Publikationen zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Band 3 Otto Wels und die Politik der Deutschen Sozialdemokratie 1894–1939: Eine politische Biographie [Reprint 2016 ed.] 9783110816686, 9783110017502

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Publikationen zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Band 3 Otto Wels und die Politik der Deutschen Sozialdemokratie 1894–1939: Eine politische Biographie [Reprint 2016 ed.]
 9783110816686, 9783110017502

Table of contents :
VORWORT
INHALT
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
VORBEMERKUNGEN
ERSTER TEIL. Anfänge und politische Entwicklung bis 1918
ZWEITER TEIL. Parteiführer in der Weimarer Republik (1918–1933)
DRITTER TEIL. Emigration (1933–1939)
ANHANG
QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS
NAMEN- UND SACHREGISTER

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V E R Ö F F E N T L I C H U N G E N DER

HISTORISCHEN KOMMISSION ZU BERLIN BEIM FRIEDRICH-MEINECKE-INSTITUT DER FREIEN UNIVERSITÄT BERLIN

B A N D 33

PUBLIKATIONEN GESCHICHTE

ZUR

DER

ARBEITERBEWEGUNG

BAND

3

w DE

G Walter de Gruyter

J. Guttentag,

& Co.

vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner • Veit & Comp.

Berlin

1971

HANS J. L. ADOLPH

OTTO WELS UND DIE POLITIK DER DEUTSCHEN SOZIALDEMOKRATIE 1894—1939 Eine politische

Biographie

Mit einem Vorwort

von

WALTER BUSSMANN

w DE

G Walter

de Gruyter

&

Co.

vormals G. ]. Göschen'sehe Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl ]. Trübner • Veit & Comp.

Berlin

1971

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Klassenlotterie Berlin. Die Schriftenreihe der Historischen Kommission zu Berlin erscheint mit Unterstützung des Senators für Wissenschaft und Kunst, Berlin

© A r c h i v - N r . 475 970/3 C o p y r i g h t 1971 by Walter de G r u y t e r & Co. · vormals G. J . Gösdien'sdie Verlagshandlung · J . G u t t e n t a g , Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · K a r l J. T r ü b n e r · Veit Sc Comp. — Printed in Germany — Alle Rechte des Nadidrudcs, der photomedianisdien Wiedergabe und der Anfertigung v o n Mikrofilmen — auch auszugsweise — vorbehalten. Satz und Drude: T h o r m a n n & Goetsdi, Berlin 44 D 180

VORWORT Hans J . L. Adolph hat sich keine leichte Aufgabe gestellt, als er eine Biographie des langjährigen sozialdemokratischen Parteiführers Otto Wels zu schreiben unternahm. Wels, seit 1919 in der Nachfolge Friedrich Eberts neben Hermann Müller leitendes Mitglied des Parteivorstandes, lebt in der Erinnerung vor allem fort durch die tapfere Rede, mit der er in der Reichstagssitzung des 23. März 1933 die Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes durch die deutsche Sozialdemokratie begründete. E r repräsentiert einen Typus des Parteiführers, der nach seinem Tode im September 1939 bis zu einem bestimmten Grade durch den an ihn anknüpfenden Nachfolger Erich Ollenhauer noch bis an die Schwelle der unmittelbaren Gegenwart für das Selbstbewußtsein einer großen demokratischen Partei bedeutsam geblieben ist. Die „politische Biographie" dieses Mannes stellt unleugbar ein dringendes Desiderat der Forschung dar, und es ist dem Verfasser zu verdanken, daß er sich durch die Schwierigkeiten der Aufgabe — Fehlen eines persönlichen Nachlasses und Lückenhaftigkeit im Parteiarchiv der Sozialdemokratie — nicht hat abschrecken lassen, sondern vornehmlich aufgrund von Analysen der Aussagen soldier Persönlichkeiten, die zu Wels in näherer oder fernerer Verbindung standen, ein Charakterbild des bedeutenden Organisators und Mannes von politischer Überzeugung entworfen hat. So wie O t t o Wels ein Gegner des Nationalsozialismus war, blieb er ein niemals schwankender Gegner jeder Diktatur und jeden Terrors. Seine Gegnerschaft gegen den Bolschewismus und die von diesem völlig abhängige K P D , vor allem W . Ulbricht, bestimmt den Standort dieses Politikers. Eine persönliche Bemerkung mag diesem Vorwort noch hinzugefügt werden: D e r Verfasser ist aus dem Kreis der alten Deutschen Hochschule für Politik in Berlin hervorgegangen. E r hat diese Arbeit trotz oftmals schwerer beruflicher Belastung vollendet. Politisches Engagement hat diese Arbeit begleitet, es kennzeichnet die Persönlichkeit des Autors und gehört zu den Vorzügen dieser Publikation. Karlsruhe, im September 1970

Walter

Bußmann

INHALT VORTORT

von Walter Bußmann

V

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS VORBEMERKUNGEN

XI

des Autors

XIII ERSTER TEIL

Anfänge und politische Entwicklung bis 1918 Herkunft und Persönlichkeit Aufstieg in der Berliner Parteiorganisation und Stellung zu Politik und Taktik der Partei bis 1900 Preßkommission des „Vorwärts" und „.Vorwärts'-Konflikt" (1901—1906) Parteisekretär für die Provinz Brandenburg Berlin und die Provinz Brandenburg Wels als Parteisekretär Zerfall des radikalen Flügels der Partei und Auseinandersetzung mit der neuen Linken Diskussion mit Arthur Stadthagen um die Budgetbewilligung der badischen Landtagsfraktion von 1910 Der Jenaer Parteitag von 1911 und die Auseinandersetzung mit Georg Ledebour Die Auflösung des Kartellverhältnisses zwischen Berlin und der Provinz Brandenburg 1912 und ihre Auswirkungen auf die innerparteiliche Stellung von Wels Stellung zu politischen und organisatorischen Problemen der Partei (1911—1914) Wahl zum Beisitzer des Parteivorstandes auf dem Parteitag von 1913 in Jena Die Kriegspolitik der Partei (1914—1918) Stellung in der Fraktion und im Parteivorstand Die Auseinandersetzung mit der Fraktionsminderheit Wiederherausgabe der Fackel Gründung des „Vereins Vorwärts" und Spaltung der Partei Neugründung des Bezirksverbandes Groß-Berlin der MSPD und Kampf gegen die USPD Zusammenbruch und Novemberrevolution Stadtkommandantur Berlin (November/Dezember 1918)

1 9 17 26 26 29 33 33 34

42 45 49 53 53 57 59 66 72 74 83

Inhalt

VIII

ZWEITER TEIL

Parteiführer in der Weimarer Republik (1918—1933) Stellung im Parteivorstand und in der Fraktion

105

Auseinandersetzung mit der innerparteilichen Opposition und Stellung in der Partei (1918—1932)

118

Das Verhältnis Partei (Parteivorstand) zu den Reichsregierungen unter sozialdemokratischer Führung

146

Die Auseinandersetzung mit der Reidisregierung Bauer/Noske und der Kapp-Putsch (Dezember 1919—März 1920)

146

Die Regierung der Großen Koalition unter Hermann Müller (Juni 1928—März 1930) Panzerkreuzer A Der Kampf um die Arbeitslosenversicherung

161 161 170

Verhältnis zum Reichsbanner und zur Eisernen Front

174

Internationale (SAI) (1919—1933)

180

Bern, Luzern, Genf — Die Auseinandersetzung um die Kriegsschuldfrage und Versailles

180

Wiederaufbau der Internationale — Sozialistische Arbeiterinternationale (SAI) 189 Außenpolitische Konzeption

197

Die Auseinandersetzung mit dem Bolsdiewismus in Rußland und der Dritten Internationale Das außenpolitische Verhältnis zur Sowjetunion Die Außenpolitik gegenüber den Versailler Mächten und Polen Staat, Nation, Gesellschaft Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus

197 200 206 216 224

Kommunismus

224

Faschismus und Nationalsozialismus

228

Die Politik der Sozialdemokratie in der Endphase der Weimarer Republik (1930—1933)

232

Politik der Tolerierung — Brüning

232

Papen und der 20. Juli 1932

238

Schleidier

249

Die Partei nach Hitlers Maditergreifung

251

Widerstand nach dem 30. Januar 1933 — Abfall der Gewerkschaften

251

Die Reidistagswahl vom 5. März 1933 und das Nein zum Ermächtigungsgesetz

254

Die Reise von Vertretern der SPD ins Ausland und Wels' Austritt aus der Internationale (SAI) Die Reichskonferenz vom 26. April 1933

266 269

Der Weg in die Emigration und die Reichstagssitzung vom 17. Mai 1933 . . . . 273 Der Konflikt Berlin-Prag

277

IX

Inhalt DRITTER

TEIL

Emigration (1933—1939) Stellung u n d A u f g a b e n i m P a r t e i v o r s t a n d nach 1933

286

Das V e r h ä l t n i s zur S A I u n d ihren Parteien

291

K o n f e r e n z der S A I v o m A u g u s t 1933 — D i e Diskussion über die Ursachen des Zusammenbruchs D i e S o p a d e und die S A I

291 297

Gruppenbildungen und F r a k t i o n s k ä m p f e in der sozialdemokratisdien Emigration 306 D i e S o p a d e in der S i t u a t i o n von 1933/34

306

R e v o l u t i o n ä r e Sozialisten Deutschlands ( R S D )

309

„ N e u B e g i n n e n " — Die Auseinandersetzung mit Paul H e r t z

314

Die F r a g e d e r Einheits- u n d V o l k s f r o n t

324

Der K a m p f gegen H i t l e r

330

ANHANG ANLAGE 1 : D e r P a r t e i v o r s t a n d d e r S P D ( 1 9 1 8 — 1 9 4 5 )

345

ANLAGE 2: A u f g a b e n u n d Einflußmöglichkeiten des Parteivorstandes u n d der anderen zentralen Führungsorgane der P a r t e i [ E x k u r s ]

346

Q U E L L E N - UND LITERATURVERZEICHNIS

355

N A M E N - UND SACHREGISTER

373

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS AA

Auswärtiges Amt

ADGB

Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund

Afa-Bund

Allgemeiner freier Angestelltenbund

CSR

Tschechoslowakische Republik

DDP

Deutsche Demokratische Partei

DGB

Deutscher Gewerkschaftsbund

DNVP

Deutschnationale Volkspartei

DVP

Deutsche Volkspartei

IISG

Internationales Institut für Sozialgeschichte

IJB ISK

Internationaler Jugend-Bund

KPD

Kommunistische Partei Deutschlands

MSPD

Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands

NSDAP

Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter-Partei

OHL

Oberste Heeresleitung

OKH

Oberkommando des Heeres

Internationaler Sozialistischer Kampfbund

RSD

Revolutionäre Sozialisten Deutschlands

RSÖ

Revolutionäre Sozialisten Österreichs

SAI

Sozialistische Arbeiterinternationale

SAJ

Sozialistische Arbeiterjugend

SAP

Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands

Sopade

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

SPD

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

USPD

Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands

VSPD

Vereinigte Sozialdemokratische Partei Deutschlands

ZK

Zentralkomitee

VORBEMERKUNGEN Die Anregungen für die hier vorgelegte Arbeit verdanke ich einer Diskussion mit meinen Freunden Dr. Manfred Geßner, MdB, Dipl.-Pol. Hermann Klag und Dr. Waldemar Ritter. Mein ganz besonderer Dank gilt meinem verehrten Lehrer Prof. Dr. Walter Bußmann, der diese Untersuchung anleitete und mir eine Reihe wertvoller methodischer und inhaltlicher Anregungen gab. Für eine Reihe wichtiger Hinweise bin ich auch den Herren Prof. Dr. Ossip K. Flechtheim, Prof. Dr. Erich Matthias, Prof. Dr. Kurt Koszyk und Frau Dr. Susanne Miller dankbar. Ferner danke ich allen, die mir in Bibliotheken und Archiven bei dem recht mühsamen Zusammentragen der Quellen und der Literatur behilflich waren. Hier besonders Herrn Paul Mayer vom Parteiarchiv der SPD in Bonn, Herrn Dr. Henryk Skrzypczak von der Historischen Kommission zu Berlin, Herrn Werner Blumenberg, dem leider zu früh verstorbenen Leiter der deutschen Abteilung des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam, und Herrn Prof. Erich Matthias für die Überlassung einiger Stücke aus dem Stampfer-Nachlaß. Die hier vorgelegte Arbeit hätte ohne die mündlichen und schriftlichen Auskünfte der zahlreichen Freunde und Zeitgenossen Otto Wels' wohl kaum in der vorliegenden Form geschrieben werden können. Zu besonderem Dank bin ich deshalb dem verstorbenen Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Herrn Erich Ollenhauer, den Herren Fritz Heine, Alfred Nau und Dr. Hans Caspari verpflichtet. Für die Durchsicht und Korrektur des Manuskripts dieser Arbeit möchte ich mich bei den Herren Dr. Klaus-Peter Hoepke, Dipl.-Pol. Werner Korthaase, Oberstudienrat Horst Großen sowie Christian Schädlich und Hans H . Biegert von der Historischen Kommission zu Berlin bedanken. Auch die technische Hilfe meiner Schwester, Margarete Adolph-Knarren, hat mir sehr geholfen und die Arbeit erleichtert. Eine Reihe von Quellen, die der Forschung heute noch nicht allgemein zugänglich sind, konnte für diese Arbeit ausgewertet werden. Aus verständlichen Gründen mußten diese Quellen jedoch verschlüsselt zitiert werden. Der Fachwissenschaftler wird diese Teile der Arbeit sicher ohne große Schwierigkeiten erkennen. Die Archive der DDR waren dem Ver-

XIV

Vorbemerkungen

fasser leider verschlossen. Die außerordentlich schlechte Quellenlage für den zweiten Teil der Arbeit hat die zu wünschende Breite der Darstellung weitgehend unmöglich gemadit. Das Manuskript dieser Arbeit wurde im September 1968 abgeschlossen.

Dortmund, im März 1970

Hans J. L. Adolph

MEINEN ELTERN IN DANKBARKEIT GEWIDMET

Ä i ^

3/ **

Archiv der Historischen Kommission zu Berlin

^

ERSTER

TEIL

Anfänge und politische Entwicklung bis 1918 Herkunft und Persönlichkeit Otto Wels — Nachfolger Friedrich Eberts auf dem Stuhl August Bebels als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands — wurde am 15. September 1873 in Berlin geboren.1 Die Familie seines Vaters, des Gastwirtes Johann Friedrich August Wels, stammte aus Groß-Briesen im Kreis Zauch-Belzig in der Provinz Brandenburg. Seine Vorfahren waren dort Dorfschulzen, und die Angehörigen einer Nebenlinie seiner Familie Besitzer der Schloßberg-Brauerei gewesen.' Wels' Mutter, Johanne Christiane, geborene Scholz, entstammte einer preußischen Soldatenfamilie.' Beide Eltern waren evangelischer Konfession. Friedrich Carl Otto Wels wuchs in relativ gesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen auf, da seine Eltern im Berliner Norden eine gutgehende Gaststätte besaßen.4 Über seine Jugend ist nur wenig bekannt. Er war ein aufgeweckter und für seine Jahre körperlich stark entwickelter Knabe, der schon früh in die sozialistische Bewegung hineinwuchs. In der Gaststätte seiner Eltern trafen sich während der Zeit des Sozialistengesetzes die Mitglieder der Partei, und der Sohn hörte gespannt zu, was die „Verschwörer" an den Tischen im Hinterzimmer der Wirtschaft zu erzählen hatten. Hier lernte er auch August Bebel, Wilhelm Liebknecht und andere Führer der Partei kennen, und es war nur zu verständlich, daß Wels sich schon als Vierzehnjähriger zum Sozialismus bekannte. 5 1

Heiratsurkunde Wels', Auszug aus dem Heirats-Haupt-Register des Standesamtes Berlin 8 vom 8.12.1934 im SPD-Parteiarchiv. 8 Familienakten Wels', im Privatbesitz von Herrn Walter Wels. ' Ebda. 4 Mündliche Auskünfte von Walter Wels. 6 Mündliche Auskünfte von Walter und Hugo Wels. Siehe audi Emil Unger, Politische Köpfe des sozialistischen Deutschlands. Skizzen, Leipzig 1920, S. 59 u. 60. 1

Adolph

2

I. Anfange und politische Entwicklung bis 1918

Nach dem Besuch der Volksschule erlernte Wels das TapeziererHandwerk, das nicht, wie es einer seiner frühen Biographen tat, mit dem Beruf eines Malers und Anstreichers verwechselt werden darf.' Unter diese Berufsbezeichnung fällt gegen Ende des letzten Jahrhunderts in Berlin die Arbeit des Polsterers und Innendekorateurs.7 Nach seiner Gesellenprüfung 1891 wanderte er bis 1893 als Handwerksbursche durdi Nord- und Süddeutschland und heiratete kurze Zeit nach seiner Rückkehr nach Berlin die Näherin Bertha Antonie Reske.8 1895 wurde der erste Sohn Walter und fünf Jahre später — 1900 — der zweite Sohn Hugo geboren. Nach Ableistung seiner Militärdienstpflicht — 1895 bis 1897 bei der Fuß-Artillerie in Thorn® — nahm Wels seine 1894 begonnene politische Arbeit in der Partei wieder auf und begann sich auch verstärkt mit gewerkschaftlichen Problemen zu beschäftigen. Er war ein erstklassiger Handwerker, der bei seiner Akkordarbeit noch Zeit fand, Parteikorrespondenz zu erledigen.10 Schnell erwarb er sich das Vertrauen seiner Arbeitskollegen. 1898 wurde er Vorsitzender der Agitationskommission des Tapezierer-Verbandes in Berlin," und 1900 wählte man ihn in den Berliner Verbandsausschuß, das heißt in den Vorstand des Verbandes." Daneben trat er als Referent in den Versammlungen der Tapezierer hervor.18 Im Oktober 1902 wurde Wels dann Vorsitzender der Ortsverwaltung Berlin des Tapezierer-Verbandes14 und damit Mitglied der Berliner Gewerkschaftskommission.15 Unter der Leitung von Wels nahm der Tapezierer-Verband in Berlin einen so starken Aufschwung, daß sich bereits 1905 mehr als achthundert Personen an der Maifeier des Verbandes beteiligten, vor denen er „unter stürmischem Beifall den Vortrag des Tages" hielt.19 Noch im selben So Johannes Fisdiart (Pseudonym f ü r Erich Dombrowski), Das Alte und das Neue System, 4. Folge: Neue Köpfe, Berlin 1925, S. 102. 7 Mündliche Auskunft von Walter Wels, der das gleiche Handwerk wie sein Vater erlernte. β Mündliche Auskünfte der Söhne Wels'; Trauschein Wels' im SPD-Parteiarchiv. Toni Wels wurde am 5 . 1 . 1 8 7 4 in Berlin geboren und war die Tochter des Gärtners Wilhelm Traugott Reske und seiner Ehefrau Auguste Henriette, geb. Kroll (ebda.). ' Siehe S. 10, Anm. 68 dieser Arbeit. 1 0 E. Unger, Politische Köpfe..., S. 60. » Vorwärts, Nr. 24 vom 2 9 . 1 . 1 8 9 8 , S. 4. " A. a. O., Nr. 162 vom 15. 7.1900, S. 5. » A. a. O., Nr. 57 vom 9. 3 . 1 9 0 0 ; Nr. 282 vom 3 . 1 2 . 1 9 0 1 , 2. Beilage, S. 3. 14 A. a. O., Nr. 247 vom 2 2 . 1 0 . 1 9 0 2 , S. 4. 15 A. a. O., Nr. 282 vom 3. 12.1902, 2. Beilage. " A. a. O., Nr. 101 a vom 2. 5.1905, S. 2. β

Herkunft und

Persönlichkeit

3

Jahre wurde Wels hauptamtlicher Gewerkschaftssekretär mit einem Jahresgehalt von 1800M. Auf dem dritten Verbandstag des von ihm mitbegründeten Tapeziererverbandes stellte er im Juli 1906 in Frankfurt am Main den Antrag, den Sitz des Verbandes von Hamburg nadi Berlin zu verlegen, da Berlin die stärkste Filiale des Verbandes habe. Die Delegierten stimmten zu und wählten ihn zu einem der beiden Vorsitzenden der fast 7000 Mitglieder zählenden Organisation." In diese Zeit aktiver Gewerkschaftsarbeit ab 1897 fiel auch seine kommunalpolitische Tätigkeit in Berlin als Mitglied der Armen- und Schulkommission und als Vorsitzender der Arbeitnehmer in der Handwerkskammer Berlin-Potsdam. 18 Wels' Gewerkschaftskarriere wurde durch seine im Juli 1907 erfolgte Wahl zum Parteisekretär der SPD für die Provinz Brandenburg beendet," eine Position, für die er sich durch seine Arbeit in der Berliner Sozialdemokratie und in der Provinz Brandenburg, die für die SPD als parteipolitisches Entwicklungsgebiet galt, empfohlen hatte.20 Wegen seiner häufigen M Agitationsreisen" in die Provinz Brandenburg in der Zeit von 1897 bis 1905 blieb von seinem Lohn als Tapezierer-Geselle nicht viel übrig, und seine Frau ernährte die Familie von ihrem Nebenverdienst als Näherin." Wels führte trotz seiner starken beruflichen und politischen Beanspruchung ein vorbildliches Familienleben." Mit seinem großen Vorbild August Bebel hatte er den rigorosen sittlichen Maßstab gemeinsam." Zwischen dem privaten Leben und dem öffentlichen Handeln der führenden Politiker der SPD gab es für ihn keine Trennungslinie. Ebenso wie Bebel waren auch Wels solche Parteigenossen suspekt, die es mit der 17

A. a. O., N r . 152 v o m 4. 7.1906, 1. Beilage, S. 2; N r . 155 vom 7. 7.1906, 1. Beilage, S. 2. N a d i der Novemberrevolution wurde Wels 1919 zusammen mit Friedrich Ebert aus dem Verband der Sattler ausgeschlossen. Sein Aussdiluß erfolgte wegen seiner „Tätigkeit als Berliner Stadtkommandant" 1918. Erst 1926 wurde auf dem Verbandstag der Sattler beschlossen, die gegen Friedrich Ebert und Otto Wels verfügten Ausschlüsse als »nicht geschehen zu betrachten" (Mitteilungs-Blatt der SPD, 3. Jg. [Mai 1926], Nr. 5, S. 5). 18 Reichstags-Handbuch. 8. Wahlperiode 1933, hrsg. vom Bureau des Reichstags, Berlin 1933, zitiert nadi Personenarchiv der SPD, SPD-Parteiarchiv Bonn.

" Siehe S. 26, Anm. 110 dieser Arbeit. " Zum Aufstieg Wels' in der Berliner SPD siehe S. 9—26 dieser Arbeit. 21 Mündliche Auskunft von Walter Wels. 22 Mündliche Auskünfte von Hugo und Walter Wels sowie von Erich Ollenhauer. M Zur Haltung Bebels siehe Gustav Mayer, Erinnerungen. Vom Journalisten zum Historiker der deutschen Arbeiterbewegung, München 1949, S. 187. 1*

4

I. Anfänge und politische Entwicklung

bis 1918

ehelichen Treue nicht so genau nahmen.24 Dieser Charakterzug ist um so bemerkenswerter, als er ein Mann von ausgesprochener Anziehungskraft auf Frauen war. Einer seiner frühen Biographen schilderte Wels als Mann von geradezu hünenhafter Gestalt.25 In seinem biographischen Essay verglich Erich Dombrowski Wels mit Lysipps Herakles im Museo Nazionale in Neapel: „Ein Bild verhaltener K r a f t . . . Der Kopf ist sinnend, etwas nach vorn geneigt. Krauses lockiges Haar verleiht diesem Menschen, in all seiner gebändigten Gewalt, etwas Anmutiges. Otto Wels ist der Herakles der Sozialdemokratischen Partei."*' Seine Stimme entbehrte jedes melodischen Reizes und klang fast wie „das Bellen eines Bernhardiners". 27 Als Redner muß er mit einem Volksschauspieler im besten Sinne des Wortes verglichen werden, der sich der Wirkung seiner Persönlichkeit und seiner Worte bewußt war. Auf der Rednertribüne ging er eindringlich und scharf gestikulierend hin und her. Seine kräftige, derbe und bildreiche Sprache wurde von einer weittragenden Stimme wirkungsvoll unterstützt. 28 In seinem Auftreten war er souverän und selbstsicher. Victor Schiff sprach sogar von dem „Suggestiveinfluß" seiner kraftvollen Persönlichkeit.28 Wels' Humor und sein Mutterwitz veranlaßten 1930 einen bekannten politischen Industriellen zu der Feststellung, wenn man ihn 1918 vor ein Revolutionstribunal gestellt und er sich den Vorsitzenden hätte aussuchen dürfen, dann hätte er Otto Wels ausgewählt. „Vor dem hätte ich einen Witz gerissen, und er hätte gelacht und mich freigelassen."30 Als Wels 1939 in Amsterdam Treviranus das letzte Mal traf und sie darüber diskutierten, wer 1918 recht gehabt habe, Scheidemann, der die Republik ausrief, oder Ebert, der nach Meinung von Treviranus nicht abgeneigt schien, die Monarchie in Deutschland zu erhalten, Schloß Wels die Diskussion mit der Bemerkung: „Wenn Sie noch eine halbe Stunde so weiterreden, werde ich auch noch Monarchist."31 Neben Wels' Humor und Sarkasmus muß sein cholerisches Temperament erwähnt werden. 24

Mündliche Auskünfte Ollenhauers, Heines und Jakschs. E. Unger, Politische Köpfe . . S . 59. 2e J. Fischart, Das Alte und das Neue System . . 4 . Folge, S. 101. 27 Ebda, und Brief an den Verfasser vom 16. 5. 1963. 28 So Fritz Heine, mündliche Auskunft. 29 Brief Schiffs an Wels vom 29. 12.1935, Emigrationsakten der SPD. Die mündlichen Auskünfte Ollenhauers, Heines, Jakschs und Hans Casparis lauten ähnlich. 30 Frankfurter Zeitung, Nr. 239 v o m 30. 3.1930, S. 1: Die Seele und die Politik. 31 Brief Treviranus' vom 4 . 1 0 . 1 9 6 2 an den Verfasser. Wilhelm Hoegner schrieb am 5. 10. 1962 an den Verfasser: „Wels war ein echter Berliner, schlagfertig und humorvoll." 25

Herkunft und

Persönlichkeit

5

Er konnte bei Auseinandersetzungen ungemein barsch und grob und dabei audi, ohne es zu wollen, beleidigend werden. 32 Die ihn näher kannten, wiesen immer wieder darauf hin, wie sehr diese rauhe Schale Schutzhülle war, hinter der er seine Sensibilität und sein weiches Herz versteckte. 3 ' Sie rühmten seine Kameradschaftlichkeit, seine Treue gegenüber seinen Freunden und auch seine Einfachheit und Schlichtheit.34 Den Glückwunsch zu Wels' fünfzigstem Geburtstag leitete Stampfer in seinem Artikel im Vorwärts mit der Bemerkung ein: „Wir vermuten, daß er ob dieser unserer Zeilen einen heiligen Zorn bekommt, dieweil ihm persönliche Anerkennungsworte durchaus zuwider sind."35 Wels' Vertrauen und Freundschaft zu erwerben w a r jedoch sehr schwer, da er mißtrauisdi und skeptisch war. Hatte man sein Vertrauen jedoch erst gewonnen, besaß man es uneingeschränkt. 36 Was immer Wels' Gegner an ihm auszusetzen hatten, seine Unerschrockenheit und seinen beispielhaften Mut bewunderten sie ebenso wie seine Freunde. In den vielen kritischen und gefährlichen Situationen seines Lebens hat er nie den bequemen Kompromiß gewählt, sondern ist immer geradewegs auf die Gefahr zugegangen.37 In seiner Überzeugung war er unbeirrbar, 38 ein „Kerl, standhaft und stark". 39 Ein Freund schrieb im April 1 9 3 3 an Wels: „Du bist ganz anders als ich. Ich muß 32 H. G. Ritzel sdirieb am 12.3.1963 an den Verfasser: „Wels war ein ausgesprochenes Temperament Mit viel Energie begabt, energisch bis zur Brutalität. Ein Mann, der zu überzeugen und zu begeistern verstand." 33 Mündliche Auskünfte von Ollenhauer, Fritz Heine, Caspari, Ernst Paul und Jaksdi. Brief Hans Dills vom 15. 5.1963 an den Verfasser. Julius Braunthal schrieb am 11.4.1963 an den Verfasser: „Ein besonders ergreifendes Erlebnis mit ihm [Wels; der Verfasser] ist mir in Erinnerung. Es ereignete sich auf der Konferenz der SAI in Paris 1933 . . . Als wir nach Schluß der Sitzung die Konferenzhalle verließen, fanden wir die Treppe und darüber hinaus die Straße vor dem Gebäude dicht von Roten Falken . . . besetzt, die uns mit dem Lied: .Brüder zur S o n n e . . . ' begrüßten; es waren die Kinder der sozialistischen Flüchtlinge aus dem Dritten Reich. Ich stand in der Nähe von Otto Wels und sah, wie ihm tief erschüttert die Tränen aus den Augen stürzten." 34 Ebda, und mündliche Auskünfte von Rudi Leeb, Erich Brost, Alfred Dobbert und Willi Sander. 35 Vorwärts vom 15. 9. 1923, zitiert nach Personenarchiv der SPD, SPD-Parteiarchiv, Bonn. 36 Siehe Anm. 33 u. 34 in diesem Teil. Alle seine Zeitgenossen und Freunde bescheinigen Wels ausgezeichnete Menschenkenntnis und kritischen Verstand. 37 Mündliche Auskunft von Fritz Heine. 38 So auch Julius Braunthal in seinem Brief vom 11.4. 1963 an den Verfasser. 39 Brief von Treviranus vom 4. 10.1962 an den Verfasser.

6

I. Anfänge und politische Entwicklung

bis 1918

mir immer erst Mut machen. Aber Du hast ihn!"40 Wenzel Jaksch urteilte über Otto Wels: „Weiche Naturen geben unter der Last des Unglücks nach. Harte Naturen werden unter den Hammerschlägen des Schicksals härter. Man kann aus ihnen Funken schlagen, aber sie nicht weich machen. Eine solche Natur war Otto Wels."41 Außer auf Wels' Mut wurde immer wieder auf seine untadelige persönliche Integrität und Ehrlichkeit hingewiesen.41 Ein Beispiel liefert sein Verhalten gegenüber seinem Sohn Walter, der von 1920 bis 1923 Sekretär bei Parvus-Helphand war. Als sich dessen Gehirnparalyse durch riesige Geldausgaben bemerkbar machte, zwang Wels den Sohn, seine Stellung sofort aufzugeben, obwohl dieser keine gleichwertige neue Position hatte. 4 ' Von seinen Zeitgenossen und Freunden wurde auch immer wieder auf die Klugheit Wels',44 sein politisches Fingerspitzengefühl 45 und seinen Bildungshunger hingewiesen. In seiner Jugend hatte er die von Wilhelm Liebknecht gegründete Arbeiterbildungsakademie in Berlin besucht;4" seine Lieblingsdichter Heine, Freiligrath und Herwegh konnte er frei rezitieren.47 Er hatte die populäre sozialistische Literatur gelesen48 und war mit der Parteigeschichte der SPD vertraut wie kaum 40

Friedrich Stampfer, Otto Wels, in: Neuer Vorwärts,

Nr. 327 v o m 24.9.1939, S. 1.

41

Wenzel Jaksch, Hans Vogel. Gedenkblätter ( = Die Fackelträger), Sonderdrude des Sozialdemokrat, Zeitschrift der Sudetendeutschen Sozialdemokratie, London 1946, S. 17. a

So auch Ollenhauer, Fritz Heine, Rudi Leeb, Ernst Paul, Richard Hansen und Josef Felder. 4 ' Mündliche Auskunft von Walter Wels. Siehe auch Brief Erich Ollenhauers an Ferl v o m 2 0 . 2 . 1 9 3 9 , Emigrationsakten der SPD. Der Vorwurf der innerparteilichen Opposition von 1925, Wels sei auch in die Barmat-Affäre verwickelt gewesen, ist unhaltbar. Vgl. audi S. 127, Anm. 87 dieser Arbeit. 44

Siehe S. 5, Anm. 33 u. 34 dieser Arbeit.

45

Brief Vogels vom 28. 7. 1939 an Franz Müller (Bolivien); Brief Schiffs vom 30.9. 1935 an Otto Wels; Brief Hilferdings vom 1 6 . 9 . 1 9 3 3 an Otto Wels, Emigrationsakten der SPD. Hilferding schrieb zu Wels' 60. Geburtstag: „Und wenn einer stets mit den Massen verbunden war und es stets geblieben ist, dann waren es gerade Sie, und es war ja Ihre von uns allen anerkannte Stärke, wie aus Ihnen so oft und oft unwiderstehlich das Massendenken und der Masseninstinkt hervorbrach." 4

' Mündliche Auskunft von Walter Wels.

47

Maschinenschriftliches Manuskript Vogels über Otto Wels vom 2. 2. 1940, S. 2,

Emigrationsakten der SPD. 49

Mündliche Auskunft von Fritz Heine.

Herkunft und Persönlichkeit

7

einer.4® Bis ins hohe Alter las er viel und verbrachte oft halbe Nächte bei seiner Lektüre.50 Obwohl Wels zeit seines Lebens an sich arbeitete, war er trotz aller politischer und persönlicher Belastungen absolut kein Asket. Er liebte gutes Essen und Trinken im Freundeskreis und konnte nach einem arbeitsreichen Tag mit einer nahezu kindlichen Freude im Dienstwagen des Parteivorstandes zum Müggelsee nach Hause rasen.51 Oft saß er mit seinen Freunden abends noch beim Bier im „Lukullus", einem Kellerlokal in der Nähe des Belle-Alliance-Platzes.5' Er hatte einen großen Freundeskreis, zu dem unter anderen Friedrich Ebert, Hermann Müller-Franken, Hans Vogel, Emil Stahl, Wilhelm Hoegner, Carl Severing, Otto Braun und in der Emigration Friedrich Stampfer, Ernst Paul, Wenzel Jaksch, Siegfried Taub, Hans Caspari und Erich Ollenhauer gehörten.53 Enge freundschaftliche Beziehungen verbanden Wels auch mit Parvus-Helphand. Er verkehrte bei ihm zusammen mit Philipp Scheidemann, Konrad Haenisch, Georg Gradnauer, Ulrich Rauscher und Victor Naumann in Schwanenwerder, bis sich bei Parvus die Paralyse bemerkbar machte. Nach Helphands Tod im Dezember 1924 ließ es Wels sich nicht nehmen, ihm die Trauerrede zu halten.54 Wels versuchte auch, den Kontakt mit den einfachen Parteimitgliedern und -funktionären zu halten. Oft fanden bei ihm in Friedrichshagen Treffen mit alten Freunden aus dem heimatlichen 5. Berliner Reichstagswahlkreis oder aus der Provinz Brandenburg statt.55 Von „Verbürgerlichung" kann bei ihm keine Rede sein, und selbst sein alter innerparteilicher Gegner Siegfried Aufhäuser bestätigte, daß Wels nie 4 ' So audi Werner Blumenberg, Kämpfer für die Freiheit, Berlin—Hannover 1959, S. 135. 80 Aktennotiz Fritz Heines vom 7.9.1948, Personenardiiv der SPD; mündliche Auskunft von Fritz Heine. 51 SPD-Mitteilungsblatt der SPD Hessen vom 24.9.1948, Artikel über Otto Wels, Personenardiiv der SPD. Der Artikel stammt wahrscheinlich von Emil Stahl. Die Behauptung Heinrich Köhlers (Lebenserinnerungen des Politikers und Staatsmannes 1878—1949, hrsg. von Josef Becker [ = Veröffentlidiungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, R. A, 11], Stuttgart 1964, S.206), Wels sei Trinker gewesen und habe dadurdi einen Teil seines Einflusses auf die SPD-Reidistagsfraktion verloren, ist unhaltbar und wird von allen Freunden Wels' bestritten. si Brief von Christine Vogel vom 9. 10.1962 an den Verfasser. 53 Mündliche Auskünfte von Hans Caspari, Ernst Paul und Wenzel Jaksdi. 54 Winfried B. Scharlau / Zbynek A. Zeman, Freibeuter der Revolution. ParvusHelphand. Eine politische Biographie, Köln 1964. M Mündliche Auskunft von Walter Wels.

δ

Ι. Anfänge und politische Entwicklung

bis 1918

vergessen habe, woher er gekommen sei. Er habe „proletarisches Bewußtsein" gehabt." Die harten Jahre der Emigration von 1933 bis 1939 hinterließen auch bei Wels ihre Spuren. Victor Schiff schrieb ihm am 29.12.1935: „Sie sind mißtrauisdier geworden, hartnäckiger, weniger anpassungsfähig. . . . Früher haben Sie auf Widerspruch auch mit zunächst verstärktem, oft gereiztem und aufbrausendem Widerstand reagiert, aber Sie dachten die Sache dann im Stillen durch und waren anschließend Argumenten durchaus zugänglich, so daß Sie oft Ihren Standpunkt zu revidieren in der Lage waren. Die trüben Erfahrungen in der Emigration und der Internationale haben begreiflicherweise bei Ihnen die Wirkung ausgelöst, daß Sie von vornherein in jeder von der Ihren divergierenden Ansicht ein Manöver, eine Intrige oder gar eine Treulosigkeit wittern." 87 Diese Kritik Schiffs dürfte zur damaligen Zeit nicht überspitzt gewesen sein. Bereits Ende 1932 machten sich bei Wels die Vorboten einer schweren Krankheit bemerkbar. 68 Im Februar 1938 mußte er mit einer ernsten Grippe und mit Gelenkrheuma in ein Prager Krankenhaus eingeliefert werden.59 Einige Wochen später wurde er in ein Krankenhaus nach Kopenhagen überführt, weil man hoffte, daß er dort seine Leiden auskurieren könnte."1 Im September des gleichen Jahres war Wels so weit wiederhergestellt, daß er nadi Paris übersiedeln konnte." Hier verschlechterten sich sein altes Leber- und Herzleiden sowie sein Gelenkrheuma so sehr, daß er an seinem 66. Geburtstag die Gäste schon nidit mehr erkannte und am 16. September 1939 starb.62 In einer eindrucksvollen Trauerfeier nahmen die Vertreter der Internationale und seine 54

Mündlidie Auskunft Aufhäusers. Siehe audi den Brief Hilferdings v o m 16. 9. 1933 an Wels, Emigrationsakten der SPD. 57 Emigrationsakten der SPD. Wels selbst sdirieb am 1 7 . 9 . 1 9 3 3 an Ernst Paul: „Das Schicksal ist hart. Nur Narren können glauben, es jederzeit meistern zu können . . ( P r i v a t b e s i t z Ernst Pauls). 58 Siehe S. 250 dieser Arbeit. 5 » Briefe Rinners vom 15. 2. 1938, 16. 2. 1938 und 18. 2. 1938 an Curt Geyer, Emigrationsakten der SPD. 60 Siehe Brief Ollenhauers vom 8 . 8 . 1 9 3 8 an Hilferding, Emigrationsakten der SPD. Siehe audi Wilhelm Keil, Erlebnisse eines Sozialdemokraten, Bd. 2, Stuttgart 1948, S. 639. 61 Brief Ollenhauers vom 7 . 9 . 1 9 3 8 an Ridiard Hansen, Emigrationsakten der SPD. 62 Brief Ollenhauers an Emil Stahl vom 22. 9.1939, a. a. O., und sdiriftlidie Auskunft Hans Casparis.

Aufstieg und Stellung zur Politik der Partei bis 1900

9

deutschen Freunde am 20. September auf dem Friedhof Pere Lachaise Abschied von Otto Wels. Hans Vogel stellte seine Trauerrede unter das Dichter wort: „Wir lieben, und was wir geliebt, das lebt. / Das lebt, bis uns das Leben zerrinnt. / Nicht alle sind tot, die begraben sind."63 In der Traueranzeige des Partei Vorstandes schrieb Hans Vogel: „ . . . Sein ganzes Leben war erfüllt vom Wirken für die deutsche und internationale Arbeiterbewegung. Ein großer Politiker des demokratischen Deutschlands, ein Vorkämpfer der Freiheit und des Sozialismus, ein wahrer Volksmann ist in ihm dahingegangen. "e4 Heute ruht die Asche Otto Wels' auf dem kleinen Pariser Vorortfriedhof Chatenay-Malabry.65 Aufstieg in der Berliner Parteiorganisation und Stellung zu Politik und Taktik der Partei bis 1900 Als Otto Wels nach seiner Wanderschaft als Handwerksbursche durdi Nord- und Süddeutschland von 1891 bis 1893 im Jahre 1894 sich im heimatlichen 5. Reichstagswahlkreis politisch aktiv zu betätigen begann, bestanden in der Partei zwei Organisationen praktisch nebeneinander: einerseits der offizielle Wahl- oder Partei verein, andererseits die in öffentlichen Versammlungen gewählten Vertrauensmänner, die von einer „inoffiziellen" Organisation, den sogenannten „Corpora", getragen wurden." 63

Neuer Vorwärts, Nr. 328 vom 1. 10.1939, S. 3 u. 4. Zum Tode Wels' siehe audi den Gedenkartikel Ernst Pauls in der Sudeten-Freiheit vom 4. Oktober 1939; Volksrecht, Züridi, Nr. 220 vom 19.9.1939; Neuer Vorwärts, Nr. 329 vom 8.10. 1939, S. 2: Trauer um Otto Wels in Großbritannien; Rundschau von Illimani, Bolivien, Nr. 17 vom 27. 10. 1939, Emigrationsakten der SPD und Nachlaß Dittmann. 84 Emigrationsakten der SPD. Zum Tode von Toni Wels siehe Brief Leebs vom 3. 12. 1942 an Hans Vogel, Erich Ollenhauer und Fritz Heine, ebda. 85 Mündliche Auskunft von Walter Wels. Siehe auch Personenarchiv der SPD, SPD-Parteiarchiv, Bonn. 88 Mit dem Ende des Sozialistengesetzes wurde zwar das Verbot aufgehoben, sozialdemokratische Bestrebungen in organisierter Form zu verfolgen, aber die Organisation der Partei war weiterhin durch das in Preußen und den meisten übrigen Einzelstaaten des Deutschen Reiches bestehende Verbindungsverbot politischer Vereine behindert. Das System der „Corpora" war zunädist gebildet worden oder erhalten geblieben, um bei einer etwaigen Auflösung eines Wahlvereins sofort in Tätigkeit treten und Maßnahmen durchführen zu können, mit denen ein normaler Verein riskiert hätte, polizeilich verboten und aufgelöst zu werden. Die Hauptursadie für das Weiter-

I. Anfänge und politische Entwicklung bis 1918

10

Wels wurde zunächst Schriftführer und 1895 bereits 1. Vorsitzender des 5. Berliner Reidistagswahlkreises.67 Nach Ableistung seiner Militärdienstpflicht von 1895 bis 1897 bei der Fuß-Artillerie in Thorn' 8 wurde er nach seiner Rückkehr Revisor und Ende 1898 Vertrauensmann seines heimatlichen Reichstagswahlkreises."9 Ihm war damit bereits der Durchbestehen der „Corpora" ist jedodi darin zu sehen, daß alle Aktivitäten, die sich nidit auf Wahlkreisangelegenheiten bezogen, so zum Beispiel die Wahl der Vertrauensmänner und Parteitagsdelegierten sowie Stellungnahmen zu Angelegenheiten der Gesamtpartei, vom legalen Aufgabengebiet der Wahlvereine ausgeschlossen blieben. Da die parteitragenden Kreise keine dieser Entscheidungen dem zufälligen Beschluß einer öffentlichen Versammlung überlassen wollten, wurden diese in besonderen Konferenzen der Vertrauensmänner vorberaten und vorentschieden. Dadurch sollte vor allem verhindert werden, daß unzuverlässige Leute in wichtige Stellungen aufrückten. Die offiziellen Wahlvereine konnten deshalb dort, wo das Vertrauensmänner-System und die „Corpora" bestanden, keine große Bedeutung erlangen, dienten sie doch hier in der Regel lediglich der Werbung für die Partei, der Wahlagitation und der Erörterung allgemeiner politischer Fragen. Vgl. zum Problem der Parteiorganisation nach 1890: Thomas Nipperdey, Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918 ( = Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 18), Düsseldorf 1961, S. 315—318; Gerhard A. Ritter, Die Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich. Die Sozialdemokratische Partei und die Freien Gewerkschaflen 1890—1900 ( = Studien zur europäischen Geschichte aus dem Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, Bd. 3), Berlin 1959, S. 46—48; Eduard Bernstein, Die Geschichte der Berliner Arbeiter-Bewegung. Ein Kapitel zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Bd. 3, Berlin 1910, S. 73—78, 81, 87, 96, 103 ff., 118; Wilhelm Schröder, Geschichte der sozialdemokratischen Parteiorganisation in Deutschland. Mit einem Anhang: Die Organisations-Statute, -Geschäftsanweisungen, -Verwaltungsordnungen und -Entwürfe von 1863 bis 1912 ( = Abhandlungen und Vorträge zur sozialistisdien Bildung, H. 4 u. 5), Dresden 1912, S. 71 ff. Uber die Tätigkeit der Corpora: Fritz Bieligk, Die Organisation im Klassenkampf. Die Probleme der politischen Organisation der Arbeiterklasse ( = Die „Roten Bücher der Marxistischen Büdiergemeinde", Buch 2), Berlin 1931, S. 31 f. · ' Vgl. Vorwärts, Nr.96 vom 26.4.1894, 2.Beilage; a.a.O., 1895, Beilage.

Nr. 100 vom 30.4.

18 Vgl. Kürschners Deutscher Reichstag 1924, hrsg. von Hermann Hillger, Berlin 1924, S. 61.

Die Zugehörigkeit zur Sozialdemokratie hatte Wels während seiner Dienstzeit in Thorn durch mancherlei Sdiikane büßen müssen. So erhielt er während seiner Dienstzeit nicht einmal Heimaturlaub. Vgl. dazu Brief Vogels vom 2. 2.1940 aus Paris an W. Sander, London, mit anliegendem maschinenschriftlichem Manuskript über Otto Wels, S. 2, Emigrationsakten der SPD, Parteiarchiv der SPD, Bonn. Vgl. Vorwärts, Nr. 84 vom 10.4.1898, und a.a.O., 1898, 1. Beilage, S. 2. 69

Nr. 247 vom 21.10.

Aufstieg und Stellung 2ur Politik der Partei bis 1900

11

bruch zum inneren Führungskreis seines Reicbstagswahlkreises gelungen. 1899 bewarb er sich um den Posten des 1. Vorsitzenden, wurde nach einer ausführlichen Personaldebatte und einer Kampfabstimmung aber nicht gewählt. Er bekleidete dann bis 1901 kein Parteiamt mehr.70 Der Grund für seine Niederlage bei den Vorstandswahlen des 5. Reichstagswahlkreises muß in Wels' Stellungnahmen zu Politik und Taktik der Partei gesucht werden. Schon seine ersten Äußerungen in den Jahren 1894 und 1895 zeigten Otto Wels als unversöhnlichen Gegner aller derjenigen reformistischen Bestrebungen und Tendenzen, die darauf hinzielten, die Politik und Taktik der Partei an die veränderte politische Situation der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts anzupassen, um die in „den alten ausgefahrenen Gleisen"71 verharrende und langsam erstarrende Sozialdemokratie mit neuen Impulsen zu beleben. So kritisierte er in der Diskussion einer Versammlung des 5. Berliner Reichstagswahlkreises das Verhalten der Parteitagsdelegierten in der Frage der Beurteilung der Budgetbewilligung durch die bayerische und andere süddeutsche Landtagsfraktionen. Hierüber war es auf dem Frankfurter Parteitag von 1894 zu lebhaften Auseinandersetzungen und zu einer scharfen Resolution Bebels gekommen, die jedodi durch einen Zusatzantrag Arthur Stadthagens so abgeschwächt wurde, daß praktisdi jede Auslegung der schließlich verabschiedeten Gesamtresolution möglich geworden war. Nach Auffassung von Otto Wels hätten die Delegierten nach Annahme des Zusatzantrages zur Resolution Bebels eine nochmalige Abstimmung über diese Frage herbeiführen müssen, um eine klare Entscheidung und damit eine Verurteilung der süddeutschen Sozialdemokraten durchzusetzen.7' Die von den süddeutschen Sozialdemokraten ausgelöste leidenschaftliche parteiinterne Diskussion über die Agrarfrage — nach Auffassung Gerhard A. Ritters das interessanteste und tiefgreifendste Problem der 70

Vgl. a. a. O., Nr. 284 vom 22. 10. 1899, 2. Beilage. G. A. Ritter, Die Arbeiterbewegung . . S . 128. 78 Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1894 [Frankfurt], Berlin 1894 (die Protokolle werden im folgenden mit Angabe des Tagungsorts und des Jahres, in dem der Parteitag stattfand, als Parteitagsprotokolle ... zitiert), S. 108, 113, 130; G. A. Ritter, Die Arbeiterbewegung . . . , S. 128—133. Zur Stellungnahme Wels* vgl. Vorwärts, Nr. 261 vom 8. 11.1894, 2. Beilage. Indirekt beinhaltet diese Äußerung von Wels audi einen Angriff auf den Berliner Reichstagsabgeordneten Stadthagen. Wels sollte dieses Argument später noch einmal aufgreifen. Vgl. dazu unten S. 33 f. 71

12

I. Anfänge

und politische Entwicklung

bis 1918

sozialdemokratischen Parteigeschichte der neunziger Jahre —, eine Diskussion, die an die tiefsten der sozialen und geistigen Wurzeln der Partei reidite," führte auf dem Frankfurter Parteitag von 1894 zur Einsetzung eines fünfzehnköpfigen Ausschusses zur Erarbeitung eines Agrarprogramms. Bevor ein Entwurf dieses Programms auf dem Breslauer Parteitag von 1895 von der Parteitagsmehrheit unter Führung von Karl Kautsky verworfen wurde,74 hatte sich Otto Wels bereits nach dem Referat des Reichstagsabgeordneten Richard Schmidt in einer Versammlung des 5. Reichstagswahlkreises kritisch mit den einzelnen Punkten des Entwurfs auseinandergesetzt. Er kam zu dem Ergebnis, daß „ . . . d i e hier aufgestellten Forderungen den bisherigen Forderungen der Partei geradezu widersprechen" — und damit zur Ablehnung des Entwurfs.75 Während sich Wels mit seinen politischen Stellungnahmen in den Jahren 1894 und 1895 auf dem Boden der Anschauungen einer großen Mehrheit der preußischen und der Berliner Sozialdemokraten befunden hatte7' und seine politischen Auffassungen kaum von denen der Masse der Berliner Parteimitglieder zu unterscheiden waren, nahmen sie 1899 bereits einen wesentlich profilierteren und auch radikaleren Charakter an. Im Frühjahr 1899 war das vielbeachtete Buch von Eduard Bernstein über Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie erschienen, dessen von der offiziellen Parteimeinung abweichende Ansichten — zuerst veröffentlicht in einer 73

Vgl. G. A. Ritter, Die Arbeiterbewegung

tische Arbeiterbewegung beiterbewegung,

Deutschlands

...,

1863—1914,

S. 134, und G. A. Ritter, Die in: Hundert

Jahre

deutsche

hrsg. von der Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn

poliAr1963,

S. 11. 74

Vgl. Parteitagsprotokoll

Ritter, Die politisdje bewegung

...,

Breslau

1895,

Arbeiterbewegung...,

S. 176 f. Zur Agrarfrage siehe G. A. in: Hundert

Jahre

deutsche

Arbeiter-

S. 134—149.

Damit wurden die Ansätze zu einer konstruktiven Politik auf diesem für die Partei

so außerordentlich

wichtigen politischen Gebiet für mehr als drei

Jahr-

zehnte praktisch versdiüttet. Erst auf dem Parteitag in Kiel 1927 gab sich die Sozialdemokratie ein Agrarprogramm,

das im wesentlichen auf den Anschauungen Eduard Davids und seines

Schülers Arthur Schultz beruhte. Vgl. Parteitagsprotokoll bewegung

...,

in: Hundert

Kiel 1927, S. 2 7 3 ff.; G. A. Ritter, Die politische Jahre deutsche Arbeiterbewegung

...,

75

Vgl. Vorwärts, N r . 189 vom 15. August 1895, 2. Beilage, S. 3.

76

Vgl. G. A. Ritter, Die politische Arbeiterbewegung

sche Arbeiterbewegung

. . . , S. 143, Anm. 96.

Arbeiter-

S. 144.

.. ., in: Hundert

Jahre

deut-

Aufstieg und Stellung zur Politik der Partei bis 1900

13

Reihe von Aufsätzen in der Neuen Zeit (1896—1898)77 — hier ihren klarsten Ausdruck gefunden hatten. Bei dem Echo, das diese „Sensationsschrift "78 in der politisch interessierten Öffentlichkeit und in der Partei fand, war nach dem Parteitag von Stuttgart, der das Gefühl für die Ernsthaftigkeit der „ketzerischen Anschauungen" Bernsteins weitesten Parteikreisen vermittelt hatte, vorauszusehen, daß auch die unteren Parteigremien sidi bald mit den damit aufgeworfenen Fragen befassen würden. In einer Versammlung von Anfang September 1899 — ein Monat vor dem Parteitag in Hannover — beschäftigten sich auch die Berliner Parteiorganisationen mit diesen Problemen. Otto Wels wandte sich in seinem Diskussionsbeitrag nicht nur scharf gegen die Auffassungen Bernsteins, sondern auch gegen alle diejenigen Kräfte, die auf eine Erweiterung der Parteitätigkeit und die Konzipierung einer praktischen Gegenwartspolitik drängten, indem er, wie der Vorwärts berichtete, betonte, „ . . . daß durdi die Kompromisse mit bürgerlichen Parteien das Parteigewissen und der Charakter der Bewegung verloren gingen. Die bayerischen Genossen seien wegen ihrer eigenartigen Haltung schon verschiedentlich ohne Erfolg zur Rechenschaft gezogen worden. Das System habe leider in Norddeutschland Schule gemacht, er erinnere an Auer, Bebel und Heine, die den Opportunismus verträten. Um den Standpunkt der Genossen schärfer zum Ausdruck zu bringen, beantrage er die Wahl von zwei Delegierten"79 zum Parteitag. 77

Vgl. Eduard Bernstein, Probleme des Sozialismus, in: Neue Zeit, 15. Jg. (1896/ 1897), Bd. 1, S. 164—171, 204—213, 303—311, 772—783; Bd. 2, S. 100—107, 138 bis 143. Vgl. die in der Neuen Zeit, a. a. O., erschienenen Aufsatzreihen Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft und Das realistische und das idealistische Moment im Sozialismus. 78 Karl Kautsky, Bernstein und das Sozialdemokratische Programm. Eine Antikritik, Stuttgart 1899, S. 1. G. A. Ritter, Die politische Arbeiterbewegung ..., in: Hundert Jahre deutsche Arbeiterbewegung ..., S. 197. 78 Wels griff mit dieser Polemik Ignaz Auer, August Bebel und andere wegen ihrer Vorschläge zur Taktik der Partei bei einer etwaigen Wahlbeteiligung an den Landtagswahlen in Preußen an. Während Auer an eine Verstärkung der bürgerlichen Parteien durch die Wahl von Wahlmännern der politisch nächstliegenden Partei dachte (Die Sozialdemokratie und die preußischen Landtagswahlen. Eine Umfrage, in: Sozialistisihe Monatshefte [1897], S. 457 f.), befürwortete Bebel eine Regelung, die die Stimmabgabe der sozialdemokratischen Wahlmänner für Kandidaten bürgerlicher Parteien von der Unterstützung sozialdemokratischer Kandidaturen in bestimmten Wahlkreisen abhängig machen sollte (Unsere Beteiligung an den preußischen

14

I. Anfänge und politische Entwicklung bis 1918

Robert Schmidt, Reidistagsabgeordneter des 5. Berliner Wahlkreises, der den von Wels so scharf angegriffenen reformistischen Kreisen innerhalb der Partei eng verbunden war, antwortete Wels ironisch, es werde die Versammlung sicher überrascht haben, daß nach Meinung des Vorredners audi Bebel keinen Anspruch auf Prinzipienreinheit erheben dürfe und als einziger schließlich nur noch Liebknecht uneingeschränktes Vertrauen genieße.80 Nach dem Parteitag von Hannover vom 9. bis 14.10.1899 kritisierte Wels die von Bebel beantragte und in einer sechsstündigen Rede begründete Resolution über die „Grundanschauungen der Partei", die sich mit den Auffassungen Bernsteins auseinandergesetzt hatte.81 Seiner Auffassung nach war diese Resolution nicht klar und entschieden genug, da sie allen Anschauungen eine Tür offen lasse. Das Hauptanliegen Bernsteins, nämlich die Überwindung der Kluft Landtagswahlen, in: Neue Zeit, 15. Jg. [1896/97], Bd. 2, S. 615). Wels neigte in dieser Frage zur Auffassung von Wilhelm Liebknecht, der in den bürgerlichen Parteien nur „eine reaktionäre Masse" und, in einer überspitzten Formulierung, in einer Fortsdirittsmehrheit im preußischen Landtag einen Schaden für die Partei sah, während eine Junkerherrschaft die erbitterten Massen in das Lager der Sozialdemokraten treiben würde (Parteitagsprotokoll Hamburg 1897, S. 181). Wolfgang Heine und Ignaz Auer werden im Zusammenhang mit den zuerst von Max Sdiippel in den Fragen der Miliz und der Handelspolitik in den späten neunziger Jahren auf die Grundanschauungen der Partei geübten Angriffen kritisiert (vgl. G. A. Ritter, Die politische Arbeiterbewegung..., in: Hundert Jahre deutsche Arbeiterbewegung .. ., S. 187 f.). Sdiippel hatte auf den Parteitagen in Hamburg, Stuttgart und später Hannover Debatten über die Möglichkeit einer sozialdemokratischen Bewilligung von Militärforderungen provoziert. Auer und Heine hatten diese Forderungen Schippeis in der Milizfrage zu einer Kompensationstheorie — indifferente Militärforderungen gegen den Eintausch von Volksrediten — erweitert (G. A. Ritter, a. a. O., S. 188, Anm. 65 u. 66). 80 Vgl. Vorwärts, N r . 209 vom 7. 9. 1899, 1. Beilage, S. 2. Die von dem späteren Parteivorstandsmitglied Liepmann eingebrachte Resolution — „Unser Kampf um die Erringung der politischen Macht und Änderung der privatkapitalistischen Produktionsweise ist ein Kampf der Arbeiterklasse, die alle Erfolge, die nicht aus eigener Kraft errungen sind, verwirft. Kompromisse schädigen das politische Bewußtsein und sind als schädlich zu verwerfen" — fand audi die Zustimmung von Wels. Vgl. dazu Vorwärts, Nr. 223 vom 23.9.1899. Zu den Rednern, die in der Diskussion auf der gleichen politischen Linie wie Wels lagen, gehörte Kotzke (Vorsitzender der Agitationskommission für die Provinz Brandenburg) und der Verfasser der obigen Resolution. Robert Schmidt wurde in dieser Versammlung in einer Kampfabstimmung mit nur geringer Mehrheit zum Parteitagsdelegierten für Hannover gewählt. 81 Vgl. Parteitagsprotokoll Hannover 1899, S. 189.

Aufstieg

und Stellung zur Politik der Partei bis 1900

15

zwischen Theorie und Praxis der Partei, wurde von Wels zu diesem Zeitpunkt nicht erkannt. Bernstein sah, im Gegensatz zu den süddeutschen Reformisten, seine Aufgabe nicht in der Änderung der praktischen Parteipolitik, sondern in einer Revision der von der Praxis abweichenden Theorie.82 Wels unterstellte Bernstein die Absicht, die Partei auf das Niveau einer bürgerlichen Reformpartei herabdrücken zu wollen.83 Er äußerte damit den Forderungen Bernsteins gegenüber Bedenken, die in ähnlicher Form schon Auer 1891 gegen die Politik Vollmars geltend gemacht hatte. Auer wie Wels befürchteten, daß „die strenge Scheidelinie, die bis jetzt unsere Partei allein anderen Parteien gegenüber innegehalten h a t . . . auf die Dauer verwischt" werde.84 Mit dieser unscheinbaren Formel wird nach Auffassung von Erich Matthias genau die Grenze bezeichnet, an der alle praktisch-reformistischen ebenso wie alle theoretisch-revisionistischen Vorstöße scheitern mußten, sobald sie das zwiespältige gruppentypische Selbstbewußtsein der tragenden Schichten der Partei nicht berücksichtigten. Wenn die sozialdemokratische Führung es als ihre Hauptaufgabe betrachtete, die materielle Lage der Arbeiter innerhalb des bürgerlichen Staates zu verbessern, so habe sie sidi, schreibt Matthias, in vollem Einklang mit den Interessen und Erwartungen des Gros ihrer Gefolgschaft befunden. Aber die gleiche Gefolgschaft, die nicht an Umsturz oder Revolution dachte, hätte es als unerträglich empfunden, wenn die Arbeiterpartei als eine von vielen Parteien aufgetreten wäre. Nur aus dem echten Bedürfnis nach Distanzierung sei die Bedeutung zu verstehen, die die Diskussion solcher Fragen, wie die der Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen, der Möglichkeit einer Koalition mit bürgerlichen Parteien, der Budgetbewilligung, der Mitgliedschaft im Präsidium des 81 Für den Revisionismus Bernsteins vgl. Peter Gay, Das Dilemma des demokratischen Sozialismus. Eduard Bernsteins Auseinandersetzung mit Marx, Nürnberg 1954; Christian Gneuss, Um den Einklang von Theorie und Praxis, Eduard Bernstein und der Revisionismus, in: Marxismusstudien, 2. Folge, Tübingen 1957, S. 198—226. Über den taktischen Kern der Auseinandersetzungen Kautskys mit Bernstein und den Revisionisten vgl. Erich Matthias, Kautsky und der Kautskyanismus, in: Marxismusstudien .. .,2. Folge, S. 165—172. 88 Vgl. Vorwärts, N r . 251 vom 2 6 . 1 0 . 1 8 9 9 , 1. Beilage. In dem gleichen Diskussionsbeitrag nimmt er auch zu den Auseinandersetzungen auf dem hannoverschen Parteitag zwischen Schippel und Bebel in der Milizfrage Stellung und unterstützt die Auffassung Bebels. 84 Parteitagsprotokoll Erfurt 1891, S. 223.

I. Anfänge und politische Entwicklung

16

bis 1918

Reichstags, der Erfüllung von „höfischen" Verpflichtungen, der Mitarbeit von Genossen im bürgerlichen Pressewesen und anderer innerhalb des sozialdemokratischen Parteilebens erlangen konnte.85 Das Verhalten von Otto Wels bei der Diskussion dieser Probleme, seine zum Teil politische Intransigenz, exemplifizieren die Feststellungen von Matthias und zeigen, welche Bedeutung das Bedürfnis nach Abgrenzung von der bürgerlichen Welt für das Lebensgefühl des Durchschnittssozialdemokraten hatte. Otto Wels dürfte der sich zum Zeitpunkt der Diskussionen um die „Weltpolitik" 86 und des Kampfes gegen die „opportunistischen" Kreise gerade locker formierenden radikalen Gruppe in der Partei zuzuordnen sein.87 Seine Haltung zu Politik und Taktik der Partei weist ihn in den Jahren zwischen 1901 und 1909 als entschiedenen Radikalen aus. Auf dem Dresdner Parteitag von 1903 äußerte er die Auffassung, daß die Revisionisten der Partei nicht „von der Pike auf" gedient hätten. Die Arbeiter machten „diesen Herren die Betten" und jene legten sich hinein. Der Kampf gegen die Parteizertrümmerer könne nicht energisch genug geführt werden. Der revolutionäre Kampf habe die Partei groß gemacht und werde sie auch weiterführen.88 Wenige Wochen nach dem Dresdner Parteitag sprach Wels von „bewußten und unbewußten Revisionisten". Die letzteren säßen hauptsächlich in den Gewerkschaften. E r selbst sei zwar auch Gewerkschaftler, doch niemals werde er wie jene das Parteiprogramm verleugnen. Die alten Geleise der Taktik seien noch immer die besten.8' Im Februar 1904 verurteilte er außerordentlich scharf das Verhalten der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion bei der Bewilligung der Mittel zur Niederschlagung des Hereroaufstandes in Deutschsüdwestafrika. Die Fraktion hätte sich bei der Abstimmung nicht der Stimme enthalten dürfen, sondern gegen die Bewilligung stimmen müssen. Die „Hansdampfpolitik" der Reichsregierung habe jetzt sogar schon einen Rückhalt in der sozialdemokratischen Frak85

E.

Matthias,

Kautsky

und

der

Kautskyanismus,

in:

Marxismusstudien...,

2. Folge, S. 175 f. Über die Bedeutung des populären Marxismus

kautskyanisdier

Prägung als „Integrationsideologie" vgl. a. a. O. S. 176 f., und Arthur Rosenberg, Geschichte der deutseben Republik, 88

Hundert 87

Karlsbad 1935, S. 16.

Vgl. zu diesem Problem G. A . Ritter, Die politisd>e Arbeiterbewegung..., Jahre deutsche Arbeiterbewegung

...,

in:

S. 1 9 3 — 1 9 6 .

Zur Stellung der Berliner Parteiorganisationen zu den Problemen der Politik

und Taktik der Partei von 1894 bis 1900 vgl. E. Bernstein, Die Geschichte der liner Arbeiter-Bewegung

...,

Bd. 3, S. 136—146.

88

Vorwärts, N r . 199 vom 27. 8. 1903, 1. Beilage, S. 2 f.

89

A. a. O., N r . 2 2 9 vom 1 . 1 0 . 1 9 0 3 , 1. Beilage, S. 4.

Ber-

Preßkommission

des „Vorwärts"

und „,Vorwärts'-Konflikt'

(1901—1906)

17

tion gefunden.90 Bei der Auseinandersetzung zwischen Partei und Freien Gewerkschaften anläßlich der erregten Diskussionen über den politischen Massenstreik und seine Führung in den Jahren 1904 bis 190691 verteidigte Wels mit Leidenschaft den politischen Führungsanspruch der Partei gegenüber den Freien Gewerkschaften.92 In der Frage des politischen Massenstreiks vertrat Wels die Auffassung des Parteizentrums um Bebel und Kautsky, die zum Massenstreik nur im Verteidigungsfalle oder im fernen Endkampf schreiten wollten.93 Die Behauptung, Rosa Luxemburg habe auf Wels große Hoffnungen gesetzt, bis er sie durch seine Weigerung enttäuschte, den Demonstrationen für das allgemeine und gleiche Wahlrecht in Preußen mit Hilfe von Massenstreiks Nachdruck zu verleihen,94 findet keine quellenmäßige Stütze, ebensowenig wie die Behauptung, Wels sei bis 1905/06 einer der „jungen Leute" Rosa Luxemburgs gewesen.95 Preßkommission des „Vorwärts" und „Vorwärts'-Konflikt" (1901—1906) Im Jahre 1901 wurde mit der erstmaligen Wahl von Otto Wels zum Mitglied der Preßkommission des Vorwärts eine Entwicklung eingeleitet, die ihm in kurzer Zeit Einfluß und Bedeutung weit über den heimatlichen 5. Reichstagswahlkreis hinaus bringen sollte und ihn innerhalb von wenigen Jahren zu einem der bekanntesten und einflußreidisten Berliner Arbeiterführer werden ließ.9* 80

A. a. O., N r . 3 0 v o m 5. 2 . 1 9 0 4 , 1. Beilage, S. 3.

81

Vgl. R o l f Thieringer, Das

und politischen

Parteien

Verschiedenheiten

und

Verhältnis

in der Weimarer taktischen

der

deutschen

Republik

1919

Gemeinsamkeiten

Gewerkschaflen bis 1933.

der

zu

Die

Staat

ideologischen

Richtungsgewerkschaften

[Maschinenschrift], Phil. Diss., Tübingen 1954, S. 3 9 — 4 2 . 82

Vorwärts,

83

Zur H a l t u n g von Wels vgl. a.a.O.,

N r . 195 v o m 2 3 . 8 . 1 9 0 6 . N r . 199 v o m 2 5 . 8 . 1 9 0 4 , 1. Beilage, S. 2 ;

a. a. O., N r . 195 v o m 2 3 . 8 . 1 9 0 6 . Z u m Problem des politischen Massenstreiks Dieter Schuster, Das preußische sche Sozialdemokratie 84

Dreiklassenwahlrecht,

bis zum Jahre

So Werner Blumenberg,

der

Kämpfer

für

die

Freiheit,

S. 134, und ähnlich J . Fischart, Das Alte und das Neue 85 8

politische

Streik

die

deut-

Berlin—Hannover

1959,

System ...,

S. 103.

Mündliche Auskunft Werner Blumenbergs v o m N o v e m b e r 1 9 6 0 .

· Zur W a h l Wels' in die Preßkommission durch den 5. Reichstagswahlkreis

der Zeit von 1901 bis 1 9 0 5 vgl. Vorwärts,

15. 2. 1904, 1. Beilage; a. a. O., N r . 39 v o m 1 5 . 2 . 1 9 0 5 , 1. Beilage. Adolph

in

N r . 2 5 7 v o m 2. 11. 1 9 0 1 ; a. a. O., N r . 2 5 7

v o m 2. 11. 1 9 0 2 ; a. a. O., N r . 4 0 v o m 17. 2. 1 9 0 3 , 1. Beilage; a.a.O.,

2

und

1914, Phil. Diss., B o n n 1 9 5 8 .

N r . 30 v o m

18

I. Anfänge

und politische Entwicklung

bis 1918

Gemäß dem Beschluß des Hallenser Parteitags von 1890 erschien das Berliner Volksblatt ab 1. Januar 1891 mit dem Obertitel Vorwärts und dem Zusatz Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei. Das Blatt blieb, wie auch sein Untertitel ausweist, der Verwaltung des Parteivorstands unterstellt. Dieser hatte daher das Recht, die Mitglieder von Redaktion und Expedition anzustellen beziehungsweise zu entlassen. Schwierigkeiten brachte das Verhältnis des Vorwärts zur Berliner Parteiorganisation mit sich; die Zeitung sollte nicht nur Zentralorgan der Partei, sondern auch Organ der Berliner Parteimitglieder sein. Es konnte deshalb nicht ausbleiben, daß die Berliner Parteigremien einen entsprechenden Einfluß auf das Blatt forderten, für das sie warben und wirkten. Zu einer ersten, wenn auch vorläufigen Regelung kam es durch einen von Bebel formulierten Beschluß des Erfurter Parteitags von 1891. Dieser legte fest, daß die Berliner Genossen eine neunköpfige Kommission zu wählen hätten, die in Gemeinschaft mit dem Parteivorstand die Kontrolle über den lokalen Teil des Vorwärts ausüben sollte. Diese Konzession entsprach jedoch nur für einige Zeit den Wünschen der Berliner Parteiorganisation. In dem Maße aber, in dem ihre Mitgliederschaft wuchs und das Parteileben sich reicher entfaltete, wurde auch die Forderung nach Einflußnahme auf die Redaktion des Blattes und speziell seinen politischen Teil immer dringlicher. Denn die Mitwirkung der Berliner Parteigremien bei der Besetzung der leitenden Stellen in der Redaktion sowie der Verwaltung und die Festsetzung der Höhe der Gehälter war bis dahin dem Parteivorstand vorbehalten geblieben. Erst auf dem Hamburger Parteitag von 1897 wurde im § 17 des Organisationsstatuts festgelegt, daß bei der Verwaltung des Blattes sowie der Überwachung der prinzipiellen und der taktischen Haltung des Zentralorgans die Preßkommission ein Mitsprache- und Mitwirkungsrecht haben sollte. Auf dem Parteitag von 1899 in Hannover wurde die Preßkommission des Vorwärts in Hinsicht auf das Blatt zum gleichberechtigten Partner des Parteivorstands gemacht, was auch im Schlußsatz des neuen § 18 des Parteistatuts zum Ausdruck kam, der bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Parteivorstand und Preßkommission die Heranziehung der Kontrollkommission mit der Bestimmung vorsah, daß in solchen Fällen jedes der drei Organe je eine Stimme haben sollte.97 Das war die parteirechtliche Situation, als Otto Wels Nadi § 6 der Satzung des 5. Reichstagswahlkreises vom 1 3 . 1 0 . 1 9 0 1 wurde Wels damit auch gleichzeitig Vorstandsmitglied seines Reichstagswahlkreises. 87 Vgl. zu diesem Thema E. Bernstein, Die Geschichte der Berliner Arbeiter-Bewe-

Preßkommission

des „Vorwärts" und „,Vorwärts'-Konflikt"

(1901—1906)

19

als einer der beiden Vertreter des 5. Berliner Reichstagswahlkreises in die Preßkommission delegiert wurde. Wie sehr Wels durch seine Arbeit in dieser Kommission und in der Partei persönliches Prestige und Einfluß zu erwerben imstande war, wird an der Tatsadie deutlich, daß er bereits im April 1903 anstelle von Dr. Bruno Borchardt als Reichstagskandidat des Wahlkreises Prenzlau-Angermünde in der Provinz Brandenburg aufgestellt wurde.98 Schon vor der organisatorischen Umgestaltung der Partei in Berlin, der Schaffung des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgegend gegen Ende des Jahres 1905, muß Otto Wels als der eigentliche Sprecher und die entscheidende Persönlichkeit der Preßkommission angesehen werden. Auf den Parteitagen trat er seit 1902 als Sprecher der Berliner immer mehr in den Vordergrund." Als vor dem Jenaer Parteitag von 1905 die schon lange einerseits zwischen der Redaktion des Vorwärts und den Redaktionen der Neuen Zeit und der Leipziger Volkszeitung andererseits bestehenden Spannungen und Gegensätze sich in einer heftigen Pressepolemik entluden und bei den Parteimitgliedern vielfach den Eindruck erweckten, als sei die Redaktion des Vorwärts beziehungsweise deren Mehrheit „revisionistisch" gesinnt, während die beiden anderen Redaktionen als „marxistisch" bekannt waren, kamen die in ihrer Mehrheit auf der „marxistisch-radikalen" Seite stehenden Berliner Parteimitglieder erneut auf den Gedanken, auf dem Parteitag die volle Verfügungsgewalt über den gung...,

Bd. 3, S. 401 f.; Rede Otto Wels' auf dem Jenaer Parteitag 1905, in: Par-

teitagsprotokoll 88

..

Vgl. Vorwärts,

S. 179. N r . 97 vom 26. 4. 1903, 3. Beilage. D a die Provinz Branden-

burg zu dieser Zeit für die Partei noch Entwicklungsgebiet war, hatten die sechs Berliner Reichstagswahlkreise

die Hauptlast

der

Agitations-

und

Organisations-

arbeit dort mit übernommen. Zur Durchführung dieser Aufgaben wurde bereits 1892 eine aus sieben Mitgliedern bestehende Agitationskommission für die Provinz Brandenburg eingesetzt, die auf der jährlichen Parteikonferenz für Berlin und die Mark Brandenburg ihren Bericht zu geben hatte und dann audi neu gewählt wurde. Auf das Verhältnis Berlins zur Provinz Brandenburg wird an anderer Stelle dieser Arbeit nodi eingegangen. 99

Vgl.

Parteitagsprotokoll

Achtstundentages),

S. 165

München

1902,

(Maidemonstration).

S. 170 f. Auf

(Rede

diesem

zum

Problem

Parteitag

war

des Wels

noch als Vertreter des 5. Berliner Reichstagswahlkreises anwesend. Zum Parteitag in Dresden 1903 (Parteitagsprotokoll..., S. 192, Rede gegen Borchard wegen Mitarbeit in der bürgerlichen Presse) und in Bremen

1904

(Parteitagsprotokoll..

S. 36 u. 42) war Wels als Vertreter seines Reichstagswahlkreises münde entsandt worden. 2*

Prenzlau-Anger-

I. Anfänge und politische Entwicklung bis 19 IS

20

Vorwärts zu fordern.100 Es war Otto Wels, der die Interessen der Berliner mit Geschick und großem Nachdruck vertrat und ihren Antrag einleuchtend begründete. Nachdem er auf die Entwicklung des Vorwärts seit 1890 kurz eingegangen war, kam er zu dem eigentlichen Anliegen, dem Wunsch der Berliner Sozialdemokraten nach einem eigenen Presseorgan, in dem ihre Meinung unverfälschten Ausdruck finden sollte. Als Zentralorgan habe der Vorwärts, so führte er aus, bestimmte Verpflichtungen; er müsse Meinungen zusammenfassen, Rücksichten nehmen, und dadurch werde naturgemäß seine Aktualität beeinträchtigt. Die entstandenen Streitigkeiten seien ja zum Teil auch darauf zurückzuführen, daß der Vorwärts nidit rasdi genug Stellung nehme. Als Zentralorgan habe er die Pflicht, unparteiisch zu sein und alle Äußerungen des Parteilebens ohne Voreingenommenheit zu kommentieren. Das aber sei nicht im Sinne der Berliner Parteimitglieder. Diese selber ergriffen Partei und wünschten deshalb auch, daß der Vorwärts in allen Parteifragen klar und unzweideutig Stellung nehme. Das scheine nicht nur die Meinung der Berliner Sozialdemokraten, sondern auch die Auffassung des Parteivorstandes zu sein, denn der Vorwärts sei in verschiedenen Sitzungen aufgefordert worden, mehr „Salz" zu verwenden. Bereits auf dem Dresdner Parteitag von 1903 habe Bebel grundlegende Änderungen in der Redaktion angekündigt, und die Frudit dieser Ankündigung sei es dann gewesen, daß man Sitzungen abgehalten und sich die Wahrheit gesagt habe. Dabei sei es aber leider geblieben. Sie, die Berliner, seien der Uberzeugung, daß der Vorwärts ihnen gehöre. Sie hätten bis jetzt für die Gesamtpartei Opfer gebracht — sie würden sich künftig nicht mit minderen Rechten begnügen. Wels Schloß seine Rede mit den Worten: „Gebt uns, was unser ist!"101 In der Erwiderung bat Bebel zwar im Namen des Parteivorstandes, den Antrag abzulehnen, erklärte sich aber bereit, mit den Berliner Parteimitgliedern darüber zu beraten, wie der auch von ihm für unhaltbar angesehene Zustand in der Redaktion des Vorwärts am besten und schnellsten zu ändern sei.102 Der Vorstoß von Wels im Namen der Berliner Parteiorganisation auf dem Jenaer Parteitag muß als direktes Vorspiel zu jenen in den letzten drei Monaten des Jahres 1905 sich abspielenden Vorgängen angesehen 100 Vgl. £ S. 163. 101 102

Bernstein, Die Geschichte der Berliner Arbeiter-Bewegung...,

Vgl. Parteitagsprotokoll Jena 1905, S. 179 f. u. S. 191. Vgl. a.a.O., S. 187 f.

Bd. 3,

Preßkommission

des „Vorwärts"

und „.Vorwärts'-Konflikt"

(1901—1906)

21

werden, die in so sensationeller Form vor die Öffentlichkeit gebracht wurden und als „Vorwärts" -Konflikt" in die sozialdemokratische Parteigeschichte eingegangen sind. In der Redaktion des Vorwärts standen wegen ihrer politisch unterschiedlichen Auffassungen über Politik und Taktik der Partei die sechs Mitglieder P.Büttner, Kurt Eisner, Georg Gradnauer, Julius Kaliski, Wilhelm Schröder und Heinrich Wetzker auf ziemlich gespanntem Fuß zu den vier anderen Redakteuren Heinrich Cunow, Paul John, Karl Leid und Heinrich Ströbel. Vor allem die Beziehungen der vier politischen Redakteure Eisner und Gradnauer auf der einen und Cunow und Ströbel auf der anderen Seite hatten sich derartig zugespitzt, daß eine gute und kollegiale Zusammenarbeit kaum noch möglich war. Die Aufsichtsinstanzen der Partei mußten daher Abhilfe schaffen. Nadi dem Parteitag wurden deshalb zunächst einmal Beratungen zwischen dem Parteivorstand und den entscheidenden Gremien der Berliner Parteiorganisation abgehalten. Am 2. Oktober 1905 fand eine gemeinsame Sitzung statt, zu der die Preßkommission, die Vertrauensleute, die Vorsitzenden der acht Berliner Reichstagswahlkreise sowie die Agitationskommission für Berlin und die Provinz Brandenburg den Parteivorstand eingeladen hatten, um dessen Vorschläge zur Bereinigung der unerquicklichen Angelegenheit kennenzulernen. Der Parteivorstand erklärte, daß er noch keine Zeit gehabt habe, über dieses Thema zu beraten, und es fand daher ein vorläufiger Meinungsaustausch statt, bei dem von einigen Berlinern dem Parteivorstand der Vorwurf gemacht wurde, er wolle die Sache anscheinend auf die lange Bank schieben, statt seine Versprechungen einzulösen. Der Parteivorstand wies diese Vorwürfe zurück und vertröstete die Berliner auf eine Sitzung von Partei vorstand und Preßkommission am 6. Oktober, in der bestimmte Vorschläge vereinbart werden sollten. In dieser Sitzung schlug der Parteivorstand vor, zwei Mitglieder der Redaktionsmehrheit — Büttner und Kaliski — zu entlassen und dafür den als „Radikalen" bekannten Parteigenossen A. Fülle einzustellen, die Redaktionsmitarbeit des Reichstagsabgeordneten A. Stadthagen zu erweitern und Rosa Luxemburg als feste Mitarbeiterin für wöchentlich zwei Leitartikel anzustellen. Den zu kündigenden Redakteuren sollten andere Positionen verschafft werden, um jede wirtschaftliche Benachteiligung auszuschließen.103 ioj Vgl. E . Bernstein, Die Geschichte S. 164.

der Berliner

Arbeiter-Bewegung..Bd.

3,

22

l. Anfänge

und politische Entwicklung

bis 1918

Von der Preßkommission wurden diese Änderungen als unzureichend empfunden, sie erhob den Vorwurf, der Parteivorstand wolle es abermals bei Halbheiten bewenden lassen und die Berliner wieder „an der Nase herumführen". Das Mitglied der Preßkommission Friedländer meinte in einer späteren Sitzung, der Parteivorstand scheine der versprochenen Reform an Haupt und Gliedern ausweichen zu wollen, nur ein paar „Hühneraugen" sollten offensichtlich amputiert werden.104 Die Preßkommission schlug deshalb vor, außer Büttner zwei stärker an dem Konflikt beteiligten Mitgliedern der Redaktionsmehrheit — Georg Gradnauer und Heinrich Wetzker — zu kündigen. Der Parteivorstand konnte sich nicht sogleich dazu entschließen, und so kam es auf dieser Sitzung noch zu keiner Entscheidung. Der Wunsch der Redaktionsmehrheit, zu den Verhandlungen hinzugezogen zu werden, wurde in dieser Sitzung abgelehnt. Man beschloß, die Beratungen so lange auf die beteiligten Parteiinstanzen zu beschränken, bis diese eine Einigung hinsichtlich der Hauptpunkte der beabsichtigten Änderungen erzielt hätten. An diesem letzten Beschluß entzündete sich der Konflikt, denn ehe diese Vorbesprechungen noch abgeschlossen waren und zu einem greifbaren Ergebnis geführt hatten, forderte die Redaktionsmehrheit erneut, zu den Besprechungen hinzugezogen zu werden. Auf den ablehnenden Bescheid des Parteivorstandes und der beteiligten Berliner Parteigremien folgte ein gereizter schriftlicher Meinungsaustausch darüber, ob die Redakteure statutengemäß zu dieser Forderung berechtigt seien oder nicht. Währenddessen wurde vom Parteivorstand und den Berliner Parteiinstanzen am 20. Oktober der Beschluß gefaßt, der gesamten Redaktion zu kündigen und den Gekündigten freizustellen, sich um Wiedereinstellung zu bewerben. Parteivorstand und Berliner Parteiinstanz wollten sodann unter den Bewerbern ihre Auslese treffen. Den sechs Redakteuren der Redaktionsmehrheit wurde außerdem erneut bestätigt, daß ein statutarischer Anspruch, zu den Beratungen der beteiligten Parteigremien hinzugezogen zu werden, nicht bestehe; damit hätten sie sich vorläufig zu bescheiden. In der Erregung über diesen Bescheid reichten die sechs Redakteure am Abend des 21. Oktober kollektiv ihre Kündigung ein und machten diesen Schritt im politischen Teil der am folgenden Tag — einem Sonntag — erscheinenden Nummer des Vorwärts bekannt. Dieses taktisch unkluge Verhalten der sechs Redakteure steigerte die 104

Rede Wels' im 5. Reichstagswahlkreis über den Vorwäris-Konflikt, in:

wärts, Nr. 2 8 6 vom 7. 12. 1905, 2. Beilage, S. 2.

Vor-

Preßkommission

des „Vorwärts" und „.Vorwärts'-Konflikt"

(1901—1906)

23

gereizte Stimmung auf der Gegenseite, und daher war es nicht verwunderlich, daß der Parteivorstand und die Berliner Parteigremien am 23. Oktober in einer Vollsitzung nach längerer Debatte bei acht Gegenstimmen beschlossen, die Kündigung der Redakteure zu akzeptieren. Die sich an diese Entscheidung knüpfende Auseinandersetzung im Vorwärts hatte schließlich zum Resultat, daß Parteivorstand und Preßkommission am 28. Oktober den sechs Redakteuren die Mitteilung zugehen ließen, man verzichte ab sofort auf jede weitere Tätigkeit in der Redaktion und stelle das ihnen bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zustehende Gehalt sofort zur Verfügung. Diese Vorkommnisse erregten sowohl in der Berliner Parteiorganisation wie in der Gesamtpartei das größte Aufsehen und wurden lebhaft diskutiert, wobei sich das Urteil in der Partei gegen die entlassenen sechs Redakteure richtete. Die Tatsache, daß sie ihre Kollektivkündigung der Öffentlichkeit übergeben hatten, wurde als ein grober Verstoß gegen die Rücksichten betrachtet, die sie der Partei schuldeten, ja, sogar als ein schwerer Disziplinbruch, der die später gegen sie ergriffenen Maßnahmen rechtfertigte.105 Entgegen der allgemeinen Erwartung spielte der Vorwärts-Konflikt auf dem Mannheimer Parteitag von 1906 keine große Rolle. Dennoch hatte Wels auch hier den Vorwärts und seine Redaktion gegen Angriffe hauptsächlich von revisionistischer Seite zu verteidigen: „ . . . D a ß im ,Vorwärts' einmal grob zugehauen wird, darüber zu klagen, fällt uns nicht ein. Wir freuen uns, wenn wir mal einen recht kräftigen Artikel sehen. Es geht uns so wie Ihnen in der Provinz, die sich wohl entrüsten, wenn der ,Vorwärts' kräftig zuhaut, die aber ein Schmunzeln nicht unterdrücken können, wenn dem ,Vorwärts' in Ihren Blättern einmal gehörig übers Ohr gehauen wird. Wir haben uns nicht zu entrüsten über den Ton. Auf dem Münchener Parteitage hat Kautsky unter dem lebhaften Beifall der Parteigenossen ausgeführt, daß eine gewisse Greisen105 Vgl. zum Vorwärts-Kon&ikt: E. Bernstein, Die Geschichte der Berliner ArbeiterBewegung ..., Bd. 3, S. 163—166; Friedrich Stampfer, Erfahrungen und Erkenntnisse. Aufzeichnungen aus meinem Leben, Köln 1957, S. 109; Wilhelm Schröder, Handbuch der sozialdemokratischen Parteitage 1863—1909, Bd. 1, München 1910, S. 563 ff.; Franz Schade, Kurt Eisner und die bayerische Sozialdemokratie ( = Schriftenreihe der Forschungsstelle der Friedrich-Ebert-Stiftung. B), Hannover 1961, S. 28; Vorwärts, Nr. 251 vom 26.10.1905, S. 1; a.a.O., Nr. 255 vom 31.10.1905, S. 1; a.a.O., Nr. 258—261 vom 3. bis 7 . 1 1 . 1 9 0 5 ; a.a.O., Nr. 264 vom 10.11.1905; a. a. O., Nr. 266 vom 12.11.1905; a a. Ο., Nr. 273 vom 21. 11.1905; a. a. Ο., Nr. 292 vom 14.12. 1905 (Wels im 5. Berliner Reichstagswahlkreis).

24

I. Anfänge

und politische

Entwicklung

bis 1918

haftigkeit dazugehört, immer wieder über den Ton zu jammern. Als der Liberalismus nodi jung und lebenskräftig war, legte er auf den guten Ton wenig Wert, und da hatte er noch Anklang und Publikum. Wir sind die Partei des Klassenkampfes, die sich zusammensetzt aus den Tiefen des Volkes, und unser Organ muß in einer Sprache geschrieben sein, die das Volk versteht. Überfeinerte Sitten und verzuckerte Redensarten dringen nicht in das Herz des Volkes. (Lebhafter Beifall.) Man soll aussprechen, was auszusprechen ist. Die politische Arena ist kein Altjungfernspital, wo man jedes Wort auf die Goldwaage legen muß. Ich kann erklären, daß der .Vorwärts' gegenwärtig prinzipiell so redigiert wird, daß er voll und ganz der Uberzeugung der Berliner Parteigenossen entspricht. Daran wird auch nichts geändert, wenn irgendein Bäckerdutzend in der Provinz anderer Meinung ist. (Lebhafter Beifall.)"108 Dieser Diskussionsbeitrag von Wels in Mannheim fand nach dem Parteitag seine Erwiderung in einer ätzenden Polemik der Magdeburger Volksstimme: „Was macht die Güte einer sozialdemokratischen Zeitung aus? Die Sicherheit ihrer Berichterstattung, die Exaktheit in der Tagesführung, die Überlegenheit über die Gegner? Nein. Das alles und einiges mehr nicht, sondern die ,recht kräftigen Artikel'. Und was sind recht kräftige Artikel? Solche, in denen ,grob zugehauen' wird, und zwar auf Parteigenossen! Es ist der Vorsitzende der Berliner Preßkommission, der auf dem Parteitag diese Auffassung über die Aufgaben und Vorzüge des ,Vorwärts' zum besten gegeben hat. Der Genösse Wels kann ,ein Schmunzeln nicht unterdrücken', wenn der ,Vorwärts' ,kräftig zuhaut' auf die Klassen- und Kampfesbrüder in der Provinz. Er ist so frei, dieselbe Empfindung bei den Provinzlern vorauszusetzen, ,wenn dem „Vorwärts" in Ihren Blättern einmal gehörig übers Ohr gehauen wird'. Nach der Anschauung, die der Vorsitzende der Berliner Preßkommission hegt, besteht die Aufgabe der sozialdemokratischen Presse demnach in der Veranstaltung eines allgemeinen Geraufes. Das einmal als richtig unterstellt, muß zugegeben werden, daß der ,Vorwärts' in den letzten elf Monaten sich das Lob und die Anerkennung des Genossen Wels aus Berlin in reichem Maße verdient hat. Es ist schwerlich eine Nummer ins Land gegangen ohne ,recht kräftige Artikel' gegen Parteigenossen; Genösse Wels wird in dieser Zeit recht häufig sich vor Schmunzeln gewälzt haben. Ob die Parteigenossen in Ost und West, in Nord und Süd oder in ιοβ Vgl. Parteitagsprotokoll

Mannheim

1906, S. 204 f.

Preßkommission

des „Vorwärts" und .„Vorwärts'-Konflikt"

(1901—1906)

25

Berlin selbst hausten, sie wurden vom ,Vorwärts' gebeutelt und geschüttelt, gescholten und zurechtgewiesen, gehauen und beschimpft, sowie sie sich erlaubten, eine andere Auffassung zu vertreten oder die schwankende Haltung, die krausen Seitensprünge und die Stilblüten des ,Vorwärts' schwankende Haltung, krause Seitensprünge und Stilblüten zu nennen. Der Vorrat an Schimpfworten, der zu diesem brüderlichen Zwecke angesammelt worden ist, genügt den übertriebensten Ansprüchen. Nach dem Lob des Genossen Wels aus Berlin wird der ,Vorwärts' voraussichtlich nicht verfehlen, seine parteiretterische Tätigkeit in der Weise fortzusetzen, die bei seiner Preßkommission auf soviel Gegenliebe stößt. Zwar ist der ,Vorwärts' auch noch das Zentralorgan der Partei. Aber das ,Bäckerdutzend in der Provinz', will sagen im gesamten Deutschland, hat nichts zu sagen. So hat der Genösse Wels aus Berlin entschieden. Folglich ist es so. . . . Das ,Bäckerdutzend' — dies schöne und sprechende Wort stammt von dem Überberliner Wels — . . ."107 Diese und ähnliche Angriffe auf Wels wegen seiner Haltung im Vorwärts-Konflikt und später wegen seines leidenschaftlichen Eintretens für die vom Vorwärts und seiner neuen Redaktion zu den Problemen und der Politik der Partei geäußerten Auffassungen waren jedoch nicht geeignet, seine Position innerhalb der Berliner Parteiorganisation zu schwächen, da er sich bei seinem Vorgehen in diesen Fragen in voller Übereinstimmung mit den Wünschen und Interessen der Mehrheit der Berliner Parteimitglieder befand.108 Es ist im Gegenteil festzustellen, daß Wels' Stellung wesentlich stärker wurde, eine Entwicklung, die sich bereits Ende 1905 bei der Zusammenfassung der sechs Berliner und der beiden Vorortwahlkreise Teltow-Beeskow-Storkow-Charlottenburg und Niederbarnim zu einer einheitlichen zentralen Organisation, dem „Verband der sozialdemokratischen Wahlkreise Berlins und Umgegend", abzuzeichnen begann. Wels wurde hier bereits als Obmann der Preßkommission Mitglied des vierzehnköpfigen „Verwaltungs- und AktionsAusschusses", der die Funktionen des engeren Vorstandes ausübte.109 107 Zitiert nach Vorwärts, Nr. 231 vom 4.10.1906, 1. Beilage, S. 1. Der Artikel beschäftigt sidi mit dem Einfluß des Berlinertums auf den Parteivorstand und soll nicht Magdeburger Ursprungs sein. Siebe ebda. los vgl. dazu Mitteilungs-Blatt des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgegend (im folgenden zit. Mitteilungs-Blatt), l . J g . , Nr. 7 vom 11.7.1906, S. 3. 1 M Vgl. zur Reorganisation in Berlin E. Bernstein, Die Geschichte der Berliner

26

I. Anfänge und politische Entwicklung

bis 1918

Dieser Aufstieg innerhalb der Partei setzte sich im Juli 1907 mit der Wahl von Wels zum Sekretär der Agitationskommission für die Provinz Brandenburg fort, 110 einer Position, die ihm aufgrund seiner organisatorischen Begabung und seiner Vitalität erst den entscheidenden Durchbruch zur Führungsspitze der Partei ermöglichte. Parteisekretär für die Provinz

Brandenburg

Berlin und die Provinz Brandenburg Organisatorische Verbindungen zwischen Berlin und der Provinz Brandenburg bestanden bereits seit 1892, als auf der ersten größeren gemeinsamen Parteikonferenz beschlossen worden war, zur Unterstützung der Parteiarbeit in der Provinz Brandenburg einen gemeinsamen Agitationsbezirk mit einer aus sieben Mitgliedern bestehenden ständigen Agitationskommission zu bilden. Wie die jährlichen Provinzialkonferenzen zwischen 1892 und 1905 zeigten, bestand diese organisatorische Verbindung zwischen Berlin und der Provinz Brandenburg im wesentlichen in einer beträchtlichen finanziellen und personellen Unterstützung der achtzehn Provinzwahlkreise durch Berlin.111 Als im Parteistatut von 1905 die Bildung von Bezirksverbänden Arbeiter-Bewegung..., Bd. 3, S. 168 f.; Vorwärts, Nr. 227 vom 28. 9 . 1 9 0 5 ; a. a. O., Nr. 296 vom 1 9 . 1 2 . 1 9 0 5 ; a.a.O., Nr. 300 vom 23.12. 1905; Verband sozialdemokratischer Wahlvereine Berlins und Umgegend. Jahresbericht 1906, Berlin 1907, S. 92 ff.; Thomas Nipperdey, Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918 . .., S. 343. 110 Vgl. Mitteilungs-Blatt..., 2. Jg., Nr. 7 vom 10.7.1907, S. 4; Brief Otto Wels' an Wilhelm Dittmann vom 1.7.1907, Nadilaß Dittmann, Parteiardiiv der SPD, Bonn.

Das Büro des Brandenburger Provinzialsekretariats wurde am 15. 7. 1907 in der Lindenstraße 69 eröffnet (Mitteilungs-Blatt..., Nr. 8 vom 3 1 . 1 0 . 1 9 0 7 , S. 1). Wels war damit in unmittelbarer Nachbarschaft des Parteivorstandes, eine Tatsache von erheblicher Bedeutung. 111 Vgl. E. Bernstein, Die Geschichte der Berliner Arbeiter-Bewegung S. 131—134; Mitteilungs-Blatt..., 1. Jg., Nr. 9 vom 12. 9. 1906, S. 2.

. . ., Bd. 3,

Bei den Agitationsbezirken handelt es sich um eine geographische Einteilung, von denen es 1893 aditundvierzig gab, ohne besondere Institutionen. Vgl. Dietrich Bronder, Organisation und Führung der sozialistischen Arbeiterbewegung im Deutschen Reich. 1890—1914 [Maschinenschrift], Phil. Diss., Göttingen 1952, S. 67. Die Mitglieder der Agitationskommission wurden in den Berliner Reichstagswahlkreisen gewählt, und die Provinz war in ihr nicht vertreten.

Parteisekretär

für die Provinz

Brandenburg

27

festgelegt wurde,112 mußte auch das Verhältnis zwischen Berlin und der Provinz Brandenburg auf eine neue organisatorische Grundlage gestellt werden. Das Organisationsstatut des Verbandes der sozialdemokratischen Wahl vereine der Provinz Brandenburg vom September 1906 schuf zwischen Berlin und der Provinz ein förmliches Kartellverhältnis auf der Basis gemeinsamer Aktionen bei Reichs- und Landtagswahlen — Flugblattmassenverteilungen, Landesdemonstrationen, Proteste und Petitionen, gemeinsame Beratung und Beschlußfassung über außergewöhnliche Parteiunternehmungen wie Zeitungsgründungen und ähnliches. Die innere Gliederung sah drei Gremien vor: 1. die Provinzial-Parteikonferenz als die Vertretungskörperschaft der Mitglieder mit der Funktion einer Kontroll-, Wahl- und Legitimationsinstanz. Sie setzte sich neben den Abgeordneten, den Wahlkreiskandidaten, der Pressevertretung und dem Führungsorgan aus je drei Delegierten der achtzehn Provinzialwahlkreise zusammen. Außerdem waren die in den acht Wahlkreisen Groß-Berlins gewählten elf Mitglieder der Agitationskommission und die vierzehn Mitglieder des Aktionsausschusses stimmberechtigt. 2. einen Ausschuß als beratendes Gremium der Wahlkreisführer, der in Brandenburg als Vorstand bezeichnet wurde und sich aus je einem Delegierten der Wahlkreise, je einem Mitglied der Preßkommission der Märkisdoen Volksstimme, der Brandenburger Zeitung und der Fackel sowie der Agitationskommission für die Provinz Brandenburg einschließlich ihres juristischen Beirats zusammensetzte. 3. der Vorstand als permanent leitendes und verantwortliches Organ — in Brandenburg geschäftsführender Ausschuß genannt — wurde durdi das beratende Gremium gewählt und leitete gemeinsam mit der Agitationskommission die Geschäfte. Er tagte monatlich mindestens einmal. Aufgrund der direkten Vertretung der nur durch die Berliner Parteimitglieder gewählten Agitationskommission sowohl in dem beratenden ii2 Vgl. W. Schröder, Geschichte der sozialdemokratischen Parteiorganisation,. S. 81 ff.; F. Bieligk, Die Organisation im Klassenkamp}..., S. 70 ff. Die Bezirksverbände sollten die Aktivität der Partei zusammenfassen und fördern und die Zusammenarbeit der Wahlkreisorganisationen sichern. Das Parteistatut billigte ihnen die selbständige Führung der Parteigeschäfte zu und gab ihnen außerdem das Recht, die Mitgliedsbeiträge festzulegen. Weiterhin verfügten sie spätestens seit 1909 in erster Instanz über Parteiausschlüsse. Vgl. Th. Nipperdey, Die Organisation der deutschen Parteien . . S. 341.

I. Anfänge

28

und politische Entwicklung

bis 1918

Gremium als auch im Vorstand, der Wahl des Vorstandes durch das beratende Organ, wurde Berlin proportional einigermaßen angemessen berücksichtigt.113 Zur Bewältigung der zahlreichen Aufgaben, die sich allein schon aus der Zentralisierung und Bürokratisierung von Organisation und Propaganda ergaben, wurde früher oder später die Anstellung eines oder zweier Parteisekretäre notwendig.114 Der Einfluß der Bezirksvorstände und damit des Bezirkssekretariats ging in den meisten Fällen über deren statutarische Aufgaben weit hinaus. Wichtiger als die Resolutionen zu innerparteilichen Streitfragen, die in der einen oder anderen Richtung Stellung nahmen und als Ausdruck der politischen Haltung der Parteiprovinz bei der zentralen Parteiführung Beachtung fanden, war der Einfluß der Bezirkszentrale auf die Wahlkreisvereine ihrer Bezirke. Routinemäßig wurde von ihr der Organisations- und Agitationsbetrieb der Vereine überwacht, die regelmäßig und ausführlich Bericht erstatteten und Mitgliedsbeiträge abrechnen mußten. Sie plante propagandistische Kampagnen und führte sie durch, gab Agitations- und politisches Schulungsmaterial heraus, vermittelte Redner und intensivierte die Parteiarbeit in den schwächer organisierten Wahlkreisen des Bezirks. Außerdem führte sie eine Art von Finanzausgleich zugunsten der finanziell schwachen Organisationen durch oder unterstützte diese direkt aus der Bezirkskasse. Uber wichtigere Fragen in den Wahlkreisen hatten diese die Bezirksinstanzen zu konsultieren. Auch wurden für manche Son der gebiete, wie zum Beispiel die Landarbeiteragitation, Sonderausschüsse auf Bezirksebene errichtet, die auch für die Wahlkreise des Bezirks maßgebend und zuständig waren. 113 Yg]

z u m

Organisationsstatut

der Provinz Brandenburg

vom 4. 9. 1906, 2. Beilage, S. 2 ; Mitteilungs-Blatt S. 2; Th. Nipperdey, Die Organisation

Vorwärts,

N r . 205

. . ., 1. Jg., N r . 9 vom 12. 9. 1906,

der deutschen

Parteien . . . , S. 3 4 2 f. Dem ge-

schäftsführenden Ausschuß gehörten fünf Mitglieder — Faber/Frankfurt/Oder; Schadow/Cottbus;

Krasemann/Neu-Ruppin;

an. Vgl. Mitteilungs-Blatt..., 114

Sidow/Brandenburg

und

Paris/Velten



1. Jg., N r . 12 vom 1 2 . 1 2 . 1 9 0 6 , S. 2.

Nach der Eröffnung des Brandenburgisdien Provinzialsekretariats am 15. Juli

1907 in Berlin mit Otto Wels als Sekretär wurde bereits auf der Parteikonferenz für Berlin und die Provinz Brandenburg am 30. 8 . 1 9 0 8 die Anstellung eines zweiten Sekretärs beschlossen. Vgl. Mitteilungs-Blatt..3.

Jg., N r . 9 vom 9. 9 . 1 9 0 8 , S. 8, und Vorwärts,

N r . 204

vom 1 . 9 . 1 9 0 8 , 2. Beilage, S. 1 f. Als 2. Sekretär wurde Richard Schmidt aus Velten vom Berliner Zentralvorstand gewählt und trat ab 1. Dezember 1908 sein Amt an. Vgl. Mitteilungs-Blatt...,

3. Jg., N r . 12 vom 9. 1 2 . 1 9 0 8 , S. 8.

Parteisekretär für die Provinz

Brandenburg

29

Aufgrund dieser weitgespannten Skala von Einflußmöglichkeiten konnte die Bezirksleitung und damit das Bezirkssekretariat weitestgehend die Propaganda dirigieren und die politische Tendenz der Organisationen mitprägen, gewisse politische Richtungen begünstigen und Akzente setzen. Auch auf die Delegation zum Parteitag wirkte die Bezirksleitung bis zu einem gewissen Grade ein, indem sie dafür sorgte, daß auch die schwachen Organisationen den Parteitag beschickten. Wichtig war auch ihr Recht zur Mitwirkung bei der Kandidatenaufstellung, wo sie in den meisten Fällen einen maßgeblichen Einfluß hatte. Wesentlich war das Recht der Kontrolle der parteigenössischen Presseorgane, von deren Haltung die Einstellung der Mitgliederschaft sehr stark abhing.115 Wels als Parteisekretär Der Schwerpunkt der Tätigkeit von Wels als Parteisekretär für die Provinz Brandenburg lag dieser Sachlage entsprechend auf organisatorischem und agitatorischem Gebiet. Schon wenige Wochen nach seiner Anstellung als Parteisekretär wurde auf seine Initiative hin die Grundlage für eine einheitliche straffe Parteiorganisation in der Provinz Brandenburg geschaffen. Agitationskommission und Provinzialausschuß beschäftigten sich bereits im Oktober 1907 mit der Ausarbeitung eines Normalstatuts für die achtzehn Wahlvereine der Provinz. Kernpunkt des Statutenentwurfs war die Einführung eines einheitlichen Parteibeitrages. Der Verband, der bisher ohne eigene Einnahmen war und nur von den Zuschüssen Groß-Berlins lebte, bekam dadurch, daß alle Beitragsmarken durch die mit dem Provinzial-Sekretariat verbundene Verbandskasse bezogen werden mußten, bei der auch 16 2 /3% der Beiträge verblieben, erstmals eigene Einkünfte. Damit wurde für den Provinzialverband der wichtigste Schritt zur finanziellen Unabhängigkeit von Berlin gemacht.116 Eine weitere Maßnahme von weitreichender organisatorischer Bedeutung für die Partei war die Errichtung von sogenannten „ArbeiterJi5 Vgl. Th. Nipperdey, Die Organisation der deutschen Parteien ...,

S. 347—349.

" · Vgl. Mitteilungs-Blatt..., 2. Jg., Nr. 11 vom 9 . 1 0 . 1 9 0 7 , S. 5; a. a. O., 3. Jg., Nr. 8 vom 12. 8.1908, S. 4 f. Auf der Provinzial-Konferenz vom 30. 8.1908 wurde nach dem Bericht von Wels dieses Statut verabsdiiedet und trat ab 1 . 1 . 1 9 0 9 in Kraft. Vgl. a.a.O., 3. Jg., Nr. 9 vom 9 . 9 . 1 9 0 8 , S. 8; Vorwärts, Nr. 204 vom 1 . 9 . 1908, 2. Beilage, S. 1 f.

I. Anfänge und politische Entwicklung

30

bis 1918

Sekretariaten" in fast allen größeren Städten der Provinz. Vorbedingung für eine gedeihliche Entwicklung dieser Sekretariate war eine gute Zusammenarbeit insbesondere zwischen den einzelnen Wahlvereinsvorständen und den Gewerkschaftskartellen.117 Wels kam schon bald mit den Vertretern der Gewerkschaften zu festen Absprachen über eine enge Zusammenarbeit bei allen Wahlen.118 So war es durchaus keine Ubertreibung, wenn wenige Monate nach Wels' Ernennung zum Parteisekretär für die Provinz Brandenburg auf der Provinzialkonferenz vom 30. August 1908 ein Delegierter die Feststellung traf, daß die Tätigkeit des neugegründeten Sekretariats auf die Agitation und Organisation der Partei in der Provinz außerordentlich belebend gewirkt habe.119 Mit der Anstellung Richard Schmidts als 2. Sekretär für die Provinz Brandenburg im Dezember 1908 wuchs der Einfluß des Brandenburgischen Provinzialsekretariats und seines 1. Sekretärs, da jetzt zusätzlich noch die Redaktion und der Vertrieb des von Otto Wels herausgegebenen Volkskalenders Märkischer Landbote und der vierzehntägig für die Landagitation erscheinenden Fackel vom Sekretariat übernommen wurden. Wels wurde zudem von einer Reihe von Routinearbeiten befreit und konnte sich mehr als bisher seinen organisatorischen und politischen Aufgaben widmen.120 117

Vgl. ebda, und Mitteilungsblatt . . ., 3. Jg., Nr. 3 vom 11. 3. 1908, S. 6; a. a. O., 4. Jg., Nr. 9 vom 8. 9. 1909, S. 2 f. 118 Vgl. a. a. O., 3. Jg., Nr. 4 vom 8. 4. 1908, S. 12 f., und a. a. O., 4. Jg., Nr. 9 vom 8. 9.1909, S. 2 f.; a. a. O., 4. Jg., Nr. 12 vom 8.12. 1909, S. 5 f. lie Vgl. Vorwärts, N r . 204 vom 1.9.1908, 2. Beilage, S. 1. Bereits im Januar 1908 war Wels von einem Mitglied der Agitationskommission bescheinigt worden, daß er eine tüchtige Kraft sei. Vgl. a. a. O., Nr. 25 vom 30.1. 1908, 2. Beilage, S. 1. 120 Vgl. Jig Begründung für die Einstellung Schmidts im Mitteilungs-Blatt. . ., 3. Jg., Nr. 38 vom 12. 8. 1908, S. 4 f. Der Märkische Landbote wurde 1907 in einer Auflage von 320 000 und die Fackel mit 300 000 Stück verbreitet. Siehe Vorwärts, Nr. 204 vom 1. 9. 1908, 2. Beilage, S. 1. Von 1907 bis 1912 stieg in der Provinz Brandenburg die Zahl der Ortsvereine von 128 auf 202 und die Zahl der Parteimitglieder von 17 312 auf 29 086. Im Jahre 1914 hatte die Provinz Brandenburg dann bereits 34 783 Mitglieder; ihre Zahl hatte sich also in sieben Jahren verdoppelt. Audi bei den Gemeindewahltn, den Wahlen zum preußischen Landtag und zum Reichstag konnte die Partei in der Provinz Brandenburg seit dem Amtsantritt von Wels wichtige Erfolge erzielen. Vgl. Parteitagsprotokoll Essen 1907, S. 13; a.a.O., Nürnberg 1908, S. 21; a.a.O., Leipzig 1909, S. 19; a.a.O., Magdeburg 1910, S. 19; a.a.O., Jena 1911, S. 70; a.a.O., Chemnitz 1912, S. 68/69; a.a.O., Weimar 1919, S. 54.

Parteisekretär

für die Provinz

31

Brandenburg

Emil Unger, vor dem Ersten Weltkrieg jahrelang Lokal-Berichterstatter für den Vorwärts, fällte aus intimer Kenntnis folgendes Urteil über den Anteil von Wels an diesen Erfolgen: „Als Versammlungsreferent trat e r . . . weniger hervor, sein Feld war die Organisation der Wahlkreise, und als Organisator leistete er . . . Gewaltiges. Vornehmlich in Wahlkämpfen vollbrachte er eine Löwenarbeit. Mit einer unverwüstlichen Kraft ausgestattet, trotzte er allen Strapazen, die ein soldier Wahlkampf — besonders im Winter — mit sich bringt. Die Wahlpropaganda beherrschte er aus dem ff, und wo er die Wahlkampagne leitete, klappte es audi. In Frankfurt a. O. will ihm eines Abends zur anberaumten Stunde ein widerspenstiger oder eingeschüchterter Saalinhaber den Eingang versperren. Das Lokal ist aber für den Abend gemietet. Wels holt kurz entschlossen den Gerichtsvollzieher hinter der warmen Ofenbank hervor, nimmt sich einen Schlosser und läßt den Saal aufbrechen. Die Versammlung findet unter ungeheurem Andränge statt." 121 Wels gelang es weitgehend, die zwischen den Parteimitgliedern der Provinz und Berlins bestehenden Spannungen, die noch aus der Zeit der absoluten Vormachtstellung Berlins vor 1906 herrührten, als die Hilfe der Berliner für die Provinz oft als eine Bevormundung empfunden worden war, abzubauen und das organisatorische und politische Gewicht Berlins und der Provinz Brandenburg bei den innerparteilichen Diskussionen voll und einheitlich zur Geltung zu bringen.122 Zum Ergebnis der Reidistagswahlen in der Provinz Brandenburg von 1890 bis 1912 vgl. Vorwärts,

N r . 4 9 vom 2 8 . 2 . 1 9 1 2 , 1. Beilage, S. 1. Zur Reichstagswahl von 1912

und der Situation in den achtzehn Provinzwahlkreisen siehe a. a. O., N r . 2 8 8 / 2 8 9 vom 9./10. 12. 1911, S. 1, u. a. a. O., N r . 22 vom 27. 1. 1912. Von den achtzehn Provinzwahlkreisen konnten 1912 fünf von der SPD erobert werden, Potsdam-Osthavelland durch Karl

Liebknecht, Westhavelland

durch Heinrich

Peus,

Kottbus-Spremberg

durch Karl Giebel, Sorau-Forst durch Oswald Schumann und Kalau-Luckau durch Otto Wels. Zur Landtagswahl von 1908 siehe a.a.O.,

N r . 139 vom 1 7 . 6 . 1 9 0 8 , S. 1. Wels

kandidierte im Wahlkreis Rixdorf-Schöneberg und unterlag in der Stichwahl nur außerordentlich knapp seinem freisinnigen Gegenkandidaten Reinbacher. Zu den Erfolgen bei den Gemeindewahlen vgl. a. a. O., N r . 84 vom 8. 4. 1908, S. 4, und a. a. O., N r . 90 vom 15. 8 . 1 9 0 8 , 1. Beilage, S. 3. 121

Vgl. E. Unger, Politische Köpfe ...,

122

Zu den Spannungen zwischen Berlin und den Provinzwahlkreisen vgl.

lungs-Blatt

....

1. Jg., N r . 8 vom

12. 9. 1906, S. 2 ; Vorwärts,

S. 61 f.

8. 8 . 1 9 0 6 ,

S. 1 — 4 ; α. α. Ο.,

1. Jg., N r . 9

Mitteivom

N r . 205 vom 4. 9. 1906, S. 2.

Auf der Provinzial-Konferenz von 1908 berichtete Wels von Angriffen revisio-

I. Anfänge und politische Entwicklung bis 1918

32

W i e die Provinzialkonferenzen für die Provinz Brandenburg und Berlin, die Generalversammlungen des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgebung, die Berichte von den Sitzungen des Berliner Zentralvorstandes und der Agitationskommission in der Zeit von 1 9 0 7 bis 1912 zeigen, w a r O t t o Wels, gestützt auf seine Position im 5. Berliner Reichstagswahlkreis, als Obmann der Preßkommission des Vorwärts

und Mitglied des vierzehnköpfigen engeren V o r -

standes der Berliner Partei, Mitglied der preußischen Landeskommission und in seiner Stellung als erster Sekretär der Agitationskommission für die P r o v i n z Brandenburg und damit als Mitglied des fünfköpfigen Brandenburger Parteivorstandes die beherrschende Erscheinung in der Organisation der Berlin-Brandenburgischen Partei. 1 2 3 D a s wurde schlagartig bei den Auseinandersetzungen zwischen Wels, Ledebour und dem linken Flügel der Partei auf und nach dem Jenaer Parteitag von 1911 deutlich, einer Auseinandersetzung, die einen nachhaltigen Widerhall in der Berlin-Brandenburgischen Sozialdemokratie fand, 1 9 1 2 zur Auflösung des Kartellverhältnisses zwischen Berlin und der P r o v i n z Brandenburg führte und die Machtposition Wels' und damit des Parteizentrums sowie des Parteivorstandes erheblich schwächte. 124 nistischer Parteiblätter gegen die Brandenburger wegen angeblich allzu starker Beschickung des Parteitags. Wie aus diesen Angriffen und der Erwiderung von Wels zu ersehen ist, schöpften die Provinz-Wahlkreise ihr Delegationsrecht für die Parteitage, das sie früher aus finanziellen Gründen nur teilweise ausgeübt hatten, jetzt voll aus. IM Vgl. zu den Provinzial-Konferenzen Vorwärts, Nr. 205 vom 3. 9. 1907, 2. Beilage, S. 1—3; a.a.O., Nr. 204 vom 1.9.1908, 2. Beilage, S. 1 u. 2; Mitteilungsblatt ..., 4. Jg., Nr. 9 vom 8.9.1909, S. 2 f., Vorwärts, Nr. 214 vom 13. 9. 1910, 1. Beilage, S. 1 f.; a. a. O., Nr. 201 vom 29. 8.1911, 1. Beilage, S. 2 f.; a. a. O., Nr. 151 vom 2. 7. 1912, 1. Beilage, S. 2. Zu den Generalversammlungen der Berliner Partei, den Zentralvorstandssitzungen und den Sitzungen der Agitationskommission vgl. Mitteilungs-Blatt..., 2 . - 7 . Jg., 1907—1912. Zur Wahl Wels' in die preußische Landeskommission siehe Mitteilungs-Blatt..., 3. Jg., Nr. 1 vom 8.1. 1908, S. 3. Die mit nur unerheblichen Funktionen ausgestattete preußische Landesorganisation hatte einen Parteitag mit einer Vertretung der Organisationen proportional der Mitgliederstärke, eine nur selten tagende Landeskommission aus Delegierten der Provinzialverbände und einen geschäftsführenden Ausschuß, in dem die Berliner das wesentliche Element darstellten. Vgl. Carl E. Schorske, German Social Democracy 1905—1917. The Development of the Great Schism ( = Harvard Historical Studies, vol. 65), Cambridge/Mass. 1955, S.176f.; Th. Nipperdey, Die Organisation der deutschen Parteien ..., S. 343, Anm. 3. 124

Vgl. unten S. 34—42.

Zerfall des radikalen Flügels der Partei und neue Linke

Zerfall des radikalen Flügels der Partei und mit der neuen Linken

33

Auseinandersetzung

Diskussion mit Arthur Stadthagen um die Budgetbewilligung der badischen Landtagsfraktion von 1910 Als direktes Vorspiel zum Bruch von Wels mit der Parteilinken muß seine Auseinandersetzung vor und nach dem Magdeburger Parteitag von 1910 mit Arthur Stadthagen, dem Reichstagsabgeordneten des Berliner Vorortwahlkreises Niederbarnim, der „als Cherubin mit flammendem Schwert vor dem Garten des Radikalismus stand",125 angesehen werden. Die Diskussion zwischen den beiden Parteiführern entzündete sich an der erneuten Budgetbewilligung der badischen Landtagsfraktion am 14. Juli 1910, die von der Berliner Parteimitgliederschaft allgemein als Disziplinbruch und als Verstoß gegen die Grundsätze der Partei betrachtet wurde, so auch von Stadthagen und Wels. Vor dem Parteitag hatte der Berliner Zentralvorstand seinen einzelnen Wahlkreisen eine Resolution zur Annahme empfohlen, die das Vorgehen der badischen Parteimitglieder zwar verurteilte, nach Ansicht von Stadthagen aber nicht scharf und entschieden genug war, so daß sie in dessen Wahlkreis abgelehnt wurde und er deshalb in dieser Frage eine eigene Resolution einbrachte. Wels beschäftigte sich vor dem Parteitag im 5. Reichstagswahlkreis auch mit den Diskussionen früherer Parteitage über diese Frage und vertrat die Auffassung, daß in dieser Sache von Anfang an keine klare Entscheidung gefällt worden sei. Die Schuld daran, daß von 1894 bis 1901 keine klare Stellungnahme zu diesem Problem zustande gekommen sei, trage zum großen Teil audi Stadthagen, der auf dem Frankfurter Parteitag von 1894 durdi seinen Zusatzantrag die Resolution Bebels verwässert und der dazu beigetragen habe, daß alle Resolutionen zur Budgetfrage abgelehnt worden seien. Die Resolution des Berliner Zentralvorstandes sage darum auch nicht mit aller Schärfe, daß die badischen Genossen unfähig seien, Vertrauensämter in der Partei zu bekleiden. Sie lasse dem Parteitag freie Hand, gegebenenfalls schärfere Mittel anzuwenden, weil, wie Wels meinte, eine Spaltung der Partei nie so nahe gerückt sei wie in dieser Situation. Wenn es zum Bruch komme, wolle er außerdem vermeiden, daß den Marxisten — uns —, die auf dem linken Flügel der Partei stehen, die Schuld dafür zugescho120

3

Vgl. E. Unger, Politische Köpfe ...,S.

Adolph

61.

34

I. Anfänge und politische Entwicklung bis 1918

ben werde, den Badensern Bundesgenossen zugeführt zu haben, die sonst nicht zu ihnen stünden.12® Wels wollte also nicht nur eine Parteispaltung, sondern auch die Herausbildung eines neuen profilierten linken Flügels und damit die Spaltung der alten „Radikalen" verhindern. Auf dem Parteitag von Magdeburg waren es dann auch die Vertreter des sich langsam klarer abgrenzenden linken Parteiflügels, wie Rosa Luxemburg, Stadthagen und andere, die die schärfsten Töne gegen die Badenser anschlugen.127 Nach dem Parteitag setzte sich Stadthagen scharf gegen die Behauptungen Wels' zur Wehr, er habe 1894 der Budgetbewilligung durch seinen Zusatzantrag Vorschub geleistet, und bezichtigte Wels der Legendenbildung.128 Wels blieb Stadthagen in dieser Auseinandersetzung nichts schuldig, widerlegte dessen nicht sehr überzeugende Argumente und hielt ihm ein Zitat von Bebel vor, in dem dieser Stadthagen als „unkorrigierbar" bezeichnete. Wenn Stadthagen ihn, Wels, einen Legendenbildner nenne, so zeige das, wie er mit den Tatsachen umspringe. Stadthagen sei eben unverbesserlich.12" Der Jenaer Parteitag von 1911 und die Auseinandersetzung mit Georg Ledebour Hatte sich Wels mit seinem Angriff auf Stadthagen schon die Sympathien eines Teils seiner alten „radikalen" Freunde verscherzt, mit denen er politisch mehr als zwei Jahrzehnte lang eng verbunden gewesen war, so sollte er sich wenige Monate später mit seinen Stellungnahmen vor und auch auf dem Jenaer Parteitag von 1911 die geschlossene Gegnerschaft des sich formierenden linken Parteiflügels zuziehen. Diese Auseinandersetzungen machten schlagartig den bei den Diskussionen um die Budgetbewilligung und den Differenzen um praktische politische Fragen sich abzeichnenden Zerfall des alten radikalen Flügels der Partei, die Herausbildung des sogenannten „marxistischen Zentrums" und eines neuen, profilierten linken Flügels deutlich. Auf dem Magdeburger Parteitag von 1910 hatten sowohl die Revisionisten als audi die Radikalen gesonderte Sitzung abgehalten, auf deΐ2β Vgl. Vorwärts, N r . 174 vom 28. 7.1910, 2. Beilage, S. 2 f. 127

Vgl. a. a. O., Nr. 221 vom 21. 9.1910, S. 1, und Parteitagsprotokoll 1910, S. 304—307, 341. Wels selbst griff auf diesem Parteitag nicht in die Diskussion ein. 188 Vgl. Vorwärts, N r . 232 vom 4.10.1910, 1. Beilage, S. 1. "» Vgl. a. a. O., Nr. 234 vom 6. 10.1910, 1. Beilage, S. 2.

Magdeburg

Zerfall des radikalen Flügels der Partei und neue

Linke

35

nen sie die auf dem Parteitag zur Diskussion stehenden Fragen vorbesprachen, um dann im Plenum des Parteitags bei den Diskussionen wie bei den Abstimmungen einheitlich und geschlossen zu operieren.130 Auf dem Magdeburger Parteitag hatten die Radikalen einen Ausschuß — den sogenannten „Wohlfahrtsausschuß" — eingesetzt, der die Aufgabe hatte, Zusammenkünfte der Linken einzuberufen, falls diese der Sachlage nach notwendig zu sein schienen. Am Sonntag, dem 10. September, vormittags, trat der in Magdeburg gebildete „Wohlfahrtsausschuß" zusammen. Er zog Wels als Vertreter Brandenburgs und Leo Liepmann als Vertreter Berlins hinzu und beschloß, am Abend desselben Tages eine Zusammenkunft des linken Flügels der Partei zu arrangieren, zu der auch die Berlin-Brandenburgische Delegation eingeladen war. Wels und Liepmann vertraten bei dieser Vorbesprechung am Vormittag die Auffassung, daß nur ihre Auftraggeber — also die Berlin-Brandenburger Delegierten —, nicht aber sie allein, über eine solche Beteiligung zu bestimmen hätten. Sie seien zwar von ihrer Gesamtdelegation beauftragt, deren Zusammenkunft vor dem Parteitag vorzubereiten, nicht aber berechtigt, einen Teil der Landsmannschaft zu Zusammenkünften zu dirigieren, von denen ein anderer Teil ausgeschlossen werden solle. Eine Zusammenkunft ihrer Delegation sofort herbeizuführen, sei ihnen unmöglich, da ein Teil ihrer Delegierten erst nachmittags in Jena eintreffen werde. Trotz dieser Einwendungen von Wels und Liepmann fand die Zusammenkunft der Linken am Abend des gleichen Tages statt. In Ubereinstimmung mit Leo Liepmann, Eugen Ernst und einigen anderen an der Zusammenkunft teilnehmenden Berlin-Brandenburger Delegierten gab Wels dann die Erklärung ab, daß sie sich an der Neubildung des „Wohlfahrtsausschusses" so lange nicht beteiligen könnten, bis sie ihre Delegation befragt hätten, ob diese die besonderen Zusammenkünfte der Linken überhaupt noch für notwendig halte. Von Ledebour wurde ihm daraufhin der Vorwurf gemacht, daß das Fernblei180 Zum Problem der Sonderkonferenzen vgl. Parteitagsprotokolle Chemnitz 1912, S. 380—393, und die aufschlußreidie Rede Bebels, a.a.O., S. 391—393; Die Sonderkonferenz der Linken in Magdeburg beschreibt Wilhelm Dittmann, Lebenserinnerungen. Maschinenschriftliches Manuskript, unveröffentlicht, IISG Amsterdam, S. 274 (von Georg Kotowski für die Veröffentlichung vorbereitet).

Bei den Sonderkonferenzen der Revisionisten scheint es sich offenbar nur um landsmannschaftliche Besprechungen gehandelt zu haben. Vgl. die Erklärung Bernsteins in Vorwärts, N r . 230 vom 1 . 1 0 . 1 9 1 1 , 1. Beilage, S. 2. 3*

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I. Anfänge

und politische Entwicklung

bis 1918

ben der Berlin-Brandenburger von der Sitzung die Stoßkraft des linken Flügels schwächen solle. Dieser Vorwurf wurde von den anwesenden Berlin-Brandenburger Delegierten zurückgewiesen; es wurde erneut auf die fehlende Legitimation durch ihre Gesamtdelegation verwiesen. In der anschließenden Diskussion, die sich auch mit den bevorstehenden Vorstandswahlen und den politischen Fähigkeiten der abwesenden Parteivorstandsmitglieder befaßte und in der Ledebour einer der Hauptredner war, gaben Eugen Ernst und Wels die Erklärung ab, daß sie sich an der Diskussion nicht beteiligen könnten, da ihre Delegation auch hierüber noch keine Entscheidung gefällt habe. Auf der am nächsten Tage stattfindenden Zusammenkunft der Berlin-Brandenburger Delegation wurde das Verhalten von Wels, Liepmann und Ernst einstimmig gebilligt und der Besdiluß gefaßt, sich an den geschlossenen Sitzungen der Linken nicht mehr zu beteiligen. Ernst und Wels wurden beauftragt, der Sitzung der Linken die Entscheidung ihrer Delegation mitzuteilen. Mit diesem Entschluß hatte die Linke auf dem Parteitag keine Mehrheit mehr, und eine der wichtigsten Vorentscheidungen des Parteitages war damit praktisch gefallen.131 Wels kam auf dem Parteitag dem Parteivorstand, der hauptsächlich wegen seiner aus wahltaktischen Gründen in der zweiten Marokkokrise geübten anfänglichen Zurückhaltung von der Linken angegriffen wurde, mit einem zwar außerordentlich scharfen, aber vor Temperament und Witz sprühenden Diskussionsbeitrag zu Hilfe. Zunächst nahm er den Parteivorstand gegen die Behauptung von Lensch in Schutz, er wolle die Kritik unterbinden. Er, Wels, habe die Ausführungen des Parteivorstandes lediglich so verstanden, daß der Parteivorstand bestrebt sei, den Krakeel in der Partei, der von gewisser Seite immer wieder angefangen werde, vielleicht aus Originalitätssucht, vielleicht audi aus anderen Gründen, zu verhindern. Dafür verdiene der Vorstand nicht Tadel, sondern Unterstützung und Anerkennung des ganzen Parteitages. Dann beschäftigte er sich eingehend mit der Kritik der Linken an der Haltung des Parteivorstandes in der zweiten Marokkokrise und führte aus: „.. .Wenn wir uns heute die politische Situation betrachten und die Kritik, die von Ledebour, Luxemburg und Zetkin an dem Parteivorstand geübt worden ist, dann müssen wir sagen, daß diese Kritik grundfalsch ist und ganz gegen die Grundsätze aller Kritik verlsi Vgl. dazu kreis, Vorwärts, Wels, Liepmann und 2, sowie die

den Bericht Wels* über den Parteitag im 5. Berliner-ReidistagswahlNr. 227 vom 28.9.1911, 1. Beilage, S. 3, und die Erklärungen von und Eugen Ernst a.a.O., Nr. 230 vom 1.10.1911, 1. Beilage, S. 1 Erklärung von Wels gegen die Behauptungen Ledebours, ebda.

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stößt. Gewöhnlich übt man am sachkundigsten Kritik, wenn man das zu Kritisierende abgeschlossen vor sich hat. Es sind heute vier Wochen sich jetzt, daß der Parteivorstand alle die Dinge damals als richtig aufsich jetzet, daß der Parteivorstand alle die Dinge damals als richtig aufgefaßt hat, daß er vor allem die Agitation einsetzen und wirken ließ, die das Land in diesen Tagen in Leidenschaft brachte und die Bewegung über das ganze Land erstreckte. Diese Art der Agitation war die einzig richtige für (die) Durchsetzung der Friedensliebe im deutschen Volke. (Bravo!) Nach der Art und Weise, in der immer von der bestimmten Stelle (Heiterkeit) Kritik geübt wird, an allem, was geschieht (erneute Heiterkeit), macht diese Kritik auf mich absolut keinen Eindruck mehr. Ob Genossin Luxemburg oder Genösse Ledebour mit etwas einverstanden sind oder nicht, das ist mir schon längst ganz egal. (Stürmische Heiterkeit.) Wie war es denn mit dem ungezügelten Tätigkeitsdrang Ledebours in der Marokkofrage? Wir in Berlin, die doch so eng beisammen sind, wir hätten doch Gelegenheit gehabt, von Ihnen vorwärts geschoben zu werden. (Heiterkeit.) Wir haben aber nichts davon gespürt. (Schallendes Gelächter.) Als die Marokkokrise einsetzte, da haben wir, ehe wir zu großen Demonstrationen sdiritten — daß wir die audi machen können, haben wir wohl zur Zufriedenheit der ganzen deutschen Arbeiterschaft bewiesen! (Sehr wahr!) — da haben wir uns an Ledebour mit der Aufforderung gewandt, einer Manifestation von Organisations wegen den Schwung nach vorwärts zu geben. Er sollte auf der Verbands-Generalversammlung von Groß-Berlin das Referat übernehmen. Darauf erhielten wir von ihm folgende aus der Erinnerung wiedergegebene schriftliche Antwort: ,Ich kann das Referat nur unter der Bedingung übernehmen, daß ich an den Maßnahmen des Parteivorstandes Kritik üben kann. (Lachen.) Da Sie aber das voraussichtlich nidit wollen, schlage ich Ihnen den Genossen Däumig vor, der die Verhältnisse kennt.' (Rufe: Aha! und Bewegung.) Als Ledebour heute hier die Fahne der Empörung erhob und Ihnen klarmachen wollte, daß durch die Versäumnisse des Parteivorstandes das Ansehen der deutschen Sozialdemokratie vor dem Auslande empfindlichst geschädigt sei, da mußte ich mir so vergegenwärtigen, daß das der Mann ist, der in Berlin nur dann über Marokko sprechen wollte, wenn er den deutschen Parteivorstand herunterholen kann. (Große Heiterkeit, Hört! hört! und Bewegung.) Die ganze Art der Kritik, wie sie da geübt wird, führt naturgemäß dazu, daß man ihr in der Partei immer weniger Gewicht beimißt. (Sehr richtig!) Ich lese da zum Beispiel in dem Begrüßungsartikel der ,Leipziger Volkszeitung', wie die Leute, denen wir

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die wissenschaftliche Führung der Proletariermassen fast der ganzen Welt zu verdanken haben, wie der Vorkämpfer des Marxismus, Kautsky, erbarmungslos ins alte Eisen geworfen wird (Hört! hört!); da wird uns die Aufklärung, daß jetzt von der Theorie zur Praxis, von der Verteidigung zum Angriff übergegangen wird, und daß es kein Zufall ist, daß in der Abrüstungsdebatte die .Neue Zeit' total versage, wie es ebenfalls kein Zufall sei, daß sich als Verfasser des allgemeinen, als unzulänglich bezeichneten Flugblattes, das immer strenger verklagt werde, derselbe Kautsky herausstelle, der Leiter der ,Neuen Zeit'. Solche Erscheinungen — sagt man vorsichtig — seien Ubergangsepochen, und wer dies als Literatenkrakeel bezeichnen wolle, der verrammele sich selbst den Weg zum Verständnis der Situation. (Hört! hört! und Heiterkeit.) Also, wer nicht derselben Meinung ist wie der Genösse Lensch, der wahrscheinlich der Verfasser dieses Artikels ist, der verrammelt sich selbst den Weg zum Verständnis politischer Situationen. Na, das Verständnis des Genossen Lensch berechtigt ja zu den schönsten Hoffnungen! (Große Heiterkeit und Beifall.)" 1 " Nach dem Parteitag, bei der Berichterstattung im 5. Berliner Reichstagswahlkreis, legte Wels in einem vielbeachteten Diskussionsbeitrag die Gründe dar, die ihn zu seiner Stellungnahme auf dem Parteitag veranlaßt hatten: „Der Parteitag hat gezeigt, daß die Einheit der Partei unerschütterlich dastehen kann. Er hat aber auch Vorgänge gezeigt, auf die das Augenmerk der Genossen gelenkt werden muß. Die Kämpfe zwischen Radikalen und Revisionisten haben Formen angenommen, die eine Verständigung zwischen beiden Richtungen ausschließen muß, wenn es so weiter geht. Wir können dem Genossen Kautsky darin zustimmen, daß der radikale Flügel nicht mehr die Mehrheit der Partei vertritt. Ich stehe grundsätzlich auf dem Boden des Erfurter Programms. Die Blätter, welche mit der .Leipziger Volkszeitung' übereinstimmen, haben nicht das Recht, zu sagen, daß nur sie den Marxismus vertreten und deshalb alle auf den rechten Flügel werfen, die nicht in allen Punkten mit ihnen übereinstimmen. Das Auftreten dieser Blätter hat dazu geführt, daß die Gruppe, die den linken Flügel in der Partei bildet, immer kleiner geworden ist und die Masse der Parteigenossen den Raum gefunden hat, auf dem es möglidi ist, die Interessen der Gesamtpartei zu vertreten . . . " 132 Vgl. parteitagsprotokoll Jena 1911, S. 228 f. Zu den Angriffen Luxemburgs siehe a.a.O., S. 204—206 und 247—251, zu denen Ledebours a.a.O., S. 212 f. und 249—253.

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Linke

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Dann beschäftigte er sich eingehend mit den Sonderkonferenzen der beiden Flügel auf dem Magdeburger und Jenaer Parteitag und bezeichnete den sogenannten „Wohlfahrtsausschuß" als eine „Nebenregierung" in der Partei. Sonderkonferenzen bestimmter Gruppen in der Partei lasse er nur gelten, wenn es darum gehe, eine Schädigung der Gesamtpartei zu verhindern, wenn also „Lebensinteressen" der Partei auf dem Spiel stünden. Bei den Sitzungen der Linken in Jena habe es sich aber nicht um Lebensinteressen der Partei gehandelt, „ . . . sondern in der Hauptsache um die Absicht, fast den ganzen Parteivorstand zu stürzen". 133 „Für solche hinterlistige Abmurksung konnte ich mich nicht erwärmen . . . Ohne die Berlin-Brandenburger Delegation hatte die Linke nicht die Mehrheit. Wir bildeten also das ausschlaggebende Zünglein an der Waage. Hätten wir nicht diese Haltung eingenommen, dann wäre es zu ganz anderen Debatten und Beschlüssen auf dem Parteitage gekommen, als sie jetzt vorliegen. — 133 D ; e s e Behauptung von Wels rief eine Flut von Gegenerklärungen der Linken hervor. So Stadthagen — Vorwärts, Nr. 228 vom 2 9 . 9 . 1 9 1 1 , 1. Beilage, S. 3; Ledebour — a. a. O., Nr. 229 vom 30. 9. 1911, 2. Beilage, S. 1 f. — und die Frankfurter, wie Hoch, R . Dißmann und andere — a. a. O., Nr. 240 vom 1 3 . 1 0 . 1 9 1 1 , 1. Beilage, S. 2, die diese Behauptung leidenschaftlich bestritten. Ledebour mußte schließlich zugeben, daß er in der Sitzung der Berlin-Brandenburger Delegation sidi gegen die Wiederwahl Eberts und Müllers ausgesprochen hatte (vgl. a.a.O., Nr. 229 vom 3 0 . 9 . 1 9 1 1 ) . Wels wies in seiner Erklärung vom 1. 10. Ledebour dann nach, daß er auch in der Versammlung der Linken am 10. September nicht nur Müller und Ebert in einer Weise kritisiert hatte, die man nicht als eine Empfehlung zur Wiederwahl auffassen konnte, sondern audi andere nicht anwesende Mitglieder des Parteivorstands. Vgl. a.a.O., Nr. 230 vom 1 . 1 0 . 1 9 1 1 . Wels konnte sich audi auf die Diskussionen über die Reorganisation des Parteivorstands berufen, die zum Teil durdi den Tod Singers am 31. 1.1911 ausgelöst wurden. Von radikaler Seite wurde die Unzufriedenheit mit dem „bureaukratisdien Vorstand" genährt und führte zu Überlegungen, ihn politisch zu verändern. Diese Vorstöße zielten darauf ab, entweder zusätzlidi Sekretäre in den Vorstand zu wählen oder ihn durch unbesoldete und nidit mit ständiger Arbeit belastete sogenannte „politische Köpfe" zu ergänzen und damit die bisherigen Vorstandsmitglieder zu majorisieren. Vierzehn Tage vor dem Parteitag von Jena brachte Wilhelm Dittmann diese Diskussion wieder in Gang (vgl. a.a.O., Nr. 202 vom 3 0 . 8 . 1 9 1 1 , 1. Beilage, S. 1, und W. Dittmann, Lebenserinnerungen . . ., S. 328—331). Die Überlegungen Ledebours bewegten sidi in ähnlicher Richtung (vgl. Vorwärts, Nr. 229 vom 3 0 . 9 . 1 9 1 1 ) . Nach Georg Kotowski (Friedrich Ebert. Eine politische Biographie, Bd. 1: Der Aufstieg eines deutschen Arbeiterführers 1871—1917 [ = Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin beim Friedridi-MeineckeInstitut der Freien Universität Berlin, Sonderbd. 1], Wiesbaden 1963, S. 172) handelte es sich zweifellos um den Versuch des fest organisierten radikalen Flügels der Partei, die Macht im Vorstand zu übernehmen.

40

I. Anfänge und politische Entwicklung bis 1918

Ich billige es nicht, daß die rechte Seite besonders zusammentritt, um die linke Seite zu überstimmen, und kann es deshalb auch nicht billigen, wenn die Linke dasselbe tut. Durdi das Nebeneinander von zwei gesonderten Parlamenten muß doch der Zwist in der Partei verstärkt werden. Dadurch wird der Konfliktstoff derart angehäuft, daß, wenn diese Taktik noch auf drei bis vier Parteitagen fortgesetzt wird, die Spaltung der Partei die notwendige Folge ist. . . . Die hinterhältige Art der Diskussion, wo jeder, der nicht mit Stadthagen, Rosa Luxemburg und Ledebour einverstanden ist, zu den Revisionisten geworfen wird, muß aufs schärfste getadelt werden." Er warf dann die Frage auf, wer denn nach Ansicht dieser Genossen noch radikal sei, und kam zu dem Ergebnis, daß nicht einmal das Zentralorgan der Partei, der Vorwärts, das Organ der Berliner Genossen, noch als radikal anzusehen sei. Wenn es nicht so wäre, dann brauchte ja Rosa Luxemburg ihre Artikel nicht in der Leipziger Volkszeitung „abzulagern", und Ledebour, der Abgeordnete des sechsten Berliner Wahlkreises und parlamentarische Mitarbeiter des Vorwärts, hätte es nicht nötig gehabt, unmittelbar vor dem Parteitag seine gehässigen, giftigen Angriffe auf den Parteivorstand im Volksblatt für Halle zu veröffentlichen. Man habe ihm — Wels — vorgeworfen, daß er von dem Brief des Genossen Ledebour in der Debatte in Jena Gebrauch gemacht habe. Würde er den Brief ganz verlesen haben, so hätte sich gezeigt, daß nach Ledebours Ansicht selbst ein auf dem linken Flügel der Partei stehender Redakteur des Vorwärts nicht mehr zu den „stubenreinen Radikalen" zähle. Das alles müsse doch „vergiftend und für die Partei schädigend" wirken. — Dem „Fähnlein der sieben Aufrechten"" 4 fehle der Mut der Konsequenz, sonst müßten sie den Parlamentarismus verurteilen und zu anderen Mitteln greifen. Wenn man sich gewundert habe, ihn Arm in Arm mit Robert Schmidt und Legien135 auftreten zu sehen, so betone er, daß die Einigkeit von Partei und Gewerkschaften für den Kampf gegen den Kapitalismus so notwendig sei, daß man sie nicht von einzelnen Personen aufs Spiel setzen lassen dürfe. 1 8 4 Wels meinte hier Rosa Luxemburg, Ledebour, Lensdi, Stadthagen, Zetkin, Karl Liebknecht und Geyer. 1 5 5 Robert Schmidt, Abgeordneter des 5. Berliner Reichstagswahlkreises und Mitglied der Generalkommission der Gewerkschaften, galt zusammen mit Legien als einer der Exponenten des revisionistischen Flügels der Partei, der auf dem Jenaer Parteitag bei den Angriffen der Linken die Taktik einschlug, sich hinter den Parteivorstand zu stellen. Vgl. W. Dittmann, Lebenserinnerungen . . S. 334.

Zerfall des radikalen Flügels der Partei und neue Linke

41

Der Parteitag solle der Ausdruck des Willens des gesamten Proletariats sein, nicht aber der Ausdruck einer Meinung, die in demagogischer Weise von einzelnen Cliquen und Personen gemacht werde. Wels' Rede in Jena, sein Verhalten auf der Sonderkonferenz der Linken am 10. September und seine Erklärung im 5. Berliner Reichstagswahlkreis führten zu leidenschaftlichen Diskussionen in der Berliner Partei. So wurde ihm von einem Diskussionsredner vorgeworfen, er werde so selten kritisiert, weil man ihn allgemein fürchte, doch scheine diese Furcht jetzt allmählich zu schwinden. Er, Wels, führe seit langem ein persönliches Regiment. Die durch ihn ausgeübte Bevormundung müsse beseitigt und er in seine Schranken verwiesen werden.138 Die von Wels' Gegnern in dieser Diskussion immer wieder aufgeworfene Frage, wer ihn überhaupt legitimiert habe, bei der Zusammenkunft der Linken im Auftrage der Berliner zu sprechen, wurde von einem seiner Freunde mit der Feststellung pariert, daß Wels sich ja nicht selber zum Wortführer gemacht habe, sondern daß er immer auf den vordersten Posten gestellt worden sei. Man könne zu ihm stehen wie man wolle; er sei rücksichtslos, aber er vertrete immer mit Energie die Interessen seiner Mandatgeber.137 Leo Liepmann, Freund und alter Kampfgefährte von Wels aus dem 5. Wahlkreis, Beisitzer im Partei vorstand sowie Mitglied des Berliner Zentralvorstandes, verteidigte Wels mit dem Hinweis, daß er nur ausgesprochen habe, was vier Fünftel der Berliner dächten. In Jena sei mit Recht die Einmütigkeit und Schlagkraft der Partei das Hauptmotiv gewesen, und die Berliner hätten sich durch ihre Haltung darum verdient gemacht.138 Als Ergebnis dieser Auseinandersetzungen mit der radikalen Linken um Luxemburg und Ledebour muß festgehalten werden, daß Wels sich bei der Mehrheit der Parteivorstandsmitglieder zweifellos Sympathien erworben hatte,139 seine Position in Berlin durch die nun entstandene 138 Vgl, Vorwärts, Nr. 227 vom 28. 9. 1911, 1. Beilage, S. 1: Die Berliner und der Parteitag. 1. Kreis, Diskussionsbeitrag von Ph. Bernstein. 137

Genossen

Ebda., Diskussionsbeitrag von Woldersky. A. a. O., 2. Beilage, S. 2, Diskussion im 6. Berliner Reidistagswahlkreis. 139 So soll Bebel Wels schon sehr früh gekannt und geschätzt haben. Nach dem Parteitag von 1911 von Parteigenossen im privaten Kreise auf die Auseinandersetzungen Wels—Ledebour angesprochen, soll er lakonisch geantwortet haben: „Wels ist mit vierzehn und Ledebour erst mit vierzig zur Partei gekommen." — Mündlidie Auskunft des ältesten Sohnes von Wels — Walter Wels — vom 19. 5. 1963. Eine ähnliche Darstellung, jedoch ohne Namensnennung Bebels, gibt E. Unger, Politische 138

I. Anfänge und politische Entwicklung bis 1918

42

Gegnerschaft der radikalen Linken jedoch entscheidend geschwächt wurde.140 Die Auflösung des Kartellverhältnisses zwischen Berlin und der Provinz Brandenburg 1912 und ihre Auswirkungen auf die innerparteiliche Stellung von Wels Bereits wenige Wochen nach den für die Partei so erfolgreichen Reichstagswahlen vom 12. Januar 1912 erhielt Wels die Quittung für seine Haltung auf dem Jenaer Parteitag von 1911. Der Berliner Vorortwahlkreis Nieder-Barnim, dessen Abgeordneter Arthur Stadthagen war, brachte Anfang Februar zu der im März stattfindenden Berliner Verbandsgeneralversammlung den Antrag ein, das bestehende Kartellverhältnis zwischen Groß-Berlin und dem Bezirksverband Brandenburg aufzulösen.141 Dieser Antrag wurde nicht ungeschickt damit begründet, die Parteiorganisation in der Provinz habe solche Fortschritte gemacht, daß eine weitere Hilfe Berlins in der bisherigen Form als überflüssig anzusehen sei. Außerdem werde damit der in der Partei einzig dastehende Zustand beseitigt, daß der Bezirksverband Brandenburg außer vom Parteivorstand auch noch vom Bezirksverband Berlin Gelder bekomme, über deren Verwendung die Berliner Genossen nicht mitzubestimmen hätten.142 Köpfe

...,

S. 60. Auch W . Dittmann, Lebenserinnerungen

...,

S. 215, erwähnt

die

Bekanntschaft von Wels und Bebel. Ollenhauer datierte in einer mündlichen Auskunft die außerordentlich schaftliche Verbundenheit

zwischen Wels, Hermann

Müller,

freund-

Friedrich Ebert

und

Philipp Scheidemann auf 1911. Ollenhauer stützte sich dabei auf Unterhaltungen mit Wels während der Emigration. Gestützt wird diese Aussage von teilweise auch durch Friedrich Stampfer, Erfahrungen nungen

aus

meinem

Leben,

und

Erkenntnisse.

Ollenhauer Aufzeich-

Köln 1957, S. 142. Stampfer berichtet, daß von den

führenden Leuten der Partei nur Wels und Ebert an dem Stammtisch bei J o s t y nie teilgenommen hätten. „Sie saßen in Klauseners Bierstuben und bildeten mit männlicher Verachtung auf das Kaffeehaustreiben herab." 140

Wie tief die Aversion der Linken gegen Wels zu diesem Zeitpunkt bereits war,

geht aus einem Brief Rosa Luxemburgs an Wilhelm Dittmann vom 1 7 . 6 . 1911 hervor, in dem sie davon berichtet, daß mit den Berlinern die Verständigung schwer und vor Wels 8c C o . äußerste Vorsicht geboten sei (Nadilaß Dittmann, unveröffentlicht, Parteiarchiv der S P D , Bonn). 141

Vgl. Vorwärts,

142

Vgl a. a. O., N r . 60 vom 12. 3. 1912, 2 . Beilage, Generalversammlung des W a h l -

N r . 56 vom 7. 3. 1912, 3. Beilage, S. 2.

kreises Nieder-Barnim; Bühler bei der Begründung dieses Antrags auf der Verbandsgeneralversammlung von Groß-Berlin am 17. 3 . 1 9 1 2 , a. a. O . , N r . 66 vom 19. 3 . 1 9 1 2 , 2. Beilage, S. 1.

Zerfall des radikalen Flügels der Partei und neue Linke

43

Auf den Generalversammlungen der sechs Berliner Reichstagswahlkreise am 6. März 1912 lehnte nur der 3. Wahlkreis den Antrag NiederBarnims ab, der 2. und 4. Wahlkreis nahmen eine unentschlossene und abwartende Haltung ein, der 6. und sogar Wels' 5. Reichstagswahlkreis stimmten dem Antrag zu.143 Da die von den Gegnern Wels' beherrschten Vorortwahlkreise Nieder-Barnim (Stadthagen), Teltow-Beeskow (Zubeil) und der Ö.Berliner Reichstagswahlkreis (Ledebour) auf Grund ihrer Delegiertenzahl die Generalversammlung von Groß-Berlin majorisieren konnten, scheint er schon zu diesem frühen Zeitpunkt den hoffnungslosen Kampf gegen die Zerschlagung seiner Berliner Machtposition aufgegeben zu haben.144 Audi die Ausführungen von Wels auf der Generalversammlung von Groß-Berlin am 17. März 1912, wenige Tage nach den Generalversammlungen der einzelnen Berliner Wahlkreise, zeigten das deutlich. Ihm sei die Trennung des Kartellverhältnisses zwischen GroßBerlin und der Provinz Brandenburg lieber als die dauernde Beunruhigung, die bei einer eventuellen Ablehnung durch die fortgesetzte Erneuerung dieses Antrages eintreten müsse. Ein Ende mit Schrecken sei besser als ein Schrecken ohne Ende. Nach dieser realistischen Einschätzung der Situation und der Position seiner Gegner ging Wels dann zum Gegenangriff über. Die Genossen in der Provinz hätten kein Verständnis für die Notwendigkeit einer Änderung des bisherigen Verhältnisses. Sie würfen die Frage auf, warum dann nicht ein Bezirksverband Brandenburg mit Berlin gebildet werde, wenn schon eine Änderung vorgenommen werden solle, denn Berlin gehöre doch auch zur Provinz Brandenburg. Wenigstens müßten nach einer Trennung die Kreise Teltow-Beeskow und Nieder-Barnim dem Bezirksverbande Brandenburg angeschlossen werden, wohin sie doch zweifellos gehörten. Dann stellte Wels die Zahl der Parteimitglieder und die bei den Reidistagswahlen für die Partei abgegebenen Stimmen von Berlin und Brandenburg seit 1907 — seinem Amtsantritt als Parteisekretär für die Provinz Brandenburg — gegenüber und zog daraus den Schluß, daß die Parteiorgani143

Vgl. a. a. O., Nr. 56 vom 7. 3. 1912, 3. Beilage, S. 1—3. Zur Stärke der adit Berliner Wahlkreise auf der Verbandsgeneralversammlung von Groß-Berlin vgl. Mitteilungs-Blatt ...,7. Jg., Nr. 3 vom 11. 9.1912, S. 5. Danach stellten der 1. Kreis 10 Delegierte; der 2. 48; der 3. 23; der 4. 194; der 5. 19; der 6. 244; Teltow-Beeskow 251 und Nieder-Barnim 134; die Berliner Wahlkreise also insgesamt 923 Delegierte. Hinzu kamen 65 andere stimmberechtigte Mitglieder, zu denen der Berliner Zentralvorstand und die Abgeordneten und Kandidaten der einzelnen Wahlkreise gehörten. 144

I. Anfänge

44

und politische Entwicklung

bis 1918

sation in der Provinz jetzt so stark wie die von Groß-Berlin im Jahre 1908 sei. Die Provinz sei drauf und dran, mit Berlin gleichen Schritt zu halten, und diese glänzende Organisation wollten die Antragsteller zerstören. Am Schluß seiner Rede wies er noch einmal mit Nachdruck darauf hin, daß kein stichhaltiger sachlicher Grund für eine Trennung vorliege.145 Man kann sich vorstellen, daß die radikale Linke von der Aussicht, in einem gemeinsamen Bezirksverband Brandenburg—Groß-Berlin von Wels und seinen Freunden majorisiert zu werden, nicht begeistert war. Die Teltow-Beeskower und die Nieder-Barnimer mußten sogar damit rechnen, bei einer Rückkehr ihrer Kreise zur Provinz von den geschlossen hinter Wels stehenden achtzehn Provinzwahlkreisen politisch hoffnungslos erdrückt zu werden. So wurde dann auch Arthur Stadthagen durch die Rede von Wels aus seiner anfänglichen Reserve auf dieser Konferenz herausgelockt und gezwungen, Farbe zu bekennen, wobei durch einen Zwischenruf Wels' die wahren Gründe für die Trennung schlagartig deutlich wurden. Stadthagen gab zu, daß nach der geltenden Kreiseinteilung Teltow-Beeskow und Nieder-Barnim zur Provinz Brandenburg gehörten. Aber diesen rückständigen Standpunkt, den auch die Regierung vertrete, solle sich die Partei nicht zu eigen machen. Die Partei verlange doch die Eingemeindung und einen Zweckverband gemäß der wirtschaftlichen Zugehörigkeit der Ortschaften. Das von Wels aufgeworfene Problem, ganz Berlin zum Bezirksverband Brandenburg zu schlagen, wischte er mit dem Hinweis vom Tisch, diese Frage stehe ja jetzt nicht zur Diskussion. Wels habe in seiner Rede gesagt, der Antrag auf eine Lösung des Kartellverhältnisses sei gestellt worden, weil Berlin nichts zu sagen habe. Diese Behauptung korrigierte Wels schlagfertig mit dem Zwischenruf: „Stadthagen hat nichts zu sagen!", worauf Stadthagen sich zu der Replik verleiten ließ: „Ach, man könnte auch sagen, dann hat Wels nichts zu sagen!", 146 wobei Wels mit seinem Zwischenruf die bisherige Situation und Stadthagen die Situation nach Lösung des Kartellverhältnisses im Auge hatte. Die Berliner Verbandsgeneralversammlung stimmte nach dieser Rede von Stadthagen der Auflösung des Kartellverhältnisses mit großer Mehrheit zu. Bei der sich anschließenden Diskussion über das Stichwahlabkommen zwischen der SPD und der Freisinnigen Volkspartei bei den 145

Siehe Bericht der Generalversammlung von Groß-Berlin, in Vorwärts,

vom 19. 3 . 1 9 1 2 , S. 1. " · Vgl. Ebda.

Nr. 66

Zerfall des radikalen Flügels der Partei und neue Linke

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Reichstagswahlen von 1912 hatte Nieder-Barnim auf der Verbandsgeneralversammlung einen Antrag eingebracht, der das Stichwahlabkommen mißbilligte. Nach der infolge von Zeitmangel vorgenommenen Vertagung und der Fortsetzung der Diskussion mit Rosa Luxemburg als Gast- und Diskussionsrednerin wurde noch einmal deutlich, wo die Mehrheit der Berliner Partei stand. Auch dieser Antrag Nieder-Barnims wurde mit großer Mehrheit — dreißig Gegenstimmen bei über neunhundert Stimmbereditigten — angenommen.147 Mit der Auflösung des Kartellverhältnisses zwischen Berlin und Brandenburg war die dominierende Position von Wels in Berlin zerstört. In seinem 5. Berliner Reichstagswahlkreis, dem kleinsten, der damit auch die wenigsten Delegierten auf den Berliner Verbandsgeneralversammlungen stellte, konnte er zwar seine Position halten — er wurde 1912 und 1913 auf dessen Generalversammlungen wieder in die Preßkommission des Vorwärts gewählt, war damit weiterhin auch gleichzeitig Mitglied des Berliner Zentralvorstandes und als Obmann der Preßkommission des Vorwärts Mitglied des engeren Vorstandes —,148 doch die Macht in Berlin hatte eindeutig die sich um Luxemburg, Ledebour und Stadthagen formierende radikale Linke übernommen. Stellung zu politischen und organisatorischen Problemen der Partei (1911—1914) Wels' Position in Brandenburg wurde durch die Vorgänge in Berlin nicht in Mitleidensdiaft gezogen. So konnte er auf dem ersten Provinzialparteitag nach der Auflösung des Kartellverhältnisses zwischen Brandenburg und Berlin als Hauptreferent des Parteitags das Stichwahlabkommen mit der Freisinnigen Volkspartei und die „Dämpfung" des Wahlkampfes bei den Stichwahlen gegen die in der Partei von der radikalen Linken geäußerte harte Kritik verteidigen, ohne daß sich 147

A. a. O., Nr. 78 vom 2. 4.1912, 1. und 2. Beilage. Wels hatte seinen Standpunkt zum Stichwahlabkommen bereits auf der Generalversammlung des 5. Berliner Reidistagswahlkreises am 6. 3. 1912 dargelegt und dieses mit Nachdruck verteidigt. Die Versammlung hatte daraufhin audi die Resolution Nieder-Barnims zu dieser Frage abgelehnt, was die Delegierten des 5. Wahlkreises jedoch nidit hinderte, wenige Tage später auf der Verbandsgeneralversammlung für den Antrag Nieder-Barnims zu stimmen. Vgl. a. a. O., Nr. 201 vom 29. 8.1912, 1. Beilage, S. 3, Diskussionsbeitrag Dr. Weyl im 5. Berliner Wahlkreis. 148

Vgl. a. a. O., Nr. 183 vom 8. 8.1912, 1. Beilage, S. 2, und a. a. O., Nr. 131 vom 29.5.1913, 2. Beilage, S. 2.

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I. Anfänge

und politische Entwicklung

bis 1918

nennenswerter Widerspruch gegen seine Ausführungen erhob.148 Auf dem Provinzialparteitag von 1913 in Frankfurt/Oder gab Wels erneut den Geschäftsbericht und hielt das politische Hauptreferat. Wels verteidigte auch die Haltung der Fraktion bei den Kämpfen um die Dekkung der Wehrvorlage im Jahre 1913, die von den Radikalen als Parteiverrat betrachtet wurde.150 Der Provinzialparteitag nahm nach einer Diskussion, in der Karl Liebknecht die Gegenposition vertreten hatte, eine Resolution an, die die Haltung der Reichstagsfraktion in dieser Frage ausdrücklich billigte. Von 87 stimmberechtigten Mitgliedern des Provinzialparteitages stimmten nur fünf gegen diese Resolution. 151 Der Bezirksverband Brandenburg stand geschlossen hinter Wels und der Politik des Parteizentrums. Karl Liebknecht und einige andere müssen in diesem Zusammenhang als Einzelgänger ohne Einfluß auf die Brandenburger Parteiorganisation angesehen werden. Auch Nipperdey kommt zu dem Ergebnis, daß Wels die Organisation in Brandenburg im Sinne des Parteizentrums führte.152 Alle weiteren Stellungnahmen von Wels zu den die Partei in der Zeit von 1911 bis 1913 bewegenden Problemen zeigen ihn als Mann des „Parteizentrums" und des Parteivorstandes. Besonders deutlich wurde das bei den ab 1911 einsetzenden Diskussionen über die Reorganisation der Parteileitung. Die von radikaler Seite genährte Unzufriedenheit mit dem „bureaukratischen Vorstand" führte zu Überlegungen, ihn auch politisch zu verändern. Die Radikalen schlugen vor, entweder Sekretäre in den Vorstand zu wählen oder ihn durch unbesoldete und nicht mit kontinuierlicher Parteiarbeit belastete „politische 148

Vgl. a.a.O.,

N r . 151 vom 2 . 7 . 1 9 1 2 ,

1. Beilage, S. 2. In seinem Referat be-

schäftigte er sich außerdem noch einmal mit der Lösung des Kartellverhältnisses zwischen Berlin und der Provinz Brandenburg und legte feierliche „Rechtsverwahrung" gegen diesen einseitigen Schritt Groß-Berlins ein, wobei er geschickt auf die Mentalität der Brandenburger einging. Uber die Entstehung des Stichwahlabkommens siehe F. Stampfer, Erfahrungen Erkenntnisse...,

S. 160 ff.; W. Dittmann, Lebenserinnerungen...,

und

S. 3 5 5 — 3 5 7 , be-

handelt die Folgen dieses Abkommens und die Diskussion auf dem Chemnitzer Parteitag von 1912. Zur Frage des notwendigen neuen Organisationsstatuts für die Provinz, das die starke Stellung der beiden angestellten Sekretäre (Mitglieder des geschäftsführenden Vorstands) unterstreicht, siehe ebda. 150 v g l . über die Diskussionen in der Fraktion die ausführliche Darstellung im Bericht der Reichstagsfraktion, Parteitagsprotokoll wie G. Kotowski, Friedrich Ebert..., 151

Jena

1913,

S. 146 ff., 169 ff., so-

S. 2 1 9 f., Anm. 3.

Vgl. zum Provinzialparteitag von 1913 Vorwärts,

N r . 220 vom 26. 8. 1913,

1. Beilage, S. 3. im v g l . Th. Nipperdey, Die Organisation

der deutschen Parteien ...,

S. 347.

Zerfall des radikalen Flügels der Partei und neue Linke

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Köpfe" zu ergänzen, um auf diese Weise die bisherigen Vorstandsmitglieder majorisieren und selbst die Macht in der Partei übernehmen zu können.153 Obwohl die Radikalen auf dem Jenaer Parteitag von 1911 zu einem massiven Angriff auf den Parteivorstand wegen seiner angeblichen Untätigkeit während der zweiten Marokkokrise angesetzt hatten, konnten sie in dieser Frage lediglich die Bildung einer zweiundzwanzigköpfigen Statutenkommission durchsetzen, der auch Otto Wels angehörte.154 Während die Kommission im Mai 1912 über einen von Ebert und Müller vorgelegten Entwurf beriet, der im besonderen die Einsetzung eines aus zweiunddreißig Mitgliedern bestehenden, vom Parteitag zu wählenden Parteiausschusses vorsah, in dem die einzelnen Gebiete des Reiches gleichmäßig vertreten sein sollten und dem das Recht zugestanden werden sollte, über alle wichtigen, die Gesamtpartei berührenden politischen Fragen sowie ihre finanziellen Angelegenheiten, die Festsetzung der Tagesordnung und die Bestellung der Referenten des Parteitages „gemeinsam mit dem Parteivorstand" zu entscheiden, wurde dieser Vorschlag in einer unmittelbar vor dem Parteitag abgehaltenen Sitzung der Kommission verworfen und durch den Vorschlag einer ständigen Vertretung der Bezirks- und Landesvorstände im Parteivorstand ersetzt. Diesem Parteiausschuß wurden nur beratende Funktionen zugestanden.155 In der Generalversammlung des 5. Berliner Reichstags Wahlkreises, die sich mit dem bevorstehenden Parteitag beschäftigte, empfahl Wels die Einsetzung dieses Parteiausschusses, in dem die mannigfachen Gegensätze seiner Auffassung nach einen Ausgleich finden würden, wenn er eine größere Personenzahl aus dem ganzen Reiche umfasse.15" Dann setzte Wels sich außerordentlich kritisch mit jenen Vorschlägen auseinander, die auf Ledebours Artikel im Halleschen Volksblatt zurückgingen und die empfahlen, die Parteileitung dadurch zu politisieren, daß sie durch sieben bis neun unbesoldete, vornehmlich politisch „interessierte" Mitglieder verstärkt werden sollte, so daß die beamteten 153 Vgl. die Überlegungen Ledebours in: Hallesches Volksblatt, teilweise abgedruckt im Vorwärts, N r . 229 vom 30.9. 1911; Vorschläge Dittmanns im Vorwärts, N r . 202 vom 30.8.1911, 1. Beilage, S. 1, sowie in W. Dittmann, Lebenserinnerungen..., S. 328—331; Darstellung bei G. Kotowski, Friedrich Ebert..., S. 171 f. Siehe auch oben, S. 39, Anm. 133. 154 Vgl. Parteitagsprotokoll Jena 1911, S. 374. 155 Vgl. G. Kotowski, Friedrich Ebert..., S. 172 f. >m Vorwärts, N r . 201 vom 29. 8.1912, 1. Beilage, S. 3.

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1. Anfänge und politische Entwicklung

bis 1918

Mitglieder in die Minderheit gedrängt würden.157 Wels wandte sich entschieden gegen diese Vorstellungen. Wer die Verhältnisse kenne, könne die Namen der fünf oder sieben Genossen an den Fingern abzählen, die es für das dringendste Erfordernis hielten, jetzt selbst die Führung in der Partei zu übernehmen. Nichts könne der Partei so schädlich werden wie die Sonderkonferenzen der verschiedenen Richtungen, die offenbar ihren Weg aus der Reichstagsfraktion, wo sie schon seit längerer Zeit im Gange seien, in die Parteitage gefunden hätten. Das sei seiner Auffassung nadi einer der Gründe dafür, der Fraktion nicht mehr das volle Vertretungsrecht auf den Parteitagen zu gewähren, abgesehen von der Tatsache, daß der Einfluß der Parlamentarier den der Vertreter der Parteiorganisation empfindlich zu beeinträchtigen geeignet sei. Es schade nichts, wenn die Fraktion in dieser Beziehung von den Parteimitgliedern unter Kuratel gestellt werde.158 Audi bei den Diskussionen über die Deckung der Wehrvorlage159 und der erneuten Massenstreikdiskussion im Jahre 1913 vertrat Wels den Standpunkt des Parteivorstandes. Wenige Tage vor dem Jenaer Parteitag von 1913 wandte er sich im 5. Berliner Reichstagswahlkreis gegen die Auffassung, der Massenstreik müsse zur Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts in Preußen ausgerufen werden. Er finde es merkwürdig, daß diese Forderung von denselben Parteimitgliedern gestellt werde, die vor der Überschätzung des Parlaments nicht genug warnen könnten. Die bisherigen Massenstreiks ließen keinerlei Rückschlüsse auf die Durchführung eines künftigen Massenstreiks in Preußen zu. Man könne die preußischen Verhältnisse, bei denen das Reichstagswahlrecht als Ventil der Mißstimmung diene, nicht mit den Zuständen vergleichen, die etwa in Rußland oder Belgien zum Massenstreik geführt hätten. Dort habe es sich durchaus nicht ausschließlich um eine Bewegung des Proletariats gehandelt. In Rußland zum Beispiel sei die Massenstreikbewegung zuerst von der russischen Intelligenz angefadht worden. Wels bestritt auch, daß die Diskussion spontan unter den Massen entEbda. im Vgl. ebda. Mit dem Vorschlag, die Vertretungsbefugnis der Reichstagsfraktion auf den Parteitagen einzusdiränken, konnte sich der Parteivorstand auf dem Chemnitzer Parteitag nicht durchsetzen. Nach teilweiser hitziger Debatte wurde der Abänderungsantrag Ledebours angenommen, die Reichstagsfraktion wie bisher im Ganzen zur Teilnahme am Parteitag zuzulassen. Siehe Parteitagsprotokoll Chemnitz 1912, S. 300 ff. und 327 S. Wels trat auf diesem Parteitag nidit besonders hervor. "» Vgl. oben S. 46.

Zerfall des radikalen Flügels der Partei und neue Linke

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standen sei. Sie sei von einigen Akademikern entfesselt worden. Voraussetzung für das Gelingen eines Massenstreiks sei die völlige Ubereinstimmung aller proletarischen Organisationen. Ganz sicher werde der Massenstreik einmal zur Anwendung kommen, dann aber werde er ein Kampf um die politischen Grundrechte des Volkes sein, ein Kampf gegen den Versuch, das Koalitionsrecht der Arbeiter zu zerschlagen. Er halte die jetzige Diskussion für überflüssig und gefährlidi. Nicht das Schwert im Munde führen, sondern es im entscheidenden Moment benutzen, das sei notwendig." 0 Wahl zum Beisitzer des Parteivorstandes auf dem Parteitag von 1913 in Jena Als auf dem Jenaer Parteitag von 1913 die innerparteilichen Gegensätze bei den Vorstandswahlen zum offenen Kampf um Vorstandsämter führten und der Parteivorstand davon absah, seine Mitglieder zur Wiederwahl vorzuschlagen, wurde Otto Wels anstelle von Brühl, der gegen einige sachliche Anträge des Parteivorstandes gestimmt hatte und zur radikalen Linken in der Partei gehörte, vom Parteivorstand als Beisitzer vorgeschlagen und in einer Kampfabstimmung mit knapper Mehrheit gewählt." 1 Die Wahl von Wels, der in Berlin als die rechte Hand Eberts galt," 2 führte nach dem Parteitag zu bissigen Kommentaren der radikalen Linken in Berlin. Stadthagen warf Wels unter anderem vor, sich über HO Vgl. Vorwärts, Nr. 221 vom 28. 8.1913, 1. Beilage, S. 3. Siehe audi die Ausführungen von Wels über das Problem des Massenstreiks auf dem Brandenburgisdien Provinzialparteitag von 1913; a.a.O., Nr. 220 vom 26.8.1913, 1. Beilage, S. 3. 1 , 1 Vgl. Parteitagsprotokoll Jena 1913, S. 549. Wels erhielt 245 und Brühl 232 Stimmen. Siehe zur Vorstandswahl audi C. E. Sdiorske, German Social Democracy . . . , S. 280, und Th. Nipperdey, Die Organisation der deutschen Parteien ..., S. 363. W. Dittmann, Lebenserinnerungen..., S. 401, konstatiert, daß bei den Wahlen zu den leitenden Parteikörpersdiaften die stillschweigende gegenseitige Unterstützung von Parteivorstand, Gewerkschaftsführern und Vertretern der Rechten wiederum — wie auf dem Parteitag von 1911 — deutlich zutage trat. Die Chemnitzer Volksstimme sprach von ausgesprochenen Riditungswahlen. Es sei wohl außerordentlich selten vorgekommen, daß ein Parteivorstandsmitglied gegen seinen Willen aus dem Partei vorstand herausgewählt worden sei, aber Brühl sei mit der Luxemburg-Gruppe so weit nach links gegangen, daß die Parteimehrheit ihn als nicht mehr geeignet für die Instanz gehalten habe, der die Aufgabe gestellt sei, das Parteiganze zusammenzuhalten. Vgl. Vorwärts, Nr. 249 vom 24.8.1913, 1. Beilage, S. 1. ιβϊ y g i . ψ . Dittmann, Lebenserinnerungen . . S . 401.

4

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bis 1918

einen Beschluß des Berliner Zentralvorstands hinweggesetzt zu haben, der Wengeis und Brühl vor dem Parteitag als Beisitzer vorgeschlagen habe.163 Von den Berlinern sei er — Wels — nicht vorgeschlagen worden, sondern von den Bayern und dem rechten Flügel der sächsischen Sozialdemokraten. Wels selber — und das sei ein Umstand, der glücklicherweise bislang noch auf keinem Parteitag zu verzeichnen gewesen sei — sei im stillen lebhaft für seine Kandidatur eingetreten. Er habe zunächst Parteisekretär werden wollen und die Kandidatur im Parteiausschuß erst abgelehnt, als er merkte, daß seine von ihm selber Brandenburgern gegenüber als aussichtsreich bezeichnete Kandidatur keine Gegenliebe fand. Dann sei er, ohne daß die Berliner davon Kenntnis gehabt hätten, als Gegenkandidat gegen Brühl bei den Wahlen zum Beisitzer aufgetreten und als Vertrauensmann der Rechten gewählt worden. Das beweise, was er — Stadthagen — schon öfter gesagt habe: Wels stehe auf der rechten Seite oder mindestens im „Sumpf". Seine Wahl habe jedoch die eine erfreulidie Folge gehabt, daß er nun nicht mehr als Vorsitzender der Preßkommission des Vorwärts fungieren könne. Hoffentlich seien nachträglich so manchem die Augen darüber geöffnet worden, was er vom Genossen Wels zu halten habe. 1 " Wels begegnete dem Vorwurf Stadthagens, er habe sich nicht an den Beschluß des Berliner Zentralvorstands gehalten, mit dem Hinweis, daß er nicht als Mitglied des Berliner Zentralvorstands, sondern als Abgeordneter seines Brandenburger Wahlkreises auf dem Parteitage gewesen sei. Außerdem würden auch die Delegierten der beiden Landsmann195

Vgl. Mitteilungs-Blatt..., 8. Jg., N r . 7 vom 8 . 1 0 . 1 9 1 3 , S. 3. Bericht von der Sitzung des Zentralvorstandes und des Aktionsausschusses. 1M Vgl. Vorwärts, Nr. 254 vom 29.9. 1913, 2. Beilage, S. 2, und a. a. O., Nr. 264 vom 9 . 1 0 . 1 9 1 3 , 2. Beilage, S. 1 f. Ledebour bezeichnete Wels sdilicht als Opportunisten, siehe ebda. Stadthagen hatte Wels wegen seiner Politik als Vorsitzender der Preßkommission des Vorwärts schon auf der Jahreshauptversammlung der Berliner Partei am 15. 6. 1913 angegriffen. Es sei vielleidit kein Zufall, daß die beiden Genossen, die als besonders radikal gälten, Rosa Luxemburg und Mehring, nidit mehr zu den Mitarbeitern des Vorwärts gehörten. Maßnahmen, die wohl im Einverständnis mit Mitgliedern des Parteivorstandes und dem Vorsitzenden der Preßkommission, ohne Zustimmung der Redaktion, getroffen würden, ließen eine Tendenz nach rechts erkennen, so daß denen, die der Meinung seien, der Vorwärts müsse so wie früher redigiert werden, die Mitarbeit nach und nadi verekelt werde. Siehe MitteilungsBlatt . . . , 8. Jg., Nr. 4 vom 9 . 7 . 1 9 1 3 , S. 5. Wels hatte daraufhin am 2 6 . 9 . 1 9 1 3 Stadthagen vorgeworfen, daß der ihm unterstehende Teil der Zeitung zu wenig durchgearbeitet sei und Kürze sowie Lebendigkeit der Darstellung vermissen lasse. Mitteilungs-Blatt.... 8. Jg., Nr. 7 vom 8 . 1 0 . 1 9 1 3 , S. 4.

Zerfall des radikalen Flügels der Partei und neue Linke

51

Schäften getrennte Sitzungen abhalten, nachdem die Organisationen von Berlin und der Provinz Brandenburg gegen den Willen der letzteren voneinander getrennt worden seien. Die Brandenburger Delegierten hätten zur Vorstandswahl zu diesem Zeitpunkt noch keine Stellung genommen. Wels verteidigte sich energisch gegen den Vorwurf, als Vertrauensmann der Rechten in den Parteivorstand gewählt worden zu sein, und warf die Frage auf, wer denn radikal sei, um diese Frage dann selbst zu beantworten und mit seinen alten Gegnern abzuredinen: „ . . . Wenn Stadthagen und Genossen sagen, ich gehöre zum rechten Flügel, so sage ich: Meinungsverschiedenheiten in der Partei sind notwendig und müssen zum Austrag gebracht werden, aber die Geschlossenheit der Partei darf darunter nicht leiden. Das ist auch die Ansicht des allergrößten Teils der Parteigenossen. Wenn das radikal sein soll, daß eine Absplitterung von der Partei propagiert wird, ein Gedanke, den ja Geyer mit dem Hinweis auf die Möglichkeit des Entstehens einer neuen proletarischen Partei berührt hat, dann bin ich nicht radikal. Wenn das radikal sein soll, daß man alles mitmacht, was Arthur Stadthagen und Rosa Luxemburg machen, dann bin ich nicht radikal. Wenn es Mode wird, daß man jeden, der das nicht mitmacht, als im Sumpf stehend bezeichnet, dann will ich gern mit Kautsky und anderen Meistern unserer Theorie im Sumpf stehen. Gewiß, wir haben auf der rechten Seite der Partei Leute, die das Programm revidieren wollen. Aber in Jena saßen die Revisionisten auf der linken Seite. Die Resolution Luxemburg—Geyer zur Steuerfrage bedeutet eine Revision des Parteiprogramms. — Wenn Stadthagen sagt, er freue sich, daß ich aus der Preßkommission herauskomme, so kann ich ihm das nachfühlen, denn wir beiden haben in der Preßkommission Auseinandersetzungen gehabt, die es mir verständlich machen, daß er seiner Freude so unverhohlen Ausdrude gab. Aber das kann ich dem Genossen Stadthagen sagen: Los ist er mich noch lange nicht. Der Ärger, dem man jetzt Ausdruck gegeben hat, entspringt nicht daraus, daß ich die Kandidatur zum Parteivorstand angenommen habe, sondern daß ich gewählt worden bin. Wäre ich durchgefallen, dann hätten sich viele gefreut und mir meine Kandidatur nicht vorgeworfen. Daß ich gewählt wurde, daran bin ich unschuldig. Das hat der Parteitag getan . . .α1β5 War bereits durch die Auflösung des Kartellverhältnisses zwischen Berlin und der Provinz Brandenburg im Jahre 1912 die dominierende m Vgl. Vorwärts, Nr. 264 vom 9. 10.1913, 2. Beilage, S. 3. 4»

I. Anfänge und politische Entwicklung

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bis 1918

Stellung von Otto Wels innerhalb der Berliner Partei beseitigt worden, so wurden durch seine Wahl in den Parteivorstand seine Position und sein Einfluß in der Berliner Partei fast völlig untergraben. Als Hauptursache dafür muß sein Ausscheiden aus der Preßkommission des Vorwärts166 und damit aus dem Berliner Zentralvorstand angesehen werden. Wenn auch nicht verkannt werden soll, daß seine Wahl in den Parteivorstand gegen den Willen der Mehrheit der Berliner Parteimitglieder ihm bestimmt nur bei einer Minderheit Sympathien eingebracht hatte, so konnte er sich jetzt innerhalb der Partei nur noch auf die Provinz Brandenburg als Hausmacht stützen, wo seine Position ungefährdet war und durch seine Delegation in den 1912 gebildeten Parteiaussdiuß und seine Wahl in den Parteivorstand eine weitere Stärkung erfahren hatte. Als Beisitzer des Parteivorstandes gehörte Wels jetzt zwar zur Führungsspitze der Partei; da er jedoch nidit an den täglichen Bürositzungen teilnahm, mußte sein Einfluß auf die Politik und die Entscheidungen des Parteivorstandes unter normalen Umständen und in normalen Zeiten relativ gering sein. Für Wels war es daher außerordentlich vorteilhaft, daß das Brandenburgische Provinzialsekretariat am 1. Juli 1914 von der Lindenstraße Nr. 69 in die Lindenstraße 3, ins Vorwärts-Haus, übersiedelte,1"7 in dem auch der Parteivorstand sein Büro hatte. Hier saß Wels mit dem Parteivorstand unter einem Dadi, war bei jeder Entscheidung sofort zu erreichen und konnte seine freundschaftliche Verbundenheit mit Friedrich Ebert, Hermann Müller, Scheidemann und Otto Braun in politischen Einfluß umsetzen. Damit war durch seine Wahl zum Beisitzer des Parteivorstandes, mit der von der Position her so gut wie kein realer Machtzuwachs verbunden war, dennoch der Grundstein für seinen weiteren Aufstieg in die Führungsspitze der Partei gelegt.



· Nach dem Organisationsstatut der Gesamtpartei war es unmöglich, gleichzeitig

Mitglied des Parteivorstands und Mitglied der Preßkommission des Vorwärts

zu

sein. i«7 Vgl. Handbuch

des Vereins Arbeiterpresse,

hrsg. vom Vorstand des Vereins

Arbeiterpresse, 3. Jg. (1914), Berlin, S. 87. Inwieweit die Verlegung des Brandenburgischen Provinzialsekretariats nach der Lindenstraße 3 mit der Wahl Wels' in den Parteivorstand zusammenhing, läßt sich nicht feststellen.

Die Kriegspolitik Die Kriegspolitik

der Partei

der Partei (1914—1918)

53

(1914—1918)

Stellung in der F r a k t i o n und im P a r t e i v o r s t a n d O t t o Wels hatte sein Reidistagsmandat, wie Friedrich E b e r t , erst 1 9 1 2 in der Stichwahl erhalten. 1 9 8 E i n bestimmtes, festumrissenes A r beitsgebiet scheint ihm v o n der F r a k t i o n jedoch nicht übertragen w o r den zu sein, da er bis 1 9 1 8 n u r dreimal im Plenum das W o r t nahm, wobei er sich m i t drei grundverschiedenen Themen auseinandersetzen mußte.1"® Auch zur Arbeit in den Kommissionen wurde Wels nur in geringem M a ß e herangezogen und v o n der F r a k t i o n im F e b r u a r 1 9 1 2 lediglich — zusammen mit B r e y , Giebel, König, Schwartz, Sachse, Thiele und Spiegel — in die Petitionskommission gewählt. 1 7 0 Politische Führungsaufgaben in der F r a k t i o n sind ihm bis 1 9 1 8 nicht übertragen w o r 108 Vgl. Vorwärts, Nr. 11 vom 14.1.1912, 5. Beilage, S. 1, und a.a.O., vom 26.1.1912, S. 1—3.

Nr.21

Wels kandidierte 1912 erstmals im Wahlkreis Kalau-Luckau (Regierungsbezirk Frankfurt/Oder) und erhielt in der Stichwahl gegen seinen konservativen Gegenkandidaten Henning 15 600 gegen 14 700 Stimmen. 1903 und 1907 hatte Wels noch im Wahlkreis Prenzlau-Angermünde (Regierungsbezirk Potsdam) kandidiert und war seinem konservativen Gegenkandidaten v. Winterfeldt klar unterlegen gewesen. Siehe a. a. O., Nr. 97 vom 26. 4. 1903, 3. Beilage, und a. a. O., Nr. 294 vom 18. 12. 1906, S. 2. 1 M In seiner Jungfernrede vom 12. Februar 1913 hatte er den von der SPD eingebrachten Initiativantrag zur Einführung des Reidistagswahlrechts für die Volksvertretungen in den Bundesstaaten und in Elsaß-Lothringen in der 1. Lesung zu begründen. Vgl. Reichstagsprotokolle, 110. Sitzung, 13. Legislatur-Periode, 1. Session, Bd. 287, S. 3697—3706. Am 12. 5.1914 beschäftigte er sich als Mitglied der Petitionskommission mit Mißständen in der deutschen Kolonie Kamerun. Siehe a. a. O., 225. Sitzung, 13. Legislatur-Periode, 1. Session, Bd. 295, S. 8777—8785. In seiner dritten Rede am 6.7.1918 — a.a.O., 185. Sitzung, 13. LegislaturPeriode, 2. Session, Bd. 313, S. 5868—5876 — setzte er sidi mit den durch den Krieg verursachten Ernährungssdiwierigkeiten auseinander. 170 Vgl. Protokolle der SPD-Fraktionssitzungen, Bd. 1, Sitzungsprotokoll vom 21. 2.1912, IISG Amsterdam. 1966 von der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und Geschichte der Politischen Parteien veröffentlicht unter dem Titel: Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1898 bis 1918, bearb. von Erich Matthias und Eberhard Pikard, Τ. 1 u. 2 ( = Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Reihe 1, Bd. 3), Düsseldorf 1966. Erst während des Weltkrieges wurde Wels als Nachfolger von Ebert in den Ernährungsbeirat gewählt, da Ebert wegen Überlastung nicht mehr in der Lage war, diese Arbeit weiter zu leisten. Vgl. Λ. a. O., Sitzungsprotokoll vom 24. August 1917.

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I. Anfänge und politische Entwicklung

bis 1918

den. Dennoch scheint er sich bereits bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs in der Fraktion durchgesetzt und ein gewisses Ansehen erworben zu haben, wozu wohl auch seine beiden ersten Reichstagsreden — besonders jedoch seine Jungfernrede vom 12. Februar 1913, die sich durch profunde Sachkenntnis, eine kräftige, bildreiche Sprache und Mutterwitz auszeichnete — beigetragen hatten. Wels' Haltung in der Reichstagsfraktion sowie in der Parteileitung zur Frage der Landesverteidigung und Kreditbewilligung bei Ausbrudi des Ersten Weltkriegs war klar und entschieden. Sie sollte sidi audi im Laufe des Krieges und nach dem Zusammenbruch von 1918 nicht ändern. Bereits auf der gemeinsamen Sitzung von Partei- und Fraktionsvorstand am 2. August 1914 im Sitzungssaal des Parteivorstandes, auf der Haase und Ledebour für die Ablehnung der Kriegskredite eintraten, spradi sich Wels zusammen mit den anderen Partei- und Fraktionsvorstandsmitgliedern für eine Bewilligung der Kriegskredite aus.171 In der entscheidenden Sitzung der sozialdemokratischen Fraktion vom 3. August 1914 nahm Wels die gleiche Haltung ein, kam jedoch in der außerordentlich lebhaften Diskussion neben Scheidemann, Landsberg, Dittmann und anderen, die auch für die Kreditbewilligung sprechen wollten, nicht mehr zu Wort, da nach der Rede Ludwig Franks Schluß der Debatte beschlossen wurde. In der sich anschließenden Abstimmung stimmte Wels mit der Fraktionsmehrheit für die Bewilligung der Kriegskredite und wurde neben David, Frank, Hoch und Kautsky in die Kommission gewählt, die bis zum anderen Morgen eine entsprechende Erklärung für die Reichstagssitzung ausarbeiten sollte.172 Ditt171 Vgl. Philipp Scheidemann, Memoiren 1928, S. 248 f.

eines Sozialdemokraten,

Bd. 1, Dresden

Über die Haltung von Wels in der praktisch jeder Entscheidung offenen Zeit vom 29. Juli bis 1. August 1914 liegt ebenso wie über die Beweggründe seiner Stellungnahme am 2. und 3. August kein sicheres Zeugnis vor. Aber genau wie bei Ebert (G. Kotowski, Friedrich Ebert.. ., S. 226) gibt es auch bei Wels keinen Hinweis darauf, daß er in seiner Stellungnahme in der Frage der Landesverteidigung während dieser entscheidenden Tage geschwankt hätte. Zur Entscheidung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion am 3. August 1 9 1 4 vgl. Susanne Miller, Zum dritten August 1914, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 4 (1964), S. 515—523. 172 Vgl. Philipp Scheidemann, Der Zusammenbruch, Berlin 1921, S. 18; Protokoll der Fraktionssitzung vom 3. August 1914, IISG Amsterdam; W. Dittmann, Lebenserinnerungen ..., S. 423—429, 435—436. Ober den Anteil von Wels an der Fraktionserklärung vgl. Nachlaß David, Kriegstagebuch. Aufzeichnungen vom 1.—4. August 1914, Bundesarchiv Koblenz, veröffentlicht unter dem Titel, Das Kriegstagebuch des Reichstagsabgeordneten Eduard David 1914 bis 1918 (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen

Die Kriegspolitik

der Partei

(1914—1918)

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mann schildert die Grundstimmung in der Fraktion am 3. August 1914 wie folgt: „Wir haben vergebens versucht, den Krieg zu verhindern. Wir waren leider zu schwach. Unsere Freunde in Frankreich, England und Rußland leider ebenfalls. Die Kriegsfurie ist entfesselt und bedroht Land und Volk mit feindlicher Invasion. Siegen die feindlichen Imperialisten, so sind unsere Freunde in den Ententeländern nicht imstande, eine Vergewaltigung Deutschlands zu verhindern. Siegen die deutschen Imperialisten, so können wir sie nicht hindern, die Völker der Entente zu vergewaltigen. Hüben wie drüben befinden sich die Völker in Notwehr. Ihnen bleibt nur die Abwehr, um den Krieg zum Stehen zu bringen und dann auf eine schnelle Beendigung zu drängen." Nach Dittmann wollte also die Fraktion weder den militärischen Sieg der einen nodi der anderen Seite, sondern wünschte, daß die Entscheidung sich überhaupt nicht durch Waffengewalt ergebe, um damit alle Kriegführenden zu zwingen, den Krieg durch einen Frieden der Verständigung baldmöglichst zu beenden.173 Die S P D lehnte aufgrund ihrer Auffassung, daß nur Verteidigungskriege zu rechtfertigen seien, Eroberungskriege prinzipiell ab. Sie war die einzige deutsche Partei, für die diese Haltung wirklich programmatisch war.174 Parteien, Reihe 1, Bd. 4), in Verbindung mit Eridi Matthias bearb. von Susanne Miller, Düsseldorf 1966. 173 Vgl. W . Dittmann, Lebenserinnerungen...,

S. 435 f. Siehe Fraktionserklärung

vom 4. 8. 1914 im Reichstag, Reichs tagsprotokolle,

Bd. 306, S. 8.

Wichtigste Quellen für die Kriegspolitik der Partei sind neben den Protokollen der SPD-Fraktionssitzungen (Besdiluß-Protokolle) und den Protokollen der Sitzungen des Parteiausschusses die obigen Erinnerungen Dittmanns und seine teilweise wörtlidien Aufzeichnungen von den Fraktionssitzungen. Vgl. Nadilaß Fotokopie

der

Aufzeichnungen

von

den Fraktionssitzungen

Dittmann,

1914—1916,

unver-

öffentlicht, Bibliothek des Parteivorstands Bonn. Zum Kriegsausbruch und seinen Folgen für die sozialistische Bewegung sowie dem Einfluß und den Auswirkungen der nationalen Begeisterung im August 1914 auf die Haltung der Partei vgl. Johann Meenzen, Außenpolitik deutschen

Sozialdemokratie

1914 bis 1919

und Weltfriedensordnung

der

[Maschinenschrift], Phil. Diss., Hamburg

1951, S. 5 — 1 5 . Zu den Diskussionen in der Partei über das Problem des Imperialismus bis 1914 siehe Kurt Mandelbaum, Die Erörterungen tie über das Problem

des Imperialismus

innerhalb (1895—1914),

der deutschen

Sozialdemokra-

Phil. Diss., Frankfurt/Main

1929 [ 1 9 3 0 ] ; gedruckt: Frankfurt/Main 1926. 174

Über die Stellung der SPD zur Außenpolitik vgl. Hans Rothfels,

und auswärtige

Politik,

in: Deutscher

Staat und deutsche

Parteien

schrift), Berlin 1921, bes. S. 339, und Erich Matthias, Die deutsche

Marxismus

(Meinecke-FestSozialdemokratie

56

I. Anfänge und politische Entwicklung

bis 19 IS

Das trifft audi für Wels zu, der Annexionen grundsätzlich ablehnte und sdion Ende August 1914 im Parteivorstand und bei seinen engeren politischen Freunden in der Fraktion anregte, den sozialistischen Regierungsmitgliedern in Frankreich mitzuteilen, daß die SPD bereit sei, ihren ganzen Einfluß bei der eigenen Regierung geltend zu machen, um Frankreich einen ehrenvollen Frieden zu sichern. Ob und inwieweit diese Anregung von Wels aufgegriffen und realisiert wurde, läßt sidi leider nicht feststellen.175 Bei den schon kurz nach Kriegsausbruch im Parteivorstand auftretenden außerordentlich harten sachlichen und auch persönlichen Auseinandersetzungen über die Kriegspolitik der Partei gehörte Wels zu den energischen Gegnern Hugo Haases und aller derjenigen, die die Politik des 4. August 1914 ablehnten und diese durch eine Verweigerung der Zustimmung zu weiteren Kriegskrediten zu korrigieren versuchten. Bereits auf der Parteivorstandssitzung vom 11. September 1914 kam es zu einem heftigen Zusammenstoß zwischen Wels und Haase. Wels warf Haase vor, daß er überall den Anschein zu erwecken versuche, „als ob er immer alles allein mache". Haase war über diesen Vorwurf von Wels natürlich sehr empört.17' Die Gegnerschaft zwischen Wels und Haase ging so weit, daß Wels sich selbst in Fragen, in denen er sachlich mit Haase durchaus übereinstimmte, hütete, ihm zuzustimmen, um ihm nicht „in die Karten" zu spielen.177 Je mehr Ebert, Haase, Scheidemann, Otto Braun und die beiden Alten Molkenbuhr und Pfannkuch während des Krieges von ihrer parlamentarischen Tätigkeit in Anspruch genommen wurden, um so mehr verlagerte sich die Hauptlast der Büroarbeit im Parteivorstand auf Hermann Müller und Otto Wels.178 Nun erst wirkte sich die räumliche Gemeinsamkeit von Brandenburgischem Provinzialsekretariat und Parteivorstand voll zugunsten von Wels aus, und beide Faktoren zusammen ermöglichten es ihm, innerhalb des Parteivorstands eine Rolle zu spielen, die weit über seine Funktion als Beisitzer hinausging. Die Gunst der Stunde, seine Arbeitskraft und sein Durchsetzungsvermögen verhalfen Wels in diesen vier Jahren von 1914 bis 1918 zu einer Position, die und der Osten 1914—1945. Eine Übersicht ( = Forsdiungsberichte und Untersuchungen zur Zeitgesdiichte, 11), Tübingen 1954, bes. S. 3 u. 4. 175 y g l . £_ David, Kriegstagebuch . . Aufzeichnung vom 29. August 1914. 17e

Vgl. Ph. Scheidemann, Memoiren . .., Bd. 1, S. 267. Vgl. a. a. O., Bd. 1, S. 362. 178 Mündliche Auskunft Erich Ollenhauers. Siehe auch W. Blumenberg, für die Freiheit..., S. 135. 177

Kämpfer

Die Kriegspolitik der Partei (1914—1918)

57

nur mit derjenigen der hauptamtlichen Sekretäre des Parteivorstandes verglichen werden kann. So konnte Eduard David Wels bereits im März 1916 als das „Mundstück des Parteivorstandes" apostrophieren.179 In der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion gehörte Wels zu derjenigen Gruppe von Abgeordneten, die man als „Rechte" bezeichnen kann und deren geistiger Kopf Eduard David war. Zu ihrem festen Kern gehörten dreiunddreißig der hundertzehn sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten. Sie trafen sich zu ihren Sondersitzungen im „Heidelberger", wo für das gemeinsame Vorgehen in Fraktion und Partei die nötigen Informationen ausgetauscht und Absprachen getroffen wurden.180 Zu Eduard Davids politischem Programm gehörte die Absicht, mit Hilfe der Bewilligung der Kriegskredite die demokratischen Ziele der SPD durchzusetzen. Bei einem Auseinanderbrechen der Fraktionsmehrheit vom August 1914 sollte auf dem Boden einer echten reformistischen Politik gemeinsam mit den Gewerkschaftsführern eine neue Partei gebildet werden.181 Wie weit die Mehrheit der „Heidelberger" und auch Wels diesen Gedanken billigten, läßt sich leider nicht feststellen. Sicher ist jedoch, daß Wels diese Zielsetzung bekannt war, zumal er während des Krieges eng mit David zusammenarbeitete und ihn zu seinen politischen und persönlichen Freunden zählte.188 Die Auseinandersetzung mit der Fraktionsminderheit Uber die Gefahren, die der Partei durch die Politik des 4. August drohten, gab sich Wels keinen Illusionen hin. Im Oktober 1914 war es ihm bereits klar, daß Liebknecht und Genossen auf die Spaltung der 179

Vgl. E. David, Kriegstagebuch ..., Aufzeichnung vom 26. 3.1916. Dieser Gruppe gehörten im Dezember 1914 — neben David und Wels — Peus, Hildenbrand, Geck, Binder, Böhle, Südekum, Edmund Fischer, Göhre, Wolfgang Heine, Silberschmidt, Sdiöpflin, Hasenzahl, Sachse, Bender, Erdmann, Rauch, Thöne, Gradnauer, Quarck, Brey, Bude, Quessel, Robert Schmidt, Bauer, Körsten, Keil, Feuerstein, Thiele, Ulrich, Frohme und Richard Fisdier an. Vgl. E. David, Kriegstagebuch ..., Aufzeichnung vom 2.12.1914. 181 Vgl. a. a. O., Aufzeichnungen vom 9. 9.1914 und 4. 2. 1916. 182 David trug bereits im September 1914 Wels und Schöpflin im Archiv des Parteivorstands die Überlegung vor, daß man die Gelder für die Rüstungen bewilligen müsse, um die demokratischen Ziele der Partei zu erreichen. Vgl. a. a. O., Aufzeichnung vom 9. 9.1914. Zur Freundschaft von David und Wels vgl. a. a. O., Aufzeichnungen vom 2. 12.1914 und 21. bis 27.2.1915. 180

I. Anfänge und politische Entwicklung

58

bis 1918

Partei hinarbeiteten.183 Spätestens seit der Sonderaktion der Fraktionsminderheit vom 21. Dezember 1915, als zwanzig SPD-Abgeordnete im Reichstag unter Bruch der Fraktionsdisziplin offen gegen die Kriegskredite stimmten und durch Geyer mit einer eigenen Erklärung hervortraten, war Wels überzeugt, daß die Fraktions- und Parteispaltung unabwendbar sei.184 Wels gestand den zwanzig Dissidenten zwar zu, sie hätten mit ihrer Aktion den Frieden fördern wollen, leider jedodi vergessen, daß es in der Politik nicht nur auf die gute Absicht ankomme, sondern auf das, was man erreiche. Daß das Bild der inneren Zerrissenheit der Partei, das sie geliefert hätten, nicht zu einer Verkürzung des Krieges beitragen werde, sondern zum Gegenteil, ersdieine ihm geradezu als unumstößlich.181 Selbstverständlich wünsche die Minderheit nicht die Niederlage Deutschlands. Ihre Stellungnahme sei bestimmt durch die Leiden des Krieges und den verständlichen Groll über behördliche Maßnahmen und vieles andere. Ihre Haltung wolle auch die Franzosen nicht im Kampf unterstützen, daß diese dennoch aber aus ihr Siegeshoffnungen schöpften, gehöre zum tragischen Geschick dieser Minderheit in der Partei.18' Dieser Umstand zwinge jedoch dazu, andere Wege zu beschreiten. Wohl glaube mancher in der Partei, den Gedanken an Sieg oder Niederlage der einen oder anderen Mächtegruppe als utopisch und kaum wünschenswert zurückweisen zu können. Bei den Gegnern Deutschlands lebe jedoch der Wille zum Sieg stärker denn je. Deshalb halte er es wieder mit dem, was Ledebour, der heute zu den zwanzig Dissidenten gehöre, 1914 gegen die beiden Vorawis-Redakteure Ströbel und Däumig, die keine Entscheidung durch Sieg oder Niederlage gewünscht hatten, erklärt habe: „Ich fühle so deutsch wie nur irgend einer und ich lasse mich an Vaterlandsliebe von keinem Patrioten übertreffen, nur verstehe ich eben die Vaterlandsliebe anders. Und wie nur irgend einer wünsche auch ich den Sieg Deutschlands. Gewiß ist zu befürchten, daß nach einem Siege in Deutschland der Militarismus Triumphe feiert. Aber ich fürchte diesen Sieg nicht, denn dieser Triumph kann nur ein vorübergehender Rausch sein. Bei einer Niederlage dagegen würde der Militarismus ins ungeheuerliche anschwellen und wie 183

Vgl. a. a. O., Aufzeichnung v o m 6 . 1 0 . 1914. 184 Vgl. Protokoll der Sitzung des Zentralvorstandes der Provinz Brandenburg vom 16. Januar 1916, S. 33 [Maschinenschrift], unveröffentlicht, Parteiarchiv der SPD, Bonn. 185 188

A. a. O., S. 34. A. a. O., S. 38 f.

Die Kriegspolitik

der Partei

(1914—1918)

59

eine schleichende Krankheit fortdauern."187 Für die Sozialdemokratie komme es darauf an, daß sie in dieser schwersten Schicksalszeit sich das Vertrauen des Volkes erhalte. Das allein sei für ihr Vorgehen entscheidend. Nach dem Kriege brauche die Arbeiterklasse eine starke und einflußreiche Vertretung im Reichstage notwendiger denn je. Ob man diese dann jedoch haben werde, sei zweifelhaft.188 Wels wie Meerfeld, der Kölner Arbeiterführer und Mitglied des Parteiausschusses, waren der Überzeugung,189 daß die Partei, wenn sie der Politik der Minderheit folgen wolle, völlig den Boden unter den Füßen verlieren werde. Man müsse vielmehr so handeln, daß man die Mehrheit des Volkes für sich gewinne. Der Weg Haases und seiner engeren politischen Freunde führe nicht zu diesem Ziel.1"0 Wiederherausgabe der Fackel Da sich die innerparteiliche Situation nach der Sonderaktion der Minderheit vom 21. Dezember 1915 zusehends verschärfte, beschloß der Bezirksvorstand der Provinz Brandenburg Ende Januar 1916, die bei Kriegsausbruch eingestellte Agitationsschrift Die Fackel als „Gegengift" gegen den im Sinne der Minderheit redigierten Vorwärts wieder herauszugeben. Die Anregung dazu scheint von Eduard David in einem Gespräch mit Wels vom 19. Januar 1916 ausgegangen zu sein; der endgültige Beschluß wurde in einer Besprechung am 24. Januar 1916 im Holzarbeiterhaus mit den Gewerkschaftsführern gefaßt.1'1 Die Sanktionierung dieser Entscheidung und die Übernahme der Verantwortung durch den Zentralvorstand der Provinz Brandenburg war aufgrund des Einflusses von Wels nur eine Formsache. Unter der redaktionellen Leitung von Wels eröffnete die Fackel bereits in ihrer ersten Nummer die Auseinandersetzung mit der MinA. a. O., S. 39. Ebda. 18» Vgl. Protokolle der Sitzungen des Parteiausschusses, 1914—1920, hrsg. vom Vorstand der sozialdemokratischen Partei, im Manuskript gedruckt, Berlin o. J., Sitzung vom 7 . - 9 . 1 . 1 9 1 6 , S. 169. no Vgl. Protokoll der Sitzung des Zentralvorstandes der Provinz Brandenburg vom 16.1.1916, Parteiardiiv der SPD, Bonn, S. 40. hi Vgl. E.David, Kriegstagebuch..., Aufzeichnungen vom 19. und 24.1.1916. An der Besprechung im Holzarbeiterhaus nahmen David, Wels, Südekum, Leipart, Bauer, Schumann, Baumeister und Baake teil. Zum Besdiluß des Brandenburger Zentralvorstandes siehe: Die Fackel, 17. Jg., Nr. 1 vom Februar 1916, Beilage. 187 188

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I. Anfänge und politische Entwicklung bis 1918

derheit in der Partei — und hier vornehmlich mit der radikalen Gruppe um Liebknecht und Luxemburg — in voller Schärfe."2 Im März 1916 stellte die Fackel die unterschiedlichen Auffassungen in der Hauptstreitfrage in ihrer Sicht dar. Zum Zwecke der Auseinandersetzung müsse man vereinfachen und drei Hauptrichtungen in der Partei unterscheiden, die von der Fraktionsmehrheit, der Fraktionsminderheit und den Extremen um Liebknecht repräsentiert würden. Fraktionsmehrheit und Fraktionsminderheit seien sich einig in der grundsätzlichen Anerkennung des Rechts auf Vaterlandsverteidigung und der Pflicht dazu, wenn die Voraussetzungen dafür gegeben seien. Sie unterschieden sich nur in dem Urteil über die gegenwärtige Lage, über Tatsachenfragen. Die Mehrheit erkenne den Friedenswillen der deutschen Regierung an, die Minderheit zweifle ihn an. Die Minderheit glaube, daß das Kriegsziel soweit erreicht sei, wie der Charakter des Verteidigungskrieges das erfordere. Für die Mehrheit habe Scheidemann am 9. Dezember 1915 gesagt, daß Deutschlands Grenzen gesichert seien. Er habe freilich hinzugefügt, es handle sich jetzt noch um die Frage, ob die Gegner zum Frieden geneigt seien. Diese hielten jedodi daran fest, daß sie entscheidend siegen, den Krieg nach Deutschland tragen und hier den Frieden diktieren wollten. Die Minderheit in der Partei lege das Hauptgewicht auf die Furcht vor deutschen Annexionsgelüsten, die Mehrheit auf den Kampf gegen den Kriegswillen der Feinde. Beide seien sich in dem heißen Wunsch nach raschestem Frieden einig und unterschieden sich nur in ihrem Urteil darüber, wer an der Verlängerung des Krieges schuld sei, deutsche Eroberungsgier oder feindliche Zerschmetterungsabsicht. Nur unter sdiwerer Verkennung der wirklichen Lage könne man zu dem Urteil gelangen, Deutschland brauche nur die Friedenshand auszustrecken und zu zeigen, daß iss v g i . ebda. Beschluß des Bezirksausschusses der Provinz Brandenburg gegen die Sonderaktion der Minderheit im Reichstag. Bereits am 24. Februar 1916 hatte der Vorwärts kritisch bemerkt, daß die soeben erschienene Nummer der Fackel zu mehr als drei Vierteln mit Parteipolemik angefüllt sei. Vgl. Vorwärts, Nr. 54 vom 2 4 . 2 . 1 9 1 6 ; Kurt Koszyk, Zwischen Kaiserreich und Diktatur. Die sozialdemokratische Presse von 1914 bis 1933 ( = Deutsche Presseforschung, Bd. 1), Heidelberg 1958, S. 79. Wels stimmte mit der in der Fackel eingenommenen Haltung weitestgehend überein, da offensichtlich ein Teil der Artikel von ihm selbst, ein anderer von seinen engeren politischen Freunden wie Scheidemann, Stampfer und anderen stammte. Bei der Verteidigung der Fackel gegen die Angriffe der Gegner der Fraktionsmehrheit identifizierte sich Wels sehr stark mit ihr. (Vgl. unten, S. 64—65.)

Die Kriegspolitik

der Partei

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es nichts erobern wolle, um auf der anderen Seite in Kürze den Sieg der Friedensneigung herbeizuführen. Der große theoretische Gegensatz liege jedoch zwischen der Hauptmasse der Partei und den Extremen. Liebknecht, Radek und Henke gingen davon aus, daß die Rede von der Vaterlandsverteidigung eine verbrauchte Phrase, ein „Prachtstück aus der geschichtlichen Rumpelkammer" sei. Sie lehrten nicht nur, daß die kapitalistische Gesellschaft auf Ausbeutung beruhe und kapitalistische Kriege die Ausbeutung nur steigerten, weshalb sich der Gegensatz zwischen besitzender Klasse und Proletariat audi während des Krieges nur verschärfen, nicht mindern könne, sondern sie erklärten zudem auch jeden Krieg der Gegenwart für ein imperialistisches Abenteuer der herrschenden Klasse, mit dem das arbeitende Volk nichts gemein habe. Das sei der Stein des Anstoßes für viele einsichtige Parteimitglieder. Das Schlagwort vom Imperialismus habe den Extremen die ruhige Einsicht geraubt. Auch der Weltkrieg habe unzweifelhaft einen imperialistischen Charakter und sei ein Kapitalistenkrieg. Aber mit dieser Feststellung dürfe das Denken nicht aufhören, sondern müsse erst anfangen. Seit es in der Welt einen Kapitalismus, ja seit es überhaupt eine Klassengesellschaft gebe, habe jeder Krieg einen doppelten Charakter: er werde zwar für die Interessen einer Klasse, meist der Herrschenden, geführt, setze zugleich aber die gesamte Existenz des Staates und der Nation aufs Spiel. Das sei der springende Punkt. Der Kampf um die Erhaltung der Türkei und den Besitz der deutschen Kolonien entspringe sicherlich kapitalistisch-imperialistischen Bedürfnissen. Aber man müsse auch sehen, daß die Aufteilung der Türkei, der Verlust der deutschen Kolonien und der Sieg des englischen, französischen und russischen Imperialismus eine Katastrophe auch für die deutsche Arbeiterschaft bedeuten würden. Damit wären der Niedergang der deutschen Industrie und das Ende jeder Aufstiegsmöglichkeit für die deutsche Arbeiterschaft verbunden. Die Niederlage Deutschlands wäre der Triumph des Zarismus, wie 1870 der Sieg Frankreichs zum Triumph des Bonapartismus geworden wäre. An der Notwendigkeit der Vaterlandsverteidigung ändere es nichts, daß der Kapitalismus von 1870 zum Imperialismus von 1914 geworden sei. So untrennbar wie damals kapitalistisches und demokratisches Streben nach einem einigen Deutschland verknüpft gewesen sei, so untrennbar sei heute deutscher Imperialismus mit dem Interesse der Arbeiterschaft verbunden, sich nicht vom Weltmarkt ausschließen zu lassen oder den Feind ins Land zu rufen. Diesem Gedankengang

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I. Anfänge und politische Entwicklung

bis 1918

könne man sich nur entziehen, wenn man am Ende des Weltkrieges die Weltrevolution stehen sehe, die sofort die internationale sozialistische Völkergemeinschaft bringen werde. Sie, die Fackel, vermöge diese kühne Katastrophentheorie nicht zu teilen und sei überzeugt, daß das Ende des Weltkrieges ebensowenig die proletarische Weltrevolution bringen werde wie sein Anfang. Man könne nicht gleichzeitig predigen, daß der Krieg den Kapitalismus einerseits stärken und daß er andererseits zu seinem Zusammenbruch führen müsse. Es sei das Unglück des Proletariats, daß der Kapitalismus, solange er herrsche, Verhältnisse schaffe, für die man selbst nicht verantwortlich sei, wie zum Beispiel für diesen Weltkrieg, denen man sich aber gleichwohl nicht entziehen könne, weil man gezwungen sei, innerhalb dieses Kapitalismus zu leben. Auch im imperialistischen Weltkrieg müsse das Proletariat sein Vaterland, seine Lebensmöglichkeit und alle seine Aussichten auf folgende Befreiungskämpfe verteidigen. 1 " Nach der endgültigen Spaltung der Reichstagsfraktion am 24. März 1916 schlug die Fackel immer schärfere Töne an.194 Den bis dahin schwersten Angriff führte sie in der August-Nummer unter der Überschrift Lockspitzelarbeit. Sie wandte sich gegen die anonymen Flugblätter, die besonders von der Spartakus-Gruppe herausgegeben worden waren. Zunächst setzte sie sich mit dem in den Flugblättern enthaltenen Vorwurf auseinander, die Partei- und Gewerkschaftsführer hätten in dieser großen Krise der Weltgeschichte, deren sichtbarster m Vgl. Die Fackel, 17. Jg., Nr. 2 vom März 1916: Imperialistische politik und Landesverteidigung.

Eroberungs-

1M Vgl. a.a.O., 17. Jg., Nr. 3 vom April 1916: Die Spaltung der Reichstagsfraktion / Die Theorie der Parteispaltung; a. a. O., Nr. 4 vom Mai 1916: Die Organisation der Parteizerstörung; a.a.O., Nr. 6 vom Juli 1916: Ledebour und das ,Umlernen'. Der Vorwärts, 33. Jg., Nr. 124 vom 6 . 5 . 1 9 1 6 , Bezirks-Beilage {Des Rätsels Lösung), berichtete von Beziehungen der Fackel zur Internationalen Korrespondenz Albert Baumeisters, des Sekretärs von Carl Legien. Am 7. Mai 1916 druckte der Vorwärts, 33. Jg., N r . 125, 1. Beilage, eine Zuschrift von Otto Wels ab, in der dieser darauf hinwies, daß der Vorwärts sich das „Rätselraten" etwas zu leicht gemacht habe. D a ß er das Rätsel nicht gelöst habe, beweise der Umstand, daß die Beziehungen zwischen der Internationalen Korrespondenz und der Fackel lediglich darin bestünden, daß die erstere gegen Bezahlung 300 Exemplare der Fackel beziehe und einem Teil ihrer Auflage beilege. Er sei bereit, mit dem Vorwärts und der Leipziger Volkszeitung unter denselben Bedingungen in genau die gleichen „Beziehungen" zu treten, da sich mit der größeren Auflage die Herstellungskosten der Facfee/ verbilligten.

Die Kriegspolitik

der Partei

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Gipfelpunkt für die Parteipolitik der 4. August 1914 gewesen sei, das Proletariat verraten und verkauft. Als man diesen Vorwurf zuerst gelesen habe, habe man gelacht. Je deutlicher der furchtbare Ernst des Krieges mit der Zahl der Opfer und der steigenden Knappheit der Nahrungsmittel wurde, je weniger sich bei der Hartnäckigkeit der feindlichen Vernichtungspläne eine Aussicht auf Frieden zeigen wolle, um so mehr Anhänger habe diese Beschimpfung gefunden. Für welchen Preis die Fraktionsmehrheit das Proletariat verraten haben solle, sei der Fraktionsmehrheit bisher vorenthalten worden. Da die „Verräter" jedoch keine Bezahlung erhalten hätten, sei der Verrat nicht sehr wahrscheinlich. Noch unklarer sei der Vorwurf des Verrats deshalb, weil kein Mensch bestreiten könne, daß von Marx und Engels ab jeder Arbeiterführer die Notwendigkeit erörtert und zugegeben habe, in einer bestimmten Lage mit aller Kraft für den Sieg des eigenen Landes einzutreten. Wenn es wahr sei, daß über neunzig von hundertzehn sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten am 4. August 1914 Verrat begangen hätten, dann sei es am gescheitesten, die Partei Selbstmord begehen zu lassen und sie schleunigst einzusargen und zu verscharren: „Denn hätte das Proletariat nach 50 Jahren Organisationsarbeit fast lauter Verräter zu Führern gehabt, so wäre das ein überwältigender unwiderstehlicher Beweis dafür, daß das Proletariat politisch gänzlich unfähig ist und immer betrogen werden wird." 185 Es sei höchste Pflicht aller verständigen Parteimitglieder, endlich diesem unsinnigen Geschrei von Verrat durch die Partei mit aller Schärfe entgegenzutreten. Inzwischen habe die anonyme Flugblattliteratur zum offenen Landesverrat geführt. Auf unbekannten Wegen werde in Arbeiterkreisen ein Flugblatt verbreitet, das zum allgemeinen Streik in der Munitionsindustrie auffordere, und an unmißverständlichen Beispielen werde gezeigt, daß dies der Massenstreik sei. Diese Propaganda sei Landesverrat, Verrat an den Klassengenossen im Heere. „Die Flugblätter sind, wie gesagt, anonym; ob sie von Verrückten oder von englisch-russischen Lockspitzeln herrühren, wissen wir nicht. Von Sozialdemokraten können sie unmöglich stammen. Wer sich dazu hergäbe, eine solche Propaganda auch nur durch Lässigkeit zu unterstützen, würde damit ohne weiteres für alle Zeiten für die deutsche Sozialdemokratie erledigt sein. Denn diese Propaganda ist ehrlos und vaterlandslos, und mit einem Menschen, der so tief sinkt, können wir 195

Vgl. Die Fackel, 17. Jg., N r . 7 vom August 1916.

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I. Anfänge und politische Entwicklung

bis 1918

natürlich nichts, gar nichts gemein haben."186 Wer heute etwas sagen wolle, solle den Mut haben, es mit seinem Namen zu verantworten. Da die Gefahren dieser anonymen Propaganda sich jetzt deutlich gezeigt hätten, sei keine Unterscheidung zwischen ehrlicher Verstiegenheit und landesverräterischer Niedertracht, die wahrscheinlich vom Ausland finanziert werde, mehr möglich. Deshalb seien die Parteimitglieder gewarnt; sie sollten endlich Schluß mit diesen anonymen Flugblättern machen, die als Deckmantel für Leute dienten, die das deutsche Volk und vor allem das deutsche Proletariat ins Unglück stürzen wollten.1®7 In der Sitzung des Parteiausschusses vom 18. August 1916 kam es wegen der Fackel zu härtesten Auseinandersetzungen zwischen Stadthagen und Wels. Stadthagen teilte mit, im Berliner Zentralvorstand sei davon gesprochen worden, daß eine Reihe von Verhaftungen und Sistierungen stattgefunden hätte, die auf Denunziationen in Parteiblättern zurückzuführen seien. Als das Schamloseste in dieser Art sei der Inhalt der Fackel bezeichnet worden. Es sei in der Tat unerhört, wie Parteimitglieder, die andere Ansichten hätten, in diesem Blatt bekämpft würden. Er bedauere, aufgrund einer Reihe von Vorkommnissen der letzten Zeit annehmen zu müssen, daß die Berliner Zentralstelle der „Uberannexionisten" mit einer Reihe von Briefsperren und Redeverboten gegen Mitglieder des linken Flügels vorgegangen sei, und zwar ermutigt durch Artikel von Presseerzeugnissen wie der Parteikorrespondenz und der Fackel; diese strotze geradezu von Unwahrheiten und Denunziationen, insbesondere in der letzten Nummer. Die ärgste Denunziation finde sich jedoch in der Fackel vom August in dem Artikel Lockspitzelarbeit. Dort werde behauptet, daß ausländische Gelder zur Verbreitung von Flugblättern gedient hätten. Etwas Schamloseres als diese Unterstellung kenne er nicht. Die Folge des Artikels sei die Verhaftung einer Reihe von Genossen gewesen. Die Behauptung, das Geld für die Flugblätter stamme aus dem kriegführenden Ausland, bedeute den Vorwurf des Landesverrats. So gehe es von der ersten bis zur letzten Seite dieses Organs, und zwar in einer Weise, die man auf bürgerlicher Seite stets als den Gipfel der Gemeinheit gekennzeichnet habe. Die Arbeiter seien mit Recht empört, und ein Mann, der derartiges verbreitet, sei Mitglied des Parteivorstands — wie er in den Parteivorstand gekommen sei, sei ja bekannt und 1M 197

Vgl. Vgl.

ebda. ebda.

Die Kriegspolitik der Partei

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richte ihn in den Augen jedes anständigen Menschen. Der Parteivorstand hätte gegen ein solches Machwerk einschreiten müssen. Durch dieses werde bewußt auf die Parteispaltung hingearbeitet." 8 Wels wies die Vorwürfe Stadthagens scharf zurück und verwahrte sich dagegen, daß dieser von denunziatorischen und schamlosen Artikeln der Fackel spreche. Stadthagen sei der allerletzte, der für ihn und auch für einen großen Kreis von Parteimitgliedern als Richter über Ehrenhaftigkeit und Anstand gelten könne. In diesem Punkte seien die Meinungen in den Kreisen der Parteimitglieder ziemlich eindeutig. Wenn derart dreiste Behauptungen wie die schamloser Denunziation aufgestellt würden, dann solle man auch sagen, wo denunziert worden sei. Dieselben Leute, gegen die sich die Parteimehrheit während des Krieges so oft hätte wenden müssen, weil von ihnen Mitteilungen aus vertraulichen Besprechungen der Parteikörperschaften an die Öffentlichkeit gebracht worden seien, und die — zur Rede gestellt — einfach erklärt hätten, sie wiesen die Verpflichtung zur Vertraulichkeit zurück, diese Leute kämen nun und würfen anderen Denunziation, Schamlosigkeit und anderes vor. Er persönlich müsse erklären: „Mein Charakter und meine Tätigkeit in der Arbeiterbewegung und mein Wille, für jede meiner Handlungen die Verantwortung zu übernehmen, dürften jedem bekannt sein. Vor Schimpfereien Stadthagens ziehe ich mich nicht ins Mauseloch zurück. Schamlos ist die Art und Weise, wie er die Verhetzung der Berliner Parteigenossen gegen uns betrieben h a t . . . Wie ich in den Parteivorstand hineinkam, wissen diejenigen, die mich auf dem Parteitag gewählt haben. Wie Stadthagen schon woanders hinausgekommen ist, das wissen nicht alle."198 Die Fackel sei bei dem Artikel Lockspitzelarbeit von dem Gedanken geleitet gewesen, der Partei zu dienen. Der Artikel habe nichts anderes beabsichtigt, als die Arbeiter davor zu bewahren, zu dem Unglück, das die Leiden des Krieges über alle gebracht hätten, nun noch selbstverschuldetes Unglück über sich und ihre Familien zu bringen. Die gewissenlosen Anstifter des Munitionsstreiks riefen: „Haltet den Dieb", um die schwere Verantwortung von sich abzuwälzen.200 IM Vgl. Protokoll der Sitzung des Parteiausschusses vom 18. August 1916, in: Protokolle der Sitzungen des Parteiausschusses ..., S. 16 f. I M W L spielte mit dieser Bemerkung auf den Aussdiluß Stadthagens aus der Anwaltskammer an. Zur kritischen Würdigung Stadthagens vgl. Vorwärts, Nr. 334 vom 6.12.1917, Beilage. ΪΟΟ Vgl. Protokoll der Sitzung des Parteiausschlusses vom 18.8.1916, in: Protokolle der Sitzungen des Parteiausschusses..S. 23—25. E

5

Adolph

S

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I. Anfänge und politische

Entwicklung

bis 1918

Gründung des „Vereins Vorwärts" und Spaltung der Partei Neben der publizistischen Auseinandersetzung und den immer größer werdenden sachlichen und persönlichen Meinungsverschiedenheiten in den Spitzengremien der Partei hatte seit Anfang 1916 in Berlin audi der Kampf um die Schlüsselpositionen in den einzelnen Parteiorganisationen begonnen. Am 25. April 1916 faßte der Berliner Zentralvorstand unter Bruch der bei Kriegsbeginn gefällten Entscheidung, während des Krieges keine Neuwahlen zu den verschiedenen Parteiämtern vorzunehmen, weil zu viele Parteimitglieder im Felde stünden, mit zweiundvierzig gegen achtundzwanzig Stimmen den Beschluß, eine Verbandsgeneralversammlung mit Vorstandsneuwahlen auf der Tagesordnung einzuberufen. Die überstimmten Anhänger der Politik der Fraktionsmehrheit, darunter Otto Wels, Eugen Ernst und Richard Fischer, protestierten zwar in einer scharfen Erklärung. Sie warfen der Mehrheit des Zentralvorstandes vor, gegen Wortlaut und Sinn des Verbandsstatuts zu verstoßen, auf die schwierige Lage der Partei keine Rücksicht zu nehmen und jedes Mittel einzusetzen, um die Leitung des Verbandes mit Leuten zu besetzen, die den parteischädigenden Wünschen unverantwortlicher Kreise willenlos nachkämen; sie waren praktisch jedoch machtlos.201 Die Verbandsgeneralversammlung vom 25. Juni 1916 wählte dann auch einen Vorstand, der sich ausschließlich aus Anhängern der verschiedenen Richtungen der Minderheit zusammensetzte. Alle Anhänger der Mehrheit, die zum Teil schon seit der Verbandsgründung von 1905 ihre Positionen innegehabt hatten, wurden abgewählt.202 Während der Rede von Wels bezeichnete Stadthagen Wels in einem Zwischenruf als „schamlosen Denunzianten". Das zeigt, wie weit die persönliche Abneigung bereits ging. Auch Ebert nahm scharf gegen Stadthagen Stellung. Er wies den Vorwurf, aufgrund bestimmter Pressepublikationen seien Parteigenossen verhaftet worden, zurück. Könne man diesen schweren Vorwurf gegen Parteigenossen weniger beweiskräftig formulieren, als das hier geschehen sei? Mit solcher Rabulistik könne man doch im Parteiausschuß nicht operieren. Wenn man solche Vorwürfe erhebe, dann müsse man Tatsachen vorbringen. Dann könne man darauf auch antworten (α. α. Ο., S. 26). 201 Vgl. Mitteilungs-Blatt..., vom 27. 4.1916, S. 4: Aus der

11. Jg., Nr. 2 vom 1 0 . 5 . 1 9 1 6 ; Vorwärts, Partei.

Nr. 115

202 Vgl. Mitteilungs-Blatt..., 11. Jg., Nr. 4 vom 1 2 . 7 . 1 9 1 6 , S. 1—7; Vorwärts, Nr. 174 vom 27. 6. 1916, 2. Beilage. Stampfer bezeichnete in einem Artikel in der Schwäbischen Tagwacht die Vorgänge in Berlin als „Tollhaus" (Vorwärts, Nr. 177 vom 30. 6.1916, S. 4). Der Parteivorstand führte den Sieg der Opposition in Berlin auf die zahlreichen verleumde-

Die Kriegspolitik

der Partei

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Als Kommentar zur Verbandsgeneralversammlung hatte Wels einen Tag vorher in einer Leserzuschrift an den Vorwärts, betitelt Die Wahlmache zu den Vorstandswahlen in Berlin, die Praktiken der Opposition angegriffen. Die „grundsätzliche" Aufklärung, die den Berliner Parteimitgliedern seit über einem Jahr zuteilgeworden sei, habe sich in den letzten Tagen bei Gelegenheit der Wahlen zu den Vorständen der Kreisvereine voll ausgewirkt. Vielfach sei jeder Versuch einer Aussprache durch „Übergang zur Tagesordnung" von vornherein verhindert worden. Sie sei auch nicht notwendig gewesen, weil die Sonderorganisationen der Opposition ihre Vorarbeit bereits beendet gehabt hätten. Nachdem im 4. Berliner Wahlkreis das Statut, das Urwahlen für den Vorstand vorsah, willkürlich außer Kraft gesetzt worden sei und die Konferenz der Kreisfunktionäre den Mitgliedern die Last, sich an das Statut zu halten und demokratisch vorzugehen, abgenommen habe, hätten die Vorstandswahlen nun audi in den übrigen Kreisen ihren „programmäßigen" Verlauf genommen. Je nachdem, welche Oppositionsrichtung dominierte, sei auch schon zu den Wahlen des Verbandsvorstandes von Groß-Berlin und zur Wahl des Mitglieds des Parteiausschusses Stellung genommen worden. Uber die Besetzung aller Ämter hätten sich die Richtungen der Opposition verständigt. Nur bei der Wahl zum Parteiausschuß würden sie die Kräfte messen. Hie Rosa Luxemburg, für „Spartakus"! Hie Stadthagen, für Ledebour und Hoffmann! sei die Parole. In den Wahlkreisversammlungen mit gemischter Opposition sei dieser Kampf vermieden worden. Hier habe man den Delegierten die Abstimmung freigegeben. Welch eifrige Vorarbeit zu diesen Vorstandswahlen geleistet worden sei, welches Maß an Unkenntnis der politischen Verhältnisse man bei den Wählern voraussetze und dank der monatelangen demagogischen Verleumdungskampagne der Opposition durch anonyme Schmähschriften und Sonderkonventikel mit Recht habe voraussetzen können, zeige ein Werbeschreiben der Richtung Ledebour/Hoffmann im 5. Reichstagswahlkreis, das die Politik der Mehrheit als „Bewilligung aller von der Regierung geforderten Mittel zur Verfolgung ihrer Eroberungspolitik und damit ein Krieg ohne Ende" charakterisiere.203 rischen anonymen Flugblätter sowie auf die tendenziöse Redaktionsführung des Vorwärts zurück, die es den Berliner Parteigenossen unmöglich gemacht habe, ein klares Bild von den politischen Vorgängen und dem Verhalten der Partei zu gewinnen (a. a. Ο., Nr. 175 vom 28. 6. 1916, Beilage). 803 Vgl. a. a. Ο., Nr. 171 vom 24. 6.1916, Beilage. 5»

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1. Anfänge und politische Entwicklung bis 1918

Ein erster organisatorischer Ansatzpunkt für die Anhänger der Mehrheitspolitik ergab sich in Berlin erst wieder im Oktober 1916, als nach dem vierten Vorwärts-Verbot während des Krieges Hermann Müller, als Mitglied des Parteivorstandes mit allen Vollmachten ausgestattet, in die Vorwärts-Redaktion eintrat und der Berliner Zentralvorstand, die Preßkommission und die Mehrheit der Vorwärts-Redaktion zur Abonnementsgeldverweigerung und zum Boykott des Vorwärts aufriefen.*04 Zur Abwehr dieser Maßnahmen gründeten Otto Wels und Eugen Ernst am 10. November 1916 den „Verein ,Vorwärts'. Lese- und Diskutierklub für Groß-Berlin",205 der die Anhänger der Mehrheitspolitik in Berlin sammeln sollte. Das Mitteilungs-Blatt der Minderheit charakterisierte den Teilnehmer kreis folgendermaßen: „ . . . Da haben sich zusammengefunden der rote Fackel-Wels, Baake, Stampfer und alle, die mit Konrad Hänisch am Strange der ,Glocke' ziehen."204 Am 19. November griff das Mitteilungs-Blatt in einer scharfen Polemik Eugen Ernst und besonders Otto Wels als die Gründer des Vereins Vorwärts an: „... Eugen Ernst ist ein ehrenwerter Mann. Auch Otto Wels ist ein ehrenwerter Mann, sie alle, die am 10. November die Hand zum Rütlischwur für Pflege sozialdemokratischer Solidarität' zur Saaldecke emporgereckt haben, sind ehrenwerte Männer. Ihr leidenschaftliches Gerechtigkeitsgefühl und ihr Parteigewissen verabscheut jede Sonderorganisation, der Einheit und Geschlossenheit der Parteibewegung gilt ihres Herzens letzter Schlag. Pech und Schwefel haben sie die ganze Kriegszeit vom Himmel herabgeflucht auf alle die Bösewichte, die nach ihrer Meinung Sonderbündelei getrieben haben. Und jetzt gehen diese lieben Kerle hin und gründen selbst eine Sonderorganisation, mit dem klar ausgesprochenen Zweck, der geschlossenen, von ihnen selbst mit aufgebauten Berliner Organisation in den Rüdken zu fallen.. ."207 Uber die Gründungsversammlung selbst schrieb das MitteilungsBlatt: „Boykott! — Sabotage! — Hu, hu! In der denkwürdigen Versammlung vom 10. November tat vor den

204 Zur Auseinandersetzung um den Vorwärts vgl. Eugen Prager, Geschichte der U.S.P.D. Entstehung und Entwicklung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Berlin 1921, S. 116—118. 205 Mitteilungs-Blatt..., 11. Jg., Nr. 9 vom 12.11.1916, S. 5 208 A. a. O., S. 4. 207 A. a. O., 11. Jg., N r . 10 vom 19.11. 1916, S. 2—4.

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Lese- und Diskutierklublern auch Herr Otto Wels gewichtig das Mundwerk auf. Otto Wels — auch eine feine Nummer! Solange es noch galt, auf der Würdeleiter der Partei emporzuklettern, brauchte er die Berliner. Da gab es keinen energischeren Verfechter der Rechte der Berliner Parteiorganisationen als den Vorsitzenden der Preßkommission. Jetzt ist man zu Amt und Würden emporgekommen, hat ein Reichstagsmandat und ist sogar als Berliner Vertreter Mitglied des heiligen Areopags, des Parteivorstandes, geworden, — daß das gegen den ausdrücklichen Willen der Berliner Parteigenossen geschah, ficht einen Otto Wels nicht weiter an. In der Kriegszeit hat sich Otto Wels mit Haut und Haaren der scheidemännlichen Kriegspolitik verschrieben. Da die „verhetzten" und „tollwütig" gewordenen Berliner Genossen wie so viele andere draußen im Reich sich nicht mehr von Kriegs- und Siegestiraden der Scheidemänner benebeln lassen wollen, muß Otto Wels schon aus Selbsterhaltungstrieb mit seinem Vorstandsbruder dafür sorgen, daß den Berliner Arbeitern die reine, unverfälschte Lehre des Sozialismus in der, von Müllers Knüppel umgerührten, schleimig-seimigen Stampfersauce serviert wird. Mit dem stinkenden Qualm seiner Pech-„Fackel" allein schafft er's nicht. Darum ist Otto Wels auch tapfer und mit der ihn zierenden Gewissensrobustheit drauf und dran, den Berlinern ihr Recht auf den „Vorwärts" abzuknöpfen und der nach den einst von Wels aufgestellten Grundsätzen arbeitenden Preßkommission die Kehle zuzuschnüren . . . Also besagter Otto Wels hat am 10. November vor der siebenmal gesiebten Schar der Vorstandstrabanten gegen den „Boykott" des „Vorwärts" durch die Berliner Parteiorganisation gewettert. Er als „ehrlicher Sozialdemokrat" — so stellte er sich selbst der andächtig lauschenden Festversammlung vor — zog alle Register auf, um vor allem den unschuldigen Gewerkschaftskindlein, auf deren Fang es jetzt die Macher und Schieber der Vorstandspolitik abgesehen haben, das Gruseln zu lernen. ,Boykott!!', ,Sabotage!' — ,anarchosozialistische und syndikalistische Tendenzen!!' — so rollte es mit Donnergepolter aus dem Munde eines Otto Wels.. ."208 208

Ebda.

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In Berlin war mit der Eroberung der Partei durch die Minderheit und der Gründung des Vereins „Vorwärts" de facto die Parteispaltung bereits vollzogen. Die Sonderkonferenz der Opposition am 7. Januar 1917 in Berlin209 lieferte in der Parteiausschußsitzung vom 18. Januar 1917 dann den Vorwand, um die organisatorische Trennung innerhalb der Gesamtpartei durchzuführen, und beendete damit eine Situation, die politisch und organisatorisch für die Partei untragbar geworden war. Wels hatte bereits am 11. Januar in einem Gespräch mit seinem Freunde Eduard David von der Entschlossenheit des Parteivorstandes berichtet, die Spaltung der Gesamtpartei durchzuführen.210 Wels war es dann auch, der Anhänger der Mehrheitspolitik unter den Mitgliedern des Parteiausschusses am Abend vor der entscheidenden Sitzung am 18. Januar auf die Spaltung vorbereitete.211 Auf der Sitzung des Parteiausschusses griff er die Opposition scharf an. Als Kernproblem bezeichnete er, daß die Partei zu einer einheitlichen Aktion nidit mehr fähig sei, weil sich die Minderheit der Mehrheit nicht unterordne. Er erinnerte in diesem Zusammenhang an ein Wort Haases auf dem Magdeburger Parteitag von 1913, wo dieser gesagt habe, daß eine Organisation, in der sich die Minderheit der Mehrheit nicht füge, zum Tode verurteilt sei. Denn es hieße verkennen, daß jede auf freiem Entschluß beruhende Gemeinschaft das Grundgesetz des eigenen Lebens zerstört, wenn sie der Minderheit gestattet, abweichend von den Beschlüssen der Mehrheit zu handeln. Wären diese Worte Haases während der ganzen Kriegszeit, besonders von ihm und überall, beachtet worden, dann hätte die Reichskonferenz der Partei vom 21. bis 23. September 1916 die strittigen Fragen entscheiden können. Aber schon dort habe sich die Opposition in einer förmlichen Nebenkonferenz organisiert, Redner bestimmt und Erklärungen abgegeben, darunter auch die Resolution, daß die Reichskonferenz nicht berechtigt sei, richtunggebende Beschlüsse zu fassen, und daß die Opposition sich an den Abstimmungen nicht beteiligen werde. Jetzt aber habe sie die Organisationen, das heißt: Einrichtungen der Partei, zu besonderen Konferenzen der Opposition benutzt, auf der richtungweisende Beschlüsse gefaßt worden seien. Bereits vor Jahresfrist habe Mehring in einem Artikel gesagt, es sei gar nicht zu verheimlichen, daß die Opposition sich zusammenfinde; sie bediene sich in der Kriegszeit 20e

Vgl. E. Prager, Geschichte der U.S.P.D. . .

210

Vgl. E. David, Kriegstagebuch

211

A. a. O., Aufzeichnung vom 1 8 . 1 . 1917.

..

S. 124—129.

Aufzeichnung vom 11. 1. 1917.

Die Kriegspolitik der Partei

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der gleichen organisatorischen Mittel gegen die Mehrheit der Partei, die die Partei selbst unter dem Ausnahmegesetz gegen die Regierung angewandt habe. Dann setzte sich Wels mit dem Vorwurf auseinander, bei der Gründung des Vereins „Vorwärts" in Berlin habe es sich um die Bildung einer Sonderorganisation gehandelt. 212 Dieser Vorwurf sei freilich eine sehr einfache Formel der Opposition. Wenn ein solches Vorgehen als Mittel dienen solle, um die eigenen illegalen Organisationen für legitim zu erklären, so wäre man wohl schon längst darauf verfallen, da es Diskutierklubs in der Partei schon immer gegeben habe. Diese seien vielleicht nicht gern gesehen worden, hätten jedoch existiert. Eine Sonderorganisation habe man in ihnen jedoch nie erblickt. Wie hätten aber die Dinge in Berlin gelegen? Man verschweige, daß der Parteivorstand auf den Vorwärts absolut keinen Einfluß gehabt habe, daß der Einfluß des Parteivorstandes auf den Vorwärts im Widerspruch zum Statut der Partei durch die Preßkommission im Bunde mit der Redaktion vollkommen annulliert worden sei. So hätten Preßkommission und Redaktion über die alte Organisation von Teltow-Beeskow den Boykott verhängt und trotz aller Proteste des Parteivorstandes aufrechterhalten, ja ihn sogar in so niedriger und alles sittliche Gefühl empörender Weise ausgeübt, daß die gefallenen Genossen von Teltow-Beeskow von der Ehrentafel verbannt und die für sie bestimmten Nachrufe in eine besondere Ecke verwiesen worden seien, genauso wie fanatische Kleriker mit Selbstmördern auf dem Friedhof verfahren wären. Das sei als prinzipielle Haltung, als Kampf für den Sozialismus ausgegeben worden! Zu dieser Sperre gegen eine Unterorganisation der Partei sei dann die Aktion der Abonnementsgeldverweigerung getreten, die sogar die Spartakusleute auf der GroßBerliner Verbandsgeneralversammlung für unmoralisch erklärt hätten. Die ganze Kraft der Berliner Organisation sei schließlich auf die Zerstörung des Vorwärts konzentriert worden, der nicht von den wenigen tausend Anhängern der Opposition in Berlin geschaffen worden sei. Wem könne man es da verdenken, daß er sich zur Wehr setzt, wenn die Organisation beschließt, den Vorwärts zu boykottieren und denjenigen, die sich dem Besdiluß nicht unterordneten, die Ehrenämter abzuerkennen? Deshalb habe man sich zur Abwehr dieser 212

So hatte Haase auf der Sonderkonferenz der Opposition am 7 . 1 . 1 9 1 7 in Berlin den Vorwurf erhoben, der Parteivorstand pflege und sdiütze selbst Sonderorganisationen, vor allem den Diskutierklub „Vorwärts" in Berlin. Vgl. E. Prager, Geschichte der U.S.P.D S. 125.

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in der Parteigeschichte unerhörten Maßnahme eines Boykotts des eigenen Parteiorgans zusammengefunden und den Verein „Vorwärts" gegründet. Wenn die Opposition behaupte, der Parteivorstand habe den Klub aus der Taufe gehoben, so sei er hinsichtlich seiner Mitwirkung der Meinung, daß er nur seine Pflicht erfüllt habe. Denn er sei ein Berliner Parteigenosse. Bei der Beschlußfassung über den VorwärtsBoykott sei von Ströbel und anderen ausdrücklich darauf hingewiesen worden, daß die Spaltung kommen solle, kommen werde und kommen müsse. Würde die Mehrheit diesem Treiben untätig zusehen, so werde und müsse die Partei zusammenbrechen, und die Verantwortlichen könnten nicht einmal mit Recht von sich sagen, daß sie in der Stunde der Gefahr alles darangesetzt hätten, um für die Partei zu retten, was zu retten sei. „Sie haben heute zu sagen, ob die Partei zusammengehalten werden soll, vielleicht in schweren Kämpfen, aber besser schwere Kämpfe als der Ruin der Partei."213 Mit der Annahme der Resolution Löbe/Sindermann, die die Zugehörigkeit zu einer Sonderorganisation für unvereinbar mit der Mitgliedschaft in der Gesamtpartei erklärte, war die Spaltung der deutschen Sozialdemokratie vollzogen.214 Neugründung des Bezirksverbandes Groß-Berlin der MSPD und Kampf gegen die USPD Am 29. April 1917 wurden mit der Neugründung der Bezirksorganisation Groß-Berlin der SPD in Berlin die Konsequenzen aus der Spaltung der Partei gezogen. Eugen Ernst und Otto Wels, die die Hauptlast der Auseinandersetzung mit der Minderheit in Berlin 2n v g i . Protokoll der Sitzung des Parteiausschlusses vom 1 8 . 1 . 1 9 1 7 , in: tokolle der Sitzungen des Parteiausschusses ..., S. 31—33.

Pro-

Vgl. a.a.O., S. 41. Das Mitteilungs-Blatt (12. Jg., Nr. 20 vom 2 8 . 1 . 1 9 1 7 , S. 12) der Minderheit schrieb zur Parteispaltung: Es gebe Leute, die die Schnelligkeit, mit welcher der Parteiaussdiuß und danach der Parteivorstand ihre neue Aktion gegen die unbequeme Opposition eingeleitet hätten, mit der Reichstagswahl in Potsdam-Osthavelland in Verbindung brächten. Im Parteivorstand sitze Wels, im Bezirksvorstand von Brandenburg sitze wieder Wels und in Osthavelland habe Wels auch seine Hand im Spiele. Infolge der Spaltung seien den Genossen die Parteimittel genommen, und der Bezirksvorstand werde alle Hebel in Bewegung setzen, seinen Willen im Osthavelland durchzusetzen. Hoffentlich machten die Genossen den Herrschaften einen Strich durch die Rechnung und ließen ihren bisherigen Abgeordneten Liebknecht nicht durch eine Kandidatur Welsscher Observanz schänden. 214

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getragen hatten, wurden zu Vorsitzenden der neuen Organisation gewählt." 43. Die Bezirksorganisation Brandenburg der Partei, die Wels während des gesamten Krieges nahezu geschlossen auf dem Boden der Mehrheitspolitik hielt,215 überstand die Spaltung der Partei so gut wie ungeschwächt.216 Wels selber führte diesen Erfolg in der Provinz darauf zurück, daß die Funktionäre auf seine Veranlassung hin von Anfang an über alle Einzelheiten des Konflikts auf das eingehendste informiert worden waren, besonders auch dadurch, daß man ihnen die Protokolle, namentlich diejenigen über die Verhandlungen des Parteiausschlusses, zur Verfügung gestellt hatte. Die Vertrauensleute der Partei seien dadurch in der Lage gewesen, den ausgestreuten Verdächtigungen und Verleumdungen entgegenzutreten.217 Auf der ersten Sitzung des Parteiausschusses nach der Parteispaltung am 18. und 19. April 1917 im Reichstagsgebäude in Berlin schlug Wels als Taktik gegen die sich am 6. bis 8. April 1917 in Gotha formierende Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) die politische Offensive vor. Er vertrat die Auffassung, daß die Mehrheitssozialdemokratie (MSPD) sich gegenüber den Unabhängigen in der Rolle des Angegriffenen befinde und die Parteimitglieder in den Organisationen und die Parteipresse diese Angriffe nicht energisch 2i4a Vgl. Vorwärts,

N r . 118 vom 1. 5. 1917, Beilage, S. 1 u. 2.

Bereits bei seiner Gründung hatte der Bezirksverband über 6000 Mitglieder. Die Parteiorganisationen in den einzelnen Berliner Wahlkreisen waren bereits im Februar 1917 wieder aufgebaut worden (a. a. Ο., Nr. 185 vom 8. 7 . 1 9 1 8 , S. 3). Wels gab den Vorsitz der Berliner Bezirksorganisation auf dem Bezirkstag im Juli 1918 wieder ab 215

Vgl. a.a.O.,

5.5.1915,

{ebda.). N r . 122 vom 4 . 5 . 1 9 1 5 ,

1. Beilage, S. 2 ; a.a.O.,

1. Beilage, S. 1 ; a.a.O.,

vom 2 4 . 8 . 1 9 1 5 , 2. Beilage, S. 2 ; aa.O.,

N r . 357 vom 2 8 . 1 2 . 1 9 1 5 ,

N r . 94 vom 4 . 4 . 1 9 1 6 , Beilage, S. 2 ; Stellungnahme Nr. 251 vom 1 2 . 9 . 1 9 1 6 ,

N r . 123 vom

N r . 185 vom 7 . 7 . 1 9 1 5 , S. 3 ; a.a.O.,

S . 4 ; a.a.O.,

S.4;

zur Fraktionsspaltung,

N r . 153 vom 7 . 7 . 1 9 1 7 ,

Beilage;

N r . 233 a.a.O., a.a.O., a.a.O.,

Nr. 69 vom 1. 3 . 1 9 1 6 , Beilage; a. a. O., N r . 73 vom 14. 3 . 1 9 1 6 , Beilage. 214

N u r einer der achtzehn Provinzwahlkreise, Potsdam-Osthavelland, der Wahl-

kreis Karl Liebknechts, ging mit knapper Mehrheit an die U S P D über. Sonst konnte die U S P D nur in dem Dorfe Slamen bei Spremberg Fuß fassen (Protokoll der Sitzung des Parteiausschusses vom 18./19. 4 . 1 9 1 7 , in: Protokolle Parteiausschusses . . . , S. 18, und Vorwärts,

der Sitzungen

des

N r . 148 vom 30. 5 . 1 9 1 6 , S. 4).

Zur Arbeit und Bedeutung von Wels als Parteisekretär für Brandenburg während des Krieges vgl. Nadilaß Giebel, Akte Kottbus-Spremberg, Schriftwechsel Giebels mit seinem Wahlkreis, unveröffentlicht, Parteiarchiv der SPD, Bonn. 217 v g i . Protokoll der Sitzung des Parteiausschusses vom 18./19. April 1917, in: Protokolle

der Sitzungen

des Parteiausschusses..

., S. 18.

74

l. Anfänge und politische Entwicklung

bis 1918

genug abwehrten. Eine Verteidigung aber, die sich auf die bloße Defensive beschränke und sidi nicht den Weg zum Angriff freihalte, sei zur Niederlage verurteilt. Nachdem die Masken gefallen seien und das Gerede der ehemaligen Minderheit, man wolle die Einheit, sich als unwahr herausgestellt habe, was von der Mehrheit von Anfang an erkannt worden sei, müsse man zum Angriff übergehen. Die Energischsten unter den Unabhängigen rissen sonst diejenigen Leute mit, die sich weniger um Recht und Unrecht kümmerten, sondern in dem lauten Auftreten der Unabhängigen vielmehr den Willen zur Befriedigung ihrer politischen Bedürfnisse erblickten. Mit der Berufung auf das Recht, auf die Theorie und die Grundsätze der Partei komme man nicht zum Ziel, verliere nur den Zusammenhang mit den Massen und endlich audi die Verbindung zu den aus dem Felde Zurückkehrenden. Deshalb müsse man zum Angriff übergehen und dürfe sich nicht darauf beschränken, seinen Besitzstand zu verteidigen. 218 Die von Otto Wels der Mehrheitssozialdemokratie empfohlene Taktik gegenüber den Unabhängigen hatte jedoch nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn die Partei sich gleichzeitig mehr und mehr von der Politik des Burgfriedens lossagte und den Kampf gegen die Annexionisten und f ü r die in den Volksmassen so populäre Losung eines „Verständigungsfriedens ohne Eroberungen" und für die eine innenpolitische Neuorientierung in Deutschland verschärft aufnahm. 219 Zusammenbruch und

Novemberrevolution

Die Kriegspolitik der Mehrheit der SPD seit dem 4. August 1914 hatte deutlich gemacht, welche tiefgreifenden Wandlungen sich im Verhältnis der Sozialdemokratie zum Staat seit der Aufhebung des 218

Vgl. Protokoll der Sitzung des erweiterten Parteiausschlusses v o m 18./19. 4. 1917, ebda. 2i» Vgl. Arthur Rosenberg, Geschichte der Weimarer Republik, hrsg. von Kurt Kersten ( = res novae, Bd. 9), Frankfurt/Main 1961, S. 108. Zur Kritik der sozialdemokratischen Kriegspolitik siehe a.a.O., S. 67—72; E. Matthias, Die deutsche Sozialdemokratie und der Osten . . ., S. 2. Zur neueren Literatur über Kriegsschuldfrage und die Kriegsziele der kaiserlichen deutschen Regierung siehe: Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorf 1961; Georges Haupt, Der Kongreß fand nicht statt. Die Sozialistische Internationale 1914 ( = Europäische Perspektiven), Wien—Frankfurt/Main—Zürich 1967, und Hermann Kantorowicz, Gutachten zur Kriegsschuldfrage 1914. Aus dem Nachlaß hrsg. u. eingeh von Imanuel Geiss, Frankfurt/Main 1967.

Zusammenbruch

und

Novemberrevolution

75

Sozialistengesetzes vollzogen hatten. Nachdem die Partei sich im August 1914 auf den Boden des bestehenden Staates gestellt hatte, versuchte sie während des Krieges, ihn durch Reformen zu einem parlamentarisch-demokratischen Staatswesen umzugestalten, und wuchs auf diese Weise noch stärker in den bestehenden Staat hinein.220 Alle ihre Forderungen zielten auf eine Demokratisierung des bestehenden Staates ab und waren im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung durchführbar. 221 Als auf Anweisung der Obersten Heeresleitung Anfang Oktober 1918 die Parlamentarisierung eingeleitet wurde und die innenpolitische Entwicklung in Deutschland in Fluß kam, stand die MSPD vor dem Ziel ihrer Politik. Die Entscheidung, in einer Situation, in der die militärische Niederlage Deutschlands unabwendbar war und der Untergang des Reiches nicht ausgeschlossen schien, am 2./3. Oktober 1918 in die Regierung des Prinzen Max von Baden einzutreten, bewies ein hohes Maß an staatspolitischer Verantwortung und war aus der Auffassung geboren, daß die SPD ihre Mitarbeit bei der Demokratisierung des Reichs und der baldigen Herbeiführung des Friedens nicht versagen dürfe.222 Wie jedoch die Diskussionen innerhalb der MSPD-Fraktion aus Anlaß des Regierungseintritts zeigen, war die Fraktion nicht einhellig für einen Eintritt in das Kabinett. Scheidemann, Landsberg, Otto 220

Zur Taktik und politischen Konzeption der SPD-Führung in den Jahren 1917/ 18 siehe: Der Interfraktionelle Ausschuß 1917/18 ( = Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Reihe 1, Bd. 1), bearb. von Erich Matthias unter Mitwirkung von Rudolf Morsey, Τ. 1 u. 2, Düsseldorf 1959. 221 Vgl. das von der auf dem Würzburger Parteitag 1917 eingesetzten Kommission ausgearbeitete Aktionsprogramm, dessen Entwurf am 23. Mai 1918 im Vorwärts (35. Jg., N r . 139 vom 23. 5.1918) veröffentlicht wurde. 222 Die Vorentscheidung für den Regierungseintritt war bereits am 23. September 1918 auf einer gemeinsamen Sitzung von Parteiausschuß und Reichstagsfraktion gefallen. Die Fraktion hatte sich mit 55 zu 10 und der Parteiaussdiuß mit 25 zu 11 Stimmen grundsätzlich für den Regierungseintritt ausgesprochen. Vgl. Protokoll der Sitzung des Parteiausschusses vom 2 3 . 9 . 1 9 1 8 , in: Protokolle der Sitzungen des Parteiausschusses ..., und Hermann Müller-Franken, Die November-Revolution. Erinnerungen, Berlin 1928, S. 10. Ober die Ursachen des Zusammenbruchs siehe das in der Materialerschließung grundlegende Werk des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung und des Reichstags, Das Werk des Untersuchungsausschusses der Deutschen Verfassungsgebenden Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1919—1926. VerhandlungenfGutaditenlUrkunden, Reihe 4: Die Ursachen des Deutschen Zusammenbruchs im Jahre 1918, Bd. 2 u. 3, Berlin 1925, sowie die besonnene und kritische Darstellung von Bernhard Schwertfeger, Das Weltkriegsende. Gedanken über die deutsche Kriegsfiihrung 1918, Potsdam 1937.

I. Anfänge und politische Entwicklung bis 1918

76

Braun, Stampfer, Lobe und Otto Wels befürchteten, die M S P D könne „mit in die Konkursmasse des Kaiserreichs gezogen werden" (Wels), 228 und wandten sich deshalb gegen den Eintritt in ein „bankrottes Unternehmen". 224 Nur Friedrich Ebert ist es zu verdanken, daß sich in der Fraktion dennoch eine große Mehrheit für den Regierungseintritt fand. 225 Otto Wels und die anderen Pessimisten in der MSPD-Fraktion behielten mit ihren Voraussagen jedoch recht. Die MSPD-Führung geriet durch die Stimmung der Massen im Laufe des Oktobers in Gefahr, von ihren eigenen Anhängern und den von der politischen Bewegung mitgerissenen Massen isoliert zu werden, während die Linksradikalen von Tag zu Tag mehr Einfluß in der Bevölkerung gewannen. 226 Auch die „Kaiserfrage" mußte sowohl wegen ihres grundsätzlichen Gewichts als auch wegen der durch sie hervorgerufenen Erregung und Radikalisierung der Massen für die M S P D eine täglich schwierigere politische Situation schaffen. Die Anstrengungen der Parteiführung konzentrierten sich deshalb zunächst darauf, die Kaiserfrage politisch zu entschärfen. Erst als sich dieses infolge der Radikalisierung der Friedensbewegung als unmöglich erwies, forderte die M S P D am 29. Oktober erstmals den freiwilligen Rüdktritt des Kaisers.227 Da die Abdankungsfrage keinerlei Fortschritte machte, die politische Lage Anfang November für die M S P D zusehends prekärer wurde und sich zu einem Wettlauf zwischen ihr und den Radikalen auswuchs, wurde, unter dem Eindruck der Nachrichten über den Zusammenbruch der Militärmacht in Kiel und Hamburg, vor allem Scheidemanns Drängen, die Partei solle sich an die Spitze der Bewegung stellen, immer ungestümer. Assistiert wurde Scheidemann dabei von Otto Wels und Otto Braun, aber in der Fraktionssitzung am Abend des 6. November wurde ihm weder der Austritt aus dem Kabinett gestattet, noch das von ihm geforderte kurzfristige Ultimatum in der Abdankungsfrage gebilligt, weil die Fraktionsmehrheit befürchtete, die Reichstagsmehr224 224 225

H. Müller-Franken, Die November-Revolution Ph. Scheidemann, Memoiren . . ., Bd. 2, S. 130. Ebda.

. . S . 11.

Vgl. Eberhard Kolb, Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918—1919 ( = Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 23), Düsseldorf 1962, S. 16—24, 29 f. 22e

2 2 7 Die Stellung der SPD zur „Kaiserfrage" wird zutreffend bei Joseph A. Berlau, The German Social Democratic Party 1914—1921, New York 1949, S. 202 ff., behandelt. Siehe audi Ph. Sdbeidemann, Memoiren..., Bd. 2, S. 2 5 3 ; Ph. Scheidemann, Der Zusammenbruch ..., S. 202, und E. Kolb, Die Arbeiterräte . .., S. 31.

Zusammenbrach und

Novemberrevolution

77

heit werde „in die Brüche" gehen.228 Auch am 7. November erhielt Scheidemann noch keine Genehmigung zum Austritt aus der Regierung; lediglich in der Abdankungsfrage wurde ein bis zum 8. November befristetes Ultimatum beschlossen, und für den Abend desselben Tages wurden sechsundzwanzig Versammlungen einberufen.229 Auf ihrer Fraktionssitzung vom 8. November verlängerte die M S P D zwar das Ultimatum noch bis zum 9. November, aber auf der Sitzung der SPD-Vertrauensleute am Abend des 8. November wurde es der Parteiführung klar, daß die Arbeiter nicht mehr zurückzuhalten waren und am 9. November in Berlin die Entscheidung fallen mußte.230 Die Parteiführung der M S P D mußte, wollte sie nicht von ihrer eigenen Parteimitgliederschaft und den Massen isoliert werden und damit politisch abdanken, sich in die Bewegung einschalten. Auf der Sitzung der SPD-Betriebsvertrauensleute am 9. November morgens um 8 Uhr im Vormüris-Gebäude in der Lindenstraße 3 gab Otto Wels für die MSPD-Führung dann die Parole zum Generalstreik aus. Die Sitzung dauerte nur wenige Minuten, und der Saal war überfüllt, als Otto Wels die Versammlung mit den Worten eröffnete: „Die Würfel sind gefallen! Geredet wird nicht mehr! Heraus aus den Betrieben, auf die Straßen! Von heute ab gibt es keinen Streit mehr in der Arbeiterschaft, heute kämpfen wir den Entscheidungskampf unter dem alten gemeinsamen Banner. Heute mischt sich vielleicht unser Blut mit dem unserer Arbeiterbrüder im gemeinsamen Kampf. Komme was kommen mag, jetzt heißt es vorwärts, durch Kampf zum Sieg." 231 Während die Vertrauensleute in die Betriebe eilten, erschien beim Partei vorstand eine Deputation des Naumburger 4. Jägerbataillons, das wenige Tage vorher nach Berlin in Marsch gesetzt worden war, um die Revolution niederzuschlagen. Die Delegation verlangte, daß ein Mitglied des Parteivorstandes mit ihnen zur Kaserne fahre, um die politische Lage darzulegen. In einem Auto, begleitet von einigen Vertrauensmännern der Arbeiter, fuhr Wels in die Alexanderkaserne. Dort trat das ganze Naumburger Bataillon und das Alexander228 v g i ph. Scheidemann, Memoiren ..., Bd. 2, S. 286 f. 289 Vgl. H. Müller-Franken, Die November-Revolution . . ., S. 42 f.; E. Kolb, Die Arbeiterräte ..., S. 33. 8 , 0 Vgl. H.Müller-Franken, Die November-Revolution..., S. 45; Ph. Scheidemann, Memoiren ..., Bd. 2, S. 294 ff.; Otto Wels, Die Revolution in Berlin, in: Volk und Zeit. Bilder zum Vorwärts, 1. Jg., Nr. 20 vom 9.11.1919, S. 1 f. Vgl. a.a.O., l.Jg., Nr. 20 vom 9.11.1919, S. 2; Karl Friedrich Nowack, Chaos, München 1923, S. 211.

78

I. Anfänge und politische Entwicklung bis 1918

Regiment mit allen Offizieren an. Ein Krümperwagen wurde in die Hofmitte geschoben, von dem aus Wels seine Rede hielt. Er schilderte die Situation grau in grau, sprach von den mühevollen Friedensbemühungen, von den Aussichten, die der Kriegsverlauf für Deutschland noch biete. Es gebe nach der Erklärung des amerikanischen Präsidenten Wilson nur noch eine Möglichkeit, wolle man der Vernichtung entgehen, die Abdankung des Kaisers. Dann sei der Weg zu einem gerechten Frieden frei. Hunderttausenden koste die Weigerung des Kaisers, abzudanken, das Leben. Die Arbeiterschaft habe sich nach dem Kieler Aufstand erhoben. In Kiel, München und Hannover sei die Republik ausgerufen worden. „Jetzt ist es an Euch, dem Blutvergießen da draußen ein Ende zu machen. Ihr habt aber audi zu entscheiden, ob Ihr die Waffen gegen Eure Volksgenossen erheben wollt. Ich frage nicht, welcher Partei Ihr angehört: Wenn Ihr wollt, daß das Volk in Zukunft selbst sein Schicksal bestimmen soll, dann stellt Euch heute der sozialdemokratischen Partei zur Verfügung. Bekräftigt das durch den Ruf: Es lebe der Frieden! Der freie deutsche Volksstaat, er lebe hoch!"232 Nach der Rede von Wels warfen die Soldaten vor Begeisterung ihre Mützen in die Luft und Hochrufe wurden ausgebracht. Mit bleichen Gesichtern, in schwerem inneren Kampf standen die Offiziere daneben.233 Für sie wäre es mit etwas Mut leicht gewesen, Wels zu verhaften oder niederzuschießen, und vielleicht hätten sie damit auch die Truppe umgestimmt. Daß die Offiziere nicht einmal den Versuch machten, zeigt deutlich, wie weit die Zerrüttung und Auflösung des Heeres bereits fortgeschritten war. Wels ließ sofort ein größeres Detachement von etwa hundert Mann mit Maschinengewehren das Vorwärts-Gebäude in der Lindenstraße besetzen. Als gegen Mittag ein Auto mit bewaffneten Anhängern Liebknechts unter Führung eines ehemaligen Vorawis-Redakteurs vorfuhr, um den Vorwärts in Besitz zu nehmen, wurden sie von den Naumburger Jägern ebenso höflich wie eindringlich auf einige Maschinengewehre aufmerksam gemacht, die zum Empfang ungeladener Gäste in Bereitschaft standen. So mußten sie denn unverrichteter Dinge wieder abziehen. Ohne diese Vorsichtsmaßnahme von Wels hätte die MSPD in diesen so wichtigen Tagen in Berlin keine Zeitung 2 3 2 Vgl. O. Wels, Die Revolution . . . , in: Volk und Zeit . . 1 . Jg., Nr. 20 vom 9. 11. 1919, S. 2; K. F. Nowack, Chaos . . . , S. 212 f. 2 3 3 Vgl. O. Wels, Die Revolution . . i n : Volk und Zeit . . . , 1. Jg., Nr. 20 vom 9. 11. 1919, S. 2.

Zusammenbruch und

Novemberrevolution

79

mehr zur Verfügung gehabt.234 Wels eilte nach seiner Rede in der Alexander-Kaserne in den Reichstag, wo seit 9 Uhr bereits die sozialdemokratische Fraktion tagte, um dort Bericht zu erstatten.235 Auf dieser Fraktionssitzung kam die Entschlossenheit der MSPD zum Ausdruck, im Laufe des Tages unter allen Umständen die Regierung zu übernehmen, nach Möglichkeit sollte die amtierende Regierung freiwillig zurücktreten, notfalls jedoch von der Umsturzbewegung auch dazu gezwungen werden.236 Zwischen 8 und 9 Uhr hatte die MSPD mit der USPD bereits Sondierungsgespräche über eine gemeinsame Regierungsbildung geführt, die jedoch zu keinem Ergebnis führten, da der Vorstand der USPD nicht vollzählig versammelt und deshalb entscheidungsunfähig war.237 Als die für 12 Uhr vorgesehene Besprechung mit den Delegierten der USPD wegen der Abwesenheit von Haase nicht stattfinden konnte,238 begab sich eine Abordnung der MSPD mit Ebert, Scheidemann, Otto Braun, Brolat und Heller in die Reichskanzlei zu Prinz Max von Baden, der sich bereits entschlossen hatte, Ebert zu seinem Nachfolger zu ernennen: er übertrug Ebert das Reichskanzleramt.239 Der MSPD-Leitung war es durch eine taktische Meisterleistung am 9. November gelungen, nicht nur im Spiel zu bleiben, sondern auch die Führung der Revolutionsbewegung an sich zu reißen. Am Abend des 9. November hatte sie die Regierung übernommen, die Reichskanzlei war in ihrer Hand, ihre Agitation hatte dank Otto Wels unter den Soldaten Erfolg gehabt, sie kontrollierte einige unter ihrer Mitwirkung ins Leben gerufene Soldatenräte und beherrschte den im Vorwärts-Geb'iuAe gebildeten Arbeiter- und Soldatenrat.240 Das war 21,4

Vgl. Wolfgang Heine, Lebenserinnerungen, unveröffentlicht, im Privatbesitz von Herrn Oberregierungsrat Dr. W.Heine, München; K. F. Nowadt, Chaos..., S. 213; O. Wels, Die Revolution ..., in: Volk und Zeit..., 1. Jg., N r . 20 vom 9. 11. 235 1919, S. 2 . Ebda. säe Vgl. Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie ..., T. 2, Protokoll der Sitzung vom 9.November 1918, 9 U h r ; H.Müller-Franken, Die NovemberRevolution ..., S. 47. 237 Ph. Scheidemann, Memoiren..., Bd. 2, S. 298; W. Dittmann, Wie alles kam, S. 99 ff., maschinenschriftliches Manuskript, unveröffentlicht, Parteiarchiv der SPD, Bonn. *** Ph. Scheidemann, Memoiren ..., Bd. 2, S. 299; H . Müller-Franken, Die November-Revolution ..., S. 50. 2S » Vgl. E. Kolb, Die Arbeiterräte..., S. 34, Anm. 6 u. 7. Bereits um 11 Uhr war die Abdankung des Kaisers verkündet worden (a.a.O., S. 35, Anm. 1). M0 Vgl. a. a. O., S. 34 u. 114. Zu den von der SPD gebildeten Arbeiter- und Sol·

80

I. Anfänge und politische Entwicklung

bis 1918

die Situation, als am Abend des 9. November die im Reichstag versammelte MSPD-Führung auf die Eröffnung der Koalitionsverhandlungen mit der U S P D wartete. Die USPD war am 9. November völlig aktionsunfähig, und eine Einigung über die gemeinsame Regierungsbildung konnte auch am Abend und in der Nacht des 9. November noch nidit erzielt werden. Auch die Radikalen — der linke Flügel der U S P D mit den Revolutionären Obleuten und dem Spartakusbund — hatten trotz ihrer Revolutionsvorbereitungen in die Ereignisse am 9. November in Berlin an keiner Stelle entscheidend eingreifen können." 1 Erst in der Nacht vom 9. zum 10. November unternahmen die Revolutionären Obleute eine Gegenaktion, die ihnen die Chance des unmittelbaren Eingreifens in den Machtkampf eröffnete. Im Zimmer 17 des Reichstags sammelten die Revolutionären Obleute und Spartakisten eine Anzahl Soldaten, die sie, als der Reichstag sich um 22 Uhr bis auf die eigenen Funktionäre geleert hatte, plötzlich in den großen Sitzungssaal dirigierten. Hier konstituierten sie sich als erste Versammlung der Arbeiter- und Soldatenräte, und Emil Barth von den Revolutionären Obleuten übernahm den Vorsitz über die Versammlung. Nach der Eröffnungsrede von Barth gelang es Richard Müller, durch geschickte Überredung der Soldaten eine im Kreis der Revolutionären Obleute vorbereitete Resolution durdizubringen, die vorsah, daß die am 9. November willkürlich und zum Teil durch Usurpation zustande gekommenen Arbeiter- und Soldatenräte durch Arbeiter- und Soldatenräte zu ersetzen seien, die am Morgen des 10. November nach einem einheitlichen Wahlmodus in den Fabriken und Kasernen neu gewählt werden sollten. Diese neugewählten Arbeiter- und Soldatenräte sollten sich am folgenden Nachmittag im Zirkus Busch versammeln und eine provisorische Regierung wählen.242 datenräten (AuSRe) und dem Anteil von Wels vgl. Richard Müller, Vom Kaiserreich zur Republik. Ein Beitrag zur Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung während des Weltkrieges ( = Wissenschaft und Gesellschaft, Bd. 4), Bd. 2, Wien 1925, S. 24 u. 230 f. O. Wels, Die Revolution ..., in: Volk und Zeit..., 1. Jg., Nr. 20 vom 9 . 1 1 . 1 9 1 9 , S. 2. 241 Vgl. E.Kolb, Die Arbeiterräte..., S. 114 f. Zur Kriegspolitik der USPD und der Radikalen sowie ihrer politischen Konzeption bei Ausbruch der Novemberrevolution siehe die ausführliche Darstellung a. a. O., S. 36—55. 248 Vgl. O. Wels, Die Revolution ..., in: Volk und Zeit..., 1. Jg., Nr. 20 vom 9. 11. 1919, S. 3; R. Müller, Vom Kaiserreich zur Republik ..., Bd. 2, S. 32 f.; H.Müller-Franken, Die November-Revolution..., S. 58; E.Kolb, Die Arbeiterräte ..., S. 116. Der Wahlmodus sah vor, daß auf je tausend Arbeiter ein Arbeiter-

Zusammenbrach

und

81

Novemberrevolution

Daß die kurze Zeit bis zum nächsten Morgen um 10 Uhr, einem Sonntag, eine ordnungsgemäße Durchführung dieser zudem offiziell gar nicht bekanntgegebenen Wahlen unmöglich machte, lag auf der Hand. Das sollte auch gar nicht der Fall sein, da der linke Flügel der Unabhängigen schon die Leute zur Hand hatte, die der geplanten Regierung Liebknecht, Ledebour, Luxemburg in den Sattel verhelfen sollten.243 Otto Wels hatte jedoch zusammen mit dem MSPD-Mann Büchel an der Versammlung der Linksradikalen im Reichstag teilgenommen und konnte daher anschließend im Reichskanzlerpalais mit einigen Mitgliedern des Parteivorstandes sowie mit Ebert, Scheidemann und Landsberg eine Gegenaktion beraten, deren Durchführung ihm übertragen wurde. Da die Betriebsvertrauensleute der MSPD für Sonntag um 14 Uhr ins Vorwärts-Geb'iude bestellt worden waren, konnten sie noch rechtzeitig von der geplanten Aktion informiert werden. Die Entscheidung lag jedoch in den Händen der Soldaten. Wels ließ daher noch in der Nacht vom 9. zum 10. November ein Flugblatt in einer Auflage von 40 000 Stück mit dem Titel An alle Truppenteile, welche auf dem Boden der Politik stehen, die der ,Vorwärts' vertritt, drucken. In diesem Flugblatt wurden die Soldaten aufgefordert, sofort Soldatenräte zu wählen und diese um 14 Uhr in das Vorwärts-Geh'i.xxde zu schicken. Das Flugblatt ließ Wels durch redegewandte MSPD-Mitglieder schon am frühen Morgen in den Kasernen verteilen. Die ganze Garnison leistete seiner Aufforderung Folge und wählte 148 legitimierte Vertreter der 58 000 Soldaten.244 Wels dirigierte die Arbeiter- und Soldatenräte in die Kammersäle in der Teltower Straße und informierte sie über die Tagung der Linksradikalen vom Vortage im Reichstag und über ihre Absicht, die MSPD-Mitglieder in der Zirkus-Busch-Versammlung aus der Regierung zu entfernen. Dann legte er die Anwesenden auf die Politik der MSPD fest und forderte sie auf, für die Einberufung der Nationalversammlung und eine aus Mitgliedern von USPD und MSPD paritätisch zusammengesetzte Regierung beziehungsweise für eine Regierung EbertScheidemann einzutreten, falls die Linksradikalen die Einigung der Vertreter und auf jede Formation beziehungsweise jedes Bataillon ein Soldatenvertreter entfallen sollte. 243

O . W e l s , Die

Revolution...,

in: Volk

und

Zeit...,

1. Jg., N r . 2 0 vom

9.11.

1919, S. 3. 244

Vgl. ebda.;

Die Arbeiterräte 6

Adolph

H . Müller-Franken, Die . . S .

117.

November-Revolution

...,

S. 6 2 ; E . Kolb,

I. Anfänge

82

und politische Entwicklung

bis 1918

beiden Parteien verhindern sollten. Wels schlug außerdem die Bildung eines Aktionsausschusses der Berliner Truppen, die Festlegung einer gemeinsamen Taktik sowie die Auswahl der Redner für die Zirkus-Busch-Versammlung im H o f des Vorwärts-Gebäudes

vor. Die

Versammlung stimmte den Vorschlägen von Wels zu, und im geschlossenen Zug ging es dann zum Vorwärts-Geh'iudt. Anschließend marschierten die Truppenvertreter um 15.45 Uhr in militärischer Formation zum Zirkus Busch.848 Parallel zu dieser Aktion von Wels bemühte sich die MSPD-Führung, mit der USPD zu einer Regierungsvereinbarung zu kommen, um für die Zirkus-Busdi-Versammlung ein fait accompli zu schaffen, über das diese Versammlung sich nidit ohne weiteres würde hinwegsetzen können. Das gelang der MSPD nur, indem sie der USPD am Nachmittag des 10. November die grundsätzlichen Konzessionen machte, daß die politische Gewalt bei den Arbeiter- und Soldatenräten liegen und die Wahl zur Nationalversammlung hinausgeschoben werden sollte."" Damit war der Plan der Linksradikalen, eine Regierung ohne die MSPD zu bilden, bereits vor Beginn der Zirkus-Busch-Versammlung gescheitert. Die Revolutionären Obleute faßten daher am Nachmittag des 10. November den Beschluß, der SPD zwar die Regierung zu überlassen, dieser Regierung als Gegengewicht aber einen Aktionsausschuß der Arbeiter- und Soldatenräte entgegenzustellen, in dem „nur zuverlässige Mitglieder der Revolutionären Obleute und des Spartakusbundes" vertreten sein sollten. Die MSPD sollte bei der Bildung des Aktionsausschusses völlig ausgeschaltet werden, ein Ziel, das nur durch Überrumpelung der Zirkus-Busch-Versammlung zu erreichen war. Deshalb sollte über die Aufgaben des Aktionsausschusses auch nicht gesprochen werden, sondern die von den Revolutionären Obleuten vorgelegte Kandidatenliste ohne Debatte gewählt werden. 1 " „Weil sich zeigte, daß der Coup, der Arbeiter- und Soldatenratsversammlung die Regierungsbildung zu übertragen, nicht zum Ziele einer linksradikalen Machtergreifung führen werde, sollte also ein 248

O.Wels, Die Revolution...,

in: Volk

und Zeit...,

1919, S. 3 ; H . Müller-Franken, Die November-Revolution

1. Jg., Nr. 2 0 vom 9 . 1 1 . . . . , S. 62, 69.

2i« Vgl. zu den Koalitionsverhandlungen zwischen MSPD und U S P D am 9./10. 11. 1918 R . Müller, Vom Kaiserreich Die Arbeiterräte 247

Vgl. R . Müller, Vom

Arbeiterräte

zur Republik

. . . , Bd. 2, S. 2 7 — 2 9 ; E . Kolb,

. . . , S. 116 f.

. . . , S. 118.

Kaiserreich

zur Republik

. . B d . 2, S. 36; E. Kolb,

Die

Stadtkommandantur Berlin (November!Dezember

1918)

83

weiterer Coup — linksradikale Besetzung des Aktionsausschusses durch Überrumpelung der Versammlung — wenigstens die Ausgangsbasis für die weitere Revolutionierung legen."248 Die MSPD machte jedoch audi diesen Plan zunichte, indem Ebert erklärte, ein solcher Ausschuß sei überflüssig, wenn er schon gewählt werden sollte, dann müsse er jedoch paritätisch zusammengesetzt sein. Als die Revolutionären Obleute sidi über diesen Einspruch hinwegsetzen wollten, erhob sich bei den Soldaten ein Sturm der Entrüstung. Ihre Drohung, eine Militärdiktatur aufzurichten, zwang die Linksradikalen zum Nachgeben, so daß die paritätische Besetzung dieses Aktionsausschusses, des sogenannten „Vollzugsrats", beschlossen und danach die Regierung als „Rat der Volksbeauftragten" in der vorgeschlagenen Zusammensetzung Ebert, Scheidemann, Landsberg — Haase, Dittmann und Barth bestätigt wurde.249 Es ist das entscheidende Verdienst von Otto Wels, frühzeitig erkannt zu haben, welche Bedeutung der Stellung der Soldaten zur Revolution zukam, und durch sein Handeln am 9./10. November 1918 unnötiges Blutvergießen und die Machtübernahme der Linksradikalen verhindert zu haben.250 Stadtkommandantur Berlin (November/Dezember

1918)

Wenn die neue Regierung sich am Ruder halten wollte, mußte es ihr gelingen, sich eine eigene zuverlässige Truppe zu schaffen. Als Vgl. ebda. " · Vgl. R. Müller, Vom Kaiserreich zur Republik ..., Bd. 2, S. 37; H. MüllerFranken, Die November-Revolution ..., S. 71; E. Kolb, Die Arbeiterräte ..., S. 118 f.; Vorwärts, Nr. 311 vom 1 1 . 1 1 . 1 9 1 8 ; Emil Barth, Aus der Werkstatt der deutschen Revolution, Berlin o. J., S. 60—63. Zur Funktion des Rates der Volksbeauftragten und des Vollzugsrates sowie des nach dem 10. 11.1918 zwischen beiden einsetzenden Machtkampfes vgl. E. Kolb, Die Arbeiterräte ..., S. 122—137; Walter Tormin, Zwischen Rätediktatur und sozialer Demokratie. Die Geschichte der Rätebewegung in der Deutschen Revolution 19IS/19 ( = Beiträge zur Gesdiidite des Parlamentarismus und der politisdien Parteien, Bd. 4), Düsseldorf 1954, S. 74—80. 248

2 6 0 Georg Ledebour, Wels' alter Gegner, würdigt auch Wels' Verdienste um die Gewinnung der Berliner Garnison am 9 . / 1 0 . 1 1 . 1 9 1 8 für die MSPD. Ledebour gibt bedauernd zu, daß die „militärischen Kapazitäten" der Linken, wie Däumig, Barth und Liebknedit, in diesen Tagen die Situation nidit richtig erfaßt hätten. Vgl. G. Ledebour, Die deutsche Novemberrevolution [Artikelserie in 17 Fortsetzungen und Schluß], in: Sozialistische Arbeiter Zeitung (3. Fortsetzung vom 15. 11. 1931), 1. Jg., Nr. 10—27 vom 12.11. bis 3 . 1 2 . 1 9 3 1 , Nachlaß Ledebour, Parteiarchiv der SPD, Bonn.



I. Anfänge

84

und politische Entwicklung

bis 1918

Groener und die Oberste Heeresleitung sich am 1 0 . 1 1 . 1 9 1 8 der Regierung der Volksbeauftragten zur Verfügung stellten, standen dieser theoretisch Millionen Soldaten zu Gebote. 251 Doch die Fronttruppen liefen auseinander, sobald sie die Heimat erreicht hatten. „Das deutsche Riesenheer war einfach vom Erdboden verschwunden und hatte Krümel zurückgelassen, die Genesungsheime, Lazarette und Kasernen als Obdachlosenasyl betrachteten . . . sich auf die faule Haut legten, Straßendemonstrationen verstärkten und im übrigen für alles zu haben waren, nur nicht für den militärischen Dienst." 252 Auch in Berlin zeigte es sich, daß die Garnison auf die Dauer keine zuverlässige Streitmacht für die neue Regierung darstellte. Bezeichnend ist das Urteil Hermann Müller-Frankens, der über die Berliner Garnisonstruppe folgendes schrieb: „Auf die Garnisonstruppen war verflucht wenig Verlaß, wenn es sich um ernste politische Entscheidungen handelte. Bei drohenden Straßenkämpfen zeigten Polizei und Militär die bedrohliche Neigung, sich neutral zu erklären, um abzuwarten, wer oben bliebe." 253 Bei dieser militärischen Situation in Berlin kam der Ernennung von Wels zum Stadtkommandanten von Berlin am 10. November 1918 besondere Bedeutung zu.254 Wels fand bei Übernahme der obersten Militärverwaltungsbehörde der Stadt ein Chaos vor. Unordnung, Unsicherheit, Plünderungen, wilde Beschlagnahmungen und Haussuchungen waren seit dem 9. November an der 251

Zum Ebert-Groener-Bündnis vgl. Wolfgang Sauer, Das Bündnis

Eine Studie

über Notwendigkeit

und Grenzen

der militärischen

Ebert-Groener.

Macht

[Maschinen-

schrift], Phil. Diss., Berlin 1957. 252 Vgl. pij_ Scheidemann, Der 2.usammenbruch

. . S . 214 f.

253 v g i . h . Müller-Franken, Die November-Revolution

. . S . 170.

Auch das Reservoir an überzeugten Demokraten und Republikanern innerhalb der Freien Gewerkschaftsbewegung konnte aufgrund der Widerstände in ihren eigenen Reihen und der beim Aufbau der Reichswehr von Noske gemachten Fehler (siehe unten S. 1 4 6 — 1 6 0 ) nicht zur Aufstellung einer republiktreuen bewaffneten Macht herangezogen werden, obwohl es an Bemühungen dazu nicht gefehlt hatte. Vgl. Manfred Geßner, Wehrfragen 1923 in Deutschland. sation, des Deutschen des Verbandes

und freie

Unter

Gewerkschaftsbewegung

besonderer

Berücksichtigung

Metallarbeiter-Verbandes,

der Bergarbeiter

Deutschlands,

in den Jahren

des ADGB

als

1918

bis

Dachorgani-

Transportarbeiter-Verbandes

sowie

Phil. Diss., Freie Universität Berlin

1962. 154

Zur Ernennung von Wels siehe die kriegsministerielle Verfügung, abgedruckt

im Vorwärts, Revolution

N r . 311 vom 1 1 . 1 1 . 1 9 1 8 , S. 3 ; H.Müller-Franken, Die

November-

. . S . 82. A m Abend des 9. November 1918 hatte Oberst Reinhardt vom

Kriegsminister Sdieudi bereits telefonisch die Anweisung erhalten, Wels bei der Einrichtung eines Ordnungsdienstes zu unterstützen (Fritz Ernst, Aus des Generals

Walther Reinhardt,

in: Die Welt als Geschichte,

dem

Nachlaß

18. Jg. [ 1 9 5 8 ] , S. 4 5 f.).

Stadtkommandantur

Berlin (November/Dezember

1918)

85

Tagesordnung. Die Mehrheit der Bevölkerung erwartete von der Kommandantur Beseitigung der Mißstände und Hilfe. Diese wurde vom frühen Morgen bis tief in die Nacht hinein von Hilfesuchenden, Deputationen der Bürger und des Militärs, bestürmt. In den ersten Tagen seiner Amtsführung, bis zum 15. November, scheint Wels in diesem Ansturm und einer Fülle von Routinearbeiten untergegangen zu sein,255 da er sicher auch fachlich zu wenig von einer obersten Militärverwaltungsbehörde verstand. Am 15. November verpflichtete er den Leutnant Anton Fischer als ersten Adjutanten und Vertreter, den er als Parteigenossen und Leiter eines Arbeiterjugendheims im Berliner Norden von früher her gut kannte. Fischer, der eine bewegte Vergangenheit hatte und unter anderem Franziskanermönch und Gymnasialprofessor gewesen war,256 erwies sich als ausgezeichneter Organisator. Seine Tätigkeit bedeutete für Wels eine starke Entlastung. Am 17. November unternahmen Wels und Fischer den Versuch, der Regierung nodi vor Ende der Demobilisierung ein zuverlässiges militärisches Instrument zu schaffen, indem sie mit der Anwerbung einer aus Freiwilligen bestehenden Truppe, der „Republikanischen Soldatenwehr" (RSW), begannen.257 In den ersten Tagen begaben sie sich, zusammen mit Colin-Roß und Dr. Striemer, zur Anwerbung sogar selbst in die Kasernen. Später beauftragten sie Feldwebel und Unteroffiziere mit dieser Aufgabe.258 Wels und Fischer beabsichtigten, mit der Republikanischen Soldatenwehr eine demokratisch-sozialistische Truppe aufzubauen, die in Groß-Berlin Sicherheit und Ordnung herstellen und erhalten sollte. Die Republikanische Soldatenwehr war als Zeittruppe gedacht, die nach Rückkehr der Fronttruppen wieder aufgelöst werden sollte. Lediglich ihr erprobter Kern sollte später in die Polizei übernommen werden.259 Bereits am 8. Dezember konnte Wels die erfolgreiche Aufstellung einer 10 000 Mann starken Truppe bekanntgeben.260 Organisation 855 Vgl. Anton Fischer, Die Revolutions-Kommandantur Berlin, als Manuskript gedruckt, Berlin o. J. (1919), S. 4 f. 25e Vgl. a. a. O., S. 5 u. 48. 257 Vgl Jen Aufruf zur Bildung dieser Truppe im Vorwärts, Nr. 318 vom 18.11. 1918, S. 1. Der N a m e „Republikanische Soldatenwehr" stammte von Wels. Siehe A. Fischer, Die Revolutions-Kommandantur..S. 9. In dem Aufruf im Vorwärts wurden besonders die Berliner Soldaten aufgefordert, ihre Vaterstadt vor Plünderung und Bruderkrieg zu bewahren. «58 Vgl. a . Fischer, Die Revolutions-Kommandantur . . . , S. 9. 259 A. a. O., S. 10. 2βο Vgl. Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch

1918 und 1945 bis

86

I. Anfänge und politische Entwicklung bis 1918

und Aufbau der Republikanischen Soldatenwehr lagen in den Händen erfahrener Offiziere,2®1 ihre Leitung hatte ein gewählter Fünferausschuß. Die vierzehn, später dann achtzehn Depots der Republikanischen Soldatenwehr wurden von gewählten Depotführern geleitet, die ihrerseits von den in den einzelnen Depots gewählten Soldatenräten kontrolliert wurden. Die Befehle der einzelnen Depotführer mußten von diesen genehmigt werden.262 Die Kommandostruktur und die politisch inhomogene Zusammensetzung der Führung — sie bestand sowohl aus Anhängern der M S P D als auch der U S P D — machte die Republikanische Soldaten wehr unzuverlässig; gegen die Linksradikalen konnte sie nicht eingesetzt werden.2*3 Auch alle anderen Versuche, eine zuverlässige Revolutionsarmee zu schaffen, waren gescheitert. So stieß der Versuch des Vollzugsrates der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte vom 12. November, eine „Rote Garde" aus sozialistischen Arbeitern zu bilden, auf den energischen Einspruch der Berliner Garnison und wurde am 13. November abgebrochen.264 Das vom Rat der Volksbeauftragten erlassene Gesetz vom 12. Dezember 1918 über die Bildung einer „Freiwilligen Volkswehr" führte ebenfalls nicht dazu, eine zuverlässige Truppe aufzustellen, da Disziplin, Ausbildung und Gesinnung der Freiwilligen Volkswehr keine harten Einsätze gestatteten. 265 Die vom Polizeipräsidenten von Berlin, Eichhorn — er gehörte zum linken Flügel der zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkunden- und Dokumentensammlung zur Zeitgeschichte, hrsg. von Herbert Midiaelis und Ernst Schraepler, Bd. 3: Der Weg in die Weimarer Republik, Berlin o. J . (1964), S. 31. 1 8 1 Nach A. Fischer, Die Revolutions-Kommandantur ..., S. 10, lagen Organisation und Aufbau in den Händen von Oberstleutnant Faupel, Major Meyn und Hauptmann v. Rosenberg. aas Vgl. Georg Klingmann, Die erste Regierung der Sozialdemokratie in Deutschland (und die Ereignisse in Berlin) vom 9. November 1918 bis zur Nationalversammlung, Phil. Diss., München 1938, S. 44 f. 2«» Vgl. Darstellungen aus den Nachkriegskämpfen deutscher Truppen und Freikorps. Im Auftrag des Oberkommandos des Heeres bearb. u. hrsg. von der Kriegsgeschichtlichen Forschungsanstalt des Heeres, Reihe 2, Bd. 6: Die Wirren in der Reichshauptstadt und im nördlichen Deutschland. 1918—1920, Berlin 1940 (zit. O K H , Die Wirren . . . ) , S. 15; W. Sauer, Das Bündnis Ebert-Groener ..., S. 96; G. Klingmann, Die erste Regierung der Sozialdemokratie ..., S. 45; A. Fischer, Die Revolutions-Kommandantur . . S . 40. 2 6 4 H. Müller-Franken, Die November-Revolution ..., S. 117—119; Otto-Ernst Sdiüddekopf, Das Heer und die Republik. Quellen zur Politik der Reithswehrführung 1918—1933, Hannover—Frankfurt/Main, S. 41 (Dok. 14) u. S. 34. 265 O K H , Die Wirren ...,S. 19.

Stadtkommandantur

Berlin (November!Dezember

1918)

87

USPD —, geschaffene „Sicherheitstruppe Groß-Berlin" hatte mehr den Charakter einer Parteiarmee der linken USPD-Leute. Eichhorn setzte sie lediglich für seine Ziele ein.2"® Als ebenso unzuverlässig für die Regierung der Volksbeauftragten erwies sich auch die Volksmarinedivision, die aus einer Marinewache der Reichskanzlei hervorgegangen war. Sie war entscheidend mitverantwortlich für die Weihnachtsunruhen des Jahres 1918.267 Betrachtet man die militärpolitische Lage der Volksbeauftragten in den Monaten November und Dezember 1918 im ganzen, so kann man sich des Eindrucks von einem völligen Fiasko schwer entziehen. Ein Konglomerat von Parteitruppen und Söldnerhaufen war entstanden. Sie bildeten einen Unruhefaktor erster Ordnung, was sich vor allem in Berlin sehr deutlich bemerkbar machte. Unter diesen Umständen konnten Zwischenfälle nicht lange ausbleiben.298 Das erste Unternehmen gegen die neue Ordnung ging nicht von den Spartakisten aus, sondern wurde von einigen rechtsgerichteten Gruppen und Personen inszeniert. Am Abend des 6. Dezember zogen ein Teil des Franzerregiments unter Führung seines Kommandeurs, des Feldwebels Spiro, ein Teil der von dem Grafen Metternich geführten Volksmarinedivision zusammen mit Teilen einer Studentenwehr, die sich mit finanzieller Unterstützung bürgerlicher Kreise gebildet hatte, zum Reichskanzlerpalais, um Ebert eine Ovation darzubringen. Spiro wandte sich in seiner Rede gegen die angebliche Mißwirtschaft des Vollzugsrates der Arbeiter- und Soldatenräte, forderte die baldige Einberufung einer Nationalversammlung und behauptete am Schluß, im Namen der ganzen Nation zu sprechen, als er Ebert zum Präsidenten der Republik ausrief. Da Ebert darauf nicht einging, wurde er von einem Matrosenführer direkt gefragt, ob er bereit sei, das Präsi*·· Uber die Zuverlässigkeit dieser Truppe vgl. A. Fischer, Die Revolutions-Kommandantur..., S. 10 f.; Gustav Noske, Erlebtes aus Aufstieg und Niedergang einer Demokratie, Offenbach/Main 1947, S. 80. 287 Uber die Volksmarinedivision vgl. O K H , Die Wirren..., S. 17; G. Noske, Von Kiel bis Kapp. Zur Geschichte der deutschen Revolution, Berlin 1920, S. 48; E. Bleeck-Schlombach, Die Volks-Marine in Berlin. Wer sind und wer waren die Führer der Volksmarinedivision ( = Beiträge zur Revolutionsgesdiidite. Bd. 1). Nach autobiographischen Angaben, Berlin 1919; Werner Hirsdi, Die Geschichte der Volksmarinedivision, in: Rote Fahne vom 23.12.1928, 3. Beilage; Kurt Wrobel, Die Volksmarinedivision ( = Gewehre in Arbeiterhand), Berlin (Ost) 1957. 268

Über das Problem der Bildung einer Revolutionsarmee allgemein vgl. W. Sauer, Das Bündnis Ebert—Groener ..., S. 84—125; O.-E. Schüddekopf, Das Heer . . . , S . 32—34.

88

I. Anfänge

und politische

Entwicklung

bis 1918

dentenamt anzunehmen. Ebert wehrte diese Frage höflich, aber bestimmt mit der Bemerkung ab, daß er einen solchen Ruf nicht annehmen könne, ohne vorher mit seinen Freunden in der Regierung gesprochen zu haben, da diese Entscheidung allein in den Händen des Rates der Volksbeauftragten liege.8'9 Daraufhin entfernten sich die Soldaten in geschlossener Formation. Etwa zur gleichen Zeit versuchte eine Abteilung der Franzer, den Vollzugsrat „im Namen der Reichsregierung" zu verhaften. Der Vollzugsrat konnte jedoch nach einer lebhaften Diskussion die Soldaten, denen die Sache auch nicht geheuer vorkam, davon überzeugen, daß man selbst während einer Revolution erfahrene Politiker nicht ohne Haftbefehl verhaften und abführen könne. Damit war der Putsch gescheitert; er machte die Hilflosigkeit der Regierung deutlich und zeigte, daß „die höchsten Behörden einfach ausgehoben werden konnten, als seien sie ein illegaler Spielklub".270 Der 6. Dezember hatte jedoch auch eine tragische Seite. Während dieser Vorgänge vor der Reichskanzlei und im Abgeordnetenhaus tagten drei große vom Spartakusbund einberufene Arbeitslosen- und Deserteurversammlungen, in die hinein die Nachricht von der Verhaftung des Vollzugsrates platzte und natürlich größte Erregung hervorrief. In den Versammlungen wurde der Beschluß gefaßt, eine große Demonstration zu veranstalten, um den Vollzugsrat wieder in seine Rechte einzusetzen. Nach einer Anfang Dezember zwischen Kommandantur und Polizeipräsidenten getroffenen Vereinbarung sollten alle Demonstrationen, gleichgültig ob zivile oder militärische, verboten werden. Der Polizeipräsident Eichhorn hatte dennoch und ausgeredinet an diesem Tage, ohne Wissen der Kommandantur, den Spartakisten eine Demonstration erlaubt. Beide Demonstrationen, die der Soldaten und die der Spartakisten, zogen nun durch die Straße Unter den Linden. Ein 2β» V g l . z u m T e x t der Rede Eberts: Friedrich Ebert, Schriften, Reden, 270

Aufzeichnungen,

Bd. 2, Dresden 1926, S. 140 f. P h . Scheidemann, Der

Zusammenbruch..

., S. 231. Zur Verhaftung des V o l l -

zugsrates vgl. die P r o t o k o l l e über die Vernehmung der Putschisten bei R. Müller, Vom Kaiserreich

zur Republik

. . B d . 2, S. 2 6 1 — 2 6 8 .

Z w e i Beamte des Auswärtigen Amtes, Graf Matuschka und Freiherr v. Rheinbaben sowie ein Marten, der sich um die Organisation der Studentenwehr bemüht hatte, sollen den B e f e h l zur Verhaftung des Vollzugsrates gegeben haben. Mitwisser sollen Freiherr v . Stumm v o m Auswärtigen Amt, Graf Metternich, der damalige Kommandeur der Matrosendivision, u n d H a u p t m a n n Cohler gewesen sein. Siehe H . Müller-Franken, Die November-Revolution

. . . , S. 147.

Stadtkommandantur

Berlin (November!Dezember

1918)

89

Zusammenstoß schien unvermeidlich. Das Generalkommando des Gardekorps wurde, ebenso wie die Kommandantur, von den Demonstrationen völlig überrascht. Es schickte sein Soldatenratsmitglied Krebs zur Kommandantur, um dort gemeinsame Schritte zur Verhinderung des drohenden Zusammenstoßes zu vereinbaren. Mit Genehmigung der Kommandantur wurden von Krebs die Gardefüsiliere, vom Volksmund „Maikäfer" genannt, abkommandiert, um an der Ecke Invaliden- und Chausseestraße das Regierungsviertel abzusperren und die Demonstrationszüge zu zerstreuen beziehungsweise durch die Invalidenstraße nach Norden abzuleiten. Während der Demonstrationszug aus den Germaniasälen von den Gardefüsilieren mit Erfolg abgedrängt werden konnte, rückte der andere Zug aus den Sophiensälen gegen die Invalidenstraße vor und weigerte sich auseinanderzugehen. Es kam zu einer Schießerei, bei der es sechzehn Tote und zwölf Schwerverwundete gab. Wer das Feuer eröffnet hatte, war, wie oft in solchen Fällen, nicht festzustellen. Die Gardefüsiliere waren von der Kommandantur ausdrücklich darauf hingewiesen worden, nur in Notwehr zu schießen. Ein Teil der Demonstranten trug, entgegen der mit dem Polizeipräsidium getroffenen Abmachung, Waffen. Jeder der Beteiligten schob dem anderen die Schuld an dem Blutvergießen zu.271 Dieser durch einen unglücklichen Zufall entstandene Zusammenstoß steigerte das Mißtrauen der Arbeiter gegen die Regierung in erheblichem Maße. Es wurden Zusammenhänge zwischen dem Putsch gegen den Vollzugsrat, der Proklamation Eberts zum Präsidenten und dem Blutbad unter den Spartakusdemonstranten konstruiert. Die Regierung wurde verdächtigt, mit Hilfe reaktionärer Soldaten die revolutionären Kräfte vernichten zu wollen. Hinzu kam, daß Ebert sich in seiner Rede nicht entschieden genug von den Putschisten distanziert hatte. Das, verbunden mit der Tatsache, daß die Putschisten in Ebert ihren Mann gesehen hatten, vergrößerte das Mißtrauen großer Teile der Berliner Arbeiterschaft gegen die Regierung. Ein entscheidender Bruch zwischen den radikalen und den gemä271 Zum Gesamtkomplex 6.12. 1918 und Zusammenstoß an der Chausseestraße vgl. H.Müller-Franken, Die November-Revolution..., S. 144—148; E.Barth, Aus der Werkstatt..., S. 82 ff.; R. Müller, Vom Kaiserreich zur Republik ..., Bd. 2, S. 167 ff.; A. Fischer, Die Revolutions-Kommandantur..., S. 17—20; Bericht des Untersuchungsausschusses über die Januar-Unruhen 1919 in Berlin, in: Sammlung der Drucksachen der verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung, Bd. 15, Drucksache Nr. 4121 A, Berlin 1921, S. 7672—7673 (zit. UdPL); a.a.O., Urkundenband zum Bericht über die Januar-Unruhen 1919 in Berlin, Drucksache 4121 C, 5. Aktenstück, S. 8097—8098, Bericht Fischers über die Vorgänge am 6.12.1918 in der

90

I. Anfänge und politische Entwicklung bis 1918

ßigten Sozialisten ist von diesem Tage an, zumindest in Berlin, nicht zu übersehen. Ein direktes Verschulden der MSPD wie von Wels bei den Vorgängen vom 6. Dezember läßt sidi jedoch nicht nadiweisen. !7! Das hinderte die Spartakisten nicht, am 7. und 8. Dezember machtvolle bewaffnete Demonstrationen gegen die Regierung durchzuführen und Ebert, Scheidemann und Wels als Verbrecher zu brandmarken, die es zu beseitigen gelte. Die drei wurden unter anderem beschuldigt, eine weiße Garde gesdiaffen zu haben, um eine konterrevolutionäre Tätigkeit zu entfalten. 27 ' Als am 8. Dezember die Opfer des Zusammenstoßes in der Chausseestraße beigesetzt wurden, ließ Liebknecht den Leichenzug vor der Kommandantur halten und forderte im Schutze von Maschinengewehren und einer tausendköpfigen Menge offen dazu auf, den „Bluthund Wels" herauszuholen. Mit 3000 Anhängern erschien er in den Abendstunden erneut vor der Kommandantur, um seine Drohung wahrzumachen. Wels konnte sich mit seiner Frau im nebenan gelegenen Prinzessinnenpalais in Sicherheit bringen, bevor die Kommandantur eingeschlossen war und ein Trupp Spartakisten infolge des Versagens der Torwache in seinem Arbeitszimmer in der Kommandantur erschien.274 Chausseestraße, sowie Aktenstück 6, S. 8098—8100; Vorwärts, N r . 337 vom 8. 12. 1918, S. 3, die Erklärung von Wels zu den Vorgängen in der Chausseestraße. Vgl. A. Rosenberg, Geschichte der "Weimarer Republik . . . , S. 41. Wels hatte, als er von dem Uberfall auf den Vollzugsrat erfuhr, Alarmbereitschaft für alle Depots der Republikanischen Soldatenwehr angeordnet, mit dem strengen Befehl, die Soldaten erst dann auf die Straße zu schicken, wenn äußerste Gefahr bestehe. Bei Zusammenstößen dürfe nur von der Waffe Gebrauch gemacht werden, wenn von der Gegenseite bereits tätliche Angriffe erfolgt seien. Wels selbst begab sich per Auto zum Abgeordnetenhaus, um den Vollzugsrat zu befreien und weitere Zusammenstöße zu verhindern. Siehe UdPL, Urkundenband, Drucksache 4121 C, 3. Aktenstück, S. 8097. Dittmann schildert als unverdächtiger Zeuge — Lebenserinnerungen . . . , S. 896 — wie schwer die Toten auf Wels' Gemüt lasteten. In der Besprechung am 6. 12. 1918 abends in der Reichskanzlei beim Bericht über die Vorgänge habe er gestöhnt, jetzt werde man ihn den „Bluthund" nennen, und er habe doch keinen Befehl zum Schießen gegeben. Wels sei völlig erschöpft und erschüttert gewesen und habe am ganzen Körper gezittert. Sein Gesicht sei von fortgesetztem Nervenzucken verzerrt worden und seine Augen hätten unruhig geflackert. 273

Vgl. R. Müller, Vom Kaiserreich zur Republik..., Bd. 2, S. 174; Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, R. 2, Berlin 1958, S. 548 f. u. 554 f. 274

A. Fischer, Die Revolutions-Kommandantur..., 9.12.1918, S. 2.

S. 21; Vorwärts,

Nr. 33 a vom

Stadtkommandantur

Berlin (November/Dezember

1918)

91

Die Gegnerschaft der Spartakisten gegen Wels als Stadtkommandanten datierte nidit erst vom 6. Dezember 1918. Bereits am 18. November kommentierte die Rote Fahne Wels' Aufruf zur Bildung der Republikanischen Soldatenwehr mit der sarkastischen Bemerkung, Wels, der im Kriege nie den Soldatenrock getragen habe, fühle sich offenbar völlig als Nachfolger des selbstherrlichen von Kessel, des ehemaligen kaiserlichen Polizeipräsidenten von Berlin." 5 Am 23. November berichtete die Rote Fahne von einem blutigen Zusammenstoß zwischen der verstärkten Sidierheitswache des Polizeipräsidiums und Spartakisten, die angeblich politische Gefangene hätten befreien wollen. Die Sidierheitswache sei vom Stadtkommandanten Wels alarmiert worden, der bereits am 13. November mit dem Revolver in der Hand das Reichstagsgebäude von friedlichem Publikum gesäubert habe. Wels und Konsorten, das sei die Gegenrevolution „wie sie leibt und lebt". Die Entfernung dieser gemeingefährlichen Elemente aus ihren jetzigen Positionen sei das dringendste Gebot für die arbeitenden Massen Berlins.27" In der gleichen Nummer berichtete die Rote Fahne über eine Versammlung mit Liebknecht vom 21. November, in der gegen die angebliche „Verhaftungsmanie" von Wels protestiert worden sei. In einer von dieser Versammlung angenommenen Resolution sei der Vollzugsrat aufgefordert worden, Wels und seinen unheimlichen Berater, den Kriegsgerichtsrat Wolff, unverzüglich ihrer Ämter zu entheben.277 Auf der gleichen Seite berichtet das Blatt von konterrevolutionären Vorbereitungen des Stadtkommandanten. Er ziehe starke auswärtige Truppen nach Berlin mit dem ausgesprochenen Ziel, diese gegen die revolutionären Berliner Arbeiter und Soldaten einzusetzen. Wels warte nur auf einen Anlaß, die Maschinengewehre sprechen zu lassen.278 Am 24. November schrieb Rosa Luxemburg, der „abhängige Stadtkommandant von Berlin" bewaffne die Sicherheitswachen mit scharfen Patronen gegen „erdichtete Anschläge" der Spartakusleute. Die Trabanten der Wels und Genossen hetzten die zwielichtigsten Elemente unter den Soldaten gegen Liebknecht und seine Freunde auf. 275

Rote Fahne, Nr. 3 vom 18.11.1918, S. 2.

278

A. a. O., Nr. 8 vom 23.11.1918, S. 3.

277

Ebda. Siehe audi die Entgegnungen von Wels auf diese Vorwürfe, in: Vorwärts, Nr. 324 vom 25. 11. 1918, S. 3: Spartakus als Befreier, und a. a. O., Nr. 327 vom 28.11.1918, Beilage, S. 1. 278

Rote Fahne, Nr. 8 vom 23.11.1918, S. 3.

I. Anfänge und politische Entwicklung bis 1918

92

„Ihr lauert auf den Augenblick, ihr lechzt nach den Lorbeeren der Thiers, Cavaignac und Gallifet."279 Nach dem Putsch vom 6. Dezember erreichten die Angriffe der Roten Fahne ihren Höhepunkt. Sie gipfelten in der Behauptung, Wels sei der Organisator des Putsches und der Metzelei vom 6. Dezember gewesen.280 Vorbedachter Mord! Das sei der Urteilsspruch über Wels.281 Zu der hemmungslosen und unversöhnlichen Gegnerschaft der Spartakisten kam für Wels spätestens nach dem 6. Dezember die offene Feindschaft des linken Flügels der USPD und des radikalen Polizeipräsidenten Eichhorn.282 Eichhorn machte der Kommandantur Schwierigkeiten über Schwierigkeiten. Am 15. Dezember 1918 zwang er Wels 1000 der radikalsten Leute seiner Sicherheitswehr auf, die Wels wohl oder übel in seine Republikanische Soldatenwehr übernehmen mußte, um die allgemeine Unsicherheit in Berlin nicht noch mehr zu steigern. Gleichzeitig ging Eichhorn daran, seine engeren Parteifreunde im Polizeipräsidium und in der Sicherheitswehr unterzubringen. Sein weiteres Bemühen war es, möglichst viele Waffen und große Mengen von Munition und Lebensmitteln für seine Truppe zu beschaffen. Da 279

A. a. O., N r . 9 vom 24.11.1918, S. 2.

280

A. a. O., Nr. 24 vom 9. 12.1918.

281

A. a. O., Nr. 26 vom 11.12.1918. Der Vorwärts ließ sidi zu der bissigen Replik verleiten, daß die Rote Fahne täglich sechs bis zehn Lügen veröffentliche. Sonst nidits. Dann passe sie scharf auf, was der Vorwärts mache. Antworte er, so sei er das gefällige Organ der Bluthunde Scheidemann, Ebert und Wels. Sei ihm die Sache zu dumm und brauche er sein Papier zu Wichtigerem, dann schweige er das Schweigen der Verlegenheit und sei geständig. „Da ist nun nichts zu machen! Wenn es in Berlin wirklich Idioten gibt, die glauben, was in der Roten Fahne steht, können wir ihnen nicht helfen!" Siehe Vorwärts, N r . 342 a vom 13.12.1918, S. 2. Vgl. audi Erklärung von Wels a. a. O., Nr. 338 a vom 9. 12.1918, S. 3: Die Spartakuslügen, Wels über Martin, sowie a.a.O., Nr. 344 vom 15.12.1918, S. 2: Die Verleumdungen der ,Roten Fahne'. 282

Vgl. zu den Angriffen des linken Flügels der Unabhängigen die Protokolle des Rats der Volksbeauftragten, unveröffentlicht, IISG — Amsterdam, Bd. 1, Kabinettsitzung vom 7. 12. 1918, 12.30 Uhr, S. 1/70; a.a.O., Sitzung des Vollzugsrates und des Kabinetts vom 7. 12. 1918, 19 Uhr. Das radikale Vollzugsratsmitglied Wegmann äußerte hier schon die Ansicht, daß Wels für den Posten des Stadtkommandanten ungeeignet sei. (Vgl. auch H . MüllerFranken, Die November-Revolution ..., S. 151.) Däumig dagegen sah in der Kommandantur die Herren der Gegenrevolution sitzen, ohne jedoch die „bona fides" von Wels zu bezweifeln.

Stadtkommandantur

Berlin (November/Dezember

1918)

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der Kommandantur diese Aktivität von Eichhorn nicht verborgen blieb, waren Zusammenstöße mit Wels unvermeidlich.283 Ernster sollte jedoch der Konflikt zwischen der Kommandantur und der Mehrheit der Berliner Garnison sowie der Volksmarinedivision werden. Bereits bei der Gründung der Republikanischen Soldatenwehr hatte sich Wels die Gegnerschaft eines Teils der frei- beziehungsweise selbstgewählten Regimentskommandeure und Soldatenräte der Berliner Garnison zugezogen, die in der Republikanischen Soldatenwehr eine Konkurrenz sahen. Auf der Zusammenkunft der Regimentskommandeure und Soldatenräte Groß-Berlins vom 3. Dezember 1918 in der Franzerkaserne wurden ernsthaft Vorschläge gemacht, in Zukunft die Kommandantur ganz auszuschalten und einen Garnisonssoldatenrat zu bilden, auf den alle militärischen Befugnisse übergehen und dem auch alle Truppen unterstellt werden sollten.284 Der Einmarsch der Fronttruppen in Berlin und ihr Empfang durch die MSPD-Regierungsvertreter, hier besonders durch Ebert und Wels, mußten den Vertretern der Berliner Garnison unmißverständlich zeigen, auf wen die MSPD und damit die Berliner Kommandantur ihre militärischen Hoffnungen setzte.285 Die Spannungen erreichten ihren Höhepunkt während der Auseinandersetzung zwischen der Volksmarinedivision und verschiedenen Reichsbehörden. Den formalen Anlaß der Differenzen mit der Volksmarinedivision gab die sogenannte „Denkschrift" des preußischen Finanzministeriums vom 12. Dezember 1918, in der auf Mißstände im Schloß unter der Matrosenherrschaft, Plünderungen usw., aufmerksam gemacht und die unverzügliche und vollständige Entfernung der Matrosen aus dem Schloß und dem Marstall gefordert wurde.286 283 Zur Auseinandersetzung Kommandantur—Polizeipräsidium vgl. A. Fischer, Die Revolutions-Kommandantur ..., S. 11, 22—24 und 40. Zur Übernahme eines Teils der Sicherheitswehr in die Republikanische Soldatenwehr siehe Vorwärts, Nr. 333 vom 4 . 1 2 . 1918, Beilage, S. 1. 284 A. Fisdier, Die Revolutions-Kommandantur..S. 16 f. 285 Vgl. Aufruf Wels' zum Truppenempfang im Vorwärts, Nr. 322 vom 23. 11. 1918, Beilage, S. 1.

^ Zur Beschwerde des preußischen Finanzministeriums über die Volksmarinedivision, die außer dem preußischen Staatsministerium auch der Kommandantur zugeleitet wurde, vgl. UdPL, Urkundenband, Drucksache 4 1 2 1 C , 11. Aktenstück, S. 8104—8107; Rudolf Rotheit, Das Berliner Schloß im Zeichen der Novemberrevolution, Berlin o. J. (1923), S. 69—72; Kurt Heinig, Hohenzollern. Wilhelm IL und sein Haus. Der Kampf um den Kronbesitz, Berlin 1921, S. 86—89; A. Fisdier, Die Revolutions-Kommandantur. .., S. 28—33. Inwieweit die Beschwerden über die

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Der Kommandantur kam diese „Denkschrift" nicht ungelegen. Mit Schreiben vom 17.12.1918 leitete Wels sie an die Reichsregierung weiter, machte sidi den darin eingenommenen Standpunkt voll zu eigen und drängte auf eine baldige Entscheidung der Regierung.287 Der Stimmungsumschwung zuungunsten der Matrosen war bei der MSPD und vor allem bei der Kommandantur nach dem Wechsel in der Leitung der Volksmarinedivision eingetreten, als Graf Metternich nach dem gescheiterten Rechtsputsch vom 6. Dezember ausgeschieden war. Am 9. Dezember hatte der sogenannte 53er Ausschuß, der Zentralrat der Marine, sein politisches Programm veröffentlicht, das in der Frage der Bildung einer Nationalversammlung den USPD-Auffassungen sehr nahe kam.!8a In einer Eingabe der Volksmarinedivision an die Reichsregierung vom 8. Dezember wurde verlangt, auf eine Stärke von 5000 Mann gebracht und der Republikanischen Soldatenwehr angegliedert zu werden. Zur Durchsetzung ihrer Forderungen wies die Volksmarinedivision darauf hin, daß ihr von Spartakusseite bereits Geld angeboten worden sei.289 Regierung und Kommandantur versuchten daher, diese selbstherrliche Truppe, die ihnen immer unheimlicher wurde, von unzuverlässigen und regierungsfeindlichen Leuten zu säubern und aus ihrer beherrschenden strategischen Position im Zentrum Berlins möglichst zu entfernen. Seit dem 10. Dezember verhandelte Wels auf Anweisung Eberts mit der Volksmarinedivision auf dieser Basis. Am 13. Dezember wurde mit ihren Vertretern, dem Zentralrat der Marine (53 er Ausschuß) und dem Soldatenrat des Reichsmarineamtes vereinbart, daß die Volksmarinedivision bis zum 21. Dezember ihren Mannschaftsbestand auf 600 zuverlässige Leute reduzieren sollte, die als geschlossenes Depot in die Republikanische Soldaten wehr zu übernehmen seien. Außerdem verpflichtete sich die Volksmarinedivision, das Schloß sofort zu räuVolksmarinedivision auf Tatsadien beruhten, ist in diesem Fall historisch uninteressant. 287

Vgl. Schreiben Wels' vom 17.12. 1918 an die Reichsregierung, abgedruckt a. a. O., S. 35—37. 288 Vgl. R.Müller, Vom Kaiserreich zur Republik..., Bd. 2, S. 192; A. Fischer, Die Revolutions-Kommandantur..., S. 26 f. Inwieweit die Volksmarinedivision auf der Seite der U S P D stand, geht aus dem Protokoll der Führersitzung der Volksmarinedivision vom 12. 12. 1918 hervor, in der einstimmig beschlossen wurde, bei einem Auseinanderbrechen der Regierung Ebert—Haase mit der Waffe in der Hand für eine Regierung Haase einzutreten ( U d P L , Urkundenband, Drucksache 4121 C, 14. Aktenstück, S. 8108 f.). 289

Vgl. A. Fischer, Die Revolutions-Kommandantur

. . . , S. 25 f. u. 35.

Stadtkommandantur

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men. Sie sollte neue Büroräume neben der Kommandantur erhalten. Für die fällige Löhnung wurden ihr von der Kommandantur 125 000 M. ausgezahlt. Die Volksmarinedivision hielt sich jedoch nicht an diese Abmachung mit der Kommandantur, und am 17. Dezember schienen alle Verhandlungen an einem toten Punkt angelangt zu sein.290 Die Matrosen wollten, von den Radikalen gedrängt, ihre Machtposition nidit aufgeben. Die nicht ganz zielsicheren Versuche des Führers der Volksmarinedivision, Radtke, und anderer, die Volksmarinedivision zu neutralisieren, mißlangen.291 Die häufigen Besudle Liebknechts, Ledebours, Piecks und Eichhorns im Schloß und im Marstall wie auch die Verbindung zwischen dem Pressedirigenten des Volksmarinerats, Dorrenbach, und dem Chefredakteur der linksgerichteten Zeitschrift Republik legen einige der Querverbindungen bloß, die zur Volksmarinedivision bestanden.292 Im Kampf um ihren Bestand und die Auszahlung der Löhnung wurde sie von einem großen Teil der Soldatenräte der Berliner Garnison unterstützt. 293 Während der ersten Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte vom 16. bis 20.12. 1918 in Berlin erschienen einige Berliner Truppenteile am 17.12. auf dem Kongreß und protestierten gegen die von der Regierung beabsichtigten Maßnahmen gegen die Volksmarinedivision.294 Trotz dieses Drucks faßte der Rat der Volksbeauftragten am 21. Dezember den einstimmigen Beschluß, die Kommandantur anzuweisen, den Betrag von 80 000 M. für die nächste Löhnungsdekade der Volksmarinedivision erst nach Räumung des Schlosses und der Abgabe aller Schlüssel an die Stadtkommandantur auszuzahlen.295 Die seit dem 290 Vgl. Schreiben Wels' vom 17.12.1918 (Aktenzeichen 231/121) an den Rat der Volksbeauftragten, abgedruckt in: UdPL, Niedersdiriftenband, Drucksache 4121B, S. 7753 f., u. A. Fischer, Die Revolutions-Kommandantur . . S . 35—37. "» Vgl. K. Heinig, Hohenzollern ..., S. 91 W2 Vgl. ebda.; R. Rotheit, Das Berliner Schloß ...,S. 68. 295 Vgl. den Beschluß der am 16.12.1918 in den Kasernen des Augusta-GardeRegiments versammelten Soldatenräte, die eine Erhöhung der Stärke der Volksmarinedivision auf 8000 Mann verlangten (A. Fischer, Die Revolutions-Kommandantur ...,S. 37 f.). 194 Vgl. Stenographische Berichte über den Allgemeinen Kongreß der Arbeiterund Soldatenräte Deutschlands vom 16.—21. Dezember 1918 im Abgeordnetenhaus zu Berlin, hrsg. vom Zentralrat der sozialistischen Republik Deutschlands, Berlin (1919), S. 61—63. Siehe die Rede Tost's vom Zentralrat der Marine gegen Wels, a. a. O., S. 66. Vgl. auch R. Rotheit, Das Berliner Schloß..., S. 66 f. W. Dittmann, Lebenserinnerungen ..., S. 921 f. 295 Vgl. Protokolle des Rates der Volksbeauftragten ..., Bd. 2, Sitzung des Kabinetts mit dem Zentralrat am 28. 12. 1918 in der Reichskanzlei, Bericht Eberts über

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18. Dezember von Kurt Heinig als dem Vertreter des preußischen Finanzministeriums mit der Division geführten Verhandlungen, die als Kompromißlösung die sofortige Räumung des Schlosses und der Büroräume im Marstall durch sie vorsahen, schienen einen Ausweg aus der hoffnungslos festgefahrenen Situation zu eröffnen. 29 ' Sie scheiterten jedoch an dem Einspruch von Wels, der zu Unrecht in erster Linie für die völlig ungeklärten Machtverhältnisse, die sich durch die Stellung der Volksmarinedivision ergaben, verantwortlich gemacht wurde.2"7 Wels drängte jetzt auf eine endgültige Bereinigung der Sachlage. Er wollte die Matrosen gleichzeitig aus dem Schloß und dem Marstall heraus haben.298 Inwieweit Wels dem von Dr. Hübner im preußischen Finanzministerium entwickelten Plan, die Matrosen mit Waffengewalt aus dem Schloß zu vertreiben — dieser unmögliche Vorschlag war den Reichsbehörden und damit audi Wels vom preußischen Finanzministerium zu diesem Zeitpunkt bereits mitgeteilt worden —, zustimmte, läßt sich ungeachtet seiner Drohung gegenüber dem Kommandanten der Volksmarinedivision, Radtke — „Euch aus dem Schloß herauszukriegen, ist eine Kleinigkeit. Die Truppen von der Front sind zurückgekehrt. Ich lasse einfach vier Divisionen von allen Seiten anmarschieren und dann werdet ihr schon herauskommen"2M —, nicht mit Sicherheit feststellen. die Vorgänge am 23./24. 12. 1918, a. a. O., S. 1/84; A. Fischer, Die Revolutions-Kommandantur . . . , S. 41; UdPL, Urkundenband, Drucksache 4121 C, 13. Aktenstück, S. 8108. m Zum angeblichen Vertrag zwischen preußischem Finanzministerium und dem Volksmarinerat vom 18.12.1918 vgl. UdPL, Urkundenband, Drucksache 4121 C, 16. Aktenstück, S. 8115. 297 Vgl. K. Heinig, Hohenzollern . . . , S. 91. Die von Eduard Bernstein (Die deutsche Revolution, ihr Ursprung, ihr Verlauf und ihr Werk, Berlin 1921, Bd. 1, S. 79) aufgestellte Behauptung, die Matrosen seien auf Wunsch von Wels nach Berlin geholt worden, ist irrig. Siehe dazu W. Dittmann, Lehenserinnerungen . . S. 922 f. 288 Vgl. K. Heinig, Hohenzollern ..., S. 95. R. Rotheit, Das Berliner Schloß ..., S. 77 f., der als Berliner Journalist zu Wels während dieser Zeit gute Kontakte unterhielt, weist auf die divergierende Interessenlage zwischen Fininzministerium und Kommandantur hin. Dem Finanzministerium sei es bei dem Entwurf der Vereinbarung vom 18. 12.1918 vor allem um die Schonung der Vermögenswerte und damit um die Räumung des Schlosses gegangen. Wels dagegen habe beabsichtigt, die Matrosen, wenn nicht aus Berlin, so doch wenigstens aus der beherrschenden Stellung im Mittelpunkt der Stadt zu entfernen. Mit der bloßen Verlegung der Divisionskanzlei in eine Beamtenwohnung des Marstalls sei ihm nicht viel gedient gewesen. 299 UdPL, Urkundenband, Drucksache 4121 C, 15. Aktenstück, Erklärung Volksmarinedivision aus der Republik vom 29. 12.1918, S. 8112.

der

Stadtkommandantur

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Es scheint sidi bei dieser Äußerung wohl mehr um einen durch die Nervenbeanspruchung und sein cholerisches Temperament verständlichen Zornesausbruch von Wels gehandelt zu haben als um eine ernst gemeinte Drohung mit militärischer Gewalt.®00 Daß von Seiten der Stadtkommandantur nicht die geringsten militärischen Vorbereitungen für eine solche Maßnahme bis zum Zusammenstoß mit der Volksmarinedivision am 23./24.12.1918 getroffen wurden, bestätigt diese Annahme. So nahte der 23. Dezember, der Löhnungstag unmittelbar vor Weihnachten, ohne daß die Matrosen das Sdiloß geräumt hatten.301 Um 14 Uhr erschien Milewski, Mitglied des Fünferausschusses der Volksmarinedivision, in der Kommandantur, um das Geld für die Löhnung abzuholen. Da Wels bereits seit 9 Uhr im Gewerkschaftshaus war, wo über die Aufstellung der Kandidaten der MSPD für die Nationalversammlung beraten wurde, machte Leutnant Fischer Milewski noch einmal darauf aufmerksam, daß er, entsprechend dem Befehl der Volksbeauftragten, die Löhnung erst nach Räumung des Schlosses und Ubergabe des Schlüssels auszahlen dürfe.'02 Nach diesem gescheiterten Versuch Milewskis wandte sich Dorrenbach zwischen 15 und 16 Uhr wegen der Löhnung telefonisch an den Volksbeauftragten Haase in der Reichskanzlei. Haase ermahnte Dorrenbach, die Sache nicht auf die Spitze zu treiben, das Schloß zu räumen und die Schlüssel abzugeben. Das Geld würde dann sofort aus51)0 K. Heinig, Hohenzollern ..., S. 95, schreibt über den Gesundheitszustand von Wels: „Der Stadtkommandant sah fürchterlich aus. Es war auch für den Laien nicht schwer zu erkennen, daß hier Nervenüberspannung und Oberbelastung vorlagen, die die Vorboten schwerer Erkrankung sein mußten; das Gesicht dunkelrot, die Augen unstet, die Pupillen irrten mitunter sekundenlang auseinander; der schwere Körper wurde nur durch einen kräftigen Willen zusammengehalten und dieser wieder durch Zigaretten und Tee aufgepeitscht." 301 Am 19. Dezember hatte Dorrenbach in einer Versammlung der Matrosen die Verantwortungslosigkeit besessen, seinen Leuten den Vertragsentwurf zwischen dem Finanzministerium und der Volksmarinedivision als von den beiden preußischen Finanzministern Südekum und Simon unterzeichneten gültigen Vertrag zu präsentieren. Bei der Mehrheit der Mitglieder der Volksmarinedivision wurde so der Eindruck erweckt, daß sie berechtigt seien, ihre Löhnung zu empfangen und im Schlosse zu bleiben, bis neue ihnen zusagende Räume im Marstall bereitgestellt wären. Durch diese vollendete Fälschung wurde Stimmung gegen Wels gemacht und bewirkt, daß sich die Haltung der Matrosen in der Räumungsfrage immer mehr versteifte. Vgl. a.a.O., S. 96; Ernst Heilmann, Die Noskegarde ( = Flugschriften zur Revolution), Berlin o. J . (1919), S. 12; UdPL, Bericht des Untersuchungsausschusses, Druc&sache 4121 A, S. 7678; A. Fischer, Die Revolutions-Kommandantur..., S. 41. 802 Vgl. UdPL, Niederschriftenband, Drucksache 4121 B, S. 8001 (Aussage Fischers); R. Rotheit, Das Berliner Schloß ..., S. 78.

7

Adolph

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bis 1918

gezahlt werden. Auf den Einwand Dorrenbachs, daß er Wels die Schlüssel nicht überbringen könne, weil dann ein Teil seiner Leute ihn begleiten würde und es ein Unglück geben könne, wies Haase Dorrenbach an, die Schlüssel zur Reichskanzlei zu bringen und sie bei seinem Kollegen Barth abzugeben, da er selbst zu einer Besprechung müsse und Ebert nicht erreichbar sei.303 Um 16 Uhr erschien Dorrenbach mit zwanzig seiner Leute bei Barth und übergab diesem eine riesige Kiste mit Schlüsseln. Barth rief daraufhin im Beisein der Matrosen Wels in der Kommandantur an und teilte ihm mit, daß die Matrosen bei ihm seien und die Schlüssel übergeben hätten. Wels solle ihnen jetzt die Löhnung auszahlen. Wels weigerte sich und erbat einen Befehl von Ebert als dem für die militärischen Fragen zuständigen Volksbeauftragten. Der Wortlaut dieses für die Beurteilung der weiteren Vorgänge bedeutsamen Telefongesprächs ist umstritten, da beide Teilnehmer stark voneinander abweichende Versionen geben. Während Barth das Gespräch so darstellte, daß Wels aus Eigensinn, einer Formalität bei der Schlüsselübergabe wegen, die Auszahlung der Löhne verweigert habe,304 betonte Wels mit Nachdruck, für ihn sei nicht die Schlüsselübergabe, sondern die Räumung des Schlosses entscheidend gewesen.305 Wels' Darstellung wird von Kurt Heinig, damals Beauftragter des preußischen Finanzministeriums, gestützt, der von einem Telefongespräch zwischen ihm und Wels am 23.12.1918 kurz vor 18 Uhr, also nach dem Gespräch mit Barth, berichtet. Wels fragte an, ob die Matrosen das Schloß geräumt hätten, da Dorrenbach soeben in der Reichskanzlei eine Kassette mit Schlüsseln abgegeben habe. Heinig gab Wels die Auskunft, daß die Matrosen noch immer im alten Quartier seien. Die Schlüssel zu den Toren seien gar nicht in ihren Händen, könnten also auch nicht abgegeben worden sein, da das alte Hof303

Vgl. Protokolle des Rates der Volksbeauftragten . . ., Bd. 2, Kabinettsitzung vom 28. 12. 1918, 15.30 Uhr, S. 10/93 (Ausführungen Haases). 304

Vgl. E. Barth, Aus der Werkstatt. . ., S. 89/100; Protokolle des Rates der Volksbeauftragten . . ., Bd. 2, Sitzung des Kabinetts und des Zentralrats vom 28. 12. 1918, S. 39. 305 Vgl. Frankfurter Zeitung, Nr. 359 vom 28. 12. 1918, S. 1: Zur Vorgeschichte der Zusammenstöße, Erklärung von Wels; Vossische Zeitung, Nr. 661 vom 2 8 . 1 2 . 1 9 1 8 , S. 1. Wels über den 23. Dezember, siehe audi die Darstellung Fischers in UdPL, Niederschriftenband, Drucksache 4121 B, S. 8001, sowie die Darstellung des damaligen Indendanturrates Dr. Bongardt, a. a. O., S. 7756 f.

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personal noch im Schloß und im Besitz der Schlüssel sei. Dorrenbach habe wahrscheinlich die Schlüssel geschickt, die seinerzeit von der Volksmarinedivision requiriert und nicht wieder zurückgegeben worden seien. Diese Schlüssel seien ganz bedeutungslos. 306 Der Verlauf der Ereignisse nach dem Telefongespräch zwischen Barth und Wels mutet grotesk an. Nachdem Barth die Matrosen zu Ebert geschickt hatte, setzten diese die Regierung unter Hausarrest und sperrten die Telefonzentrale, wobei ihnen allerdings die geheime Leitung der Reichskanzlei zur Obersten Heeresleitung nach Kassel entging. Ebert konnte sich deshalb mit der Obersten Heeresleitung in Verbindung setzen, die ihrerseits dem Generalkommando Lequis den Befehl erteilte, die Volksmarinedivision zu entwaffnen. Wahrscheinlich vom Generalkommando Lequis erhielt audi die Kommandantur Nachricht von den Vorfällen in der Reichskanzlei. Wels gab den Befehl, die Republikanische Soldatenwehr zu alarmieren, um der Regierung zu Hilfe zu eilen. Er selbst wollte zusammen mit dem ersten Trupp zur Reichskanzlei ziehen und hoffte, die Matrosen durch Verhandlungen zur Besonnenheit zu bringen. D a die Truppen jedoch noch nicht abmarschbereit waren, eilte Wels noch einmal zur Kommandantur zurück, um zu sehen, ob neue Nachrichten eingelaufen seien.307 Als Wels mit Dr. Bongardt die Kommandantur wieder verlassen wollte, um sich mit den Truppen zur Wilhelmstraße zu begeben, trafen sie auf Dorrenbach und einen Trupp Matrosen, die Wels sofort umringten und veranlaßten, zu Verhandlungen mit ihnen sein Zimmer in der Kommandantur wieder aufzusuchen. Obwohl Dr. Bongardt die Wache der Kommandantur anwies, das Tor zu schließen und sich zum Kampf bereitzumachen, da die Matrosen im Anmarsch seien, gelang es den Matrosen, in die Kommandantur und in das Verhandlungszimmer einzudringen. Vor der Kommandantur versammelten sich weitere Matrosen sowie Angehörige der Sicherheitswehr Eichhorns, die Gewehr bei Fuß auf das Verhandlungsergebnis warteten. Plötzlich fielen auf der Straße mehrere Schüsse. Ein Panzerauto, vermutlich zur Einschüchterung der Matrosen abgeschickt, fuhr vorbei. Die Matrosen, in dem Glauben, daß es den Marstall anzugreifen beabsichtige, versuchten es aufzuhalten. Von welcher Seite zuerst geschossen wurde, blieb ungeklärt. Als Wels die 308

Vgl. K. Heinig, Hohenzollern . . ., S. 96 f. Vgl. Aussage Dr. Bongardts, UdPL, Niederschriftenband, Drucksache 4121 B, S. 7757. 307

7*

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Schüsse hörte, stürzte er auf den Balkon und schrie: „Nicht schießen, es wird verhandelt!" 308 Hierauf wurde das Feuer eingestellt; zwei Matrosen waren jedoch bereits gefallen. Die nun äußerst aufgebrachten Matrosen stürmten die Kommandantur, indem sie durch Tor und Fenster eindrangen. Die schwache Wache war nicht in der Lage, wirkungsvollen Widerstand zu leisten, da ein solches Vorgehen Wels und seinen Leuten das Leben gekostet hätte. Wels, dem es für einen Augenblick, als er einen Fernsprecher läuten hörte, gelungen war, in ein Nebenzimmer zu treten, fand sich durch das Generalkommando Lequis aus der Universität angerufen. Er teilte dem Generalkommando mit, daß er in der Kommandantur eingeschlossen und handlungsunfähig sei, und bat, von dort her alles Nötige zu veranlassen. Die Matrosen stellten nach diesem Vorfall unter massivem Hinweis auf ihre Waffen Wels die Forderung, die 80 000 M. Löhnungsgelder sofort auszuzahlen und durch schriftliche Erklärung die Volksmarinedivision als einen ständig in Berlin stationierten Truppenteil anzuerkennen. Diese Erklärung wurde von Wels verweigert, die 80 000 M. Löhnungsgelder auf Anweisung von ihm jedoch von Fischer ausgezahlt. Die Hoffnung, durch die Auszahlung der Löhnungsgelder die Matrosen zu beschwichtigen, erwies sich als falsch. Die durch den Tod ihrer beiden Kameraden aufgebrachten Matrosen riefen unter Führung Dorrenbachs nach Rache und nahmen kurz entschlossen Wels, Leutnant Fischer und Intendanturrat Dr. Bongardt gefangen. Sie brachten sie unter schweren Mißhandlungen in den Marstall, wo nun besonders Wels mehrmals seine Erschießung angedroht wurde.309 In der Nacht gelang es den Soldatenräten und Kommandeuren verschiedener Berliner Garnisonstruppen mit der Drohung, Schloß und Marstall zu stürmen, Dr. Bongardt und Fischer freizubekommen. Eine baldige Freilassung von Wels wurde von den Führern der Volksmarinedivision zwar zugesagt, konnte aber wegen der Erregung der Matrosen und aus Angst um das Leben von Wels nicht veranlaßt 308 Vgl. ebda. S. 81.

(Aussage Dr. Bongardts); R. Rotheit, Das Berliner

Schloß

...,

309 Zu den Vorfällen am 23. 12. 1918 in der Reichskanzlei, in der Kommandantur und im Marstall vgl. UdPL, Niederschriftenband, Drucksache 4121 B, S. 7757 (Aussage Dr. Bongardts); Protokolle des Rates der Volksbeauftragten ..., Bd. 2, Sitzung des Kabinetts und des Zentralrates am 28. 12. 1918, S. 10/45 f.; R. Rotheit, Das Berliner Schloß..., S. 81 f.; A. Fischer, Die Revolutions-Kommandantur..., S. 42.

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werden. Um 1 Uhr nachts mußte Radtke, der Kommandant der Volksmarinedivision, der Reichskanzlei, die auf die Freilassung von Wels wartete, auf eine telefonische Anfrage mitteilen, er könne für das Leben von Wels nicht mehr garantieren. Nachdem von Fischer eine ähnliche Meldung in der Reichskanzlei eingelaufen war, gaben die drei in der Reichskanzlei noch anwesenden MSPD-Volksbeauftragten Ebert, Scheidemann und Landsberg Kriegsminister Scheuch den Befehl, die Lequis'schen Truppen zur Befreiung von Wels einzusetzen.®10 Durch eine Vermittlungsaktion Georg Ledebours war es noch vor vier Uhr nachts gelungen, die Freilassung von Wels zu erreichen. Wels jedoch, der noch zu erschöpft war und wohl auch dem Frieden nicht so recht traute, bat, bis zum Tagesanbruch im Marstall bleiben zu dürfen.®11 Diese Mitteilung erreichte Ebert so spät, daß er seine Befehle nicht mehr zurücknehmen konnte. Die Lequis'schen Truppen waren bereits zum Angriff auf Schloß und Marstall angetreten.®12 Es erscheint überdies fraglich, ob es noch in der Macht Eberts gelegen hätte, den Angriff zu verhindern. Lequis standen für seine Operation nur 800 Mann und sechs Geschütze zur Verfügung. Nach kurzer Beschießung gelang es den Truppen der Obersten Heeresleitung, das schwach besetzte Schloß zu stürmen. Der Marstall blieb weiter in der Hand der Matrosen. Diese schickten jedoch nach einiger Zeit Parlamentäre und hißten die weiße Fahne. Bevor es zu Verhandlungen kam, hatte sich die Situation jedoch grundlegend gewandelt. Eichhorn hatte seine „Sicherheitswehr" mobilisiert, die zusammen mit Berliner Arbeitern die Truppen von Lequis 310

Vgl. UdPL, Niederschriftenband, Drucksadie 4121 B, S. 7999 (Aussage von Radtke); S. 7759 (Aussage von Fisdier); Protokolle des Rates der Volksbeauftragten . . B d . 2, S. 29/64 (Unterstaatssekretär Baake), S. 1/84 u. 2/85 (Bericht Eberts); A. Fisdier, Die Revolutions-Kommandantur..S. 44 f. Wels selbst hielt sich gleichfalls für verloren. Wie die Matrosen später erzählten, soll er mit den Worten: „Erschossen werde ich diese Nacht sowieso" einem ihn bewachenden Mann der Eichhornsdien Sicherheitswehr einen Brief und einen größeren Geldbetrag zur Ablieferung an seine Frau übergeben haben. Siehe R. Rotheit, Das Berliner Schloß ..., S. 84. , u

Zur mandantur zialistische Vgl.

Vermittlungsaktion von Ledebour vgl. A. Fisdier, Die Revolutions-Kom. .., S. 46 f., G. Ledebour, Die deutsche Novemberrevolution . . . , in: SoArbeiter Zeitung, Nr. 22 vom 27. 11. 1931. O K H , Die Wirren .. ., S. 38.

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umstellten. Die Matrosen nutzten die Situation, strichen die weiße Fahne und warfen die ins Schloß eingedrungenen Soldaten wieder hinaus. Die Truppen der Obersten Heeresleitung waren gezwungen, den Kampf abzubrechen und sich zurückzuziehen.313 Wels war während einer Feuerpause von einigen Soldatenräten der Republikanischen Soldatenwehr aus dem Marstall geholt worden und traf kurze Zeit später in der Reichskanzlei ein.314 Der Ausgang der Auseinandersetzung mit der Volksmarinedivision am 23./24. Dezember 1918 kam einer schweren moralischen Niederlage der Reichsregierung gleich. Die Gewalttätigkeiten und die Meuterei der Division blieben ungeahndet. Die Reichsregierung war am Weihnachtsabend 1918 ohne zuverlässige Truppen in Berlin und wurde zu einem Vertrag mit der Volksmarinedivision gezwungen, der dieser neben einer Generalamnestie auch die Übernahme in die Republikanische Soldatenwehr, den Abzug der Lequis'sdien Truppen und unter der Hand sogar den Rücktritt von Wels als Stadtkommandant zugestand.315 Die drei unabhängigen Mitglieder des Rates der Volksbeauftragten, Haase, Dittmann und Barth, nahmen die Vorfälle vom 23./24. Dezember 1918 zum Vorwand, aus der Regierung auszuscheiden, eine Entscheidung, die außerordentlich stark von parteipolitischer Rücksichtnahme diktiert war.316 313 Über die Darstellung der Kämpfe siehe besonders A. Rosenberg, Die Geschichte der "Weimarer Republik . . ., S. 45. 314 A. Fischer, Die Revolutions-Kommandantur. . ., S. 47. Scheidemann schildert Wels' Zustand bei seiner Ankunft in der Reichskanzlei: „Das Gesicht war grau und faltig, die Augen, die den Tod geschaut, waren h o h l . . . Die Kleidung meines Freundes war beschmutzt und zerrissen, die Weste war in Fetzen. Seine Hände zitterten. Er konnte sich offenbar kaum auf den Beinen halten." Ph. Scheidemann, Memoiren . . ., Bd. 2, S. 341. 315

Zum Vertrag zwischen der Reichsregierung und der Volksmarinedivision vgl. Deutscher Reichsanzeiger, Nr. 304 vom 2 7 . 1 2 . 1 9 1 8 ; H. Michaelis / E. Schraepler, Ursachen und Folgen..., S. 48; H . Müller-Franken, Die November-Revolution ..., S. 231 f. Über die Wirkungen des Matrosenputsches auf das Ausland vgl. Brief Thorwald Staunings vom 27. 12. 1918 an Friedrich Ebert, Arbejderbevaegelsens Bibliotek og Arkiv, Kopenhagen, Nachlaß Stauning, unveröffentlicht. 316

Bei den Auseinandersetzungen im Rate der Volksbeauftragten kritisierten Haase und Barth besonders den Umstand, daß mit inadäquaten Mitteln gegen die Volksmarinedivision vorgegangen worden sei. Die Schwäche ihrer Position wurde auch daran deutlich, daß die drei USP-Volksbeauftragten sofort versuchten, den „Kampfboden" zu erweitern, indem sie von grundsätzlichen Unterschieden in der Militärpolitik sprachen und Ebert vorwarfen, er habe sich in zu große Abhängig-

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Von den unabhängigen Volksbeauftragten, die mit den Matrosen sympathisierten, wurden nicht nur die Mißhandlungen von Wels bestritten (Barth),317 sondern es wurde auch der Versuch unternommen, Wels die Hauptschuld an der blutigen Auseinandersetzung mit der Volksmarinedivision zuzuschieben (Dittmann).318 Noch 1947 unterstellte Dittmann Ebert, Groener und Wels, gemeinsam die gewaltsame Vertreibung der Matrosen aus Schloß und Marstall ins Werk gesetzt zu haben.319 Da diese Behauptung keine quellenmäßige Stütze findet, muß man, wie schon Arthur Rosenberg, zu dem Urteil kommen, daß die MSPD-Volksbeauftragten wie auch Wels in ihrem Vorgehen gegen die Volksmarinedivision im Recht waren und das Verhalten der Matrosen nicht entschuldigt werden kann.320 Wels' Position als Stadtkommandant war nach den Vorfällen am 23./24.12.1918 unhaltbar geworden. Da auch Ebert ihn fallen ließ,321 reichte er am 27.12.1918 sein Rücktrittsgesuch ein, das einen Tag später von den Volksbeauftragten angenommen wurde.322 Wels war es in seiner kurzen Amtszeit als Stadtkommandant von Berlin ledigkeit von den Militärs begeben. Doch noch am 20. Dezember war auf dem Reichsrätekongreß in Berlin eine weitgehende Obereinstimmung zwischen Haase, Dittmann und der MSPD in dieser Frage festzustellen gewesen. Das kann sich wohl kaum bis zum 29. Dezember geändert haben. Selbst wenn die Behauptung von Haase, Dittmann und Barth hinsichtlich Eberts stimmte, mußten sie gerade in der Regierung bleiben. Vgl. A. Rosenberg, Geschichte der Weimarer Republik Protokolle

des Rates der Volksbeauftragten

..Bd.

. . . , S. 47, und

2, Sitzung vom 27. 10. 1918.

317 A.a.O., Bd. 2, Sitzung des Kabinetts und des Zentralrates am 28.12.1918 in der Reichskanzlei, S. 14/49. 318 A.a.O., S. 16/51. So benutzte Dittmann schon hier den spätestens seit dem 18. 12. 1918 katastrophalen Gesundheitszustand von Wels als Argument und stellte die Behauptung auf, er habe deshalb nicht immer Ruhe bewahrt. 319 W. Dittmann, Lebenserinnerungen . . ., S. 962—965. 320 A. Rosenberg, Geschichte der Weimarer Republik . . ., S. 46. 321 Ph. Scheidemann, Memoiren . . ., Bd. 2, S. 311. Nach Auffassung von Ebert war Wels offensichtlich eine Belastung für die MSPD in Berlin geworden, da er sich zu viele Gegner zugezogen hatte. 322 Protokolle des Rates der Volksbeauftragten..., Bd. 2, S. 1/119, Kabinettsitzung vom 28. 12. 1918, 19.30 Uhr. Wie stark auch die Stellung Wels' bei den Truppen der Berliner Garnison erschüttert war, wurde auf der Tagung der Groß-Berliner Soldatenräte am 30. 12. 1918 im Sitzungssaal des Reichstages klar. Als das Soldatenratsmitglied Krebs von einem Telegramm berichtete, das den Anmarsch von 30 000 Polen auf Berlin meldete, kam der Zwischenruf: „Immer kommen lassen; desto eher werden wir Wels los!" Dieser Zwischenruf löste große Heiterkeit aus (Vossische Zeitung, Nr. 666 vom 31.12.1918).

104

/. Anfänge und politische Entwicklung

bis 1918

lieh gelungen, einen relativ gut funktionierenden Wachdienst aufzubauen. An dem Problem, eine zuverlässige Revolutionsarmee zu schaffen, war auch er, wie 1918/19 alle vor und nach ihm, gescheitert."'

5 ! S Die reditsliberale Kölnische Zeitung feierte Wels nach seinem Rücktritt als den „einzigen tatkräftigen Mann, den die Mehrheitssozialdemokratie bisher an ein Regierungsamt gesetzt hatte . . ( a . a. Ο., Nr. 1182 vom 2 9 . 1 2 . 1 9 1 8 ) .

ZWEITER

TEIL

Parteiführer in der Weimarer Republik (1918-1933) Stellung im Parteivorstand und in der Fraktion Nur knapp sechs Monate nach seinem Rücktritt als Stadtkommandant von Berlin wurde Otto Wels neben Hermann Müller (Franken) am 14. Juni 1919 auf dem Parteitag in Weimar zum Vorsitzenden der MSPD gewählt. Wels' eigener Aussage nach geschah dies gegen seinen Willen.1 Der Weg zum Parteivorsitz war für Müller und Wels, beide 42 Jahre alt, mit der Wahl Eberts am 11. Februar 1919 zum provisorischen Reichspräsidenten und der gleichzeitigen Berufung Philipp Scheidemanns zum Reichsministerpräsidenten am 1 5 . 2 . 1 9 1 9 frei geworden. Die Partei hatte damit ihre anerkannten Parteiführer verloren. Wels und Müller mußten in ihrer neuen Position erst Autorität gewinnen und Ansehen erwerben, um sich in der Partei, gegenüber dem Reichspräsidenten, der von der MSPD geführten Regierung sowie den der Partei befreundeten Organisationen durchzusetzen.2 1 Parteitagsprotokoll Weimar 1919, S. 405. Müller erhielt von 376 abgegebenen Stimmen 373, Wels 291. Zu Wels' Kandidatur zum Parteivorsitzenden siehe Protokoll der Sitzung des Parteiausschusses vom 30./31. 3. 1920, in: Protokolle der Sitzungen des Parteiausschusses ..., S. 7. Bereits auf der Sitzung des Parteiausschusses vom 24. März 1919 war Müller mit der provisorischen Leitung der Partei bis zum Parteitag beauftragt worden und Wels, der dem Vorstand bis dahin als unbesoldeter Beisitzer angehört hatte, zusammen mit Heinrich Schulz als Sekretär in den Parteivorstand berufen worden (Parteitagsprotokoll Weimar 1919, S. 46). 2 Sdieidemann trat nach seinem Rücktritt als Reichsministerpräsident am 20.6. 1919 noch einmal kurz für einige Monate als Sekretär in den Parteivorstand ein, schied jedodi Ende 1919 nach seiner Wahl zum Oberbürgermeister von Kassel endgültig aus dem Parteivorstand aus (Franz Osterroth, Biographisches Lexikon des Sozialismus, Bd. 1, Hannover 1960, S. 262; Parteitagsprotokoll Kassel 1920, S. 258) und spielte in der Parteiführung keine Rolle mehr. Die Freundschaft Wels' mit Scheidemann zerbrach bis 1933. Über das genaue Da-

106

II. Parteiführer

in der Weimarer Republik

(1918—1933)

Von den gewählten Mitgliedern des Parteivorstands konnten in der Regel nur die hauptamtlichen, besoldeten Mitglieder — die Vorsitzenden, Kassierer und Sekretäre — Einfluß auf Organisation und politische Führung der Partei gewinnen. Sie waren täglich im Büro, hatten Einblick in die Interna und nahmen an den bei wichtigen Anlässen einberufenen Bürositzungen teil, die Beisitzer des Parteivorstands dagegen nur an den regelmäßig alle vier Wochen stattfindenden Sitzungen des Gesamtvorstandes. Nur bei wichtigen Anlässen tagte der Gesamtvorstand öfter.3 Obwohl Hermann Müller bereits seit 1906 besoldetes Parteivorstands-Mitglied war, Wels dagegen erst seit 1919, leitete Otto Wels so gut wie immer die Sitzungen des Parteivorstands und des Parteiausschusses.4 Seit wann sich diese Regelung im Parteivorstand eingebürgert hatte, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen. Einige Vermutungen sprechen für die Zeit um 1919/1920, als Hermann Müller nach seiner Berufung zum Außenminister im ersten und zweiten Kabinett Bauer und während seiner Tätigkeit als Reichskanzler vom 26. 3. bis 20. 6. 1920 die Arbeit im Partei vorstand anderen Mitgliedern überlassen mußte. Der Aufgabenbereich des Parteivorstands gliederte sich in verschietum und die Gründe ihres Zerwürfnisses lassen sich nur Vermutungen anstellen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß es über die Veröffentlichung der Memoiren Scheidemanns (1928) zu Auseinandersetzungen kam, da in ihnen die Rivalität zwischen Ebert und Scheidemann deutlich sichtbar wurde. Scheidemann und Wels söhnten sich erst 1937 in der Emigration in Kopenhagen wieder aus (Emigrationsakten der SPD, Brief Vogels an Lisel Scheidemann vom 9. 12. 1939, unveröffentlicht, Parteiarchiv der SPD, Bonn). Zur Auseinandersetzung des Parteivorstands mit der Reichsregierung Bauer/ Noske vgl. unten S. 146 ff. Nach einer mündlichen Auskunft Wenzel Jakschs, der den dritten Band der Memoiren Scheidemanns in der Emigration in Kopenhagen lesen konnte (der dritte Band ist unveröffentlicht und befindet sich im Besitz von Herrn Otto Pirdiel, Ludwigshafen), hat es nach Scheidemann an Versuchen Eberts, auch die Partei vom Reichspräsidentenpalais aus zu beeinflussen und zu führen, nicht gefehlt. 3 Mündliche Auskünfte Karl Storbedcs vom 15. 3. 1963 und Rudi Leebs (seit 1917 Angestellter des Parteivorstands) vom 14. 3. 1962. Abstimmungen im Parteivorstand fanden fast immer durch Handaufheben statt; in den seltensten Fällen durch Stimmzettel (ebda.). 4 Mündliche Auskünfte Ollenhauers vom 27. 9. 1962 und Fritz Heines vom 13. 9. 1962. Nach W. Dittmann ( L e b e n s e r i n n e r u n g e n . . ., S. 1468) soll Wels die Leitung der Sitzungen eifersüchtig als sein Privileg betrachtet haben, so daß sowohl Müller als auch Crispien kaum einmal dazu kamen, eine Sitzung zu leiten.

Stellung im Parteivorstand

und in der

Fraktion

107

dene Arbeitsgebiete.5 Zwischen Hermann Müller und Otto Wels hatte eine gewisse Kompetenzabgrenzung stattgefunden. Während Otto Wels sich um Leitung und Organisation der Partei kümmerte, war Müller hauptsächlich mit der Führung der SPD-Reichstagsfraktion beauftragt, wie es auch seiner Stellung als geschäftsführender Fraktionsvorsitzender entsprach. Zwischen Wels und Müller bestand aufgrund ihrer gemeinsamen Arbeit während des Ersten Weltkriegs ein enges Freundschaftsverhältnis," das jedoch keineswegs heftige Zusammenstöße zwischen beiden verhinderte. Wels pflegte Müller manchmal derartig anzubrüllen, daß sogar der zurückhaltende Müller die Fassung verlor und mit Gebrüll erwiderte. 7 Diese Auftritte taten jedoch weder einer kollegialen und fruchtbaren Zusammenarbeit noch der Freundschaft der beiden Männer Abbruch. Erst nach Müllers Rücktritt als Reichskanzler im Jahre 1930 trat in ihrem Verhältnis eine sichtbare Abkühlung ein.8 Es ist möglich, daß diese Verschlechterung der Beziehungen mit der Rolle von Wels beim Sturz Müllers zusammenhing;9 andererseits ist es nicht ausgeschlossen, daß die Auseinandersetzungen während der letzten Kanzlerschaft Müllers um die Führung und Konzipierung der sozialdemokratischen Politik im Reich zu einer Entfremdung führten. Nach Auffassung von Wels rangierte die Reichsregierung unter dem Parteivorstand. Wels Ausspruch: „Ich werde doch mal sehen, wer hier regiert, ob die Lindenstraße oder die Wilhelmstraße was zu sagen 5

Mündliche Auskünfte Ollenhauers, Heines, Leebs, Karl Storbecks; Briefe Hans Casparis vom 3. 11. 1962 u. 7. 3. 1963 an den Verfasser. 6 W. Dittmann, Lebenserinnerungen . . ., S. 1460, und mündliche Auskünfte Ollenhauers, Heines, Leebs, H. Casparis und K. Storbecks. Hermann Müller wird übereinstimmend als ein nüchterner, jeder Phrase und Pose abholder Mann geschildert, dem das Gespür für die Imponderabilien der Politik abging. Als Redner habe er zwar sachlich überzeugend, jedodi ohne mitreißenden Schwung gesprochen. Er sei ein Mann von weicher Natur gewesen, der gewandte Umgangsformen gehabt und zur Skepsis und leichtem Spott geneigt habe. Im politischen Kampfe habe er seine Gegner selten persönlich verletzt. Vgl. auch die Charakteristik Müllers bei Carl Severing, Mein Lebensweg, ßd. 1, Köln, 1950, S. 283, und Walter Zechlin, Pressechef bei Ebert, Hindenburg und Kopf. Erlebnisse eines Pressechefs und Diplomaten, Hannover 1956, S. 68. 7

Aktenvermerk über ein Gespräch Dr. Henryk Skrzypczaks (Historische Kommission zu Berlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin) mit Felicia Fuss, der ehemaligen Sekretärin Hermann Müllers, von Ende April 1964 in N e w York, S. 8. 8 Ebda. 9 Vgl. unten S. 172.

108

II- Parteiführer in der Weimarer Republik

(1918—1933)

hat",10 macht diese Einschätzung besonders deutlich. Wels wachte nicht so sehr eifersüchtig über seine Stellung und seine Rechte als Vorsitzender des Parteivorstands, wie zum Beispiel Felicia Fuss meint," sondern mehr als Nachfolger auf dem Stuhl Bebels über den Primat des Parteivorstands und der Partei. Am 15.7.1929 schrieb er an Hermann Müller: „Ich bin nicht ehrgeizig für mich. Für die Partei müssen wir es sein.. Bei einem Vergleich der Positionen von Wels und Müller im Parteivorstand kommen alle Zeitgenossen zu der Feststellung, daß Hermann Müller zwar zu den einflußreichen und starken Persönlichkeiten im Vorstand gehörte, Otto Wels jedoch den größeren Rückhalt in den Parteiorganisationen hatte, da es ihm gelungen war, sich in den Reihen der Bezirkssekretäre eine Anzahl williger Routiniers zu sichern, die fast immer mit ihm konform gingen, so daß er den Parteiapparat beherrschte.13 Auf diese Weise konnte er den Parteiausschuß als Integra10

Aktenvermerk über das Gespräch Skrzypczak—Fuss vom April 1964, S. 5. Ebda. 12 Nadilaß Hermann Müller, Brief vom 15. 7. 1929. In diesem Brief setzte sich Wels mit einer bevorstehenden Reise Rudolf Breitscheids und Rudolf Hilferdings nach London auseinander. Er schrieb an Müller: „ . . . W a r u m die (Tor-)heit, mit der die beiden Rudis an der Reise festhalten, ohne daß einer genau weiß, was er dort soll. Europäisches Schicksal spielen? Du mein Gott! Mit der Würde des Vorsitzenden der sozialdemokratischen Fraktion verträgt es sich nicht, nadi London zu fahren, ohne Sicherheit der Aufgabe und des Empfanges. Ich führe nicht in politischer Mission nach London, wenn ich nicht wüßte, ich würde von Henderson, Snowdon, MacDonald, kurz allen gesehen, mit denen ich sonst politisch verkehre. Es klänge mir sonst das Wort ,. . . Blamier mich n i c h t . . . (variiert), wenn wir in der Internationale sind' . . . usw. [in den Ohren]. Das wäre eine Blamage. — . . . Stolz! Dafür haben die Engländer Verständnis. Für Sachen anderer Art, soll man andere Leute nehmen. Kommt Breitscheid nach London, dann weiß es die ganze Welt. — Unter Garantie. Alles orakelt? Was will er? Was tut er? MacDonald hört ihn? O(h), nein! Henderson? Nein. — Er spricht nur .privat' mit seinem ,Freund' Dalton. Alt ist die Freundschaft bestimmt nodi n i c h t . . . " 11

15 W. Dittmann, Lebenserinnerungen.. S. 1470. Auch Ollenhauer, Heine, Hans Caspari, Alfred Nau, Rudi Leeb, Arno Scholz, Richard Hansen (Kiel) und Karl Storbeck bestätigen das. Zu den Personalveränderungen in den Parteibezirken vgl. Jahrbuch der SPD 1928, S. 131; a. a. O., 1929, S. 170, und a. a. O., 1930, S. 192. Die im Vergleich zu Wels schwache Position in der Partei wird auch daran deutlich, daß 1924 versucht wurde, Hermann Müller aus seinem Direktwahlkreis in Nürnberg zu verdrängen. Dieser Versuch wurde von Hans Vogel als dem verantwortlichen Bezirkssekretär für Franken verhindert (W. Dittmann, Lebenserinnerungen . . ., S. 1419). Ein ähnlicher Versuch im Wahlkreis von Wels — Frankfurt/Oder — ist einfach undenkbar.

Stellung im Parteivorstand

und in der

Fraktion

109

t i o n s o r g a n b e n u t z e n u n d ü b e r ihn seine A u f f a s s u n g e n in den B e z i r k e n u n d d a m i t in der P a r t e i d u r c h s e t z e n . V o n w e l c h e m Z e i t p u n k t a n sich diese s t a r k e S t e l l u n g v o n W e l s i m P a r t e i v o r s t a n d h e r a u s z u b i l d e n beg a n n , l ä ß t sich nicht g e n a u f e s t s t e l l e n . " Artur den

Crispien,

Resten

der

1922

der U S P D

bei d e r V e r s c h m e l z u n g

neben

Müller

und

Wels

der M S P D

Parteivorsitzender

g e w o r d e n w a r , k o n n t e k e i n e n entscheidenden E i n f l u ß i m stand

gewinnen.15

Abgesehen

von

der

Berliner

mit

Parteivor-

Parteiorganisation,

m u ß sein E i n f l u ß auch in d e r P a r t e i als g e r i n g angesehen w e r d e n . 1 6 H a n s V o g e l , der 1 9 2 7 in K i e l z u m S e k r e t ä r u n d 1 9 3 1 a u f B e t r e i ben

von

Wels

gegen

den

anfänglichen

Widerstand

eines Teils

der

D e l e g i e r t e n in L e i p z i g z u m N a c h f o l g e r M ü l l e r s als V o r s i t z e n d e r

der

Felicia Fuss (Aktenvermerk Skrzypczak, S. 8) berichtet, daß während der Kanzlerschaft Müllers der Parteivorstand völlig unter den Einfluß von Wels geraten sei. Hilferding schrieb Anfang 1931 an seinen alten Freund Karl Kautsky über eine geplante Reise nach Zürich leicht ironisch: „Ich werde mit Brenscheid von unserem Diktator Wels gütigst mitgenommen." (Nachlaß Kautsky, Brief Hilferdings vom 1 5 . 4 . 1 9 3 1 , unveröffentlicht, IISG-Amsterdam.) Sergei Tschachotin ( D r e i p f e i l gegen Hakenkreuz, Kopenhagen 1933, S. 61) berichtet, daß er 1932, als er viele führende Genossen der S P D einzeln aufgesucht habe, um sie für gewisse Vorstellungen der Reichsbannerführung zu gewinnen, immer wieder auf Wels, den „Zeus", hingewiesen wurde und ihm erklärt worden sei: „Wenn der es nicht will, ist alles vergebens." Die Frankfurter Zeitung — Nr. 222, 23.3. 1920, S. 1 — bezeichnete schon im März 1920 Wels als den „tatsächlichen Führer der Sozialdemokratie". Fritz Heine berichtet, daß 1925, als er als Volontär in den Parteivorstand eintrat, die dominierende Position von Wels ganz offensichtlich schon von jahrelanger Dauer war. 1 5 Crispien bearbeitete im Parteivorstand kulturpolitische und internationale Fragen (mündliche Auskunft Rudi Leebs). Fritz Heine berichtet, daß Crispien — Spitzname „der schöne Artur" — im Parteivorstand nicht ernst genommen worden sei (mündliche Auskunft). Zur Charakteristik Crispiens vgl. W. Dittmann, Lebenserinnerungen . . S. 1032 und 1034. Dittmann schildert, wie Hugo Haase 1919 auf den Vorschlag, Crispien neben ihm zum Vorsitzenden der USPD zu wählen, reagierte. „Als Haase und mir der Vorschlag Crispien bekannt wurde, meinte Haase, er kenne Crispien ja sehr gut von Königsberg her; er habe zwar ein kindliches Geltungsbedürfnis und sei stark theatralisch veranlagt, aber er suche immer nach politischer Anlehnung und werde im Falle seiner Wahl in kurzer Zeit im Parteivorstand wieder mit ihm, Haase, zusammengehen wie einst in Königsberg. Deshalb könne man ihn wählen. Ich beurteilte Crispien ähnlich." Nach Dittmann hat die für Crispien völlig unerwartete Wahl zum Parteivorsitzenden ihn wahrscheinlich davor bewahrt, mit Klara Zetkin gemeinsam ins kommunistische Lager überzuwechseln. Als er am l . M a i 1919 von Stuttgart nach Berlin gekommen sei, habe er einige Wochen lang noch halbspartakistische Anschauungen vertreten, die sich dann aber bald verloren hätten. 14

»·

Ebda.

110

IL Parteiführer

in der Weimarer Republik

(1918—1933)

P a r t e i g e w ä h l t w o r d e n w a r , 1 7 b e a r b e i t e t e i m P a r t e i v o r s t a n d seit seinem E i n t r i t t Organisations- u n d Presseangelegenheiten.18 W e l s

wollte

ihn als seinen N a c h f o l g e r sehen u n d h a t t e ein ausgezeichnetes V e r h ä l t nis z u ihm. 1 9 N i c h t z u l e t z t d a r a u f g r ü n d e t e sich V o g e l s E i n f l u ß

im

P a r t e i v o r s t a n d — er w u r d e als p o t e n t i e l l e r u n d designierter N a c h f o l ger v o n O t t o Wels betrachtet. A u d i Wilhelm Dittmann, der 1 9 2 2 mit Crispien zusammen v o n der U S P D z u r ü c k z u r S P D g e k o m m e n w a r u n d d e r als S e k r e t ä r in d e n P a r t e i v o r s t a n d e i n t r a t , blieb o h n e n e n n e n s w e r t e n E i n f l u ß . 2 0 E r

wurde

einer der v i e r gleichberechtigten geschäftsführenden V o r s i t z e n d e n SPD-Reichstagsfraktion m e n die F ü h r u n g

und ü b e r n a h m mit H e r m a n n Müller

der F r a k t i o n .

Sein H a u p t a r b e i t s g e b i e t

der

zusam-

l a g in

der

E r l e d i g u n g i h r e r i n t e r n e n Geschäfte. 2 1 W i e gering sein E i n f l u ß in d e r P a r t e i w a r , zeigte sich b e i m V e r l u s t seines D i r e k t m a n d a t e s

für d e n R e i c h s t a g i m W a h l k r e i s

Magdeburg,

d a s er 1 9 2 8 a n d e n M a g d e b u r g e r B e z i r k s s e k r e t ä r G u s t a v F e r l a b t r e t e n mußte.22 Brief Hans Vogels vom 12. 10. 1939 an Wenzel Jaksch, unveröffentlicht, Emigrationsakten der SPD, Parteiarchiv der SPD, Bonn. Nach W. Dittmann (Lebenserinnerungen . . S . 1469) habe Wels Vogel durch die Rangerhöhung — seine Wahl zum Vorsitzenden der Partei — an sich ketten wollen. Vgl. audi unten S. 145. 18 Mündliche Auskunft Rudi Leebs. 19 Vgl. Brief Vogels vom 12. 10. 1939 an Wenzel Jaksch. Das freundschaftliche Verhältnis zwischen Vogel und Wels wird durch mündliche Auskünfte Ollenhauers, Heines, Leebs, Alfred Naus und Karl Storbecks bestätigt. Auch Gustav Ferl bestätigt das in einem Brief vom 21. 11. 1962 an den Verfasser. Christine Vogel, die Frau Hans Vogels, schrieb über das Verhältnis Wels—Vogel am 9. 10. 1962 an den Verfasser: „. . . Wels, der nur 20 Minuten von uns entfernt in Friedrichshagen wohnte, holte . . . meinen Mann am Morgen mit seinem Wagen . . . ab, und auf der 20 km langen Fahrt zur Lindenstraße besprachen die Männer schon ,den bevorstehenden Tag'. Oft saßen sie auch mit Genossen, oder audi nicht selten beide allein, am Abend nach Büroschluß im ,Lukullus', einem Kellerlokal am Belle Allianceplatz bei einer ,Molle'.. . Die beiden Männer hatten manche Eigenschaften gemeinsam, die sie zu einem vorzüglichen Gespann für die politischen Aufgaben machten . . . " 17

Im Exil in Paris, wenige Wochen vor seinem Tode, erklärte Wels Hans Caspari dagegen, er sehe in Erich Ollenhauer den bestqualifizierten Nachfolger. In Prag hatte er gegenüber Emil Stahl ähnliches erklärt (schriftliche Auskunft Hans Casparis). 2 0 Mündliche Auskünfte Fritz Heines, Ollenhauers und K. Storbecks sowie Brief Gustav Ferls vom 21. 11. 1962 an den Verfasser. W. Dittmann, Lebenserinnerungen . . S. 1283 und 1470. A. a. O., S. 1419—1421. Bereits 1924 war versucht worden, Dittmann auf die Reichsliste abzuschieben. Von Wels wurde das jedoch auf dem Bezirksparteitag des Bezirks Magdeburg verhindert {ebda.). 21

22

Stellung im Parteivorstand

und in der Fraktion

111

Das Verhältnis von Wels zu Crispien und Dittmann scheint nicht besonders herzlich gewesen zu sein. Bei Wels wirkte als hemmendes Moment wohl die Gegnerschaft aus dem Ersten Weltkrieg und bis 1922 nach. So hat er die ehemaligen Führer der USPD beispielsweise als „Offiziere und Unteroffiziere ohne Truppen" bezeichnet.23 Lediglich im Verhältnis von Wels zu Konrad Ludwig — von 1922 bis 1931 einer der beiden Kassierer und Vermögensverwalter des Parteivorstands sowie einer der drei Vorsitzenden der „Konzentration AG"24 — wirkte sich diese alte Gegnerschaft nicht aus. Konrad Ludwig war eine urwüchsige, außerordentlich kraftvolle, vitale und ideenreiche Persönlichkeit. In seiner Persönlichkeitsstruktur hatte er mit Otto Wels viel gemeinsam; von daher lassen sich die Sympathie und die Wertschätzung vielleicht erklären, die beide Männer für einander empfanden. Konrad Ludwig wagte es audi, sich in Einzelheiten 23

Mündliche Auskunft Hans Casparis. Die Vorbehalte Wels' werden von Dittmann (α. α. Ο., S. 1469 f.) bestätigt, wenn er schreibt, bei Wels sei im Unterbewußtsein noch immer die nicht ganz erloschene, spezifisch mehrheitssozialdemokratische Einstellung vorhanden gewesen, der früheren USPD in der äußeren Parteispitze nicht die zahlenmäßige Parität einzuräumen. — Anregungen Dittmanns auf dem Gebiet der Parteiorganisation habe er mit dem Mißtrauen des Rivalen aufgenommen. Nach 1933 schlug Dittmanns Einstellung zu Wels in offene Feindschaft und H a ß um. Der Grund dazu muß in der Tatsache gesucht werden, daß er auf der Reichskonferenz von 1933 nicht mehr in den Parteivorstand gewählt wurde. Am 14. 10. 1938 schrieb er aus Zürich an Paul Hertz: „.. . Stampfer war immer ein grundsatzloser Opportunist und leider der ,geistige' Inspirator von Otto Wels . . . so daß die Politik der Partei Konjunkturpolitik im schlechtesten Sinne war, da ja Otto Wels Schiebertaktik und persönliche Intrigue für ,große Politik' ansah. Mamelucken und Speichellecker wußte er als Werkzeuge zu benutzen und brave Schwächlinge sich immer wieder hörig zu machen. Jede selbständige Natur wurde systematisch isoliert und nach Möglichkeit kaltgestellt . . . Die ganze Zusammenstellung der Sopade 1933 war ja ein demagogisches Sdiieberstück von W e l s . . . (Nachlaß Hertz, unveröffentlicht, IISG-Amsterdam). Dem Brief Dittmanns war ein Brief von Paul Hertz an Dittmann vom 6. 10. 1938 vorausgegangen, in dem Hertz quasi als „argumentum ad hominem" schrieb: „Sie haben den Kern des Streits getroffen [die Auseinandersetzung in der Sopade zwischen Hertz (Neubeginnen) und der Mehrheit des Vorstands mit Wels], wenn Sie sagen, daß der PV nie eine Körperschaft von gleichberechtigten Mitgliedern war, sondern daß dort eine persönliche Diktatur und Cliquenwirtschaft geherrscht hat . . . (Nachlaß Dittmann, SPD-Parteiarchiv, Bonn). Siehe dazu auch Ein Mann geht seinen Weg. Schriften, Reden und Briefe von Julius Leber, hrsg. von seinen Freunden, Frankfurt/Main 1952, S. 236 f. 24 Vgl. F. Osterroth, Biographisches Lexikon des Sozialismus..., S. 204. 1931 mußte Konrad Ludwig nach einem Schlaganfall seine Tätigkeit im Parteivorstand aufgeben. Er starb 1935.

112

II. Parteiführer

in der Weimarer Republik

(1918—1933)

mit Wels anzulegen, war jedoch in politischen Grundsatzfragen meistens einer Meinung mit ihm. Konrad Ludwig gehörte zu den einflußreichen Männern des Parteivorstandes. Neben ihm kam Friedrich Bartels, der zweite Kassierer und Vermögensverwalter, kaum zur Geltung, obwohl er bereits seit 1919 in seiner Funktion tätig war und außerdem der Mehrheitssozialdemokratie entstammte.25 Von den Sekretären des Parteivorstands verfügte keiner über nennenswerten Einfluß im Parteivorstand. Die beiden Alten, Hermann Molkenbuhr — bis 1927 im Amt — und Wilhelm Pfannkuch — bis 1923 im Amt — waren aufgrund ihres Alters an der Arbeit im Parteivorstand kaum noch beteiligt.8" Dr. Adolf Braun (1920—1927) leitete das Presseressort und hatte aufgrund seiner ausgezeichneten Fachkenntnisse in den mit seinem Ressort zusammenhängenden Fragen einen großen Einfluß. Er war jedoch der Typ des Intellektuellen und Einzelgängers und verfügte über keinen organisatorischen Rückhalt in der Partei. Deshalb konnte er seine Auffassungen im Parteivorstand nicht durchsetzen.27 Johannes Stelling (1920 und 1924—1933) war der Bürodirektor 2 5 Die Ausführungen über Konrad Ludwig basieren auf mündlichen Auskünften seiner ehemaligen engen Mitarbeiter, wie Alfred Nau, Rudi Leeb, Karl Storbeck und Fritz Heine. Die Freundschaft zwischen Otto Wels und Konrad Ludwig bestätigt audi Dittmann (Lebenserinnerungen . . ., S. 1469), wenn er schreibt, Konrad Ludwig habe Wels hofiert und damit ebenfalls zur Selbstherrlichkeit von Wels in den letzten Jahren beigetragen.

Uber den Einfluß O. Heinrichs, von 1920 bis 1923 Kassierer und Vermögensverwalter des Parteivorstands, konnte der Verfasser nichts erfahren. Siegmund Crummenerl wurde erst 1932 Kassierer und trat bis 1933 nicht besonders hervor. Otto Braun, 1919 bis 1920 Kassierer und 1921 Sekretär des Parteivorstands, verfügte in diesem über beträchtlichen Einfluß und war mit Otto Wels sehr eng befreundet (mündliche Auskünfte Ollenhauers, H. Casparis und Fritz Heines). Braun konnte jedoch auf die Politik des Parteivorstands in der Weimarer Republik keinen großen Einfluß mehr ausüben, da er seit 1921 nicht mehr Mitglied des Parteivorstands war und nur noch in Ausnahmefällen an dessen Sitzungen teilnahm. 28

Mündliche Auskünfte Rudi Leebs.

Mündliche Auskunft Fritz Heines. Zur Rolle Adolf Brauns auf der Genfer Sozialistenkonferenz vgl. unten S. 188 f. Victor Schiff (Brief an Fritz Heine vom 13. 3. 1947, Parteiarchiv der SPD, Bonn) bezeichnete Adolf Braun als „herzensguten Menschen, aber ein wenig Wirrkopf". Schiffs Urteil erhält durch die Tatsache Gewicht, daß er jahrelang außenpolitischer Redakteur des Vorwärts und außenpolitischer Berater des Parteivorstands war. Durch seine tägliche Arbeit kannte er alle entscheidenden Leute der Partei. 27

Stellung im Parteivorstand und in der Fraktion

113

im Parteivorstand. Durch seine Hände lief die gesamte Vorstandspost. E r hatte nur Einfluß in Einzelfragen. 2 8 Marie Juchacz ( 1 9 1 7 — 1 9 3 3 )

leitete das Frauenbüro

des

Partei-

vorstands und die Arbeiterwohlfahrt. Politisch trat sie im Vorstand so gut wie nie in Erscheinung. 29 M a x Westphal ( 1 9 2 7 — 1 9 3 3 ) war für die Jugendarbeit des Parteivorstands zuständig. Bis auf die Auseinandersetzungen in der Partei nach der Machtergreifung Hitlers im J a h r e 1 9 3 3 trat audi er politisch nicht besonders hervor. 3 0 Von den Beisitzern des Parteivorstands

konnten aufgrund

Persönlichkeit und ihrer Stellung in P a r t e i und Fraktion

ihrer

lediglich

Rudolf Hilferding und Friedrich Stampfer einigen Einfluß im Parteivorstand gewinnen. Hilferding w a r einer der anerkannten geistigen Führer der Partei, 3 1 seine Leistungen und seine geistige K a p a z i t ä t wurden auch im Parteivorstand

anerkannt.

Obwohl Hilferding

zur U S P D

gehört

hatte,

schätzte Wels ihn außerordentlich. In seiner drastischen A r t sagte er einmal von Hilferding, selbst wenn m a n ihn „mit dem Finger in den

28

Mündliche Auskünfte Heines und Leebs.

Mündlidie Auskunft Erich Ollenhauers und Karl Storbedts. Vgl. audi Nadilaß Judiacz, unveröffentlicht, Parteiardiiv der SPD, Bonn. 29

80 Mündliche Auskunft Rudi Leebs. Nach einer schriftlichen Auskunft Hans Casparis vom 3.11.1962 war Max Westphal von Wels in den Parteivorstand geholt worden. Dieser gehörte zu Wels' jungen Leuten. Über Franz Krüger, der von 1920 bis 1923 Sekretär des Parteivorstands war, konnte der Verfasser so gut wie nichts erfahren. Heinrich Schulz war nur 1919 Sekretär im Parteivorstand und seit 1920 nur noch Beisitzer. Heinrich Schulz gehörte bereits seit 1917 dem Parteivorstand an und war der Begründer der Bildungsarbeit in der SPD und seit 1923 auch Vorsitzender des durch seine Initiative geschaffenen „Sozialistischen Kulturbundes". Er hatte lediglich Einfluß auf seinem Spezialgebiet, also in Kultur- und Bildungsfragen. Bei den Reichstagswahlen am 14. 9.1930 war Schulz ohne vorherige Konsultationen auf der Reichsliste um einige Plätze zurückgestuft worden. Schulz war nicht nur persönlich verärgert, sondern empfand das audi als einen Affront gegen die gesamte Kulturarbeit und deren Exponenten in der Partei. Sein schriftlicher Protest bei Wels führte zu einer polternden und harten Erwiderung von Wels. Schulz gab daraufhin seinen Besdiluß bekannt, nicht mehr für den Reichstag zu kandidieren (Brief von Dr. Klaus Peter Schulz vom 20. 7.1966 an den Verfasser).

Vgl. dazu Wilfried Gottschaldi, Strukturveränderungen der Gesellschaft und politisches Handeln in der Lehre von Rudolf Hilferding ( = Soziologische Abhandlungen, H. 3), Berlin 1962. 8t

8

Adolph

114

II- Parteiführer

in der Weimarer Republik

(1918—1933)

Bauch pieke", käme noch etwas Gescheites aus ihm heraus.32 Wels kostete es immer erhebliche Mühe, Hilferding, der im praktischen Leben ziemlich unbeholfen war und überhaupt keinen organisatorischen Rückhalt in der Partei besaß, auf der Reichsliste der Partei unterzubringen und so das Reichstagsmandat zu erhalten.3' Hilferding war auch nicht der Typ, der unter Einsatz seiner ganzen Person für eine Sache kämpfen konnte. Paul Hertz, der spätere Berliner Wirtschaftssenator und in der Weimarer Republik der finanzpolitische Berater des Parteivorstands,34 schrieb 1938 über Hilferding: „Kämpfen und einem Freund treu bleiben, war nie Hilferdings Stärke.. ." 35 Friedrich Stampfer hatte als Chefredakteur des Vorwärts eine Ausnahmestellung unter den Beisitzern des Parteivorstands inne. Da der Vorwärts mit dem Vorstand unter einem Dach in der Lindenstraße 3 in Berlin untergebracht war, konnte Stampfer bei wichtigen Anlässen zu den Besprechungen des Büros hinzugezogen werden.3' Aufgrund der Tatsache, daß Stampfer ebenso wie auch Victor Schiff und Ernst Heilmann die Reden für Wels konzipierten oder das Material dazu zusammentrugen, wird Stampfer ein Einfluß im Parteivorstand und besonders auf Wels zugeschrieben, den er in Wirklichkeit in dieser Form nicht hatte.37 Wels besaß genügend Sachverstand, um selber reden zu können. Er pflegte die für ihn konzipierten Reden in seine Sprache zu übersetzen und seinen politischen Auffassungen anzupassen.38 Wels hat mit Stampfer vor 1933 nicht diskutiert, wie er es mit seinen Duzfreunden zu tun pflegte, sondern ihm Anweisungen erteilt. 88

Brief Gustav Ferls vom 21. 1 1 . 1 9 6 2 an den Verfasser. Das gute Verhältnis von

Wels zu Hilferding wird audi von Eridi Ollenhauer und Fritz Heine bestätigt. 33

Mündliche Auskunft Fritz Heines.

34

Vgl. Brief Paul Hertz' vom 3. 9 . 1 9 3 1 an Luise Kautsky, unveröffentlicht, Nach-

laß Hertz, IISG-Amsterdam. 88

Brief Paul Hertz' vom 23. 7. 1938 an Paul Nathan, unveröffentlicht, Nachlaß

Hertz, IISG-Amsterdam. 38

Im Jahre 1919 war bereits die vor dem Ersten Weltkrieg geübte Praxis wieder

aufgenommen worden, den leitenden Redakteur des Vorwärts

als stimmberechtigtes

Mitglied zu den Sitzungen des Parteivorstands hinzuzuziehen (vgl. unten, S. 346 im ANHANG, ANLAGE 2). Seit 1922 war Stampfer als Beisitzer auf den Parteitagen in den Partei vorstand gewählt worden (siehe im ANHANG die ANLAGE 1). 37

So bezeichnete Siegfried Aufhäuser in einem Gespräch mit dem Verfasser am

9. 3 . 1 9 6 2 Stampfer als den „Braintrust" von Wels. Stampfer habe einen großen Einfluß auf Wels — einen insgesamt schlechten — ausgeübt. Gustav Ferl (Brief vom 21. 11. 1962 an den Verfasser) bezeichnet Stampfer sogar als einen der starken Männer des Parteivorstands. 38

Mündliche Auskünfte Erich Ollenhauers und Fritz Heines.

Stellung im Parteivorstand

und in der

Fraktion

115

Erst in der Emigration trat in diesem Punkt eine Änderung ein, und das Verhältnis der beiden Männer wurde auch persönlich enger und herzlicher.39 Stampfer, der jüdischer Abstammung war, litt unter einer Art von Inferioritätskomplex, nicht als Reichsdeutscher geboren zu sein. War er auch in mancher Hinsicht Wels geistig überlegen, so fehlten ihm andererseits die für Wels so typische „Volksnahe" ebenso wie dessen politischer Instinkt. Wels war für ihn die Inkarnation der Männlichkeit, der Stärke und des Mutes.40 Wels' Stärke im Parteivorstand beruhte auf der Ausstrahlungskraft seiner Persönlichkeit, der souveränen Beherrschung der Organisation und seiner politischen Klugheit.41 Otto Wels war sowohl im Kreise der drei Vorsitzenden der Partei wie im erweiterten Vorstand die zentrale Persönlichkeit; zur kollegialen Zusammenarbeit zwar bereit, war er sich aber auch durchaus der Tatsache bewußt, als primus inter pares das letzte, entscheidende Wort zu sprechen." Wels hatte auch in der SPD-Reichstagsfraktion eine starke Stellung, da er die ganze Autorität des Parteivorstandes und damit der Partei in die Waagschale werfen konnte. Er war im Juni 1919 in den Vorstand der MSPD-Fraktion der Nationalversammlung gewählt worden.43 Bereits ein Jahr später, im Juni 1920, wurde er neben Hermann Müller und Philipp Scheidemann geschäftsführender Fraktionsvorsitzender,44 1922, bei der Verschmelzung der MSPD und der 39 40

Mündliche Auskunft Fritz Heines. Ebda.

41 N o d i 1938, nach dem schweren Konflikt zwischen Paul Hertz und der Mehrheit der Sopade schrieb Hertz an Wilhelm Dittmann: „Eine Diktatur O. W. [Otto Wels'] konnte sich in der alten Partei aber noch darauf stützen, daß O. W. organisatorische und politische Fähigkeiten besaß und den Apparat der Partei souverän b e h e r r s c h t e . . N a d i l a ß Dittmann, Brief Paul Hertz' vom 6. 10.1938 an W. Dittmann, unveröffentlicht, Parteiardiiv der SPD, Bonn. 42 So auch Fritz Heine, maschinenschriftliches Manuskript für einen Artikel zu Wels' 75. Geburtstag, Akte Wels, Personenarchiv des SPD-Parteivorstandes, Bonn. Der größte Teil dieses Artikels erschien am 11. 9.1948 im Neuen Vorwärts. 48 Protokolle der SPD-Fraktionssitzungen ..., Bd. 2, Sitzungsprotokoll vom 24. 6. 1919, IISG-Amsterdam. Die Ersatzwahl war durch den Regierungseintritt Hermann Müllers notwendig geworden. In derselben Sitzung wurde die Zahl der Fraktionsvorstandsmitglieder von neun auf elf erhöht und neben Wels nodi Scheidemann und Dr. Adolf Braun in den Fraktionsvorstand gewählt {ebda.). In der Nationalversammlung war Wels Mitglied des Verfassungsausschusses (8. Ausschuß), des Ausschusses für die Friedensverhandlungen (9. Ausschuß) und des Auswärtigen Ausschusses (16. Aussdiuß). Vgl. Protokolle der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung ..Bd. 329, S. 87. 44

8*

Schulthess Europäischer

Geschichtskalender,

N . F. 1920, Bd. 1, S. 154.

116

II. Parteiführer in der Weimarer Republik

(1918—1933)

R e s t - U S P D , w u r d e die Z a h l der gesdiäftsführenden

Fraktionsführer

von drei a u f vier erhöht. Scheidemann schied als Vorsitzender aus. D a f ü r wurden neben H e r m a n n Müller und O t t o Wels die ehemaligen Unabhängigen Wilhelm D i t t m a n n und R u d o l f Breitscheid gewählt. 4 5 W ä h r e n d der letzten Reichskanzlerschaft H e r m a n n Müllers v o n Juni 1 9 2 8 bis M ä r z 1 9 3 0 setzte sich der geschäftsführende V o r s t a n d aus Dittmann,

Breitscheid und

Wahlperiode wieder

des Reichstags

in den

Wels

zusammen. 4 "

Erst

in der

(13.10.1930—12.5.1932)

gesdiäftsführenden

Vorstand

ein. 47

fünften

trat

Nach

Müller

Hermann

Müllers T o d e w u r d e Paul Lobe neben Wels, D i t t m a n n und Breitscheid am 2 . 9 . 1 9 3 2

sein Nachfolger. 4 8

Die

eigentliche

Fraktionsgeschäfts-

führung und d a m i t die H a u p t a r b e i t in der Fraktionsführung scheint Der Vorwärts (Nr. 299 vom 14.6.1920, S. 1) meldete dagegen als vorläufigen Fraktionsvorstand: Hermann Müller, Löbe, Judiacz, R. Fischer, Hoch, Hildenbrand, Molkenbuhr, Schumann und Legien. Offensichtlich hat später noch eine Nachwahl stattgefunden. In der 1. Wahlperiode des Reichstages (1920—1924) läßt sich nicht feststellen, welchen Ausschüssen Wels angehörte. In der 1. Wahlperiode des Reichstags trat Wels auch als Redner und Sprecher seiner Fraktion im Reichstag am stärksten hervor. Er sprach in dieser Wahlperiode neunmal im Plenum. In der 2. Wahlperiode des Reichstages (1924) sprach Wels überhaupt nicht. In der 3. Wahlperiode (1925—1928) trat er dreimal als Redner seiner Fraktion in Erscheinung. In der 4. (13. 6.1928—18. 7.1930), 5. (13.10.1930—12.5. 1932) und 8. Wahlperiode (21. 3. 1933—17. 5. 1933) sprach er lediglich einmal im Reichstag. In der 6. und 7. Wahlperiode (13. 5. 1932—20. 3.1933) hielt er wie in der 2. Wahlperiode keine Rede. In der Nationalversammlung (1918/1920) wurde Wels dreimal als Redner von seiner Fraktion eingesetzt. 4 5 F. Osterroth, Biographisches Lexikon des Sozialismus..., Bd. 1, S. 47 u. 67; W. Dittmann, Lebenserinnerungen . . . , S. 1283 u. 1470; Vorwärts, Nr. 273 vom 12. 6. 1928, S. 2, und a. a. O., Nr. 312 vom 4. 7.1928, S. 3. Für die 2. (27. 5—30. 8.1924) und 3. Wahlperiode des Reichstages (5.1.1925— 31. 3.1928) ließ sich nur feststellen, daß Wels dem Auswärtigen Ausschuß angehörte (Reichstagsprotokolle ..., Bd. 384, S. 29). Für die 3. Wahlperiode nannte der Vorwärts (Nr. 9 vom 6. 1.1925, S. 1) Müller und Dittmann als geschäftsführende Vorsitzende und als weitere Mitglieder des Fraktionsvorstandes Crispien, Dißmann, Henke, Hoch, Hildenbrand, Hilferding, Hertz, Judiacz, Löbe, Scheidemann, O. Schumann, Stampfer, Aufhäuser, Graßmann und Wels. 49 A. a. O., Nr. 312 vom 4. 7.1928, S. 3. 47 A. a. O., Nr. 482 vom 14.10. 1930, S. 2. 48 A. a. O., Nr. 409 vom 3.9. 1932, S. 3. Im September 1932 war der Fraktionsvorstand verjüngt worden. Schumann, Henke und Scheidemann waren ausgeschieden und neben Hans Vogel und Toni Pfülf als Vertreter der jungen Abgeordneten Kurt Schumacher und Fritz Ebert jun. in den Vorstand gewählt worden. Vgl. Das freie Wort, 4. Jg., Nr. 37 vom 11.9.1932, S. 31.

Stellung im Parteivorstand

und in der

Fraktion

117

bis zur Kanzlerschaft Müllers bei Müller und Dittmann gelegen zu haben. Die geistigen Führer der Fraktion waren neben Hermann Müller Rudolf Hilferding und Rudolf Breitscheid.49 Wie schon bis 1918 sind für die Zusammensetzung des Fraktionsvorstandes auch in der Weimarer Zeit die außerordentlich enge Verflechtung mit dem Parteivorstand sowie die personelle Kontinuität charakteristisch.50 Da die Stellung eines parlamentarischen Parteiführers nicht auf Titeln, sondern auf persönlicher Autorität und bestimmten Ämterverbindungen beruhte, wie zum Beispiel der des Parteiund Fraktionsvorsitzenden, 51 muß Hermann Müller bis zu seiner Kanzlerschaft als der eigentliche Führer der Fraktion angesehen werden, da Wels den Parteivorstand als Aufsichtsorgan der Fraktion betrachtete und Meinungsverschiedenheiten mit Müller und Dittmann meistens im Parteivorstand austrug.52 Auch Müller war wie Wels gleichzeitig Partei- und Fraktionsvorsitzender. Nach seinem Rüdstritt als Kanzler im März 1930 und dem Wiedereintritt in den geschäftsführenden Fraktionsvorstand im Oktober 1930 konnte Müller infolge seiner Krankheit seine alte Position in der Fraktion nicht zurückgewinnen.53 Aufgrund seiner rhetorischen Gewandtheit wurde Breitscheid der offizielle Führer der Fraktion und trat auch als parlamentarischer Sprecher der Fraktion im Reichstag am stärksten in den Vordergrund. 54 Die kraftvollste Persönlichkeit mit dem größten Einfluß auch in der Fraktion war jedoch Otto Wels.55 Weder Breitscheid noch Ditt49

Mündliche Auskunft Arno Scholz' vom 28. 5. 1963. Vgl. für die Zeit bis 1918 E. Matthias/E. Pikart (Bearb.), Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie ..passim. 51 Α. α. Ο., S. LXIII. 52 Mündliche Auskunft von Arno Scholz. 53 Fuss (Aktenvermerk Skrzypczak, S. 8) gibt an, Müller sei abgekämpft und müde gewesen. 54 Vgl. Wilhelm Keil, Erlebnisse eines Sozialdemokraten, Bd. 2, Stuttgart 1948, S. 338. Keil berichtet, daß besonders die älteren Fraktionsmitglieder von seiner politischen Führung nicht immer befriedigt waren, da er zu unausgeglichen gewesen sei. Wels schätzte Breitscheid zwar als Fachmann, brachte ihm jedoch keine besonderen Sympathien entgegen. Er war ihm zu eitel (mündliche Auskunft Hans Casparis). Die Vorbehalte von Wels gegenüber Breitscheid gehen auch aus seinem Brief an Hermann Müller vom 15. 7. 1929, oben, S. 108, Anm. 12, hervor. 50

55

Alfred Dobbert (mündliche Auskunft vom 5 . 1 1 . 1 9 6 3 ) bezeichnete Wels als den eigentlichen Führer der Fraktion. Die von Noske ( E r l e b t e s . . S . 309) wiedergegebene Bemerkung Hilferdings aus der Zeit von 1928/1930, die Fraktion sei „gänzlich führer- und direktionslos" ge-

118

II. Parteiführer

in der Weimarer Republik

(1918—1933)

mann oder Lobe verfügten über einen nennenswerten organisatorischen Rückhalt in der Partei und konnten, wie Wels, ihre Autorität als Parteivorsitzender geltend machen. Otto Wels war damit in allen Führungsorganen der Partei der entscheidende Mann. Auseinandersetzung mit der innerparteilichen und Stellung in der Partei (1918—1932)

Opposition

Seit der Gründung der USPD zu Ostern 1917 in Gotha existierte zunächst innerhalb der MSPD kein nennenswerter linker Flügel mehr. Auf dem Weimarer Parteitag der MSPD im Juni 1919 gab es eine Opposition von nur zwanzig Delegierten gegen den Parteivorstand.5* Trotzdem fanden heftige Auseinandersetzungen um die Politik der Partei statt. So hatte Wels im Bericht des Parteivorstandes unter anderem die Kriegspolitik der Partei temperamentvoll verteidigt. Diese sei von Anfang an eine Friedenspolitik gewesen, die der Partei das Vertrauen des gesamten deutschen Volkes errungen habe, weit über die Kreise und Schichten hinaus, die der Sozialdemokratie während des Krieges aus politischer Uberzeugung Gefolgschaft geleistet hätten. Deshalb sei es unverständlich, wenn auf Parteitagen wie in Jena Anträge gestellt würden, die die Haltung der Reidistagsfraktion während des Krieges verurteilten. Das Vertrauen, das das deutsche Volk der Sozialdemokratie ausgesprochen habe, auch bei den Wahlen am 19. Januar 1919, beweise die Richtigkeit der Kriegspolitik der Partei. Wer trotzdem noch die Richtigkeit dieser Politik bezweifle, brauche nur einen Blick in die Vergangenheit zu werfen: „Es gab nur zwei Gruppen in Deutschland, die an einen Eroberungsfrieden durch Deutschland glaubten, das waren unsere alldeutschen Reaktionäre, die Sippe derer, die den deutschen Arbeiter nur als Kanonenfutter zu gebraudien gedachte, um sich selbst in ihrer wirtschaftlichen und politischen Macht zu erhöhen, und auf der anderen Seite die Unabhängigen, die überzeugt waren, daß die militärischen Kräfte des deutschen Volkes ausreichen könnten, mit der Spitze des Schwertes den Feinden den Frieden zu diktieren. Wir Sozialdemokraten haben niemals den Glauben gehabt, daß es möglich wäre, den Frieden mit Waffengewalt herbeizuführen. Und als Amerika in das Lager hinüberwesen, ist in dieser Form nidit zu halten. Müller und Hilferding wurden von Wels und der Fraktion in einer Reihe von Fragen bedrängt und vorwärtsgetrieben. Das war ihnen wohl unangenehm. Vgl. unten, S. 161 ff. M Parteitagsprotokoll Weimar 1919, S. 357.

Auseinandersetzungen

und Stellung in der Partei (1918—1932)

119

rückte, war es klar, daß wir den Gegner niemals mit der Schärfe des Schwertes zur Annahme von Deutschland diktierter Bedingungen zwingen könnten. Die Tatsache, daß wir es waren, die die gegeneinanderwirkenden Kräfte richtig eingeschätzt haben, daß wir von Anfang an die Bedrohung Deutschlands und an den nun wirklich erfolgten Ausgang des Krieges glaubten und danach unsere Politik richtig eingestellt haben, liegt vor aller A u g e n . . . Wer aus dem Frieden von Versailles nicht lernt, daß es die richtige Politik gewesen ist, die wir getrieben haben, nämlich die Niederlage abzuwenden, dem ist nicht zu h e l f e n . . . Was jetzt in Versailles geschieht, das ist ein endgültiger und unantastbarer Beweis für die Richtigkeit der Politik, die wir durch Bewilligung der Kriegspolitik getrieben haben."57 Auch zum Problem Kriegsschuldfrage und Internationale nahm Wels Stellung: „Wir wollen die Schuld am Kriege festgestellt haben auf Grund der Öffnung der Archive aller Welt. Wir haben die Überzeugung, daß ein vollgerüttelt Maß von Schuld auf den Schultern der alten Gewalthaber in Deutschland liegt, und nichts soll jene vor ihrem Richter bewahren. Aber niemand wird mir die Uberzeugung beibringen, daß Deutschland allein der Sündenbock ist, der das Unheil über die Welt gebracht, und daß der Zar ein blütenweißes Unschuldslämmlein ist, daß die russischen Intrigen, die im Suchomlinow-Prozeß bekanntgeworden sind, nie gespielt haben. Niemals werde idi mich dazu bekennen, daß die französischen Revancheideen keinen Teil an diesem Kriege h a b e n . . . Schon Marx und Engels haben mit prophetischem Blick die Entwicklung gesehen, daß aus den Folgen des Krieges von 1870/71 heraus das russisch-französische Bündnis geboren wurde, das uns diese Katastrophe gebracht hat. Wir Deutsche wollen nicht für eine Politik, die vor 50 Jahren gemacht worden ist, jetzt in Sack und Asche Buße tun."58 Adolf Braun, der während des ganzen Krieges in Opposition zur Kriegspolitik der MSPD gestanden hatte, kritisierte Wels besonders deswegen, weil er die Fragen der Kriegspolitik der Partei und der Kriegsschuld überhaupt aufgeworfen hatte.5® Eduard Bernstein griff Wels in der gleichen Frage sowie in der 57

A. a. O., S. 141 u. 152. Bei Wels' Kritik an der Kriegspolitik der USPD handelt es sidi um eine starke polemische Entgleisung, die teilweise aus der harten Gegnerschaft zur USPD und der Tatsache zu verstehen ist, daß beide Parteien weitestgehend um die gleidien Wählersdiichten warben. 58 A. a. O., S. 159. Vgl. audi unten, S. 180 ff. 5 · Parteitagsprotokoll Weimar 1919, S. 189 u. 255.

120

II- Parteiführer

in der Weimarer Republik

(1918—1933)

Kriegsschuldfrage und der Stellung der Internationale zu diesem Problem an. Für Bernstein hatte Wels so gesprochen, als ob es in Frankreich nur Imperialisten gäbe. Der Strich, der die deutsche Republik von dem früheren System trennen müsse, könne nicht deutlich genug gezogen werden. Das leite zur Frage von Schuld und Verantwortung am Kriege über, und dabei handle es sich besonders um die deutsche Verantwortung. Wels antwortete mit dem Zwischenruf: „Wenn ich von der Internationale spreche, spreche ich auch von der internationalen Verantwortung, nidit nur von der deutschen!"60 Darüber hinaus warf Bernstein der Mehrheit der Partei vor, ihre Kritik sei so gelähmt, wie sie im Kriege durch die Abstimmung vom 4. August 1914 gelähmt worden sei. Er warf die Frage auf, was die Internationale von der Partei wolle. Sie sei nicht hart, sie sei auch nicht ungerecht gegen die deutsche Sozialdemokratie. Worauf Wels mit dem Zwischenruf erwiderte: „Sie ist nicht unsere Richterin!"61 Otto Braun bezeichnete Bernstein daraufhin unter stürmischem Beifall als Einzelgänger, der in dieser Frage im deutschen Volke wie in der Partei keinen Resonanzboden und niemanden hinter sich habe.62 Selbst Adolf Braun war Bernsteins Kritik zu weit gegangen. Er rief ihm zu: „Sie müssen einmal hören, daß wir Ihnen in der talmudistischen Methode Ihrer Politik nicht folgen können."63 Audi auf dem Kasseler Parteitag vom Oktober 1920 setzte Wels sich lediglich mit einem Außenseiter der Partei auseinander, mit Max Cohen-Reuß und den Sozialistischen Monatsheften, und zwar in der Frage der „Kontinentalpolitik". 64 Wels warf Cohen unter anderem vor, er singe das „Hohe Lied der französischen Politik in allen Tönen" 60

A. a. O., S. 246.

el

Ebda. Zu den Ausführungen Bernsteins siehe a. a. O., S. 241—246. Stoll-Ottensen warf Wels vor, er habe sein Referat mit nationalistischen Arabesken belastet (a. a. O., S. 290). «2 A. a. O., S. 254. 83

Α. α. Ο., S. 255. Nach einer mündlichen Auskunft Rudolf Wissells von Mai 1961 soll Wels in der Auseinandersetzung Wisseil—Robert Schmidt in der Frage der Sozialisierung Wissell Unterstützung zugesagt, sich auf dem Parteitag in dieser Frage jedoch passiv verhalten haben. Vgl. auch Wels' Rede auf dem Weimarer Parteitag, a. a. O., S. 157. 64

Vgl. zu Cohens Auffassungen Parteitagsprotokoll Kassel 1920, S. 56—58. Zur Empörung über die von Cohen-Reuß vorgeschlagene Kontinentalpolitik vgl. ebda., E. Heilmann, Die Noskegarde .. ., S. 64, Adolf Braun, Der Internationale Kongreß zu Genf, Berlin 1920, S. 65 f., und Ph. Scheidemann, Memoiren ..., Bd. 2, S. 70.

Auseinandersetzungen

und Stellung in der Partei

(1918—1932)

121

und sei ein begeisterter Apostel Millerands, des sozialistischen Renegaten und Vertrauensmanns der französischen Reaktion. In Görlitz war Wels neben Taubadel (Görlitz) Vorsitzender des Parteitags und trat bei den Debatten weniger als sonst in Erscheinung, zumal Franz Krüger den Bericht des Parteivorstandes gab.65 Auf dem Parteitag in Augsburg im September 1922 hielt Wels das politische Hauptreferat; 68 wegen der besonderen Situation dieses Parteitages — wenige Tage vor dem Vereinigungsparteitag mit der RestUSPD in Nürnberg — kam es ebenso wie anschließend in Nürnberg jedoch zu keinen nennenswerten innerparteilichen Auseinandersetzungen. Seit seiner Wahl zum Parteivorsitzenden auf dem Parteitag von 1919 in Weimar hatte sich Wels' Position in der Partei entschieden verstärkt. Nimmt man die Wahlen zum Parteivorstand als Stimmungsbarometer, so erhielt Otto Wels 1919 in Weimar von 376 abgegebenen gültigen Stimmen lediglich 291, Hermann Müller dagegen 373, 1920 in Kassel von 330 abgegebenen gültigen Stimmen 309 (Hermann Müller 327), 1921 in Görlitz 300 Stimmen (Hermann Müller 320) und 1922 in Augsburg von 324 abgegebenen gültigen Stimmen 312 (Hermann Müller 322). 67 Otto Wels war damit neben Hermann Müller zum unbestrittenen politischen Führer der MSPD aufgestiegen. Mit der Wiedervereinigung von M S P D und Rest-USPD im Jahre 1922 in Nürnberg entstand in der Gesamtpartei eine neue Linksopposition, die sich um Dr. Paul Levi gruppierte. Zu dem relativ kleinen Kreis der „Leviten" aus der Kommunistischen Arbeitsgemeinschaft (KAG) kam eine Gruppe ehemals führender USPD-Funktionäre, wie zum Beispiel Dr. Kurt Rosenfeld, die Reichstagsabgeordneten Robert Dißmann, Lore Agnes, Siegfried Aufhäuser, Hermann Fleißner, Bernhard Kuhnt, Dr. Kurt Löwenstein, Tony Sender, Mathilde Wurm und der bereits 1919 der M S P D wieder beigetretene Heinrich Ströbel. Zu diesen beiden Gruppen stieß noch eine Reihe ehemaliger Mehrheitssozialdemokraten, besonders aus Sachsen, deren Repräsentant Max Seydewitz war. 68 65

Parteitagsprotokoll

66

Vgl. Parteitagsprotokoll

Einigung

des

Görlitz 1921, S. 116 u. 1 3 3 — 1 5 0 .

•7 Vgl. Parteitagsprotokolle a.a.O.,

Augsburg

1922, S. 5 2 — 6 9 : Die Internationale

und

die

Proletariats.

Görlitz

Weimar

1921, S. 311, und a.a.O.,

1919,

S. 4 0 5 ; a.a.O.,

Augsburg

Kassel

1920,

S. 2 5 8 ;

1922, S. 97. D a s Protokoll des

Görlitzer Parteitages enthält keine Angabe über die Zahl der abgegebenen gültigen Stimmen bei der Wahl zum Parteivorstand (a. a. O., Görlitz 1921, S. 311). 68

Vgl. H a n n o Drechsler, Die Sozialistische

Ein Beitrag

zur Geschichte der deutschen

Arbeiterpartei

Arbeiterbewegung

Deutschlands am Ende

der

(SAPD). Weimarer

122

II. Parteiführer

in der Weimarer Republik

(1918—1933)

Sprachrohr dieser Linksopposition in der Partei wurde die LeviKorrespondenz Sozialistische Politik und Wirtschaft, die zunächst hektographiert und seit September 1923 auch gedruckt wöchentlich in Berlin erschien.6" Die Opposition dieses nach Herkunft und politischideologischen Vorstellungen heterogenen neuen linken Flügels der Partei richtete sich gegen die seiner Meinung nach untätige und abwartende Politik der SPD in der Inflationskrise. Die Bildung eines neuen linken Flügels in der Partei mußte zwangsläufig zu Spannungen in der Partei führen. So wurden auf dem Groß-Berliner Bezirksparteitag von Ende 1923 in ausgesprochenen Richtungswahlen alle Vertreter des rechten Flügels der Partei, wie zum Beispiel der Reichstagsabgeordnete Kurt Heinig, aus dem Vorstand abgewählt. Im Dezember 1923 wurde in Berlin bereits von einer Spaltung der Partei gesprochen.70 Vor den Reichstagswahlen im Mai 1924 gelang es Wels und dem Parteivorstand nur unter außerordentlichen Schwierigkeiten, bei der Kandidatenaufstellung in Berlin zu verhindern, daß die Vertreter des rechten Flügels der Partei völlig ausgebootet wurden.' 1 Am 27. November 1923 beschäftigte sich Wels vor dem Parteiausschuß mit der unerfreulichen innerparteilichen Situation. Wels warf der Links-Opposition unter anderem vor, sie betrachte sich als einen besonderen Teil der Partei. Auch organisatorisch sei sie Schritt für Schritt in dieser Richtung vorgegangen. Alle Anzeichen, die auch schon bei früheren Parteispaltungen zu beobachten gewesen seien, machten sich wieder bemerkbar. Am Anfang der Entwicklung habe die Sonderkonferenz der Opposition vom 29. Juli 1923 in Weimar gestanden, an der dreißig ihrer führenden Vertreter teilgenommen hätten.72 In Republik ( = Marburger Abhandlungen zur Politischen Wissenschaft, Bd. 2), Meisenheim/Glan 1965, S. 2 f. 69 H . Drechsler, Die Sozialistische Arbeiterpartei DeutsAlands . .., S. 2. 70 Vgl. zum Berliner Bezirksparteitag Vorwärts, Nr. 446 vom 2 4 . 9 . 1 9 2 3 , S. 2; a.a.O., Nr. 447 vom 25.9.1923, S . 6 ; a.a.O., N r . 494 vom 2 2 . 1 0 . 1 9 2 3 , S. 2; a. a. O., Nr. 578 vom 11.12. 1923, S. 2, u. a. a. O., Nr. 577 vom 11.12.1923, S. 3. 71 Vgl. a.a.O., Nr. 106 vom 3 . 3 . 1 9 2 4 , S. 3; a.a.O., Nr. 117 vom 9 . 3 . 1 9 2 4 , S. 3; Parteitagsprotokoll Berlin 1924, S. 127 f. Am 2. Februar 1924 schrieb Adolf Braun in einem Brief an Karl Kautsky: „Es geht in der Partei recht unerfreulich zu. Der Kampf um die Mandate schafft neuerliche Erregungszustände." Nachlaß Kautsky, unveröffentlicht, IISG-Amsterdam. 78

Zur Sonderkonferenz in Weimar vgl. Vorwärts, Nr. 359 vom 3. 8.1923, S. 3. Die Mitglieder dieser Konferenz forderten vom Fraktionsvorstand die sofortige Einberufung der Fraktion und Forderung des Rücktritts der Regierung Cuno; Ablehnung jeder Koalition, solange die Partei sich nicht durch eine klare, selbständige,

Auseinandersetzungen

und Stellung in der Partei

(1918—1932)

123

verschiedenen Bezirken, in denen sich die Opposition stark genug fühle, hätten Richtungswahlen stattgefunden. So seien zum Beispiel in Dresden, Halle und Berlin die nach der Einigung der Partei gewählten Organisationsleitungen vor Ablauf ihrer Amtsperiode rücksichtslos „abgesägt" und durch rein oppositionelle Elemente ersetzt worden. Seit Monaten gehe die Hetze gegen den Parteivorstand. Dieser habe sich zurückgehalten, und erst als die Schädigung der Partei so offensichtlich geworden sei, daß ein längeres Schweigen nicht mehr verantwortet werden könne, habe er sich zur Abwehr entschlossen. Diese erfolge durch den Parteivorstands-Dienst, der gelegentlich den Zeitungsredaktionen zugestellt werde und den allzu hanebüchenen Entstellungen entgegentreten solle. Die Opposition in der Partei habe lediglich die Taktik der Kommunisten übernommen, wenn ihre Artikel und Reden auf das Leitmotiv abgestimmt würden: „Weg mit diesem Partei vorstand! Es ist höchste Zeit, daß mit eisernem Besen ausgefegt wird!" 73 Diese Taktik führe die Vereinigte Sozialdemokratische Partei Deutschlands dorthin, wohin die Kommunisten die USPD geführt hätten: nach Halle! Darüber täusche auch keine Beteuerung, daß man die Spaltung nicht wolle. Die bohrende, ätzende, vergiftende Kritik lähme die Partei.74 In besondere Schwierigkeiten war die Partei durch die Regierungskoalitionen von Sozialdemokraten und Kommunisten am 10. Oktober in Sachsen und am 16. Oktober 1923 in Thüringen75 geraten. Die Reichsexekution gegen Sachsen am 28. Oktober 1923 und die Ablehnung der Bedingungen der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion für den weiteren Verbleib der sozialdemokratischen Minister in der Reichsregierung führten am 2. November 1923 zum Rücktritt der sozialdemokratischen Regierungsmitglieder. Wels und Dittmann sowie proletarisdie Politik die Macht sichergestellt habe, die ihr das Übergewicht in jeder Koalition sichere; unter vollster Wahrung der eigenen Anschauungen, Ziele und Selbständigkeit möglichstes Zusammenarbeiten mit den Kommunisten zur Erreichung der nächsten proletarischen Ziele; sofortige Einberufung eines Parteitages. 75

Vgl. Opposition

oder

Quertreibereien?

Materialien

über

Parteischädigungen,

[hrsg. vom Parteivorstand der S P D ] , Berlin o. J . [ 1 9 2 3 ] , S. 11. 74

Zur Rede Wels' vor dem Parteiausschuß vgl. a. a. O., S. 1—12. Am 2 4 . 1 2 . 1 9 2 3

schrieb Adolf Braun an Karl Kautsky: „ . . . Vorläufig bestimmt man noch immer nicht in Dresden und in Sachsen Taktik und Aufgaben der P a r t e i . . . Die Sicherheit für den weiteren Zusammenhalt fehlt l e i d e r . . N a c h l a ß Kautsky, unveröffentlicht, IISG-Amsterdam. 75

Vgl. Franz Osterroth / Dieter Schuster, Chronik

tie, Hannover 1963, S. 290.

der deutschen

Sozialdemokra-

124

/ / . Parteiführer

in der Weimarer Republik

(1918—1933)

Fischer/Köln von der Deutschen Demokratischen Partei waren nach Abstimmung mit Reichskanzler Stresemann am 29. Oktober nach Dresden gefahren, um auf die Bildung einer neuen verfassungsmäßigen Regierung in Sachsen hinzuwirken. Bereits am nächsten Tage konnte durch ihren Einsatz die von den Demokraten tolerierte sozialdemokratische Minderheitsregierung Fellisch gebildet werden. Damit war der Konflikt Reich—Sachsen beigelegt." Max Seydewitz und seine Anhänger waren mit der Regierungsbildung in Sachsen und der Rolle, die Wels und Dittmann dabei gespielt hatten, äußerst unzufrieden. Seydewitz schrieb im Zwickauer Volksblatt, was die sechzigtausend Mann der Reichswehr nicht fertiggebracht hätten, den Dolchstoß in den Rücken der proletarischen Einheitsfront der Sozialisten und Kommunisten zu führen, das sei Wels und Dittmann gelungen. „Die Sechzigtausend und die zwei Männer aus der Lindenstraße haben ihre Pflicht getan."77 Ähnlich äußerten sich auch die Redakteure Kleineibst, Zweiling und Böchel in der sächsischen Parteipresse.78 Durch die Ereignisse des Oktober 1923 wurde der berüchtigte „Sachsenkonflikt" ausgelöst, der die sächsische Sozialdemokratie bis in die Grundfesten erschütterte und im Juli 1926 zur Gründung der Alten Sozialdemokratischen Partei Sachsens (ASPS) führte. Um in Sachsen wieder zu einer stabilen Landesregierung zu kommen, die von einer sicheren parlamentarischen Mehrheit getragen wurde, hatte die sächsische SPD-Landtagsfraktion die Bildung einer Regierung der Großen Koalition aus SPD, Zentrum, Deutscher Demokratischer Partei und Deutscher Volkspartei mit dem Sozialdemokraten Heidt als Ministerpräsident beschlossen. Die SPD-Landesinstanzen in Sachsen sperrten sich jedoch gegen diesen Beschluß der Fraktionsmehrheit und forderten auf dem Landesparteitag am 6. Januar 1924 den Rücktritt des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten sowie die Auflösung des Landtags. Die Fraktionsmehrheit der SPD-Landtagsfraktion widersetzte sich diesem Parteitagsbeschluß, weil sie der Auffassung war, Sachsen werde dadurch in die Hände der Reaktion fallen, was mit den Interessen der Gesamtpartei unvereinbar sei. Der Parteivorstand gewährte in der nun mit aller Härte geführten Auseinandersetzung in der sächsischen Partei lange Zeit der Mehrheit der sächsischen Landtagsfraktion, den „Dreiundzwanzig", Rückendeckung. Die Mehrheit 76 77 78

Vgl. dazu W. Dittmann, Lebenserinnerungen , . S. 1318—1323. Zwickauer Volksblatt, zit. nach W. Dittmann, Lebenserinnerungen Ebda.

..

S. 1323.

Auseinandersetzungen

und Stellung in der Partei (1918—1932)

125

der sächsischen SPD und damit die Linke in der Partei hat dem Parteivorstand die Haltung in dieser Frage nie vergessen.79 Auf dem Berliner Parteitag von Mitte Juni 1924 kam Wels noch einmal auf die Regierungsbildung mit den Kommunisten in Sachsen und Thüringen zu sprechen. Der KPD sei es seiner Meinung nach nicht um die Beteiligung an der Regierung, sondern um die Beschaffung von Waffen für die Revolution in Deutschland gegangen. Das habe den Reichskommissar Heinze nach Dresden geführt und das Eingreifen des Parteivorstandes notwendig gemacht.80 Er selbst sei konsequent für die Ablehnung eines Zusammengehens mit den Kommunisten eingetreten. Die von Moskau als Vorbedingung für die Aufnahme in die kommunistische Internationale aufgestellten 21 Punkte seien bekannt. Nicht die politischen Notwendigkeiten in Deutschland oder einem anderen Land seien als Richtschnur anzuerkennen, sondern einzig die Befehle einer Partei außerhalb Deutschlands. Der Parteivorstand habe auf die Zerstörungsarbeit der Kommunisten in den Gewerkschaften hingewiesen, und man sei sich einig gewesen, daß das Zusammengehen mit den Kommunisten so verderblich wie die Räte79

Vgl. H. Drechsler, Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands .. ., S. 9 f. Alfred Dobbert (mündliche Auskunft vom 5. 11. 1963) — 1926 bis 1930 MdL in Sachsen und Leiter des Referates „Sächsische Politik" an der Meißener Volkszeitung — bestätigt, daß Wels innerlich auf Seiten der Dreiundzwanzig, der Mehrheit der sächsischen Landtagsfraktion, gestanden hat. Er habe lediglich deren Methoden, die zur Spaltung der Partei führten, scharf verurteilt. Zur Haltung von Wels in dieser Frage vgl. auch den Briefwechsel zwischen Wels und den Dreiundzwanzig, abgedruckt im Vorwärts, Nr. 174 vom 14. 4. 1926, S. 2. Im Sächsischen Landtagswahlkampf vom Oktober 1926 mußte Wels sich mit der Spaltung der sächsischen SPD durch die Dreiundzwanzig und der ASPS auseinandersetzen. Dabei verurteilte Wels scharf die Spaltung der Partei. Eine Partei der Massen, die die Macht erringen wolle, sei völlig fehlgeleitet, wenn sie nicht durch straffe Organisation und Einordnung jedes einzelnen in das große Ganze ihre Macht erhalte. Es sei besser, „einmal mit den Massen [zu] irren, als gegen die Massen [zu] marschieren". (Vgl. Meißener Volkszeitung, Nr. 250 vom 25.10.1926; Sächsisches Volksblatt, N r . 250 vom 26.10. 1926; Chemnitzer Volksblatt, N r . 250 vom 26.10. 1926; Leipziger Neueste Nachrichten, Nr. 295 vom 25. 10.1926). Dieses nicht sehr kluge Wort von Wels, das nur aus der speziellen Situation, in der er sich im sächsischen Wahlkampf befand, zu verstehen ist, wurde von seinen Gegnern in und außerhalb der Partei gegen Wels ausgeschlachtet (vgl. Chemnitzer Nachrichten, N r . 250 vom 26.10.1926: Kölnische Zeitung, Nr. 795 vom 25.10. 1926, und G. Noske, Erlebtes . . . , S. 235). Zum Verhältnis Fraktion—Landesinstanzen vgl. den grundlegenden Artikel von Dittmann im Vorwärts, Nr. 13 vom 9. 1. 1924, S. 1 f. 80 Parteitagsprotokoll Berlin 1924, S. 73.

126

II- Parteiführer

in der Weimarer Republik

(1918—1933)

herrschaft in Mündien wirken werde. So sehr ihm die Einigung mit den sächsischen Freunden am Herzen liege, so wenig könne er doch anerkennen, daß das Zusammengehen mit den Kommunisten eine Notwendigkeit oder politisch klug gewesen sei. Tatsächlich hätten die thüringischen und sädisischen Genossen das Zusammengehen mit den Kommunisten im Gegensatz zu der von der Gesamtpartei befolgten Politik eingeleitet.81 Gegen den Willen der Mehrheit in der Parteiorganisation Sachsens, durch starken Druck auf die Landtagsfraktion habe der Parteivorstand auf die Bildung einer Regierung mit den Demokraten hingewirkt, um Heinze aus Sachsen herauszubringen. Trotz aller Schmähungen sei er stolz darauf, diese Arbeit geleistet zu haben. Vierundzwanzig Stunden hätten genügt, um den Reichskommissar zu entfernen. Auch die Opposition sei froh gewesen, daß die Toga ihrer Prinzipien rein geblieben sei und andere die Verantwortung für das getragen hätten, was die Verständigen unter ihnen für notwendig gehalten hätten. Wels ging dann noch einmal auf den Artikel im Zwickauer Parteiblatt ein und betonte, daß man den 60 000 Mann der Reichswehr keine Hilfestellung gegeben habe. Wie die Entwicklung in Sachsen ohne ihr Eingreifen heute aussähe, das zeige sich in Thüringen und Mecklenburg.82 Wels hielt der Linksopposition vor, daß der Parteivorstand in den anderthalb Jahren seit der Einigung vom eigenen Lager fast mehr beschimpft worden sei als von den Kommunisten. Der Parteivorstand lehne es ab, den Richtungsstreit der Partei als etwas zur Partei Gehörendes anzuerkennen.83 Hilferding schrieb dazu am 19. 7. 1924 an Karl Kautsky: „ . . . Ich glaube auch nicht, daß man Anlaß hat, über Vergewaltigung der Opposition zu reden. Diesem Mißbrauch mit den Korreferaten mußte endlich entgegengetreten werden. Die Sache war ja von langer Hand schon von Dißmann in den Parteiversammlungen arrangiert. Überall, wo ein Parteivorstandsmitglied oder sonst jemand von uns sprach, wurde nach einem Korreferenten der „Opposition" geschrieen. Ich glaube nicht, daß wenn Otto Bauer ein Referat übernimmt, er es sich gefallen ließe, wenn 81

A. a. O., S. 126.

82

A. a. O., S. 73 f.

A. a. O., S. 126. Die Aufstellung eines Korreferenten hatte Wels mit der Begründung abgelehnt, der Einheit der Partei sei nicht dadurch gedient, daß aller Welt das Schauspiel geboten werde, die Einigung der Partei sei nur ein Phantom und zwei Richtungen kämpften heftig um die Herrschaft (a. a. O., S. 125). 83

Auseinandersetzungen

und Stellung

in der Partei (191S—1932)

127

irgend ein Pöltzer oder Dr. Leichter . . . ihm als Korreferent entgegengestellt würde. Ebenso wollen wir es uns nicht mehr bieten lassen, einen unfähigen Schubiak wie den Dißmann als den Führer einer sogenannten Opposition sich aufspielen zu lassen.. ."84 Obwohl bei der entscheidenden namentlichen Abstimmung über den wesentlichsten Antrag des Parteivorstandes zur Koalitionsfrage nur 105 Gegenstimmen (bei 262 Ja-Stimmen) abgegeben wurden 85 und die Linksopposition auf diesem Parteitag, der schon in einer wesentlich entspannteren Atmosphäre stattfand, den Parteivorstand stimmenmäßig nie ernsthaft gefährden konnte, sah Wels in ihr eine potentielle Bedrohung der eigenen Machtposition. Ende 1923 Schloß er die Möglichkeit seiner Abwahl nicht aus und äußerte ironisch: „Wenn ich abgewählt werde, werde ich Pförtner im PV. Dann werde ich von der Pförtnerloge aus die Politik der Partei bestimmen." 8 " Auf dem Heidelberger Parteitag im September 1925, dessen Hauptaufgabe die Revision des Görlitzer Programms von 1921 war, kam es zu keinen scharfen Kontroversen zwischen Wels und dem linken Flügel der Partei. Bei den Wahlen zu den Beisitzern des Parteivorstandes kandidierten die Vertreter der Linken wiederum ohne Erfolg. 87 Der Kieler Parteitag im Mai 1927 stand im Zeichen einer scharfen Kritik von Wels und des Parteivorstands an den Herausgebern und Mitarbeitern der „Levi-Korrespondenz". Wels hegte sogar „starke Zweifel" an den loyalen Absichten dieser Opposition und warf die Frage auf, wodurch die Genossen legitimiert seien, sich als Schulmeister und Vormund der Partei aufzuwerfen. Er habe starke Zweifel, ob sie an Sachkenntnis und Parteierfahrung, an ehrlichem Wollen und innerer Uberzeugung, an wahrem proletarischem Klassenbewußtsein Nadilaß Kautsky, IISG-Amsterdam. Parteitagsprotokoll Berlin 1924, S. 138. Im Mittelpunkt der Kritik der Linken stand die sozialdemokratische Koalitions-Politik, die der Parteivorstand mit der außenpolitischen Notwendigkeit der „Befriedung Europas" und dem innerpolitischen Erfordernis der „Sicherung der Republik" rechtfertigte (α. α. Ο., S. 204 f.). Der Linken gelang es auf dem Parteitag weder, eine eigene Konzeption ihrer Politik darzulegen, noch bei den Parteivorstandswahlen einen ihrer Leute in den Parteivorstand zu bringen (α. α. Ο., S. 199). 88 Mündliche Auskunft des ältesten Sohnes von Wels — Walter Wels — vom 24. 5.1965. 87 Parteitagsprotokoll Heidelberg 192i, S. 267. Bei der Beisitzerwahl erhielten Aufhäuser 143, Fleißner 113 und Wurm 107 Stimmen. Wels wurde von Hermann Müller-Franken gegen Vorwürfe der Leipziger Volkszeitung verteidigt, in die Barmat-Affäre verwickelt zu sein (Λ. α. Ο., S. 173). 84

85

128

//. Parteiführer in der Weimarer Republik

(1918—1933)

und Stetigkeit der von ihnen vertretenen Auffassungen den immer wieder aufs schärfste und in herabsetzendster Weise angegriffenen offiziellen Parteiinstanzen in Partei und Fraktion so turmhoch überlegen seien. Gewiß, die Meinungsfreiheit solle und dürfe in der Partei nicht unterbunden werden, und die Partei müsse ihr den denkbar weitesten Spielraum geben. Sie dürfe aber nicht der Deckmantel für parteischädigende Absichten sein, zumal nicht für solche, die von außen in die Partei hineingetragen werden sollten. Dem Richtungsstreit aber wolle der Parteivorstand in der Partei keinen Platz mehr einräumen, denn nur so sei die Hoffnung der Kommunisten auf einen Erfolg in ihrer immer wieder versuchten Zellenbildung zunichte zu machen.88 Kurt Rosenfeld antwortete Wels und bestritt, daß es in der Partei Meinungsfreiheit gäbe. Nur die Opposition dürfe von der Meinungsfreiheit keinen Gebrauch machen. Was nütze ihm ein schöner Garten, wenn andere darin spazieren gingen. Der Parteivorstand solle zunächst einmal im Zentralorgan, dem Vorwärts, für die Freiheit der Meinungsäußerung sorgen. Er habe vom Parteivorstand Beweise für die Unterstellung erwartet, andere Genossen hätten versteckte parteischädigende Absichten. Wels habe von Genossen gesprochen, die sich als Schulmeister und Vormund der Partei aufspielten. Er frage ihn, wer das jemals getan habe. Man könne wohl eher sagen, Wels habe den Versuch gemacht, sich zum Schulmeister der Partei aufzuwerfen. Die SPD sei eine demokratische und keine kommunistische Partei, wo jeder nach dem Diktat Moskaus zu handeln habe. Diktate nach Moskauer Art seien für die Partei immer unannehmbar, selbst wenn sie aus dem freundlichen Gesicht des Genossen Wels kämen. Er bedauere es, den Genossen Wels vor dem Parteitag einer kommunistischen Abirrung wegen denunzieren zu müssen. Er wolle nicht auf seinen Ausschluß plädieren, gegen die Annäherung des Parteivorstands an Moskauer Methoden aber erhebe er ganz entschieden Einspruch.89 Hermann Liebmann verteidigte die Opposition besonders gegen den Vorwurf der Illoyalität: „Ich wollte einmal den Parteivorstand sehen, wenn er in der Weise angegriffen würde, wie er die Opposition angegriffen hat, wenn ihm gesagt würde, er meine es nicht ehrlich mit der Partei, er wolle sie schädigen. Das würde mit Recht als Infamie zurückgewiesen werden. Wenn aber der Parteivorstand eine solche Methode anwendet, dann braucht man sich darüber nicht zu wundern, 88 88

Parteitagsprotokoll Kiel 1927, S. 32 f. A. a. O., S. 61—63.

Auseinandersetzungen

und Stellung in der Partei (1918—1932)

129

daß es auf dem Parteitag zu unerquicklichen Debatten k o m m t . . . Dann möchte ich auch darum bitten, daß der Vorstand jemand mit seiner Vertretung beauftragt, der seine Worte besser abzuwägen versteht, als es der Genösse Wels hier getan hat."80 Auch Franz Künstler nahm die Opposition gegen Wels in Schutz. Er spielte auf Wels an, als er davon sprach, daß es leider Genossen und Genossinnen gebe, die hinter jeder sachlichen Kritik schon eine organisierte Opposition erblickten. Man sei in der Partei überaus empfindlich geworden. Diese Genossen sähen vielfach „weiße Mäuse tanzen". 91 In seinem Sdilußwort beschäftigte sich Wels besonders mit den Vorwürfen Rosenfelds. Er nehme nicht alles so ernst, was aus dem Munde von Rosenfeld komme. Aber verbitten müsse er es sich, daß der Vorstand der brutalen Rücksichtslosigkeit und kommunistisch-bolschewistischer Unterdrückungsmethoden beschuldigt werde. Ein Blick in beinahe jedes Blatt der sächsischen Parteipresse an jedem Tag des Jahres beweise, wie weit die Meinungsfreiheit der deutschen Sozialdemokratie gehe. Rosenfeld sähe allerdings, in Übereinstimmung mit der von ihm so gefeierten „Levi-Korrespondenz", die Regeneration der Partei erst dann kommen, wenn dieser Parteivorstand verschwunden sei. Wenn die Wünsche der „Leviten" erfüllt seien, werde kaum ein Parteivorstand amtieren, der der Meinungsfreiheit so breiten Raum lasse wie der gegenwärtige. Er fürchte nicht für die Existenz dieses Parteivorstands. Als Rosenfeld seine Vorwürfe erhob, hätte er bedenken sollen, daß dieser Parteivorstand die Einigung der deutschen Sozialdemokratie herbeigeführt hat, aus der auch die Einigung der Internationale entsprungen sei. Wels richtete dann an Rosenfeld die Frage, ob er — Rosenfeld — zu jener Zeit als verantwortlicher Führer der Sozialdemokratischen Partei oder der Unabhängigen zur Einigung der Partei beigetragen habe. Er sei ja der letzte gewesen, der den Weg zur Einigung gefunden und der erste, der hier erschienen sei und Kritik geübt habe. Er — Wels — hätte dieses Thema nicht angeschnitten, aber der Parteivorstand, der sich das ganze Jahr in der Presse und in den Versammlungen heruntermachen lassen müsse, habe nur auf dem Parteitag das Recht, sich zur Wehr zu setzen. Der Parteivorstand sei kein Negergötzenbild, das von seinen Anbetern geprügelt werde, wenn es nicht

81

9

A. a. O., S. 72. A. a. O., S. 66.

Adolph

130

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regne oder die Sonne nicht scheine. Er werde sich auf keinen Fall passiv verhalten. Keiner von den Kollegen im Parteivorstand habe das Zeug zum Säulenheiligen oder Dulder. Er selbst glaube, daß er einer der Sanftmütigsten unter ihnen sei." Wels beschäftigte sich anschließend noch mit der Frage von Sonderorganisationen in der Partei. Der Parteivorstand habe die Mitgliedschaft im Nelson-Bund für unvereinbar mit der Mitgliedschaft in der Partei erklärt, weil dieser eine innerhalb der Partei nach eigenen Gesetzen lebende Gruppe gewesen sei, die sich nicht an die Beschlüsse der Partei, sondern in erster Linie an die Weisungen ihres Oberhauptes gebunden gefühlt habe.95 Wels spielte dann auf die „Loge Weltbund" 94 an, als er die Frage aufwarf, was die Partei wohl sagen würde, wenn sich in der Arbeiterbewegung ein Geheimbund etablieren würde, der alle Redakteure, alle Angestellten der Partei, der Gewerkschaftsund Genossenschaftsbewegung umschlösse und jedem einzelnen das geheime Gelöbnis auferlegte, überall, selbst gegen die eigenen Interessen, den Geboten dieser Organisation zu folgen. Dann wäre auf dem Parteitag eine große Anzahl von Personen als Sekretäre oder Vertrauensleute irgendwelcher Art vertreten, die durch die Zugehörigkeit zu einer solchen Geheimorganisation geknebelt wären. Auf diese Weise werde die Demokratie erstickt und getötet. Das sei ein Verhalten, gegen das sich die Arbeiterschaft wehren müsse. Das sei beim NelsonBund der Fall gewesen, und da es der Parteivorstand für seine Pflicht 92

A. a. O., S. 105 f.

»o A. a. O., S. 35 u. 107. ' 4 Zur „Loge Weltbund" vgl. ADGB-Restakten, Archiv des DGB-Bundesvorstandes, Düsseldorf, Akte 9 (Abschrift der Verfassung der Loge Weltbund; Schreiben Wels' vom 29.10. 1927 an Leipart; Abschrift des Briefes von Otto Buchwitz vom 28. 10. 1927 an Otto Wels; Abschrift des Briefes des SPD-Bezirks Oberpfalz—Niederbayern vom 31. 10.1927 an den Partei vorstand; Brief Leiparts an H. Kaufmann vom 14.10. 1927; Brief des ADGB-Bezirksausschusses Schlesien — Wirsich — vom 3 . 1 1 . 1 9 2 7 an Ernst Schulze, Berlin; Brief Gustav Beckers, Hamburg, vom 5. 12.1927 an Leipart; Aktenvermerk Leiparts über eine Unterredung mit dem Parteivorstand am 1 5 . 1 2 . 1 9 2 7 in Berlin; Brief Wels' v o m 7. 3.1928 an Leipart). D i e Gründung der Loge ging auf den Kapp-Putsch 1920 zurück. Sie hatte sich offensichtlich zum Ziel gesetzt, die Bewegung „rein" zu halten und „die richtigen Leute an den richtigen Platz" zu bringen. Auf Drängen des Parteivorstands und des ADGBBundesvorstandes wurde die Loge am 22. 1. 1928 aufgelöst. Die Mitglieder der Loge waren durchweg leitende Partei-, Gewerkschafts- und Genossenschaftsangestellte. Gustav Becker, Hamburg, Direktor der „Volksfürsorge", war ihr Präsident und Erhard Auer, München, ihr bayerischer Großmeister.

Auseinandersetzungen

und Stellung in der Partei (1918—1932)

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halte, den Anfängen zu wehren, sei er eingeschritten. Das werde er bei ähnlichen Organisationen wieder tun.®5 Audi die Linksorientierung der Mehrheit der Jungsozialisten erregte das Mißtrauen des Parteivorstands. Otto Wels hielt besonders die in die Gruppenarbeit der Jungsozialisten einbezogenen parteilosen Jugendlichen für den Herd dieser Oppositionsströmungen.9® Der entscheidende Antrag der Opposition zur Koalitionspolitik wurde mit 255 gegen 83 Stimmen abgelehnt, und bei den Wahlen zum Parteivorstand wurde wiederum kein Vertreter der Linken gewählt." Beides zeigt die Schwäche des linken Flügels der Partei. Wenige Monate nach dem Kieler Parteitag, im Oktober 1927, erschien in der von der Partei unabhängigen E. Laubschen Verlagsbuchhandlung in Berlin unter Verantwortung von Max Seydewitz die Halbmonatszeitschrift Der Klassenkampf. Marxistische Blätter, um die sich die Linksopposition in der Partei nun neu gruppierte und damit einen festeren Zusammenhalt fand. 98 Als mit der PanzerkreuzerafFäre innerhalb der Partei die Frage nach ihrer grundsätzlichen Haltung zur Reichswehr und zum Wehrproblem erneut gestellt und leidenschaftlich diskutiert wurde, war es die Klassenkampf-Gruppe mit ihrer im Oktober 1928 publizierten Broschüre Sozialdemokratie und Wehrproblem,99 die als einzige einen 95 Parteitagsprotokoll Kiel 1927, S. 107. Zum Nelson-Bund vgl. Werner Link, Die Geschichte des Internationalen Jugend-Bundes (IJB) und des Internationalen Sozialistischen Kampf-Bundes (ISK). Ein Beitrag zur Geschichte der Arbeiterbewegung in der 'Weimarer Republik und im Dritten Reich ( = Marburger Abhandlungen zur Politischen Wissenschaft, Bd. 1), Meisenheim/Glan 1964.

·* A. a. O., S. 35 f. Vgl. audi Η . Drechsler, Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands . . S . 27. 97 A. a. O., S. 272 (Antrag 20 — Aufhäuser, Tony Sender und Genossen) und S. 225. *8 Als Herausgeber zeidineten Dr. Max Adler (Wien), Dr. Kurt Rosenfeld, Max Seydewitz und Heinrich Ströbel verantwortlich. Ein Jahr nach seiner Gründung, im Oktober 1928, wurde der Klassenkampf mit der von Paul Levi herausgegebenen Zeitschrift Sozialistische Politik und Wirtschaft vereinigt, und Paul Levi wurde Mitherausgeber. Die Auflagenhöhe des Klassenkamp} überschritt die Auflage von 1000 Exemplaren kaum. Siehe H . Drechsler, Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands . . . , S. 21—24. M Vgl. Sozialdemokratie und Wehrproblem. Vorschläge für Programmformulierungen zu dem Wehrproblem, Sonderheft des Klassenkampf, Berlin 1929. Zu den Verfassern zählten Arkadij Curland, Eduard Weckerle, Paul Levi, Max Seydewitz, Ernst Edistein, Franz Petrich, Heinrich Ströbel, Engelbert Graf, Hermann Fleißner, Bernhard Kuhnt und Fritz Bieligk.

9*

132

II. Parteiführer in der Weimarer Republik

(1918—1933)

eigenen Entwurf zu einem neuen Wehrprogramm vorlegte. Nach einer ausgiebigen Diskussion fand dieser Klassenkampf-Entwuif auf dem Magdeburger Parteitag in veränderter Form seinen Niederschlag im „Antrag Levi-Rosenfeld-Seydewitz" und galt als prinzipielle Stellungnahme der gesamten Linken zum Wehrproblem. Er war der einzige Gegenentwurf zu den „Richtlinien zur Wehrpolitik" der vom Parteivorstand gebildeten Wehrkommission.100 Auf dem Magdeburger Parteitag im Mai 1929 waren die Haltung der Partei zur Koalition und zur Wehrfrage die beiden zentralen Probleme. In seiner Eröffnungsansprache auf dem Parteitag verteidigte Wels nachdrücklich die Beteiligung der Partei an der Regierung der Großen Koalition. Man habe die Mitarbeit in der Regierung nicht versagen können, weil eine parlamentarische Regierung sonst überhaupt nicht zustande gekommen wäre. Die Deutschnationalen hätten einstweilen genug vom Regieren und das Zentrum hätte genug vom Bürgerblock. „Sollten wir nun dazu beitragen, daß in den weitesten Kreisen des deutschen Volkes, auch in der Arbeiterschaft, das Nichtzustandekommen der Regierung als ein Schiffbruch der demokratischen Republik empfunden werden mußte? Wenn als Ausweg etwa ein Beamtenkabinett ernannt worden wäre? Parteigenossen, denkt daran, welch einen ungeheuren Antrieb ihr damit dem Gedanken der Diktatur in Deutschland und in der ganzen Welt gegeben hättet." 101 Die Rücksicht auf die Massen habe die bürgerlichen Parteien zur Koalition mit der Sozialdemokratie gezwungen. Dabei täusche man sich nicht darüber, daß das Unbehagen über die Koalition mit der Sozialdemokratie in weiten Kreisen des Bürgertums stark und stärker werde. Man täusche sidi auch keinen Augenblick darüber, daß die bürgerlichen Parteien, mit denen man zusammen in der Koalitionsregierung sitze, kein Interesse an politischen und wirtschaftlichen Erfolgen der sozialdemokratischen Partei an sich, also auch nicht an dem Erfolg einer sozialdemokratisch geführten Regierung hätten. Die Partei befinde sich auch in der Koalition in einem schweren Abwehrkampf. So sei die Koalitionspolitik für die Sozialdemokratie nur eine neue Form des schwierigen Kampfes um die Demokratie, um ihren Ausbau und die Durchsetzung der eigenen Ziele. Von diesem großen Gesichtspunkt aus Zur Diskussion zum Wehrproblem siehe auch Paul Levi, Wehrhafiigkeit und Sozialdemokratie, Berlin 1928, Artur Crispien, Nie wieder Krieg, Berlin/Leipzig 1928, Max Adler, Der Arbeiter und sein Vaterland, Berlin 1929. 100 Richtlinien zur Wehrpolitik, in: Parteitagsprotokoll Magdeburg 1929, S. 288 t 101 A. a. O., S. 14.

Auseinandersetzungen

und Stellung in der Partei

(1918—1932)

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müsse der Parteitag auch die gegenwärtigen Probleme der Politik der Partei betrachten und ihre Aufgaben für die Zukunft bestimmen.102 Die Linke sah ihr Hauptziel darin, den Parteitag zu einer Mißbilligung der Koalitionspolitik zu bewegen. Sie versuchte daher nachzuweisen, daß die Koalition auf allen Gebieten versagt habe.103 Vor dem Bericht der Reichstagsfraktion und der Aussprache über die gesamte Regierungs- und Fraktionsarbeit kam ein Antrag der Linken zur Abstimmung, der unter anderem den Austritt der sozialdemokratischen Minister aus der Reichsregierung forderte.104 Hans Vogel beantragte als Berichterstatter im Namen des Parteivorstandes, daß über alle Anträge zur Koalitionspolitik, zum Wehretat und zum Bau des Panzerkreuzers Α zur Tagesordnung überzugehen sei. Otto Wels, der als Vorsitzender des Parteitages in die Auseinandersetzungen mit der Linken nicht eingegriffen hatte, machte vor der namentlichen Abstimmung über den Antrag Vogels lediglich darauf aufmerksam, daß diejenigen Delegierten, die das Verbleiben der sozialdemokratischen Minister in der Regierung wünschten, für den Antrag zu stimmen hätten.105 Er wurde mit 256 gegen 138 Stimmen angenommen.106 Da bereits kurz nach der Eröffnung des Parteitags deutlich wurde, daß mit der Annahme des Klassenkampf-Entwurfs zur Wehrpolitik nicht zu rechnen war, unterstützte die Linke diejenige DelegiertenGruppe, die die Zurückverweisung der „Richtlinien zur Wehrpolitik" an die Wehrkommission beantragt hatte und die das Wehrprogramm erst auf dem nächsten Parteitag verabschieden wollte.107 In namentlicher Abstimmung wurde dieser Antrag mit 224 gegen 166 Stimmen abgelehnt;108 die „Richtlinien zur Wehrpolitik" wurden — ebenfalls in namentlicher Abstimmung — mit 242 gegen 147 Stimmen angenommen.10® Auch bei den Wahlen zum Parteivorstand konnten sich die Kandidaten der Linken nicht durchsetzen. So erhielten als Beisitzer von 386 102

A. a. O., S. 12 f. 103 Vgl. Kurt Rosenfeld, Die Ergebnisse des Parteitages, in: Klassenkampf, (1929), S. 362. 104 A. a. O., S. 363 f.: „Antrag Eckstein-Fleißner". 105 A. a. O., S. 364. 108 Parteitagsprotokoll Magdeburg 1929, S. 269 f. 107 H . Drechsler, Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutsd>lands . . S . 46. 108 Parteitagsprotokoll Magdeburg 1929, S. 271 f. 108 A. a. O., S. 270 f. Wels stimmte jeweils mit der Parteimehrheit.

3. Jg.

134

u. Parteiführer

in der Weimarer Republik

(1918—1933)

abgegebenen Stimmen Anna Siemsen nur 142 und Paul Levi 131 Stimmen. 110 Hatten auf dem Kieler Parteitag nur 83 Delegierte die Bedenken der Linken gegen eine Koalition mit bürgerlichen Parteien geteilt, so zeigte sich bei den drei namentlichen Abstimmungen in Magdeburg jedoch, daß der Einfluß der Linken nicht unbeträchtlidi gewachsen war. 111 Nur gegen das Votum starker Minderheiten hatte sich der Magdeburger Parteitag für eine Fortsetzung der Koalitionspolitik entschieden und der Parteivorstand sich mit seiner Politik durchgesetzt. Nach dem Sturz der letzten Regierung der Großen Koalition unter Hermann Müller und den Reichstagswahlen vom 14. September 1930, bei der sich die Stimmen für die Nationalsozialisten von 810 000 (1928) auf rund 6,4 Millionen erhöhten und diese mit 107 Abgeordneten plötzlich als zweitstärkste Fraktion in den Reichstag einziehen konnten, 112 bildete Brüning erneut ein Minderheitskabinett, das die SPD als „kleineres Übel" angesichts einer drohenden faschistischen Diktatur tolerieren zu müssen glaubte.11® Der linke Flügel der Partei wurde zum unversöhnlichen Gegner der Tolerierungspolitik, ohne jedoch eine konkrete Alternative anbieten zu können. 114 Gegen diese Politik demonstrierten die Abgeordneten des linken Flügels der Partei im Reichstag zunächst durch ihr Fernbleiben von den entscheidenden Abstimmungen. Im März 1931 brachen zum ersten 110

A. a. O., S. 232.

111

Besonders deutlich wird dies, wenn man berücksichtigt, daß neben den 300 in

den Bezirken gewählten Delegierten 98 Instanzenvertreter (9 Mitglieder des Parteivorstandes, 30 Mitglieder der Reichstagsfraktion, 43 Mitglieder des Parteiaussdiusses und 6 Mitglieder der Kontrollkommission) sogenannte „geborene" Mandate hatten. Zum Abstimmungsverhalten der Delegierten und der Instanzenvertreter vgl. senkampf, 112

Zum Kampf Brünings und zu seinem Bruch mit dem Reichstag sowie zur An-

alyse des Wahlergebnisses vom 14. September 1930 vgl. K. D . Bracher, Die der Weimarer 113

Klas-

3. Jg. (1929), S. 366.

Republik

...,

Zur Tolerierungspolitik der SPD vgl. a.a.O.,

Sozialdemokratische

Auflösung

S. 335—340 u. 3 6 4 — 3 7 0 .

Partei Deutschlands,

S. 370 ff.; Erich Matthias,

in: Das Ende

der Parteien

1933

(=

Die Ver-

öffentlichung der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien),

hrsg. von Erich Matthias u. Rudolf Morsey, Düsseldorf

1960,

S. 103 ff. 114

Vgl. H . Drechsler, Die Sozialistische Arbeiterpartei

Deutschlands

. . . , S. 5 6 — 6 3 .

Hier macht sich das Fehlen Paul Levis, der am 9. Februar 1930 im Fieberwahn aus dem Fenster seines im 5. Stockwerk gelegenen Krankenzimmers gestürzt war (vgl. Sozialdemokratische

Parteikorrespondenz,

Jg. 1930,

S. 191),

besonders

bemerkbar. Die Linke hatte mit ihm ihren überragenden Führer verloren.

deutlich

Auseinandersetzungen

und Stellung in der Partei (1918—1932)

135

Mal neun Abgeordnete des linken Flügels die Fraktionsdisziplin. Der Anlaß war die Abstimmung über den im Reichstag zur Diskussion stehenden Haushaltsplan, der im Etat des Verteidigungsministeriums die vierte Rate für den Bau des Panzerkreuzers Α und die erste Rate für den Bau des Panzerschiffes Β vorsah. Die SPD, die keineswegs ein prinzipieller Gegner dieser Ersatzbauten war, nahm Anstoß daran, daß gerade die Etats der Reichswehr und der Reichsmarine von Kürzungen verschont geblieben waren, während an allen anderen Etatposten Streichungen vorgenommen werden sollten. D a die langwierigen Verhandlungen zwischen der Regierung und dem Fraktionsvorstand der S P D zu keinem Ergebnis führten und Brüning sowie Groener aus der Bewilligung des Panzerkreuzers Β eine Kabinettsfrage machten, hing das weitere Schicksal der Regierung von der Haltung der S P D ab. Seit dem Auszug der 151 N S D A P - und DNVP-Abgeordneten aus dem Reichstag verfügten S P D und K P D mit zusammen 220 von 357 Sitzen über eine Mehrheit im Reichstag. Um den Sturz der Regierung Brüning zu verhindern, besdiloß die SPD-Reichstagsfraktion am 18. März, sich bei der Abstimmung über die Bewilligung der ersten Rate für den Bau des Panzerkreuzers Β der Stimme zu enthalten.115 Trotz dieser Entscheidung stimmten am 20. März neun Abgeordnete des linken Flügels der Partei gegen die Bewilligung der Gelder für den Bau des Panzerkreuzers Β.11β Otto Wels begründete als Sprecher der SPD-Fraktion die Stimmenthaltung seiner Partei damit, daß eine Ablehnung der ersten Rate für den Bau des Panzerkreuzers Β durch die Sozialdemokratie nur zur triumphierenden Rückkehr der Faschisten in den Reichstag, zu ihrem ungehinderten scheinlegalen Marsch zur Macht und zur faschistischen Diktatur geführt hätte. Die gesamte politische Arbeit der SPD in den Parlamenten und draußen im Lande sei jedoch auf die Verhinderung H. Drechsler, Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands . . S . 62 f.; Sozialdemokratische Parteikorrespondenz, Jg. 1931, S. 246 ff. Über den Auszug der NSDAP und DNVP aus dem Reichstag vgl. K. D. Bradier, Die Auflösung der Weimarer Republik ..., S. 387. 115

»« Vgl. Klassenkampf, 5. Jg. (1931), S. 194 (Kurt Rosenfeld: Das Nein der Neun); Jahrbuch der SPD 1931, Berlin o. J. (1932), S. 14. Mit Nein stimmten: Graf, Kuhnt, Oettinghaus, Portune, Rosenfeld, Seydewitz, Siemsen, Ströbel und Ziegler. Achtzehn weitere Abgeordnete blieben der Abstimmung fern (ebda.) Zu der theoretischen Diskussion innerhalb der Linken über den Bruch der Fraktionsdisziplin vgl. Anna Siemsen, Parteidisziplin und sozialistische Überzeugung, Berlin 1931, und Bernhard Düwell, Einheit der Aktion und Parteidisziplin ( = Sozialistische Zeitfragen), Berlin 1931.

II. Parteiführer

136

in der Weimarer Republik

(1918—1933)

des Faschismus gerichtet. Jetzt hätten sich die deutschen Faschisten erhofft, die Sozialdemokratie werde ihnen durch ihre Ablehnung helfen, die Reichstagsarbeit lahmzulegen, eine neue Krise hervorzurufen und ihnen auf diese Weise den Weg zur Macht zu ebnen. Diese Hoffnung werde die Sozialdemokratie durch ihre Stimmenthaltung durchkreuzen. Es gehe jetzt nicht um Einzelfragen, sondern darum, das deutsche Proletariat vor dem furchtbaren Schicksal der italienischen Arbeiterklasse, vor der faschistischen Diktatur zu bewahren.117 Auch in der dritten Lesung des Wehretats am 25. März 1931 stimmten die neun Abgeordneten des linken Flügels gegen ihre Fraktion.118 Auf dem vom 31. Mai bis 5. Juni 1931 in Leipzig stattfindenden Parteitag der SPD saß die Linke wegen des Disziplinbruchs gleichsam auf der Anklagebank.119 Der Parteiführung gelang es, das Problem des Bruchs der Fraktionsdisziplin in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung zu rücken und einer eindeutigen politischen Entscheidung über die Fortsetzung der Tolerierungspolitik auszuweichen.120 Die Linke hatte sich damit in eine außerordentlich ungünstige Position manövriert und einen Teil ihrer sonstigen Bundesgenossen verloren." 1 Schon auf der Eröffnungssitzung des Parteitags wurde deutlich, wie sehr sich die Haltung der Parteiführung versteift hatte. Auf die Anträge der Linken, zum Bericht der Reichstagsfraktion und zu dem Referat Tarnows über „Kapitalistische Wirtschaftsanarchie und Arbeiterklasse" Korreferenten zuzulassen, antwortete Otto Wels: „Wir haben eine große Reihe von Fragen, über die wir verschiedener Meinung sind. Idi verwahre mich dagegen, daß Parteigenossen, die in einer bestimmten Frage gegen den Beschluß der Fraktion gehandelt haben, ein besonderes Rederecht für sich in der Partei beanspruchen könnten . . . Ich kenne in der Partei keine Rechte und Linke und kann Referate für rechts und links nicht einräumen. Falls dieses Axiom wieder geprägt werden sollte, werde ich dem schärfstens entgegentreten." 1 " 117

Reichstagsprotokolle

...,

118

Sozialdemokratische

Parteikorrespondenz,

Bd. 445, S. 1800—1801. Jg. 1931, S. 247. Bereits nach dem

ersten Disziplinbruch vom 20. März hatte der Vorstand der SPD-Reidistagsfraktion das Verhalten der neun Fraktionsmitglieder scharf verurteilt und angekündigt, daß der nächste Parteitag sich mit diesem Fall beschäftigen werde 119

H . Drechsler, Die Sozialistische Arbeiterpartei

120

Vgl. Parteitagsprotokoll

(ebda.).

Deutschlands

...,

S. 65.

Leipzig 1931, S. 119 f. u. S. 124 ff.

121 Vgl. dazu die Reden Tony Senders und Franz Künstlers, a. a. O., S. 128 ff. u. S. 135. 121

Parteitagsprotokoll

Leipzig

1931,

S. 22 f. Wels war lediglich bereit, für

einen

Auseinandersetzungen

und Stellung in der Partei (1918—1932)

137

Uber den Antrag des Parteivorstands und des Parteiausschusses zur Disziplinfrage kam es zur einzigen namentlichen Abstimmung des Parteitags. Der Antrag mißbilligte das Verhalten der neun Abgeordneten bei der Abstimmung über die Bewilligung des Etatpostens f ü r den Bau des Panzerkreuzers Β und ermächtigte die Fraktion, vor Abstimmungen den Fraktionszwang zu beschließen. Ihm nicht zu folgen, sollte als parteischädigend gelten und konnte dem Organisationsstatut entsprechend auch mit Parteiaussdiluß geahndet werden. 183 Die Tolerierungspolitik begründete Wels in seinem Einleitungsreferat damit, daß Sozialismus nur möglich sei, wenn die Demokratie erhalten bleibe.124 Die Klassenkampf-Gruppe bezeichnete als die Hauptdifferenz zur Parteitagsmehrheit die unterschiedliche Beurteilung der Grenzen der Tolerierungspolitik. Seydewitz, ihr Hauptsprecher, hielt diese Grenze bei der Entscheidung über die Panzerkreuzerbauten bereits f ü r erreicht." 5 In ihrer Resolution, über die auf dem Parteitag nicht abgestimmt wurde, machte die Klassenkampf-Gruppe die Fortsetzung der Tolerierungspolitik von der künftigen Gestaltung der Sozialversicherung sowie des Lohn- und Preisniveaus abhängig.12® Der Linken gelang es jedoch nicht, den Parteitag zu einer eindeutigen Stellungnahme zu den bevorstehenden neuen Notverordnungen der Regierung Brüning zu zwingen. Sollmann meinte als Berichterstatter der Fraktion, daß diese sich die Freiheit ihres Handelns bewahren müsse, zumal die genauen Bestimmungen der Notverordnung noch nicht bekannt seien.127 Um trotzVertreter der Linken die Redezeit von zehn auf dreißig Minuten zu erhöhen (α. α. Ο., S. 21). 123

A.a.O., S. 288 u. S. 187. Die namentliche Abstimmung ergab 324 Ja- und 62 Neinstimmen. Acht Delegierte hatten an der Abstimmung nicht teilgenommen. 124 A. a. O., S. 14 und S. 19. Auf der gleichen Linie lagen auch die Parteitagsreferate von Sollmann und Breitscheid. D i e S P D habe nur die Wahl zwischen „einem schlechten Kabinett Brüning und einer offenen und tausendfach schlechteren faschistischen Diktatur" (a.a.O., S. 115). Breitscheid wies darauf hin, daß die Partei die Verletzung der demokratischen Form nur dulde, um den demokratischen Inhalt der Verfassung zu retten (α. α. Ο., S. 103). 125 Α. a. Ο., S. 126. 126 Die Resolution ist abgedruckt in: Das Ergebnis des Leipziger Parteitages. Der Standpunkt der Opposition, Sonderheft 3 des Klassenkampf, Berlin o. J. (1931), S. 8 f. Durch Annahme einer Resolution Künstler/Aufhäuser wurde die Resolution der Klassenkampf-Gruppe als erledigt erklärt. 127 Parteitagsprotokoll Leipzig witz' dazu (a. a. O., S. 127).

1931, S. 121; siehe auch die Stellungnahme Seyde-

138

IL Parteiführer in der Weimarer Republik

(1918—1933)

dem über die Notverordnungen diskutieren und eine Entscheidung treffen zu können, beantragte Oettinghaus als Vertreter der Linken am Schluß der Debatte über den Fraktionsberidit Sollmanns, Schlußworte und Abstimmungen so lange zurückzustellen, bis die Notverordnung vorliege, und den Parteitag — wenn nötig — länger tagen zu lassen, damit er als letzte Instanz der Partei entscheiden könne, ob die von Sollmann und anderen genannte Grenze der Tolerierungspolitik erreicht sei.128 Nachdem dieser Antrag mit erdrückender Mehrheit abgelehnt worden war, brachte die Linke am letzten Tag den Antrag Rosenfeld-Seydewitz ein, der vorsah, durch Beschluß des Parteitags den Parteivorstand zu beauftragen, sofort die notwendigen Schritte gegen die neue Notverordnung einzuleiten.18" Otto Wels hielt diesen Antrag der Linken durch die bereits verabschiedete Resolution Künstler/Aufhäuser für erledigt und beantragte den Übergang zur Tagesordnung. Er warf den Antragstellern vor, sie wollten vor ihren eigenen Anhängern im Land nur demonstrieren, daß sie es gewesen seien, die den Parteitag erst zu energischen Maßnahmen hätten vorantreiben müssen.1*0 Nach einem leidenschaftlichen Appell Aufhäusers an die Linke, ihren Antrag zurückzuziehen, wurde die Resolution von Wels gegen fünf Stimmen angenommen.131 Damit hatte sich die Parteiführung in der Tolerierungsdebatte auf der ganzen Linie durchgesetzt und die Linke niedergekämpft. Das Parteitagsreferat Tarnows über „Kapitalistische Wirtschaftsanarchie und Arbeiterklasse" und die anschließende Diskussion zeigten, daß das Konzept der sozialdemokratischen Tolerierungspolitik auf dem Glauben an eine baldige Genesung der Wirtschaft und damit an eine Wiederherstellung verfassungsmäßiger Zustände basierte.132 Die Linke hielt dagegen eine ökonomische Stabilisierung im Rahmen der kapitalistischen Ordnung nur auf Kosten der Arbeiterklasse für möglich. Da diese Rettung des Kapitalismus durch Abbau der Sozialleistungen etc. auf demokratischem Wege nicht zu erreichen sei, müsse der auch hinter der Regierung Brüning stehende Großgrundbesitz mit Hilfe des Faschismus die Diktatur aufrichten. Die Politik der Tole128

A. a. O., S. 168. Das Ergebnis des Parteitages . . i n : Sonderheft 3 des Klassenkampf ..., S. 7. 130 Parteitagsprotokoll Leipzig 1931, S. 273. 131 A. a. O., S. 275. 13i Vgl. dazu das Referat Tarnows, a. a. O., S. 32—52. Siehe audi Erich Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands . . . , in: Das Ende der Parteien . . . , S. 112. 129

Auseinandersetzungen

und Stellung in der Partei (1918—1932)

139

rierung könne unter diesen Umständen nur dazu führen, daß die Begeisterung der Massen erlahme und diese, wenn es auf ihren Kampfgeist ankomme, durch Enttäuschungen zaghaft und gleichgültig geworden seien.133 Die Faschismus-Debatte des Parteitags zeigt, daß die Linke dem „reichlich illusionistischen Referat" Breitscheids134 über „Die Überwindung des Faschismus"135 keine annehmbare Konzeption entgegenzusetzen hatte. Eckstein stellte in völliger Verkennung und Verharmlosung des Faschismus sogar die Behauptung auf, die Regierung Brüning sei nur scheinbar demokratisch-parlamentarisch-legal, ihre Politik sei jedoch eine inhaltlich rein faschistische Politik. Von den Mitgliedern der Regierung seien zwei Drittel oder gar drei Viertel faschistisch.136 Die Linke warnte die Partei vor einer Überschätzung der faschistischen Gefahr, statt nachzuweisen, auf welche Weise die Tolerierung Brünings dem Faschismus zugute komme. „Die Tolerierungspolitik machte sie völlig blind für die Erkenntnis des Wesens der faschistischen Bewegung und damit unfähig, dem Parteitag eine vernünftige Alternative zum offiziellen politischen Kurs der SPD anzubieten."137 Wie die namentlidie Abstimmung über die Fraktionsdisziplin und das Ergebnis der Vorstandswahl beweisen, war der Einfluß der Linken im Vergleich zum Magdeburger Parteitag merklich zurückgegangen. Bei der Wahl der Vorsitzenden erhielt Seydewitz von 387 abgegebenen Stimmen lediglich 54, bei der Wahl der Sekretäre Oettinghaus 67, bei der Wahl der Beisitzer kamen auf Fleißner 99, August Siemsen 92, Böchel 80, Ströbel 69 und Rosenfeld 59 Stimmen.138 Der Leipziger Parteitag bedeutete für die Linke einen schweren Rückschlag, und nach dem Parteitag schrieb Friedridi Stampfer, indem er die Alternative hervorhob, vor der sie stand: „Seydewitz und seine Freunde stehen vor der Wahl, ob sie sich selber immer weiter an iss parteitagsprotokoll 1,4

Leipzig 1931, S. 125 (Max Seydewitz).

K. D . Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik . . S . 392, Anm. 115. Parteitagsprotokoll Leipzig 1931, S. 87—108. 138 Parteitagsprotokoll Leipzig 1931, S. 152. 137 H . Drechsler, Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands . . . , S. 74. 138 Parteitagsprotokoll Leipzig 1931, S. 242. Nach dem Parteitag warf die Plauener Volkszeitung Wels illoyale, unwürdige Geschäftsführung auf dem Parteitag vor. Das freie Wort (Nr. 24 vom 14. 6.1931, S. 29 f.) konterte mit der Bemerkung, jeder Mensch in der Partei wisse, daß Otto Wels einmal temperamentvoll dazwischenfahren könne, aber einer Illoyalität einfach nicht fähig sei. 135

140

II. Parteiführer

in der Weimarer Republik

(1918—1933)

die Peripherie der Partei und vielleicht am Ende aus ihr hinausmanövrieren oder ob sie in der Partei ihren Auffassungen Geltung verschaffen wollen... Die kleine Gruppe um Seydewitz ist weit hinter ihrer Zeit zurück, wenn sie glaubt, eine große Partei von heute könne sich noch den Luxus organisierter Richtungskämpfe leisten."159 Der offene Konflikt zwischen der Klassenkamp}-Gruppe und dem Parteivorstand entzündete sich nur wenige Wochen nach dem Leipziger Parteitag am Mahnruf an die Partei, den die Herausgeber des Klassenkampf im ersten Juli-Heft veröffentlichten, als sich nach dem Beschluß der SPD-Reichstagsfraktion vom 16. Juni herausgestellt hatte, daß die Partei weder die Einberufung des Reichstags nodi des Hauptausschusses zu fordern wagte, so daß die neue Notverordnung am 29. Juni unverändert in Kraft treten konnte.140 Seydewitz und seine Freunde verlangten: „Die Partei muß jetzt den Kampf um die Macht mit allen Mitteln unter den sozialistischen Losungen aufnehmen und den nach Hoffnung hungernden Massen den Sozialismus als einzig mögliche Rettung aus dieser Krise zeigen." Außerdem forderten sie, die Reichstagsfraktion der SPD solle ihren Beschluß vom 16. Juni korrigieren und auf alle Konsequenzen hin, also auch den Sturz Brünings, die unverzügliche Beseitigung dieser die Massen belastenden Notverordnung verlangen. Parteimitglieder, die diesen Aufruf unterstützen wollten, wurden um Zustimmungserklärungen ersucht.141 Wels wurde durdi den „Mahnruf" der Seydewitz-Gruppe an die Vorwärts,

N r . 259 vom 6. 6. 1931, S. 1 f.: Der

gute Parteitag.

Vgl. zum P a r -

teitag ferner a. a. O., N r . 2 6 3 vom 9. 6 . 1 9 3 1 , S. 2 : Was sagt die Parteipresse? zum

Parteitag;

Parteitag

a.a.O.,

im Spiegel

Reichspolitik

N r . 262 vom 8 . 6 . 1 9 3 1 , S. 3 : Stimmen der Presse; a.a.O.,

u. Verschärße

S. 1 f.: Taktik

und Disziplin.

Stimmen

Leipzig.

Der

Nr. 255 vom 4 . 6 . 1 9 3 1 , S. 1 : Partei

und

Fraktionsdisziplin;

a.a.O.,

über

N r . 253

vom

3.6.1931,

Den Bericht des Parteivorstandes auf dem Leipziger

Parteitag gab Max Westphal, der fast ein Drittel seines Berichtes einer Kritik der linksoppositionellen

Publikationen

widmete (Parteitagsprotokoll Leipzig

1931,

S.

231—242). 140

Brüning hatte am 15. 6 . 1 9 3 1 in einer Besprechung mit Vertretern der S P D -

Reichstagsfraktion auf die Bitte der SPD nach Einberufung des Hauptausschusses mit seinem Rücktritt gedroht (Niederschrift über eine Parteiführerbesprechung am Montag, dem 15. Juni 1931, nachm. 4 Uhr in der Reichskanzlei, zit. nach E. Matthias, Die Sozialdemokratische

Partei Deutschlands.

. ., in: Das Ende

der Parteien . . ., D o -

kument 4, S. 2 1 1 — 2 1 3 ) . Zum „Mahnruf" an die Partei siehe Klassenkampf,

5. Jg.

(1931), S. 385 f. 141

Ebda.

Ober die Wirkungen des „Mahnrufes" siehe H . Drechsler, Die

listische Arbeiterpartei

Deutschlands ...,

S. 84 f.

Sozia-

Auseinandersetzungen

und Stellung in der Partei

(1918—1932)

141

Parteispaltung im Ersten Weltkrieg erinnert, die sich im Sommer 1915 mit dem von Bernstein, Kautsky und Haase erlassenen Aufruf „Das Gebot der Stunde" der Öffentlichkeit zuerst angekündigt hatte. Wels kam auf die Idee, von den beiden noch lebenden Unterzeichnern dieses Mahnrufs, Bernstein und Kautsky, einen Aufruf gegen die Spaltung der Partei verfassen zu lassen. Er nahm jedoch davon Abstand, weil keiner der beiden Alten in den Kreisen, auf die der Aufruf wirken sollte, noch nennenswerte politische Autorität besaß.142 Für Wels und die Parteiführung hatte die Linke mit dem „Mahnruf" den Boden einer innerparteilichen Opposition verlassen. Am 14. Juli 1931 befaßte sich der Parteiausschuß mit der Situation. Nach stundenlangen Diskussionen stellte er — bei zwei Gegenstimmen — in einem Beschluß fest, daß die „Marxistische Büchergemeinde" und eine besondere Referentenvermittlung innerhalb der Parteiorganisation als Ansätze einer Sonderorganisation neben der Partei zu betrachten seien. Die Aufforderung, Zustimmungserklärungen zu dem Mahnruf abzugeben, und die Sammlung von Unterschriften könnten nur den Zweck haben, Adressenmaterial zum weiteren Ausbau dieser Sonderorganisation zu sammeln. Ungeachtet dessen, ob die Urheber dieser Maßnahmen die Spaltung wollten oder nicht, bestehe die Gefahr, daß diese zur Spaltung der Partei führen. Jede Betätigung in diesem Sinne sei mit den Interessen der Partei unvereinbar und müsse als parteischädigend angesehen werden. Der Parteiausschuß verlange deshalb die Einstellung der Unterschriftensammlung sowie die Auflösung aller Sonderorganisationen und die Aufgabe von Bestrebungen zur Errichtung selbständiger Organisationsgebilde in und neben der Partei. 143 Während die Unterschriftensammlungen sofort eingestellt wurden, ignorierte die Seydewitz-Gruppe die Aufforderung des Parteivorstands, die „Marxistische Büchergemeinde" als eine Sonderorganisation aufzulösen. Am 7. Juli 1931 war von ihr zudem die „Freie Verlagsgesellschaft m b H " gegründet worden, die die Nachfolge der „Mar142

W . Blumenberg, Kämpfer

für

die Freiheit...,

S. 1 3 5 ; Nadilaß Paul Hertz,

Brief Paul Hertz' vom 13. 7. 1931 an Luise Kautsky, unveröffentlicht, IISG-Amsterdam; Brief Luise Kautskys vom 9. 7. 31 an Paul Hertz, ebda.

Auch Karl Kautsky

hatte für diesen Aufruf nichts übrig und war der Meinung, „es hieße, mit Kanonen nadi Spatzen schießen" (ebda.).

Siehe audi Brief Wels' vom 1 0 . 7 . 1 9 3 1 an Eduard

Bernstein, Nadilaß Bernstein, unveröffentlicht, IISG-Amsterdam. 143

Vorwärts,

N r . 325 vom 1 5 . 7 . 1 9 3 1 , S. 2 : Einheit

sche Parteikorrespondenz,

der Partei;

Sozialdemokrati-

Jg. 1931, S. 516. An der Sitzung nahmen neben Seyde-

witz auch Rosenfeld und Ströbel teil ( G e g e n die Parteispaltung, der SPD, Berlin o. J . [ 1 9 3 1 ] , S. 5).

hrsg. vom Vorstand

142

II. Parteiführer

in der Weimarer Republik

(1918—1933)

xistischen Verlagsgesellschaft mbH" antreten sollte. In diesem Verlag wurden neben den Roten Büchern der Marxistischen Büchergemeinde die neue Wochenzeitung SWZ Die Fackel. Sozialistische Wochenzeitung. Gegen Nationalismus und Kulturreaktion herausgebracht.144 Der Parteivorstand erhielt von dieser neuen Aktion der SeydewitzGruppe erst mit dem Ersdieinen der ersten Nummer der Fackel am 4. September Nachricht145 und berief daraufhin für den 22. September eine neue Sitzung des Parteiausschusses ein. In seinem Referat vor dem Parteiausschuß verwies Wels auf die schwierige innen- und außenpolitische Lage, die die Einheit der Arbeiterklasse doppelt notwendig mache. Um so verwerflicher seien die Versuche, die Partei zu spalten. Dem Parteivorstand würden bereits Vorwürfe gemacht, daß er zu nachsichtig sei. Die Hoffnung, daß Ermahnungen helfen würden, habe getrogen. Wels erinnerte dann an den Beschluß des Heidelberger Parteitags von 1925, der aufgrund des Antrages 96 der Zwickauer Bezirksorganisation 14 ' beschlossen hatte, daß Sonderkonferenzen und Sonderveranstaltungen verboten seien. Dieses Verbot sei durch die Gründung und das Programm der Fackel notwendig geworden. Wels verwies dann auf die Werbung von Betriebsvertrauensleuten für die Fackel und die „Marxistische Büchergemeinde". Außerdem habe ein Angestellter der Arbeiterjugend das Adressenmaterial der Arbeiterjugend abgeschrieben und der „Freien Verlagsgesellschaft" geliefert. Das sei Verleitung von Parteiangestellten zur Untreue.147 Der Provinzparteipresse würden zudem von der Fackel Abonnenten abgeworben. An Seydewitz persönlich richtete Wels die Frage, wo er eigentlich seinen Wohnsitz habe, in Zwickau oder in Berlin? Er sei Redakteur und Bezirksvorsitzender in Zwickau, sei jedoch fast immer auf Reisen und meistens in Berlin. Anstatt Front gegen die Feinde der Partei zu machen, sei die innerparteiliche Opposition der Wandschirm für Zellenbildung in der Partei. Auch der Klassenkampf sei überwiegend auf Kritik an der Partei eingestellt.148 Nach einer lebhaften 144

Jahrbuch der SPD 1931..., S. 107; Gegen die Parteispaltung .. ., S. 5 u. 25. Ebda. 146 Vorsitzender der Zwickauer Bezirksorganisation war seinerzeit Max Seydewitz. Vgl. H . Drechsler, Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands..., S. 89, Anm. 143. 147 Erich Gau, den Wels hier meinte, bestritt ebenso wie Seydewitz diesen Vorwurf energisch (α. α. Ο., S. 92, Anm. 154). 148 Vgl. handschriftliche Notizen Graßmanns von der PA-Sitzung vom 22. 9. 1931, unveröffentlicht, ADGB-Restakten, N B 460, August-Bebel-Archiv beim SPD-Landesvorstand Berlin. Wels führte in seinem Referat außerdem Beispiele für die national145

Auseinandersetzungen

und Stellung in der Partei

(1918—1932)

143

Diskussion stellte der Parteiausschuß nach dem Referat von Wels in einer Entschließung fest, daß die kritisierten Handlungen der Seydewitz-Gruppe ein schwerer Verstoß gegen den Antrag 96 des Heidelberger Parteitages sowie den als letzte Mahnung aufzufassenden Parteiausschuß-Beschluß vom 14. September 1931 seien. Der Parteiausschuß forderte den Parteivorstand auf, unverzüglich alle zur Erhaltung der Parteieinheit notwendigen Schritte zu unternehmen.149 In der Nr. 4 der Fackel erschien daraufhin eine Erklärung von Verlag und Redaktion, in der die Herausgabe der Roten Bücher und der Fackel mit dem Recht auf Meinungsfreiheit in der Partei verteidigt wurde.150 Otto Wels richtete daraufhin im Namen des Parteivorstandes am 25. September per Einschreiben an Seydewitz und Rosenfeld in gleichlautenden Briefen ein bis zum 28. September befristetes Ultimatum, in denen er ihnen die Frage vorlegte, ob sie bereit seien, sich dem Beschluß des Parteiausschusses zu fügen.151 Als Rosenfeld und Seydewitz mit Schreiben vom 26. September ablehnten,152 erfolgte am 29. September durch Wels im Namen des Parteivorstandes ihr Parteiausschluß.153 sozialistische und kommunistische Zersetzungsarbeit in der Partei an und verwies auf die Tätigkeit der „Deutschen Friedensgesellschaft", die am 26. 7. 1931 eine „Arbeitsgemeinschaft für linkssozialistisdie Politik" gegründet hatte und illegal durch die „Kampfgemeinschaft junger Pazifisten" in der SPD dafür werben ließ. Am 4. September 1931 hatte der Parteivorstand daraufhin die Mitgliedschaft in diesen Organisationen für unvereinbar mit der Mitgliedschaft in der SPD erklärt. 149 Sozialdemokratische Parteikorrespondenz, Jg. 1931, S. 662 ff.; Vorwärts, N r . 445 vom 23. 9.1931, S. 1 f. 150 Fackel vom 25. 9.1931. Die Erklärung war ferner von den SPD-Reidistagsabgeordneten Walter Oettinghaus (Westfalen), Andreas Portune (Frankfurt/Main), Dr. Kurt Rosenfeld, August Siemson (Jena), Max Seydewitz, Heinrich Ströbel, Hans Ziegler (Breslau), Paul Bergmann (Hamburg) unterzeichnet. 151 Sozialdemokratische Parteikorrespondenz, Jg. 1931, S. 668; Vorwärts, N r . 452 vom 26. 9.1931, S. 3: Um die Parteidisziplin. m Vgl. en Reichskanzlers.

Die Sozialdemokratie

in der Endphase der Weimarer

Republik

249

Papen nach den Reichstagswahlen wider Willen in Gegensatz zu den Nationalsozialisten geriet und von diesen schwer bedrängt wurde, beschloß der Vorstand der SPD-Reichstagsfraktion, die Einladung Papens an Wels und Breitscheid zu Gesprächen einfach zu ignorieren.547 Das Bündel von Anträgen, das die SPD nach den Juli-Wahlen von 1932 im Reichstag einbrachte, in denen unter anderem die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, des Bergbaus, der Eisenindustrie, der Großchemie und der Großbanken gefordert wurde,548 sowie die Ablehnung der Einladung Papens machen die Sterilität der sozialdemokratischen Politik völlig deutlich, die über kein Konzept verfügte, das ein wohlbedachtes taktisches Handeln mit einem festen strategischen Ziel in Einklang zu bringen erlaubt hätte.549 Dafür war Wels entscheidend mit verantwortlich. Schleidier Die Haltung der SPD zu Schleicher wird am deutlichsten in Wels' Neujahrsbetrachtung, in der er schrieb, das Fiasko des Papen-Regimes habe den Urheber dieser Regierung, den General der Infanterie von Schleidier, auf den Reichskanzlerstuhl gebracht. Mit Schleicher seien bis auf Herrn Gayl die alten Männer, die Freiherren und Barone, wiedergekehrt. Die Firma sei die alte geblieben, nur habe der Generaldirektor dieser Firma aus den Kulissen hervortreten und der Firma jetzt auch seinen Namen geben müssen. Die politisdien Methoden hätten sich unter Herrn Schleicher zwar geändert. Dieser operiere vorsichtiger und zurückhaltender. Die Sache sei jedoch die gleiche geblieben. Die Änderung der Taktik habe lediglich den Zweck, die geschlossene Front der Arbeiterbewegung, die gegen die Papenregierung bestanden habe, zu spalten. Dieses Ziel, Zentrum und christliche Gewerkschaften von den übrigen Organisationen der Arbeiterbewegung zu trennen, sei zweifellos erreicht worden. Während sich die Regierung Papen lediglich auf die Deutschnationalen habe stützen können, werde die Regierung Schleicher von Deutsdinationalen und Zentrum getragen. Die SPD stehe zur Regierung dieses Entdeckers 547 A. a. O., N r . 543 vom 18.11.1932, S. 1: Einmütig im Kampf; a. a. 0., Nr. 541 vom 16.11.1932, S. 1: Unsere Antwort an Papen („Herr von Papen ist für die Sozialdemokratie nicht verhandlungsfähig"). 548 E. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands . . . , in: Das Ende der Parteien . . ., S. 146. 549 So audi α. α. Ο., S. 146 f.

250

II- Parteiführer

in der Weimarer Republik

(1918—1933)

des Herrn von Papen und gegen den Urheber des Papen-Kurses in schärfster Opposition. 550 Als im Dezember 1932 in der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion über ein Mißtrauensvotum gegen Schleicher beraten wurde, stimmten zwanzig bis zweiundzwanzig Abgeordnete dagegen, und in der Diskussion verurteilten Severing, Hilferding, Peter Graßmann und Alfred Dobbert diesen Antrag als taktisch falsch. Nach der Abstimmungsniederlage dieser Fraktionsminderheit kommentierte Wels das Ergebnis gegenüber Dobbert schadenfroh und ironisch: „Na, da habt Ihr aber schön verloren." 551 Von der Mehrheit der Fraktion war Schleicher als der Freund des Kronprinzen bezeichnet worden; sie vermutete, er wolle in Deutschland wieder die Monarchie einführen.552 Wenn auch ein anderes Verhalten der SPD Schleicher wohl nicht vor seinem Sturz bewahrt hätte, so zeigte sich doch auch hier wieder der gleiche Mangel an Elastizität und politischer Phantasie wie nach den Juli-Wahlen von 1932 Papen gegenüber.553 Als Hitler am 30. Januar 1933 an die Macht kam, war Wels gerade zur Kur in Ascona. E r hatte im Januar wegen seines zu hohen Blutdrucks das Krankenhaus in Berlin-Lankwitz aufsuchen müssen und dort eine Bewußtseinsstörung erlitten, so daß befürchtet wurde, der für März 1933 in Frankfurt am Main vorgesehene Parteitag werde ohne ihn stattfinden müssen.554 Auf die Nachricht von Hitlers Berufung zum Reichskanzler kehrte er sofort nach Deutschland zurück. D a mit war das eingetreten, was Wels einst auf die Frage, was geschehen werde, wenn die Nationalsozialisten an die Macht kämen, mit den Worten umschrieben hatte: „Wenn der Himmel einstürzt, sind alle Spatzen tot." 555

550 Vorwärts, Nr. 1 vom 1. 1. 1933, S. 1: Neues Jahr — neuer Kampf! Eine Neujahrsbetrachtung. Vgl. audi a.a.O., Nr. 569 vom 3.12.1932, S. 1: Schleicher. Ein Charakterbild. Von Nicolo Μ und S. 1 f.: Papen erledigt, Schleicher — Der Kurs bleibt. Von Rudolf Breitsdieid. 551 Mündliche Auskunft Dobberts vom 5. 11.1963. Siehe auch Carl 75 Jahre. 1. Juni 1950, Bielefeld o. J. (1950), S. 24. 552

kommt Severing

Mündliche Auskunft Dobberts.

Vgl. audi Ε. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands..., Das Ende der Parteien . . S . 146, bes. Anm. 8; G. Noske, Erlebtes ..., S. 311. 553

in:

554 Briefe Paul Hertz' an Luise und Karl Kautsky vom 9. und 20.1. 1933, unveröffentlicht, IISG-Amsterdam.

*» Mündliche Auskunft von Walter Wels vom 19. 5.1963.

Die Partei nach Hitlers

Die Partei nach Hitlers

251

Machtergreifung

Machtergreifung

Widerstand nach dem 30. Januar 1933 — Abfall der Gewerkschaften Auf der gemeinsamen Sitzung von Parteivorstand, Parteiausschuß und Reichstagsfraktion der SPD mit der Reichskampfleitung der Eisernen Front am 31. Januar in Berlin äußerte Wels die Auffassung, falls die Reichstagswahlen vom 5. März zugunsten der Nationalsozialisten ausfallen, jedoch auch der SPD ein gutes Ergebnis bringen würden, müsse versucht werden, die politische Gesamtsituation auf außerparlamentarischem Wege durch einen Generalstreik zu ändern.556 Nach Aussage von Otto Buchwitz erklärte Wels: „Wir haben die ganze Nacht getagt mit den Genossen vom Reichsbanner und der Eisernen Front, es ist alles vorbereitet zum Handeln." 557 Da sich auch die anderen Spitzenfunktionäre in ähnlichem Sinne äußerten, mußten die regionalen Führer mit dem Eindruck in ihre Bezirke zurückfahren, die Führung sei fest zu einer zentralen Aktion entschlossen und warte nur auf den geeigneten Zeitpunkt.658 Auch das von Wels wenige Tage später auf der Bundesgeneralversammlung des Reichsbanners (17./18. Februar) zitierte alte deutsche Sprichwort „Lever düad — üs Slav!" 559 ließ nur den gleichen Schluß zu. Wie wenig es sich bei diesen Bekundungen des Widerstandswillens um leere Worte handelte, wird an einer Mission Hans Vogels deutlich, der im Januar und Februar im Auftrag Wels' durch Deutschland reiste, um die Gewerkschaften für einen Generalstreik zu gewinnen.560 Im Gegensatz zu Vogel, der als einziger auch im internen Kreise des Parteivorstands optimistisch äußerte: „Wenn wir auf den Knopf 556

Mündliche Auskunft Siegfried Aufhäusers vom 9. 3. 1962.

Otto Buchwitz, 50 Jahre Berlin (Ost) 1950, S. 142. 557

Funktionär

der deutschen Arbeiterbewegung,

Vgl. dazu E. Matthias, Die Sozialdemokratische Das Ende der Parteien . . . , S. 151 f. 558

558

Das Reichsbanner

Partei

2. Aufl.,

Deutschlands...,

in:

vom 25. 2.1933.

m» Mündliche Auskunft Wenzel Jaksdis vom 5.12.1962. Siehe auch Wenzel Jaksdi, Hans Vogel. Gedenkblätter ( = Die Fackelträger), hrsg. als Sondernummer des „Sozialdemokrat", Zeitschrift der Sudetendeutsdien Sozialdemokratie, London 1946, S. 14. Zu den sozialdemokratischen Widerstandsvorbereitungen auf lokaler Ebene siehe E. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands . . . , in: Das Ende der Parteien .. ., S. 152 f.

252

U. Parteiführer

in der Weimarer Republik

(1918—1933)

drücken, dann geht es los",591 war Wels wesentlich skeptischer.5"2 Als Hans Caspari im Februar 1933 noch vor dem Reichstagsbrand, der die psychologischen Voraussetzungen für eine außerparlamentarische Massenaktion gegen die Nationalsozialisten zunichte machte,565 im Auftrag eines ehemaligen, einflußreichen deutschnationalen Abgeordneten bei Otto Wels das Thema Generalstreik und die Haltung der Gewerkschaften dazu anschnitt, antwortete dieser einsilbig, von dieser Seite könne man nur noch wenig erwarten.564 Nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 und den Unterdrückungsmaßnahmen gegen die KPD legte Wels Leipart die Frage vor, ob man nicht, da sicher bald das Verbot von Partei und Gewerkschaften folgen werde, auf jede Gefahr, auch die einer sicheren Niederlage, Widerstand leisten solle. Leipart antwortete, ähnlich wie schon ein Jahr vorher am 20. Juli 1932, daß er es nicht über sich bringe, auf den Knopf zu drücken und das Signal zum Bürgerkrieg zu geben. Dies um so weniger, als ihm der Ausgang nicht zweifelhaft sei.505 Die Abwendung des ADGB von der SPD hatte sich schon Mitte Februar 1933 mit einem Vortrag Leiparts in der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin angekündigt;61" der Ausgang der Wahlen vom 5. März veranlaßte die Gewerkschaflszeitung zu dem Kommentar, daß die Gewerkschaften nach dieser „folgenschweren Ent561

Mündliche Auskunft Fritz Heines v o m 1. 10.1962. Heine kommentierte diese Äußerung Vogels mit der Bemerkung: „Vogel hat zwar noch auf den Knopf drücken können, doch der Draht fehlte." 592

Mündliche Auskünfte Ollenhauers v o m 27. 9 . 1 9 6 2 und Heines vom 1. 10.1962. E. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands..., in: Das Ende der Parteien . . S. 154. 564 Brief Hans Casparis vom 7. 3. 1963 an den Verfasser. 5,5 Aufzeichnungen von Wels v o m 16. 6.1933 (handschriftlich), aus dem Nachlaß Ollenhauers, Sammlung verschiedener Dokumente Wels', SPD-Parteiarchiv. Siehe oben, S. 179. Auch Oskar Hünlich erwähnt in seinem Brief vom 1.2. 1963 an den Verfasser die Diskussion um das Problem des bewaffneten Widerstandes nach dem 3 0 . 1 . 1 9 3 3 . Sie seien aus der Auffassung geboren gewesen, man dürfe nicht kampflos abtreten, auch wenn die gebrachten Opfer nutzlos seien. Wels bezeichnete die Situation nach der Weigerung Leiparts und dem Verhalten Höltermanns (siehe oben, S. 179) für den Parteivorstand als Zwangslage schlimmster Art. Allein habe der Parteivorstand nichts unternehmen können (Aufzeichnungen Wels' vom 1 6 . 6 . 1 9 3 3 ) . In einem Brief vom 5 . 1 0 . 1 9 6 2 an den Verfasser bestätigt auch Wilhelm Hoegner, daß Wels kämpfen wollte. Nach dem Versagen der Gewerkschaften sei dies jedoch nicht mehr möglich gewesen. see v g l Vorwärts, Nr. 77/78 v o m 1 5 . 2 . 1 9 3 3 ; Tägliche Rundschau, Nr. 41 vom 17. 2. 1933; L. Frey, Deutschland ...,S. 111/22. 5es

Die Partei nach Hitlers

Madotergreijung

253

Scheidung" noch mehr als bisher allein „auf ihre eigene Kraft" angewiesen seien.567 Den entscheidenden Schritt vollzog jedoch der ADGBBundesvorstand mit seiner Erklärung vom 20. März 1933, deren Kernsatz lautete, daß die sozialen Aufgaben der Gewerkschaften erfüllt werden müßten, gleichgültig welcher Art das Staatsregime sei.568 Mit dieser Erklärung distanzierte sich der Bundesvorstand offen von der SPD, und als Leipart am 21. März Hitler diese Erklärung zuleitete, kam das einer Loyalitätserklärung f ü r das Regime und einer völligen Kapitulation gleich.5"9 Der nächste Schritt der gewerkschaftlichen Anbiederungspolitik, dem sich nur der AFA-Bund unter Siegfried Aufhäuser widersetzte, war der Beschluß des ADGB-Bundesvorstandes vom 19. April 1933, an den Maifeiern des Regimes teilzunehmen, und ein entsprechender Aufruf an die Mitgliederschaft.570 Als Wels davon erfuhr, suchte er Leipart auf und bemühte sich, ihn umzustimmen. Dabei bezeichnete er die Beteiligung der Gewerkschaften an der Maifeier des Regimes als moralischen Zusammenbruch und schwerste Schädigung der Gewerkschaften. Dieses Opfer sei außerdem ganz umsonst. „Lasse doch lieber das Hakenkreuz mit Gewalt auf die Dächer setzen, ehe Du freiwillig die schwarz-weiß-rote Fahne hißt." 571 Leipart, der gebrochen war und der immer noch hoffte, Hitler werde einen Kommissar ernennen, mit dem die Gewerkschaften sich arrangieren könnten, antwortete Wels, er sehe die Dinge ebenso schwarz wie dieser, etwas anderes sei jedoch nicht mehr möglich.572 Wels distanzierte sich daraufhin auf der Reichskonferenz der Partei am 26. April offiziell mit aller Deutlichkeit von dieser Kapitulationspolitik der Gewerkschaften.57® Wie recht die Partei und Wels in dieser Frage hatten, zeigte sich bereits am 2. Mai, als die Gewerkschafts567

Zitiert nach E. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands..., in: Das Ende der Parteien . . . , S. 177. 588 Gewerkschaflszeitung vom 25. 3.1933, S. 177. 5,9 So audi Ε. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ..., in: Das Ende der Parteien .. ., S. 177 f. 570

A. a. O., S. 179. Aufzeichnung Wels' vom 16. 6.1933. 572 Ebda. t7s Vgl. Die Sozialdemokratische Partei und Hitler. Der Weg in die Illegalität, S. 13, unveröffentlicht, Emigrationsakten der SPD, SPD-Parteiarchiv, Bonn. Es handelt sich hier offensichtlich um eine 1934 für die Internationale in der Emigration verfaßte Denkschrift, deren Verfasser unter den jungen Leuten der Sopade zu suchen sein dürfte. 571

254

II- Parteiführer

in der Weimarer Republik

(1918—1933)

häuser besetzt und die gewerkschaftlichen Spitzenfunktionäre verhaftet wurden.574 Die Reichstagswahl vom 5. März 1933 und das Nein zum Ermächtigungsgesetz Bereits in den ersten Wochen nach der nationalsozialistischen Machtergreifung wurden die Machtmittel des Staates in zunehmendem Maße in den Dienst der nationalsozialistischen Propaganda und ihres Terrors gestellt.575 Die in den ersten Februartagen einsetzenden Zei574 E. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands..in: Das Ende der Parteien..., S. 180. Zum Problem Partei und Gewerkschaften in der Periode der Weimarer Republik vgl. Rolf Thieringer, Das Verhältnis der deutschen Gewerkschaften zu Staat und politischen Parteien in der Weimarer Republik 1919 bis 1933. Die ideologischen Verschiedenheiten und taktischen Gemeinsamkeiten der Richtungsgewerkschaften [Maschinenschrift], Phil. Diss., Tübingen 1954; Ursula Hüllbüsch, Gewerkschaften und Staat. Ein Beitrag zur Geschichte der Gewerkschaften zu Anfang und zu Ende der 'Weimarer Republik [Maschinenschrift], Phil. Diss., Heidelberg 1961. Für die letzte Phase der Geschichte der Freien Gewerkschaften nach dem 30.1. 1933 sind neben den Arbeiten von Thieringer und Hüllbüsch Hans Gerd Schumann, Nationalsozialismus und Gewerkschaftsbewegung. Die Vernichtung der deutschen Gewerkschaften und der Aufbau der Deutschen Arbeitsfront (= Schriftenreihe des Instituts für wissenschaftliche Politik in Marburg/Lahn, Nr. 6), Hannover—Frankfurt/Main 1958, S. 53 ff., sowie Wolfgang Hirsch-Weber, Gewerkschaften in der Politik. Von der Massenstreikdebatte zum Kampf um das Mitbestimmungsrecht { = Schriften des Instituts für politische Wissenschaft, Bd. 13), Köln—Opladen 1959, S. 38 f., und E. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands..., in: Das Ende der Parteien . .., S. 175—180, hinzuzuziehen.

Die SPD hatte ihre eindeutige Führungsstellung gegenüber den Freien Gewerkschaften schon in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg verloren. Wie empfindlich die Freien Gewerksdiaften auf eine angebliche Beeinträchtigung ihrer Rechte reagierten, geht aus einem Brief Leiparts vom 12. 9. 1925 an Hermann Müller hervor, in dem Leipart sich gegen gewisse Formulierungen im Programmentwurf des Heidelberger Parteiprogramms wandte. „Der Anspruch der Sozialdemokratischen Partei auf die ,geistige Führung' der Gewerkschaften kann genau so wenig anerkannt werden wie der Führungsanspruch der kommunistischen Internationale, die seit Jahren vergeblich bestrebt ist, den Gewerksdiaften ihre Ziele und ihre Taktik aufzuzwingen" (ADGB-Restakten, August-Bebel-Archiv beim SPD-Landesvorstand Berlin). Zur Haltung von Wels zu den Gewerkschaften vgl. seine beiden Artikel im Vorwärts, Nr. 15 vom 2. 9.1928, S. 1: Dem Parlament der Arbeit! Partei und Gewerkschaft; a.a.O., Nr. 405 vom 30. 8. 1931, S. 1: Zum Gewerkschaftskongreß. Glückauf in Frankfurt! 5 7 5 E. Matthias, Die Sozialdemokratische der Parteien ..., S. 153.

Partei

Deutschlands...,

in: Das

Ende

Die Partei nach Hitlers

Machtergreifung

255

tungsverbote576 hatten nicht nur zum Ziel, die sozialdemokratische Presse im Wahlkampf auszuschalten, sondern sie audi wirtschaftlich zu ruinieren. Die SPD-Parteipresse war durch die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise bereits in erhebliche Schwierigkeiten geraten, und die Zeitungsverbote mußten ihre finanziellen Schwierigkeiten noch verschärfen.577 Hinzu trat in der zweiten Hälfte des Februar eine immer stärkere Behinderung der Versammlungstätigkeit durch Verbotsmaßnahmen und terroristische Eingriffe, die durch Görings Verordnungen sanktioniert wurden.578 Nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar und der Notverordnung zum Schutz von Staat und Volk vom 28. Februar579 wurde eine Woche vor der Reichstagswahl vom 5. März praktisch die gesamte Presse- und Versammlungstätigkeit der politischen Linken unterbunden und eine große Zahl von Angehörigen der Führungs- und Funktionärsschicht der SPD verhaftet, verfolgt oder diffamiert.580 Wels war es bereits seit dem 20. Februar nicht mehr möglich, sich in seinem Haus in Friedrichshagen aufzuhalten, so daß er seine Frau nach Dresden schickte, während er selbst in Berlin blieb. Am 3. März brachten der Angriff und die Nachtausgabe die Meldung, daß Wels und Stampfer gesucht würden. Crummenerl und Litke rieten Wels daraufhin zur schnellsten Abreise und brachten ihn zunächst mit dem Wagen nach Leipzig, von wo er dann mit dem Zug nach München weiterreiste. Dort veranlaßte ihn Wilhelm Hoegner, nach Salzburg zu gehen, wo er bis zum 7. März blieb, um dann auf Verlangen des Berliner Bezirksvorstands nach Deutschland zurückzukehren.581 Trotz des Terrors und selbst einiger greifbarer Wahlfälschungen gelang es den Nationalsozialisten nicht, eine Mehrheit der aufgepeitschten und zu höchster Wahlbeteiligung mobilisierten Bevölkerung zu gewinnen. Mehr als 56 % der Wähler stimmten gegen die Allein-

57β

K. Koszyk, Zwischen Kaiserreich und Diktatur . . S . 211 ff. Die Sozialdemokratische Partei und Hitler..., S. 4. 678 E. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands..in: Das Ende der Parteien . . S . 153. 578 Vgl. dazu Karl Dietrich Bracher / Wolfgang Sauer / Gerhard Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933134 ( = Schriften des Instituts für Politische Wis580 senschaft, Bd. 14), Köln—Opladen 1960, S. »2 ff. A. a. O., S. 92. 881 Aufzeichnung Wels* vom 16.6.1933; Wilhelm Hoegner, Die verratene Republik. Geschichte der deutschen Gegenrevolution, München 1958, S. 82—84. Der kurze Auslandsaufenthalt von Wels vom 3. bis 7. März 1933 wurde von seinen 577

256

II- Parteiführer

in der Weimarer Republik

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herrschaft der siegestrunkenen NSDAP. 582 7,18 Millionen Wähler (18,3 %) gaben der SPD ihre Stimme, und gegenüber dem Wahlergebnis vom November 1932 verlor die SPD nur 66 000 Stimmen.583 Die Anhängerschaft hatte ihr nahezu geschlossen die Treue gehalten. So konnte Friedrich Stampfer in einem für die Parteimitglieder bestimmten Flugblatt vom 6. März mit Recht von einem „Ruhmestag der Partei" sprechen.584 In einem Aufruf des Parteivorstands vom 6. März wurde als das Ziel der Partei „die Wiedereroberung der Bewegungsfreiheit der Arbeiterschaft" proklamiert und gleichzeitig an das Wahlprüfungsgericht appelliert, das zu entscheiden haben werde, ob die Bedingungen der Wahlfreiheit erfüllt gewesen seien.585 Wie wenig die Nationalsozialisten bereit waren, sich an die von der SPD in ihren offiziellen Äußerungen nach der Reichstagswahl vom 5. März beschworene Rechtsstaatlichkeit und die Verfassung586 zu halten, wurde bei der Gleichschaltung der nicht nationalsozialistisch beherrschten Länder587 und der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes deutlich.588 Daß es sich bei der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes keinesfalls um einen „legalen" Gesetzgebungsakt handelte, madite die Ausschaltung der KPD-Abgeordneten und eines Teils der SPD-Parlamentarier soinnerparteilichen Gegnern in der Emigration und nach dem Zusammenbrach benutzt, um Wels Feigheit zu unterstellen. Buchwitz {50 Jahre Funktionär..., S. 169) berichtet von einem Gespräch zwischen ihm und Sdieidemann in der Emigration in Kopenhagen, in dem Scheidemann „mit einer gewissen Verächtlichkeit" erzählte, Wels und andere Mitglieder des Parteivorstands hätten sich bereits vor den Wahlen vom 5. März ins Ausland abgesetzt, und nur die energischen Vorstellungen des Berliner Bezirksvorstands hätten sie zur Rückkehr gezwungen. Noske {Erlebtes . . . , S. 315) berichtet sogar, Wels habe sich am 5. März unter einem anderen Namen in einem Sanatorium aufgehalten. Beide Behauptungen entsprechen nicht den Tatsachen (siehe auch unten, S. 257—273). 582 Bracher/Sauer/Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung . . S . 93. 885 Vgl. Alfred Milatz, Wähler und Wahlen in der Weimarer Republik ( = Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung, H . 66), Bonn 1965, S. 149 f.; Bracher/Sauer/Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung . . . , S. 93—133. 684 Flugblatt an die Mitglieder der Partei vom 6. 3.1933, Hannover 1933, und Friedrich Stampfer, Sie haben nicht kapituliert, Berlin o. J., S. 21 f. *** Internationale Information 1933/1 (11.3.1933), S. 112 f.; E. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands..., in: Das Ende der Parteien . . . , S. 165; Die Sozialdemokratische Partei und Hitler..., S. 5. 588 Internationale Information 1933/1 (11. 3. 1933), S. 112 f. 587 Bracher/Sauer/Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung . . S . 136 ff. 588 Zur Vorgeschichte und Bedeutung des Ermächtigungsgesetzes vgl. a. a. O., S. 152 bis 163.

Die Partei ηαώ Hitlers Machtergreifung

257

wie die Änderung der Geschäftsordnung noch vor der Sitzung vom 23. März deutlich, nach der für die Abgeordneten Anwesenheitszwang bestand und „als anwesend auch die unentschuldigt fehlenden Abgeordneten gelten sollten".589 Da der Begriff „unentschuldigt" der willkürlichen Auslegung des Reichstagspräsidenten Göring unterlag, konnte demnach selbst ein Rumpfparlament, nach Ausschluß der KPD und bei Fernbleiben von SPD und BVP, bindende Beschlüsse fassen. Es handelte sich bei dieser ebenfalls mit Zustimmung des Zentrums verabschiedeten Änderung der Geschäftsordnung um eine eindeutige Verletzung des Artikels 76 der Weimarer Verfassung.590 Der Reichstag war zum 21. März 1933 und die SPD-Reichstagsfraktion zum 20. März einberufen worden. Bereits auf ihrer ersten Sitzung beschloß die Fraktion, nicht an der Feier in Potsdam teilzunehmen und das Ermächtigungsgesetz abzulehnen.591 In der Fraktionsvorstandssitzung am Tage darauf in einem Nebenraum der Reichstagsruine mußte der Redner der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion bebestimmt werden, der Hitler in der Kroll-Oper entgegentreten sollte. Breitscheid hatte der Fraktion mitgeteilt, daß er krank sei und die Rede nicht halten könne. Daraufhin boten sich in der Fraktionsvorstandssitzung einige jüngere Abgeordnete, wie Kurt Schumacher, an, die Erklärung der Fraktion abzugeben. Der Fraktionsvorstand war damit einverstanden. Da erhob sich plötzlich Otto Wels und sagte: „Ich mache das."592 Da Wels gegen den Rat seiner Ärzte nach Hitlers Machtergreifung das Sanatorium verlassen hatte und nodi schwer krank war,598 wurde befürchtet, er könne bei der Rede einen Herzschlag erleiden. Der Fraktionsvorstand versuchte ihn deshalb umzustimmen. Aber Wels blieb unnachgiebig. Er antwortete: „Hier geht es um die Partei und die Ehre der Partei. Ihr könnt sagen, was Ihr wollt. — Ein anderer Redner kommt für die Partei nicht in Frage, und ich erfülle nur meine Pflicht, wenn ich Hitler die gebührende Antwort gebe."594 Wels hielt es für seine Pflicht als Parteivorsitzender, in die«o» A. a. O., S. 158. 5,0 A. a. O., S. 159. 591 Vgl. W. Hoegner, Die •verratene Republik ..., S. 91. Mündliche Auskunft Aufhäusers vom 9.3.1962. Schon vorher hatte der Parteivorstand den gleichen Beschluß gefaßt (vgl. Die Sozialdemokratische Partei und Hitler..S. 8). 592 Mündliche Auskunft Aufhäusers vom 9. 3.1962. 593 Siehe oben, S. 250, bes. Anm. 554 und außerdem die mündlichen Auskünfte Aufhäusers, Ollenhauers und Josef Felders. 594 Mündliche Auskunft Aufhäusers. Aufhäuser bezeichnete diese Diskussion als die ernsthafteste und ergreifendste, an der er je teilgenommen habe. 17

Adolph

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II- Parteiführer in der Weimarer Republik

(1918—1933)

ser Situation für die Partei zu sprechen. Auch in der Fraktionssitzung vom 23. März wurde die gleiche Frage mit derselben Begründung noch einmal angeschnitten wie auch schon im Fraktionsvorstand. Wieder stand Otto Wels auf und schnitt die Diskussion mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, ab. Er antwortete: „Genossen, ich und kein anderer wird diese Erklärung abgeben."595 Die Erklärung der Fraktion wurde in der Hauptsache von Stampfer, Heilmann, Schumacher und Wels ausgearbeitet.58® Eine zu scharfe Polemik gegen die Nationalsozialisten und Hitler mußte nach Auffassung des Fraktionsvorstandes und der Fraktion vermieden werden, um dem Gegner in der Reichstagssitzung keinen Vorwand zu liefern, Wels niederzubrüllen. Außerdem wollte die Partei die Erklärung ihrer Fraktion unbedingt in der Presse abgedruckt sehen, um der Parteimitgliederschaft, dem deutschen Volk und dem Ausland den ungebrochenen Widerstandswillen der deutschen Sozialdemokratie sichtbar zu machen.597 Schon aufgrund dieser taktischen Erwägungen konnte Wels keine seiner für ihn typischen Kampfreden halten. In den entscheidenden Fraktionssitzungen vor der Reichstagssitzung vom 23. März wurde von mehreren Abgeordneten die grundsätzliche Frage aufgeworfen, ob man überhaupt an der Sitzung teilnehmen oder sich bei Teilnahme nicht der Stimme enthalten solle.598 Die Fraktion lehnte diese Vorschläge jedoch mit überwältigender Mehrheit ab.5*9 Die Haltung der sozialdemokratischen Fraktion verdient um so größere Anerkennung, als sie unter stärksten Druck gesetzt worden war. Von ihren 120 Mitgliedern hatten sich einige besonders gefährdete Abgeordnete unter dem Terror der Nationalsozialisten zur Flucht ent595

Mündliche Auskunft Felders vom 9. 1.1963. Vgl. audi die ähnliche Darstellung bei F. Stampfer, Sie haben nicht kapituliert..., S. 25. Nach einem Gedenkartikel über Wels, dessen Verfasser -wohl Hans Vogel ist, soll Wels den ihn bedrängenden jungen Abgeordneten trocken und unfeierlich geantwortet haben: „Den Beschluß der Fraktion auszuführen, ist Sadie des Vorsitzenden!" (Brief Vogels vom 2. 2.1940 aus Paris an W. Sander, London, mit anliegendem maschinenschriftlichem Manuskript über Otto Wels, Emigrationsakten der SPD, SPD-Parteiarchiv, Bonn). 5M Mündliche Auskünfte Aufhäusers, Ollenhauers, Felders und Alfred Dobberts. Nach Aufhäuser wurde die Fraktionserklärung vor den Fraktionssitzungen am 22. und am Morgen des 23. März ausgearbeitet beziehungsweise nodi einmal überarbeitet, wobei an jeder Formulierung »gefeilt" worden sei. 5.7 Mündliche Auskünfte Aufhäusers und Felders. 5.8 Mündliche Auskunft Felders. Siehe auch W. Hoegner, Die verratene Republik . . . , S. 92; C. Severing, Mein Lebenswez ..., Bd. 2, S. 387. 5 " Mündliche Auskunft Felders. Siehe auch W. Hoegner, Die verratene Republik . . S . 92.

Die Partei nach Hitlers

Machtergreifung

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schließen müssen. Einige andere waren bereits verhaftet worden; den ehemaligen Reichsminister Wilhelm Sollmann hatte man so schwer mißhandelt, daß er im Krankenhaus lag. Noch auf dem Wege zur Reichstagssitzung waren Julius Leber und Carl Severing verhaftet worden, und nur Severing gelang es, noch vor Sitzungsschluß wieder freizukommen.600 Auch die „bürgerliche Mitte" hatte stärksten Druck auf die sozialdemokratische Reidistagsfraktion ausgeübt, entweder nicht an der Sitzung teilzunehmen oder sich der Stimme zu enthalten. Geflissentlich wurde das Gerücht verbreitet, die Sozialdemokraten würden bei einem ablehnendem Votum verhaftet und einem Revolutionstribunal überantwortet.®01 Noch in der Sitzungspause nach der Reichstagsrede Hitlers wurden Wels und die sozialdemokratische Fraktion vom Zentrumsabgeordneten Wilhelm Dessauer bestürmt, nicht an der Reichstagssitzung teilzunehmen oder wenigstens von einer Erklärung gegen das Ermächtigungsgesetz Abstand zu nehmen. Wels würde seine Rede wohl nicht lange überleben.60* Gegen Wels persönlich hatten die Nationalsozialisten Drohungen geäußert, und schon mehrere Tage vorher war er von Polizisten in den frühen Morgenstunden in seiner Wohnung gesucht worden. Außerdem wurde er von der SA verfolgt.60® Der Weg vom ausgebrannten Reichstag, wo sie ihre Fraktionssitzung abgehalten hatten, gestaltete sich für die SPD-Abgeordneten zu einem Spießrutenlaufen durch eine von der SA gebildete enge Gasse.604 Bis in den Reichstag reichte der Terror der Nationalsozialisten. „Die Versammlung... glich mehr einer der üblichen nazistischen Paradeveranstaltungen als der Sitzung einer gesetzgebenden Körperschaft. Fahnen über Fahnen, schwarzweißrote und Hakenkreuze, Uniformen über Uniformen im Saal, auf der Regierungsestrade, auf den Tribünen." eoo v g i . £ Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands..., in: Das Ende der Parteien..., S. 166. *M Internationale Information, 1933/1, S. 143 (Artikel von Stampfer); W. Hoegner, Die verratene Republik..., S. 92; E. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ..., in: Das Ende der Parteien ..., S. 167. 608 Internationale Information, 1933/1, S. 143. F. Stampfer, Sie haben nicht kapituliert . . S . 25; W. Jaksdi, Hans Vogel..S. 15; Brief Fritz Baades vom 6.10.1962 an den Verfasser. ,os Die Sozialdemokratische Partei und Hitler..., S. 8. Willy Sander (mündliche Auskunft) und Hans Caspari (Brief vom 3.10.1963) berichten, däß Wels die Rede in dem Bewußtsein gehalten habe, es sei seine letzte. Er habe vorher noch einen Absdiiedsbrief an seine Frau nadi Dresden geschrieben. 804 Mündliche Auskünfte Felders und Aufhäusers; F. Stampfer, Sie haben nicht kapituliert..., S. 23; W. Hoegner, Die verratene Republik ..., S. 92. 17»

260

II. Parteiführer in der Weimarer Republik

(1918—1933)

Kaum hatten die 94 sozialdemokratischen Abgeordneten ihre Plätze eingenommen, als sie auch schon von patrouillierenden SSMännern mit umgeschnallten Revolvern umgeben waren.605 Für die Stimmung und den Geist der Mehrheit des Hauses ist es bezeichnend, daß gleich zu Beginn der Sitzung ein sozialdemokratischer Antrag auf Freilassung der inhaftierten Abgeordneten mit den Stimmen des Zentrums abgewiesen wurde, so wie es der Berichterstatter des Geschäftsordnungsausschusses, der Nationalsozialist Stöhr, mit der höhnischen Bemerkung empfohlen hatte, es sei „unzweckmäßig, die Herren des Schutzes zu berauben, der ihnen durch die Verhängung der Haft zuteil geworden ist."60" Hitler begründete am frühen Nachmittag des 23. März das von NSDAP und DNVP eingebrachte Ermächtigungsgesetz.807 Von seiner Fraktion und vielen Zuschauem wurde er mit zahlreichen Heilrufen begrüßt, was die wirkungsvolle Atmosphäre einer Massenversammlung schuf.808 Nadi einer Unterbrechung der Sitzung für drei Stunden und ihrer Wiedereröffnung um 18.16 Uhr erhielt für die sozialdemokratische Fraktion Otto Wels das Wort. R. T. Clark schilderte die Situation, nachdem Göring Otto Wels das Wort erteilt hatte, folgendermaßen: „Für eine Sekunde verbreitete sich Totenschweigen im Hause, während von draußen die drohenden Sprechchöre der SA hereindrangen. Weiß bis an die Lippen, den Mund zusammengepreßt, mit harten Zügen, in sichtbarem Bewußtsein der Schwere, des Ernstes und der Gefahr des Augenblicks, bestieg Otto W e l s . . . langsam die Rednertribüne. Den Kopf leicht gesenkt, aber die stämmige Gestalt gestrafft, die Schultern hochgezogen, als ob er in ein Gewehrfeuer hineinschritte. "eo9 Wels begann mit einigen improvisierten Sätzen, in denen er einige besonders plumpe Lügen Hitlers zurückwies. Er erinnerte daran, 605

F.Stampfer, Sie haben nicht kapituliert..., S. 23; Fritz Baade (Brief an den Verfasser vom 6 . 1 0 . 1 9 6 2 ) schilderte seinen Eindruck bei Betreten des Sitzungssaales: „Als wir den Sitzungssaal . . . betraten, mußten wir den Eindruck bekommen, daß alles für unsere Ermordung vorbereitet war. Hinter unseren Sitzen stand eine dichte Kette von SS-Leuten, die mit Pistolen bewaffnet war." βοβ Reichstagsprotokolle, Bd. 457, S. 24; F.Stampfer, Sie haben nicht kapituliert ..., S. 24; E. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ..., in: Das Ende der Parteien . . S . 166. 807

Reichstagsprotokolle, Bd. 457, S. 25—37. Bracher/Sauer/Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung ..., S. 163. eo ' R. T. Clark, The Fall of the German Republic, London 1935, zitiert nach Neuer Vorwärts, Nr. 93 vom 24. 3.1935, Beilage. 608

Die Partei nach Hitlers

Machtergreifung

261

daß die SPD der außenpolitischen Forderung des Reichskanzlers nach einer Gleichberechtigung Deutschlands um so nachdrücklicher zustimmen könne, als sie sie schon von jeher grundsätzlich verfochten habe. Er selbst sei es gewesen, der als erster Deutscher vor einem internationalen Forum, der Berner Sozialistenkonferenz vom 3. Februar 1919, der Unwahrheit von der Schuld Deutschlands am Ausbruch des Ersten Weltkrieges entgegengetreten sei. Dann folgte die schriftlich formulierte Erklärung der Fraktion: „ N i e hat uns irgendein Grundsatz unserer Partei daran hindern können oder gehindert, die gerechten Forderungen der deutschen Nation gegenüber den anderen Völkern der Welt zu vertreten. (Bravo! bei den Sozialdemokraten.) Der Herr Reichskanzler hat auch vorgestern in Potsdam einen Satz gesprochen, den wir unterschreiben. Er lautet: ,Aus dem Aberwitz der Theorie von ewigen Siegern und Besiegten kam der Wahnwitz der Reparationen und in der Folge die Katastrophe der Weltwirtschaft/ Dieser Satz gilt für die Außenpolitik; für die Innenpolitik gilt er nicht minder (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Auch hier ist die Theorie von ewigen Siegern und Besiegten, wie der Herr Reichskanzler sagte, ein Aberwitz. Das Wort des Herrn Reichskanzlers erinnert uns aber auch an ein anderes, das am 23. Juli 1919 in der Nationalversammlung gesprochen wurde. Da wurde gesagt: ,Wir sind wehrlos, wehrlos ist aber nicht ehrlos. (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Gewiß, die Gegner wollen uns an die Ehre, daran ist kein Zweifel. Aber daß dieser Versuch der Ehrabschneidung einmal auf die Urheber selbst zurückfallen wird, da es nicht unsere Ehre ist, die bei dieser Welttragödie zugrunde geht, das ist unser Glaube bis zum letzten Atemzug.' (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten. — Zuruf von den N a tionalsozialisten: Wer hat das gesagt? — ) Das steht in einer Erklärung, die eine sozialdemokratisch geführte Regierung damals im Namen des deutschen Volkes vor der ganzen Welt abgegeben hat, vier Stunden, bevor der Waffenstillstand abgelaufen war, um den Weitervormarsch des Feinde zu verhindern. — Zu dem Aussprudi des Herrn Reichskanzlers bildet jene Erklärung eine wertvolle Ergänzung. Aus einem Gewaltfrieden kommt kein Segen; (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten) im Innern erst recht nicht. (Erneute Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Eine wirkliche Volksgemeinschaft läßt sich auf ihn nicht gründen. Ihre erste Voraussetzung ist gleiches Recht. Mag sich die Regierung gegen rohe Ausschreitungen der Polemik schützen, mag sie Aufforderungen zu Gewalttaten und Gewalttaten selbst mit

262

II- Parteiführer in der Weimarer Republik

(1918—1933)

Strenge verhindern. Das mag geschehen, wenn es nach allen Seiten gleichmäßig und unparteiisch geschieht und wenn man es unterläßt, besiegte Gegner zu behandeln, als seien sie vogelfrei. (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht. (Lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten.) Nach den Verfolgungen, die die Sozialdemokratische Partei in der letzten Zeit erfahren hat, wird billigerweise niemand von ihr verlangen, daß sie für das hier eingebrachte Ermächtigungsgesetz stimmt. Die Wahlen vom 5. März haben den Regierungsparteien die Mehrheit gebracht und damit die Möglichkeit gegeben, streng nadi Wortlaut und Sinn der Verfassung zu regieren. Wo diese Möglichkeit besteht, besteht audi die Pflicht. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Kritik ist heilsam und notwendig. Noch niemals, seit es einen Deutschen Reichstag gibt, ist die Kontrolle der öffentlichen Angelegenheiten durch die gewählten Vertreter des Volkes in solchem Maße ausgeschaltet worden, wie es jetzt geschieht (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten) und wie es durdi das neue Ermächtigungsgesetz noch mehr geschehen soll. Eine solche Allmacht der Regierung muß sich um so schwerer auswirken, als audi die Presse jeder Bewegungsfreiheit entbehrt. Meine Damen und Herren! Die Zustände, die heute in Deutschland herrschen, werden vielfach in krassen Farben geschildert. Wie immer in solchen Fällen fehlt es auch nicht an Ubertreibungen. Was meine Partei betrifft, so erkläre ich hier: Wir haben weder in Paris um Intervention gebeten noch Millionen nach Prag verschoben, noch übertreibende Nachriditen ins Ausland gebracht. (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Solchen Übertreibungen entgegenzutreten wäre leichter, wenn im Inlande eine Berichterstattung möglich wäre, die Wahres vom Falschen scheidet. (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Noch besser wäre es, wenn wir mit gutem Gewissen bezeugen könnten, daß die volle Rechtssicherheit für alle wiederhergestellt sei. (Erneute lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Das, meine Herren, liegt bei Ihnen. , Die Herren von der Nationalsozialistischen Partei nennen die von ihnen entfesselte Bewegung eine nationale Revolution, nicht eine nationalsozialistische. Das Verhältnis ihrer Revolution zum Sozialismus beschränkt sich bisher auf den Versuch, die sozialdemokratische Bewegung zu vernichten, die seit mehr als zwei Mensdienaltern die Trägerin sozialistisdien Gedankengutes gewesen ist (Lachen bei den Nationalsozialisten) und audi bleiben wird. Wollten die Herren von der Natio-

Die Partei nach Hitlers

Machtergreifung

263

nalsozialistischen Partei sozialistische Taten verriditen, sie brauchten kein Ermächtigungsgesetz. (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Eine erdrückende Mehrheit wäre Ihnen in diesem Hause gewiß. Jeder von Ihnen im Interesse der Arbeiter, der Bauern, der Angestellten, der Beamten oder des Mittelstandes gestellte Antrag könnte auf Annahme redinen, wenn nicht einstimmig, so doch mit gewaltiger Majorität. (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten. Lachen bei den Nationalsozialisten.) Aber dennoch wollen Sie vorerst den Reichstag ausschalten, um Ihre Revolution fortzusetzen. Zerstörung von Bestehendem ist aber noch keine Revolution. Das Volk erwartet positive Leistungen. Es wartet auf durchgreifende Maßnahmen gegen das furchtbare Wirtschaftselend, das nicht nur in Deutschland, sondern in aller Welt herrscht. Wir Sozialdemokraten haben in schwerster Zeit Mitverantwortung getragen und sind dafür mit Steinen beworfen worden. (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten. — Lachen bei den Nationalsozialisten.) Unsere Leistungen für den Wiederaufbau von Staat und Wirtschaft, für die Befreiung der besetzten Gebiete werden vor der Geschichte bestehen. (Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Wir haben gleiches Recht für alle und ein soziales Arbeitsrecht geschaffen. Wir haben geholfen, ein Deutschland zu schaffen, in dem nicht nur Fürsten und Baronen, sondern auch Männern aus der Arbeiterklasse der Weg zur Führung des Staates offensteht. (Erneute Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Davon können Sie nicht zurück, ohne Ihren eigenen Führer preiszugeben. (Beifall und Händeklatschen bei den Sozialdemokraten.) Vergeblich wird der Versuch bleiben, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Wir Sozialdemokraten wissen, daß man machtpolitische Tatsachen durch bloße Rechtsverwahrungen nicht beseitigen kann. Wir sehen die machtpolitische Tatsache Ihrer augenblicklichen Herrschaft. Aber auch das Rechtsbewußtsein des Volkes ist eine politische Macht, und wir werden nicht aufhören, an dieses Rechtsbewußtsein zu appellieren. Die Verfassung von Weimar ist keine sozialistische Verfassung. Aber wir stehen zu den Grundsätzen des Rechtsstaates, der Gleichberechtigung, des sozialen Rechtes, die in ihr festgelegt sind. Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus. (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht,

264

U. Parteiführer

in der Weimarer Republik

(1918—1933)

Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten. Das Sozialistengesetz hat die Sozialdemokratie nicht vernichtet. Auch aus neuen Verfolgungen kann die deutsche Sozialdemokratie neue Kraft schöpfen. Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten. Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und Treue verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene Zuversicht — (Lathen bei den Nationalsozialisten — Bravo! bei den Sozialdemokraten) verbürgen eine hellere Zukunft. (Wiederholter lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten. — Lachen bei den Nationalsozialisten.)"' 10 Nach der Rede von Wels stürmte Hitler ans Rednerpult, um in seiner stürmisch umjubelten Antwort die SPD des Verrats zu bezichtigen und ihr mit brutalen Drohungen jede nationale Existenzberechtigung abzusprechen.611 Zwischenrufe der sozialdemokratischen Abgeordneten, die die Flut der unberechtigten Vorwürfe Hitlers einzudämmen versuchten, wurden von den nationalsozialistischen Saalwachen mit heftigem Zischen und „Maul halten!", „Landesverräter!", „Ihr werdet heute noch aufgehängt!" beantwortet. 812 Wortmeldungen von Wels und anderen Sozialdemokraten nach der Rede Hitlers wurden vom Reichstagspräsidenten Göring absichtlich übergangen.813 Als einzige nichtnationalsozialistische Zeitung druckte die Frankfurter Zeitung den Text der Rede von Wels und schrieb dazu: „Seine 610

Reichstagsprotokolle, Bd. 457, S. 32—34. A. a. O., S. 34—37. Siehe auch Bracher/Sauer/Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung . . S . 166. F. Stampfer, Erfahrungen und Erkenntnisse ..., S. 268, und Sie haben nicht kapituliert . . . , S. 28 f., berichtet, daß er an dem „Meisterstück politischen Komödiantentums", das die Erwiderung Hitlers auf Wels* Rede darstellte, nicht ganz unschuldig gewesen sei, da er die sozialdemokratische Fraktionserklärung, altem Brauch entsprechend, schon zuvor mit Sperrfrist der Presse gegeben hatte, von w o aus sie in die Hände Hitlers gelangt war. Hugenberg zeigte sich zu Beginn der Kabinettsitzung vom 24. März für Hitlers „Replik auf die Rede des Abgeordneten Wels", die „wohl allgemein als restloses Abkanzeln der SPD empfunden worden" sei, „besonders dankbar" (Bundesarchiv Koblenz, R 43/1 1460). Vgl. auch E. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands..., in: Das Ende der Parteien..., S. 167, bes. Anm. 5. 611

Otto Meissner (Staatssekretär unter Ebert, Hindenburg, Hitler. Der Schicksalsweg des deutschen Volkes von 1918—1945, wie ich ihn erlebte, Hamburg 1950, S. 268) berichtet, daß bei der unerfreulichen Auseinandersetzung mit Hitler die menschlichen Sympathien der auf der Regierungstribüne versammelten bürgerlichen Minister und Staatssekretäre mehr auf Seiten von Wels gewesen seien. M2 W. Hoegner, Die verratene Republik . . . , S. 93. 613 F. Stampfer, Sie haben nicht kapituliert..., S. 29.

265

Die Partei nach Hitlers Machtergreifung

verschleierte Stimme klang tiefernst. Verhaltenes Pathos, moralische Rechtfertigung, moralischer Appell. Eine Rede in der denkbar schwierigsten Situation —, anständig, mutig, zuweilen sogar in gedämpfter Form aggressiv. Man fühlte den ganzen Jammer heraus, der heute diese wohlmeinende, aber nicht vom Glück verfolgte Partei befallen hat. Die Sozialdemokraten zollten Beifall, der Rest des Hauses schwieg.. ."614 War Wels' Rede auch kein „rhetorisches Glanzstück", so war sie doch „eine moralische Leistung von unvergänglichem Wert".' 15 Sie war das unzerstörbare Bekenntnis der SPD zu Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Freiheit und zum Sozialismus — die mutigste Rede in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus. Man muß ihren Inhalt außerdem als Grundkonzeption eines zukünftigen Gegenangriffs ansehen.6" Mit 441 zu 94 Stimmen errang Hitler einen eindeutigen Abstimmungssieg, und das Votum der Sozialdemokraten hatte politisch keine andere Wirkung als die einer würdigen Demonstration. Mit der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes war die Diktatur in Deutschland legalisiert, die Regierung war der unumschränkte Gesetzgeber und Vollzieher, Exekutive und Legislative zugleich. Das Weimarer Verfassungsgefüge war damit zerbrochen.617 Allein die deutsche Sozialdemokratie hatte dies mit ihrem Votum am 23. März 1933 zu verhindern versucht. 614

Frankfurter Zeitung, Nr. 225 vom 24. 3.1933, S. 1: Eindruck des Tages.

el5

F. Stampfer, Erfahrungen und Erkenntnisse ..., S. 268.

616

Lewis E. Edinger, Sozialdemokratie und Nationalsozialismus. Der Parteivorstand der SPD im Exil von 1933—1945, Hannover—Frankfurt/Main 1960, S. 18; Internationale Information, 1933/1, S. 141. Von den Zeitgenossen und Teilnehmern an der Reidistagssitzung wird die ausgezeichnete Wirkung der Rede von Wels bestätigt. So von Aufhäuser, Felder (mündliche Auskünfte), Fritz Baade, H. G. Ritzel (schriftliche Auskünfte). Ernst Lemmer schrieb in einem Brief vom 3. 4.1963 an den Verfasser: „Um seine Rede am 23. März 1933 . . . konnte ich ihn nur beneiden. Wohl stimmte ich aus Fraktionsdisziplin (Zentrum plus Staatspartei) dem Ermächtigungsgesetz zu, doch hinderte mich das nicht, zur Rede Wels' lebhaft zu applaudieren" (sie!). Vgl. auch Wilhelm Dittmann, Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei, in: Volksrecbt, Nr. 25 vom 31.1.1944 (Nadilaß Dittmann, SPD-Parteiarchiv, Bonn); Siegfried Aufhäuser, 23. März 1933: Wehrlos, aber nicht ehrlos, in: Berliner Stimme, Nr. 12/13 vom 23.3. 1963, S. 3; Heinrich Ritzel, Es geschah am 23. März 1933, in: Vorwärts, Nr. 10 vom 20.2.1963, S. 9; Paul Hertz, Das Ermächtigungsgesetz, in: Berliner Stimme vom 24. 3. 1953. 617

Bracher/Sauer/Sdiulz, Die nationalsozialistische

Machtergreifung ...,

S. 168.

266

U. Parteiführer in der Weimarer Republik

(19IS—1933)

Die Reise von Vertretern der SPD ins Ausland und Wels' Austritt aus der Internationale (SAI) Bis zur Aktion der Nationalsozialisten gegen die Gewerkschaften am 2. Mai war die Taktik des SPD-Parteivorstandes auf die Erhaltung der Partei ausgerichtet. Wenn deren Bewegungsfreiheit auch stark eingeschränkt war, so hoffte man doch, aufgrund der in den ersten Monaten der nationalsozialistischen Machtergreifung noch vorhandenen Reste von Freiheit und Parlamentarismus bald wieder zu neuer politischer Wirksamkeit gelangen zu können. Der Parteivorstand sah die Partei in der Perspektive der Verfolgung, der Einschränkung und des Terrors, glaubte jedoch, daß sie weiterexistieren werde und ihre Hoffnung auf die Zukunft setzen könne. Er zweifelte zu diesem Zeitpunkt an einer völligen Vernichtung der Partei wie unter dem italienischen Faschismus, sondern hielt eher eine Existenz wie unter den seit 1933 in Polen und Ungarn bestehenden autoritären und halbfaschistischen Regimen für möglich.618 Die Beschwörung von Recht und Verfassung bestimmten deshalb in dieser Periode den Tenor sozialdemokratischer Äußerungen. So schrieb Stampfer nach den Wahlen vom 5. März: „Die Herren haben jetzt im Reich und in Preußen die Mehrheit. Sie sind vom Reichspräsidenten ernannt und vom Volk bestätigt. Sie brauchen nur eine legale Regierung zu sein, dann sind wir ganz selbstverständlich auch eine legale Opposition.. ."61" Auch in Wels' Reichstagsrede vom 23. März kehrte der gleiche Gedankengang wieder.*20 Die SPD hielt sich in den Grenzen einer legalen konstitutionellen Partei und legte das Schwergewicht auf die Betonung der potentiellen Energie einer Millionenpartei.'" Hier lag nach Erich Matthias die Grenze, die sich als unüberschreitbar erweisen sollte.682 Auch die Parteiführung gab sich der Welle von Illusionen hin, die nach dem 30. Januar das ganze Land überschwemmten. Sie hoffte auf das Aufbrechen der Spannungen innerhalb des Kabinetts, auf die Rivalität zwischen SA und Stahlhelm, auf die Reichswehr, den Reichspräsidenten, die süddeutschen Länder und andere fremde 618

Vgl. Die Sozialdemokratische Partei und Hitler..., S. 6 f. " F. Stampfer, Ein Ruhmestag der Partei. .. 820 Reichstagsprotokolle, Bd. 457, S. 33. 621 Max Klinger (Pseudonym f ü r Kurt Geyer), Volk in Ketten. Deutschlands Weg ins Chaos ( = Probleme des Sozialismus, 3), Karlsbad 1934, S. 28 f. 622 E.Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands..., in: Das Ende der Parteien . . . , S. 162. e

Die Partei nach Hitlers

267

Machtergreifung

Hilfe.623 Der Parteivorstand bemühte sich, nach dem bis zum 28. März befristeten Verbot der Parteizeitungen ihr Wiedererscheinen zu erreichen. Zu diesem Zweck müssen wohl Wels und Papen624 und Lobe, Vogel und Hertz mit Göring verhandelt haben.®25 Da die SPD von den Nationalsozialisten für die Berichte der ausländischen Zeitungen über Deutschland verantwortlich gemacht wurde und die Nationalsozialisten zudem erklärten, solange die Presse der sozialistischen Internationale gegen das neue Deutschland hetze, komme eine Aufhebung des Verbots nicht in Frage, reiste — wohl von Göring ermuntert — Ende März eine Reihe führender Sozialdemokraten ins Ausland, um auf die sozialistischen Bruderparteien in diesem Sinne einzuwirken. Victor Schiff fuhr nach Holland, England, Belgien und Frankreich, Stampfer nach Österreich und in die Tschechoslowakei, Paul Hertz nach Dänemark und Schweden, der Reichstagsabgeordnete Emil Kirschmann ins Saargebiet und Otto Wels in die Schweiz.629 Da tatsächlich „geradezu blödsinnige Sensationsberichte"627 erschienen waren, die auf Gerüchten und Ubertreibungen beruhten, ging es der Partei nach dem Zeugnis von Stampfer und Hertz darum, ihre Freunde wahrheitsgetreu über die Vorfälle in Deutschland zu informieren, sie jedodi keineswegs von der Verbreitung der ungeschminkten Wahrheit und der energischen publizistischen Bekämpfung des Hitlerregimes abzuhalten.628 Otto Wels hatte bereits am 20. März bei Friedrich Adler, dem Sekretär der Internationale, telefonisch gegen einige Falschmeldungen in einem Artikel der Internationalen Information der SAI über die Lage der politischen Gefangenen protestiert.629 Als es Wels 623

Siehe d a z u Die

Matthias, Die teien ...,

Partei

Partei

und

Hitler

Deutschlands...,

. . . , S. 7 f., und E. in: Das Ende

S. 163 f . Für die Illusionen v o n Wels vgl. W . Keil, Erlebnisse

demokraten

...,

>*' A. a. O., 625

Sozialdemokratische

Sozialdemokratische

ParSozial-

Bd. 2, S. 472 f. S. 492.

E. Matthias, Die Sozialdemokratische

Parteien...,

der

eines

Partei

Deutschlands

. . . , in: Das Ende

S. 169 f., bes. A n m . 9 u. 10. Brief P a u l H e r t z ' v o m

der

13.8.1948

an

A l f r e d Faust, N a d i l a ß H e r t z . «2» V g l . Schreiben des preußischen

Innenministers,

Landeskriminalpolizeiamt

I,

v o m 2 4 . 3 . 1 9 3 3 a n das Auswärtige A m t (unveröffentlicht), Politisches Archiv des A A , A k t e D , P o 5, Beiband Sozialdemokratie, Ε 596 690. Vgl. auch E. Matthias, Die Sozialdemokratische

Partei

Deutschlands...,

in: Das

Ende

der

Parteien...,

S. 170,

A n m . 170. Danach ist nidit auszuschließen, d a ß Wels auf der H i n - oder Rückfahrt noch nach Prag reiste. S o F. Stampfer, zitiert nadi E. Matthias, a. a. O., S. 170. ·» βί

Ebda.

» Brief Friedrich Adlers v o m 2 8 . 3 . 1 9 3 3

an O t t o Wels, Internationale

Kor-

268

II. Parteiführer in der Weimarer Republik

(1918—1933)

nicht gelang, die auf der Sitzung der Exekutive der SAI am 18-/19. März in Zürich gefaßten Beschlüsse, die in den Resolutionen „Kampf dem Faschismus", „Die Einheit der Arbeiterbewegung" und „Internationale Konferenz der SAI" enthalten waren,630 zu verhindern, trat er am 30. März telegrafisch aus dem Bureau der SAI aus."31 Auf der Linie dieser Taktik, die den Nationalsozialisten jeden Vorwand zur Zerschlagung der Partei nehmen wollte, lag es auch, daß Wels sich in seiner Reichstagsrede vom 23. März entschieden gegen die von nationalsozialistischer Seite erhobenen Vorwürfe verwahrte, „in Paris um Intervention gebeten... Millionen nach Prag verschoben . . . übertriebene Nachrichten ins Ausland gebracht" zu haben.632 respondenz, IISG-Amsterdam, veröffentlicht in: Internationale Information, 1933/1, S.152 ff. βίο v g i . ( j e n Wortlaut a. a. O., S. 148 ff. Wels erschien besonders die Einheitsfrontresolution der SAI gefährlich, die den Mitgliedsparteien empfahl, sich aller Sonderverhandlungen mit den kommunistischen Parteien ihrer Länder zu enthalten. Eine „aufrichtige und ehrliche Verständigung über eine gemeinsame Aktion zur Verteidigung gegen den Faschismus und gegen die kapitalistische Reaktion" sei nur über eine Vereinbarung der beiden Internationalen zu erzielen (ebda.). 631 Telegramm Wels' vom 30. 3. 1933 an Friedrich Adler, unveröffentlicht, Internationale Korrespondenz, IISG-Amsterdam. Besonders die jüngeren Mitarbeiter des Parteivorstands hielten den persönlichen Austritt von Wels aus dem Bureau der SAI für falsch. Wels hatte noch vor Absendung des Telegramms Fritz Heine um seine Meinung gefragt, um die „vox populi" zu hören. Heine brachte nicht den Mut auf, Wels die Wahrheit zu sagen und zog sich mit ein paar nichtssagenden Bemerkungen aus der Affäre (mündliche Auskunft Fritz Heines). Nach der Emigration machte Wels seinen persönlichen Austritt aus dem Bureau in einem Brief vom 17. Mai 1933 an die SAI rückgängig und legte seine Motive für diesen Schritt dar (Internationale Information, 1933/1, S. 181 f.). W.Keil, Erlebnisse eines Sozialdemokraten ..., Bd. 2, S. 613, teilt mit, daß die SAI den „taktischen Schritt" des Austritts für ratsam gehalten und ihm zugestimmt habe. Scheidemann schrieb zum Austritt von Wels am 1. 4. 1933 aus Karlsbad an Dittmann und Crispien: „ . . . D i e Erklärung von Otto (Wels) hat hier wie eine Bombe gewirkt, und doch wurmt nur, daß er gezwungenermaßen leider so hat handeln müssen . . . Otto versucht die Partei und ihr Eigentum zu retten! Vielleicht hätte eine andere Form der Erklärung genügt, aber wir können da nicht hineinreden.. ." (Nachlaß Dittmann, unveröffentlicht, SPD-Parteiarchiv, Bonn). 632 Reichstagsprotokolle, Bd. 457, S. 33. So hatte sich der Parteivorstand schon am 17. März gegen eine Notiz des Pariser Figaro zur Wehr gesetzt, in der behauptet worden war, zehn sozialdemokratische Führer seien in Paris erschienen, um dort für die Wiederbesetzung des Ruhrgebiets einzutreten. Der Parteivorstand bezeichnete diese von der nationalsozialistischen Presse wiedergegebene Meldung des Figaro als eine „Verleumdung, deren Infamie nicht zu überbieten ist". (Schreiben des Parteivorstands vom 17. 3. 1933 an Reichsaußenminister von Neurath, Politisches Archiv

Die Partei nach Hitlers Machtergreifung

269

Ebenso gefährlich wie die Mißdeutung ihrer internationalen Beziehungen von Seiten der Nationalsozialisten erschien der Parteiführung der Verdacht illegaler verschwörerischer Aktivität. Wels unterstützte die Vorbereitungen auf die Illegalität nur insoweit, als dadurch die legale Existenz der Partei nicht gefährdet wurde.633 Das wurde bei dem Vorgehen des Parteivorstands zusammen mit dem Vorstand der Berliner Partei gegen die Führung der Berliner SAJ (Sozialistische Arbeiterjugend) deutlich, die sich bereits auf die illegale Arbeit eingestellt hatte."54 Die Reichskonferenz vom 26. April 1933 Die Nationalsozialisten unterminierten mit verdoppelter Kraft durch Terror, verleumderische Hetze und Drohung mit dem Verlust des Amtes oder des Arbeitsplatzes die Basis der Partei und das gesamte sozialdemokratische Organisationsgefüge, während sie im Vergleich dazu die Spitze der Parteipyramide relativ ungeschoren ließen.635 Der Parteivorstand entschloß sich deshalb, gegen diese Zersetzungsersdheinungen836 entschieden Stellung zu nehmen sowie der wachsenden Isolierung von der Masse der Mitglieder und Funktionäre entgegenzuwirken. Er berief deshalb zum 26. April eine Reichskonferenz des AA, Akte D, Po 5, Beiband Sozialdemokratie, E. 596687). Wels versuchte, mit Neurath telefonisch einen Gesprächstermin in dieser Angelegenheit zu vereinbaren, konnte ihn jedoch nicht erreichen und ersuchte daraufhin Staatssekretär von Bülow um die Vermittlung eines Termins bei Neurath (Schreiben Wels' vom 17. 3.1933 an von Bülow und Aktenvermerk Bülows vom gleichen Datum, α. α. Ο., Ε 596 688 und Ε 596 692). Neurath empfing Wels jedodi nicht und bat von Bülow, sidi zu diesem Gespräch zur Verfügung zu stellen (α. α. Ο., Ε 596 693). Vgl. zu diesen Vorgängen auch die Aufzeichnung Wels' vom 16. 6.1933. «33 Mündliche Auskunft Ollenhauers. Zu Wels' Vorbereitungen für eine illegale Arbeit der Partei vgl. E.Matthias, Sozialdemokratisdbe Partei Deutschlands..., in: Das Ende der Parteien . . . , S. 187 ff. 684 Vgl. a. a. O., S. 171, u. Dokument 31, a. a. O., S. 242—250. Ollenhauer (mündliche Auskunft) gab offen zu, daß die Verwirrung bei diesem Konflikt auf beiden Seiten groß gewesen sei und man nicht recht gewußt habe, was in dieser Situation zu tun sei. 635 Vgl. E. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands..., in: Das Ende der Parteien ..., S. 172. 839 Vgl. dazu: Die Sozialdemokratische Partei und Hitler..., S. 13 f.; E.Matthias, Die Sozialdemokratisdie Partei Deutschlands..., in: Das Ende der Parteien ..., S. 238—241 (Dokument 29 u. 30); L. J. Edinger, Sozialdemokratie und Nationalsozialismus . . . , S. 20 f.

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II- Parteiführer in der Weimarer Republik

(1918—1933)

ein, da die Abhaltung eines ordentlichen Parteitages nicht möglich war. Die in aller Stille vorbereitete Konferenz fand im unzerstörten Teil des Reichstagsgebäudes statt, „da einer gewissermaßen unter der Obhut des Reichstagspräsidenten Göring abgehaltenen Konferenz der gefährliche Charakter einer finsteren Verschwörung kaum angeheftet werden konnte."687 Die Brüchigkeit der sozialdemokratischen Legalitätsillusionen wird an diesem Faktum schlagend deutlich und die Atmosphäre der Tagung dadurch illustriert, daß in den Konferenzräumen stundenlang nach eingebauten Mikrophonen gesucht wurde.6®8 Die Reichskonferenz setzte sich aus dem Parteivorstand, der Kontrollkommission, den Bezirkssekretären und einem Teil der zum Parteitag gewählten Delegierten zusammen. Die Auswahl der Delegierten zur Reichskonferenz war proportional so erfolgt, daß die Konferenz im verkleinerten Maßstab das gleiche Bild bot wie ein Parteitag."" Der Parteivorstand verzichtete auf sein Stimmrecht und stellte der Konferenz seine Ämter zur Verfügung, „um der Partei nach einer so furchtbaren Katastrophe die Möglichkeit eines Führerwechsels zu geben.""40 In seinem Grundsatzreferat, das nach dem Zeugnis Ollenhauers der unter den Konferenzteilnehmern herrschenden Stimmung sehr entsprach,641 führte Wels die Machtübernahme der Nationalsozialisten auf die durch die Weltwirtschaftskrise hervorgerufene politische Situation zurück. Die Partei sei durch die Weltwirtschaftskrise vor eine Aufgabe gestellt worden, der sie ebensowenig gewachsen gewesen sei wie irgendeine andere Macht der Welt, und „wer glaubt, alles wäre heute in bester Ordnung, wenn man seinem Rat gefolgt wäre, der unterschätzt die tiefen Kräfte, die diesem Weltgeschehen zugrunde liegen. Es war die Arbeiterklasse selbst, die den ungeheuren Problemen der Zeit noch nicht gewachsen war und die sich spaltete, als Einheit mehr geboten war denn je.""42 687

Internationale Information, 1933/1, S. 195. E. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands..., in: Das Ende der Parteien ..., S. 174, Anm. 43. 639 Die Sozialdemokratische Partei und Hitler..., S. 14. 640 A. a. O., S. 14. Die Entscheidung, den gesamten Vorstand neu zu wählen, war im Parteivorstand gegen die Stimme Otto Wels' durchgesetzt worden (Brief Vogels vom 17. 3.1933 an W. Dittmann und A. Crispien, unveröffentlicht, Nadilaß Dittmann, SPD-Parteiarchiv, Bonn). 841 Mündliche Auskunft vom 27. 9.1962. Siehe audi Ε. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands . . . , in: Das Ende der Parteien . . . , S. 174. MI Zur Rede von Wels vgl. Die Sozialdemokratische Partei und Hitler ..., S. 14, und Internationale Information, 1933/1, S. 197. 833

Die Partei nach Hitlers

Machtergreifung

271

Wels setzte sich anschließend mit dem Kapitulantentum in den Gewerkschaften und in der Partei auseinander. Eine innenpolitische Wende in Deutschland werde nicht aus den Zwängen der Wirtschaft oder den Erfordernissen der Außenpolitik resultieren, sondern nur durch die geistigen und sittlichen Kräfte des deutschen Volkes herbeigeführt werden. Die von der nationalsozialistischen Machtpolitik geschaffenen Tatsachen könnten zwar das taktische Verhalten der Partei beeinflussen, jedoch niemals ihre Gesinnung ändern. „Eine geistige Unterwerfung und Anpassung darf es nicht geben. Wir dürfen nicht tun, als wäre der Unterschied zwischen den Nationalsozialisten und uns gar nicht so groß. Oh nein, er ist ungeheuer groß. Wir Sozialdemokraten stehen zu den Ideen des Rechtsstaates, zu der staatsbürgerlichen Freiheit und Gleichberechtigung, zu den Ideen der Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Und wir halten diejenigen unter uns nicht für besonders klug, die jetzt vom totalen Staat reden und von veralteten liberalistisdien Gedankengängen. Wenn die liberalistischen Gedanken heute nicht mehr ganz jung sind, so sind die antiliberalistisdien bestimmt noch viel älter. Und der totale Staat? Haben wir ihn nicht in der Zeit des Absolutismus gehabt, haben wir ihn nicht in der Zeit des Weltkrieges gehabt und haben sich nicht noch immer die Massen von diesem totalen S t a a t . . . zum Recht der Persönlichkeit, zu den Menschenrechten hingesehnt und durchgekämpft? Was man die veralteten liberalistischen Ideen nennt, das sind die Lehren von Kant, Fichte und Hegel, die nach einem berühmten Wort von Engels ebenso zu den Vätern der deutschen Arbeiterbewegung gehören wie die großen Utopisten des Sozialismus. Echter Sozialismus ist Verwirklichung des Humanitätsideals, ist nicht denkbar ohne geistige Freiheit, und eine Partei, die aufhören würde, für das gleiche Recht aller Staatsbürger ohne Unterschied der Konfession und der Rasse zu kämpfen, würde den Namen Sozialdemokratische Partei Deutschlands nicht mehr tragen dürfen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Kameraden in den Gewerkschaften anderer Meinung sein könnten als wir . . . Sollte sich daran etwas ändern, so würde das für jeden von uns ein erschütterndes Erlebnis sein, aber an unserer Uberzeugung ändern würde es nichts... Es wäre ein hoffnungsloses Unternehmen, wenn man das Leben der Organisation durch Preisgabe der Idee zu erkaufen versuchte. Ist die Idee preisgegeben, dann stirbt auch die Organisation. Aber wird die Organisation durch Kräfte von außen zerschlagen, dann bleibt immer

272

IL Parteiführer

in der Weimarer Republik

(1918—1933)

noch in Millionen Köpfen und Herzen die Idee, und sie sichert die Wiedergeburt der Organisation. Noch niemals hat ein Regierungssystem ewig gedauert. Für jedes besteht die Frage, von welchen Kräften es einmal abgelöst werden wird . . . Die Sozialdemokratie kann auf den ideologischen Widerstand gegen die heute herrschende Gedankenrichtung nicht verzichten, das wäre ein Verzicht nicht nur zugunsten des jetzt herrschenden Systems, sondern auch ein Verzicht zugunsten des Kommunismus. Weder von dem einen, noch von dem anderen kann die Rede sein. Mögen einzelne auch versagt haben, die Geschichte unserer Zeit wird von einem stillen Heldentum der Zehn tausende erzählen.. ."643 Nach einer mehrstündigen Debatte, in der mehr als dreißig Diskussionsredner zu Wort kamen, wurde einstimmig eine Resolution angenommen, in der die Konferenz sich zu den Ideen des Sozialismus bekannte und das gesinnungslose Uberläufertum verurteilte. Durch „unerschütterliches Festhalten an ihren Grundsätzen und Ausnutzung der gegebenen gesetzlichen Möglichkeiten zu ihrer Betätigung" diene die SPD der Nation und dem Sozialismus.644 Bei der mit Stimmzetteln durchgeführten Wahl des Parteivorstands wurden im wesentlichen die im Lande verbliebenen alten Führer in ihren Ämtern bestätigt, so Wels als erster und Hans Vogel als zweiter Vorsitzender.645 Um jedoch in dieser schwersten Krise seit dem Bestehen der Partei alle Richtungen an der Führung zu beteiligen, wurden Vertreter des linken Flügels und der jüngeren Generation hinzugewählt.1146 843

Die Sozialdemokratische Information, 1933/1, S. 199 f.

Partei

und

Hitler...,

S. 15 f., und

Internationale

844

Die Sozialdemokratische Partei und Hitler..., S. 17. Nadi Ollenhauers Zeugnis hat es sich bei dieser Vorstandswahl um keine „Kampfabstimmung" gehandelt. Siehe E. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands..., in: Das Ende der Parteien . . . , S. 174, Anm. 40. Hans Vogel (Brief vom 2. 2. 1940 an W. Sander, mit anliegendem maschinenschriftlichem Manuskript über Otto Wels, Emigrationsakten der SPD, SPD-Parteiarchiv, Bonn) spricht sogar von einer einstimmigen Wiederwahl von Wels. 645

MS Als Vertreter des linken Flügels müssen Böchel, Dietrich, Künstler und A u f häuser, als Vertreter der Rechten Sollmann und als Vertreter der Jugend Hertz, Rinner und Ollenhauer gelten. Lobe gehörte zu keinem der beiden Flügel in der Partei.

Zu den Parteivorstandswahlen auf der Reichskonferenz vgl. Die Sozialdemokratische Partei und Hitler..., S. 17; E. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands . . . , in: Das Ende der Parteien . . . , S. 174, und L. J. Edinger, Sozialdemokratie und Nationalsozialismus . . . , S. 22 f.

Die Partei nach Hitlers

Machtergreifung

273

Wenn auch die in den ersten Monaten nach der nationalsozialistischen Machtergreifung von der SPD betriebene Politik auf illusionären Voraussetzungen beruhte und auch dann noch fortgesetzt wurde, als die legale Organisation, um deren Erhaltung es dem Parteivorstand und Wels in erster Linie gegangen war, schon fast als Fiktion angesehen werden konnte, so wurde der Weg einer Anpassungspolitik und geistigen Kapitulation vor dem Nationalsozialismus — etwa im Stile der Gewerkschaften — von der Partei eindeutig verworfen.647 Der Weg in die Emigration und die Reichstagssitzung vom 17. Mai 1933 Unter dem Eindruck des Schlages gegen die Gewerkschaften am 2. Mai faßte der Ende April auf der Reichskonferenz neugewählte Parteivorstand am 4. Mai auf seiner ersten und letzten Vollsitzung „im gewohnten Raum unter den Bildern Bebels und Eberts"848 den einstimmigen Beschluß, daß keiner der hauptamtlichen Parteivorstandsmitglieder sich verhaften lassen solle, und schickte Wels, Stampfer und Crummenerl, die sich dagegen sträubten, ins Ausland, um Arbeit und Propaganda der Partei von dort her vorzubereiten. Am 5. Mai wurde auf der Sitzung der hauptamtlichen Mitglieder des Parteivorstands beschlossen, auch Vogel, Hertz und Ollenhauer ins Ausland zu schicken.64' Von einer offiziellen Verlegung des Vorstands war noch keine Rede, und man hoffte, daß es sich um eine vorübergehende Maßnahme handeln werde.850 Auch Wels war bis zu diesem Termin der M7

Ähnlich auch E. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands..., in: Das Ende der Parteien ..., S. 174 f. Me F. Stampfer, Erfahrungen und Erkenntnisse..S. 270. M · Die Sozialdemokratische Partei und Hitler..., S. 18; siehe auch E. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands..., in: Das Ende der Parteien ..., S. 257 (Dok. 35), F. Stampfer, Erfahrungen und Erkenntnisse . . . , S. 270. 640 E. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ..., in: Das Ende der Parteien . . . , S. 180. Bei der vom Parteivorstand im Februar 1933 ins Auge gefaßten Sitzverlegung nach Süddeutschland (zunächst war Stuttgart vorgesehen; davon riet der württembergische Staatspräsident Bolz jedoch ab, so daß man sich aus diesem und anderen Gründen f ü r München entschied) hatte es sich lediglich um den Versuch gehandelt, die Voraussetzungen f ü r einen improvisierten Bürobetrieb zu schaffen. Nach Auskunft Ollenhauers (a. a. O., S. 256, Anm. 9) sei dieses Ausweichbüro über das Stadium der Planung nicht hinausgelangt. Nach dem Sturz der Regierung Held und der Berufung Epps zum Reichskommissar am 9. März wurde der Plan eines Münchner 18

Adolph

274

II- Parteiführer in der Weimarer Republik

(1918—1933)

Auffassung gewesen, daß Emigration keine Lösung sei und die Führer bei den Massen zu bleiben hätten.®51 Nach dem Beschluß des Parteivorstands vom 4. Mai verließ Wels zwischen dem 6. Mai und 10. Mai Deutschland.'5* Ob er sofort nadi Saarbrücken reiste oder erst nach Prag und von dort nach Saarbrücken, läßt sich nicht feststellen. Die Beschlagnahme des Parteivermögens durdi das Regime"53 am 10. Mai bestätigte die Auffassung des Parteivorstands, daß es in Deutschland keine legalen und wirkungsvollen Möglichkeiten des Kampfes gegen die Nationalsozialisten mehr gab und die Erhaltung der alten Parteiorganisation nur kurzfristig und für den Preis einer völligen Kapitulations- und Stillhaltepolitik zu erreichen gewesen wäre. Ausweichbüros aufgegeben, und die Mehrzahl der Mitglieder des Parteivorstands, die sich in Miindien befunden hatten, reiste nadi Berlin zurüdc. Vgl. dazu W. Hoegner, Die verratene Republik..., S. 82 ff.; Aufzeichnung Wels' vom 16.6.1933, S. 5; Paul Mayer, Die Gesd)ichte des sozialdemokratischen Parteiarchivs und das Schicksal des Marx-Engels-Nachlasses, in: Archiv für SozialgeschiAte, Bd. 6/7 (1966/67), S. 82. Nach Wels' Aufzeichnung vom 16.6.1933 war mit dem Beschluß zur Sitzverlegung nadi Süddeutsdiland audi die Verlegung des Büros ins Ausland bereits „grundsätzlich beschlossen". Siehe dazu audi den Brief des Parteivorstands vom 3. 6.1933 an die Mitglieder des Restvorstandes und die Vertrauensleute in Berlin, Emigrationsakten der SPD. 651 Mündliche Auskunft Ollenhauers. Ähnlidi hatte sidi audi Stampfer (anonym, in: Internationale Information, 1933/1, S. 144, und Erfahrungen und Erkenntnisse..., S. 270) geäußert. Wels hatte im März Dittmann und Crispien aufgefordert, wieder nadi Deutschland zurückzukommen, was wohl deren Tod bedeutet hätte (Brief Wels' vom 17. 3. 1933 an Dittmann und Crispien, unveröffentlicht, Nadilaß Dittmann, SPD-Parteiarchiv, Bonn). 652 Fritz Heine (mündliche Auskunft vom 1.10. 1962) berichtet, Wels sei von Otto Schönfeld und ihm mit dem Wagen am 6. oder 7. Mai nach Leipzig gefahren worden und dann von dort weitergereist. Westphal dagegen gibt an, Wels habe sich noch bis zum 10. Mai in Deutschland aufgehalten (E. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ..., in: Das Ende der Parteien . . S . 257, Dok. 35). 653 Wels hatte sich von Anfang an energisch für die Verbringung möglichst großer Teile des Parteivermögens ins Ausland eingesetzt (Wels' Aufzeichnung vom 16. 6. 1933.) So konnten fast die gesamten mobilen Mittel vor dem Zugriff der Nationalsozialisten gerettet werden. Nach Fritz Heine und Eridi Ollenhauer (mündliche Auskünfte) wurden etwa 1,2 Millionen Reichsmark hauptsächlich von Rudi Leeb und Siegfried Crummenerl in Etappen ins Ausland transferiert und dort zum Teil in amerikanischen Wertpapieren angelegt (vgl. dazu audi E. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands..., in: Das Ende der Parteien..., S. 182 f., Anm. 13, P. Mayer, Die Geschichte des sozialdemokratischen Parteiarchivs ..., in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 6/7 [1966/67], S. 82).

Die Partei ηαώ Hitlers

Machtergreifung

275

Während die emigrierten Parteivorstandsmitglieder im Ausland die organisatorischen Vorbereitungen für die Fortsetzung des Widerstands gegen das Hitler-Regime trafen, wurde der Reichstag zum 17. Mai einberufen. In der auch für ihn gefährlichen und gespannten außenpolitischen Situation wollte Hitler durch einen „pseudoparlamentarischen Akklamationscoup" 654 die Zustimmung aller Parteien zu seiner Außenpolitik gegen die ausländische Kritik ausspielen und die Stärke seiner Position unter Beweis stellen.®55 Lobe berief die SPDReichstagsfraktion zu einer Sitzung am 16. Mai nach Berlin ein, ohne die in Saarbrücken befindlichen Parteivorstandsmitglieder in dieser Frage vorher zu konsultieren. Er hatte damit ein fait accompli geschaffen, denn es hätte vorher geklärt werden müssen, ob angesichts der Situation in Deutschland die Aufrechterhaltung der Reichstagsmandate und das Weiterbestehen der Fraktion überhaupt noch einen Sinn hatten und bei wem die Entscheidung über die Einberufung der Fraktion zu liegen hatte, beim Fraktions- oder beim Parteivorstand. 656 Am 14. Mai beschlossen die in Saarbrücken befindlichen Mitglieder des Parteivorstands einstimmig, der Fraktion die demonstrative Nichtbeteiligung an der Reichstagssitzung zu empfehlen, eine Erklärung im Ausland mit der Begründung dieser Entscheidung zu veröffentlichen und das Regime wegen seines Terrors und der Vernichtung der Freiheit und des Rechts in Deutschland vor der internationalen Öffentlichkeit anzuklagen. Es herrschte bei den Sitzungsteilnehmern ferner Ubereinstimmung darüber, daß sie die Reichstagsfraktion nicht einberufen und ihr auch nicht die Entscheidung über Teilnahme oder Nichtteilnahme an der Reichstagssitzung am 17. Mai überlassen hätten. Vogel und Stampfer wurden nach Berlin geschickt, um diesen Beschluß bei der Fraktion durchzusetzen.657 Die in Berlin verbliebenen Parteiführer wurden durch die Atempause, die der SPD durch die außenpolitischen Schwierigkeiten des Regimes verschafft worden war und die bis Mitte Juni anhielt, bewogen, ihre Beschwichtigungs- und Stillhaltetaktik fortzusetzen. Die Reichstagsfraktion war deshalb nicht bereit, sich den von der Mehr454

Bradier/Sauer/Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung . . . , S. 197. Ebda. ,5 · Siehe dazu: Die Sozialdemokratische Partei und Hitler..., S. 21. 657 Ebda. Als Sitzungsteilnehmer in Saarbrücken werden Wels, Vogel, Crummenerl, Hertz, Judiacz, Stampfer, Sollmann, Aufhäuser, Hilferding und Breitscheid genannt. Vgl. zu den Saarbrüdter Beschlüssen audi Internationale Information, 1933/1, S. 243 f.; Brief des Parteivorstands vom 3. 6.1933. 855

18*

276

IL Parteiführer in der Weimarer Republik

(1918—1933)

heit des Vorstands in Saarbrücken gefaßten Beschlüssen zu fügen.*58 An den Fraktionssitzungen vom 16. und 17. Mai nahmen von den 120 Fraktionsmitgliedern nur 65 teil. 24 Abgeordnete vertraten den Standpunkt, an der Sitzung teilzunehmen und für die Regierung Hitler zu stimmen. Sie waren der Auffassung, die Partei habe in der Vergangenheit die nationale Idee zu sehr vernachlässigt. Sie müsse jetzt ihre nationale Gesinnung besonders stark betonen, um nicht mit Recht des Landesverrats bezichtigt zu werden."59 Diesen Abgeordneten stand eine gleich große Gruppe gegenüber, die zwar ebenfalls an der Reichstagssitzung teilnehmen, jedodi Hitler mit einer eigenen Fraktionserklärung im Plenum des Reichstags entgegentreten wollte. Ihr profiliertester Sprecher war der Berliner Parteivorsitzende und Mitglied des Parteivorstands Franz Künstler."60 Nur siebzehn Abgeordnete unter der Führung Kurt Schumachers sprachen sich für ein Fernbleiben von der Sitzung aus und schlossen sich den Forderungen der Mehrheit des Vorstands in Saarbrücken an."61 Nach einer langen und quälenden Debatte kam es zu einem Kompromiß, der die Teilnahme an der Sitzung und die Abgabe einer eigenen Fraktionserklärung vorsah, deren erster Teil eine Zustimmung zur Forderung der Abrüstung und Gleichberechtigung Deutschlands und deren zweiter Teil einen Protest gegen die Innenpolitik der Regierung enthalten sollte.'68 Falls aber die Abgabe einer eigenen Fraktionserklärung unmöglich gemacht würde, schien die Mehrheit der Fraktion entschlossen, der Sitzung fernzubleiben."6® Erst unter dem Eindruck der terroristischen Morddrohung Fricks in der Ältestenratssitzung am 858 Die Sozialdemokratische Partei und Hitler..S. 21 f. Vogel und Stampfer trafen am Morgen des 15. Mai in Berlin ein und wurden von Heine (mündliche Auskunft) in Empfang genommen. Am Nachmittag des gleidben Tages fand in einem Zahlabendlokal im Wedding eine Sitzung des Rest-Parteivorstandes statt, in der Vogel und Stampfer die Saarbrücker Beschlüsse erläuterten. Es wurde einmütig beschlossen, der Reidistagsfraktion die Forderung auf Fernbleiben von der Reichstagssitzung als gemeinsamen Beschluß des gesamten Parteivorstandes mitzuteilen. Lobe, obwohl Mitglied des Parteivorstands und ausdrücklich eingeladen, war dieser Sitzung ferngeblieben (siehe audi Brief des Parteivorstands vom 3. 6.1933). m Die Sozialdemokratische Partei und Hitler..., S. 23 u. 27. Sprecher dieser Gruppe waren Friedrich Ebert jr. und Baade. «M Ebda. ·« A.a.O., S. 23 f. •ο* A. a. O., S. 23. MS Friedrich Stampfer, Die Vorgeschichte der Reidjstagsabstimmung, in: Internationale Information, 1933/1, S. 282 f.

Die Partei nach Hitlers

Machtergreifung

277

17. Mai mittags entschied sich die Fraktion mit 48 gegen 17 Stimmen für die Teilnahme an der Reichstagssitzung und eine unbegründete Zustimmung zu Hitlers Friedensresolution.664 Wels hatte noch versucht, in die Auseinandersetzung am 17. Mai einzugreifen. Während Hans Vogel vormittags ohne persönliche Schärfe den Standpunkt des Parteivorstands vertrat, rief Otto Wels aus Saarbrücken an und erteilte der Fraktion „den förmlichen Parteibefehl, an der Reichstagssitzung nicht teilzunehmen". Die feindselige Stimmung gegen Saarbrücken verschärfte sich daraufhin." 5 Die Entscheidung des 17. Mai wurde von vielen als „Entehrung der Partei u n d . . . Kapitulation" betrachtet,""' und sie riß eine tiefe Kluft in ihr auf. Die Auseinandersetzungen um die Vorgänge vom 17. Mai müssen als direktes Vorspiel des jetzt einsetzenden Konflikts zwischen der Exilgruppe um Wels und dem Berliner Restvorstand und der Fraktion unter der Führung Lobes angesehen werden."" Der Konflikt Berlin — Prag Wollten die exilierten Parteivorstandsmitglieder und damit die SPD nach den Vorgängen am 17. Mai nicht jeden Kredit bei den der SAI ,M

Die Sozialdemokratische Partei und Hitler..., S. 24. Stampfer hatte der Fraktionsminderheit unter Führung Schumachers auf die Frage, was sie tun solle, von einer Sonderaktion abgeraten. Diese entschloß sich daher nach sdiweren inneren Kämpfen, die Fraktionsdisziplin zu wahren (ebda.). Zur Reidistagssitzung vom 17. Mai vgl. Reichstagsprotokolle, Bd. 457, S. 47—54. Über die Motive der Fraktionsmehrheit gibt Auskunft der Brief Hans Dills an Fritz Heine vom 11.3.1942, unveröffentlicht, Emigrationsakten der SPD, Parteiarchiv der SPD, Bonn. Siehe audi Brief Rudolf Hilferdings an Paul Hertz vom 14. 6. 1933, unveröffentlicht, Nachlaß Hertz, IISG-Amsterdam. Ms

W. Hoegner, Die verratene Republik ..., S. 108; mündliche Auskünfte Ollenhauers und Fritz Heines. ,M Internationale Information, 1933/1, S. 244. ββ7 Vgl. zu den Auseinandersetzungen am 17. Mai E. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ..., in: Das Ende der Parteien . . . , S. 180—184, Bradier/ Sauer/Schulz, Die nationalsozialistische MaAtergreifung . . . , S. 197 f.; F. Stampfer, Erfahrungen und Erkenntnisse..., S. 270 f.; F. Stampfer, Schlagt sie nicht!, in: Internationale Information, 1933/1, S. 246 f., und zur Vorgeschichte der Reichstagsabstimmung, a. a. O., S. 282 f.; W. Hoegner, Die verratene Republik ..., S. 107—110; L. J. Edinger, Sozialdemokratie und Nationalsozialismus ..., S. 25—27. Zur Rechtfertigung der Fraktion siehe ihre Erklärung in Internationale tion, 1933/1, S. 251 f.: Für den Frieden — gegen Hitler!

Informa-

278

II. Parteiführer

in der Weimarer Republik

(1918—1933)

angeschlossenen Bruderparteien und den sich in Deutschland formierenden Widerstandskämpfern verlieren, dann mußten sie handeln.668 Noch am 17. Mai nahm Otto Wels in einem Schreiben an das Bureau der SAI seinen persönlichen Austritt vom 30. März zurück und legte offen die taktischen Gesichtspunkte dar, die ihn zu diesem Schritt bewogen hatten. 6 " Auf einer Parteivorstandssitzung am 21. Mai, an der auch Rinner und Westphal aus Berlin teilnahmen, wurde beschlossen, den Sitz des Parteivorstands offiziell nach Prag zu verlegen, den Neuen Vorwärts wöchentlich als Zentralorgan der Partei in der Tschechoslowakei erscheinen zu lassen und ein Manifest mit einem Kampfaufruf an die Partei zu veröffentlichen.670 Hatte bis zum 17. Mai für die Angehörigen der Partei, die Deutschland verlassen hatten, der Grundsatz gegolten, „daß im Ausland nichts getan werden dürfe, was den Genossen im Inland schaden könnte",671 so wurden diese Rücksichten jetzt aufgegeben. Rinner und Westphal berichteten über die Saarbrücker Beschlüsse am 22. Mai den Berliner Parteivorstandsmitgliedern, dem Vorstand der Reichstags- und dem der preußischen Landtagsfraktion. In beiden Sitzungen wurden die Saarbrücker Beschlüsse abgelehnt und die Vorarbeiten für die Umstellung der Organisation auf die Illegalität abgebrochen, damit in einer erneuten Besprechung mit den in Prag befindlichen Vorstandsmitgliedern eine Änderung der Saarbrücker Beschlüsse herbeigeführt werden könne. Lobe schrieb den Pragern am 24. Mai: „Nachdem ich mir Eure Vorschläge noch 24 Stunden überlegt habe, muß ich meinem mündlichen Protest noch einen schriftlichen folgen lassen. Mit Eurer Absicht erreicht Ihr keine Fortführung oder Neubelebung, sondern die Hinrichtung unserer Sache, und sie würde wahr668

Friedrich Adler, Generalsekretär

der SAI,

(1933/1, 1 0 . 6 . 1 9 3 3 , S. 2 7 5 — 2 8 0 : Die Aufgabe Partei)

hatte in einem Artikel a. a. O.

der Emigration

in der

vergewaltigten

erklärt, der Rumpf der Partei sei hilflos, und er brauche einen Kopf in

einem anderen Land. Das war praktisch der Appell an die Saarbrücker Parteivorstands-Mitglieder, die Führung der Partei zu übernehmen. 968

Der Brief Wels' lag dem Bureau der SAI bereits auf seiner Sitzung vom 18. Mai

in Paris vor und ist abgedruckt a. a. O., S. 281 f. 670

Die

Sozialdemokratische

Partei

und

Hitler...,

S. 2 4 ;

Brief

des Parteivor-

stands vom 3. 6 . 1 9 3 3 . Es wurde ferner beschlossen, Rinner und Westphal mit der illegalen Arbeit in Deutschland zu betrauen und für den Aufbau des illegalen Apparats zunächst 30 0 0 0 , — R M zur Verfügung zu stellen. 671

Die

deutsche

Sozialdemokratie

im Jahr

der

faschistischen

S. 30, zitiert nach E. Matthias, Die Sozialdemokratische Das Ende

der Parteien ...,

S. 185.

Machtergreifung,

Partei Deutschlands...,

in:

Die Partei nach Hitlers

Machtergreifung

279

scheinlich mit einem tausendfältigen Wutgeschrei beantwortet werden. Es ist nicht der einzige Grund, wenn ich fürchte, daß das Los von Hunderten in Haft Befindlichen erneut erschwert und viele in Gefahr gebracht werden. Berlin würde Euch sofort öffentlich die Gefolgschaft verweigern, und von der Fraktion ist das gleiche zu erwarten, bei dem ersteren noch gewürzt mit Vorwürfen wegen des Domizilwechsels. So geht es also nicht. Ich warne noch einmal aufs eindringlichste . . ," e72 Wels kommentierte diesen Brief Lobes mit der Randbemerkung: „Endlich Offenheit! ,Gegenangriff'. Die Politik von draußen kennt er noch gar nicht, aber von drinnen.. . " " 3 Von den Pragern wurde trotzdem versucht, eine Gesamtplenarsitzung des Parteivorstands im Ausland zustande zu bringen. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch an der beharrlichen Weigerung Lobes, an einer derartigen Sitzung teilzunehmen. Prag und Berlin verkehrten also nur noch durch Delegationen miteinander. Auf einer Parteivorstandssitzung am 29. Mai in Prag, an der Stelling, Künstler und Rinner von den Berlinern teilnahmen, wurden noch einmal die Pläne der Prager und ihre in Saarbrücken am 21. Mai gefaßten Beschlüsse von allen Vorstandsmitgliedern — auch den drei Berlinern — bestätigt.674 Brief Lobes an die Prager Vorstandsmitglieder vom 24. 5.1933, unveröffentlicht, Emigrationsakten der SPD, Bonn. Siehe audi Brief Lobes an Sollmann vom 13. 6.1933, Abschrift, Nadilaß Hertz. •7S Ebda. 674 Die Sozialdemokratische Partei und Hitler . . S. 25. Die Beschlüsse beinhalteten im einzelnen: 1. Die politische Führung der Partei befindet sich im Ausland. Mit den sich in Deutschland aufhaltenden Mitgliedern des Parteivorstands und den Vertrauensleuten der Bezirke wird eine ständige enge Verbindung hergestellt. 2. Als Organ der deutschen Sozialdemokratie erscheint im Ausland ein Wochenblatt. Erscheinungstermin der ersten Nummer ist die zweite Hälfte Juni. 3. In der ersten Nummer des Wochenblattes wird ein Aufruf der Partei veröffentlicht, der nicht vom Parteivorstand, sondern von den einzelnen im Exil befindlichen Mitgliedern gezeichnet wird. 4. Die Zeit bis zum Erscheinen der ersten Nummer des Wochenblattes wird in Deutschland zur Umstellung der Organisation auf die neuen Arbeitsmethoden benutzt. 5. Vom Sitz des Parteivorstands aus wird im Einvernehmen mit den Parteiorganisationen in der Tschechoslowakei ein Verbindungsnetz in den Grenzbezirken auf der tschechischen Seite geschaffen. Der Parteivorstand entscheidet schnellstens über die Heranziehung einzelner Sekretäre, die bisher in den Grenzbezirken Schlesiens, Sachsens und Bayerns tätig waren, für den Aufbau der Arbeit in den Grenz472

280

U. Parteiführer in der Weimarer Republik

(1918—1933)

Daraufhin teilte der Parteivorstand in Prag am 2. Juni der SAI und den ihr angeschlossenen Parteien in einem Rundschreiben offiziell mit, daß er seinen Sitz nach Prag verlegt habe.675 Mit diesem Rundschreiben des Exil-Parteivorstands brach der Konflikt zwischen Berlin und Prag offen aus. Die Berliner Führung unter Lobe bestritt den Pragern unter der Führung von Wels ihr Mandat und nahm die politische Führung der Partei für sich in Anspruch.'7* Bei den Mitgliedern des Berliner Restvorstandes und ihren Anhängern führte neben dem Bewußtsein, bei der geschlagenen und versprengten Truppe auszuhalten, ein wachsendes Ressentiment gegen die Emigranten dazu, der Auseinandersetzung eine stark gefühlsbetonte Note zu geben.*77 Außerdem verstärkte sich nach dem Vorgehen des Prager Vorstands der nationalsozialistische Drude auf den Berliner Restvorstand, und eine heftige Pressekampagne bemühte sich, die Stimmung bei der Löbe-Gruppe gegen die Emigranten anzufachen und ihnen bestimmte Kampfmaßnahmen gegen die Prager nahezulegen. Am 9. Juni schrieb Rudolf Kircher, der Chefredakteur der Frankfurter Zeitung, der sich den Auffassungen des Regimes stark angenähert hatte, falls die Prager glaubten, die sozialdemokratischen Arbeiter und Funktionäre hätten die Neigung, sich von Prag aus durch die bezirken auf der deutschen Seite, aber von tschechischen Stützpunkten aus. Ähnliche Regelungen sind und werden in den übrigen Grenzbezirken getroffen. 6. Die Auflösung der Partei wird abgelehnt. Der Parteivorstand entbindet die Mitglieder und Funktionäre von allen ihren bisherigen organisatorischen Verpflichtungen. 7. Die im Ausland befindlichen Mitglieder des Parteivorstands werden die Verbindung mit den Parteigenossen in Deutschland soweit wie möglich auch persönlich aufrechterhalten (Brief des Parteivorstands vom 3. 6.1933). 675 Ebda. Dort und in Internationale Information, 1933/1, S. 280 f., der Text des Rundschreibens an die SAI und ihre Parteien. Für die Wahl Prags als Sitz des ExilVorstandes war entscheidend, daß man dem deutschen Kerngebiet am nächsten war und von Böhmen aus die relativ lange deutsdi-tschechische Grenze ausgezeichnet erreichen konnte. Hinzu kamen die Vorteile des deutschen Sprachgebietes in Böhmen und die politische Stellung und der Einfluß der sudetendeutschen und tschechischen Sozialdemokratie in der CSR (Die Sozialdemokratische Partei und Hitler.. S. 36 f.). β7β Siehe dazu den Brief Richard Hansens (Kopenhagen) an Otto Wels (Prag) vom 8.6. 1933, Emigrationsakten der SPD, SPD-Parteiardiiv, Bonn, veröffentlicht bei E. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands . . . , in: Das Ende der Parteien . . S . 253—255, Dok. 34, und die Übertragung einer privaten stenografischen Niederschrift des Abgeordneten Josef Felder über die Sitzung der SPD-Reichstagsfraktion vom 10. 6.1933, abgedruckt a. a. O., S. 255—265, Dok. 35.

·" A.a. O., S. 186.

Die Partei nach Hitlers

281

Machtergreifung

Herren Wels, Stampfer, Vogel und andere vorschreiben zu lassen, was sie in Deutschland zu tun und zu denken hätten, dann seien die Exilierten in einem traurigen Irrtum über die wahre Lage befangen.®78 Die Prager ließen dem Berliner Rest-Vorstand nun eine Reihe von Programmpunkten zugehen, in denen gefordert wurde, daß eine entschiedene Propaganda gegen das Regime gemacht und illegale Arbeit geleistet werden müsse. Außerdem sollten die Berliner Prag als geistigpolitisches Zentrum der Partei und als ihre Repräsentanten gegenüber der S A I anerkennen."7' Diese Forderungen erregten bei der LöbeGruppe einen Proteststurm. Auf ihrer Sitzung am 8. Juni in Berlin lehnte sie das von den Pragern aufgestellte Sieben-Punkte-Programm ab. Besonders die Feststellung, die politische Führung befinde sich im Ausland, stieß auf heftigsten Widerstand. Die wichtigsten Gegenargumente waren die, daß man zu einer im Ausland befindlichen Führung kein Vertrauen habe, die Funktionäre würden das aus dem Ausland stammende Material nicht verbreiten wollen, und die illegale Arbeit dürfe vom Ausland aus nur getarnt und nicht offen betrieben werden. Als die Nachricht von der Verlegung des Parteivorstands nach Prag durch die bürgerliche Presse während der Sitzung bekannt wurde, wurde folgende Gegenerklärung beschlossen: „Zu der aus Brüssel kommenden Meldung der Internationale über die Verlegung des Sitzes des Parteivorstandes nach Prag erklären die in Berlin anwesenden Mitglieder des P V , daß ihnen von einer solchen Verlegung nichts bekannt ist." Sie faß ten ferner folgende Beschlüsse: 1. Die politische und organisatorische Führung der Partei befindet sich in Deutschland. 2. Die im Ausland befindlichen und dort abkömmlichen Genossen haben sofort zurückzukehren. 3. Die im Auslande verbleibenden Genossen (Wels, Crummenerl 678

Frankfurter

Zeitung

Nationalsozialismus..S. 67*

vom

9.6.1933;

L. J. Edinger,

29; Die Sozialdemokratisdie

Sozialdemokratie

Partei und Hitler...,

und S. 31.

Ebda.; Brief des Parteivorstands vom 3. 6. 1933. Dieser schrieb: „ . . . Der Par-

teivorstand lehnt eine weitere Diskussion über die Beschlüsse ab. Wir sind der Überzeugung, daß die Partei nicht länger im Stadium des Zögerns und Stillhaltens verharren darf, wenn sie nicht der Vernichtung ihrer organisatorischen Grundlagen durch den Faschismus ihre politische Abdankung im Bewußtsein der Arbeiter und der Weltöffentlichkeit folgen lassen will . . . W i r sind . . . nicht bereit, den letzten Schein einer öffentlichen Betätigungsmöglichkeit in Deutschland für die Wirklichkeit zu nehmen und damit dem Gegner die Gelegenheit zu schaffen, zu der organisatorischen Vernichtung der Partei auch noch ihre politische und moralische Diffamierung vor den Augen der Arbeiter und der Welt hinzuzufügen . .

282

II- Parteiführer in der Weimarer Republik

(1918—1933)

und Stampfer) arbeiten im engsten Einvernehmen mit dem Parteivorstand in Deutschland. 4. Das Wochenblatt Neuer Vorwärts erscheint ohne Angabe des Druckorts, also nicht offen im Ausland."80 Auf einer Besprechung des Exilvorstands mit Rinner, Jesse (Rostock) und Wellhausen (Magdeburg) am 9. Juni in Prag machte Rinner, um die Spaltung zu vermeiden, den Vorschlag, die Verlegung des Parteivorstands nach Prag zu dementieren. Wels antwortete Rinner und legte noch einmal mit großem Nachdruck die Motive für die in Saarbrücken und Prag gefaßten Beschlüsse dar. Die SPD brauche außerdem die Hilfe der Internationale, die diese ihr audi gewähre. Wenn von der SPD nicht mehr die Wahrheit über Deutschland gesagt werde, entstehe der Eindruck, Deutschland sei geistig gleichgeschaltet. Bisher sehe man in Europa nur eine kommunistische Opposition in Deutschland am Werk. Wenn sich daran nichts ändere, dann wachse die Auffassung, „besser Faschismus als Bolschewismus". Würde der Partei vorstand die Nachricht über die Verlegung seines Sitzes dementieren, dann sei der Eindruck von dem völligen Ende der Sozialdemokratie unauslöschlich. Der Vorschlag Rinners wurde einstimmig abgelehnt, und man beschloß, die Berliner und die für die illegale Arbeit in Deutschland verantwortlichen Vertrauensleute des Parteivorstands zu einer Konferenz am 13. Juni nach Bodenbach in der Tschechoslowakei einzuladen.®81 Die Mehrheit der Berliner Vorstandsmitglieder lehnte diese Einladung jedoch ab. Außer Rinner waren nur einige der Vertrauensleute der Prager für die illegale Arbeit in Deutschland in Bodenbach erschienen. Auf der Konferenz wurde beschlossen, sich nicht in Kompetenzstreitigkeiten zu verlieren, bei denen die Löbe-Gruppe das Ressentiment gegen die Emigranten auf ihrer Seite hatte, sondern eine klare Entscheidung darüber herbeizuführen, ob die Berliner illegale Arbeit leisten oder ihre Stillhaltepolitik weiter fortsetzen woll980

Aufzeichnung über die Besprechung vom 9. 6. 1933 in Prag, Emigrationsakten

der SPD. 981

Aufzeichnung über die Besprechung am 9. 6.1933 in Prag. Rinner war offen-

sichtlich unter den dauernden Angriffen der Berliner audi etwas schwankend geworden. Anfang Juni hatte er Wels und Vogel schriftlich aufgefordert, zu der Sitzung des Rest-Parteivorstandes am 8.6. nach Berlin zu kommen. Wels hatte das mit Schreiben vom 3. 6.1933 abgelehnt, da für ihn eine Vorladung zur Geheimen Staatspolizei (Emigrationsakten der SPD, A k t e Wels) vorlag und mit seiner Verhaftung gerechnet werden mußte (Brief Wels* vom 3. 6.1933, Emigrationsakten der SPD).

Die Partei nach Hitlers Machtergreifung

283

ten. Außerdem sollten Vogel und Ollenhauer zur nächsten Sitzung des Restvorstandes nach Berlin fahren, um die Situation zu klären."82 Rinner kehrte mit diesem Ergebnis nach Berlin zurück und informierte Westphal, wobei er erfuhr, daß für den 19. Juni bereits eine Parteiaussdiußsitzung in den preußischen Landtag einberufen worden war. Daraufhin forderte Rinner für den nächsten Tag eine Sitzung des Parteivorstands an einem sicheren Ort, an der Ollenhauer und Vogel teilnehmen sollten. Während Westphal zustimmte, erklärte Lobe, er habe keine Einwendungen dagegen, werde aber wegen einer Familienangelegenheit nicht an der Besprechung teilnehmen können. Als Rinner ihn daraufhin auf die Bedeutung dieser Sitzung für die Partei hinwies, wich Löbe wieder aus. Daraufhin erklärte ihm Rinner erregt, er könne nicht glauben, daß Löbe nur wegen des Geburtstags einer auswärts wohnenden Tante nicht an einer für die Partei so wichtigen Sitzung teilnehmen wolle. Nun gab Löbe zu, daß er an der Sitzung nicht teilnehmen wolle, weil sie keinen Sinn mehr habe. Die Dinge müßten jetzt ihren Lauf nehmen, und die Parteiausschußsitzung habe die entscheidenden Beschlüsse zu fassen. Rinner unterrichtete daraufhin Vogel und Ollenhauer, nicht nadi Berlin zu kommen.®8® Der Vermittlungsversuch war gescheitert. Der Konflikt erreichte seinen Höhepunkt, als in Prag am 18. Juni die erste Nummer des Neuen Vorwärts mit dem Aufruf des Emigrationsvorstandes Zerbrecht die Ketten! erschien,684 der den Nationalsozialisten den offenen Kampf ansagte. Als am 19. Juni die von Löbe einberufene Parteiausschußsitzung zusammentrat, war die Atempause, die das Regime der SPD nach der Beschlagnahme des Parteivermögens am 10. Mai gelassen hatte, bereits zu Ende. Am 14. Juni war Mierendorff verhaftet worden, und am 17. Juni erfolgte die Massenverhaftung der Hamburger Funktionäre. Auf der Parteiausschußsitzung am 19. Juni stellten die anwesenden Parteivorstandsmitglieder ihre Ämter zur Verfügung; um einen deutlidien Trennungsstrich gegenüber Prag zu ziehen, wählte die 682

Protokoll der Besprechung in Bodenbadi vom 13.6.1933, der SPD; Die Sozialdemokratische Partei und Hitler..., S. 32. der Prager vom 14.6.1933 an Friedrich Adler, in dem mitgeteilt und Stampfer an keine Verständigung mit Berlin mehr glaubten der SPD). 888

Die Sozialdemokratische

Partei und Hitler...,

• M Vgl. Neuer Vorwärts, Nr. 1 vom 18. 6.1933.

S. 32.

Emigrationsakten Siehe audi Brief wurde, daß Wels (Emigrationsakten

284

U- Parteiführer

in der Weimarer Republik

(1918—1933)

Konferenz einen neuen Partei vorstand mit Löbe, Stelling, Szillat, Westphal, Künstler und Rinner .e85 Auf seiner ersten Sitzung am 21. Juli beschloß der neue Partei vorstand gegen die Stimme Rinners, den Pragern Forderungen ultimativen Charakters zu stellen. Diese sollten sich jeder propagandistischen Tätigkeit enthalten und auf die Herausgabe einer Zeitung und jeder illegalen Propagandaliteratur verzichten. Ihnen wurde das Redit abgesprochen, Erklärungen für die Partei abzugeben und sie der Internationale gegenüber zu vertreten. Die in Sicherheit gebrachten Barmittel sollten von den Pragern keinesfalls für propagandistische Arbeit ausgegeben, sondern lediglich treuhänderisch verwaltet werden. Eine Verwendung der Mittel im Sinne der Prager, meinte Löbe bei der Diskussion, würde diese kriminell machen."8* Schon einen Tag später, am 22. Juli, holte das System zum entscheidenden Schlag gegen die SPD aus. Es verbot jede Betätigung der Partei und kassierte sämtliche sozialdemokratischen Mandate.697 Im Rahmen der bereits ab 21. Juni laufenden Verhaftungsaktion wurden am 22. audi Löbe, Szillat, Künstler, Westphal und Stelling verhaftet. N u r Rinner, der auf der Reise nach Prag war, um die Forderungen des neuen Parteivorstands zu überbringen, entging dieser Verhaftungswelle."88 685 y o r a l l e m Kurt Schumacher, Röhle und Rinner hatten sich in der Debatte zu den Pragern bekannt und gegen die Wahl eines neuen Vorstandes opponiert. Rinner nahm im Einverständnis mit den Pragern seine Wahl an. Er war als Exponent der Minderheit auf Vorschlag Kurt Schumachers und Röhles gewählt worden (Die Sozialdemokratische Partei und Hitler..., S. 33). Zum Konferenzverlauf siehe auch W. Hoegner, Die verratene Republik..., S. 116 f.; Aufzeichnung über die Sitzung vom 1 9 . 6 . 1 9 3 3 , Emigrationsakten der SPD und Nachlaß Hertz. Zur Presseerklärung der Konferenz, in der gegen die Emigrantenpolitik Stellung genommen wurde, siehe Frankfurter Zeitung vom 2 1 . 6 . 1 9 3 3 und zur Interpretation dieser Erklärung, E. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands..in: Das Ende der Parteien . . S . 187, Anm. 12. 686 687

Die Sozialdemokratische

Partei und Hitler..S.

34.

Vgl. dazu Fricks Erlaß vom 21. 6. 1933, Politisches Archiv des AA, Beiband Sozialdemokratie, P o 5, Ε 596694. Ober das Auslandsecho des Parteiverbotes vgl. die Gesandtschaftsberichte, unveröffentlicht ebda. 688 Die Sozialdemokratische Partei und Hitler..., S. 35. Stelling wurde in der Köpenicker Mordnacht umgebracht (ebda, und E. Matthias, Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ..., in: Das Ende der Parteien ..., S. 187). Löbe, Szillat und Westphal wurden Ende 1933 wieder entlassen. Löbe ließ den Pragern nach seiner Haftentlassung mitteilen, sie sollten ihre Propagandatätigkeit einstellen, denn ohne ihre Arbeit in Prag wären längst alle sozialdemokratischen Häftlinge in Deutschland wieder frei und alle Sozialdemokraten hätten wieder Arbeit (Die Sozialdemokratische Partei und Hitler ..., S. 35).

Die Partei nach Hitlers

Machtergreifung

285

Mit dem Verbot der Partei waren die Auseinandersetzungen um taktische Differenzen zwischen Berlin und Prag beendet. Die Prager hatten die Situation in Deutschland zumindest im Mai und Juni realistischer als der Berliner Restvorstand unter Lobe eingeschätzt. Wels selber hatte hauptsächlich aus zwei Motiven gehandelt. Er war der Auffassung, daß seine Einschätzung der Lage realistischer sei und die maßgebenden Leute in Berlin nicht kompetent genug wären.689

699

Mündliche Auskünfte Ollenhauers und Fritz Heines.

DRITTER

TEIL

Emigration (1933-1939) Stellung Als

und Aufgaben die

exilierten

im Parteivorstand Mitglieder

des

nach

1933

SPD-Parteivorstands

im

Juni

1 9 3 3 v o n P r a g aus unter dem N a m e n Sopade 1 ihren K a m p f gegen H i t l e r fortsetzten u n d sich a m 2 4 . J u n i der tschechischen und internationalen Presse vorstellten,® bestand die Bürogemeinsdiaft der Sop a d e aus Wels und Vogel, den beiden Vorsitzenden,

Crummenerl,

dem Kassierer, Ollenhauer und H e r t z , den Sekretären der alten Sozialdemokratie, sowie Stampfer, dem ehemaligen Chefredakteur des VorwärtsIm

Oktober 1 9 3 3 t r a f Erich Rinner, der der Vertrauens-

m a n n der P r a g e r in Deutschland gewesen w a r und der nach Hitlers Machtergreifung entscheidend Anteil a m Aufbau der illegalen O r g a nisation in Deutschland gehabt hatte, in P r a g ein, u m sich der drohenden Verhaftung durch die Gestapo zu entziehen. Rinner w u r d e das siebente Mitglied der Bürogemeinschaft. 4 1 Durch die Wahl der neuen Abkürzung Sopade (Sozialdemokratische Partei Deutschlands) sollte der Geist der Kapitulation in den eigenen Reihen, der durch die Niederlage erzeugt worden war, zurückgewiesen werden. Der neue Name sollte außerdem ein Symbol dafür sein, daß die alte sozialdemokratische Arbeiterbewegung niemals völlig durch ihre Feinde zerstört werden konnte. Vgl. Friedrich Stampfer, in: Neuer Vorwärts vom 19.6.1938; L. J . Edinger, Sozialdemokratie und Nationalsozialismus . . . , S. 32. 1 Die Pressekonferenz der Sopade diente hauptsächlich dazu, um die in der CSR gegen die deutschen Emigranten lautgewordenen außenpolitischen Befürditungen zu zerstreuen (siehe Internationale Information, 1933/1 vom 1. 7.1933, S. 337 f.). Zum Verbot der SPD erklärte Wels, kein Verbot könne die SPD vernichten. Von den augenblicklichen Machthabern Deutschlands verfolgt, beschimpft und verleumdet zu werden, sei für aufrechte Menschen nur eine Ehre. 3 Mündliche Auskünfte Ollenhauers, Heines und Jaksdis. Siehe auch L. J. Edinger, Sozialdemokratie und Nationalsozialismus..., S. 32 ff.; Brief der Sopade an die SAI vom 25.1.1934, Emigrationsakten der SPD, Bonn. 4 Brief Paul Hertz' vom 14.1. 1938 an Otto Nathan, unveröffentlicht, Nachlaß Hertz; L. J . Edinger, Sozialdemokratie und Nationalsozialismus..., S. 85 f.

Stellung und Aufgaben im Parteivorstand nach 1933

287

Etwa zur gleichen Zeit wie Rinner hatte auch Curt Geyer, ehemals Redakteur des Vorwärts und enger Mitarbeiter Friedrich Stampfers, der zusammen mit Rinner nach der Machtergreifung Hitlers für die Prager illegal in Deutschland gearbeitet hatte, sich nach Prag absetzen müssen. Geyer wurde neben Stampfer Redakteur des Neuen Vorwärts, nahm an den meisten Sitzungen des Vorstands teil und wurde 1938 in den Exilvorstand kooptiert. 5 Nach ihrer Ubersiedlung nach Prag 1933 wurden auch Karl Böchel und Siegfried Aufhäuser, die auf der Reichskonferenz im April als Vertreter des linken Flügels in den Parteivorstand gewählt worden waren, in die Sopade aufgenommen.® Da Aufhäuser und Böchel keine hauptamtlichen Mitglieder des Parteivorstands waren, nahmen sie lediglich an den in der Regel alle 14 Tage stattfindenden Vollsitzungen und nicht an den häufigen Bürobesprechungen teil. 7 An den gelegentlichen Vollsitzungen des Exilvorstands nahmen auch Rudolf Hilferding als Mitglied der Exekutive der SAI und leitender Redakteur der Zeitschrift für Sozialismus und Artur Arnold, Leiter des Parteiverlages „Graphia" in Karlsbad, teil. Fritz Heine, Mitarbeiter der Sopade und — nach seiner Emigration nach London — kooptiertes Mitglied des Exilvorstandes, war schon in Prag an fast allen Bürobesprechungen beteiligt. 8 D a ß die Nichtmitglieder des Exilvorstandes bei den Abstimmungen kein Stimmrecht hatten, fiel nicht weiter ins Gewicht, da die Mitglieder der Bürogemeinschaft sich über die meisten Entscheidungen vor den formellen Vorstandssitzungen formlos einigten und es daher nur selten zu Kampfabstimmungen kam. 9 Für die Erledigung der anfallenden Arbeiten waren in der Bürogemeinschaft der Sopade die drei Abteilungen Politik, Organisation und Nachrichten geschaffen worden. 10 Rinner und Hertz beschäftigten sich in der Abteilung Nachrichten mit der Tätigkeit der Grenz5 Schriftliche Auskunft Fritx Heines. Siehe auch die abweichende Darstellung bei L. J. Edinger, Sozialdemokratie und Nationalsozialismus..., S. 85 f., und a. a. O., S. 235, Anm.49. 11 A. a. O., S. 65 u. 83. Vgl. audi die Denkschrift der Parteivorstandsminderheit über die dauernde Verletzung der Parteidemokratie durch das Büro der Sopade in Prag vom Mai 1935, Emigrationsakten der SPD, Bonn. 7 Mündliche Auskunft Ollenhauers. 8 Mündliche Auskunft Fritz Heines. Siehe auch Brief Artur Arnolds vom 8. 7.1938 an Paul Hertz, unveröffentlicht, Nadilaß Hertz und Nachlaß Dittmann. • L. J . Edinger, Sozialdemokratie und Nationalsozialismus..., S. 235, Anm. 49. 1 0 Mündliche Auskünfte Ollenhauers.

288

111. Emigration

(1933—1939)

Sekretariate und der Kuriere.11 Hertz befaßte sich außerdem mit Flüchtlingsproblemen und redigierte die Sozialdemokratische Aktion, Rinner die monatlich erscheinenden Deutschlandberichte (Grüne Berichte) der Sopade." Stampfer und Geyer teilten sich die redaktionelle Arbeit für den Neuen Vorwärts und waren hauptsächlich journalistisch tätig.13 Ollenhauer und Crummenerl erledigten die organisatorischen Arbeiten, wobei Crummenerl sich hauptsächlich mit Kassen- und Finanzfragen beschäftigte." Wels und Vogel, die beiden ehemaligen Vorsitzenden der Partei, verwalteten das Ressort Politik, wobei Wels hauptsächlich die Arbeiten koordinierte und Kontakt zu sozialistischen Organisationen, besonders zu den beiden sozialdemokratischen Parteien in der CSR und zur Internationale, hielt.15 Wels' gutes Verhältnis zu Hans Vogel hatte die Emigration überdauert und vertiefte sich noch.1' Das gleiche galt für das Verhältnis von Wels und Stampfer.17 Erich Ollenhauer war der junge Mann von Otto Wels, und Vogel und Wels waren sich einig, daß er der kommende Mann sei.18 Siegmund Crummenerl, der in der ersten Zeit nach der Emigration, in den Jahren 1933 und 1934, stark zu „Neu Beginnen" tendierte,18 Schloß sich später immer enger Wels und Vogel an, und L. J. Edinger, Sozialdemokratie und Nationalsozialismus . . S . 223, Anm. 55. Mündliche Auskünfte Ollenhauers und Heines. 18 Mündliche Auskünfte Ollenhauers und Jaksdis. Siehe außerdem den Neuen Vorwärts. Seit 1935 soll die Hauptlast der Redaktion auf den Schultern von Geyer gelegen haben (so Erich Matthias, Sozialdemokratie und Nation. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der sozialdemokratischen Emigration in der Prager Zeit des Parteivorstandes 1933—1938 [ = Veröffentlichungen des Instituts für Zeitgeschichte, München], Stuttgart 1952, S. 21). 14 Mündliche Auskünfte Ollenhauers und Jaksdis. 15 Mündliche Auskünfte Ollenhauers, Heines, Jaksdis, Ernst Pauls, Rudi Leebs, Richard Hansens, Eridi Brosts und Hans Casparis. 18 Mündliche Auskünfte Ollenhauers, Jaksdis und Fritz Heines. Vgl. auch den Brief Hans Vogels an Wenzel Jaksdi vom 12.10.1939 und die Briefe Vogels an Otto Wels vom 5. 6. und 30. 6.1938, unveröffentlicht, Emigrationsakten der SPD. 17 Mündliche Auskünfte, ebda. Vgl. audi die Briefe Wels' an Stampfer vom 20. 8. und 21. 8.1936, Postkarte Wels' vom 23.6.1938 an Stampfer, aus dem Nachlaß Stampfer. 18 Mündliche Auskünfte Hans Casparis, Jaksdis, Ernst Pauls und Fritz Heines. Vgl. audi die Briefe Ollenhauers an Otto Wels vom 9. 7., 13. 8. und 29. 8.1938, die Auskunft über das ausgezeichnete Verhältnis von Ollenhauer zu Wels geben. 18 Mündliche Auskunft Rudi Leebs. So soll Crummenerl noch Mitte 1934 im Rahmen einer „Reorganisation" des Exilvorstandes die Ausschaltung von Wels und der anderen mit der „kampflosen Kapitulation des PV belasteten Mitglieder", also auch Vogels und Stampfers, gefordert und dazu Gespräche mit „Neu Beginnen" und 11

12

Stellung und Aufgaben im Parteivorstand

nach 1933

289

bei den schon bald im Exilvorstand ausbrechenden Fraktionskämpfen stand er auf Wels' Seite.20 Während Wels Hertz vor 1933 wegen seines immensen Fleißes und seiner Intelligenz sehr geschätzt und gemocht hatte, wurde dieses Vertrauensverhältnis in der Emigration völlig zerstört, als sich herausstellte, daß Hertz nicht nur hinter dem Rücken von Wels engen Kontakt zu „Neu Beginnen" hielt, sondern sogar einer der Führer dieser Gruppe geworden war. Wels war durch diesen Vertrauensbruch von Hertz tief verletzt.21 Obwohl Curt Geyer neben Stampfer in Prag und Paris am entschiedensten den Standpunkt der Sopade vertrat und zu ihrem Programm erheblich beitrug, konnte er weder Wels' Vertrauen noch seine Freundschaft gewinnen. In der rein persönlichen Sphäre war es Geyers Trennung von seiner Frau, die Wels mißbilligte.22 Im Politischen war es Geyers Wendung vom linken Flügel der Partei über USPD und KPD zum rechten Flügel der SPD, die es Wels unmöglich machte, ihm mit Vertrauen und Freundschaft zu begegnen. Geyer erschien ihm als schwankend und unzuverlässig. Seinen späteren Übergang in das Lager Vansittarts hat Wels nicht mehr erlebt.23 Über die Beziehungen von Wels zu Rinner ist wenig bekannt. Obwohl es ernsthafte politische Differenzen zwischen den beiden Männern nicht gegeben hat, bildete sidi zwischen ihnen doch kein Vertrauensverhältnis. 24 Die persönlichen Beziehungen zwischen Wels und Hilferding scheinen in der Emigration kühler geworden zu sein. Verantwortlich dafür der alten Linken um Aufhäuser und Bothel geführt haben. Siehe Denkschrift der Parteivorstandsminderheit vom Mai 1935, S. 4, und Brief Hertz' vom 25. 6.1935 an Breitscheid, Nachlaß Hertz. 20 Mündliche Auskunft Ollenhauers. 21 Mündliche Auskunft Fritz Heines. Nach Heine war „Fraktionsverrat schlimmer als Parteiverrat". 22 Geyer soll zu dieser Zeit Ebert als „nichtswürdigen Verräter" und Wels als „Nationalisten" bezeichnet haben. Vgl. Brief Fritz Heines an Beyer vom 10. 7 . 1 9 4 2 , unveröffentlicht, Emigrationsakten der SPD. 23 Hans Caspari schrieb dem Verfasser zum Verhältnis Wels — Geyer: „Anläßlich einer abendlichen Unterhaltung in Prag diskutierten Otto Wels und ich eine soeben erschienene Nummer des ,Neuen Vorwärts', mit einem nach meiner Meinung glänzenden Leitartikel Curt Geyers. Ich pries ihn auch gegenüber Wels. Der schwieg dazu einen Augenblick, sah mich dann mit dem ihm eigenen durchdringenden Blick an und sagte, er habe gelesen, was Geyer geschrieben habe. ,I