahm die Nordstadt schon seit ihrer Entstehung substanzielle Integrationsaufgaben für die gesamte Stadtregion. Der Ausländeranteil lag zum 31.12.2016 bei 50,4 %. Insgesamt wies 3/4 der Stadtteilbevölkerung (75,2 %; Stand 31.12.2016) einen Migrationshintergrund auf. Das hohe Wanderungsvolumen über die Stadtteilgrenzen hinweg und auch im Stadtteil selbst hat ein ständiges Kommen und Gehen zur Folge. Rein quantitativ tauscht sich die Bevölkerung etwa alle fünf Jahre aus. Die mit dem hohen Fluktuationsniveau einhergehenden ständigen Erosionen in der nachbarschaftlichen Zusammensetzung sowie die zunehmende Heterogenisierung bringen ein hohes Konfliktpotenzial mit sich und erschweren es, dass aus Fremden allmählich „Nachbarn“ werden. Dies wird auch dadurch erschwert, dass gerade die von Ausgrenzung bedrohten sozialen Gruppen in ungleich direkterer Weise als in anderen Teilen der Stadt – im Hinblick auf den Zugang zu den Ressourcen Arbeit, Wohnen, Bildung etc. – in unmittelbare Konkurrenz zueinander treten. Dort bereits lebende gesellschaftliche Außenseiter (ob mit oder ohne Migrationshintergrund) sehen vielfach Neuankömmlinge als zusätzliche Desintegrationsgefahr. Zugleich kann es sie für ethnisierende und auf Entsolidarisierung zielende politische Parolen empfänglich machen („Spaltung des unteren Drittels“). Seit 2009 mit damals ca. 52.000 Einwohner_innen wächst der in Dortmund demografisch jüngste Stadtteil wieder und hat inzwischen knapp 60.000 Bewohner_innen. Dies war zunächst insbesondere auf die starke Neuzuwanderung aus Bulgarien und Rumänien, in den letzten Jahren aber vor allem auf die erhebliche Zunahme Asylsuchender aus Krisengebieten in Afrika und dem Nahen Osten sowie aus dem Balkan zurückzuführen. Die hier bei Neuzuwander_innen oftmals zu verzeichnenden prekären Lebenslagen und daraus entstehenden Hilfebedarfe können alle für die strukturelle Integration relevanten gesellschaftlichen Bereiche von der Arbeit, über die Bildung und das Wohnen bis hin zur gesundheitlichen Versorgung betreffen, vielfach auch als multiple Konstellation. Wenn „Integration als möglichst chancengleiche Teilhabe an den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens“12 zu verstehen ist, dann sind die Ausgrenzungsrisiken dieser Menschen mehr als erheblich. Ausgangspunkt für die konkrete politische Auseinandersetzung mit „Armutszuwanderung aus Südosteuropa“ war in Dortmund insbesondere die Ausuferung des legalen Straßenstrichs in die angrenzenden 12

Sachverständigenrat deutscher Stiftungen, Einwanderungsgesellschaft, 13f.

Armutszuwanderung aus Südosteuropa

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Wohnbereiche. Mit den Neuzuwanderinnen aus Bulgarien und Rumänien waren die Schuldigen schnell gefunden. Die örtlichen Hilfsorganisationen Mitternachtsmission und Kober berichteten in der Tat von einem starken Zulauf bulgarischer Prostituierter seit April 2007. Diese wiesen vor allem auf deren verheerende soziale Situation und schlechte gesundheitliche Versorgung hin. Zu einem weiteren Konfliktgegenstand entwickelte sich der sog. „Arbeiterstrich“, wo sich Neuzuwanderer in ihrer Not als „Tagelöhner“ verdingten. Dabei bekamen sie oftmals nur einen Bruchteil der Arbeitsleistung entlohnt oder wurden sogar gänzlich um das versprochene Entgelt betrogen. Die damit verbundenen Ausbeutungs- und Abhängigkeitsstrukturen wurden allerdings weniger thematisiert als der Umstand, dass sich insbesondere ältere Nachbarn in dem Quartier in ihrem subjektiven Sicherheitsgefühl beeinträchtigt sahen, da sie sich durch die starke Präsenz vor allem von Männern im öffentlichen Raum verunsichert fühlten. Als „Ekelhäuser“ skandalisiert wurden zudem die sog. „Problemimmobilien“. Zu dieser Zeit ging es um bis zu 100 Objekte, die oftmals als Folge schlechter Bewirtschaftung oder spekulativer Vorgänge schon länger leer standen und verwahrlosten und damit auch einem politischen und stadtplanerischen Interventions- bzw. Umsetzungsdefizit geschuldet waren. Dort waren teilweise nicht nur eklatante bauliche Mängel, sondern vielfach auch unhaltbare hygienische Zustände anzutreffen. Bei fortgeschrittenen Verfallserscheinungen und Vandalismusschäden drohten von ihnen durch Ungezieferbefall oder herabfallende Bauteile Gefahren für das jeweilige Umfeld. Doch nicht nur der äußere Eindruck von Verfall, sondern auch Beobachtungen, dass diese Häuser in einigen Fällen als Depot oder Umschlagsort für Drogenhandel dienten, waren negativ imageprägend. Für nicht wenige Neuzuwander_innen, insbesondere kinderreiche Familien, stellten wiederum diese heruntergekommenen Gebäude in der Nordstadt die letzte Zufluchtsmöglichkeit dar, da sie auf dem regulären Wohnungsmarkt oft kaum eine Chance hatten, Fuß zu fassen und meist auch aus den bestehenden Hilfesystemen für Wohnungsnotfälle herausfielen. Wenn ein Unterkommen in der Wohnung von Verwandten oder Bekannten nicht (mehr) möglich war, weil diese selbst längst auf engem Raum lebten, wurden die Problemhäuser zur einzigen Alternative zu Parkbänken, Schrottautos oder einer weiteren Nacht im Café Romanesc, Plovdiv etc. Auch hier fanden sich wiederum Nutznießer der Situation. So wurden einzelne Wohnungen und auch Zimmer zu Matratzenlagern umfunktioniert, ohne dabei angemessene Wasch-, Entsorgungs- oder Heizmöglichkeiten sicherzustellen, ganz abgesehen

288 R. Staubach    von Feuchtigkeit und Schimmelbefall oder Problemen mit dem Brandschutz. Hier ergab sich zudem eine Häufung der Überprüfung von drohender Kindeswohlgefährdung durch das Jugendamt. Die Schuldzuweisungen der empörten lokalen Öffentlichkeit richteten sich auch hier vor allem wieder auf Neuzuwander_innen aus Bulgarien und Rumänien. Dass hier Neuzuwander_innen nicht nur mit prekären, sondern menschenunwürdigen Wohnsituationen zu kämpfen hatten, wurde eher selten zum Stein des Anstoßes. Anstatt also die Profiteure (Anbieter bzw. Vermittler von Schwarzarbeit und Matratzenlagern, Zuhälter oder Schleuser) anzuklagen, wurden die Betroffenen angegangen. Damit wurden die Folgen der Armut als deren Ursachen umgedeutet.13 Generell begünstigten fehlende oder nicht ausreichend zugangsoffene Beratungs- und Versorgungssysteme die Entstehung informeller „Hilfe“-Strukturen, die oftmals eher darauf angelegt waren, sich an der Not der Betroffenen zu bereichern. Deren Protagonisten ließen sich von den nicht Deutsch sprechenden Zuwander_innen jede kleine Leistung (etwa das Ausfüllen von Formularen) teuer bezahlen. Sie setzten mit ihrem Treiben dabei teilweise schon im Herkunftsland an. 4

Reaktionsformen und Handlungsansätze der öffentlichen Hand und der Zivilgesellschaft

Von Politik und Verwaltung wurde die Handlungsrichtung in Bezug auf die Herausforderungen der Armutszuwanderung aus Südosteuropa zunächst wesentlich aus der Sicherheitskonferenz Nordstadt heraus entwickelt. Der im Jahr 2008 gegründete „Arbeitskreis Problemhäuser“ sowie ein innerhalb des Ordnungsamtes eingerichtetes „Fallmanagement Problemhäuser“ wurden 2011 in die Task-Force der Stadt Dortmund eingebunden. Diese konnte durch die enge Kooperation zwischen Polizei und städtischen Ordnungspartnerschaften eine erhebliche Präsenz im Stadtteil aufbauen und ging 2012 in den Regelbetrieb über. Damit dominierten in Dortmund anfangs vor allem ordnungspolitische Interventionen (u.a. Änderung der Sperrbezirksverordnung).14 Im Dortmunder „Netzwerk EU-Armutszuwanderung“ agierten seit 2011 zudem unter der Regie des Sozialdezernats die Verwaltung, 13 14

Vgl. Mappes-Niedieck, Arme Roma. Vgl. Staubach, Zuwanderung.

Armutszuwanderung aus Südosteuropa

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Wohlfahrtsverbände und andere lokale Akteure in abgestimmter Wiese mit dem Ziel, das gesamtstädtische Handeln zu optimieren und die Vernetzung zu professionalisieren. Unterstützt durch das KOMM-IN-Programm des Landes NRW und in enger Kooperation mit der Stadt Duisburg erarbeitete die Stadt Dortmund ab 2011 zunächst einen „interkommunalen Handlungsrahmen Zuwanderung Südosteuropa“, der wesentlich dem gegenseitigen Erfahrungstransfer diente. Neben ersten Projektansätzen (u.a. „Starthilfe“ und „Schrittweise“ der Diakonie) richtete sich die Initiative darauf, zusammen mit anderen Kommunen und dem Deutschen Städtetag die übergeordneten staatlichen Ebenen in die Pflicht zu nehmen, da die gestiegene Migrationsdynamik unmittelbar auf deren suprakommunale Weichenstellungen zurückzuführen war. Mit dem in 2011 beschlossenen „EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020“ war die Grundlage dafür bereits gelegt. Insbesondere sollten die EU-Struktur- und Investitionsfonds zukünftig verstärkt zur Bekämpfung der Segregation von Roma im Bildungswesen und der generellen räumlichen Segregation sowie zur Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien der EU aus dem Jahre 2000 eingesetzt werden.15 Für den Programmplanungszeitraum 2014–2020 wurden somit mehrere zusätzliche Förderinstrumente eingeführt.16 Tatsächlich konnte die Stadt Dortmund schon bald diverse Landes-, Bundes- und auch EU-Mittel für die Aufgabe der Integration von Roma mobilisieren. Dabei war für die integrierte Ressourcenbündelung hilfreich, dass die Nordstadt seit 2007 in den kommunalen „Aktionsplan Soziale Stadt“ eingebunden war und nicht erst mit dem 1993 aufgelegten NRW-Programm „Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf“ gewissermaßen als Prototyp für staatlich-kommunale sozial-kompensatorische Interventionen galt. Vor diesem Hintergrund gingen schließlich diverse Projekte an den Start, die mit ihren Hilfsangeboten die Integrationschancen insbesondere von Neuzuwander_innen verbessern sollten.17 Als zivilgesellschaftlicher Träger initiierte der Planerladen e.V. 2011 die Aktion „Blickwechsel“, um einerseits vermehrt auf die Profiteure, andererseits aber auch auf die Verlierer der „Arbeitsmigration“ aufmerksam zu machen. Gemeinsam mit anderen Institutionen wurde eine Veranstaltung zur Situation der Roma in einem Stadtbezirk von Plov15

Vgl. Europäische Kommission, Mitteilungen 2017, 2. Vgl. Europäische Kommission, Mitteilungen 2016, 6. 17 Vgl. den Beitrag von Uta Schütte-Haermeyer in diesem Band, 395ff. 16

290 R. Staubach    div (Bulgarien) organisiert, verbunden mit einer Vorführung des Dokumentarfilms „Im Ghetto – die Roma von Stolipinovo“. Dabei brachten sich ca. 30 EU-Neubürger_innen aus Bulgarien aktiv in ein Podiumsgespräch ein. Im Oktober 2011 schlossen sich dann unterschiedliche Akteure im „freundeskreis nEUbürger und roma“ zusammen. Im Jahr 2012 konnte der Planerladen das Projekt IRON („Integration der Roma in der Nordstadt“) starten. Neben der Unterstützung von Zuwander_innen ging es dabei vor allem um die interkulturelle Sensibilisierung von Institutionen der Aufnahmegesellschaft sowie um erste Schritte zur Selbstorganisation von Roma und zur Stärkung ihrer Artikulations- und Gestaltungsmacht. 5

Wohnen von Neuzuwander_innen – „Wo bleiben wir?“

Im Weiteren wird der Fokus auf das Handlungsfeld „Wohnen“ gelegt, weil neben dem Bereich der „Gesundheitsversorgung“ hier die geringsten Fortschritte erzielt wurden und die Zugangsbarrieren zu Wohnraum für Neuzuwander_innen, darunter insbesondere Roma, nach wie vor erheblich sind.18 Im Hinblick auf die wohnörtliche Unterbringung traf die Neuzuwanderung aus den EU-2-Staaten in Dortmund auf eine Situation, die bis dahin noch von starken Bevölkerungsrückgängen geprägt war. Dennoch konnte zu jener Zeit keinesfalls von einer generellen Entspannung im Verhältnis von Angebot und Nachfrage über alle Wohnungsmarktsegmente hinweg gesprochen werden. Das prinzipiell für Migrant_innen (und insbesondere Roma) als Nachfrager zugängliche Wohnungsmarktsegment war durch mehr oder weniger systematische Belegungspraktiken institutioneller Vermieter oder durch individuelle Vermietungsentscheidungen einzelner privater Vermieter als „Gatekeeper“ des Wohnungsmarktes vielmehr deutlich eingeschränkt oder nur durch Inkaufnahme höherer Transaktionskosten (z.B. Diskriminierungsmieten) für sie verfügbar. Insbesondere bei den den Roma zugeschriebenen Neuzuwander_innen zeigen sich auch weiterhin massive Zugangsprobleme. Oft stoßen sie nicht nur auf stereotype Vorurteilsstrukturen, sondern haben auch mit signifikanten Ungleichbehandlungen zu kämpfen, die mitunter in die Nähe rassistischer Diskriminierung und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit rücken. Vielfach wird ihnen eine „Mietfähigkeit“ 18

Vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft RAA u.a., Ergänzungsbericht, 13f.

Armutszuwanderung aus Südosteuropa

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grundsätzlich abgesprochen. Dies wird auf einen mit der jeweiligen Gruppenzugehörigkeit unweigerlich verbundenen kulturellen Habitus zurückgeführt. Chancen auf eine Besserung der Situation ergaben sich hier aus der Tatsache, dass die DOGEWO21, die in der Nordstadt bereits über ca. 2.000 Wohnungen verfügte, in enger Abstimmung mit der Stadt seit 2013 ca. 30 Problemimmobilien gezielt im Dortmunder Norden erwarb. Darunter waren einige, die in Form von Matratzenlagern für Neuzuwander_innen genutzt wurden. Ihr ging es dabei vornehmlich um die Instandsetzung und Modernisierung der betreffenden Gebäude für unterschiedliche Zielgruppen (z.B. Familien, Senioren, Studierende) sowie um eine Stabilisierung der Nachbarschaft. Im Fall der Brunnenstraße 51 ging die Wohnungsgesellschaft in Kooperation mit der lokalen Stiftung Soziale Stadt eine dieser Problemimmobilien in der Weise an, dass die Neuinwertsetzung durch Einbindung der GrünBau gGmbH als Generalunternehmer erfolgte. Nach einem vorübergehenden Zwischenerwerb durch die Stiftung Soziale Stadt und durch Einbindung von Beschäftigungs- und Qualifizierungsmaßnahmen sowie unter Nutzung von Mitteln aus der Wohnraumförderung des Landes NRW und Spenden der Sparkasse Dortmund sollte so ein zusätzlicher Mehrwert generiert und das Gebäude später an die DOGEWO21 rückveräußert werden.19 Im Sinne eines revolvierenden Fonds sollten dann schrittweise weitere Problemimmobilien erworben und erneuert werden. Die Kooperationspartner DOGEWO21, GrünBau und Stadt Dortmund wurden im Juli 2014 für dieses Projekt als Musterbeispiel für die gelungene Aufwertung von Problemimmobilien und die Stabilisierung von Nachbarschaften mit dem Preis Soziale Stadt ausgezeichnet. Die DOGEWO21 betonte dabei, dass das Gebäude beim Eigentumsübergang an das Wohnungsunternehmen nicht mehr bewohnt gewesen sei. Allerdings zeigt die Erfahrung, dass die Betroffenen bei einem erwarteten Eingreifen von Ordnungsbehörden und Polizei vorauseilend die jeweiligen Objekte verlassen und dann nach anderen prekären Unterkunftsmöglichkeiten Ausschau halten. Bei der späteren Belegung wurden ohnehin ausdrücklich andere Adressat_innen in den Blick genommen. Erkennbar handlungsleitend waren dabei an Mischungskonzepte anknüpfende sozial-räumliche Stabilisierungsziele sowie der Umstand, dass eine Belegung mit Neuzuwander_innen mit der Befürchtung verbunden wurde, politische Neid-Debatten auszulösen. 19

Vgl. Graniki, Armutsmigration.

292 R. Staubach    In der von der Stadt Dortmund ab 2013 mit Fördermitteln des Landes entwickelten „integrierten Wohnungszugangsstrategie für EU-Zuwanderinnen und -zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien“ wurde im Sinne eines generellen Anspruchs auf Gleichbehandlung in der Wohnungsversorgung benachteiligter Gruppen argumentiert, dass Neuzuwander_innen nur eine Bedarfsgruppe unter vielen seien, die keine „Sonderbehandlung“ erfahren dürfe. Um die potenziell stigmatisierenden Wirkungen einer zielgruppenorientierten Bedarfsdeckung zu vermeiden, sollten sie im Rahmen der normalen Versorgungsanstrengungen der Kommune bedacht werden. Gleichwohl wurden spezifische Vermittlungsbedarfe als notwendig erachtet, um ihnen überhaupt Zugangsmöglichkeiten zu eröffnen. Als Ziel ausgegeben wurde die Vermittlung von einer Familie in möglichst jeden der zwölf Dortmunder Stadtbezirke. Eine auf den ersten Blick zwar inklusiv angelegte Strategie, die aber angesichts der in der Realität weiterhin wirksam werdenden Selektivitäten für EU-2-Zuwander_innen in der Regel zur Folge hat, dass Neuzuwander_innen auch zukünftig meist auf prekäre Unterbringung verwiesen werden. Im Rahmen seiner Bemühungen zur Versachlichung des Diskurses um Neuzuwander_innen veranstaltete der Planerladen in Kooperation mit dem Mieterverein Dortmund, der Arbeiterwohlfahrt und der Auslandsgesellschaft im März 2015 ein „Forum für Neuzuwanderer“. Insbesondere wurde die Frage gestellt: „Wo bleiben wir?“. Vor allem der Bericht über das Projekt der katholischen Aachener Siedlungs- und Wohnungsgesellschaft in Berlin-Neukölln belegt, dass die Erneuerung von Problemimmobilien hochgradig inklusiv mit den dort untergekommenen Roma-Familien erfolgen kann.20 Die Impulsgebungen dieser und weiterer Veranstaltungen blieben letztlich nicht ungehört. Im Februar 2017 übertrug die Stadt Dortmund der GrünBau gGmbH im Rahmen eines „sozialen Bewirtschaftungsvertrages“ die Aufgabe der Sicherung von 40 Wohneinheiten plus zweier Gewerbeeinheiten am Nordmarkt, die unter Zwangsverwaltung standen. Allein in dem Objekt Mallinckrodtstraße 55 waren 38 Erwachsene und 85 Kinder und Jugendliche untergekommen, fast durchweg Neuzuwander_innen mit einem Roma-Hintergrund. Die Regelungen des Wohnungsaufsichtsgesetzes in NRW mögen zu diesem Sinneswandel bei den kommunalen Akteuren beigetragen haben, 20

Vgl. Bezirksamt Neukölln, 3. Roma-Statusbericht, 25f. In dem aus acht renovierten Altbauten mit 137 Wohnungen bestehenden Gebäudeensemble an der Harzer Straße haben ca. 400 Bewohner_innen – darunter zahlreiche Roma – eine menschenwürdige Bleibe und eine neue Heimat gefunden.

Armutszuwanderung aus Südosteuropa

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da diese daran geknüpft sind, für die betroffenen Haushalte angemessenen Ersatzwohnraum zu schaffen. 6

Eine „Willkommenskultur“ auch für EU-2-Neuzuwander_innen, darunter Roma?

In diesem Rahmen konnte auf keine systematische Wirkungsanalyse zur Umsetzung und Reichweite der verschiedenen Programme und Maßnahmen zur Verbesserung der Integration von Neuzuwander_innen in Dortmund und in der Nordstadt zurückgegriffen werden. Dazu hätten auch die Anstrengungen der Stadt Dortmund zur Implementierung des „lokalen Aktionsplans für Vielfalt, Toleranz und Demokratie“ sowie des „Masterplan Integration/Migration“ in den Blick genommen werden müssen, die im direkten Verantwortungsbereich des Oberbürgermeisters der Stadt liegen.21 Ebenso hätte das Engagement zivilgesellschaftlicher Gruppen wie z.B. der Kana Dortmunder Suppenküche e.V., der ökumenischen Wohnungsloseninitiative GastHaus e.V., des Begegnungszentrums Bezent e.V. oder des sozialen Straßenmagazins Bodo e.V. gewürdigt werden müssen, die sich unverzüglich für die neuen Bedarfsgruppen geöffnet haben. Rückblickend erscheinen die in Dortmund sowohl seitens der öffentlichen Hand als auch aus den Reihen der Zivilgesellschaft unternommenen Anstrengungen zur Integration von Neuzuwander_innen zudem in einem anderen Licht. Insbesondere wenn diese mit jenen ins Verhältnis gesetzt werden, die mit dem ab 2015 einsetzenden Zuzug an Geflüchteten einhergingen. Ende 2016 lebten rund 11.000 Geflüchtete in Dortmund. Ein Großteil von ihnen in regulären Wohnungen. Von den nach Dortmund gekommenen Geflüchteten waren Ende 2016 nur noch ca. 1.500 Personen in Unterkünften platziert. Die Wohnraumakquise der Stadt Dortmund und der Geflüchteten selbst erwies sich trotz der gerade im unteren Wohnungsmarktsegment sehr defizitären Angebotssituation als überraschend erfolgreich.22 Sehr schnell wurden zusätzliche Angebote entwickelt. Neben dem Aufbau der obligatorischen Erst- und Zwischenunterbringungseinrichtungen umfasste dies etwa den Aufbau eines „Wohnungspools“ mit Hilfe der institutionellen Wohnungswirtschaft und auch privater Einzel-Vermieter zur möglichst dezentralen wohnörtlichen Integration. Im Hinblick auf Geflüchtete konnte in 21 22

Vgl. Staubach, Armutszuwanderung. Vgl. Stadt Dortmund, Wohnungsmarktbericht 2017, 11.

294 R. Staubach    Dortmund durchaus von Ansätzen zu einer „Willkommenskultur“ gesprochen werden, auch wenn diese vor Diskriminierung und Ausgrenzung keinesfalls gefeit sind und von einer „Kultur der Anerkennung“ längst nicht die Rede sein kann. Demgegenüber ist festzustellen, dass die mit der EU-Erweiterung seit 2007 vermehrt hier ankommenden Neuzuwander_innen aus Bulgarien und Rumänien von Beginn an gerade im Hinblick auf die wohnörtliche Unterbringung mit deutlich massiveren Abwehrreaktionen konfrontiert waren und sind. Viele private und institutionelle Vermieter reagierten in Bezug auf diese Zielgruppe mit Ablehnung. Sie lassen sich dabei vor allem von den Befindlichkeiten und Normalitätsvorstellungen der bereits etablierten „Stammmieter“, darunter auch der „etablierten Außenseiter“ aus den Reihen der traditionellen Arbeitsmigrant_innen leiten, die diese Neuankömmlinge als Konkurrenz und „Störfaktoren“ wahrnehmen und sich teilweise von diesen distanzieren. Angesichts der längst auch empirisch belegten diskriminierenden Selektivitäten auf den Wohnungsmärkten gegenüber Migrant_innen werden sich im Rahmen der derzeitigen Versorgungsanstrengungen der Kommune für EU-2-Neuzuwander_innen – darunter insbesondere Roma – wohl auch zukünftig kaum Zugänge zum Wohnungsmarkt jenseits prekärer Unterbringungssituationen ergeben. Die Gefahr besteht, dass mit jedem sanierten Objekt weitere Neuzuwander_innen in die Obdachlosigkeit getrieben werden. Die erworbenen Problemimmobilien für neue Adressatengruppen herzurichten, mag das Problem verwahrloster Häuser lindern. Beispiele aus Dortmund und Duisburg zeigen aber, dass die an sich begrüßenswerte Sanierung von Problemhäusern so unversehens zur Verdrängungsstrategie gerät – mit der Gefahr der weiteren Peripherisierung von Armutshaushalten. Die zweifelsohne vorhandenen Barrieren zur Vermietung von Normalwohnraum an Haushalte, die von den Wohnungsmarktanbietern dieser Gruppe zugeschrieben werden, können nur aufgebrochen werden, wenn Projekte gelingender Integration im Wohnbereich auch hier Verbreitung finden. Insbesondere Berliner Beispiele wie die integrierte Erneuerung von ehemaligen „Problembeständen“ in Neukölln oder Reinickendorf belegen: „Das Problem sind nicht die Nutzer_innen, sondern die (un)sozialen Verhältnisse“! Der nun durch die GrünBau gGmbH in Verbindung mit der Stiftung Soziale Stadt in einem ersten Projekt verfolgte Ansatz der Bestandssicherung und -erneuerung ohne Verdrängung der angetroffenen Bewohner_innen geht deshalb in die richtige Richtung.

Armutszuwanderung aus Südosteuropa

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Die öffentliche Auseinandersetzung mit Neuzuwanderung aus Südosteuropa war bis in die jüngste Vergangenheit teilweise von einer enormen Unkenntnis und Ahnungslosigkeit geprägt. Dadurch konnten gerade auf der lokalen Politikebene einzelne Personen auf der Basis ihrer individuell-subjektiven, aber wenig empirisch gesicherten Eindrücke die Deutungshoheit an sich reißen. Heute vollzieht sich der Diskurs auf merklich höherem Niveau. Er ist reflektierter – auch weil die lokalen Medien nach systematischerer Recherche eine ausgewogenere Berichterstattung liefern. Die Versachlichung des Diskurses um Neuzuwander_innen in Dortmund und in der Nordstadt ist zum einen ein Verdienst der zum Teil unbequemen Impulsgebungen seitens zivilgesellschaftlicher Institutionen und Initiativen. Wobei EU-2-Neuzuwander_innen – darunter Roma – auch selbst zu Wort kamen und nicht nur Objekte einer distanzierten Debatte der Aufnahmegesellschaft waren. Dies hat zum anderen aber auch mit der klaren Positionierung der Stadtspitze zu tun, dass der aktive Umgang mit Vielfalt und Differenz eine Herausforderung für die gesamte Stadtgesellschaft darstellt. Die in der Nordstadt bestehende Asymmetrie in der politischen Repräsentation der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, insbesondere solcher mit Migrationshintergrund, hat zur Folge, dass hier in der Regel noch immer die Perspektive der etablierten Gruppen der früheren Mehrheitsgesellschaft und ihrer traditionellen Repräsentanten dominiert. Durch das eklatante Vertretungsdefizit steht die lokale Politik nun noch mehr in der Verantwortung, nicht nur die Anliegen ihrer traditionellen politischen Klientel, sondern auch einer immer heterogeneren Gesamtbevölkerung auszubalancieren. Ohne eine dezidierte Diversity-Strategie, insbesondere auch einer systematischen interkulturellen Öffnung der institutionellen Stakeholder sowie weitergehender partizipativer Anstrengungen, wird diese Aufgabe kaum angemessen zu bewältigen sein. Literatur Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hg.), Zwischen Gleichgültigkeit und Ablehnung. Bevölkerungseinstellungen gegenüber Sinti und Roma, Berlin 2014. Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (Hg.), 9. Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, Berlin 2012.

296 R. Staubach    Bezirksamt Neukölln von Berlin (Hg.), 3. Roma-Statusbericht – Entwicklung der Zuzüge von EU-Unionsbürgern aus Südosteuropa – Berlin-Neukölln März 2013, online: https://www.berlin.de/ba-neu koelln/politik-und-verwaltung/beauftragte/eu-angelegenheiten/ artikel.94966.php (Zugriff: 05.04.2018). Bogdal, Klaus-Michael, Europa erfindet die Zigeuner – Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, Berlin 2011. Bundesarbeitsgemeinschaft RAA / Madhouse gGmbH / RomnKher (Hg.), Ergänzungsbericht von Vertreter/innen der Roma-Zivilgesellschaft und anderer Interessenträger und Expert/innen zum Bericht der Bundesrepublik Deutschland an die Europäische Kommission zum EU-Rahmen für Nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020, Berlin / Mannheim 2012. Europäische Kommission (Hg.), Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschaftsund Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Umsetzung des EU-Rahmens für nationale Strategien zur Integration der Roma und der Empfehlung des Rates für wirksame Maßnahmen zur Integration der Roma in den Mitgliedstaaten – Bewertung, SWD (2016) 209 final Brüssel 2016, online: https://ec.europa.eu/ transparency/regdoc/rep/1/2016/DE/1-2016-424-DE-F1-1.PDF (Zugriff: 19.02.2018). Europäische Kommission (Hg.), Mitteilung der Europäischen Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Halbzeitüberprüfung des EU-Rahmens für nationale Strategien zur Integration der Roma, SWD (2017) 286 final, Brüssel 2017, online: https://ec.europa.eu/transparency/regdoc/rep/1/2017/DE/COM2017-458-F1-DE-MAIN-PART-1.PDF (Zugriff: 17.02.2018). FRA − Agentur der Europäischen Union für Grundrechte / UNDP – Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (Hg.), Die Situation der Roma in elf EU-Mitgliedsstaaten, Luxemburg 2012, online: https://fra.europa.eu/sites/default/files/2099-fra-2012-romaat-a-glance_de_0.pdf (Zugriff: 05.04.2018). Gesellschaft für bedrohte Völker (Hg.), Erste Schritte und große Versprechen – Ein vorläufiges Fazit der Roma-Dekade (2014), online: https://gfbvblog.files.wordpress.com/2014/04/berichtromadekadea usfuerlich.pdf (Zugriff: 20.02.2018). Graniki, Klaus, Armutsmigration in Dortmund aus dem Blickwinkel des Wohnungsunternehmens DOGEWO21, vhw FWS / März– April 2014, 73–76. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (Hg.), IAB-Kurzbericht 16/2013 – „Arbeitsmigration oder Armutsmigration?“, online: http://doku.iab.de/kurzber/2013/kb1613.pdf (Zugriff: 20.02.2018).

Armutszuwanderung aus Südosteuropa

297 

Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (Hg.), Zuwanderungsmonitor Bulgarien und Rumänien, September 2015, online: http:// doku.iab.de/arbeitsmarktdaten/Zuwanderungsmonitor1509.pdf (Zugriff: 20.02.2018). Kurtenbach, Sebastian, Neuzuwanderer in städtischen Ankunftsgebieten – Rumänische und bulgarische Zuwanderer in der Dortmunder Nordstadt, Bochum 2013, online: http://www.zefir.rub.de/ mam/content/zefir-forschungsbericht_bd_3_download.pdf (Zugriff: 05.04.2018). Mappes-Niedieck, Norbert, Arme Roma, böse Zigeuner – Was an den Vorurteilen über die Zuwanderer stimmt, Berlin 2012. MIGAZIN, Vermeintliche Armutszuwanderung aus Bulgarien und Rumänien, 01.03.2013, online: http://www.migazin.de/2013/03/ 01/vermeintliche-armutszuwanderung-aus-bulgarien-undrumanien/ (Zugriff: 30.09.2013). Saunders, Doug, Arrival City, München 2011. Stadt Dortmund, Sachstandsbericht Zuwanderung aus Südosteuropa 2017, April 2017, online: http://nordstadtblogger.de/wp-content/ uploads/2017/07/Zuwanderung-S%C3%BCdosteuropa-Anlagen _07786-17.pdf (Zugriff: 05.04.2018). Staubach, Reiner, „Integrationsstadtteile“ – in den Städten übernehmen meist bestimmte Stadtteile und Quartiere die Aufgabe der Integration von Migranten, in: Fachausschuss Haushalt und Wohnen der Deutschen Gesellschaft für Hauswirtschaft e.V. (Hg.), Wohnen – Facetten des Alltags, Baltmannsweiler 2010, 136−148. Staubach, Reiner, Armutszuwanderung aus Südosteuropa: Ansatzpunkte zur Förderung von Diversität in „Ankunftsstadtteilen“ – Erkundungen in der Dortmunder Nordstadt, vhw FWS 05/ Oktober−November 2013, 254–260. Staubach, Reiner, Zuwanderung aus Südosteuropa – Diskurs, Medienresonanz und Reaktionen auf die Herausforderungen der (Neu-)Zuwanderung am Beispiel der Dortmunder Nordstadt, Informationen zur Raumentwicklung 6 (2014), 539–556. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (Hg.), Einwanderungsgesellschaft 2010 – Jahresgutachten 2010 mit Integrationsbarometer, Berlin 2010, online: https://www. svr-migration.de/wp-content/uploads/2017/05/SVR_Jahresgut achten_2010.pdf (Zugriff: 05.04.2018).

  Philipp Lepenies

Armut und Entwicklung

1

Entwicklungspolitik als Armutsbekämpfung

Entwicklungspolitik ist Armutsbekämpfung. Kaum ein anderes Politikfeld auf nationalstaatlicher Ebene oder den internationalen Beziehungen ist so sehr mit dem Thema Armut verbunden. Der US-Präsident Harry S. Truman machte dies bereits in seiner Inaugurationsrede deutlich, die so etwas wie das inoffizielle Gründungsmanifest der modernen Entwicklungshilfe darstellt. Am 20. Januar 1949 sagte er auf den Stufen des Capitols: „Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt unter elenden Bedingungen. Ihre Nahrung ist mangelhaft. Sie ist Opfer von Krankheiten. Ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten sind primitiv und stagnieren. Ihre Armut ist ein Hindernis und eine Bedrohung für sie selbst und für wohlhabendere Gegenden.“1 Diese Tatsache mache ein „kühnes neues Programm“ notwendig, um diesen Menschen zu helfen. Die Weltbank, zweifelsohne die mächtigste und einflussreichste internationale Entwicklungsinstitution, hatte viele Jahre lang das Motto: „Working for a World Free of Poverty“, und das erste der 2015 verabschiedeten Sustainable Development Goals (SDG) der Vereinten Nationen macht nicht nur durch die Positionierung an erster Stelle klar, wie wichtig internationale Armutsbekämpfung ist: „End Poverty in all its forms, everywhere“, heißt es dort. Auch die regelmäßig und mittlerweile seit Jahrzehnten veröffentlichte Zahl der Menschen, die weltweit von weniger als einem Dollar am Tag leben müssen, macht deutlich, wie wichtig die Bekämpfung der weltweiten Armut durch Entwicklungszusammenarbeit immer noch ist. Aber obwohl Armutsbekämpfung seit über einem halben Jahrhundert die Grundlegitimation der Entwicklungspolitik darstellt, hat sich die Vorstellung darüber, was Armut bedeutet, wie sie gemessen oder wie 1

Vgl. Truman, Inaugural speech (eigene Übersetzung).

Armut und Entwicklung

299 

sie bekämpft werden kann, immer wieder grundlegend verändert. Diese Veränderungen aufzuzeigen, ist Ziel dieses Beitrages. Dabei soll die Vielschichtigkeit der unterschiedlichen Armutskonzepte und Bekämpfungsansätze deutlich werden. Jede Entwicklungsdekade hat ihre spezifischen und teilweise widersprüchlichen Ideen bezüglich Armut und Armutsbekämpfung hervorgebracht. Aber zu wirklichen Paradigmenwechseln, die alle bisherigen Ansätze verdrängt hätten, kam es dabei nie. Stattdessen bestehen die unterschiedlichsten Ansätze parallel weiter. Armutsbekämpfung in der Entwicklungspolitik kann Industrie- und Wachstumsförderung sein. Sie kann auf den Markt setzen oder auf den Staat. Sie kann lediglich die Grundbedürfnisse im Blick haben oder die viel breiteren individuellen Verwirklichungschancen. In jedem Fall zeigt sich in der modernen Entwicklungspolitik nicht eine dominierende Form, mit Armut umzugehen, sondern verschiedene. Gemein ist allen Ansätzen jedoch, dass es immer die Armut ist, die als Hauptproblem bekämpft werden soll. 2

Indirekte Armutsbekämpfung: Wirtschaftswachstum und Modernisierung

Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg war innerhalb der britischen Kolonialadministration die Armut der Menschen im Empire politisch thematisiert worden. Frederick Lugard2 sprach 1922 vom Dual Mandate, der Vorstellung, dass das Recht Britanniens auf Nutzung der überseeischen Rohstoffe mit der Verpflichtung einherging, sich um das Wohlergehen der Zivilbevölkerung der Kolonien zu kümmern, die vor allem in Afrika ganz offensichtlich in Armut darbten. Dass in den Kolonien Armut vorherrschte, war klar. Die Dimension der Armut auf der Welt wurde allerdings in dem Moment deutlich, als der englische Chemiker, Statistiker und Erfinder der Volkseinkommensberechnung Colin Clark in seinem Buch „The Conditions for Economic Progress“ 1940 erstmalig versuchte, die Wohlfahrtsunterschiede unterschiedlicher Weltregionen in konkrete Zahlen zu fassen. Gemäß seinen Schätzungen waren die USA und Kanada vierzehnmal so reich wie die ärmsten Teile der Welt. Mit solch enormen Wohlstandsunterschieden hatte niemand gerechnet. „Die Welt ist ein erbärmlich armer Ort“3, konstatierte Clark damals und schrieb: „[E]in Zeitalter der Fülle wird noch lange auf sich warten lassen“4. Clark selbst hatte vorgeschlagen, nicht nur Länder international anhand des 2

Vgl. Lugard, The Dual Mandate. Clark, The Conditions, 2. 4 Clark, The Conditions, 4. 3

300 P. Lepenies    Volkseinkommens zu vergleichen, sondern auch das Pro-KopfEinkommen als Maßstab der individuellen Wohlfahrt zu verwenden. Wirtschaftlicher Fortschritt (den Begriff der Entwicklung benutzte man damals noch nicht) setzte für ihn daher dann ein, wenn das Einkommen stieg. Aufbauend auf den Schätzungen und Überlegungen Clarks entwickelte sich noch während des Zweiten Weltkrieges unter Ökonomen die Vorstellung, dass Industrialisierung der Schlüssel zur Einkommenssteigerung und damit unweigerlich auch zur Armutsbekämpfung sei. Die Förderung industrieller Produktion war wirksamste Armutsbekämpfung. Dahinter steckte aber nicht nur das Ziel, Einkommen zu erhöhen, sondern auch Unzufriedenheit zu verhindern und zu verringern, die unweigerlich sonst zu politischer Destabilisierung und Radikalisierung führen könnte. Dabei hatte man zunächst nicht die Länder des Globalen Südens vor Augen, sondern die Staaten Osteuropas. In dem Aufsatz „The International Development of Economically Backward Areas“ schrieb der zunächst nach England geflohene, spätere maßgeblich bei der Weltbank tätige Österreicher Paul Rosenstein-Rodan 1944: „Ganze Völker, ganze Länder werden aufgrund der Einkommensunterschiede und dem Reichtum nur weniger Staaten ungeduldig“ und „wenn wir einen stabilen und blühenden Frieden anstreben, dann muss international gemeinsam etwas für diejenigen Länder getan werden, die den Industrialisierungsbus im 19. Jahrhundert verpasst haben“5. Die größte Hürde war dabei das fehlende Investitionskapital in den Ländern selbst. Durch internationalen Kapitaltransfer könnte diese Hürde aber genommen werden. Großangelegte Industrialisierungsprogramme in einzelnen Ländern und in möglichst vielen Sektoren gleichzeitig würden Entwicklung bringen und Armut bekämpfen (das damalige Schlagwort lautete: Balanced Growth). Dabei ging man davon aus, dass ein Hauptcharakteristikum der armen Länder eine Unterbeschäftigung der aktiven Bevölkerung sei, vor allem durch einen großen, aber wenig produktiven Subsistenzsektor in der Landwirtschaft. Mit wachsenden Industrieanlagen könnten diese Menschen aus den ländlichen Regionen als Arbeitskräfte genutzt werden. Dieses Reservoir schien unerschöpflich. Mit steigender Erwerbsquote würden dann nicht nur Einkommen steigen und Armut reduziert werden, sondern auch politische Spannungen vermieden werden. Daher verwundert es nicht, dass Truman in seiner Rede ausführte: „Höhere Pro5

Rosenstein-Rodan, The International Development, 158.

Armut und Entwicklung

301 

duktion ist der Schlüssel zu Wohlstand und Frieden!“6. Allerdings hatte sich zum Zeitpunkt der Rede Trumans das geopolitische Blatt gewendet. Der Weltkrieg war zwar vorbei, aber der Kalte Krieg hatte gerade begonnen. Gleichzeitig war klar, dass die großen europäischen Kolonialreiche zerfallen würden. Wenn man die Armut in den neuen unabhängigen Staaten also nicht rasch bekämpfte, so die Vorstellung, wäre das Risiko hoch, dass sich dort kommunistische Ideen politisch durchsetzen könnten. Entwicklungspolitik war daher nicht nur Armutsbekämpfung, sondern aktive Kommunismusabwehr durch industrielles, kapitalistisches Wachstum. Während diese Vorstellung in der aktiven amerikanischen Politik schon unter dem Begriff Truman-Doktrin vorherrschte, dauerte es bis in die Mitte der 1950er Jahre, bis diese Kombination aus Industrialisierungspolitik, Armutsbekämpfung und politischer Stabilisierung in Form der so genannten Modernisierungstheorie von der Wissenschaft aufgegriffen wurde. Die Industrialisierung und steigende Einkommen würden einen grundsätzlichen Modernisierungsprozess initiieren, an dessen Ende eine Konvergenz aller westlich orientierten Länder stehen würde: Länder mit ähnlich hohen Pro-Kopf-Einkommen und wirtschaftlichem (d.h. industriellem) Entwicklungsniveau, aber eben auch mit westlichen Institutionen, Normen und Werten und westlich liberaler Demokratie. Traditionelle, vormoderne Institutionen, Abläufe und Haltungen galten dabei als Entwicklungshemmnis. Eine Angleichung durch Modernisierung war das Ideal. In der Ökonomie vertraten solche Ansichten beispielsweise Arthur Lewis7, in der Politikwissenschaft Walt Rostow8 (1960), Daniel Lerner9 (1958) und Seymour Lipset10 (1959). Alle gingen davon aus, dass der Entwicklungsprozess in klar bestimmbaren Phasen und linear ablief und für die Entwicklungsländer aufholende Entwicklung bedeutete. Obwohl die vorherrschende Armut als politisches Problem erkannt worden war, fand Armutsbekämpfung also nur auf indirektem Wege statt. Nicht die Armen und die direkte Verbesserung ihrer Lebensbedingungen standen im Fokus der Entwicklungspolitik, sondern Kapitaltransfer und Industrieförderung. Dass sich Armutsreduzierung dabei von selbst und relativ schnell einstellen würde, davon ging man aus. Rostows Bild des Take-Off oder der Ausspruch des brasiliani6

Vgl. Truman, Inaugural speech. Vgl. Lewis, The Theory of Economic Worth. 8 Vgl. Rostow, The Stages of Economic Growth. 9 Vgl. Lerner, The Passing of Traditional Society: Modernizing the Middle East. 10 Vgl. Lipset, Some Social Requisites of Democracy. 7

302 P. Lepenies    schen Präsidenten Juscelino Kubitschek am Anfang der 1950er Jahre, 50 Jahre Entwicklungsrückstand in nur 5 Jahren ausgleichen zu können, zeugen von dem Glauben an akzelerierte Entwicklung (ebenso Konzepte wie der Big Push oder Great Spurt, die damals auch geläufig waren). Der Begriff des Trickle-Down, der beschreiben sollte, dass die Segnungen der Industrialisierung automatisch auch „unten“ ankommen würden, war damals als technischer Terminus ungebräuchlich, beschreibt die Vorstellungen der indirekten, aber automatisch angenommenen Armutswirkung aber anschaulich11, ebenso wie der falsch interpretierte Zusammenhang von zunächst steigender und später fast automatisch sinkender Ungleichheit (bekannt unter dem Namen Kuznets Kurve). In jedem Fall sah die Modernisierungstheorie aber die Ursachen für fehlende Entwicklung und damit auch für Armut im Land selber. Die Dependenztheorie sowie der Strukturalismus mit seinem Zentrum-Peripherie-Modell interpretierten die Gründe für Rückstand und Armut in den Entwicklungsländern davon abweichend als extern gegeben. Für Vertreter dieser Richtung wie dem Argentinier Raúl Prebisch waren die ungleiche Weltwirtschaftsordnung und die historische Teilung der Welt in industrielle Zentren und rohstoffliefernde und damit krisenanfällige Peripherie im Globalen Süden ursächlich für ein dauerhaftes Verharren der Peripherie in Armut, die sich gar nicht von selbst entwickeln konnte. Die wichtigste Entwicklungsstrategie war deswegen die Abkopplung der Länder vom Weltmarkt und die Substitution von industriellen Importen durch die Förderung eigener Produkte und damit der eigenen Produktion. Aber auch wenn die Gründe für Armut hier anders interpretiert wurden als in der Modernisierungstheorie, steckte dahinter immer noch das Ideal der Industrialisierung, verbunden mit einer lediglich indirekten Armutsbekämpfung.12 3

Armut im Fokus: die Grundbedürfnisstrategie

In den frühen 1970er Jahren fand mit dem Grundbedürfnisansatz die erste grundlegende Strategieveränderung in der Entwicklungspolitik statt. Anlass für den Wandel waren die ausbleibenden Entwicklungserfolge der beiden ersten durch Industrieförderung charakterisierten Dekaden. Durch die meist sehr kapitalintensiven Industrialisierungsbemühungen hatte sich Armut nicht wie angenommen automatisch 11 12

Vgl. Arndt, The ‘Trickle-Down’ Myth. Vgl. Hunt, Economic Theories of Development.

Armut und Entwicklung

303 

reduziert. Neue Medien wie das Fernsehen transportierten verstörende Bilder von Hungersnöten wie dem nigerianischen Biafra in die Wohnzimmer und sorgten dafür, einer breiten Öffentlichkeit im globalen Norden deutlich zu machen, welches absolute Elend auf der Welt existierte. Neben der immer noch vorherrschenden Misere in weiten Teilen der Welt war es auch die Vorstellung vom Pro-Kopf-Einkommen als gutem Entwicklungsindikator, die immer stärker in die Kritik geriet. Dudley Seers13 fragte 1969 in einem Aufsatz nach einer angemesseneren Bedeutung des Begriffs Entwicklung. Entwicklung umfasste für ihn Armut, Beschäftigung und Verteilungsgerechtigkeit. Nur wenn sich in allen drei Bereichen Verbesserungen zeigten, konnte man von Entwicklung sprechen, nicht jedoch, wenn lediglich das Pro-Kopf-Einkommen angestiegen war, wie das seit Colin Clarks Berechnungen üblich war. Noch deutlicher äußerte sich der damalige Weltbank-Mitarbeiter Mabub Ul-Haq14 im Jahre 1973. Seiner Meinung nach hatte die Vorstellung, dass automatische Armutsreduzierung durch Wirtschaftswachstum einsetze, katastrophale Folgen gehabt. Die Entwicklungspolitik steckte seiner Meinung nach in einer tiefen Krise. Eine Veränderung würde nur eintreten, wenn man von jetzt an Armut direkt bekämpfen würde. Dazu müsste man nicht nur viel mehr und stärker als zuvor die Lebensumstände der unteren 40−50 % der Bevölkerung in den Entwicklungsländern untersuchen und verstehen. Vor allem ihre elementaren Grundbedürfnisse müsste man erkennen und zum Gegenstand von entwicklungspolitischen Interventionen machen. Entwicklungspolitik müsste sich stärker an Themen ausrichten wie der Eliminierung von Unterernährung, Krankheiten, Analphabetismus, Elend, Arbeitslosigkeit und massiven Ungleichheiten. Dies könnte sogar losgelöst von Überlegungen des Wirtschaftswachstums erfolgen. Im selben Jahr äußerte sich der damalige Weltbankpräsident Robert McNamara in einer berühmt gewordenen Rede in Nairobi vor dem Gouverneursrat der Bank. In der Rede, die ihm Mabub Ul-Haq geschrieben hatte, machte McNamara deutlich, dass das Wirtschaftswachstum in den Entwicklungsländern bei den Armen nicht ausreichend anzukommen schien und deshalb die Entwicklungspolitik neu ausgerichtet werden müsste. Diese Reorientierung sollte sich vor allem in der praktischen Arbeit der Entwicklungsinstitutionen bemerkbar machen, die sich stärker auf die Regionen konzentrieren musste, in denen Armut vorherrschte. In der damaligen Zeit bedeutete

13 14

Vgl. Seers, The Meaning of Development, 2. Vgl. Ul-Haq, The Crisis in Development Strategies, 30.

304 P. Lepenies    dies, dass ländliche Gegenden in den Entwicklungsländern stärker in den Fokus rückten. Nur wenige Jahre später wurde dieser Vorschlag von der Dag Hammerskjöld Stiftung in Schweden sowie der International Labour Organisation (ILO) wieder aufgegriffen. Beide sprachen von den Basic Needs, den Grundbedürfnissen der absoluten Armen, die im Rahmen der Entwicklungspolitik befriedigt werden müssen: Unterkunft, sauberes Trinkwasser, Gesundheit, Kleidung, Bildung, Transportinfrastruktur und politische Mitbestimmung. Unter dem Begriff Basic Needs-Ansatz oder Grundbedürfnisstrategie wurde diese Ausrichtung bekannt. Früh zeigte sich jedoch, dass bestimmte Vorstellungen innerhalb der Basic Needs-Debatte nicht auf internationaler Ebene bei allen Staaten Anklang fanden. Dazu gehörten Ideen zu Partizipation und politischer Mitbestimmung ebenso wie die Thematisierung von Ungleichheit, die unweigerlich zu Forderungen nach Umverteilung geführt hätten. Außerdem waren die frühen Vorstellungen zu Basic Needs eher die Folge von moralisch / ethischen und normativen Überlegungen gewesen und weniger mit konkreten Operationalisierungszielen verbunden. Der Messung von alternativen Entwicklungsdimensionen neben dem Pro-Kopf-Einkommen im Sinne des Basic Needs-Ansatzes kam daher eine besondere Rolle zu. Indikatoren wie Lebenserwartung bei Geburt, die Einschulungsquote, die Analphabetenquote, die tägliche Kalorienzufuhr, Kindersterblichkeit pro 1.000 Geburten, Anteil der Bevölkerung mit Zugang zu sauberem Trinkwasser, Anteil der Bevölkerung mit Zugang zu Sanitäreinrichtungen usw. versuchten nicht nur die Befriedigung bestimmter Grundbedürfnisse zu quantifizieren, auch die entwicklungspolitischen Strategien sollten sich nun daran ausrichten, welcher dieser Indikatoren durch die Maßnahmen verbessert werden sollte oder nicht.15 Die Grundbedürfnisstrategie veränderte die Entwicklungspolitik nachhaltig. Ausgehend von der Theorie des Psychologen Alfred Maslow, die eine Pyramide elementarer menschlicher Bedürfnisse postulierte, konzentrierte sich die Entwicklungspolitik jetzt darauf, die Basisbedürfnisse gezielt zu befriedigen. Nicht nur machte dies eine viel intensivere Beschäftigung mit der Lebensrealität der armen Bevölkerung in der Dritten Welt notwendig, sondern die unterschiedlichen Interventionssektoren und Ansätze spiegelten die Mehrdimensionalität der absoluten Armut wider. Schließlich war Armut nicht nur der Man15

Vgl. Hunt, Economic Theories of Development.

Armut und Entwicklung

305 

gel an Einkommen, sondern eben auch Mangel an Wasser, kein Zugang zu Gesundheitsleistungen, Bildung, Mikrokrediten etc. Während man sich in der Entwicklungspolitik vorher auf aggregierte Größen und die Makroebene konzentrierte, Entwicklungsexpert_innen hauptsächlich in den Ministerien der Hauptstädte beratend tätig waren oder kapitalintensive Anlagen bauten, veränderte sich das Bild der Entwicklungshilfe. Sie fand jetzt auf dem Land statt, in ländlichen Regionen oder Dörfern. Brunnen wurden gebaut, Krankenstationen eröffnet, ganzjährig passierbare Schotterwege konstruiert, Schulen errichtet etc. Dies bedeutete jedoch nicht, dass man von dem Grundverständnis, dass Entwicklung immer noch besonders Wirtschaftswachstum bedeutete, völlig abkam. Aber der Blick auf Entwicklung war bedeutend erweitert worden und Armutsbekämpfung wurde so erstmalig ein direktes Ziel. Auch neue Akteure betraten die Bühne der Entwicklungspolitik. Während es vorher eher Expert_innen aus bilateralen oder internationalen Entwicklungsinstitutionen waren, die sichtbar Entwicklungspolitik betrieben, waren es immer mehr Nichtregierungsorganisationen, deren Arbeit eng mit dem Basic Needs-Ansatz verwoben war. 4

Der Fetisch des Marktes

Mit der Schuldenkrise und der Zahlungsunfähigkeit vieler Entwicklungsländer zu Beginn der 1980er Jahre (die auch, aber nicht nur eine Folge der Industrialisierungsbemühungen vorheriger Jahrzehnte war) wurde das Augenmerk wieder von den Grundbedürfnissen hin zu aggregierten Kennziffern staatlichen Handelns in Entwicklungsländern gelenkt. Die Strukturanpassungsprogramme der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds, die die finanzielle Stabilität der hochverschuldeten Staaten wiederherstellen sollte, sahen oft zunächst radikale Kürzungen im öffentlichen Sektor vor, wodurch viele Leistungen, die auch den Armen zu Gute kamen, wegfielen. Später durch so genannte soziale Sicherheitsnetze ergänzt, um die Effekte auf die arme Bevölkerung abzumildern, waren die Strukturanpassungsprogramme der späten 1980er und frühen 1990er Jahre (später dann auch unter dem Namen Washington Consensus bekannt) dennoch vor allem Ausdruck einer globalen Skepsis gegenüber jeglichen staatlichen Eingriffen in Märkte. Angeführt durch die Regierungen Margret Thatchers im Vereinigten Königreich und Ronald Reagans in den Vereinigten Staaten wurden Liberalisierung und das freie Spiel der Marktkräfte als alleinige Triebfedern ökonomischen Handelns postuliert. Die Skepsis gegenüber staatlichen Eingriffen machte auch vor

306 P. Lepenies    der Entwicklungspolitik nicht halt. In einer viel beachteten Streitschrift mit dem Titel: „The Poverty of Development Economics“ kritisierte der Ökonom Deepak Lal16 1983, dass die bisherigen entwicklungspolitischen Theorien insofern arm seien, als sie es nicht vermocht hätten, das Problem der Weltarmut zu lösen. Das lag für Lal aber vor allem daran, dass die Entwicklungspolitik auf staatlicher Planung und Intervention beruhte und sich ausbleibende Erfolge allein dadurch erklären ließen, dass man die Eigendynamik des Wettbewerbs behinderte. Stattdessen sollte man den Markt alle Probleme selbst lösen lassen. Auch in Bezug auf die Armen selber brach sich die Markteuphorie Bahn. Der Peruaner Hernando de Soto17 beschrieb 1986 seine Beobachtung, dass der informelle Sektor Limas, in dem Tausende von Armen versuchten, in Eigenorganisation über die Runden zu kommen, effizienter und erfolgreicher funktionierte, als jede staatliche Institution das könnte. Der Titel seines Buches lautete auf Deutsch: „Marktwirtschaft von unten“. Und für de Soto fand in den informellen Sektoren der Dritten Welt eine regelrechte Revolution statt. Ließe man die Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, würden sich ungeahnte unternehmerische Potentiale entfalten und so zu Wohlstand und Armutsminderung beitragen – ganz ohne staatliche oder entwicklungspolitische Interventionen. Damit komplementierte de Soto die Staatsskepsis der neoliberalen Vordenker und erweiterte sie mit dem Argument, dass Armutsreduzierung dann am besten funktionierte, wenn man den Menschen als das erkannte, was er anscheinend war: ein geborener Mikrounternehmer mit Gestaltungswillen und Ideen, der den Staat eigentlich ganz im Sinne Adam Smiths nur dazu brauchte, die Grundregeln festzulegen. 5

Das Ende der Armut

Am Ende der 1990er Jahre befand sich die Entwicklungspolitik dann erneut in einer schweren Krise und kam von zwei Seiten massiv unter Beschuss. Der Neoliberalismus der Strukturanpassungsprogramme galt nicht nur vielen zivilgesellschaftlichen Gruppen (die sich immer lauter bemerkbar machten, wie beispielsweise bei den Krawallen der jährlichen Treffen der G7- bzw. G8-Staaten) immer mehr als herzlose und ungerechte Politik. Ebenso wurde die Notwendigkeit öffentlich finanzierter Entwicklungspolitik besonders mit dem Fall des Eisernen 16 17

Vgl. Lal, The Poverty of Development Economics. Vgl. De Soto, The Other Path.

Armut und Entwicklung

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Vorhangs und der Begründung von Entwicklungspolitik als Kommunismusabwehr stärker denn je in Frage gestellt. Abhilfe schaffte auch hier eine strategische Kehrtwende, die mit einem radikalen Imagewandel der Entwicklungshilfeinstitutionen einherging. Nicht nüchterne Makrofaktoren wirtschaftlicher Stabilität sollten länger im Vordergrund stehen, sondern die Menschen. Und das bedeutete auch wieder, dass man Armut und Armutsbekämpfung in den Fokus rückte. Das ähnelte zwar dem Basic Needs-Ansatz, war aber aus drei Gründen diesmal vollkommen anders. Erstens aufgrund vermeintlich genauer Statistiken. Die Weltbank hatte 1990 begonnen, Zahlen zur Armut auf der Welt mit Hilfe einer universellen Armutslinie zu generieren. Die Ein-Dollar-am-Tag- Armutsgrenze, die angab, wie viele Menschen weniger als einen Dollar pro Tag zur Verfügung hatten, machte nicht nur das Ausmaß der noch vorherrschenden absoluten Armut auf der Welt deutlich. Für entwickelte Gesellschaften wurde anhand der absurd wenig erscheinenden täglichen Einkommensmenge die ganze Dramatik absoluter Armut auf der Welt deutlich. Zahlen, die das Ausmaß der Armut auf der Welt mit vermeintlicher Genauigkeit und aggregiert darstellten, gab es vorher nicht. Eher waren die Schätzungen zur Weltarmut widersprüchlich gewesen, sodass niemand genau sagen konnte, wie es um die Armut bestellt war (Colin Clarks Zahlen waren beispielsweise nur gröbste Schätzungen gewesen). Mit der Formulierung von absoluter Armut als Zustand „mit weniger als einem Dollar am Tag“ gelang der Weltbank daher nicht nur ein spektakulärer Kommunikationsgeniestreich, sondern die Weltbank konnte sich damit auch als Datenmonopolist positionieren, der allein die Zahlen zur Weltarmut generieren konnte. Ende der 1990er Jahre begannen die Institutionen der Vereinten Nationen, diese Zahlen als Begründung für akuten Handlungsbedarf in Sachen Armutsbekämpfung und Entwicklungspolitik zu instrumentalisieren. Zweitens hatte der Ökonom und Philosoph Amartya Sen18 mit seiner Capability-Theorie eine neue und umfassende Armuts- und Entwicklungstheorie vorgelegt, die er in Zusammenarbeit mit seinem Freund Mabub Ul-Haq, der mittlerweile das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen UNDP leitete, als Human Development Approach zu operationalisieren versuchte und die ohne Zweifel als die wichtigste moderne Armutstheorie gelten kann. Kernstück der Capability-Theorie ist die Vorstellung, dass ein Mensch in seinem Leben die Möglichkeit bekommen muss, sich gemäß seiner Potentiale 18

Vgl. Sen, Development as Freedom.

308 P. Lepenies    und Wünsche zu verwirklichen. Unter dem Stichwort Verwirklichungschancen ist der Ansatz auf Deutsch bekannt geworden. Zwar baut diese Theorie auch auf einem multidimensionalen Armutsverständnis auf, wie dies auch der Basic Needs-Ansatz machte, macht die Verwirklichung der eigenen individuellen Präferenzen aber zu einem normativen Ideal und erweitert damit das Armutsverständnis signifikant. Armut ist laut Sen immer dann gegeben, wenn ein Mensch in seinen Verwirklichungschancen behindert wird – entweder weil er zu wenig Einkommen besitzt, aus kulturellen, religiösen oder geschlechterspezifischen Gründen behindert wird oder weil es beispielsweise keine Erziehungs- oder Gesundheitseinrichtungen gibt etc. Entwicklung ist dann der Prozess, der dafür sorgt, dass diese Hürden abgebaut werden, es also zu einer Capability Expansion, einer Erweiterung der Verwirklichungschancen kommt. Armut ist hingegen Capability Deprivation. Armut ist damit natürlich auch weiterhin ein Fehlen von befriedigten Grundbedürfnissen, aber eben doch viel mehr. Entscheidend ist dabei aber, dass hier auf theoretischer Ebene kein Unterschied zwischen Armutsbekämpfung und Entwicklungspolitik gemacht wird. Außerdem versöhnt dieser Ansatz historische Entwicklungsansätze, sodass das Pro-Kopf-Einkommen immer noch ein wichtiger Bestandteil für das Erreichen persönlicher Ziele gesehen wird, aber eben die anderen Dimensionen ebenso berücksichtigt werden müssen. Drittens erhielt die Armutsausrichtung durch ein internationales politisches Credo eine ungeahnte mediale und politische Aufmerksamkeit, die bis heute anhält: das Bekenntnis, die extreme Armut auf der Welt in einem vorgegebenen Zeitrahmen zu beenden. Erstmalig wurde dies international anlässlich des Kopenhagener UN-Gipfels von 1995 geäußert, in dessen Abschlussdokument es heißt: „Wir verpflichten uns zu dem Ziel, die Armut auf der Welt zu beenden.“19 Diese Forderung wurde mit der Millenniums Declaration der Vereinten Nationen und später mit der Ausformulierung der Millennium Develoment Goals erneut bekräftigt. Auch das erste der Sustainable Development Goals (SDG) von 201520 postuliert – wie anfangs erwähnt – das Ende der Armut und macht damit deutlich, wie sehr Nachhaltige Entwicklung eben auch und vor allem Armutsbekämpfung bedeutet. Historisch bemerkenswert ist dabei nicht nur die breite Koalition von Institutionen und Staaten, die sich diesem Ziel verschrieben haben, sondern auch der Optimismus, dass dies gelingen 19

Vgl. UN, Report of the World Summit for Social Development (eigene Übersetzung). 20 Vgl. Vereinte Nationen, Resolution der Generalversammlung.

Armut und Entwicklung

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kann. Jeffrey Sachs’21 Publikation „Das Ende der Armut“ von 2005, in dem versucht wird, diesen Optimismus zu substantiieren und Wege zu zeigen, wie dieses Ziel erreicht werden kann, ist seitdem das weltweit am meisten zitierte und verkaufte Buch zum Thema Armut überhaupt. Mit dieser Prioritätensetzung nicht allein auf Armutsbekämpfung, sondern auf eine gänzliche Beendigung der Armut haben es die Entwicklungsinstitutionen seit nunmehr 20 Jahren geschafft, nicht nur die Weltarmut als zu lösendes Problem im Bewusstsein zu halten, sondern auch die Fundamentalkritik an der Sinnhaftigkeit der Entwicklungspolitik zum Verstummen gebracht zu haben. 6

Fazit: Armut bleibt eine Herausforderung

Weniger komplex wird die Erforschung dessen, was Armut in der Welt ausmacht und wie man sie messen und natürlich auch bekämpfen kann, trotz dieser Aufmerksamkeit allerdings nicht. Schwierigkeiten der gängigen Armutsmessung aufzuzeigen und jeweils alternative Vorschläge zu der Erfassung von Armut zu machen, sind zu einem wesentlichen und immer unübersichtlicheren Bestandteil der empirischen Sozialforschung geworden. Experimentelle Methoden, Verhaltensökonomie und die so genannten Randomized Control Trials versprechen, immer besseres Wissen über Armut und über die Erfolge von spezifischen Armutsbekämpfungsstrategien zu generieren.22 Dennoch ist die Kritik an der Entwicklungspolitik so alt wie die Entwicklungspolitik selbst. Und die immer wiederkehrende Kritik behandelt immer die Frage, ob man Armut versteht und ob die Mechanismen und Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung wirklich effektiv sind. Eine ganze Kritikschule, die Post-Development, Post-Moderne oder Post-Strukturalismus genannt wird, spricht der Entwicklungspolitik die grundsätzliche Eignung ab, Armut bekämpfen zu können.23 Armut sei ein westliches Konstrukt, Expert_innen verstünden nicht, was den Menschen wichtig ist, Entwicklungsmaßnahmen wären häufig nicht lokalen Gepflogenheiten angepasst und zementierten lediglich koloniale Macht- und Wissensstrukturen, lauten die üblichen Vorwürfe. Aber auch stärker sachorientierte und ideologieferne Kritik, die meist von Autor_innen kommt, die selbst in der Entwicklungspolitik tätig 21

Vgl. Sachs, The End of Poverty. Vgl. Bannerjee/Duflo, Poor Economics. 23 Vgl. Escobar, Encountering Development. 22

310 P. Lepenies    waren, hat oft genug geäußert, dass Armutsbekämpfung in der Entwicklungspolitik von externen, ortsfremden Akteuren geplant und durchgeführt wird und häufig aufgrund der bestimmten administrativen Abläufe der Entwicklungshilfe nicht besonders effektiv ist.24 Erschwerend kommt auch hinzu, dass das Land mit der augenscheinlich größten Erfolgsgeschichte in der Armutsbekämpfung der jüngeren Geschichte, die Volksrepublik China, dies aus Eigenanstrengung und ohne nennenswerte westliche Entwicklungshilfe leisten konnte. Das muss nicht automatisch gegen die Entwicklungspolitik sprechen. Es zeigt aber, dass selbst auf einem Gebiet, das sich seit langem der Armutsbekämpfung verschrieben hat, noch viele Unklarheiten und Unsicherheiten bestehen und vielleicht immer bestehen werden. Dass Armut, so intuitiv verständlich Armut sein mag, eben doch ein hochkomplexes Phänomen ist, das man immer neu erforschen und mit neuen Ansätzen in den Griff bekommen muss. Entwicklungspolitik ist ein wichtiger Akt internationaler Solidarität. Aber auch das politische Element, das zu Beginn der Entwicklungspolitik eine entscheidende Rolle gespielt hat, ist alles andere als obsolet. Die Probleme der massiven Migrationsströme nach Europa sind nur dann in den Griff zu bekommen, wenn sich die Armutssituation in vielen Regionen des Südens verbessert. Heute wie damals sind es politische Notwendigkeiten und ethische Normvorstellungen zusammen, die für eine Armutsbekämpfung durch Entwicklungspolitik sprechen. Literatur Arndt, Heinz Wolfgang, The ‘Trickle-Down’ Myth, Economic Development and Cultural Change 32/1 (1983) 1−10. Bannerjee, Abhijit / Duflo, Esther, Poor Economics. A Radical Rethinking of the Way to Fight Global Poverty, New York 2011. Chambers, Robert, Rural Development. Putting the Last First, London 1983. Clark, Colin, The Conditions for Economic Progress, London 1940. De Soto, Hernando, The Other Path. The invisible Revolution in the Third World, New York 1986; deutsch: Marktwirtschaft von unten. Die unsichtbare Revolution in Entwicklungsländern, Zürich / Köln 1992. Escobar, Artur, Encountering Development. The Making and Unmaking of the Third World, Princeton 1995. 24

Vgl. Chambers, Rural Development.

Armut und Entwicklung

311 

Hunt, Diana, Economic Theories of Development. An Analysis of Competing Paradigms, New York 1989. Lal, Deepak, The Poverty of Development Economics. Institute of Economic Affairs, London 1983. Lipset, Seymour, Some Social Requisites of Democracy: Economic Development and Political Legitimacy, The American Political Science Review 53/1 (1959) 69−105. Lerner, Daniel, The Passing of Traditional Society: Modernizing the Middle East, Free Press, Glencoe 1958. Lewis, Arthur, The Theory of Economic Worth, Ron Hedge, London 1955. Lugard, Fredrick, The Dual Mandate in British Tropical Africa. Blackwood, Edinburgh / London 1922. Rosenstein-Rodan, Paul, The International Development of Economically Backward Areas, International Affairs 20/2 (1944) 157−165. Rostow, Walt, The Stages of Economic Growth. A Non-Communist Manifesto, Cambridge 1960. Sachs, Jeffrey, The End of Poverty. Economic Possibilities for Our Time, New York 2005. Seers, Dudley, The Meaning of Development, IDR 11 (1969), 1−5. Sen, Amartya, Development as Freedom, New York 1999; deutsch: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München 2000. Truman, Harry S., Inaugural speech, January 20 1949, online: https://www.trumanlibrary.org/whistlestop/50yr_archive/inagural2 0jan1949.htm (Zugriff: 05.04.2018). Ul-Haq, Mabub, The Crisis in Development Strategies, World Development 1 (1973), 29−32. United Nations (UN), Report of the World Summit for Social Development, A/CONF.166/9, 19. April 1995, online: http://www.un. org/documents/ga/conf166/aconf166-9.htm (Zugriff: 05.04.2018). Vereinte Nationen, Resolution der Generalversammlung, verabschiedet am 25. September 2015, A/RES/70/1, 21. Oktober 2015, online: http://www.un.org/depts/german/gv-70/band1/ar70001.pdf (Zugriff: 05.04.2018).

  Dietrich Werner

Reformatorische Tradition und Engagement für die Würde des Menschen − zum theologischen Ansatz von Brot für die Welt

1

Reformation als Befreiungsbewegung – die Konzentration auf das Evangelium als Begründung von Menschenwürde

Luther stellte an den Anfang seiner Ablassthesen von 1517 die beiden Sätze: „1. Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: ‚Tut Buße‘ usw. (Matth 4,17), hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei. 2. Dies Wort kann nicht im Sinne der sakramentalen Buße verstanden werden (d.h. im Sinne der Beichte und Genugtuung, die durch das Amt der Priester vollzogen wird).“1

Bei der Reformation geht es also um die Umkehrfähigkeit von Menschen, Kirche und Gesellschaft, die nicht durch religiös verbrämte Geschäftstüchtigkeit (damals der Ablasshandel) eingeschränkt und behindert werden darf. Reformation war in allen Bereichen von Kirche wie Gesellschaft als Befreiungsbewegung gedacht. Befreiung ist nur möglich durch ein erneuertes und gewissermaßen auf den Kern konzentriertes Verständnis des Evangeliums – das war das Grundempfinden für Martin Luther (und andere Reformatoren vor und nach ihm). Nicht einfach nur politischer Protest oder alternatives Parteiprogramm, sondern die Konzentration auf den Kern des befreienden Evangeliums motivierte seinen Widerstand gegen eine erstarrte, machtbesessene und das Evangelium unterdrückende römische Reichskirche im Spätmittelalter. Reformation – das war für ihn wesentlich eine Befreiungsbewegung durch das Evangelium: Befreiung des Glaubens durch Konzentration auf den Kern des Evangeliums (sola fide / allein durch den Glauben), Befreiung des Menschen durch Konzentration auf den Geschenkcharakter des Lebens (sola gratia / allein durch die 1

Luther, Disputation zur Erläuterung der Kraft des Ablasses (95 Thesen), 28.

Reformatorische Tradition und Engagement

313 

Gnade), Befreiung der Kirche durch Konzentration auf das, was Christus und sein Werk der Versöhnung für die Welt in die Mitte stellt (solus Christus / allein Christus), Befreiung des Denkens und des Verstehens durch Konzentration auf eine kritische Bibellektüre (sola scriptura / allein die Schrift) und in all diesem Befreiung der Welt durch den Widerspruch gegen die Vergötzung von Geld, Macht und Besitz (soli deo gloria / allein Gott die Ehre). Im Kern geht es bei der reformatorischen Botschaft nicht zuerst um einen sozialethischen Imperativ, sondern sozusagen um einen anthropologisch-theologischen Indikativ: Begründung der Menschenwürde jedes einzelnen Menschen unabhängig von Stand, Bildung, Herkunft, Leistungsfähigkeit und Wohlstand. Menschenwürde nach evangelischem Verständnis ist nicht eine zu erwerbende Verdiensteigenschaft des Menschen, sondern eine wesensmäßig vom Anfang des Lebens an bestehende Eigenschaft des Menschen. Das Leben in seiner Größe, Kraft und Schönheit wie auch jedes Leben in seiner Verwundbarkeit, Gebrechlichkeit, Schwachheit und Fürsorgebedürftigkeit ist mit der Qualität der unbedingt zu schützenden Würde ausgestattet – das gilt sogar für die Phase vor der Geburt wie auch bis über das Ende des Lebens hinaus. Nach reformatorischer Sicht besteht die Würde des Menschen in der zugewandten, nicht in der erworbenen Gnade von Gott. Dies hat radikale Konsequenzen für alle politischen, kirchlichen oder kulturell und ökonomisch begründeten Trennlinien zwischen Menschen in der Gesellschaft – ob im spätmittelalterlichen oder heute im modernen Kontext. 2

Reformation als Transformationsbewegung – zur Weltverantwortung und Stärkung der Zivilgesellschaft

Die Reformation war nicht nur eine binnenkirchliche Erneuerungsbewegung, sondern sie hat und hatte eine breite gesellschaftspolitische Dimension. Sie richtete sich auf eine umfassende Erneuerung auch von Struktur und Aufgaben der Obrigkeit in der Gesellschaft. Luthers Programmschriften zur Schulreform, zur Begrenzung des Wuchers, zur Einrichtung von sog. Ordnungen des Gemeinen Kastens (also Vorformen der kommunalen Armenfürsorge), seine Erinnerung an die gesellschaftliche Verantwortung des Adelsstandes2 geben beredt Zeugnis dafür, dass reformatorischer Glaube das Anliegen der Weltverantwortung von Anfang an immer mit bedacht hat. Während sich für Luther „Weltverantwortung“ vorrangig im Horizont der landes2

Vgl. z.B. Luther, An den christlichen Adel.

314 D. Werner    herrlichen Fürstentümer und Obrigkeitsordnung seiner Zeit (für Calvin im Horizont der städtischen Bürgergesellschaft schweizerischer Prägung) abspielte, war es der aufkommende Pietismus – die wichtigste „nachreformatorische“ Erneuerungsbewegung im kontinentaleuropäischen Protestantismus des 17. Jahrhunderts –, der das Prinzip reformatorischer Weltverantwortung mit einem erstmals wirklich globalen Welthorizont versah. Bereits im 17. Jahrhundert entstanden im Kontext der Reformation – und zugleich als Korrektur der erstarrten lutherischen Orthodoxie – erste Gestalten eines intensiveren zivilgesellschaftlichen Engagements, z.B. das epochale diakonisch-missionarische Aufbauprojekt der Franckeschen Stiftungen in Halle. Die „Reich Gottes Arbeit“ von August Hermann Francke oder später Johann Hinrich Wichern in Hamburg richtete sich an Menschen in Not. Die Gründung von Waisenhäusern und Armenschulen war Ausgangspunkt einer Belebung protestantischer Weltverantwortung, die – vielfach zunächst in freien Vereinen und abseits der Obrigkeitskirche – zum Markenzeichen einer im Laufe der Jahrhunderte stark professionalisierten Ausbildung diakonischer und zivilgesellschaftlicher Verantwortung in den evangelischen deutschen Kirchen wurde.3 Was mit dem reformatorischen Impuls zu einer „Leisniger Kastenordnung“4 1523 begann und was schon damals die Kernüberzeugung zum Ausdruck brachte, dass Armut und Hunger ein Skandal sind, der christliche Intervention im Namen der Gerechtigkeit Gottes und der Würde des Menschen erforderte, setzte sich im Kontext der Nachkriegsjahre und in der Begegnung mit dem Elend, das die vormaligen Kolonialherren beispielsweise in Indien und in Afrika zurückgelassen hatten, fort: 1957 gab es den Aufruf „Für die Hungernden der Welt“, der 1959 zur Gründung der Aktion „Brot für die Welt“5 führte. Auch dies war eine Fortsetzung des reformatorischen Impulses, der danach fragen ließ, wie christliche Welt-Verantwortung inmitten von Hungerkrise und Ost-West-Konflikt gelebt werden konnte. Weil die deutsche Bevölkerung selbst Aufbauhilfe erfahren hatte in den Jahren nach Kriegsende (die gleichen Dosen wie die Milchpulverkanister!), durfte Hilfe nicht verweigert werden für Menschen in der Ferne. Das war der Beginn einer langen Lerngeschichte von Kirchen, Diensten und Werken im Blick auf die Frage, wie Nächstenliebe partnerschaftlich gestaltet und unabhängig von wirtschaftlichen oder politischen 3

Vgl. Schäfer/Herrmann, Geschichtliche Entwicklungen der Diakonie, 47ff. Vgl. Luther, Vorrede zu: Ordnung eines gemeinen Kastens. 5 Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Aufruf. 4

Reformatorische Tradition und Engagement

315 

Eigeninteressen in die Welt getragen werden kann. Seitdem ist bewusst, dass der Impuls christlicher Nächstenliebe, also der Impuls diakonischen Handelns, nicht nur im eigenen Land Fuß fassen muss, sondern die Grenzen von Ländern und Kontinenten überschreitet. Zwischen reformatorischem Impuls, Engagement für Menschenwürde, Stärkung von Eine-Welt-Verantwortung und Förderung zivilgesellschaftlicher Partizipationsspielräume besteht also ein innerer und unauflöslicher Zusammenhang, der sich heutzutage nicht nur im Bereich innerhalb Deutschlands, sondern in vielen der Länder des Südens, in denen die Möglichkeiten und Bewegungsspielräume zivilgesellschaftlichen Engagements zunehmend eingeengt werden, weiter bewähren und verteidigt werden muss. Seit mehr als 60 Jahren wissen sich reformatorische Kirchen in Deutschland mit ihren kirchlichen Hilfswerken – zusammen mit den Hilfswerken der Katholischen Kirche – verpflichtet zu weltweiter Diakonie und zur Stärkung von gesellschaftsbezogener Verantwortung der kirchlichen und gesellschaftlichen Partner in Übersee. In internationaler Perspektive beschäftigt dabei heute vor allem die Frage, wie diese diakonisch-weltbezogene Verantwortung protestantischer Kirchen und der Kirchen allgemein weiter aktiv wahrgenommen und gestärkt werden kann. Auf Grund der völlig unterschiedlichen Verhältnisse in den Staat-Kirche-Zivilgesellschaft-Bedingungen in den Ländern des Südens bzw. Ostens besteht häufig ein Ungleichgewicht zwischen den Möglichkeiten und Kapazitäten für zivilgesellschaftliches Engagement und gesellschaftsethischer Kompetenzbildung bei uns und in den Ländern des Südens. Die gesellschaftlichen Spielräume für zivilgesellschaftliches Engagement werden zudem in manchen Ländern zunehmend eingeengt (z.B. Russland, China, Türkei). Nirgendwo auf der ganzen Welt gibt es eine Diakonie und Entwicklungsdienstzentrale mit über 700 Mitarbeitenden wie in Deutschland. Deshalb setzen sich reformatorische Kirchen und Hilfswerke entschieden für die Erhaltung von Spielräumen zivilgesellschaftlicher Organisation und entsprechender Lobby- und Advocacy-Arbeit in Übersee ein, auch für entsprechende Garantien der Religionsfreiheit in Minderheitskirchen (z.B. in Russland, China, Indien, Pakistan, Saudi Arabien und in den Ländern des Nahen Ostens).

316 D. Werner    3 Reformation als Lernbewegung für Menschenwürde und Entwicklung – Brot für die Welt als Anwalt reformatorischer Impulse im ökumenischen Horizont Das „Evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung“ (EWDE) in Berlin ist Ausdruck und Resultat einer langen, über 150-jährigen Geschichte der Professionalisierung, Ausdifferenzierung und institutionellen Ausgestaltung des sozialen Dienstes durch die evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD). Die reformatorisch inspirierte Lernbewegung für Menschenwürde und Entwicklung findet in ihr gleichsam einen festen institutionalisierten Ausdruck. Der Zusammenschluss mehrerer Vorgängerwerke im Jahre 2012 markiert einen deutlichen Zug zur Professionalisierung und Integration der Gesamtarbeit der evangelischen Kirchen im Bereich Armut und Gerechtigkeit. Zugleich zeigt er einen deutlichen Willen zur kritischen Begleitung und Mitgestaltung staatlicher Sozial- und Entwicklungspolitik im Rahmen der für die deutsche Situation charakteristischen rechtlichen Regelungen für das Verhältnis von Staat und Kirche, das im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips Möglichkeiten zu einer Mitwirkung kirchlicher Wohlfahrtsorganisationen im Gemeinwesen schafft. Zwei große Stränge der langen Geschichte des sozialen Protestantismus sind in diesem großen Werk miteinander verbunden: – die Tradition der Fürsorge für Arme, Benachteiligte und Kranke, wie sie in regionalen diakonischen Diensten und Werken (Krankenhäusern, Schulen, Beratungsstellen etc.) ihren Ausdruck gefunden hat, d.h. Auseinandersetzung mit Armut und Gerechtigkeit im nationalen Kontext; – die Tradition der Beziehungen zu Kirchen und Organisationen im weltweiten Kontext über Mission und Entwicklung, die im Bereich Bildung, Armutsbekämpfung und Gerechtigkeit engagiert sind, d.h. die Auseinandersetzung mit Armut und Gerechtigkeit im internationalen Kontext. Dabei ist für die Gesamtkonzeption dieses größten gemeinsamen Werkes der Gliedkirchen der EKD und der Freikirchen wichtig, dass der karitative Ansatz diakonischen Handelns immer zugleich verbunden ist mit einem politisch-strukturellen Ansatz. Die vielzitierte Verschiebung eines Ansatz von „caring for the poor“ zu einem „speaking truth to power“-Ansatz hat die Entstehung und Arbeit dieses Werkes und seiner Vorgängerorganisationen schon seit Jahrzehnten begleitet. Deshalb wird ein großer Wert auf die Verschränkung von Projektarbeit mit politisch-struktureller Lobby- und Advocacy-Arbeit gelegt. Alles dies wäre nicht denkbar ohne die lange Vorgeschichte der Entwick-

Reformatorische Tradition und Engagement

317 

lung des „sozialen Protestantismus“, wie er im deutschen Kontext seit fast 200 Jahren sich entfaltet und Gestalt angenommen hat.6 Die vier Grund-Motive, die in der Entstehung von Brot für die Welt Ende der 1950er Jahre zusammenwirkten, haben bis in die Gegenwart eine wichtige Funktion: 1) Brot für die Welt war eine systemübergreifende Initiative, die sich der Binnenlogik des Ost-West-Gegensatzes entzog. 2) Brot für die Welt war Ausdruck der Dankbarkeit über die erfahrene Hilfe westlicher Kirchen in den Jahren des Wiederaufbaus in Deutschland. 3) Brot für die Welt war Folge der Erkenntnisse des Kirchenkampfes in Deutschland und der neu empfundenen Verpflichtung, dem Zeugnis- und Dienstauftrag der Kirche auch glaubwürdige Taten folgen zu lassen. 4) Brot für die Welt war eine kirchliche Antwort aus Deutschland auf die neue Tradition des internationalen ökumenischen Sozialdenkens im Welthorizont und die Entdeckung der Entwicklungsverantwortung in den 1960er Jahren, wie sie im Ökumenischen Rat der Kirchen vorgetragen wurde. 4

Reformation als Bildungsbewegung – zur historischen Allianz von Glauben und kritischer Bildung

Ein weiteres Kernmerkmal reformatorischer Prozesse betrifft den Zusammenhang von Reformation und Bildung. Der historische Erfolg der protestantischen Reformation in Mitteleuropa war wesentlich dadurch mitbedingt, dass im Ausgang des Spätmittelalters ein historisches Bündnis zwischen reformatorischem Glauben und Bildungsarbeit entstand. Luther und Melanchthon waren innovative Vor-Denker einer Begegnung zwischen biblischer Tradition und aufkommendem Humanismus, Pioniere der Schul- und Universitätsgründung in der Reformationszeit. Die 95 Thesen Martin Luthers waren für eine akademische Disputation bestimmt – den Ort spätmittelalterlicher Diskurse um rechte Lehre, Wahrheit und Geltungsansprüche in Kirche und Gesellschaft. Luthers Engagement für christliche Bildung durch Familienkatechumenat, Bibelübersetzung, durch Betonung des unmittelbaren Zugangs jedes einzelnen Gläubigen zur Schrift ist häufig

6

Vgl. Grebing u.a., Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland; Bedford-Strohm u.a., Jahrbuch Sozialer Protestantismus.

318 D. Werner    detailliert untersucht worden.7 Die Reformation kam aus den Denkstuben unangepasster Universitätslehrer, sie wurde verbreitet von konflikt- und protestbereiten jungen Studierenden. Wo die Reformation europäisch wirksam wurde, wurden Universitäten gegründet, so 1527 in Marburg und 1559 in Genf – und dies alles hatte internationale Ausstrahlungskraft. Die weltweite Missionsbewegung im 18. und 19. Jahrhundert hat das reformatorische Interesse an theologischer Bildung exportiert und an viele der jungen Kirchen in den Ländern des Südens weitergegeben. Im strategischen Dreiklang von Mission als Kirchengründung, als Schulgründung und als Krankenhausgründung, der einen großen Teil der protestantischen (wie auch der katholischen) Missionsbewegung geprägt hat, bleibt das Echo der reformatorischen Verbindung zwischen christlichem Glauben und Bildungsinteresse spürbar. Viele jüngere Theolog_innen aus den Kirchen des Südens, mit denen ich jahrelang im Programm für theologische Ausbildung in Genf zu tun hatte, erzählten in unzähligen Variationen und mit leuchtenden Augen von der Verehrung für westliche Missionare, die ihnen durch Gründung von Schulen und Seminaren den Zugang zu einer kritischen Verbindung von Glauben und Bildung in den einheimischen Kulturen eröffnet haben. Das massive Bildungsinteresse, das von vielen Menschen der nachwachsenden Generationen in den Kirchen des Südens artikuliert wird, ist Ausdruck auch eines Widerstandes gegen theologische Verflachung und eine politische Instrumentalisierung von Glauben. Es dient einer kritisch aufgeklärten und differenzierten Religiosität – ein wesentlicher Beitrag reformatorischer Kirchen in der weltweiten Ökumene auch heute. Theologische Bildungsarbeit hat eine strategische Bedeutung für die Zukunft der Weltchristenheit nicht nur, weil sie die notwendige Antwort auf die rapide anwachsende Bildungsnachfrage aus den Ländern des Südens darstellt, sondern auch weil sie ein wirksames Mittel gegen den vielerorts vorandringenden religiösen Fundamentalismus oder seine Vorformen ist.

7

Vgl. Beyer/Wartenberg, Die Reformation als Bildungsbewegung; Dingel, Eruditio et Pietas.

Reformatorische Tradition und Engagement

5

319 

Reformation als Inkulturationsbewegung – Bibelübersetzung und die Ausbildung einer nicht-westlichen Christenheit

Die Vielsprachigkeit der christlichen Ökumene ist wahrscheinlich die bedeutendste Wirkung der reformatorischen Konzentration auf die „viva vox evangelii“, die lebendige Kraft des Wortes Gottes, das in den jeweiligen Muttersprachen zu hören und zu lesen sein sollte. Die sog. Lutherbibel von 1522 (Übersetzung von Erasmus griechischem Neuen Testament ins Deutsche) hatte kulturbildende Kraft für die deutsche Sprache, ja für die Alphabetisierung der Laien und damit des deutschen Volkes. Die frühe Ausbreitung der Reformation geschah wesentlich durch das Medium der neuen Bibelübersetzungen (Tschechische Bibel durch Hussiten, Ungarische Bibel duch Karoli Gaspar 1590, Französische Bibel durch Calvin). Der Missionstheologe Lamin Sanneh hat die Christenheit daran erinnert, wie zentral der Vorgang der Übersetzung dann im Kontext der weltweiten Missionsgeschichte gewesen ist für die Begegnung zwischen Evangelium und lokalen Kulturen, für die Bildung einheimischer Identitäten des Christentums, für die Würdigung und Anerkennung nicht-westlicher Kulturen.8 Bestimmte einheimische Sprachen in nicht-westlichen Lebenskontexten hätten vermutlich ohne die Pionierarbeit von Missionaren und christlichen Ethnologen, die Wörterbücher und Grammatiken verfassten, nicht überlebt oder wären dem Druck kolonialer Vereinnahmung zum Opfer gefallen. Ein eindrückliches Beispiel schildert Alexander Schweitzer am Beispiel der Quechua-Sprache in Kolumbien / Bolivien etc., die sonst durch den kolonialen Anpassungsdruck des Spanischen verdrängt worden wäre.9 Mit Lamin Sanneh kann man formulieren, dass es im Kern des gewaltigen Umgestaltungs- und Transformationsprozesses der Weltchristenheit in den vergangenen Jahrhunderten um den Vorgang und das Wunder der Übersetzung geht: den gezielten Versuch, die Erzählung von Gottes Liebe und Befreiung, wie sie in der biblischen Tradition berichtet wird, in neue kulturelle Horizonte hinein zu kommunizieren und zu transformieren. Sanneh hat dabei deutlich gemacht, dass es dabei um weit mehr als um eine technische Wort-zu-Wort-Übersetzung geht. Es geht jeweils um die neu-Schöpfung der essentiellen Bedeutung der befreienden Botschaft Gottes in einem neuen und anderen kulturellen Referenzsystem, das eine andere Semantik und eine andere Grammatik kennt.

8 9

Vgl. Sanneh, Translating the Message. Vgl. Schweitzer, Die Kraft des Wortes, 17.

320 D. Werner    Die Bibelübersetzungsarbeit hat die Geschichte nicht-westlicher Völker und Kulturen tiefgreifend verändert. Es waren die Bibel und erste Wörterbücher von Missionaren, die neues kulturelles Selbstbewusstsein gegeben und zur Veränderung von Laienbildung, vielfach insbesondere der Frauenbildung in vielen Kulturen beigetragen hat. 2018 begehen wir das Jubiläum des größten asiatischen Bibelübersetzers, des baptistischen Missionars William Carey, an dessen Wirkungsort in Serampore insgesamt 24 Bibelübersetzungen in asiatische Sprachen entstanden, u.a. auch eine der ersten Übersetzungen ins Chinesische.10 Interkulturelle Bibelübersetzung, die Verbreitung der biblischen Tradition in einheimische Sprachen ist ein unabgeschlossener, immer noch fortdauernder Prozess: Seine Förderung ist wesentlich Aufgabe der Deutschen Bibelübergesellschaft11 sowie ihres internationalen Flügels, der United Bible Societies.12 Auch dieser Bereich ist ein Beispiel für „ongoing reformation“: Ca. 6.500 gesprochene Sprachen existieren heutzutage auf der Welt. Von ca. 2.426 Sprachen haben wir die ganze Bibel oder mindestens Teile in Übersetzungen erhältlich. Für weitere 1.144 Sprachen haben wir eine Übersetzung nur des Neuen Testamentes. Wie wir als protestantische Kirchen die Förderung der Anerkennung lokaler und nicht-westlicher Kulturen und das Recht jedes Menschen, eine Bibel in seiner bzw. ihrer Muttersprache in den Händen zu halten, achten und verstärken, gehört mit zu den unverzichtbaren Elementen unserer protestantischen Identität. Die weltweite Gemeinschaft protestantischer Kirchen verhält sich deshalb kritisch zu Tendenzen einer Verwestlichung und kulturellen Gleichschaltung der Welt, die mit einer Dominanz des Englischen und damit implizit häufig einer Benachteiligung anderer sprachlicher Traditionen einhergeht. Sie behält das Interesse an der Stärkung der kulturellen Kraft und Identität nicht-westlicher oder minderheitsbezogener sprachlicher Kulturen und damit eine deutliche politische, anti-hegemoniale und befreiungsbezogene Dimension. Das reformatorische Interesse an der Würde des Menschen behält hier eine klare anti-hegemoniale und globalisierungskritische Dimension: Nicht die Gleichschaltung und kulturelle Dominanz bestimmter Kulturen, sondern kulturelle Heterogenität und interkultureller Dialog gehören zum Grundprinzip reformatorischer Kirchen.

10

Vgl. Werner, Senate of Serampore. Vgl. https://www.dbg.de/ (Zugriff: 05.04.2018). 12 Vgl. http://www.unitedbiblesocieties.org/ (Zugriff: 05.04.2018). 11

Reformatorische Tradition und Engagement

321 

Die reformatorischen Kirchen behalten dabei eine wichtige Rolle innerhalb einer sich immer stärker pluralisierenden Weltchristenheit: Denn 500 Jahre nach Luther hat sich die Gestalt der Weltchristenheit umfassend geändert. Das gilt für die Verteilung der Christen auf die Kontinente: 1910 lebten 93 % der Christen in Europa, Nord- und Südamerika, 2011 sind es nur noch 63 %. Die Zahl der Christen hat am meisten zugenommen in den Ländern Afrikas südlich der Sahara und in der Asien-Pazifik-Region.13 Was vielfach als „Shift of Gravity“ bezeichnet wird – als Verschiebung des Gravitationszentrums des Christentums in den globalen Süden – bedeutet deshalb weit mehr als eine geographische Veränderung: Das Christentum wird heute theologisch, missionarisch und in seinem gesamten Erscheinungsbild mehr und mehr von Christen und Kirchen aus afrikanischen und asiatischen Kontexten geprägt. Es ist wesentlich zu dem geworden, was es in seinen Anfängen bereits war: eine nicht-westliche Religion. Europa ist also nur „eine Provinz in der weltweiten Kirche Jesu Christi“ (Ernst Lange). Zur Ent-Westlichung des weltweiten Christentums kommt die Charismatisierung des Christentums, teils auch der historischen reformatorischen Kirchen: Die qualitative Zusammensetzung der Christenheit hat sich wesentlich geändert.14 Der Anteil der Pfingstler (279 Millionen – mit Schwerpunkt in Afrika) und der charismatisch geprägten Christen (305 Millionen – mit Schwerpunkt im asiatisch-pazifischen Raum) ist rasant gestiegen, auch der Christen, die durch die Erweckungsbewegung geprägt sind („Evangelicals“). Viele dieser Kirchen nehmen in ihrer eigenen Weise ur-reformatorische Anliegen auf (Bibelfrömmigkeit, Bildung, Laienbeteiligung, Armenfürsorge, Interesse an solider theologischer Reflexion) und sind an einem Dialog mit den klassischreformatorischen Kirchen interessiert. Zum Teil gibt es aber auch kontroverse theologische Debatten mit diesen Erneuerungsbewegungen (z.B. über Bibelverständnis, Rolle der Frauen, Glaube und Wohlstand, Gesundheit und Heilung), in denen sich das reformatorische Erbe neu bewähren und aktualisieren muss. Die geistorientierten Kirchen des pentekostalen und charismatischen Typus kann man als Kirchen der „zweiten“ Reformation bezeichnen.

13

Deutschland mit seinen etwa 48 Millionen (2016) Christen hat in Europa die zweitgrößte christliche Bevölkerung nach Russland und die neuntgrößte der Welt, zahlenmäßig ist aber das Christentum z.B. in Nigeria schon jetzt größer als das deutsche. 14 Vgl. Evangelisches Missionswerk, Von allen Enden der Erde.

322 D. Werner    Religionsdemographisch gesehen gelten also vier wichtige Trends, gegenüber denen sich jeweils das spezifisch reformatorische Anliegen und Erbe jeweils neu bewähren muss: a) Schon heute leben in Afrika alleine mehr „evangelische“ Christen als in Europa und Nordamerika zusammen und dieser Trend nimmt zu. b) Die missionarische Ausbreitung der reformatorischen Tradition in den Ländern des Südens ist weniger durch unseren staatskirchlichen Typus vor sich gegangen, sondern mehrheitlich vor allem durch den freikirchlichen Typus reformatorischer Kirchen, d.h. der Kongregationalisten, der Baptisten, der Methodisten. Die Lutheraner sind weltweit gesehen nach wie vor mehrheitlich in Europa und Amerika beheimatet, nicht in den Ländern des Südens. c) Insgesamt leben die reformatorischen Kirchen in einer Situation, in der sie selbst nur ein – kleiner werdender – Teil der Weltchristenheit sind. Oft leben sie in einem Land zusammen mit anderen „klassischen“ christlichen Kirchen – z.B. der römisch-katholischen, der anglikanischen, der orthodoxen –, immer häufiger aber auch mit Kirchen und Gemeinschaften, die sich nicht unmittelbar einer Konfessionsfamilie zuordnen (lassen) und die oft pfingstlerisch oder charismatisch geprägt sind. d) Das reformatorische Erbe lebt verwandelt und modifiziert in vielen Kirchen auch außerhalb der klassischen reformatorischen Tradition fort, insbesondere in charismatischen und pentekostalen Kirchen. Viele von diesen sind, und dies ist ihnen manchmal nicht mehr bewusst, in ihren Ursprüngen stark von reformatorischen Traditionen beeinflusst. Der von Brot für die Welt in Kooperation mit dem Evangelischen Missionswerk vorbereitete und begleitete Studien- und Konsultationsprozess über „Reformation – Bildung und Transformation“ hat genau diesen Zusammenhang zwischen dem Weiterwirken reformatorischer Grundimpulse, Bildungsarbeit und zivilgesellschaftlichem Engagement in den neuen Konfigurationen der Weltchristenheit untersucht und vielfach Signale einer gestiegenen Aktualität und Lebendigkeit der reformatorischen Tradition in den Kirchen des Südens und ihrer Arbeit für eine nachhaltige Entwicklung festgestellt.15

15

Vgl. Reformation – Education – Transformation, International Twin Consultation.

Reformatorische Tradition und Engagement

6

323 

Reformation, Würde und Entwicklung – der UN Weltentwicklungsvertrag als globale Herausforderung

Als Entwicklungswerk evangelischer Kirchen in Deutschland hat uns nach dem „Super-Entwicklungsjahr 2015“ natürlich besonders Weg, Anliegen und Erfolg der hinter uns liegenden Serie wichtiger internationaler Konferenzen zur Zukunft der Entwicklungs-Zusammenarbeit der Nationen auf UN-Ebene beschäftigt, so die UN-Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung in Addis Abeba im Juli 2015, die Pariser Weltklimakonferenz Ende November 2015 sowie die UN-Konferenz über Nachhaltige Entwicklung in New York zur Annahme der SDGAgenda Ende September 2015. Was haben diese UN-Konferenzen auf der höchsten internationalen politischen Ebene mit Reformation und dem kirchlichen Auftrag zu tun? Erneut ist wichtig, nicht zu vergessen, dass die Lutherische Reformation nicht einfach nur um Probleme der frommen Innerlichkeit und eine um ihre ewige Rechtfertigung vor Gott ringende Seele kreiste, sondern als eine handfeste politisch-religiöse Auseinandersetzung mit einer der einflussreichsten Autoritäten der damaligen Herrschaftssysteme begann: Ausgelöst wurde die Reformation durch die Kontroverse zwischen Luther und dem Erzbischof Albrecht von Brandenburg und Mainz. Jener brauchte Geld zur Finanzierung des Dispenses vom Papst zur eigentlich nicht möglichen Akkumulation von mehreren einträglichen geistlichen Bischofsämtern. Als Protest gegen diese Praxis religiös verbrämter Korruption entstanden die 95 Disputationsthesen gegen das Ablasswesen. Diese auf Latein verfassten 95 Thesen waren im Kern ein scharfer Protest gegen ein religiös verbrämtes Herrschaftssystem, ein Protest gegen ein fehlgeleitetes gesamtgesellschaftliches Entwicklungsmodell des Spätmittelalters. Gegen die mit ihm verbundene Vermischung von Religion, Finanzkapital und handfester Korruption betonte Luther die Autonomie des Gläubigen vom kirchlichen Klerus, vom Machtapparat der mittelalterlichen Papstkirche und die personale Dimension des Glaubens: Es komme auf die innere Reue des Christen an, damit ihm Gott die Sünden vergibt, nicht auf die rituelle Vermittlung durch den Verkauf von Ablässen. Es liegt in der Fortsetzung dieser reformatorischen Kritik an Systemen der Verquickung von Religion und Ökonomie und Luthers großen Kampfschriften zur Neuordnung der damaligen Herrschaftsmächte, dass kirchliche Entwicklungswerke sich heute, 500 Jahre danach, ebenso engagiert für die internationale Reform eines Weltfinanz- und Handelssystems aussprechen, das mit einer quasireligiösen Fixierung auf das Leitziel eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums der führenden Industrienationen der Mehrheit der ärmeren Bevölkerungen in den Ländern des Südens keine gleichberechtigten Zugangschancen zu Wohlstand und Sicherheit ermöglicht.

324 D. Werner    Die Weltagenda der nachhaltigen Entwicklungsziele (die sog. SDGAgenda), die 17 Oberziele umfasst, die dann durch 169 Unterziele erläutert und konkretisiert werden,16 ist der in der bisherigen Menschheitsgeschichte umfassendste Versuch, eine Umsteuerung der Entwicklungsrichtung der Menschheit herbeizuführen. In dieser Agenda verknüpfen sich Reformation und Transformation erstmals in einer Weise, dass die klassische Unterscheidung zwischen Entwicklungsländern und entwickelten Nationen aufgehoben wird, weil die SDGAgenda auf alle Staaten der Erde bezogen ist und also jedes Land, auch Deutschland, verpflichtet ist, eine nationale Umsetzungsstrategie zu erarbeiten, die konkret nachweisbare Schritte zur Umsetzung aller 17 Ziele der SDG-Agenda festlegen muss. Natürlich wissen alle, dass sowohl auf dem Wege bis hin zur endgültigen Verabschiedung als auch auf dem Wege dann der nationalen Umsetzung zahlreiche Schlupflöcher, Fallstricke und Abschwächungsmöglichkeiten vorhanden sind, mit denen der verpflichtende Charakter, die Kontrollmechanismen, die kohärente politische Umsetzung (z.B. durch alle Ministerien und nicht nur durch das Umweltministerium) entwertet und gemindert werden können. Deshalb liegt uns daran, dass über die NGOCommunity der politische Druck wirklich aufrechterhalten wird, diese einzigartige internationale Chance zu einem alternativen Weltentwicklungsvertrag nicht verstreichen zu lassen und sie nicht durch entgegenlaufende Maßnahmen (z.B. die Öffnung der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit zu privatwirtschaftlichen Investoren, deren Leitinteressen dann stärker in der Stärkung nationaler Außenwirtschaftsbeziehungen und der Exportchancen liegen und die nicht an ein gemeinsames Regelwerk mit Ziel- und Kontrollvorhaben gebunden sind) zu konterkarieren. Alle wissen oder ahnen heutzutage, dass nationale Regierungen alleine die notwendige Umkehr zu einem anderen Kurs der weltweiten Entwicklung, zu der sog. „großen Transformation“, nicht zustande bringen können. Der Ruf nach einer stärkeren Rolle der Faith-Based Organizations (glaubensbasierten Organisationen; FBOs) ist stark.17 Ein lebensverträglicher und ressourcenschonender Lebensstil erfordert Umorientierungen unserer leitenden Wertvorstellungen auf breitester Bevölkerungsebene, die nicht ohne die Religionsgemeinschaften geschehen kann, denn es sind wesentlich immer noch die Reli16

United Nations, Sustainable Development. Vgl. die jüngste Konferenz der Weltbank, Washington, mit Vertretern von FBOs: Religion & Sustainable Development (online: http://jliflc.com/conferences/religionsustainable-development-building-partnerships-to-end-extreme-poverty/). 17

Reformatorische Tradition und Engagement

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gionsgemeinschaften, über die weltweit die meisten Menschen zu erreichen sind. Aber sind wir – die reformatorischen Kirchen – als ein Teil der globalen FBO-Community so aufgestellt, dass wir in Gemeinde, Schule und Öffentlichkeit einen wesentlichen, ausreichenden und vorbildlichen Beitrag zur Verbreiterung der gesellschaftlichen Akzeptanz eines neuen Lebens- und Konsummodells in unserem Kontext geben können? Die christlichen Kirchen stehen für einen Raum des zivilgesellschaftlichen Diskurses und des Engagements, in dem es um grundlegende Werte und Motivationen geht, die unerlässlich sind für eine Umsteuerung des bisherigen Entwicklungsmodells. Kirchen vermitteln Sprachfähigkeit für ein neues Verständnis von Entwicklung, für leitende Werte, aus denen heraus sich Menschen für Ziele der Entwicklungszusammenarbeit und der SDG-Agenda engagieren. Die christliche Tradition hält fest daran, dass es im Lichte der Reich-Gottes-Botschaft nicht vergeblich und nicht verheißungslos ist, sich für kleine Schritte des täglichen politischen Engagements für Menschenrechte, für gerechte Teilhabe und für nachhaltige Entwicklung zu engagieren. Literatur Bedford-Strohm, Heinrich / Jähnichen, Traugott / Reuter, HansRichard u. a. (Hg.), Jahrbuch Sozialer Protestantismus, Gütersloh 2007ff. Beyer, Michael / Wartenberg, Günther (Hg.), Die Reformation als Bildungsbewegung. Humanismus und Wittenberger Reformation: Festgabe anlässlich des 500. Geburtstages des Praeceptor Germaniae Philipp Melanchthon am 16. Februar 1997. Helmar Junghans gewidmet, Leipzig 1996. Dingel, Irene, Eruditio et Pietas. Die Wirkung der Reformation auf Schule und Universität, in: Michael Beyer u.a. (Hg)., Christlicher Glaube und weltliche Herrschaft. Zum Gedenken an Günther Wartenberg. (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 24), Leipzig 2008, 317−334. Evangelisches Missionswerk in Deutschland, Von allen Enden der Erde. Die neuen Landschaften der Weltchristenheit. Jahresbericht 2013/2014, Hamburg 2014. Grebing, Helga / Euchner, Walter / Stegmann, Franz J. (Hg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland: Sozialismus – Katholische Soziallehre – Protestantische Sozialethik. Ein Handbuch, 2. Aufl., Essen 2005. Luther, Martin, An den christlichen Adel deutscher Nation: Von des christlichen Standes Besserung (1520), in: Martin Luther, Aus-

326 D. Werner    gewählte Werke, hg. v. Karin Bornkamm / Gerhard Ebeling, 5. Bd.: Kirche, Gottesdienst, Schule, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1982, 19−26. Luther, Martin, Vorrede zu: Ordnung eines gemeinen Kastens; Ratschlag, wie die geistlichen Güter zu handeln sind (1523), in: Martin Luther, Ausgewählte Werke, hg. v. Karin Bornkamm / Gerhard Ebeling, 1. Bd.: Aufbruch zur Reformation, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1982, 150–237. Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Aufruf an die evangelischen Christen in Deutschland. Menschen hungern nach Brot! (1959), in: Wolfgang Maaser / Gerhard K. Schäfer, (Hg.), Geschichte der Diakonie in Quellen. Vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Neukirchen-Vluyn 2016, 469−471. Reformation – Education – Transformation, International Twin Consultation. Brazil 2015 – Germany 2016, online: http://www.r-et.net/ (Zugriff: 05.04.2018). Sanneh, Lamin, Translating the Message: The Missionary Impact on Culture, New York 1989. Schäfer Gerhard K. / Herrmann, Volker, Geschichtliche Entwicklungen der Diakonie, in: Günter Ruddat / Gerhard K. Schäfer (Hg.), Diakonisches Kompendium, Göttingen 2005, 36−67. Schweitzer, Alexander, Die Kraft des Wortes. Die Bedeutung der Reformation für Sprachen und Gesellschaften, in Reformation und die Eine Welt. EKD Magazin 2016, Hannover 2015, 16f. United Nations, Sustainable Development, online: https://sustainable development.un.org/topics/sustainabledevelopmentgoals (Zugriff: 05.04.2018). Werner, Dietrich, Senate of Serampore, Convocation address 2014, online: http://www.oikoumene.org/en/press-centre/news/Serampo reConvocationadressfinal3Jan2014.pdf (Zugriff: 05.04.2018).

  Klaus Seitz

Eine Welt ohne Hunger und Armut ist möglich

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Die globalen Ziele für eine nachhaltige Entwicklung

Die Vereinten Nationen haben am 25. September 2015 ein neues Kapitel ihrer Geschichte aufgeschlagen. Zum bisher größten Gipfeltreffen aller Zeiten waren mehr als 150 Staats- und Regierungschefs nach New York angereist und haben sich zu den „Zielen für eine nachhaltige Entwicklung“ bekannt. Alle 193 UN-Mitgliedsstaaten haben die sogenannte „Agenda 2030“ mit ihren 17 Zielen und 169 Unterzielen, die „Sustainable Development Goals“ (SDGs), unterzeichnet. Bei diesem Zielekatalog geht es um nichts weniger als um die Überwindung der Armut und des Hungers, um den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, die Stärkung von Frieden und Rechtsstaatlichkeit und um den Abbau der sozialen Ungleichheit in der Welt. Nie zuvor haben sich die Staaten der Welt auf einen so breit gefächerten gemeinsamen Handlungsrahmen verpflichtet. Der damalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-moon, brachte die epochale Weichenstellung, vor der die Welt steht, mit folgenden Worten auf den Punkt: „Wir können die erste Generation sein, der es gelingt, die Armut in der Welt zu beseitigen, ebenso wie wir die letzte sein können, die noch die Chance hat, unseren Planeten zu retten“1. Die Verwirklichung des alten Menschheitstraums einer Welt ohne Hunger und Armut wurde mit den Zielen für eine nachhaltige Entwicklung in einen konkreten Zeitplan gegossen. Bis 2030 soll die Armut „in all ihren Formen und überall“ überwunden und sollen Hunger und Mangelernährung beendet werden. Darauf hat sich die Staatengemeinschaft mit den ersten beiden Zielen des SDG-Katalogs verpflichtet. In einer Welt, deren Wohlstand Tag für Tag wächst und die weitaus mehr Nahrungsmittel bereitstellt, als die Menschheit bräuchte, um 1

So auch die Formulierung in Vereinte Nationen, Transformation unserer Welt, Art. 50.

328 K. Seitz    ihren Hunger zu stillen, scheint die Vision einer Weltgesellschaft, in der niemand mehr an Hunger und Armut leiden muss, in greifbare Nähe gerückt. In der Tat ist das globale Wohlstandswachstum enorm: Nach dem jüngsten „Changing Wealth of Nations“-Report der Weltbank ist der globale Wohlstand der Welt zwischen 1995 und 2014 um 66 Prozent auf heute 1.143 Billionen US-Dollar gestiegen. Das Wachstum übertraf auch das Bevölkerungswachstum und stieg im genannten Zeitraum pro Kopf von 128.921 US-Dollar auf 168.580 US-Dollar, d.h. durchschnittlich um 1,3 Prozent jährlich.2 Auch ist die durchschnittliche Verfügbarkeit an Nahrungsmitteln in den vergangenen Jahrzehnten nach Angaben der Welternährungsorganisation FAO überproportional zur Bevölkerungszunahme gewachsen, von 2.200 kcal pro Kopf am Tag auf mehr als 2.800 kcal pro Kopf im Jahr 2009.3 Die Menschheit verfügt ohne Zweifel über die Ressourcen, Hunger und Armut in dieser Generation beenden zu können. Gleichwohl ist gegenüber dem bekundeten Willen der Staatengemeinschaft, diese Ressourcen auch zur Linderung der Not in der Welt einzusetzen und für ihre gerechte Verteilung Sorge zu tragen, Zweifel angebracht. Ohnehin herrscht in der Geschichte der Entwicklungspolitik bislang kein Mangel an hehren Zielen, um deren Erfüllung sich meist nur wenige ernsthaft bemühten. Beispielhaft sei hier nur das Versprechen der ersten Welternährungskonferenz angeführt, die 1974 in Rom tagte. Innerhalb eines Jahrzehnts, so hieß es dort mit den Worten Henry Kissingers, soll kein Kind mehr hungrig zu Bett gehen und keine Familie mehr um das Brot für den nächsten Tag bangen müssen. Das Ziel wurde dramatisch verfehlt, zumal die vorherrschende Strategie einer agrarindustriellen Grünen Revolution geradewegs auf den Holzweg führte. Der damalige Generalsekretär des Ökumenischen Rats der Kirchen, Philip Potter, erster Vertreter des Südens in diesem Amt, hatte seinerzeit die Beschlüsse von Rom kritisch hinterfragt: „Alle Pläne und Empfehlungen dieser Weltkonferenz, die die in der Welt bestehenden Strukturen nicht im Wesen verändern, sind zum Scheitern verurteilt“4. Schnell war klar: Technologische Innovationen und Produktivitätswachstum sind nicht der Schlüssel zur Lösung der Armuts- und Hungerprobleme, solange nicht die Ungerechtigkeit sozialer und ökonomischer Verhältnisse angegangen wird.

2

Vgl. World Bank, Changing Wealth, 44f. Vgl. FAO, Statistical Yearbook 2013, 126. 4 Zitiert nach Protokoll der 48. Sitzung des Ausschusses für Ökumenische Diakonie AÖD, Diakonisches Werk der EKD, Stuttgart März 1975. 3

Eine Welt ohne Hunger und Armut

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Zu erinnern ist auch daran, dass die Weltbank die Utopie einer von Armut befreiten Welt schon früh zum Programm gemacht hatte: Ihr Motto „our dream is a world free of poverty“ prangt auf edlem Marmor in der Eingangshalle des Weltbanksitzes. Doch ausgerechnet die Weltbank hatte vor allem in den 1980er Jahren dazu beigetragen, dass sich die Lage der Armen durch die Schulden- und Strukturanpassungspolitiken der Bretton-Woods-Institutionen5 in vielen Ländern dramatisch verschärft hat. So kann auch die feierliche Erklärung der Vereinten Nationen vom September 2015 nicht darüber hinwegtäuschen, dass für hunderte Millionen von Menschen, die in von Gewalt und Krieg geprägten Regionen leben, derzeit kaum Aussicht darauf besteht, eines Tages Armut und Hunger entkommen zu können, der Klimawandel weiterhin ungebremst voranschreitet und die Umweltzerstörung in vielen Teilen der Welt sich beschleunigt. Die Welt ist noch nicht auf dem Pfad einer gerechten und nachhaltigen Entwicklung. Fast zwei Jahre nach Verabschiedung der Agenda 2030 hinkt der Stand der Umsetzung bereits weit hinter dem Notwendigen hinterher. UN-Generalsekretär Antonio Guterres hatte bei der Präsentation des zweiten SDG-Sachstandsberichts der Vereinten Nationen im Sommer 2017 deutlich gemacht, dass die Umsetzung derzeit viel zu schleppend verläuft. Das bisher eingeschlagene Tempo sei noch viel zu langsam, um die Ziele in 2030 tatsächlich erreichen zu können. In vielen Bereichen müssten die Anstrengungen umgehend mindestens verdoppelt werden.6 2

Fortschritte im Kampf gegen die globale Armut

Angesichts der Unzulänglichkeit oder auch Unehrlichkeit aller bisherigen Anstrengungen wäre es freilich verfehlt, zu unterstellen, dass sich in Fragen einer menschlichen Entwicklung alles nur zum Schlechteren hin entwickle. Der pessimistischen Lageeinschätzung von weiten Teilen der Öffentlichkeit wie auch den täglichen Katastrophenmeldungen der Medien ist entgegenzuhalten, dass sich die Lebensverhältnisse von Milliarden von Menschen in den vergangenen Jahrzehnten durchaus verbessert haben. Im Kampf gegen Armut und Hunger konnten zuletzt erhebliche Fortschritte erzielt werden. So zeigt der genannte SDG- Sachstandsbericht der Vereinten Nationen auch: Die Zahl der Menschen, die von weniger als 1,90 US-Dollar Einkommen am Tag leben müssen, hat sich zwischen 1999 und 2013 mehr als 5 6

Weltbank und Internationaler Währungsfonds. Vgl. United Nations, Sustainable Development Report 2017, 2.

330 K. Seitz    halbiert, von 1,7 Milliarden Menschen auf 767 Millionen Menschen. Damit ist auch der Anteil der extrem Armen an der Weltbevölkerung von 28 Prozent im Jahr 1999 auf 11 Prozent im Jahr 2013 gefallen. Zugleich konnte der Anteil der Menschen, die unterernährt sind, von 15 Prozent in den Jahren 2000−2002 auf 11 Prozent (2014−2016) gesenkt werden. Heute hungern 793 Millionen Menschen, 2000−2002 waren es noch 930 Millionen. Auch die Abschlussbilanz der Vorläufer der SDGS, der Millennium Development Goals (MDGs) – deren Teilziel, den Anteil der extrem Armen an der Bevölkerung bis zum Jahr 2015 zu halbieren, bereits vor Ablauf der gesetzten Frist erreicht werden konnte – benennt beeindruckende Errungenschaften7: – In den Entwicklungsregionen stieg die Netto-Bildungsbeteiligungsquote8 im Grundschulbereich zwischen 2000 und 2015 von 83 auf 91 Prozent. – Im selben Zeitraum sank die Zahl der Kinder im Grundschulalter, die keine Schule besuchen, weltweit fast um die Hälfte, von 100 auf schätzungsweise 57 Millionen. – Der Alphabetisierungsgrad bei 15- bis 24-Jährigen stieg zwischen 1990 und 2015 weltweit von 83 auf 91 Prozent, und das Gefälle zwischen Männern und Frauen ist geringer geworden. – Heute besuchen viel mehr Mädchen eine Schule als vor 15 Jahren. Die Entwicklungsregionen als Ganzes haben die Zielvorgabe erreicht, die Geschlechterdisparitäten in der Grund- und Sekundarstufe und im tertiären Bildungsbereich zu beseitigen. – Frauen haben in den Parlamenten in beinahe 90 Prozent der 174 Länder, aus denen Daten für die letzten 20 Jahre vorliegen, an Bedeutung gewonnen. Der durchschnittliche Frauenanteil in den Parlamenten hat sich im selben Zeitraum nahezu verdoppelt. – Zwischen 1990 und 2015 sank die Sterblichkeitsrate von Kindern unter fünf Jahren weltweit um mehr als die Hälfte, von 90 auf 43 Sterbefälle je 1.000 Lebendgeburten. – Mithilfe von Masernimpfungen wurden zwischen 2000 und 2013 fast 15,6 Millionen Sterbefälle vermieden. Die Zahl der weltweit gemeldeten Masernfälle sank im selben Zeitraum um 67 Prozent. – 2015 haben 91 Prozent der Weltbevölkerung Zugang zu verbesserter Trinkwasserversorgung, gegenüber 76 Prozent im Jahr 1990.

7

Vgl. United Nations, The Millennium Development Goals Report. Anteil der Bildungsteilnehmer_innen der entsprechenden Altersgruppe an der Bevölkerungszahl dieser Altersgruppe.

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Das neue Gesicht der globalen Armut

Die genannten Erfolge kann man nicht nur der weltweiten Entwicklungszusammenarbeit zuschreiben. Aber auch sie hat ihren Anteil daran. Den positiven Trends steht freilich entgegen, dass nach wie vor viel zu viele Menschen an Hunger und Armut leiden. Die generelle Wohlstandssteigerung ist, wie auch die Vereinten Nationen in ihrem abschließenden MDG-Bericht einräumen, in weiten Teilen der Welt an den Ärmsten und an der Bevölkerung in den ländlichen Räumen vorbeigegangen. Die soziale Kluft hat sich vertieft. Dramatisch ist vor allem die Lage der Ärmsten der Armen, jener „bottom billion“, die von vielen nationalen wie internationalen Entwicklungsprogrammen kaum mehr erreicht werden. Die Armen bleiben zurück. Von der in den Zielen für eine nachhaltige Entwicklung formulierten Erwartung, dass die Einkommen der 40 Prozent Ärmsten in jedem Land mehr wachsen sollen als die Durchschnittseinkommen, sind wir nach wie vor noch weit entfernt: In mehr als einem Drittel der Länder hat sich die Kluft zwischen den unteren 40 Prozent und den oberen 60 Prozent der Einkommenspyramide weiter vertieft.9 Zwar hat sich die Ungleichheit zwischen Ländern im Zuge der Globalisierung vermindert, die soziale Kluft innerhalb der Länder ist allerdings heute deutlich tiefer als vor 25 Jahren.10 Wie stellt sich heute die weltweite Lage der Armut dar? Rund ein Drittel der Todesfälle weltweit gehen noch immer auf armutsbedingte Ursachen zurück. Sie wären durch besseren Zugang zu Trinkwasser, Nahrung, Ärzten und durch weniger Luft- und Umweltverschmutzung vergleichsweise leicht zu vermeiden. Tag für Tag sterben fast 50.000 Menschen einen vorzeitigen Tod, weil ihre Lebensbedingungen mangelhaft sind.11 80 Prozent der Armen leben im ländlichen Raum, 64 Prozent von der Landwirtschaft, 39 Prozent verfügen über keine formale Bildung.12 Die Landschaft der globalen Armut ist komplexer geworden. So hat sich die geografische Verteilung verändert: Die Mehrheit der Armen lebt nicht in den ärmsten Ländern, sondern in den Ländern mit mittlerem Einkommen, in Indien, China, Indonesien, Nigeria. Besonders hoch ist freilich der relative Anteil der Armen an der jeweiligen Be9

Vgl. World Bank, Taking on inequality. Vgl. ebd. 11 Vgl. Pogge, Weltarmut. 12 Vgl. World Bank, 35ff. 10

332 K. Seitz    völkerung in den Ländern Sub-Sahara-Afrikas mit durchschnittlich über 40 Prozent. Doch auch in den meisten wirtschaftlich erfolgreichen Ländern, die kürzlich in die höhere Liga aufgestiegen sind, bleibt ein Großteil der Bevölkerung weiterhin arm – auch wenn das Land insgesamt reicher wird. Der Wohlstandszuwachs konzentriert sich in den Händen von wenigen Reichen. Hinsichtlich der Vermögen ist die soziale Disparität noch weitaus dramatischer als auf der Einkommensseite: Nach Angaben von Oxfam gingen 2017 82 Prozent des weltweiten Vermögenswachstums an das reichste Prozent der Weltbevölkerung. Die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung verzeichnete demgegenüber keinen Anstieg.13 Armut umfasst freilich mehr als Armut an Einkommen oder Vermögen. Menschen erfahren Armut vor allem als Diskriminierung, als Ausschluss von der Teilhabe an der Gesellschaft. Der Zugang zu Gesundheitsdiensten oder Bildung, zu Land oder Wasser bleibt ihnen versperrt. Sie sind nicht in der Lage, ihre Rechte auf gesellschaftliche Teilhabe einzuklagen. Zieht man diese Armutsfaktoren mit in Betracht, müssen weltweit gesehen rund zwei Milliarden Menschen als arm gelten. Die SDGs nehmen ein umfassenderes Armutsverständnis durchaus in den Blick, wenn im Ziel 1 davon die Rede ist, dass „Armut in all ihren Formen“ überwunden werden soll.14 4

Den Armen Gerechtigkeit

Vor dem Hintergrund der wachsenden sozialen Ungleichheit in der Welt und dem Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen von der Teilhabe an der Gesellschaft kann eines der normativen Leitprinzipien der Agenda 2030 nicht deutlich genug betont werden: „Leave no one behind“. Die Unterzeichnerstaaten verpflichten sich damit, „auf dieser großen gemeinsamen Reise, die wir heute antreten, niemanden zurückzulassen. Im Bewusstsein der grundlegenden Bedeutung der Würde des Menschen ist es unser Wunsch, dass alle Ziele und Zielvorgaben für alle Nationen und Völker und für alle Teile der Gesellschaft erfüllt werden, und wir werden uns bemühen, diejenigen zuerst zu erreichen, die am weitesten zurückliegen“15. Die Gerechtigkeit einer Gesellschaft bemisst sich an den Lebensbedingungen der Schlechtestgestellten. Umso mehr ist darauf zu achten, dass sich deren Status deutlich verbessert. Die SDGs können nur dann erreicht werden, 13

Vgl. Oxfam, Reward Work. Vereinte Nationen, Transformation unserer Welt, 16. 15 Vereinte Nationen, Transformation unserer Welt, 3. 14

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wenn die Ärmsten am stärksten von den erzielten Fortschritten profitieren. Die Rechte der Benachteiligten zur Geltung zu bringen, steht auch im Mittelpunkt kirchlicher Entwicklungsarbeit. Die Überwindung von Armut hat in unserem Verständnis vor allem damit zu tun, gesellschaftliche Verhältnisse gerechter zu gestalten und die Rechte der Menschen zu stärken. Folgende fünf Kerngedanken mögen den Ansatz kirchlicher Entwicklungsakteure, wie Brot für die Welt, im Umgang mit weltweiter Armut charakterisieren: 4.1

Es geht nicht um Almosen für die Armen, sondern um Gerechtigkeit

Kirchliche Entwicklungsarbeit steht auf der Seite der Benachteiligten. Das hatte bereits 1973 die Entwicklungsdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Ausdruck gebracht: „Für den kirchlichen Entwicklungsdienst ist eine Grundentscheidung gefallen: Er hat sich der Menschen anzunehmen, die an den Rand ihrer Gesellschaft gedrängt werden. Um ihretwillen arbeitet er mit an der Änderung gesellschaftlicher Verhältnisse.“16

Die Parteinahme für die Armen wurzelt in Gottes vorrangiger Option für die Armen. „Schaffet Recht den Armen und den Waisen und helft den Elenden und Bedürftigen zum Recht“, heißt es in Psalm 82,3. Das Recht der Armen für ein Leben in Würde ist nicht nur biblisch verankert, sondern in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte kodifiziert. Für einen rechtebasierten Ansatz im Umgang mit Armut sind dabei insbesondere die Artikel 22 und 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte17 grundlegend: Artikel 22: „Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit und Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit sowie unter Berücksichtigung der Organisation und der Mittel jedes Staates in den Genuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlich sind.“ Artikel 25: „Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, 16 17

Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Der Entwicklungsdienst, 30. Vgl. Vereinte Nationen, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.

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Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.“

Auch Menschen, die in Armut und am Rande der Gesellschaft leben, sind gleichermaßen Träger von Rechten. Armutsbekämpfung ist aus rechtebasierter Sicht ein irreführendes Wort. Was wir vielmehr brauchen, ist ein Ermächtigungsprogramm. Es geht um das Empowerment der Benachteiligten und Marginalisierten. Unsere Arbeit lässt sich von der Erkenntnis leiten, dass Menschen nicht entwickelt werden können, sondern nur sich selbst entwickeln. Alle Menschen müssen die Möglichkeit haben, ihre Rechte zu verwirklichen. Entwicklung ist ohne Teilhabe der Menschen, die in Armut leben, weder wünschenswert noch möglich. Wirtschaftliche, soziale, politische und kulturelle Teilhabe ist Grundlage für ein Leben in Würde. Teilhabe umfasst die Möglichkeit für alle Menschen, sich aktiv zu beteiligen und sich nicht als defizitär zu erfahren. Teilhabe ermöglicht es Menschen, sich für ihre eigenen und für gesellschaftliche Interessen zu engagieren. Das bedeutet für die kirchliche Entwicklungsarbeit aber auch: Nicht wir als Entwicklungswerk in Deutschland entscheiden, wo es lang geht, sondern die Partner im Süden, die ihre eigenen Ziele definieren und ihre Programme umsetzen. Sie kennen die Anliegen der Benachteiligten vor Ort und hören ihnen zuerst einmal zu, bevor sie Lösungen in Angriff nehmen. 4.2

Wenn wir über Armut sprechen, dürfen wir über Reichtum nicht schweigen

In einer begrenzten Welt ist Armutsbekämpfung ohne Reichtumsbeschränkung nicht zu erreichen. In einer Welt, die am Rande der ökologischen Belastungsgrenzen operiert, kann das Versprechen, dass weiteres Wachstum auch die zurückgelassenen Armen irgendwann einmal mitnimmt, nicht mehr eingelöst werden. Nicht durch mehr Wachstum, sondern durch mehr Verteilungsgerechtigkeit muss Armut überwunden werden. Wenn die Früchte des ökonomischen Wachstums sehr ungleich verteilt werden, so ist der armutsreduzierende Effekt von Wachstum zwangsläufig geringer. Armutsorientiertes Wachstum („pro-poor growth“) hingegen setzt voraus, dass auch entsprechende Umverteilungsmechanismen seitens der öffentlichen Politik greifen. Eine solche Umverteilung zugunsten der Schwachen ergibt sich nicht von selbst. Eine Weltbankstudie hat jüngst dargelegt, dass bei Fortschrei-

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bung der gegenwärtigen Wachstumsraten unter Beibehaltung der heutigen Verteilungstrends das Armutsziel der SDGs nicht erreicht werden kann. Notwendig sind Politikansätze für „geteilten Wohlstand“, um die Armut überwinden zu können.18 Was wissen wir über die wirkungsvollsten Schritte zu einer armutsmindernden Umverteilung? Jüngste Studien, auch der Weltbank19, zählen auf: sozialpolitische Maßnahmen, die Stärkung sozialer Sicherung, ein kostenloses und für alle zugängliches Gesundheitssystem, Investitionen in Bildung und den Ausbau öffentlicher Infrastruktur, Steuergerechtigkeit. Soziale Gerechtigkeit ist nicht zuletzt auch eine Frage der Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern, sind doch Frauen und Mädchen in besonderer Weise von Armut und Benachteiligung betroffen. Brot für die Welt unterstützt Partnerorganisationen darin, gegenüber ihren Regierungen steuerfinanzierte Instrumente für die soziale Sicherung einzufordern und sich an deren Ausgestaltung zu beteiligen. Vor allem Absicherung im Krankheitsfall ist wichtig, ist doch Krankheit eine der gefährlichsten Armutsfallen. Das Menschenrecht auf soziale Sicherheit ist bereits seit 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (siehe oben) verankert und im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 1966 als ein Menschenrecht völkerrechtlich verbindlich vereinbart worden. Damit ist die staatliche Verpflichtung zur Verwirklichung von sozialer Sicherheit definiert. Dennoch verfügen derzeit rund 80 Prozent der Weltbevölkerung über keine Absicherung im Falle existenzieller Krisen durch Krankheit, Alter oder Arbeits- und Erwerbslosigkeit. Die Internationale Arbeitsorganisation ILO arbeitet daran, das Recht auf soziale Sicherheit durch die Einführung von Social Protection Floors umzusetzen. Diese umfassen – den Zugang zu qualitativ hochwertiger Gesundheitsversorgung für alle, – Einkommenssicherung für Kinder als Voraussetzung für angemessene Versorgung, Zugang zu Bildung und gesunder Ernährung, – Einkommenssicherung für Personen, die nicht in der Lage sind, selbst ein angemessenes Einkommen zu erzielen, – Einkommenssicherung für alte Menschen. Bereits das Alte Testament kannte eine armenorientierte Sozialgesetzgebung, die auf dem Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit beruht. Mit 18 19

Vgl. World Bank, Taking on inequality. Vgl. ebd.

336 K. Seitz    dem Erlassjahr wurde ein Schuldenerlass verfügt, damit niemand mehr von der Last der Schulden erdrückt wird. Wie heißt es dazu im fünften Buch Mose? „Es sollte überhaupt kein Armer mehr unter euch sein.“ „Leave no one behind“, dieses zentrale Leitprinzip der SDGs darf als Echo auf diesen biblischen Auftrag verstanden werden. 4.3

Gutes Leben ist gutes Leben für alle, weltweit

In einer Zeit, in der Teile der Gesellschaft darauf drängen, dass wir unseren Wohlstand verteidigen müssen, gegenüber den Ansprüchen von Notleidenden oder gegenüber Geflüchteten, ist es notwendiger denn je, an dieses Gerechtigkeitsprinzip zu erinnern. Zum Kern eines christlichen Verständnisses gehört es, dass wir nur dann von einem guten Leben sprechen können, wenn es allen zuteil wird – und das heißt, wenn auch unsere nahen und fernen Nachbarn ein gutes Leben führen können. Denen es gut geht, ginge es besser, wenn es denen besser ginge, denen es weniger gut geht. Wir können ein gutes Leben nicht nur für uns selbst haben. Wir müssen die Prüffrage stellen, inwieweit der Lebensstil, den wir pflegen, universalisierbar ist, inwieweit er weltweit verträglich ist. Die meisten Deutschen leben über die Verhältnisse unserer Erde, das heißt, wir verbrauchen mehr Ressourcen, als uns bei weltweiter Gleichverteilung zustehen würde. Wir stoßen sehr viel mehr Treibhausgase aus, als wir dürften, wir nehmen gigantische Landflächen in anderen Ländern für den Anbau von Futtermitteln in Anspruch, um unseren hohen Fleischkonsum zu ermöglichen. Es führt kein Weg daran vorbei, den ökologischen Fußabdruck unserer Lebens- und Wirtschaftsweise drastisch zu reduzieren, solange die Auswirkungen unseres Mehrverbrauchs die Lebenschancen anderer beschneiden. Dringlich sind hierzulande vor allem eine Energiewende, eine Ernährungswende und eine Mobilitätswende, um unsere Gesellschaft international verträglich und enkeltauglich aufzustellen. Mit einem universellen, d .h. für alle Länder gültigen Zielekatalog und der Verpflichtung zur grenzüberschreitenden Kooperation reagieren auch die SDGs auf die Herausforderung, nachhaltige Entwicklung im Weltmaßstab zu denken. 4.4

Vorrang für integrale Ansätze statt isolierter Lösungen

Die SDGs führen vor Augen, dass die globalen Herausforderungen verschränkt sind: Ökologische und ökonomische Probleme, sozialund entwicklungspolitische, kulturelle und menschenrechtliche hängen miteinander zusammen. Sie müssen daher auch vernetzt angegangen werden. Diese Erkenntnis findet auch Eingang in die Agenda 2030 und ist ein wichtiger Fortschritt gegenüber dem Silodenken früherer Jahre.

Eine Welt ohne Hunger und Armut

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In den ersten Dekaden der Entwicklungspolitik kursierten eigentümliche Rezepte, die einseitig auf wirtschaftliches Wachstum fixiert waren, nach dem Motto „Wachstum jetzt, Demokratisierung später“ oder „Wachstum jetzt, Umweltschutz später“. Diese Rezepte sind kläglich gescheitert. Wir können heute wissen, dass die Zahl der Armen wieder enorm ansteigen wird, wenn der Klimawandel und seine Folgen nicht schnellstmöglich eingedämmt werden können. Und wir wissen zugleich, dass eine Gesellschaft, die von hoher Armut, großer sozialer Ungleichheit und fragiler Staatlichkeit geprägt ist, sich sehr schwer tut, auf eine umweltverträgliche Wirtschaftsweise einzuschwenken. Es kommt darauf an, integrierte Ansätze zu stärken und sich nicht von der scheinbaren Effizienz technischer Lösungen blenden zu lassen, seien dies nun neue Medikamente, Gentechnik, Hochleistungssaatgut oder Erntemaschinen. Nur ein Beispiel: Die unheilvolle Mischung von staatlicher Fragilität, von Armut, dem Fehlen einer Gesundheitsversorgung und den Kriegsfolgen war die Ursache, die die Ebola-Katastrophe in Westafrika erst möglich gemacht hatte. Die Bekämpfung des Virus allein kann die nächste Krise nicht verhindern. Es kommt daher darauf an, Basisgesundheitssysteme flächendeckend auszubauen und mit ländlicher Entwicklung, Frauenförderung und Friedenssicherung zu verzahnen. 4.5

Weniger nehmen ist seliger denn mehr geben

Die öffentlichen Entwicklungsleistungen betrugen weltweit zuletzt 142 Milliarden US-Dollar, sie haben damit einen historischen Höchststand erreicht. Die Summe wirkt auf den ersten Blick enorm. Gemessen an der Größe der Aufgabe ist sie allerdings mehr als bescheiden. Allein schon der Schaden, den Naturkatastrophen anrichten, ist deutlich größer als der Umfang der weltweiten Entwicklungshilfe. Und bestürzend ist, welche Prioritäten Staaten in ihren nationalen Haushalten setzen: Die Rüstungsausgaben aller Länder der Welt beliefen sich 2015 auf 1,7 Billionen US-Dollar. Für Entwicklung geben die Regierungen nur einen Bruchteil der Summe aus, die sie für Kriegsgerät bereitstellen. Sollen die SDGs erreicht werden, müssen die Prioritäten neu ausgerichtet werden. Noch dringlicher ist es, dafür zu sorgen, dass die armen Länder nicht noch mehr ausbluten. Aus den Entwicklungsländern fließt viel mehr Geld ab, als diese durch Investitionen, Rücküberweisungen von Arbeitsmigranten und Entwicklungshilfe erhalten. Allein an illegalen Finanztransfers und durch die Steuervermeidung vieler Konzerne verlieren sie jährlich Hunderte Milliarden. Rechnet man legale Abflüsse wie Schuldenzahlungen oder Gewinntransfers hinzu, so verlieren die Entwicklungsländer mit jedem

338 K. Seitz    Dollar, der bei ihnen ankommt, auf der anderen Seite wieder zwei Dollar. Daher müssen Steuervermeidung bekämpft, Steueroasen ausgetrocknet und den negativen Auswirkungen unserer Handels- und Wirtschaftspolitik Einhalt geboten werden. Die faire Gestaltung der weltwirtschaftlichen Beziehungen und eine international verträgliche Handels-, Außen-, Wirtschafts- und Sicherheitspolitik dürften den Hauptbeitrag zur globalen Armutsbekämpfung leisten. Dabei ist auch die Wirtschaft in die Pflicht zu nehmen. Es ist dringend erforderlich, die menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten der Unternehmen gesetzlich zu regeln. Denn die Respektierung menschenrechtlicher und ökologischer Standards kann nicht dem Belieben freiwilliger Selbstverpflichtungen anheimgestellt werden. Notwendig ist zudem, dass die einzelnen politischen Ressorts kohärenter im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung agieren. Wie geht es zusammen, dass das eine Ministerium die Einkommen kleinbäuerlicher Produzenten über deren Einbindung in regionale Wertschöpfungsketten stärken will, während ein anderes die Exportoffensive der deutschen Ernährungswirtschaft unterstützt und damit Kleinbauern von ihren regionalen Märkten in Afrika verdrängt? Und wie geht es zusammen, dass auf der einen Seite im Interesse der Migrationssteuerung mit diktatorischen Regimen kooperiert wird, deren Menschenrechtsverletzungen auf der anderen Seite die Zahl der Vertriebenen über kurz oder lang weiter ansteigen lassen? Mehr Kohärenz im Sinne einer armutsorientierten und nachhaltigen Gesamtpolitik wäre der wichtigste Beitrag, den die deutsche Bundesregierung auf dem Weg zu einer Welt ohne Hunger und Armut leisten kann. Es genügt nicht mehr, im Hilfemodus zu operieren, sondern es müssen die strukturellen Ursachen von Armut und Ungleichheit angegangen werden. Bertolt Brecht hat in diesem Sinne die Grenzen der Güte vor 80 Jahren treffend zum Ausdruck gebracht: „Anstatt nur gütig zu sein, bemüht euch, einen Zustand zu schaffen, der die Güte ermöglicht, und besser, sie überflüssig macht!“20 5

Von der Agenda 2030 zur sozial-ökologischen Transformation

Die Agenda 2030 ist weder als eine Armutsagenda noch als eine entwicklungspolitische Erklärung oder als ein Umweltprogramm zu verstehen. Sie ordnet vielmehr ein breites Spektrum von Facetten der globalen Entwicklungskrise in eine umfassende Transformationsa20

Brecht, Gesammelte Werke, 553.

Eine Welt ohne Hunger und Armut

339 

genda ein. Denn eine sozial-ökologische Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft tut weltweit not. Aus der Agenda 2030 gehen daher auch Aufgaben für alle Länder hervor. Unverzichtbar ist dabei die Zusammenarbeit zwischen Nord und Süd, Ost und West zur gemeinsamen Lösung der grenzüberschreitenden Probleme. Im Lichte der SDGs hat auch Deutschland enormen Nachholbedarf, nicht zuletzt, was die wachsende soziale Kluft in unserem Land anbelangt. Deutlich ist der Handlungsdruck aber auch hinsichtlich unserer ökologisch desaströsen Lebens- und Wirtschaftsweise: Angesichts anhaltend hoher Treibhausgasemissionen oder der hohen Nitratbelastung unseres Trinkwassers ist ein Kurswechsel zu einer nachhaltigen Entwicklung auch in Deutschland überfällig. Die SDGs müssen in, durch und mit Deutschland umgesetzt werden, d.h., Deutschland muss die SDGs konsequent im eigenen Land erfüllen, Deutschland muss zugleich zur globalen Erreichung der SDGs beitragen, indem es u.a. auch die externen ökologischen und sozialen Effekte seiner Wirtschaftsweise und seiner Handels- und Außenpolitik reduziert und diese an den SDGs ausrichtet. Und Deutschland sollte schließlich angesichts seiner großen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auch die ärmeren Staaten der Welt dabei unterstützen, die SDGs erreichen zu können. Doch eine Blaupause für ein Gesellschaftsmodell, dem es gelingt, den Schutz natürlicher Lebensgrundlagen mit der Verwirklichung eines guten Lebens für alle zu versöhnen – so, wie es die Agenda 2030 anstrebt –, ist bisher nicht zur Hand. Mathis Wackernagel und das von ihm gegründete Footprint-Network haben mehrere Studien vorgelegt, die den von einem Land erreichten Grad an menschlicher Entwicklung (gemessen nach dem Human Development Index HDI) in Beziehung setzt zum ökologischen Fußabdruck, der jeweils aufgewendet werden muss, um diesen HDI-Status zu erlangen.21 Die positive Nachricht dabei ist: Ein hoher Grad menschlicher Entwicklung – der weitaus mehr umfasst als ein hohes Bruttoinlandsprodukt, sondern auch Indikatoren wie Gesundheitszustand, Lebenserwartung oder Bildungsstand einschließt – kann mit ganz unterschiedlichen ökologischen Belastungen einhergehen. So gelingt es beispielsweise Norwegen seit Jahren, mit einem ökologischen Fußabdruck pro Person, der ein Drittel niedriger ist als der der USA, den höchsten HDI-Status zu erlangen. Die Verbesserung der menschlichen Entwicklung kann somit mehr oder weniger ressourcenleicht und mehr oder weniger ökologisch verträglich ausfallen. Die negative Nachricht aber ist: Es exis21

Vgl. https://www.footprintnetwork.org/ (Zugriff: 01.02.2018).

340 K. Seitz    tiert bislang kein Land auf diesem Planeten, dem es gelungen wäre, einen hohen Stand der Lebensqualität und des Lebensstandards seiner Bürgerinnen und Bürger zu erzielen, ohne die ihm zustehenden ökologischen Kapazitäten zu übernutzen. Die Herausforderung scheint damit noch ungelöst, wie es gelingen kann, den gesellschaftlichen Wohlstand zu mehren und jegliche Armut zu überwinden, ohne dass wir damit auch über unsere ökologischen Verhältnisse leben. Es ist daher zu befürchten, dass auch die SDGs alleine noch keinen Ausweg aus diesem Dilemma weisen. Denn nach Erhebungen von Wackernagel u.a.22 weisen die zehn Staaten, die derzeit den Zielsetzungen der SDGs am nächsten kommen, allesamt einen sehr hohen ökologischen Fußabdruck aus, der jedenfalls weit über der planetarischen Biokapazitätsgrenze liegt. Die zehn Staaten, die am weitesten von der Erfüllung der SDGs entfernt sind, liegen zwar mit einem niedrigen Fußabdruck unter dieser Grenze, haben aber einen äußerst niedrigen HDI und eine hohe Armutsrate. Es ist davon auszugehen, dass auch mit der vollständigen Erfüllung der SDGs in ihrem bisherigen Zuschnitt die Lebens- und Wirtschaftsweise der Weltbevölkerung nach wie vor die Biokapazität des Planeten überschreitet – und somit nicht nachhaltig ist. Noch gibt es keinen Masterplan für den richtigen Weg zu einer ressourcenschonenden, dekarbonisierten (d.h. kohlenstoffarmen), armutsorientierten und lebensdienlichen Ökonomie. Doch die Erkenntnis, dass die Transformationsagenda der SDGs noch nicht hinreicht, um den ökologischen, sozialen und politischen Krisen unserer Zeit zu entkommen, sollte Ansporn sein, die Suche nach alternativen Entwicklungsmodellen und Zivilisationskonzepten umso nachdrücklicher anzugehen. Die Agenda 2030 selbst markiert noch nicht den Wendepunkt in eine postfossile Ära und in das Zeitalter einer zukunftsfähigen und gerechten Entwicklung einer Weltgesellschaft, in der die Armut überwunden ist. Aber sie ist ein Indikator dafür, dass auch auf höchster politischer Ebene nach Auswegen aus den globalen ökologischen und sozialen Krisen gesucht wird, in die uns eine auf die Ausbeutung der planetarischen Ressourcen und die Missachtung der Menschenrechte beruhende Wirtschaftsweise geführt hat. Denn die Verabschiedung der SDGs ist mehr als nur ein singuläres Ereignis, sie ist durchaus Signal für einen Paradigmenwechsel in der internationalen Politik und reiht sich ein in eine ganze Abfolge von Indizien, die deutlich 22

Vgl. Wackernagel u.a., Making the Sustainable Development Goals.

Eine Welt ohne Hunger und Armut

341 

machen, dass das herkömmliche Entwicklungsmodell der industriellen Zivilisation, das in Europa seinen Ausgang nahm, an seine Grenzen gekommen ist. Im Jahr der Verabschiedung der Agenda 2030 hatten erst wenige Wochen zuvor auf dem G7-Gipfel die mächtigsten Industriestaaten der Welt eine „Dekarbonisierung der Weltwirtschaft“ proklamiert, und wenige Monate nach der Verabschiedung der Agenda 2030 wurde das Pariser Klimaabkommen beschlossen, das das Ende des fossilen Zeitalters einläutet. Die rechtspopulistischen Strömungen in vielen Ländern Europas wie auch die „America First“Politik der derzeitigen US-amerikanischen Administration werden diesen Paradigmenwechsel hin zu einer nachhaltigen und solidarischen Weltinnenpolitik zwar verzögern, aber nicht aufhalten können. Aber das Erstarken solcher Gegentransformationsbewegungen macht auch deutlich, dass das Ringen um Eine Welt ohne Armut und Hunger nicht ohne Konflikte vonstattengehen wird. Literatur Brecht, Bertolt, Gesammelte Werke, Band 9, Frankfurt am Main 1973. FAO (Hg.), Statistical Yearbook 2013. World Food and Agriculture, Rome 2013. Oxfam (Hg.), Reward Work, Not Health, Oxford 2018. Pogge, Thomas, Weltarmut und Menschenrechte. Kosmopolitische Verantwortung und Reformen, Berlin 2011. Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Der Entwicklungsdienst der Kirche – ein Beitrag für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt, Gütersloh 1973. United Nations (Hg.), The Millennium Development Goals Report 2015, New York 2015. United Nations (Hg.), The Sustainable Development Goals Report 2017, New York 2017, https://unstats.un.org/sdgs/files/report/ 2017/TheSustainableDevelopmentGoalsReport2017.pdf (Zugriff: 20.01.2018). Vereinte Nationen (Hg.), Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Resolution der Generalversammlung am 10. Dezember 1948, A/Res/217(A)III, online: http://www.un.org/depts/german/men schenrechte/aemr.pdf (Zugriff: 05.04.2018). Vereinte Nationen (Hg.), Transformation unserer Welt – die Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung, Generalversammlung A/70/L.1, New York 2015, online:: http://www.un.org/depts /german/gv-70/band1/ar70001.pdf (Zugriff: 20.01.2018)

342 K. Seitz    Wackernagel, Mathis u.a., Making the Sustainable Development Goals Consistent with Sustainability, Front. Energy Res. 5:18 (2017), doi: 10.3389/fenrg.2017.00018. World Bank (Hg.), Taking on inequality. Poverty and shared prosperity, Washington D.C. 2016, online: https://openknowledge.world bank.org/bitstream/handle/10986/25078/9781464809583.pdf (Zugriff: 20.01.2018). World Bank (Hg.), The Changing Wealth of Nations 2018, Washington D.C. 2018.

 

5 Projekte & Initiativen

 

  Wolfgang Biehl

Kinderbildungszentrum Saarland: „Komm rein, mach mit!“

1

Einleitung

Seit 2009 ist im sozial benachteiligten Saarbrücker Stadtteil Unteres Malstatt das Kinderbildungszentrum (KIBIZ) der Diakonie Saar angesiedelt. Den Hintergrund und die Begründung für diese Einrichtung formuliert der Jahresbericht 2016 in seiner Einführung: „Die Lebenswelt der Kinder in Deutschland ist von großen sozialen Unterschieden geprägt. Bildungschancen sind eng und unmittelbar mit der sozialen Herkunft der Familie verbunden. Weder der Ausbau, noch die verschiedenen Reformen des Bildungswesens in Deutschland haben bis heute zu einem Abbau der herkunftsspezifischen Ungleichheiten bei der Bildung von Kindern geführt. Für eine erfolgreiche Bildungskarriere eines Kindes sind aber nicht nur der Staat und die Schulen verantwortlich, sondern die ganze Gesellschaft. Erkenntnisse der Lebenslaufforschung fordern einen integrierten Bildungsförderungsansatz, um Kinder auf ihrem Bildungs- und Entwicklungsweg effektiv zu unterstützen. Ab dem Zeitpunkt der Geburt sollte Bildung in diesem Sinne als eine kontinuierliche Abfolge von Entwicklungsschritten und Bildungsstufen verstanden werden. Das Recht auf Bildung muss für jedes Kind in einer Weise durchgesetzt werden, dass, unabhängig von seiner kulturellen oder sozialen Herkunft oder den materiellen Möglichkeiten der Familie, echte Bildungs- und Chancengerechtigkeit hergestellt wird.“1

Nach einer dreijähren Modellphase steht für das KIBIZ seit 2012 im Vordergrund, Wege zu mehr qualitätsvoller Bildung und mehr Bildungsgerechtigkeit für Kinder im Stadtteil zu ermöglichen und die Erfahrungen für andere aufzubereiten. Von daher gehen praktische Arbeit und Evaluation durch ein unabhängiges Sozialforschungsinstitut Hand in Hand und sind unabdingbare Elemente der Arbeit des

1

Jahresbericht, 1.

346 W. Biehl    Kinderbildungszentrums an der Gebundenen Ganztagsgrundschule Kirchberg. 2

Situation im Stadtteil und Entstehung des KIBIZ

Der Stadtteil Malstatt gehört zu den benachteiligten Stadtteilen Saarbrückens. Dabei bedeutet Benachteiligung vor allem einen Mangel an Bildungs- und Teilhabemöglichkeiten für die dort lebenden Menschen. Der Anteil an Menschen mit Migrationsgeschichte ist überproportional hoch. Über 120 Herkunftsländer sind in diesem Stadtteil vertreten. Wer sich mit der Armutssituation beschäftigt hat, weiß, dass insbesondere die Lebensform der Alleinerziehenden und die hohe Kinderzahl (drei und mehr Kinder) in der Familie bedeutende Armutsrisiken darstellen. Der Anteil dieser Familienformen liegt in Malstatt über dem Durchschnitt in Saarbrücken. Jedes fünfte Kind im Stadtteil ist von Armut betroffen. Darüber hinaus prägen eine hohe Arbeitslosigkeit und eine große Anzahl von Bezieher_innen von Sozialleistungen das Quartier. Es ist belegt, dass sich dieser Zustand nachteilig auf die Bildungssituation der Kinder auswirkt. Vor diesem Hintergrund gab es vor allem im Unteren Malstatt schon frühzeitig Bemühungen von vielen politisch engagierten Bürgerinnen und Bürgern, ein Projekt zur Förderung und Ermöglichung von Bildung für Kinder einzurichten. Die Verwaltungsspitze der Stadt Saarbrücken und politisch Verantwortliche konnten von der Notwendigkeit und den Vorteilen eines solchen Ansatzes überzeugt werden. Ein erstes Konzept für das Bildungszentrum wurde federführend durch das Amt für Kinder, Bildung und Kultur der Landeshauptstadt Saarbrücken erarbeitet. Dabei waren Akteure vor Ort beteiligt, das Stadtteilbüro Malstatt der Diakonie Saar, der Arbeitskreis Soziale Einrichtungen, andere Wohlfahrtsverbände und die Kirchengemeinden vor Ort. Die Diakonie Saar übernahm die Trägerschaft. Die Landeshauptstadt Saarbrücken stellte eigene Räumlichkeiten in der ehemaligen Hausmeisterwohnung der Grundschule Am Kirchberg als Projektstandort zur Verfügung. Es handelt sich um 100 qm und zusätzliche Funktionsräume (Aula, Bewegungsraum, Schulküche, Werkstatt). Die Schwimmhalle des Stadtgebietes und auch die Turnhalle können in Absprache genutzt werden. Es war wichtig, eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich die Kinder wohlfühlen und Anregung bekommen, tätig zu werden.

Kinderbildungszentrum Saarland

347 

„Da vielen Kindern in ihrem Familienumfeld häufig eine schöne und anregende Umgebung fehlt (enge Wohnverhältnisse und mit Betten und Schränken bis zum letzten Winkel möblierte Kinderzimmer sind oftmals die Realität), ist es umso bedeutender, dass sie dies in unseren Räumen finden.“2

Die Leitung der Grundschule und die Lehrer und Lehrerinnen waren von Anfang an hochmotiviert und interessiert an dieser Einrichtung und es bildete sich eine Hausgemeinschaft, die sich in regelmäßigen Abständen zur gemeinsamen Ideenfindung und Abstimmung traf und trifft. Seit März 2011 kann das KIBIZ durch eine finanzielle Förderung der Kinderhilfsaktion „Herzenssache“ auf eigenes Fachpersonal zurückgreifen. Die Zusammenarbeit in der Hausgemeinschaft hat sich bis heute bewährt. Das folgende Schaubild von Anna Witkowska, Mitarbeiterin KIBIZ, zeigt die Struktur des Kinderbildungszentrums auf. Hier kooperieren Schule, Schulsozialarbeit, Freiwillige Ganztagsschule, Diakonie Saar und die Katholische Fachschule für Sozialpädagogik und vernetzen die Angebote für den Stadtteil. Abbildung 1: Struktur des Kinderbildungszentrums an der Gebundenen Ganztagsgrundschule Kirchberg, Saarbrücken-Malstatt

2

Stadtteilbüro Malstatt, Von der Not, 81.

348 W. Biehl    Neben der regelmäßig tagenden Hausgemeinschaft wurde zur Begleitung der pädagogischen Arbeit ein Beirat eingerichtet. Er besteht aus den Vertreter_innen der Gebundenen Ganztagsgrundschule Kirchberg (Schulleitung / Elternvertretung), dem sozialpädagogischen Bereich der Ganztagsgrundschule und der Katholischen Fachschule für Sozialpädagogik, Vertreter_innen des Jugendamtes des Regionalverbandes Saarbrücken, Vertreter_innen der Landeshauptstadt und des Ministeriums für Bildung und dies alles unter Federführung der Diakonie Saar mit ihrem Gemeinwesenprojekt Stadtteilbüro Malstatt. 3

Konzeption „Gute Bildung für alle“

Im KIBIZ werden den Kindern aus Malstatt durch das reichhaltige Bildungsangebot und die individuelle bedarfs- und interessenbezogene Förderung Bildungserfahrungen ermöglicht und damit speziell Zugänge für benachteiligte Kinder und Eltern mit und ohne Migrationsgeschichte geschaffen. Unter dem Leitziel dieses Projektes „Verbesserung der Bildungssituation von Kindern und deren Eltern in Malstatt“ soll durch das Eröffnen neuer Wege zu mehr qualitätsvoller Bildung und mehr Bildungsgerechtigkeit beigetragen werden, um damit den negativen Auswirkungen von materieller Armut effektiv entgegenzuwirken. „Die Konzeption des KIBIZ ist durch folgende fünf Handlungsfelder untermauert: 1. Das Voranbringen eines lokalen Bildungsnetzwerks in Malstatt – unter Einbeziehung bereits vorhandener und durch das Erschließen neuer Ressourcen – durch die Aktivitäten des KIBIZ und der ‚Hausgemeinschaft am Kirchberg‘. 2. Vor dem Hintergrund der Idee eines integrierten Bildungskonzeptes für Malstatt werden Kindern als Teil der Hausgemeinschaft neue Wege zu qualitätsvoller Bildung und mehr Bildungsgerechtigkeit eröffnet. Kinder aus allen sozialen Gruppen nutzen Angebote zum sozialen Lernen, zur Persönlichkeitsentwicklung sowie zum Erwerb zukunftsfähiger Schlüsselqualifikationen. 3. Mit den Angeboten und Aktivitäten des KIBIZ wird eine vorhandene Lücke im Bereich frühkindlicher Bildung in Malstatt geschlossen. 4. Immer mehr professionelle und nicht-professionelle Erwachsene und Institutionen im Stadtteil wirken mit ihren jeweiligen Möglichkeiten und z.B. interkulturellen Erfahrungen aktiv für den Bildungserfolg der Kinder in Malstatt mit.

349 

Kinderbildungszentrum Saarland

5. Es werden Erkenntnisse gewonnen, die Antworten auf Kernfragen zukunftsorientierter Bildung ermöglichen, die für die Weiterentwicklung von Bildungslandschaften in anderen Stadtgebieten, anderen Kommunen und saarlandweit von Bedeutung sind.“3

4

Angebote konkret

Das KIBIZ bietet Kindern im Alter von 0 bis 12 Jahren und deren Familien aus Malstatt die Möglichkeit, eigene Fähigkeiten zu entdecken und neue Erfahrungen zu machen. Die Angebote sind breit gefächert und bewegen sich in den Bereichen Kochen, Kinderwerkstatt, Musik etc. Bei vielen Angeboten wird das KIBIZ durch die stabile Zusammenarbeit mit festen Kooperationspartnern unterstützt; wichtig ist dabei der enge Bezug zu den Schulen, sodass es Kooperationsmöglichkeiten während der Unterrichtszeit gibt. „Ein Beispiel für eine gelungene Kooperation mit der Schule ist weiterhin das Werkstattdiplom für alle Viertklässler in beiden Grundschulen vor Ort.“4 Die folgende Tabelle zeigt Angebote des KIBIZ für die Altersgruppe 6 bis 12 Jahre. Tabelle 1: Angebote des KIBIZ für die Altersgruppe 6 bis 12 Jahre5 Angebote für Kinder von 6–12 Jahren

Zielgruppe

Häufigkeit

Ø TNZahl

Ziel

Klavierunterricht

6–12 Jahre

1xWoche

6

Erlernen eines Instruments; Förderung der Aufmerksamkeit und „Ausdauer“

Englisch für Kinder

6–12 Jahre

1xWoche

6

Förderung des Umweltbewusstseins

Frühes Frühstück

6–12 Jahre

täglich

ca. 45

Gesunde Ernährung, Verbesserung der Aufmerksamkeit in der Schule, Förderung der Sozialkompetenzen

3

Jahresbericht, 7. Jahresbericht, 11. 5 Jahresbericht, 9. 4

350  

W. Biehl 

Tanz und Fotografie

6–12Jahre

1xWoche

14

Förderung der Motorik, Selbstwahrnehmung, künstlerischer Fähigkeiten und Kreativität

Kinderchor

6–12 Jahre

1xWoche

10

Kochkurs

6–12 Jahre

6

Gitarrenunterricht

6–12 Jahre

Blockangebot 1xWoche

8

Kunst

6–12 Jahre

1xWoche

10

Leseclub

6–12 Jahre

1xWoche

8

Holzwerkstatt

6–12 Jahre

1xWoche

3

Osterferien

6–12 Jahre

mehrere Aktionen

64

Sommerferien

6–12 Jahre

mehrere Aktionen

71

Herbstferien

6–12 Jahre

mehrere Aktionen

66

Förderung der Gemeinschaft, des Selbstbewusstseins und der Musikalität Förderung der gesunden Ernährung Erlernen eines Instruments; Förderung der Aufmerksamkeit und „Ausdauer“ Förderung der Kreativität, Erleben von Selbstwirksamkeit Förderung der Lese- und Medienkompetenzen Umgang mit Werkzeug und Verhalten in einer Werkstatt erlernen Angebote/Anregungen für eine sinnvolle Freizeitgestaltung sowie Gesundheitsförderung im Rahmen des Projekts „Gesunde Heimat“ Angebote/Anregungen für eine sinnvolle Freizeitgestaltung sowie Gesundheitsförderung im Rahmen des Projekts „Gesunde Heimat“ Angebote/Anregungen für eine sinnvolle Freizeitgestaltung sowie Gesundheitsförderung im Rahmen des Projekts „Gesunde Heimat“

Fahrrad-Trial

7–10 Jahre

1xWoche

8

Sportförderung

Deutsch für

7–9-jährige

1xWoche

7

Förderung der Deutsch-

351 

Kinderbildungszentrum Saarland Kinder

Flüchtlinge

Kinderfirma MOHO

9–10 Jahre

1xWoche

6

Drachenbauen

8–10 Jahre

einmalig

5

Werkstattdiplom

10 Jahre

im Jahr

154

Bibliothek

Kinder, Erwachsene

laufend

46

Leseförderung

Vorlesen im Rahmen des bundesweiten Vorlesetags

Kinder der GTGS Kirchberg

einmalig

ca. 260

Leseförderung sowie Förderung der interkulturellen Kompetenzen

5

kenntnisse und Integration Förderung der Gemeinschaft und wirtschaftlicher Kompetenzen; Umgang mit Werkzeug erlernen Förderung der Kreativität und künstlerischen Gestaltens Umgang mit Werkzeug erlernen

Angebote des KIBIZ für Eltern

Auch die Eltern werden durch die Angebote des KIBIZ angesprochen und nach dem Motto „Starke Eltern, starke Kinder“ im Sozialraum einbezogen. „Auch am frühen Nachmittag kann das Ganztagsangebot der Ganztagsgrundschule Kirchberg sinnvoll erweitert werden durch Angebote im informellen Bereich, wie ‚Kinderfirma MOHO‘, bei der Grundschüler_innen zu eigenen kleinen Unternehmer_innen werden, den ‚Molschder Hocker‘ (MOHO) herstellen, was gezielt Konzentration und Geschicklichkeit, aber auch Durchhaltevermögen fordert.“6

6

Jahresbericht, 11.

352  

W. Biehl 

Tabelle 2: Angebote des KIBIZ für Eltern Angebote für Eltern

Zielgruppe

Häufigkeit

Ø TNZahl

Ziel

Frühes Frühstück

ehrenamtl. Eltern

täglich

2

Gesundheitliche Elternberatung

Eltern der Säuglinge

1xMonat

8

Einbindung der Eltern, Förderung ihres Engagements Beratung durch eine Ärztin

Deutsch in Schrift und Sprache

Menschen aus Malstatt

1xWoche

6

Konversationskurs für Frauen inkl. Kinderbetreuung (seit Dezember)

Frauen aus Malstatt und ihre Kinder (bis 5 Jahre)

1xWoche

10 Frauen 6 Kinder

Kochtreff

Frauen aus Malstatt

5 Termine

5

Förderung der interkulturellen Kompetenzen und der Deutschkenntnisse

Papa-KindWerkstatt

Eltern der GTGS Kirchberg

3 Termine

1

Einbindung der Eltern, Förderung ihres Engagements

Willkommensfrühstück

Eltern und andere interessierte Personen

2 Termine

25

Informationen und Beratung zu den Themen: Lernen, Leben und Arbeiten in Deutschland, sowie Einbindung und Austausch für Eltern

Erste Hilfe am Kind

Eltern, Fachkräfte

einmalig

8

Beratung für die Flüchtlinge im schulischen Kontext

Eltern

2xWoche

4

Förderung der Deutschkenntnisse und Integration

Ganzheitliche Familienberatung in finanziellen Angelegenheiten und Begleitung

Kinderbildungszentrum Saarland

6

353 

Ergebnisse der externen Evaluation

Die wissenschaftliche Begleitung des KIBIZ hat von Anfang an Wert darauf gelegt, Nachweise zu führen, dass auch in einem mit begrenzten Ressourcen ausgestatteten Angebot wie dem KIBIZ belegbare bildungsrelevante und für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder bedeutsame Wirkungen erzielt werden. Über Leitfadeninterviews mit Eltern, Fallbeschreibungen und Dokumentationen sowie bei einzelnen Angeboten eingesetzte kurze Kinder- und Elternfragebögen konnte eine Wirkungsmessung im KIBIZ verankert und im Sinne der Qualitätsentwicklung wichtige Erkenntnisse für die laufende Arbeit, aber auch für die zukünftige Arbeit gewonnen werden. So wurde deutlich rückgemeldet: Bildung macht Spaß, neue Lernerfahrungen (Kinder sagen, dass sie etwas gelernt haben, das sie bisher noch nicht konnten – z.B. Klavier/Gitarre spielen, wie man was mit Holz baut, Fotografieren, Sägen) und Persönlichkeitsentwicklung (Mütter beschreiben Wirkungen, die über das reine Erlernen neuer Fähigkeiten hinausgehen: „Sie ist offener geworden“, „hat den Umgang mit Kindern gelernt“, „hat gelernt, stolz auf sich und ihre Arbeit zu sein“). Vergleichbare Rückmeldungen von Kindern und Eltern bestätigen die Ergebnisse der Evaluation: „– das KIBIZ bietet Kindern – insbesondere aus sozial benachteiligten Familien – mit seiner Angebotsvielfalt in verschiedensten Sozialisations- und Bildungsfeldern ein breites Bildungs- und Erfahrungsspektrum. Kinder, deren Eltern sich andere Angebote non-formaler Bildung nicht leisten können, haben vielfältige Möglichkeiten für zusätzliche Bildungserfahrungen. – das KIBIZ macht Kinder selbstbewusster und vermittelt positive Bildungserfahrungen; es stärkt somit wichtige Grundlagen für die weitere Persönlichkeitsentwicklung und verbessert somit auch formale Bildungschancen.“7

7

Fazit

„Seit 2009 haben insgesamt mehr als 1.100 Kinder und mehr als 600 Erwachsene das KIBIZ in Anspruch genommen, die Mehrzahl von ihnen über mehrere Jahre […] Dies zeigt, dass das KIBIZ seit 2009 zu einer festen Institution der non-formalen Bildung und ein integraler Teil der sozialräumlichen Bildungsstruktur in Malstatt geworden ist.“8 7 8

Jahresbericht, 16. Jahresbericht, 16.

354 W. Biehl    Die meisten dieser Kinder und Eltern (65 % von ihnen mit Migrationshintergrund) haben von den Angeboten des KIBIZ profitiert und wichtige Lern- und Sozialisationserfahrungen gemacht. Damit fördert das KIBIZ nicht nur die Bildungschancen einzelner Personen, sondern trägt zur sozialen Integration im Stadtteil wesentlich bei. Das KIBIZ wurde damit zu einem wichtigen Teil der Präventionskette zur Verringerung von Bildungsungerechtigkeit in dem Saarbrücker Stadtteil Malstatt. Gute Bildung für alle, verbunden mit der offenen Anrede „Komm rein, mach mit!“, bieten im sozial benachteiligten Stadtteil Malstatt in Saarbrücken für arme Kinder und ihre Familien ein mögliches Sprungbrett zur Verbesserung ihrer Situation und gehören mittlerweile wie die Gemeinwesenarbeit im Bereich der Landeshauptstadt Saarbrücken zu einem integralen Bestandteil der sozialpolitischen Infrastruktur vor Ort. Literatur Jahresbericht 2016 „Gute Bildung für alle“ – Bildungsoffensive in Stadtteil und Schule des Kinderbildungszentrums an der Gebundenen Ganztagsgrundschule Kirchberg, Saarbrücken-Malstatt 2016. Stadtteilbüro Malstatt, „Von der Not, im Wohlstand arm zu sein“, eine Armutserkundung in Saarbrücken-Malstatt, Saarbrücken-Malstatt 1993.

  Ulrich Hamacher

Der Runde Tisch gegen Kinder- und Familienarmut Bonn

1

Einleitung

Armut von Kindern und Jugendlichen resultiert insbesondere aus der finanziellen Situation ihrer Familien. Gerade Kinder von Alleinerziehenden oder aus kinderreichen Familien sind stark armutsgefährdet. Kinderarmut ist zugleich auch immer Familienarmut. Auf kommunaler Ebene gibt es vielfältige Initiativen gegen Kinderund Familienarmut. Sie sind wichtig, um Verbesserungen auf dieser Ebene zu erreichen und zugleich die Diskussion über das Thema voranzutreiben. Was sie nicht ersetzen können, ist eine politische Strategie gegen Kinderarmut auf Landes- und Bundesebene. Als Beispiel wird hier die Arbeit des Bonner Runden Tisches gegen Kinder- und Familienarmut – „RTKA“ – skizziert. Bei diesem Runden Tisch arbeiten heute die Wohlfahrtsverbände, Vereine und Initiativen und Einzelpersonen mit, die das Ziel zusammenführt, Kinderarmut zu bekämpfen. Auch die meisten Fraktionen des Stadtrats sind beteiligt. Seit die Verwaltung der Stadt Bonn ihren ursprünglichen Widerstand gegen dieses Thema aufgegeben hat, arbeitet auch das Jugendamt der Stadt Bonn aktiv mit. Der RTKA diskutiert intensiv, initiiert verschiedene praktische Maßnahmen auf kommunaler Ebene, veröffentlicht Forderungen und betreibt eine intensive Öffentlichkeitsarbeit. 2

Die Entstehung des Runden Tisches

Im Jahr 2006 stellten der Caritasverband für die Stadt Bonn sowie das Diakonische Werk Bonn und Region das Thema Kinderarmut öffentlich zur Diskussion. Der Stadt Bonn gefiel das gar nicht: Kinderarmut gibt es in Indien, nicht in Bonn. Zunächst bestand die Aufgabe

356 U. Hamacher    also darin, die Wahrnehmung des Themas kommunal durchzusetzen. Die Unterstützung in der Wohlfahrtsszene war groß, weil viele Verbände und Vereine Kinderarmut aus ihrer Praxis kannten. In der Presse wurde das Thema erstmals in größerem Stil aufgegriffen, nachdem der Diakonie-Geschäftsführer in einem Interview mit der Bonner kirchlichen Zeitung Der Protestant darauf hingewiesen hatte. Mit der Berichterstattung der Presse über eine Veranstaltung der kirchlichen Wohlfahrtsverbände und des Vereins Sterntaler Bonn e.V. kam das Thema Kinderarmut so nachdrücklich in die öffentliche Diskussion, dass auch die Kommunalpolitik sich eingehend informierte und über Maßnahmen nachdachte. 2006 hatte die gewerkschaftliche Arbeitslosengruppe im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) einen ersten Runden Tisch gegen Kinderarmut durchgeführt. Gemeinsam wurde vereinbart, diesen zu verstetigen und den Kreis der Teilnehmenden (Organisationen und Personen) deutlich zu erweitern. Das gelang sofort. Mit einem Wettbewerb für Schulklassen und Schülergruppen, der auch dank des Einsatzes der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) von vielen Lehrer_innen unterstützt wurde, konnte viel öffentliche Aufmerksamkeit errungen werden. Die vielfältigen Initiativen des Runden Tisches wurden vorangetrieben, auch durch die Beteiligung weiterer Organisationen: Der DGB, der Kinderschutzbund, die Arbeiterwohlfahrt, der Paritätische Wohlfahrtsverband und andere führten eigene Veranstaltungen durch und unterstützten die Arbeit des Runden Tisches sehr aktiv. 3

Eine örtliche Strategie zur Bekämpfung der Kinderarmut?

In der Kommunalpolitik war das Thema weiterhin umstritten. Viele Politiker_innen dachten dabei eher an linke Ideologie als an ein reales Problem. Die Fraktion der Grünen unterstützt das Anliegen von Anfang an. Darüber hinaus war es schwierig. Wie immer in solchen Fragen waren zunächst Sozialpolitiker_innen zu überzeugen. In intensiven Gesprächen konnten hier Fortschritte erzielt werden. Daraus entstand ein Papier der CDU-Stadtratsfraktion zum Thema Kinderarmut, und erste Beschlüsse des Stadtrates wurden gefasst, insbesondere zur Finanzierung eines kostenlosen Mittagessens für bedürftige Schüler_innen im Rahmen der Offenen Ganztagsgrundschulen und zur Finanzierung von Lernmaterial. Die Stadtverwaltung änderte ihre Haltung und arbeitete im Runden Tisch mit.

Der Runde Tisch gegen Kinder- und Familienarmut

357 

Das Jugendamt der Stadt Bonn legte einen Maßnahmeplan vor, der viele wertvolle Impulse enthielt, insbesondere in Bezug auf Bildung. Allerdings blieb die Diskussion hier stecken: Anders als vom RTKA und anderen angestrebt, kam es nicht zur Beschlussfassung des Stadtrates für eine Strategie der Stadt gegen Kinderarmut, die auch weitergehende finanzielle Entscheidungen möglich gemacht hätte. 4

Grenzen kommunalen Handelns gegen Kinderarmut

Im Jahr 2016 legte die Bertelsmann-Stiftung eine Studie zum Thema Kinderarmut vor.1 Die Studie bestätigte, was in der Wohlfahrtsszene weitgehend unumstritten ist: Es gibt vier wesentliche Aspekte der Kinderarmut, und die materielle Armut von Familien ist ihr Kern: 1) Materiell: Es fehlen die finanziellen Möglichkeiten zur Teilhabe, zum Bildungserfolg. Kinderarmut zeigt sich auch am fehlenden Geld. 2) Bildung: In Deutschland ist Bildungserfolg besonders abhängig von sozialer Herkunft. Kinderarmut zeigt sich an Schulnoten und Schulabschlüssen. 3) Gesundheit: Gesundheit ist in Unterschichten immer schlechter als im Durchschnitt der Bevölkerung. 4) Teilhabe: wenig Wohnraum, weniger soziale Kontakte, ausgeschlossen sein von sozialen Aktivitäten. Die Bertelsmann-Stiftung beziffert die Kinderarmut in Bonn mit 20,6 %, in einigen anderen Städten NRWs deutlich höher. Aber auch in Bonn ist Kinderarmut in den letzten Jahren gewachsen. Materielle Armut von Familien lässt sich auf kommunaler Ebene nur sehr begrenzt bekämpfen. Hier geht es vor allem um die Hartz-IVSätze, unter Bürokraten auch gern „Regelbedarf“ genannt. Diese werden auf Bundesebene festgelegt. Alternativen wie Kindergrundsicherung sind ebenfalls nur auf Bundesebene zu beschließen. Auch beim Thema Bildung sind den Kommunen Grenzen gesetzt. Die Ausstattung von Schulen und Kindertageseinrichtungen mit Fachpersonal ist Ländersache. Trotzdem finanziert die Stadt Bonn in erheblichem Umfang Schulsozialarbeit an den Hauptschulen. Aber im Ergebnis werden kommunale Maßnahmen eher die Folgen von Kinderarmut lindern, als die Kinderarmut selbst beseitigen. 1

Vgl. Bertelsmann Stiftung, Armutsfolgen.

358 U. Hamacher    5 Kampf um die Finanzierung der Offenen Ganztagsgrundschulen Die Stadt Bonn befindet sich im Haushaltssicherungskonzept und hat erhebliche Finanzprobleme. Die Stadtspitze legte deshalb 2015 ein Konzept zur Konsolidierung des Haushalts im Volumen von 100 Millionen Euro pro Jahr vor. Darin enthalten war auch eine Kürzung der Finanzierung der Offenen Ganztagsschulen (OGS). Die Stadt hatte bei Gründung der OGSen eine deutlich bessere Finanzierung vorgenommen als landesweit üblich, diese allerdings 10 Jahre lang nicht an die Kostensteigerungen angepasst. Damit war sie faktisch um 25 % schlechter geworden. Jetzt sollte sie gekürzt werden. Damit machte die Stadtspitze einen entscheidenden Fehler: Sie legte sich nicht nur mit den OGS-Trägern, sondern auch mit tausenden Eltern an, die um die Betreuung ihrer Kinder und deren Qualität fürchteten. Auch der Runde Tisch gegen Kinder- und Familienarmut meldete sich hier deutlich zu Wort. Nach zahlreichen Protesten, Besetzungen des Ratssaals, einer Demonstration mit zweitausend Teilnehmenden und entsprechender Berichterstattung in der örtlichen Presse wurde die Finanzierung um mehr als 20 % verbessert, anstatt gekürzt. Auch auf Landesebene gab es entsprechende Aktionen zur Verbesserung der OGS-Finanzierung. Was die neue Landesregierung in NRW damit macht, ist jetzt (Januar 2018) noch nicht klar. Aber klar ist: Eine vernünftige Finanzierung ist Landesaufgabe. Bildung ist Landesaufgabe. Und Bildung für alle Kinder hat auch ganz viel mit Bekämpfung von Kinderarmut zu tun. 6

Aktivitäten der Wohlfahrtspflege zur praktischen Bekämpfung von Kinderarmut

Die Wohlfahrtsverbände in Bonn betreiben vielfältige Dienste und Einrichtungen, unter anderem im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, in denen arme Familien unterstützt werden. Von Sozial- und Schuldnerberatung über Spezialdienste mit erzieherischen Hilfen bis Schwangerenberatung und sogenannten „Frühen Hilfen“ arbeiten viele Einrichtungen, Vereine und Initiativen mit dem Ziel, die Lebenssituation der Betroffenen zu verbessern. Das Bonner Spendenparlament, der Verein Sterntaler Bonn e.V., die Bonner Tafel und andere versuchen unmittelbar zu helfen, indem sie Spendengelder mobilisieren für individuelle Hilfen oder die Finanzierung von öffentlich nicht finanzierten Maßnahmen.

Der Runde Tisch gegen Kinder- und Familienarmut

359 

Die Verbände gewinnen Ehrenamtliche für unterstützende Tätigkeit zum Beispiel in den Offenen Ganztagsgrundschulen und stärken damit das Hilfesystem vor Ort. Caritas und Diakonie haben vor 10 Jahren in Bonn einen Familienfonds „Robin Good“ gegründet, mit dem sie jährlich etwa 100.000 Euro für individuelle Hilfen an Kinder finanzieren, ergänzend zur Sozialberatung. Das alles ist notwendig, ist hilfreich und lindert Notlagen. Aber Kinderarmut wird so nicht beseitigt. 7

Die Forderung nach einer Kindergrundsicherung

2016 dachte der Runde Tisch noch einmal intensiver über gemeinsame Positionen nach. Zur Bekämpfung der materiellen Armut von Kindern beschloss der RTKA, die Forderung nach einer Kindergrundsicherung von 500 Euro pro Kind und Monat zu unterstützen. Die Forderung nach einer Kindergrundsicherung löst heftige Diskussionen aus. Einerseits geht es um die Wirksamkeit, andererseits um die Finanzierbarkeit. Dazu kommen Umsetzungsschwierigkeiten. Die verbreitete Behauptung, das Geld würde von den Eltern zweckentfremdet (in der Diskussion wird das drastischer ausgedrückt), ist durch nichts belegt, eher ein Vorurteil. Vielleicht eines, das sich auf Einzelbeispiele stützen kann, mehr nicht. Nach unseren Erfahrungen in der Beratungsarbeit des Diakonischen Werkes ist das überwiegend so: Auch arme Eltern lieben ihre Kinder. Der Runde Tisch gegen Kinderund Familienarmut in Bonn fordert 500 Euro pro Monat als Kindergrundsicherung. Andere fordern 570 Euro. Es geht vor allem um die Richtung der Diskussion: Wollen wir das Problem lösen und suchen also nach Lösungswegen, oder wollen wir angebliche oder reale Schwierigkeiten in den Vordergrund stellen und eine Lösung verhindern? Es ist eine Frage der Haltung. Wer gute Ideen zur Ausgestaltung beitragen kann, möge das tun. Bis bessere Vorschläge auf dem Tisch liegen, thematisiert der Runde Tisch die Grundsicherung. Abwickelbar wäre eine Grundsicherung etwa über die Kindergeldkassen der Arbeitsverwaltung. Sie würde den bürokratischen Aufwand reduzieren helfen, indem sie auch zu einer Reduzierung der Hartz-IV-Anträge beitragen würde, weil viele sogenannte „Aufstocker“ dann keinen Antrag mehr stellen müssten.

360 U. Hamacher    Die politische Aufgabe ist aus unserer Sicht klar: Die Situation von Familien muss so verbessert werden, dass Kinder nicht mehr ausgegrenzt sind und tatsächlich teilhaben können an Bildung und Kultur. Eine Grundsicherung für Kinder würde die Lebenssituation der Kinder wesentlich verbessern. 8

Weiterentwicklung der Arbeit des Runden Tisches in 2016/2017

Auf Initiative des Kinder- und Jugendrings entstand ein Forderungspapier zur Kinder- und Familienarmut, in dem Vorschläge und Forderungen formuliert wurden, die sich an die kommunale Ebene, an das Land und den Bund richten. Die Forderungen zielen darauf, das Problem Kinderarmut zu lösen und nicht nur daran herumzubasteln. Das Forderungspapier fand einigen Widerhall in der örtlichen Presse und führte zu erneuter Berichterstattung, in der auch noch einmal sehr deutlich Kinderarmut geschildert wurde. Kernpunkte waren unter anderen:2 – Finanzielle Absicherung aller Kinder und Jugendlichen mit mindestens 500 Euro pro Monat, zum Beispiel durch die Einführung einer „Kindergrundsicherung“. – Verbesserung der Sozialgesetzgebung zu Gunsten einer individuellen Förderung von Kindern und Jugendlichen. – Erhöhung der Landesmittel für Kitas und OGS zur Verbesserung ihrer Qualität durch einen besseren Personalschlüssel. – Spürbare Priorisierung von Prävention: Information und Erwerb von Alltagskompetenzen in den Bereichen Ernährung, Finanzen, Gesundheit, Verbraucherverhalten (z.B. Umgang mit eigenen Daten) müssen schulisch und außerschulisch initiiert und langfristig finanziert werden. – Schaffung von angemessenem, preiswertem Wohnraum für Familien. – Entwicklung einer aufeinander abgestimmten Jugendhilfe-, Sozial-, Gesundheits- und Schulplanung. – Finanzielle Förderung zusätzlicher Fachkräfte in der „aufsuchenden Jugendarbeit“, der Straßensozialarbeit. – Ausbau der offenen Jugendarbeit und der Jugendverbandsarbeit. Über die Forderungen wurden u.a. Gespräche mit den Bonner Bundestagsabgeordneten geführt, deren Stellungnahmen in Videos auf der Website des Runden Tisches3 abrufbar sind, ebenso wie das For2 3

www.kinderarmut-bonn.de (Zugriff: 06.04.2018). www.kinderarmut-bonn.de (Zugriff: 06.04.2018).

Der Runde Tisch gegen Kinder- und Familienarmut

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derungspapier. 2018 plant der Runde Tisch Gespräche mit örtlichen Landtagsabgeordneten. Er will auf wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung von Kinder- und Familienarmut auf allen politischen Ebenen drängen. Literatur Bertelsmann Stiftung (Hg.), Armutsfolgen
für Kinder und Jugendliche. Erkenntnisse aus empirischen Studien in Deutschland, Gütersloh 2016.

  Martin Hamburger

Armut und Langzeitarbeitslosigkeit in Wuppertal

1

Drei von Fünfzigtausend in Wuppertal

Nach Jahrzehnten des Bevölkerungsrückgangs ist Wuppertal wieder eine wachsende Stadt und hat derzeit über 350.000 Einwohner_innen. Zum Ende des Jahres 2017 waren davon 50.000 im Leistungsbezug des SGB II, 5 % mehr als im Vorjahr, sie lebten in 25.000 Bedarfsgemeinschaften.1 Bisher wurde 1.400 von ihnen die Möglichkeit gewährt, bis zu zwei Jahren einer Tätigkeit im Rahmen einer sog. Arbeitsgelegenheit (AGH) mit einer Mehraufwandsentschädigung von 1,50 €/Stunde (bzw. 2,50 €/Stunde für Anleiter) nachzugehen. Auf Grund mangelnder Finanzierungsfreigaben durch den Bund werden diese Stellen zum 1.1.2018 um ein Drittel gekürzt. Eine der Angebote für AGHs in Wuppertal ist der sog. Stadtteilservice. Das Jobcenter beschreibt diese Aufgabe so: „Der Stadtteilservice ist ein Projekt, in welchem ALG II-EmpfängerInnen zur Mitwirkung an Maßnahmen zur Stärkung der sozialen Infrastruktur und Nachbarschaftsunterstützung qualifiziert werden. Ziel dieses zusätzlichen und gemeinnützigen Services ist die kleinräumige und bewohnerorientierte Unterstützung und Förderung des Zusammenlebens im Quartier. Das Projekt Stadtteilservice wird im Rahmen des § 16 d SGB II als Arbeitsgelegenheiten durch die JOBCENTER Wuppertal AöR finanziert. Arbeitsgelegenheiten sind zusätzliche, im öffentlichen Interesse stehende Tätigkeiten, die wettbewerbsneutral und arbeitsmarktpolitisch zweckmäßig sind. Die Teilnehmer sollen im Rahmen des Projektes sowohl ihre Eignungs- und Interessensschwerpunkte feststellen als auch durch soziale Integration ihre Beschäftigungsfähigkeit verbessern, um eine Heranführung an den allgemeinen Arbeitsmarkt zu erleichtern.“2

1 2

Vgl. Jobcenter Wuppertal AöR, Trenddiagramm. Jobcenter Wuppertal AöR, 10 Jahre Stadtteilservice Wuppertal.

Armut und Langzeitarbeitslosigkeit

363 

An sieben Standorten bieten die örtlichen Wohlfahrtsverbände diesen Stadtteilservice an. Drei von über 100 langzeitarbeitslosen Menschen, die derzeit in einem Stadtteilservice arbeiten, möchte ich vorstellen:3 1) Herr A ist Kurde, stammt aus Syrien, ist Diplomchemiker. Als er 1996 nach Deutschland kam, wurde seine Qualifikation zwar anerkannt, er fand aber keine Arbeit. Neben der Naturwissenschaft ist er bildender Künstler. Doch auch hier fand er trotz guter Kontakte in die Kulturszene kein bezahltes Arbeitsfeld. Im Rahmen einer Umschulungsmaßnahme erlernte er Buchhaltung für SAP, doch hier wurde ihm anschließend wegen angeblicher Überqualifikation als Diplomchemiker kein Job vermittelt. So ist er langzeitarbeitslos, seine beiden Kinder gehen auf das Abitur zu und bringen hervorragende Noten. Herr A hat seit über 20 Jahren den Wunsch sich zu integrieren, er ist wegen westlicher Toleranz undEntfaltungsmöglichkeiten nach Deutschland gekommen, lehnt jede Form des Radikalismus ab, aber lebt dauerhaft von Transferleistungen. Sein Fachwissen ist nicht gefragt. 2) Frau B ist Deutsche, hat vor über 35 Jahren eine Ausbildung als Kassettensetzerin im Druckbereich absolviert, konnte aber nach der „Kinderpause“ nicht mehr in den Beruf zurückkehren, da die Digitalisierung den Beruf überflüssig gemacht hatte. Sie hat zunächst in Aushilfsjobs in Teilzeit gearbeitet, ist aber bedingt durch zwei schwere chronische Erkrankungen bisher nicht in eine dauerhafte Arbeit vermittelt worden. Die Kinder sind jetzt 19 und 21 Jahre alt, ihr Ehemann arbeitet in Vollzeit, verdient aber so wenig, dass Frau B ergänzende Leistungen des Jobcenters erhält. Seit über einem Jahr arbeitet sie im Stadtteilservice: Mit Menschen zusammen sein, ihnen z.B. beim Einkaufen zu helfen oder andere Tätigkeiten im Quartier geben ihr Sinn. Auch wenn Familie B am Existenzminimum lebt, kommt Frau B nach eigenen Angaben mit dem Geld klar, da sie das monatliche Familieneinkommen strikt verwaltet. 3) Herr C ist Deutscher, 50 Jahre alt und alleinerziehend für seine 11jährige Tochter verantwortlich. Er ist gelernter Bühnenbauer. Beruf und Erziehung des Kindes gingen so lange gut, bis er aus Gesundheitsgründen die Arbeit verlor. Er ist zu 60 % schwerbehindert und schied 2013 mit einer Abfindung aus dem Berufsleben aus. Eine neue Arbeitsstelle hat er nicht gefunden, da er für potentielle Arbeitgeber aufgrund der Verantwortung für seine Tochter nicht flexibel genug 3

Der Autor hat am 8. Dezember 2017 Interviews mit drei Mitarbeitenden eines Wuppertaler Stadtteilservice geführt, die Angaben soweit möglich geprüft und die Personen anonymisiert.

364 M. Hamburger    einsatzfähig sei, was den Ort und die Arbeitszeiten angeht. Diese Erfahrung hat er in zahlreichen Bewerbungsgesprächen gemacht. Finanziell kommt er nach eigenen Angaben durch einen strikten Sparkurs zurecht, zumal ihm die weitere Familie hilft, wenn es einmal eng wird. Herr C versteht seinen SGB-II-Regelbezug, die 190 € Kindergeld und die 194 € Mehraufwandsentschädigung für die AGH wie ein monatliches Erwerbseinkommen und liegt damit nach eigenen Angaben im Bereich von Beschäftigung in unteren Lohngruppen, deren Empfänger, wie er sagt, auch nicht mehr haben. Allerdings bereitet es ihm Sorge, dass keine Beiträge in die Rentenkasse geleistet werden und er deshalb auch im Alter auf Aufstockungsleistungen angewiesen sein wird. Zugleich leidet er darunter, keine sozialen Kontakte mehr über eine Regelarbeit zu haben, und fühlt sich von der Gesellschaft abgeschoben. 2

Verfehlte Arbeitsmarktpolitik

Der Weg der drei vorgestellten Personen weist bei aller Unterschiedlichkeit auch Gemeinsamkeiten auf: das Versagen der sog. Hartz-Reformen im Rahmen der Agenda 2010 der Regierung Schröder.4 Das in diesem Zusammenhang vielfach bemühte Motto „Fördern und Fordern“ klingt zunächst gut. Hatte nicht schon Friedrich von Bodelschwingh der Ältere im Blick auf die Arbeitslosen, die in den Arbeiterkolonien Bethels ein Dach über dem Kopf und regelmäßige Mahlzeiten erhielten, den Grundsatz „Arbeit statt Almosen“ ausgegeben und die Menschen z.B. in der Landwirtschaft beschäftigt? Doch Vorsicht, zwischen den beiden Slogans „Arbeit statt Almosen“ und „Fördern und Fordern“ besteht ein großer Unterschied.5 Sollen nach der gegenwärtigen Gesetzeslage Förderungen Langzeitarbeitsloser mit den Forderungen verbunden werden, sich in Qualifizierungen, ständiger Bereitschaft und hoher Flexibilität auf den ersten Arbeitsmarkt wieder integrieren zu lassen, so ging von Bodelschwingh davon aus, dass der Mensch schlicht Arbeit braucht und es generell nicht gut sei, keiner Arbeit nachzugehen und damit keine Tagesstruktur zu haben. Und von Bodelschwingh steht damit in guter biblischer und protestantischer Tradition, die „Arbeit“ als zur Würde des Menschen gehörig ausweist. Nicht auf der sicher zu beklagenden Ausbeutung der Arbeitskraft bei häufig geringer Bezahlung gründet sich christliche 4

Vgl. dazu bereits 2005 kritisch Butterwegge, Krise und Zukunft des Sozialstaates, 159ff. 5 Zu v. Bodelschwingh’s Begründung der Arbeiterkolonien siehe Benad/Schmuhl, Bethel-Eckartsheim, 19ff.

Armut und Langzeitarbeitslosigkeit

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Arbeitsethik, sondern anthropologisch auf der positiven Bedeutung von Arbeit für das Menschsein. Daran hat sich in den vergangenen 120 Jahren nichts geändert.6 Das zeigen auch die drei Interviews. Sie haben ein heimliches, gemeinsames Thema: Menschenwürde. Dazu gehört, dass man nicht alimentiert werden möchte, sondern für seinen Lebensunterhalt etwas leisten will. Alle drei Personen sagen mit unterschiedlichen Worten, dass sie der Gesellschaft etwas zurückgeben möchten, und grenzen sich scharf von denen ab, die nach ihrer Meinung als ALG-II-Empfänger_innen „nur zu Hause auf dem Sofa sitzen wollen“. Lassen wir das Vorurteil der Faulheit einmal dahingestellt sein, es ergibt sich aus ihren Begegnungen mit anderen langzeitarbeitslosen Männern und Frauen, die ein Engagement im Rahmen der AGHs nicht nachvollziehen können oder wollen. Die 2005 grundsätzlich veränderte und seitdem gültige Arbeitsmarktpolitik führt durch die Verengung des SGB II auf die (Re-)Integration in den ersten Arbeitsmarkt letztlich dazu, dass zwar viel gefördert wird mit immer neuen Beschäftigungs- und Qualifizierungsprogrammen, doch den damit verbundenen Forderungen sind viele nicht gewachsen und schaffen die Qualifizierung für ein reguläres Arbeitsverhältnis nicht. So bleiben sie langfristig auf Transferleistungen angewiesen. Dies hat m.E. zwei Hauptgründe: Zum einen fallen in unserer Zeit immer mehr einfache Tätigkeiten auf dem Arbeitsmarkt weg. Dies führt dazu, dass es zu wenig sog. Helferjobs gibt, während die Zahl der Arbeitssuchenden, die in keine höher qualifizierte Stelle vermittelbar sind, zunimmt. Zum anderen wird politisch bewusst der Schritt in die Öffnung eines zweiten oder gar dritten Arbeitsmarktes verhindert. Man hat Sorge, dass z.B. der Wegfall des begrenzten zeitlichen Korridors wie des Kriteriums der Zusätzlichkeit bei AGHs zu einer Wettbewerbsverzerrung zu Ungunsten kleiner und mittlerer Unternehmen führt. Dies tritt aber in der Praxis nicht auf. Im Bereich des second hand, also bei Möbeln, Kleidungen und Haushaltswaren, gibt es in Wuppertal z.B. ein „friedliches“ Miteinander von gewerblichen und über AGHs sub6

„Es geht also bei der Arbeit um Sicherung und um Gestaltung menschlicher Existenz als solcher, das heißt also: nicht nur um Fristung des Daseins, sondern auch und immer zugleich um eine Welt der Dinge und Werte, um Kultur als Bereich eines abbildhaften schöpferischen Tuns, also eines Bereichs der als solcher zur Verherrlichung dessen dienen soll, der die Arbeit befohlen hat – auch nach dem Sündenfall (Gen 3,17ff).“ (Wolf, Sozialethik, 200).

366 M. Hamburger    ventionierten Anbietern. Ähnliches gilt für den Garten- und Landschaftsbau. 3

Kreative Wege vor Ort reichen nicht

Der Wuppertaler Stadtteilservice ist ein Beispiel, wie das örtliche Jobcenter in Kooperation mit der städtischen Sozialverwaltung und den Wohlfahrtsverbänden versucht, aus der Not eine Tugend zu machen. Da es gesetzlich keine Möglichkeit gibt, Menschen mit multiplen Vermittlungshemmnissen, also mit starken körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen, dauerhaft adäquat zu beschäftigen, wird das Instrument der AGH weitest möglich genutzt. Viele Leuchtturmprojekte wie der Stadionumbau oder die Entwicklung einer mitten durch die Stadt führenden alten Eisenbahntrasse zu einer 23 Kilometer langen „Erholungsstrecke“7 wären ohne die zahlreichen Maßnahmen für Langzeitarbeitslose nicht umsetzbar gewesen. Stolz berichten all diejenigen, die auf der Nordbahntrasse gerodet, gesäubert und gepflastert haben, dass dieses ambitionierte Unternehmen ohne sie nie realisiert worden wäre. Doch das ist von der Bundesregierung so nicht gewollt. Die AGHs nach SGB II wurden deshalb bei den zurückliegenden Instrumentenreformen stark beschnitten und werden, wie die aktuelle Kürzung zum Jahreswechsel 2017/18 zeigt, weiter zurückgefahren. Sie sollen nur einer kleinen Zielgruppe gelten und dürfen das Motto „Fördern und Fordern“ nicht unterlaufen. Doch genau hier wird von der Politik zu kurz gesprungen. 4

Fazit: Armut ist mehr als zu wenig Geld

Unser Sozialsystem bietet im Unterschied zu vielen anderen Ländern jedem, der sich in die Hilfesysteme einfügt, die Möglichkeit, unter halbwegs akzeptablen wirtschaftlichen Bedingungen leben zu können. Ist er, aus welchen Gründen auch immer, allerdings nicht in der Lage, z.B. sein Geld sparsam einzuteilen, oder kommen unvorhergesehene Schicksalsschläge auf eine sog. Bedarfsgemeinschaft zu, dann wird es eng und es beginnt ein Teufelskreis: Irgendwann wird dann der Strom abgeschaltet, der Kühlschrank ist leer und unbürokratische Rettungsmaßnahmen müssen greifen. So sammelt in Wuppertal allein die Aktion Kindertal, getragen von Diakonie, Caritas, Radio Wuppertal und Sparkasse, pro Jahr mehrere 100.000 €, die sie 1:1 unmittelbar 7

Vgl. Wuppertalbewegung e.V., Nordbahntrasse.

Armut und Langzeitarbeitslosigkeit

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für notleidende Kinder einsetzt. Die Zahl der Kinder, die so auf rasche Hilfe angewiesen sind, nimmt seit Jahren ständig zu. Ein Weiteres: Die Armut vieler Langzeitarbeitsloser ist komplex. Unser Gesellschaftsleben ist darauf ausgerichtet, dass man zur Teilhabe über gewisse finanzielle Ressourcen verfügt. Fehlen diese, so ist man abgekoppelt. Die Inklusionsdebatte hat dies bisher zu wenig im Blick. Ausgelöst von der UN Behindertenrechtskonvention fordert sie gesellschaftliche Veränderungsprozesse in erster Linie im Blick auf Menschen, deren Leben durch unterschiedliche körperliche und geistige Behinderungen beeinträchtigt ist und denen deshalb, ggf. durch Assistenz, ganzheitliche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht werden soll. Aber was ist mit Langzeitarbeitslosen, denen zwar durch das Jobcenter multiple Vermittlungshemmnisse attestiert werden, ihnen aber keine adäquate Möglichkeit gegeben wird, sich als integrales Mitglied unserer Gesellschaft zu verstehen? Die eingangs vorgestellten ALG-II-Empfänger_innen, Frau B und die Herren A und C, stehen stellvertretend für abertausende Erwachsene und mitbetroffene Kinder allein in den Großstädten NRWs: Mangelnde Flexibilität bei der Integration auf dem Arbeitsmarkt führt zur Ausgrenzung aus der Gesellschaft. Literatur Benad, Matthias / Schmuhl, Hans-Walter (Hg.), Bethel-Eckardtsheim. Von der Gründung der ersten deutschen Arbeiterkolonie bis zur Auflösung der Teilanstalt (1882−2001), Stuttgart 2006. Butterwegge, Christoph, Krise und Zukunft des Sozialstaates, 2. Aufl., Wiesbaden 2005. Jobcenter Wuppertal AöR,Trenddiagramm November 2017, online: http://www.jobcenter.wuppertal.de/medien/bindata/Trenddiagram m_JC_Wuppertal_11_2017.pdf (Zugriff: 05.01.2018). Jobcenter Wuppertal AöR, 10 Jahre Stadtteilservice Wuppertal, online: http://www.jobcenter.wuppertal.de/meldungen/meldungen2017/102370100000774601.php (Zugriff: 05.01.2018). Wolf, Ernst, Theologische Grundfragen der Sozialethik, Göttingen 1975. Wuppertalbewegung e.V., Nordbahntrasse. Von der Eisenbahnstrecke zum Fuß-, Rad- und Skateweg, online: http://nordbahntrasse.de /nordbahntrasse/ (Zugriff: 05.01.2018).

  Bartold Haase

Behinderung und Armut – ein Praxisbeispiel von der Stiftung Eben-Ezer, Lemgo

1

Einleitung

Herr H. geht über „Kläschen“, die jährlich stattfindende Adventskirmes in Lemgo. Er geht mit seiner Betreuerin. Seit er im Ambulant Betreuten Wohnen lebt, ist das ein festes Ritual. Dazu gehören ein Glühwein, eine Portion Pommes mit Currywurst und eine Tüte gebrannte Mandeln zum Mitnehmen. „Möchtest du noch irgendwohin?“, fragt die Betreuerin. Herr H. überlegt: „Entweder einmal Schiffschaukel fahren oder eine Mütze kaufen. Beides ist zu teuer.“ Die Entscheidung fällt schwer. Am Ende macht er nichts von beidem und möchte auch bald zurück in seine Wohnung. Herr H. ist Klient der Stiftung Eben-Ezer in Lemgo. Seit Februar 2013 hat er einen ambulanten Betreuungsvertrag und wohnt zur Miete in einer kleinen Wohnung in Lemgo. Herrn H. stehen wöchentlich fünf Fachleistungsstunden zur Verfügung. In diesen Stunden bekommt er Hilfe für die Lebensbereiche und Tätigkeiten, für die er Hilfe braucht. Der Anteil dieser Fachleistungsstunden für die Gestaltung freier Zeit beträgt wöchentlich 35 Minuten. Seit dem 1. April 2017 ist Herr H. Rentner. Sein Nettoeinkommen beträgt unter 800 €. Wöchentlich hat er 75 € für Lebensmittel und persönliche Bedarfe (Zigaretten, Eintrittsgelder, Kostenbeiträge etc.) zur Verfügung. Herr H. hat keine Angehörigen in erreichbarer Nähe. Seine Schwester besucht er gelegentlich mit dem Zug und in Begleitung. Allein kann er diese Reise nicht bewältigen. Was seine sozialen Kontakte am Wohnort angeht, ist Herr H. sehr mitarbeiterbezogen. Von sich aus ist er wenig zugewandt. Er gerät oft in Konflikte oder verursacht diese durch seine Art der Interaktion. Hin und wieder lädt Herr H. andere Klient_in-

Behinderung und Armut

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nen zu kurzen Besuchen in seine Wohnung ein oder redet ein paar Worte mit seinen Hausnachbar_innen. In der Stadt kennt man ihn vom Sehen: Hier unternimmt er ausgedehnte Spaziergänge und besucht Veranstaltungen im Gemeinwesen. Überhaupt beteiligt er sich gern an Aktivitäten, die von anderen organisiert werden. Vor allem Ausflüge und der Besuch von Festen gefallen ihm. Allerdings sind die Möglichkeiten zur Teilnahme durch den engen finanziellen Spielraum sehr begrenzt. Herr H. erlebt soziale Armut. Ganz anders sieht es bei Frau B. aus. Sie besucht „Kläschen“ mit ihren Eltern und ihrem Bruder. Beide, Bruder und Schwester, leben mit ambulantem Betreuungsvertrag mitten in der Stadt. Sie besuchen sich oft, fast täglich, und genießen am Feierabend einen Gang durch die Fußgängerzone oder einen Besuch bei ihren Eltern, die – beide über 80 Jahre – in der Nachbarschaft wohnen. Sie sind an den Lebensort ihrer Kinder gezogen, um ihnen nahe zu sein. Frau B. hat sich für „Kläschen“ fein gemacht. Ihre Eltern haben ein Auge darauf, dass sie ausreichend mit hochwertiger Kleidung ausgestattet ist – genau wie ihr Bruder. Familie B. hat sich am Glühweinstand mit Freund_innen verabredet. Die Eltern sind in der Stadt bestens vernetzt und haben einen großen Freundeskreis. Sie pflegen ihr soziales Leben und beziehen ihre Kinder selbstverständlich mit ein. Essen gehen, Kulturveranstaltungen, Urlaubsreisen und eine großzügig ausgestattete Wohnung gehören zum Lebensstandard von Frau B., der deutlich höher ist als der Standard anderer Klient_innen. Bei Frau B. sorgt also zu einem wesentlichen Teil das Elternhaus dafür, dass soziale Teilhabe gelingt. Die persönlich zunächst engen finanziellen Spielräume werden durch privates Engagement der Eltern deutlich ausgeweitet. 2

Reflexion

Der ausschnitthafte Blick in das Leben von Herrn H. und Frau B. zeigt beispielhaft, dass sich eine Behinderung vielschichtig auf die Fähigkeit auswirkt, am Leben der Gesellschaft teilzuhaben. Ohne die Einbindung in ein tragfähiges soziales Netz droht neben materieller vor allem soziale Armut. Menschen mit geistigen Behinderungen gelingt es ohne intensive Begleitung oft nur schwer, soziale Netze so zu knüpfen und zu pflegen, dass sie tragfähig sind. Der in der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen festge-

370 B. Haase    schriebene Rechtsanspruch auf gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft kann so oft nur ansatzweise erfüllt werden. Die professionellen Angebote der Eingliederungshilfe geben dazu Impulse. Das tatsächliche Erleben von Teilhabe hängt aber zu einem meist größeren Teil von Eigeninitiative bzw. dem Engagement von Angehörigen oder anders ehrenamtlich tätigen Menschen ab. Der Vergleich der Lebenssituationen von Herrn H. und Frau B. bringt das deutlich zum Ausdruck. So leben die beiden zunächst in einem sehr vergleichbaren Rahmen. Beide verfügen – ohne die Unterstützung aus dem elterlichen Umfeld – monatlich über ein Nettoeinkommen von unter 800 €. Dieses Einkommen setzt sich aus den sozial angemessenen Unterkunftskosten, dem Regelsatz Grundsicherung und 70 € Mehrbedarf zusammen. Beide haben einen ähnlichen Anspruch auf Fachleistungsstunden, mit denen die professionelle Unterstützung der Stiftung Eben-Ezer geleistet wird. Der Unterschied in der praktischen Lebensgestaltung liegt im sozialen Netz. Herr H. hat neben den Kontakten zu seinen Betreuer_innen zwar einige sporadische Kontakte, aber einen Freundeskreis und ein stabiles soziales Netz hat er nicht. Gleichzeitig ist er in seiner Freizeitgestaltung in hohem Maß auf die Angebote und Initiative anderer Menschen und Institutionen angewiesen. Die Mitarbeiter_innen der Stiftung Eben-Ezer vermitteln diese Kontakte. Allerdings sind die finanziellen Verhältnisse von Herrn H. so eng, dass sie keine großen Sprünge zulassen. Dieser Punkt begrenzt die Möglichkeiten zur Teilhabe bei sehr vielen Menschen mit Behinderungen. Urlaube, Wochenendreisen, Tagesausflüge und sonstige gesellige Unternehmungen sind nur sehr begrenzt und mit langfristiger finanzieller Planung möglich. Auch Einladungen, Restaurantbesuche, der Besuch von Kultur- und Sportveranstaltungen, Mitgliedschaften in Vereinen etc. übersteigen oft das Budget. Ohne mühsam zu beantragende Zuschüsse, Spenden oder privates Engagement wären solche Aktivitäten oftmals gar nicht möglich. Zu den begrenzten finanziellen Möglichkeiten kommen bei vielen Menschen mit geistiger Behinderung weitere Faktoren hinzu, die ein Abrutschen in soziale Isolation bzw. soziale Armut begünstigen: – mangelnde Fähigkeit, selbständig freie Zeit zu gestalten (häufiges Praktizieren von erlernten Mustern) – mangelnde Übung in der Ausgestaltung von Selbstbestimmung und Eigenverantwortung – oft überproportionale Ausprägung zur Autoritätshörigkeit

Behinderung und Armut

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– besonders starke Ausrichtung auf Wert- und Statussymbole, z.B. Handy, EDV-Ausstattung, besonderes Fahrrad etc. – wenig Übung im Umgang mit Freund_innen oder Gästen, dem Ausgestalten von Feiertagen, Einladungen und geselligen Begegnungen – mangelndes Bewusstsein für das eigene äußere Erscheinungsbild – fehlende Mobilität (Roller, Mofa, Pkw) 3

Fachliche Ansätze der Stiftung Eben-Ezer

In den Leitsätzen der Stiftung Eben-Ezer heißt es: „Mittelpunkt des Handelns in Eben-Ezer ist die Entwicklung persönlicher Lebensentwürfe und die Begleitung der Menschen auf ihren Lebenswegen.“ Diesem Leitsatz folgend hat Eben-Ezer als diakonische Stiftung den Auftrag und die Aufgabe, soziale Armut wahrzunehmen, zu reduzieren und zu überwinden. Zieht ein_e Klient_in in ein ambulantes Wohnverhältnis, gilt es zunächst, Bewusstsein für die eigenen Bedürfnisse zu schärfen bzw. überhaupt erst zu entwickeln: – Was für soziale Kontakte brauche ich und in welchem Umfang? – Welche Art Freizeitgestaltung gefällt mir und tut mir gut (Sport, Musik, kreative Tätigkeiten …)? – Wie ist mein Bedürfnis nach Aktivität / Entspannung? An den individuellen Lebensentwürfen orientiert gilt es, soziale Interaktion einzuüben – zumal, wenn ihm / ihr diese, wie Herrn H., nicht in die Wiege gelegt ist: – Wie kann ich zu anderen Menschen in Kontakt treten und wie pflege ich Kontakte? – Was ist zu bedenken und organisieren, wenn ich jemanden in meine Wohnung einlade? – Was gibt es für Möglichkeiten, ein Fest zu gestalten? – Wie kann ich mit wenig Geld einen schönen Abend, eine nette Einladung gestalten? – Wo kann ich mich mit anderen Leuten (preisgünstig) treffen? – Wo finde ich Gleichgesinnte? Die nächste Aufgabe ist, Anregungen zur eigenen Freizeitgestaltung zu geben: – Welche Angebote gibt es in der Stiftung, der Stadt, der Kirchengemeinde, der (näheren) Region? – Wie melde ich mich zu einem Kurs / einer Veranstaltung an? – Wie erreiche ich bestimmte Orte (zu Fuß, mit öffentlichen Verkehrsmitteln)? – Welches Sportangebot könnte ich nutzen?

372 B. Haase    – Wo gibt es Chöre, für welche Zielgruppe – und wann proben sie? – Was bietet die Musikschule an? – Welche Urlaubsreisen / Freizeiten / Tagesfahrten werden von wem angeboten? – Wo kann ich informell Menschen treffen? Bei der Gestaltung des Lebensalltags werden in der Unterstützung der Stiftung Eben-Ezer zuerst Angebote aus dem Sozialraum genutzt. Beliebte Kontaktmöglichkeiten bieten Sportvereine, die örtliche Kirchengemeinde oder andere Treffpunkte. Der Besuchsdienst einer Kirchengemeinde kann zum Beispiel eine erste Brücke sein für die Teilnahme an Veranstaltungen wie Chor oder Bibelfrühstück. Ein Kochkurs an der VHS kann das Selbstvertrauen stärken, was die Bewältigung zu Einladungen in die eigene Wohnung angeht. Die Mitgliedschaft im Wanderverein verbindet Bewegung und Geselligkeit. Bei Herrn W., ebenfalls Klient in einem ambulant betreuten Wohnverhältnis der Stiftung Eben-Ezer, gelingt soziale Teilhabe vorbildlich. Er wohnt direkt gegenüber einer Kirche in der Lemgoer Innenstadt. Zu Pfarrer und Gemeinde pflegt er enge Kontakte. Sein selbstgemachter Nudelsalat ist nicht mehr vom Gemeindefest wegzudenken („… wird immer alles aufgegessen!“). Herr W. weiß: Wenn Not am Mann ist, kann er beim Pfarrer klingeln oder ins Gemeindehaus gehen. Seine Urlaube verbringt Herr W. mit Gruppenreisen, gerne auch zusammen mit seinem gesetzlichen Betreuer. In der Stadt kennt man ihn. Trifft er ein bekanntes Gesicht, steigt er vom Rad und hält einen Plausch. Herr W. wirkt mit sich und seinem Leben zufrieden. Er hat gelernt, seine Bedürfnisse wahrzunehmen und auf sie zu achten. Er kann seine engen finanziellen Ressourcen so einsetzen, dass er am gesellschaftlichen Leben teilhat. Soziale Armut erlebt Herr W. aufgrund des tragfähigen sozialen Netzes nicht. Das Beispiel von Herrn W. macht Mut, am Ziel der „vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe“ von Menschen mit Behinderung am Leben der Gesellschaft mit gemeinsamen Kräften weiterzuarbeiten. Solch positive Beispiele gibt es allerdings nur selten. Die Einbindung in kommunale und kirchliche Gruppen gestaltet sich, nicht zuletzt wegen des manchmal eigenwilligen Verhaltens einzelner Klient_innen, oft deutlich schwieriger als im Fall von Herrn W. Deshalb gestaltet die Stiftung Eben-Ezer auch eigene Angebote, mit denen Inklusion und eine gleichberechtigte Teilhabe gefördert werden. Die „Integrative Sportgemeinschaft Eben-Ezer“ bietet als eigenständiger Verein zum Beispiel die Möglichkeit, sich in geschütztem Rahmen vielfältig sportlich zu betätigen. Menschen mit und ohne Behinderun-

Behinderung und Armut

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gen treiben gemeinsam Sport. Klient_innen der Stiftung lernen hier, aus verschiedenen Kursen auszuwählen und Vereinsleben einzuüben. Ähnliches ermöglicht die stiftungsinterne Erwachsenenbildung für Bewohner_innen. Von Selbstverteidigungskursen für Frauen über EDV-Schulungen, Museumsbesuche, kreative Angebote bis zu Tagesfahrten bietet das halbjährlich wechselnde Kursprogramm Angebote für jeden Bedarf. Das stiftungseigene „Café Vielfalt“ in der Lemgoer Innenstadt lädt Menschen mit und ohne Behinderungen ein. Die barrierefreie Raumgestaltung, ein angemessenes Preisniveau und vielfältige kulturelle Angebote – auch in der benachbarten Kunstscheune – ermöglichen Begegnungen von Menschen in ihrer ganzen Vielfalt. Ein besonderes Ereignis war das Inklusive Stadtfest im September 2017. Die Stadt Lemgo, die Lebenshilfe Lemgo, die Hochschule OWL und die Stiftung Eben-Ezer haben das Fest gemeinsam initiiert. Gestaltet wurde es von vielen Akteuren – Kirchengemeinden, Schulen, Sport- und Musikvereine u.v.m. Das Stadtfest war ein rundum gelungener Tag im Sinne von Inklusion und Teilhabe. Jung und Alt, Menschen mit und ohne Behinderung, mit und ohne Migrationshintergrund feierten fröhlich und gleichberechtigt miteinander. „Es ist auffällig, dass so viele Menschen mit Behinderungen unterwegs sind“, bemerkte ein Besucher. Ein solches Fest zeigt, dass Teilhabe gelingen kann. Gleichzeitig ist es aber auch Erinnerung und Mahnung, dass Teilhabe behinderter Menschen am Leben unserer Gesellschaft noch lange nicht selbstverständlich ist. Soziale Armut existiert überall dort, wo Menschen kein tragfähiges soziales Netz haben. Menschen mit geistigen Behinderungen fällt es oft sehr schwer, selbstständig ein solches Netz zu knüpfen. Sie darin zu unterstützen, ist eine der zentralen Aufgaben der Eingliederungshilfe.

  Frank Bremkamp

„Medizinische Versorgung wohnungsloser Menschen in Oberhausen“ – Soziale Arbeit und Medizin SA+M

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Ausgangslage

Im Rahmen der offenen Sprechstunden der Fachberatungsstelle für Wohnungslose des Diakonischen Werkes des Evangelischen Kirchenkreises Oberhausen und im angrenzenden niederschwelligen Treffpunkt für Wohnungslose war das Thema der medizinischen Versorgung Wohnungsloser bereits in den 1990er Jahren sehr präsent. Wohnungslose fielen durch Verletzungen und gesundheitliche Beeinträchtigungen auf und beschrieben sehr offen ihre Beschwerden. Leider blieben die Motivationsversuche der Mitarbeitenden ohne Erfolg, da die Betroffenen eine angebotene begleitete Vorsprache bei niedergelassenen Ärzten ablehnten. Als Gründe für diese Ablehnung wurden negative Erfahrungen in den Arztpraxen in der Vergangenheit und das subjektive Empfinden, in den Krankenhäusern nicht willkommen zu sein, geäußert. Ein Projekt, das von niedergelassenen und ehrenamtlichen Ärzt_innen gemeinsam durchgeführt und durch die Ärztekammer und die Kassenärztliche Vereinigung Oberhausen unterstützt wurde, war einige Jahre lang an die Fachberatungsstelle des Diakonischen Werkes angebunden. Um die Erreichbarkeit der Zielgruppe zu steigern, wurde durch die ehrenamtlich tätigen Ärzte zu den regulären Öffnungszeiten eine medizinische Erstversorgung angeboten. Leider musste dieses Projekt mit dem Tod der Ärzte innerhalb weniger Jahre aufgegeben werden. Um den medizinischen Bedarf einiger Betroffener weiterhin abschätzen zu können, wurde mit Beteiligung der Diakoniestation Oberhausen unter Einsatz erheblicher Spendenmittel eine pflegerisch begleitete Möglichkeit der Körperpflege organisiert.

Soziale Arbeit und Medizin SA+M

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Hinweise aus dem Arbeitsfeld „Aufsuchende Sozialarbeit“ des Sachgebietes Wohnungslosenhilfe, dass die Betroffenen an den unterschiedlichsten Treffpunkten im öffentlichen Raum Oberhausens medizinisch un- bzw. unterversorgt seien, verdichteten sich erneut seit den Jahren 2005. Diese Beobachtung und die Tatsache, dass sich Gespräche mit Betroffenen schwierig gestalteten, da es an einem geschützten Ort fehlte, veranlassten das Diakonische Werk, ein kombiniertes mobiles Angebot zur Beratung und medizinischen Behandlung zu initiieren. Die ungefähr zeitgleiche Einführung eines nordrheinwestfälischen Modellprojektes zur medizinischen Versorgung Wohnungsloser machte Hoffnung, über dieses Projekt die nötige Finanzierung eines Angebotes auch in Oberhausen zu sichern. Eine Prüfung der Rahmenbedingungen ergab jedoch, dass die zur Teilnahme und auskömmlichen Finanzierung des Angebotes erforderlichen Behandlungszahlen in Oberhausen nicht realisierbar gewesen wären. Daher wurde eine „Oberhausener Lösung“ angestrebt. 2

Kooperation

Das Projekt „Medizinische Versorgung wohnungsloser Menschen in Oberhausen“ ist durch die enge Kooperation der Kassenärztlichen Vereinigung, von Ärzt_innen, der Stadtverwaltung Oberhausen und dem Diakonischen Werk des Ev. Kirchenkreises Oberhausen sowie durch Kollektenmittel und mehrere Spenden u.a. durch die Sparkassenbürgerstiftung und den Verein „Gemeinsam gegen Kälte e.V.“ ermöglicht worden. Für den geschützten Raum, der für eine medizinische Behandlung notwendig ist, kaufte das Diakonische Werk ein für die Beratungs- und Behandlungssituation zweckmäßig ausgestattetes Fahrzeug. Die Stadtverwaltung Oberhausen war bereit, mit dem Diakonischen Werk einen Leistungsvertrag zur Finanzierung der Honorare für die − durch die Kassenärztliche Vereinigung angesprochenen − Ärzt_innen zu schließen. Somit konnte ein regelmäßiges mobiles Angebot realisiert werden, das soziale Beratung mit medizinischer Versorgung kombiniert. 3

Durchführung

Am 29. April 2009 wurde das Fahrzeug „Soziale Arbeit + Medizin“ (SA+M) durch den Oberbürgermeister der Stadt Oberhausen, den Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, den Superintendenten des Evangelischen Kirchenkreises Oberhausen und den Vorsitzenden

376 F. Bremkamp    der Kassenärztlichen Vereinigung Oberhausen in den Dienst gestellt. Seit dem 04. Mai 2009 finden planmäßig zwei Einsätze pro Woche an zwei Treffpunkten der Zielgruppe in Oberhausen-Mitte und Oberhausen-Sterkrade statt. Dabei wird auf Terminvergabe ebenso konsequent verzichtet wie auf bürokratische Hürden und Zuzahlungen durch die Patient_innen (wie sie im Jahr 2009 in den Praxen der niedergelassenen Ärzt_innen noch obligatorisch waren). Ferner wird auf eigene Erkenntnisse über den Aufenthalt behandlungsbedürftiger Personen und Hinweise aus der Bevölkerung flexibel und kurzfristig reagiert und es werden Zusatzeinsätze gefahren. Das Diakonische Werk hat während der Vorgespräche zur Initiierung des Projektes deutlich gemacht, dass wohnungslose oder von Wohnraumverlust bedrohte Menschen in Oberhausen durch das medizinische Regelsystem nicht hinreichend erreicht werden. Im Rahmen des Dienstes „Aufsuchende Sozialarbeit des Diakonischen Werkes“ konnten zunehmend die Personen in den sogenannten „sozialen Randgruppen“ motiviert werden, das bestehende soziale Hilfesystem in Oberhausen in Anspruch zu nehmen. Eine Motivierung zur regelmäßigen medizinischen Behandlung und Anbindung an das medizinische System ist in vielen Fällen allerdings gescheitert, obwohl selbst für medizinische Laien oftmals ersichtlich war, dass eine akute Behandlungsnotwendigkeit bestand. Die Besonderheit des Projektes zeigt sich in der Besetzung des Mobils „SA+M“ während der medizinischen Einsätze. Von Beginn der Planungen an war ein multiprofessionelles Team aus sozialpädagogischen Mitarbeitenden des Diakonischen Werkes und niedergelassenen Mediziner_innen aus Oberhausen vorgesehen. Dies erschien wichtig, um die Bekanntheit der Mitarbeitenden der „Aufsuchenden Sozialarbeit“ in den Gruppen zu nutzen, um einerseits den persönlichen Kontakt zu der anwesenden Ärztin/dem anwesenden Arzt herzustellen, andererseits auch die Informationen zur Durchführung des Angebotes über bekannte Akteure in die Gruppen zu tragen. Ferner verfügen die Mitarbeitenden dieses Arbeitsfeldes über eine breite Kenntnis des (psycho-)sozialen Hilfesystems in Oberhausen. Somit sind eine gemeinsame Analyse der Mängellagen und ein kurzfristiges Angebot weiterführender Unterstützung möglich. Die Ärzt_innen sollten eigene Praxen in Oberhausen haben, um ihre Kontakte zu niedergelassenen Kolleg_innen nutzen und Überweisungen, Einweisungen in Krankenhäuser, aber auch Verordnungen von Medikamenten ausstellen zu können.

Soziale Arbeit und Medizin SA+M

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Im Dezember 2010 wurde anlässlich des Weltaidstages eine Aktion mit der Aidshilfe Oberhausen durchgeführt. Neben verstärkter Information über das HIV-Virus und die Übertragungswege konnte mit Hilfe von HIV-Schnelltests bei mehreren Betroffenen eine Infektion ausgeschlossen werden. Die Resonanz aus den Gruppen war so groß, dass eine regelmäßige Fortführung dieser Aktionen an beiden Standorten mit der Aidshilfe Oberhausen vereinbart wurde. Ein wichtiges Beratungsfeld im Rahmen der gesundheitlichen Prävention ist die Frage der Verhütung und Vorbeugung bei der Übertragung von (Geschlechts-)Krankheiten. Aus diesem Grunde ist das Angebot um die Ausgabe von Kondomen und die Möglichkeit des Spritzentausches ergänzt worden. Ebenfalls wurden im Einzelfall Schwangerschaftstests ausgegeben. Die Präsenzzeiten der niedergelassenen Ärzt_innen sind unabhängig von der Anzahl der Behandlungen durch einen Leistungsvertrag zwischen der Stadt Oberhausen und dem Diakonischen Werk finanziert. Für den Unterhalt des genutzten Fahrzeugs „SA+M“ und alle damit einhergehenden Betriebskosten stellt das Diakonische Werk Eigenmittel zur Verfügung. Ferner werden regelmäßig anfallende Kosten in erheblichem Ausmaß durch Spenden gedeckt. Die Spendenbereitschaft für dieses Projekt ist sowohl im kirchlichen Bereich als auch bei Privatpersonen bis dato vorhanden. 4

Ziele des Projektes

Durch die medizinische Beratung und Erst- bzw. Akutversorgung ohne bürokratische oder formelle Hürden sollen die Hilfesuchenden wieder Zutrauen zu Ärzt_innen finden. Die personelle Kontinuität trägt dazu bei, dass bei wiederkehrender Behandlung ein tragfähiges Patienten-Arzt-Verhältnis entstehen kann. Dieses, im besten Falle vertrauensvolle Verhältnis wird genutzt, um die Patient_innen zu einer regelmäßigen medizinischen Behandlung zu motivieren. Im weiteren Verlauf wird eine Anbindung an eine Arztpraxis im Quartier angestrebt und damit eine Versorgung im medizinischen Regelsystem. Die regelmäßige medizinische Versorgung und Wiedereingliederung in das medizinische Regelsystem sind in höchstem Maße abhängig von der Bereitschaft und der Einsicht der Hilfesuchenden. Immer stehen zuerst die Verbesserung und Stabilisierung der aktuellen gesundheitlichen Situation im Mittelpunkt. Daher sind die Hilfeprozesse bei

378 F. Bremkamp    der beschriebenen Klientel in der Regel auf längere Zeiträume angelegt. 5

Erfahrungen

Seit Projektstart im Jahre 2009 (Datenstand: 31.12.2016) sind 681 gemeinsame Einsätze mit Ärzt_innen durchgeführt worden. Im Schnitt wurden pro Jahr ca. 100 Personen behandelt. Insgesamt 2.701 medizinische Interventionen waren durch die Ärzt_innen zu leisten. Insgesamt wurde die gesamte Bandbreite an medizinischer Versorgung abgedeckt. Internistische, chirurgische, psychosomatische, orthopädische, dermatologische, gynäkologische, neurologische, urologische, augenärztliche und Fragestellungen aus dem HNO-Bereich wurden diagnostiziert. Weitenteils wurde durch die Ärzt_innen unmittelbar mit der Akutversorgung und Behandlung begonnen. Teilweise war eine Vermittlung an Fachärzt_innen erforderlich, die in enger Absprache und häufig begleitet durch die sozialpädagogisch Mitarbeitenden erfolgte. Die Besonderheiten des Projektes lassen sich gut bei der Betrachtung eines konkreten Fallbeispiels feststellen. Herr B. war seit vielen Jahren wohnungslos und bezog keine Sozialleistungen, da er für die zuständigen Sozialleistungsträger nicht erreichbar war. Herr B. wandte sich bei einem Kontakt vor Ort an die Mitarbeitenden der „Aufsuchenden Sozialarbeit“. Diese führten mit ihm mehrere Gespräche mit dem Ziel, ihn zur Einwilligung in eine medizinische Behandlung zu bewegen. Herr B. berichtete von schmerzenden Wunden an den Beinen, konnte sich jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht auf eine Behandlung einlassen. Erst nach weiteren Motivierungsversuchen nahm Herr B. die Unterstützung an und begleitete die Mitarbeitenden zu dem mobilen Angebot. Eine Gesundheitskarte seiner Krankenversicherung konnte er nicht vorlegen. Der Krankenversicherungsstatus konnte kurzfristig nicht geklärt werden, da über Jahre keine Beiträge gezahlt wurden. Der Arzt an Bord diagnostizierte mehrere entzündlich veränderte Wunden, die zum Teil Nekrosen gebildet hatten. Zunächst erfolgte eine Akutversorgung der Wunden, die regelmäßig während der Einsätze wiederholt wurde. Parallel gelang es den sozialpädagogisch Mitarbeitenden, Herrn B. zu einer gemeinsamen Klärung seiner Ansprüche auf Sozialleistungen zu motivieren. Die Einrichtung einer Erreichbarkeitsadresse in der Fachberatungsstelle für Wohnungslose stellte die grundsätzliche Vorausset-

Soziale Arbeit und Medizin SA+M

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zung für den Leistungsbezug sicher. Mehrere Termine beim Sozialleistungsträger wurden durch die Mitarbeitenden begleitet. Nach einiger Zeit wurden die Leistungen bewilligt. Nach mehreren Jahren ohne finanzielle Absicherung verfügte Herr B. erstmalig wieder über Geld, für das er nicht betteln oder sich Dritten gegenüber dankbar zeigen musste. Durch die Wiederbewilligung der Sozialleistungen wurden auch die Beiträge zur Krankenversicherung durch den Sozialleistungsträger abgeführt. Somit war die Voraussetzung für die Nutzung des medizinischen Regelsystems wieder geschaffen. Es folgte eine Einweisung durch den am Projekt beteiligten Arzt in stationäre Behandlung, um eine umfassende Diagnostik durchführen zu können. Das Fallbeispiel zeigt deutlich, dass der Erfolg des Projektes im konkreten Einzelfall stark mit dem Nutzen der Netzwerke der unterschiedlichen Professionen verknüpft ist. Die psychosoziale Beratung und die enge Verzahnung der verschiedenen Arbeitsfelder der Wohnungslosenhilfe konnten in diesem und weiteren Fällen im Sinne des „Patienten“ genutzt werden. Die Motivationsphase mit der kontinuierlichen Ansprache und der bestehende persönliche Kontakt ermöglichten die Schaffung von Voraussetzungen für die existentielle Absicherung des Betroffenen. Mit Hilfe dieser Instrumente können oftmals Situationen, in denen die Betroffenen für sich keine Perspektive mehr sehen, aufgebrochen werden. Somit wird häufig der Blick für kurz- bis mittelfristige Ziele wieder geöffnet. Ferner ermöglichen die Netzwerke der Ärzt_innen oftmals kurzfristige (auch stationäre) medizinische Interventionen. Der ganzheitliche Ansatz des Projektes bewirkt im besten Fall sowohl die Verbesserung der gesundheitlichen Situation der Patient_innen als auch eine Stabilisierung der allgemeinen Lebenssituation. Dies wird, wie im Text geschildert, durch das Durchbrechen von Kreisläufen versucht. Das Projekt „Medizinische Versorgung wohnungsloser Menschen in Oberhausen“ hat sich zu einem festen Bestandteil der ambulanten Hilfen für den beschriebenen Personenkreis entwickelt und erreicht in Oberhausen einen hohen Bekanntheitsgrad im Gefüge der psychosozialen Einrichtungen.

  Maike Cohrs

Arm und verschuldet im Alter

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Altersarmut als (neuer) Aspekt in der Schuldnerberatung

Das Thema „Altersarmut“ zieht aktuell in der medialen Landschaft weite Kreise. In der Gesellschaft spricht man von dem Gespenst der Altersarmut. Was es aber wirklich bedeutet, im Alter arm zu sein, am Existenzminimum zu leben, Einschnitte und Einschränkungen hinnehmen zu müssen, ist für den Großteil der Bevölkerung nicht nachvollziehbar. Dass man selber betroffen sein könnte, wird von vielen nicht wahrgenommen. Wer weiß schon, was in 10, 20 oder 30 Jahren ist. In unserer täglichen Arbeit in der Schuldnerberatung ist das Gespenst der Altersarmut real. Die Gesichter der Altersarmut sind in der Gesellschaft gut getarnt. Diese Menschen versuchen nicht aufzufallen und ihr Schicksal still zu akzeptieren. Es ist erstaunlich, wie lange besonders ältere Menschen ein Bild aufrechterhalten. Sie schränken sich, ob der fehlenden finanziellen Mittel, in allen Lebensbereichen stark ein. Sätze wie: „Ich habe nur noch Kartoffeln gegessen“ oder „Ich brauche ja nicht viel“, hören wir sehr oft. Die eigenen Bedürfnisse werden nach hinten gestellt, die Rate für den Gläubiger wird gezahlt. Erst wenn die finanziellen Mittel keinen Spielraum mehr zulassen, die Miete oder der Strom nicht gezahlt werden können, werden andere Menschen auf die Not aufmerksam und machen sich im besten Fall auf die Suche nach einer adäquaten Hilfe. Da ich aus der Beratungspraxis komme, möchte ich aus meiner täglichen Arbeit berichten. Ältere Menschen in Armut, die sich für ihren Lebensabend fast immer etwas anderes ausgemalt hatten als ein Leben mit extrem beschränkten finanziellen Mitteln und Einsamkeit, berühren uns in der Arbeit sehr. Vielleicht auch, weil wir ein Bild von uns im Rentenalter in uns tragen und dieses sehr hinterfragen müssen, wenn wir diese älteren Menschen, die unsere Hilfe benötigen, beraten oder in ihren Wohnungen aufsuchen.

Arm und verschuldet im Alter

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Ältere Menschen in der Schuldner- und Insolvenzberatung

Die Schuldnerberatung ist ein Teil der Sozialen Arbeit. Schuldnerberatung richtet sich an überschuldete oder von Überschuldung bedrohte Menschen, in Form von psychosozialer, finanzieller und rechtlicher Hilfe und Unterstützung. Die Insolvenzberatung ist ein Instrument zur Entschuldung. In Deutschland waren laut Schuldenatlas der Creditreform in 2017 6,9 Millionen Menschen über 18 Jahre überschuldet.1 Das bestehende kostenfreie Schuldnerberatungsangebot der Wohlfahrtsverbände kann nur einem Bruchteil der überschuldeten Menschen Hilfe anbieten. Daraus folgt, dass die Hürden, einen Termin in der Schuldnerberatung bekommen zu können, sehr hoch und mit langen Wartezeiten verbunden sind. Die Gruppe der überschuldeten Senior_innen und deren spezielle Bedürfnisse bzw. Problemlagen findet in der Schuldnerberatung bisher wenig Beachtung. In ihrer Untersuchung „Überschuldung im Alter – Gründe, Auswirkungen und sozialpädagogischer Handlungsbedarf“2 aus dem Jahr 2015 beschreibt Anna Kußmaul Merkmale älterer überschuldeter Menschen: Sie sind in der Mehrzahl alleinstehend, haben ein geringes Einkommen am Existenzminimum. Sie weisen ein hohes Moral- und Pflichtgefühl auf. Bei den körperlichen und geistigen altersbedingten Einschränkungen benennt Kußmaul die Abnahme der kognitiven Fähigkeiten und der Mobilität, einen Anstieg von Demenz und Vergesslichkeit, psychische Erkrankungen und Depressionen. Anhand dieser Merkmale zeigt sich, dass ältere, verschuldete Menschen ein spezialisiertes Beratungsangebot benötigen, um den Bedürfnissen und Einschränkungen gerecht werden zu können. 3

Entstehung der spezialisierten Schuldnerberatung für Senior_innen in Köln

Unsere Beratungsstelle in Köln wurde bereits im Jahr 2007 von der Seniorenvertretung angefragt, wie viele ältere Menschen den Weg zu uns finden. Grundsätzlich steht das Angebot der Schuldnerberatung allen Menschen offen. Es gab ältere Menschen, die unser Beratungsangebot wahrgenommen haben, diese zeichneten sich aber durch eine gute Konstitution und wenig altersbedingte Gebrechen aus. Die Anfrage der Seniorenvertretung erfolgte, weil es vermehrt Nachfragen nach einem adäquaten Beratungsangebot für in finanzielle Not ge1 2

Vgl. Wirtschaftsforschung Creditreform, Schuldenatlas. Vgl. Kußmaul, Überschuldung im Alter.

382 M. Cohrs    ratene ältere Kölner Bürgerinnen und Bürger gab. Wahrgenommen wurde der Bedarf von den Seniorenberater_innen in Köln. Das Angebot der Seniorenberatung gibt es in Köln seit 15 Jahren. Sozialpädagog_innen arbeiten in den neun Stadtbezirken. In den Bezirksämtern ist eine Beraterin / ein Berater vor Ort tätig, um auf dem „kurzen Dienstweg“ Hilfen anbieten und einleiten zu können. Die Seniorenberatung berät und unterstützt bezüglich der Ansprüche gegenüber den Kranken- und Pflegekassen, der Beantragung von Sozialleistungen, bei allen persönlichen Fragen, Krisensituationen und Notlagen usw. Die Seniorenberatung kann nicht nur von älteren Menschen in Anspruch genommen werden, sondern auch von Angehörigen, Institutionen, Vermietern usw. Die Seniorenberatung ist für uns in der Schuldnerberatung das entscheidende Bindeglied zu den älteren Klient_innen. Hier wird über andere Themen ein Vertrauensverhältnis aufgebaut und Missstände werden aufgedeckt. Das große Problem der älteren überschuldeten Menschen sind das hohe Moral- und Pflichtbewusstsein und die Scham über die Unfähigkeit, über bestimmte erlebte Situationen mit anderen sprechen zu können. Wir haben uns in unserer Beratungsstelle auf den besonderen Personenkreis der älteren, schwer erreichbaren Menschen eingestellt und sind im Bereich der Terminvergabe und der aufsuchenden Arbeit neue Wege gegangen. Fast alle Senior_innen in der Beratung werden an uns über Dritte vermittelt. Wir arbeiten eng mit den Seniorenberater_innen in Köln zusammen. Entweder rufen uns die Seniorenberater_innen direkt an oder sie geben unsere Telefonnummer weiter, und der Kontakt erfolgt dann über die Betroffenen oder deren Angehörige. Auch Mitarbeitende von Pflegediensten oder Wohnungsgesellschaften rufen uns an. Die „normalen“ Zugangswege der Schuldnerberatungsstellen sind für ältere Menschen zu hochschwellig. Sie benötigen Hilfe bei der Kontaktaufnahme. Wir entscheiden bei jedem älteren Menschen in der Beratung, ob er zu uns in die Beratungsstelle kommen kann oder ob wir ihn oder sie zu Hause in der gewohnten Umgebung aufsuchen. Oft bitten uns Menschen um Hilfe, die in ihrer Bewegungsfreiheit sehr eingeschränkt sind. Oft sind ältere Menschen nicht mehr gut räumlich orientiert. Sie bewegen sich in ihrem vertrauten Viertel, immer auf den gleichen Wegen. Eine Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ist dann eine

Arm und verschuldet im Alter

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große Herausforderung, die nicht immer gemeistert werden kann. Eine ältere Dame in der Beratung sollte beim zuständigen Amtsgericht einen Antrag stellen, damit sie wieder über ihr gesamtes Kontoguthaben verfügen konnte. Sie versicherte, dass es für sie gar kein Problem sei, dorthin zu fahren. Nachdem wir öfter nachgefragt hatten, ob denn der Beschluss des Gerichtes nun vorliegen würde, erklärte die ältere Dame unter Tränen, dass sie sich zweimal mit der Straßenbahn verfahren hätte und nicht beim Amtsgericht angekommen sei. Sich einzugestehen, dass altersbedingte Einschränkungen Hilfe erfordern, ist für viele ältere Menschen ein großes Problem. Die Schuldnerberatung arbeitet in der Regel nicht aufsuchend. Wenn wir Hausbesuche machen, ist das nicht nur für den „Besuchten“ eine spezielle Situation. Viele überschuldete Senior_innen leben in großer Armut und in Einsamkeit. Ohne finanzielle Mittel ist die Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Leben nicht oder nur eingeschränkt möglich. Hinzu kommt die Angst, dass die Armut für andere sichtbar wird. Ich habe eine ältere Dame beraten, die bis zu ihrer Rente ein gut situiertes Leben geführt hat. Die Rente fiel nicht hoch aus, und schnell war das Gesparte aufgebraucht. Die ältere Dame wollte ihren Lebensstil nicht den begrenzten finanziellen Mitteln anpassen. Es war für sie besonders wichtig, dass die Menschen in ihrer Umgebung weiterhin eine wohlhabende Dame wahrnehmen. Bei meinem ersten Hausbesuch war die Wohnung schön eingerichtet, Bilder hingen an den Wänden, Gegenstände standen in Vitrinen. Im Laufe der Beratung wurde die Wohnung immer karger. Die Klientin hatte nach und nach offene Forderungen durch das Veräußern von Gegenständen beglichen. Sich bewusst machen zu müssen, dass man am Ende seines Lebens nicht das erreicht hat oder halten kann, was man erhofft hat oder gewohnt war, ist für viele eine psychisch belastende Situation. Wenn wir die älteren Menschen aufsuchen, freuen sie sich in der Regel über die Abwechslung und die Möglichkeit, ein Gespräch zu führen. Die Bereitschaft, zuzuhören, ist unabdingbar für die Berater_innen. Wir erfahren oft interessante Dinge aus dem Leben der Menschen, die mit der aktuellen finanziellen Situation nicht in Zusammenhang stehen. Oft scheint es so, dass sich die älteren Menschen über ihre Vergangenheit definieren und auch so wahrgenommen werden wollen, die Mutter von fünf Kindern, der erfolgreiche Geschäftsmann, die bekannte Persönlichkeit, die man kannte. Um eine Vertrauensbasis zu schaffen, ist das Zuhören und Nachfragen sehr wichtig. Wir brauchen Zeit und auch Geduld.

384 M. Cohrs    Die Schuldensituation ist für jede Person sehr belastend. Bei älteren Menschen ist die Scham besonders ausgeprägt. Nicht zuletzt resultiert die Scham aus dem hohen Moral- und Pflichtgefühl dieser Generation. Zu Beginn der Beratung leiten wir existenzsichernde Maßnahmen ein. Wie viel Einkommen ist vorhanden, besteht ein Anspruch auf Sozialleistungen, muss ein Pfändungsschutz-Konto eingerichtet werden, können Zahlungsverpflichtungen reduziert werden (Versicherungen, unnötige Verträge, usw.). Ziel ist es, dass die Ratsuchenden mit ihrem Einkommen ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Hier ist viel Überzeugungsarbeit zu leisten, weil besonders ältere Menschen aufgrund des hohen Moral- und Pflichtbewusstseins eher Raten zahlen, als an die täglichen Bedürfnisse zu denken. Ist die Existenz gesichert, können Entschuldungsperspektiven erarbeitet werden. Oft ist ein „Leben mit Schulden“ eine sinnvolle Möglichkeit. Das bedeutet für uns in der Beratung, dass wir die Korrespondenz mit den Gläubigern übernehmen und jährlich um Stundung bzw. Ausbuchung der Forderungen bitten. Wenn der Druck durch die Gläubiger sehr hoch ist und die älteren Menschen dazu neigen, doch wieder „Angstraten“ zu zahlen, kann ein Insolvenzverfahren sinnvoll sein. Ältere Menschen scheuen sich sehr, das Insolvenzverfahren einzuleiten, sind aber später froh und erleichtert, dass der Druck durch die Gläubiger aufhört. Jede Entschuldung nimmt Zeit in Anspruch und erfordert eine enge und dauerhafte Begleitung. 4

Wie kommt es zu einer Überschuldung im Alter?

Eine Überschuldung tritt in der Regel aufgrund von unvorhersehbaren Lebensereignissen ein. Trennung / Scheidung, Arbeitslosigkeit sind hier vor allem zu nennen. Im Rentenalter gibt es andere Gründe. Die Einkommensreduzierung mit Übergang in die Rente ist zum Alltag geworden. Eine private Altersvorsorge oder der Aufbau von Vermögen ist für viele Menschen nicht mehr realisierbar. Wenn noch Vermögen beim Renteneintritt vorhanden ist, dann wird dieses oft im Laufe der Zeit aufgezehrt. Das regelmäßige Einkommen verändert sich nicht, die Rente bleibt immer gleich. Altersbedingte körperliche Einschränkungen machen eine Nebentätigkeit auf Dauer unmöglich. Ist dann der Haushalt knapp kalkuliert und kommen unvorhersehbare Ausgaben z.B. durch Krankheit hinzu oder Mieterhöhungen, dann kann der Haushalt schnell in eine Schieflage geraten. Finanzielle Engpässe lassen sich vielleicht noch kurzfristig überbrücken, aber dauerhaft stehen die Menschen vor einem Problem. Verstirbt der

Arm und verschuldet im Alter

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Ehepartner, bleiben die laufenden Kosten oft gleich, das Einkommen sinkt aber dramatisch. Besonders für Frauen, die wenig bis keine Rentenansprüche haben, ist der Tod des Partners ein finanzielles Risiko. Ältere Menschen setzen spezielle Zahlungsprioritäten. Sie neigen dazu, die Schuld bei sich zu suchen. Dubiose Versicherungsmakler, Verkäufer oder Bankberater_innen tragen aus Sicht der älteren Menschen keine Schuld, auch wenn die Raten zu hoch, die Versicherungen überflüssig oder Abos völlig überteuert sind. Viele Menschen machen sich die Gutgläubigkeit älterer Menschen zu Nutze und haben keine Skrupel. Inkassounternehmen üben großen Druck aus. Ältere Menschen neigen dazu, Angstraten zu zahlen. Die Forderung bleibt bestehen, und geleistete Zahlungen werden zuerst auf Kosten und Zinsen verrechnet. Eine fast 70-jährige Frau kam in die Beratung. Ein Bekannter begleitete sie. Er hatte den Kontakt zu uns hergestellt. Alleine hätte die Frau den Weg in die Beratung nicht gefunden. Sie hatte sich 1975 von ihrem Mann getrennt. Zusammen hatten sie zwei Kreditverträge (Auto und Möbel) unterschrieben. Die Forderung belief sich 1975 auf ca. 8.000 DM. Die Frau hat jeden Monat 30 DM und später 15 € an den Gläubiger gezahlt. 42 Jahre lang. Sie hat das nie hinterfragt, weil sie der Überzeugung war, sie müsse ihre Schuld begleichen. Ihr geschiedener Mann hat nie gezahlt. Die Forderung beläuft sich heute laut Gläubiger auf 4.200 €. Die geleisteten Zahlungen wurden all die Jahre auf Kosten und Zinsen verrechnet, die Forderung ist nicht getilgt worden. Die Frau hat sich in all den Jahren niemandem anvertraut. Erst jetzt hat sie dem Bekannten von der Forderung berichtet. Die Erleichterung, über die Situation sprechen zu können und bei der Lösung unterstützt zu werden, ist in jedem Beratungstermin spürbar. Dieser Fall zeigt, wie schwer es den älteren Menschen fällt, über Schulden oder Zahlungsschwierigkeiten zu sprechen, und wie wichtig es wäre, wenn Hilfe früher ansetzen könnte. 5

Ausblick

Wir erleben tagtäglich in unserer Arbeit, was es bedeutet, in Armut zu leben. Mit wenig auskommen zu müssen und die Hoffnung trotzdem nicht zu verlieren. Wenn besonders die älteren Menschen den Weg zu uns gefunden haben und Unterstützung in dieser für sie oft aussichtslosen Situation bekommen, dann erleben wir fast immer, wie groß die Erleichterung ist und die Dankbarkeit. Hilfe wird nicht als selbstver-

386 M. Cohrs    ständlich angesehen. Viele Klient_innen, die von uns bei einer Entschuldung begleitet wurden, melden sich regelmäßig, um sich zu bedanken. Das ist für uns als Beraterinnen eine schöne Bestätigung unserer geleisteten Arbeit. Auch wenn die Schuldnerberatung von Senior_innen einen erhöhten Betreuungsaufwand darstellt und ein Umdenken in der Schuldnerberatung erfordert, hoffen wir doch darauf, dass sich auch weitere Beratungsstellen dieser besonderen Personengruppe öffnen. Literatur Kußmaul, Anna Karina, Überschuldung im Alter − Gründe, Auswirkungen und sozialpädagogischer Handlungsbedarf, Masterthesis an der Hochschule Koblenz, Koblenz 2015. Wirtschaftsforschung Creditreform, Schuldenatlas 2017, online: http://www.creditreform.de (Zugriff: 06.04.2018).

  Cornelia Oßwald und Barbara Schulz

Zwölf Jahre Caritas-Diakonie-Sprechstunde in Düsseldorf-Gerresheim

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Armut kennt keine Herkunft – Besuch vor Ort

Dienstags kurz nach 9 Uhr betrete ich das Gemeindehaus der evangelischen Kirchengemeinde an der Hardenbergstraße – und habe sofort eine Wartenummer in der Hand. Erstaunter Blick meinerseits, Heiterkeit um mich herum, man nimmt mir das Zettelchen wieder aus der Hand. Vikarin Kara Bredal und Gisela Maurer am Anmeldetisch direkt hinter der Eingangstür haben mich erkannt: „Hallo Frau Schulz. Was machen Sie denn hier?“ Ich bin nicht in die Caritas-DiakonieSprechstunde gekommen, um Hilfe zu erbitten. Ich will über sie berichten. Etliche Menschen, Mütter mit Kindern, Männer und Frauen unterschiedlichen Alters sind bereits da, sitzen an Tischen und frühstücken. Das Buffet, süß und herzhaft, auch mit Obst, Tomaten, Gurken, Feigen und Datteln, lässt keine Wünsche offen. Roswitha Sulemann hat es mit fünf weiteren ehrenamtlich Mitarbeitenden zubereitet: „Ich war schon um 7:30 Uhr bei Rewe. Als ich erzählt habe, wofür ich die Lebensmittel brauche und ein bisschen feilschen wollte, da kam der Filialleiter und ich durfte für 100 € einkaufen – Spende des Hauses. Die Leute müssen hier für ein Frühstück nur 50 Cent bezahlen, für ihre Kinder 30 Cent. Es macht mir viel Freude, hier zu arbeiten!“ Alle Wartenden haben, nachdem ihre Nummer aufgerufen wurde, am Anmeldetisch ihren Namen gesagt. Einige wenige sind neu, die meisten sind bereits bekannt. Man weiß, wo sie wohnen, wie viele Personen zum Haushalt gehören, wie alt die Kinder sind. Es steht handschriftlich auf einer Karteikarte, die jetzt herausgesucht wird. Alle, die hierher kommen, haben ihre Bedürftigkeit durch Vorlage eines entsprechenden Bescheides nachgewiesen.

388 C. Oßwald und B. Schulz    Nach der Anmeldung werden die Wartenden der Reihenfolge nach namentlich aufgerufen. Pfarrerin Cornelia Oßwald bemüht sich, den Namen auf der Karte richtig auszusprechen. Eine junge Frau steht auf und geht mit ihr in einen separaten Raum. Hier wartet bereits Ingrid Schmitz. Freundlich begrüßt sie die erste Besucherin und fragt nach, wie es ihr geht. Sie stammt aus dem Iran und spricht noch wenig Deutsch, freut sich aber offensichtlich sehr über eine Karte mit Einkaufsberechtigung für den Kleiderladen und den monatlichen Lebensmittelgutschein, einzulösen in einem der drei Rewe-Läden im Stadtteil: 10 € für den Haushaltsvorstand und 5 € für jedes weitere Familienmitglied, in ihrem Fall 20 €. Gedeckt sind die Gutscheine durch zweckgebundene Spenden evangelischer und katholischer Gemeindemitglieder. Ob die junge Iranerin diese Zusammenhänge kennt? Immerhin tragen die Lebensmittelgutscheine das Logo der beiden Ortsgemeinden. Die Verabschiedung ist herzlich. Ein Mann mittleren Alters, Deutscher, klagt über Beschwerden im Bein, muss vielleicht operiert werden und nimmt neben dem Lebensmittelgutschein auch gerne eine Kleiderladenkarte in Empfang. Zusätzlich kann er einen Mittagstisch-Gutschein wählen für die Cafeteria der Sana-Klinik oder die Pizzeria Uscana oder auch das Café Frau Heye. Sie werden vom „Netz gegen Armut“, einem örtlichen Zusammenschluss von Vereinen, Initiativen, Kirchengemeinden und Einzelpersonen, für Menschen ab 55 Jahren zur Verfügung gestellt und sind offenbar beliebt. Auch die folgende Besucherin, eine ältere Dame, nimmt erfreut Lebensmittel- und Restaurantgutscheine entgegen. Sie hat viel zu erzählen. „Viele Menschen möchten einfach, dass man ihnen im geschützten Raum ein wenig zuhört“, sagt Cornelia Oßwald später. „Bei spezifischen Problemen und Fragen stehen uns hier eine Sozialarbeiterin und ehrenamtliche Lotsen zur Seite, die beim Kontakt mit Ämtern und Beratungsstellen helfen.“ Es folgt ein junger Mann aus Eritrea. Seit einem Jahr ist er hier, spricht bereits gut Deutsch. Er strahlt vor Freude. Seine Anerkennung als Asylbewerber war erfolgreich. Er darf nun aus dem Heim auf der Heyestraße ausziehen und sucht eine Wohnung. Man rät ihm, über den Unterkunftsbetreuer mit der Wohnungsberatung der Diakonie Kontakt aufzunehmen. Der Mangel an billigem Wohnraum ist in Düsseldorf ein großes Problem, das Integration und Verselbständigung erschwert.

Zwölf Jahre Caritas-Diakonie-Sprechstunde

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Im anderen Raum sitzen Heidi Evers und Amanda Speckenbach gerade mit einem Elternpaar und deren kleiner Tochter. Auch sie erhalten Gutscheine. Die Kleine freut sich sehr über eine Puppe, die zwischen lauter Kuscheltieren auf dem Tisch lag. „Eben war eine Mutter mit Kind hier, die haben vor Begeisterung über eine kleine Babypuppe spontan getanzt. War das eine Freude!“ Draußen sieht man eine Gruppe junger Männer lebhaft redend ankommen. „Oh, die kommen bestimmt von der Unterkunft in der Karlsbader Straße; wir müssen sie weiterschicken zum Stiftssaal bei St. Margareta.“ Seit Anfang Dezember 2015 gibt es in der katholischen Pfarrgemeinde wegen der gestiegenen Nachfrage durch den Zuzug von Geflüchteten eine parallele Sprechstunde gleicher Strickart. Die Gemeinden, die bereits an der Hardenbergstraße zusammenarbeiteten, haben die Zuständigkeit untereinander geographisch aufgeteilt. Die Jungs scheinen nicht verstimmt zu sein und ziehen zuversichtlich weiter. Ich betrete nun den Kleiderladen im Café der Kirchengemeinde, schräg gegenüber dem Gemeindehaus. Lebhafter Betrieb zwischen Rollständern mit Jacken, Mänteln, Hosen. Regale mit Schuhen, kleine Kindergummistiefel. Auf der anderen Seite des Raumes ist normaler Cafébetrieb. Erika Rabe zeigt mir stolz das Lager im Keller: deckenhohe Regale mit Shirts, Pullovern, Wäsche, alles nach Größen sortiert und ordentlich gefaltet. „Mit 10 Frauen leeren wir hier die Säcke mit den Kleiderspenden. Ohne gute Vorbereitung wären keine vernünftige Auswahl und kein geordneter Verkauf möglich.“ Oben verlassen zufriedene Menschen mit Taschen, Koffern und Tüten das Café. Hier werden keine Almosen verschenkt, sondern die Menschen sind Kund_innen, die auswählen, auf Wunsch auch Beratung erhalten und für sehr niedrige Preise einkaufen. Wer gerade gar kein Geld hat, kann in der Sprechstunde um einen Kleidergutschein bitten und erhält die Sachen umsonst. Davon macht jedoch nur selten jemand Gebrauch. Nächsten Dienstag werden wieder viele Menschen aus dem Stadtteil zur Hardenbergstraße kommen, Geflüchtete und Alteingesessene mit und ohne Migrationshintergrund. Armut und Bedürftigkeit kennen keine Herkunft.

390 C. Oßwald und B. Schulz    2 Sprechstunde statt Abfertigung an der Haustür – Wie alles anfing Es hatte 2005 ganz klein angefangen. Paul Schnapp, der neue Pfarrkollege, brachte eine Idee aus seiner Zeit als Diakoniepfarrer in Aachen mit nach Gerresheim. Statt „Türdiakonie“ – die Abfertigung vor allem wohnungsloser Bittsteller an der Pfarrhaustür – hatte er dort eine reguläre „Diakoniesprechstunde“ eingerichtet: ein fester Ort und eine feste Zeit, zu der Bedürftige sich mit ihren Nöten an die Kirchengemeinde wenden konnten. Diese Idee leuchtete uns im Gerresheimer Pfarrteam ein, da sie mehrere Probleme löste. Man hat Zeit für die Bittsteller, da diese nicht zwischen Tür und Angel abgefertigt werden müssen. Gemeinsam mit den Betroffenen kann man die Situation sondieren und angemessene Schritte aus der Notlage überlegen. Kontakte zu Beratungsstellen oder Ämtern können bei Bedarf sofort hergestellt, Hilfe kann zielgerichtet organisiert werden. Das sogenannte „Freikaufen“, schnelle, aber möglicherweise unangemessene Geldgaben zur Beendigung der überfallartigen Konfrontation mit der Not eines Menschen, unterbleiben, ebenso das Tingeln von Pfarrhaustür zu Pfarrhaustür – zumindest in unserer großen Gemeinde. Also richteten wir die wöchentliche Sprechstunde zunächst provisorisch im Gemeindebüro ein, wo vor der Theke ein Tischchen mit zwei Stühlen stand. Im Raum nebenan war eine winzige Kleiderkammer, wo Kleiderspenden für Bethel gesammelt wurden. So konnten bei Bedarf warme Jacken, Hosen, Unterwäsche oder Schuhe an Obdachlose ausgegeben werden. Bald schon wurde dieser Dienst zu zweit versehen: ein Pfarrer oder eine Pfarrerin und eine / ein ehrenamtlich in der Gemeindediakonie Mitarbeitende_r empfingen die Hilfesuchenden. Die an den Pfarrhaustüren Hilfe Suchenden verwiesen wir künftig an diese Sprechstunde, bei Telefonnachfragen und im Gemeindebrief machten wir das neue Angebot bekannt. Es wuchs rasant. Bald wurde die Kleiderkammer in ein leerstehendes Appartement im Gemeindehaus verlegt und zur Kleiderstube mit Regalen, Spiegel etc. ausgebaut. Als 2011 infolge einer Umstrukturierung der Gemeinde an der Hardenbergstraße ein Neubau mit Café eröffnet wurde, war darin konzeptionell ein „Kleiderladen im Café“ verankert und entsprechend ausgestattet. Ein eigener Beratungsraum, später ein zweiter und dritter wurden im Gemeindehaus etabliert. Eine Wartezone musste her, da nicht alle, die ab 8:30 Uhr eingelassen wurden, gleichzeitig beraten werden konnten – die Idee mit dem Frühstück im Gemeindesaal war geboren. Ein gemeinsamer Anfang um 9 Uhr mit einem kurzen geistlichen Impuls – und dann die Möglichkeit, bis zum Einlass-

Zwölf Jahre Caritas-Diakonie-Sprechstunde

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schluss um 10:30 Uhr für 50 Cent zu frühstücken. Der Kaffee auf den Tischen ist für alle umsonst. Der Donnerstagnachmittag war gegen den Dienstagvormittag eingetauscht worden, um Ämter und Beratungsstellen vor dem Wochenende kontaktieren zu können. Früh schon hatten wir die Diakonie Düsseldorf, unseren Wohlfahrtsverband, um personelle Unterstützung gebeten. So kam für niederschwellige Vor-Ort-Beratung eine Expertin für aktivierende Sozialarbeit ins Spiel und, als 2010 auf unsere Bitte hin die katholische Ortsgemeinde personell und finanziell in das Projekt einstieg, auch eine Migrationsberaterin der Caritas. Damals wurde die „Diakoniesprechstunde“ in „Caritas-Diakonie-Sprechstunde“ umbenannt. Parallel zu diesen Entwicklungen wuchsen die Teams der ehrenamtlich Engagierten in Beratung, Frühstück und Kleiderladen. Sie wurden für diese interkulturelle Arbeit mit von Armut betroffenen Menschen zugerüstet und geschult. Das Frühstücksteam konnte zunehmend Besucher_innen integrieren und ist inzwischen vollständig aus der Klientel zusammengesetzt. Die jüngste Facette des Angebots ist eine Fahrradbörse; hier werden gespendete gebrauchte Fahrräder von ehrenamtlichen Schraubern in Stand gesetzt und an interessierte Erwachsene und Kinder aus der Caritas-Diakonie-Sprechstunde gegen geringes Entgelt weitergegeben. Alle diese Entwicklungsschritte wurden auf Gemeindeebene vom Diakonieausschuss des Presbyteriums beraten und initiiert und von einem Beirat konzeptionell begleitet, vorbereitet und reflektiert: dem „Arbeitskreis Armut“, in dem neben Akteur_innen zeitweise auch Fachleute für Soziale Arbeit der Hochschule Düsseldorf und Sozialethiker der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe mitarbeiteten. Hier wurden auch Best-Practice-Beispiele aus Düsseldorf und von anderswo rezipiert. Im Mittelpunkt stand stets die Frage, wie ein nicht stigmatisierendes aktivierendes Hilfe-Angebot heute aussehen muss, das zugleich den systemimmanenten Skandal von Ausgrenzung und Armut nicht zudeckt, sondern ins öffentliche Bewusstsein rückt. Und wie sich Kirchengemeinde verändert, verändern muss, wenn arme Gemeindeglieder und Nachbarn selbstverständlicher Teil des Gemeindelebens werden – werden sollen. In der Evangelischen Kirchengemeinde Düsseldorf-Gerresheim sind inzwischen einkommensarme Menschen, ansässige und zugezogene, hier geborene und hierher geflüchtete, Teil des Gemeindelebens. Nicht nur dienstagmorgens in der Sprechstunde, auch an anderen Tagen, im

392 C. Oßwald und B. Schulz    Café, beim Gemeindefest, beim Gemeindeaktionstag, beim Ehrenamts-Dankeschön, bei kulturellen Veranstaltungen und sogar zum Gottesdienst sind sie da; denn dieses Gemeindezentrum ist auch ihr Gemeindezentrum, man bewegt sich in vertrauten Räumen unter vertrauten Menschen. Dass Kirche ernsthaft an ihnen und ihrer Mitarbeit interessiert ist, wird wahr- und angenommen. Es ist kein Massenansturm, nicht die von manchen befürchtete (feindliche) Übernahme, aber wir haben erfolgreich Schwellen gesenkt und Wege gebahnt. Die aktive Gemeinde wurde um Menschen bereichert, die zuvor gar nicht oder nur ganz am Rande vorkamen, als Taufeltern, als Angehörige von Verstorbenen, als Bittsteller, aber nie als Gemeinde mitgestaltende Akteur_innen. Dies hat sich in der Wahrnehmung der Betroffenen, aber auch der anderen aktiven Gemeindeglieder in diesen zwölf Jahren verändert – auch wenn es bis zur gleichberechtigten Teilhabe aller noch ein weiter Weg sein wird. 3

… und noch ein wenig Statistik zum Schluss (Stand 2017)

In der Caritas-Diakonie-Sprechstunde werden an zwei Standorten insgesamt 641 Haushalte mit zusammen 1.798 Personen (980 Erwachsene, 818 Kinder und Jugendliche) beraten; davon sind 927 muslimisch, 250 röm.-katholisch, 239 jesidisch, 143 evangelisch, 112 anders christlich, 62 orthodox, 35 ohne und 21 mit unbekanntem Bekenntnis, 5 buddhistisch und 4 jüdisch. Die meisten Menschen kommen aus Syrien (344), gefolgt von Irak (296), Deutschland (255), Afghanistan (140), Iran (67), Marokko (76), Nigeria (63), Türkei (62), Albanien (50), Mazedonien (38), Italien (37), Rumänien (33) Russland (32), Armenien (27), Eritrea (12), Pakistan (11), andere Nationen (255). Der Wert der spendengedeckten Unterstützungsleistungen betrug 2017 rund 95.000 €, zzgl. 3.000 € Mittagstisch und 12.500 € Weihnachtsgeschenke (Rossmann- und Spielzeuggutscheine). Die eingesetzten Personalkosten, zusammen ca. 1 Vollzeitstelle, werden von den beiden Kirchengemeinden getragen.

  Uta Schütte-Haermeyer

In Europa Willkommen? Anlaufstelle für EU-Zuwander_innen in Dortmund

1

Ausgangslage

Im Jahr 2007 wurden Rumänien und Bulgarien Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, seit 2014 mit uneingeschränkter Freizügigkeit. Freizügigkeit bedeutet dabei nicht zuletzt die Möglichkeit der Zuwanderung in andere EU-Staaten.1 Von dieser haben seitdem viele Menschen aus den neuen EU-2- Staaten Gebrauch gemacht. Und so ist es nicht verwunderlich, dass sich nicht nur die gut gebildeten und hoch qualifizierten Menschen auf den Weg gemacht haben, sondern gerade auch die Menschen, die nicht die Voraussetzungen mitbringen, hier schnell Fuß zu fassen, die wenig Bildung oder gar Berufsabschlüsse mitbringen. Gerade sie leitet oft die Hoffnung, Perspektiven, die ihnen in der Heimat fehlen, in der Fremde zu finden. Auch Dortmund hat in den letzten zehn Jahren einen hohen Zuzug von Menschen aus Bulgarien und Rumänien verzeichnet. Dabei dominierten anfänglich die Zuzüge aus Bulgarien; seit 2011 kommen mehr rumänische als bulgarische Staatsangehörige nach Dortmund. Die folgende Tabelle verdeutlicht die Dimension der Zuwanderung. Demnach waren Ende 2017 85.115 EU-Bürger_innen hier gemeldet. Der Anteil – kaum mehr als ein Prozent der Stadtbevölkerung – täuscht darüber hinweg, dass innerhalb der Stadt eine starke räumliche Kon1

Unionsbürger_innen haben nach dem Freizügigkeitsgesetz / EU ein Recht auf Einreise in einen anderen EU-Mitgliedsstaat, sofern sie im Aufnahmemitgliedsstaat als Arbeitnehmer_in oder Selbstständige im Wirtschaftsleben erwerbstätig oder auf Arbeitssuche sind. Andere – nicht erwerbstätige – Unionsbürger_innen haben dieses Recht, wenn sie im Aufnahmemitgliedsstaat über ausreichende Existenzmittel und ausreichenden Krankenversicherungsschutz verfügen. Das Gleiche gilt für die Familienangehörigen, die den / die Unionsbürger_in begleiten oder zu ihm/ihr nachziehen. Für die Dauer von drei Monaten sind keine Nachweise neben einem Personalausweisdokument erforderlich. Aufenthaltsdokumente, wie eine Freizügigkeitsbescheinigung, sind nicht erforderlich.

394 U. Schütte-Haermeyer    zentration festzustellen ist. Ein Großteil der Zuwander_innen auch aus Bulgarien und Rumänien landet im Stadtbezirk Innenstadt-Nord, der Nordstadt, dem klassischen Ankunftsquartier in Dortmund seit der industriellen Revolution. In der Nordstadt leben heute auf rund 330 ha Wohnbaufläche knapp 60.000 Einwohner_innen der ca. 600.000 Einwohner_innen in Dortmund. Die nördliche Innenstadt ist der Stadtbezirk mit den meisten Kindern und den meisten Arbeitslosen. Mehr als die Hälfte der EU-2Bevölkerung wohnt hier. Der Anteil der EU-2-Bevölkerung liegt hier nicht bei einem, sondern bei 7,6 %, im Bereich des Nordmarkts sogar bei fast 10 %. Allein diese kurzen Angaben machen die immensen Integrationsaufgaben, die die Nordstadt zu bewältigen hat, deutlich. Tabelle 1: Dortmund – Entwicklung der EU2-Bevölkerung 2008 bis 2016

2007 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017

Bulgarien

Rumänien

EU2 gesamt

Vgl. Vorjahr

970 1.335 1.427 1.468 2.000 2.471 2.988 3.416 3.718

624 925 1.098 1.642 2.470 4.109 4.913 4.561 4.797

1.594 2.260 2.525 3.110 4.470 6.580 7.901 7.977 8.515

1.021 586 265 585 1.360 2.110 1.321 76 538

Vgl. Vorjahr (%) 178,2 35,0 11,7 23,2 43,7 47,2 20,1 1,0 6,7

Quelle: Dortmunder Statistik, Stadt Dortmund, Januar 2018.

In dieser Lage wurden die Helfer_innen in der Dortmunder Nordstadt ab 2007 zunehmend auf Menschen aufmerksam, die sich hier nicht zurechtfanden, keinerlei Sprachkenntnisse hatten und geblendet waren von der Vorstellung, in Deutschland schnell und viel Geld verdienen zu können. Angeworben zumeist von fragwürdigen Geschäftemacher_innen, die hier die Lage sondiert hatten und in ihren Heimatdörfern aktiv warben, um dann hier regelmäßig Menschen in ihrer Hilflosigkeit für einschlägige Hilfen zur Kasse zu bitten. Als eine der ersten Dortmunder Hilfsorganisationen wies die Dortmunder Mitternachtsmission auf die wachsende Zahl bulgarischer Prostituierter auf dem Dortmunder Straßenstrich hin. Sie informierte Frauen – nicht selten noch minderjährig – mit mangelnden oder gänzlich fehlenden Kenntnissen über die Rechte und Pflichten bei der Ausübung ihres

In Europa willkommen?

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Berufes und beriet sie in Fragen der Gesundheitsprävention oder Verhütung. Und sie machte auf Ausbeutungsstrukturen aufmerksam. Auch in anderen Hilfsorganisationen sahen sich Kolleginnen und Kollegen zunehmend mit völlig ausweglosen Situationen konfrontiert, die sie bisher nicht erlebt hatten. 2

Übergangsphänomen oder Dauermigration?

Besonders schwierig war die Situation zwischen 2007 bis 2013, da es durch die eingeschränkte Freizügigkeit praktisch keinen freien Arbeitsmarktzugang für sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen gab. Dies traf Geringqualifizierte unverhältnismäßig hart. Sie gerieten durch diese Regelung in existenzielle Notlagen, weil sie in der Regel weder Geld verdienen konnten noch ein Anrecht auf staatliche Transferleistungen hatten. Einziger Ausweg war die Selbstständigkeit. Eine EU-Arbeitserlaubnis, zwingende Voraussetzung für die Aufnahme einer legalen, sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, wurde mit Abgleich der Arbeitslosenstatistik, die ergab, dass es im Bereich der Helfertätigkeiten ausreichend arbeitsuchende deutsche Bewerber_innen gab, abgelehnt. Dies hat bis heute aber auch zur Folge, dass die Sicherung des Wohnraums gefährdet und der Zugang zur gesundheitlichen Versorgung nur über eine private Versicherung möglich ist. Vorhandene Maßnahmen der Arbeitsmarktintegration greifen für diese Gruppen auch nicht, da sie keinen Zugang zum Sozialsystem haben und somit wesentliche Zugangsvoraussetzungen für integrative Leistungen nicht gegeben sind. Damit sind die Grundlagen für eine menschenwürdige Existenz quasi entzogen. Daraus folgt, dass sich zunehmend Menschen in verfestigten Armuts- und Ausbeutungsstrukturen befinden, mitunter auch in Verelendung, für die es trotz schwierigster Rahmenbedingungen oftmals keine Option ist, in ihre Herkunftsländer zurückzukehren. All dies erinnerte an die Zeiten der Frühindustrialisierung und an Johann Hinrich Wichern, der sich Mitte des 19. Jahrhunderts mit ähnlichen Phänomenen konfrontiert sah. Erschwerend kam hinzu, dass es sich um ein Thema handelt, „das mit Ängsten und manchmal auch mit Abwehrhaltungen verbunden ist, die mehr oder weniger irrational unseren öffentlichen Diskurs verwirren.

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U. Schütte-Haermeyer 

Und darum ist es so wichtig, dass wir eine rationale, auf Fakten gestützte Debatte zur Norm machen.“2

Denn nicht wenige der Zuwander_innen werden im öffentlichen Diskurs der ethnischen Minderheit der Roma zugeschrieben. Die sprunghafte Zuwanderung stellt für die Stadtgesellschaft eine große Herausforderung dar und weckt Ängste, mitunter auch Vorurteile. Gefüttert durch eine mediale Berichterstattung, welche mit den Zutaten „Ethnisierung der Probleme“ und den Bildern von wartenden Tagelöhnern aus Bulgarien und Rumänien Ängste und Rassismus weiter schürt. Positive Berichterstattungen, die Erfolge und Chancen der Zuwanderung zeigen, sind immer noch selten, und Zuwander_innen aus Bulgarien und Rumänien erleben keine Willkommenskultur. Um die Einwanderung in Sozialsysteme zu verhindern, ist am 29.12.2016 das Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitssuchende SGB II und in der Sozialhilfe SGB XII in Kraft getreten. Demnach sind Überbrückungsleistungen möglich, diese beschränken sich aber auf einen Monat. Rückreisekosten können als Darlehen gewährt werden. Die Jurist_innen streiten sich ob der Verfassungskonformität dieses Gesetzes und es bleibt abzuwarten, ob sich in absehbarer Zeit etwas ändert. Für die betroffenen Kommunen hat dies aber Konsequenzen: Die Verelendung der Menschen nimmt zu. Als Abwehrstrategie scheint das Instrument ungeeignet, denn es hält die Menschen nicht davon ab, zu kommen. Dortmund hat aktuell den höchsten Stand an Zuwander_innen aus Rumänien und Bulgarien seit dem Beitritt der beiden Länder zur EU. Um aus dem Zustand der Hilflosigkeit herauszukommen, haben sich einige Akteure Anfang 2011 zur Gründung eines Netzwerkes zusammengefunden. Fragen nach Möglichkeiten der Hilfen und was es zu entwickeln gilt, um effektiv zu helfen, stehen im Vordergrund. Schnell war klar: Allein ist hier nicht weiterzukommen, sind wir doch im Wesentlichen mit Regelungsdefiziten der EU konfrontiert, deren Änderung wir vor Ort aber nicht abwarten können. Die kommunalen Vertreter_innen der Sozialplanung waren sehr schnell an unserer Seite, und sehr bald hat sich auch ein gemeinsames Verständnis zu den Vorgehensweisen entwickelt. Handlungsleitende Punkte waren und sind: 2

Bundespräsidialamt, Joachim Gauck im Gespräch mit dem Sachverständigenrat, 1.

In Europa willkommen?

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– Die Debatte um die EU-Zuwanderung muss versachlicht werden, dazu müssen die Probleme genau analysiert werden, um Hilfen zu entwickeln und Teilhabe zu ermöglichen. – Für die Menschen, die bleiben wollen, gibt es keine Alternative zur Integration. Letzteres hat der Rat der Stadt Dortmund 2013 so beschlossen, was die Grundlage für die Implementierung von umfassenderen Hilfen war. Mit dem ersten muttersprachlichen Projekt für die Zielgruppe, SchrittWeise (2011−2014), einem Projekt, das Zugänge zur und Hilfen zur schulischen Integration von Grundschulkindern aus Bulgarien und Rumänien ermöglichen sollte, konnten wichtige Grundlagen geschaffen werden. 3

Die ökumenische Anlaufstelle für EU-Zuwander_innen, eine Entscheidung für Kooperation und gegen Konkurrenz

Gemeinsam mit der Caritas vor Ort hat das Diakonische Werk früh die Idee einer zentralen Anlaufstelle für EU-Zuwander_innen entwickelt. Mit der Bündelung der Hilfen, muttersprachlichen, multiprofessionellen Teams und aufsuchender Arbeit sollte gleichzeitig Lobbyarbeit erfolgen, um auf die zahlreichen Regelungsdefizite, die mit der EU-Zuwanderung einhergingen, aufmerksam zu machen. Umsetzen ließ sich die Idee nur in der Kombination von verschiedenen Fördersträngen. Mit der Eröffnung der Ökumenischen Anlaufstelle für EU-Zuwander_innen „Willkommen Europa“ am 14.06.2014 in der Dortmunder Nordstadt wurden drei Projekte zusammengefasst und in drei Handlungsfelder aufgeteilt: 1) Team Start-Hilfe (soziale Integration mit dem Ziel der Erstorientierung) 2) Team Familie (Beratung und Begleitung von Familien) 3) Team Arbeit & Kompetenzfeststellung (mit dem Ziel der Arbeitsmarktintegration) Träger wurden neben der Caritas und der Diakonie nun auch dobeq, eine Tochter der AWO, und GrünBau, ein paritätisches Unternehmen. Innerhalb der Anlaufstelle partizipieren wir an unterschiedlichen Förderprogrammen − u.a. an dem Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen in Deutschland (EHAP), dem Europäischen Sozialfond (ESF), dem Landesjugendförderplan, kommu-

398 U. Schütte-Haermeyer    naler Förderung, Mitteln des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sowie dem Programm Bildung, Arbeit und Wohnen im Quartier (BIWAQ). Inzwischen ist die Ökumenische Anlaufstelle deutlich expandiert. Im Jahr 2017 sind etwa 30 Mitarbeiter_innen in neun Projekten komplett in der Anlaufstelle verortet oder sie stehen in direkter wöchentlicher Arbeitsbeziehung mit der Anlaufstelle. Keines der Projekte wird von einem Träger alleine durchgeführt, sie sind allesamt Kooperationsprojekte. Die Entscheidung gegen Konkurrenz und für Kooperation hat sich als sehr fruchtbar erwiesen. Wir entwickeln Projekte zur Erstorientierung und bieten institutionell aufsuchende Beratung, beispielsweise bei den Meldebehörden, an. Letzteres wurde nötig, als wir mit unseren Netzwerkpartner_innen feststellten, dass vermeintliche „Helfer“ ihre Dienst vor allem dort anboten und bei der Anmeldung für eine Familie gleich auch schon mal drei Lkws ohne deren Wissen und auf deren Namen mit anmeldeten. Diese Fahrzeuge, die nur auf Druck der Helfer durch die Familien, oft ohne deren Kenntnis, mit angemeldet wurden, tauchten dann schon mal als Fluchtfahrzeuge für Diebstähle auf. Wir erheben Kompetenzen und vermitteln mit Hilfe des NRW-Programms „Starke Menschen – Starke Quartiere“ Menschen in Arbeit und sind gerade bei den geringqualifizierten Menschen durchaus erfolgreich. So haben wir in 2017 rund 1.000 Menschen allein im Bereich der Arbeitsmarktintegration beraten, mit 300 Menschen eine Kompetenzfeststellung durchgeführt und 375 Menschen in Arbeit vermitteln können.3 Wir haben muttersprachliche Familienbegleiterinnen, die in enger Zusammenarbeit mit dem Jugendamt arbeiten. Sie bieten konkrete Hilfe bei der Bewältigung der Aufgaben an und haben die Systemkenntnisse, um auch mit den Herkunftsländern kommunizieren zu können. Sie helfen dabei, sprachliche und kulturelle Hemmnisse bei der Aneignung und Wahrnehmung von Bildungs- und Förderangeboten abzubauen und Schwellenängste gegenüber den Diensten der Jugendhilfe zu überwinden.

3

Im Einzelnen gestaltete sich die Arbeitsvermittlung folgendermaßen: 89 MiniJob befristet; 4 MiniJob unbefristet; 92 Teilzeit befristet; 1 Teilzeit unbefristet; 165 Vollzeit befristet; 6 Vollzeit unbefristet; 4 selbstständig; 9 Ausbildung und 5 Tagesjobs.

In Europa willkommen?

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Wir bilden eigene Fachkräfte in einem Dualen Studiengang zusammen mit der Fachhochschule Dortmund als Sozialarbeiter_innen aus. Die ersten Studierenden werden in diesem Jahr ihren Abschluss machen und stehen dann als muttersprachliche Sozialarbeiter_innen zur Verfügung. In der Anlaufstelle bieten wir 15 Sprachen an. Die Besucherzahlen beliefen sich von Januar bis August 2017 auf 2.490 Menschen. Zwischen 60 und 120 Menschen nutzen wöchentlich die Anlaufstelle. Die muttersprachlichen Familienbegleiter_innen haben Kontakt zu 400 Familien mit etwa 1.000 Kindern. Alle Mitarbeiter_innen in der Anlaufstelle sprechen mindestens eine der Sprachen der Herkunftsländer der Ratsuchenden. Vornehmlich Bulgarisch und Rumänisch, inzwischen zunehmend auch Spanisch, Polnisch und Italienisch. Nach wie vor wird der Ansatz der aufsuchenden Arbeit verfolgt. Immer noch kommen viele hilfebedürftige EU-Bürger_innen, die unter dem Existenzminimum leben, Hunger haben und für die sich niemand zuständig fühlt. Ohne Spendengelder wäre es nicht möglich, den Menschen Hilfen wie Lebensmittelgutscheine oder Schulmaterialien für die Kinder mitzugeben. Oft ist es die einzige materielle Hilfe, die diesen Menschen angeboten werden kann. Der Zugang zur Dortmunder Tafel oder zu anderen Notfallhilfen ist für Menschen, die keinen Anspruch auf staatliche Leistungen haben, versperrt. 4

Netzwerkarbeit als Erfolgsfaktor

Daher ist die Zusammenarbeit bzw. Kooperation heute sinnvoller und notwendiger denn je und der Kitt, der das Konstrukt der Anlaufstelle zusammenhält und die gute Zusammenarbeit im Dortmunder Netzwerk so fruchtbar macht. Ohne zusätzliche finanzielle Mittel organisieren sich alle Akteure im Netzwerk. Das anfänglich kleine Netzwerk wuchs stetig an und heißt heute „Dortmunder Netzwerk EU-Armutswanderung“. Die Steuerung übernahmen zunächst drei Mitarbeiter_innen der freien Träger (hier: Caritas und Diakonie) und der Stadt Dortmund (Sozialdezernat). Im Jahr 2014 war die Anzahl der Teilnehmer_innen so stark angewachsen, dass nur noch Informationsvermittlung möglich war. Eine vertiefte inhaltliche Weiterarbeit wurde notwendig und eine Umstrukturierung in thematische Fachgruppen erfolgte.

400 U. Schütte-Haermeyer    Die daraus entstandene „Dortmunder Gesamtstrategie Neuzuwanderung“ ist zum Erfolgsmodell geworden und findet bundes- und europaweite Beachtung. Inzwischen wurden die beiden Bereiche EU-Zuwanderung und Flüchtlingszuwanderung im Rahmen der Gesamtstrategie miteinander verschnitten, es gibt aktuell neben den Fachgruppen neun Handlungsfelder mit zentralen Koordinator_innen. Auf der Steuerungsebene, auf der Handlungsfeldebene sowie auch in den jeweiligen thematischen Fachgruppen gibt es Tandem-Lösungen: eine gemeinsame Leitung bzw. Besetzung durch jeweils eine Person der Behörde und eine Person eines freien Trägers. Die Zusammenarbeit auf Augenhöhe und der anhaltende Austausch sind für das Gelingen unabdingbar. Der Multiperspektiv-Blick macht die Qualität aus. Im Rahmen der „Dortmunder Gesamtstrategie Neuzuwanderung“ und den dazugehörenden Fachgruppen sind aktuell zwischen 200 und 300 Akteure im Feld aktiv und erreichbar. 5

Fazit

Wir haben viel geschafft, aber es reicht nicht. So lässt sich unsere Arbeit bilanzieren. Es kommen immer mehr Menschen, denen wir nicht helfen können, die zunehmend verelenden und denen hier keinerlei Perspektive eröffnet werden kann, die aber auch nicht zurück in ihre Heimatländer wollen. Diese wachsende Hoffnungslosigkeit ist für die Hilfesuchenden unerträglich, aber auch für die Helferseite eine zermürbende Situation. Inzwischen verzeichnen wir zunehmend Suchterkrankte, psychisch Kranke, obdachlose Familien und eine Parallelwelt von Ausbeutungsstrukturen auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, weil wir als Stadtgesellschaft weitgehend alleingelassen sind mit den Problemen. Der Ruf nach Veränderungen in den Herkunftsländern ist richtig, aber ebenso unbefriedigend, denn die Menschen in unseren Beratungen brauchen jetzt Hilfe. Die transnationalen Austausche haben mich persönlich auch eher resigniert zurückgelassen. Ich hoffe kaum noch auf schnelle Veränderungen in den Herkunftsländern. In einer Situation, in der selbst Nothilfen, die zur Erhaltung der Menschenwürde eigentlich Konsens sein sollten – Essen und Trinken, ein Dach über dem Kopf, eine gesundheitliche Basisversorgung –, vom Hilfesystem nur unzureichend oder gar nicht angeboten werden können, sind auch die Kolleg_innen der Anlaufstelle rat-, aber nicht tatenlos. All dies führt nicht dazu, dass wir in Dortmund in unseren Bemühungen nachlassen, aber nach nun elf Jahren des Beitritts der EU-2-Länder ist es

In Europa willkommen?

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nicht mehr haltbar, dass die enormen sozialen Disparitäten in Europa auf dem Rücken von Stadtgesellschaften ausgetragen werden. Es braucht eine Entscheidung für eine menschenwürdige Grundversorgung. Die befürchteten Anziehungsfaktoren existieren und sind nicht klein zu reden. Die Konsequenzen, sich dagegen zu entscheiden, sind aber auch nicht klein zu reden. Ohne hier Einzelfälle zu skandalisieren, sind wir an einem Punkt, wo es Nothilfen für diese „Gestrandeten“ geben muss, um Schlimmeres zu verhindern und Gefahren für Leib und Leben abzuwenden. Es braucht Programme für „Gestrandete“ mit einer zeitlich befristeten Unterbringung zum Clearing der Situation. Dazu sollte zudem eine Strategie entwickelt werden, die eine noch engere Verzahnung zwischen ordnungsbehördlichen und helfenden Maßnahmen beinhaltet. Zudem benötigen wir umgehend eine niederschwellige Unterbringung für Frauen mit Kindern ohne Sozialleistungsanspruch mit einem Clearingprogramm zur Klärung des weiteren Vorgehens sowie ein geordnetes Rückführungsverfahren, mit echten Perspektiven in Heimatländern. Literatur Bundespräsidialamt (Hg.), Bundespräsident Joachim Gauck beim Gespräch mit dem Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration am 12. April 2013 in Schloss Bellevue, online: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Downloads/DE /Reden/2013/04/130412-Sachverstaendigenrat.pdf?__blob= publicationFile (Zugriff: 06.04.2018).

  Ulrich T. Christenn

Armut als Herausforderung für Kollektenwesen und Fundraising

Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen sammeln Spenden für ihre Arbeit zu Gunsten von bedürftigen und armen Menschen. In diesem Artikel werden die historischen Hintergründe kurz erläutert, Herausforderungen und Gefahren für Fundraising im Zusammenhang mit dem Thema Armut aufgezeigt und Hinweise sowie Praxis-Tipps für den Fundraising-Alltag gegeben. 1

Kollekte als dankbare Antwort auf Gottes Dienst

„... und im Klingelbeutel sammeln wir wie jeden Sonntag für diakonische Aufgaben unserer Gemeinde, für die Armen und Bedürftigen. Und die Kollekte am Ausgang ist für einen Zweck, den die Landeskirche festgelegt hat.“

So oder so ähnlich wird in zahlreichen Gemeinden die Kollekte angekündigt. Mehr pflichtbewusst als empathisch. Selten wird ausführlicher auf den Zweck der Ausgangskollekte eingegangen und noch weniger Rechenschaft über die Verwendung der Klingelbeutel-Gelder abgelegt. Gleichzeitig ist die Kollektenpraxis in den Kirchengemeinden ein hohes Gut. Die dankbare Antwort der Gemeinde auf Gottes Gaben, das selbstverständliche Teilen, das Abgeben vom eigenen Besitz zu Gunsten von Notleidenden und Bedürftigen ist tief verankert in der christlichen Glaubenspraxis. Das lässt sich sogar statistisch zeigen. Regelmäßige Gottesdienstbesucher_innen spenden häufiger als die Durchschnittsdeutschen: evangelische viermal mehr, katholische zweieinhalbmal mehr. Kollekte und Klingelbeutel gehören also wie das Amen zur Kirche. Sie sind eine gute, alte Tradition. Schon im Alten Testament ist von freiwilligen Gaben, die vom Herzen kommen, die Rede; mit denen wurden die kultische Arbeit am Tempel und soziale Belange finanziert. Damals ging es um den „Zehnt“: Der zehnte Teil allen Einkom-

Kollektenwesen und Fundraising

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mens sollte Gott gegeben werden. Im Neuen Testament gingen die ersten Christ_innen sogar noch weiter. Sie teilten im Licht des nahe erwarteten Gottesreiches ihre gesamten Habseligkeiten – als Liebeskommunismus wurde das später abfällig bezeichnet. Dass schon damals nicht alles glatt lief, zeigt die Wahl der sieben Armenpfleger, von denen Stephanus einer war. Sie sollten dafür sorgen, dass die übriggebliebenen Speisen vom Abendmahl tatsächlich die Bedürftigen, vor allem die Witwen, erreichten. Und Paulus selbst begab sich auf Kollektenreisen und schrieb mit flammenden Worten Bittbriefe an Gemeinden, um bei den Heidenchristen um finanzielle Unterstützung für die darbende judenchristliche Gemeinde in Jerusalem zu bitten. Diese Solidarität über den Tellerrand der eigenen Gemeinde hinweg in Form einer Kollekte lag Paulus am Herzen, denn so schreibt er: „Gott liebt den, der fröhlich gibt“. Oder wie es Luther übersetzt hat: „Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb“ (2.Kor 9,7). Nicht Zwang oder schlechtes Gewissen sind der Grund für die Gabe. Kollekten waren für die ersten Christ_innen eine freiwillige Gabe aus Liebe heraus. Sie waren für sie keine Opfergabe, um einen Gott gnädig zu stimmen oder um sich einzukaufen in die Liebe eines Gottes. 2

Armut und Bettel als Stachel im Fleisch der Gemeinde

Diese Motivation hat sich im Mittelalter spätestens mit der Lehre vom Fegefeuer gewandelt. Sodass es für Luther eine große Herausforderung war, auf der einen Seite die bedingungslose Rechtfertigung durch den Glauben zu predigen und auf der anderen Seite dennoch die Notwendigkeit zu betonen, dass Spenden und Dienste zu Gunsten von Armen – im wahrsten Sinne des Wortes – notwendig seien. Luther und mit ihm andere Reformatoren lehnten besonders das Almosengeben als gutes Werk ab, wie sie überhaupt die Bettelei verabscheuten. Dennoch sahen sie eine große Verantwortung der Christ_innen für arme Glaubensgeschwister. Die Nürnberger Almosenordnung von 1522 bringt dies so zum Ausdruck: „was kann unter uns Christen für glaubensloser und schändlicher befunden werden, als offen zu dulden und zuzuschauen, dass die, welche mit uns in einem Glauben und in einer einzigen christlichen Gemeinschaft mit uns vereint, und in jeder Hinsicht gleich und von Christus so aufwendig und teuer erkauft und deshalb auch mit uns zugleich Glieder und Nachfolger Christi sind, dass die Not, Armut, Mangel und Bedrängnis erleiden, ja auf den Gassen und in den Häusern öffentlich verhungern“1. 1

Des Rats der Stadt Nürnberg Ordnung des Großen Almosens, 63.

404 U.T. Christenn    Darum entstanden in mehreren Städten zur Zeit der Reformation Kastenordnungen. Eine erste Form des geregelten Spendenwesens und der systematischen Verteilung der Mittel als Ersatz für ein Almosenwesen, das auf Mitleid, Barmherzigkeit und Angst vor dem Fegefeuer basierte. Auf der einen Seite wurde die Vergabe der Mittel an den Nachweis einer tatsächlichen Bedürftigkeit geknüpft. Und auf der anderen Seite wurde strategisch und wiederholt um Spenden geworben. Für die erste Aufgabe musste eine Verwaltung mit ehrbaren Bürgern aufgebaut werden. Die zweite Aufgabe sollten die Pastoren übernehmen. So beschreibt es die Almosenordnung der Stadt Nürnberg von 1522: „Damit das gemeine Volk ermuntert werde, seinen Beitrag und seine Unterstützung für dieses große, ansehnliche Almosen umso reicher zu leisten, sollen die Leute von den Predigern auf den Kanzeln dazu getreulich und ernst um Christi willen ermahnt und später in ihren anderen Predigten ohne Unterlass daran erinnert werden.“2 Diese zwei Fragen wurden immer – bis heute – gestellt: Wie kann Betrug durch die Empfänger_innen vermieden und wie können Menschen zum Spenden motiviert werden? In seiner Schrift „Verfluchte heilige Almosen“ von 1710 plädiert Georg Christoph Brendel für ein geregeltes Spendenwesen, bei dem ein ehrenamtlicher Verwalter das Geld verteilt. Nachweise über die zweckgemäße Verwendung sollte es dabei aber nach Möglichkeit nicht geben, denn wer einen solche Nachweis einfordert, ist voll Misstrauen: „Denn sobald die Leute rechnen, wie viel ihr Beitrag jährlich austrägt, sobald macht sie ihre Vernunft misstrauisch gegen Gott und geizig oder unbarmherzig gegen den Nächsten.“3 Selbst der Begründer der Inneren Mission, Johann Hinrich Wichern, musste sich im 19. Jahrhundert diesen Fragen stellen: „Es kommt eben darauf an, die Lage derer, von welchen diese Angriffe auf die Wohltätigkeit ausgehen, scharf zu prüfen, und das, was auf dem Papier steht, mit der Wirklichkeit zu vergleichen […]. Wir freuen uns, durch die Liebe wohlwollender Freunde dann zu Vermittlern der Hilfe gemacht worden zu sein und haben überall nach Kräften das Unsrige dazu getan, nicht nur mit toter Hand eine tote Gabe hinzulegen, sondern mit Rat und persönlicher Handreichung den Armen nahe zu treten und ihnen auch anderweitige Wege der Hilfe zu öffnen.“4

2

Des Rats der Stadt Nürnberg Ordnung des Großen Almosens, 69. Brendel, Das verfluchte heilige Almosen, zit. n. Hennig, Quellenbuch, 80. 4 Johann H. Wichern, Die evangelische Johannesstiftung und das Johannesstift in Berlin (1860), zit. n. Hennig, Quellenbuch, 373. 3

Kollektenwesen und Fundraising

405 

Barb Madoyn, Mit-Organisator der Quäkerspeisung nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland und einer der ersten professionellen Fundraiser in den USA, sammelte für das American Friends Service Committee (AFSC) Spenden. Er fasst die Problematik nüchtern und gelassen zusammen: „Es gibt tausend und mehr Gründe nicht zu helfen. Das sind alles Ausreden. Wer nie betrogen wurde, der hat nie geholfen.“ 3

Kollekten und Fundraising heute

Auf heute übertragen, lässt sich die geschichtliche Erfahrung so zusammenfassen: – Menschen müssen immer wieder davon überzeugt werden zu spenden. – Statt eines rein barmherzigen Almosengebens braucht es ein geordnetes Spendenwesen. – Die Verteilung der Mittel muss organisiert und transparent durchgeführt werden. – Gleichzeitig soll die Verteilung nicht unbarmherzig und bürokratisch sein. – Eine Spende ist auch eine Äußerung des Glaubens. 3.1

Menschen müssen immer wieder davon überzeugt werden zu spenden

Es gehört zu den Binsenweisheiten des Fundraisings: Wer nicht immer wieder davon spricht, dass er Spenden benötigt, wird weniger erhalten. Das gilt für den Spendenaufruf zur Diakoniesammlung im Gemeindebrief genauso wie für die Information zum Kollektenzweck im Gottesdienst. Wenn der Kollektenzweck ausführlich, informativ und sogar mit persönlichem Aufruf vorgetragen wird, dann führt das zu einer größeren Kollekte. Im Zusammenhang mit dem Thema Armut müssen bei Spendenbitten ein paar Dinge beachtet werden. Effekthascherische Bilder, die die Not der Bedürftigen entwürdigend darstellen, oder Schilderungen der Armut mit Klischees sind abzulehnen. So haben sich viele Hilfsorganisationen dazu verpflichtet, keine Fotos mehr zu verwenden, bei denen Bedürftige von oben herab fotografiert werden. Stattdessen sind Bilder auf Augenhöhe gewünscht, die fair und würdevoll nicht die Not, sondern die Hilfe zeigen. Auch die klischeehafte Beschreibung von armen Menschen mit Zigaretten, Bierflasche oder SlangSprache ist ebenso zu vermeiden wie zu suggerieren, dass die Spen-

406 U.T. Christenn    derinnen und Spender etwas Besseres sind. Schon ein harmlos kleingender Satz bei der Ankündigung für den Klingelbeutel kann exkludieren. „Bitte geben Sie reichlich für die Armen unserer Gemeinde“ suggeriert, dass in der Gottesdienstgemeinde selbst keine Armen sitzen. Besser wäre eine Formulierung, die inklusiv ist: „Wir sammeln für Bedürftige unter uns.“ 3.2

Statt eines rein barmherzigen Almosengebens braucht es ein geordnetes Spendenwesen

Es ist so, dass bei großen, medial verbreiteten Katastrophen die Spendenbereitschaft auch für andere Zwecke als für die Katastrophenhilfe sprunghaft ansteigt. Spontanes Mitleid öffnet die Brieftaschen. Für die meisten Aufgaben sozialen Engagements braucht es aber ein kontinuierliches Spendenaufkommen. Deshalb muss Fundraising als dauerhafte Aufgabe verstanden werden, auch über die Vorweihnachtszeit hinaus. Die spontane Hilfsbereitschaft bei Katastrophen kann ohne geordnetes Spendenwesen schnell an ihre Grenzen kommen. Besonders Sachspenden sind eine Herausforderung. Hier sind Spenderinnen und Spender sehr großzügig dabei, ihre Keller und Dachböden leerzuräumen mit Dingen, die „ja noch gut sind und die man noch gebrauchen kann!“ Ob diese Sachspenden wirklich gebraucht werden, ob sie in Qualität und Funktion dem Bedarf der Bedürftigen entsprechen, wird meist nicht gefragt. Der Aufwand, Sachspenden zu sichten, sortieren, lagern, transportieren und zu verteilen, ist immens und übersteigt oft den Wert der Ware. Hinzu kommt, dass lokale Märkte und Produzenten, die von der Katastrophe nicht betroffen sind, durch Sachspenden benachteiligt werden. Statt einen Überseecontainer mit westeuropäischer Kleidung in ein Katastrophengebiet in Asien zu schicken oder Lebensmittel und Medikamente im Lkw nach Osteuropa zu fahren, wäre es besser, auf lokalen Märkten die benötigten Waren zu kaufen, um so die Wirtschaft vor Ort zu stärken und Arbeitsplätze zu sichern. Bei Sachspenden ist zudem darauf zu achten, dass die Ware nicht zu einer Stigmatisierung der Empfängerinnen und Empfänger führt. Es kann – nicht nur für Jugendliche – sehr demütigend sein, Kleidungsstücke tragen zu müssen, die komplett aus der Mode sind. Deswegen sind viele Hilfsorganisationen dazu übergegangen, lieber preiswerte Neuware zur Verfügung zu stellen als minderwertige Gebraucht-Gegenstände.

Kollektenwesen und Fundraising

3.3

407 

Die Verteilung der Mittel muss organisiert und transparent durchgeführt werden

Über Jahrhunderte hat sich in den Kirchen ein geordnetes Kollektenwesen entwickelt. In den drei Evangelischen Landeskirchen im Rheinland, Westfalen und Lippe hat sich dabei das zweifache Kollektieren herausgebildet. Die Einnahmen im Klingelbeutel liegen ganz in der Hoheit der Gemeinde und damit in Verantwortung des Presbyteriums. Die Ausgangskollekte wird als übergemeindliche solidarische Sammlung verstanden, für die meist das Landeskirchenamt verantwortlich ist. Beide Systeme sind die gut organisierte Antwort auf die Problematiken, die schon die Ur-Gemeinde in Jerusalem, Luther oder Wichern gesehen hatten: Wie kommen die Spenden den wirklich Bedürftigen zu Gute? Da entscheiden Diakonieausschüsse, Presbyterien oder die Pfarrerinnen und Pfarrer über die Verwendung. Dort gibt es Vergabeausschüsse und Fachreferenten im Landeskirchenamt oder dem Diakonischen Werk, die die Kollektengelder nach fachlichen Kriterien mit Antragsformularen, Verwendungsnachweisen und Sachberichten an Projekte und Einrichtungen verteilen. Alles wohl organisiert und vom Neuen Kirchlichen Finanzwesen abgesegnet. Aber ist dieses Verfahren auch transparent? Zu wenig erfahren die Gottesdienstbesucherinnen und -besucher, was mit ihrem Euro passiert, den sie vertrauensvoll in die Kollekte geben. Auch vielen regelmäßigen Kirchgänger_innen ist zum Beispiel unklar, was sich hinter „diakonische Zwecke“ bzw. „für Diakonie der Gemeinde“ verbirgt, wie es die Verwaltungsordnungen der Landeskirchen formulieren. Darum sollten die Pfarrerinnen und Pfarrer oder die Diakonie-Presbyterinnen und -Presbyter regelmäßig erzählen, was mit den Kollektengeldern passiert. Zur Transparenz gehört es dann auch, wahrhaftig zu berichten, wenn die Diakonie-Rücklage angewachsen ist, weil es mehr Spenden gab, als verteilt werden konnten. Das ist vor allem in solchen Gemeinden Realität, die selbst kaum noch diakonische Aktivitäten vorweisen können und sich gleichzeitig scheuen, Gelder aus der Diakonie-Rücklage für andere diakonische Einrichtungen zur Verfügung zu stellen. Im Bereich der Armutsbekämpfung empfiehlt es sich aber gerade, dass Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen zusammenarbeiten. Ein Beispiel ist ein Fonds für Einzelfallhilfen, der einer Beratungsstelle zur Verfügung gestellt wird.

408 U.T. Christenn    3.4 Gleichzeitig soll die Verteilung nicht unbarmherzig und bürokratisch sein Wenn die Verteilung der Mittel gerecht und transparent sein soll, dann braucht es Kriterien und Regeln. So etwas schützt vor Missbrauch und Betrug. Solche klaren Regelungen führen immer auch dazu, dass es Härten gibt und Fälle, die aus den Standards herausfallen. Angesichts der immer höher gesetzten Anforderungen von staatlichen Hilfsgeldern sollten Kirchengemeinden und Diakonische Einrichtungen überlegen, inwieweit Spenden und Kollekten auch eine barmherzigere Vergabe möglich machen. Muss die kleine Hilfsorganisation in Südamerika wirklich jegliche Ausgabe nach europäischen Rechnungslegungsvorschriften nachweisen? Muss eine Familie ihre Einkommen komplett offenlegen, um den Zuschuss zur Konfirmandenfreizeit zu bekommen? Eine Hilfe sollte aber auch in dem Sinn nicht unbarmherzig sein, dass man sich durch eine Spende schnell freikauft, um einen lästigen Bittsteller loszuwerden bzw. um sich nicht mit Leid und Not auseinandersetzen zu müssen. Eine Falle, die viele Pfarrerinnen und Pfarrer oder Mitarbeitende in Sozialen Diensten kennen. Wie einfach ist der Griff in die Handkasse (wenn es die noch gibt) oder das Verteilen von Lebensmittel-Gutscheinen. Wie schwer ist es dagegen zuzuhören, nach ganzheitlichen Hilfen zu suchen und an die richtigen Angebote wieterzuvermitteln. Ganz so, wie es Johann Hinrich Wichern gemacht hat. 3.5

Eine Spende ist auch eine Äußerung des Glaubens

Nicht nur die Kollekte im liturgischen Rahmen eines Gottesdienstes, letztlich jede Spende aus dem christlichen Glauben heraus ist eine Äußerung dieses Glaubens. Der Akt des Abgebens und Teilens geschieht dann auch im Vertrauen darauf, dass es letztlich Gott ist, der diese Gabe zum Segen für andere werden lässt. Diese Haltung bewahrt vor Machbarkeitswahn, Kontrollzwang und Erfolgssehnsucht und steht gegen einen effektiven Altruismus, der nur nach dem effizientesten Einsatz der Mittel fragt. Stattdessen steht der verbindende Akt des Teilens, der Gemeinschaft stiftet, im Vordergrund. Statt zu fragen: Was machst Du daraus? Heißt es: Du bist mir so viel wert, dass ich dir etwas abgebe!

Kollektenwesen und Fundraising

409 

Literatur Des Rats der Stadt Nürnberg Ordnung des Großen Almosens für die Hausarmen (1522), in: Theodor Strohm / Michael Klein (Hg.), Die Entstehung einer sozialen Ordnungen Europas, Bd. 2: Europäische Ordnungen zur Reform der Armenpflege im 16. Jahrhundert (VDWI 23), Heidelberg 2004, 62−74. Hennig, Martin, Quellenbuch zur Geschichte der Inneren Mission, Hamburg1912.

 

 

6 Perspektiven & Strategien

 

  Alexander Dietz

Armut – Gemeinde – Sozialraum

1

Teilhabedefizite treten stets in einem konkreten Sozialraum auf

Weil Teilhabe nichts Abstraktes, Ortsloses ist, sondern nur von bestimmten Menschen an bestimmten Orten im Blick auf bestimmte Aspekte erfahren werden kann, darum ist auch Armut, verstanden als mangelnde gesellschaftliche Teilhabe, nichts Abstraktes, sondern hat immer einen physischen, räumlichen Bezugspunkt. Teilhabe wird in der Regel vor Ort ermöglicht oder gar nicht. Ein Lebensraum, ein Gemeinwesen bietet für die Bewohnerinnen und Bewohner beispielsweise bestimmte Wohn-, Arbeits-, Einkaufs- und Freizeitgestaltungsmöglichkeiten. Sind die Mieten zu hoch, werden Menschen mit geringem Einkommen ausgegrenzt. Gibt es keine Fahrstühle, wird älteren Menschen und Menschen mit Gehbehinderungen, die keine Wohnung im Erdgeschoss bekommen haben, die Teilnahme an kulturellen Angeboten unmöglich gemacht. Gibt es keine Ärzte vor Ort, ist die medizinische Versorgung für Menschen ohne Auto nicht gewährleistet. Gibt es keine öffentlichen Verkehrsmittel, ist der Bewegungsradius bestimmter Bevölkerungsgruppen auf die unmittelbare Nachbarschaft beschränkt. Insbesondere für die steigende Anzahl von Menschen, für die Erwerbsarbeit als entscheidender Faktor für gesellschaftliche Teilhabe nicht, noch nicht oder nicht mehr möglich ist, wird das Gemeinwesen zum entscheidenden Ort von Teilhabemöglichkeiten. In den letzten Jahren hat sich der sozioökonomische Wandel stark im sozialräumlichen Gefüge niedergeschlagen. In ländlichen Räumen schrumpfte die Bevölkerung, die Infrastruktur wurde spürbar abgebaut, große Bevölkerungsgruppen haben kaum noch Zugang zu Bildung und Kultur, Arbeitsmöglichkeiten und medizinischer Versorgung. Armut, insbesondere in Form von verdeckter bzw. verschämter Armut, nimmt entsprechend zu. In Städten konzentriert sich die Armut zunehmend auf benachteiligte Stadtteile (Segregation). In solchen Stadtteilen ist nicht nur der durchschnittliche Gesundheitszustand der Bewohnerinnen und Bewohner signifikant schlechter. Hier entstehen

414 A. Dietz    und häufen sich soziale Probleme auf der Straße. Dadurch entstehen Spannungen, welche die ohnehin geringen Teilhabe- und Entwicklungschancen der Betroffenen untergraben, sodass ganze Bevölkerungsgruppen dauerhaft ausgegrenzt werden. Daran wird deutlich, dass Räume bei der Entstehung und Entwicklung solcher Probleme eine Rolle spielen, aber dass hier auch Stellschrauben zu deren Bewältigung liegen. Teilhabechancen benachteiligter Menschen hängen insbesondere davon ab, wie kommunale Handlungsspielräume zur Gestaltung der Unterstützungsstrukturen vor Ort genutzt werden. Dabei spielen vor allem die Infrastrukturgestaltung, die politischen Konzepte zur sozialen Stadtentwicklung und die Verzahnung von zivilgesellschaftlicher Solidarität und sozialstaatlichen Angeboten eine wichtige Rolle. 2

Eine Bearbeitung von Teilhabedefiziten muss sozialräumlich erfolgen

Die traditionelle einzelfallorientierte Soziale Arbeit sowie kommunale Sozialpolitik kann nur noch reagierend handeln und versuchen, die Symptome, die aus Versäumnissen und Fehlern in diversen Politikbereichen resultieren, punktuell zu lindern. Darum hat sich in der Sozialen Arbeit bereits seit den neunziger Jahren zunehmend die Einsicht durchgesetzt, dass ein Perspektivenwechsel vom Einzelfall zum Gemeinwesen („vom Fall zum Feld“) fachlich geboten ist. Gemeinwesenorientierung als grundlegendes Arbeitsprinzip für alle Bereiche Sozialer Arbeit überwindet die Orientierung an versäulten, zersplitterten Hilfsangeboten und setzt auf umfassende Lösungsansätze und 1 Prävention durch Lebensraumgestaltung. Die handlungsleitenden Kriterien des Ansatzes lauten: sozialräumliche Strategie zur Verbesserung der Lebensverhältnisse anstelle einer pädagogischen Ausrichtung auf Einzelne, Orientierung an Themen und Interessen der Menschen, zielgruppenübergreifendes Handeln, Aktivierung der Menschen in ihrer Lebenswelt, Nutzung der vorhandenen Ressourcen, Vernetzung und Kooperation, methodenübergreifende und interdisziplinäre Arbeit, politischer Anspruch. Dadurch erweitern sich die Handlungsund Interventionsmöglichkeiten für Soziale Arbeit, Politik – und vor 2 allem auch für die betroffenen Menschen selbst – deutlich.

1

Zu Grenzen des gemeinwesenorientierten Ansatzes sowie zu Gefahren politischer Instrumentalisierung vgl. Wohlfahrt, Sozialraumorientierung, 250ff. 2 Vgl. Oelschlägel, Zum politischen Selbstverständnis, 30.

Armut – Gemeinde – Sozialraum

415 

Im deutschen sozialstaatlichen Modell spielen die Kommunen eine wichtige Rolle. Sie haben im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung die Aufgabe, in ihrem Gebiet anstelle von Armut und Ungleichheit eine sozial ausgewogene Ausgestaltung der lokalen Lebensbedingungen sicherzustellen sowie eine flächendeckende Versorgung mit sozialen Diensten und Einrichtungen im Rahmen der öffentlichen Daseinsvorsorge zu garantieren. Angesichts der zunehmenden Ungleichheit und Armut bei gleichzeitiger Einschränkung der kommunalen Finanzen sind die Kommunen mit ihrer Aufgabe dauerhaft strukturell überfordert. Es besteht dringender finanzpolitischer Handlungsbedarf, um die Kommunen wieder handlungsfähig zu machen. Ungeachtet dieser Rahmenbedingungen wird vielen Kommunen zunehmend klar, dass sie ihre sozialen Aufgaben nur mittels integrierter Konzepte zur sozialen Stadtentwicklung lösen können. Das Arbeitsprinzip der Gemeinwesenorientierung bzw. Sozialraumorientierung ist also auch in den Verwaltungen angekommen. Die zunehmende Segregation führt dazu, dass die Identifikation der Bewohnerinnen und Bewohner benachteiligter Stadtteile mit dem Gemeinwesen und damit der soziale Zusammenhalt in den Städten und Kommunen verloren zu gehen droht. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Segregation Armut verstärkt. Armutsprävention kann hier nur durch eine gezielte Förderung der Ressourcen benachteiligter Gruppen und Stadtteile sowie eine sozialräumliche Gegensteuerung zu Segregationsprozessen gelingen. Das Gemeinwesen ist der Ort sozialer Integration. Auch im Blick auf die allenthalben geforderte Integration von Migrantinnen und Migranten leugnet niemand, dass Integration vor Ort stattfinden muss, während gleichzeitig die Rahmenbedingungen dafür meist nicht vor Ort bestimmt werden und oft hinderlich sind. Ähnlich deutlich zeigt auch das Beispiel der Kinder- und Jugendhilfe, dass umfassende Benachteiligungen nur durch ganzheitliche Ansätze bearbeitet werden können, die auch das Umfeld einbeziehen. Kommunale Strategien zur Prävention von Kinderarmut erfordern das Aktivwerden von Politik und Verwaltung auf vielen unterschiedlichen Ebenen unter Berücksichtigung politischer, sozialer, pädagogischer und planerischer Aspekte. Letztlich bedarf es eines kommunalen Gesamtkonzepts mit einer Präventionskette von der Geburt bis zum Berufseinstieg, das mit allen relevanten Akteuren vor Ort abgestimmt wurde. Teil dieses notwendigen Kooperationsnetzwerks sind auch die Bürger_innen mit ihrem persönlichen Engagement, 3 ohne deren Bereitschaft soziale Integration nicht gelingen kann. 3

Vgl. Holz, Kommunale Strategien, 308 und 313.

416 A. Dietz    Auch für einen erfolgreichen Kampf gegen die zunehmende Altersarmut bzw. Teilhabedefizite älterer Menschen braucht es eine ressortübergreifende Altenhilfeplanung, die mit anderen kommunalen Fachplanungen und -ebenen vernetzt ist. Koordination und Vernetzung bedürfen angesichts der kooperationswidrigen Bedingungen des Wettbewerbs der Dienstleister untereinander einer dezidierten Förderung durch eine proaktive Kooperation kommunalpolitischer sowie weiterer Akteure mit Multiplikatoren vor Ort. Anders kann nicht sichergestellt werden, dass älteren Menschen – insbesondere in benachteiligten Stadtteilen – gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht wird. Das physische Vorhandensein von Angeboten reicht nicht aus, wenn diese 4 nicht auch offen, zugänglich, und vernetzt sind. 3

Kirchengemeinden können einen wichtigen Beitrag zur sozialräumlichen Bearbeitung von Teilhabedefiziten leisten

Die Armuts-Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland von 2006 formuliert: „Eine Kirche, die auf das Einfordern von Gerechtigkeit verzichtet, deren Mitglieder keine Barmherzigkeit üben und die sich nicht mehr den Armen öffnet oder ihnen gar Teilhabemöglichkeiten verwehrt, ist – bei allem möglichen äußeren Erfolg und der Anerkennung in der Gesellschaft – nicht die Kirche Jesu Christi.“5

Versteht man diese Aussage gesetzlich bzw. im Sinne einer ethischen Status-confessionis-Aussage, wäre sie unevangelisch. Aber versteht man sie (angemessen) als Darstellung eines Wesensmerkmals christlichen Lebens, ist sie erfreulich deutlich. Sie spricht drei wichtige Dimensionen kirchlich-diakonischer Verantwortung im Blick auf Armut an. Erstens: Hilfesuchende konkret unterstützen, zweitens: politische Sozialanwaltschaft und drittens: Kirchen sollen sich für die Armen öffnen, sodass Arme in den Kirchen Heimat und Teilhabemöglichkeiten finden. Gerhard Wegner spricht in diesem Sinne davon, dass die von der Gesellschaft zu „Überflüssigen“ erklärten Menschen durch die Kirchen „mittels der Integration in ihre eigenen Strukturen dazu befähigt [werden], wieder in die gesellschaftliche Öffentlichkeit integriert“ zu werden. Diese Aufgabe der „Kirchen als Inklusionsagenten“ käme „darin zum Ziel, dass Menschen selbstbestimmt ihre Teil-

4 5

Vgl. Kümpers u.a., Zur Bedeutung, 86 und 93. Kirchenamt der EKD, Gerechte Teilhabe, 15.

Armut – Gemeinde – Sozialraum

417 

haberechte in der Gesellschaft ergreifen und sich entsprechend in die 6 Gesellschaft einbringen.“ Dass die Realität meist anders aussieht, bemerkt auch die ArmutsDenkschrift selbstkritisch: Ärmere Menschen sind in vielen Kirchengemeinden nicht sichtbar und fühlen sich dort nicht einmal will7 kommen. Soll diese aus theologischer Sicht verheerende Situation überwunden werden, muss die kirchengemeindliche Wahrnehmung sozialräumlich ausgeweitet werden, und es muss die Bereitschaft dazu wachsen, Milieugrenzen zu überwinden und den anderen Menschen im Sozialraum näher zu kommen. Das bedeutet nicht unbedingt eine Ausweitung der Aktivitäten, sondern eine neue Perspektive für die vorhandenen Aktivitäten und eine Überprüfung aller Angebote daraufhin, ob sie „armengerecht“ oder stattdessen potenziell ausgren8 zend sind. Weil Kirchengemeinden – ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht – wichtige Akteure im Gemeinwesen sind, liegen in der bewussten Übernahme von sozialer Verantwortung durch Gemeinden große Chancen. Kirchengemeinden verfügen über eine flächendeckende gut ausgebaute Infrastruktur für Aktivitäten, die Teilhabe ermöglichen. Sie bieten zahlreiche Möglichkeiten zu freiwilligem Engagement. Und sie eröffnen ausgegrenzten Menschen Kontakte und Netzwerke, die für das Wohlergehen und die Teilhabe von 9 höchster Bedeutung sind. Kirchengemeinden können beispielsweise positive Beiträge zur Entwicklung ihres Gemeinwesens, zur Bearbeitung von Teilhabedefiziten leisten, indem sie zunächst Armutssituationen sensibler wahrnehmen (z.B. offene Kindergartenrechnungen, Fernbleiben bei kostenpflichtigen Angeboten in der Konfirmandenarbeit) und Ausgrenzungsmechanismen vermeiden (z.B. Mitarbeit im Kirchenvorstand auch für die, die sich keine Kinderbetreuung leisten können), indem sie Neues ausprobieren, um Menschen mit wenig Geld einzuladen, runde Tische gegen Armut initiieren, Betroffenen durch wertschätzende Ansprache einen Perspektivenwechsel ermöglichen und ihnen Möglichkeiten zur 10 aktiven Beteiligung eröffnen. Gerade auch im ländlichen Raum nutzen Kirchengemeinden oft noch nicht ihre diesbezüglichen Chancen. Allein schon das öffentliche Thematisieren von Armut könnte Be6

Wegner, Enabling Churches, 220. Vgl. Kirchenamt der EKD, Gerechte Teilhabe, 75. 8 Vgl. Grosse, Von einer Kirche, 315, 319 und 322. 9 Vgl. Horstmann u.a., Gott im Gemeinwesen, 6 und 51. 10 Vgl. Sozialwissenschaftliches Institut der EKD u.a., Solidarische Kirchengemeinde, 12ff. 7

418 A. Dietz    troffenen dabei helfen, aus dem Teufelskreis von Vorurteilen und dem Verbergen der eigenen Not auszubrechen. Angesichts der sozialen Kontrolle und Schuldzuschreibungen leben Arme auf dem Land oft vereinzelt, ohne Kontakt zu anderen in ähnlicher Situation und ohne die Möglichkeit, über die eigenen Nöte zu sprechen. Viele wünschen sich – wenn man sie fragt – von der Kirchengemeinde Angebote für ihre Kinder (z.B. Hausaufgabenhilfe, Freizeit- und Ferienangebote). Gemeinsam mit Betroffenen können Kirchengemeinden sich für Gerechtigkeit und gegen Ausgrenzung engagieren und ihren gesellschaftlichen Einfluss nutzen, um die Akzeptanz und die Lebenssituation armer Menschen zu verbessern, beispielsweise alternative Fahrdienste organisieren, wenn das Angebot öffentlicher Verkehrsmittel eingestellt wurde. Dabei spüren die Menschen sehr genau, ob die Vertreterinnen und Vertreter der Kirchengemeinde ihnen auf Augenhöhe oder von oben herab begegnen. Daran entscheidet sich, ob der Kontakt zu einer weiteren beschämenden Ausgrenzungserfahrung 11 oder zu einem Gewinn für beide Seiten wird. Um die eigene Situation in einer neuen Perspektive sehen zu können, brauchen Menschen in Armutslagen, die oft ihre ganze Energie für das Überleben aufwenden müssen oder längst resigniert haben, mitunter eine ermutigende, nicht diskriminierende Zuwendung von außen. Dies wird in der Regel nicht der Fallmanager sein, hier liegt eine wichtige Aufgabe für Kirchengemeinden. „Kirchengemeinden können in dieser Hinsicht ein hervorragendes Einübungsfeld von Teilhabe und Anerkennung von Armen sein – sie müssen dies allerdings be12 wusst anstreben.“ 4

Gemeinwesendiakonie als zukunftsweisende Option für Kirchengemeinden

Ein konkretes kirchlich-diakonisches Arbeitsfeld, das die eben genannten Aspekte in besonderer Weise in den Fokus stellt, ist die Gemeinwesendiakonie. Seit etwa zehn Jahren ist Gemeinwesendiakonie ein Modethema: Positionspapiere, Tagungen, Publikationen, millionenschwere Projektförderungen in diversen Landeskirchen. Doch was genau meint dieser Begriff? Aus der Perspektive der verfassten Diakonie bedeutet der gemeinwesendiakonische Ansatz eine sozialräumliche Weiterentwicklung ihrer jeweiligen Arbeitsfelder. Aus der Perspektive von Kirchengemeinden bezeichnet gemeinwesendiakonisches 11 12

Vgl. Winkler, Nähe, 13ff. und 75ff. Kirchenamt der EKD, Gerechte Teilhabe, 77f.

Armut – Gemeinde – Sozialraum

419 

Engagement einen speziellen (gemeinwesenorientierten) Teil der Gemeindediakonie. Martin Horstmann und Elke Neuhausen haben Gemeinwesendiakonie maßgeblich definiert als „gemeinsame Strategie von verfasster Kirche und organisierter Diakonie, bei der kirchliche und diakonische Einrichtungen im Stadtteil mit weiteren Akteuren 13 kooperieren. Ziel ist es, Quartierseffekte zu erzielen“. Gemeinwesendiakonie impliziert eine Öffnung zum Gemeinwesen hin, eine bewusste gemeinsame Verantwortungsübernahme von Kirche und Diakonie für den Ort sowie eine Orientierung an den Lebenslagen der Menschen. Sie ist anschlussfähig an die traditionellen Konzepte von Gemeinwesenarbeit, Stadtteildiakonie, Nachbarschaftszentren und 14 Begegnungsstätten. Bei gemeinwesendiakonischen Ansätzen geht man nicht davon aus, was die Menschen brauchen könnten, sondern man fragt die Bewohner_innen selbst nach ihren Interessen und Bedarfen. Man erkundet den Stadtteil und die Stimmungslage, entwickelt gemeinsam lokale Ideen und setzt sie um. Zentral ist die Mitentscheidung der Bewohnerinnen und Bewohner. Bei gemeinwesendiakonischen Ansätzen arbeitet man nicht defizitorientiert, sondern mit den Ressourcen des Stadtteils bzw. seiner Bewohner_innen, um strukturelle Defizite aufzuheben. „Damit verändern sich allerdings auch die Lebensverhältnisse 15 und Handlungsspielräume der Bewohner.“ Die Frage nach den Ressourcen der Menschen in Armutslagen, insbesondere im Blick auf Migrantinnen und Migranten, sollte dabei nicht auf Folklore und au16 ßergewöhnliche Speisen reduziert werden. Es geht darum, Menschen zu beraten und zu aktivieren, ihr Schicksal selbstbewusst in die Hand zu nehmen. „Sie sollen zu Subjekten politisch aktiven Handelns und Lernens werden und zunehmend Kontrolle über ihre Lebensver17 hältnisse gewinnen.“ Das Wahrnehmen und das Berührtwerden von Armut und Ausgrenzung führen zu Solidarität und zur Arbeit an der 18 Behebung der Ursachen. Der Ort dafür ist das Gemeinwesen. Gemeinwesenorientierte Unterstützungsnetzwerke bzw. Verbesserungen der sozialen Infrastruktur können diesen Anspruch endlich auch realisieren und strukturelle Armut bekämpfen sowie Teilhabe im Ge19 meinwesen ermöglichen. Es wäre zu wünschen, dass viele Kirchengemeinden sich in den aktuellen innerkirchlichen Richtungsdebatten 13

Horstmann u.a., Mutig mittendrin, 1. Vgl. Horstmann u.a., Mutig mittendrin, 5. 15 Oelschlägel, Zum politischen Selbstverständnis, 30. 16 Vgl. Wustmans, Grenzen ermessen, 181. 17 Oelschlägel, Zum politischen Selbstverständnis, 30. 18 Vgl. Horstmann u.a., Gott im Gemeinwesen, 78. 19 Vgl. Diakonisches Werk der EKD, Handlungsoption, 12. 14

420 A. Dietz    über mögliche Profilierungsformen und Schwerpunktsetzungen für eine gemeinwesendiakonische Profilierung entscheiden. Die theologischen Gründe, die eine solche Entscheidung nahelegen, sind vielfältig, von der biblischen Option für die Armen über die Entäußerung Gottes in die Welt bis zum Reich Gottes, das in der Gemeinschaft mit Ausgegrenzten anbricht. Stefanie Rausch formuliert treffend: „Die Gemeinwesendiakonie kann und sollte mit ihren unterschiedlichen Akteuren und Einrichtungen ganz konkret dazu beitragen, dass die Armen und das Armutsthema nicht nur auf dem Sozialamt, der Wohngeldbehörde oder im Jobcenter sichtbar werden. […] Armut als gesellschaftliches Phänomen zu erkennen und öffentlich darüber zu reden, ist eine Sache. Eine andere ist es, arme Menschen als solche wahrzunehmen und im Gemeindeleben einen gebührenden Umgang damit zu erlernen – und zwar ohne jede Attitüde von Sozialromantik 20 oder mitleidigen Überlegenheitsdünkel.“ Literatur Diakonisches Werk der EKD (Hg.), Handlungsoption Gemeinwesendiakonie. Die Gemeinschaftsinitiative Soziale Stadt als Herausforderung du Chance für Kirche und Diakonie (Diakonie Texte 12.2007), Berlin 2007. Grosse, Heinrich, Von einer Kirche für die Armen zu einer Kirche mit den Armen?, in: Johannes Eurich u.a. (Hg.), Kirchen aktiv gegen Armut und Ausgrenzung. Theologische Grundlagen und praktische Ansätze für Diakonie und Gemeinde, Stuttgart 2011, 309–328. Holz, Gerda, Kommunale Strategien gegen Kinder- und Bildungsarmut. Oder: Der Ansatz kindbezogener Armutsprävention (nicht nur) für Kommunen, in: Walter Hanesch (Hg.), Die Zukunft der „Sozialen Stadt“. Strategien gegen soziale Spaltung und Armut in den Kommunen, Wiesbaden 2011, 299–324. Horstmann, Martin u.a., Mutig mittendrin. Gemeinwesendiakonie in Deutschland, Berlin 2010. Horstmann, Martin u.a., Gott im Gemeinwesen. Sozialkapitalbildung in Kirchengemeinden, Berlin 2014. Kirchenamt der EKD (Hg.), Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität, Gütersloh 2006. Kümpers, Susanne u.a., Zur Bedeutung des Sozialraums für Gesundheitschancen und autonome Lebensgestaltung sozial benachteiligter Älterer: Befunde aus Berlin und Brandenburg, in: Claudia 20

Rausch, Gemeinwesendiakonie, 62.

Armut – Gemeinde – Sozialraum

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Vogel u.a. (Hg.), Altern im sozialen Wandel: Die Rückkehr der Altersarmut?, Wiesbaden 2013, 81–97. Oelschlägel, Dieter, Zum politischen Selbstverständnis der Gemeinwesenarbeit, in: Stefan Gillich (Hg.), Nachbarschaften und Stadtteile im Umbruch. Kreative Antworten der Gemeinwesenarbeit auf aktuelle Herausforderungen, Gelnhausen 2007, 30–39. Rausch, Stefanie, Gemeinwesendiakonie als strategische Orientierung kirchlicher Träger. Neue Perspektiven für kirchliche Gemeinden und Wohlfahrtsverbände auf der Stadtteilebene, Wiesbaden 2015. Sozialwissenschaftliches Institut der EKD u.a. (Hg.), Solidarische Kirchengemeinde. Eine Arbeitshilfe zum Thema Armut, Hannover 2014. Wegner, Gerhard, „Enabling Churches“. Kirchen als Inklusionsagenten, in: Johannes Eurich u.a. (Hg.), Kirchen aktiv gegen Armut und Ausgrenzung. Theologische Grundlagen und praktische Ansätze für Diakonie und Gemeinde, Stuttgart 2011, 211–231. Winkler, Marlis, Nähe, die beschämt. Armut auf dem Land, Berlin 2010. Wohlfahrt, Norbert, Sozialraumorientierung: Entwicklung, Begründung, aktuelle Bedeutung und Einordnung, in: Gerhard K. Schäfer u.a. (Hg.), Nah dran. Werkstattbuch für Gemeindediakonie, Neukirchen-Vluyn 2015, 241–256. Wustmans, Hildegard, Grenzen ermessen und Aufbrüche wagen. Pfarrgemeinden als Orte der Integration, in: Marianne HeimbachSteins (Hg.), Zerreißprobe Flüchtlingsintegration, Freiburg u.a. 2017, 175–187.

  Birgit Zoerner

Armutsbekämpfung – städtische Perspektiven: Beispiel Dortmund

1

Strukturwandel und Sozialberichterstattung

Strukturwandel, demografische Entwicklung, soziale Segregation – die ehemals industriell geprägten Stadtgesellschaften stehen vor gewaltigen Herausforderungen. Dies ist auch in Dortmund spürbar, im Zentrum Nordrhein-Westfalens gelegene und mit rund 600.000 Einwohner_innen drittgrößte Stadt in Nordrhein-Westfalen und größte Stadt Westfalens. Für Jahrzehnte galt Dortmund als Zentrum der Schwerindustrie mit der Ansiedlung bedeutender Konzerne für die Stahlproduktion und den Betrieb von Kohlebergwerken. Die Schließung der Dortmunder Hüttenstandorte und die Stilllegung der Zechen leiteten in Dortmund einen tiefgreifenden Strukturwandel ein. Durch die Konzentration auf neue Leitbranchen wie Logistik, Mikrosystemtechnik, Biotechnologie und Informations- und Kommunikationstechnologien sowie die verstärkte Förderung von Unternehmensgründungen konnte eine neue, mittelständische Unternehmensstruktur aufgebaut werden. Heute gibt es in Dortmund wieder mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigte als vor der Montankrise, aber: Trotz des in vielen Ansätzen erfolgreichen und vielfach gelobten Wandels ist die Anzahl erwerbsloser Menschen in Dortmund nach wie vor hoch. Die Arbeitslosenquote liegt, wie im gesamten Ruhrgebiet, über dem Landes- und Bundesdurchschnitt. Vor dem Hintergrund der Reform des Arbeitsmarktes (Hartz IV) beauftragte der Rat der Stadt Dortmund im Juni 2005 die Verwaltung, die bis dahin über die Jahre bewährte Sozialberichterstattung weiterzuentwickeln. Ein neuer, qualifizierter Bericht zur sozialen Lage in Dortmund sollte entsprechend der Armuts- und Reichtumsberichterstattung des Bundes und des Landes NRW auch Auswertungen der Einkommens- und Lohnsteuerstatistik aufnehmen. Gewünscht war außerdem eine kleinräumig aufbereitete Datensammlung.

Armutsbekämpfung

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Auf dieser Grundlage entwickelte die Stadt Dortmund gemeinsam mit dem „Zentrum für interdisziplinäre Ruhrgebietsforschung der RuhrUniversität Bochum“ (Zefir) das Konzept für den 2007 veröffentlichten „Bericht zur sozialen Lage in Dortmund“ und den „Sozialstrukturatlas“. Das Berichtssystem umfasst die sozialräumlich aufbereitete Datensammlung im Sozialstrukturatlas und die kleinräumig orientierte Analyse im Bericht zur sozialen Lage. Zusätzlich wurde eine Internetplattform entwickelt, auf der aktuelle Sozialdaten auch interaktiv über den Fachbereich Statistik der Stadt Dortmund zur Verfügung stehen und mittels Karten und Grafiken anschaulich dargestellt werden können. Indem das Berichtssystem eine detaillierte und qualifizierte Darstellung sozialer Problemlagen in den Stadtquartieren leistet, geht es über die rein quantitative Beschreibung von Lebenslagen weit hinaus. Es ist Bestandteil eines flexiblen Sozialplanungsprozesses und eine solide Informationsbasis für präventiv orientierte politische Entscheidungsprozesse in Dortmund. 2

„Aktionsplan Soziale Stadt Dortmund“

Der Sozialbericht zeigt: In 13 von insgesamt 39 Dortmunder Sozialräumen sind die sozialen Problemlagen deutlich größer als im städtischen Schnitt. Hier sind das Einkommen und die Wohnfläche gering, der Anteil der arbeitslosen Menschen, der Empfänger_innen von SGB-II-Leistungen und der Bevölkerung mit Migrationshintergrund dagegen hoch. In diesen Sozialräumen ist die Armut am höchsten. Und dort leben die meisten Kinder und Jugendlichen. Schnell war klar, dass die Probleme vor Ort anzugehen und Ressourcen in diese Quartiere zu lenken sind. Für diese benachteiligten Sozialräume sind integrierte Handlungskonzepte notwendig. Genau da setzt der „Aktionsplan Soziale Stadt Dortmund“ an. Aus benachteiligten Sozialräumen werden Aktionsräume. Im Februar 2008 startete der dezentral organisierte Bürgerbeteiligungsprozess als Herzstück des Aktionsplan Soziale Stadt Dortmund. Ziel der zentralen Auftakt-Veranstaltung „Forum Soziale Stadt“ war es, die Fachleute, aber auch die Dortmunder_innen zu aktivieren, um so gemeinsam die besten Lösungen für die benachteiligten Sozialräume zu finden.

424 B. Zoerner    Zentrales Ergebnis des Beteiligungsprozesses: In allen benachteiligten Quartieren konzentrieren sich die wesentlichen Bedarfe auf drei Handlungsschwerpunkte 1) Arbeit und Beschäftigung schaffen, 2) Kinder stärken: gemeinsam mit den Eltern – Ernährung, Bildung, Sprache, Integration und 3) gemeinsam handeln: sozialen Zusammenhalt stärken. 2.1

Arbeit und Beschäftigung schaffen

Hohe Arbeitslosigkeit, viele arbeitslose Menschen und viele Jugendliche, die nicht in den existierenden Arbeitsmarkt zu integrieren sind – das sind die Merkmale der ersten Dimension sozialer Benachteiligung. Der wichtigste Faktor gegen Armut ist ein Arbeitsplatz. Die kommunalen Instrumente zur Schaffung von Arbeitsplätzen sind begrenzt. Kommunal möglich sind Qualifizierungs- und Beschäftigungsprojekte, die Stärkung der lokalen Ökonomie und eine kommunale Arbeitsmarktstrategie. Die Stadt Dortmund nutzt alle ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. So ist es Ziel der Dortmunder Arbeitsmarktstrategie, vorhandenes Potenzial effektiv zu vernetzen und damit die Arbeitslosenquote auf unter 10 % zu reduzieren. Das kann nur im Zusammenspiel aller Arbeitsmarktakteure gelingen und umfasst den gesamten Lebens- und Erwerbsverlauf. Bausteine im kommunal geschnürten Gesamtpaket sind die Früh- und Grundbildung ebenso wie der Übergang Schule – Beruf und die Optimierung von Personalentwicklungskonzepten. Darüber sollen Beschäftigte qualifiziert und aktiviert, aber auch neue Arbeit angesiedelt und ein erweiterter öffentlich geförderter Arbeitsmarkt entwickelt werden. Oftmals wird die Auffassung vertreten, dass alle Leistungsbezieher_innen im Sozialgesetzbuch II (SGB II) eine grundsätzliche Möglichkeit haben, auf dem ersten Arbeitsmarkt Arbeit zu finden. Nötig sei ein notfalls auch langjähriges Hinführen, die Beseitigung von mannigfachen „Vermittlungshemmnissen“, die Aktivierung und Qualifizierung, der Einsatz zusätzlicher Finanzmittel etc., auf dass alles gut werde. Die Praxiserfahrungen zeigen allerdings, dass für viele Menschen trotz intensivster und langjähriger Begleitung und selbst nach positiven Erfahrungen in Beschäftigungsmaßnahmen eine echte Arbeitsmarktintegration dennoch nicht gelingt, weil keine adäquaten Arbeitsplätze in unserer hochtechnisierten und entwickelten Volkswirtschaft zur Verfügung stehen. Das gilt für die öffentliche wie die private Wirtschaft gleichermaßen. Dortmund beispielsweise hat in den letzten 30 Jahren

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über 30.000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze für angelernte Kräfte verloren. Diese entstehen aber nicht einmal annäherungsweise in der notwendigen Größenordnung am Markt. Eine Problemlösung kann sich demnach nur in einem dauerhaft öffentlich geförderten und gesamtgesellschaftlich akzeptierten Sektor entwickeln. Für viele Menschen wird dies die einzige, dauerhafte, mindestens aber langfristige Option sein, um am Arbeitsleben und damit in einem höheren Maße am Leben in der Gemeinschaft teilzuhaben. Dabei geht es auch um stadtgesellschaftlich sinnvolle Tätigkeiten, die am Markt aber nicht entstehen: Statt lediglich die Frage zu stellen, wie man Arbeitslose in den bestehenden Arbeitsmarkt integrieren kann, ist auch die Frage zu stellen: Welche Arbeit braucht das Quartier, braucht die Stadtgesellschaft? – Wohnen im Alter im Quartier begründet vielfältige Assistenznotwendigkeiten. – Hochqualifizierte Medizin oder Pflege begründet Lücken für menschliche Zuwendung. – Es gibt viele weitere Arbeitsfelder unter der Fragestellung: Welche Arbeit braucht die (Stadt)gesellschaft, welche Arbeit fehlt im Quartier? Kommunen müssen dauerhaft bei der Finanzierung des öffentlich geförderten Arbeitsmarkts unterstützt werden. Dortmund ist zurzeit mit seinem „Servicecenter lokale Arbeit“ Modellkommune für die Integration von langzeitarbeitslosen Menschen in den Arbeitsmarkt und wird vom Land NRW gefördert. 2.2

Kinder stärken: gemeinsam mit den Eltern

Der hohe Anteil von Kindern im SGB-II-Bezug ist die nächste Dimension sozialer Benachteiligung. Hier müssen die Erziehungskompetenzen der Eltern und – unabhängig von den familiären Wurzeln – die Sprachentwicklung als wesentliche Voraussetzung für Bildungsteilhabe und gesellschaftliche Integration unterstützt werden. Wichtig ist es dabei, Bedarfe frühestmöglich zu erkennen und bereits vorhandene Zugänge zu nutzen. Die Stadt Dortmund hat sich daher auch dem Landesprogramm „Kein Kind zurücklassen – Kommunale Präventionsketten NRW“ angeschlossen. Ziel muss es hier sein, alle Eltern anzunehmen und sozusagen „unwiderstehbar“ einzuladen und „abzuholen“ und die Kinder kontinuierlich, konzentriert und spezifisch zu fördern, alle Maßnahmen effektiv aufeinander abzustimmen

426 B. Zoerner    und so zu vernetzen, dass biografisch lückenlose Präventionsketten anhand eines Lebensphasenmodells gesichert werden. Es stehen also nicht neue Projektstrukturen im Vordergrund, sondern die Schaffung von Prozessverantwortung bei allen Partnern und – darauf aufbauend – die Verbesserung der bestehenden Kooperations-, Förder- und Interventionsstrukturen. Die Angebote werden vernetzt und koordiniert und – wo dies notwendig ist – auch ausgebaut, um auf diesem Wege ein Netz zu spinnen, aus dem möglichst kein Kind mehr herausfällt. Denn nur strukturell gute Startchancen lassen eine gute Schul- und Berufsausbildung überhaupt erst zu. Wesentlich sind aber auch die bestmöglichen individuellen Chancen auf gute Bildung und Ausbildung. Sie sind entscheidende Faktoren für den Arbeitsmarktzugang. Kinder und Jugendliche müssen deshalb ganz gezielt bedarfsgerecht gefördert werden. Möglichkeiten hierzu bietet das Bildungs- und Teilhabepaket. In Dortmund geht es um immerhin rund 30.000 Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Familien, die hierüber – die Finanzierung von Ausflügen und Klassenfahrten oder den Zuschuss zum Mittagessen in Schulen und Kitas beantragen können, sowie – die Lernförderung oder auch – die Übernahme von Kosten beispielsweise für Sportvereine oder Musikschulen bis zu zehn Euro monatlich. Nach fünf Jahren werden durch die Leistungen 90 % der anspruchsberechtigten Kinder erreicht. Dies gelingt über Strategien, die Stolpersteine eines äußerst bürokratischen Gesetzeswerkes – wo immer dies möglich ist – durch unbürokratische Kooperationen und Antragsbearbeitung aus dem Weg zu räumen. Besonders bewährt hat sich dabei die Einstellung von zusätzlichen Schulsozialarbeiter_innen über das Bildungs- und Teilhabepaket. Allerdings war deren Finanzierung durch den Bund zunächst bis 2013 befristet. Seitdem gibt es immer wieder Zwischenlösungen. Hier ist eine dauerhafte Förderung durch den Bund dringend geboten.

Armutsbekämpfung

2.3

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Gemeinsam handeln: sozialen Zusammenhalt stärken

Diese dritte Dimension zeigt sich – ebenfalls in allen Aktionsräumen – in sozial isolierten Wohnvierteln, in Schwierigkeiten beim Zusammenleben von Einheimischen und Menschen mit Migrationshintergrund und in Unzufriedenheit mit Sicherheit, Sauberkeit und Ordnung in den Quartieren. Zusammenhalt ist im Rahmen der Sozialberichterstattung schwer messbar. Im Rahmen einer Studie der Bertelsmann Stiftung wurden u.a. fast 1.000 Dortmunder_innen zum Thema „Zusammenhalt vor Ort“ befragt. Zusammenhalt wird dabei in drei Dimensionen näher betrachtet: – Verbundenheit (Gerechtigkeitsempfinden, Vertrauen in Institutionen, Identifikation) – soziale Beziehungen (soziale Netze, Vertrauen in Mitmenschen, Akzeptanz von Diversität) – Gemeinwohlorientierung (Solidarität und Hilfsbereitschaft, gesellschaftliche Teilhabe, Anerkennung sozialer Regeln) In den Aktionsräumen sind Mitarbeiter_innen des Sozialdezernats als Aktionsraumbeauftragte im Rahmen dieser Arbeitsschwerpunkte tätig. Sie sind ansprechbar für die Menschen im Quartier, aber auch für die Fachakteure. Sie laden zu Dialogveranstaltungen ein, organisieren Austausch und Begegnung und sind daher ganz „nah dran“ an den Entwicklungen im Sozialraum. Die Quartiere sind der Nukleus für die Entwicklung der Stadtgesellschaft. Das, was dort nicht gelingt, wird auch gesamtstädtisch schwierig. Das, was gelingt, strahlt gesamtstädtisch aus. 3

Fazit

Die enge Verzahnung von Daten und Analysen mit dem konkreten Handeln vor Ort bietet die Möglichkeit, Probleme besser zu erkennen und Ressourcen bei der Armutsbekämpfung effektiver einzusetzen. Die bisherigen Erfahrungen bestätigen, dass das der richtige Weg ist. Die Senkung der Arbeitslosigkeit mit allen uns zur Verfügung stehenden Instrumenten ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Strategie zur Armutsbekämpfung. Trotz der bisherigen Erfolge sind weitere Anstrengungen erforderlich, Kinder und Eltern zu stärken, damit eine „Vererbung von Armut“ soweit möglich unterbunden wird. Hier gilt es, so früh wie möglich Eltern und Kinder zu unterstützen und Bedin-

428 B. Zoerner    gungen vor Ort zu schaffen, die ein gesundes Aufwachsen und eine erfolgreiche Bildungsintegration ermöglichen. Vor dem Hintergrund einer immer bunter werdenden Gesellschaft ist es gerade in Stadtteilen, in denen sich Armut konzentriert, wichtig, den sozialen Zusammenhalt mit Netzwerkarbeit zu fördern und Initiativen vor Ort in ihrer Arbeit zu unterstützen. Diese Stadtteile übernehmen eine hohe Integrationsleistung für die Gesamtstadt. Armutsbekämpfung ist und bleibt eine Aufgabe mit unterschiedlichsten Facetten und gelingt nur in einer Verantwortungsgemeinschaft aller staatlichen und zivilen Ebenen.

  Benjamin Benz

Hilfe unter Protest – begrenzte Handlungsmöglichkeiten nutzen Hinweise aus der kommunalen Jugendhilfe

1

Einleitung

Diakonisches Engagement gegen Armut und soziale Ausgrenzung hat weder Anlass, politische Allmachtsphantasien zu entwickeln, noch braucht es politische Ohnmacht zu fürchten. Vielmehr kann dieses Engagement im Bewusstsein begrenzter (!) Handlungsmöglichkeiten (!) praktische Hilfe und politische Bemühungen um strukturelle gesellschaftliche Veränderungen verbinden und entwickeln. Eine solche Perspektive auf und für Soziale Arbeit lässt sich als „Hilfe unter Protest“ beschreiben.1 Nachfolgend werden drei Interviews mit Fach- und Leitungskräften kommunaler Jugendhilfe auszugsweise dokumentiert und auf armutspolitische Perspektiven und Strategien hin ausgewertet. Sie wurden unter Zusage anonymisierter Verwendung im November 2016 mit einem / einer Mitarbeiter_in eines von Schließung bedrohten kommunalen Jugendzentrums, dem / der Jugendhilfeplaner_in einer Kreisstadt sowie dem / der Jugend- und Sozialamtsleiter_in (a.D.) eines Landkreises geführt. Beruflich verortet sind die Personen in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Alle Interviewten waren mir aus beruflichen Zusammenhängen als selbst- und gesellschaftskritische Fachkräfte bekannt. Die Interviews bieten vielfältige Hinweise für ein offensives armutspolitisches Engagement von (nicht nur diakonischen, freien) Trägern und sozialen Fach- und Leitungskräf1

Benz, Armenhilfepolitik; demnach lässt sich Soziale Arbeit als „Hilfe unter Protest“ in Abgrenzung von affirmativen Hilfeverständnissen und Hilfeverweigerung verstehen als selbstkritische Verbindung von praktischer Hilfe und politischem Engagement für strukturelle, gesellschaftliche Veränderungen.

430 B. Benz    ten.2 Im Fazit werden zusammenfassend Handlungsrisiken und -grenzen, aber auch Handlungsmöglichkeiten deutlich. 2

Zu politisch widerborstigem Agieren freier Träger und seiner Wertschätzung

In den Sozialversicherungs- und Versorgungssystemen haben frei-gemeinnützige Träger keine privilegierte Stellung im Vergleich zu privat-gewerblichen und öffentlichen. Ganz anders sieht dies in den beiden großen Fürsorgesystemen der Jugend- und der Sozialhilfe aus. Hier erbringen sie Armenhilfeangebote zwar mit staatlicher Refinanzierung, aber in eigener Verantwortung (§ 5 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch – SGB XII). Das örtliche Jugendamt teilt sich gar in zwei Säulen, a) die (öffentliche) Verwaltung und b) den Jugendhilfeausschuss, in dem die freien Träger mit Sitz und Stimme vertreten sind (§ 70 SGB VIII). Ferner erbringen sie Jugendhilfeleistungen zum Teil bevorrechtigt vor der öffentlichen Hand (ebenfalls öffentlich kofinanziert) in eigener Verantwortung (§§ 3 und 4 SGB VIII). Freie Träger haben nach der Gesetzeslage große Handlungsspielräume a) in der eigenen Angebotsgestaltung und b) in der Beteiligung an der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung, insbesondere in der örtlichen Jugendhilfepolitik. Die realpolitische Reichweite dieser gesetzlich starken Stellung wird mit Hinweis auf die Abhängigkeit von a) Finanzen (Refinanzierungskonditionen) und b) Entscheidungen (etwa über die Trägerschaft einer Maßnahme) der öffentlichen Hand sowie c) damit zusammenhängend die Konkurrenzen zwischen freien Trägern von letzteren argumentativ und praktisch infrage gestellt. Wie sehen dies die interviewten Fach- und Leitungskräfte? 2.1

Unterschiedliche Spielräume bei der Problemdefinition und im Agenda Setting

Jugendhilfeplaner_in: Also ich glaube, dass sie [freie Träger] – wenn sie wollen, und sie machen das ja auch bei bestimmten Themen – dass sie die vollkommen besetzen können. Also sie könnten bestimmte Themen nach vorne bringen, ohne in dieses Korsett unserer Stadt hier eingebunden zu sein. Also […] jeder Pfarrer kann sich hinstellen und kann sagen: „Ich habe hier ein Problem und das will ich […] benennen.“ Und könnte kritische Positionen beziehen. Und da tut sich Kommune ja auch immer sehr schwer, eine kritische Haltung dann zu einem evangelischen oder katholischen Pfarrer zu entwickeln. Auch wenn es ihnen nicht passt, aber kein Bürgermeister 2

Zu weiteren Hinweisen aus den Niederlanden, Österreich und Deutschland vgl. Benz, Von „Sozialhilfefrauen“, „Kirchenasylen“ und „Tafelkunden“.

Hilfe unter Protest

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wird sich hier trauen, irgendeinen Pfarrer öffentlich zu zerlegen oder anzugreifen. Also die haben für mich eine hohe moralische Integrität, die sie meines Erachtens stärker nutzen könnten, als sie es tun. Ich würde mir das wünschen manchmal. Und […] wenn […] man natürlich Leute kennt, die ja auch im sozialen Bereich engagiert sind und sagt: „Kannst du das da nicht mal einbringen?“ […] Dann ist das natürlich ein Unterschied, ob eine Geschäftsführerin einer Diakonie plötzlich eine Diskussion eröffnet, als wenn ich das sage und mir das vorher vielleicht sogar verboten wurde, das einzubringen. Also auch das ist eine Protestform. […] Dass man Themen platziert. […] Natürlich hängen die auch am Tropf der Stadt und haben auch bestimmte Spielräume. Aber die haben größere Spielräume. […] Die dann auch mal Themen platzieren, wo ich sage: „Oh ja, wenn ich gefragt werde, jetzt als [Verwaltungsmitarbeiter_in], dann muss ich da ja auch drauf reagieren.“ Dann habe ich ja sozusagen einen Auftrag. […] Aber die sehen sich eben auch in diesem – manchmal übersteigert – in so einem Abhängigkeitsverhältnis der Stadt. Zu sagen: „Ja, ich krieg’ ja von denen das Geld.“ Und da frage ich mich immer: Wenn die mal richtig opponieren würden? Also am bestimmten Thema. Dann kann sich eine Stadt ja doch nicht hinstellen […] und sagt einfach: „Wir stellen die Förderung für die AWO ein.“ Das ginge überhaupt gar nicht. Das hat gesetzliche Grundlagen und so weiter. Die würden vor Gericht ziehen. Wir würden so schnell einen zwischen die Ohren kriegen. Und deswegen kann ich diese Zurückhaltung; auch im Jugendhilfeausschuss nehmen meines Erachtens bei uns die Träger ihre Rolle nicht wahr. Weil sie zu den meisten Dingen einfach schweigen und sich aus Angst davor, sich vielleicht unbeliebt zu machen oder so, nicht ihre aktiv gestaltende Rolle, die sie ja sogar per Gesetz haben – deswegen sitzen sie da drin und sind sie stimmberechtigt, sogar im Gegensatz zu allen anderen Ausschüssen – dass sie die nicht ausreichend wahrnehmen. Also da würde ich mir mehr Auseinandersetzung wünschen. Also ringen um fachliche Positionen. Es gibt Städte, in denen das wesentlich ausgeprägter ist. […] Es gibt ja sogar eine Vorbereitung mit den Trägern auf die Ausschusssitzungen, die nicht öffentlich stattfindet. Das ist auch kein Geheimnis. Und damit entzieht man aber dem Ausschuss die öffentliche Diskussion. Was ich zum Beispiel für ein undemokratisches Verhalten halte. Und das übrigens auch immer wieder sage hier. Das mache ich immer wieder deutlich. Ändert aber nichts.

Deutlich wird hier das Interesse eines Akteurs der öffentlichen Hand an offensiver Nutzung von spezifischen politischen Handlungsmöglichkeiten freier Träger und kirchlicher Amtsträger_innen. Ferner wird die Bedeutung konkreter lokaler politischer (Ausschuss-)Kulturen deutlich.

432 B. Benz    2.2 „Teamgeist“ und Trägerkonkurrenz in der Entscheidungsfindung An der Prägung lokaler politischer Kulturen wirken freilich viele Akteure mit, zum Teil auch eine Veränderung des Klimas blockierend oder erzwingend. So äußert der / die Sozial- und Jugendamtsleiter_in: Was die Protestrealität angeht: Also das zu erlebende Protestpotential ist nach meiner Erfahrung relativ gering. Das wird häufig damit begründet, dass die freien Träger abhängig seien vom öffentlichen Träger. […] Alle meine Bemühungen deutlich zu machen, dass der öffentliche Träger mehr von den freien Trägern abhängt als umgekehrt, findet keinen Glauben. […] Überall dort, wo ich bisher tätig war, waren die Jugendhilfeausschüsse praktisch nichts anderes als formale Gremien, die waren nicht wirklich Gremien, wo sich Protest artikuliert hätte. Ich habe in den letzten sechsunddreißig Monaten nur ein einziges Mal erlebt, dass ein freier Träger bei der Anfrage, eine bestimmte Aufgabe zu übernehmen, gesagt hat: „Nee, unter den Bedingungen übernehme ich es nicht.“ Aber es war überhaupt kein Problem, dass sofort ein anderer (beide aus Wohlfahrtsverbänden) auf der Matte stand: „Aber ich mach das, unter den Bedingungen.“ Unter Bedingungen, die ich fachlich für völlig unzulässig gehalten habe. Die ich nicht formuliert hatte, sondern die mir vorformuliert wurden und ich an alle herangetreten bin in der Hoffnung, sie sagen alle: „Nein“, um mal ein deutliches Signal zu setzen. Meine Hoffnungen, Widerstand zu organisieren, die sind im Sande verlaufen. Die andere Frage ist, warum habe ich das überhaupt umgesetzt? Ich habe das umgesetzt, weil ich mich intern nicht durchsetzen konnte. Dabei ging es darum: Unter welchen Bedingungen werden unbegleitete minderjährige Flüchtlinge betreut? Ich konnte mich intern nicht durchsetzen, und ich hatte den Dienstauftrag, unter den vorgegebenen Bedingungen einen Träger zu finden. Ich bin aber so vorgegangen in der Hoffnung, in das fachliche Gewissen der Träger zu reden und zu sagen: „Sag nein“. Wenn alle „Nein“ sagen, hätte es eine neue Chance gegeben, die Debatte noch einmal zu eröffnen.

Deutlich werden hier Differenzlinien, die nicht etwa nur zwischen freien und öffentlichen Trägern verlaufen, sondern jeweils innerhalb der Träger(gruppe). Im beschriebenen armen- / jugend- / flüchtlingshilfepolitischen Beispiel ist eine fachlichen Standards genügende Betreuung zunächst verwaltungsintern, ein weiteres Mal jedoch erst an der unsolidarischen Summe des Handelns freier Träger gescheitert. Ob sich politisch widerständige, kollektive Verweigerung freier Träger gegenüber inakzeptablen Hilfestandards in diesem Fallbeispiel tatsächlich hätte organisieren lassen und ob dies am Ende erfolgreich gewesen wäre, wissen wir nicht. Der Amtsleitung zufolge wäre sie jedoch zumindest von ihm / ihr sehr wertgeschätzt worden und hätte fachpolitisch Anlass zur Hoffnung gegeben.

Hilfe unter Protest

2.3

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Konzeptionelle Spielräume bei der Umsetzung armutspolitischer Programme

Begrenzte Handlungsspielräume für politisch widerborstiges Agieren bestehen drittens verbandsintern sowie im Verhältnis zwischen freiem Träger und öffentlicher Hand bei der Ausbuchstabierung sozialpolitischer Programme. So schildert der / die Jugendzentrumsmitarbeiter_in bezogen auf seine / ihre Zeit bei einem gewerkschaftsnahen Träger beschäftigungspolitischer Maßnahmen: Da sollte ich eigentlich auch nur so Bewerbungstraining machen. Da hab ich gesagt: „Nee, mach ich nicht. Ich mach politische Bildung mit den Menschen.“ […] Und dann hab ich ein Modul entwickelt […]: „Rechte und Pflichten von Arbeitslosen“, also von SGB-II-Bezieher_innen. Und da hab ich dann historisch, logisch aufgearbeitet, was der ideologische Hintergrund war für die ganzen Lohnnebenkostensenkungen, Globalisierungsdebatte und so. […] Und dann einen gesetzlichen Überblick, wo ist das SGB II überhaupt zu verorten, was gibt es für andere Gesetze. […] Ich hab die Leute als Bürger angesprochen. Als mündige Bürger. […] Es gab Beschwerden dann, weil ich hab die Leute dabei auch aufgeklärt, dass sie auch Anträge stellen können. Und diese Unterscheidung zwischen Muss-, Soll- und Kann-Leistungen. Es gibt einen Anspruch auf pflichtgemäßes Ermessen. Und ein Antrag darf nicht mal eben so abgelehnt werden, es muss begründet werden. Und das hatte ich denen so beigebracht. Da haben halt ganz viele Leute Anträge auf Weiterbildung gestellt. Und dann hat das Jobcenter in der Firma angerufen und sich beschwert: „Wir wollten eigentlich weniger Arbeit haben.“ Und dann kam meine Leitung auf mich zu und meinte: „Die haben sich beschwert und so.“ Und dann hab ich gesagt: „Ist doch ganz einfach. Ich aktiviere die. Das ist aktivierende Soziale Arbeit, wie es im SGB II drinsteht und wie es der Peter Hartz in seinem Buch […] propagiert und haben will.“ Und dann hat die dem Jobcenter zurück gemeldet: „Wir haben die aktiviert, das ist das, was ihr wollt.“

Bekanntlich lässt sich in konkrete Beratungssituationen nur sehr begrenzt „reinregieren“. Doch obiges Beispiel verdeutlicht Handlungsspielräume auch auf der konzeptionellen Ebene einer Maßnahme. Ein ausdrücklich missbilligtes Modul innerhalb einer Maßnahme muss auch nicht direkt zum Verlust der Wertschätzung der Behörde für eine Maßnahme insgesamt führen. Vielleicht erhöht es am Ende sogar Vermittlungsquoten sich wiederaufrichtender Bürger_innen?

434 B. Benz    2.4 Sicherung nach Art und Umfang unbestimmter sowie freiwilliger Leistungen Von der Wertschätzung seitens der Finanziers besonders abhängig sind soziale Leistungen, die gesetzlich nach Art und Umfang unbestimmt (z.B. Angebote der Jugendarbeit) bzw. freiwillig (z.B. etliche Frauenhäuser) zu fördern sind. Sie stehen oft unter besonderem Finanzierungsdruck und Risiko von Haushalts- bzw. Refinanzierungskürzungen und sind daher auf eine Lobby zu ihren Gunsten in Entscheidungsgremien angewiesen. In gleich zwei Interviews wird allerdings darauf hingewiesen, sich zum Schutz der eigenen finanziellen Basis ggf. auch auf Rechtsgutachten zu berufen, was von Druck zu „politischem Wohlverhalten“ entlasten kann. So berichtet der / die Amtsleiter_in: Was erstaunlicherweise nicht passiert ist, das ist mir gelungen, im Bereich Jugendsozialarbeit und Jugendarbeit fanden – jetzt soweit der Kreis zuständig war – keine Reduzierungen statt. […] Ich habe relativ früh mich bezogen auf ein Rechtsgutachten, das sich dann in der Höhe wieder orientierte an Berlin. Dort gab es ein Papier, dass der Anteil des gesamten Jugendhilfehaushalts für die Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit etwa 10 Prozent betragen sollte, damit er nicht rechtswidrig ist. Wir lagen bei 8,9 Prozent oder 9 Prozent. Und mit diesem Rechtsgutachten war das erstaunlicherweise gesichert.

Auch im Interview mit dem / der Mitarbeiter_in des von Schließung bedrohten kommunalen Jugendzentrums wurde auf Sollgrößen abgehoben, lanciert an freie Träger: […] Es gibt eine Zahl von der Landesstatistikstelle. Und da liegt [die Stadt] bei den kreisfreien Städten auf dem zweitletzten Platz. Und der Kinder- und Jugendbericht von [dem Bundesland] fordert 5 Prozent vom Kinder-Jugendhilfeetat. Laut […] dem Landesamt für Statistik gibt [die Stadt] 2,9 Prozent aus. Und dadurch, dass sich die Falkengruppe bei uns im Haus trifft, hab ich mit denen das besprochen. Wir können als Kommunalbeschäftigte nicht demonstrieren gehen und keine Proteste vorm Jugendhilfeausschuss machen. Aber was wir machen können ist, wir können junge Menschen darauf aufmerksam machen, dass es da so Anknüpfungspunkte gibt, wo sie für ihre Interessen einstehen können. Und das ist gedeckt vom Kinder- und Jugendhilfegesetz, meiner Ansicht nach. Das beißt sich ein bisschen mit meinem Dienstverhältnis, […] dass es in der Stadtverwaltung einen Begriff gibt, der nennt sich Eckwertebeschluss. Und da wird uns schon Loyalität abverlangt. Zu diesem Eckwertebeschluss. Das heißt, dass es keine Mehrausgaben geben darf und so. […] Ich bin da aber auch gleichzeitig den Interessen der Jugendlichen verpflichtet, laut […] Bundesgesetz. Und da muss ich dann als Fachkraft bzw. als Profi, muss ich da abwägen. Und dadurch, dass ich mich nicht

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einfach nur als [Bedienstete_r] der Stadtverwaltung, sondern als [Sozialarbeitende_r], als [Sozialpädagoge / Sozialpädagogin] verstehe, sag ich dann: „Das ist ja so ähnlich wie bei einem Arzt, der für eine Klinik arbeitet und operiert.“ So muss ich dann abwägen, ja was ist eine fachlich gute Jugendarbeit? Und wenn dann vom Landesjugendhilfeausschuss und von dieser Kommission für den Kinder- und Jugendbericht eine Zahl präsentiert wird […], dann mach ich doch einen sozialistischen Jugendverband darauf aufmerksam. Was ich nicht gemacht hab, ist: […]. Also ich hab das Gebot gehalten, dass ich keine Parteienpolitik mache. Das könnten, hätten die [Falken] machen können, aber das haben die auch nicht gemacht. Sie sind auf den Jugendring zu, aber da gab es halt keine Resonanz.

Wieder wird die Bedeutung der Argumentation mit fachlichen (Mindest-)Standards deutlich. Es zeigen sich auch erneut a) systematisch unterschiedliche Handlungsspielräume kommunaler und frei-gemeinnütziger Institutionen sowie b) die unterschiedliche (Nicht-)Nutzung dieser Handlungsspielräume durch Fach- und Leitungskräfte vor Ort. Hierzu gehören nicht zuletzt Jugendliche, Arbeitslose usw. ermächtigende Strategien und Träger(gruppen) übergreifende Koalitionsmöglichkeiten. 3

Politischer Widerspruch in Behörden und föderalen Ordnungen

Ist man mit (fachpolitischen) Entscheidungen in Organisationen nicht einverstanden, bleiben einem drei Handlungsoptionen: Loyalität (das Mittragen der Entscheidung aus übergeordneten Gründen), Widerspruch (die Äußerung von Kritik an der Entscheidung mit dem Ziel ihrer Revision) oder Abwanderung (das Verlassen der Organisation).3 Übertragen auf die Leitungsebene einer Kommune oder Behörde gegenüber politisch „unliebsamen“ Mitarbeiter_innen könnte dies fortgesetzte Wertschätzung aus übergeordneten Gründen bedeuten („eine mitunter schwierige, aber fachlich hervorragende Kollegin“), Kritik (Zurechtweisung, Abmahnung etc.) oder im Extrem die Versetzung oder Kündigung des Kollegen / der Kollegin. Oben wurde bereits deutlich, dass sich freie Träger aus mitunter unbegründeter Sorge vor der Aufkündigung der Beziehung seitens der öffentlichen Hand vorauseilend loyal, statt auch widerständig verhalten. Wie sehen dies nun die befragten Fach- und Leitungskräfte der öffentlichen Hand bezogen auf ihre Handlungsspielräume innerhalb der eigenen Kommune und „Familie“ der öffentlichen Hand von Bund, Ländern und Gemeinden? 3

Vgl. Hirschman, Abwanderung und Widerspruch.

436   3.1 Widerständigkeiten auf allen hierarchischen Ebenen

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Zunächst werden begrenzte Möglichkeiten von fachlicher Ausgestaltung, von Steuerungsmöglichkeiten und Veränderung der politischen Kultur eines „Hauses“ (auch) seitens der Amtsleitung (hier des Sozial- und Jugendamtes des Landkreises) deutlich: Wir haben zum Beispiel im Rahmen des rechtlich Möglichen, aber unter größtmöglicher Ausdehnung des Ermessens, mal Bestattungskosten übernommen. Weil ich habe ja immer die Möglichkeit, weites Ermessen oder enges Ermessen auszuüben. Und das war so eine Beamtin [Abteilungsleiterin]: möglichst enges Ermessen. Und die geht zu ihren Mitarbeitern und sagt: „[Der Amtsleiter/Die Amtsleiterin] hat gesagt, wir machen das. Ich bin dagegen.“ oder „Ich war dagegen, aber [er / sie] will das so und jetzt machen wir das halt auch so.“ Das heißt, bis da unten was ankommt, da habe ich einen langen grauen Bart.

… und die konkrete Fälle bewilligenden / ablehenden Mitarbeiter_innen wahrscheinlich viele Fragezeichen. Wie soll ich nun künftig bewilligen? Was bedeutet die ausdrückliche Erwähnung: „ich bin / war dagegen“? Bei Interesse an weiter Auslegung von Ermessensspielräumen zugunsten von Hilfesuchenden mag man bedauern, dass der unmittelbare Durchgriff der Amtsleitung hier durchaus begrenzt erscheint. Umgekehrt würde sich aber wohl auch eine restriktiv orientierte Amtsleitung beklagen, nicht einfach „durchregieren“ zu können. Untergebene Mitarbeiter_innen sind keine Marionetten, und nicht jede Einzelfallentscheidung landet zur Prüfung bei der Abteilungs- oder gar Amtsleitung. Trotzdem scheinen fachlich begründeter Protest und Ungehorsam begrenzt: Innerhalb des Amtes werde – so der / die Sozial- und Jugendamtsleiter_in – von den Mitarbeiter_innen das geringe Maß, Widerspruch zu üben, häufig damit [...] begründet, dass sie ja abhängig seien von der Amtsleitung oder Abteilungsleitung oder der Leitung des Hauses. […] Alle meine Beteuerungen und auch Aufforderungen an Mitarbeiter: übt Kritik, leistet Widerstand, wenn irgendwas geschieht, das gegen eure berufliche Überzeugung oder Berufsethik verstößt, leistet Kritik und Widerstand, stößt einfach nicht auf den Glauben, auch nicht der Hinweis, dass ich als [Amtsleiter_in] mehr von euch Mitarbeitern abhängig bin, als ihr von mir.

Bestärkt wird diese (teils vergebliche) Ermutigung von Fachkräften auch im Interview mit dem / der Jugendhilfeplaner_in:

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Also es gibt ja Grenzen, die man nicht überschreiten darf. Immer wieder. Wo man dann auch vielleicht in arbeitsrechtliche Konsequenzen laufen würde. Also da muss man natürlich schon aufpassen. Andererseits sag ich immer wieder – auch so aus der Historie: „Es haben Menschen sich immer über Grenzen hinwegsetzen müssen. Sonst würden wir heute noch sechs Tage die Woche arbeiten und noch zwölf Stunden jeden Tag und so. Und die haben das unter viel größeren Risiken getan.“ Und ich sehe das so für uns; ich sage immer meinen Kolleginnen hier: „Was passiert euch denn, wenn ihr das macht?“ Dann sag ich immer: „Das einzige, was euch passiert ist, dass ihr von eurem Vorgesetzten etwas weniger geliebt werdet. Und das kann man doch wohl aushalten.“ … und man möchte vielleicht hinzufügen: erst Recht als Beschäftigte_r bei Kirchen und freien Trägern!

Zumal auch das dritte Interview mit dem/der Jugendzentrumsmitarbeiter_in hier ein Beispiel für Ungehorsam mit erträglichen Folgen leistet: […] Es gab mal einen Anruf von einer Journalistin. Und das wurde uns dann vom Haupt- und Personalamt zum Vorwurf gemacht. Dass wir da mit der Presse geredet haben, ohne dass das über die Pressestelle ging. Da gab‘s auch einen bösen Brief. Aber da ist nie eine Abmahnung draus geworden. Es wurde angedroht, dass es eine gibt, aber da ist keine draus geworden.

Auch hier wurde eine „begrenzte Grenzverletzung“ nicht einfach hingenommen. Auch hier war sie nicht mehr und nicht weniger als „unliebsam“. 3.2

Kinderarmut – unerhörte Problemanzeigen

In einer Sequenz des Gesprächs mit dem / der Jugendhilfeplaner_in wird gleichwohl die (wiederum begrenzte) Möglichkeit von Vorgesetzten deutlich, „Maulkörbe“ zu verhängen: […] in der Jugendhilfe hier und gerade für mich als [Jugendhilfeplaner_in] – im direkten Kontakt mit der Politik – ist es ja immer so, dass man versucht fachlich Dinge zu begründen, die man versucht in die Politik einzuspeisen und die Politik dazu zu bringen, dafür Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Und da gibt es natürlich Vorgaben. Also es gibt Dinge, die soll man nicht sagen, im öffentlichen Raum. Und dann versucht man die so weit wie möglich auszuloten. Ich sag das mal an einem sehr aktuellen Beispiel hier im Moment. […] im Bereich der OGS [offenen Ganztagsschule] […] gab es einen Qualitätszirkel, der stand die ganze Zeit unter dem Arbeitstitel „Ungleiches ungleich behandeln“. Also es ging darum, Standorte von Grundschulen, die sozial belastet sind, im Bereich der offenen Ganztagsgrundschule mit mehr Ressourcen auszustatten. […] als ich das […] im Jugendhilfeausschuss gesagt habe, […] wurde klar, das kostet mehr Geld. Und da habe

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B. Benz 

ich intern schon Ärger gekriegt, dass ich das nicht hätte sagen dürfen, weil das sozusagen aus den Parteien kommen müsste. Also so an der Stelle. Und ich habe die Vorgabe gekriegt, dieses Thema „Ungleiches ungleich zu behandeln“ – also den Begriff, dieses Wort, diesen kurzen Satz, den darf ich nicht mehr sagen. […] Natürlich kann ich jetzt provokant […] einfach – mich kann ja keiner daran hindern – das trotzdem sagen und mir weiteren Ärger einfahren oder ich kann es anders nennen. […] Also, das ist für mich so ein Beispiel, wie man versucht also noch mal Handlungsspielräume – also die Politik will eigentlich gar nicht, dass so deutlich wird, dass es so extreme soziale Unterschiede in Kindergärten und Schulen gibt, weil sie immer Angst davor haben, dass bestimmte Schulen oder Kindergärten stigmatisiert werden. Und anderseits muss man aber fachlich auf diese strukturellen Unterschiede hinweisen – und muss auch unterschiedliche Ressourcen einsetzen –, weil diese benachteiligten Kinder sonst eben nicht ausreichend gefördert werden können. Und das […] erlebe ich als [Jugendhilfeplaner_in], das ist seit zehn Jahren – och, noch länger – so ein Spiel (fast wie ein Spiel), was wir treiben. Ich habe eine Sozialraumanalyse für [die Stadt] gemacht, mit den ganzen Unterschieden und so. Mach immer wieder Fachberichte, wo ich immer wieder auf dieses Thema hinweise: Kinderarmut, Benachteiligung, soziale Bildungsbenachteiligung und so weiter. Und die Politik will das eigentlich gar nicht laut hören, weil das sind keine Themen, mit denen man Wahlen gewinnt […]. Und das ist ein ständiges; also für mich persönlich ist es auch – ich krieg auch öfters mal einen drauf – ist das so ein ständiges Ausloten. Wie viel bringe ich an welcher Stelle rein und versuche so den Handlungsspielraum sukzessive zu erweitern, um zum Beispiel strukturelle Förderung hinzukriegen? Und wo mach ich mir eine Tür auch zu, wenn ich mit dem Kopf durch die Wand will?

Deutlich wird die Perspektive dieses / dieser Jugendhilfeplaner_in, primär danach zu fragen, was ihm / ihr fachlich-programmatisch notwendig erscheint (policy) und welche politischen Handlungsalternativen er / sie zur Beförderung dieser Programmatik – angesichts seiner / ihrer Handlungsmöglichkeiten und -grenzen (als spezifischen Teil der Exekutive; polity) – erfolgversprechend einsetzen kann und welche vermutlich nicht (politics).4 Dies unterscheidet ihn / sie zunächst nicht von Fachpolitiker_innen und erkennt durchaus an, dass die grundlegende Programmentscheidungen treffenden Rats-und Ausschussmitglieder anderen Handlungslogiken (u.a. Wiederwahlinteressen) folgen oder Argumente (Sorge vor Einrichtungs- oder Quartiersstigmata) anders gewichten. Volker Eichener hat am Beispiel nationaler Fachminister auf dem EU-europäischen Parkett anschaulich die vielfältigen für sie entscheidungsrelevanten Interessen sowie die dar4

Zur analytischen Scheidung von Politik in eine strukturelle (polity), inhaltliche (policy) und prozesshafte Dimension (politics) im Feld Sozialer Arbeit vgl. Benz/Rieger, Politikwissenschaft für die Soziale Arbeit, 79 ff.

Hilfe unter Protest

439 

aus sich ergebenden Interessenbalancen herausgearbeitet.5 Diese Balancen speisen sich aus zum Teil völlig gegensätzliche Entscheidungen nahelegenden Einzelerwägungen (etwa zu Wiederwahl- und Problemlösungsinteressen, Ressortstärkungs- und Verantwortungsabschiebewünschen, unterschiedliche Entscheidungsvarianten fordernden Loyalitäten) und sind nur bzw. immerhin in manchen Fällen, manchmal nur in begrenzten Zeitfenstern und mit auf allen Seiten begrenzten Mitteln in die gewünschte Richtung zu irritieren. 3.3

Begrenzte Spielräume hat nicht nur die soziale Fachpraxis, sondern auch die Politik

Denn nicht nur auf Seiten der sozialen Fachpraxis sind die Mittel und Möglichkeiten begrenzt, dies betrifft – in nicht totalitären Regimen und gerade in föderalen Ordnungen – auch die (kommunal-, landesusw.) politischen Entscheidungsträger_innen selbst. Kommunale (und auch frei-gemeinnützige) Fachpraxis ist deren Entscheidungen und Interessen nicht ohnmächtig ausgeliefert, wie eine weitere Sequenz im Interview mit dem / der Sozial- und Jugendamtsleiter_in zum Spagat zwischen kommunaler Haushaltsnot und bundesgesetzlich verbrieften Rechtsansprüchen hilfebedürftiger Familien sowie Schutzaufträgen der öffentlichen Hand (Art. 6 Grundgesetz; § 1666 Bürgerliches Gesetzbuch, §§ 27–35 SGB VIII) verdeutlicht: Wir hatten in dem Haushalt von knapp 90 Millionen noch 110.000 Euro klassische freiwillige Leistungen, die eindeutig freiwillig waren. „Die“, habe ich gesagt, „stelle ich ihnen zur Verfügung.“ „Nein, der Haushaltsansatz vor allen Dingen für die Hilfen zur Erziehung, muss reduziert werden“, war die Antwort. Dafür hätte ich durch Steuerungsmaßnahmen zu sorgen. Daraufhin habe ich dem Landrat wenig diplomatisch gesagt: „Wissen Sie, Herr Landrat, Sie können von mir aus den Haushaltsansatz auch auf null setzen. Ich brauche dann nur von Ihnen schriftlich – das will ich dann aber schriftlich von Ihnen –, dass wir keine Leistungen mehr erbringen können, weil kein Geld da ist. Oder wenn Sie den Ansatz heruntersetzen und der Haushaltsansatz reicht nicht aus, dass wir – das brauche ich aber auch schriftlich von Ihnen –, dass wir den Antragstellern mitteilen: ‚Sie müssen den Antrag im nächsten Jahr stellen, wenn wieder Geld im Haushalt ist. Sie kommen jetzt leider nicht zum Zuge.‘“ Da war an dem Punkt das Gespräch fast beendet. Hat er sich natürlich nicht drauf eingelassen. Das Haushaltsgespräch ging zu Ende und dann wurde politisch entschieden, den Haushaltsansatz, den wir angemeldet und hochgerechnet hatten, um 3,2 Millionen zu senken. Als das Haushaltsjahr rum war und der erste vorläufige Haushaltsabschluss vorlag, hatte der Haushalt ein Defizit von 3,8 Millionen Euro. Das ist bei den Hilfen 5

Eichener, Das Entscheidungssystem der Europäischen Union, 181 ff.

440  

B. Benz 

zur Erziehung eine Punktlandung. Also wir hatten uns um 600.000 Euro verrechnet. Dann wurde ich aufgefordert, eine schriftliche Stellungnahme abzugeben, was ich getan hätte, steuerungsmäßig und warum die Steuerung nicht ausgereicht hätte, um den Haushalt einzuhalten. Und da habe ich nichts anderes gemacht als aufzuschreiben, wie der Vorgang war. Dass unsere Haushaltsplanung hochgerechnet auf die statistischen Daten quasi eine Punktlandung ist und dass das nichts mit Steuerungsversagen zu tun hat. Und sie mögen mir doch bitte mitteilen, wo sie glauben, dass das Steuerungsversagen ist. So, nach diesem Schreiben ging es dann noch vier Monate, bis mir dann mitgeteilt wurde, dass man auf eine weitere Zusammenarbeit mit mir verzichtet. Also auch das ist eine Form von Widerstand im Blick auf kritikwürdige Zustände.

Sitzt die Politik im geschilderten Fall wirklich „am längeren Hebel“? Bezogen auf den „Rauswurf“ ja; bezogen auf die individuellen Rechtsansprüche Hilfesuchender legt sie derzeit Hand an sie (SGBVIII-Reform) und bezogen auf den Kostendruck ist die Versuchung sicher auch für die neue Amtsleitung groß, ihn auf freie und ggf. privat-gewerbliche Träger stationärer Erziehungshilfen abzuwälzen. Der zum Teil mangelnde Zusammenhalt freier Wohlfahrt (s.o.) macht nicht eben Mut, dies solidarisch abzuwenden – es ist aber auch nicht ausgeschlossen. Am (ja nur vorläufigen) Ende der oben zitierten Auseinandersetzung steht tatsächlich die Realisierung der Exit-Option (Abwanderung / Kündigung / Versetzung in den Ruhestand), ein hoher Preis für die Gewährleistung von Rechtsansprüchen in der Jugendhilfe. Hier hätte es wohl Bündnispartner_innen gebraucht. In einem anderen Fall in Halle an der Saale konnte 2007 über massiven und ideenreichen amtsinternen und träger(gruppen)übergreifenden Widerspruch eine rigide örtliche Ambulantisierungs- / Kostensenkungspolitik in den Hilfen zur Erziehung zumindest teilweise abgewendet werden.6 Ein letztes Beispiel zu begrenzten Handlungsmöglichkeiten auch der Politik im Bereich der lokalen Umsetzung von Förderprogrammen eines Bundeslandes, das der / die Jugendhilfeplaner_in berichtet: Dieses [Förderprojekt für Einrichtungen mit besonders vielen sozial benachteiligten Kindern], wo ja die Vorgabe war vom Land, zu sagen: „Die 25.000 Euro, die verteilt ihr weiter an [die Einrichtungen] und dafür müssen die pädagogisches Personal einstellen.“ Wo wir dann gesagt haben: „Nee, wir überlegen mal, ob wir das anders machen. Fassen das zusammen, das Geld, und bündeln das und versuchen multiprofessionelle Unterstützung in [den 6

Vgl. Herwig-Lempp, Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt.

Hilfe unter Protest

441 

Einrichtungen] zu kriegen.“ Das haben wir ja auch gemacht in [der Stadt], und das hat […] zu heftigen Protesten geführt, weil die gesagt haben: „Ihr dürft überhaupt keinen Kinder- und Jugendpsychiater oder Psychotherapeuten […] – dürft ihr gar nicht daraus beschäftigen. Es ist kein pädagogisches Personal.“ Und wir haben dann aber (...) dieses Modell […] immer wieder auf Fachtagungen vorgestellt. Ich habe auch eine Publikation dazu gemacht […]. Also wir haben provoziert. Daraufhin erstens das zu verankern, weil eine Reihe Städte sich bei uns gemeldet haben und gesagt haben: „Mensch, das ist ja ein interessanter Gedankengang. Das würden wir auch gerne tun. Könnt ihr uns da beraten?“ Und das andere, dass ich immer dem Kollegen vom Landesjugendamt, aber auch vom Ministerium, gesagt habe: „Untersagen Sie uns das doch.“ Und das haben sie sich bis heute nicht getraut. Und mittlerweile hat der Widerstand auch abgenommen. […] Wir machen es jetzt seit über fünf Jahren, obwohl es eigentlich gar nicht erlaubt ist. Nach ihrer Auffassung. Aber es traut sich auch keiner zu sagen: „Liebe Stadt […], ihr müsst das jetzt einstellen. Ihr dürft das nicht mehr machen.“

In der Programmumsetzung nutzen also nicht nur freie Träger (s. das Beispiel eines aktivierenden Moduls in der Beschäftigungsförderung) Handlungsspielräume zur fachlich für richtig befundenen Ausgestaltung auch gegen Interessen und zum Teil Vorgaben der Mittelgeber. 4

Fazit

Jenseits von Allmacht oder Ohnmacht zeigen sich in der Tat bei Kirchen, freien Trägern und der öffentlichen Hand auf der Organisations- und der Personalebene eine Fülle begrenzter (!) Handlungsspielräume (!). Sie lassen sich in allen idealtypischen Phasen7 (armuts- / jugendhilfe-)politischer Prozesse ausmachen. Im Folgenden werden die in den für diesen Beitrag ausgewählten Interviewpassagen angesprochenen Handlungsspielräume noch einmal zusammengetragen:8

7

Vgl. Jann/Wegrich, Phasenmodelle und Politikprozesse. Insgesamt sind Strategievarianten und mikropolitische Handlungsoptionen sehr vielfältig; vgl. Raschke/Tils, Politische Strategie; Neuberger, Mikropolitik und Moral in Organisationen.

8

442  

B. Benz 

Tabelle 1: Beispiele für Handlungsspielräume der kommunalen Jugendhilfe, von Kirchen und freien Trägern Öffentlicher Träger

Freie Träger und Kirchen

Problemdefinition

auf Grenzen gezielter Förderung benachteiligter Kinder in undifferenziert ausgestatteten Einrichtungen einer sozial segregierten Stadt hinweisen

Möglichkeit nutzen, Probleme zu identifizieren …

Agenda Setting

Jugendliche unterstützen, ihre Anliegen öffentlich zu vertreten

… und zu setzen

„Maulkörbe“ ignorieren oder mit Synonymen umgehen

Fragen an mit „Maulkorb“ versehene Jugendamtsmitarbeiter_innen im Jugendhilfeausschuss stellen

Gespräch mit der Presse ohne Rücksprache mit der Pressestelle führen freie Träger um Unterstützung bitten Entscheidungsfindung

geplante Maßnahmekonditionen intern ablehnen (nicht- / )öffentliche Ausschusskulturen etablieren Entscheidungsalternativen einbringen, sozial ungleich „belegte“ Einrichtungen finanziell un- / gleich auszustatten

Umsetzung

Spielräume bei der inhaltlichen Ausgestaltung von Programmen nutzen bzw. beanspruchen Spielräume pflichtgemäßen Ermessens bei Bewilligungen nutzen zur Abwehr von Kürzungen bei der Ge-

(nicht- / )öffentliche Ausschusskulturen etablieren versuchen, durch kollektive Weigerung der Beteiligung am Programm eine Revision der Entscheidung zu fachlich inakzeptablen Programmstandards zu erreichen

Spielräume bei der inhaltlichen Ausgestaltung von Programmen nutzen bzw. beanspruchen

443 

Hilfe unter Protest währung von Pflichtleistungen auf schriftliche Anweisung zu rechtswidrigem Verhalten bestehen Evaluation

auf soziale Probleme in Sozialraumanalysen und Fachberichten hinweisen

tatsächliche Finanzmittel für Jugendarbeit mit Mindestwerten abgleichen und die Diskrepanz problematisieren

Terminierung

bei drohender Einrichtungsschließung: Hinweis an Dritte auf Gutachten zur (klagerelevant) minimalen Finanzausstattung der Jugendarbeit

bei drohender Einrichtungsschließung: - Hinweis auf Gutachten zur (klagerelevant) minimalen Finanzausstattung der Jugendarbeit - Mobilisierung von Parteien und des Jugendrings

Deutlich werden u.a. Grenzen des Durchgriffs, sowohl horizontal (etwa des örtlichen Jobcenters auf den örtlichen Maßnahmeträger oder der Stadtverwaltung auf die freien Träger und den Jugendring) als auch vertikal (etwa des Bundeslandes auf die städtische Ausgestaltung seines Programms). Umgekehrt zeigen sich aber auch Grenzen von Handlungsspielräumen und Risiken ihrer Nutzung in den Interviews, so zu folgenden Stichworten: a) bei der kommunalen Jugendhilfe: Bindung an einen (Eckwerte-) Beschluss; „Schranke“ zwischen dem Handeln als städtische_r Mitarbeiter_in und der Parteipolitik sowie Demonstrationen / Protesten beim Jugendhilfeausschuss; Widerstände auf mittlerer Leitungsebene (Umgang mit „Ermessensspielräumen“); Durchsetzung inakzeptabler Betreuungsstandards trotz interner Ablehnung (Dienstauftrag); erfolgloses Setzen auf die fachliche Widerständigkeit freier Träger; Etatkürzungen trotz Widerstands (politischer Beschluss); Verlust der Beliebtheit bei Vorgesetzten; Ermahnungen durch das Ministerium; Androhung einer Abmahnung; Verbot einer Äußerung („Maulkorb“); Kündigung; b) bei den freien Trägern: erfolglose Ansprache des Jugendrings; Risiko nicht geschlossener Ablehnung inakzeptabler Programmstandards (Trägerkonkurrenz).

444 B. Benz    Einige dieser Begrenzungen und Risiken sind nicht wirklich Besorgnis erregend und nicht in der Lage zu rechtfertigen, dass man bestehende Handlungsspielräume nicht nutzt. Andere sind durchaus erheblich und ggf. beruflich existenzgefährdend. Deutlich wird die Bedeutung a) des Selbstverständnisses und Handelns von Trägern (als „Auftragnehmer“, „politischer Akteur“, …), b) der Haltung und des Handelns von Fach- und Leitungskräften (als „Beschäftigte“, „Fachkraft“, …) und c) sowohl systematischer (s. kommunale Haushaltsnot) als auch „zufälliger“ (kontingenter) Kontextbedingungen (s. konkurrenzgemäße versus solidarische Antwort freier Träger auf inakzeptable Betreuungsstandards und als lokal unterschiedlich beschriebene Kulturen in Jugendhilfeausschüssen9). Zu politisch (selbst-)kritischem Agieren von Kirchen und freien Trägern wurde in den Interviews teils nachdrücklich aufgerufen. Es erscheint vielfach hilfreich, teils gar notwendig, um begrenzte Handlungsspielräume von Fach- und Leitungskräften der kommunalen Jugendhilfe zu ergänzen. Verbindungen von tätiger Hilfe mit dem Eintreten für andere Politiken zeigen sich – nach innen (verwaltungsintern etwa gegenüber fachlich unakzeptablen Betreuungskriterien), – zur Seite der freien Träger (etwa gegenüber Verbandspolitiken, die solche Standards akzeptieren) und zur Seite der Kommunalpolitik (etwa bezogen auf die Nichtthematisierung von Kinderarmut und sozialräumlicher Segregation) sowie – nach oben (etwa beim Ungehorsam gegenüber Fördervorgaben des Landes). Die Verhinderung, Linderung und Überwindung von Armut und sozialer Ausgrenzung braucht viel mehr, als in den Kräften von Trägern, Fach- und Leitungskräften des Sozialwesens liegt.10 Sie braucht aber auch nicht weniger als den Einsatz und die Entwicklung dieser Kräfte.

9

Die in ihrer Summe jedoch auch erschreckend gleichläufig dem ursprünglichen Anspruch nicht gerecht werden; vgl. Schneider u.a., Jugendhilfe: Ausschuss?. 10 Siehe hierzu am Beispiel der Kinder- und Familienarmut etwa eaf-nrw, Satt an Leib und Seele.

Hilfe unter Protest

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Literatur Benz, Benjamin, Armenhilfepolitik, in: ders. u.a. (Hg.), Politik Sozialer Arbeit, Band 2: Akteure, Handlungsfelder und Methoden, Weinheim / Basel 2014, 122–140. Benz, Benjamin, Von „Sozialhilfefrauen“, „Kirchenasylen“ und „Tafelkunden“, in: Diana Franke-Meyer / Carola Kuhlmann (Hg.), Soziale Bewegungen und Soziale Arbeit, Wiesbaden 2018, 251– 263. Benz, Benjamin / Rieger, Günter, Politikwissenschaft für die Soziale Arbeit, Wiesbaden 2015. eaf-nrw – Evangelische Arbeitsgemeinschaft Familie. Landesarbeitsgemeinschaft Nordrhein-Westfalen, Satt an Leib und Seele, Düsseldorf 2017. Eichner, Volker, Das Entscheidungssystem der Europäischen Union, Opladen 2000. Herwig-Lempp, Johannes, Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt, Forum Sozial 4 (2009), 8–12. Hirschman, Albert O., Abwanderung und Widerspruch, Tübingen 1974. Jann, Werner / Wegrich, Kai, Phasenmodelle und Politikprozesse: Der Policy Cycle, in: Klaus Schubert / Nils C. Bandelow (Hg.), Lehrbuch der Politikfeldanalyse 2.0, 2. Aufl., München 2009, 75– 113. Neuberger, Oswald, Mikropolitik und Moral in Organisationen, 2. Aufl., Stuttgart 2006. Raschke, Joachim / Tils, Ralf, Politische Strategie, Wiesbaden 2007. Schneider, Armin / Beckmann, Kathinka / Roth, Daniela, Jugendhilfe: Ausschuss?, Opladen u.a. 2011.

  Guntram Schneider

Armut und gesellschaftliche Teilhabe schließen sich aus – politische Herausforderungen

Die Tatsache, dass in der Bundesrepublik seit geraumer Zeit eine statistisch relevante Armut existiert, ist zwischenzeitlich Allgemeingut in der Politik geworden. Viele Untersuchungen, insbesondere des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und der Bertelsmann Stiftung, weisen schlüssig nach, dass circa 20 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen sind. Die Dimensionen der Armut sind regional sehr unterschiedlich zu sehen. Bestimmte Bevölkerungsgruppen tragen allerdings ein besonders ausgeprägtes Armutsrisiko. Besonders von Armut betroffen sind Familien mit zwei und mehr Kindern. Eine besondere Risikogruppe bilden ältere, alleinstehende, erwerbstätige Frauen, die angesichts des großen Niedriglohnsektors drohen, in Altersarmut zu geraten. 1

Armut und ungerechte Vermögensverteilung haben zur gesellschaftlichen Spaltung geführt: Die Klassenspaltung ist real

Der tendenziell steigenden Armut in Deutschland steht eine Bevölkerungsgruppe gegenüber, deren Vermögen stetig wächst. 10 Prozent der Menschen verfügen über 60 Prozent der Vermögen, während 40 Prozent zu den gesellschaftlichen „Habenichtsen“ gehören, d.h., über kein Vermögen verfügen. Die Dimension des Auseinanderklaffens von Arm und Reich und damit der gesellschaftlichen Spaltung sind für Menschen, die sich nicht permanent mit den in Rede stehenden Fragestellungen beschäftigen, kaum mehr zu erfassen. Wer kann sich schon vorstellen, was eine Milliarde ist? Im Übrigen wird die Gerechtigkeitsfrage angesichts der skandalösen Vermögensverteilung höchst unterschiedlich beantwortet. Während man einem durchschnittlichen Bundesligaspieler ein Millionenvermögen durchaus zubilligt, werden hohe Gehälter für das politische Personal oder Verbandsfunktionäre in Frage gestellt. Tatsache ist, dass Armut und ungerechte Vermögensverteilung schon heute zu einer tiefgreifenden gesellschaftlichen

Armut und gesellschaftliche Teilhabe

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Spaltung geführt haben. Dies bezieht sich nicht nur auf materielle Ungleichgewichtungen. Arme oder von Armut bedrohte Menschen haben kaum mehr Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe. Sie nehmen bewusst oder unbewusst nicht mehr am politischen oder gesellschaftlichen Diskurs teil. Sie sind auch von kultureller Armut bedroht. Das heißt nicht, dass materiell Begüterte sich durch Teilhabe am kulturellen Leben auszeichnen. 2

Unser Bildungssystem ist nicht durchlässig

In der öffentlichen Debatte wird sehr oft der Mangel an formaler Bildung mit hohem Armutsrisiko gleichgesetzt. Und in der Tat ist Arbeitslosigkeit tendenziell für Erwerbstätige mit hohem Bildungsniveau weitaus ungefährlicher. Viele der derzeitig vorhandenen Arbeitslosen verfügen über eine geringe berufliche Qualifizierung. Allerdings wäre es zu einfach, formal hohe Bildungsabschlüsse generell mit einem Zugang zur Erwerbsarbeit quasi als Automatismus gleichzusetzen. Viele Akademikergruppen drohen heute, in ein weit gefächertes Prekariat zu geraten. Zu denken ist hier zum Beispiel an Journalistinnen und Journalisten, aber auch viele Menschen mit akademischem Abschluss in den sogenannten Orchideenfächern, die gesellschaftlich sehr wertvoll sind, aber bezogen auf ihre Wertigkeiten in der kapitalistischen Ökonomie wenig bieten. In der Vergangenheit, aber auch in der Gegenwart, herrschte breiter gesellschaftlicher Konsens darüber, dass Bürgerinnen und Bürger und gerade junge Menschen die Möglichkeit haben müssen, über persönliche Anstrengung gesellschaftlichen Aufstieg zu realisieren. Dies war geradezu naturwüchsig mit relativ hohen und stabilen Einkommen, ja mit sozialer Sicherheit verbunden. Heute ist dieser „Gesellschaftsvertrag“ zumindest erschüttert. Unser Bildungssystem ist nach wie vor nicht durchlässig. Während ein Kind aus einer Akademikerfamilie geradezu in einem Automatismus über unser Schulsystem den Weg zur Hochschule findet, liegt der Anteil der Kinder aus Arbeiterhaushalten, die ein Studium absolvieren, bei unter 25 Prozent. Unser Bildungssystem ist deshalb keinesfalls integrativ, sondern selektiv und verfestigt das vorhandene System sozialer Schichtungen. Die in Deutschland vorhandene Elitenforschung weist eindrucksvoll nach, dass im Gegensatz zu fast allen vergleichbaren Ländern die sogenannten Eliten sich über das vorhandene Bildungssystem selbst reproduzieren. Wenn sich daran nichts ändert, wird die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs über ein

448 G. Schneider    mehr an Bildung begrenzt bleiben. Deshalb muss weiterhin in der bildungspolitischen Diskussion die Schulstruktur problematisiert, ja verändert werden. Politische Richtschnur muss sein, dass das gesamte Bildungssystem von den Kindergärten über Schule, Berufsbildung, Hochschule bis zur Fort- und Weiterbildung beitrags- und gebührenfrei gestellt wird. Allerdings ist soziale Gerechtigkeit und damit Armutsbekämpfung nicht nur ein materielles Thema. Unser Bildungssystem ist inhaltlich, aber vor allem sprachlich orientiert am klassischen deutschen Bildungsbürgertum. Auch das durch die Digitalisierung veränderte Sprachverhalten junger Menschen ist nicht verbunden mit einer generellen Veränderung der im Bildungssystem erwünschten Hochsprache. Dieses Thema wird angesichts der Zuwanderung in die Bundesrepublik und der damit verbundenen Herausforderungen an das Bildungssystem an Bedeutung gewinnen. 3

Berufsausbildung und akademische Bildung sind gleichwertig

Das duale System der beruflichen Bildung ist angesichts der Tatsache, dass in Nordrhein-Westfalen fast 70 Prozent der Grundschülerinnen und Grundschüler und deren Eltern den Besuch eines Gymnasiums wünschen, in die Defensive geraten. Die große Wirtschaftskraft Deutschlands, verbunden mit den Exporterfolgen und der in vielen Bereichen vorhandenen Technologieführerschaft, ist nicht zuletzt auf das duale Ausbildungssystem zurückzuführen. Ein Trugschluss wäre es, die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft gleichzusetzen mit einem Bedeutungsverlust der dualen Berufsausbildung. Im Gegenteil: Viele Ausbildungsberufe werden ökonomisch und gesellschaftlich an Bedeutung gewinnen, während manche akademischen Berufe mit hoher gesellschaftlicher Wertigkeit und den entsprechenden Einkommen weniger gefragt sind. Man denke hier nur an den privaten Dienstleistungssektor, aber auch den Groß- und Außenhandel oder die Jurisprudenz. Deshalb ist Teil einer Strategie der Armutsbekämpfung das Heranführen möglichst vieler junger Menschen an eine Ausbildung im dualen Ausbildungssystem. Dies wird allerding nur gelingen, wenn die Wertigkeit zwischen manuellen beruflichen Tätigkeiten und intellektuellen als Ideologie entlarvt wird. In Industrie und Handwerk ist jede sogenannte manuelle Tätigkeit schon längst mit ganz erheblichen intellektuellen Tätigkeiten verbunden. Man denke hier nur an Programmierungsprozesse!

Armut und gesellschaftliche Teilhabe

4

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Das Prinzip von Angebot und Nachfrage führt nicht zur Realisierung des Menschenrechts auf akzeptables Wohnen

Das Recht auf Wohnen ist ein Menschenrecht. Dieses Menschenrecht wird aktuell nicht für alle Bürgerinnen und Bürger eingelöst. Ausreichender Wohnraum besonders für Familien mit Kindern zu akzeptablen Mieten ist in den Ballungsräumen bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr vorhanden. Über einen schleichenden Prozess werden die Innenstädte „entleert“, wenn es um Menschen mit normalen und / oder Niedrigeinkommen geht. In der hohen Zeit des Marktradikalismus wurde das Lied, wonach der Markt und seine Gesetzmäßigkeiten das Wohnungswesen – auch sozial – reguliert, gesungen. Heute zeigt sich, dass die Prinzipien von Angebot und Nachfrage eben nicht zur Realisierung des Menschenrechtes auf akzeptables Wohnen führt. Wohnungsnot und Obdachlosigkeit haben ebenfalls an Bedeutung gewonnen – wenn man den vorhandenen gesellschaftlichen Reichtum zugrunde legt, ist dies nicht akzeptabel. Auch in ländlichen Bereichen ist Wohnungsnot durchaus vorhanden, wenn auch sehr oft verdeckt. Dort, wo Großfamilien generationenübergreifend noch funktionieren, wird Wohnungsnot sehr oft aufgefangen. Obwohl wir hier noch von „italienischen Verhältnissen“ weit entfernt sind und das „Hotel Mama“ nicht dominiert, muss dringend in den sozialen Wohnungsbau investiert werden. Obwohl nicht jeder historische Diskurs für die Gegenwart gilt, können hier durchaus Anleihen zum Beispiel an ein funktionierendes Genossenschaftssystem gemacht werden. Das „rote Wien“ ist nicht 1:1 in die Gegenwart umsetzbar, aber zeigt, dass die Übernahme öffentlicher Verantwortung auch zu einer Wohnraumversorgung führen kann, die materiell Benachteiligten finanziell akzeptablen Wohnraum bietet. 5

Der gesetzliche Mindestlohn muss erhöht und dynamisch weiterentwickelt werden

Die Bekämpfung unterschiedlichster Facetten von Armut wird nur möglich sein, wenn sich in der Arbeitsmarktpolitik Grundlegendes ändert. Der allgemeine gesetzliche Mindestlohn, der Gott sei Dank nach jahrzehntelangen Auseinandersetzungen auch in Deutschland eingeführt wurde, muss dynamisch weiterentwickelt werden. Ein Index hierfür ist sicherlich die allgemeine Einkommensentwicklung. Die durchschnittliche Preisentwicklung kann allerdings nur noch bedingt eine Rolle spielen. Dienstleistungen einschließlich der Mieten nehmen, was die Inanspruchnahme des Einkommens anbelangt, an

450 G. Schneider    Bedeutung zu, während andere Konsumbereiche an Bedeutung verlieren. Diese Entwicklung muss sich auch bei der Dynamisierung des gesetzlichen Mindestlohnes widerspiegeln. 6

Arbeitszeiten: Flexibilität ist keine Einbahnstraße

Einkommenspolitisch ist die Tendenz zu immer mehr Teilzeitarbeit schon längst eine Sackgasse. Besonders Alleinerziehende in Teilzeit begeben sich sehr schnell in die Armutsfalle. Deshalb müssen gesellschaftliche Einrichtungen ausgebaut werden, um vollzeitige Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Und natürlich muss die Rückkehr aus einer Teilzeitbeschäftigung in Vollzeit gesetzlich verbrieft werden – weil tarifvertragliche Regelungen für einen immer größer werdenden Teil der Betroffenen nicht greifen. Der gesetzliche Kita-Anspruch und seine Realisierung sind ebenso erforderlich wie das beschriebene Rückkehrrecht in vollzeitige Beschäftigung. Die Zahl der befristet abgeschlossenen Arbeitsverhältnisse nimmt besonders unter jungen Menschen, die einen Arbeitsplatz suchen, trotz ausgezeichneter Wirtschaftslage zu. Eine exportabhängige Ökonomie benötigt bei der Arbeitszeit unterschiedlichste Formen der Flexibilität. Hier spielt Mehrarbeit genauso eine Rolle wie Kurzarbeit. Und auch Befristungen müssen, wenn sie begründet sind, ermöglicht werden. Zu verhindern sind in jedem Fall Kettenarbeitsverträge – und zwar nicht nur in größeren Unternehmen. Menschen, die sich von einer Befristung in die andere retten, haben nicht die Möglichkeit, ihr Leben mittelfristig zu planen und gesellschaftliche Teilhabe zu üben. Flexibilität darf deshalb nicht verwechselt werden mit arbeitszeitpolitischer Anarchie verbunden mit unternehmerischem Direktionsrecht. Flexibilität ist keine Einbahnstraße, sondern muss auch den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und ihren Interessen Perspektive und Sicherheit geben. Die Geschichte des industriellen Kapitalismus war und ist auch immer eine Geschichte der Arbeitszeitverkürzungen. Die soziale Regulierung des Kapitalismus setzt auch voraus, dass der mit Produktivitätsfortschritten verbundene gesellschaftliche Reichtum fair verteilt wird. Hier geht es um Gewinnsteigerungen, damit verbundene Investitionen genauso wie um Einkommenssteigerungen bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und um die Finanzierung von Arbeitszeitverkürzungen. Die heute in vielen Branchen vorhandene tarifliche Arbeitszeit von 35 Stunden hat zunehmend mit der realen Arbeitszeit wenig zu tun. Auch unbezahlte Mehrarbeit ist in vielen Unternehmen

Armut und gesellschaftliche Teilhabe

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an der Tagesordnung. Deshalb geht es arbeitszeitpolitisch zunächst darum, tatsächlich geleistete Arbeitszeit entweder in Geld oder in Zeitausgleich zu vergüten. Zum anderen darf die 35-Stundenwoche nicht mehr als Dogma betrachtet werden. Erste Tarifabschlüsse haben die 35-Stundenwoche durchbrochen, um Zeit zu gewährleisten für Familienleben, Pflege der Angehörigen oder Fort- und Weiterbildung. Mittelfristig wird es darum gehen, Schritte in Richtung 32- bzw. 30-Stundenwoche zu gehen. Natürlich unterschiedlich verteilt. Es wäre auch ökonomisch nicht akzeptabel, einen Entwicklungsingenieur, der in Projekten arbeitet, nach 30 Stunden „nach Hause zu schicken“. Hier geht es um andere Formen der Arbeitszeitverkürzung wie Sabbatjahre, verlängerte Urlaube zwischen einzelnen Projekten usw. Wichtig ist, dass Arbeitszeitverkürzungen nicht nur eine Männer-Angelegenheit sind. In der Arbeitszeitpolitik wird die Familienarbeitszeit eine immer größere Rolle spielen. Die Erwerbstätigkeit der Frau muss auch hier weiter gefördert werden. Beteiligung an Erwerbsarbeit ist auch hier Voraussetzung für gesellschaftliche Beteiligung. Deshalb ist der Gesichtspunkt der Familienarbeitszeit auch gleichstellungspolitisch von hoher Wertigkeit. 7

Von Armut Betroffene müssen wieder zu Subjekten in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung werden

Wirkungsvolle Armutsbekämpfung ist nicht nur zu leisten, indem die politisch Agierenden stellvertretend für arme Bevölkerungsschichten oder von Armut bedrohte Gruppen Politik machen. Unverkennbar ist heute, dass ärmere Menschen sich vom Politikbetrieb zurückziehen, weil sie nicht mehr davon ausgehen, dass politische Aktivitäten ihre soziale Situation verbessern. Die Behauptung, dass arme und sozial deklassierte Menschen den Kern des sogenannten Rechtspopulismus ausmachen, kann nicht nachgewiesen werden. Viel wichtiger sind hier tatsächlich oder vermutlich von sozialem Abstieg bedrohte Bevölkerungsschichten, denen auch Armut droht. Hier sind teilweise undemokratisch artikulierte Abstiegsängste an der Tagesordnung. Im Übrigen ist der Begriff des Rechtspopulismus irreführend, zumal sich hinter diesem Begriff Rechtsextremismus versteckt. Der Globalismus und die damit verbundene Komplexität wirtschaftlicher und sozialer Strukturen führen für viele zu einer „heimlichen Liebe“ nach alten überschaubaren Strukturen und Regeln. Zumal wenn diese, wenn auch nur begrenzt, soziale Sicherheit versprechen. Wichtig ist, dass Meinungsträger sich nicht auf diese Ebene der politischen Auseinandersetzungen begeben. Deutlich werden muss, dass

452 G. Schneider    Armutsbekämpfung und soziale Gerechtigkeit erreicht werden können, wenn sich die Betroffenen selbst wieder um ihre Angelegenheiten kümmern. Dies darf nicht nur mit einer höheren Wahlbeteiligung verbunden sein, sondern hat generell etwas mit Einflussnahme auf die politischen Prozesse zu tun. Ärmere und sozial Ausgeschlossene müssen ihre Objektstellung verlassen und wieder zu Subjekten in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung werden. Dies beginnt in Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege oder auch der Arbeitslosenzentren und hat zu tun mit einer allgemeinen Politisierung. 8

Bedingungsloses Grundeinkommen: Gesellschaftliche Teilhabe in einer Arbeitsgesellschaft ist abhängig von der Teilnahme an Erwerbsarbeit

In diesem Prozess sind u.a. drei Themenbereiche anzusprechen: Aktuell wird politisch ein sogenanntes bedingungsloses Grundeinkommen als Ausweg aus der zunehmenden materiellen und kulturellen Armut betrachtet. Diese Zielsetzung ist nicht nur bei vielen Sozialpolitikern vorhanden, sondern hat auch bei vielen Unternehmern und ihren Verbänden zu einem gewissen Charme geführt. Beim bedingungslosen Grundeinkommen ist zunächst zu überlegen, wie die Finanzierbarkeit sichergestellt werden kann, wenn wirklich ein Grundeinkommen erreicht werden soll, dass ein akzeptables Auskommen ermöglicht. Seriöse Berechnungen gehen davon aus, dass auch dann, wenn andere Sozialleistungen von der Finanzierung der Kitaplätze bis zum Wohngeld wegfallen würden, eine Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes auf bis zu 30 Prozent erforderlich wäre. Zum anderen muss ernsthaft darüber gesprochen werden, ob ein bedingungsloses Grundeinkommen wirklich zur Einebnung sozialer Spaltungen führen kann. Hier wird nicht unterstellt, dass Grundeinkommensempfänger_innen keine weitere Erwerbsarbeit oder andere Tätigkeiten anstreben. Das Gegenteil dürfte der Fall sein. Im Bewusstsein derer, die allerdings umfänglich Erwerbsarbeit leisten, dürften diejenigen, die ein bedingungsloses Grundeinkommen in Anspruch nehmen, als „materielle Kostgänger_innen“ und Sozialhilfeempfänger_innen betrachtet werden. Gesellschaftliche Teilhabe ist eben tatsächlich in einer Arbeitsgesellschaft abhängig von der Beteiligung an eben dieser! In keinem Fall darf zugelassen werden, dass ein wie auch immer geartetes Grundeinkommen zum „Freikauf“ bestimmter sozialer Gruppen hinsichtlich negativer Auswirkungen wirtschaftlicher und technologischer Prozesse führen.

Armut und gesellschaftliche Teilhabe

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Digitalisierung: neue beschäftigungspolitische Herausforderungen für unsere Arbeitsgesellschaft

Die Digitalisierung wird, ohne zu übertreiben, mit dem Fortfall auch qualifizierter Tätigkeiten in einer Größenordnung von mehreren Millionen führen. Hier werden nicht die Tatarenmeldungen übernommen, die davon ausgehen, dass 50 Prozent der Arbeitsplätze im Erwerbssystem wegfallen. Aber Digitalisierung wird unsere Arbeitsgesellschaft zu völlig neuen beschäftigungspolitischen Herausforderungen führen. Neben vielen anderen Maßnahmen wird hier aus Gründen der sozialen Stabilität die Entwicklung eines Sozialen Arbeitsmarktes an Bedeutung gewinnen. Trotz der guten Wirtschaftslage sind in NordrheinWestfalen immer noch fast 300.000 Langzeitarbeitslose vorhanden. Diese Gruppe wird auch bei Wachstumsraten, deren negative ökologische Folgen nicht berücksichtigt werden sollen, keinesfalls in Erwerbsarbeit gelangen. Auch wenn in der Arbeitsmarktpolitik die Qualifizierungspolitik dominiert, werden viele dieser Menschen beschäftigungspolitisch auf der Strecke bleiben. Und dies, obwohl es sehr viel gesellschaftlich notwendige Arbeit gibt, die allerdings nicht über den traditionellen Arbeitsmarkt erreicht werden. Die Entwicklung eines sozialen Arbeitsmarktes ist deshalb keine soziale Utopie, sondern Notwendigkeit, die angesichts der mit der Digitalisierung verbundenen Produktivitätssprünge an Bedeutung gewinnt und auch finanzierbar ist. 10

In der Vergangenheit wurde viel eingefordert, aber zu wenig gefördert: Hartz IV verfestigt gesellschaftliche Spaltung und führt nicht zur sozialen Integration

Viele Kritikpunkte an der heutigen Arbeitsmarktpolitik und insbesondere am sogenannten Hartz-IV-System sind durchaus berechtigt. Das System muss deshalb reformiert werden. Das Prinzip des Forderns und Förderns ist hier weiterhin Richtschnur. Allerdings wurde in der Vergangenheit von den Betroffenen viel eingefordert, dagegen zu wenig am Können und an den Interessen des Einzelnen ausgerichtet und gefördert. Hinzu kommen eine notwendige Entbürokratisierung des Systems und ein erforderlicher Abbau von Sanktionen, die weder gerechtfertigt noch human aus der Sicht der Betroffenen sind. Nicht nur aus Gründen der Finanzierbarkeit besteht die Notwendigkeit, sozialpolitische Leistungen wieder verstärkt unmittelbar mit der Armutsbekämpfung zu verbinden. Nur ein Beispiel: Ist es notwendig,

454 G. Schneider    wie derzeitig verfassungsrechtlich geboten, Kindergeld an alle, unabhängig von ihrem Einkommen zu zahlen? Wenn das so ist, müssen sich alle sozialpolitisch Verantwortlichen damit beschäftigen, wie man solche Leistungen tatsächlich auf den Kern der von Armut Gekennzeichneten zurückführt. Dies muss nicht mit zusätzlichen Bürokratien verbunden sein! 11

Mit einer Umverteilung von oben nach unten wären erhebliche finanzielle Mittel zur Armutsbekämpfung mobilisierbar

Jede Politik gegen Armut und gesellschaftliche Ausgrenzung kostet Geld und muss von den unterschiedlichsten staatlichen und kommunalen Ebenen finanziert werden. Es ist nicht so, dass die Bundesrepublik Deutschland von Steuerarmut bedroht ist. Wenn es gelingen würde, nur etwa 50 Prozent der Steuern, die verlangt werden, tatsächlich einzutreiben, wäre die Finanzierung für die Armutsbekämpfung wichtiger Entscheidungen gegeben. Wenn man noch ausgehend von der Tatsache, dass in den letzten Jahrzehnten eine Politik der gesellschaftlichen Umverteilung von unten nach oben stattfand, zu der Einschätzung gelangt, dass jetzt ein gegenteiliger Prozess der Umverteilung von oben nach unten stattfinden muss, wären erhebliche finanzielle Mittel mobilisierbar. Diese Einsicht muss dazu führen, dass zum Beispiel Vermögenssteuer und Erbschaftssteuer auf die politische Tagesordnung gehören. Seriöse Schätzungen gehen davon aus, dass in den nächsten zehn Jahren Erbschaften von ca. 2 Billionen Euro fällig werden. Es wächst eine Schicht heran, die zu erheblichem Wohlstand gelangt, ohne dazu einen individuellen Beitrag leisten zu müssen. Der Begriff des „Couponschneidertums“ ist hier nicht unangebracht. 12

Das kapitalistische Wachstumsmodell hat seine Grenze erreicht

Wirkungsvolle Armutsbekämpfung ist nur zu realisieren, wenn wir einen Begriff von Staatlichkeit entwickeln, der nicht in der Rückführung des Staates auf seine vitalsten Aufgabenfelder besteht oder liegt. Es ist genug Geld da – es wird nur falsch verteilt! Vorhandene Armut in Deutschland zeigt vor allem angesichts des andererseits vorhandenen Reichtums, dass wir nach wie vor in einer Klassengesellschaft leben. Soziale Auseinandersetzungen finden heute sicher in anderer Form statt als zu Beginn oder in der Mitte der Industrialisierung. Sie sind aber nach wie vor vorhanden.

Armut und gesellschaftliche Teilhabe

455 

Neben sozialen Spannungen und Brüchen ist auch die ökologische Frage untrennbar mit der Zukunft unserer Gesellschaft verbunden. Hier darf und muss das immer noch bevorzugte Wachstumsmodell für und im Kapitalismus hinterfragt werden. Das Thema Umverteilung wird angesichts der schon vor vielen Jahrzehnten beschriebenen „Grenzen des Wachstums“ sehr aktuell. Die Verteilungsfrage wird deshalb an Dominanz gewinnen. Gesellschaftliche Organisationen wie Kirchen, Gewerkschaften oder Wohlfahrtsverbände gewinnen an Bedeutung bei der Bekämpfung der Armut und haben zugleich auch eine große Verantwortung für dieses Ziel. Wenn unsere Grundwerte nicht zu substanzlosen Schlagworten verkommen sollen, sind Bündnisse zur Armutsbekämpfung notwendiger denn je. Die Prinzipien der Französischen Revolution oder auch die Inhalte der Bergpredigt sind bei der Bekämpfung der Armut nicht nur aktuell, sondern müssen in der Praxis zur Maxime des Handelns werden.

  Traugott Jähnichen

Auf dem Weg zu einer Kirche mit den Armen?

1

Einleitung

Die christlichen Kirchen haben seit den Zeiten der Urgemeinde eine lange und weithin ungebrochene Tradition des Engagements für die Armen, freilich oft geprägt von einem mildtätig-paternalistischen Gestus. Eine Abkehr von dieser Haltung hat mit Nachdruck die Theologie der Befreiung seit den späten 1960er Jahren eingefordert. Ihre Perspektive einer theologisch begründeten, vorrangigen „Option für die Armen“, wie sie mit einer deutlich politischen Stoßrichtung zunächst in der lateinamerikanischen Theologie entwickelt1 sowie nach und nach von vielen Kirchen des Südens wie des Nordens aufgegriffen worden ist,2 markiert einen wesentlichen Schritt auf dem Weg zu einer Kirche nicht nur für die, sondern mit den Armen. Gegenwärtig wird verstärkt die Notwendigkeit einer Subjektwerdung der Armen betont. Papst Franziskus fordert paradigmatisch eine „arme Kirche für die Armen“, wobei die „Option für die Armen in erster Linie eine theologische Kategorie und erst an zweiter Stelle eine kulturelle, soziologische, politische oder philosophische Frage“3 ist. Die ethische Solidarität mit den Armen ist in dieser Perspektive die Konsequenz des für die Armen parteilichen Gottes. Daher hat diese Option keine paternalistischen oder traditionell-mildtätigen Implikationen. Es geht vielmehr um eine Kirche, die ihren Ort bei und mit den Armen hat, wie es etwa Franziskus selbst in eindrucksvollen Symbolhandlungen immer wieder veranschaulicht. Über diese Zielvorstellung einer Kirche mit den Armen geht eine vor allem in den lateinamerikanischen Basisgemeinden weiterentwickelte Zielsetzung hinaus, die eine Subjektwerdung der marginalisierten Bevölkerungsgruppen und insofern eine „Kirche der Armen“4 propagiert, die aus der Erfahrung der Armen heraus lebt und in der die Armen ihre „eigene Stimme wirk1

Vgl. Gutiérrez, Theologie der Befreiung. Vgl. Kirchenamt der EKD, Gerechte Teilhabe, 45. 3 Papst Franziskus, Evangelii Gaudium, Nr. 198. 4 Etzelmüller, Kirche der Armen, 175. 2

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mächtig erheben“5. Solche Gemeinden sind allerdings eher im globalen Süden oder in Migrantengemeinden im Norden zu finden, in der volkskirchlichen Realität in Deutschland sind solche Ansätze kaum aufweisbar. Vor dem Hintergrund dieses Horizontes soll in dem folgenden Beitrag nach Möglichkeiten der evangelischen Landeskirchen gefragt werden, ihren Ort an der Seite der Armen zu verstehen und ihnen Räume einer eigenständigen religiösen und gesellschaftspolitisch relevanten Selbstorganisation zu eröffnen. 2 2.1

„Gerechte Teilhabe“ als sozialethisches Leitbild der EKD Zur Abbildung der gesellschaftlichen Schichtung der Bundesrepublik Deutschland in den evangelischen Kirchen

Die Klagen über eine starke Mittelschichtsorientierung mit einer entsprechenden Milieuverengung der evangelischen Landeskirchen sind weit verbreitet. Auch in der EKD-Denkschrift zur Armutsproblematik „Gerechte Teilhabe“ aus dem Jahr 2006 ist die „mangelnde Beteiligung“6 von benachteiligten Bevölkerungsgruppen in den Kirchengemeinden kritisiert worden. Formen habitueller Ablehnung von ärmeren Menschen vor allem durch die in den Kirchen vorherrschende Kommunikationskultur, die „deutliche Distanzen zur Lebenswelt der Armen“7 aufweist, werden hier als Hauptgrund einer mangelnden Teilhabe angesprochen. In den Kirchen dominieren „Bilder von bürgerlich-intakten Gemeinschaften“8, die den Lebenswirklichkeiten ärmerer Bevölkerungsschichten nicht entsprechen. Dementsprechend sind die Armen, so eine empirische Studie aus Hamburg, „im kirchlichen Leben kaum wahrnehmbar“, denn traditionelle Kirchengemeinden sind „auf Menschen, die von Armut betroffen sind, nicht ausgerichtet.“9 Eine neue Studie des „Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt“ der Evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern kommt immerhin zu dem Befund, dass Arbeitnehmer_innen mit Haupt- oder Realschulabschluss relativ stark in die kirchliche Gremienarbeit integriert sind. 5

Etzelmüller, Kirche der Armen, 181. Kirchenamt der EKD, Gerechte Teilhabe, 75. 7 Kirchenamt der EKD, Gerechte Teilhabe, 76. 8 Kirchenamt der EKD, Gerechte Teilhabe, 77. 9 Schulz, Ausgegrenzt, 111. 6

458 T. Jähnichen    Insgesamt 58 % der Kirchenvorstandsmitglieder in Bayern lassen sich diesem Spektrum zurechnen. Von allen ehrenamtlich in der Kirche Tätigen gehen 73 % einer Erwerbsarbeit nach.10 Somit kann sowohl bei den Kirchenvorstandsmitgliedern wie bei den Ehrenamtlichen von einem starken Engagement in den volkskirchlichen Strukturen gesprochen werden. Dies gilt insbesondere für Landgemeinden, während in Stadtgemeinden vermehrt Akademiker_innen und Beamt_innen kirchlich aktiv sind. Dieser Befund lässt sich jedoch vor dem Hintergrund der zunehmenden Differenzierungen in der Arbeitswelt präziser beschreiben, wie es in der Studie auch näher aufgeschlüsselt wird. Dabei stellt sich heraus, dass von den Arbeitnehmer_innen in Kirchengemeindevorständen 14 % als Angelernte oder Ungelernte einzustufen sind, bei den Beamt_innen 3 % einen einfachen Dienst leisten.11 Dementsprechend ist das Bild einer insgesamt guten Vertretung von Arbeitnehmer_innen in den Kirchenvorständen nicht falsch, allerdings genauer zu fassen. Dies gilt insbesondere dann, wenn man die Unterschiede der Arbeits- wie auch der Lebenswelt von unterschiedlichen Arbeitnehmergruppen analysiert und den wachsenden Niedriglohnbereich mit einer entsprechenden „Rückkehr der Arbeiterarmut“12 berücksichtigt. So zeigen die Daten zur Sozialstruktur der bundesdeutschen Bevölkerung und der evangelischen Kirchen, dass „die Berufsgruppenstruktur der Protestanten […] die der gesamten Gesellschaft relativ genau“13. Allerdings ist das untere Drittel der Gesellschaft zumindest nach der subjektiven Schichtzugehörigkeit der Mitglieder der evangelischen Kirche deutlich unterrepräsentiert. Dies gilt vor allem für den Bereich der Kerngemeinde. Insofern ist trotz der insgesamt erfreulichen Daten zur kirchlichen Teilhabe von Arbeitnehmer_innen mit Real- oder Hauptschulabschluss die häufig thematisierte Milieuverengung evangelischer Kirchengemeinden zumindest im Blick auf den unter prekären Bedingungen arbeitenden und lebenden Teil der Arbeiterschaft nach wie vor in hohem Maße gegeben. Vor diesem Hintergrund sind für die evangelischen Kirchen insbesondere zwei Herausforderungen zu bewältigen: Zum einen haben sich die Kirchen zu fragen, wie es ihnen besser gelingen kann, ihre Handlungsfelder als ein „Einübungsfeld von Teilhabe und Anerkennung

10

Vgl. Rechberg/König, Nähe und Distanz, 81. Vgl. Rechberg/König, Nähe und Distanz, 84. 12 Büttner, Die Aktualität der Arbeiterfrage, 216. 13 Büttner, Die Aktualität der Arbeiterfrage, 219. 11

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von Armen“14 zu profilieren. Zum anderen stellt sich die Aufgabe, die sozialkritischen Perspektiven der evangelischen Sozialethik für Initiativen einer wirksameren Armutsbekämpfung fruchtbar zu machen. „Armut in einem reichen Land“ ist eine „Herausforderung“15 – besser hätte man wohl geschrieben: ein himmelschreiender Skandal –, die mit dem Ziel einer Verbesserung der Lebenslagen der Benachteiligten entschieden bekämpft werden muss. Das weitere Anwachsen des Niedriglohnsektors und auch der von Armutsrisiken betroffenen Bevölkerungsgruppen seit 2006 zeigt, dass trotz mancher Erfolge auf dem Arbeitsmarkt von einer Besserstellung „der schwächsten Glieder einer Gesellschaft“16, wie es der vorrangigen Option für die Armen entsprechen würde, gerade nicht gesprochen werden kann. Insofern sind weiterhin mit Nachdruck sozialpolitische Impulse einzufordern, um die Lebenslagen benachteiligter Menschen in Deutschland nachhaltig zu verbessern. 2.2

Die gesellschaftspolitischen Impulse der EKD-Denkschrift „Gerechte Teilhabe“

Angesichts einer empirisch deutlich erkennbaren engen Verknüpfung von Armut, Arbeitslosenrisiko und Bildungsniveau hat die EKDDenkschrift „Gerechte Teilhabe“ mit guten Gründen den Aspekt der Befähigungsgerechtigkeit in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen gestellt. Dabei darf allerdings die Befähigungsgerechtigkeit nicht gegen die Verteilungsgerechtigkeit ausgespielt und nicht individualisiert werden. Stattdessen bezeichnet Befähigungsgerechtigkeit eine sozialethische Norm, welche auf den Ausbau von gesellschaftlichen und auch kirchlich-diakonischen Institutionen zur Befähigung von Menschen zielt, um ihnen eine eigenständige Lebensführung zu eröffnen. Dies gilt insbesondere für das Bildungswesen: Sozialisationsfördernde Hilfen und andere Bildungseinrichtungen sind in elementarer Weise Voraussetzungen für die Ermöglichung einer selbstverantwortlichen Lebensführung. Dies ist auch aus einem wohl verstandenen Eigeninteresse der Gesellschaft heraus plausibel, da einerseits nur solide Qualifikationen die ökonomische Stabilität der Gesellschaft sichern und andererseits bei Sozialisations- oder Ausbildungsdefiziten hohe Folgekosten auf die Solidarsysteme, vor allem auf die sozialen Sicherungssysteme der sog. Verteilungsgerechtigkeit, zukommen.

14

Kirchenamt der EKD, Gerechte Teilhabe, 77. Kirchenamt der EKD, Gerechte Teilhabe, 16. 16 Kirchenamt der EKD, Gerechte Teilhabe, 47. 15

460 T. Jähnichen    Gute Bildung eröffnet nämlich nach allen verfügbaren Daten größere Chancen am Arbeitsmarkt und damit die Überwindung von Arbeitslosigkeit und tendenziell höhere Einkommen. Dementsprechend spielt die Forderung nach einer besseren Bildungspolitik im Rahmen der in der Denkschrift diskutierten „Wege aus der Armut“ die zentrale Rolle. Bessere Bildungspolitik muss bereits im Vorschulalter anfangen und hat während der Schulzeit insbesondere die Benachteiligungen bildungsferner Kinder zu überwinden. Um dies zu erreichen, sind sozialisationsfördernde Institutionen aufzubauen, die Startnachteile von Kindern aus sozial schwachen Schichten ausgleichen können. Ferner „braucht es eine laufende Evaluation der Lernfortschritte im Blick auf jedes einzelne Kind, die den Kindergarten und die Schule für den Bildungslauf des Schülers rechenschaftspflichtig macht. Bisher tragen die Schüler das Risiko allein.“17 Der Bildungsbegriff der Denkschrift weist über die bloße Wissensvermittlung hinaus und versteht im Anschluss an die Bildungsdenkschrift der EKD aus dem Jahr 2003 Bildung als Zusammenhang von Lernen, Wissen, Können, Wertbewusstsein, Haltungen und Handlungsfähigkeit im Horizont sinnstiftender Deutungen des Lebens.18 In diesem Sinn hat Bildung Menschen zu den für die Denkschrift zentralen Werthaltungen der Eigenverantwortung und der Solidarität zu erziehen. Indem sich die Denkschrift auf die Bildungsproblematik als entscheidende Herausforderung der Armutsbekämpfung konzentriert, zielt dies nicht nur auf die Minimierung des Armutsrisikos, sondern auch auf Befähigungen zur Bewältigung von schwierigen Lebenssituationen. Neben dieser zentralen Forderung werden auch die klassischen Perspektiven der Armutsbekämpfung, die Bedeutung eines stabilen Sozialstaats im Sinn der Verteilungsgerechtigkeit, die Schaffung von Arbeitsplätzen etwa durch eine Senkung der sozialversicherungsrechtlichen Belastungen des Faktors „Arbeit“ sowie die hohe Bedeutung funktionierender Familienstrukturen herausgestellt. Armut in einem reichen Land wie der Bundesrepublik ist eben ein Skandal, wobei Armut eine fehlende Teilhabe in allen Lebensbereichen bezeichnet. Ein Leben in Armut führen bedeutet, fundamentale Formen der Exklusion zu erleben, die ausgehend von der häufig verweigerten Teilhabe am Arbeitsmarkt „oft auch zu einem Ausschluss vom sozialen und politischen Geschehen führt. Gegenüber diesen 17 18

Kirchenamt der EKD, Gerechte Teilhabe, 66. Vgl. Kirchenamt der EKD, Maße des Menschlichen, 66.

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Ausgrenzungstendenzen, die häufig eine Negativspirale in Gang setzen, meint Teilhabe die Eröffnung eines elementaren Anspruchs auf Teilhabe an den Lebensmöglichkeiten der Gesellschaft“19. Theologisch-sozialethisch begründet wird diese Perspektive durch ein Gerechtigkeitsverständnis, das grundlegend von dem Konzept der Teilhabegerechtigkeit bestimmt ist und auf eine möglichst umfassende Integration aller Gesellschaftsglieder zielt. Da niemand von den grundlegenden sozialen Gütern wie Bildung, Gesundheit oder soziale Sicherung ausgeschlossen werden darf, sind alle Formen von Exklusion – von der faktischen Verweigerung von Bildungschancen bis hin zum Ausschluss von der Teilhabe am politischen und kulturellen Leben aufgrund gravierender materieller Einschränkungen – als skandalös zu bezeichnen und mit Nachdruck zu bekämpfen. Teilhabegerechtigkeit schließt in dieser Perspektive in gleicher Weise Befähigungsund Verteilungsgerechtigkeit ein und überwindet somit die Alternative von klassischer konsumtiver Sozialpolitik einerseits und investiven Ausgaben für Bildungs- und Qualifizierungsprogramme andererseits. In diesem Sinn bezeichnet „gerechte Teilhabe“ das gesellschaftspolitische Leitbild der EKD. 2.3

Armut und Reichtum als Herausforderungen der evangelischen Kirche

Während sich die Denkschrift „Gerechte Teilhabe“ vorrangig auf die Bekämpfung von Armut konzentrierte, hat sich die Kundgebung der Synode der EKD im selben Jahr 200620 die weitergehende Aufgabe gestellt, den Zusammenhang von Armut und Reichtum in der Gesellschaft in theologisch-sozialethischer Perspektive zu beleuchten und die soziale Verantwortung des Reichtums nachdrücklich zu betonen. Mit diesem Impuls sollte der mehrfach – so bereits im Wirtschaftsund Sozialwort der beiden großen Kirchen von 199721 – eingeforderte, aber bis heute kaum geführte Diskurs auch über den Reichtum in der Gesellschaft eröffnet werden. Die Synode hat es in ihrer Kundgebung vermieden, moralisierend und abwertend über Reichtum zu sprechen. Stattdessen stellt sie die Herausforderung in den Mittelpunkt, ethische Perspektiven der Beurteilung zu entwickeln, welche die Ambivalenzen von Reichtum thematisieren und in diesem Sinn 19

Kirchenamt der EKD, Gerechte Teilhabe, 43. Die Kundgebung der Synode der EKD „Gerechtigkeit erhöht ein Volk. Armut muss bekämpft werden – Reichtum verpflichtet“ ist abgedruckt in: Kirchenamt der EKD, Gerechte Teilhabe, 83–88. 21 Vgl. Kirchenamt der EKD/Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. 20

462 T. Jähnichen    die Legitimation von Reichtum an konkrete, soziale Bedingungen zu knüpfen, wie es bereits in den biblischen Schriften deutlich vor Augen gestellt ist. Das biblische Ethos ist tendenziell von dem Ideal einer egalitären Gesellschaft geprägt, wie es die periodische Aufhebung von Schulden und die Wiederherstellung der Besitzverhältnisse im ersten Testament deutlich machen. Im zweiten Testament werden zumindest für den Bereich der Gemeinde die nationalen, sozialen und geschlechtsspezifischen Unterschiede vergleichgültigt (vgl. Gal 3,28 par.), und es wird zwischen den Gemeinden eine Form der Unterstützung organisiert, damit ein „Ausgleich geschehe“ (2Kor 8,14). Auch wenn keine Egalität im strengen Sinn hergestellt werden kann, ist das Motiv des Ausgleichs leitend, das letztlich nicht nur im Bereich der Gemeinden gelten, sondern als Analogie auch für den gesellschaftlichen Bereich entsprechende Impulse vermitteln soll. In dieser Perspektive hat die Kundgebung die wachsende Ungleichheit in Deutschland und speziell die Zunahme von Löhnen unterhalb des Existenzminimums als Entwertung der „Lebensleistung von Millionen von Menschen“22 angeprangert. Positiv geht es darum, einen Ausgleich zu gestalten, indem die „Besitzer hoher Einkommen und Vermögen […] stärker als in den letzten Jahren Verantwortung für das Gemeinwesen übernehmen“23 sollen. Um dies zu realisieren, wird ein Steuersystem gefordert, „das alle Einkunftsarten erfasst, nach Leistungsfähigkeit besteuert und transparent ist.“24 Auf diese Weise soll der „Reichtum in unserer Gesellschaft […] zur Sicherung des allgemeinen Wohlstands herangezogen werden“, um einen fairen „Zugang zu öffentlichen Gütern zu gewährleisten.“25 Nur wenn alle Menschen die Chance haben, am Wohlstand der Gesellschaft teilzuhaben, kann Reichtum als eine „gute Gabe in der Schöpfung Gottes“26 verstanden werden. Er darf jedoch nicht die Lebensgrundlagen anderer gefährden, vielmehr ist nur einer „gerechten Verwendung von Reichtum, die den Menschen Freiheit und Teilhabe ermöglicht, […] Gottes Segen verheißen.“27 Mit diesen Stellungnahmen, die seither im Wesentlichen bestätigt und in verschiedenen aktuellen Debatten vor allem im Blick auf die prob22

Kirchenamt der EKD, Gerechte Teilhabe, 84. Kirchenamt der EKD, Gerechte Teilhabe, 84f. 24 Kirchenamt der EKD, Gerechte Teilhabe, 85. 25 Ebd. 26 Kirchenamt der EKD, Gerechte Teilhabe, 88. 27 Ebd. 23

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lematische Ausweitung des Niedriglohnsektors präzisiert worden sind,28 hat die EKD eine klare, theologisch-sozialethisch begründete Position zur Armutsbekämpfung bezogen. In diesem Sinn nimmt sie ihre öffentliche Verantwortung für die Armen in unserer Gesellschaft engagiert wahr. Kritische Anfragen sind demgegenüber dahingehend zu stellen, ob und inwiefern es gelingt, darüber hinaus auch eine Kirche mit den Armen zu werden, wie es ebenfalls die EKD-Synodenkundgebung von 2006 gefordert hat: „Wir müssen überall zu einer Kirche werden, in der Arme Heimat haben und an Entscheidungen in ihren Gemeinden beteiligt werden.“29 3 3.1

Schritte auf dem Weg zu einer Kirche mit den Armen Voraussetzungen einer Kirche mit den Armen

Grundsätzlich liegt eine große Chance von Religionsgemeinschaften darin, dass sie die „Exklusionen aus anderen Funktionsbereichen […] souverän ignorieren“30 können und auch diejenigen Menschen inkludieren, die aus anderen Systemen ausgeschlossen werden. Der Erfolg von Religionsgemeinschaften vor allem im globalen Süden, sowohl bei charismatischen Pfingstkirchen wie auch bei islamistischen Gruppen, beruht u.a. auf dieser Funktionsweise. Allerdings ist in den deutschen evangelischen Landeskirchen von einer solchen Integration der Armen nur in Ausnahmefällen zu sprechen. Zumeist wird von den Kirchengemeinden und der Diakonie etwas für, weniger aber mit den Armen getan. Immerhin haben Diakonie und Kirchengemeinden vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten Formen einer neuen Zuwendung zu ärmeren Menschen entwickelt. Dies ist verbunden mit dem Ziel, von Armut bedrohte Menschen in ihren Kompetenzen zu stärken, ihnen Erfahrungen von selbstbestimmten Aktivitäten sowie Anerkennung seitens einer Gemeinschaft zu vermitteln und ihnen auf diese Weise Teilhabechancen zu eröffnen. In der professionellen Hilfe für Benachteiligte einerseits, wie es die Diakonie praktiziert, und in der lebensweltlichen Verankerung im Umfeld der Betroffenen andererseits, wo große Möglichkeiten der Kirchengemeinden und ihrer diakonischen Aktivitäten liegen,31 haben Diakonie und Kirchengemeinden vielfach stabile alltags28

Vgl. Kirchenamt der EKD, Solidarität und Selbstbestimmung. Kirchenamt der EKD, Gerechte Teilhabe, 86. 30 Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, 305. 31 Vgl. Schäfer u.a., Nah dran. 29

464 T. Jähnichen    nahe Netzwerke der Hilfe für Menschen in Not gerade im sozialen Nahbereich geschaffen. Ungeachtet dieses Engagements bleibt es eine Herausforderung, die eigenen Angebote noch stärker auf diejenigen auszurichten, die gesellschaftlich benachteiligt sind, aber einen großen Wunsch nach Zugehörigkeit und sozialer Integration verspüren. Wesentlich dürfte es dabei sein, eine letztlich paternalistische Haltung der Barmherzigkeit zu überwinden und stattdessen authentische Formen der „Anerkennung durch Beziehung“32 zu vermitteln: „Eine Kirche mit Armen kann nur dort entstehen, wo es zu einer Kultur der Begegnung kommt, zu einem menschlichen Miteinander, das von gegenseitigem Respekt gekennzeichnet ist und die verbreitete Kontaktscheu auf beiden Seiten überwindet.“33 Grundsätzliche Voraussetzung solcher Begegnungen ist es, mögliche Stärken und Mängel nicht nur auf einer Seite zu verorten, sondern sich wechselseitig als begabte und begrenzte Menschen zu verstehen. Diese Perspektive wird in jüngster Zeit unter dem Leitbegriff der Inklusion diskutiert. Im Blick auf die Ekklesiologie hat insbesondere Ulrich Bach schon seit mehr als vier Jahrzehnten Kirche und Diakonie eindringlich gemahnt, diese Grundstruktur der Begegnung konstitutiv für das eigene Selbstverständnis anzunehmen. 3.2

Impulse zur Inklusion behinderter Menschen von Ulrich Bach als Paradigma für die Entwicklung einer Kirche mit den Armen?

Der Begriff der Inklusion bezeichnet eine „paradigmatische Wende in der Behindertenhilfe“. Interessant ist die Frage, ob und inwieweit Inklusion „als theologisch-ethische Grundnorm […] auch für die Armutsbekämpfung“34 in Anspruch genommen werden kann. Inklusion als Ermöglichung und Zulassung „gleichberechtigter Verschiedenheit“35 bezeichnet einen Prozess, der alle Formen von mentalen und materiellen Barrieren abbaut, die Menschen mit Beeinträchtigungen „an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern.“36 Diese Perspektive hat der als Theologiestudent an Kinderlähmung erkrankte Theologe Ulrich Bach lange Zeit, bevor der Diskurs über Inklusion zum öffentlichen Thema wurde, entwickelt und kritisch gegen exkludierende Tendenzen in Kirche und Diakonie sowie in der theologischen Reflexion profiliert. 32

Grosse, Von einer Kirche, 315. Ebd. 34 Lob-Hüdepohl, Inklusion, 158f. 35 Lob-Hüdepohl, Inklusion, 159. 36 Die UN-Behindertenrechtskonvention, Präambel. 33

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Bach hat in seinen Arbeiten mit Nachdruck betont, dass die Alltagssprache wie auch geläufige Redeweisen in Theologie und Kirche dazu führen, dass Menschen mit Krankheiten und Behinderungen faktisch ausgegrenzt und abgewertet werden. Diese sprachlichen Diskriminierungen, die im kirchlichen Kontext etwa durch eine Betonung der Nähe und des Segens Gottes bei den Erfolgreichen oder durch problematische Interpretationen der Heilungswunder zum Ausdruck kommen können, bereiten oft mehr Schwierigkeiten als die medizinisch relevanten Aspekte der Einschränkungen. Theologisch kritisiert Bach diesbezüglich eine durch ihre Leistungsbezogenheit, ihren Selbstruhm und ihre Ablehnung des Leidens geprägte Selbstwahrnehmung der Menschen, die allerdings durch den gekreuzigten Christus grundlegend in Frage gestellt ist. Für Bach ist deshalb der christliche Glaube wesentlich in Bezug auf die Kreuzestheologie zu interpretieren. Durch den Tod Jesu am Kreuz und durch seine Auferstehung werden alle weltlichen Maßstäbe aufgehoben, da die menschlichen Leistungserwartungen und das Streben nach einem Idealbild in Form von scheinbarer Normalität angesichts des Kreuzes keine Relevanz haben können. Als Sünder entsprechen alle Menschen nicht einem Idealbild, sondern sie sind durch ihre falsche Grundausrichtung und ihre Verfehlungen gekennzeichnet. Jeder Mensch ist defizitär, allein durch das Heilshandeln Gottes in dem von der Welt verachteten Christus werden die Glaubenden gerechtfertigt und zu einer neuen Gemeinschaft mit Gott befreit. Der „Verachtete darf aufrecht gehen und seine Verächter fragen: Noch nie was von Golgatha und Ostern gehört? Das ist Kreuzes-Theologie!“37 Für die Kirche und die Diakonie folgt daraus, dass in der Gemeinde Jesu der Grundsatz gilt, dass „auch der Stärkste Mängel und auch der Schwächste Gaben“38 hat. Es geht, da jeder Mensch auf Hilfe angewiesen ist und alleine, ohne Ergänzung nicht bestehen kann, um ein Miteinander aller im Leib Christi. In diesem Miteinander ist jede_r von Gott individuell begabt und zugleich gefährdet, das Ziel ihres / seines Lebens zu verlieren. In Aufnahme dieser Überlegungen Bachs hat die EKD-Orientierungshilfe „Es ist normal, verschieden zu sein“ herausgestellt, dass sich sowohl die Kirche wie auch die Gesellschaft insgesamt nur dann als vollständig erweisen, wenn alle Menschen inkludiert sind.39 Bach hat diesen Gedanken der Inklusion in seinen eigenen Worten so ausgedrückt, dass es im Zusammenleben von Behinderten und Nichtbehinderten um eine „gemeinsame […] wechsel37

Bach, Ohne die Schwächsten, 342. Bach, Ohne die Schwächsten, 341. 39 Vgl. Kirchenamt der EKD, Es ist normal, verschieden zu sein, 44. 38

466 T. Jähnichen    seitige und fortwährende Integration“40 bzw. um eine „integrierte Integration“41 gehen muss. Besonders in den Evangelien finden sich nach Bach viele Beispiele, in denen der Inklusionsbegriff und integrative Aspekte deutlich werden. Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist es wesentlich, dass es ein aus der jüdischen Gemeinschaft ausgegrenzter Samariter ist, der bedingungslos hilft. Jesus selbst hebt in seinen Reden wie vor allem in seiner Praxis bestehende Ausgrenzung auf, indem er sich weitgehend den gesellschaftlich missachteten Personengruppen widmet, obwohl er dadurch auf Widerstand stößt. Er tritt Kranken, Ausgestoßenen und Außenseitern vorbehaltslos entgegen. In Jesu Praxis wird deutlich, dass „Gott […] ein Gott im Unten (ist), daher sind Krippe und Kreuz typisch göttlich.“42 Dem „Gott im Unten“, wie ihn Jesus gegen alle Baals-Gottheiten des Erfolges repräsentiert, entspricht daher eine „Kirche im Unten“43, die als „Patienten-Kollektiv“44 definiert werden kann, in dem man sich wechselseitig unterstützt. Insofern kann die Kirche nur „in der Struktur des ‚Mit‘“45 glaubwürdig existieren, in der „jeder von uns […] Gebender und Nehmender zugleich“46 ist, wie es dem paulinischen Bild von der Gemeinde als Leib Christi mit vielen Gliedern (vgl. 1Kor 12,12ff) entspricht. Bach hat diese Perspektive im Blick auf die Gemeinschaft von Behinderten und Nichtbehinderten in der Kirche expliziert. Zu fragen ist, ob und in welcher Weise dies für das Leitbild einer Kirche mit den Armen fruchtbar gemacht werden kann? 3.3

Inklusion als Leitbild auf dem Weg zu einer Kirche mit den Armen?

Als ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Leitbild der Inklusion als Zulassung gleichberechtigter Verschiedenheit und der Auseinandersetzung mit Armut ist zunächst festzuhalten, dass es das Ziel jeder Armutsbekämpfung ist, Armut zu bekämpfen und zu überwinden. Insofern ist es im Blick auf die von Armut Betroffenen ein Erfolg, wenn es gelingt, „relativ Arme bzw. von Armut Bedrohte wenigstens an das durchschnittliche Ausstattungsniveau materieller und immaterieller Ressourcen heranzuführen, sie also im besten Sinne des 40

Bach, Ohne die Schwächsten, 341. Bach, Boden unter den Füßen hat keiner, 217. 42 Bach, Boden unter den Füßen hat keiner, 200. 43 Bach, Boden unter den Füßen hat keiner, 205. 44 Bach, Boden unter den Füßen hat keiner, 203. 45 Ebd. 46 Ebd. 41

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Wortes zu normalisieren.“47 Während in der Inklusionsdebatte „Normalität“ als ein äußerst problematischer Maßstab bezeichnet werden muss, gilt dies im Blick auf eine angemessene Ressourcenausstattung im Kampf gegen Armut gerade nicht. Armut ist – von Formen freiwilliger Armut als Zeichen des Protests in einer Konsumgesellschaft abgesehen – ein Skandal und muss überwunden werden. Von dieser wesentlichen Differenz abgesehen lassen sich jedoch im Blick auf die Begegnung mit Menschen in Armutslagen wesentliche Anliegen der Inklusionsdebatte konstruktiv aufnehmen. Neben der unmittelbaren Armutsbekämpfung geht es in der Begegnung mit den Betroffenen wesentlich um eine Haltung der wertschätzenden Anerkennung. Diese Anerkennung darf nicht „mit einer Anerkennung oder gar Wertschätzung der Situation von Armut“ verwechselt werden, „sondern immer ‚nur‘ Anerkennung und Wertschätzung des versehrbaren und je schon versehrten Menschen in und trotz seiner Armut“48 bedeuten. Armut ist neben der dramatischen Einschränkung von Ressourcen zur Lebensführung immer auch mit Erfahrungen sozialer Ausgrenzung oder gar Missachtung verbunden, sodass der Wunsch nach Zugehörigkeit und Teilhabe ein wesentliches, allerdings oft kaum mehr erhofftes Anliegen der Betroffenen bezeichnet. Weil Armut häufig mit einer resignativen Grundhaltung und dem Fehlen intakter sozialer Gefüge verbunden ist, müssten eine Kirche mit den Armen und die Diakonie über ihre sozialanwaltschaftlichen Rollen hinaus heilsame Begegnungsformen von Menschen unterschiedlicher sozialer Lebenslagen entwickeln, wie es exemplarisch – trotz mancher Kritik – z.B. die Vesperkirchen versuchen. Diese Praxis kann sich, wie bereits von Ulrich Bach in seinen Werken aufgezeigt, auf das Handeln Jesu berufen, in dessen Jüngerkreis Heterogenität gelebt wurde und der im Vertrauen auf die helfende Nähe des göttlichen Vaters immer wieder soziale Schranken überwunden und Menschen in seine Gemeinschaft integriert hat. Die Jesus-Bewegung hat Gemeinschaft sowohl mit den Armen – wie aber auch mit einzelnen reichen Zöllnern – praktiziert, wobei alle, speziell die Reichen, zu einem Leben in Solidarität befreit worden sind. Dieses Modell motiviert dazu, Schritte auf dem Weg zu einer Kirche mit den Armen zu wagen.

47 48

Lob-Hüdepohl, Inklusion, 163. Ebd.

468   4 Ausblick

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Armut als verweigerte Teilhabe ist eine tiefe Beschädigung der Lebensführung, eine Verletzung der Rechte der Betroffenen. Das Ziel der Bekämpfung von Armut ist dementsprechend die Eröffnung von möglichst umfassender materieller, sozialer und kultureller Teilhabe. In christlicher Perspektive lassen sich Menschen zu einem Engagement zur Bekämpfung der Armut befreien durch den von Jesus verkündigten und in seinem Leben, Sterben und Auferstehen erfahrbaren Anbruch des Reiches Gottes. Diese Haltung, welche vor Gott keine eigenen Leistungen und Ansprüche geltend macht, ist eng mit der Rechtfertigungslehre verknüpft, die ihrerseits in einer deutlichen Spannung zu den Werten einer einseitig leistungsorientierten Marktgesellschaft steht. Christliche Nachfolge bedeutet somit eine Glaubenspraxis in „Solidarität mit den Armen und Protest gegen die Armut“49. Für die Kirche heißt dies, neben der Anwaltschaft für die Armen und einer entsprechenden Armutsbekämpfung engagierte Schritte auf dem Weg einer Kirche mit den Armen zu gehen, in der sich die Armen in authentischer Weise als angenommen erfahren können. Literatur Bach, Ulrich, Boden unter den Füßen hat keiner. Plädoyer für eine solidarische Diakonie, Göttingen 1980. Bach, Ulrich, Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. Bausteine einer Theologie nach Hadamar, Neukirchen-Vluyn 2006. Büttner, Philipp, Die Aktualität der Arbeiterfrage und die Alltagspräsenz der Kirche – Sozialwissenschaftliches Resümee, in: Johannes Rehm (Hg.), Kirche und Arbeiterfrage. Eine sozialwissenschaftlich-theologische Untersuchung zu Nähe und Distanz zwischen Arbeiterschaft und evangelischer Kirche, Stuttgart 2017, 215–227. Etzelmüller, Gregor, Kirche der Armen – christologische Begründung, differente Gestalten, zukünftige Lernaufgaben, in: Johannes Eurich u.a. (Hg.), Kirchen aktiv gegen Armut und Ausgrenzung. Theologische Grundlagen und praktische Ansätze für Diakonie und Gemeinde, Stuttgart 2011, 175–193. Grosse, Heinrich, Von einer Kirche für die Armen zu einer Kirche mit den Armen?, in: Johannes Eurich u.a,. (Hg.), Kirchen aktiv gegen Armut und Ausgrenzung, Stuttgart 2011, 309–328. 49

Gutiérrez, Theologie der Befreiung, 283.

Auf dem Weg zu einer Kirche mit den Armen?

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Gutiérrez, Gustavo, Theologie der Befreiung, 4. Aufl., München / Mainz 1979 (1. Aufl. 1973). Kirchenamt der EKD (Hg.), Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft. Eine Denkschrift des Rates der EKD, im Auftrag des Rates der EKD, Gütersloh 2003. Kirchenamt der EKD (Hg.), Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität. Mit einer Kundgebung der Synode der EKD. Eine Denkschrift des Rates der EKD zur Armut in Deutschland, im Auftrag des Rates der EKD, Gütersloh 2006. Kirchenamt der EKD (Hg.), Es ist normal, verschieden zu sein. Inklusion leben in Kirche und Gesellschaft. Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, im Auftrag des Rates der EKD, Gütersloh 2014. Kirchenamt der EKD (Hg.), Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt. Eine Denkschrift des Rates der EKD zu Arbeit, Sozialpartnerschaften und Gewerkschaften, im Auftrag des Rates der EKD, Gütersloh 2015. Kirchenamt der EKD / Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland (Gemeinsame Texte 9), Hannover / Bonn 1997. Lob-Hüdepohl, Andreas, Inklusion als theologisch-ethische Grundnorm – auch für die Armutsbekämpfung?, in: Johannes Eurich u.a. (Hg.), Kirchen aktiv gegen Armut und Ausgrenzung, Stuttgart 2011, 158–174. Luhmann, Niklas, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2002. Papst Franziskus, Evangelii gaudium / Die Freude des Evangeliums, Rom 2013. Rechberg, Karl-Hermann / König, Joachim, Nähe und Distanz zwischen Arbeitnehmenden und Kirche – eine empirische Analyse, in: Johannes Rehm (Hg.), Kirche und Arbeiterfrage, Stuttgart 2017, 27–132. Schäfer, Gerhard K. u.a. (Hg.), Nah dran. Werkstattbuch für Gemeindediakonie, Neukirchen-Vluyn 2015. Schulz, Claudia, Ausgegrenzt und abgefunden? Innenansichten der Armut. Eine empirische Studie, Gütersloh 2008. UN-Behindertenrechtskonvention, hg. v. Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Bonn 2017, online: https://www.behindertenbeauftragte.de/Shared Docs/Publikationen/UN_Konvention_deutsch.pdf?__blob=publica tionFile&v=2 (Zugriff: 04.03.2018).

  Barbara Eschen

Nationale Armutskonferenz – starke Stimme gegen Armut und Ausgrenzung

1

Die Scham der Armut

„Wir können nicht mehr miteinander sprechen“, sagte Herr K. zu einem Mann. „Warum?“, fragte der erschrocken. „Ich bringe in Ihrer Gegenwart nichts Vernünftiges hervor“, beklagte sich Herr K. „Aber das macht mir doch nichts“, tröstete ihn der andere. – „Das glaube ich“, sagte Herr K. erbittert, „aber mir macht es etwas.“ 1 Herr K. ist gedemütigt und beschämt. Was ihn konkret einschüchtert, bleibt im Verborgenen. Aber die Ignoranz seines Gegenübers ist deutlich. Herr K. fühlt sich bloßgestellt und minderwertig. Wer sich schämt, möchte im Boden versinken, nicht weil er etwas falsch gemacht hätte, sondern weil er sich als Person „verkehrt“ fühlt. Beschämung ist ein sozialer Akt, der einen Menschen nicht nur wegen einer speziellen Handlung, sondern als Person „entlarvt“. Fatalerweise übernehmen die Beschämten negative Zuschreibungen häufig in ihr Selbstbild, auch wenn diese nicht zutreffen, und werten sich ab.2 Ohnmachtsund Minderwertigkeitsgefühle sind die Folge. Viele von Armut betroffene oder bedrohte Menschen fühlen sich beschämt. Zu diesem Ergebnis kam der englische Gesundheitswissenschaftler Richard Wilkinson auf dem Kongress Armut und Gesundheit im März 20173 in Berlin. Was arme Menschen auf der ganzen Welt an ihrer Situation am meisten belaste, sei Scham. Bei seiner Forschung zur sozialen Ungleichheit in sieben Ländern darunter Indien, Norwegen und Uganda kam er zu dem Ergebnis: Ganz gleich, worin die Armut der Menschen begründet liege, sie gäben als größte Belastung an, sich ihrer Armut zu schämen. Weil sie sich und ihre Familien 1

Brecht, Geschichten vom Herrn Keuner, 77. Vgl. Fechtner, Diskretes Christentum, 17f. 3 Vgl. Wilkinson, Inequaluity and Social Dysfunction. 2

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nicht ausreichend versorgen können, leiden sie unter Selbstzweifel und Scham. Für arm gehalten zu werden, wird als Beleidigung empfunden. Claudia Schulz sprach für ihre Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD (SI) zur Selbstwahrnehmung Armutsbetroffener die Interviewten deshalb nicht als „Arme“ an. Vielmehr wurde um ein Interview gebeten, wer „wenig Geld habe“ oder „mit wenig Geld auskommen müsse“.4 In Gruppeninterviews hat Schulz erforscht, wie Menschen es selbst wahrnehmen, wenn sie arm und ausgegrenzt sind, welche Sorgen und welche Träume sie haben. Sie regte sie dazu an, ihre Situation in Worte zu fassen. Die Interviewten sind teilweise prekär erwerbstätig, haben ein geringes Einkommen, manche beziehen deshalb anteilig Transferleistungen. Sie müssen, wie man ihren Äußerungen entnehmen kann, sehr kämpfen, um ihren Alltag finanziell zu bewältigen. Armut bedeutet finanzielle Einschränkung. Sie birgt die Gefahr, sich übermäßig zu verschulden. Armut macht Dauerdruck, sich selbst und seine Familie durchschlagen zu müssen. Das Gleichgewicht von Einnahmen und Ausgaben dauerhaft halten zu können, ist mühsam. Dieser Druck beherrscht den Alltag, das Selbstbild, das Miteinander der Familienmitglieder und schließlich das ganze Lebensgefühl. Armut verhindert, dass sich Menschen eigener Bedürfnisse bewusst werden. Sie können sich kein Leben mehr außerhalb der jetzigen Armutslage vorstellen. Sie machen keine Pläne und finden sich letztlich mit der unbefriedigenden Lage ab. So bleiben sie mehr und mehr draußen, ausgeschlossen vom gesellschaftlichen Leben. Und die Studie zeigt auch, dass Armut und Ausgrenzung kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Problem darstellen. 2

Das Pro des christlichen Menschenbildes

„Selig seid ihr Armen, denn das Reich Gottes ist euer“, sagt Jesus in der Feldrede des Lukasevangeliums (Lk 6,20b). Jesus hat eine besondere Nähe zu den Armen. Viele derer, die ihm nachfolgen, sind bettelarm. Er redet mit ihnen, nicht über sie. Er sieht ihr Potential: Sie sind selig, denn ihnen gehört die Zukunft, das Himmelreich. Jesus sieht Menschen, die von anderen oft übersehen und für unbedeutend gehalten werden: beispielsweise die Witwe, die ihr letztes Scherflein in die Kollekte gibt (Mk 12,41–44). Während Witwen sonst gesell4

Vgl. Schulz, Ausgegrenzt und abgefunden?, 111ff.

472 B. Eschen    schaftlich völlig übergangen werden, sieht Jesus sie voller Respekt und würdigt ihre Lebenshaltung. „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat zu verkündigen das Evangelium den Armen“ (Lk 4,18). Das ist der Auftrag Jesu nach dem Lukasevangelium, den Armen die frohe Botschaft der Befreiung und Würdigung zu bringen. Die Evangelien, vor allem das des Lukas, erzählen, wie Jesus Menschen, die von Armut betroffen sind, Perspektiven eröffnet, ihnen Hoffnung gibt, an ihrer Seite steht, ihnen die Zukunft zuspricht. Jesus macht Armen Mut, denn er hat ein Gespür dafür, was sie brauchen: Stärkung, Selbstwertgefühl, Hoffnung. Mit Betroffenen für Armutsbekämpfung einzutreten und nicht alleine für sie zu agieren, ist deshalb diakonischer Auftrag. Diesen einzulösen stellt allerdings eine schwierige Herausforderung dar. Denn der Selbstorganisation stehen die genannten Erfahrungen entgegen und auch der Mangel an Ressourcen. Und trotz theoretischer Klarheit fällt es Professionellen immer wieder schwer, die „Fürsorge“ vollständig zu überwinden. Außerdem wird in kirchlichen Kreisen Armut häufig ausschließlich als individuelles, nicht als gesellschaftlich strukturelles Problem gesehen. Dabei enthält schon das Erste Testament mit den Geboten und Weisungen zur Witwen- und Waisenversorgung und besonders zum regelmäßigen Schuldenerlass strukturelle Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut und Ungleichheit.5 3

Hartz IV als strukturelle Beschämung

Unbestreitbar bietet das Sozialsystem in Deutschland mit den Sozialgesetzbüchern und mit zahlreichen Pflichtversicherungen gegen Lebensrisiken von Krankheit bis Mutterschutz und Arbeitslosigkeit bis Pflegebedürftigkeit ein beispielhaftes Netz zur Daseinsvorsorge. Dennoch sind die Versorgungssysteme lückenhaft. Einerseits sichern sie im Einzelfall das soziokulturelle Existenzminimum nicht zuverlässig. Andererseits bleiben bestimmte Gruppen, beispielsweise viele EUBürger_innen, von Leistungen ausgenommen oder komplett unversorgt. Transferleistungen lösen Teilhabeversprechen nur unzureichend ein und vor allem stigmatisieren und diskriminieren sie Leistungsbezieher_innen oftmals. Dies spiegeln insbesondere die Hartz-IV-Gesetzgebung und ihre Umsetzung wider. Die Reform des Transferleistungssystems 2005 und 5

Vgl. den Beitrag von Jürgen Ebach in diesem Band, 13ff.

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der Aufbau von Jobcentern hat die Lage von Menschen, die von Armut betroffen oder bedroht sind, nicht verbessert, sondern belastet. Und auch die unermüdliche politische und inhaltliche Arbeit von Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und Betroffeneninitiativen hat keine Veränderungen grundsätzlicher Art herbeigeführt, die den Paragraphen 1 des Sozialgesetzbuches umsetzen: „Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll es Leistungsberechtigten ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht“ ( SGB II § 1). Im Gegenteil führte das Hartz-IV-System mit der undurchsichtigen Regelsatzermittlung, vielen Rechtsunsicherheiten, dem Abbau der Eingliederungsinstrumente, der von Antragsteller_innen kaum beherrschbaren Bürokratie und besonders den Sanktionsmechanismen zu einer verschärften Abwertung der Betroffenen. Langzeiterwerbslose und Menschen, die nicht in die vorgesehenen Muster passen, werden permanent unter Stress gesetzt, ganz zu schweigen von der regelmäßig wiederkehrenden öffentlichen Diskreditierung des Personenkreises. Vor allem hat die mit den Hartz-IV-Leistungen verknüpfte Kontrollwut erhebliche negative Auswirkungen. Erwerbslose mit einer geringen Chance auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt geben nach der 200sten nicht beantworteten Bewerbung enttäuscht auf – mit der Gefahr, sanktioniert zu werden. Eine Arbeitslose mit dokumentiertem funktionalem Analphabetismus, der die Teilnahme an einem Computerkurs aufgezwungen wird, erlebt diesen als zutiefst beschämend, selbst wenn sie weiß, dass es nur darum geht, ihre Verfügbarkeit zu überprüfen. Das System ist nicht darauf angelegt, Erwerbslose zu stärken. Ehrenamtliches Engagement wird nicht gewürdigt, sondern eher als hinderlich angesehen. Es geht nur um den festen Job außerhalb des Leistungsbezugs. Die Alltagserfahrungen der Erwerbslosen in den Jobcentern mit Hotlines ohne festen Ansprechpartner, langen Wartezeiten trotz Termin, seitenlangen unverständlichen Formularen und Erläuterungsbroschüren werden als Demütigungen erlebt. Schlimmstes Beispiel ist das Bildungs- und Teilhabepaket (BuT): Diese Leistungen sollen der Verbesserung der Lebenssituation dienen, doch sind auch diese durch den Kontrollgedanken bestimmt. Erst spät und zögerlich wurde eine direkte Kostenzusage oder Kostenerstattung an die Eltern ermöglicht. Nur in einem Teil der Kommunen ist der sogenannte „Globalantrag“ umgesetzt worden, mit dem nicht jeder Leistungsteil umständlich einzeln beantragt werden muss, sondern unkomplizierte Erstattungen an Eltern oder Anbieter möglich sind. Zudem zeigt eine Studie der Diakonie Niedersachsen, dass die tatsächlichen Kosten der Schulmaterialien je nach Jahrgang zwei- bis viermal so hoch sind, wie die im Gesetz veranschlagten 100 Euro.

474 B. Eschen    Die sogenannten „Hartz-Gesetze“ haben Armut in Deutschland nicht beseitigt. Zwar ist die Arbeitslosigkeit gesunken, dies ist aber vor allem auf die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse zurückzuführen. Die Zahl der Armutsbetroffenen in Deutschland stagniert seit Jahren auf hohem Niveau. Menschen, die vormals arm und arbeitslos waren, sind heute oftmals arm trotz Arbeit. Besonders benachteiligte Personen haben teilweise sogar schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. So wurden die Instrumente zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt konsequent kaputt reformiert und abgebaut. Armut heißt freilich nicht nur Hartz-IV-Bezug, sondern schließt Menschen mit geringem Einkommen oder niedriger Rente ein. Aber die Ausgestaltung des Hartz-IV-Systems setzt Normen und Signale bis in die Mittelschicht hinein. 4

Ziel und Organisation der Nationalen Armutskonferenz (nak)

Die Nationale Armutskonferenz (nak) legt nicht nur den Finger in die Wunde des gesellschaftlichen Ausschlusses von Menschen mit Armutserfahrungen, sondern legt Wert auf die Selbstorganisation der Betroffenen. Kooperatives Engagement zur aktiven Armutsbekämpfung von Verbänden und Betroffenenorganisationen auf Augenhöhe ist Anliegen der Nationalen Armutskonferenz. Sie zielt darauf ab, die politische Teilhabe der Menschen, die in Armut leben, zu stärken. Denn viele können und wollen sich selbst vertreten und werden durch die nak darin bestärkt, für ihre Rechte zu kämpfen, und hinsichtlich der Ressourcen unterstützt. Die nak wurde im Herbst 1991 als deutsche Sektion des Europäischen Armutsnetzwerks EAPN (European Anti Poverty Network) gegründet und ist in deren Diskurse eingebunden. In lockerer Struktur sind derzeit siebzehn Organisationen in der nak zusammengeschlossen: Verbände der Freien Wohlfahrtspflege, Gewerkschaften, Fachverbände und Initiativen von Menschen mit Armutserfahrungen sowie weitere assoziierte Mitglieder. Die inhaltliche Ausrichtung und Positionierung wird zweimal pro Jahr in einer Delegiertenversammlung vorgenommen, die jeweils auf zwei Jahre einen vierköpfigen Sprecher_innenkreis wählt. Ein Wohlfahrtsverband bietet traditionell in turnusmäßigem Wechsel die Übernahme der Sprecherrolle an und stellt für die Amtsperiode die Geschäftsführung und Ressourcen zur Verfügung. 2017 und 2018 hat die Diakonie die Federführung.

Nationale Armutskonferenz

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Der Sprecher_innenkreis bündelt die im Wesentlichen durch folgende drei Strukturen getragene Arbeit: – das jährliche Bundestreffen der Menschen mit Armutserfahrung, – thematische Arbeitsgruppen zu Themen wie existenzsichernder Regelsatz, Gesundheit, Geschlechtergerechtigkeit, Wohnungspolitik, – thematische Bündnisse mit weiteren politischen Akteuren (Ratschlag gegen Kinderarmut, Bündnis Umverteilen, Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum). Durch die intensive Zusammenarbeit von Betroffenen und Expert_innen aus Wissenschaft und sozialer Arbeit ist eine anerkannte Expertise zu Fragen von Armut und Ausgrenzung entwickelt worden. 5

Mit Betroffenen aktiv

Dass Betroffeneninitiativen mitwirken und ihre Themen setzen, ist ein roter Faden der Arbeit in der nak. Referenzrahmen bildet dabei die europäische Definition relativer Armut, wonach als armutsgefährdet Personen gelten, die mit weniger als 60 % des mittleren Einkommens (Median) der Bevölkerung auskommen müssen.6 Die Lebenslagen der Betroffenen sind also sehr unterschiedlich. Manche beziehen Transferleistungen, andere sind prekär beschäftigt, andere beziehen Wohngeld, Kinderzuschlag oder Bafög. Die Beteiligungsformen müssen innerhalb der nak immer wieder erprobt und weiterentwickelt werden. Im Prozess der Erstellung des 5. Armuts- und Reichtumsberichtes der Bundesregierung war es gelungen, Betroffene direkt einzubeziehen. So organisierten das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) und die nak im Oktober 2015 einen Workshop mit rund 30 Armutsbetroffenen. Im Beraterkreis zum Armuts- und Reichtumsbericht wurden das direkte Gespräch mit Betroffenen und das Einbringen ihrer Sichtweise als unerlässlich gelobt, wenn fundiert über Armut berichtet werden solle. Damit sei auch ein Zeichen für eine neue Art der politischen Gestaltung gesetzt worden. Auch die umfassende Dokumentation auf der Internetseite www.armuts-und-reichtumsbericht.de schaffe Transparenz und dokumentiere das Erreichte. Als kritisches Korrektiv zu den Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung, die das Ausmaß von Armut teilweise verharmlosen, wurde der „Schattenbericht“ der nak entwickelt. Dieser versammelte 2012 und 2015 Stimmen der Betroffenen zu beeindruckenden Dar6

Vgl. den Beitrag von Jan Bertram und Ernst-Ulrich Huster in diesem Band, 42ff.

476 B. Eschen    stellungen sozialstaatlicher Defizite im Zusammenspiel mit Fachtexten und Statistiken. Er wurde mit dem Strassenfeger, einer Berliner Straßenzeitung des Vereins mob – obdachlose machen mobil e. V., in dessen Format herausgegeben. Betroffenenorganisationen wirken regelmäßig mit inhaltlichen Beiträgen und als Teilnehmer_innen an Fachtagen der nak mit, was der inhaltlichen Vertiefung der Themen und der politischen Positionierung dienlich ist. Als zentrale Veranstaltung findet seit 2006 das jährliche Treffen der Armutsbetroffenen statt. Die 2016 im Open-space-Format ermittelten Themen bildeten 2017 die Basis für die Tagung mit rund 140 Teilnehmer_innen. In 22 Workshops, verteilt auf zwei Tage, suchten die Teilnehmenden den Dialog mit Politiker_innen, Menschenrechtsaktivist_innen und Soziolog_innen. Zugleich begann der Austausch der Teilnehmenden über ihre persönlichen Armutserfahrungen, die von Marginalisierung gekennzeichnet sind. Neben den sozialpolitischen Kernthemen, wie Wohnungsnot und systematische Verdrängung einkommensarmer Haushalte, Familienarmut, Langzeitarbeitslosigkeit, Rechte von EU-Bürger_innen und Flüchtlingen u.a., standen Kleingruppengespräche mit Politiker_innen auf dem Programm. Wie sich von Armut Betroffene erfolgreicher in politische Prozesse einbringen und Einfluss auf die Entscheidungen von Parlamenten nehmen können, war die Leitfrage. Konkret ging es darum, wie Benachteiligung und Ausgrenzung in der kommenden Legislaturperiode beachtet und abgebaut werden. Positiv wurde wahrgenommen, dass sich Politiker_innen konkret auf die Fragen einließen und sich ein miteinander Diskutieren entwickelte. Dennoch blieb das Vertrauen in die Politik verhalten. In diesem Sinne äußerte Harald S., der selbst viele Jahre Mitglied der CDU war, doch inzwischen ausgetreten ist: „Ich fühle mich nicht gehört. Die Politik geht oft vollständig an diesen Themen vorbei“, beschreibt er seinen Blick auf die aktuelle Situation.7 Wie die Wirksamkeit nicht nur dieses Treffens, sondern der politischen Arbeit zur Armutsbekämpfung insgesamt erhöht werden kann, zog sich wie ein roter Faden durch die Diskussionen. Auch die Frage, wie unter von Armut Betroffenen erfolgreicher mobilisiert und weitere Mitstreiter_innen gewonnen werden können, wurde thematisiert und ließ ein erhebliches Frustpotential erkennen. 7

12. Treffen der Menschen mit Armutserfahrung.

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Die negativen und beschämenden Armutserfahrungen lassen Betroffene zögern, sich politisch einzusetzen. Schon die Teilnahme an einer solchen Tagung ist durch erhebliche Hürden erschwert. Hartz-IV-Bezieher_innen beispielsweise müssen dem Jobcenter an ihrem Wohnort kurzfristig zur Verfügung stehen, der sparsame Mitteleinsatz wiederum verlangt, dass Bahntickets preiswert und somit frühzeitig gebucht werden. Der Handlungsspielraum von Menschen, die von Armut betroffen sind, ist eng. Umso beeindruckender ist das Engagement der Mitglieder der nak. 6

Kritische Positionierungen

Mit ihren Arbeitsgruppen und Fachtagen leistet die nak systematisch kritische Analysen der Sozialgesetzgebung und der sozialen Wirklichkeit unter dem Blickwinkel sozialer Gerechtigkeit, Menschenrechte und Teilhabechancen. Beispielhaft führe ich drei Themenschwerpunkte auf, denen sich die nak 2017 im Besonderen gewidmet hat: 6.1

Menschenwürdiges Existenzminimum (Fachtagung vom 20.1.2017)

Der Fachtag des „Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum“ in Berlin ging der Frage nach, ob Menschenwürde und das tägliche Auskommen in Deutschland sicher sind oder ob Menschen das Lebensnotwendige vorenthalten wird. Tatsächlich, so zeigte die durch Diakonie und das Deutsche Institut für Menschenrechte getragene Tagung auf, werden bei der derzeitigen Regelbedarfsbemessung grundlegende Anforderungen an ein empirisch-statistisches Verfahren sowie das Transparenzgebot ignoriert. Infolge der nicht sachgerechten Auswahl der „unteren Einkommensgruppen“, deren Konsumausgaben maßgeblich für die Berechnung der Regelsätze in der Grundsicherung sind, werden eher Mangellagen als soziokulturelle Mindestbedarfe erfasst. Darüber hinaus erfolgt mit der Streichung zahlreicher Bedarfspositionen als „nicht regelbedarfsrelevant“ eine normative Einflussnahme, die methodisch nicht haltbar ist – mit der Folge einer gravierenden Kürzung des Regelbedarfs, was der Gesetzgeber aber nicht ausweist. Aber die Regelsätze müssen so gestaltet sein, dass sie wirklich zum Leben reichen. Denn an der Umsetzung sozialer Rechte entscheidet sich, ob Deutschland ein Land für alle ist und die Rechte der Menschen achtet. Wir brauchen deutliche Zeichen der sozialen und politischen Beteiligung Ausgegrenzter, ein sicheres Existenzminimum ohne Rechentricks und Sanktionen. Der Einsatz für soziale Beteiligung stärkt die Demokratie und schwächt Populisten. Im Auf-

478 B. Eschen    trag der Diakonie Deutschland hat Dr. Irene Becker, Expertin für empirische Verteilungsforschung, eine faire Regelsatzermittlung entwickelt, die als Konzept nun in die politischen Diskussionen eingebracht wird. Zu diesem Zweck arbeitet die nak in dem Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum mit. 6.2

Weil Du arm bist, musst Du früher sterben8

Unter dieser Überschrift veröffentlichte die nak eine fundierte und umfassende Positionierung zur gesundheitlichen Situation Armutsbetroffener in Deutschland. Diese beleuchtet die medizinische Versorgung unter den Bedingungen der Zweiklassenmedizin. Anhand von Beispielen belegt sie die gesundheitlichen Folgen von Armut geprägter Lebensverhältnisse. Beengte Wohnverhältnisse, Lärm und Umweltschädigungen, psychischer Druck und finanzielle Engpässe belasten Menschen und führen zu Gesundheitsschädigungen bis hin zu einem früheren Tod. Da die Krankenversicherungen zunehmend Kosten auf die Patient_innen durch Zuzahlungsmodelle abwälzen, findet selbst im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung eine Unterversorgung einkommensarmer Personenkreise statt, da viele dieser Kosten nicht in den Regelsatzberechnungen enthalten sind. Die nak fordert daher, dass die Übernahme der Kosten für alles medizinisch Notwendige durch Krankenversicherungsleistungen nach dem SGB V sichergestellt wird und mehr vorbeugende und gesundheitsfördernde Angebote für einkommensarme Menschen zugänglich gemacht werden. Darüber hinaus fordert die nak, die Regelleistungen, Transferzahlungen, Zuschüsse oder sonstige Hilfen so zu bemessen, dass eine gesunde Ernährung nach den Richtlinien der deutschen Gesellschaft für Ernährung leistbar ist. Strukturelle Maßnahmen der Stadtteilentwicklung sowie der Beseitigung von Wohnungsnot gehören aufgrund der gesundheitlichen Auswirkungen ebenso zu den Forderungen. Ein weiteres Augenmerk wird auf die Personenkreise gerichtet, die aufgrund von Zuwanderung oder als Flüchtlinge, durch Obdachlosigkeit, nach Haftentlassung oder anderen Gründen völlig von gesundheitlicher Versorgung ausgeschlossen sind. Hier wird die jeweilige Lage gesondert betrachtet, aber insgesamt der Zugang aller zu regulä8

Vgl. nak, Weil Du arm bist.

Nationale Armutskonferenz

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ren medizinischen Leistungen mit entsprechender Kostenübernahme eingefordert. 6.3

Armutsrisiko Geschlecht – Armutslagen von Frauen in Deutschland9

Ungleiche Lebensbedingungen, einseitige steuerliche Anreize, festgefahrene Rollenklischees, das lückenhafte Angebot frühkindlicher Bildungseinrichtungen, familien- und frauenunfreundliche Bedingungen der Arbeitswelt und die Unterbewertung der „klassischen“ Frauenberufe – dass Frauen auch in Deutschland in höherem Maße armutsgefährdet sind als Männer, hat viele Gründe. Die jüngste Publikation der nak zeigt grundlegende Aspekte und Strukturen weiblicher Armut auf. In der umfassenden Broschüre kommen Expertinnen und Betroffene zu Wort und beleuchten insbesondere die Lebenslagen mehrfach benachteiligter Frauengruppen. Die Erfahrung von Rassismus, von häuslicher Gewalt, von Behinderung oder auch alleinerziehend zu leben verschärft oft die Armutssituation. Die nak hat sich auf einer ihrer Delegiertenversammlungen intensiv mit den verschiedenen Aspekten der Armut von Frauen befasst und politische Forderungen formuliert, mit denen diese Risiken und skandalösen Lebenslagen wirkungsvoll abgebaut werden sollen. Die Forderungen beziehen sich sowohl auf strukturelle Veränderungen wie qualitativ gute und verlässliche Kinderbetreuung oder die Beseitigung prekärer Arbeitsbedingungen und die Abschaffung des Ehegattensplittings als auch auf individuelle Hilfen und Rechtsansprüche bei Gewalterfahrungen, Überschuldung oder Wohnungslosigkeit. 6.4

Die „Neiddebatte“ und der Streit um die Essener Tafel

Bei dem 12.Treffen der Menschen mit Armutserfahrungen im Oktober 2017 (s. Abschnitt 5) hatte sich die nak mit einer öffentlichen Erklärung gegen die von der AfD im Bundestagswahlkampf geschürte Neiddebatte gewandt. Jede Entsolidarisierung sei zu beenden. Denn Wohnungslose, in Altersarmut Lebende, prekär Beschäftigte, Geflüchtete, Alleinerziehende und Erwerbslose – alle in Armut lebenden Menschen litten unter einer ungerechten Politik, die Reiche entlastet und Armut nicht bekämpft.10 Entsprechend kritisch musste die Entscheidung der Essener Tafel gewertet werden, übergangsweise nur Menschen mit deutschem Pass 9

Vgl. nak, „Armutsrisiko Geschlecht“. Vgl. nak, Wachsende Enzsolidarisierung beenden.

10

480 B. Eschen    neu in die Versorgung aufzunehmen. Damit verstieß diese Ausgabestelle gegen einen ihrer eigenen Grundsätze, wonach die Tafeln unabhängig von politischen Parteien und Konfessionen arbeiten und allen Menschen helfen, die der Hilfe bedürfen.11 Allerdings war die Entscheidung der Tafel vor allem ein Alarmsignal dafür, dass viel zu viele Armutsbetroffene auf die Versorgung durch die Tafeln angewiesen sind, weil u.a. die Regelsätze das soziokulturelle Existenzminimum nicht abdecken (s. Abschnitt 6.1). Wollte die Tafelbewegung qualitativ einwandfreie Nahrungsmittel, die im Wirtschaftsprozess nicht mehr verwendet werden können, ursprünglich als zusätzliche Unterstützung an Menschen in Not verteilen, trägt sie inzwischen zur regelmäßigen Basisversorgung vieler Haushalte bei. Entsprechend kritisiert die nak, dass die Tafeln längst zum „Ausputzer der Nation“ gemacht würden und Ehrenamtliche einspringen müssten, weil die staatliche Daseinsvorsorge versagt. Die zeitgleich sich bildende Regierung der großen Koalition allerdings wiegelt nicht nur ab, sondern einige ihrer Vertreter_innen wie der neue Gesundheitsminister bestreiten rundheraus, dass Hartz-IV-Bezug eine Armutslage darstellt. Die nak fordert aber weiterhin zusätzliche Mittel im Bundeshaushalt in Milliardenhöhe ein, um die Transferleistungen aufbringen und die anstehenden Herausforderungen in den Bereichen Wohnen, Unterbringung, Bildung, Arbeit und Gesundheit bewältigen zu können.12 7

Bündnis- und Lobbyarbeit

Um politischen Forderungen der Armutsbekämpfung stärker Nachdruck zu verleihen, initiiert die nak gemeinsame Kampagnen und geht Bündnisse mit anderen Akteuren ein. 7.1

Bündnis „Reichtum umverteilen – ein gerechtes Land für alle!“13

Wer Armut bekämpfen will, muss sich mit dem Reichtum befassen. Dies benennt sogar der 5. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, in dem diese selbst vor einer zu starken Spaltung der Gesellschaft warnt und einräumt, dass Beschäftigte ihre Anstrengungen vielfach als nicht ausreichend respektiert empfänden, Langzeitarbeitslose nicht proportional vom deutschen Job-Boom profitierten und der Dienstleistungsbereich bei den Lohnsteigerungen hinterherhinke.

11

Vgl. Tafel Deutschland, Tafel-Grundsätze. Vgl. nak, Aufnahmestopp der Essener Tafel. 13 Vgl. Bündnis Reichtum umverteilen, Aufruf. 12

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Die Senkung der Steuern auf Vermögen, hohe Einkommen, Kapitalerträge und Gewinne in den vergangenen Jahren hatte als Kehrseite, dass Bund, Länder und Gemeinden zu wenig investieren konnten. Öffentliche und soziale Leistungen wurden gekürzt, das Rentenniveau sinkt und bezahlbare Wohnungen sind in vielen Städten Mangelware. Große Konzerne umgehen Steuerzahlungen, und Reichtum und Macht konzentrieren sich in immer weniger Händen. An den Missständen in diesem Land sind nicht die Armen, die Erwerbslosen oder die Schutzsuchenden schuld. Um eine gerechte Steuerpolitik einzufordern, wurde im Bundeswahlkampf 2017 von 30 Organisationen das Bündnis „Reichtum umverteilen – ein gerechtes Land für alle!“ gegründet, das mit verschiedenen Aktionen für eine solidarische Steuer- und Finanzpolitik eintritt. Für soziale Sicherheit, eine wirkungsvolle Wohnungspolitik, eine gute solidarische Gesundheitsversorgung, eine verlässliche Alterssicherung und eine wirkungsvolle Arbeitsmarktpolitik braucht der Staat entsprechende Einnahmen. Und diese sind nur durch mehr Steuergerechtigkeit zu realisieren. Gefordert wird deshalb, dass finanzstarke Unternehmen, Vermögende und einkommensstarke Haushalte wieder höhere Beiträge zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten müssen, indem sehr hohe Einkommen stärker besteuert und Kapitalerträge nicht privilegiert werden. Mit Vermögens- und Erbschaftssteuern sind mehr öffentliche Aufgaben finanzierbar und wird soziale Ungleichheit abgebaut. Das Bündnis kommentierte auch den Bundestagswahlkampf sowie die verschiedenen Koalitionsverhandlungen, immer mit dem Ziel, Verteilungsgerechtigkeit einzufordern. 7.2

Kampagne #stopkinderarmut

Der Bundestagswahlkampf 2017 wurde von der nak und zahlreichen weiteren Organisationen genutzt, um gegen Kinderarmut einzutreten. Mit Verbänden wie dem Deutschen Kinderhilfswerk e.V., dem Deutschen Kinderschutzbund e.V., der Diakonie Deutschland und wieteren startete die nak die Kampagne #stopkinderarmut in den sozialen Medien. Über 37.000 Personen stützten diese mit ihrer Online-Zustimmung auf der Petitionsplattform „we act!“. Sie teilten unter der Überschrift „Jedes Kind ist gleich viel wert – Kinderarmut endlich wirksam bekämpfen“ folgende Forderungen: „Wir fordern eine einheitliche Geldleistung für alle Kinder, die das Existenzminimum sichert. Ein gutes Aufwachsen darf nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen:

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B. Eschen 

– Die Hartz IV Sätze für Kinder sind zu gering. Sie basieren auf ungenauen Rechnungen und willkürlichen Abschlägen. – Arme Familien müssen mindestens in gleicher Weise gefördert werden, wie Familien mit höheren Einkommen entlastet. – Staatliche Unterstützung muss einfach gestaltet und leicht zugänglich sein. Derzeit gehen viele Hilfen an den Familien und Kindern, die diese brauchen, vorbei. Das tatsächliche Existenzminimum muss ohne Rechentricks ermittelt und ausgezahlt werden. Wir werden aufmerksam verfolgen, welchen Stellenwert die Beseitigung von Kinderarmut in den Wahlprogrammen, einer Koalitionsvereinbarung und in Gesetzgebungsvorhaben erhält und ob konkret benannt wird, bis wann und wie Kinderarmut in Deutschland überwunden sein soll.“14

Im Endspurt des Bundestagswahlkampfes gelang es der nak, zusammen mit dem DGB und der Kindernothilfe e.V. die Unterstützer_innenlisten an Spitzenkandidat_innen aller demokratischen Parteien öffentlichkeitswirksam zu überreichen. Die Problemstellung Kinderarmut ist inzwischen verankert. Allerdings richten sich die Lösungsstrategien in der Koalitionsvereinbarung der Großen Koalition von SPD, CDU und CSU weniger an der Zielgruppe der von Armut betroffenen Menschen aus, sondern sie nehmen diejenigen in den Blick, die als Kindergeldempfänger_innen Einkommen oberhalb der Transferleistungen beziehen. Hier gäbe es bei denen, die an der Einkommensgrenze liegen und durch die Kindergelderhöhung ein Anrecht auf den Kinderzuschlag erlangen, Verbesserungen. Aber die vielen Kinder aus auf Hartz IV angewiesenen Familien werden davon nicht profitieren, wie eigentlich immer. 8

Fazit

Trotz guter wirtschaftlicher Lage und niedriger Arbeitslosenzahlen stagniert die Armut in Deutschland mit einer Armutsquote von fast 16 Prozent auf hohem Niveau. Die 2017 veröffentlichten Zahlen des Statistischen Bundesamtes zur Armut in Deutschland lassen keinen anderen Schluss zu. So verschieden die Lebenslagen der Betroffenen sind, so belastend ist ihre Situation. Die Stagnation der Armutsquote bei günstiger Konjunktur signalisiert den Betroffenen die Aussichtslosigkeit ihrer Lage, die von den Parteien kaum in den Blick genommen wird. Sehr häufig wird ihnen in öffentlichen Diskussionen und erst recht am Stammtisch eine Schuld für ihre Lage zugeschoben und 14

Vgl. nak u.a., Keine Ausreden mehr!

Nationale Armutskonferenz

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zugleich die gesellschaftliche Verantwortung zurückgewiesen. Die mit Einkommensarmut einhergehenden persönlichen Benachteiligungen werden bagatellisiert und Ausgrenzungsmechanismen geleugnet. Somit erfahren Menschen, die von Armut betroffen sind, vielfach Abwertung. Dass sie sich bei der nak selbst artikulieren und auch von Zuschreibungen distanzieren können, ist eine Stärke dieser Arbeit. Auch als Kirche und Diakonie sollte es uns „etwas machen“ (s. Herr Keuner), wenn sich Menschen aufgrund ihrer Armutslage nicht (mehr) artikulieren können oder wollen. Und es sollte uns stören, wenn sie von der Gesellschaft nicht gehört werden, obwohl sie sich zu Wort melden. Das diakonische Engagement von Kirchengemeinden in der Tafelarbeit, in Suppenküchen oder Flüchtlingsbegleitung ist beachtlich und wichtig, vor allem wenn es Kontakt und Begegnung ermöglicht. Daran anknüpfend ist es gut, Menschen Orte zu eröffnen, an denen sie sich selbst zur Sprache bringen können, ihre Bedürfnisse und Ärgernisse formulieren können. Gut ist, wenn sie an einer Gemeinschaft in Vielfalt teilhaben und sie mitgestalten können. Solche Projekte und Orte müssten zahlreicher werden. Dafür braucht es Armutssensibilität bei der Gestaltung von Angeboten, und es braucht die Freiheit des Glaubens, der immer wieder mit Überraschungen rechnet. Literatur Brecht, Bertold, Geschichten vom Herrn Keuner. Mit einem Kommentar von Gesine Bey, Berlin 2012. Bündnis Reichtum umverteilen, Aufruf: Reichtum umverteilen – ein gerechtes Land für alle!, 2017, online: www.reichtum-umverteilen.de (Zugriff: 08.04.2018). Fechtner, Kristian, Diskretes Christentum, Gütersloh 2015. Nationale Armutskonferenz (nak) (Hg.), „Armutsrisiko Geschlecht“, Positionen und Forderungen der Nationalen Armutskonferenz zu Armutslagen von Frauen in Deutschland, Berlin 2017, online: https://www.nationale-armutskonferenz.de/wp-content/uploads/ 2017/11/NAK_Armutsrisiko-Geschlecht.pdf (Zugriff: 08.04.2018). Nationale Armutskonferenz (nak) (Hg.), Weil Du arm bist, musst Du früher sterben, Positionspapier, Berlin 2017, online: https://www. nationale-armutskonferenz.de/wp-content/uploads/2017/09/NAKBroschu%CC%88re_170626-2.pdf (Zugriff: 08.04.2018).

484 B. Eschen    Nationale Armutskonferenz (nak) (Hg.), Wachsende Entsolidarisierung beenden – Menschen mit Armutserfahrung treffen sich nach der Wahl in Berlin, Pressemitteilung vom 04. Oktober 2017, online: https://www.nationale-armutskonferenz.de/2017/10/04/wach sende-entsolidarisierung-beenden-menschen-mit-armutserfahrungtreffen-sich-nach-der-wahl-in-berlin/ (Zugriff: 08.04.2018). Nationale Armutskonferenz (nak) (Hg.), Aufnahmestopp der Essener Tafel ist ein Alarmsignal, Pressemitteilung vom 27. Februar 2018, online: https://www.nationale-armutskonferenz.de/2018/02/27/auf nahmestopp-der-essener-tafel-ist-ein-alarmsignal/#more-495 (Zugriff: 08.04.2018). Nationale Armutskonferenz (nak ) u.a., Keine Ausreden mehr! Armut von Kindern und Jugendlichen endlich bekämpfen! #stopkinderarmut, Petition, 2017, online: https://weact.campact.de/petitions/ keine-ausreden-mehr-armut-von-kindern-und-jugendlichenendlich-bekampfen (Zugriff: 08.04.2018). o.A., 12. Treffen der Menschen mit Armutserfahrung: „Flagge zeigen – Soziale Rechte – Beteiligung, Menschenrecht“, Programm der Veranstaltung, 2017, online: www.nationale-armutskonferenz.de /wp-content/uploads/2017/09/Programm-12.-Treffen-derMenschen-mit-Armutserfahrung.pdf (Zugriff: 08.04.2018). Schulz, Claudia, Ausgegrenzt und abgefunden? Innenansichten der Armut. Eine empirische Studie, Berlin 2007. Tafel Deutschland (Hg.), Tafel-Grundsätze, o.J., online: https://www.tafel.de/ueber-uns/unsere-werte/tafel-grundsaetze/ (Zugriff: 08.04.2018). Wilkinson, Richard, Inequality and Social Dysfunction, Präsentation, 2017, online: http://www.armut-und-gesundheit.de/fileadmin/ user_upload/MAIN-dateien/Kongress_A_G/A_G_17/A_G_17_ Materialien/Berlin_Wilkinson_March2017.pdf (Zugriff: 08.04.2018).

  Katrin Hatzinger

Der Kampf gegen Armut und für ein soziales Europa als Aufgabe für die Kirchen

In ihrem gemeinsamen Sozialwort aus dem Jahr 1997 haben die beiden großen Kirchen ihr Anliegen formuliert, „zu einer Verständigung über die Grundlagen und Perspektiven einer menschenwürdigen, freien, gerechten und solidarischen Ordnung von Staat und Gesellschaft beizutragen und dadurch eine gemeinsame Anstrengung für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit möglich zu machen“.1 Diese Grundhaltung haben die Kirchen in der ökumenischen Sozialinitiative im Jahr 20142 erneuert, indem sie sich klar zur sozialen Marktwirtschaft bekannt haben. In der letzten These der ökumenischen Sozialinitiative steht explizit die europäische Dimension der Wirtschaftsund Sozialpolitik im Mittelpunkt. „Gemeinsame Verantwortung heißt, an der Gestaltung einer europäischen Solidaritäts- und Verantwortungsgemeinschaft mitzuwirken.“3 Die Kirchen machen damit deutlich, dass zur Gestaltung einer gerechten Wirtschafts- und Sozialordnung die EU unabdingbar ist. 1

Auf dem Weg zu einem sozialen Europa

Die Europäische Union hatte stets eine soziale Dimension, die eng mit ihren wirtschaftlichen Ambitionen verknüpft ist. Seit 1957 in den Römischen Verträgen der Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen rechtlich verankert wurde, sind die Verbesserung der 1 Kirchenamt der EKD/Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, 5. In ihrer Denkschrift „Verantwortung für ein soziales Europa“ hat die EKD bereits 1991 auf die Herausforderungen einer verantwortlichen sozialen Ordnung im Horizont des europäischen Einigungsprozesses hingewiesen. 2 Vgl. Kirchenamt der EKD/Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Gemeinsame Verantwortung. 3 Kirchenamt der EKD/Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Gemeinsame Verantwortung, 53.

486 K. Hatzinger    Arbeitsbedingungen, der Lebensstandards und der Geschlechtergleichstellung ebenso wie die Beseitigung der Armut sukzessive zentrale Ziele der EU (Art. 3 des Vertrags über die Europäische Union) geworden. Seither geht die Entwicklung einer sozialen Dimension allerdings nur zögerlich Hand in Hand mit der Vertiefung des Binnenmarkts und dem Konzept der Unionsbürgerschaft, das gleiche Ausgangsbedingungen für alle und die Wahrung der grundlegenden Rechte in allen Ländern gewährleistet. 1.1

Die Lissabon-Strategie

Lange Zeit fristete das Thema der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung auf europäischer Ebene ein Schattendasein. Auf der Tagung des Europäischen Rates in Lissabon im März 2000 hatten die europäischen Staats- und Regierungschefs die so genannte „LissabonStrategie“ auf den Weg gebracht. Erklärtes Ziel der Strategie war es, die Europäische Union bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten, dynamischsten, wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen und Vollbeschäftigung zu erreichen. Die „Lissabon-Strategie“ bildete den übergreifenden Rahmen für die Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialsowie später auch Umweltpolitik der EU. Zum Zeitpunkt der Halbzeitbilanz 2005 blieben die Erfolge allerdings deutlich hinter den Erwartungen zurück. Es erfolgte eine Neuausrichtung der Strategie, die jedoch zunehmend auf die beiden Hauptziele Wachstum und Beschäftigung fokussiert war und z.B. die Bildungspolitik klar in den Dienst der Wirtschaft stellte. Aspekte der Nachhaltigkeit und des sozialen Zusammenhalts wurden zunehmend in den Hintergrund gedrängt. Die Synode der EKD warnte mit Beschluss vom 10. November 2005 davor, dass die „Lissabon-Strategie“ eine Tendenz zur Ökonomisierung aller Lebensbereiche aufweise und die soziale Dimension Europas zu wenig in den Blick nehme. Angesichts der Revision der Strategie für den Zeitraum nach 2010 war es daher das erklärte Ziel der Kirchen und ihrer Wohlfahrtverbände, sich für eine Stärkung der sozialen Aspekte der Strategie einzusetzen. Aus kirchlich-diakonischer Sicht sollten insbesondere folgende Punkte in diese Nachfolgestrategie, die sog. Europa-2020-Strategie, aufgenommen werden: – Die Vermeidung prekärer Beschäftigungsverhältnisse, eine angemessene soziale Grundsicherung und ein diskriminierungsfreier Zugang zu den öffentlichen Bildungsangeboten, um dem Trend wachsender Armutsgefährdung entgegenzuwirken. Besonders gefährdete Gruppen – junge Menschen, Alleinerziehende, Langzeitarbeitslose, Migrant_innen u.a. – brauchen besondere Förderung.

Der Kampf gegen Armut

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– Die Schaffung eines speziellen Europäischen Rahmens für Sozialdienstleistungen, der nationale Besonderheiten wie den Vorrang freier Träger und das Wunsch- und Wahlrecht der Bürgerinnen und Bürger respektiert. Der Zugang zu adäquater Daseinsvorsorge muss allen gleichermaßen offenstehen. – Soziale Dienste sollten von den wettbewerbsrechtlichen Regelungen des Binnenmarktes ausgenommen werden. Stattdessen muss die Gemeinnützigkeit bei der Erbringung sozialer Dienste und bei der Bereitstellung der entsprechenden Infrastruktur berücksichtigt und gefördert werden. Sozialdienstleistungen brauchen hohe Qualitätsstandards und Planungssicherheit. 1.2

Die Europa-2020-Strategie

Zwar verpflichtet sich die EU in Artikel 3 Absatz 3 des Vertrags über die Europäische Union (ehemaliger Art. 2 EUV) in ihren Zielen dazu, auf eine „in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“ hinzuwirken. Doch konkrete politische Maßnahmen im Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung wurden lange Zeit primär den Mitgliedsstaaten überlassen. Erst 2010 wurden mit der „Europa-2020Strategie“ als Nachfolgestrategie von Lissabon erstmals auch soziale Indikatoren und sozialpolitische Zielsetzungen formuliert und eine Forderung der Kirchen und ihrer Wohlfahrtsverbände erfüllt. Die auf zehn Jahre angelegte Strategie legt eine EU-Agenda für Wachstum und Beschäftigung fest. Dabei setzt sie auf „intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ als Mittel zur Überwindung der strukturellen Schwächen der europäischen Wirtschaft, zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität Europas sowie zur Untermauerung einer nachhaltigen sozialen Marktwirtschaft. In ihrer gemeinsamen Stellungnahme zur Strategie Europa 2020 betonten die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände im Jahr 2010: „Europa muss seine Arbeitsmärkte und Sozialsysteme den geänderten globalen, gesellschaftlichen und politischen Anforderungen anpassen. Im Mittelpunkt der Reformbemühungen muss dabei das Wohl der Menschen stehen. Als Kirchen und kirchliche Wohlfahrtsverbände rufen wir regelmäßig in Erinnerung, dass Wirtschaft und Wachstum dem Menschen dienen müssen und nicht umgekehrt. Gemeinsam setzen wir uns für eine Gesellschaftsordnung ein, die die Würde des Einzelnen respektiert, einer leistungsfähigen und nachhaltigen Wirtschaft förderlich ist und gleichzeitig durch eine gerechte und stabile Sozialordnung den gesellschaftlichen Frieden gewährleistet. Wir wünschen uns eine wirkliche Kohärenz der sozialpolitischen Ziele (vgl. Art. 9 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) mit den wirtschaftspolitischen Weichenstellungen. Kritisch haben wir uns deshalb gegen

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K. Hatzinger 

die starke Betonung der wirtschaftlichen Dimension der Lissabon-Strategie nach der Halbzeitrevision im Jahr 2005 gewandt. Nicht jedes Wachstum und jede Beschäftigung schaffen automatisch die Bedingungen für einen stärkeren sozialen Zusammenhalt und die Sicherung der ökologischen Nachhaltigkeit. Einer Ökonomisierung aller Lebensbereiche treten wir daher nach wie vor entgegen. Angesichts der bevorstehenden Neuausrichtung der LissabonStrategie im Rahmen der künftigen EU-Strategie bis 2020 plädieren wir für eine fundamentale Stärkung ihrer sozialen Dimension. Das Europäische Jahr 2010 zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung sehen wir als besonderes Zeichen der Selbstverpflichtung der Europäischen Union, den sozialen Zusammenhalt zu festigen.“4

In ihrer Stellungnahme sprachen sich die beiden Kirchen, Caritas und Diakonie besonders dafür aus, folgende Aspekte im Rahmen der Nachfolgestrategie zu berücksichtigen: – die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, – die Schaffung sicherer und qualitativ hochwertiger Arbeitsplätze sowie die Stärkung der „aktiven Eingliederung“, – die Förderung einer an den Bedürfnissen des Menschen orientierten Bildungspolitik, – den universellen Zugang zu sozialen Dienstleistungen von hoher Qualität zu erschwinglichen Preisen, – die Bedeutung einer gemeinsamen europäischen Einwanderungspolitik sowie – die Notwendigkeit, ökologisch-soziale Relevanz und Nachhaltigkeit bei der Berechnung und Bewertung von Wachstum. Tatsächlich wurde am 17. Juni 2010 vom Europäischen Rat die Europa-2020-Strategie verabschiedet und als eines der fünf Kernziele der Strategie vereinbart, dass bis 2020 die Anzahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffenen bzw. bedrohten Menschen mindestens um 20 Millionen Menschen sinken sollte. Dabei ist es den Mitgliedsstaaten jedoch freigestellt, ihre nationalen Armutsbekämpfungsziele auf der Grundlage der am besten geeigneten Indikatoren (Armutsrisiko, materielle Deprivation und Erwerbslosenhaushalt) unter Berücksichtigung ihrer nationalen Gegebenheiten und Prioritäten festzulegen. Deutschland entschied sich dafür, allein den Indikator der Langzeitarbeitslosigkeit zu wählen, was von Kirchen und Sozialverbänden als Verengung des Armutsbegriffs kritisiert wurde. Im Zusammenhang mit den Hauptzielen der Strategie stehen neben der Armutsbekämpfung folgende Kernziele: 4

EKD-Büro Brüssel u.a., Gemeinsame Stellungnahme zur Konsultation „EU 2020“, 1f.

Der Kampf gegen Armut

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– 75 % der Bevölkerung im Alter von 20 bis 64 Jahren sollten erwerbstätig sein, – 3 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der EU sollten für Forschung und Entwicklung aufgewendet werden, – Kernziele zum Thema Klimawandel und Energie: – Reduzierung der Treibhausgasemissionen um 20 % im Vergleich zu 1990, – Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien am Bruttoendenergieverbrauch auf 20 %, – 20 % Steigerung der Energieeffizienz, – der Anteil der frühzeitigen Schul- und Ausbildungsabgänger_innen sollte auf unter 10 % abgesenkt und der Anteil der 30- bis 34-Jährigen, die ein Hochschulstudium abgeschlossen haben oder über einen gleichwertigen Abschluss verfügen, auf mindestens 40 % erhöht werden. Die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände haben es positiv bewertet, dass drei der fünf Kernziele einen sozialen Bezug aufweisen. Sie betonen: „Gerade mit ihren sozial- und umweltpolitischen Zielen setzt die ,Europa 2020ʻ-Strategie also ein wichtiges Signal für ein soziales, nachhaltiges und solidarisches Europa in der Welt.“5 1.3

Die Armutsindikatoren der Europa-2020-Strategie

Die Strategie „Europa 2020“ hat ihre politische Strahlkraft recht schnell verloren und dient heute nur (oder immerhin) noch als Referenzrahmen für Maßnahmen auf EU-Ebene sowie auf Ebene der EULänder und -Regionen. Das liegt zum einen daran, dass versäumt wurde, politische Lehren aus dem Scheitern der Lissabon-Strategie zu ziehen, zum anderen daran, dass die Sozialpolitik auf EU-Ebene weiterhin eine untergeordnete Rolle spielt. Daneben hat die Wirtschaftsund Finanzkrise in der EU dazu geführt, dass die ehrgeizigen Ziele nicht erreicht werden können. Schließlich liegt ein Grund dafür, dass in Brüssel heute kaum noch jemand über die Europa-2020-Strategie spricht, in dem fehlenden Willen der Mitgliedsstaaten, sich gerade im sozialpolitischen Bereich von der EU „überwachen“ zu lassen. Dass der Indikator Langzeitarbeitslosigkeit allein zur Erfassung des arbeitsmarktpolitischen bzw. sozial-politischen Handlungsbedarfs ungeeignet ist, haben Kirchen, Wohlfahrtsverbände auch gegenüber der Bundesregierung mehrfach betont.6 Er ist nicht geeignet, die ver5

EKD-Büro Brüssel u.a., Gemeinsame Stellungnahme zur Konsultation zur Strategie „Europa 2020“, 2. 6 Vgl. z.B. EKD-Büro Brüssel u.a., Gemeinsame Stellungnahme zur öffentlichen Konsultation zur Strategie „Europa 2020“, 4f.

490 K. Hatzinger    schiedenen Dimensionen von Armut und materieller Entbehrung in ausreichendem Maße abzubilden. Auch die Armut von Menschen, die nicht, noch nicht oder nicht mehr am Erwerbsleben teilnehmen können, sollte Berücksichtigung finden. Die Einbeziehung weiterer Indikatoren, wie z.B. die relative Einkommensarmut, die materielle Deprivation oder die Verweildauer im Bezug existenzsichernder Sozialleistungen, wäre im Rahmen eines integrierten Ansatzes zur Armutsbekämpfung erforderlich, um den sozialen Zusammenhalt zu fördern. Die Mitgliedsstaaten haben nationale Ziele zur Umsetzung der gemeinsamen europäischen Ziele der Europa-2020-Strategie festgelegt und erstatten im Rahmen ihrer jährlichen nationalen Reformprogramme innerhalb des Europäischen Semesters Bericht über die Fortschritte. Das „Europäische Semester“ ist ein Zyklus, in dessen Verlauf die EU-Mitgliedsstaaten ihre Wirtschafts- und Fiskalpolitik aufeinander abstimmen, und wurde im Jahr 2011 im Rahmen der Europa-2020Strategie eingeführt. Gemäß der Schätzung des Europäischen Statistikamtes Eurostat waren im Jahr 2016 117,5 Millionen Personen bzw. 23,4 % der Bevölkerung in der Europäischen Union (EU) von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht.7 „Nachdem der Anteil der Personen in der EU, die von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind, zwischen den Jahren 2009 und 2012 dreimal in Folge gestiegen war und fast 25 % erreicht hatte, ist er seither stetig gesunken und lag letztes Jahr bei 23,4 %, nur 0,1 Prozentpunkte über seinem Tiefstand von 2009“,

so Eurostat in der Pressemitteilung vom 16. Oktober 2017 zur Armutsentwicklung in der EU. Bei der Betrachtung der drei Komponenten, die Armutsgefährdung und soziale Ausgrenzung ausmachen, zeigt sich, dass 17,2 % der Bevölkerung in der EU im Jahr 2016 nach Zahlung von Sozialleistungen armutsgefährdet waren. Damit lag das verfügbare Einkommen von immerhin jeder sechsten Person in der EU unter der jeweiligen nationalen Armutsgefährdungsschwelle. 7,5 % der EU-Bürger_innen erfahren Situationen schwerwiegender materieller Deprivation. Dies bedeutet, dass sie generell zu wenig finanzielle Ressourcen haben, um sich beispielsweise ausreichend zu ernähren. Sie haben keine Reserven für unvorhergesehene Ausgaben. Im Juni 2017 waren zudem in der EU28 insgesamt 18,725 Millionen Männer und Frauen arbeitslos, davon 14,718 Millionen im Euroraum. In der EU28 waren 3,710 Millionen Personen im Alter unter 25 Jah7

Eurostat, 17. Oktober: Internationaler Tag.

Der Kampf gegen Armut

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ren arbeitslos, davon 2,588 Millionen im Euroraum. Die höchsten Quoten gab es in Griechenland (45,5 %), Spanien (39,2 %) und Italien (35,4 %).8 Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs besteht die reale Gefahr, dass die heutigen jungen Erwachsenen – die am besten ausgebildete Generation, die wir je hatten – möglicherweise schlechter dastehen werden als ihre Eltern. Die EU-Staatsschulden-, Wirtschafts- und Finanzkrise ist noch nicht überwunden. Die Tatsache, dass weiterhin jeder sechste EU-Bürger armutsgefährdet ist, gibt Anlass zur Sorge. Das Armutsbekämpfungsziel ist bis 2020 realistischerweise nicht mehr zu erreichen. Von dem Ziel, „intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ zu schaffen, ist man in vielen Bereichen ebenfalls weit entfernt, auch wenn die Wirtschaft im Euroraum anzieht und Präsident Juncker einen milliardenschweren europäischen Fonds für strategische Investitionen (EFSI) aufgelegt hat, der die Wirtschaft beleben und Arbeitsplätze schaffen soll.9 2

Europa als Teil der Lösung

Die Kompetenzen der Europäischen Union im Bereich der Sozialpolitik sind beschränkt, die Erwartungen der Menschen an die Politik in Europa sind es jedoch nicht. Die Bürgerinnen und Bürger wünschen sich mehr soziale Gerechtigkeit und Risiko-Absicherung. Die soziale Ungleichheit und das Wohlstandsgefälle in einigen Mitgliedsstaaten und zwischen den Mitgliedsstaaten schüren Ängste und Politikverdrossenheit und befördern den Wunsch nach einfachen politischen Antworten. Der oft als undemokratisch und intransparent wahrgenommene Brüsseler Politikbetrieb eignet sich gut als Angriffsfläche, und die Rückkehr in die überschaubaren Zeiten des Nationalstaates erscheint offenbar manchem als reizvolle Alternative. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Arbeitnehmerfreizügigkeit sind zentral für die europäische Integration und dürfen nicht Opfer von Einzelinteressen oder nationalistischen Abschottungstendenzen werden. In ihrer Sozialinitiative weisen die beiden großen Kirchen auf die Sprengkraft der Wirtschafts- und Finanzkrise hin und warnen davor, dass bei ihrer Bekämpfung das europäische Gemeinschaftsgefühl auf der Strecke bliebe. „Deshalb ist die Bewältigung der Eurokrise nicht

8 9

Vgl. Eurostat, 17. Oktober: Internationaler Tag. Vgl. http://www.eib.org/efsi/?lang=de.

492 K. Hatzinger    nur eine wirtschaftliche und finanzielle Frage, sondern eine essentielle Frage nach dem Zusammenhalt Europas“, heißt es dort.10 Doch ist Europa wirklich das Problem oder nicht vielmehr Teil der Lösung? Die existierende Ungleichheit resultiert größtenteils nämlich aus Strukturmängeln und Versäumnissen in den Nationalstaaten. Dennoch ist die öffentliche Wahrnehmung vielfach eine andere und die Erwartungen an die europäische Politik sind hoch. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat das erkannt und hat sich für ein soziales Europa stark gemacht. „Ich möchte ein Europa mit einem sozialen Triple-A.11 Ein soziales Triple-A ist genauso wichtig wie ein wirtschaftliches und finanzielles Triple-A“, so der Kommissionspräsident in seiner Erklärung auf der Plenartagung des Europäischen Parlaments am 22. Oktober 2014.12 Die beiden Kirchen setzen in ihrer Sozialinitiative auf das Zusammenspiel der Prinzipien von Solidarität und Subsidiarität im Sinne von Eigenverantwortung, um die wirtschaftlichen und finanziellen Probleme in der EU zu lösen. So fordern sie, dass die von der Krise besonders betroffenen Länder nicht sich selbst überlassen werden dürften. Gleichzeitig führe aber mittel- und langfristig kein Weg an Modernisierung und Haushaltskonsolidierung vorbei. Das ist sicherlich eine richtige Analyse, doch ist die Wirklichkeit um einiges komplexer, als es die Formel von Solidarität und Verantwortung erahnen lässt. Die europäische Politik bewegt sich auf einem schmalen Grat, um beiden Prinzipien gerecht zu werden, und es braucht eben auch Zeit, bis angestoßene Reformen Wirkung zeigen, und die Ehrlichkeit, Fehler der Vergangenheit selbstkritisch zuzugeben. Die Glaubwürdigkeit der Europapolitik der nächsten Jahre wird in hohem Maße davon abhängen, ob es gelingen wird, den sozialen Frieden in der EU zu erhalten, sprich das wirtschaftliche und soziale Auseinanderdriften im Euroraum aufzuhalten und damit wieder Vertrauen in die europäische Politik aufzubauen. Diese Leistung kann die EU aber nicht allein erbringen, hier ist ein Zusammenspiel von nationaler und europäischer Politik nötig. 10

Kirchenamt der EKD/Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Gemeinsame Verantwortung, 54. 11 Triple A bezeichnet die höchstmögliche Bonitätsbewertung, die normalerweise im Bankensektor von Ratingagenturen vergeben wird. 12 Juncker, Zeit zum Handeln, 3.

Der Kampf gegen Armut

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Tatsächlich muss die soziale Dimension der Wirtschafts- und Währungsunion konkret ausgestaltet und für die Bürgerinnen und Bürger greifbar werden. Europa muss als Solidargemeinschaft seine sozialen Konturen schärfen und eine Agenda auflegen, um Ungleichheit und Armut erfolgreich zu bekämpfen. Hier sind Ideen gefragt, die gemeinsam mit Sozialpartnern, Kirchen und Zivilgesellschaft entwickelt werden sollten. Auch ein überzeugendes Konzept gegen Steuerhinterziehung und -vermeidung von Großunternehmen in der EU gehört ganz oben auf die politische Tagesordnung. Die Kirchen sind bereit, an der Gestaltung einer europäischen Solidaritäts- und Verantwortungsgemeinschaft mitzuwirken, ebenso wie die Wohlfahrtsverbände. So hat die Diakonie Deutschland im Juni 2017 ein Grundsatzpapier, die „Diakonie-Charta für ein Soziales Europa“, vorgelegt. Mit der Charta macht die Diakonie Deutschland deutlich, dass sie davon überzeugt ist, „dass die Europäische Union ohne ein starkes gemeinsames soziales Engagement mit verbindlicheren Vorgaben als bisher keine Zukunft hat.“13 3

Nur ein Feigenblatt? – Die europäische Säule sozialer Rechte

Im November 2017 wurde in Göteborg auf dem ersten Europäischen Sozialgipfel seit 20 Jahren die Europäische Säule sozialer Rechte in Anwesenheit etlicher europäischer Staats- und Regierungschefs feierlich proklamiert.14 Die Säule soll die vielbeschworene soziale Dimension der EU sichtbarer machen. Dabei ist es wichtig, im Blick zu behalten, dass die EU über eine Vielzahl unterschiedlicher Sozialmodelle und -systeme verfügt und die Handlungsmöglichkeiten der Mitgliedsstaaten im sozialpolitischen Bereich unterschiedlich ausgestaltet sind. Deshalb wäre eine umfassende Vereinheitlichung von Sozialstandards auf EU-Ebene nicht zielführend und im Rahmen der bestehenden Zuständigkeiten auch nicht möglich. Der Proklamation war eine lange Konsultations- und Diskussionsphase vorausgegangen. Am 8. März 2016 hatte die Europäische Kommission zunächst eine „Konsultation über eine europäische Säule sozialer Rechte“ eingeleitet und dazu einen „Ersten vorläufigen Entwurf einer europäischen Säule sozialer Rechte“ für den Euroraum vorgelegt.15 13

Diakonie Deutschland, Diakonie-Charta, 3. Europäische Kommission, Europäische Säule. Die Bundesrepublik, Bulgarien und Zypern fehlten bei dem Sozialgipfel. Die Bundeskanzlerin ließ sich unter Hinweis auf die Jamaika-Sondierungen entschuldigen. 15 Europäische Kommission, Erster vorläufiger Entwurf. 14

494 K. Hatzinger    Danach sollte mit der Säule „eine Reihe wesentlicher Grundsätze zur Unterstützung gut funktionierender und fairer Arbeitsmärkte und Wohlfahrtssysteme“ festgelegt werden. Die fertige Säule sollte als Bezugsrahmen für das Leistungsscreening der teilnehmenden Mitgliedsstaaten im Beschäftigungs- und Sozialbereich fungieren, Reformen auf nationaler Ebene vorantreiben und insbesondere als Kompass für eine erneute Konvergenz innerhalb des Euro-Raums dienen. Die Europäische Säule sozialer Rechte normiert dabei keine neuen Rechte für die Länder der Eurozone, sondern leistet einen Beitrag zur Umsetzung der bestehenden. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte die Säule in seiner Rede zur Lage der Union bereits im September 2015 angekündigt und das Vorhaben ins Arbeitsprogramm 2016 aufgenommen. Zum sog. „European Pillar of social rights“ gehören z.B. der Anspruch auf einen Mindestlohn, die Arbeitnehmervertretung, die Festlegung von Rechten der Arbeitnehmer_innen in der Probezeit, der Kündigungsschutz, der Anspruch auf Gleichbehandlung, die Arbeitszeitregelung oder der Anspruch auf lebenslanges Lernen. In guter ökumenischer Tradition haben sich die EU-Vertretungen von Caritas und Diakonie sowie das EKD-Büro Brüssel und das Katholische Büro in Berlin gemeinsam an der Konsultation beteiligt. Sie haben das Ziel der Europäischen Kommission, mit der „Europäischen Säule sozialer Rechte“ eine soziale Aufwärtskonvergenz im Sinne des verbesserten wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts in der EU zu erreichen, begrüßt. Die Aufwärtskonvergenz könne gelingen, indem z.B. ein Mindesteinkommen im Sinne einer Grund- bzw. Existenzsicherung gestärkt und der Ausbau der Sozialschutzsysteme in der EU gefördert werden. Regionale und kommunale Akteure sowie die Akteure der Zivilgesellschaft, wie z.B. die Freie Wohlfahrtspflege und die Kirchen, seien im Rahmen des Prozesses der Aufwärtskonvergenz umfassend einzubinden, heißt es in der Stellungnahme.16 Besondere zukünftige Herausforderungen im Bereich Beschäftigung und Soziales sehen die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände außer im globalen Wettbewerb und der Integration von Migrantinnen und Migranten in den Arbeitsmarkt in der zunehmenden Digitalisierung der Arbeitswelt. Daneben bleiben die Bekämpfung von Armut in all ihren Facetten sowie gute und gerechte Arbeitsbedingungen dauernde Herausforderungen in der EU. Die EU-Jugendarbeitslosigkeit und die Bedingungen des Einstiegs in die Arbeitswelt bleiben trotz der Ju16

Deutscher Caritasverband u.a., Gemeinsame Stellungnahme.

Der Kampf gegen Armut

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gendgarantie17 für junge Menschen eines der größten Probleme. Schließlich müssen auch die nationalen Sozialschutzsysteme EU-weit ausgebaut und gestärkt werden. Solidarische und gemeinnützig organisierte Rechtsformen sollten im sozialen Sektor besonders gefördert werden. Angesichts der in den letzten Jahren zunehmenden Jugendarbeitslosigkeit und anhaltend hohen Zahl von in Armut lebenden oder von Armut bedrohten Menschen könnte die Säule einen Beitrag zur Annäherung und Koordinierung der jeweiligen Sozialpolitik und der sozialen Rechte in den Mitgliedsstaaten leisten. Eine stärkere sozialpolitische Prioritätensetzung und gemeinsame europäische Grundsätze für Sozialleistungssysteme bieten dem Einzelnen eine grundlegende Versorgung und können dazu beitragen, dass die Akzeptanz für eine Europäische Union nicht verloren geht. Das soziale Europa kann sich jedoch nur entfalten, wenn die Mitgliedsstaaten bereit sind, neu zu denken und europäischen Politikansätzen eine Chance zu geben. Doch hier herrscht weiterhin große Skepsis vor, auch in Deutschland. So haben die Mitgliedsstaaten im Vorfeld der Proklamation der Europäischen Säule noch einige Veränderungen in der Präambel durchgesetzt. Es wird nun noch einmal betont, dass die Säule selbst keine Ausweitung der in den Verträgen geregelten Befugnisse und Aufgaben der EU mit sich bringt (Erwägungsgrund 18). Bei der Umsetzung seien die sozioökonomischen Bedingungen, die unterschiedlichen nationalen Systeme sowie die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen (17). In der Präambel (11) heißt es aber auch: „Wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt hängen miteinander zusammen, und die Errichtung einer europäischen Säule sozialer Rechte sollte in weitergehende Anstrengungen zum Aufbau eines inklusiven und nachhaltigen Wachstumsmodells eingebunden sein, bei dem Europas Wettbewerbsfähigkeit, seine Eignung für Investitionen sowie die Entstehung von Arbeitsplätzen und der soziale Zusammenhalt gestärkt werden.“18

Geplant ist nun, dass die in der Säule aufgeführten 20 Grundsätze und Rechte im Rahmen des Europäischen Semesters umgesetzt werden. 17

Die EU-Jugendgarantie ist die Zusage aller EU-Mitgliedsstaaten, zu gewährleisten, dass alle jungen Menschen unter 25 Jahren innerhalb von vier Monaten, nachdem sie arbeitslos geworden sind oder ihre Ausbildung abgeschlossen haben, ein qualitativ hochwertiges Beschäftigungsangebot, Fortbildung, einen Ausbildungsplatz oder ein Praktikum erhalten. 18 Europäische Kommission, Europäische Säule.

496 K. Hatzinger    Auf diese Weise sollen die Mitgliedsstaaten angehalten werden, ihre sozialpolitische Verantwortung und Pflicht zur Armutsbekämpfung stärker wahrzunehmen. Dabei sollten die sozialpolitischen Vorgaben idealerweise die gleiche Relevanz haben wie die wirtschaftspolitischen Vorgaben. Allerdings ist fraglich, ob diese Maßnahmen bei den Bürgerinnen und Bürgern direkt spürbar sind. Bislang ist die Säule also nicht viel mehr als ein erster symbolischer Schritt, um die viel beschworene, aber von einigen auch gefürchtete soziale Dimension der Wirtschafts- und Währungsunion sichtbarer zu machen. Die konkreten Auswirkungen der Säule bleiben abzuwarten. Wurde in dem Reflexionspapier der Kommission zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion vom Mai 201719 noch deutlich hervorgehoben, dass wirtschaftliche und soziale Prioritäten Hand in Hand gehen sollten und die Relevanz der Europäischen Säule sozialer Rechte als „Richtschnur“ für Maßnahmen, die auf bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen abzielen, benannt, taucht die soziale Säule in dem Maßnahmenpaket der Kommission vom 6. Dezember 2017 zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion20 schon kaum mehr auf. Im französischen Präsidenten Macron hat Kommissionspräsident Juncker allerdings einen wichtigen Mitstreiter, wenn er fordert, die EU solle sich zu einheitlichen Sozialstandards bekennen. Macron möchte durch die Festlegung von Regeln und Kriterien graduell die Steuerund Sozialmodelle der EU-Mitgliedsstaaten angleichen. Er schlägt u.a. einen Mindestlohn vor, der an die Verhältnisse im jeweiligen Mitgliedsland angepasst ist, aber zunehmend angenähert werden würde. Ein Mindestlohn im Sinne einer Grundsicherung entsprechend den Rahmenbedingungen in den einzelnen EU-Ländern wäre eine konkrete Ausgestaltung des sozialen Europas und ist Teil der Europäischen Säule sozialer Rechte. Einig sind sich beide ferner in dem erneuten Bestreben, eine Finanztransaktionssteuer zu etablieren. Eine Forderung, die von den Kirchen mitgetragen wird. Bislang waren allerdings alle Versuche, eine Finanztransaktionssteuer zu etablieren, mangels politischen Willens zum Scheitern verurteilt. Macron möchte die hieraus resultierenden Einnahmen zudem v.a. in die Entwicklungshilfe für Afrika investieren.

19 20

Vgl. Europäische Kommission, Reflexionspapier. Vgl. Europäische Kommission, Weitere Schritte.

Der Kampf gegen Armut

497 

Die Synode der EKD hat am 9. November 2016 in Magdeburg unter dem Titel „So wirst du leben (Lk 10,28) Europa in Solidarität – Evangelische Impulse“ eine Kundgebung zur Zukunft der EU beschlossen. Darin spielt das soziale Europa eine wichtige Rolle. Die Synodalen bekräftigen: „Wir treten für ein soziales Europa ein. Soziale Gerechtigkeit wird von einer Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland als vorrangige Aufgabe der Europäischen Union angesehen. Zu einem gerechten Europa gehört die Verständigung auf Mindeststandards sozialer Grundsicherung. Wir begrüßen den Ansatz der EU-Kommission, über eine europäische Säule sozialer Rechte die soziale Dimension der Wirtschafts- und Währungsunion sichtbar zu machen. Die Wirtschafts- und Währungsunion braucht eine soziale Regierungsstruktur (‚Governance‘), um den Herausforderungen von Jugendarbeitslosigkeit, Armut und sozialer Ausgrenzung, aber auch den Anforderungen der Digitalisierung der Arbeitswelt nachhaltig zu begegnen.“21

Die EU-Kommission ist daher gefordert zu prüfen, in welchen Bereichen eine Modernisierung der bestehenden Vorschriften angemessen wäre und wie unter Berücksichtigung nationaler Kompetenzen und bestehender Strukturen Regelungslücken geschlossen werden können. Ein erstes Beispiel hierfür ist die Idee einer europäischen Arbeitsbehörde22, um eine faire Arbeitskräftemobilität sicherzustellen. Das soziale Europa wird auf der europäischen Agenda bleiben. Dabei ist es einerseits wichtig, bei den Bürgerinnen und Bürgern keine unrealistischen Erwartungen zu wecken, was Europa im Sozialen alles leisten kann. Anderseits darf man die Europäische Säule durchaus als Ausdruck dafür ansehen, dass die EU den sozialpolitischen Nachholbedarf erkannt hat. Dieser Impuls sollte nun aufgegriffen und gemeinsam mit den Mitgliedsstaaten, Sozialpartnern, Kirchen und der Zivilgesellschaft weiterentwickelt werden. Literatur Deutscher Caritasverband / Deutsche Bischofskonferenz / Diakonie Deutschland / EKD, Gemeinsame Stellungnahme zur Konsultation zur Europäischen Säule sozialer Rechte, Brüssel u.a. 2016, online: https://www.ekd.de/26639.htm (Zugriff: 08.04.2018). Diakonie Deutschland, Diakonie-Charta für ein Soziales Europa, Diakonie Texte, / Positionspapier 03.2017, Berlin 2017. 21 22

Kundgebung, Zif. 25. Vgl. Europäische Kommission, Eine europäische Arbeitsbehörde.

498 K. Hatzinger    EKD-Büro Brüssel / Diakonisches Werk der EKD / Kommissariat der Deutschen Bischöfe / Caritas, Gemeinsame Stellungnahme zur Konsultation „EU 2020“, Brüssel u.a. 2010, online: https://www. ekd.de/26235.htm (Zugriff: 08.04.2018). EKD-Büro Brüssel / Diakonie / Kommissariat der Deutschen Bischöfe / Caritas, Gemeinsame Stellungnahme zur öffentlichen Konsultation zur Strategie „Europa 2020“, Brüssel u.a. 2014, online: https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/2014-10-30_Konsulta tionsbeitrag_EKD_Diakonie_Kath_Caritas_EU_2020.pdf (Zugriff: 08.04.2018). Europäische Kommission, Erster vorläufiger Entwurf einer europäischen Säule sozialer Rechte, COM(2016) 127 vom 8. März 2016, Straßburg 2016, online: http://ec.europa.eu/social/BlobServlet?doc Id=15300&langId=de (Zugriff: 09.04.2018). Europäische Kommission, Eine europäische Arbeitsbehörde, 2017, online: https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/ european-labour-authority-factsheet_de.pdf (Zugriff: 08.04.2018). Europäische Kommission, Europäische Säule sozialer Rechte, Brüssel 2017, online: https://ec.europa.eu/commission/publications/europe an-pillar-social-rights-booklet_de (Zugriff: 08.04.2018). Europäische Kommission, Reflexionspapier zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion, Brüssel 2017, online: https://ec. europa.eu/commission/publications/reflection-paper-deepeningeconomic-and-monetary-union_de (Zugriff: 08.04.2018). Europäische Kommission, Weitere Schritte zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion in Europa: Ein Fahrplan, COM(2017) 821, Brüssel 2017, online: http://eur-lex.europa.eu/ legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52017DC0821& from=EN (Zugriff: 08.04.2018). Eurostat, 17. Oktober: Internationaler Tag für die Beseitigung der Armut, Pressemitteilung 155 vom 16. Oktober 2017, online: http:// ec.europa.eu/eurostat/documents/2995521/8314168/3-16102017BP-DE.pdf/3da913f0-fca5-4c2d-b88c-ffc7b03da797 (Zugriff: 08.04.2018). Juncker, Jean-Claude, Zeit zum Handeln – Erklärung in der Plenarsitzung des Europäischen Parlaments vor der Abstimmung über die Kommission, 22. Oktober 2014, online: http://europa.eu/rapid /press-release_SPEECH-14-1525_de.pdf (Zugriff: 09.04.2018). Kirchenamt der EKD (Hg.), Verantwortung für ein soziales Europa. Herausforderungen einer verantwortlichen sozialen Ordnung im Horizont des europäischen Einigungsprozesses. Eine Denkschrift der Kammer der EKD für soziale Ordnung, im Auftrag des Rates der EKD, Gütersloh 1991.

Der Kampf gegen Armut

499 

Kirchenamt der EKD / Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland (Gemeinsame Texte 6), Hannover / Bonn 1997. Kirchenamt der EKD / Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft. Initiative des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz für eine erneuerte Wirtschaftsund Sozialordnung (Gemeinsame Texte 22), Hannover / Bonn 2014. Kundgebung der 12. Synode der EKD auf ihrer 3. Tagung zum Schwerpunktthema „So wirst du leben (Lk 10,28). Europa in Solidarität – Evangelische Impulse. Magdeburg 2016, online: http://www.kircheundgesellschaft.de/fileadmin/Dateien/Das_Instit ut/Newsletter_11_2016/s16_04_4__Kundgebung_Europa.pdf (Zugriff: 08.04.2018).

 

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Ansen, Harald, Dr. phil., Professor für Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit mit den Arbeitsschwerpunkten Armut und soziale Teilhabe sowie Beratung in der Sozialen Arbeit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Fakultät Wirtschaft und Soziales, Department Soziale Arbeit, Alexanderstr. 1, 20099 Hamburg, [email protected] Arends, Dietmar, Landessuperintendent der Lippischen Landeskirche, Landeskirchenamt, Leopoldstr. 27, 32756 Detmold Bauer, Thomas K., Dr. oec. publ., Professor für empirische Wirtschaftsforschung an der Ruhr-Universität Bochum, Vizepräsident des RWI-Leibniz Instituts für Wirtschaftsforschung, Essen, Hohenzollernstr. 1–3, 45128 Essen, [email protected] Beer, Sigrid, Diplom-Pädagogin, Mitglied des Landtags NRW, Mitglied der Kirchenleitung der Ev. Kirche von Westfalen, Platz des Landtags 1, 40221 Düsseldorf, [email protected] Benz, Benjamin, Diplom-Sozialarbeiter (FH), Dr. rer. soc., Professor für Politikwissenschaft / Sozialpolitik am Fachbereich I: Soziale Arbeit, Bildung und Diakonie der Ev. Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, ImmanuelKant-Str. 18–20, 44803 Bochum, [email protected] Bertram, Jan, M.A. Sozialwissenschaften, Flüchtlings- und Asylberater beim Diakonischen Werk Bochum e.V., Promovend an der Justus-LiebigUniversität Gießen, Auf dem Dahlacker 42, 44807 Bochum, [email protected] Biehl, Wolfgang, Diplom-Soziologe, Organisationsberater, Geschäftsführer des Diakonischen Werkes an der Saar gGmbH, Rembrandtstr. 17–19, 66540 Neunkirchen, [email protected] Bremkamp, Frank, Diplom-Sozialarbeiter, Leiter der Abteilung „Gefährdetenhilfe“ und Qualitätsbeauftragter im Diakonischen Werk des Ev. Kirchenkreises Oberhausen, [email protected] Butterwegge, Christoph, Dr. rer. pol. habil., bis 2016 Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln, Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiSt) an der Universität zu Köln, Anton-AntweilerStr. 24, 50937 Köln, [email protected] Christenn, Ulrich T., Pfarrer, Leiter Zentrum Drittmittel, Fundraising und Quartiersentwicklung der Diakonie RWL, Diakonisches Werk Rheinland-Westfalen-Lippe, 40470 Düsseldorf, Lenaustr. 41, [email protected] Clausewitz, Bettina v., Journalistin, Ehrenaue 30, 45149 Essen, [email protected]

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Cohrs, Maike, Diplom-Pädagogin, Schuldner- und Insolvenzberatung im Diakonischen Werk Köln und Region, Kartäusergasse 9–11, 50678 Köln, [email protected] Deterding, Joachim, Pfarrer, Superintendent des Kirchenkreises Oberhausen, Ko-Moderator der Konferenz der Ruhrgebietssuperintendenten, Kempkenstr. 43, 46147 Oberhausen, [email protected] Dietz, Alexander, Dr. theol. habil., Professor für Systematische Theologie und Diakoniewissenschaft an der Hochschule Hannover, Fakultät V, Blumhardtstraße 2, 30625 Hannover, [email protected] Ebach, Jürgen, Dr. theol., Hochschullehrer im Ruhestand, bis 2010 Professor für Exegese und Theologie des Alten Testaments und biblische Hermeneutik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, [email protected] Eschen, Barbara, Kirchenrätin und Direktorin des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz e.V., Sprecherin der Nationalen Armutskonferenz, Paulsenstr. 55–56, 12163 Berlin, [email protected] Haase, Bartolt, Dr. theol., Pastor und Diplom-Caritaswissenschaftler, Theologischer Vorstand und Vorstandssprecher der Stiftung Eben-Ezer, Lemgo, Alter Rinteler Weg, 32657 Lemgo, [email protected] Häusler, Alexander, Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungsschwerpunktes Rechtsextremismus / Neonazismus der Hochschule Düsseldorf, Münsterstr. 156, 40476 Düsseldorf, [email protected] Hamacher, Ulrich, Diplom-Sozialwissenschaftler, Geschäftsführer des Diakonischen Werkes Bonn und Region, Kaiserstr. 125, 53113 Bonn, [email protected] Hamburger, Martin, Dr. theol., Pfarrer der Ev. Kirche im Rheinland, Direktor der Diakonie Wuppertal, Deweerthstrasse 117, 42107 Wuppertal, [email protected] Hatzinger, Katrin, Juristin, Oberkirchenrätin, Leiterin der Dienststelle Brüssel der EKD, 166, rue Joseph II, B-1000 Bruxelles, [email protected] Heine-Göttelmann, Christian, Pfarrer, Theologischer Vorstand der Diakonie RWL, Lenaustr. 41, 40470 Düsseldorf, [email protected] Huster, Ernst-Ulrich, Dr. phil. habil., Professor für Politikwissenschaft an der Ev. Hochschule RWL in Bochum und Privatdozent an der Justus-LiebigUniversität Gießen, Steinstraße 33, 35415 Pohlheim, [email protected] Kiepe-Fahrenholz, Stephan, Pastor, Geschäftsführer des Diakonischen Werkes und der Diakonischen Konferenz in Duisburg, Sprecher des Verbundes der Regionalen Diakonischen Werke Rheinland-Westfalen-Lippe, Eberhardstr. 24. 47167 Duisburg, [email protected]

502  

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 

Kurschus, Annette, Pfarrerin, Präses der Ev. Kirche von Westfalen, Landeskirchenamt, Altstädter Kirchplatz 5, 33602 Bielefeld, [email protected] Jähnichen, Traugott, Dr. theol. habil., Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, Mitglied der Kirchenleitung der Ev. Kirche von Westfalen, Universitätsstr.150, 44780Bochum, [email protected] Lepenies, Philipp, Dr. rer. pol. habil., Professor für vergleichende Politikwissenschaft und Leiter des Forschungszentrums für Umweltpolitik FFU an der Freien Universität Berlin, Ihnestr, 22, 14195 Berlin, [email protected] Malik, Maja, Dr. phil., Kommunikationswissenschaftlerin, Akademische Oberrätin am Institut für Kommunikationswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Institut für Kommunikationswissenschaft, Bispinghof 9–14, 48143 Münster, [email protected] Mayert, Andreas, Dr. rer. soc., Diplom-Volkswirt, wissenschaftlicher Referent, Themenschwerpunkte Digitalisierung, Armut und soziale Ungleichheit, Sozialwissenschaftliches Institut der EKD, Arnswaldtstr. 6, 30159 Hannover, [email protected] Meusel, Sandra, Diplom-Sozialarbeiterin / Sozialpädagogin (FH), Dr. phil., Professorin für Soziale Arbeit an der SRH Hochschule für Gesundheit Gera, Mücken 13b, 07580 Großenstein Moerland, Heike, Juristin, Geschäftsleitung Berufliche und soziale Integration, Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe, Lenaustr. 41, 40470 Düsseldorf, [email protected] Mogge-Grotjahn, Hildegard, Dr. rer. soc, bis 2017 Professorin für Soziologie an der Ev. Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Coach und Beraterin, Kuhlehof 4a, 44803 Bochum, [email protected] Montag, Barbara, Pastorin, Diplom-Diakoniewissenschaftlerin, Stabsstellenleitung für Grundsatzfragen und Theologie in der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe, Lenaustr. 41, 40470 Düsseldorf, [email protected] Naegele, Gerhard, Dr. rer. pol., Prof. i.R. für Soziale Gerontologie an der TU Dortmund, Institut für Gerontologie an der TU Dortmund, Evinger Platz 13, 44339 Dortmund, [email protected] Oßwald, Cornelia, Pfarrerin der Ev. Kirche im Rheinland und Supervisorin, Gemeindepfarrerin in der Ev. Kirchengemeinde Düsseldorf-Gerresheim, Heyestraße 95, 40625 Düsseldorf, [email protected] Pitz, Andreas, Diplom-Sozialarbeiter, 2006–2013 Projektleiter der Wanderausstellung „Kunst trotzt Armut“, seit 2014 freischaffender Kurator und Autor, Bildstockshohl 5, 55283 Nierstein, [email protected]

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Rekowski, Manfred, Pfarrer, Präses der Ev. Kirche im Rheinland, Landeskirchenamt, Hans-Böckler-Str. 7, 40476 Düsseldorf, [email protected] Salewski, Lara, MA Alternde Gesellschaften, Referentin für Frauenhäuser, Frauenberatungsstellen, Prostitution und Menschenhandel, Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe, Lenaustr. 41, 40470 Düsseldorf, [email protected] Schäfer, Gerhard K., Dr. theol. habil., Prof. i. R. für Gemeindepädagogik und Diakoniewissenschaft an der Ev. Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Immanuel-Kant-Str. 18–20, 44803 Bochum Schendel, Gunther, Dr. theol., Pastor, wissenschaftlicher Referent, Themenschwerpunkte Kirchen- und Gemeindeentwicklung, kirchliche Berufe, reformatorische Theologie, Sozialwissenschaftliches Institut der EKD, Arnswaldtstr. 6, 30159 Hannover, [email protected] Schneider, Guntram, ehem. Minister für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, SPD Dortmund, Brüderweg 10–12, 44135 Dortmund, [email protected] Schulz, Barbara, Lehrerin i.R., Presbyterin in der Ev. Kirchengemeinde Düsseldorf-Gerresheim, Heyestraße 95, 40625 Düsseldorf, [email protected] Schütte, Johannes D., Sozialarbeiter / Sozialpädagoge, Dr. phil., Professor für Bildungs- und Sozialpolitik an der Technischen Hochschule Köln, Ubierring 40, 50678 Köln, [email protected] Schütte-Haermeyer, Uta, Erziehungswissenschaftlerin und Sozialarbeiterin, Leiterin des Fachbereichs Migration & Integration im Diakonischen Werk Dortmund und Lünen gGmbH, Rolandstraße 10, 44145 Dortmund, [email protected] Seitz, Klaus, Dr. phil. habil., Leiter der Abteilung Politik von Brot für die Welt im Ev. Werk für Diakonie und Entwicklung, Caroline-Michaelis-Str. 1, 10115 Berlin, [email protected] Staubach, Reiner, Diplom-Ingenieur Raumplanung, Dr. rer. pol., Professor für Planungsbezogene Soziologie, Planungstheorie u. -methodik an der Hochschule Ostwestfalen-Lippe, Standort Detmold, Emilienstr. 45, 32756 Detmold, [email protected]; Gründungs- und Vorstandsmitglied des Planerladen e.V. in Dortmund, [email protected] Stork, Remi, Dr. phil., Diplom-Pädagoge, Referent für Grundsatzfragen der Jugendhilfe und Familienpolitik in der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe, Geschäftsführer der Ev. Arbeitsgemeinschaft Familie NRW, Friesenring 32/34, 48147 Münster, [email protected] Walther, Kerstin, Dr. phil., Professorin für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen / Gesundheitswissenschaften, Ev. Hochschule Rheinland-WestfalenLippe, Immanuel-Kant-Str. 18–20, 44803 Bochum, [email protected]

504  

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 

Werner, Dietrich, Dr. theol., Dr. h. c., Referent für theologische Grundsatzfragen bei Brot für die Welt im Ev. Werk für Diakonie und Entwicklung, Caroline-Michaelis-Str. 1, 10115 Berlin, [email protected] Zoerner, Birgit, Dezernentin für Arbeit, Gesundheit, Soziales, Wohnen, Sport und Freizeit der Stadt Dortmund, Stadt Dortmund, Südwall 2–4, 44122 Dortmund, [email protected]